Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft: Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie [1. Aufl.] 9783839405437

Bereits Aristoteles erklärte das Zufällige als das, was weder unmöglich noch notwendig ist und aus diesem Grund auch and

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German Pages 370 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
1 Einleitung: Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft
1.1 Zur Dynamik der Kontingenzerfahrung. Einige Schlaglichter
1.2 Problemstellung des Textes und Gliederung der Arbeit
2 Dimensionen des Begriffs Kontingenz
2.1 Zur Bedeutungsvielfalt von Kontingenz
2.1.1 Analytische Bestimmung
2.1.2 Kontingenzbewusstsein und seine kulturhistorische Bedeutung
2.1.3 Kontingenz, Zufall und Geschichte
2.1.4 Handlungskontingenz und Struktur
2.1.5 Kontingenz aus anthropologischer Perspektive
2.1.6 Politische Theorie und Kontingenz
2.1.7 Kontingenz in Organisationen
2.1.8 Kontingenz und Epistemologie
2.2 Strukturelle Voraussetzungen der Kontingenz innerhalb der europäischen Moderne
2.2.1 Vormoderne Gesellschaft und Statik
2.2.2 Entbettung
2.2.3 Industrialisierung und Verzeitlichung
2.2.4 Wirklichkeitszerfall
2.2.5 Moderne Wissenschaft
2.2.6 Risikogesellschaft
3 Panorama philosophischer und soziologischer Perspektiven des aktuellen Kontingenzdiskurses
3.1 Max Weber: Unversöhnte Moderne
3.2 Theodor W. Adorno: Die Kontingenz der Individuen
3.2.1 Der Begriff der Identität
3.2.2 Kontingenz als Nichtidentisches
3.2.3 Ausblick: Die Aktualität von Adornos Interpretation des Themas Kontingenz
3.3 Unbestimmtheit der Sprache: Jacques Derrida
3.3.1 Derridas Kritik an Saussures Identitätsbegriff
3.3.2 Das Verfahren der Dekonstruktion
3.3.3 Zur Kritik an Derrida
3.4 Kontingenz und politische Theorie
3.4.1 Zum Begriff Dezisionismus
3.4.2 Rechtstheoretischer Dezisionismus
3.4.3 Politischer Dezisionismus
3.4.4 Generelle Einwände gegen den Dezisionismus
3.4.5 Der Einwand von Habermas. Moralität durch Verfahren
3.4.6 Fazit: Dezisionismus und Normativität
3.5 Kontingenz und Postmoderne
3.5.1 Das Projekt der Moderne als Mechanismus der Bannung von Kontingenz
3.5.2 Selbstverständnis der Postmoderne
3.5.3 Zur Kritik der Postmoderne
3.5.3.1 Zur Epocheneinteilung
3.5.3.2 Normativer Ansatz und empirische Basis
3.6 Kontingenz im Lichte der Theorie reflexiver Modernisierung
3.6.1 Modernisierung der Moderne als Kontingenzerweiterung
3.6.2 Einige empirische Befunde in der Theorie reflexiver Modernisierung
3.6.2.1 Wissenschaft und Risiko
3.6.2.2 Individualisierung
3.6.2.3 Postfamiliale Familie
3.6.2.4 Flexible Erwerbsbiografien. Kontingenzzunahme der Erwerbsarbeit
3.6.2.5 Die Unschärfen innerhalb der Klassentheorie
3.6.2.6 Nationalstaatliche und postnationalstaatliche Überlagerungen
3.6.3 Zur Kritik der Theorie reflexiver Modernisierung
3.6.3.1 Epochenbruch und empirische Basis
3.6.3.2 Der Begriff der Moderne
3.6.3.3 Unbestimmtheit als Indiz für Bruchlinien
4 Homogenisierung der Werte? Globale Konturen von Kontingenz
4.1 Das Phänomen Globalisierung
4.2 Homogenisierung: Die Expansion der Weltgesellschaft
4.2.1 Weltgesellschaft bei Luhmann
4.2.2 Theorie der Weltkultur von John Meyer
4.3 Zur Kritik der Konvergenzthese: Theoretische Argumente und empirische Beispiele
4.3.1 Konvergenz als Reduktion von Konvergenz: Was analysiert der World-Polity-Ansatz?
4.3.2 Einige empirische Erläuterungen zur Problematik der Theorie der Weltkultur
4.3.2.1 Kapitalismus und Homogenisierung
4.3.2.2 Demokratie und Menschenrechte
4.3.2.3 Widersprüche und Ambivalenzen in der westlichen Modernisierung selbst
4.3.2.4 Zusammenfassung und Übergang. Zum Begriff der Entkopplung
4.4 Die Multiple-Modernities-Debatte. Zu Shmuel Eisenstadts Ansatz
4.4.1 Wiederaufnahme von kritischen Einwänden der Modernisierungstheorie
4.4.2 Achsenzeit und gesellschaftliche Entwicklung
4.4.3 Kritische Stimmen zu Eisenstadts Ansatz
4.4.3.1 Unterschätzt Eisenstadt die Kontingenz?
4.4.3.2 Probleme mit der Vielfaltsperspektive
4.4.3.3 Die fehlende Einheit des Begriffs der Moderne
4.4.3.4 Der mangelnde Maßstab des Begriffs Modernisierung in der Modernisierungssoziologie
4.5 Zusammenfassung: Das Kontingentwerden der Unterscheidungen
5 Kontingenz in Organisationen
5.1 Zum Begriff der Organisation
5.2 Das technokratische Paradigma als Modell der kontingenzfreien Organisation
5.2.1 Das Maschine-Befehls-Modell der klassischen Organisationstheorie
5.2.2 Der Zweckoptimismus der Kontingenztheorie
5.2.3 Die Marginalisierung von Kontingenz bei Luhmann
5.3 Kontingenz und Entscheidungskorridor: Macht und Mikropolitik
5.3.1 Zum Begriff der Mikropolitik
5.3.2 Strukturmuster von Mikropolitik
5.3.2.1 Spiele
5.3.2.2 Koalitionen und Intrigen
5.3.2.3 Die Kontingenz von Verhandlungen
5.3.2.4 Vor- und Nachteile von Mikropolitik
5.3.3 Kritische Diskussion des mikropolitischen Ansatzes
5.4 Paradoxien und Kontingenz in der Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. Probleme der Grenzverortung zwischen Individuum und Organisation
5.4.1 Personen als Umwelt von Organisationen
5.4.2 Der neue Trend zur Individualisierung und seine Hintergründe
5.4.3 Dezentralisierung und Enthierarchisierung
5.4.4 Die Dialektik des Unternehmers im Unternehmen
5.4.5 Ein Fall von doppelter Kontingenz: Spieler ohne Stammplatzgarantie
5.4.6 Zusammenfassung und Übergang
5.5 Der Status transnationaler Organisationen
5.5.1 Zum Begriff der transnationalen Organisation
5.5.2 Kontingenz und Konvergenz in transnationalen Unternehmen
5.5.2.1 Transfer von Produktionssystemen
5.5.2.2 Marken als Eigenstrukturen der Weltgesellschaft?
5.5.2.3 Probleme transnationalen Managements
5.5.2.4 Abschließende Diskussion: Kontingenz der Pfade
5.6 Zusammenfassung: Kontingenz in Organisationen
6 Zur Epistemologie der Kontingenz. Wissenssoziologische und handlungstheoretische Reflexionen
6.1 Zwei Mythen der Soziologie
6.1.1 Der Mythos der Soziologie als strikte Gesetzeswissenschaft
6.1.2 Der Mythos von der Außenperspektive des Beobachters
6.1.2.1 Homo scholasticus
6.1.2.2 Der defizitäre Prozessbezug
6.1.4.3 Der Relativismus als „view from everywhere“
6.2 Zur Methode des Relationismus
6.2.1 Perspektivische Bewertung von Ereignissen
6.2.2 Konstellationen
6.2.3 Historische Epistemologie
6.3 Die Mikro-Makro-Dichotomie ist ein Artefakt der Gesellschaftstheorie
6.3.1 Die Praxis der Gesellschaft
6.3.2 Wirklichkeitsordnung und Wirklichkeitskonstruktion
6.3.3 Integration von Mikro- und Makrophänomenen. Die Bedeutung von Netzwerken
6.4 Reflexive Soziologie
6.4.1 Beobachter und Teilnehmer
6.4.2 Offenes Verhältnis zum Nichtwissen
6.4.3 Transdisziplinarität
6.5 Zusammenfassung: Epistemologie und Kontingenz
7 Schluss: Die wiedergefundene Komplexität
8 Literatur
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Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft: Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie [1. Aufl.]
 9783839405437

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Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft

Markus Holzinger (Dr. phil.) studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Bamberg und München. Er arbeitet an der AutoUni der Volkswagen Aktiengesellschaft im Themenfeld »Personal, Führung und Organisation« und lehrt Soziologie an der Technischen Universität Braunschweig und an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Politische Soziologie, Wissenschaftsforschung und Organisationssoziologie.

Markus Holzinger

Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Markus Holzinger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-543-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt 1 Einleitung: Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft 1.1 Zur Dynamik der Kontingenzerfahrung. Einige Schlaglichter 1.2 Problemstellung des Textes und Gliederung der Arbeit

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2 Dimensionen des Begriffs Kontingenz 2.1 Zur Bedeutungsvielfalt von Kontingenz 2.1.1 Analytische Bestimmung 2.1.2 Kontingenzbewusstsein und seine kulturhistorische Bedeutung 2.1.3 Kontingenz, Zufall und Geschichte 2.1.4 Handlungskontingenz und Struktur 2.1.5 Kontingenz aus anthropologischer Perspektive 2.1.6 Politische Theorie und Kontingenz 2.1.7 Kontingenz in Organisationen 2.1.8 Kontingenz und Epistemologie 2.2 Strukturelle Voraussetzungen der Kontingenz innerhalb der europäischen Moderne 2.2.1 Vormoderne Gesellschaft und Statik 2.2.2 Entbettung 2.2.3 Industrialisierung und Verzeitlichung 2.2.4 Wirklichkeitszerfall 2.2.5 Moderne Wissenschaft 2.2.6 Risikogesellschaft

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Panorama philosophischer und soziologischer Perspektiven des aktuellen Kontingenzdiskurses 3.1 Max Weber: Unversöhnte Moderne 3.2 Theodor W. Adorno: Die Kontingenz der Individuen 3.2.1 Der Begriff der Identität

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3.2.2 Kontingenz als Nichtidentisches 3.2.3 Ausblick: Die Aktualität von Adornos Interpretation des Themas Kontingenz Unbestimmtheit der Sprache: Jacques Derrida 3.3.1 Derridas Kritik an Saussures Identitätsbegriff 3.3.2 Das Verfahren der Dekonstruktion 3.3.3 Zur Kritik an Derrida Kontingenz und politische Theorie 3.4.1 Zum Begriff Dezisionismus 3.4.2 Rechtstheoretischer Dezisionismus 3.4.3 Politischer Dezisionismus 3.4.4 Generelle Einwände gegen den Dezisionismus 3.4.5 Der Einwand von Habermas. Moralität durch Verfahren 3.4.6 Fazit: Dezisionismus und Normativität Kontingenz und Postmoderne 3.5.1 Das Projekt der Moderne als Mechanismus der Bannung von Kontingenz 3.5.2 Selbstverständnis der Postmoderne 3.5.3 Zur Kritik der Postmoderne 3.5.3.1 Zur Epocheneinteilung 3.5.3.2 Normativer Ansatz und empirische Basis Kontingenz im Lichte der Theorie reflexiver Modernisierung 3.6.1 Modernisierung der Moderne als Kontingenzerweiterung 3.6.2 Einige empirische Befunde in der Theorie reflexiver Modernisierung 3.6.2.1 Wissenschaft und Risiko 3.6.2.2 Individualisierung 3.6.2.3 Postfamiliale Familie 3.6.2.4 Flexible Erwerbsbiografien. Kontingenzzunahme der Erwerbsarbeit 3.6.2.5 Die Unschärfen innerhalb der Klassentheorie 3.6.2.6 Nationalstaatliche und postnationalstaatliche Überlagerungen 3.6.3 Zur Kritik der Theorie reflexiver Modernisierung 3.6.3.1 Epochenbruch und empirische Basis 3.6.3.2 Der Begriff der Moderne 3.6.3.3 Unbestimmtheit als Indiz für Bruchlinien

Homogenisierung der Werte? Globale Konturen von Kontingenz 4.1 Das Phänomen Globalisierung 4.2 Homogenisierung: Die Expansion der Weltgesellschaft

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4.2.1 Weltgesellschaft bei Luhmann 4.2.2 Theorie der Weltkultur von John Meyer 4.3 Zur Kritik der Konvergenzthese: Theoretische Argumente und empirische Beispiele 4.3.1 Konvergenz als Reduktion von Konvergenz: Was analysiert der World-Polity-Ansatz? 4.3.2 Einige empirische Erläuterungen zur Problematik der Theorie der Weltkultur 4.3.2.1 Kapitalismus und Homogenisierung 4.3.2.2 Demokratie und Menschenrechte 4.3.2.3 Widersprüche und Ambivalenzen in der westlichen Modernisierung selbst 4.3.2.4 Zusammenfassung und Übergang. Zum Begriff der Entkopplung 4.4 Die Multiple-Modernities-Debatte. Zu Shmuel Eisenstadts Ansatz 4.4.1 Wiederaufnahme von kritischen Einwänden der Modernisierungstheorie 4.4.2 Achsenzeit und gesellschaftliche Entwicklung 4.4.3 Kritische Stimmen zu Eisenstadts Ansatz 4.4.3.1 Unterschätzt Eisenstadt die Kontingenz? 4.4.3.2 Probleme mit der Vielfaltsperspektive 4.4.3.3 Die fehlende Einheit des Begriffs der Moderne 4.4.3.4 Der mangelnde Maßstab des Begriffs Modernisierung in der Modernisierungssoziologie 4.5 Zusammenfassung: Das Kontingentwerden der Unterscheidungen

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5 Kontingenz in Organisationen 5.1 Zum Begriff der Organisation 5.2 Das technokratische Paradigma als Modell der kontingenzfreien Organisation 5.2.1 Das Maschine-Befehls-Modell der klassischen Organisationstheorie 5.2.2 Der Zweckoptimismus der Kontingenztheorie 5.2.3 Die Marginalisierung von Kontingenz bei Luhmann 5.3 Kontingenz und Entscheidungskorridor: Macht und Mikropolitik 5.3.1 Zum Begriff der Mikropolitik 5.3.2 Strukturmuster von Mikropolitik 5.3.2.1 Spiele 5.3.2.2 Koalitionen und Intrigen

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193 194 197 200 208 209 211 212 214

5.3.2.3 Die Kontingenz von Verhandlungen 5.3.2.4 Vor- und Nachteile von Mikropolitik 5.3.3 Kritische Diskussion des mikropolitischen Ansatzes 5.4 Paradoxien und Kontingenz in der Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. Probleme der Grenzverortung zwischen Individuum und Organisation 5.4.1 Personen als Umwelt von Organisationen 5.4.2 Der neue Trend zur Individualisierung und seine Hintergründe 5.4.3 Dezentralisierung und Enthierarchisierung 5.4.4 Die Dialektik des Unternehmers im Unternehmen 5.4.5 Ein Fall von doppelter Kontingenz: Spieler ohne Stammplatzgarantie 5.4.6 Zusammenfassung und Übergang 5.5 Der Status transnationaler Organisationen 5.5.1 Zum Begriff der transnationalen Organisation 5.5.2 Kontingenz und Konvergenz in transnationalen Unternehmen 5.5.2.1 Transfer von Produktionssystemen 5.5.2.2 Marken als Eigenstrukturen der Weltgesellschaft? 5.5.2.3 Probleme transnationalen Managements 5.5.2.4 Abschließende Diskussion: Kontingenz der Pfade 5.6 Zusammenfassung: Kontingenz in Organisationen Zur Epistemologie der Kontingenz. Wissenssoziologische und handlungstheoretische Reflexionen 6.1 Zwei Mythen der Soziologie 6.1.1 Der Mythos der Soziologie als strikte Gesetzeswissenschaft 6.1.2 Der Mythos von der Außenperspektive des Beobachters 6.1.2.1 Homo scholasticus 6.1.2.2 Der defizitäre Prozessbezug 6.1.4.3 Der Relativismus als „view from everywhere“ 6.2 Zur Methode des Relationismus 6.2.1 Perspektivische Bewertung von Ereignissen 6.2.2 Konstellationen 6.2.3 Historische Epistemologie 6.3 Die Mikro-Makro-Dichotomie ist ein Artefakt der Gesellschaftstheorie 6.3.1 Die Praxis der Gesellschaft

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6.3.2 Wirklichkeitsordnung und Wirklichkeitskonstruktion 6.3.3 Integration von Mikro- und Makrophänomenen. Die Bedeutung von Netzwerken 6.4 Reflexive Soziologie 6.4.1 Beobachter und Teilnehmer 6.4.2 Offenes Verhältnis zum Nichtwissen 6.4.3 Transdisziplinarität 6.5 Zusammenfassung: Epistemologie und Kontingenz

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Schluss: Die wiedergefundene Komplexität

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Literatur

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1 Einleitung: Kontinge nz in der Gegenw artsgesellschaft

„Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin: Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ (Thomas Brasch, Lied)

Die Geschichte der Menschheit ist reich an anthropologischen Stichworten und Metaphern, die für das Selbstverständnis der jeweiligen Epoche repräsentativ sind. In seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ gibt Robert Musil einem für die Epoche der Moderne so wichtigen Schlagwort Kontur, das in Zukunft noch an Bedeutung zunehmen dürfte und für das zu sensibilisieren diese Studie sich verpflichtet sieht: die Einübung des „Möglichkeitssinns“. Über diesen heißt es: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist.“ (Musil 1978, Bd. 1: 16)

Was sich hinter diesem für Musil so zentralen Terminus verbirgt, ist nichts anderes als, kurz gesagt, die für den Alltag der Moderne unbestrit11

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

tene Erfahrung, dass alle ihre Strukturen und Ordnungsformationen kontingent sind. Alles, was in der Welt vorhanden ist oder gemacht wird, ist auch anders möglich. Diese Entdeckung hat Musil dazu bewogen, den „Möglichkeitssinn“ als für seinen Roman entscheidende Erfahrungskompetenz ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Um Erziehung geht es Musil eigentlich: Der Mensch hat immer mehr Möglichkeiten als diejenigen, die er jeweils realisiert. Die Wirklichkeit, in der er sich eben jetzt befindet und die er als die seinige akzeptiert, darf ihm nicht genug sein. Der Schriftsteller Musil legt insbesondere darauf Wert, das Sensorium zu erweitern für die noch zu entwickelnden Möglichkeiten. Doch dazu muss, wie Fritz Wefelmeyer (1990: 192f.) kommentiert, „das Individuum anders sehen lernen. Nicht darf ihm das Eigentliche die Wirklichkeit sein, sondern die von ihr verdeckten Potenzen. Es muß die Wirklichkeit wie den Schleyer der Maya zerreißen“.

1 . 1 Z u r D yn a m i k d e r K o n t i n g e n z e r f a h r u n g . Einige Schlaglichter Die anhaltende Auseinandersetzung um das Phänomen der Kontingenz demonstriert, dass Musil hier schon sehr früh von einem wichtigen Argument animiert wurde. Offensichtlich agieren moderne Gesellschaften immer häufiger in Situationen bedeutungsoffener Strukturen, zu deren Kennzeichen gehört, dass das Fehlen von eindeutigen Gründen auffällig wird, sodass präziser gesagt nicht Grundlosigkeit, sondern Begründungsdefizite ihren Rahmen bilden. Es überrascht nicht, dass die wachsende Bedeutung des Begriffs Kontingenz in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in den letzten Jahren auch die Resonanz soziologischer Beobachtung erhöht hat. Sowohl die soziologische als auch die philosophische Forschung sind in den letzten Jahren vom Phänomen der Kontingenz regelrecht überflutet worden. So wurde konstatiert, dass wir in einer „Kontingenzgesellschaft“ lebten (Greven 2000: 273). Die Logik der Unbestimmtheit gelte heute als die eigentliche Infrastruktur des modernen Weltverständnisses (Gamm 1994). Das Wirkliche stünde heute in einem Horizont, immer auch anders sein zu können, auch nicht sein zu können. Die „Kontingenzgesellschaft“ bezeichne deswegen eine Form von Gesellschaft, in der eingelebte Formen der Institutionalisierung und Kollektivität zunehmend durch Ambivalenz und Uneindeutigkeit bestimmt seien. Orientierungssicherheit werde zunehmend problematisch. Gerade weil viele Wirklichkeitsbereiche in der Gegenwartsgesellschaft zunehmend auch anders als 12

EINLEITUNG

bisher sein könnten, steige die Unbestimmtheit. „Statt dessen pendelt sich eine Praxis des Umgangs mit Desorientierung ein.“ (Fuchs 1994: 35) Solcherart strukturierte Gesellschaften würden, wie Michael Greven (1997: 236) vermutet, „immer weniger, wie es einmal hieß, ,hinter dem Rücken‘ unbewußt, sondern immer mehr und zunehmend bewußt durch menschliche Entscheidungen beeinflußt“. Und dies liegt eben darin begründet, so wird behauptet, dass traditionelle Grenzvorstellungen, wie sie in der klassischen Moderne als Erklärungsmuster vorlagen, nicht mehr greifen. Immer häufiger stehen wir Situationen gegenüber, die unter dem Signum des nicht Notwendigen stehen. Woher rührt aber die Aktualität und woher kommt die unübersehbare Konjunktur des Kontingenzbegriffs? Eine Antwort ist wohl darin zu finden, dass der Begriff der Kontingenz für viele ein zeitdiagnostisches Potenzial besitzt. Zwar ist es möglich, dass das Phänomen Kontingenz – wie auch schon in früheren Zeiten – als Standortbestimmung der Gesellschaft nur ein temporärer Ausdruck einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchsituation ist. Vielleicht ist es nur die empirische Manifestation einer Übergangszeit, die in eine weitere große Transformation einmündet (vgl. Müller 2001). Aus heutiger Perspektive zumindest lässt sich bei vielen Autoren feststellen: Die Zahl möglicher und zugänglicher Optionen ist größer geworden. Das Erlebnis der Kontingenz – das ja in der Tat essenzieller Bestandteil für die Moderne überhaupt ist – hat sich radikalisiert. Das Neue an der gegenwärtigen Kontingenzerfahrung scheint für viele Autoren im Umfang und in der Qualität ihres Wirkungsradius zu liegen. Die Wirkung der Kontingenz reiche heute in qualitativ neuartigem Maße über das gesellschaftliche Leben hinaus und interveniere in alle Kontexte des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Die Bestandsaufnahme der Gegenwartsgesellschaft spricht „für eine zumindest partielle Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens“, urteilt Martin Kohli (1994: 232). Auch Hans Joas (2002: 73) spielt in einem Aufsatz über das Thema „Kontingenz“ auf „die zeitdiagnostische Fruchtbarkeit dieses Begriffs“ an. Der Begriff sensibilisiere uns nämlich „zugleich für die Zunahme der Optionen unseres Handelns und für die Zufälligkeit der Widerfahrnisse in unserem Leben, die sich wesentlich auch aus der Steigerung individueller Handlungsmöglichkeiten ergibt“. Wenn auch die ethnische Gruppe und die traditionelle Kultur, die häufig noch als Kultur eines nationalstaatlichen Territoriums gedeutet wird, für viele Menschen immer noch einen großen rahmenden Einfluss auf das Handeln haben, wenn auch die Strukturen der Nachkriegsgesellschaft, wie viele meinen, weiterhin ihre Macht ausüben, so sieht sich doch un-

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

sere globale Gesellschaft immer mehr mit einer enormen Expansion der Anzahl von Alternativen konfrontiert (vgl. Gross 2001: 25). Dies wird zunächst einmal in der unmittelbar erfahrbaren Alltagswelt sichtbar: „Täglich wird die Kontingenz, die Zahl der Alternativen, erhöht. Jeder Tag versorgt uns von neuem mit einem kunterbunten Gemisch von Angeboten, Lockrufen, Versprechungen und Angeboten, das Angebotene realisieren zu helfen. Ein Ende ist nicht abzusehen.“ (Gross 1994: 15) Durch die Kontingenz der modernen Gesellschaft ist die alltägliche Lebenswelt des Menschen zersplittert in eine Vielzahl von permanenten Entscheidungen. Was es früher in Bezug auf Individualisierung gelegentlich gab, wird nun zum banalen Alltag. Vielen Menschen wird nun abverlangt, sich permanent der drängenden Problematik zu stellen, „ihr Leben selber führen und gestalten zu müssen“, wie Ronald Hitzler (2001: 42) bemerkt. Kontingenz ist auch auf der Ebene der Politik sichtbar (vgl. Holzinger 2006). Der „konjunktivistische Existenzmodus“ (vgl. Gross 1994: 20) bezieht sich keineswegs nur auf die Konsumwelt, auch wenn dies die offensichtlichste Ebene der Multioptionsgesellschaft darstellt, sondern ebenso auf die politische Sphäre. Deswegen sprechen Ulrich Beck (1993), Michael Greven (1999) oder Kari Palonen (1998) von einem grundsätzlichen Entgrenzen und Entgießen des politischen Raumes in andere Sphären. Christian Lahusen (2003: 107) betont die Zerfaserung des Politischen: „Die Foren und Formen des politischen Entscheidens diversifizieren sich damit ebenso wie die konkrete institutionelle Rückbindung der Politik an den Staat komplexer und multipler wird.“ Das Phänomen Kontingenz betrifft ebenso die Ebene der Ökonomie und diejenige von Organisationen. Manager würden immer mehr darüber nachdenken, so Dirk Baecker (1999: 305), „daß kaum etwas unmöglich und kaum etwas notwendig ist und fast alles auch anders sein könnte“. Die Kontingenz ist längst in die Strukturen der Wirtschaftswelt eingedrungen. Auch die Religion wird befallen vom „Virus“ der Kontingenz. Von der Rückkehr und einem erneuten Interesse an Religion ist heute die Rede. Aber auf der anderen Seite wird Religion zu einem Sachverhalt, worüber der Einzelne entscheiden muss. „Da in der Moderne immer mitbeobachtet wird, wie Bindungen beobachtet werden, ergibt sich unausweichlich das Zugeständnis der Kontingenz aller Festlegungen“, kommentiert Niklas Luhmann (2002: 292). Diejenigen, die auf die traditionalen Optionen und die aktuellen Reformen der Bewahrung setzen, verkennen, dass durch Kontingenz gerade eine ‚naive‘ Rückkehr in die alten Schemata häufig versperrt wird. Warum ist das so? Die Antwort lautet: Jede Entscheidung für oder gegen etwas wird im kontingenten Ent14

EINLEITUNG

zauberungsprozess legitimationsbedürftig „mit der Folge, daß auch die Legitimationstricks als kontingent erscheinen. ‚Unschuldig‘ sind jetzt nur noch Bindungen, zu denen das Individuum selbst sich entschieden hat“ (Luhmann 2002: 292). Kontingenz durchzieht wie ein roter Faden die Rahmenbedingungen, die Zielerreichung und das unmittelbare Wirkungsgefüge der Wissenschaft und der Technologie. Noch vor einiger Zeit galt die Zukunft als berechenbar. Heute erfolgt, wie Helga Nowotny (2005: 131) bemerkt, die Rede über die Zukunft im Konjunktiv. Zukunft wird im Plural verwendet: „Unsicherheit und Kontingenz, mögliche Alternativen, Wunschvorstellungen und Wahrscheinlichkeiten durchziehen das Bild und drücken sich auf vielfältige Weise aus.“ An Nowotnys Urteil über die Wissenschaft wird bereits eines deutlich: Eine der üblichen Folgerungen des Kontingenzdiskurses lautet, dass die Gegenwartsgesellschaft durch eine maßgebliche Ausweitung des Optionsspielraums gekennzeichnet ist. Das ist ja, wie oben gezeigt wurde, durchaus legitim und empirisch belegt. Auf der anderen Seite, könnte man mit einem Bild des Soziologen Nico Stehr (2000) sagen, nimmt die „Zerbrechlichkeit der modernen Gesellschaft“ zu. Kontingenz ist auch analytisch gesehen janusköpfig. Einerseits nämlich, so Michael Makropoulos (1998: 23), konkretisiert sich Kontingenz tatsächlich in Handlungen und damit auch in Veränderungen, die individuellen oder kollektiven Akteuren zugeschrieben werden können. Aber Kontingenz zeigt sich auf der anderen Seite „auch in Zufällen, und damit in Veränderungen, deren Eintreten schlechterdings grundlos ist – wobei Zufälle freilich erst dann von Belang sind, wenn sie Handlungen durchkreuzen“ (Makropoulos 1998: 23). Kontingenz bezeichnet somit auch einen Sachverhalt, der unmittelbar mit dem Thema Ungewissheit und der Offenheit von Entscheidungspfaden assoziiert werden muss. Mit dem Bild der Zerbrechlichkeit macht Stehr (2000: 15) auf die „Unfähigkeit staatlicher sowie anderer großer gesellschaftlicher Institutionen“, etwa der Wissenschaft, der Kirche, der Politik oder des Rechtssystems, aufmerksam, gegenwärtig und noch nachhaltiger in Zukunft „zu regieren bzw. ihren Willen durchzusetzen“. Je turbulenter die zunehmenden Handlungschancen das Tempo sozialen Wandels der Gesellschaft insgesamt prägen und gestalten, desto größer wird die neue Unsicherheit. Unsere Welt scheint heute zunehmend komplex und unübersichtlich, d.h. es geschehen heute in höherem Maße als früher viele komplexe Einzeloperationen gleichzeitig. Die Nebenfolgen, die aus der Überlagerung von immer komplexeren Einzelaktionen resultieren, werden intransparenter. Man überblickt immer weniger, was gerade passiert. Verfahren, die die Qualität und den Wirkungsradius von menschlichen 15

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

Einflussmöglichkeiten vergrößern, sind immer auch von Prozessen der Machtenteignung begleitet, weil Widerstände intervenierender Variablen in die Handlungsintentionen hineinwirken. Mit zunehmender Komplexität der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umwelt sind Institutionen mit dem Problem konfrontiert, mit obsoleten Strategien zu operieren. Für Stehr (1994: 470) gilt allemal: „Die wachsende Kontingenz sozialen Handelns und das Bewusstsein der zunehmenden Beeinflussbarkeit sozialer Handlungszusammenhänge ist das Ergebnis der umfassenderen Verfügbarkeit reflexiven Wissens.“ Eine Gesellschaft, die sich stets dem Neuen verpflichtet fühlt, ist nahezu unvermeidlich mit der Paradoxie von wachsenden Optionen bei gleichzeitig wachsender Ungewissheit konfrontiert. Das Lamento über die mangelnden Kontrollmechanismen in Bezug auf die Zukunft rührt gerade aus dem grenzenlosen Optimierungswillen der Akteure. Je mehr die Menschen die Zukunft gestalten wollen, desto mehr greift das Gefühl der Ungewissheit um sich, da die Zukunft nicht mehr dem gleichen könnte, was gestern noch galt. Das trifft insbesondere auch auf Wissen zu. Die Zukunft von Wissensgesellschaften, und d.h. auch von sozialen Systemen, die immer weniger auf Fragmenten der Vergangenheit aufsetzen, wird gemäß Stehr von zahlreichen Unsicherheiten, unerwarteten Rückwärtsentwicklungen und Überraschungseffekten bestimmt sein. Wissen bietet häufig nun nicht mehr ein höheres Maß an Sicherheit, sondern führt zu einer sukzessiven Zunahme an kognitiver und normativer Ungewissheit (vgl. Holzinger/May 2003). Angesichts der Häufung kontingenter Situationen ist es durchaus im Rahmen des Möglichen, wie Stehr kommentiert, dass sich eine ausgeprägte „Vorstellung von Hilflosigkeit“ (Stehr 2000: 147) ausbreitet. Auch Joas konstatiert: Die Tendenz zur Auflösung stabiler Netzwerke und Strukturen, die sich als Riss in der Welt manifestiert, hinterlässt auch bei den sozialen Akteuren innerhalb der Grenzen Europas häufig ein Gefühl der Orientierungslosigkeit. „Orientierungsnotstand, dauernde Irritation und Indignation können zu einer Verkümmerung des Urteilsvermögens oder gar zu einer aggressiven Optionsvernichtung führen. Zu fragen ist also, wo Problemzonen in der Ausbildung kontingenzangemessener Wertbindung liegen und was in dieser Hinsicht zur Wertevermittlung getan werden kann.“ (Joas 2002: 76f.) Zusammenfassend lässt sich Folgendes konstatieren: Folgt man einer Sentenz Max Webers, so hat man den Eindruck, er habe das Signum der Zeit bereits klar erkannt. Der Begriff des Sozialen, der ja einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, so Weber (1991: 44), trage meist eine unbestimmte Bedeutung an sich: „Das ‚allgemeine‘ beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit“. Die 16

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Eigentümlichkeit unserer Zeit, so erklärt auch Friedrick Tenbruck (1998: 37), sei ihre Unübersichtlichkeit. Und wolle man sich eine angemessene Vision des gesellschaftlichen Zusammenhangs verschaffen, würde man erkennen, „daß die Vielheit der sich überschneidenden Vorgänge und Gruppierungen immer schwerer zu überblicken“ sei. Allemal sei das Ergebnis eine „ungegliederte, unübersichtliche Gesellschaft“ (ebd.: 38). Zumindest lässt sich eines sagen: Wenn auch zu zeigen sein wird, dass über die Bedeutung und die Anwendung des Begriffs verschiedenste Auffassungen herrschen, so scheint es, dass Musil offensichtlich vorausgesehen hat, was wir heute in aller Radikalität erkennen: dass nämlich alle unsere Ordnungsformationen disponibel und durch den Zwang zur Dezision geprägt sind. Immer mehr Problemkomplexe können nicht mehr als schicksalhaft hinzunehmendes Ereignis, sondern müssen als Folgen von Entscheidungen gedeutet werden.

1.2 Problemstellung des Textes und G l i e d e r u n g d e r Ar b e i t Angesichts der Leichtigkeit, mit der man heute – insbesondere in der westlichen Hemisphäre – das Phänomen der Kontingenz identifiziert, könnte man auf die Idee kommen, es würde sich für eine Position unter den Makroprozessen der modernen Welt qualifizieren und Kontingenz würde sich, nach einer Anschauung, wie sie eine Konvergenzthese nahelegen würde, überall auf der Welt durchsetzen. Deutet sich nicht gerade hier in unserer Gegenwart hinsichtlich des Kontingenzverständnisses möglicherweise eine historische Verschiebung im Vergleich zu früheren Gesellschaften an, die die Rede von einer reflexiven Moderne sinnvoll erscheinen lässt? Haben wir es mit einer Situation zu tun, in der sich zunehmend die Ligaturen der Ersten Moderne verschieben oder gar auflösen? Für Beck (1996a: 39f.) steht schon längst fest: „Im Zuge verselbständigter Modernisierungen wird die Industriegesellschaft genauso überrollt, ‚abgeschafft‘, wie die industriegesellschaftliche Modernisierung ständische und feudale Gesellschaftsformen auf- und abgelöst hat.“ Die Annahme, dass man Kontingenz für eine generelle zeitdiagnostische Komponente in Anspruch nehmen könnte, wirkt auf den ersten Blick unmittelbar einleuchtend und unanfechtbar. Es scheint so, in welcher Moderne wir auch immer leben: Unsere globale Gesellschaft scheint komplexer, zersplitterter, multifokaler, heterogener, orientierungsloser, feinkörniger, komplizierter und vernetzter geworden zu sein im Vergleich zu früheren Phasen der Moderne.

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Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, dass die Moderne sich insgesamt als ein Prozess beschreiben lässt, der sich ständig aus sich selbst heraus neu erfindet. Als kulturelle Haltung setzte Moderne stets auf die Veränderbarkeit, die Verbesserbarkeit ihrer Produkte. Alles Traditionale wird destruiert im Prozess der Moderne, der sein Zerstörungswerk vorantreibt. Und das steht tatsächlich in Übereinkunft mit der basalen Drehrichtung der Moderne. Kann man der zeitdiagnostischen Relevanz des Begriffs Kontingenz, die in vielen zeitgenössischen Texten anvisiert wird, nicht eine Verzerrung der sozialen Wirklichkeit vorwerfen? Auch in früheren Zeiten – zumal in derjenigen Periode, die heute als Erste Moderne bezeichnet wird – gab es große Dynamiken und Turbulenzen, wie Richard Münch (2002: 427f.) anführt. Auch hier wurde vieles als kontingent interpretiert. Das Kontingenzbewusstsein als Unterscheidungskriterium für eine neue Phase der Moderne oder gar den Begriff als Bezeichnung für einen Paradigmenwechsel oder eine epochale Diskontinuität zu benutzen verkenne seine frühere Verbreitung und überbetone aktuelle Übergangsphänomene. Wie häufig werde die Einzigartigkeit gegenwärtiger Entwicklungen überschätzt. Zudem gäbe es auch in der Gegenwartsgesellschaft immer noch die traditionellen Semantiken, Fundamentalismen und Gegenwelten, die die Individuen und Institutionen gegen die Überforderungen der Kontingenzgesellschaft stemmten. Kontingenz löst alte traditionale Sprachspiele nicht grundsätzlich auf. Einige Autoren weisen zu Recht darauf hin, dass der konstatierte Formenwandel innerhalb der Moderne und die häufig unterstellte Ungewissheit in allen gesellschaftlichen Lagen verdeckten, dass vieles im Modernisierungsprozess einfach so weiterlaufe. Trotz der breit geführten Debatte um das Phänomen Kontingenz sind dessen terminologische und methodische Grundlagen bisher alles andere als konsolidiert. Um genau der Problematik zu entgehen, das Prädikat ‚kontingent‘ als Signatur für gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse zu benutzen, soll in diesem Text mit eigenen zeitdiagnostischen Prognosen sparsam umgegangen werden, die das Phänomen Kontingenz als Gegenwartsdiagnose in einen vergleichend-historischen Kontext stellen würden. Nicht die empirische Überprüfung aufgestellter Hypothesen, sondern die kritische Bestandsaufnahme und die Herleitung logisch nachvollziehbarer Schlussfolgerungen bilden das Grundgerüst dieser Arbeit. Das bedeutet nicht, in Abrede zu stellen, dass im Horizont der skizzierten Entwicklungen die Kontingenzerfahrung zu einem zunehmend als relevant erachteten Thema in verschiedenen Institutionen geworden ist. Ungeachtet des deutlich gewachsenen Interesses an der Thematik möchte ich mich jedoch zu keinen historisch umfassenden Aussagen 18

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hinreißen lassen, die die Kontingenzzunahme als empirisches Ereignis in den Mittelpunkt stellen würden, sofern diese Aussagen nicht im Kontext einer bestimmten Theoriediskussion kritisch diskutiert werden sollen. Deswegen stellt schon der Titel darauf ab, dass es um die „Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft“ gehen soll und damit um Autoren, die die Kontingenz für die Gegenwartsgesellschaft feststellen. Wie schon in meinem ersten Buch über Kontingenz (Holzinger 2006) steht deswegen auch nicht eine systematische Deduktion einer neuen Theorie der Kontingenz im Vordergrund, sondern die Kontextualisierung bestehender Ansätze, die auf ihre Relevanz hin befragt werden. Auch ist dieser Text – sowenig wie der erste – nicht mit enzyklopädischen Intentionen verfasst, sondern von systematischen Interessen geleitet. Vor diesem Hintergrund besteht gleichwohl ein praktisches Interesse zu erfahren, wie es um die Thematisierung der Kontingenz bestellt ist. Welche Antworten bezüglich der Frage nach der heutigen Rolle von Kontingenz lassen sich aus den theoretischen Debatten der letzten Jahre herausschälen? Die Herausforderung in den Sozial- und Geisteswissenschaften besteht darin, das Phänomen auf aktuelle Sachverhalte zu beziehen, ohne den Blick auf die historische Verortung des Begriffs zu vergessen. Und das hieße ja gerade, das Phänomen Kontingenz erst richtig ernst zu nehmen. Denn Kontingenz bedeutet stets, dass die Pfadabhängigkeit des historischen Geschehens zu beachten ist. Das vorliegende Buch nimmt diese Herausforderung an, indem es wesentliche Bereiche, in denen Kontingenz ihre Wirkung zeigt, in einen kulturwissenschaftlichen, soziologischen und philosophischen Diskussionszusammenhang stellt. Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. In dem dieser Einleitung folgenden zweiten Kapitel geht es zunächst um eine Art Definition und Begriffsbestimmung des Phänomens Kontingenz. Die in diesem Punkt enthaltenen Ausdrucksformen von Kontingenz versuchen an unterschiedlichen Verfassern und Bedeutungsschichten der Frage nach Erscheinung und Begriff der Kontingenz nachzugehen. Dabei wird relativ schnell ersichtlich, dass der Begriff Kontingenz in der Forschung in einer Variation untersucht wird, die es kompliziert erscheinen lässt, generalisierbare Aussagen über Bedeutung und Status dieses Begriffs für die Soziologie anzustreben. Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen erfordert zunächst eine sicherlich nicht unkomplizierte Übersetzungsbemühung. Die in diesem Abschnitt ausgearbeiteten Grundkategorien und Differenzen werden an verschiedenen Stellen der weiteren Kapitel immer wiederkehren. In einem zweiten Schritt des Kapitels sollen die Faktoren und die soziostrukturellen Voraussetzungen im Zentrum stehen, die das Bewusstsein von Kontingenz im Prozess der europäischen Modernisierung be19

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fördert haben. Denn welche Bedeutung der Begriff der Kontingenz in früheren Diskursen auch jeweils transportiert haben mag, so ist doch immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Kontingenz ein zutiefst modernes Phänomen darstellt (z.B. Makropoulos 1997; Luhmann 1992a). Um zu explizieren, worin eigentlich der Nukleus des Problems besteht, das sich mit der Kontingenz für die moderne Gesellschaft stellt, soll zunächst die Genese des modernen Selbstverständnisses anhand einiger struktureller Kriterien dargelegt werden. Im dritten Kapitel soll im Anschluss an diese Grundlegung der Versuch unternommen werden, anhand bestimmter Grundpositionen einige Topoi des Kontingenzdiskurses problembezogen zu rekonstruieren. Es werden hier Themen abgeschritten, die sich in klassischer Weise auf Gesellschaft (Max Weber), Erkenntnis (Theodor W. Adorno) und Sprache (Jacques Derrida) beziehen. Wo und warum lässt sich etwa in der politischen Soziologie sowie in der Rechtstheorie ein Interesse für das Thema Kontingenz nachweisen? Eine eigene Antwort haben die Rechtsphilosophie und die Moraltheorie im Dezisionismus gegeben. Der Dezisionismus ist Ausdruck einer Überzeugung, wonach Entscheidungen nicht mehr durch Rekurs auf ein übergeordnetes Prinzip gefällt werden können. Objektive Wertebenen werden im Angesicht des „Säurebads der Modernisierung“ in ein „normatives Nichts“ zerstäubt (Greven 2000: 57). Schließlich sollen in dem Kapitel im Hinblick auf den anvisierten Problembezug Kontingenz auch einige Befunde in der soziologischen Zeitdiagnose herausgearbeitet werden. Inwiefern ist die Kontingenzthematik geeignet, ein Bild über den Status moderner Gesellschaften anzufertigen, und welche Konsequenzen lassen sich aus einzelnen Theoremen daraus ableiten? Dieser Punkt fasst daher das Thema Kontingenz im Sinne einer Signatur der Gegenwartsgesellschaft auf. Die in diesem Kontext vorgenommene Analyse richtet sich insbesondere auf die Theorie der Postmoderne und die Theorie reflexiver Modernisierung. Der thematische Horizont des vierten Kapitels umschließt einen Spannungsbogen, der in der Literatur unter der Bezeichnung „Vielfalt und Einheit der Moderne“ (Schwinn 2006) bekannt geworden ist und derzeit in der Debatte um „Weltgesellschaft“ versus „Multiple Modernities“ kulminiert. Vor diesem Hintergrund gewinnen die verschiedenen Interpretationen des Prozesses der Globalisierung eine besondere Relevanz. In einer ersten Grobdifferenzierung lassen sich zwei Positionen nachzeichnen: Auf der einen Seite gibt es diejenigen Theoretiker, die die Globalisierungsthematik vor dem Hintergrund einer weltweit diffundierenden „Weltgesellschaft“ oder „Weltkultur“ verstehen. Es sei zu erwar20

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ten, dass sich überall auf der Welt aufgrund eines expandierenden Konformitätsdruckes ähnliche Identitäten und Strukturen herausbilden. Kontingenz werde immer weiter zurückgedrängt. Auf der anderen Seite steht das Multiple-Modernities-Theorem. Es geht zurück auf Shmuel Eisenstadt, den zugleich prominentesten Vertreter diese Ansatzes. Dieser geht davon aus, dass die weltweite Diffusion universeller moderner Orientierungsmuster, welche dem gesamten Globus scheinbar ihren Stempel aufdrücken, je nach regionalen und Lebensmustern unterschiedlich aufgefasst werden. Die planetarische Wirklichkeit der Moderne ist eine Wirklichkeit, die im Horizont vieler Versionen und Sichtweisen erscheint. Die gleichen Entitäten sind in unterschiedliche Ordnungsstrukturen eingegliedert. Der entscheidende Punkt dieser These besagt, dass das von der Theorie der Weltgesellschaft suggerierte weltkulturelle Metanarrativ, durch die spezifischen regionalen kulturellen Wahrnehmungsfilter transformiert wird. Es stelle sich die Frage, ob es eine „Vielfalt der Moderne“ gäbe. Die westliche Kultur sei möglicherweise nicht die einzige Manifestation von Modernität. Und gerade deswegen sei die Bedeutung von Modernität kontingent. Es könne sich daher auch nicht überall auf dem Globus eine distinkte Struktur der Moderne ausbreiten. Das häufig strapazierte Bild einer „Weltgesellschaft“, einer „Flachwelt“ (Friedman 2005), einer „glatten Welt“ enttarnt sich häufig als ein viel zu optimistischer Rückfall in den Monismus eines Hegel und suggeriert ein die Differenz umgreifendes und überwölbendes Meta-Inklusionssystem. An der Debatte wird zugleich Folgendes deutlich: Der thematische Horizont dieses Themenspektrums bezieht sich nicht allein auf die Adäquatheit empirischer Diagnosen, sondern ebenso auf die Frage der Leistungsfähigkeit der soziologischen Modernisierungs- und Globalisierungstheorie. Kernmoment der Debatte sind eben auch die Einschätzungen, wie in bestimmten sozialwissenschaftlichen Ansätzen das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie gestaltet ist. Das Kontingenztheorem – so lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten – führt immer wieder auf das Methodenproblem zurück. In diesem Kapitel soll es um eine problemorientierte Rekonstruktion dieses Diskurses gehen. Insbesondere soll verdeutlicht werden, inwiefern die These, es entstehe eine Weltgesellschaft, die regionale kulturelle Variationen zunehmend durch eine universalistisch-rationalistische Metakultur ersetze, hochproblematisch ist. Wir können hier bereits festhalten: Zwar ist durchaus zuzugestehen, dass im Zuge der Globalisierungsprozesse neue globale Strukturen im Begriff sind, zu entstehen. Es ist eine Sache, festzustellen, dass die heutige Globalisierung zu einer Enträumlichung des Globus beiträgt; es ist aber eine ganz andere, zu be21

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haupten, dass alle regionalen und kontingenten Unterschiede in einem grenzenlosen Prozess des Konformismus und der Isomorphie verschwinden. Das Paradigma der „Vielfalt der Moderne“ argumentiert daher dezidiert historisch und kontextgebunden. Weil Geschichte vieldeutig ist und Kontexte unbegrenzt sind, lassen sie sich nicht vereinheitlichen. Im fünften Kapitel werden zentrale Debatten der organisationstheoretischen Forschung zum Thema Kontingenz in Organisationen rekapituliert. Organisationen stehen mehr als andere soziale Entitäten vor einem Dilemma der Kontrolle. Auf der einen Seite wird das Unternehmen als zweckrational steuerbar und in diesem Sinne als deterministischer Kausalmechanismus betrachtet, der Kontingenz zunächst einmal ausschließen soll. Ziel der Organisation ist es traditionell, Unordnung in Ordnung zu übersetzen. Neben Effizienz ist Ordnung der wesentliche Fokus. Andererseits macht eine unvoreingenommene Analyse des tatsächlichen Entscheidungsverhaltens in Organisationen – und hier ist natürlich besonders an wirtschaftliche Unternehmen zu denken – deutlich, dass Regeln, Zweckvorgaben und sogar die Orientierung an der Logik des Geldes nicht die einzigen Maßstäbe sind, die Akteure in Organisationen heranziehen. Mindestens ebenso wichtig sind Macht, Einfluss und andere Faktoren, die zu der Einsicht führen, dass organisationale Entscheidungsprozesse allenthalben kontingent sind. Die Organisationssoziologen Michel Crozier und Erhard Friedberg (1993: 313) kommentieren dies folgendermaßen: „Kontingent im radikalen Sinn des Wortes, das heißt, zugleich abhängig von einem Kontext, von den darin vorhandenen Gelegenheiten und den von ihm auferlegten (materiellen und menschlichen) Zwängen, und unbestimmt, folglich frei.“ In einem ersten Schritt werde ich mich daher der Aufarbeitung und Rekonstruktion von zentralen Diskussionsaspekten des mikropolitischen Paradigmas zuwenden. Die von den Autoren des mikropolitischen Paradigmas in Stellung gebrachte Kritik an einem klassischen Organisationsverständnis lässt sich in folgender Einsicht zusammenfassen: Mikropolitik verläuft nicht jenseits der formalen Organisation, sondern Mikropolitik ist vielmehr als ein essenzieller Aspekt des innerorganisationellen Handelns und Entscheidens aufzufassen. Das Kapitel diskutiert anschließend einige zeitdiagnostischen Trends, die man unter dem Stichwort Kontingenz bzw. Paradoxien von Organisationen (Kühl 2002) subsumiert hat. Beobachtet werden in der Gegenwartsgesellschaft immer schneller werdende Veränderungsprozesse, die auch die Prozesse der Organisation durchdringen. Das hat die Organisationsexperten dazu bewogen, durch neue Instrumente die Orga22

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nisation flexibler zu gestalten. Verwiesen sei nur auf Schlagworte wie Reengineering, Lean Production, Total Quality Management oder Outsourcing. Die Auseinandersetzung mit diesen Instrumenten wird zeigen, dass sie häufig zu mehr Komplexität beitragen, als diese zu reduzieren. Organisationen bleiben letztlich fehlerbehaftete Entitäten in einer Welt permanent wachsender Komplexität. Die identifizierten Paradoxien können weder durch den Glauben an eindeutige Zweck-Mittel-Analysen noch durch neue Organisationsstrukturen behoben werden. Peter Gross (2003) glaubt, dass Managen heute heiße, die in modernen Gesellschaften „von autonomen Akteuren selbsterzeugte Ungewissheit in eine operativ handhabbare Formen bringen. Management muss davon ausgehen, dass die Umwelten der Unternehmung komplexer und turbulenter werden“. Und schließlich soll mit dem Thema „transnationale Organisationen“ das in Kapitel vier diskutierte Verhältnis von Konvergenz und Kontingenz (Multiple-Modernities-Debatte) nochmals aufgegriffen werden. Das Thema Konvergenz versus Pfadabhängigkeit/Kontingenz erhält in diesem Kapitel eine organisationssoziologische Unterfütterung. Zur Debatte steht hier die Frage, ob sich im Zuge der Globalisierung Organisationen immer ähnlicher werden und homogene Strukturen ausbilden oder ob sich auch hier eher ein Ergebnis beobachten lässt, das in Richtung Kontingenz verweist. Im ersten Fall erschiene Globalisierung als ein Prozess der Abspaltung von länderspezifischen Kontexten mit der Folge einer weltweiten Konvergenz von Organisationsstrukturen. Im zweiten Fall würde gezeigt werden, dass Transnationalisierung ein hochgradig voraussetzungsvoller Prozess ist, der nicht unabhängig von sozialen, kulturellen und geografischen Schnittstellen gedacht werden kann. Diese Fragestellung werde ich an Themen wie „Produktionssysteme“, „Marken“ und „internationales Management“ diskutieren. Im sechsten Kapitel möchte ich die Herausforderungen des Begriffs der Kontingenz für die Soziologie aufarbeiten. Die Frage nach der Kontingenz stellt für das Methodenverständnis der Soziologie nach meiner Einschätzung im Rahmen metatheoretischer Überlegungen einen thematisch-inhaltlich zentralen Diskussionsaspekt dar. Allerdings zeigen die Ergebnisse metaanalytischer Untersuchungen, wie sie die „Soziologie der Soziologie“ (Mannheim 1980: 39) hervorbringt, dass das Phänomen der Kontingenz bisher nicht die Beachtung gefunden hat, die es eigentlich verdient. So lässt sich ein Urteil Baeckers über den Status des Phänomens Kontingenz auch auf die Soziologie übertragen: „Auf kaum etwas reagiert eine Gesellschaft empfindlicher als auf den Nachweis der Kontingenz ihrer Institutionen […].“ (Baecker 1999: 110)

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Damit eröffnet sich freilich ein weites Feld von Themen. Zunächst wird der Versuch unternommen herauszudestillieren, durch welche theoretischen Figuren Kontingenz aus dem soziologischen Erfahrungsbereich ausgeschlossen wird und zu welchen Wirklichkeitsentstellungen diese führen. Mit der Konzeption des „Relationismus“ soll in ersten Zügen an ein Denkmodell erinnert werden, das Aussicht hätte, eine alternative Methode im Hinblick auf die konstatierten Defizite anzubieten. Im Anschluss daran werden die zuvor entwickelten Überlegungen auf die Mikro-Makro-Debatte übertragen. Die Suche nach einem von den fachüblichen Paradigmen nicht kontaminierten Blick auf das Phänomen Kontingenz führt uns zur „Theorie der Praxis“ und zu neueren netzwerktheoretischen Ansätzen. Um es an dieser Stelle kurz zu halten, kann man mithin festhalten, dass eine Theorie der Praxis und der Netzwerke, die gleichwohl nicht auf gesellschaftliche Makroperspektiven verzichtet, eine Lösung für das Problem der Kontingenz anbieten kann. Diese Diskurse demonstrieren, dass der Soziologie allmählich bewusst wird, dass das Thema Kontingenz auch für die Epistemologie der Soziologie Konsequenzen nach sich zieht. Das Buch endet mit einem kurzen Ausblick auf das Thema Pluralismus. Im siebten Kapitel soll darauf hingewiesen werden, dass zum Themenfeld „Kontingenz“ ein wirklicher Pluralismus von Beschreibungsebenen gehört. Kontingenz und Pluralismus gehören zusammen (vgl. Marquard 1998: XV). Allerdings ist hierbei nicht „einfach“ an einen Pluralismus gedacht, der wie in der Postmoderne als Königsweg kurzerhand normativ postuliert würde. Es geht vielmehr um einen epistemologischen Pluralismus, in dem die Kategorien der Sozialwissenschaft einer prinzipiellen historischen Perspektivität folgen. Die Konstanz des einen Erfahrungshorizontes wäre durch eine Beschreibung der Pluralität multipler kultureller Vorstellungswelten zu ersetzen.

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2 Dimensionen des Begriffs Kontingenz

Wie fast alle historischen Sachverhalte, die sich im Laufe der Zeit entwickeln und transformieren, entzieht sich auch der Begriff der Kontingenz einer bündigen und verallgemeinerbaren Bedeutung. Man kann wohl festhalten, dass Kontingenz gegenwärtig als ein diffuses Schlagwort erscheint, über dessen Anwendung kaum Konsens zu erzielen ist. Nicht, dass es keine klare Definition dieses Terminus gäbe – aber „Kontingenz“ ist durch zahlreiche Vorbedingungen gekennzeichnet. Je mehr man den Begriff aus der Nähe betrachtet, desto unklarer wird sein Umfang. Dass der Begriff Kontingenz teilweise konträre Deutungen erfährt, liegt nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass er in den unterschiedlichsten Themengebieten und Dimensionen seine Anwendung findet. Der Philosoph Ernst Troeltsch (1922: 775) fasste diesen Gesichtspunkt in seinem lesenswerten Aufsatz „Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz“ in dem Satz zusammen, dass das Problem der Kontingenz „in nuce alle philosophischen Probleme“ umschließe. In der Tat reihen sich daher die Positionen, die ich im Laufe des Buches versammeln werde, nicht ohne Weiteres zu einem Gedankenzug oder Gebäude zusammen. Viele stehen zueinander gar in einer Beziehung des Konflikts, des Streits und der Polemik, zumindest – wie es in der Wissenschaft üblich ist – des Disputs. Ich werde im Folgenden in einem ersten Schritt nur eine kurze Skizze der bekannten Erscheinungsweisen des Begriffs Kontingenz in ihrem jeweiligen Kontext vorstellen, die man als ein erstes Orientierungsraster lesen mag. In einem zweiten Schritt möchte ich zu der spezifischeren historischen Semantik des Konzepts überleiten.

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2.1 Zur Bedeutungsvielfalt von Kontingenz Im Rahmen einer Analyse des Kontingenzbegriffs stößt man, wie oben angedeutet, auf verschiedene Dimensionen und Facetten. Es können die im Folgenden dargestellten konzeptuellen Ebenen und Problemkontexte des Begriffs unterschieden werden.

2.1.1 Analytische Bestimmung Als kontingent bezeichnet man etwas, das zufällig so ist, wie es uns erscheint, das aber auch anders sein kann. Aristoteles definierte das Kontingente als dasjenige, was weder unmöglich noch notwendig ist und aus diesem Grund auch nicht oder auch anders sein kann.1 Kontingenz ist somit durch eine doppelte Verneinung charakterisiert: Etwas ist nicht notwendig und muss nicht sein, es ist aber auch nicht unmöglich. Das ist zunächst die analytische Bestimmung des Begriffs Kontingenz. Kontingent können demnach Zustände, Objekte, Ordnungen etc. sein. Kontingenz bedeutet die Möglichkeit eines Sachverhaltes, zu sein oder nicht zu sein. Der Begriff Kontingenz leitet sich von dem lateinischen Verb „contingere“ (zusammenfallen, sich ereignen, eintreffen) und dem Substantiv „contingentia“ (Zufälligkeit, Möglichkeit) ab. Kontingenz wurde daher seit der frühen Neuzeit in Verbindung mit dem Zufall gebracht und wird als etwas konstitutiv Unvorhersehbares aufgefasst (hasard, chance, accident etc.). Allerdings sind die Begriffe „Zufall“ und „Kontingenz“ nicht deckungsgleich. Arnd Hoffmann (2005: 64ff.) weist aber darauf hin, dass Zufall und Kontingenz in einem Wechsel- und Mischungsverhältnis stehen. Diese Einsicht lässt sich bereits durch einen nahe liegenden Gedanken erhellen: In einer Wirklichkeit, die nur notwendige Determiniertheit kennen würde, wäre es nur schwer vorstellbar, dass verschiedene Kausalketten und Handlungen miteinander koinzidieren. „Der Bereich, in dem sich der Zufall realisiert, muss also kontingent sein oder Kontingenzen ermöglichen. Die Kontingenz ist insoweit Bedingung der Möglichkeit des Zufalls in der Form der Koinzidenz. Zufall ist realisierte Kontingenz.“ (Hoffmann 2005: 65) Umgekehrt ist es gerade der Zufall, der Kontingenz im Bereich strukturierter Ordnung realisiert. Ohne den Zufall, der eintritt, könnte man die Wirklichkeit im Horizont von Mög-

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Aristoteles (2001: I. 13, 32a 18–20); ebenso Niklas Luhmann: Kontingent ist Luhmann (21988: 152) zufolge etwas, „was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist“.

DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

lichkeiten nicht als Kontingente erfahren: „Der Zufall ist insoweit Bedingung der Möglichkeit von Kontingenz.“ (Ebd.: 66)

2.1.2 Kontingenzbewusstsein und seine kulturhistorische Bedeutung Die Kontingenz in sozialen Zusammenhängen ist stets bezogen auf ein Kontingenzbewusstsein. Es überrascht nicht, dass Kontingenz etwas Subjektives ist, es hängt davon ab, wer wahrnimmt und welches Wirklichkeitsverständnis an die Welt herangetragen wird. Kontingenzbewusstsein ist somit ein Begriff sozialer Selbstproblematisierung, dessen Manifestationen historisch variieren und prinzipiell verschiedene Semantiken und Weltbilder besitzen (vgl. Makropoulos 1997: 14f.). Zwar lässt sich eine zeitdiagnostische Relevanz des Begriffs Kontingenz für die moderne Gesellschaft nicht leugnen (vgl. Punkt 2.2). Dennoch wird mit dem Begriff „Kontingenzbewusstsein“ ausgedrückt, dass das Thema Kontingenz je nach Wahrnehmungs- und Präferenzdispositionen unterschiedlich konstruiert werden kann. Kontingenz bezeichnet z.B. im christlichen Bedeutungskontext, dass die Welt nicht existieren müsste, weil die Schöpfung in den Händen eines frei entscheidenden Gottes liegt. Die Kontingenz der göttlichen Entscheidung ist letztursächlich für die Kontingenz der Schöpfung. Die voluntative Kontingenz des göttlichen Verursachens ist die Basis für die operative Kontingenz der Schöpfung (vgl. Müller 2005: 497). Gottes Handeln ist unergründlich: „Im Begriff der potentia absoluta ist die Unendlichkeit des Möglichen impliziert.“ (Blumenberg 1996a: 169). Die Welt als kontingent zu interpretieren, ist eine direkte Folge des Begriffs von Gott, der zu jeder Zeit die Beschaffenheit der Welt transformieren kann. Gott ist das Kontingente schlechthin: Der Gottesname, den Moses von Jahwe erhält, lautet: „Ich bin, der ich sein werde.“ Und das hieße nach Aleida Assmann (1998: 241) so viel wie „Mein ist die Kontingenz“. Gott ist insofern tatsächlich der Gegensatz des menschlichen Bedürfnisses nach Erwartungssicherheit. Im Mittelalter wird Kontingenz – insbesondere bei den Mystikern – als „zufallen“ interpretiert. In der Vereinigung des Mystikers mit Gott kommt der Geist Gottes über die Menschen. Er sucht den Menschen heim, er befällt ihn wie ein plötzlicher Einfall (vgl. Mainzer 2007: 29). Blumenberg (1996a) wiederum hat in „Die Legitimität der Neuzeit“ gezeigt, dass sich die Moderne als eine Reaktion auf den zunehmenden Ordnungsschwund des Mittelalters herauskristallisiert. Die Welt und das Subjekt bilden nun nicht mehr eine durch Gott gesicherte Einheit oder

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„prästabilisierte Harmonie“. Hier bereits ließen sich zwei fundamentale Reaktionsweisen auf Kontingenz festmachen. Auf der einen Seite geht die Kontingenzerfahrung mit dem Schwund an Orientierungssicherheit einher. Blumenberg (1986) reflektiert, welchen Preis das erstarkende Subjekt bezahlen muss. Wenn es denn von nun an, so nimmt Blumenberg an, eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Weltauffassung des Menschen und einer objektiven Welt – in den Worten Blumenbergs: zwischen Lebenszeit und Weltzeit – gibt, dann bricht die Koinzidenz von Welt und Mensch zusammen. Dieses Auseinanderbrechen von Weltzeit und Lebenszeit ist für den Menschen ein Leidensdruck erzeugendes Phänomen, da der Mensch von nun ab jeden privilegierten Zugriff auf die Welt verliert. Das verstärkt aber nur die Einsicht der „Rücksichtslosigkeit der Welt gegenüber jedermann“ (ebd.: 67). Auf der anderen Seite führt die Expansion der Erfahrung von Kontingenz zu einer Bewusstseinshaltung, die zunehmend den Menschen als aktives Wesen und Produzenten ins Zentrum rückt und somit seinen Möglichkeitsraum erweitert. „Kontingenzsensibilität“ und „Kreativitätsethos“ gehen Hand in Hand (Vogt 2002). Von nun ab wird „die Kontingenz als eine dem Handeln eigene Chance verstanden“, die sie „in eine Figur der Freiheit verwandelt“ (Palonen 1998: 15) Die Neuzeit habe daher eine „Kontingenzkultur“, weil sie „von dem Grundgedanken“ geprägt ist, „daß nicht sein muß, was ist“ (Blumenberg 1987: 57). Spätestens in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Wirklichkeit in Mitteleuropa erneut zum Objekt der Reflexion. Der Erste Weltkrieg und seine destruktiven Folgen auf die Gesellschaft gab dem Gefühl Auftrieb, in einer sinnentleerten Welt zu leben. Vielleicht hat Walter Benjamin (1977: 258) am deutlichsten das Zeitgefühl der klassischen Moderne skizziert, wenn er davon sprach, dass der „,Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist“. Im gefährlichen Ausnahmezustand „durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik“, kommentiert Carl Schmitt (82004: 21). Karl Heinz Bohrer (1981: 43) hat nicht von ungefähr die „Plötzlichkeits“-Denker jener Jahre – Benjamin, Heidegger, Sartre, Schmitt – als eine „Generation des ‚gefährlichen‘ Augenblicks“ bezeichnet. Hier wurde das Thema Kontingenz so offen wie nie zuvor thematisiert. Makropoulos (1997: 123ff.) lässt einen Reigen von Stimmen zu Wort kommen, die zumindest in einer Hinsicht einer Meinung sind: Modernität, das ist vor allem Möglichkeitsoffenheit. „Modernität, das war im Sinne dieser Bestimmung ein struktureller Sachverhalt, nämlich Pluralität. […] Modernität war also die Koexistenz von Heterogenem, die sich als Pluralität etablierte.“ Er ist sogar der Meinung, dass genau in diesen 28

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genau in diesen Jahren der Sinn für Offenheit seinen Höhepunkt erreicht: „Und die 20er-Jahre waren dann in dieser Perspektive nicht die Krise der Moderne, sondern Modernität war die Vollendung der Krise der Geschichte, die mit der Neuzeit ausgebrochen war.“ (Ebd.: 111) Ähnliche Forschungsergebnisse ließen sich wohl für das politische Entscheiden in den Jahren 1945–1950 in Deutschland vorlegen, wie Greven (2007: 22) dies unlängst in einer Studie belegt hat. Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich gerade das politische Denken im Deutschland der Trümmerjahre nach dem Zweiten Weltkrieg „vor einen politischen Kontingenz- und Möglichkeitsspielraum gestellt sah, wie er in modernen Zeiten kaum jemals zuvor aufgetreten war“ – ging es doch hier wirklich um die Frage, wie das politische Deutschland in Zukunft strukturiert werden würde. Deutschland befand sich quasi an einem politischen Nullpunkt. Der gleiche Gedanke steckt auch hinter der Rede von der „Multioptionsgesellschaft“: Optionierung ist gemäß Peter Gross der grundsätzliche Modus, in dem die gesellschaftlichen Akteure ihre Realität heute begreifen. James G. March (1994: 216) sieht, in einem Vergleich von vormoderner und moderner Gesellschaftsform, Entscheidungen als die zentrale Instanz der Moderne: „In a society based on faith and revelation, the church is a sacred institution. It symbolizes the glorification of the gods and the subordination of human will to divine guidance. In a society based on reason, rationality, and a conception of intentional human control over destiny, decision making is a sacred activity. The world is imagined to be produced by deliberate human action and responsive to human intention. Intention is imagined to be transformed into action through choice and power. And choice is imagined to be guided by reason.“

Die Lebensziele und Lebenserfolge müssen nun flexibel zusammengebastelt werden. Der moderne Gegenwartsmensch sei ein „Sinnbastler“, der sich sein Leben permanent aus Zeitblöcken zusammenmontiere (vgl. Hitzler 1997). Zusammenfassend lässt sich sagen: Das ursprünglich im Zusammenhang mit theologischen Fragestellungen entwickelte Grundgedankengut sowie Vokabular des Denkens der Kontingenz faszinierte und durchdrang immer wieder den Zeitgeist, durch die Jahrhunderte hindurch. In den letzten Jahrzehnten diffundierte es sehr rasch in die verschiedensten Teilbereiche des gesellschaftlichen Zusammenhangs und gilt heute als Topos der Gegenwartsdiagnose. Aber der rasche Durchgang durch die kulturgeschichtliche Bedeutung des Begriffs zeigt auch: So eindeutig sich auch das Bild der aufgezeigten Trendlandschaft in Be29

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zug auf das Phänomen Kontingenz in der Gegenwart präsentiert, so vielschichtig und heterogen gestaltet es sich, wenn man ins Detail geht.

2.1.3 Kontingenz, Zufall und Geschichte Herausheben möchte ich in dieser kurzen Betrachtung der Bedeutungsschichten von Kontingenz die handlungstheoretische Perspektive des Begriffs, die sich analytisch trennen lässt in die beiden Bereiche Kontingenz als Widerfahrnis und Handlungskontingenz. Makropoulos (1997: 14f.) konstatiert: „Der Begriff der Kontingenz bezeichnet zunächst logisch-ontologisch jenen ambivalenten Bereich der Unbestimmtheit, in dem sich sowohl Handlungen als auch Zufälle realisieren.“ Auf der einen Seite lasse sich Kontingenz nämlich als Erfahrung auffassen, dass die Wirklichkeit durch Handlungen auch anders möglich ist. Auf der anderen Seite sei Kontingenz etwas, das sich unserer Planung entziehe. Eine nahe liegende Begründung für eine eigenständige Sphäre im Rahmen menschlichen Verhaltens, die wir gewohnt sind Handlung zu nennen, ist das Postulat der Intention. Handlungen sind absichtsgeleitet. Menschen handeln gemäß bewusster Intentionen. Absichten sind mentale Zustände, die Handlungen in der Regel verursachen, in dem der Handelnde seine besonderen Entwürfe und Pläne unter Selektion geeigneter Zwecke im Handlungsvollzug realisiert. Dieser Zusammenhang bezieht sich selbst noch auf Handlungen, die ihren Gehalten nach nur vor dem Hintergrund von Intersubjektivität zu verstehen sind. Weber z.B. sagt ausdrücklich in „Wirtschaft und Gesellschaft“, dass soziales Handeln nur dann ein solches ist, wenn es „seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Weber 51985: 1). Er sagt des Weiteren, dass es gerade die spezifische Aufgabe der Soziologie als Wissenschaft ist, „soziales Handeln deutend verstehen“ (Weber 51985: 1) zu wollen. Der Zufall ist nun etwas, das den menschlichen Willensakten zuwiderläuft. Anstelle einer Handlung tritt hier nämlich ein Ereignis ein, welches sich dem Akteur als „Widerfahrnis“ (Kamlah 1972: 34ff.) entgegenstellt. In der Regel handelt es sich bei dem Widerfahrnis um ein Zusammentreffen zweier an sich nicht zufälliger Variablen. Neue kontingente Kontexte werden vor allem deswegen geschaffen, weil Teile eines Handlungssystems in unvorhergesehener Weise mit Elementen oder Segmenten eines anderen Systems in Interaktion getreten sind. Der Mensch handelt intendiert, in die Handlungen intervenieren jedoch Variablen, die er nicht gewollt hat. Zufall liegt also, gemäß Rüdiger Bubner (1998: 11), dann vor, „wenn auf einer bestimmten Handlung, die ein Ziel verfolgt, ein Vorgang parasitär aufsitzt“. In die ursprünglich inten30

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dierte Handlung kommt etwas dazwischen. Diese komplexen Kausalnetzwerke übernehmen die Kontrolle über den ursprünglichen Zweck der Handlung. Bruno Latour (1988a: 32) meint: „We always think we are doing the right thing, but our actions never turn out as we expected and are slightly diverted from their aim […] Between the act and the intention is a tertium quid that diverts and corrupts them […].“ Die Erklärung für die Erfahrung des widerfahrenen Erlebnisses ist dann stets die historische Ex-post-Erklärung. Wir verstehen die Zukunft erst, wenn es zu spät dafür ist, in der Gegenwart, die relevant ist, noch etwas durchzusetzen. Denn die Zukunft ist unwiderlegbar vergangen und damit auch unserer Macht entzogen. Der Akteur begreift nun den Handlungskontext nicht mehr als Kontext nur für sich, sondern vorwiegend oder ausschließlich als etwas, in das er, wie Dietrich Böhler (1985) sagt, „verstrickt“ bzw. dem er ausgeliefert war. Wir müssen die Handlung zumindest auch als Reflex auf vorhergehende Widerstände begreifen. Handlungen vollziehen sich also in Situationen.2 Das Setzen seiner Ziele geschieht in einer solchen Situation, so Joas (1992a: 232), nicht mehr in einem quasi „geistigen Akt vor der eigentlichen Handlung, sondern ist Resultat einer Reflexion auf die in unserem Handeln immer schon wirksamen, vor-reflexiven Strebungen und Gerichtetheiten“. Ein Handelnder, der sich nicht selbst mitsamt seinen Handlungen aus dem Nullpunkt erfindet, hat es immerzu mit etwas zu tun, was ihm geschieht, zustößt oder ihn herausfordert. Ein großer Teil unserer spezifischen Entscheidungskontexte setzt sich aus jenen „Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen“, zusammen, aus denen, wie Odo Marquard (1986: 129) meint, die menschliche Geschichte besteht. Eine erste wichtige Dimension des Begriffs Kontingenz scheint somit, dass „unvorhergesehene Kontingenz“ unsere Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt reduziert. Nicht selten wurde dieser Aspekt von Kontingenz in Verbindung gebracht mit der schicksalhaften Vergänglichkeit des Handelns. Marquard nennt diese Art von Kontingenz das „Schicksalszufällige“ (Marquard 1986: 128). Kontingenz und Zufall stehen für die 2

Böhler (1985: 252) definiert den Begriff „Situation“ folgendermaßen: „Unter ‚Situation‘ verstehen wir – ‚wir‘ als Handelnde und vom Handeln wissende Menschen – ein Verhältnis von Menschen untereinander und zu Sachen oder von einem Menschen zu Sachen, das der jeweils erörterten Handlung schon vorausgeht und daher von den betroffenen bzw. dem betroffenen Menschen als Herausforderung, etwas zu tun oder aber nicht zu tun, je schon verstanden ist. Umgangssprachlich sagen wir, man ‚gerate‘ in eine Situation, sie ‚widerfahre‘ uns, sie ‚stoße uns zu‘ und wir sähen uns ‚vor sie gestellt‘. Damit drücken wir aus, daß die Situation etwas ist, das unserem Handeln (oder Lassen) vorausgeht, dieses aber auch herausfordert, weil sie uns ‚angeht‘, uns ‚interessiert‘ oder ‚betrifft‘.“

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Ungewissheit und nicht vorhersehbare Schicksalsschläge. Der Mensch ist eingebettet in ein „Meer des Zufallsrauschens“ (Mainzer 2007: 225). Und immer wieder wurde die Formel Kontingenz in radikalisierter Version in Richtung auf Vergeblichkeit erweitert. Allerdings: Die im Alltagsbewusstsein fast natürliche Assoziation von Kontingenz mit Schicksal ist eine irrtümliche Vorstellung. Unmöglichkeit und Notwendigkeit bezeichnen in Wirklichkeit die Gegenbegriffe zum Terminus Kontingenz. Nur wer Kontingenz radikal verneint, endet bei totaler Faktizität. Wenn nämlich auf der einen Seite der Zufall für einen bestimmten Akteur als „Widerfahrnis“ beschrieben werden soll, ist auf der anderen Seite davon auszugehen, dass der Zufall in der Regel in ein strukturiertes System – gerade auch im Sinne des Dazwischenkommens – Innovationen und produktive Störungen einspeist. „Der Zufall ist eine Bedingung der Möglichkeit von Kontrafaktizität.“ (Hoffmann 2005: 158) Er ist eine konstruktive Variable bei der Entwicklung von Geschichte. Ohne Zufall und Störungen gibt es in einem System keinen Wandel und keine Innovation. Ohne Zufall wandelt sich nichts. In der deterministischen Welt des laplaceschen Dämons spielt der Zufall keine Rolle und jener ist daher in der Lage, zu einem bestimmten Zeitpunkt alle nachfolgenden Zustände vorherzusagen. In der modernen Chaostheorie hingegen spielen Zufallsfluktuationen eine bedeutende Rolle, die zu Emergenz und neuen Strukturen führen können. „Zufallsfluktuationen und spontane Symmetriebrechung sind ein Schlüssel zur Bildung neuer Strukturen. Der Zufall ist also unter bestimmten Bedingungen fern des thermischen Gleichgewichts ‚kreativ‘.“ (Mainzer 2007: 70) In Bereichen, wo die quantenphysikalische Unschärfe einsetzt, ist es zudem sogar falsch, von einem kausal funktionierenden Messapparat auszugehen. In diesen Sphären schreitet die Natur nicht nach den Kausalgesetzen des Menschen voran, sondern ohne eindeutige Ziele und vom Menschen vorgeschriebenen sinnvollen Zweck. Selbst wenn der Zufall auch nicht unbedingt kommt, wenn die humanen Akteure ihn herbeiwünschen, bedeutet es gerade dennoch, dass etwas von strukturierten und fest etablierten Pfaden abweicht und eben damit ein bestimmtes Muster durchbricht. Der Zufall weist darauf hin, dass dem Menschen keine notwendige Geschichte und Bestimmung eigen ist. Hoffmann (2005: 71) fasst dies in dem Satz zusammen: „Der Zufall im Sinn des ‚Dazwischen‘ ist Intervall und Unterbrechung. […] Er unterbricht geregelte Ordnungen und geordnete Regelmäßigkeiten wie ein Unfall den Verkehr. Der Zufall diskontinuiert und bedingt so die historische Erfahrung von Bruch, Wandel und Neuem.“

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An Reinhart Koselleck (21995: 159) gemahnend, dass Zufall gerade für die Geschichte „das Bestürzende, das Neue, das Unvorhergesehene“ sei, hat insbesondere Hoffmann den Zufall als herausragende Kategorie für die historische Wissenschaft fruchtbar gemacht. Seine Studie zielt auf eine klare These ab: „Zufall und Kontingenz sind nicht äußerliche, unbedeutende und methodisch auflösbare Scheinkategorien, sondern vielmehr produktive und mitbegründende Faktoren/Begriffe bei der Konstitution von Geschichten und historischer Erfahrung […].“ (Hoffmann 2005: 14) Man könnte sogar sagen, dass im Zufall als Variable, der die Konsistenz des Vorgegebenen durchbricht, das spezifisch Historische enthalten ist.

2.1.4 Handlungskontingenz und Struktur Es ist dann auch nicht sehr erstaunlich, dass es gerade der Zufall ist, der menschliches Handeln überhaupt erst möglich macht. Kontingenz und Handeln sind in Wirklichkeit untrennbar miteinander verknüpft. Eine Entscheidung oder eine Handlung setzen stets die Existenz heterogener Handlungskorridore voraus, sofern man überhaupt von einer Handlung sprechen kann. Eine Handlung kann sich Bubner (1984: 38) zufolge nur dort realisieren, „wo die Dinge auch anders sein können […]. Zwangsläufige Geschehnisse pflegen wir ebenso wenig Handeln zu nennen wie das schlechterdings prognostizierbare Verhalten“. Die Entscheidung für eine bestimmte Möglichkeit des Handelns setzt voraus, „daß es überhaupt einen Spielraum offener Möglichkeiten gibt“ (Bubner 1984: 35). Wo alles notwendig ist, gibt es keine Handlungen. Denn Handeln „bedeutet Setzen von Wirklichkeit, die noch nicht ist“ (Bubner 1998: 7). Nur dasjenige, was desgleichen auch fernbleiben oder sich anders ereignen kann, bietet unserer zielstrebigen Tätigkeit Raum zur Realisierung. Dafür muss ein Horizont eröffnet werden, denn kein intendiertes Handeln kann entworfen werden, wenn alles festgelegt ist. Bereits Immanuel Kant (1974: B 562) wies darauf hin, dass es, um Handlungskontingenz zu realisieren, eines Vermögens bedarf, „sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“. Er nannte dieses Vermögen auch die „Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln“ (ebd.: B 561). Bis in die gegenwärtige Diskussion um sogenannte „Basic Actions“ (Danto 1985) bildet Kants Theorem den Dreh- und Angelpunkt der Debatte um das Thema „Handlungskontingenz“. Es gibt somit neben dem Zufall eine Kontingenz im Handeln, wobei in diesem Fall Kontingenz unter dem Aspekt der Chance gefasst wird. Sie erscheint als das „Beliebigkeitszufällige“ (Marquard 1986: 128). Ge33

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rade das Unbekanntsein der Zukunft erweist sich als unentbehrliche Variable des Entscheiders und ist die Ursache für seinen Optionenspielraum. Und auch bestimmte Traditionen der soziologischen Theorie, die den Akteuren jegliche Handlungskompetenz absprechen, müssten hier akzeptieren, dass die Möglichkeit, „daß Akteure in Ereignissen Handlungsmuster durchbrechen können“, eben genau darauf verweist, dass sie in ihrem Handeln nicht stets und routinenhaft statische Regeln des gesellschaftlichen Zusammenhangs aktualisieren. Der Zufall ist somit, wie Hoffmann (2005: 158) notiert, eine Voraussetzung von Kontrafaktizität: „Wo jemand anders handeln kann, muss auch der Bereich anders sein können, in dem er handelt. Kontingenz ist eine Bedingung der Möglichkeit kontrafaktischer Fragen.“ Aus einer Perspektive, die Kontingenz im Sinne der skizzierten Handlungskontingenz auffasst, erscheint der Begriff als Einspruch gegen die immer neuen Anstrengungen, Geschichte als Strom unverrückbarer Gesetzmäßigkeiten zu deuten. Der optimistische Kontingenztheoretiker, der Kontingenz im Sinne von Chancen deutet, betont, dass es immer mehr von den Handlungen und Entscheidungen der Menschen abhängt, wie wir unser Leben führen.

2.1.5 Kontingenz aus anthropologischer Perspektive Für Helmuth Plessner ist Kontingenz geradezu eine menschliche, anthropologische Konstante. Die Kategorie der „exzentrischen Positionalität“ bildet für Plessner den zentralen Wesenszug des Menschen. „Exzentrische Positionalität“ bedeutet ganz einfach, dass der Mensch keine Mitte besitzt. Dem Menschen ist es nicht gegeben, wie das Tier im Zentrum seines Wesens integriert zu sein und einfach aus dieser Position zu agieren. Während das Tier in seiner Mitte lebt und seinen animalischen Trieben nachgeht, ist es dem Menschen aufgetragen, seine Mitte unter „Vollzugszwang“ immer neu zu suchen. Der Mensch steht „hinter sich selbst, ortlos, im Nichts“ (Plessner 2003: 364f.). Seine Existenz ist auf Nichts gestellt. Gerade weil die menschliche Lebensform durch ihr „Stehen im Nirgendwo“ (ebd.: 424) gekennzeichnet ist, wird die Wirklichkeit stets von einem „Horizont von Möglichkeiten des auch anders sein Könnens“ (ebd.: 421) durchbrochen. Genau dies ist auch Jean-Paul Sartres Grundbehauptung und seine Charakterisierung des Menschen. Der Mensch kann sich in Richtung Zukunft entwerfen. Der Mensch, sagt Sartre (2000: 155), „ist in jedem Augenblick, ohne Halt und ohne Hilfe, dazu verurteilt, den Menschen zu erfinden“. Die Folgerung aus diesem Schluss besteht darin, „daß der Mensch, der verurteilt ist, frei zu sein, das ganze Gewicht der Welt auf 34

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seinen Schultern trägt“ (Sartre 1962: 696). Die Zukunft ist für ihn der wesentliche Zeitmodus. Sartre weiß natürlich, dass der historische Kontext den strukturellen Rahmen definiert, in dem das Subjekt handelt und kommuniziert. „Der Sinn eines Lebens widerfährt dem Lebenden durch die menschliche Gesellschaft, die ihn trägt, und durch die Eltern, die ihn erzeugen.“ (Sartre 1986, Bd. 1: 142). Gleichzeitig ist es aber erst die Person, die dieser Existenz und der Geschichte Sinn verleiht. Sartre (1986, Bd. 1: 59) fasst diese Erkenntnis in „Idiot der Familie“ in folgendes Bild: „Der Würfelwurf wird den Zufall niemals aufheben, denn er enthält den Zufall in seinem praktischen Wesen; dennoch führt der Spieler eine Handlung aus, er wirft seine Würfel in einer ganz bestimmten Art, er reagiert auf die eine oder andere Weise auf die geworfenen Zahlen und versucht dann, sein Glück oder Pech zu benutzen: das heißt den Zufall leugnen und eigentlich ihn in die Praxis integrieren als ihr unauslöschliches Kennzeichen.“

2.1.6 Politische Theorie und Kontingenz Eine besondere Rolle spielt der Begriff Kontingenz im Rahmen der politischen Theorie, insbesondere für den politischen Dezisionismus (vgl. Kapitel 3.4). Mit großer Strahlkraft hat Carl Schmitt den Dezisionismus in der politischen Theorie eingeführt. Der Dezisionismus ist in diesem Kontext – kurz gesagt – die Folgeerscheinung der Auflösungen traditionaler Begründungsressourcen. Für Entscheidungen unter modernen Bedingungen ist das Fehlen allgemein anerkennungswürdiger moralischer Gründe für ihre Geltung charakteristisch. Die Entscheidung des politischen Souveräns ist unter modernen Bedingungen strukturell unabhängig. Die Entscheidung sei, so lautet der berüchtigte Satz von Schmitt (82004: 38), „normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren“. Kontingenz bedeutet hier so viel wie normativ unbestimmt und normativ grundlos. Greven (1999) hat in seiner imposanten Studie „Die politische Gesellschaft“ diesen Gedanken weitergesponnen. Er charakterisiert die moderne Gesellschaft als eine solche, in der alles von Entscheidungen abhängig geworden sie und die zunehmend erkenne, dass sie auf keine anderen Geltungsgründe als die sich aus ihren eigenen Verfahren selbst ergebenden rekurrieren könne. Die „politische Gesellschaft“, das ist nach Greven eine Gesellschaft, die vollständig auf Dezision und Kontingenz gebaut ist und deren Säulen auf kontingentem Grund errichtet sind: „Alles ist prinzipiell entscheidbar geworden, alles Entscheidbare stellt sich als Interessenkonflikt dar, für alles kann die Politik ihre Zuständig35

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keit erklären und jedes erwachsene Gesellschaftsmitglied gilt als politisches Subjekt.“ (Ebd.: 55) Das Politische besteht für Greven in letzter Hinsicht darin, dass in der modernen Gesellschaft schließlich und endlich alles unter Entscheidungszwang steht. Zumindest für die Politik – sofern sie für kollektiv verbindliche Entscheidungen verantwortlich ist – gilt mehr denn je, dass sie sich auf kein normatives Fundament mehr stützen kann. Und dennoch muss entschieden werden. Es fällt ihr also gleichwohl die Rolle zu, Entscheidungen herbeizuführen. Greven ist sicherlich darin zuzustimmen, dass Entscheidungen in der modernen Gegenwartsgesellschaft zu einem zentralen Phänomen geworden sind. Der Punkt, an dem mit Greven zu diskutieren wäre, besteht in der Frage, ob die Expansion von selbstreferenziellen Entscheidungen aufgrund gesteigerter Kontingenz schon ein Indiz für eine zunehmende Politisierung von Gesellschaft ist. Auf Einzelheiten dieser komplexen Materie kann ich hier nicht eingehen (vgl. Holzinger 2006). Allerdings ist festzuhalten, dass die Zunahme von Kontingenz und Entscheidungen nicht per se mit einer Politisierung des Sozialen gleichzusetzen ist, wie Greven dies suggeriert. Kontingenz und politische Gesellschaft amalgamieren nicht so ohne Weiteres.

2.1.7 Kontingenz in Organisationen Wie ich in einem längeren Kapitel zum Thema Kontingenz in Organisationen zeigen werde (vgl. Kapitel 5), zeichnet sich gegenwärtig auch in der Organisationstheorie eine Perspektive ab, die das Phänomen Kontingenz als maßgebliche Variable betrachtet. Die Eigengesetzlichkeit von Kontingenz tritt heute am klarsten im Entscheidungsprozess der organisationalen Wirklichkeit zutage. „Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang lautet Kontingenz“, formuliert Günther Ortmann (1995: 61). Immer noch suggeriert zwar das Management, dass seine Handlungen nach dem altbewährten Zweck-MittelSchema funktionierten. Eine Handlung in einer Organisation ist also dann rational, wenn sie ihre Zwecke im Kontext der Gesamtorganisation auf ökonomische Weise erfüllt. Unternehmensführung wird in diesem Sinne immer noch verstanden als Summe aller Aktivitäten, die sich auf die Kontrolle und Lenkung einer Organisation beziehen. Und auch die klassische normative Entscheidungstheorie der Ökonomie beschreibt, wie sich Menschen und Organisationen rational verhalten sollten. Mit anderen Worten: Die klassische Entscheidungstheorie ist damit beschäftigt, Kontingenz im Entscheidungsprozess zu vernachlässigen. Das Bild entspricht aber schon lange nicht mehr der Realität. Gerade die deskriptiven Modelle der Organisationssoziologie, die das tatsächli36

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che Entscheidungsverhalten zu beschreiben versuchen und skizzieren, wie Menschen und Organisationen sich tatsächlich verhalten, demonstrieren, dass der homo oeconomicus allenthalben überall auf Kontingenz stößt. Die Frage, die sich stellt, lautet also: Wie werden Entscheidungen in Organisationen unter Kontingenzbedingungen gefällt? Wie noch zu zeigen sein wird, hat sich die Organisationssoziologie der letzten Jahre ausgiebig mit dem Thema Management und Macht beschäftigt. Organisationale Prozesse – um diese These wird es gehen – sind immer auch politische Prozesse. Man müsse doch wohl, so zitiert Ortmann (1995: 45) Kieser und Kubicek, „die Machtstruktur der Organisation als den letztlich entscheidenden Bestimmungsfaktor der Organisationsstruktur ansehen“. In einem weiteren Sinn bezieht sich Kontingenz im Rahmen der Organisationstheorie auch auf eine zeitdiagnostische Komponente. In einer „schnelllebigen Gesellschaft mit zahllosen gleichzeitigen Strukturänderungen und einer Vielzahl von sich überschneidenden, unerwartete Effekte produzierenden Kausalketten“ (Luhmann 2000b: 165) haben es Organisationen mit einer wachsenden Intransparenz und Eigendynamik ihrer Umwelt zu tun, die weitreichende Konsequenzen für ihre Steuerung verursachen. In der Organisationstheorie wird festgestellt, dass die Dynamik der Veränderungen weiter zunimmt. Die Planbarkeit strategischer Prozesse und struktureller Größen muss heute mit Skepsis betrachtet werden. Deswegen sei Folgendes zu konstatieren: „Die überkommene Entscheidungstheorie, die von bekannten Zielen, Mitteln und Wegen ausgeht, versagt in dem Moment, wo sich Ziele, Mittel und Wege verändern und andauernd neue erfunden werden.“ (Gross 2001: 25) Diese externen Dynamiken haben für die Struktur von Organisationen weitreichende Folgen. Von Kontingenzmanagement ist die Rede (Beyes 2003). Bereits die Anzahl der Managementtrends und Managementmethoden sind Indizien für die tiefe Verunsicherung der Manager bezüglich der Steuerungsfähigkeit ihrer Systeme. Es schaudert den Managern vor dem Abgrund der Kontingenz. Baecker (1999: 312) konstatiert: „Es sind nicht mehr in ihrer Praxis ruhende Unternehmen, die rationalitätsgefestigte Ökonomen nachfragen. Sondern es sind angesichts ihrer eigenen Praxis hoch irritierte Unternehmen, die bei Ökonomen kaum noch glaubwürdige Unterstützung mehr finden. Sie müssten Irritationsbewältigungswissen liefern und können nicht einmal mehr Rationalität garantieren.“

Es ist zudem als Dilemma zu werten, dass die Unternehmensführung und das Management sich immer noch zu wenig Zeit nehmen, entspre37

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

chende Modelle und Kernkompetenzen auszubilden, um mit Kontingenz umzugehen.

2.1.8 Kontingenz und Epistemologie In den letzten Jahren hat sich der Begriff Kontingenz insbesondere auf die Beschreibungsweisen und Repräsentationen von Welt bezogen (vgl. Kapitel 6). Viele wichtigen Denker der Epistemologie haben erklärt, dass Aussagen historisch relativ sind. Menschliche Erkenntnis ist, so Sebastian Rödl (2005: 14), als endlich zu bezeichnen. Und das bedeutet, dass der menschliche Verstand zeitlich ist, und zwar in einem doppelten Sinn, „daß er zu einer Zeit und daß er Zeitliches denkt“ (ebd.: 14). Kontingent bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Beobachtung von Gegenständen abhängig ist von einem Kontext. Kontingenz lässt sich nun in zwei Perspektiven betrachten: (1) Kontingent ist zunächst die Perspektive des Beobachters. Das bedeutet, dass jede Identifikation eines Gegenstandes und jedes Wissen darüber auch anders aufgefasst werden könnte. Insbesondere für moderne Gesellschaften gilt, was Luhmann folgendermaßen ausdrückt: „Alle Beobachtungen und Beschreibungen sind mithin abhängig von einer vorgängigen Kontextwahl, die in unserer Gesellschaft nur als kontingent präsentiert werden kann.“ (Luhmann 1992b: 666) Zeitliche Aussagen beziehen sich auf Subjekte und auf die Zustände, in denen sie sich befinden. (2) Während sich im ersten Fall der Begriff Kontingenz auf das Subjekt der Beobachtung konzentriert, wobei aber der Gegenstandsbezug vernachlässigt wird, wird im zweiten Fall der Gegenstand selbst als historisch kontingent aufgefasst. Kontingenz richtet sich im einen Fall auf das Wer, im zweiten Fall zugleich auch auf das Was der Beobachtung. (ad 1) Richard Rorty und Niklas Luhmann haben ersterer Interpretation im Rahmen ihres konstruktivistischen Theoriedesigns Nahrung verschafft. Der Begriff Kontingenz steht hier für die Unbestimmbarkeit des Gegenstandes. Hier bedeutet kontingent sein, dass alle Beobachtungen und Interpretationen über Objekte nur als menschliche Konstruktionen und Konventionen zu verstehen sind und deswegen durchwegs auch anders gestaltet werden können. Das Kriterium für die Möglichkeit der Rechtfertigung des Begriffs stellt im Rahmen dieser Modelle die These dar, dass es keinen unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit gibt. Jede Referenz ist nun ein Konstrukt eines Beobachters. Der Beobachtungsstandpunkt ist das Prinzip unseres Erkennens. „Alles wird kontingent, wenn das, was beobachtet wird, davon abhängt, wer beobachtet“, reflek-

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tiert Luhmann (1992a: 100). Und Rorty bezeichnet seinen Standpunkt als „pragmatism as anti-representationalism“ (Rorty 1990). Der antirepräsentationalistische Modus dieser Aussage, dass die Wirklichkeit stets eine irgendwie beobachtete Realität ist, bildet die Legitimation der Begriffsverwendung. Denn nun kann jede Wirklichkeitsbeobachtung durch eine andere Wirklichkeitsbeobachtung ersetzt werden. Kontingenz steht hier für den Verlust, eindeutige Bedeutungszuschreibungen vorzunehmen, ohne sich zu vergegenwärtigen, dass die Interpretation kontingent ist. Elena Esposito (2004: 93) kommentiert dies folgendermaßen: „Die von der Beobachtung zweiter Ordnung nachvollzogene Verdoppelung hat als Folge eine ‚Kontingentisierung‘ aller Gegebenheiten. Jedes Bezugsobjekt ist nicht mehr nur so, wie es ist, sondern es ist so für jemanden; und dann liegt es nahe, sich zu fragen für wen – was impliziert, daß es für jemand anderen anders sein könnte.“ Der Abschied von einer Erkenntnisposition, die Sachverhalte der Gesellschaft in irgendeiner Weise repräsentiert, hat sichtlich weitreichende Konsequenzen. Die ironische Kehrseite von Luhmanns oder Rortys Perspektive ist die Unfähigkeit der relativistischen Beobachterverhältnisse, eine gemeinsame Welt aufzubauen. Auf der Ebene der Gesamtgesellschaft kann kein kulturelles Sprachspiel ein Privileg für sich in Anspruch nehmen, die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft zu repräsentieren. Die basale Begriffsdivergenz, in der heterogene Kulturen denken, wahrnehmen und schließlich auch bewerten, scheint einen Wertekonsens unmöglich zu machen, da alle Bewertungen gleich gültig sind. Die Rede einer objektiven Beobachtung von Werten sei daher widersinnig, da eine solche Realität stets innerhalb einer Sprache bzw. eines Deutungssystems erfolge. Jean-François Lyotard versteht die Diskursarten als atomistisch separierte Inseln: „Die Diskursgenres sind atomische, molekulare Organismusformationen […].“ (Lyotard/Pries 1989: 345) Analog argumentiert Richard Rorty. Auch gemäß seiner Auffassung ist die Perspektive eines stabilen Wertesystems in eine Vielfalt kontingenter Perspektiven übergegangen. Wir lebten in einer „Kultur ohne Zentrum“. Wir müssten uns im Klaren sein, wie Rorty (1988: 57) sagt, dass wir mittelpunktlos seien, „Zufallsgruppierungen kontingenter und idiosynkratischer Bedürfnisse“. Nach Rorty ist der Ethnozentrismus, der in nichts anderem begründet sei als der Tatsache, dass Wahrheit relativ sei, das Einzige, worauf wir uns verständigen sollten: „Der unumgängliche Ethnozentrismus, zu dem wir alle verurteilt sind, gehört daher ebenso sehr zu der behaglichen Auffassung des Realisten wie zu der unbehaglichen des Pragmatisten.“ (Rorty 1988: 29)

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Für Rorty zeichnet sich die Gegenwart dadurch aus, dass der Logik des einen Wertmaßstabs eine plurale Logik entgegengesetzt wird. Diese ermöglicht es, verschiedene Maßstäbe gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen. Pluralität, Heterogenität und Vielfalt stellen somit einen Grundzug von Rortys Diagnose dar und unterspülen damit die Einheitsbestrebungen der Moderne. (ad 2) Wenn Luhmann und Rorty im obigen Punkt die Unbestimmtheit einer Beobachtung nur auf den Status des Beobachters eingrenzen, wird der Begriff Kontingenz im Hinblick auf epistemische Fragestellungen nur zum Teil erfasst. Umgekehrt gilt nämlich auch für die Verfasstheit eines Bereichs oder Gegenstandes, dass er kontingent ist, „wobei Kontingenz dabei dessen relative Unbestimmtheit oder Unregelmäßigkeit bezeichnet: Kontingenz der Sprache, Kontingenz der Geschichte, Kontingenz des Wetters“ (Hoffmann 2005: 63). Latour (1999: 145ff.) spricht – in Anlehnung an Alfred North Whitehead – sogar von der Geschichtlichkeit von physikalischen Objekten. Während sich der Begriff Kontingenz mithin in der ersten Fragerichtung nur auf das Subjekt der Erfahrung richtet, ohne aber den Gegenstand selbst in seiner Kontingenz mit einzubeziehen, wird in einer zweiten Denktradition diese Schieflage und Problematik ausgeglichen, als diese auch die Objekte der Erfahrung als kontingent betrachtet. Der Begriff Kontingenz bezieht sich somit nicht nur auf eine Möglichkeitskategorie, die ausschließlich als „Denkmöglichkeit“ erfasst wird. Es geht bei der Semantik der Kontingenz vielmehr, wie Hoffmann (2005: 61) sagt, „um die Möglichkeit, dass etwas Wirkliches anders sein kann und dementsprechend nicht notwendig so sein muss, wie es ist. […] Unbestimmtheit in Bezug auf den Kontingenzbegriff bedeutet also Unregelmäßigkeit, Variabilität und Latenz von Alternativen – Kontingenz ist mögliche Bestimmbarkeit des Wirklichen in der Schwebe“. Wenn das aber der Fall ist und auch alle Objekte der Erkenntnis kontingent sind, dann ergibt sich auch auf der Ebene der Gegenstandsbeschreibung eine Kluft zwischen allgemein (ahistorischer) begrifflicher Notwendigkeit und dem historischen Objekt der Erfahrung. Kurzum: Von Bedeutung für die hier versuchte Bestimmung des Phänomens der Kontingenz ist ein Sachverhalt, den man in der Epistemologie das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem oder das Problem der Individualität eines Gegenstandes nennt (vgl. Kapitel 3.2 und Kapitel 6). Ernst Troeltsch (1922: 775) wies bereits auf Folgendes hin: „Das Problem der Individuation ist eben darum identisch mit dem allgemeinen Sinne des Problems der Kontingenz.“ Er kommentiert weiter: „Auch wenn man eine allgemeine rationelle Gesetzmäßigkeit behaupten wollte, so ist doch jedes innerhalb dieses Netzwerkes sich bildende konkrete 40

DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

einzelne etwas Individuelles, d.h. etwas aus allgemeinen Gesetzen nicht restlos Verständliches, das immer noch etwas aus ihnen nicht resultierendes Besonderes und Unwiederholbares hat.“ (Ebd.: 774) Aristoteles etwa geht in seiner „Metaphysik“ davon aus, dass es eine reine Wissenschaft (Metaphysik) des Einzelnen nicht geben könne. Er begründet dies mit der These, dass sich das Einzelding aufgrund der Materialität (Stoff) weder durch Definition noch durch Beweis begreifen ließe (Aristoteles 1984: VII. 1039b f.). Eine Metaphysik des Individuums ist nicht möglich, eben weil im Begriff „Individuum“ etwas prinzipiell Unbegreifliches mitgedacht werden muss, das ein mathematisch exaktes, notwendiges Wissen nicht erlaubt (vgl. Pieper 1973: 730). Dennoch ist für Aristoteles – dies sei hier zumindest der Vollständigkeit halber erwähnt – die Erforschung des Einzelnen eine wichtige Aufgabe. In der Praxis ist die wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit in gewisser Weise irrelevant, weil es hier gerade um das Kontingente und Situationsbedingte geht. Bekanntlich greift Aristoteles in diesem Kontext die platonische Berufung auf die Idee des Guten an. „Gut“ kann nicht, wie bei Platon, ein allgemeiner Terminus sein, der in allen spezifischen Anwendungen dasselbe meint. Denn es gibt offenbar – je nach Sachbereich – verschiedene Wissenschaften, wo es um das Gute geht (Medizin, Erziehung, Recht etc.). Und selbst im Kontext einer Wissenschaft kann es nicht „das Gute“ geben, kann eine Handlung also nicht nach dem Richtmaß einer einzigen Kategorie bewertet werden. Denn es kommt im praktischen Wissen vor allem auf situatives Wissen an, ohne das der Handelnde womöglich das Falsche tun würde. Aristoteles führt als Beispiel den Arzt an. Er sagt: Es heilt der Arzt ja nicht den Menschen, also den Menschen ‚an sich‘, sondern „den Kallias, den Sokrates oder einen anderen von den so Benannten, für den es ein Akzidens bedeutet, ein Mensch zu sein“ (Aristoteles 1984: I. 981a). Der Arzt muss sich gerade dem Krankheitsbild des Einzelfalls widmen und darf sich nicht auf eine leere Allgemeinheit beziehen. Handeln findet nach Aristoteles immer am Einzelnen und im Einzelnen statt und lässt sich damit nicht unter generelle Regeln fassen. Die Beschäftigung mit dem Thema der historischen Individualität eines Gegenstandes ist ein vieldimensionaler Sachverhalt. Gerade auch für die Soziologie, die wie die Naturwissenschaft eine Theorie anstreben wollte, „die im Idealfall allgemeine räumliche und zeitliche Gültigkeit beansprucht und insofern unhistorisch ist“ (Lepsius 1976: 125), birgt das Phänomen Kontingenz eine Reihe von Problemen (vgl. Kapitel 6). Die Grundannahmen dieser Denktradition fußen auf der Idee der Planbarkeit, der Berechenbarkeit von Entwicklungen. Sie wurzeln in der Anschauung vergleichsweise stabiler Gesellschafts- und Umweltkonstel41

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

lationen, deren analytische Kenntnis generelle Diagnosen und allgemeine Aussagen ermöglichen. Nur so kam die Idee zustande, man könne Sachverhalte der sozialen Welt in Form von Gesetzesaussagen erfassen, d.h. in Aussagen gießen, die in keiner Weise aus der Zeit heraus zu verstehen und an keine Zeit gebunden sind. Letztendlich hat sich die Soziologie nie von einem heimlichen Hegelianismus verabschiedet. „Die Zufälligkeit muß man mit dem Eintritt in die Philosophie aufgeben“, sagt Hegel (1984, Bd. 1: 41) bekanntlich. Diese Theorieperspektive ist aus einer der Kontingenz verpflichteten Perspektive eine verführerische Vereinfachung, die die Komplexität der sozialen Zusammenhänge allzu leicht übersieht. Eine kontingenzsensible Epistemologie hat es mit Erfahrungsbereichen zu tun, die sich nicht mehr unter einige wesentliche Kategorien subsumieren lassen. Bereiche, die als kontingent zu bezeichnen sind, haben die Tendenz zur Überlagerung heterogener kausaler Relevanzen und Variablen. Georg Simmel (1989b: 351) meinte dazu: „Die geschichtlichen Erscheinungen sind jedenfalls Resultate sehr vieler zusammentreffender Bedingungen und deshalb keinesfalls aus je einem Naturgesetz herzuleiten.“ Nicht von ungefähr werden in der Wissenschaft Grundlagen und Forschungsperspektiven entwickelt, die sich mit dem Kontext von Sachverhalten befassen. In der Modernisierungstheorie z.B. wird die Pfadabhängigkeit von Prozessen wichtig (vgl. Kapitel 4). „So ist inzwischen nicht nur von verschiedenen Entwicklungspfaden, sondern auch schon von der Möglichkeit verschiedener Entwicklungsziele die Rede.“ (Mergel 1997: 225f.) Der umfassenden Definition von Modernisierung weichen komplexe Kombinationsmöglichkeiten. Gerade die Entwicklung nicht westlicher Gesellschaften, die der durch Globalisierung sensibel gewordene Blick nun deutlicher zu fassen bekommt, zwingt die Soziologie, unterkomplexe Definitionen der Moderne über Bord zu werfen und offener für alternative Lebenswelten zu sein. Ich führe ein anderes Beispiel an, das ich in diesem Buch diskutieren werde (vgl. Kapitel 5). In der Organisationstheorie wird im Rahmen der sogenannten Kontingenztheorie sogar von situativem Wissen gesprochen: „Forschungsziel ist die Relativierung der generellen traditionellen und systemtheoretischen Aussagen sowie die situationsadäquate Berücksichtigung formal- und verhaltenswissenschaftlicher Gestaltungsempfehlungen.“ (Staehle 21992: 156) Obgleich die Kontingenztheorie ihre Ansprüche nicht erfüllen konnte, da sie am Ende Kontingenz gerade nicht

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DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

Tabelle 1: Dimensionen der Kontingenz Bezugsebene der Kontingenz Erscheinungsform Analytische Bestimmung

doppelte Negation: weder Notwendigkeit noch Unmöglichkeit (z.B. Aristoteles)

Kulturtheorie (historisch)

unterschiedliche kulturelle Definitionen (z.B. Hans Blumenberg, Gegenwartsdiagnose) Widerfahrnis, Handlungsgemengelagen, historische Innovation (z.B. Odo Marquard, Chaostheorie)

Zufallstheorie

Handlungskontingenz

Anthropologische Perspektive

Politische Theorie

Kontingenz in Organisationen

Kontingenz und Epistemologie

Setzen von Wirklichkeit (z.B. Immanuel Kant, Rüdiger Bubner) exzentrische Positionalität (z.B. Helmuth Plessner, Jean-Paul Sartre) Kontingenz als Grundlage moderner politischer Entscheidungen (z.B. Carl Schmitt, Hermann Lübbe, Michael Greven) Entscheidungsprozesse in Organisationen (z.B. Michel Crozier, Ewald Friedberg, Michael Cohen, James G. March, Günther Ortmann) (1) Relativität des Beobachters: willkürlicher Zugriff auf die Wirklichkeit (z.B. Richard Rorty, Niklas Luhmann) (2) Das Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem: Problem historischer Einzigartigkeit von Sachverhalten und ihre Erfassung durch allgemeine Gesetze (z.B. Ernst Troeltsch, Theodor W. Adorno, Shmuel Eisenstadt) 43

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

thematisierte, hat dieser Zugang zu organisationalen Sachverhalten für das Thema Kontingenz sensibilisiert.

2.2 Strukturelle Voraussetzungen der Kontingenz innerhalb der europäischen Moderne Michel Foucault hat einmal gesagt, es wäre eine Unart der Wissenschaften, ihre Analysen „in Termini kultureller Totalität“ (Foucault 51992: 29) aufzubereiten. Der Soziologe benötige zur Klärung eines empirischen Sachverhaltes weder ursprüngliche gesellschaftliche Fundamente (z.B. gesellschaftliche Codes) noch gesellschaftliche (epochale) Semantiken, aber auch nicht – wie Foucault es in seiner Frühphase sah – übergeordnete Episteme. Der Soziologe sei Archäologe. Er suche nicht nach einer Begründungsstruktur, sondern nach den konkreten praktischen Fundamenten in den gesellschaftlichen Lebensformen. Sein Blick richtet sich somit auf die „Prozesse einer historischen Praxis“ (Foucault 51992: 274). Nun werde ich mich in der kurzen historischen Skizze, die in diesem Kapitel angestrebt wird, genau dem von Foucault ausgesprochenen Vorwurf aussetzen, indem ich hier gleichsam mit Siebenmeilenstiefeln durch die Geschichte des Kontingenzdiskurses schreite. Präziser gesagt: Gegenstand der folgenden Überlegungen sollen die strukturellen Voraussetzungen sein, die das Bewusstsein von Kontingenz zuallererst hervorgebracht haben. Die folgenden Abschnitte sind keineswegs als umfassend zu bezeichnen. Sie gewähren bloß eine erste grobe Einsicht, die durch historische Arbeiten umfassender belegt werden müsste. Die Komplexität des Themas bedingt größere Generalisierungen und Abstraktionen. Ich werde dennoch einige Grundthesen aufstellen, selbst wenn ich mir den Vorwurf gefallen lassen muss, mit „breitem Pinsel“ zu arbeiten, und darüber hinaus aus dem Textkorpus nur einiges auswählen kann. Eines scheint aber, wie gesagt, relativ sicher zu sein: Der Begriff Kontingenz ist – fasst man seine zeitliche Verortung ins Auge – ein zentraler Begriff des Zeitalters der Moderne. Kontingenz wurde zwar auf der einen Seite bereits in der antiken Philosophie reflektiert. Im Übrigen impliziert, wie gesagt, der Begriff „Kontingenz“ analytisch gesehen keine historische Zuordnung: Dass „morgen eine Seeschlacht stattfinden wird“, ist heute weder wahr noch falsch, sondern eben kontingent (Kambartel/Stekeler-Weithofer 2005: 91f.). Makropoulos (1997: 17)

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DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

weist darauf hin, dass jede Gesellschaft ihren spezifischen Möglichkeitshorizont entwickelt. Aus diesem gewinnt sie ihr Selbstverständnis und markiert dadurch das Feld möglicher Erfahrung. Auf der anderen Seite haben das Bild des virtuosen Spiels mit Chancen und die Erweiterung des eigenen Spielraums zugegebenermaßen erst in der Moderne Konjunktur. Und am Ende sei ein ausgesprochenes Kontingenzbewusstsein „als Grundbestand eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses“, so Makropoulos (1997: 156), „wohl doch spezifisch modern und ‚Kontingenz‘ deshalb eine spezifisch moderne und gerade nicht eine spezifisch nachmoderne Kategorie“. Es überrascht nicht, dass meine Überlegungen verschiedene Facetten von Modernisierung aufgreifen, die in vielen Studien bereits ausgiebig beschrieben wurden. Dadurch wird es mir erleichtert, diesen Punkt relativ schnell abzuhandeln.

2.2.1 Vormoderne Gesellschaft und Statik Die traditionale Gesellschaft ist, vergleicht man sie mit der neuzeitlichkapitalistischen, eine „statische, in sich ruhende Gesellschaft. Ihre Ordnung wird als eine von Gott gewollte, nicht als eine von Menschen geschaffene Realität begriffen“ (Bauer/Matis 1988: 15). Die Herrschaftsverhältnisse, die soziale Sphäre und die wirtschaftliche Organisation stehen dabei in enger Verknüpfung. Was Letztere betrifft, so geschieht erst im Übergang zur Neuzeit die Umstellung feudalen Wirtschaftens auf die Marktgesellschaft. Bis ins Mittelalter hingegen ist das Ziel der Arbeit weniger die wirtschaftliche Bereicherung als die Existenzsicherung. Die elementare gesellschaftliche Gruppe und zugleich wichtigster Arbeitsverband innerhalb der traditionalen Gesellschaft ist die Familie. Der Einzelne ist in diese Erziehungsgemeinschaft involviert. Sie ist eine Community, die kein Mitglied exkludiert und wenig Arbeitsteilung impliziert. Die völlige Abhängigkeit von dieser sozialen Sphäre bedingt aber auch die Bindung des Einzelnen an deren normative Standards. Ursprünglich ist somit die Bindung an gemeinsame Normen auf die kleinsten Vergemeinschaftungsformen des Menschen beschränkt gewesen, auf die Gemeinschaft der Familie oder auf die Nachbarschaftsgemeinschaft. Innerhalb ihrer ist das Handeln durch die Autorität von moralischen Regeln geordnet. Die Menschen starben an den Stätten, wo sie auch gelebt hatten. „So waren Leben und Tod eine ‚platzierte‘ Einheit sozialer Befindlichkeit.“ (Luhmann 2000b: 88) In der vormodernen Gesellschaft ist die Zeit im Mythos aufgehoben. Die im Alltagsleben eingebettete Chronologie hat die Struktur eines kreisförmigen Geschehens und nicht die einer offenen Zukunft. Der My45

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

thos als Orientierungsmuster hat die Funktion, im „Sturm der Ereignisse“ (Lévi-Strauss 1976, IV: 714) eine strukturelle Balance zu erhalten und damit letztlich die Sehnsucht zu erfüllen, so Emil Angehrn (1996b: 310), „die Zeit anzuhalten, Geschichte aufzuheben“. Auch die Menschen zu Zeiten des Mittelalters erlebten den Raum und die Zeit anders als wir. Geschichte ist weit eher statisch als dynamisch (Bauer/Matis 1988: 23). Kontingenz blieb in der Vormoderne ein Spielraum im Rahmen einer festen Ordnung. Zwar ist der Begriff der Kontingenz, wie ich oben skizziert habe, dem christlichen Mittelalter durchaus bekannt. Aber in dieser Episode menschlicher Geschichte ist das menschliche Handeln nur deswegen von Kontingenz umrandet, weil Gott die Welt „nicht erschaffen mußte, sondern sie in freier Entscheidung aus dem Nichts heraufbefahl“ (Wetz 1998: 84). Die Referenz, durch die sich Kontingenz im menschlichen Lebenszusammenhang manifestiert, ist gerade nicht die menschliche Existenz, sondern die transzendente Ebene eines fernen Gottes, der entscheiden kann, wie er möchte. Der Kontrast zur modernen Interpretationsweise des Begriffs ist in der Tat, wie Luhmann (1992a: 136f.) formuliert, „evident“: „Auch Aristoteles hatte in einem berühmten Text bekannt, daß er nicht wissen könne, ob eine künftige Seeschlacht stattfinden werde oder nicht. Das war der Ausgangspunkt einer langwierigen mittelalterlichen Diskussion de futuris contengibus. Aber Aristoteles sah darin kein Entscheidungsproblem. Er hatte das Problem überhaupt nicht auf Entscheidungsabhängigkeiten bezogen, sondern lediglich auf die Möglichkeit, Aussagen als wahr bzw. unwahr zu bezeichnen. Und sein Rat war daher nicht etwa: mit Seeschlachten kein Risiko eingehen, sondern: Urteilsenthaltung. So als ob jetzt schon feststünde, daß die Seeschlacht stattfinden werde oder nicht, aber man es noch nicht wissen könne. Aber unser Problem wäre: ob wir eine Seeschlacht riskieren oder nicht.“

Nach allgemeiner Auffassung konstituiert sich die Moderne durch einen Bruch mit der Tradition. Moderne Gesellschaften vollziehen einen radikalen Wandel im Kontingenzbewusstsein. Die historischen Voraussetzungen für dieses massive Aufkeimen des Möglichkeitsbewusstseins sind vielfach beschrieben worden.

2.2.2 Entbettung Von zentraler Bedeutung war die Freisetzung des Menschen aus den engen Bindungen seiner bisherigen Erfahrungsräume, wie etwa der verwandtschaftlichen Vergemeinschaftung. Modernisierung bedeutet „Entbettung“, nämlich „das ‚Herausheben‘ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum46

DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung“ (Giddens 1995a: 33). Inidividualisierung bezeichnet Georg Simmel (1993: 212) als „[…] die innere und äußere Gelöstheit des Einzelnen aus den Gemeinschaftsformen des Mittelalters, die dessen Lebensgestaltung, Betätigungen, Wesenszüge in nivellierende Einheiten gebunden hatten, damit gewissermaßen die Umrisse der Person verschwimmen ließen und die Entwicklung der persönlichen Freiheit, der auf sich ruhenden Einzigkeit, der Selbstverantwortung niederhielten“.

Die, wie Simmel (ebd.: 212) es benannt hat, „Sprengung“ der überkommenen, gültigen Lebensformen, die den vormodernen Menschen gebunden haben, war somit zugleich die Voraussetzung, überhaupt Möglichkeiten zu erfahren und wahrzunehmen. Diese Aussage Simmels bezieht sich insbesondere auf die Loslösung von Lebensformen, wie sie in archaischen Lebensformen vorherrschend sind, die in der Soziologie idealtypisch als „segmentär differenziert“ bezeichnet werden und die sich vor allem dadurch auszeichnen, „daß sie so bleiben, wie sie sind“ (Luhmann 1997: 654). Diese existieren in Form von relativ autonomen homogenen Segmenten. Erst in langsamen Tempo bilden sich Formationen heraus, die nicht mehr auf der „Wiederholung von ähnlichen und homogenen Segmenten“ (Durkheim 21988: 237) basieren, sondern aus „einem System von verschiedenen Organen“ bestehen, „von denen jedes eine Sonderrolle ausübt“ (ebd.: 237). Die Aussage Simmels gilt aber auch noch für Gesellschaften, die sich – obgleich sie sich nicht mehr als verwandtschaftlicher Zusammenhang deuten lassen – in Form von Rangordnungen und Schichtzugehörigkeiten strukturieren und den Individuen einen Austritt aus dieser Rangordnung erhebliche Barrieren in den Weg legen: „Man kann nur einer Schicht angehören und ist genau dadurch aus anderen Schichten ausgeschlossen.“ (Luhmann 1997: 688) Bis ins 15. und 16. Jahrhundert lässt sich zumindest Folgendes festhalten: „In einer ständischen Ordnung war als selbstverständlich vorausgesetzt, daß jeder Einzelne weiß, welchen Standes er ist. Ohne dieses Wissen wüßte er nicht, wer er ist, und wüßte er auch nicht, welche Erwartungen er zu erfüllen hat. Ohne Kenntnis seines Standes könnte er nicht in Interaktionen treten. Eine Gesellschaft, die Schichtung nur noch als Klassenbildung realisiert, muß diese Prämisse aufgeben.“ (Luhmann 1985: 132)

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

2.2.3 Industrialisierung und Verzeitlichung Dies ändert sich allmählich. Mit Sicherheit stellen die Industrialisierung und die mit ihr verbundene Marktvergesellschaftung einen Angelpunkt der Moderne dar. Selbst der bürgerliche Handel kann nicht mit den Kategorien einer Marktwirtschaft beschrieben werden. Die Zünfte sind durch ihre limitierende Normierung vom „Grundsatz der Solidarität“ geleitet. Unzünftige Störer sollen ausgeschaltet werden, um somit durch strikte Kontrolle „chrematistisches Erwerbsstreben“ auszuschalten (Bauer/Matis 1988). Es kristallisiert sich zunehmend das Modell einer marktvermittelten Existenz heraus, was gleichbedeutend ist mit dem Wechsel von einer Haushaltsökonomie zu einer Ökonomie der Erwerbsarbeit. Dieses setzt freilich die „freie“ Lohnarbeit voraus. Sie ist nur dann gewährleistet, wenn der freie Lohnarbeiter nichts mehr außer seiner Arbeitskraft besitzt (somit frei von Produktionsmitteln ist) und seine Arbeitskraft frei verkaufen kann. Die Herauskristallisierung des „Markt-Individuums“ geht somit mit der Herauslösung der Individuen aus den ökonomischen, personalen und ständischen Bindungen der vorindustriellen Gesellschaft einher. Während also vormoderne Gesellschaften über ein normatives Einverständnis integriert sind, vollzieht sich die Integration in entwickelten Gesellschaften – zumindest, was die Erwerbsseite betrifft – über den Zusammenhang des Handlungsbereichs Ökonomie. Wen sollte es wundern, dass die Semantik des modernen Individuums den Beginn der modernen Philosophie einläutet und das Kontingenzproblem in seiner modernen Metaphorik den Beginn der neuzeitlichen Subjektphilosophie motiviert? Die neue Wertsetzung in der Moderne, so Heidegger (82003: 88), drücke sich weniger im Subjektivismus und Individualismus aus, sondern darin, „dass das Wesen des Menschen überhaupt sich wandelt, indem der Mensch zum Subjekt wird“. Die Welt werde schlicht zum Bild des vorstellenden Menschen: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild.“ (Ebd.: 94) Fast alle Wissenschaftler, die sich mit Modernisierung befassen, sind sich einig, dass eine konstitutive Erfahrung für die Moderne ein neues Zeitbewusstsein ist. Im 18. Jahrhundert hat, so Koselleck (2000: 12), ein Prozess der Verzeitlichung von Naturgeschichte und Humangeschichte begonnen: „Was ehedem in Schöpfungsmythen und Kosmogonien aufgehoben war, gewinnt jetzt geschichtliche Strukturen.“ Es ist bekannt, dass sich im 16. und 17. Jahrhundert eine Beschleunigung von Handel und Transport realisiert und später dann auch eine Beschleunigung der Produktion in Gang setzt, die dann in der industriellen Revolution zu einem ersten Höhepunkt gelangt (vgl. Rosa 2005: 261ff.). Aber generell 48

DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

geht es in der Moderne um die Beschleunigung des Zeitbewusstseins. Bald schon wird sich aus dem permanenten Drang zu Beschleunigung das Krankheitsbild der Nervosität herausschälen. Und nicht zu Unrecht hat Joachim Radkau die beginnenden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts das „Zeitalter der Nervosität“ genannt.

2.2.4 Wirklichkeitszerfall Es kommt nicht von ungefähr, dass sich eine wichtige Tendenz des Begriffs Kontingenz, wie er sich in der modernen Gesellschaft darstellt, in der Semantik des Wirklichkeitszerfalls (vgl. Makropoulos 1997: 101ff.) darstellt. Gehlen (1986: 209) stellt in der modernen Kunst einen „Verlust an spezifischem Gewicht der Wirklichkeit“ fest. Er konstatiert ein „Maximum an Weltfremdheit und Wirklichkeitsferne“. Weil der Raum der Möglichkeiten zunehmend expandiert, wird die Wirklichkeit, die im Normalfall als der Platzhalter für das ontologisch Selbstverständliche fungiert, plötzlich als latent flüchtig und labil betrachtet. Es gibt das wohlgerundete Ganze nicht mehr. Die Erfahrung der Moderne ist geradezu gekennzeichnet durch eine existenzielle Erschütterung: Die moderne Gesellschaft baut auf Nichts auf. Menschliche Denkkraft produziert keinen Kontakt mehr zu transzendenten Wesenheiten (Lütkehaus 1999). In der Literatur zeigt sich der Daseinraum der Figuren, den ihnen die Dichter zuweisen, nun häufig als Rätsel. Heinrich von Kleist (1982, IV: 679) ruft im Angesicht des Unbegreiflichen: „Ja, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Dinge einsehen könnten!“ Georg Büchners Woyzeck wird die Erdkruste und bewohnbare Welt des Menschen als „hohl“ charakterisieren. Franz Kafkas K.s sind Fremdlinge, die lange und beschwerliche Reisen unternehmen müssen, um überhaupt vor der Tür erscheinen zu können, die ihnen „ihr“ Gesetz eröffnet. Die Tür, die K. offensteht, wird aber wieder geschlossen. Der Mann vom Lande wird niemals das Gesetz, das nur für ihn gilt, betreten. Die Welt bleibt für ihn das Rätsel. Samuel Becketts Dramen sind bevölkert von Menschen, die warten: im öden Wartesaal der Welt. In Thomas Glavinics (2006) Gegenwartsroman „Die Arbeit der Nacht“ erwacht ein Mann aus dem Schlaf und alle Menschen sind verschwunden. Der Protagonist befindet sich alleingelassen in einer entleerten Welt. Die Hölle: Das ist jetzt nicht mehr, um mit einer Metapher Sartres zu sprechen, der andere (Kehlmann 2006: 128), sondern das monologische Ich in einer menschenleeren Welt. Friedrich Nietzsche hat in der Metapher des tollen Menschen die Situation des modernen Menschen begrifflich auf den Punkt gebracht. Der tolle Mensch ist, wie Sloterdijk (1999: 587) vermerkt, 49

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„[…] der gefährdete, kosmologisch wache Einzelne in der Neuzeit, der sich als erster über die Situation der Erde keine Illusion mehr machen kann. In seinen Übererregungen erlebt er das Geburtstrauma des ausgesetzten Planeten, als wäre es sein eigenes; er spürt das Herausfallen der Erde aus den imaginären Hüllen, die sie während einer jahrtausendelangen Tragzeit im Inneren der göttlichen Totalität geborgen hatten […].“

Auch in der Kunst setzt sich zunehmend die Einsicht durch, dass das Brüchige, die Dissonanz, das Signum moderner Kunst sei. Adorno (101990: 41) schreibt: „Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne, das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert.“ Das Fragmentarische ist bestimmt von der Einsicht, dass es die bessere Wahrheit sei, weil es uns nicht durch die Harmonie des Geschlossenen betrügt (vgl. Frisby 21995: 28f.).

2.2.5 Moderne Wissenschaft Von maßgeblicher Bedeutung für die Ausbildung eines Kontingenzbewusstseins war ebenso die moderne Wissenschaft. Erst in der technologischen Zivilisation kann die Menschengattung, einst noch in der Position des physisch Schwächeren, das Verhältnis umkehren und ohne Schranken über die entzauberte Natur gebieten. Eine Herrschaftsform wird erst in dem Maße effizient, wo sie ihr zu Beherrschendes verstehen gelernt hat, wo sie dessen Spielraum und Möglichkeiten vorhersehen kann. Erst in der Neuzeit wird die Überzeugung realisiert, dass man, wie Max Weber sagt, „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne“ (Weber 1991: 250). Ins Zentrum der modernen Naturwissenschaft rückt das Experiment. Die Bedeutung moderner Naturwissenschaft liegt gerade darin, die Natur als Produkt experimenteller Arrangements geschaffen zu haben, die dabei immer schon den Mangel der Kontextbezogenheit verliert. Francis Bacon knüpft an bereits in der Renaissance vorhandene Strömungen an, wonach zunehmend eine aktive Lebensführung in das Zentrum des Interesses rückt. Die Affinität zwischen dem allmählich aufkeimenden Kontingenzbewusstseins und dem Experiment liegt auf der Hand. Die Pflanzen- oder Tierzucht, die Entwicklung der Waffen, die Konstruktion und der Bau von Gebäuden demonstrieren, wie Wolfgang Krohn (1987: 76) darlegt, „dass die praktische Fähigkeit zu Veränderungen den Erklärungen ihres Erfolgs weit vorauseilen kann“. Experimentelle Naturerkenntnis, das hatte auch bereits Descartes erkannt, erlaubt es den Menschen „sich zu Herren und Besitzern der Natur“ zu machen. Genau auf diese Erfahrung spielte Kants berühmte Sentenz an, dass „die Vernunft nur 50

DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“ (Kant 1974: B XIV). Typischerweise sollte sich diese Selbsterkenntnis der Vernunft gerade im Experiment manifestieren. Der basale Hintergrund dieser Entwicklung liegt darin, dass zu diesem Zeitpunkt Natur(wissenschaft) zum Versuchsobjekt der Technik wird. Wissenschaftliche Erfahrungen zeigen nun ihr Wesen immer mehr darin, dass sie technologisch vermittelte Erfahrungen sind. Wissen geht nun nicht allein in der Reflexion auf. Das rechte Verständnis der Relation zwischen theoretischem Wissen und praktischem Können besteht darin, dass Wissen in Wahrheit Machen ist (Zimmerli 1997). Die Repräsentation, die das Experiment von der Welt anfertigt, wird jetzt nicht mehr als Bild von der Welt, sondern als Repräsentation an sich begriffen. Vorstellen bedeutet hier, wie Heidegger früh erkannt hat, „das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden zu, beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzuzwingen. Wo solches geschieht, setzt der Mensch über das Seiende sich ins Bild“ (Heidegger 82003: 91). In der Tat zeigt sich in dieser frühen Phase moderner Naturwissenschaft zweierlei: zum einen, dass sich diese bereits davon verabschiedet hatte, zu einer wahrhaften Darstellung von Welt zu gelangen. Zum anderen, dass die heute immer noch kursierende These, Wissenschaft sei Theorie und Technik Anwendung von Theorie, von Anfang an falsch war. Vielmehr richtete sich die neuzeitliche Wissenschaft gleich von Beginn an am Leitbild des Handwerkers aus. Erfahrung wird mittels Technefakten gewonnen, die in den Händen des Ingenieurs bzw. der Handwerkstechnik liegt. Heidegger (31967: 21) dazu: „Die neuzeitliche Physik ist nicht deshalb Experimentalphysik, weil sie Apparaturen zur Befragung der Natur ansetzt, sondern umgekehrt: weil die Physik, und zwar schon als reine Theorie, die Natur daraufhin stellt, sich als einen vorausberechenbaren Zusammenhang von Kräften darzustellen, deshalb wird das Experiment bestellt, nämlich zur Befragung, ob sich die so gestellte Natur und wie sie sich meldet.“

Das Naturgesetz wird mehr und mehr nur eine Angabe über das Potenzial, Objekte und technische Phänomene hervorzubringen. Naturwissenschaft ist wesentlich durch Technik bestimmt und somit eine Sache der Kunstfertigkeit.

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

2.2.6 Risikogesellschaft In der Neuzeit wird die Kategorie der Natur daher nicht von ungefähr durch die Kategorie des Risikos ersetzt. Und heute ist es selbstverständlich, dass wir in einer Gesellschaft leben, die „aus dem Risiko […] ein universelles Problem gemacht“ hat (Luhmann 1991: 3). Ohne in lange terminologische Diskussionen geraten zu wollen, möchte ich nur Folgendes festhalten: Seit der griechischen Philosophie sprach man von Natur als etwas, das von selbst da ist. Naturdinge entwickeln sich aus eigener Energie. In der Moderne mache von „der Natur“ zu reden keinen Sinn mehr, seit sie in den Einflussbereich des Menschen gekommen ist. Natur sei heute nurmehr anthropogene Natur. Luhmann (1992b: 661) charakterisiert das Verhältnis moderner Gesellschaften zu künftigen Schäden in Abgrenzung zu vormodernen Gesellschaften „als Umstellung von Gefahr auf Risiko“. Von einem Risiko lässt sich nach Luhmann nur dann sprechen, wenn eine Entscheidung beobachtet werden kann, auf die die Schadensentstehung zurückgeführt werden kann. Von Gefahr hingegen werde gesprochen, wenn der mögliche Schaden durch die Umwelt verursacht werde, etwa in Form von Naturkatastrophen. Werden ungewisse Schäden als Gefahren thematisiert, so werden sie von der Gesellschaft externalisiert, werden sie hingegen als Risiken kategorisiert, werden sie durch Entscheidungen erzeugt und sind entsprechend zu verantworten. Freilich sind die Übergänge zwischen reiner Natur und gemachter Natur fließend. Selbst ein hochgradig technisches Artefakt wie ein Computer gründet auf etwas, das der Mensch nicht selbst gemacht hat, da er aus natürlichen Materialien produziert ist. Aber tendenziell lässt sich sagen: Wenn immer weitreichendere Ökosystem-Zusammenhänge in das technische Handeln integriert werden, läuft dies auf eine zunehmende Technisierung der Natur hinaus, und dies impliziert wiederum, dass natürliche Risiken abnehmen. Risiken stellen sich nun im Wesentlichen als Entscheidungsprobleme dar und sind elementar an die Semantik der Entscheidungstheorie gebunden. Dies war auch bereits die in der Industriegesellschaft gängige Definition von Risiko. Der neue Begriff Risiko müsse, wie François Ewald (1993: 284) sagt, auf eine Weise analysiert werden, „die ihn nicht mehr bloß mit der Kausalität des Schicksals, der Fügung, des Zufalls oder des Glücks oder Unglücks in Zusammenhang bringt, sondern ihn dem Be-

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DIMENSIONEN DES BEGRIFFS KONTINGENZ

reich einer menschlichen Kausalität zuweist“. Insofern beginnt die Risikogesellschaft mit der Industriegesellschaft.3 Unter Bedingungen moderner Gesellschaften leiten sich Gefahren, die uns ereilen, nicht mehr in erster Linie aus der Welt der Natur her. „Ein Risiko kalkulieren heißt die Zeit zu beherrschen, und die Zukunft zu disziplinieren“, sagt Ewald (1991: 291). Denn jede Stabilisierung von Sicherheit erweitert den Bereich menschlicher Handlungsmöglichkeiten und damit auch die Macht der Sicherheitsinstitutionen. Weil somit ein Risiko stets auf der Differenz von Realität und Möglichkeit basiert, geht es eben bei Risiken gleichzeitig stets auch um die Chance, zukünftige Schäden zu verhindern. Gerade wegen der Unbekanntheit der genauen physikalischen Beschaffenheit des möglichen Risikoereignisses stehen potenzielle Schäden der gegenwärtigen Entscheidungen noch zur Disposition. Damit ändert sich auch die Zuschreibung von Verantwortungen. Es ist gegenwärtig nicht mehr üblich – wie etwa noch in Falaise im Jahre 1386 – ein Schwein zu erhängen, wenn es ein Kind gebissen hat. Kaum noch wird das gegenwärtige Rechtssystem dem Bischof von Lausanne Folge leisten, der im Jahre 1454 vor Gericht die Blutegel anklagte, die in Bern das Wasser verseuchten. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Rechtsliteratur heute noch der des Jahres 1685 folgen würde, nach der eine Glocke ausgepeitscht wurde, weil sie sich dafür hergegeben hatte, für die Ketzer zu läuten (vgl. Pothast 1987: 65). In der juristischen Verantwortungszuschreibung wird im Grundsatz jede Folge, die durch eine Handlung ausgelöst wird, dem sie auslösenden Handlungssubjekt zugeschrieben und damit der Raum des Zufalls minimiert. An die Stelle des Fatums tritt das „Fatum der Verantwortlichkeit“ (Heidbrink 2007: 215). Alle eben nur verkürzt zusammengetragenen Elemente unterstützen jenen epochalen Prozess, den Koselleck (21995: 349ff.) als Auseinandertreten von „Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ in der Neuzeit bis hin zu ihrer diametralen Entgegensetzung an der Schwelle zur europäischen Moderne beschrieben hat. Die zeitliche Struktur der Moderne funktioniert nach einem anderen Muster als diejenige vormoderner Gesellschaften. Koselleck (21995) spricht davon, dass die Zukunft von nun 3

Hier muss darauf hingewiesen werden, dass sich die eben skizzierte Bedeutung von „Risikogesellschaft“ explizit unterscheidet von Ulrich Becks (2007: 26ff.) Gebrauch, der den Begriff als Erster in die Diskussion eingeführt hat. Beck bezeichnet nämlich die „Risikogesellschaft“ als einen sozialen Zusammenhang, in dem der Kontrollanspruch der Industrie- und Risikogesellschaft der „Ersten Moderne“ explizit infrage gestellt und unterlaufen wird. Es handelt sich also bei seiner Konzeption in Wirklichkeit – in der Semantik des Risikos gesprochen – um eine Postrisikogesellschaft.

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ab anders gedeutet werde als in früheren Epochen. Gäbe es in früheren Epochen die Vorstellung einer Zukunft, die lediglich als etwas schon bereits Bekanntes und Geschehenes identifiziert wird, die gleichsam in die Vergangenheit schon eingerollt ist, werde Zukunft nun als etwas aufgefasst, dass prinzipiell anders als die Vergangenheit sei. Für moderne Gesellschaften, die ja nicht mehr von kulturellen Einheitsvorstellungen geleitet werden, ist somit zu erwarten, dass ein erhöhtes Bewusstsein von Kontingenz im Sinne von Chancen- und Risikoexpansion zu erwarten ist.

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3 Pa nora ma philos ophisc he r und soziologisc her Perspektive n des ak tuelle n Kontinge nz disk urse s

Die Erörterung des letzten Abschnitts hatte die Funktion, darüber aufzuklären, welche methodischen und begriffshistorischen Bezugs- und Anknüpfungspunkte mit dem Begriff „Kontingenz“ in der Kulturgeschichte intendiert werden. Die Semantik und die Begriffsgeschichte dieses Terminus, das haben wir bereits dort gesehen, ist ein Terrain voller Überraschungen, das uns durchaus um die uns vertraut gewordene Vorstellung bringt, es handle sich bei dem Terminus „Kontingenz“ um einen einheitlichen Zusammenhang. Ich gehe nun über zu der Darstellung einiger philosophischer und soziologischer Interpretationen von Kontingenz. Nun ist dies allerdings ein weites Feld und der hier vorgelegte Text beansprucht nicht, es in einem unfassenden Sinn vollständig zu bearbeiten. Einige Leser werden sich erstaunt zeigen, dass bestimmte paradigmatische Autoren entweder gar nicht dargestellt oder nur am Rande erwähnt werden. Namentlich seien etwa genannt: Carl Schmitt, Sören Kierkegaard, Jean-Paul Sartre, Helmuth Plessner, Martin Heidegger. Zum Teil habe ich diese Autoren in meinem Buch über den „Raum des Politischen“, in dem es auch um das Thema Kontingenz geht, bereits behandelt. Der Text beschränkt sich stattdessen darauf, einigen Denkanstößen zur Semantik des Begriffs nachzugehen. Der Gang der Betrachtung ist, dass ich in einem ersten Schritt mit Max Weber beginne und mich sodann im Durchgang über Theodor W. Adornos Methode einer „negativen Dialektik“ und Jacques Derridas Dekonstruktivismus und Kontingenz in der politischen Theorie allmählich an neuere zeitdiagnostische Ansätze herantasten werde. Ich wähle aus 55

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dem aktuellen Theoriebestand nur zwei Theorien aus, weil sie im Verhältnis zu vielen anderen Ansätzen, die davon ausgehen, dass sich in unserer Gesellschaft nichts Neues unter der Sonne ereignet, mit Nachdruck auf gesellschaftliche Umwälzungen, Brüche und sozialen Wandel aufmerksam machen und explizit das Thema Kontingenz streifen: Ich meine die Theorie der Postmoderne und die Theorie reflexiver Modernisierung. In beiden Entwürfen wird, wenn auch eher implizit, die Zentralität des Phänomens Kontingenz unterstellt, auch wenn dieses zum Teil gegensätzlich bewertet wird. Der Begriff Kontingenz löst sich – hierin liegt das Gemeinsame – aus seiner vormaligen relativen Isolation und Begrenztheit auf die moderne Hochsemantik und diffundiert in sämtliche Sphären der Gesellschaft.

3.1 Max Weber: Unversöhnte Moderne Friedrich Tenbruck (1999: 119) erklärt die Bedeutung Max Webers daraus, dass er „an einer entscheidenden Stelle unserer Entwicklung steht, nämlich genau dort, wo zum ersten Mal der Modernisierungsprozeß, in den wir alle hineingerissen sind, in seiner Unentrinnbarkeit und in seinem Ausmaß, als Ganzes in den Blick geriet“. Webers Rationalisierungsbegriff ist der Versuch, die Auswirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auf die institutionelle und kulturelle Struktur der traditionellen Gesellschaft in einer Reihe von Tendenzen zusammenzufassen. Zu diesen Auswirkungen gehören z.B. der Fortschritt der Industrialisierung und ihrer Ausdifferenzierung von Subsystemen zweckrationalen Handelns, die Zunahme rationaler Entwicklungsstrukturen in allen sozialen Bereichen (Privatrecht, ökonomische Aktivität, bürokratische Kontrolle), die Bürokratisierung der Verwaltung und die Ausdehnung bürokratischer Autorität, die radikale Abwertung der Tradition, die zunehmende „Verweltlichung“ kultureller Überlieferung und die konsequente „Entzauberung der Welt“. Aufklärung ist ein welthistorischer Prozess der intellektualistischen „Rationalisierung durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik“ (Weber 1991: 250): Die seit Jahrhunderten andauernde universelle Expansion und stetig wachsende Dominanz formaler Rationalität führt, wie Weber glaubt, zu einem Rationalitätszuwachs und einer nachhaltigen Effektivitätssteigerung im Bereich der materiellen Produktion. Nun erst wird die Überzeugung realisiert, dass man, wie Max Weber sagt, „wenn man nur wolle, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte mehr gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – Prinzip – durch be56

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rechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet die Entzauberung der Welt“ (Weber 1991: 250). Der Prozess der Rationalisierung ist in Webers Augen jedoch ein höchst ambivalentes Geschehen. In seiner Gegenwartsdiagnose weist er auf tiefgreifende gesellschaftliche Anomien und Sozialpathologien hin, die er für unvermeidliche Folgen des fortschreitenden Rationalisierungsprozesses hält. Er zeichnet das Bild einer „unversöhnten Moderne“ (Schluchter 1996), das von Ambivalenzen und, wie Wolfgang Mommsen (1982: 15) bemerkt hat, von Dichotomien durchzogen ist: „Im Zentrum des universalgeschichtlichen Denkens Max Webers steht ein dualistisches Modell geschichtlichen Wandels, das in der Dichotomie von individuellem Charisma und anonymer Bürokratie seinen klassischen Ausdruck gefunden hat.“ Bis zur Hochblüte des Calvinismus ist die Lebenswelt der Menschen durchdrungen von einer religiösen Ethik. Im Prozess des „universalgeschichtlichen Entzauberungsprozesses“ werden jedoch die moralischen Strukturen einer Gesellschaft zerstört. Die einheitsstiftende Funktion metaphysisch-religiöser Weltbilder und moralischer Wertsysteme wird von ökonomischer Sachlichkeit und formaler Rechtlichkeit durchdrungen, ohne dass andere metaphysische Integrationsprinzipien an deren Stelle treten würden. Die „rationale Struktur des Rechts“ gehört zu den Voraussetzungen der modernen „Sozialordnung“, unter denen der moderne okzidentale Kapitalismus entstehen konnte. Der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf des Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln. Je weiter sich die „Subsysteme des zweckrationalen Handelns“ (Betriebe, Verwaltungen) verselbstständigen und sich die Tätigkeit von formalen Organisationen gleichsam durchsetzen, desto mehr sieht Weber die Freiheit des Einzelnen bedroht. Freilich geht Weber in „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ bekanntermaßen davon aus, dass die spezifische Arbeitsmotivation, die den Kapitalismus ermöglicht, am Anfang über den psychologischen Transformationsriemen einer religiösen Fundierung laufe: nämlich den asketischen Protestantismus. Er liefert damit ein spiritualistisches Fundament der modernen Wirtschaft, in dem die religiöse Ethik quasi nicht intendiert eine Veränderung der Wirtschaftsgesinnung mit sich führte. Im weiteren Prozedere sah Weber jedoch, dass der kapitalistische Kontext auf lange Sicht keinen positiven Nährboden für die religiöse Gesinnung darstelle, sodass schließlich „der ‚im Sattel sitzende‘ moderne Kapitalismus ein anethisches Gebilde sei“ (Schluchter 1996: 204): „Der Kosmos der modernen rationalen kapitalistischen Wirtschaft wurde daher, je mehr er seinen immanenten Eigengesetzlichkeiten folgte, desto unzugänglicher jeglicher denkbaren Bezie57

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hungen zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik.“ (Weber 91988: 544) Die entzaubert Welt, die ja schließlich auch eine entzauberte Welt in Bezug auf die menschlichen Bindungen darstellt, setzt brüderlichkeitsfremde Konditionen. Die Ausbildung des auf der Kalkulation basierenden kapitalistischen Betriebs und die Bürokratisierung sind Weber zufolge ein Anzeichen dafür, dass der Frühkapitalismus schließlich in ein „eisernes Zeitalter“ übergeht. Kulturbedeutsam ist am Ende für ihn allein in übertragenem Sinne jene „Zweckrationalität“, die den normativen Gehalt des religiösen Unterbaus des frühen Kapitalismus aufsaugt. Der Kapitalismus werde am Ende nur noch „Fachmenschen ohne Geist“ und „Genußmenschen ohne Herz“ produzieren. Über den Lebensplänen des modernen Menschen waltet für Weber keine Kirche oder Religion mehr. Und „auf die allein für uns wichtige Frage: ‚Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?“ gibt die moderne Wissenschaft „keine Antwort“ (Weber 1991: 256). Die moderne Gesellschaft sei gekennzeichnet durch einen unüberwindbaren Gegensatz verschiedener Wertsphären, die nicht mehr durch das überwölbende Dach einer Totalperspektive zu integrieren seien. Die verschiedenen Wertordnungen der Welt befänden sich „in unlöslichem Kampf untereinander“ (Weber 1991: 262), woraus ein nicht reduzierbarer Polytheismus folge. „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf“, sagt Weber (ebd.: 263). Eine differenzlose Ordnung über verschiedene Gruppen und Sphären hinweg ist in der Moderne nach Webers Auffassung nicht mehr möglich. Die Werte befinden sich in einem nicht auflösbaren Widerstreit. Mit dieser Diagnose seiner Zeit rückt Weber in fühlbar große Nähe zu einer Position, die seiner Auffassung wohl diametral entgegensteht: der Postmoderne (vgl. Schwaabe 2002: 162). Weber hat dennoch auch die Kontingenz der modernen Gesellschaft reflektiert. Gerade der Mangel, Werte in letzter Hinsicht nicht begründen zu können, macht die Entscheidung zu einer voluntativen Operation des Entschlossenseins jeder Organisation, ja jedes Individuums. Jede singuläre Handlung und letztendlich das Leben als Ganzes erfordert, wenn es bewusst geführt werden soll „eine Kette letzter Entscheidungen“ (Weber 1991: 197). „Der Begriff, den Max Weber dem des naturhaften Erlebens entgegenstellt, ist der der Entscheidung“, so zitiert Christian Schwaabe (2002: 185) den Philosophen Dieter Henrich in seiner Weber-Studie. Und gerade weil die Handlungssituation des Menschen in der polytheistischen Moderne gekennzeichnet ist durch die 58

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nicht mehr integrierbare letzte Kontingenz jeder Entscheidung, wird das kontingenztheoretische Potenzial in Webers Ansatz offensichtlich. Bei Weber, so Kari Palonens Kommentar, liegt die Kontingenz im Handeln selbst. Die Chance wird bei Weber das „Symbol der Kontingenz“ (Palonen 1998: 134). Gegen die bürokratische Herrschaft setzte Weber dann auch konsequent die Figur des charismatischen Politikers. In ihr sah er Hoffnung für die Gestaltung von Wandlungsprozessen. Gerade in der politischen Soziologie stellt Weber die Frage, die ihn so sehr beschäftigte: Wie entstehen in dieser Welt der sozialen Kristallisation irgendwelche Innovationen? Sicherlich nicht aus der leblosen Maschinerie des Beamtenapparates, denn prinzipiengeleitetes Beamtentum bedeutet im Ganzen betrachtet „eine Zurückdrängung der Tragweite individuellen Handelns“ (Weber 51985: 681). Hoffnung sieht Weber im politischen Führer: „Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft […] sind das Element des Politikers.“ (Ebd.: 833) Während das moderne Beamtentum seelenlos ist, handelt der charismatische Führer leidenschaftlich. Das „Charisma kennt nur innere Bestimmtheiten und Grenzen seiner selbst“ (ebd.: 655). Webers politischer Ansatz ist vollends auf das Problem zugeschnitten, wie man genügend politische Energie produzieren kann, um den auf Dauer innovationshemmenden bürokratischen Apparaten ein Gegengewicht entgegenzustellen. Daher also resultierten Webers Emphase für das dezisionistische Moment an der Politik und sein Hang, den charismatischen Führer zu verherrlichen.

3 . 2 T h e o d o r W . Ad o r n o : Die Kontingenz der Individuen Auch bei Theodor W. Adorno wird der Begriff des Kontingenten zum zentralen Motor seines Denkens. Er bezeichnet das Kontingente häufig auch mit dem Begriff des „Nichtidentischen“. Gemäß Adorno hat die Philosophie recht, eigentlich den Blick abzuwenden vom operativen Medium des Begriffs. Dieses Denkwerkzeug, das die irreduzible Vielfalt verschiedener und somit ungleicher Gegenstände auf seine (formal) begriffliche Allgemeinheit reduziert, verliert dadurch den nicht identischmateriellen Charakter von Gegenständen aus dem Blick, der zuallererst deren Einzigartigkeit ausmacht. Hauptangriffspunkt Adornos ist die Kategorie der Identität oder das, was er als das „identifizierende Denken“ (Adorno 51988: 174) bezeichnet. Seins Klassifikationskriterium für Kontingenz, nämlich die besondere Rolle, die dem „Nichtidentischen“ genannten Sachverhalt zukommt, hat, wie die jüngere Adorno-Forschung 59

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gezeigt hat, zu viele Nachteile, um völlig überzeugend sein zu können. Das von Adorno ins Spiel gebrachte Motiv zeigt jedoch so viel Strahlkraft, dass es nicht vergeblich ist, seine Grundannahmen Revue passieren zu lassen.

3.2.1 Der Begriff der Identität Nun ist sich Adorno selbst im Klaren darüber, dass es wenige so komplizierte Begriffe in der Geistesgeschichte gibt wie gerade den der Identität. Trotz der Komplexität dieses Begriffs hat Adorno, so weit ich sehen kann, selbst niemals präzise kenntlich gemacht, was er alles unter dem als Identität benannten Sachverhalt verstanden wissen wollte. Ja, es scheint geradezu das Gegenteil zuzutreffen, denn Adorno belastet den Begriff der Identität mit Äquivokationen, Unterbestimmtheiten und Überfrachtungen. Manche Verwendungsweisen des Identitätsbegriffs nehmen sich „wie schlichte logische Fehler“ (Schnädelbach 1987: 184) aus. Dies ist sicherlich ein schwerer Mangel seiner Texte und gleichzeitig der Grund, warum es immer wieder Schwierigkeiten aufseiten der Rezipienten gegeben hat, die Dimensionen dieses Begriffs zu verstehen. Offensichtlich ist allerdings, dass sich der Begriff der Identität im Sinne Adornos nicht einfach nur auf logische oder semantische Sachverhalte bezieht. Die Bedeutung dessen, was Adorno „Identität“ nennt, nimmt nicht nur Bezug auf die Form des prädikativen Satzes, sondern auch auf verschiedenartigste Formationen und Strukturen von Wirklichem. Dazu gehören die gesellschaftlichen Institutionen, aber auch die ökonomischen Produktionsverhältnisse oder kulturelle Institutionen. Alle diese Wirklichkeitsstrukturen begreift Adorno als zwanghafte Zusammensetzung von Einzelmomenten, als gewaltsame Konformierung von Individuen, in denen die Funktion der Einzelnen als solche nicht mehr relevant ist. Nach diesen kurzen allgemeinen Sätzen werde ich nun versuchen, einige Verwendungsweisen des Identitätsbegriffs bei Adorno zu sammeln. Dieser in die Problematik einleitende Punkt wird es mir erleichtern, in späteren Abschnitten bereits angedeutete Thesen zu vertiefen. (1) Eine besondere Form von Identität liegt in objektiven oder absoluten Idealismen vor. Entscheidend ist dabei, dass geistige Sachverhalte (Begriffe) und materielle oder physische Entitäten (letztlich) identisch sind. Nach Adorno zeichnet sich eine Identitätsphilosophie dieser Art durch ihren Rekurs auf ein erstes Prinzip aus. In diesem übergeordneten Prinzip soll schlechthin alles integriert werden. Adornos hauptsächlichen Widerpart bildet in diesem Zusammenhang die monistische Position Hegels. Wie Hegel zu diesen Thesen gelangt und welche sachlichen 60

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Überzeugungen in sie eingehen, braucht uns hier nicht zu interessieren. Ich will allerdings andeuten, was Adorno an Hegels Identitätstheorie kritisiert. Eine Position wie die Hegels, welche von einer einzigen Primärstruktur ausgeht, die zugleich das darstellt, was eigentlich und eminent wirklich ist und insofern Einzeldinge oder Arten von Gegenständen auf diese Primärstruktur reduziert, bleibt, gemäß Adorno, der Identitätsphilosophie verhaftet, was Hegel selber in der Formel von der „Identität der Identität und der Nichtidentität“ (Hegel 1981: 87) ausgedrückt hat. Das Besondere entsteht bei Hegel nur dadurch, dass ein und dasselbe sich selbst verschieden gestaltet und am Ende dieses Prozesses alles „Äußerliche“ und Differente in jener alles umgreifenden Primärstruktur „aufgehoben“ ist. Die Differenz ist bei Hegel nur Differenzierungsprodukt und Steigerungsmedium des Einen. Zwar haben Identität, Indifferenz und Totalität auch bei Hegel keinen Sinn, wenn nicht auch ein Mannigfaltiges gedacht werden kann, in Beziehung auf das die Einheit des Einen als Identität allein zu definieren ist. Der Monismus Hegels sieht aber nicht vor, dem Endlichen Selbstständigkeit zuzusprechen. Im „Innersten von Dialektik“ (Adorno 51988: 161), so lautet also Adornos Fazit, gewinnt wieder das „antidialektische Prinzip die Oberhand“ (ebd.: 161), nämlich die Identität. (2) Adorno unterscheidet nicht zwischen Identität und Äquivalenz. Diese begriffliche Unsauberkeit führt dazu, dass er die Kategorie der Identität auf gesellschaftstheoretische Sachverhalte bezieht. Er nimmt eine Übereinstimmung zwischen dem „Identifikationsprinzip“ (ebd.: 149) des „identifizierenden Denkens“ (vgl. Punkt 4) und dem „Tauschprinzip“ (ebd.: 149) an. Am Tausch habe das „identifizierende Denken“ „sein gesellschaftliches Modell, und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch“ (ebd.: 149). Was Adorno meint – und was mit der Kategorie der Identität nichts zu tun hat – ist die Tatsache, dass im Tauschprozess selbst von allen qualitativen Momenten sowohl der in ihn eingehenden Sachen und Leistungen als auch der sie produzierenden und konsumierenden Menschen abstrahiert wird. Adorno bezieht sich hier auf Karl Marx’ Theorie des Tausches, die davon ausgeht, dass sich unter arbeitsteiligen Bedingungen die ihrem Gebrauchswert nach verschiedenen Produkte qualitativ unterschiedener Privatarbeiter nur austauschen lassen, wenn sie auf ein ihnen Äquivalentes reduziert werden. Äquivalente sind die in den Produkten sich austauschenden qualitativ unterschiedlichen Arbeiten aber nur als abstrakte Repräsentanten abstrakter menschlicher Arbeit. Dies macht ihren Tauschwert aus. Auch die Menschen als Produzierende, ihre Ware Ar61

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beitskraft Veräußernde sind in diesen Prozess eingebunden. Die Individuen werden in Objekte der Arbeitsdisziplin verwandelt und ihre Tätigkeit – in der Warenform der Arbeitskraft – an die Mobilität des Marktes angepasst. (3) Ein besonders folgenreicher Übergang in Adornos Denken ist der von dem im weitesten Sinne als psychische Identität bezeichneten Phänomen zu dem Sachverhalt, den Kant die „transzendentale Apperzeption des ‚ich denke‘“ nannte. Es sei hier nur so viel gesagt: Kants „transzendentale Apperzeption“ stellt eine oberste Einheit des Subjekts dar, die die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit seiner Vorstellungsinhalte verbindet und dabei im Fluss der Zeit mit sich selbst (numerisch) identisch bleibt. In dieser Einheit wird ein Denkender in Beziehung auf viele Bewusstseinsgehalte als ein Denkender gedacht. Diese analytische in sich konsistente Einheit der Apperzeption ist nach Kant dadurch gekennzeichnet, dass sich das Subjekt im Wechsel der verschiedenen Bewusstseinsgehalte seiner als eines identischen auch eigens bewusst ist. (4) Mit „identifizierendem Denken“ oder, nach Antje Thyen, „formaler Identität“ (Thyen 1989: 117) soll nach dem Verständnis Adornos in einem sehr weiten Sinne derjenige Zusammenhang bezeichnet werden, den das Denken herstellt, indem es den Gegenstand, den es erkennen will, auf dasjenige reduziert, was es als begriffliches Denken an ihm begreift. Die Kritik Adornos an diesem Denken ist vor allem von der Frage geleitet, welche Stellung das Denken in diesem Fall zum Objekt einnimmt. Adorno sagt: „Denken heißt identifizieren.“ (Adorno 51988: 17) Betrachten wir diese These Adornos etwas genauer und prüfen wir dann, ob Adorno hier den Identitätsbegriff überhaupt richtig anwendet. An sich ist die Wirklichkeit ein gegenstandsloses Chaos. Und wie schon die antike Philosophie wusste, verändern sich die Dinge stetig, sie legen ihre Eigenschaften ab, nehmen neue an, bis sie schließlich vergehen. Um aber die Mannigfaltigkeit der Welt umgehen zu können, benötigen wir Regeln, Klassifikationen oder eben Begriffe. Um einen Gegenstand in dieser Welt gleichsam „dingfest zu machen“, d.h. ihn als denselben wiedererkennen zu können, müssen wir ihn zuvor als einen bestimmten Gegenstand identifizieren. Im prädikativen Satz wird gesagt, dass etwas (z.B. Aristoteles oder einige Menschen etc.) unter einen Begriff (bzw. in eine Klasse) fällt. Mit anderen Worten: Durch den Begriff als Allgemeinbegriff wird das Besondere unter ein Allgemeines subsumiert. Anders als der Eigenname, der einen konkreten singulären Gegenstand bezeichnet, bezieht sich ein Begriff oder allgemeiner Terminus auf eine Anzahl vergleichbarer Gegenstände und stellt das heraus, was ihnen gemeinsam ist. Begriffe fassen also das Viele zusammen und leisten damit eine Reduktion von 62

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Komplexität. Was ist nun aber die spezifische Kritik Adornos an dieser Vorstellung? Adornos Kritik an der kognitiven Operation des Klassifizierens und Subsumierens besteht darin, dass mit allgemeinen Termini oder Begriffen Dinge gleichgesetzt werden, die eigentlich nicht gleich sind. Der „Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne“ (Adorno 51988: 17). Die Logik des Begriffs ist nämlich gemäß Adorno an die Bedingung gebunden, dass es identische Fälle gibt. Der „immanente Anspruch des Begriffs ist seine Ordnung schaffende Invarianz gegenüber dem Wechsel des unter ihm Befassten“ (ebd.: 156). Damit logisch gedacht werden kann, müssen wir gleichsam diese Bedingung als erfüllt fingieren. In Wirklichkeit beschneidet der Begriff in seiner fingierten formalen Allgemeinheit die besonderen Qualitäten der zu erfassenden Erkenntnisgegenstände. Er drückt dem unter ihm subsumierten chaotisch Disparaten den Stempel der Identität auf. Bei der Feststellung, dass ein Sachverhalt etwas „Festes, Beständiges“ (ebd.: 156) ist, wird vergessen, dass eben diese Feststellung „lediglich denkpraktisch postuliert“ (ebd.: 156) ist. Der Begriff ist in Wirklichkeit ein instrumentaler Vollzug, durch den das erkennende Subjekt nach der Regel der Identität die Welt gemäß seiner „Interpretation“ und seinem Herrschaftswillen bestimmt und letztendlich mit dem Begriff homogen macht. Erkennen ist Herrschaft. Adorno rekurriert hier auf Einsichten, die bereits Friedrich Nietzsche beschrieben hatte. Nietzsches Theorie des Willens zur Macht geht davon aus, dass die Grundformen des Denkens von den Menschen in die Welt „hineinprojiziert“ werden, um Herr zu werden über das Chaos der Natur. Daraus folgt: Wenn es stimmt, dass der Begriff eine allgemeine Regel ist, die der Wirklichkeit vollkommen äußerlich ist, somit Identitäten und Regularitäten der an sich chaotischen Natur bloß ‚denkpraktisch postuliert‘ werden, dann wird das Individuelle als Individuelles übergangen, weil das schlechthin Einmalige gerade nicht durch allgemeine Klassifizierungen angemessen ausgedrückt werden kann. Jeder „einzelne unter eine Klasse subsumierte Gegenstand“, so Adorno (51988: 153), enthält Bestimmungen, „die in der Definition seiner Klasse nicht enthalten sind“ (ebd.: 153). Konsequent weitergedacht hieße dies dann auch, dass ein Denken dieses Typs immer nur mit sich selbst beschäftigt ist. Adorno spricht deshalb auch vom „Zirkel der Identifikation, die schließlich immer nur sich selbst identifiziert“ (ebd.: 174). Adornos Interesse liegt aber gerade dort, wo wir es nicht mit schematisierten Merkmalseinheiten zu tun haben, sondern er möchte gerade im Gegenteil sein Au-

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genmerk auf den nicht reduzierten Einzelgegenstand und seine Eigenheiten werfen.1 Wenn also jedes Objekt an sich ein besonderes ist, dann müsste man gerade die Eigenheiten des Einzelnen, also das, was der allgemeine Begriff an diesem gleichsam abschneidet (vgl. ebd.: 21), zum eigentlichen Erkenntnisziel erklären. Der Hintergrund von Adornos Versuch speist sich aus einer bestimmten Annahme über die ontologische Verfassung der Wirklichkeit. Er geht davon aus, dass das, woran das begriffliche oder klassifizierende Denken nicht heranreicht, als eine Ordnung wirklicher Einzelner vorzustellen ist, von denen es unbestimmt viele gibt. An diesen unbestimmt vielen Einzeldingen sollen nun eine oder mehrere Dimensionen im Medium des Begriffs nicht erkannt werden. Jenes „Mehr“, welches sich aus dem Blickwinkel des „Konsequenzdenkens“ als „quantité négligeable“ (ebd.: 20) darstellt, nennt Adorno das „Nichtidentische“ (vgl. ebd.: 24). Der Begriff des Nichtidentischen erscheint so als das heimliche Zentrum, von dem aus sich das Denken Adornos erschließt. Betrachten wir noch etwas genauer, was er mit dem komplexen Begriff des „Nichtidentischen“ andeuten möchte.

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Nach einem ersten Blick auf Adornos Grundgedanken seiner Kritik am „identifizierenden Denken“ schließt sich besonders eine Frage an, die der Klärung bedarf. In welchem Sinne und mit welchen Intentionen kann von „identifizierendem Denken“ überhaupt sinnvoll gesprochen werden? Gemäß Adorno soll die Operation des Subsumierens und Klassifizierens singuläre Gegenstände gleichsetzen, die eigentlich verschieden sind. „Formal“ ist an der solchermaßen hergestellten Identität, dass sie, von der Besonderheit ihrer Gegenstände absehend, diese unter allgemeine Termini bringt und sie nur noch – nicht auch – als Repräsentanten eines Allgemeinen begreift. Verstände Adorno den Akt des „Identifizierens“ in dieser Weise, würde dies den Vorwurf nahelegen, er fasse auch prädikative Urteile als bloße Resultate identifizierenden Denkens auf, was natürlich nur schwer einzusehen ist. Identifizieren kann nämlich auch bedeuten: etwas als etwas identifizieren. Hierbei wird im prädikativen Satz keineswegs ausgesagt, dass ein singulärer Gegenstand vollständig durch einen allgemeinen Terminus ausgedrückt werde. In dieser Identifikation wird nur so viel ausgesagt, dass der allgemeine Terminus das Besitzen einer Eigenschaft in Bezug auf den singulären Terminus ausdrückt. Nehmen wir ein Beispiel: Die Annahme, der Satz „Dies Haus ist gelb“ impliziere die Schlussfolgerung, dass das Haus über diese Eigenschaft des Gelbseins hinaus keine weiteren qualitativen Merkmale mehr habe, ist natürlich absurd. Denn die Tatsache, dass ich ausgerechnet die Eigenschaft „gelb“ und keine andere prädiziere, kann ja durch erneute Prädikationen fortlaufend erweitert werden. Der Satz besagt nur, dass das entsprechende Haus u.a. unter die Klasse der gelben Gegenstände fällt. Eine Identität des Hauses mit der Farbe Gelb wird nicht behauptet.

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

3.2.2 Kontingenz als Nichtidentisches Das Nichtidentische kann letzten Endes nicht positiv bezeichnet werden, sonst wäre es ja bereits wieder identifiziert. Adorno spricht immer im Modus des Konjunktivs, wenn er versucht, es gleichsam konstellativ einzukreisen. Das Nichtidentische ist das, was „erst hervorträte, nachdem der Identitätszwang zerging“ (ebd.: 398). Vorstellbar wäre es nur im Modus eines qualitativ anderen Denkens, welches der „Sache selbst“ gerecht werden würde. Dieses Denkmodell würde versuchen zu erklären, was etwas selbst sei im Gegensatz zum Identitätsdenken, welches immer nur sagt, „worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist“ (ebd.: 152). Wenn es um das Nichtidentische geht, spricht Adorno auch von der eigenen Identität einer Sache: „Insofern wäre das Nichtidentische die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikation.“ (Ebd.: 164) Achten wir genau auf den verwendeten Identitätsbegriff: „Identität“ hat hier eine qualitativ andere Bedeutung als in dem oben beschriebenen Sinne, der sich auf den identifizierenden Akt bezieht. Sie soll hier eine Aussage über den ontologischen Status von Objekten treffen. Die Bezeichnung ‚eigene Identität‘ einer Sache bezeichnet hier genau jenen Sachverhalt, mit dem „vor allem die Einzelheit einer Sache im Sinne ihrer Selbständigkeit gegenüber anderen Einzelnen“ (Müller 1988: 206) zum Ausdruck gebracht werden soll. Adorno scheint mit „eigener Identität“ etwas zu benennen, was man in der philosophischen Terminologie als „Individuum“ bezeichnet. Einen Hinweis gibt uns Adorno selber: Er spricht, wenn er das „Nichtidentische“ charakterisiert, auch von dem „individuum ineffabile“ (Adorno 51988: 148). Ich nähere mich nun einem Aspekt, den ich bereits weiter oben angesprochen habe (Punkt 2.1.8): Schon in der mittelalterlichen Philosophie führte genau die von Adorno aufgegriffene Problematik zur Aufstellung des Satzes „individuum est ineffabile“. Dies bedeutet, dass eine Erkenntnis eines Individuums in einem strikten Sinne nicht möglich ist. Diese Behauptung kann man mit folgendem Argumenten begründen: Ein Wissen vom Einzelnen „kann nur nachträglich gewonnen werden und ist veränderliches, geschichtliches, nie vollständiges, perfektes Wissen“ (Pieper 1973: 730). Es können zwar Aussagen über ein Einzelding gemacht werden, die Totalität des Gegenstandes wird damit aber, wie wir bereits von Adorno wissen, nicht erfasst. Sobald wir uns nämlich einem singulären Gegenstand zuwenden, um ihn erkennend einzuordnen, beginnen wir in Urteilen etwas über ihn auszusagen, d.h., wir verwandeln die gemeinte Singularität in die Allgemeinheit eines Begriffs. Indem etwas begriffen wird, wird immer schon das Unbegreifbare 65

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davon ausgeschlossen und dieses Ausgeschlossene wird als an sich unbegreifliches Individuum begriffen. Das Substrat bleibt prinzipiell unsagbar, eben weil kein Begriff – weder ein empirischer noch ein abstrakter – die Ganzheit eines mit Namen genannten Individuums zu fassen vermag (vgl. Pieper 1973: 730). Was nun die Frage nach dem als „Individuum“ bezeichneten Sachverhalt betrifft, so wurde das „principium individuationis“ in der klassischen Philosophie als die materielle Dimension eines Gegenstandes aufgefasst. Die substanzielle Form bezeichnet bestimmte Vollkommenheit im Sinne seiner Art (z.B. Eiche). Sie drückt aber von sich her nichts über die Vielheit der Individuen innerhalb der Art (z.B. die Vielheit der Eichen) aus. Die Materie besagt ihrerseits beliebige, unbestimmte Bestimmbarkeit. Bei Platon und Hegel wird ausdrücklich die Vollkommenheit der „Idee“ gegenüber der materiell-vergänglichen Welt betont. Nicht zuletzt deswegen werden die beiden Autoren von Adorno kritisiert: Adorno möchte das ins Blickfeld rücken, was nicht Begriff ist. Der Begriff soll gerade denjenigen Sachverhalt bezeichnen, der daran hindert, die Dinge, so wie sie „wirklich“ sind, zu erfassen. Adornos Intention ist es, die empirisch-materialen Eigenschaften eines singulären Gegenstandes ins Zentrum zu stellen, also gerade dasjenige, „was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte“ (Adorno 51988: 20). Er intendiert eine umfassende Anerkennung der Endlichkeit, der Kontingenz, der Differenz und der sich jeder Vermittlung entziehenden Unmittelbarkeit. Wir sind mittlerweile so weit, gute Gründe für die Annahme zu haben, dass Adorno das Nichtidentische unter dem Aspekt seines materialen Gehaltes, d.h. der qualitativen Elemente betrachtet. Ich wiederhole noch einmal: Thema der Philosophie sollen die von ihr „als kontingent zur quantité négligeable degradierten Qualitäten“ (ebd.: 20) sein, die gemäß Adorno bestimmend dafür sind, dieser und kein anderer Gegenstand zu sein. Die „nichtidentischen Momente“ zeigen sich „als untrennbar fusioniert mit Materiellem“ (ebd.: 193). Ein Denken, welches sich auf ein Nichtidentisches bezieht, müsste also gerade darauf zielen, das jeweils Besondere und Individuelle einer einzelnen Sache, das, was sie von allen anderen unterscheidet, zu erkennen. Wir dürfen aber dabei nicht vergessen, dass damit noch keine Bestimmung darüber gegeben ist, was nun das Nichtidentische an jedem Gegenstand tatsächlich ist. Was „Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv, unmittelbar vorhanden“ (Adorno 51988: 189). Unser begrifflicher Horizont begleitet jede Operation, sofern sie auf etwas außerhalb des kognitiven Systems Bezug nimmt. Dabei ist sich Adorno durchaus der Paradoxie bewusst, die sein Unternehmen kennzeichnet. Er muss näm66

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lich eben jene Bedingungen (Begriffe), gegen die sich sein Denken richtet, schon erkannt haben, um gegen sie angehen zu können: „Nur Begriffe können vollbringen, was der Begriff verhindert.“ (Ebd.: 62) Philosophie habe die Anstrengung aufzubringen „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ (ebd.: 27). Adorno hat, wie bereits angedeutet, niemals behauptet, wir könnten anders als im Medium des Begriffs denken. Was auch immer wir anstellen mögen, es sei denn, wir nähmen auch Abschied von der Kommunikation, wir „können nicht verhindern, Repräsentationen einzelner Dinge oder Weltzustände mit Repräsentationen von Gruppen, Klassen oder Mengen von Dingen oder Weltzustände zu verknüpfen“ (Zimmerli 1991a: 1155). Für Adorno hat nur das Denken selbst die Kraft, den Schein von Identität aufzusprengen. Er möchte versuchen, den traditionellen Begriff zu erweitern, um das in den Blick zu bekommen, „was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre“ (Adorno 51988: 10). Weil die Philosophie nur Begriffe zur Verfügung hat, besteht ihre „Sisyphosarbeit“ darin, die „Unwahrheit und Schuld, die sie damit auf sich lädt, zu reflektieren und dadurch womöglich zu berichtigen“ (Adorno 101990: 382). Mir scheint das Wort „berichtigen“ hier genau den Sinn zu treffen, den Adorno mit seiner „Richtungsänderung“ anvisiert. Eine negative Dialektik kann die Abstraktion nicht abschaffen, aber sie kann auf die Grenzen des begrifflichen Systems hinweisen und damit auch auf dasjenige, was durch dieses System ausgegrenzt wird. Was Adorno also im eigentlichen Sinne mit seinem paradoxen Unterfangen intendiert, ist keine Überschreitung unseres kategorialen Gefüges, sondern die Deutlichmachung der Grenzen dieses Gefüges. Es geht darum, überhaupt darauf aufmerksam zu machen, dass man nicht anders als begrifflich denken kann. Derjenige, der sieht, dass ein System nicht sehen kann, was es nicht sehen kann, kann unterstellen, dass dasjenige, was sich den systemeigenen Operationen entzieht, auch anders sein könnte, selbst wenn er nicht angeben kann, wie es anders sein könnte, weil sich das eben „hinter“ dem Horizont des Systems verbirgt. Und dies nun also, was unser kognitives System im Modus des Begriffs vernachlässigt, ist für Adorno das Nichtidentische.

3.2.3 Ausblick: Die Aktualität von Adornos Interpretation des Themas Kontingenz Nach diesen provisorischen Bemerkungen über Adornos Interpretation des Begriffs Kontingenz sollen einige „Ungereimtheiten“ seiner Gedanken aufgedeckt werden. Zunächst muss, wie Dieter Thomä (2003: 93ff.) sagt, auf den veralteten Duktus der instrumentellen Vernunft im Denken 67

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Adornos hingewiesen werden. Adorno hat stets an einem Muster seiner Erkenntnistheorie festgehalten: Von allem Anfang an war Herrschaft als Beziehungsprinzip der Preis für die Selbstwerdung des Menschen. Um nicht beherrscht zu werden, versucht der Mensch – auch durch Begriffe und Sprache – zu beherrschen. Dieser kognitive Ansatz transportiere, nach Thomä, ein einfaches Schema und sei epistemologisch unterkomplex. Die Beweislast dieses Modells „liegt auf den schmalen Schultern dieses ‚Subjekts‘; es leidet unter dem systematischen Dilemma von Vergegenständlichung und Verdinglichung […]“ (Thomä 2003: 94). Habermas geht davon aus, dass Adorno in seiner „Negativen Dialektik“ aus den skizzierten Aporien „nicht mehr herausführen“ (Habermas 1988, Bd. 1: 514) wollte. Er spricht dem Gedankengang der „Negativen Dialektik“, insbesondere auch in methodischer Hinsicht, keinerlei positive Erfolgschancen für die Zukunft zu. Eine negative Dialektik ist beides: der „Versuch, zu umschreiben, was sich diskursiv nicht sagen läßt, und die Warnung, in dieser Lage doch noch bei Hegel Zuflucht zu suchen“ (Habermas 1988, Bd. 1: 514). Sie ist „nurmehr als ein Exerzitium, eine Übung, zu verstehen. Indem sie dialektisches Denken noch einmal reflektiert, führt sie vor, was man nur so zu Gesicht bekommt: die Aporetik des Begriffs des Nicht-Identischen“ (ebd.: 515). Adorno bewege sich in seinem Spätwerk im Exerzitium einer negativen Philosophie, um am Ende gar in der „Ästhetischen Theorie“ die „Erkenntnis-Kompetenzen an die Kunst“ (ebd.: 514) abzutreten. Allerdings muss nach Habermas eine Philosophie, „die sich hinter die Linien des diskursiven Denkens aufs ‚Eingedenken der Natur‘ zurückzieht“ (ebd.: 516), mit der „Abkehr vom Ziel theoretischer Erkenntnis“ (ebd.: 516) bezahlen. Das alles ist richtig. Und doch: Man könnte Adornos Ansinnen auch in anderer Weise aufgreifen. Meines Erachtens käme es darauf an, gerade jene Züge von Adornos Rationalitätsbegriff herauszuarbeiten, in denen es weder um instrumentelle noch um kommunikative Rationalität geht, sondern, in traditioneller Terminologie, um die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem als Problem der Erkenntnis- und Sprachkritik. Der bereits erwähnte Ernst Troeltsch (1922: 774) bemerkt, dass der Begriff der Individualität – als ein Bestandteil der Dimension Kontingenz – darauf hinweist, dass jeder Gegenstand, von dem man etwas unter allgemeinen Gesetzen aussagen wolle, „etwas Individuelles“ sei, „d.h. etwas aus allgemeinen Gesetzen nicht restlos Verständliches“ enthalte. Und dieses Prinzip sei unmittelbar verknüpft mit dem „Problem des Neuen“ (ebd.: 775). Denn, so Troeltsch (1922: 775), in jedem „Gedanken der Neuentstehung von etwas, das im vorhergehenden nicht schon enthalten war“, stecke „ein Element der Kontingenz“ (ebd.: 775).

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Genau hier scheint mir die Stärke von Adornos Philosophie zu liegen, nämlich darauf hinzuweisen, dass uns – gerade in der nach Effizienz und Sanierung strebenden Ökonomie – zu schnell daran gelegen ist, Standardisierungen vor Innovationen zu setzen. Das Neue geht dabei verloren. Der von Adorno als „Identität“ bezeichnete Sachverhalt verweist auf eine bestimmte Art der strukturellen Verfassung des Denkens oder der sozialen Wirklichkeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Bereiche, in denen sie zum Tragen kommt, die Tendenz besitzen, das Individuelle zu homogenisieren und somit die Eigenheiten von Personen, Gegenständen oder Verfahren nicht mehr zu achten. Adorno geht davon aus, dass sich diese Tendenzen der Homogenisierung überall dort ereignen, wo versucht wird, gänzlich verschiedene und somit individuelle Sachverhalte in einen dem stabilen System ähnlichen Zustand zu bringen. Adorno interessiert sich für die Genese und Funktionsweise jener eben beschriebenen Mechanismen. Darüber hinaus er ist der Meinung, dass diese daran schuld sind, dass dasjenige, das „hinter“ den Systemgrenzen liegt, d.h. das Kontingente, das Individuelle, das anders Mögliche etc., von diesem System in seiner Eigenheit unterdrückt wird. In der Tat haben derartige Struktureffekte weitreichende Konsequenzen für die Innovationsfähigkeit von Systemen. Unsere Wirtschaft sieht sich vor die Herausforderung gestellt, kreative Potenziale freizusetzen. Ein Vorteil, gerade in der strategischen Entwicklung, kann ein Unternehmen nur verbuchen, wenn es sich von anderen unterscheidet. Innovation ist ein Prozess, der unmittelbar auch auf das kreative Wahrnehmungspotenzial des Menschen angewiesen ist. Wie können wir anders sehen? Was heißt anderes sehen vor dem Hintergrund von Standardisierungsprozessen? Den Preis, den wir für unsere hoch standardisierten Systeme zu zahlen haben, der sich im Verlust der Kontingenz auf den Punkt bringen lässt, hat Adorno – vielleicht neben Jacques Derrida – wie keiner vor ihm reflektiert.

3.3 Unbestimmtheit der Sprache: Jacques Derrida Zwischen Adorno und Jacques Derrida gibt es viele Analogien. Es scheint zunächst befremdlich zu sein, Jacques Derridas philosophische Bemühungen in den Kontext von Adornos Philosophieren stellen zu wollen. Wie wir noch sehen werden, spielt auch für Derrida jenes für Adorno so entscheidende Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem

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eine wichtige Rolle, mag er es auch aus einer anderen Perspektive betrachten.

3.3.1 Derridas Kritik an Saussures Identitätsbegriff Jene Perspektive nun ist bestimmt durch den französischen Strukturalismus, deren eigentlicher Begründer Ferdinand de Saussure gewesen ist. Obwohl Derrida bestimmte Grundannahmen der saussureschen Semiologie teilt, gibt es ebenso bestimmte Aspekte an ihr, die Derrida kritisiert. Einer der von Derrida kritisierten Aspekte der Zeichenlehre Saussures ist der Sachverhalt, den man als „syntaktische Identität“ bezeichnet. Betrachten wir zunächst, in groben Grundzügen Saussures Identitätsbegriff, um daraufhin Derridas Kritik an diesem wiederzugeben. Bekanntlich unterscheidet Saussure zwei für seine Zeichenlehre konstitutive Momente. Das erste entscheidende Moment ist die Unterscheidung der Rede („la parole“) als die den sozialen Alltag kennzeichnende Aktivität des Sprechens von dem dieser konkreten Alltagssprache zugrunde liegenden abstrakten Ordnungssystem, das er „la langue“ nennt. La langue ist für Saussure das Ordnungsgefüge, welches sowohl unsere alltäglichen Rede-Handlungen – gleichsam unbewusst – als auch die Bedeutungsdimension des Zeichens bestimmt. Um vor allem Letzteres zu verstehen, führt Saussure eine zweite wichtige Unterscheidung ein. Das sprachliche Zeichen muss aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt gedacht werden, dem Lautbild (Signifikant), d.h. der Vorstellung des Lautes, und der Bedeutung bzw. dem Begriff (Signifikat). Erst diese beiden „Seiten“ zusammen ergeben das Zeichen. Beide, sowohl die Bedeutung („concept“) – das Ergebnis eines Denkaktes – als auch die Vorstellung des Lautes („image acoustique“) sind, je für sich allein genommen, nichts anderes als eine gestaltlose Masse. Saussure möchte offensichtlich darauf hinweisen, dass jede Bedeutung (jeder Begriff) abhängig ist von der sie (ihn) in eine Ordnung bringenden Lautproduktion bzw., weiter gedacht, von der semiotischen Struktur der verwendeten Sprache. Für sich seien nämlich Bedeutungen amorph, ungreifbar, rein geistig und ohne abgrenzbares Profil. Darum können Bedeutungen nur dann voneinander unterschieden werden, wenn ihre Lautbilder voneinander differenziert werden. Die gleiche Unordnung würde uns aber nach Saussure zuteil werden, wenn wir keine Bedeutungsvorstellungen hätten: „Gegenüber diesem verschwommenen Gebiet würden nun die Laute für sich selbst gleichfalls keine fest umschriebenen Gegenstände darbieten. Die lautliche Masse ist ebensowenig etwas fest Abgegrenztes und klar Bestimmtes, sie

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ist nicht eine Hohlform, in die sich das Denken einschmiegt, sondern ein plastischer Stoff, der seinerseits in gesonderte Teile zerlegt wird, um Bezeichnungen zu liefern, welche das Denken nötig hat.“ (Saussure 1967: 133)

Denken wir z.B. an das Zeichen /Baum/ und benutzen wir die Schrägstriche als grafisches Mittel, um anzuzeigen, dass wir die Signifikantenseite eines Zeichens meinen. Das Ergebnis der Lautproduktion /Baum/ sagt, nach Saussure, als solches noch gar nichts aus. Keiner würde die Bedeutung des Zeichens Baum verstehen, wenn er nicht im gleichen Moment der Verlautlichung /Baum/ so etwas wie eine Bedeutungsvorstellung (Begriff) hätte. Erst wenn eine Lautkette Anlass gibt für eine bestimmte Bedeutungsassoziation, kann das Dasein eines Zeichens gestiftet werden. Ein weiteres wesentliches Merkmal der Beziehung von Signifikant und Signifikat bildet für Saussure die Tatsache, dass ihre gegenseitige Zuordnung willkürlich ist. Welcher Signifikant welchem Signifikat zugeordnet ist, entspricht keinem natürlichen Erfordernis, sondern ihre Beziehung ist lediglich eine konventionelle (willkürliche). Dieser Turm, den ich vor mir sehe, kann „tower“ oder „tour“ heißen, jene Bezeichnung steht dem bezeichneten Gegenstand kein bisschen näher als diese. Es stellt sich nun eine entscheidende Frage: Wie kommt es, dass aus einer einmaligen Schallfigur ein bedeutungstragendes Zeichen wird? Mithin, wie sammelt sich das überreiche Vokabular einer Sprache, ohne dass jedes Wort mit allen anderen in die „Quere“ kommt? Saussures Antwort darauf ist: durch die Differenz jedes Signifikanten zu allen übrigen Signifikanten des sprachlichen Systems. „Ihr bestimmtes Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die anderen nicht sind.“ (Saussure 1967: 139f.) Und weiter: „Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheit ohne positive Einzelglieder.“ (Saussure 1967: 143f.) Saussure macht sich die bereits von Spinoza und Hegel entwickelte These zunutze, dass etwas als etwas identifizieren heißt: es von allen anderen erkennbaren Dingen unterscheiden. Elemente eines Sinnsystems werden überhaupt nur zu „Bedeutungen“, weil zunächst bedeutungslose Momente innerhalb eines Systems in unterscheidende Relation zueinander gesetzt werden. Die Sprache ist so gesehen kein Sammelsurium von positiven Entitäten oder Substanzen, sondern vielmehr ein Funktionszusammenhang, der durch eine grundlegende Negativität definiert ist. Ich komme nun auf den zentralen Sachverhalt zu sprechen, den Derrida sich anschickt zu kritisieren. Saussure schränkt nämlich seine Aus71

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sage, dass die Sprache ein rein negatives System sei, auf das Problem der Konstitution von Bedeutung ein. Sind die Zeichen erst einmal vermittels differenzieller Artikulation konstituiert, so „hat man etwas vor sich, das in seiner Art positiv ist“ (Saussure 1967: 144). Dieses „etwas“, das am Ende des Konstitutionsprozesses als „positives“ Ergebnis herauskommen soll, ist nun zunächst das, was man als syntaktische Identität bezeichnen könnte. Saussure glaubt also, dass die Zeichen sich zunächst rein negativ durch die Differenz bestimmen, sich aber dann, als Effekt der negativen Artikulationsbewegung, als positive Fakten herauskristallisieren. Am Ende sind sie identisch mit sich selbst und nehmen, wie Kristalle, ihren festen Ort im System ein. Saussure war überaus froh, als er mit dem positiv zu definierenden System binärer Oppositionen etwas gefunden zu haben glaubte, was der Sprachwissenschaft den Charakter einer positiven Wissenschaft verbürgte. Dies ist der Punkt, an welchem Saussures Denken Derrida zufolge vor der Logik der Präsenz kapituliert, wie das so vieler Systematiker vor ihm. Hat sich erst einmal die syntaktische Identität jedes Zeichens entwickelt, ist man nämlich prinzipiell in der Lage, ganze Wörter aufzubauen. Sprache entsteht durch Kombination bestimmter Elemente, z.B. der Wörter, die ihrerseits aus Lauten zusammengesetzt werden. Was Saussure, Derrida zufolge, im eigentlichen Sinne anvisiert, ist ein kommunikationstheoretischer Gedanke. Saussure möchte ein System mit (syntaktisch) identischen sprachlichen Zeichen aufbauen, weil erst dies die Voraussetzung darstellt, dass Menschen sich miteinander – in Wörtern – verständigen können. Das Vorhaben Saussures zielt, zumindest als Endresultat, auf den „Begriff der Kommunikation, der in der Tat eine Transmission impliziert; eine Transmission, die darin besteht, daß die Identität eines bezeichneten Objekts, eines Sinns oder eines Begriffs […] von einem Subjekt zum anderen weitergeleitet werden soll“ (Derrida 1990c: 147). Wenn ich Derrida richtig verstehe, meint er Folgendes: Wir müssen aus verständigungspraktischen Gründen unterstellen, dass im Alltag tendenziell alle Gesprächsteilnehmer in der Mannigfaltigkeit der Situationen dieselben sprachlichen Zeichen bedeutungsidentisch verwenden. Der Sprachgebrauch jedes an der Kommunikation teilnehmenden Subjekts muss sich auch, bei aller individuellen Zwecksetzung, auf einen gemeinsamen, mit allen anderen Interaktionspartnern geteilten Vorrat von grammatischen Regeln bzw. bedeutungstragenden Elementen beziehen. Ohne jene kontrafaktische Annahme würde jeder Versuch der Kommunikation bereits im Keim erstickt werden. Denn warum sollten wir überhaupt ins Gespräch treten, wenn wir nicht davon ausgehen könnten, dass wir in einem solchen Falle verstanden werden würden? 72

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Diese theoretische Annahme führt Saussure zu der Überzeugung, dass schon auf der Ebene der syntaktischen Identität, trotz der negativen Beziehung jedes Zeichens zu allen übrigen Zeichen des sprachlichen Systems, am Ende doch jedes Zeichen eine über die Zeit hinweg identische und somit positive Bedeutung haben müsse. Derrida deckt nun in Saussures Argumentation eine Lücke auf. Dieser läuft nämlich in eine Falle, die Derrida als „Logozentrismus“ beschreibt. Wenn wir die Selbigkeit oder die Identität eines Sachverhaltes ausdrücken, beziehen wir diese auf die Zeit. Immer dann, wenn sich etwas über längere Zeitstrecken hinweg als beharrlich erweist, kann man auch von einer „Struktur“ sprechen. Strukturen können sprachliche Konventionen sein, aber auch Generalisierungen von Verhaltenserwartungen, die sachlich für verschiedene Situationen und sozial für eine Mehrzahl von Personen gelten. Die saussuresche Vorstellung, dass ein sprachliches Zeichen einen festen Bedeutungskern hat, oder mit den Worten Derridas, ein „Zentrum“ besitzt, welches sich über die Zeit hinweg nicht verändert, wird nun von diesem radikalisiert. Die Radikalisierung besteht darin, dass er das „Spiel der Differenzen“ (Derrida 1990c: 150) als unbegrenzt bzw. die Struktur der Verweisungen nicht länger gemäß Saussure als Ordnungssystem, sondern als konstitutiv azentrische Struktur denkt. Dies begründet Derrida folgendermaßen: Er stimmt zunächst Saussure darin zu, dass sich jedes Zeichen negativ von allen anderen unterscheidet. In seinem Text „Die différance“ sagt er: „Ein Intervall muß es von dem trennen, was es nicht ist, damit es es selbst sei […].“ (Derrida 1990a: 91) Nun vollzieht Derrida aber über Saussure hinaus eine folgenreiche Schlussfolgerung: Wenn es stimmt, dass jedes sprachliche Zeichen zunächst nicht positiv gegeben ist, sondern sich negativ auf alle anderen Zeichen bezieht, dann ist die von Saussure aus systematischen bzw. verständigungspraktischen Gründen gesetzte „Identität“ eines Zeichens eine willkürliche Setzung, die das rein differentiell bestimmte „Spiel der Differenzen“ unterbricht. Außer den rein verständigungspragmatischen Gründen gibt es eigentlich keinen Grund, „die Strukturalität der Zeichen-Artikulation an den Gedanken einer in sich geschlossenen Struktur zu binden“, erläutert Manfred Frank (1984: 93). Ist nun aber die Differenz ursprünglicher als die Identität, so könnte man Franks Gedanken weiterspinnen, ja, ist sie geradezu die „Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens eines jeden Zeichens“ (Derrida 1990a: 79), kann man sich vorstellen – sofern man die Identität nicht wie Saussure auf ein Zentrum der Präsenz beziehen wollte –, dass die Menge aller Kombinationsmöglichkeiten, in der Zeichen mit- und untereinander angeordnet werden können, unendlich ist. Gerade weil der 73

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Umweg der Zeichen nicht prognostizierbar ist, da er durch die Unendlichkeit läuft, muss man die Vorstellung aufkündigen, es gäbe einen ursprünglichen Sinn. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass Derrida in diesem Zusammenhang unverkennbar das Verhältnis von Eindeutigkeit und Kontingenz problematisiert. Akzeptiert man nämlich Derridas These, dass jenes differenzielle Spiel es bei Licht besehen verbietet, „daß zu irgendeinem Zeitpunkt, in irgendeinem Sinn, ein einfaches Element als solches präsent wäre und nur auf sich selbst verwiese“ (Derrida 1990c: 150), dann muß natürlich jeder definitorisch oder konventionell festgelegte Sinn, den man aus dem unendlichen Gewebe der Differenzen herausreißt, als mutmaßliche Unterdrückung der Differenz oder des Nichtfestgelegtseins, ja als Schein gelten. Denn jede Präsenz erweist sich als schon von der Differenz heimgesucht und ist lediglich eine Art sporadische Kombinationsmöglichkeit, die sofort durch eine, wie man sagen könnte, neue „Versuchsanordnung“ ausgewechselt werden kann. Im Zentrum der Identität selbst ist immer ein „Mehr“ präsent, das uns daran hindert, eine Eindeutigkeit der Bedeutung zustande zu bringen.

3.3.2 Das Verfahren der Dekonstruktion Gemäß Derrida ist Saussures Argumentation nun lediglich ein spezieller Sonderfall eines Phänomens, das er mit so unterschiedlichen Termini wie „Logozentrismus“ (Derrida 1983: 11), „Ethnozentrismus“ (ebd.: 11) oder „Phonologismus“ (Derrida 1972b: 148) benennt. Saussure steht in Wirklichkeit in einer langen Tradition; genaugenommen in der Tradition der gesamten abendländischen Metaphysik. Für Derrida ist die saussuresche Identitätstheorie das relativ späte Beispiel einer Geschichte, die in immer neuen variierenden Modellen versucht hat, „die Wurzeln der Bedeutung aus dem ‚relationellen und differentiellen Gewebe‘, in das sie immer verflochten ist herauszureißen“, wie Thomas McCarthy (1993a: 152) kommentiert. Die Philosophie ist insgesamt ein Diskurs, der eine Theorie nach der anderen ersonnen hat, die dazu bestimmt waren, die Dissemination der Bedeutung in diesem oder jenem Kontext zu begrenzen. Derrida sagt: „Das Zentrum erhält nacheinander und in geregelter Abfolge verschiedene Formen oder Namen. […] Man könnte zeigen, daß alle Namen für Begründung, Prinzip oder Zentrum immer nur die Invariante einer Präsenz (eidos, arche, telos, energeia, ousia (Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt), aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.) bezeichnet haben.“ (Derrida 1990b: 116)

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Und in der Tat: Der Gedanke Derridas hat gar nichts Unverständliches. Die Herausbildung des abendländischen Logos lässt sich nämlich tatsächlich beschreiben als der sukzessive immer besser gelingende Versuch, die chaotische Vielheit der Erscheinungen durch Operationen mit Allgemeinbegriffen, Ideen und Theorien zu strukturieren. Die Herrschaft über die Vielheit der Erscheinungen ist eine Herrschaft, die durch die Einheit der Allgemeinbegriffe zustande kommt (vgl. Zimmerli 21991b: 20). Je nachdem, welches theoretische Modell gerade das aktuelle Paradigma darstellte, es wurde das, was ist, auf dieses Paradigma, im derridaschen Sinne auf dieses „Zentrum“, zurückgeführt und insofern war es dem Seienden selbst überlegen und ihm enthoben. Derridas philosophische Anstrengungen gelten nun dem Ziel, philosophische, politische und kulturwissenschaftliche Texte zu analysieren und ihre verdeckten Spuren, die Anzeichen ihrer Zugehörigkeit zur Metaphysik herauszulesen, um sich daraufhin zu fragen, warum die Autoren der von ihm analysierten Texte immer wieder auf jene, der metaphysischen Tradition zuzuordnenden Modelle zurückgegriffen haben. Derridas These ist: Es sind verborgene Herrschaftsmechanismen, von denen sich jene Autoren – ob bewusst oder unbewusst – haben beeinflussen lassen. Nach der Annahme Derridas manifestieren sich jene Herrschaftsmechanismen in einem immer wiederkehrenden Strukturmodell. Danach sollen alle der Metaphysik zuzurechnenden Theorien durch binäre Gegensätze bestimmt werden, und zwar in dem Sinne, dass man es immer mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun hat: „Einer der beiden Ausdrücke beherrscht (axiologisch-logisch usw.) den anderen, steht über ihm.“ (Derrida 1986: 88) Dieses hierarchische Verhältnis resultiert aus der Tatsache, dass der höhergestellte Ausdruck jenes wertbesetzten hierarchischen Verhältnisses dem Logos angehört und somit eine höhere Form der Präsenz für sich in Anspruch nimmt, der zweite Terminus hingegen etwas Unerwünschtes: „All metaphysicians, from Plato to Rousseau, Descartes to Husserl, have proceeded in this way, conceiving good to be before evil, the positive before the negative, the pure before the impure, the simple before the complex, the essential before the accidental, the imitated before the imitation, etc.“ (Derrida 1977: 236)

Das Paradebeispiel eines solchen Hierarchieverhältnisses ist bekanntlich Derridas (1983) in der „Grammatologie“ thematisierte Verhältnispaar von Sprache und Schrift. Die Rede galt als unmittelbarer Zugang zum Verstand und genoss das „Privileg der Präsenz“ (Derrida 1983: 35). Dagegen wurde der Schrift immer nur „eine beschränkte und abgeleitete 75

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Funktion zugesprochen“ (ebd.: 53). Sie hat als „Signifikant eines ersten Signifikanten“ (ebd.: 54) nur repräsentative Aufgaben und erfüllt bloß die Funktion der „Übersetzung eines erfüllten und in seiner ganzen Fülle präsenten Wortes“ (ebd.: 19). Zudem ist sie, wie etwa Saussure uns glauben machen will, „eine gefährliche, um nicht zu sagen verhexende Technik“ (ebd.: 60), weil sie die begriffliche Reinheit des sprachlichen Systems gefährdet. Die Linguisten, die in die „‚Falle‘ der Schrift geraten“ (ebd.: 66), machen sich geradezu eines moralischen Fehlers schuldig (vgl. ebd.: 66). Derrida vermutet nun, dass es kein Zufall ist, dass gewisse Philosophen (z.B. Saussure) geradezu mit moralischem Effort ein „Abwehrsystem gegen die von der Schrift ausgehende Bedrohung“ (ebd.: 178) errichteten. Die Frage, die es zu stellen gilt, lautet also: Was ist der eigentliche Grund der Marginalisierung und Diffamierung der Schrift? Im Sinne Derridas ist darauf folgende Antwort zu geben: Der Grund jener von den verschiedensten Philosophen vorgenommenen Herabsetzung der Schrift ist darin zu sehen, dass diese – entgegen dem nach Klarheit und festen Strukturen strebenden sprachlichen System saussurescher Prägung – auf die sprachkonstitutive Differenz der Bedeutungsverhältnisse bzw. auf die bereits erwähnte Entgrenzung fester Bedeutungskerne hinweist. Die Routinen der Sprache schaffen Reduktion von Kontingenz. Ich erinnere nur daran, dass es z.B. Saussures Bestreben war, eine Art Kommunikationsmodell zu konstruieren, dessen Norm ein an der Rede orientiertes Ideal sein soll, „in dem die Worte Träger von Bedeutungen sind und der Zuhörer das, was der Sprecher meint, im Prinzip präzise erfassen kann“ (Culler 1988: 112). Nun ist aber die Schrift oder ein Text per se ein Medium, dessen Inhalt mehrdeutig und offen ist. Dies liegt darin begründet, dass Texte keine (in ihnen selbst liegende) Bedeutung besitzen, sondern Texten werden von Beobachtern erst Bedeutungen zugeschrieben. Textverstehen erfolgt streng genommen nicht im Sinne einer Übertragung fertiger Informationen durch Sprache, sondern der Text erscheint als Impuls, als Orientierungsanlass. Bei der Beschäftigung mit der Schrift bzw. mit Texten ist der jeweilige Interpret nämlich nicht wie in dialogischen Sprechbeziehungen einer Verständigungssituation ausgesetzt, in der er bedeutungsidentische Zeichen verwenden und decodieren muss, die er mit anderen Sprachteilnehmern teilt. Monologisch in sich gekehrt muss das Subjekt vielmehr im Medium der Schrift (Text) die Bedeutung des Geschriebenen selbst erzeugen, weil der Autor der jeweiligen Schrift in seiner Abwesenheit niemals zu befragen ist. Dies hat aber zur Folge, dass der Text stets auch noch anders gelesen und immer auch noch etwas anderes bedeuten kann,

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weil er keinen „Sinn an sich“ hat, sondern – durch die Lust am Kontext – unendlich auslegungsfähig ist (vgl. Menke 1991: 83). Es wird nun verständlich, warum Theoretiker wie Saussure die Schrift als Gefahr ansehen mussten. In ihr wird der im Akt der Verständigung, qua konventioneller Regelung, produzierte Schein destruiert, man würde immer wieder auf eine im Fluss der Zeit beharrende Präsenz einer konstanten Bedeutung zurückgreifen. Was in der verständigungsorientierten Rede notwendigerweise unterdrückt werden muss, aber dennoch latent vorhanden ist, tritt im Medium der Schrift offen zutage, dass nämlich Sprache in Wirklichkeit „die Möglichkeit einer endlosen ‚Dissemination‘ des Sinns, eine unbegrenzte Vielfalt von Rekontextualisierungen und Umdeutungen“ (McCarthy 1993a: 151f.) enthält. Für Saussure, der ja gerade die Sprachwissenschaft als positive Wissenschaft mit festen Regeln etablieren wollte, muss naturgemäß ein Medium wie die Schrift, als Angriff auf „das innere System der Sprache“ (Derrida 1983: 61) gelten, von dem es „unablässig bedroht und im Verlauf seiner Geschichte entstellt würde“ (ebd.: 61). Wir können nun anhand des Beispiels der Schrift zu einer Beschreibung des Sachverhaltes kommen, den Derrida mit dem Terminus „Dekonstruktion“ bezeichnet. Eine Rationalität, die sich gegen die sich in jenen binären Oppositionspaaren manifestierende Metaphysik der Präsenz wendet, hat es zunächst damit zu tun, „die Hierarchie umzustürzen“ (Derrida 1986: 88). Sie richtet ihr Hauptaugenmerk auf das Marginale, auf das Kontingente, d.h. auf den Begriff, der vorher in jenen Hierarchien vom ersten Terminus unterdrückt worden ist. Was nämlich von vorangegangenen Denkern an den Rand gedrängt und ausgeschlossen wurde, könnte, wie im Falle der Schrift, aus genau den Gründen wichtig sein, die dazu führten, dass es beiseite geschoben wurde. Deswegen ist es Aufgabe der Dekonstruktion, „eine begriffliche Ordnung ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an der sie sich artikuliert, umzukehren und zu verschieben“ (Derrida 1988: 314). Dekonstruieren heißt also zunächst einmal – und ich betone: zunächst – tradierte Begriffe und Kategorien zu destabilisieren. Die Dekonstruktion interpretiert Texte nicht nur in dem traditionellen Sinne, dass man versucht, einen Einheit stiftenden Inhalt oder Gegenstand zu erfassen, sie untersucht vielmehr, wie in den Strategien der Argumentationen jener Texte metaphysische Gegensätze wirken und wie Machtverhältnisse aufgebaut werden, innerhalb derer ein Ausdruck entweder ausgeschlossen oder auf Kosten eines anderen bevorzugt wird. Durch die Dekonstruktion werden die verborgenen und verdeckten Gehalte des Textes preisgegeben. Derrida möchte den blin-

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den Fleck im Auge des Autors herausfinden, von dem aus dieser sieht und den er gerade deshalb nicht sehen kann. Derrida ist nun der Meinung, dass es im Verfahren der Dekonstruktion nicht nur darum gehen kann, die hierarchisch konzipierten Oppositionspaare in klassischen philosophischen Texten festzustellen oder zu destruieren: Die „Dekonstruktion kann sich nicht auf eine Neutralisierung beschränken oder unmittelbar dazu übergehen: sie muß durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift […] eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken“ (Derrida 1988: 313). Derrida schwebt, wenn ich richtig sehe, eine Art „Zweiphasenmodell“ vor: Bei der ersten Lesart wird versucht, „nicht den Standort zu wechseln“ (ebd.: 139), sondern das „Implizite in den grundlegenden Begriffen und in der ursprünglichen Problematik“ (ebd.: 139) gegen ebendiese Begriffe zu verwenden. Die zweite Lesart basiert nun gemäß Derrida auf einem diskontinuierlichen und plötzlichen „Wechsel des Standortes“ (ebd.: 139) durch ein „brutales Sich-außen-Einrichten“ (ebd.: 139). Beide Motive müssten durch eine neue Schrift verwoben und verknüpft werden (vgl. ebd.: 140). Was meint er nun präziser mit jenem Zweiphasenmodell, das er leider nicht anders als mit einem metaphorischen Vokabular umschreibt? Derrida (1972a) spricht hier jene Methode an, die wie bereits gesagt ab dem Buch „La Dissémination“, später dann z.B. in „Glas“ erprobt wird. Es kann hier nicht darum gehen, dieses Modell eingehend zu analysieren, das in hochkomplizierten Texten seinen Niederschlag gefunden hat. Ich werde nur eine kurze Beschreibung dessen geben, was sich in Derridas Texten formal geändert hat, damit wir annähernd verstehen, was er mit jenem „Zweiphasenmodell“ bzw. der „zweiten Phase“ meint. Der noch in den Frühschriften geführte argumentative Diskurs wird verlassen. An seine Stelle tritt der entgrenzte, „zerstreute“ Text. Frank (1984: 587) stellt fest: „Ein disseminaler Text ist ein Text, der nicht mehr von einem Sinnhorizont oder von einer globalen Perspektive eingeschlossen werden kann […] der Sinn berührt sich nicht mehr selbst, es gibt kein Kriterium für die Identität des Sinns eines Ausdrucks: die Interpretation wird im wissenschaftlichen Sinne eine Sache der Unentscheidbarkeit […].“

In einem „zerstreuten Text“ werden nun auch die Gattungsunterschiede zwischen dem philosophischen Diskurs und der Literatur bedeutungslos (vgl. Habermas 21989: 219ff.). Im Sinne Derridas sind nämlich rational diskursive Formationen Repressionsmechanismen, die andere Sprach78

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spiele ausschließen. Weil der philosophische Diskurs nach gewissen vernünftigen Regeln funktioniert, ist es klar, dass er andere Sprachspiele von vornherein aus seinem Diskurs ausschließt. Dies läuft aber Derridas Theorem des zerstreuten Textes zuwider. Indem die Philosophie z.B. Probleme der Fiktionalität, der Rhetorik und des Nichtrationalen in einen marginalen Bereich verweist „schafft sie eine gereinigte Sprache, die sie durch Regeln zu beschreiben hoffen kann, welche die Literatur sprengen würde, wäre sie nicht abgedrängt worden“ (Culler 1988: 201). Ein zerstreuter Text soll nun im eigentlichen Sinne Literatur sein, welche, wie Rorty (1993: 119) erläutert, „nicht mehr im Gegensatz zur Philosophie steht. Literatur, die die Philosophie unter sich und in sich enthält, Literatur, die zur Herrscherin einer unendlichen, undifferenzierten Textualität gekrönt worden ist“. Schließlich wird noch die Geschlossenheit des Buches auseinanderlegt und damit aufgeben. Denn eine Schrift, die „gekennzeichnet ist durch selbstbewußte Endlosigkeit, selbstbewußte Offenheit, selbstbewußtes Fehlen philosophischer Abgeschlossenheit“ (Rorty 1993: 119), kann auch nicht mehr die gewöhnliche Form der Darstellung aufweisen. Die Geschlossenheit eines Buches, welche den Anschein erweckt, alles Disparate, Fremde und Vertraute am Ende als Einheit zu begreifen oder zumindest als einheitlich begriffen vorzugeben, wird gerade in dem Fall absurd, wo es darum geht, die différance zu sagen (zu schreiben). Vom Augenblick an, „wo man ein Buch im Buch lesen kann, einen Ursprung im Ursprung, ein Zentrum im Zentrum, beginnt der Abgrund, der Un-Grund der unendlichen Vervielfältigung“ (Derrida 1972b: 446).

3.3.3 Zur Kritik an Derrida Es ist hier nicht der Platz, Derridas spätere Texte einer ausführlichen Kritik zu unterziehen. Auch soll hier nicht auf alle Debatten über sein Werk eingegangen werden, die über die letzten Jahrzehnte hinweg geführt worden sind. Heute scheint die Kritik an Derrida (und vielleicht auch das Interesse?) im Sande zu verlaufen. Deshalb folgen an dieser Stelle nur einige wenige Rahmeninformationen dazu. Eines steht fest: Der französische Philosoph denkt Kontingenz in aller Radikalität. „Wenn man von der Philosophie der letzten Jahrzehnte allgemein sagen kann, sie habe sich vom Phantasma einer ersten und letzten Wahrheit verabschiedet, so hat Derrida dies am nachhaltigsten getan“, so lautet das Urteil von Wolfgang Welsch (1996: 300). Die Intention Derridas scheint klar zu sein. Ihm geht es in der Tat darum, den Möglichkeitssinn zu schärfen und auf das verborgene Unbestimmtsein zu verweisen, das durch die Festlegungen der Sprache aus dem Blick zu 79

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geraten droht. Immer wieder soll bewiesen und gleichsam vorexerziert werden, dass man das Material an Zeichen und somit auch die Semantik eines offenen Textes wieder und wieder aufs Neue verschieben kann. Denn dasselbe Material von Zeichen kann immer wieder anderen Signifikantenselektionen und damit anderen Bedeutungsdimensionen unterworfen werden. In dem Text „Glas“ etwa gibt es weder Anfang noch Ende. Das Buch besitzt kein Vorwort mehr, keine Kapitel oder Abschnitte. Derrida, immer noch auf der Suche nach der Struktur jener „doppelten, geradezu geschichteten, verschobenen und verschiebenden Schreibweise“ (Derrida 1986: 89), verflicht mehrere Texte miteinander, die er in verschiedenen Spalten anordnet. So werden etwa Passagen aus Hegels „Rechtsphilosophie“ mit Texten Jean Genets verknüpft. Diese Verdoppelung soll bewirken, so sagt Derrida in einem Aphorismus, die Schrift „ungreifbar“ zu machen: „Pourquoi faire passer un couteau entre deux textes? Pourquoi, du moins, écrire deux textes à la fois? […] On veut rendre l’écriture imprenable, bien sûr.“ (Derrida 1974: 76) Derridas Radikalität hat nun aber auch eine Kehrseite. Es mag sein, dass die Schrift in diesem unaufhörlichen Transformationsprozess von Zeichen „imprenable“ wird; allein, „ungreifbar“ wird die Bedeutung des Textes aber auch für den Leser. Für diesen ist jede Hoffnung zerstört, der linearen Entwicklung einer Reflexion folgen zu können. Gerade weil Derrida nicht will, dass der zerstreute Text durch den Textausleger wieder eingesammelt und so der zentrale Sinn oder die Wahrheit des Textes wiederhergestellt wird, sind wir hoffnungslos Derridas Mysterien ausgesetzt. Vielleicht hat die argumentfreie Methode den Vorzug, den Selbstwidersprüchen zu entgehen, eben dieser Vorzug führt aber auch dazu, und dies ist scheinbar Derridas Ziel, das Verstehen des Textes überhaupt unmöglich zu machen. Für Derrida stellt sich die radikale Pluralität und Entgrenzung des Sinns als das Ziel und eine zuinnerst positive Vision dar. Durch die „Affirmation absoluten Bruches und absoluter Differenz“ (Derrida 1988: 139) wird das sich rein destruktiv äußernde Paradox, das sich gegen das metaphysische Spiel der Wahrheit wendet, „umgedeutet zur Wahrheit vom Spiel“ (Seel 21988: 66). Derrida fühlt sich einer „Konstruktion von Rationalität“ – zumindest in seinen späteren Werken – nicht mehr verpflichtet. Rationalität und Irrationalität sind austauschbare Begriffe geworden, wo es darum geht, einen Text zu schreiben, bei dem es kein Draußen, d.h. keine Ausgrenzungen und Fixierung des Spiels der Sprache, mehr gibt. Philosophische Reflexion und literarische Praxis durchdringen (die Kritiker sagen „verschlingen“) einander. Für Rorty liegt Derridas Bedeutung gerade darin, dass er den Mut aufgebracht hat, den Versuch aufzugeben, eine Vereinigung des Privaten 80

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und Öffentlichen zu leisten (Rorty 1989: 208), und ein eigenes Sprachspiel geschaffen hat, das quer zu der Unterscheidung rational–irrational liege (Rorty 1989: 219f.). Insofern seien seine späteren Texte exzentrischer, persönlicher und origineller geschrieben (Rorty 1989: 204) als seine früheren Texte. Martin Seel glaubt hingegen, dass die Wendung, die die Metaphorik des „Spiels“ totalisiert, ohne länger – wie es im normalen Bildgebrauch gängig ist – Regeln zuzulassen, die als Ausgangselemente des Spiels fungieren, dem Spielbezug sofort wieder den kritischen Sinn nimmt, den er gegen die Vorstellung eines regelbaren Ganzen zunächst einmal hat (Seel 21988: 66). Ein Spiel ohne Regeln, auch das Philosophische, ist, wie Wittgenstein sagt, ein Spiel ohne Witz (Wittgenstein 21989a: § 142: 311). Und Texte, die wir nicht verstehen können – nicht weil sie zu schwierig sind, sondern weil sie bewusst „abnormal“ verfremdet sind –, sind vielleicht dann auch für uns witzlose Texte. „If deconstruction prevents us from asserting or stating or identifying anything“, so meint zumindest Richard Kearney „then surely one ends up, not with ‚différance‘, but with indifference, where nothing is anything, and everything is everything else“ (zit. nach Dews 1987: 229). Das ist wohl richtig. Aus dieser Gegenüberstellung verschiedener Meinungen ist leicht zu ersehen, dass es eine eindeutige und einfache Bewertung von Derrida wohl kaum geben wird. Wer von sich aus dazu neigt, eindeutige Positionen zu bevorzugen, wird die ungelösten Widersprüche als störend empfinden. Allerdings kann auch nicht die These in Abrede gestellt werden, dass Sprache sich nicht in öffentlich zugänglichen Konventionen erschöpft. Wortbedeutungen werden zwar nicht privat bestimmt, aber die Interpretationsimperative, die vom System der bereits gedeuteten Zeichen auf die Sinnbildungsprozesse der Individuen ausgehen, bestimmen nie vollständig, in welchem Sinn das Individuum die Bedeutungen der Zeichen deutet bzw. umdeutet. Der Sprecher ist frei in dem Maße, wie er „den vorgegebenen Zeichen – die ja nichts weiter sind als ein Ensemble von Appellen an unsere Deutung – allererst Sinn verleiht und zum Ausdruck verhilft“ (Frank 1984: 362). Sofern die Sprache, wie man mit Donald Davidson sagen könnte, „überhaupt etwas Konventionelles an sich hat, ist es dies: daß die Leute tendenziell so ähnlich reden wie ihre Nachbarn“ (Davidson 1986: 391). Und ebenso gilt auf der anderen Seite: Zu fordern, die Regeln vollständig zugunsten eines freien Spiel der Sprache aufzugeben, ist dysfunktional, weil diese Forderung im alltäglichen Umgang der Menschen miteinander kaum zu sinnvollen Ergebnissen führen würde. Die Kenntnis der Sprachkonventionen und somit der Rückbezug auf ein Moment 81

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relativer Sich-selbst-Gleichheit von Bedeutungen ist eine Bedeutungskrücke, auf die wir zumindest in der Praxis nicht verzichten können. Derridas Werk durchzieht diese Spannung. Die Auflösung der Widersprüche ist weder von ihm noch von seinen Kritikern zu erwarten. Die hier angestellten Überlegungen sollten nur die Argumentationsstrategie Derridas aufzeigen und signalisieren, wohin man gelangen kann, wenn man ein Stück des Weges mit ihm geht.

3.4 Kontingenz und politische Theorie Die klassischen Sozialtheorien der politischen Theorie haben auf die Frage, wie die politische Ordnung gewährleistet werden kann, mit dem Hinweis auf die normativen Grundlagen der Institutionen geantwortet. Moralische Codierungen dienten der Sicherung des Schutzraumes der politischen Gemeinschaft und des Rechtssystems. Kant betonte in der „Metaphysik der Sitten“, dass jedem positiven Recht eine inhaltliche Legitimation des Rechts vorausgehen müsse. Es könne „eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte“, dann aber müsse ein „natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d.i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete“ (Kant 51982a: B 24). Auf der anderen Seite hat die Moderne ein Werk der Zerstörung vollbracht, indem sie die traditionalen Ligaturen von sich abstieß und damit die Zersetzung des kosmologisch fundierten Baldachins besiegelte. Politische Gebilde waren von nun an – darüber wurde in den obigen Punkten bereits andeutungsweise gesprochen – Kulturprodukte und Setzungen der sie definierenden Gemeinschaft. Heilserwartungen und Jenseitshoffungen, ja alle essenziellen Formen von Transzendenzfähigkeit machen einem verweltlichten Bewusstsein Platz, das sich aus den Ketten mythischer und religiöser Kräfte gleichsam „freikämpft“ und immer größere Autonomie erlangt. Damit wird offenkundig, dass alle begrifflichen und wertebezogenen Designs des Menschen, die so etwas wie die Substanz des Wirklichen und des normativ Richtigen zu fassen trachten, Konstruktionen sind. Der moderne Mensch steht, gemäß Wolfgang Kersting (2000: 78f.), seitdem auf den „Ruinen zerfallener Orientierungssysteme; er hat keinen metaphysischen Außenhalt mehr. Er ist ein ontologischer Einzelgänger, auf sich selbst verwiesen“. In der Moderne leben, das bedeutet Reflexivität der eigenen Kultur und das Bewusstsein, dass „das Tatsächliche und Zufällige im Gegensatz zum begrifflich Notwendigen und Gesetzmäßigen“ (Troeltsch 1922: 82

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771f.) steht. Im „Zeitalter der ‚transzendentalen Heimatlosigkeit‘“ (Makropoulos 1997: 136) werden alle metaphysischen Begründungsversuche destruiert. Der Politologe Greven (1999: 19) mutmaßt sogar: „Wie groß auch immer der Anteil der Kontingenz in der früheren Geschichte gewesen sein mag, das ganze Buch handelt davon, wie sie im Zuge der Verwirklichung der politischen Gesellschaft seit der frühen Neuzeit dramatisch zugenommen hat und offenkundig noch weiter zunimmt.“ Wie diese kurze Hinführung zum Thema zeigt, ist in der politischen Theorie eines der zentralen Themengebiete des Phänomens der Kontingenz im Spannungsfeld von Faktizität und Geltung zu sehen. Der Politikwissenschaftler Eckard Bolsinger (1998: 471) geht davon aus, dass in der „Suche nach dem Geltungsgrund des Staats und des Rechts“ das „Grundproblem der Politik- und Rechtsphilosophie“ liegt. Im Hinblick auf dieses Problem ließe sich bis heute eine Spaltung in zwei völlig inkompatible Systeme ausmachen, die Carl Schmitt folgendermaßen umschrieben hat: „Der Unterschied zwischen den beiden Richtungen im Naturrecht wird am besten dahin formuliert, daß das eine System von dem Interesse an gewissen Gerechtigkeitsvorstellungen und infolgedessen von einem Inhalt der Entscheidung ausgeht, während bei dem anderen ein Interesse nur daran besteht, daß überhaupt eine Entscheidung getroffen wird.“ (Schmitt 51989: 22)

Bis in die heutige politische Theorie wird dieses eben beschriebene Spannungsfeld reproduziert. Während die einen an einer (wie auch immer begründeten) moralischen Codierung festhalten und sich gegen den „politischen Amoralismus“ (Höffe 1987: 23) einer rein auf Kontingenz aufsitzenden politischen Begründung wehren, argumentieren die anderen streng kontingenzorientiert und dezisionistisch. Die politischen Aktivitäten sind vor diesem Hintergrund vor allem in ihrer zentralen Operation wahrzunehmen: der Entscheidung. Der Dezisionismus bringt die Konsequenz zum Ausdruck, dass sich Entscheidungen von jeglichen überpositiven Werten abgekoppelt haben und wir es – zumindest in der westlichen Sphäre Europas – immer mehr mit einer Entmoralisierung der Gesellschaft zu tun haben. Dezisionistische Entscheidungen sind das Resultat einer Expansion von Kontingenz innerhalb der Normensysteme. Der Zusammenhang von „Kontingenz (verschiedener Möglichkeiten) und Notwendigkeit (der Entscheidung) stellt ein fundamentales Gesetz des Politischen dar, mit dem eine Politiktheorie zu rechnen hat“ (Bolsinger 1998: 494). Nicht um die umfassende Rekonstruktion dieser Grundlagendebatte soll es im folgenden Abschnitt gehen. Es ist mir im Rahmen dieser Ar83

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beit nicht möglich, hier auf alle spezifischen Details einzugehen. Die Beschränkung auf die Betrachtung des Verhältnisses von Dezisionismus und Kontingenz erklärt daher den Aufbau des Punktes. (1) An ausgewählten Themen werde ich zunächst den Dezisionismus skizzieren. (2) Sodann will ich auf strittige Punkte in seinem Erklärungsansatz zu sprechen kommen, die ich an relevanten Gegenpositionen aufzeigen möchte. Anhand von typischen Argumentationsmustern sollen Schwächen dieser Theorien freigelegt werden.

3.4.1 Zum Begriff Dezisionismus Ottfried Höffe (1985: 245) urteilte noch vor einigen Jahren, dass der Dezisionismus heute kaum noch vertreten werde. In den letzten Jahren sind jedoch von einigen Autoren erhebliche Anstrengungen unternommen worden, den Dezisionismus wieder salonfähig zu machen bzw. ihn „als autonomen Typus politischer Theorie zu rekonstruieren und weiterzuentwickeln“, wie Bolsinger (1998: 471) kommentiert. Was hat nun der Dezisionismus mit dem uns hier interessierenden Phänomen der Kontingenz der Werte zu tun? Wie oben bereits angedeutet wurde: Der Dezisionismus verweist auf die Tatsache, dass die Normen im Prozess der Rationalisierung ihres normativen Gehaltes entledigt werden. Normatives Denken, wie wir es seit Kant gewohnt sind, fragt, was richtig und moralisch geboten ist. Modernität bedeutet hingegen, wie ich oben mehrfach gezeigt habe, die sukzessive Zunahme von Entscheidungen aufgrund von Auflösungen traditionaler Begründungsressourcen. Das idealistische Naturrecht war Ausdruck der Überzeugung, dass Regeln durch Vernunft begründet sind und dass Normen einer sittlichen Idee folgen. Für Entscheidungen unter modernen Bedingungen ist das Fehlen allgemein anerkennungswürdiger Gründe für ihre Geltung charakteristisch. Im Angesicht des Abgrundes eines kulturellen Nichts verschwinden für die Modernisierungsakteure alle entscheidungsentlastenden Ligaturen. Dieser geistesgeschichtliche Hintergrund ist es nun auch, der die Variable Kontingenz zu einem wichtigen Parameter für das Problem der Legitimität von Politik macht. Und in der Tat: Der Dezisionismus zieht aus dieser historischen Tatsache strikte Konsequenzen. Grundsätzlich besagt er, dass die Entscheidung für einen bestimmten Handlungsverlauf von inhaltlichen Fragen abstrahieren müsse, sodass das faktische Dass – das „nackte Dass“, wie Franz-Josef Wetz (1990) dies nennt – ein hinreichender Grund für die Legitimität dieser Entscheidung sein könne, während der spezifische Inhalt der Entscheidung selbst nicht mehr sinnvoll hinsichtlich seiner normativen Basis zu kritisieren sei. Der Dezisionismus fordert ein Ent84

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scheidungsverfahren, dem man nur noch ansehen kann, dass (und nicht wie) entschieden wird. Bolsinger (1998: 496) sagt: „Die dezisionistische Argumentationsstruktur […] geht von der Ordnungslosigkeit einer aporetischen Situation aus, die durch Herrschaftserrichtung – definiert als Entscheidung letzter Instanz (Souveränität) – überwunden wird und in der Selbsterhaltung der ordnungsstiftenden beziehungsweise rechtsetzenden Herrschaft endet.“ Ich möchte hier zwei spezifische Dimensionen des Dezisionismus unterscheiden: den rechtstheoretischen und den politischen Dezisionismus.

3.4.2 Rechtstheoretischer Dezisionismus Im rechtstheoretischen Argumentationskontext fasst man den Dezisionismus als eine Theorie der Geltung rechtlicher Normen auf, die im Gegensatz zum Naturrechtsgedanken des Naturrechts steht. Der Verzicht auf die traditionellen theologischen Instanzen und das Verschwinden einer quasi natürlich vorgefundenen Sozialordnung führen zur Theorie des Gesellschaftsvertrages, wie er im 17. Jahrhundert entsteht. Aber noch den rechtfertigungstheoretischen Prozeduralismus der Vertragstheorie hat bis Ende des 18. Jahrhunderts die Vorstellung einer gerechten Ordnung beherrscht. Webers Theorie des formalen Rechts und die Vollendung des Rechtspositivismus – insbesondere im Werk Hans Kelsens – sind Anzeichen für ein fortgeschrittenes Stadium moderner Säkularisierung. Im Zeichen des Rechtspositivismus verschwindet der letzte Wertbezug und auch der metaphysische Bezug des Rechts. Weber (51985: 19f.) unterscheidet drei Formen von Legitimierung des Rechts. Demnach kann eine legitime Ordnung dem Handelnden zugeschrieben werden a) kraft Tradition, b) kraft affektuellen Glaubens, c) kraft wertrationalen Glaubens und schließlich d) „kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird“. Nach Webers Auffassung ist die Legalität einer Ordnung in modernen Gesellschaften durch die im letzten Punkt ausgedrückte Legalität abgedeckt. Die formale Legalität ersetzt die Legitimität. Das moderne Recht erfordert von den Rechtspersonen außer einem Verfahrensgehorsam kein normatives Motiv mehr. Im Kern skizziert Weber in diesem Sinne bereits den Rechtspositivismus, der als zentrales Merkmal des Rechts ausschließlich das rechtliche Sollen akzeptiert. „Nur was als Recht funktioniert, das ist Recht, sonst nichts; und alles das ist Recht, ohne Ausnahme“, argumentiert Karl Bergbohm (1892: 80). Kelsen scheint sich diesem Diktum unumwunden anzuschließen. Worum es ihm geht, ist nur noch die Beschrei85

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bung des äußerlich tatsächlich vorhandenen Rechts. Kelsen möchte die Rechtstheorie von „allen ihr fremden Elementen befreien“ (Kelsen 2 1960: 1) und darüber hinaus das „Recht darstellen, so wie es ist, ohne es als gerecht zu legitimieren oder als ungerecht zu disqualifizieren“ (ebd.: 17). Die Legitimität einer Entscheidung beruht nun nicht mehr auf der Überzeugung von der Richtigkeit (Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit etc.) des Inhalts einer Entscheidung, sondern nur noch auf dem faktischen Prozess der, wie Luhmann sagt „Legitimation durch Verfahren“. Bei Kelsen, so kommentiert Schmitt (92003: 9) „gelten nur positive Normen, d.h. solche, welche wirklich gelten; sie gelten nicht, weil sie richtigerweise gelten sollen, sondern ohne Rücksicht auf Qualitäten wie Vernünftigkeit, Gerechtigkeit usw. nur deshalb, weil sie positiv sind“. Die Auffassung, dass Entscheidungen, die selbst nicht mehr normativ begründbar sind, dennoch über eine regelsetzende Macht verfügen können, wird besonders deutlich im Verfassungsrecht. Gemäß dezisionistischer Auffassung besteht die Legitimation der Verfassungsnormen letztlich in der Durchsetzungsmacht des politischen Souveräns. Eine Norm gilt hier nicht, weil sie richtig ist, sondern „weil sie positiv angeordnet ist, d.h. kraft eines existierenden Willens“ (Schmitt 92003: 9). Sie bedarf keiner Rechtfertigung durch eine ethische Norm. Geltung ist jetzt, nach Luhmann (1995: 101), nur noch, „ein ‚Eigenwert‘ des Rechtssystems, der im rekursiven Vollzug der systemeigenen Operation entsteht“. Der rekursive Vollzug sei bereits durch das immanente Verfahren und die prozessuale Erledigung unter Anleitung der modernen Rechtssätze gewährleistet. Der Staat benötige keine Rechtfertigung oder Rechtmäßigkeit. Das normative Nichts, von dem Schmitt spricht, ergibt sich also, nach Bolsinger (1998: 481), „aus der nicht restlosen Ableitbarkeit der Rechtsnormen aus höheren Rechts- und Gerechtigkeitsbestimmungen“. Was jeweils Recht und Unrecht sein soll, ist letztendlich immer an den Entscheider gebunden. Das Grundproblem der Rechtstheorie liegt in der „formalen Frage nach der letzten Entscheidungsinstanz, nach der Souveränität beziehungsweise politischen Herrschaft“ (ebd.: 481).

3.4.3 Politischer Dezisionismus Ein Kennzeichen auch des politischen Dezisionismus ist die Abgrenzung von normativistischen politischen Philosophien. Nach einer normativen Auffassung muss die Legitimität des Staates durch eine demokratische Verfassung gestützt sein: „Sie besteht, wenn die Ermächtigung zur Gesetzgebung in rechtsstaatlich begrenztem Umfang erteilt und in fairen 86

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Verfahren ausgeübt wird und wenn die von der Gesetzgebung Betroffenen auch an deren Zustandekommen beteiligt waren.“ (Leibfried/Zürn 2006: 28) Gemeinsam für alle dezisionistischen Ansätze hingegen ist die These, dass diejenigen, die an moralischen Begründungen in der Sphäre des Politischen interessiert sind, das spezifische Politische und die Politik aus dem Blick verlieren. In normativen Ansätzen würden das Politische und die Politik vergeblich gesucht. Man könne vielmehr den Eindruck gewinnen, so skizziert Bolsinger (1998: 472) den Sachverhalt, „daß Phänomene wie Herrschaft, Macht, Gewalt und Kampf, verstanden als friedlicher und gewaltsamer Konflikt, in moralische und rechtliche Fragen umgedeutet werden“. Damit werde in gewisser Weise dasjenige, was eigentlich den spezifischen Kern des Politischen ausmache, verdeckt. Dieser Entpolitisierung des Politischen gelte es theoretisch zu widersprechen. Was ist aber „in Wirklichkeit“ als das spezifisch Politische von Politik zu identifizieren? Die Antwort lautet: Die Eigengesetzlichkeit des politischen Systems ist es, kollektiv verbindliche Entscheidungen herzustellen, und sonst nichts. In direkter Anlehnung an die Thesen Carl Schmitts ist es in Deutschland Hermann Lübbe, der den politischen Dezisionismus wieder stärker ins Zentrum der philosophischen Auseinandersetzung gerückt hat. Lübbe erfasst den Entscheidungszwang als basale anthropologische Konstante: „Niemand kann sie umgehen, der die Freiheit des Handelns bewahren will.“ (Lübbe 1971: 13) Ausgehend von der Überlegung, dass Entscheidungen in keinem Fall vollständig durch letztendliche Gründe vorgegeben seien, sodass jede Entscheidungssituation eine Ausnahmesituation darstelle, betont er die Dringlichkeit, „angesichts alternativer Möglichkeiten den Graben der Ungewißheit, welche die richtige oder die bessere ist“ (Lübbe 1971: 18 f.) durch eine nicht weiter begründbare Entscheidung zu überspringen. Politik zeichnet sich gemäß Lübbe heute gerade dadurch aus, dass eine sichere Basis, auf die eine Entscheidung aufsetze, ungewiss sei. Politik habe ihren handlungstheoretischen Ort da, „wo die Zwecke und Ziele noch strittig sind“ (Lübbe 1971: 54). Ähnlich wie Schmitt wendet sich Lübbe insgeheim gegen die romantische Idee des „‚ewigen Gesprächs‘ in den Parlamenten“ (ebd.: 29). Auch im Zentrum der Politik beherrschten am Ende das Nonkognitive und die bloße Faktizität des Entscheidens des Geschehen. Denn: „Eine jede Debatte endet damit, daß statt Gründen Hände aufgezeigt werden. Die Stimmen werden nicht mehr gewogen, sondern gezählt. Die Abstimmung ist der ,dezisionistische Akt‘, mit dem in der Demokratie die Debatte beendet wird.“ (Lübbe 1971: 29) 87

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Bolsinger geht sogar noch einen Schritt weiter und proklamiert, dass der Dezisionismus implizit davon ausgehe, „dass Politik eine von den Individuen getrennte und ihnen auferlegte Herrschaftsstruktur ist“ (ebd.: 496). Politik sei im Grunde nur an der eigenen Selbstreproduktion interessiert. Die moderne Politik sei „selbsttragend“ beschaffen, denn sie habe keine andere Basis. Schmitt (92003: 89) nimmt dazu folgendermaßen Stellung: „Von Legitimität eines Staates oder einer Staatsgewalt kann man nicht sprechen. Ein Staat, d.h. die politische Einheit eines Volkes, existiert, und zwar in der Sphäre des Politischen.“ Hier ist wiederum an die politische Theorie Luhmanns (2000a) zu denken, der nicht zufällig Politik als selbstreferenzielles Geschehen fasst: „Kontext und Kontingenz treten an die Stelle dessen, was man einst feststehenden Prämissen und Naturzwecken zugetraut hatte.“ (Luhmann 2000a: 369) Gleichermaßen wie im rechtlichen Dezisionismus ergibt sich auch beim politischen Dezisionismus eine weitere Pointe in Bezug auf die Geltungsfrage. „Politische Herrschaft entzieht sich insgesamt einer Beurteilung durch Kriterien einer normativen politischen Theorie.“ (Bolsinger 1998: 498) Für den Dezisionismus „ist Gelten überhaupt kein philosophischer Sachverhalt, sondern vielmehr ein faktisch ablaufender politischer Mechanismus. Die Bedingung der Möglichkeit von Recht und Verfassung ist hier nichts Moralisches oder abstrakt zu Sollendes, sondern etwas Faktisches“ (Bolsinger 1998: 497). Daraus muss aber der Schluss gezogen werden, dass dann die politische Herrschaft auch in diese oder jene Richtung laufen kann. Die Beurteilung politischer Legitimität kann sich immer erst nachträglich auf die sich vollzogene ,,normative Kraft des Faktischen“ beziehen, ohne dass allerdings ein Kriterium zur Verfügung stünde, ob diese auch normativen Ansprüchen gerecht würde. Denn diese Kriterien sind im Zuge der Erosion alles Normativen verloren gegangen. Verständlich wird an dieser Stelle, warum Schmitt seine Entscheidungstheorie an den Kontingenzbegriff der Theologie anlehnte. Denn, wie Günter Figal (1992: 259) schreibt: „Der dezisionistische Charakter des politischen Handelns entspricht genau der Unbegründbarkeit des Glaubens; das dezisionistisch verstandene Handeln ist die politische Fassung des ,Sprungs‘, durch den man Kierkegaard zufolge allein in den Glauben gelangt.“ Noch weitergedacht geht es auch darum, dem Leitbild von der verfassungsmäßig legitimierten Herrschaft die ideologische Maske zu entreißen. Greven (1999: 117) macht darauf aufmerksam, dass die Rede von der „Herrschaft des Gesetzes“ im Angesicht „von ständig neu und unter relativ kontingenten Bedingungen getroffenen politischen Entscheidungen“ eine „zumindest die realen Machtprozesse verschleiernde Formulierung“ (ebd.: 117) sei. In der Tat geht es dieser politischen The88

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orie um die spezifischen Macht- und Herrschaftskonstellationen in der politischen Sphäre. Das Politische manifestiert sich als Kampf zwischen Herrschaftsbereichen: „Wie und zu welchem Anteil wird durch politische Entscheidungen gesellschaftlicher Reichtum verteilt? Wie sieht das Ergebnis dieser Verteilung aus? Wie werden diese Verteilung und die zu ihr führenden Prozesse und institutionellen Vorkehrungen gerechtfertigt? Kurz: Wer hat ohne ausreichende Legitimation das Sagen und profitiert auch davon?“ (Greven 1999: 119) Wie ein roter Faden zieht sich nun die Frage nach den Konsequenzen dieser Grundaussage durch Grevens „Politische Gesellschaft“. Greven kommt auf der Basis dieser Interpretation der Geltungsfrage zu einer weitreichenden Folgerung (vgl. bereits Holzinger 2006: 93ff. und 162ff.). Er charakterisiert die moderne Gesellschaft zunächst wie Bolsinger als eine solche, die zunehmend erkenne, dass sie auf keine anderen Geltungsgründe als den sich aus ihren eigenen Verfahren selbst ergebenden rekurrieren könne. Politik könne in einer modernen Gesellschaft, so Greven, insbesondere nicht mehr auf Ethik begründet sein. Denn basale normative und ethische Gründe können in der modernen Gesellschaft nicht mehr im Zentrum stehen, da sie durch Rationalisierungsprozesse weggeschmolzen werden. Politische Entscheidungen werden heute unter den Bedingungen eines ethischen Pluralismus gefällt. Und die besondere Pointe, die Grevens (1999) Ansatz innewohnt, basiert nun genau auf der Feststellung, die oben angedeutet wurde. Wenn die rechtlichen Formen von Politik nur über ihre bloße Faktizität zu begreifen sind, also politische und rechtliche Entscheidungen ausschließlich in Herrschaftsbeziehungen und Machtkonstellationen ihre Wurzeln haben, dann muss man ebenso den Schluss ziehen, dass das Politische der politischen Gesellschaft nicht mit Demokratie gleichzusetzen ist. Und dementsprechend ist von demokratischer Teilhabe in Grevens Skizze der politischen Gesellschaft zunächst – und ich betone: zunächst – gar nicht die Rede. Im Gegenteil: Gegen die Auffassung, dass die Demokratie als das zentrale politische Steuerungsprinzip unserer Zeit fungieren würde, wendet Greven ein, dass diese den politischen Nukleus der politischen Gesellschaft missverstehen würde, denn die politische Gesellschaft sei nicht unbedingt mit einer demokratischen Gesellschaft identisch. Gerade weil die Politik in der modernen Gesellschaft keinen äußeren Halt mehr in Religion, Vernunft oder Moral besitzt, sondern auf dem Fundament reiner Kontingenz aufsetzt, gibt es für die Politik in der Kontingenz keine religiösen Grenzen und auch keine normative Legitimation mehr. Auch die politischen Extreme dieses Jahrhunderts sind genau aus diesem Grund möglich gewesen. Gemäß Greven hat eigentlich erst die 89

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Politisierung der Gesellschaft „die monströsen Erscheinungsformen des Politischen dieses Jahrhunderts, die ‚katastrophengeschichtlichen Dimensionen unseres Zeitalters‘, ermöglicht. Solange diese Voraussetzungen bestehen, bleiben sie auch in Zukunft eine Gefahr“ (Greven 1999: 59f.).

3.4.4 Generelle Einwände gegen den Dezisionismus Von diesem Punkt aus können wir nun die kritische Auseinandersetzung mit dem Dezisionismus beginnen. Der Dezisionismus arbeitet mit der Differenz von Entscheidung und Nichtentscheidung. Er suggeriert darüber hinaus, dass in einem anderen Begründungsmodell – etwa dem Normativen – nicht entschieden würde. Die politische Theorie des Dezisionismus rekurriert hierbei auf Donoso Cortes, der es als „das ‚Wesen des bürgerlichen Liberalismus‘ bestimmte, sich ‚nicht zu entscheiden, sondern zu versuchen, statt dessen eine Diskussion anzuknüpfen‘“ (Lübbe 1971: 29). Diese Interpretation wird dann auch in der dezisionistischen Gegenüberstellung von „Gespräch“ und „Diktatur“ manifest. Aber das ist ersichtlich ein fragliches Vorgehen. Zunächst ist nämlich festzustellen, dass jedes Einschlagen eines Handlungspfades am Ende auf einer Entscheidung beruht (auch im Falle einer vermeintlichen „Nichtentscheidung“). Auch die Entscheidung zur Nichtentscheidung ist ja der Sprung über die Spalte der Kontingenz. In beiden politischen Modellen, im dezisionistischen wie im dialogischen Modell, wird entschieden. Und es ist – nebenbei gesagt – keineswegs so, dass eine Entscheidung grundsätzlich eine Entschlusskraft erfordert, während das reflektierte Abwarten auf deren Fehlen beruht. Wer je seine Wut und seine Entschlusskraft im Zaum hielt, weiß, wovon gesprochen wird, wenn man anstatt zu entscheiden den Entscheidungsaffekt in Gelassenheit kanalisiert. Das Unterlassen fällt nicht grundsätzlich leichter als die Tat und das Maß der „Entschlusskraft“ hängt von den vorhergehenden Motiven ab (vgl. Birnbacher 1995: 139ff.). Es ist daher auch umgekehrt nicht überraschend, dass Kritiker des Dezisionismus gar nicht die Unterscheidung von Gespräch und Entscheidung ins Zentrum ihrer Kritik stellen. Der neuralgische Punkt am Dezisionismus ist nicht das Moment der Entscheidung (denn alles muss, wie gesagt, entschieden werden), sondern die Art und Weise, wie entschieden wird. Dezisionismus ist eben nicht gleich Dezisionismus. Greven bringt dies treffend auf den Punkt: „Das implizit im Dezisionismusvorwurf sich Geltung verschaffende normative Prinzip arbeitet nicht mit dem Gegensatz Entscheidung–Nichtentscheidung, sondern mit dem Gegensatz Begründung–Willkür.“ (Greven 2000: 55) Die entscheidende 90

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Frage ist, welches Rationalitätskonzept beim Gebrauch des Wortes Dezisionismus unterstellt wird. Und der Dezisionist antwortet auf diese Frage: Keines! Denn dieses ist ja kontingent. Kritisiert wird also am Dezisionismus, dass er normativ gesehen vollkommen leer ist. Für einen Anhänger des Dezisionismus ist nicht die Gerechtigkeit oder die ethische Qualität seiner Entscheidung relevant. Darüber hinaus erinnert der Kritiker des Dezisionismus an die Tatsache, dass sich eine Gesellschaft nur schwer vorstellen lässt, die nicht irgendeine Art von Wertesystem als stabilisierende Variable für sich beansprucht und nur auf der Institutionalisierung von Willkür lebt. Die zentrale Frage des Dezisionismus – sofern er nicht in den Sog eines moralischen Nihilismus geraten will – muss demnach lauten: Wie könnte an einen modifizierten Dezisionismus angeschlossen werden, wenn die Basis jedes rationalen Ausgangspunktes zugunsten eines umfassenden Kontingenzbewusstseins aufgegeben würde? Vorerst lässt sich festhalten: Die Tatsache, dass Entscheidungen stets mehr oder weniger unter normativer Ungewissheit gefällt werden müssen, impliziert keineswegs einen moralischen Dezisionismus. Albrecht Wellmer (1998: 278) hat diesbezüglich Folgendes festgestellt: „[…] daß keine Dezision sich dem ‚zwanglosen Zwang‘ einer diskursiven Überprüfung und Kritik soll entziehen können, und zwar […] im Sinne genau jenes demokratischen Legitimitätsprinzips, das für rechtliche Dezision die Möglichkeit einer rationalen Zustimmung aller Betroffenen fordert. Das Organisationsprinzip einer solchen Rückbindung der Dezision an den Diskurs ist die demokratische Öffentlichkeit.“

3.4.5 Der Einwand von Habermas. Moralität durch Verfahren Es ist das Verdienst von Habermas, auf eine normativ tiefersitzende Komponente unseres demokratischen Rechtsstaates hingewiesen zu haben. Für den Positivismus reicht es aus, dass ein Gesetz einfach Gesetz ist. Für Habermas Diskursansatz gibt es etwas der Kontingenz Entzogenes in unserer modernen Kultur, das er insbesondere am Beispiel des Rechts diskutiert. Das Recht ist in der Tat, gemäß Habermas, als lediglich zu beobachtendes positives Faktum nicht normativ fundiert. Moralisch am Recht ist weniger seine Rechtssubstanz oder Rechtsgeltung, sondern die Rationalität des Verfahrens, unter dem es verabschiedet wurde. Habermas glaubt, dass im System der Rechte „genau die Grundrechte enthalten [sind], die sich Bürger gegenseitig einräumen müssen, wenn sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln 91

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wollen“ (Habermas 1992a: 151). Er stellt sich vor, dass die in das moderne Recht eingebaute Moralität eine verfahrensmäßige Struktur aufweist. Er glaubt, dass „im Innern des positiven Rechts selbst der moralische Gesichtspunkt einer unparteilichen Urteils- und Willensbildung stabilisiert werden kann“ (ebd.: 594). Denn wenn wir über Recht sprechen, müssen wir nicht nur wissen, über welchen Inhalt wir sprechen, sondern auch in welcher Weise wir darüber sprechen wollen. Legalität kann offensichtlich in verschiedenen Varianten erreicht werden. Es ist ein Unterschied, ob Recht per Gewalt ohne Begründung gesetzt wird, oder aber, wie Habermas es sich vorstellt, es sich nur begründen lässt, wenn es eine Verbindung zur Suche nach der Zustimmung der Allgemeinheit behält. Vergessen wird somit von den Rechtspositivisten „die ins positive Recht schon eingewanderte Verfahrensrationalität die (nach dem Zusammenbruch des Vernunftrechts) einzig übriggebliebene Dimension, in der dem positiven Recht ein Moment Unverfügbarkeit und eine kontingenten Zugriffen entzogene Struktur gesichert werden kann“ (ebd.: 598). Die Diskursethik besagt, das dasjenige, was das politische System als ein rationales Handeln auszeichnet, darin liegt, dass sich das erzielte Einverständnis zwischen Sprechern implizit auf gute Gründe stützen muss. Das Verfahren der Universalisierbarkeit von Maximen, das Kant im Wesentlichen aus der monologischen Perspektive der Einzelperson deutete, wird in einen Kommunikationsansatz transformiert. Oder anders gesagt: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ (Ebd.: 138) Wohlgemerkt: Auch für Habermas (1992b) gilt: Die Regeln der Verfahren sind einem nachmetaphysischen Denken verhaftet. Die vormoderne Begründungsstrategie, auf externe Bezugsgrößen zu rekurrieren, ist nicht mehr möglich. Die Situation, in der wir uns befinden, verbietet es uns, unsere Entscheidungen aus etwas Vorgegebenem abzuleiten (etwa aus dem Willen Gottes). Denn in modernen Gesellschaften sind alle Perspektiven für einen privilegierten Zugang zur moralischen Wahrheit verdunkelt. Nicht die Ergebnisse, auf die sich Akteure einigen würden, sind normativ gehaltvoll oder gar gerecht, wohl aber die „Fairness“ der Ausgangs- und Diskussionssituation ist es, unter der zuallererst ein fairer Beschluss im Parlament und im Rechtssystem möglich ist. Eine vollständige Gerechtigkeit auch im Sinne der Verfahrensergebnisse ist schon deswegen nicht möglich, weil Verfahren mit der Mehrheitsregel geschlossen werden müssen. Die Mehrheitsregel begründet nur eine unvollständige, jedoch reine Verfahrensrationalität. Unvollständig ist sie, weil der demokratische Prozess die Richtigkeit oder gar die Wahrheit 92

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der Resultate nicht garantieren kann. Deliberation kann nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für „gute“ Ergebnisse bereitstellen (vgl. Hüller 2005: 79). Das Mehrheitsprinzip schließt in der Regel einen vollständigen Konsens aus. Andererseits ist dadurch die Reinheit der Verfahrensgerechtigkeit gesichert, „weil im demokratischen Prozeß keine verfahrensunabhängigen Richtigkeitskriterien zur Verfügung stehen“ (Habermas 1996: 327). Die Verfahrens- und Diskursbedingungen dieser Beratungspraxis sind es, die den Rahmen für Konfliktlösungen festlegen und die normative Basis der deliberativen Demokratie darstellen, und zwar als ein faktisch ablaufender politischer Mechanismus. Habermas nennt diese Basis die Diskursethik. Im herrschaftsfreien Diskurs versuchen die Teilnehmer argumentativ, d.h. mit Gründen, über die strittig gewordenen Geltungsansprüche zu einem neuen Einverständnis bzw. Konsens zu gelangen. Herrschaftsfrei ist der Diskurs dann, wenn folgende Eigenschaften des Argumentationsprozesses gelten: (a) Niemand darf ausgeschlossen werden. Jede Person muss die Möglichkeit haben, einen Diskurs mit zu beginnen bzw. ihn in Gang zu halten. (b) Allen wird die gleiche Chance gegeben, Beiträge zu leisten. (c) Jedem Diskursteilnehmer muss es möglich sein, seine subjektiven Wünsche, Gefühle und Einstellungen mitzuteilen. (d) Die Kommunikation muss von äußeren und inneren Zwängen frei sein, so dass die kritisierbaren Geltungsansprüche nur durch die Überzeugungskraft des besseren Arguments bestimmt werden (vgl. Habermas 1996: 62). Nicht unerwähnt bleiben soll hier die Rolle der Zivilbevölkerung im Rahmen der deliberativen Demokratietheorie, die Habermas ins Zentrum seiner Überlegungen rückt. Bei Habermas fungiert die Zivilbevölkerung als Legitimationsinstanz des Staates und der Demokratie. Das Moralprinzip der Diskursethik bezieht sich nur auf die innere Argumentationslogik von Diskursen, das Demokratieprinzip auf die Ebene der äußeren Institutionalisierung. Anders ausgedrückt: Massendemokratien können nur dann als liberaler Rechtsstaat funktionieren, wenn sie in politische Öffentlichkeiten integriert sind. Die Zivilgesellschaft sendet, nach Habermas, Signale aus, die von dem politischen System verarbeitet werden. Sie sorgt dafür, dass Probleme kollektiv kommuniziert werden. Die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit ist gleichwohl nur für einen ganz bestimmten Ausschnitt des politischen Systems zuständig. Sie verortet sich im Gegensatz zum politischen System – dem Zentrum von Politik – „nur“ an der Peripherie. Anzustreben wäre, wie Habermas erläutert, ein Modell der Selbstbegren93

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zung der Zivilgesellschaft, die zwar Einfluss nehmen kann auf die Programmierung des politischen Systems, selbst aber nicht an die Stelle des politischen Zentrums rücken kann. Man hat der Diskurstheorie ironischerweise zu viel Dezisionismus vorgeworfen. Auch Habermas’ kommunikative Vernunft gibt ja keinen inhaltlichen Leitfaden für die Lösung praktischer Probleme. Das ist genau die Pointe von Habermas’ These, dass die Beteiligten nicht mehr auf ontotheologischen Rückhalt hoffen können, sondern ihre normative Substanz sozusagen ganz aus dem Prozedere selbst schöpfen müssen. „Wenn alle möglicherweise Betroffenen in praktischen Diskursen gemeinsam zu der Überzeugung gelangt sein sollten, daß in Ansehung einer regelungsbedürftigen Materie eine bestimmte Handlungsweise für alle Personen gleichermaßen gut ist, werden sie diese Praxis als verbindlich ansehen.“ (Habermas 2004a: 325) Um zu prüfen, ob ein Abstimmungsergebnis wirklich moralisch gerecht ist, bräuchten wir jedoch unabhängig vom Diskurs einen materialen Maßstab. Die Diskurstheorie steht somit in der Gefahr, die Entscheidung für ein bestimmtes Ergebnis ohne Einschränkung der kollektiven Dezision auszuliefern, selbst wenn alle prozeduralen Maßstäbe erfüllt sind. Die Gerechtigkeit im Verfahren impliziert keinerlei Ansprüche der Gerechtigkeit der Ergebnisse. Tatsächlich ist die Diskursethik inhaltlich unterbestimmt, da offensichtlich normativ gehaltlose Resultate nicht exkludiert werden können. „Denn entweder gibt es einen vorgegebenen Maßstab“, so argumentiert Johann Braun (2001: 255), „oder es gibt ihn nicht – dann kann sinnvollerweise nicht davon die Rede sein, daß das bessere Argument gesiegt hat. Gesiegt hat dann nur eines von mehreren Argumenten […].“ Ähnlich wie für einen Kommunisten die Partei immer im Recht war, selbst dann, wenn sie eine Liquidierung anordnete, so ist für die Diskurstheorie „die frei diskutierende Gesellschaft immer im Recht“ (Braun 2001: 259). Unterscheidet sich der Ansatz überhaupt noch vom klassischen Dezisionismus? Denn, wir erinnern uns, auch für diesen gilt ja, dass verbindlich jeweils nicht die Debatte ist, sondern das Abstimmungsresultat. Gibt Habermas zu viel von der Kontingenz preis? Er selbst würde vermutlich folgendermaßen antworten: Durch die Herbeiführung von Einigungen vergewissern wir uns gemeinsam, dass wir die Dinge wirklich von einer öffentlichen Warte aus beurteilen und dass subjektive Präferenzen möglichst ausgeschlossen werden. Habermas behauptet daher, dass die Triftigkeit eines Grundes sich in der Anerkennungswürdigkeit der Teilnehmer bemisst: „Darüber, welches Argument überzeugt, entscheiden nicht private Einsichten, sondern die im rational motivierten Einverständnis gebündelten Stellungnahmen aller, die an der öffentlichen Praxis des Austauschs von Gründen teilnehmen.“ 94

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(Habermas 2005: 54) Dennoch muss zugestanden werden, dass erst der Mehrheitsentscheid die Debatte beendet.2 Aber nach wie vor gibt es eben einen entscheidenden Unterschied, der Habermas Konzept vom Dezisionismus trennt. Und der liegt darin, dass das Zustandekommen der Entscheidung unter fairen Umständen geschieht. Die Beratungspraxis selbst ist es, die „als einzige mögliche Ressource für einen Gesichtspunkt der unparteilichen Beurteilung moralischer Fragen in Betracht kommt“ (Habermas 1996: 59). Die Verfahrensund Diskursbedingungen dieser Beratungspraxis sind es, die den Rahmen für Entscheidungen festlegen und die normative Basis der deliberativen Demokratie darstellen.

3.4.6 Fazit: Dezisionismus und Normativität Ich fasse das in diesem Punkt Entwickelte zusammen: Eine Folge der zunehmenden Geltung des Phänomens Kontingenz ist die Entmoralisierungsthese des Dezisionismus, die in variierenden Formaten von der Grundüberlegung ausgeht, dass der Gegenstand der Moral im Rahmen der Normenbegründung immer mehr außer Kraft gesetzt werde. Eine verbreitete Anschauung lautet, dass sich in der Kontingenzgesellschaft Politik zunehmend von anderen Begründungselementen verabschiede. Insbesondere Moral bilde, wie Greven kommentiert, für Politik keinen Bezugspunkt mehr. Und auch die der Politik vorgelagerten Normen würden nicht mehr akzeptiert. Der Dezisionismus versteht als letzte Instanz von Politik und Recht, d.h. als Basis der Geltung der beiden Sphären, eine Dezision und nicht eine Norm. Das habe ich anhand der Argumente von Schmitt und Bolsinger versucht zu rekonstruieren. Der Wert einer politischen Entscheidung liegt demnach nicht in ihrer Legitimität, sondern in der bloßen faktischen Fähigkeit, eine Entscheidung herbeizuführen. Der letzte Rechtsgrund eines Rechts- und Politiksystems „kann nur in einem politischen Willen, in einer Entscheidung gesehen werden; der politische Wille überhaupt schafft das Recht“ (Bolsinger 1998: 481). Jenseits des „Wirklichkeits2

Eine weitere Kritik bezieht sich auf das Thema Einstimmigkeit und Exklusion in Habermas’ Ansatz. Habermas vertritt die These, dass letztendlich im Prozedere des Meinungsaustausches die Meinungsmehrheit die Debatte beendet. Chantal Mouffe kritisiert, dass dieses Muster einer rationalen Konsensfindung den gesellschaftlichen Dissens verdecke. Sie sagt: „We have to accept that every consensus exists as a temporary result of a provisional hegemony, as a stabilization of power, and that it always entails some form of exclusion.“ (Mouffe 2000: 104) Implizit diene Habermas’ Deutung der Legitimation von Politik letztendlich der Untermauerung von Herrschaft.

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und Möglichkeitsraumes des politischen Entscheidens“ gibt es angesichts des überbordenden Pluralismus „keine allgemein anerkannte Berufungsinstanz“ (Greven 2007: 15) mehr, die normative Dispositionen und Bezugspunkte liefern könnte. Externe Absicherungen in Religion, Vernunft oder Moral gibt es für die Politik in der Kontingenz nicht mehr. Konstitutiv für Politik heute sei nur noch „das Faktum der Politisierung der Gesellschaftsmitglieder“ (Greven 1999: 58). Demgegenüber wurde mit dem Prozeduralismus anhand der Theorie von Habermas gezeigt, dass es unter den Bedingungen eines fortgeschrittenen Kontingenzbewusstseins eine letzte Legitimationsinstanz geben kann, die unverzichtbar erscheint, wenn die moderne Gesellschaft nicht vollkommen auf Beliebigkeit aufsetzen will: „Die kommunikative Vernunft“, so Habermas (1992b: 185), „ist gewiß eine schwankende Schale – aber sie ertrinkt nicht im Meer der Kontingenz, auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus ist, in der sie Kontingenzen ‚bewältigt‘.“ (Ebd.: 185) Es ist das Verdienst des ungewöhnlichen und provokativen Blicks des Dezisionismus auf die Moderne, das Forschungsinteresse auf die reale Praxis der Entscheidungsfindung gelegt zu haben. Hier wäre in Zukunft in der Tat mehr Realitätsbezug denn Moraltheorie vonnöten. Kontingenzansätze innerhalb der politischen Theorie zeigen, dass politische Entscheidungen in Institutionen aufzusuchen sind. Dort muss man sie analysieren. Politische Entscheidungen sind nicht primär eine Sache der Moraltheorie, sondern eine Gestalt der Macht, ein Ensemble von Strategien politischer Herrschaft. Der Dezisionismus insistiert somit zu Recht gegenüber normativen Rechtfertigungs- und Begründungsansätzen auf einem herrschaftssoziologischen Begründungszusammenhang (vgl. Bolsinger 1998: 482). Allerdings wird der Dezisionismus ideologisch, wenn er eigene Herrschaftsansprüche verdeckt. So erwähnt Bolsinger mit keinem Wort die wahren Intentionen von Schmitts politischer Theologie. Wenn Schmitt, der letzte „Metaphysiker der Politik“ (Derrida 2002: 333), aber den Staat als „Träger des erstaunlichsten aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung“ (Schmitt 61996: 10) bezeichnet, ist es für ihn diese moderne Zentralinstitution, die den Einbruch des Chaos verhindern soll. Schmitt macht kaum ein Hehl daraus, dass sich zwischen dem „Wunder“ der Theologie und dem politischen Souverän im Ausnahmezustand eine strukturelle Analogie ergibt. Schmitt betreibe, wenn auch verdeckt, eine „Theologie als Politik“, notiert Blumenberg (1996a: 108). Und wie Thor von Waldstein (1989: 3) in seiner Dissertation über Schmitts Pluralismuskritik schreibt, hat Schmitt gegenüber dem Geist der zerstörten Arkana und der Auflösung jeglicher Ordnung 96

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„seine Staatsphilosophie als antimodernistischen Katechon“ verstanden. Wer aber dem Staat insgeheim die Kompensationsrolle für die bedauerlichen Modernisierungsschäden zuschreibt, betreibt keine Beschreibung purer Faktizität, sondern erhebt den eigenen Wunsch in den Status purer Faktizität. Nicht nur bei Schmitt fällt diese normative Komponente im Gewande purer Faktizität auf. Viele dem Dezisionismus nahestehenden Autoren beginnen ihre Argumentation mit einer idealtypischen Kontrastierung von Faktizität auf der einen Seite, auf deren Terrain sie sich zu Hause fühlen, und Geltungsphilosophie auf der anderen Seite, die es zu kritisieren gilt. An die Stelle von Moralität und Wahrheit soll das Bewusstsein der nicht hintergehbaren Pluralität von faktischen und kontingenten Entscheidungsprozessen treten. In vielen Arbeiten scheinen sich die Autoren von der Rhetorik des Dezisionismus dann aber wieder abzusetzen. Vermutlich hat dies vor allem damit zu tun, dass ein reines Plädoyer für Faktizität und Kontingenz für die meisten Autoren unzumutbar ist. In einer feinsinnigen Kritik an Luhmann zeigt Ortmann (2003: 255ff.), dass auch der Bielefelder Systemtheoretiker am Ende nicht am Problem der Geltung vorbeikommt. Mit seinem kleinen Aufruf zu „politischer Wachsamkeit“ (vgl. Luhmann 1995: 104) in „Das Recht der Gesellschaft“, so Ortmann (2003: 261), „[…] scheint mir Luhmann die Nichtbeliebigkeit jener Werte doch noch anzuerkennen, deren Geltung hier zur Debatte steht. Wenn es beliebige Werte, beliebiges Recht sein dürfte, Hauptsache, sie erlangen Geltung und sichern so die Funktionsabhängigkeit: wozu dann politische Wachsamkeit? […] Damit ist der blinde Fleck der luhmannschen Theorie bezeichnet: ihr Focus auf dem Funktionieren; ihr subtiler Dezisionismus; ihre Nähe zu einem soziologischen Nihilismus.“

Bezeichnend ist etwa auch bei Greven, dass er am Ende der „Politischen Gesellschaft“ dieser den demokratischen Geist einhauchen möchte. Der nackten Faktizität, die vor keinem Totalitarismus zurückschreckt, setzt er die Bindungsenergien der Demokratie entgegen. Er plädiert als Lösung für einen Citoyen, dem die Gemeinschaft am Herzen liegt. Die Demokratie müsse daher notwendigerweise eine „Gemeinschaft und kein individuelles Lebensprojekt“ (ebd.: 225) sein. Der einzige praktische Ausweg bestünde für Greven darin, „die für die Demokratie notwendigen Bürger und Bürgerinnen in einem bisher noch nie dagewesenem Maße zu sozialisieren und auch bewusst zu erziehen“ (ebd.: 209).

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Zu „bewusster politischer Erziehung zur Demokratie“ gibt es auch für Greven „keine echte praktische Alternative“ (ebd.: 209). Das hat aber nach meinem Dafürhalten mit Faktizitätsgläubigkeit wenig zu tun. Wem dient demokratische Erziehung, wenn nicht normativer Kontrolle? Spätestens jetzt ist der Dezisionist beim Thema Wertung angelangt und muss sich für das eine oder andere politische System entscheiden. Und kann er dies ohne eine Wertung vorzunehmen?

3.5 Kontingenz und Postmoderne Die Klassiker der europäischen Soziologie entwickelten ihr Denken vor dem Hintergrund einer Krise der Moderne, das schon damals aus einem „Reflexivwerden der Moderne“ (Zima 1997: 29) hervorging. Das zentrale Ergebnis ihrer vergleichenden Forschungen bezieht sich auf den allmählichen Abtrennungsprozess der sich herauskristallisierenden modernen kapitalistischen Gesellschaft mit eigener Ordnung von den vormodernen Strukturmustern, der durchaus ambivalent betrachtet wird. Der „ambivalente Charakter der modernen Problematik“ (Zima 1997: 33) tritt bei allen Klassikern der Soziologie gleichermaßen zutage. Die kapitalistisch organisierte, bürokratische Gesellschaft eröffnet nicht nur das Tor zu neuen Möglichkeiten, sondern führt zur permanenten Unterdrückung der individuellen Lebensbewältigung (z.B. Webers Bürokratieverständnis). Offenbar sind wir seit einiger Zeit Zeugen eines Prozesses, in dem die Produkte der Moderne, die für die Menschen eine gewisse Verbindlichkeit hatten, ihrerseits modernisiert werden. Zumindest erheben sich Stimmen, die konstatieren, die Strukturen der modernen Gesellschaft seien mehr denn je auf Treibsand aufgebaut. Seit den 1980er-Jahre beginnen sich die Anzeichen der skizzierten Strukturkrise in Termini wie „Postmoderne“ oder „reflexive Modernisierung“ zu verdichten.3 Der durch die Industriemoderne in Gang gesetzte Ordnungszusammenhang wird scheinbar seinerseits im Zuge weitergehender Modernisierungsprozesse auf den Prüfstand gestellt. Das führt uns zur Theorie der Postmoderne und zur Theorie reflexiver Modernisierung.

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Wenn im folgenden Text von Modernisierungstheorie gesprochen wird, so ist daran zu erinnern, dass es sich dabei nicht um eine konsistente, homogene Theoriearchitektur handelt, sondern um ein „Agglomerat von ähnlichen Vorannahmen, Methoden und Argumentationslinien“ (Mergel 1997: 205), die darauf abzielen, den „Weg in den Moderne zu begreifen“, den „sozialen Wandel westlicher Gesellschaften zu beschreiben“.

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3.5.1 Das Projekt der Moderne als Mechanismus der Bannung von Kontingenz Der Begriff „postmodern“ wird häufig für gänzlich divergente Bewertungen und Interpretationen benutzt. Eine in dieser Form allerdings immer wiederkehrende Denkfigur ist die Kritik an den modernen Rationalitätsstandards und deren desaströsen Nebenfolgen. Postmodern ist eine Haltung der Kritik an der Moderne. Sie weist darauf hin, dass das Vertrauen auf das Fortschreiten der Vernunft gebrochen ist und gegenüber dem in der Moderne vorherrschenden Fortschrittsglauben grundlegend Zweifel angemeldet worden sind. Es ist der Vernunft- und Fortschrittsoptimismus der Moderne, der unter Anklage steht. Der Postmodernismus versteht sich zudem als „spätmoderne Selbstkritik der Moderne“ (Zima 1997: XI). Was wird aber konkret kritisiert? Das gemeinsame Bezugsproblem der postmodernen Theoretiker liegt darin begründet, dass sie der Moderne vorwerfen, sie habe Kontingenz exkludiert und zu bannen versucht. Die typisch moderne Sicht sei, wie Zygmund Bauman (1995a) argumentiert, die „Beseitigung der Ambivalenz und Kontingenz“. Die moderne Kultur ziele auf Planbarkeit und Berechenbarkeit. „Wenn die Moderne es mit der Erzeugung von Ordnung zu tun hat, dann ist die Ambivalenz der Abfall der Moderne.“ (Ebd.: 30) Der konstitutive Kern der Moderne und ihre treibende Kraft sei ihre durchgängige Tendenz gewesen, Kontrolle aufzubauen und das Fremde zu bannen. „Das Andere des modernen Intellekts ist Polysemie, kognitive Dissonanz, polyvalente Definitionen, Kontingenz; einander überschneidende Bedeutungen in der Welt der sauberen Klassifikationen und Schubladen.“ (Ebd.: 21) Bekanntlich hat Bauman aus seinen modernitätskritischen Analysen einen weiteren, hiermit zusammenhängenden zeitdiagnostischen Befund abgeleitet: Die Moderne habe den Holocaust und den stalinistischen Terror hervorgebracht. Baumans Grundthese besagt, dass es genau dieser Ordnungszwang gewesen ist, der den Völkermord möglich gemacht hat. Die modernen Sozialtechnologien seien keine Irrläufer des Zeitalters der Moderne, sondern „legitime Kinder des modernen Geistes“ (ebd.: 45). In der „Dialektik der Aufklärung“, die von vielen immer noch als früher postmoderner Text interpretiert wird, gehen die beiden Autoren Theodor W. Adorno und Max Horkheimer (1988) von einem ähnlichen Szenario aus: Die Moderne entpuppt sich in Wirklichkeit als eine alles umgreifende Maschinerie der Uniformierung. Die Individuen sollen, so die beiden Autoren, zu einer bloßen Funktionseinheit „der totalen, alle Beziehungen und Regungen erfassenden Gesellschaft“ (Adorno/ Horkheimer 1988: 43) erniedrigt werden. „Seit je hat Aufklärung im 99

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umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Ebd.: 9) Das empirische Faktum, welches Adorno und Horkheimer zur Diagnose führt, dass die „vollends aufgeklärte Erde“ im „Zeichen triumphalen Unheils“ strahlt, lesen sie an der Beschaffenheit spätkapitalistischer Gesellschaften ab. Nach ihrer Meinung haben alle ein soziales System konstituierenden Elemente von ihren wirtschaftlichen bis hin zu den kulturellen Komponenten Anteil daran, dass die Gesellschaft sich zur hermetisch abgeriegelten, dehumanisierten Gesellschaft zusammenschließt. Dieses Bild einer geschlossenen Gesellschaft speist sich aus verschiedensten theoretischen Annahmen: Eine Theorie des Tausches soll aufzeigen, dass das ökonomische System Herrschaftsverhältnisse produziert, die darin begründet sind, daß die Menschen auf Agenten und Träger des Warentausches reduziert werden und alle sich dem Tauschgesetz unterwerfen müssen. Eine Theorie der Massenkultur (Kulturindustrie) soll auch in der Privatsphäre ein geschlossenes System fest etablierter Schablonen aufdecken, die das Bewusstsein der Beherrschten kontrollieren und somit in gleißnerischer Weise die ökonomisch-politisch durchgesetzten Machtpositionen der Herrschenden verdecken. Die Schlüsselerfahrung aber, die gleichsam das Wesen des gegenwärtigen Zeitalters enthüllt, ist für Adorno und Horkheimer, ähnlich wie für Bauman, bekanntlich Auschwitz. Die Konzentrationslager sind für Adorno nicht einfach ein Betriebsunfall der modernen Zivilisation, sondern das Phänomen Auschwitz liefert nach ihm eine Art Grundmodell, das den Blick auf „unterirdische Geschichte“ der Moderne freigibt. Das Herrschaftsverhältnis des faschistischen Traumas fungiert als ein Strukturmuster, an dessen Entwicklungsverlauf die geheime Logik des gesamten Zivilisationsprozesses abzulesen ist. Erst von der „faschistischen Gegenwart aus“ (Adorno/Horkheimer 1988: 247) soll „das Verborgene ans Licht“ (ebd.: 247) treten, weil sich erst hier die in der Geschichte latent wirksamen Strukturen in ihrer Evidenz abzeichnen. Die moderne Gesellschaft habe, wie auch Michel Foucault betont, das „Disziplinarindividuum“ (Foucault 91991: 397) erfunden.4 Macht 4

Wie Axel Honneth (1989) gezeigt hat, gibt es zwischen der „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno/Horkheimer und Foucault interessante Parallelen. Es gibt im eigentlichen Sinne jedoch keine Kommunikation zwischen ihnen. Zwar hat Michel Foucault in seinen letzten Lebensjahren darauf hingewiesen, „daß ihm viele Umwege und Versäumnisse in seinem Werk erspart geblieben wären, wenn er in einer früheren Phase die Bekanntschaft der Frankfurter Schule gemacht hätte“ (Dews 1989: 88), aber

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wird zwar einerseits an Normen geknüpft, die die Person als Rechtssubjekt anerkennen sollen. Auf der anderen Seite wird das Individuum zum Gegenstand eines klassifizierenden Kategoriensystems, das die generelle Unterwerfungstaktik ins Zentrum stellt. Der Zivilisationsprozess ist ein solcher, in dessen Vollendung sich immer strengere Muster der Affektund Selbstkontrolle herauskristallisieren (Norbert Elias). Parallel zu jenen in das tägliche Verhalten eingreifenden Disziplinartechnologien entwickelt sich ein „System der genauen Überwachung“ (Foucault 9 1991: 221). Die Disziplinartechnologien fabrizieren habitualisierte und gelehrige Körper, d.h., sie machen aus Individuen funktionstüchtige Subjekte im Sinne herrschaftsstruktureller Anforderungen. Der Preis dieses Rationalisierungsprozesses wird deutlich, wenn man den Sachverhalt betrachtet, den Foucault die „dunkle Kehrseite“ (Foucault 91991: 285) und Adorno/Horkheimer (1988: 246) die „unterirdische Geschichte“ des europäischen Modernisierungsprozesses nennen: Foucault legt von Anbeginn an seinen Fokus auf die den Prozess der Modernisierung kennzeichnende Steigerung der sozialen Kontroll- und Machtmittel, während er die kulturellen und moralischen Fortschritte, die sich etwa in der Prozedur der demokratischen Willensbildung niedergeschlagen haben, völlig ausblendet. Sowohl Adorno als auch Foucault sehen den zivilisatorischen Prozess der instrumentellen Rationalisierung in Herrschaftsorganisationen kulminieren, die das soziale Leben vollständig zu kontrollieren und zu steuern vermögen. Wie Bauman, Adorno/Horkheimer und Foucault im Einzelnen zu ihren Thesen gelangen und welche sachlichen Überzeugungen in diese eingehen, braucht uns hier nicht zu interessieren. Zusammenfassend lässt sich sagen: Was den inhaltlichen Fokus der Moderne angeht, so besteht, gemäß den zitierten Autoren, ihr Bestreben darin, Ordnung und Eindeutigkeit herzustellen. Die „typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens“ liegt nach Baumans Meinung in der „Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte und wollte“ (Bauman 1995a: 20f.).

zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit Adorno ist es von seiner Seite nicht gekommen.

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3.5.2 Selbstverständnis der Postmoderne In expliziter Abwendung vom modernen Einheitsstreben und seinem monistischen Programm stellt sich nun für die Postmoderne die radikale Pluralität und Entgrenzung der Werte als das Ziel und eine zuinnerst positive Vision dar. Das zentrale Anliegen der Postmoderne ist demnach „Anerkennung der Kontingenz“ (Bauman 1995a: 286). Die Postmoderne sei „die Moderne, die die Unmöglichkeit ihres ursprünglichen Projektes eingestanden hat“ (ebd.: 127). Es soll nun der Terror von institutionalisierten Diskursen offenbar gemacht werden, die systemspezifisch unter Maßgabe eines monopolistischen Wahrheitsanspruches alles einebnen und das Außergewöhnliche eliminieren. Der Kampf der Postmoderne, so Frank (1987: 119), gilt dem „Totalitarismus von Modellen, die die Menschenwelt im Spinnennetz der Codes, der Ordnungen, der Kontrolle, der instrumentellen Gewalt verkleben wollen“. Durch die Analyse der „Ordnung der Diskurse“ und ihres herrschaftlichen Gehaltes soll ein Stück weit Individualität gerettet werden, d.h., die dem Idealismus aufgeopferten Momente des Nichtidentischen und Nichtintegrierten, des Abweichenden und Heterogenen, des Widersprüchlichen und Konflikthaften, des Vergänglichen und Akzidentellen sollen in Erinnerung gerufen werden. Im Ursprung aller Ordnung, dies ist die Einsicht maßgeblicher als postmodern bezeichneter Denker, ist ein Ausschluss des Nichtdenkbaren: ein Fernhalten all dessen, was von den Regeln des Diskurses als etwas verworfen wird, das keinen Sinn macht oder als systemfeindlich verboten wird (vgl. Frank 1984: 139). Es ist die Absicht der Hermeneutik der Macht, durch die Herausarbeitung der Funktionsweisen dieser Systeme und die genealogische Enttarnung ihrer Funktion im Netzwerk sozialer Macht ein Sprachrohr für die unterdrückten Lebensstile zu sein. In den Sozialwissenschaften wurde der Begriff „Postmoderne“ von Etzioni in „The active Society“ eingeführt. Etzioni datiert den Beginn der Postmoderne auf 1945. Bauman konstatiert einen institutionellen Pluralismus, in dem Vielfalt, Kontingenz und Ambivalenz die herausragenden Merkmale seien. Ambivalenz und Ungewissheit habe es schon immer gegeben. Heute jedoch, so Bauman (2000: 62), sind es genau diese bis in die Gegenwartsgesellschaft reichenden modernen Ligaturen, „die schrittweise und unaufhaltsam zerfallen, die alles andere als sicher geschützt, geschweige denn für die Unsterblichkeit bestimmt erscheinen; und deshalb verlieren sie zu einem großen Teil, wenn nicht in Gänze ihre sinnstiftende Kraft“. Was wir häufig als Krisen thematisieren (Stichwort: Kommunitarismus), die durch die Vielfalt von Urteilen und Meinungen hervorgerufen werden, die häufig auch in Konflikten kumulie102

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ren, die nicht mehr in höheren Integrationsstufen aufgehoben werden können, ist in Wahrheit der normale Zustand der Moral (vgl. Bauman 2000: 215). Die typisch postmoderne Lebensstrategie besteht darin, sich möglichst alle Optionen offenzuhalten und langfristige Bindungen zu scheuen. Das Leben soll nun vor allem als ein potenziell nicht abschließendes Projekt interpretiert werden. Und Reckwitz konstatiert: „Das postmoderne Subjekt trainiert sich ein Arsenal von dauerhaften Kompetenzen an, die dispositionale Bedingungen liefern, um Selbstkreation, Iterierung von Wahlakten, erfolgreiche performances und deren beständige Veränderung zu ermöglichen.“ (Reckwitz 2006: 607) In diesem Sinne hat Ronald Inglehart (1998: 39) die Postmoderne als Periode der Wertetransformation gedeutet: „Postmoderne bedeutet Aufkommen neuer Werte und Lebensstile, die durch größere Toleranz gegenüber ethnischer, kultureller und sexueller Differenz und Möglichkeiten, die eigene Lebensart individuell zu wählen, gekennzeichnet sind.“ Nicht die Abwertung der Moderne, sondern die nun gesellschaftsübergreifende Entstehung neuer kultureller Werte wäre das Signum der Postmoderne. Auch Wolfgang Welsch versteht die Postmoderne insbesondere vor dem Hintergrund des Themas Pluralismus: „Die Postmoderne ist diejenige geschichtliche Phase, in der radikale Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaften real und anerkannt wird und in der daher plurale Sinn- und Aktionsmuster vordringlich, ja dominant und obligat werden.“ (Welsch 21988: 5) Grundbedingung menschlichen Handelns in der globalisierten Gesellschaft sei die polykontexturale Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Die Moderne hingegen verwirkliche sich in Einheitsprogrammen in der Form einer „Weltuniformierung“, d.h. also eines einebnenden, den Pluralismus verneinenden Denkens und Tuns (Welsch 2 1988: 84). Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Moderne war ein kultureller Prozess, der sich an vereinheitlichenden Prinzipien orientierte. Demgegenüber zeichnet sich die neue Haltung zu den Werten dadurch aus, dass der Logik des einen Maßstabs eine plurale Logik entgegengesetzt wird. Pluralität, Heterogenität und Vielfalt unterwandern nun die Einheitsbestrebungen der Moderne.

3.5.3 Zur Kritik der Postmoderne Kommen wir zu einer kurz gehaltenen Einschätzung der Postmoderne. Ich interessiere mich hier im Wesentlichen nicht für einzelne Theoriebausteine der Postmoderne, sondern möchte mich hier einzig mit der

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

Frage befassen, inwieweit die Rede von einer Nachmoderne gerechtfertigt ist.

3.5.3.1 Zur Epocheneinteilung Die meisten Autoren sind sich darüber einig, dass das Präfix „post“ eine zeitrelationale Bedeutung besitzt. „Postmoderne“ scheint dann einen Epochenanspruch auszudrücken, nämlich die Epoche nach oder jenseits der Moderne (vgl. Zimmerli 1997: 160). Die Lektüre der als „postmodern“ beschriebenen Texte zeigt jedoch, wie wir sehen werden, dass der Terminus „Postmoderne“ – als Epochenbegriff verwendet – zu Widersprüchen führt. Mit der Postmoderne vollzieht sich die Loslösung von der aufklärerisch-modernen Idee des autonomen, sich selbst und die Umwelt beherrschenden Subjekts. Das Vertrauen auf das Fortschreiten instrumenteller Vernunft ist gebrochen und gegenüber dem in der Moderne vorherrschenden Fortschrittsglauben wird grundlegender Zweifel angemeldet. Fortschritt schlägt in Rückschritt um. Aufklärung ist totalitär und vereinheitlichend. Als Metaerzählung ist sie terroristisch, da sie grundsätzlich mit ihren Wahrheitsansprüchen das Unerlaubte, Widersprüchliche ausschließt. Demgegenüber setzt die Postmoderne auf radikalen Pluralismus. Die Postmoderne symbolisiere, so Wilhelm Schmid (1998: 101f.), eine „Kultur der Krisis“ und stehe für das „Reflexivwerden der Moderne auf der Höhe ihrer avancierten Entwicklung“. Makropoulos (2004: 398) zufolge ist die Kontingenzsemantik deswegen tatsächlich die Metaerzählung und „das konstituierende Narrativ einer postmodernen Moderne“. Er kommt zu folgendem Schluss: „Ihr theoretisches und diskurspolitisches Zentrum bildet die kritische Verwerfung jener epochalen Versuche der Kontingenzreduktion, die sich nicht nur in den Tendenzen funktionalistischer Kontingenzbegrenzung durch gezielte Kontingenznutzung realisiert haben, sondern auch in den Tendenzen totalitätsorientierter Kontingenzaufhebung – die ihrerseits nicht selten die funktionalistischen Tendenzen geschichtsphilosophisch finalisiert haben.“ (Makropoulos 2004: 398)

Es ist sicher – und hier liegt die spezifische Schwierigkeit der Abgrenzung von modern und postmodern –, dass die Art von Opposition gegen das Projekt der Moderne, mag sie auch postmodern heißen, bereits für die ästhetische Moderne des 19. und 20 Jahrhunderts im Gefolge vor allem Nietzsches von Beginn an konstitutiv ist. Insofern artikulieren die 104

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

sogenannten „postmodernen Autoren“ Gedanken, die durchaus „modern“ sind. Umso mehr ist dann aber zu fragen, was uns die Theorie der Postmoderne Neues zu bieten hat bzw. warum wir überhaupt von einer Nachmoderne sprechen sollen? Weber selbst war sich bewusst, dass Säkularisierung, Rationalisierung und Versachlichung das Individuum in neue Herrschaftsformen zwängen könnten. Die Soziologie ist von Anfang an „Krisenwissenschaft“ (René König). Joachim Ritter (1965: 47) erkannte bereits, dass Hegels Philosophie der letzte Versuch gewesen ist, „die Entzweiung als die Form der modernen Welt und ihres Bewusstseins“ in einer integrierenden Synthese aufzuheben. Danach wurden aber die Entzweiung und die Differenz bereits beim Namen genannt. Es kündigte sich damals zudem bereits eine „spätmoderne Zeit“ (Zima 2000: 118) an. Karl Löwith (1995: 42f.) kommentiert: „Während Goethe und Hegel in der gemeinsamen Abwehr des ‚Transzendierenden‘ noch eine Welt zu gründen vermochten, worin der Mensch bei sich sein kann, haben schon ihre nächsten Schüler sich nicht mehr in ihr zu Hause gefunden und das Gleichgewicht ihrer Meister als das Produkt einer bloßen Harmonisierung verkannt.“ Bei Lichte besehen soll der Begriff „Postmoderne“ jedoch gar keinen Zeitmodus ausdrücken. Vielmehr meint Postmoderne bei den seriösen und namhaften Autoren „nicht eine Epoche nach der Moderne, sondern signalisiert eine veränderte Einstellung, eine andere Geisteshaltung“ (Welsch 1992: 35) – eine Geisteshaltung, die nicht erst nach einer vermeintlich beendeten Epoche namens Moderne real wird, sondern die schon in ihr abgeschlossen, eingeschlossen, nur verborgen war. Und diese Geisteshaltung manifestiert sich eben im Pluralismus: „‚Postmodern‘ ist, wer sich jenseits von Einheitsobsessionen der irreduziblen Vielfalt der Sprach-, Denk- und Lebensformen bewußt ist und damit umzugehen weiß. Und dazu muß man keineswegs im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert leben, sondern kann schon Wittgenstein oder Kant, kann Diderot, Pascal oder Aristoteles geheißen haben.“ (Welsch 21988: 35) Welsch geht also eher von einer radikalisierten Moderne denn von einer nachmodernen Zeitrechnung aus. Die Postmoderne operiere nicht mehr auf dem Terrain der Versöhnung. Und daher bedeutet seine Grundthese, „daß die Postmoderne eigentlich die Radikalmoderne dieses Jahrhunderts sei, nicht, daß sie gar nicht nach-modern sei“. Präzise müsste man eigentlich sagen, „daß sie nach jener Moderne ist, die wir eindeutiger und unmißverständlicher als ‚Neuzeit‘ bezeichnen. […] Die Postmoderne ist eine Moderne, die nicht mehr den Auflagen der Neuzeit folgt, sondern die des 20. Jahrhunderts einlöst“ (Welsch 21988: 84). Erst jetzt wäre die Postmoderne bezüglich Vielheit und Pluralismus vielleicht 105

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

tatsächlich, wie Welsch (21988: 200) sagt, die „Einlösungsform der Moderne“. „Was in dieser noch esoterisch und elitär war, ist jetzt exoterisch und populär geworden.“ (Ebd.: 206) Postmodern sei, nach Bauman (1995a: 333), der Zeitabschnitt, in dem die Moderne sich „mit ihrer eigenen Unmöglichkeit abfindet“: „[…] eine sich selbst kontrollierende Moderne, eine, die bewußt aufgibt, was sie einstmals unbewußt getan hat“, nämlich Ambivalenzen zu bekämpfen. In der Postmoderne zu leben bedeutet, wie Bauman (1995a: 288) bemerkte, in dem Bewusstsein zu leben, „daß es keinen sicheren Ausgang aus der Ungewißheit gibt, dem Bewußtsein, daß das Entkommen aus der Kontingenz ebenso kontingent ist wie die Lage, aus der das Entkommen gesucht wird“. Kennzeichnend, nicht für die Moderne insgesamt, aber für die Gegenwartsgesellschaft, wäre, „dass sie dem Subjekt keine definitive Form gibt, sondern diese sich als ein Kontingenzproblem, eine offene Frage auftut, auf die unterschiedliche, immer wieder neue und andere kulturelle Antworten geliefert und in die Tat umgesetzt werden“ (Reckwitz 2006: 14). Aber auch hier lässt sich feststellen: Auf der Ebene der Ideengeschichte scheint die Postmoderne nicht grundsätzlich neue Gedanken zu präsentieren. Sicherlich hat die Moderne – gerade auch in ihrer politischen Programmatik der Staatsbürgerrechte, des Rechtsstaates und der demokratischen Institutionen – schon immer um eine Kultur der Vielfalt implizit geworben. Freilich lässt sich in der Moderne leicht nachweisen, dass Pluralismus nicht immer realiter als zentrales Ziel verwirklicht wurde. Damit ist aber nicht gesagt, dass Pluralismus und Vielheit nicht schon immer einen rationalen und ideellen Kern in der Moderne darstellten. Auch die Subjektzentriertheit und die von Reckwitz (2006: 607f.) konstatierten neuen expressiven Formen der Subjektgestaltung, die in der „postmodernen Form von Selbstregierung“ (ebd.: 608) ihren Ausdruck bekommen, sind Grundbestandteil der Semantik der Moderne. Die nachmoderne Subjektskepsis, die sich wie ein roter Faden durch den postmodernen Diskurs von Foucault über Lacan bis hin zu Deleuze zieht, ist für die Moderne von Beginn an Gegenstand. Viele Themen, die die Postmoderne für sich besetzt, lassen sich in der Geschichte der kulturellen Moderne selber verorten. Das Wesen der Moderne – und das ist gemäß Martin Heidegger (82003: 88), bereits die Perspektive Descartes’ – besteht in der Tatsache, dass der Mensch „zur Bezugsmitte des Seienden als solchen“ werde. Descartes schaffe, so Heidegger (82003: 99), „mit der Auslegung des Menschen als Subjectum die metaphysische Voraussetzung für die künftige Anthropologie jeder Art und Richtung“. Zima fragt deswegen zu Recht, ob es nicht sinnvoller wäre, „die Post106

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

moderne als einen weiteren Modernisierungsschub innerhalb der Moderne zu sehen“ (Zima 1997: 226). Damit tritt erneut das Dilemma zutage, warum man dann von Postmoderne sprechen sollte.

3.5.3.2 Normativer Ansatz und empirische Basis Noch ein weiterer Punkt wäre zu diskutieren. Die Hypothese einer zunehmenden positiven Haltung zum Pluralismus beinhaltet viele plausible Aspekte. Allerdings ist die Theorie der Postmoderne zunächst einmal nur ein normativer Ansatz: Wo Herrschaft war, soll Pluralität herrschen. Und in der Tat hat insbesondere Bauman (1995b) eine „postmoderne Ethik“ gefordert. In der Moderne sei die Ethik am „Postulat der Universalität“ (ebd.: 65) orientiert. Dieses Postulat stand im Einklang „mit den uniformierenden Ambitionen und Praktiken des modernen Staates“ (ebd.: 65). Diese Kollektivethik arbeitete den herrschaftlichen Mächten in die Hände. Die Postmoderne hingegen sei tolerant gegenüber anderen Semantiken, „weil sie endlich sich selbst gegenüber tolerant ist, gegenüber ihrer letzten Kontingenz und der Unerschöpflichkeit der Deutungen“ (Bauman 1995a: 197). Aber ist das insgesamt plausibel? Dieser normative Ansatz ist auf der empirischen Ebene reduktionistisch, weil er eben die Kontingenz des eigenen Standpunktes nicht berücksichtigt. Es ist eine Sache, dem Wunsch nach Vielfalt zu veräußern, etwas ganz anderes ist es, ob dieser Wunsch dann auch in der Wirklichkeit umgesetzt wird. Die Postmoderne liefert weniger eine empirische Beschreibung der Realität als eine Kritik an der klassischen Moderne. Diese Forderung sagt natürlich nichts über die empirische Realität, geschweige denn über die Vielfalt an Strömungen, Konflikten, Mehrdeutigkeiten und Überschneidungen von heterogenen Tendenzen aus. Im gesamtgesellschaftlichen Institutionengefüge ist Pluralismus als normativer Ansatz nur ein Parameter neben anderen. Das Bild des Pluralismus wird bereits empirisch getrübt, wenn man an die Vielzahl ethnonationaler Konflikte denkt, bei denen Integrationsansätze wie die These von einem allumfassenden Pluralismus auf starke Widerstände stoßen. Es liegt auf der Hand, dass die globale Welt durch massiven Ethnonationalismus geprägt ist. Hartmut Esser (1988: 236) gibt zu bedenken, dass es ethnische Bewegungen „kaum jemals in stärkerem und vielfältigerem Ausmaß“ gegeben habe als derzeit. Tendenziell in diesen Bereich gehören neue Formen des Nationalismus, des Traditionalismus und des separatistischen Regionalismus in seinen heterogenen Varianten (Zürn 2001: 114ff.). Beispielsweise hat sich die Utopie vom „Melting Pot“ Amerika nicht realisieren lassen. Die USA 107

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

gelten heute vielmehr als ein Land, in dem die kulturelle Segmentierung und Segregation überhandnimmt. Los Angeles ist ein Beispiel dafür, wie eine Stadt erschüttert von Territorialkämpfen und Selbstjustiz an Lebensqualität verliert (vgl. Hettlage 1996: 171ff.). Karl-Otto Hondrich (1992: 68) richtet in seinem Aufsatz „Wovon wir nichts wissen wollten“ die Aufmerksamkeit auf ein ähnliches Phänomen, das wir gewohnt sind zu vergessen. Seine nur scheinbar harmlose Einsicht lautet: Die Soziologie habe systematisch „die dauerhafte Macht und Prägekraft der kulturellen Wir-Gefühle“ unterschätzt, „die fortdauernd, aber normalerweise unsichtbar, in der Latenz wirken. […] Die alten ethno-kulturellen Prägekräfte bleiben und bleiben und formen sich in immer neuen Erscheinungen aus.“ Die Soziologenschulen hätten, so moniert Hondrich, „zu dem, was die Welt heute bewegt, nichts zu sagen. Krieg und Gewalt, Völker und Nationen, die leidenschaftlichen Wir-Gefühle von Wertgemeinschaften kommen in ihnen nicht vor. Die Frage nach Triebkräften der Sozialität haben wir Soziologen durch die nach Kommunikation ersetzt“ (ebd.: 68). Und er fügt hinzu: In unserer Weltgesellschaft „wächst der Bedarf an partikularen kollektiven Identitäten, die gleichsam vermittelnd zwischen Einzelnen und dem Ganzen tätig werden, gewaltig – auf funktionale Verflechtungen und Individualisierung allein kann eine ‚architecture of complexity‘ nicht gebaut werden“ (ebd.: 68). Die postmoderne Annahme eines sich universal durchsetzenden Pluralismus lässt sich aber noch an einem nahe liegenderen Phänomen widerlegen. Dass ein umfassenderer Pluralismus heute nicht auf der Tagesordnung steht, lässt sich bereits anhand der Regionen und geistigen Zentren nachweisen, in denen der postmoderne Diskurs empirisch manifest wird und im eigentlichen Sinne zu Hause ist. Inglehardt (1998: 57) hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der Postmodernismus die Konsequenz einer Gesellschaftsform ist, deren materielle Basis zunehmend als gesichert angenommen werden kann. Der Wandel zu einer postmodernen Kultur entstehe „aus dem grundlegenden Unterschied, ob wir mit dem Bewusstsein aufwachsen können, dass unser Fortbestand gesichert ist, oder ob wir fürchten müssen, daß er gefährdet ist“ (ebd.: 51). Postmoderne Werte würden dementsprechend vor allem in den reichsten und stabilsten Gesellschaften rezipiert. Dieser Tatbestand gilt natürlich nicht für alle Zivilisationen auf dem Globus. Dort wo Mangel herrscht, sind Werte ganz anders verteilt. Zumindest in Südafrika, so stellt Inglehardt fest, ist es unwahrscheinlich, dass sich rasch postmoderne Werte ausbreiten werden (ebd.: 373). Manche Autoren sprechen sogar von einer historischen Vergänglichkeit in Bezug auf die Pluralisierungsthese, da es nun eher wieder zu einer stei108

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

genden Ungleichheit in der Verteilung von Vermögen komme (vgl. Rössel 2005: 53ff.). Kurzum: Pluralismus mag normativ erwünscht sein. Wie aber die Spannungslinien, die gegen Pluralismus sprechen, ausgeglichen werden, ob sie überhaupt mit pluralistischen Modellen und Instrumenten bearbeitet werden können, ist eine offene Frage. Gemäß empirischer Beobachtung ist Pluralismus möglicherweise nur eine Variable neben anderen, die zu analysieren sich lohnt.

3.6 Kontingenz im Lichte der Theorie r e f l e x i ve r M o d e r n i s i e r u n g Wie lässt sich das Thema Kontingenz im Lichte der Theorie reflexiver Modernisierung interpretieren? Zunächst ist festzustellen, dass die Theorie reflexiver Modernisierung, dasjenige einzufordern sucht, was die Theorie der Postmoderne letztendlich nur normativ konstatiert: In welcher Art von Nachmoderne oder anderen Moderne leben wir? Die Theorie reflexiver Modernisierung beschreibt sich selbst allerdings als einen Ansatz, der sich jenseits von Moderne und Postmoderne ansiedelt. Die Intention Becks ist es, eine Präzisierung des Phänomens „Postmoderne“ vorzunehmen. Man könnte sagen: Was die Postmoderne auf literarischem Gebiet und in der Philosophie im eigentlichen Sinne nur postuliert, möchte Beck in einem empirischen Forschungsprogramm nachweisen. Damit ist gemeint, dass das Kontingenzproblem als Ausdruck eines spezifischen Selbstverständnisses der Moderne von der Ebene einer gepflegten Semantik der literarischen oder philosophischen Diskussion auf eine empirische Ebene der Institutionen und sozialen Lebenszusammenhänge der Gegenwartsgesellschaft heruntergebrochen wird. Die These Becks lautet: Die Differenz zwischen erster und zweiter Moderne lasse sich nicht als vollständiger Bruch im Prozess der Moderne verstehen, den der Begriff „Postmoderne“ suggeriere: „Im Gegensatz zu den Theorien der Postmoderne postuliert die Theorie der Zweiten Moderne eine Verflechtung von Kontinuität und Bruch […].“ (Beck et al. 2004: 20)

3.6.1 Modernisierung der Moderne als Kontingenzerweiterung Die Theorie reflexiver Modernisierung spricht von einer Modernisierung der Moderne. In diesem Sinne fragt Beck (1995: 11): „Was geschieht, wenn die Industriegesellschaft sich selbst zur ‚Tradition‘ wird? Wenn ihre eigenen Notwendigkeiten, Funktionsprinzipien, Grundbegriffe mit 109

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

derselben Rücksichtslosigkeit und Eigendynamik zersetzt, aufgelöst, entzaubert werden, wie die Möchte-gern-Ewigkeiten früherer Epochen?“ Die einfache Modernisierung müsse man als „Rationalisierung der Tradition“ deuten, die einen „gesellschaftlichen Gestaltwandel in der Moderne“ (Beck 1986: 15) beschreibt, während man die „zweite Moderne“ als „Rationalisierung der Rationalisierung“ begreifen müsse. Der Unterschied zur Postmoderne wird ersichtlich: Ziel der Theorie reflexiver Modernisierung sei es gerade nicht, eine neue Epoche auf den Plan zu rufen und die These zu untermauern, „wonach eine Epoche abrupt zu Ende geht und eine neue beginnt; etwa in dem Sinne, daß alle alten Beziehungen zu einem Zeitpunkt für immer verschwinden und absolut neue sie zu demselben Zeitpunkt ersetzen“ (Beck et al. 2001: 47). Als explizites immanentes Moment des (ersten) Modernisierungsprozesses ist diese Bewegung deswegen aufzufassen, weil sie sich als dynamischen Teil der Rationalisierungsbewegung der Moderne versteht. Die Moderne bricht nicht einfach ab. Eine Loslösung von der linearen Modernisierungsbewegung finde hingegen statt, weil die Industriegesellschaft ihre eigenen Fundamente auflöse. Deren Werte und die sie fundierenden Institutionen – „Erwerbsgesellschaft, Nationalstaat, Kleinfamilie, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, fordistische Produktion, wissenschaftliche Kontrollrationalität“ (Beck et al. 2004: 22) – werden labil und zersetzen sich, und zwar in dem Moment, da sie sich in Gänze realisiert. Was aus der Sichtweise der Theorie reflexiver Modernisierung häufig im Kontingenzdiskurs der frühen Moderne unterschlagen wird, ist der Hinweis auf die Tatsache, dass sich die moderne Gesellschaft auch im nachmetaphysischen Zeitalter immer wieder einen Schutzort und einen eigenen „Schalenbau“ einrichtete, der den modernen Menschen vor der Krise des Himmels schützen sollte. Nach wie vor suchte der Mensch sich im Schutzraum der Höhle (Blumenberg 1996b) vor der „riskanten Einlassung auf die Welt“ (ebd.: 36) zu verbergen. Man erkennt leicht, dass bis hinein in die Nachkriegsära die alten, traditionalen „Kontingenzformeln“ (Niklas Luhmann) als „Kontingenzbewältiger“ (Lübbe 1998) funktionierten. Die klassischen Entitäten der Industriegesellschaft, sie alle schufen eine Sicherheitshülle, die die moderne Gesellschaft vor der drohenden Kontingenz abschirmen sollte. Selbst die Soziologie und ihr Begriffskonstrukt der modernen Gesellschaft bis hin zu Luhmanns Theorem der funktional differenzierten Gesellschaft bildete darin keine Ausnahme. Kurzum: Zwar gab es in der Moderne auch vorher Auflösungserscheinungen. Diese sind jedoch durch Instanzen wie Stand, Lebensstile und Familie wieder abgefedert wurden. Institutionen wie Ausbildungs110

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

anstalten, Erwerbsinstitutionen und sozialstaatliche Transferleistungen schufen in der modernen Gesellschaft die Basis einer leistungsfähigen Institutionenarchitektur, die den Individuen Stabilität und normative Erwartungen bescherte. Nicht anders als in früheren Jahrhunderten stand hinter dem modernen Institutionenapparat die Vorstellung von einer sozialen Harmonie und nicht diejenige einer zerklüfteten Welt der Kontingenz. Dementsprechend wurden Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten und Abweichungen marginalisiert oder nicht akzeptiert (vgl. Beck et al. 2004: 25ff.). Was ist aber, wenn die Kontinuität jener vorstrukturierten Muster sich selbst auflöst? In welchem Sinne kann man heute noch von sozialer Integration sprechen, wenn die Strukturen der Industriemoderne infrage gestellt und damit kontingent werden? Für Beck steht fest: In der Zweiten Moderne werden diese Institutionen nun endgültig brüchig. Die imaginären Hüllen und der nachmetaphysische Baldachin der Industriemoderne werden porös. Die Industriegesellschaft der Ersten Moderne hat sich weiterentwickelt und ist eine sich von früheren Typen unterscheidende Realität des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Was uns Heutige auszeichnet, ist die Tatsache, dass wir immer mehr gezwungen werden, vor dem Unvereinbaren zu verharren. Die Gegenwartsgesellschaft lässt sich nicht mehr in die Zweckharmonie eines idealistischen Ganzheitsformats pressen. Dieser sowohl als Verflechtung als auch als Bruch mit der klassischen Moderne skizzierte Transformationsprozess manifestiere sich gerade auch anhand des Phänomens der Kontingenz. Während nämlich die Erste Moderne innerhalb der von ihr gesetzten Kategorien und analytische Vorentscheidungen Kontingenz am Ende doch marginalisierte, gehe die Zweite Moderne von einer Expansion „der Kontingenz des Sowohl-Als-Auch“ (ebd.: 48) aus. Gerade weil es innerhalb der Moderne selbst zu einer Kombination von Segmenten klassischer und Zweiter Moderne komme, die sich in der „Metapher des ‚Sowohl-als-Auch‘“ (Beck et al. 2004: 50) fassen ließe, öffnet sich insgeheim das Tor zur Kontingenz. Und so zeigt sich: Die eigentliche und irreversible Krise der Systeme innerhalb der Zweiten Moderne ist deswegen erreicht, weil die Handlungsrahmen und Zielvorstellungen, die ihren Bestand sicherten, infrage gestellt werden. Die Effektivität und die grundlegenden Wertprämissen, die die Legitimität der Institutionen der Moderne stabilisierten, zerfasern. Die klassische, industriegesellschaftliche „Hochmoderne‘, so argumentiert die Theorie reflexiver Modernisierung, „zog trennscharfe Grenzen zwischen Kategorien von Menschen, Dingen und Tätigkeiten und traf Unterscheidungen zwischen Handlungssphären und Lebensformen, 111

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die eine eindeutige institutionelle Zuschreibung von Zuständigkeit, Kompetenz und Verantwortung ermöglichten. Diese Logik der Trennschärfe und Eindeutigkeit stößt in der Gegenwart zunehmend an ihre Grenzen“ (Beck et al. 2004: 15f.). Die Hypothese der Theorie reflexiver Modernisierung lautet daher, dass die gesellschaftlichen Sachverhalte nicht mehr getrennt, sondern additiv begriffen werden müssen. Beck et al. (2004: 33) schreiben: Das Prinzip „exklusiver Unterscheidungen“ scheint in vielen Fällen „nicht mehr zu greifen und einem Prinzip inklusiven Unterscheidens“, das heiße „pluraler, ambivalenter Zuordnungsregeln, Platz zu machen“ (ebd.: 33). Mehr noch: „Die eine privilegierte westliche oder postkoloniale Perspektive existiert nicht mehr; statt dessen koexistieren viele verschiedenen Perspektiven […].“ (Ebd.: 18) Woran lässt sich diese Zunahme der Kontingenz nun festmachen?

3.6.2 Einige empirische Befunde in der Theorie reflexiver Modernisierung Beck zufolge lässt sich die Genese der Zweiten Moderne nicht als ein von gesellschaftlichen Akteuren bewusst gesteuerter Wandlungsprozess verstehen. Sie ist weit eher das Resultat nicht intendierter Nebenfolgen: „Reflexive Modernisierung soll heißen: eine Veränderung der Industriegesellschaft, die sich im Zuge normaler, verselbständigter Modernisierungen ungeplant und schleichend vollzieht […].“ (Beck 1993: 67) Beck macht diese neuen Risiken an Themen wie der ökologischen Krise, Ungewissheiten in der Wissenschaft, Individualisierung, Globalisierung, Politisierung der Gesellschaft, Ende der Arbeitsgesellschaft etc. fest. Ich spreche der Kürze halber nur einige Themengebiete an.

3.6.2.1 Wissenschaft und Risiko Die Naturwissenschaften z.B. erweisen sich zunehmend als Risikoverursacher und nicht mehr nur als Garant für den Erfolg der Moderne. Wissenschaft sei „bereits mit ihren eigenen Produkten, Mängeln, Folgeproblemen konfrontiert“ (Beck 1986: 254). Auf dem Gebiet der Gen- und Kerntechnologie wird die Gesellschaft selbst zum Experimentierfeld. Mit den Großexperimenten werden die Lokalitäten des Labors ausgeweitet und Grenzen aufgelöst, die bisher die Form und Durchführung wissenschaftlicher Forschung von der Gesellschaft separierten. Der sakrosankte Status naturwissenschaftlichen Wissens löst sich auf. So resultieren neue Risiken aus dem Wachstum des Wissens selbst. Wissen erbringt häufig nun nicht mehr ein höheres Maß an Sicherheit, sondern

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PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

führt zu einer sukzessiven Zunahme an kognitiver und normativer Ungewissheit (vgl. Beck 1996b; Holzinger/May 2003). Das führt zu neuer Verunsicherung. Insbesondere in der anwendungsbezogenen Wissenschaft (Gentechnik, Humangenetik) müssen die Akteure – sowohl professionelle Wissenschaftler als auch Klienten – in der Gegenwart Entscheidungen über Risiken und Nebenwirkungen treffen, deren zukünftiges Risikopotenzial nicht gesichert ist und über das – noch bei aufwendigsten Folgeabwägungen – keine sicheren Prognosen zu erwarten sind. Die Zweite Moderne steht also, mit Walther Ch. Zimmerli (1998: 287) gesprochen, vor dem „Dilemma der Technikfolgenabschätzung“, das man folgendermaßen skizzieren könnte: „[…] zu wissen, daß Technikfolgenabschätzung unabdingbar nötig ist, und aus denselben Gründen zu wissen, daß sie als vollständiges Vorherwissen der Zukunft unmöglich ist.“ Beck sieht sich in seiner Analyse hier sicherlich einig mit anderen Autoren, die die Ambivalenz des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses konstatieren. Auf der einen Seite scheint der Mensch in einer „Leonardo-Welt“ (Mittelstraß 1992) sämtliche natürliche Ressourcen in den Kontrollbereich der Zivilisation zu ziehen. Auf der anderen Seite entgleitet die Natur dem Menschen immer wieder. Dies bestätigt die drohende Klimakatastrophe, die eintreten könnte, wenn die Weltgemeinschaft keinen nachhaltigen Energiepfad einschlägt. Und eben dies manifestiert die Welt der dynamischen Systeme mit kurzen, manchmal auch längeren „Totzeiten“ (Totzeit ist die Zeit, in der eine Wirkung unsichtbar, also gewissermaßen im Tunnel bleibt) (vgl. Dörner 1996: 489).

3.6.2.2 Individualisierung Ähnliches konstatiert Beck über das Phänomen der Individualisierung: Schon in der Ersten Moderne war Individualisierung ein Standardphänomen. Die industrielle Moderne basierte jedoch auf verbindlichen Sozialformen und war im Wesentlichen eine in Klassen und Schichten gegliederte, von ständischen Traditionen und Bindungen überlagerte Sozialstruktur. In der reflexiven Modernisierung radikalisiere sich jedoch das Phänomen, weil die Strukturen der Ersten Moderne selbst brüchig würden. Historisch neu – auf der Individualebene – ist in der Tat die „Massenhaftigkeit der ‚Freisetzung‘“ (Hitzler 1997: 56). Freilich kommt jener eben beschriebene Freisetzungsprozess der Individuen erst unter den sozialstaatlichen Rahmenbedingungen der entwickelten industriellen Arbeitsgesellschaft zu seiner vollen Wirkung. Erst die beispiellose Erhöhung des materiellen Lebensstandards (der zugleich die Notwendigkeit der 113

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

Solidargemeinschaft aus der existenziellen Not heraus abgebaut hat), die wirtschaftliche Prosperität und wohlfahrtsstaatliche Sicherungsleistungen, die massive Bildungsexpansion, die Mobilitätsprozesse und vor allem die Arbeitsmarktdynamik sind die sozialgeschichtlich einschneidenden Ereignisse, die mit einer ständigen Vermehrung individueller Handlungsmöglichkeiten und hoher Individualisierungschancen verbunden sind. Erst diese historisch-sozioökonomischen Verschiebungen im Niveau des gesellschaftlichen Lebensstandards haben einen „sozialen und kulturellen Erosionsprozeß“ (Beck 1983: 42) in Gang gesetzt, der die „existentiell subkulturelle Wirklichkeits- und Erfahrungsbasis von Klasse“ (Beck 1983: 53) in den Hintergrund drängt und in eine Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen mündet. Individualisierung läuft in diesem Sinne in ihrer Spätphase (der „Arbeitsmarkt-Individualisierung“) „auf die Aufhebung der lebensweltlichen Grundlagen eines Denkens in traditionellen Kategorien von Großgruppengesellschaften hinaus – also sozialen Klassen, Ständen oder Schichten“ (Beck 1986: 117). Individualisierung meint zunächst einmal gar nicht so etwas wie Autonomie, Emanzipation oder eine „unbegrenzt im quasi freien Raum jonglierende […] Handlungslogik“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 12). Wer dies annimmt, wird nicht der Komplexität moderner Individualisierungsprozesse gerecht. Individualisierungsprozesse sind am Anfang weniger Produkte individueller Handlungskompetenzen als vielmehr soziale Tatsachen. Im Gegenteil: Das Individuum tauscht für die traditionalen Bindungen und Versorgungsbezüge „die Zwänge des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein“ (Beck 1986: 211). Die freigesetzten Individuen werden zugleich in neu entstehende institutionelle Muster und „Programme“ integriert, die eine allgemeine Struktur der Lebenszeit vorgeben und gestaltbar machen (vgl. Kohli 1994). Wohl nicht von ungefähr schließt sich unmittelbar an den Verfall traditionaler Wertvorstellungen und Handlungsorientierungen ein Prozess der zunehmenden Wucherung von Gebilden überindividueller Art (formale Organisationen, Betriebe, Behörden, Institutionen) an. Das entscheidende Kennzeichen von Individualisierungsprozessen der neuen Prägung ist vielmehr, dass das Individuum von nun ab lernen muss, sich selbst „als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebensverlauf“ (Beck 1986: 59) zu begreifen. Die Rede von gesteigerten Handlungsmöglichkeiten zielt nicht auf einen einseitigen Prozess der Expansion von Freiheitsräumen. Individualisierungsprozesse sind weit eher Prozesse, in denen das Phänomen des Selbermachenmüssens in den Vordergrund rückt, was den komplementären Pro114

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zess des „Selbstverantwortlichseinmüssens“ (Peter Gross) mit einschließt. Biografische Selbststeuerung soll hier „als komplexe Handlungskompetenz des Individuums verstanden“ werden, „sich selbst durch das eigene Leben zu bewegen und die verschiedenen Lebensbereiche durch eine eigene Strukturierungsleistung zu vermitteln und aufeinander zu beziehen. Sie setzt zunächst die Fähigkeit voraus, das Leben als eigenständige Biographie (als ‚Projekt‘) zu entwerfen“ (Geissler/ Oechsle 1994: 141). Die neue Individualisierungstheorie darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Individualisierung zu den Basisprinzipien der modernen Gesellschaft gehört. In der reflexiven Modernisierung radikalisiert sich jedoch das Phänomen, weil die Strukturen der Ersten Moderne selbst brüchig werden. „Das historisch Neue besteht darin, daß das, was früher wenigen zugemutet wurde – ein eigenes Leben zu führen –, nun mehr und mehr Menschen, im Grenzfall allen abverlangt wird.“ (Beck/BeckGernsheim 1994: 21) Man könnte sagen: In gewisser Weise wird jede Verallgemeinerung – selbst noch des theoretischen Konstrukts Individualisierung – durch das Phänomen Kontingenz infrage gestellt: „Jede Verallgemeinerung, die die individualisierte Gesellschaft nur unter dem einen oder anderen Vorzeichen – Autonomie oder Anomie – begreifen will, verkürzt und verstellt die Fragen, die hier aufbrechen.“ (Beck/ Beck-Gernsheim 1994: 19) Das ist eben genau der Unterschied zu Individualisierungsprozessen, wie sie in der Ersten Moderne stattfinden. Dort hieß Individualisierung Vereinheitlichung und Standardisierung der Existenzformen. Heute kann Individualisierung alles betreffen. „Kennzeichnend sind Mischformen, Widersprüche, Ambivalenzen (abhängig von politischen, wirtschaftlichen, familialen Bedingungen.“ (Beck/BeckGernsheim 1994: 19)

3.6.2.3 Postfamiliale Familie „Mit fortschreitender Modernisierung vermehren sich auch in der Familie die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwänge“, sagt Beck (1990: 351). Das System Familie wird kontingent. Individualisierung verändert die Familienstruktur. Für die Industriemoderne ist die Familie die Keimzelle der primären Sozialisation, eine, wie Gehlen (1986: 198) sagte, „symbiotische Sozialform“. Sie steht Thomas Nipperdey (1998, Bd. 1: 43) zufolge, „unbestritten in höchster Geltung. Sie ist die Keimzelle des Staates wie der Gesellschaft, ist Kernbestand und Ursprung aller Moral, die ja jenseits der natürlichen Egoismen anhebt, ja die Familie ist religiös geweiht, sakrosankt, ist ein ‚heiliges Naturverhältnis‘“. Im Grunde rangiert die Familie vor dem Individuum. Singles sind nicht erwünscht 115

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und sozial nicht wirklich anerkannt. Die innere Struktur der Familie ist patriarchalisch und vollzieht sich nach der bekannten geschlechterspezifischen Arbeitsaufteilung: Der Mann arbeitet, die Frau ist „Haushaltsmanager“ (ebd.: 48). Die Frau ist für den Mann und die Kinder da. Eine Karikatur der Rollenverteilung: „Wilhelm Busch: ‚Er liest in der Kölnischen Zeitung und teilt ihr das Nötige mit.‘“ (ebd.: 49) Wie Elisabeth Beck-Gernsheim (1994) zeigt, sind wir aber längst auf dem Weg in die „postfamiliale Familie“. In vorindustriellen Gesellschaften z.B. gab es zwischen Ehepartnern ein relatives breites Arrangement an Gemeinsamkeiten und an selbstverständlichen Erfahrungen und Werthaltungen. Heute ist die Lebenssituation der Menschen viel stärker durchmischt. „Kennzeichen der modernen Partnerwahl ist, daß zwei Fremde einander begegnen.“ (Beck-Gernsheim 1994: 126) Auf der einen Seite transformiert sich das Normalitätsbild der Familie dahin gehend, dass die bestehenden Rollenverständnisse, Lebensentwürfe der Geschlechter und die häusliche Arbeitsteilung neu ausgehandelt werden. Heute sind nicht nur viele Männer außerhäuslich berufstätig, immer mehr Frauen sind es auch. Der Alltag und die gemeinsame Zeit müssen immer mehr kalkuliert werden. Auf der anderen Seite kommt es generell zu einem Funktionswandel der Familie, den Manuel Castells (2003, Bd. 2: 151ff.) als „Krise der patriarchalischen Familie“ bezeichnet. Er macht diese beispielsweise an der Auflösung der Haushalte, verheirateter Paare durch Scheidung oder Trennung deutlich. Nach Schätzungen wird in der Bundesrepublik fast jede dritte Ehe geschieden, in den USA jede zweite. Zwar ist nach wie vor die Unterstützungsleistung der Kernfamilie hoch, neben sie treten aber andere Formen wie beispielsweise Einelternfamilien. Lebenslange Partnerschaften verlieren als verbindliches Schema an Bedeutung und machen nicht ehelichen Lebensgemeinschaften Platz. Seit April 1996 hat sich deren Zahl um rund ein Drittel (35 Prozent) auf 2,5 Mio. Lebensgemeinschaften im Jahr 2005 erhöht (Statistisches Bundesamt 2006: 7). Ein kaum rückgängig zu machender Trend dürfte die verstärkte Berufsorientierung von Frauen sein. Scheidungen und Wiederverheiratungen werden immer alltäglicher. Angesichts der Tatsache, dass die Institutionen Familie und Ehe für die Lebensgestaltung tendenziell an Bedeutung verlieren und eine Orientierung an der Semantik der Individualität Platz macht, gerät die Normalfamilie als „Stabilitätsrest“ (Schelsky 1980) der modernen Gesellschaft unter Druck. Als Folge dieser Entwicklung kann zunehmend weniger auf das Monopol der Familien als sozialstaatliches Korrektivmoment rekurriert werden.

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PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

Zum traditionellen Familienbild treten somit verschiedene Formen unvollständiger Familien, z.B. unverheiratet zusammenlebende Paare. Es kommt zu einem Pluralismus von Haushalten. Dadurch destabilisiert sich das klassische Muster der Kernfamilie. Die Familie, so BeckGernsheim (1994: 134), werde immer mehr „zur Wahlgemeinschaft, zum Verbund von Einzelpersonen, die ihre je eigenen Interessen, Erfahrungen, Lebenspläne einbringen […]“. Auch wenn die Familie kein Auslaufmodell ist, so lässt sich historisch zeigen, dass zur Gegenwart hin – wie die Kontingenzthese ja annimmt – „der Spielraum möglicher Formen des familialen Zusammenlebens weiter geworden“ ist, wie Michael Mitterauer (41988: 150) formuliert. Die Konzeption der Unbestimmtheit scheint also konstitutiv für die Gesellschaftsanalyse der Bundesrepublik Deutschlands zu sein. Das Signum der Zeit ist die Pluralisierung der Werte und der sozialen Stellungen der Bürger. Viele setzen weiterhin auf das traditionelle Familienmodell. Andere finden, dass das Alleinleben die aufregendste Lebensform ist, die man sich vorstellen kann. Man mag die traditionale Heirat als das einzig Richtige empfinden, aber ebenso gut kann man von einer Heirat absehen und am lebenslangen Partnerschaftsmodell festhalten. Man kann entschiedener Gegner der Mobilität sein, weil man die alten regionalen soziale Netzwerke nicht austrocknen lassen möchte. Man kann aber auch ein mobiler Manager sein, der jeden Tag in der Welt unterwegs ist – im Vertrauen darauf, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien es möglich machen, soziale Beziehungen anders als früher zu pflegen. Denn gerade die durch Computer vermittelte Kommunikation bringt eine Anzahl neuer virtueller Gemeinschaften hervor.

3.6.2.4 Flexible Erwerbsbiografien. Kontingenzzunahme der Erwerbsarbeit Auch die fordistisch-tayloristische Normalarbeit ist gemäß der Theorie reflexiver Modernisierung im Umbruch begriffen und verursacht Verunsicherung, weil die Veränderungen die Lebenslagen und Lebensläufe vieler Menschen betreffen. Das Aufbrechen der starren Fixierung auf die Erwerbsarbeit in der Moderne wird zudem befördert durch die Entwicklung neuer Kombinationen von formellen und informellen Aktivitäten. Die Kontingenz der Arbeit zeigt sich mithin in dem paradoxen Parallelismus von alten Formen der Erwerbsarbeit und neuen flexibleren Mustern, die nicht mehr in die alten Schablonen passen (vgl. Kratzer et al. 2004: 348ff.).

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Zum Verständnis dieses Befunds muss man Becks (1997: 105ff.) Diagnose des „Kapitalismus ohne Arbeit“ und das Ende der „Arbeitnehmergesellschaft“ mit seinen negativen Konsequenzen im Auge behalten. Kernpunkt ist, dass viele Betroffene keine wirkliche Chance haben, in die Arbeitsbevölkerung überzuwechseln. Der Erwerbsarbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Wahr ist wohl, dass sich durch den „Fahrstuhleffekt“ (Beck 1986) in den letzten dreißig Jahren das Sozialprodukt der Bundesrepublik etwa verdoppelt hat. Der Kapitalismus ist wiedererstarkt und die Kapitalgewinne sind im Steigen begriffen. Doch die Neuordnung des Kapitalismus ging Hand in Hand mit einer wachsenden Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. In gewisser Weise fährt der Fahrstuhl wieder nach unten und wir sind die „Generation des Weniger“ (Der Spiegel, 31/2006: 50). Der Kapitalismus floriert zwar, aber die Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten stagnieren heute oder rutschen zum Teil wieder nach unten. In manchen westlichen Staaten wird die Demarkationslinie zwischen Arbeits- und Armenbevölkerung immer deutlicher gezogen. Man nehme das Beispiel Deutschland. Wie Klaus Dörre (2005) in Anlehnung an Robert Castell feststellt, spalten sich die globalen Arbeitsgesellschaften in mehrere Zonen. Neben der ,,Zone der Integration“ mit geschützter Normarbeit, in welcher zumindest in der Bundesrepublik die Mehrzahl der Beschäftigungsverhältnisse noch angesiedelt ist, gäbe es gesellschaftliche ,,Zonen der Entkopplung“. Hiermit sind Menschen gemeint, die dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. Dazwischen wächst eine ,,Zone der Prekarität“, die eine Schar heterogener Beschäftigungsverhältnisse darstellt. Dazu zählen Zeit- und Leiharbeit, abhängige Selbstständigkeit, befristete Beschäftigung etc. Die Expansion prekärer Beschäftigung führt zu einer „Rückkehr der Unsicherheit“. Insbesondere jungen Leuten, auch Akademikern, fällt es immer schwerer, einen Job zu finden. Dieser Prozess der Umdefinition von Normalarbeit in prekäre Beschäftigung hat zur Folge, dass wachsende Teile der Bevölkerung vom Wohlstand abgeschnitten und in gesellschaftliche Randzonen abgedrängt werden. In vielen westlichen Industrieländern hat sich der Trend zu einer immer egalitäreren Einkommensverteilung seit den 1980er-Jahren auffallend ins Gegenteil gekehrt. Viele meinen sogar, dass die Grenzen zwischen verschiedenen Klassenlagen wieder deutlich sichtbarer geworden sind (z.B. Nolte 2006: 94ff.). In relevanten gesellschaftlichen Segmenten scheint abhängige Erwerbsarbeit ihren zentralen Stellenwert als Integrationsmedium der Gesellschaft preiszugeben. Das Problem und auch das eigentlich Neue an den eben skizzierten Phänomenen besteht, wenn ich Beck richtig verstehe, im eigentlichen 118

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Sinn jedoch darin, dass die Kontingenz der Gesellschaft, die den Individuen und auch den Institutionen immer mehr Entscheidungen abringt, nicht mehr durch traditionale Strukturen oder Ligaturen der Moderne abgefedert werden können. Sie manifestieren sich als „Zwang zu einer subjektiven Lebensführung“ (Kohli 1994: 233). Man muss vielmehr mit Beck annehmen können, dass in Risikogesellschaften die eben benannten Probleme nicht mehr durch Rekurs auf Stand, Klasse und Staat, kurzum: auf die traditionalen Sicherheiten gelöst werden können, denn diese bisher entscheidungsverschlossenen Regelungen und festen Restbestände werden im Zuge reflexiver Modernisierung selbst infrage gestellt. Sie fallen der Entropie anheim, sodass die Betroffenen nun „mit sich selbst austragen (müssen), wofür armutserfahrene, klassengeprägte Lebenszusammenhänge entlastende Gegendeutungen, Abwehr- und Unterstützungsformen bereithielten und tradierten“ (Beck 1986: 144). Die Lebensrisiken dieser aus dem sozialen Netz Exkludierten finden keine Beachtung, zumal die Exkludierten sich selbst nicht zu organisierten Kollektiven und politischen Kampfverbänden zusammenschließen. Und wo auch die Ambitionierten das Wort führen, befassen sie sich mit anderen Problemen als mit den „Verdammten der Erde“. Die Dynamik der Entwicklung treibt gleichsam in eine Klassengesellschaft ohne Klassen.5 Auch – und gerade – für Akteure, für die sich das alles ungünstig auswirkt, gilt: Das Schicksal wird häufig als gleichsam autistisches Einzelschicksal erlebt und in einer Mischung aus öder Trägheit, Stumpfsinn und Lethargie passiv hingenommen. „Arbeitslosigkeit dieser Größenordnung wird ohne politischen Aufschrei hingenommen, gleichsam wegindividualisiert.“ (Beck 1986: 149) Der „radikale Verlierer“ (Enzensberger 2005) kennzeichnet sich dadurch, dass ihm die Inklusion in Kollektive verwehrt ist. Gerade dem Freiheitsgewinn gegenüber traditional vorbestimmten Lebenszusammenhängen entspricht auf der anderen Seite, wie Greven (2000: 237) dies ausdrückt, „ein subjektiv auch als Last erfahrbarer Orientierungsbedarf und Entscheidungszwang. Der bereits erwähnten ,Kontingenzgesellschaft‘ entsprechen auf Seiten der Individuen ebenfalls kontingente Lebensweisen und ungewisse Biographien […]“. Man könnte auch sagen: Individualisierung heißt für die Betroffenen, dass sie immer zugleich in einem Feld der Optionen und der Zumutungen leben. 5

Auch Paul Nolte (2006: 101), der von einer Rückkehr der Klassengesellschaft spricht, schreibt: „Die Spannungslinien und sozialen Verwerfungen sind am Beginn des 21. Jahrhunderts so vielfältig geworden, dass man sie möglicherweise überhaupt nicht mehr auf einen Begriff wie den der ‚Klassengesellschaft‘ bringen kann […]. Die alten Kategorien passen nicht mehr […].“

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Ziehen wir ein Fazit: Ob im Bildungssystem, am Arbeitsmarkt, in der Partnerschaft, sogar bei der privaten Selektion der zahlreichen ästhetischen Stimuli des heutigen Erlebnismarktes, überall gilt das Gleiche: Wo die Bindungen an lebensweltliche Milieus verblassen, sind die Individuen geradezu dazu verdammt (vgl. Beck 1993: 152), für ihre Erfolge und ihre Risiken allein die Verantwortung zu tragen. Die Betroffenen müssen nun „mit sich selbst austragen, wofür armutserfahrene, klassengeprägte Lebenszusammenhänge entlastende Gegendeutungen, Abwehrund Unterstützungsformen bereithielten und tradierten“ (Beck 1986: 144). Für den persönlichen Aufstieg, aber auch für den persönlichen Abstieg (z.B. Massenarbeitslosigkeit) müssen sie selbst haften: „Individualisierungstäter sind zugleich Individualisierungsopfer […].“ (Beck et al. 2001: 43) Und dies liegt gerade darin begründet, dass Individualisierung die Aufwertung individuellen Handelns bei gleichzeitiger Destruktion großer solidaritätsbildender Kollektive (bis hin zu den Lebensbedingungen im Arbeitermilieu) impliziert.

3.6.2.5 Die Unschärfen innerhalb der Klassentheorie Individualisierung destruiert das traditionelle Verständnis von Klassen. Das ist eine Folgerung, die sich aus dem Theorem der „Verzeitlichung der Sozialstruktur“ (Berger 1996) ergeben hat. Die dynamische Armutsforschung hat diesen Sachverhalt am Beispiel der These von der „ZweiDrittel-Gesellschaft“ konkretisiert. Diese Theorie geht von einer (Neu-) Konstitution von Quasiklassen aus, bei der sich Starke und Schwache, Gewinner und Verlierer gegenüberstehen. Die Oberflächenparadoxie „von wachsender Armut bei wachsendem Wohlstand wird hier durch eine Projektion auf getrennte Bevölkerungsgruppen aufgelöst“ (Leisering 1995: 63). Die oberen zwei Drittel leben „zu Lasten des ausgegrenzten Drittels in relativem Wohlstand“ (ebd.: 63). Der Großteil der Betroffenen hat keine wirkliche Chance, Teil der arbeitenden Bevölkerung zu werden. Die Demarkationslinie zwischen Arbeits- und Armenbevölkerung wird immer deutlicher gezogen. Es kommt zu einer „Spaltung des Sozialstaates“. In diesem Konzept wird davon ausgegangen, dass ein relevanter Bevölkerungsteil in relativ dauerhafte und umfassende Deprivation abgesunken ist. Zwei Annahmen liegen dem zugrunde (vgl. Leisering 1995: 67): Stabilitätsannahme: Die betroffenen Individuen befinden sich in weitgehend stabilen oder längerfristigen sozialen Lagen, was die Autoren, die jene These vertreten, dazu bewog, die Klassensemantik zu benutzen. Marginalisierungsannahme: Die Betroffenen durchlaufen kumulative Abstiegsprozesse, die soziale Ausgrenzung und psychosozialen Abbau 120

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zur Folge haben. Vorerst hat die „dynamische Armutsforschung“ bezüglich der eben dargestellten These Entwarnung gegeben (Sopp 1994). Verfolgt man Armutsbiografien über einen längeren Zeitraum hinweg im sozialen Raum (und nicht bloß Querschnittsuntersuchungen von Personen, welche zum Erhebungszeitpunkt arbeitslos waren), so ergibt sich, dass die zeitliche Stabilität von Armut – im Sinne der Dauerhaftigkeit von Sozialhilfebezug – signifikant geringer ausgeprägt ist, als dies der Terminus Zwei-Drittel-Gesellschaft nahelegt. Sozialhilfeverläufe erweisen sich als sehr vielfältig und häufig von kurzer Dauer. Außerdem wird der Bezug von Sozialhilfe oft unterbrochen. Im Verlauf eines Sozialhilfebezugs kann es mehr oder weniger lange Zeiten der Unabhängigkeit von Sozialhilfe geben. Fünf von zehn Neuantragstellern bleiben nur bis zu einem Jahr in der Sozialhilfe, und zwar durchschnittlich nur vier Monate (vgl. Leibfried/Leisering 1995: 86). Nun könnte man Folgendes dagegen einwenden: Es mag ja sein, dass es selten vorkommt, dass sich Personen längere Zeit unterhalb der (durch den Sozialhilfebezug repräsentierten) Armutsgrenze aufhalten. Aber damit ist noch wenig über die tatsächliche Armut ausgesagt, denn Armut ist ein relativer Begriff. Wenn Personen ein Stück weit oberhalb der Armutsgrenze liegen (allerdings nicht mehr im Sinne des Armutsindikators „Sozialhilfe“ erfasst werden), dann sind sie kaum weniger arm als diejenigen, die Sozialhilfe beanspruchen. Kurzum: Die durch die Sozialhilfe festgesetzte Armutsgrenze erfasst nicht die große Menge der knapp oder nicht wesentlich von der Armutsgrenze entfernten Personen. Nun wird aber gerade – etwa von Götz Rohwer (1992) – betont, dass es sich bei der beobachteten Einkommensmobilität „nicht um bloß marginale Schwankungen des Einkommens entlang der angenommenen Armutsgrenze handelt. Bei der überwiegenden Mehrheit der Haushalte, die aus der Armutszone ausscheiden, lassen sich Einkommenssteigerungen von mindestens 30, bei mehr als der Hälfte der Haushalte sogar Einkommenssteigerungen von mindestens 50 Prozent feststellen“ (Rohwer 1992: 370). Der geringen Stabilität von Armut – so zeigt die „dynamische Armutsforschung“ weiter – steht gleichzeitig eine „erstaunlich weitreichende, wenn auch meist ebenfalls kurze oder einmalige Armutsbetroffenheit der Gesamtbevölkerung gegenüber“ (Sopp 1994: 53). Im Zeitraum 1984–1991 befand sich „mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der alten Bundesländer mindestens einmal in einer Einkommenslage, in der sie als arm gelten konnten“ (Sopp 1994: 53). Um das viel zitierte Bild von Schumpeter erneut zu bemühen: Auf den Sitzen im „Armutsbus“ nehmen immer wieder andere Leute Platz. In reichen Gesellschaften scheint Einkommensarmut von einer „Grau121

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zone des Kommens und Gehens“ (Beck 1986: 147) umgeben zu sein. Es müssen biografische Übergänge im Leben der Betroffenen betrachtet werden, z.B. Übergangsphasen zwischen Ausbildung und erster Berufstätigkeit. In solchen Situationen kann die Sozialhilfe die Bewältigung vorübergehender Lebenskrisen abstützen (lebensphasengebundene Armut). Armut ist auch abhängig von den Haushaltskontexten, in denen sich der von einer Armutslage Betroffene befindet. Die Größe des Haushaltes, die Zahl der Erwerbstätigen, die Einkommen zufließen lassen, der Auszug von Kindern oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch ein weiteres Haushaltsmitglied, die Geburt eines Kindes in einer schon großen Familie, Scheidung, Trennung etc. – all dies sind Faktoren, die in einer dynamischen Armutsforschung zu berücksichtigen sind. Daraus folgt: Das Bild der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ verkürzt die Verhältnisse und suggeriert eine Rekollektivierung hochgradig pluralisierter und heterogener Lebenslaufmuster. Empirische Studien legen nahe, dass wir heute in einer „70-20-10-Gesellschaft“ leben, „in der 70% nie arm werden, 20% zeitweise und 10% länger arm sind“ (Leibfried/ Leisering 1995: 92). Zugleich unterschätzt diese These die Verbreitung des Armutsrisikos. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot kann auch Bessergestellte treffen. Armut ist heute „sozial entgrenzt“, d.h., sie betrifft nicht nur das untere Drittel der Gesellschaft. Armut ist weniger in Segmente zwischen Bevölkerungsgruppen und Personenkreisen aufgeteilt, sondern eher als strukturelle Spaltung zu denken, z.B. am Arbeits- oder Wohnungsmarkt (vgl. Leisering 1995: 74). Freilich ist mit den derzeitigen Ergebnissen der dynamischen Armutsforschung keine Aussage darüber getroffen, was in Zukunft geschehen wird. So sollte man besser sagen: Wir leben offensichtlich bisher nicht in einer Zwei-Drittel-Gesellschaft.

3.6.2.6 Nationalstaatliche und postnationalstaatliche Überlagerungen In der Ersten Moderne schafft und kontrolliert nach Beck (2004: 9) der Nationalstaat „den ‚Behälter‘ der Gesellschaft. Damit legt er zugleich die Grenze der Soziologie fest“. Vor einigen Jahren noch konnte man davon ausgehen, dass „gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber“ (Weber 51985: 528) zuzumuten war. So umschrieb Weber den Begriff der Nation. Moderne Gesellschaften waren immer auch Nationengesellschaften. Die Idee einer kollektiven Identität ist einen engen Zusammenhang mit der Nationenbindung eingegangen. Schon die frühen Texte der Modernisierungstheorie be122

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zeugen daher eine „staatszentrierte Modernisierung“ (Hein 2005: 6). Der Nationalismus ist nach Beck/Grande (2004: 27) „der typische Modus des Umgangs mit Andersartigkeit in der Ersten Moderne“. Der Nationalstaat verliert gegenwärtig nach Beck/Grande seine Souveränität und macht dem politischen Modell des Kosmopolitismus Platz. Im Unterschied zur politischen Zielrichtung des Nationalismus wird im Kosmopolitismus die „Anerkennung von Andersheit zur Maxime“ (Beck/Grande 2004: 27). Kosmopolitismus bedeutet zunächst einmal „ganz allgemein die Anerkennung von Andersartigkeit – von Differenz“ (Beck/Grande 2004: 112). Er ist insofern der repräsentative Typus der Zweiten Moderne, in der eine „Vielzahl und Vielfalt neuer Formen des transnationalen ‚Regierens jenseits des Nationalstaats‘“ (ebd.: 56) zum Tragen kommen. Nicht die Preisgabe des Nationalstaates, wohl aber die Etablierung einer globalen Ebene, die den neuen Prozessen Rechnung trägt, steht im Zentrum. Der Kosmopolit zeichnet sich dabei gerade durch diese positive Haltung zum Fremden aus. Er leugnet nicht seine national-regionale Herkunft und Identität. Aber er ist im Wesentlichen erfreut über die Mannigfaltigkeit globaler Identitäten. „Das Fremde wird nicht als bedrohlich, desintegrierend, fragmentierend, sondern als bereichernd erfahren und bewertet.“ (Beck/Grande 2004: 28) Der Kosmopolit hat die Fähigkeit, aus der Sichtweise anderer zu argumentieren und zwischen nationalen Traditionen und ethnischen Lebensstilen zu vermitteln (vgl. auch Held 2002). Insofern ersetzt der Kosmopolitismus klassische Entweder-oder-Unterscheidungen durch „inklusive Sowohl-Als-auch-Prinzipien der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten und Welten in der postkolonialen Moderne“ (Köhler 2006: 237). Institutionell setzt Beck – im Gegensatz zur Staatenwelt der Ersten Moderne – auf eine Art globalen Weltstaat. Neben der nationalstaatlichen Ebene gelte es hierbei eine „globale Kosmopolis“ (Beck 2004: 200) zu implementieren, die ergänzend zum Staatenpluralismus hinzukomme. Hier geht es in der Regel nicht um einen Ansatz, bei dem die staatlich homogene Weltrepublik quasi top-down regiert und die Einzelstaaten ihr Recht auf die Souveränität verlieren. Beck redet keiner Mega-Nationalgesellschaft das Wort. Er hat das Bild eines planetarischen, föderalen Systems von Staaten vor Augen, in denen regional-kontinentale Staatenbündnisse (z.B. Europa) „Kristallisationspunkte“ bilden (Beck 2004: 200). Beck/Grande (2004) verstehen Europa als ein neues „Empire“, das die Struktur von „Verhandlungssystemen“ besitzt und als horizontale Verflechtung nationaler Gesellschaften verstanden werden kann. Als „posthegemoniales Empire“ (Beck/Grande 2004: 85) basiert Europa auf 123

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Konsens und Freiwilligkeit. In diesem strukturellen Gebilde lässt sich von einer Kopplung nationalstaatlicher und transnationaler Strukturen sprechen, da auch in diesem übergeordneten Gebilde die Einzelstaaten wichtige Akteure bleiben. Zudem verbindet die EU multiple Modernen. Die Integration der Türkei in die EU bildete in diesem Sinne den Lackmustest des kosmopolitischen Bewusstseins, da die Türkei die Schleuse zur nicht westlichen Welt bildet. Insofern entpuppt sich das Projekt Europa als ein Laborexperiment für ein kosmopolitisches Szenario.

3.6.3 Zur Kritik der Theorie reflexiver Modernisierung Gegen die Theorie reflexiver Modernisierung wurden Einwände formuliert. Im Wesentlichen bezog sich die Kritik auf die in Becks Soziologie betriebene „Rhetorik des Epochenbruchs“ (Joas/Knöbl 2004: 652).

3.6.3.1 Epochenbruch und empirische Basis (1) Steigerung von Ungewissheit? Insbesondere der bereits in der Einleitung zitierte Richard Münch (2002) hat in einem ausführlichen Aufsatz Becks Thesen zu widerlegen versucht. Die Risiken, so Münch, waren in früheren Zeiten möglicherweise größer als heute, sodass man sogar von einer „Risikominderung“ (ebd.: 430) sprechen könnte. Das Leben ist heute durch verbesserte Sicherheitsstandards nicht unsicherer geworden. Reflexive Phasen, die sich auf die Naturgesellschaftsdichotomie bezogen, hat es in der Moderne bereits häufig gegeben. Die Menschheit, so Joachim Radkau (2000: 274), sei auch in die Industrialisierung nicht arglos hineingetappt und hat die anthropogenen Veränderungen an der Natur reflektiert. Ebenso ist der Modernisierungstheorie das Thema „Ungewissheit“ ein Begriff (vgl. Toulmin 1994). (2) Historische Relativität des Normalarbeitsverhältnisses: Becks These ist, dass sich das Normalarbeitsverhältnis der Industriegesellschaft auflöst. Jedoch: Die Wirtschaft hat einerseits auch in früheren Phasen Umbrüche erlebt, die innerhalb der Institutionen zu Veränderungen und Reflexionen geführt haben. Der Umbruch von der traditionalen Agrargesellschaft zur modernen Industriegesellschaft war von großen Umwälzungen begleitet (Münch 2002: 426). Auch die Geschichte der Arbeitswelt und der Partnerschaften hat innerhalb der Industriegesellschaft immer wieder neue Wandlungen mit sich gebracht (ebd.: 427). Ein kurzer Blick in die Historie des Kapitalismus zeigt zudem, dass kontinuierliche Zeitabschnitte der Massenarbeitslosigkeit weit zahlreicher waren als das Gegenteil. Die Stabilitätsannahme des „Normalarbeitsverhältnisses“, die zum festen Bestandteil des „kurzen Traumes immerwährender Prosperi124

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tät“ (Lutz 1984) gehört, erweist sich als Fiktion, weil aus einer historischen Betrachtung heraus immer schon davon abweichende Arbeitskonstellationen existierten. In diesem Theoriekontext entsteht die „Verständnislosigkeit für die Gegenwart“ fatalerweise, wie Marc Bloch einmal sagte, „aus Unkenntnis der Vergangenheit“. Zum anderen sind manche Staaten, wie die USA oder die Niederlande effiziente Wege bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gegangen. Auch gilt für Deutschland, was die Chronologie und den Verlauf des Lebenslaufs betrifft, dass „die Veränderungen in der Kernphase der Erwerbsarbeit noch eher bescheiden sind. Von einer Pluralisierung der Verlaufsmuster ist bisher kaum etwas zu sehen, zumindest auf der Ebene der Gesamtbevölkerung“ (Kohli 1994: 231). (3) Individualisierung – nur in bestimmten Milieus? Auch Individualisierung ist ein altbekanntes Phänomen, wie uns die Klassikerexegese beweist. Becks Begriff ist zudem mit Vieldeutungen belastet und schwankt von der Bedeutung Freisetzung bis hin zu Atomisierung. Umgekehrt stellt sich die Frage, ob sich, wie Beck suggeriert, wirklich alle Milieus aufgelöst haben. Kritiker der Individualisierungsthese gehen davon aus, dass Individualisierung vorerst nicht eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung kennzeichnet, sondern nur in bestimmten Milieus oder nur in bestimmten Bereichen und Regionen (vgl. Burkart 1993: 190; Bertram/Dannenbeck 1990) vorherrschend ist. Manche Autoren sprechen von gegenläufigen Tendenzen oder gehen gar davon aus, dass von einer Entkopplung von Klassen- und Verhaltensstrukturen nicht gesprochen werden oder diese empirisch nicht nachgewiesen werden könne (vgl. Rössel 2005: 81). Es stelle sich die Frage, ob Becks Theorem nicht eher (lediglich) eine „genaue Beschreibung bestimmter Entwicklungen in den großen, fortgeschrittenen und urbanen Dienstleistungszentren der Bundesrepublik und möglicherweise auch jener strukturell vergleichbaren Zentren außerhalb der Bundesrepublik wie etwa in Norditalien und Teilen Frankreichs“ (Bertram/Dannenbeck 1990: 228) darstelle. (4) Normalfamilie als Auslaufmodell? Ferner trete die sogenannte „Normalfamilie“ in der Geschichte in verschiedenen Formaten auf und müsse auf differenziertere Weise diskutiert werden. Den neuen Entfaltungsmöglichkeiten stünden neue Versuche gegenüber, Bindungen zu stärken (vgl. Meyer 2002: 211). Folge man Ergebnissen der Familienforschung, müsse man bei allen gesellschaftlichen Veränderungen davon ausgehen, dass „die Familie wie kein anderer Ort langfristige emotionale Geborgenheit, Bindung und Zusammengehörigkeit garantiert“ (Meyer 2002: 215). Es könne nicht davon gesprochen werden, „dass die Familie auf dem Weg ist, ihre Kernfunktion aufzugeben“ (Meyer 2002: 217). 125

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(5) Kosmopolitismus als empirisches oder normatives politisches Modell der Gegenwart? Mit der Globalisierung wird der Nationalstaat, „das bisher größtmögliche politische Wohnverhältnis“ (Sloterdijk 1999: 997) in der Tat zur Entscheidung gestellt, wie Beck urteilt. Aber bedeutet dies, dass nun alle die kosmopolitische Lösung Becks präferieren würden? Empirisch trifft dies wohl nicht zu. Denn gleichzeitig haben nach dem Fall des Kommunismus Ukrainer oder Weißrussen eigene Staaten gegründet und die Renaissance der Nation steht bereits wieder auf der Tagesordnung. Wie eine gewaltige Lokomotive rollt China auf den Weltmarkt zu. Der neuerliche Aufstieg Chinas ist sicherlich u.a. dadurch zu erklären, dass der nationalen Souveränität hohe Priorität beigemessen wird. Die marxistisch-leninistische Partei, die auf der einen Seite die Stärken des Kapitalismus nutzt, gibt die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft nicht an das freie Spiel der ökonomischen Kräfte ab. Auch der europäische Wohlfahrtsstaat ist heute noch, trotz der vielgescholtenen Krise, die wichtigste Institution, die Leistungen als Hilfe gegen Not und Armut zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Lebens an seine Klienten transferiert. Die Globalisierung transformiert den Staat, schafft ihn aber deswegen nicht ab (Genschel/Uhl 2006: 115). An anderer Stelle ist gar zu lesen, der Nationalstaat sei „nach wie vor die Form, die sich ein Gebiet gibt, um an Politik teilzunehmen“ (Pohlmann 2006: 179). Das machtrealistische Paradigma innerhalb der Theorie internationaler Beziehungen glaubte ohnehin noch niemals an den Kosmopolitismus (Menzel 2001). Gemäß diesem Ansatz folgen die Staaten auch auf internationalem Terrain nationalen Interessen. Die Antizipation des weltkulturellen Zustands sitze einem suggestiven Kategorienfehler auf. Kaum ein anderer Staatsdenker hat dieses Paradigma radikaler auf den Punkt gebracht als Carl Schmitt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, hatte Schmitt (61996: 55) gewähnt und sprach sich damit auch gegen die Illusion eines Weltbürgerrechtes aus. Schmitt ging dementsprechend auch von keiner Weltgesellschaft, sondern von einem Pluralismus von Staaten aus. „Es gibt deshalb auf der Erde, solange es überhaupt einen Staat gibt, immer mehrere Staaten und kann keinen die ganze Erde und ganze Menschheit umfassenden Welt ,Staat‘ geben. Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum.“ (Schmitt 61996: 54) Wie ich schon bei der Auseinandersetzung mit der Theorie der Postmoderne vermerkte, ist der „Ethnonationalismus“ auf dem Vormarsch. Der neue Ethnonationalismus rekurriert auf ethnische Zugehörigkeit, um eine Stabilisierung der aufgelösten Identitätskerne zu erreichen. Ethnonationalismus fungiert als „emotionale Sicherheitskategorie“ 126

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

(vgl. Helmerich 2004: 20). Für die postkommunistischen Staaten hat Boris Groys (2005) die Metapher des rückwärtsfließenden Zeitstroms gewählt. Das postkommunistische Leben verläuft rückwärtsgewandt. Das kommunistische Russland war antinational – nämlich international – und antiethnisch. Es war ein postnationales Projekt. Der neue Ethnonationalismus kehrt zur vorkommunistischen, zur nationalistischen Zeit zurück. Das postkommunistische Leben kommt „nicht aus der Vergangenheit in die Zukunft, sondern aus der Zukunft in die Vergangenheit“ (Groys 2005: 48). Auch erzeugt der Druck, den die Globalisierung auf die Gesellschaften ausübt, sich den globalen und mobilen Prozessen des Weltmarktes zu fügen, weltweit Gruppen von Menschen, die sich als Globalisierungsverlierer begreifen und die sich als alles andere als Kosmopoliten erweisen. Sie sind Wechsel- oder Protestwähler. Nach dem Motto „Rettet die Ethnie“ fungiert die Ethnizität nun sogar als das entscheidende Bindemittel für die Bildung von politischen Gruppierungen (vgl. Zürn 1998: 308). Diese Gruppen von Menschen geraten häufig in die Fänge von populistischen und nationalistischen Bewegungen, die ihre soziale Misere ausnutzen. Insbesondere Michael Zürn (2001: 120) weist auf die Korrelation zwischen Nationalisierung und Regionalisierung und die größer werdende Gruppe der „Denationalisierungsverlierer“ hin. Durch Denationalisierung sei ein neuer Typus von Regionalismus verursacht worden. In der Folge zunehmender globaler Strukturen trete das Problem auf, „daß Ohnmachtsgefühle in einer komplexer werdenden Welt den Wunsch nach überschaubaren und homogenen kollektiven Identitäten und politischen Einheiten nähren“ (ebd.: 119). Das Problem bei Beck ist häufig, dass er Kontingenz zutreffend konstatiert, dann aber am Ende doch wieder asymmetrisch argumentiert. Er stellt die „Beharrungskräfte der Nationalstaaten“ (Beck/Grande 2004: 57) ebenso fest „wie die neuen Architekturen politischer Herrschaft“ (ebd.: 57). Dann aber soll der Kosmopolitismus doch wieder das Prinzip der Zweiten Moderne sein (vgl. ebd.: 29). Warum aber ist dies so, wenn es doch weiterhin ebenso die „Klebrigkeit nationaler Bindungen“ (ebd.: 57) gibt? Becks Ansatz zeigt sich hier – ähnlich wie die Theorie der Postmoderne – im Wesentlichen als kontingenzreduzierend, weil er eine normative Richtung einschlägt. Beck suggeriert, die Welt sei bereits insgesamt transnational, wohingegen seine Aussage eben nur auf bestimmte Sachverhalte und Kontexte zutrifft. Die Logik des „Unbestimmtheitsdispositivs“ (Gamm 2000: 190) sensibilisiert aber gerade auch für das Phänomen, warum am Anfang des 21. Jahrhunderts Globalisierung als kein monokausaler, homogener Prozess aufgefasst werden kann und kontextspezifisch zu erfassen ist. Beck erkennt diese Unbestimmtheit an, 127

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

bezieht aber am Ende doch wieder Position in Richtung Transnationalisierung. Schließlich einige Worte zu Becks Vorstellung von Kosmopolitismus: „Empires aren’t actually that bad“, könnte man in Anlehnung an Fergusons Empire-Apologie über Becks und Grandes kosmopolitisches Projekt formulieren.6 Die Frage ist allerdings, ob es wirklich zu jenem einheitlichen Weltstaat oder kosmopolitischen Europa kommt. Die Antwort darauf ist noch offen. Zunächst bleibt das Konzept nur normativ. Mit ihrem „Nein“ zum Verfassungsvertrag haben es am 29. Mai 2005 die Bürger Frankreichs und der Niederlande zumindest geschafft, dass sich Europa neu besinnen muss. Woran liegt das? Das Demokratiedefizit der EU ist bekannt. Die EU-Verfassung ist bürokratisch und höhlt die Selbstbestimmungsrechte der europäischen Nationen aus. Berüchtigt ist auch der bemerkenswerte Mangel an Transparenz. Viele befürchten bereits, dass nach dem Maastrichter Vertrag, der auf Integration der ökonomischen und politischen Sphären zielt, der europäische Zentralismus zu einer Herrschaft der „Eurokraten“ führt (Münch 1993: 145). Fern ist dieser riesige Apparat in Brüssel, was die Teilnahmechancen der Bürger betrifft. Sie sind zwar „Marktbürger“, aber nicht „Staatsbürger“ der Europäischen Gemeinschaft (Münch 1993: 40). Europa braucht eine aktive Beteiligung, um die Bürgerinnen und Bürger nicht zu verlieren. Die lebhafte öffentliche Diskussion um das Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden hat eines offensichtlich gemacht: Europäische Politik wird nicht nur in Brüssel gestaltet und entschieden. Ohne eine entsprechende Vermittlung erschließt sich der Bezug zwischen kommunaler, nationaler und europäischer Politik jedoch nicht von selbst. Die Frage ist zudem, ob sich im Bewusstsein der in die EU integrierten Staaten tatsächlich eine Art von „reflexiver Territorialisierung“ (Schmalz-Bruns 2002: 288) im Sinne einer Transformation des nationalen zum globalen Staat vollziehen wird. Der Begriff einer globalen Gemeinschaft ist nicht weniger anspruchsvoll als der Begriff der kulturellen Weltgesellschaft, den wir vorhin diskutierten. Auch hier muss von einer Art homogenen Geisteshaltung ausgegangen werden. Man ist, was die Harmonisierung der Konflikte betrifft, doch wieder an Hegels Denkfigur von der „Identität der Identität und der Nichtidentität“ (Hegel 1981: 87) erinnert. „Viel spricht hingegen dafür, dass die mühsame Aggregation eines gemeinsamen Willens der Weltgesellschaft aus Gründen der Komplexität nicht hinreichend präzise Einheit, sondern vielmehr Differenzen, 6

So fasst Gareth McLean (2003) eine von Fergusons Thesen zusammen.

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PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

Abweichungen und Zentrifugalkräfte erzeugt.“ Dieser theoretisch abgeleiteten Vermutung Joachim Renns (2006: 143) entspricht dann leider häufig auch die Realität. Der politische Laie interpretiert auch faktisch die Rolle des Europäischen Rates oftmals als „Schachern um nationale Egoismen“ (Gellner/Glatzmaier 2005: 14). Auch ein Politprofi wie Ralf Dahrendorf berichtet über seine eigenen Erfahrungen als EU-Kommissar Folgendes: „Es gab nur Streit. Es war kein Denken daran, dass das Europa der Sechs zu einer Art vereinigten Staaten hätte werden können. Das ist geschichtsfälschende Nostalgie.“ (Der Spiegel, 18/2006: 111) Ohne eine irgendwie geartete gemeinsame kulturelle Identität im Sinne eines Hybrids aus Mono- und Polykultur oder einer Kultur, die durch das Prinzip der Toleranz gekennzeichnet ist, wird Europa nicht funktionieren. Im Bewusstsein dieser drängenden Fragen verstehen auch Beck/Grande (2004: 161) Europa als einen noch andauernden Prozess: „Europa ist doing Europa.“ Die Türkei liefert derzeit im eigenen Land ein Beispiel auf Miniaturebene, wie schwierig kosmopolitische Bestrebungen sind. Die obersten Richter verteidigen die Republik gegen Kopftuch und radikale Islamisten. Das Kopftuch symbolisiere den Widerstand gegen die Befreiung der Politik von der Religion. Auf der anderen Seite fordert ein selbstbewusster Islam die Freiheit der Meinung, die der Staat nicht gewähren will. Darüber hinaus erachtet die staatliche Religionsbehörde das Kopftuch als religiöse Pflicht. Die Türkei ist in sich selbst zerrissen und die Kulturkämpfe – die politischen auf der einen, die religiösen auf der anderen Seite – zerklüften das Land. Wird es je zu einer Integration der kulturellen Differenzen kommen? Die Situation des Menschen in unserer Zeit scheint in der Regel nicht dadurch charakterisiert, dass sie in einer harmonischen Konstellation aufginge. Es ist vielmehr die Diagnose eines disparaten Universums von Werten, mit der wir rechnen müssen.7

7

Im Übrigen bedeutet das eben ausgebreitete Argument nicht, dass der Kosmopolitismus auf normativer Basis nicht seine Geltung haben sollte. Normative und empirische Ebenen sind aber zwei verschiedene Sphären. Gerade die Dechiffrierung der Gegenwart als Konflikt zwischen heterogenen Diskursgenres zieht möglicherweise die regulative Idee der Konfliktbewältigung, wie sie der Kosmopolitismus zum Ziel hat, unmittelbar als Konsequenz nach sich. Für die empirische Beobachtung, dass die Nationalstaaten ihre Souveränität nicht aufgeben wollen, gibt es genügend Beispiele. Aber das bedeutet nicht, wie Habermas (2004b: 124) sagt, „von der Idee selbst abzulassen“. In einer Zeit der Konflikte ist auch „die Forderung nach Toleranz eine Parteinahme für eine möglichst unparteiliche Konfliktregelung“ (Forst 2003: 588). Respekt und Toleranz in Bezug auf den anderen werden zu unserem Schicksal, an das wir alle gemeinsam gefesselt sind.

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

3.6.3.2 Der Begriff der Moderne Zusammenfassend lässt sich somit sagen: Es gibt keine einfache Modernisierung. Alle Phasen der Modernisierung waren reflexiv und haben auch die Kontingenz der Welt reflektiert. Die Unterscheidungen wirkten bei Beck vielfach so, als würden sie aus „einer konstruierten zweiten retrospektiv in die erste Moderne und ihre Theorien hinein projiziert“ (Dörre 2002: 24). Die moderne Gesellschaft häutet sich unentwegt und streift die alte Haut ab. „Modernisierung heißt institutionelle Innovation, d.h. die Ersetzung alter Regelungen des gesellschaftlichen Zusammenhandelns durch neue Regeln.“ (Münch 2002: 439) Will man seine theoretischen Überlegungen auf das Fundament der Fähigkeit der Moderne zur Reflexivität und Kontingenzbewusstsein aufbauen, wären wir nicht erst in der Zweiten Moderne angekommen, sondern seien, wie Münch (1998: 11) deklariert, auf dem „Weg in die Dritte Moderne“. Gibt es nun wirklich nichts Neues unter der Sonne? Einige meinen, dass wir heute überhaupt nach anderen Modernen suchen, liegt in dem bekannten, von Hegel in der „Eulenmetapher“ beschriebenen Phänomen begründet, dass wir mit unseren Beschreibungen immer zu spät kommen. Die Soziologie beginnt erst in der Dämmerung ihren Flug. HansUlrich Gumbrecht gibt zu bedenken, dass die zeitgenössische Gesellschaft „sich selbst nicht als eine Epoche verstehen kann“ (Gumbrecht 1991: 369). Deswegen hängt sie mit ihren Selbstbeschreibungen der Realität hinterher. Eine solche Argumentation findet sich auch bei Luhmann. Für Luhmann wird mit dem Terminus „Kontingenz“ keine Postmoderne oder andere Moderne eingeläutet. Die Moderne komme vielmehr erst jetzt zu sich selbst. Von einer „Epochenzäsur“ könne keine Rede sein (Luhmann 1997: 1143). „Was abgeschlossen ist, scheint eher eine Übergangssemantik zu sein, die die alte Welt der Adelsgesellschaften hinter sich lassen mußte, aber die moderne Gesellschaft noch nicht beobachten und beschreiben konnte […].“ (Luhmann 1990: 233) Paul Michael Lützeler (1998) stellt jedoch genau das Gegenteil fest: Der Modernebegriff umfasse inzwischen alles und jedes, sodass man eine kluge Entscheidung fällen würde, wenn man sich zur Beschreibung gegenwärtiger Entwicklungen und Tendenzen eines neuen Periodisierungsbegriffs bedienen würde. Sicherlich müsste die Frage präziser beantwortet werden, inwiefern sich die „Zweite“ Moderne, die Beck auch als „Zeitalter der Nebenfolgen“ bezeichnet, von anderen Phasen der Moderne unterscheidet, wenn doch auch hier schon reflexive Momente vorhanden waren und beispielsweise sensibel auf anthropogene Naturkatastrophen reagiert wurde.

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PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

Es zeigt sich hier auch bei näherer Betrachtung, dass in der Literatur die Epoche der Moderne in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich bestimmt wird, was ihre zeitliche Erstreckung und ihre inhaltlichen Merkmale angeht. Auch Beck schafft hier mit dem Begriff „Zweite Moderne“ nicht immer Klarheit. So herrscht Uneinigkeit darüber, ob man „nach Altertum, Mittelalter, Neuzeit die Moderne als eine weitere, eigenständige Epoche oder nur als die bisher oder jeweils letzte Phase der Neuzeit ansetzt“ (Maurer 21991: 47). Für einige Autoren beginnt die Moderne mit der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaft und mit der damit zusammenhängenden Abkehr von der Renaissance des 17. Jahrhunderts (Toulmin 1994: 28ff.). Andere sehen ihre Anfänge mit der Aufklärung im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts (Habermas 21989). Als Modernisierung bezeichnete man in den Sozialwissenschaften häufig den seit der industriellen und Französischen Revolution beginnenden säkularen Prozess, „in dem sich die kleine Gruppe der heute modernen Staaten entwickelt hat“ (Zapf 1996: 63; Bendix 21970: 506). Für viele sind neuzeitliche Moderne (17. Jahrhundert) und die Moderne des 20. Jahrhunderts unter den einen Begriff der Moderne zu subsumieren. Allerdings wird schon hier die Entwicklung einer „Grundsatzrevision“ (Welsch 21988: 78) formuliert, die man, wie Welsch zeigt, anhand des Spannungsverhältnisses von neuzeitlicher Naturwissenschaft im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Rationalisierung einerseits und Einsteins Relativitätstheorie andererseits lokalisieren kann. Während mit der neuzeitlichen Wissenschaft die exakte Wissenschaft, die systematische Weltbeherrschung unter dem Banner der mathesis universalis, beginnt, werden in der Moderne des 20. Jahrhunderts „Pluralität und Partikularität nicht nur denkbar, sondern dominant und verbindlich“ (Welsch 21988: 77). Becks andere Moderne, die ja im Wesentlichen die Gegenwartsgesellschaft bezeichnet, müsste dementsprechend in der Tat, wie Münch meint, eine neue, mindestens Dritte Moderne einläuten.

3.6.3.3 Unbestimmtheit als Indiz für Bruchlinien Dem könnte man entgegnen, dass Beck selbst in vielen Argumenten, die er in jüngster Zeit vorgetragen hat, gar nicht, wie seine Kritiker häufig sagen, die reine Dichotomie von Moderne und Hochmoderne bemüht, sondern, wie ich oben zu zeigen versuchte, auf heterogene Mischformen in der Zweiten Moderne hinweist, die sich in diesem Zeitabschnitt mannigfaltig multiplizieren. Je weiter man sich in das Thema Modernität und Gesellschaft hineinarbeitet, desto kontingenter werden die Resulta-

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

te, die sich bereits auf die Modernisierungstheorie der früheren Jahre beziehen. Mein Vorschlag wäre deswegen, die Frage der Nummerierung der Moderne offen zu lassen. Das hätte den Vorzug, die Leitfrage der Theorie reflexiver Modernisierung in die historische Entwicklung der Gegenwartsgesellschaft zurückzubinden. Im Prinzip ist dieses Vorgehen ja auch Becks ureigenstes theoretisches Ziel. Denn seine Konzeption von reflexiver Moderne wendet sich „gegen die historische Formation der Nachkriegsmoderne, die nunmehr zur begründungsbedürftigen, rationalisierbaren Tradition wird“ (Beck et al. 2001: 31). Selbst wenn sich herausstellte, dass ein Kontingenzbewusstsein immer wieder in neuen Erscheinungsformen in der Moderne insgesamt zutage trete: Würde dies dann den diagnostischen Gehalt der Theorie reflexiver Modernisierung unsere Gegenwart betreffend schmälern? Anders gesagt: Es ist zunächst einmal egal, in welcher oder in der wievielten Moderne wir uns befinden. Daher möchte ich mir und dem Leser im weiteren Text zunächst eine weitere sophistische Debatte um die in Becks Theorieformat enthaltene These eines Epochenumbruchs ersparen. Die interessante Frage ist vielmehr, ob die Theorie reflexiver Modernisierung gegenwärtige Brüche beschreibt, in denen klar wird, dass die leitenden Ideen und institutionalisierten Kernantworten der modernen Gesellschaft ihre Selbstverständlichkeit verlieren. Meine Antwort lautet: Sie tut dies. Das Ineinander von Kontinuität und Bruch, das die Theorie der reflexiven Modernisierung konstatiert, ist der Gestaltwandel, in dem die Expansion des Kontingenzbewusstseins in unserer Gesellschaft möglicherweise ihren Ausdruck findet. Die Bruchlinien und Spalten, die sich in der Plattentektonik der Moderne ergeben, werden nun manifest und übersetzen sich gleichsam in die Semantik der Unübersichtlichkeit. Unabhängig von der Frage, ob es sich bloß um ein Übergangsphänomen handelt, öffnet sich durch die Brille der Theorie reflexiver Modernisierung zumindest ein Theoriefenster für die Frage nach der Ursache der Ambivalenz unserer Gesellschaft. Es ist nun die verstärkte Reflexion auf die Kontingenz oder, um in Becks (Beck et al. 2004: 25) Worten zu sprechen, die „gesellschaftliche Anerkennung von Pluralität und Ambivalenz“, die ganz „wesentlich für den Übergang zur Zweiten Moderne […]“ ist. Es erscheint mir Folgendes evident: Auch wenn einzelne Kritiken an Beck berechtigt sind und die beckschen Theoreme noch der Präzisierung bedürfen, besitzt die Theorie reflexiver Modernisierung ein großes Potenzial – und zwar deswegen, weil Becks Ansatz derzeit eines der wenigen Projekte hervorgebracht hat, die empirische Forschung über den 132

PERSPEKTIVEN DES AKTUELLEN KONTINGENZDISKURSES

Wandel in unserer Gegenwartsgesellschaft betreiben. „Mit Recht wendet er sich gegen einen – schon methodologisch bedingten – Konservatismus empirischer Sozialforschung, der in sozialer Vielfalt stets nur Kontinuitäten zu entdecken vermag.“ (Dörre 2002: 15) Was auch immer wir von den beiden Ansätzen (postmoderne bzw. reflexive Moderne) lernen, eines ist wohl zu konstatieren: Die Moderne ist offensichtlich nur als Paradoxon zu fassen. Sie ist einerseits die Epoche, welche die Individuen aus den traditionellen Bindungen herausgelöst und die Bürgerrechte implementiert hat, aber auch diejenige, die in ganz neuer Weise Gefahren und Risiken für die Menschen und die natürliche Umwelt in Gang gesetzt hat. Wahrscheinlich sind sich selbst jene Autoren, die sich als „postmodern“ oder „reflexiv modern“ bezeichnen zutiefst unsicher bei der Beantwortung der Frage, wann die Moderne endet und die Postmoderne beginnt. Die Beantwortung dieser Frage steht, so weit ich sehen kann, noch aus. Und es wird niemand guten Gewissens behaupten können, er habe alle für eine Beantwortung dieser Frage notwendigen Elemente zur Verfügung.

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4 Homoge nisie rung der We rte? Globale Konture n von Kontinge nz

In den letzten Jahren wird in der Soziologie, gleichsam als Nebenprodukt des Diskurses über Globalisierung, immer wieder die Frage nach der Angemessenheit der klassischen Modernisierung gestellt. Und in diesem Kontext lassen sich gegenwärtig idealtypisch zwei theoretische und methodologische Paradigmen ausmachen, die unter den Leitbegriffen der „globalen modernen Weltgesellschaft“ auf der einen und der „multiplen Modernen“ auf der anderen Seite thematisiert werden. Diese zwei Paradigmen sind im Rahmen der Globalisierungsliteratur Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion und lassen sich auch als besonders prägnante Beispiele in dieser Debatte herausgreifen. (1) Klassische Modernisierungstheorie und Weltgesellschaft: Die Grundprämissen des einen Paradigmas, das ich hier auch als „klassische Modernisierungstheorie“ bezeichne, besteht in dem faszinierenden Gedanken einer Art Diffusion oder eines Transfers von den europäischen Territorien in die Peripherie und in die Dritte Welt. Alle Gesellschaften würden langfristig die für die Moderne klassische Dichotomie von Tradition und Moderne preisgeben und die für die westliche Moderne typischen institutionellen Muster hervorbringen, die „als weltweites Repertoire“ (Stichweh 2000: 256) verfügbar seien. Im Kern nimmt die Modernisierungstheorie eine Reihe von „evolutionären Basisprozessen“ (Spohn 2006: 103) an, die die ursprünglichen Strukturen und regionale Kontexte traditioneller Gesellschaften auflösen und in Richtung einer modernen Gesellschaft hin ablösen. Zu diesen Basisprinzipien gehören im Wesentlichen die Prozesse funktionaler Differenzierung und Individualisierung, die Entwicklung von Arbeitsteilung, Marktkonkurrenz, Staatsformierung, Demokratisierung, Nationenbil-

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dung, Säkularisierung, Abstreifen der Fesseln der Tradition und Wertpluralisierung (Spohn 2006: 103; Berger 1996: 47f.; Zapf 1996). So unterschiedlich nun die Annahmen verschiedener Modernisierungstheoretiker auch sein mögen, diesen Theoriestrang eint die Vermutung, so Johannes Berger (2006: 204), „daß Modernisierung ein Prozeß ist, der in einem genau lokalisierbaren Teil der Welt zu einem benennbaren Zeitpunkt seinen Ausgang nahm und von dort aus sich unaufhaltsam über die ganze Welt verbreitet. Im Verlauf dieses Prozesses werden alle traditionalen Gesellschaften in moderne umgewandelt“. Zwar seien die verschiedenen Länder oder Regionen der Welt in unterschiedlichem Maße entwickelt, aber wenn ein Land oder eine Region dem Pfad der Modernisierung folgt, so Berger (2006: 202ff.), „strebt es (sie) mehr oder weniger dem gleichen Ziel zu.“ Und seine Prognose lautet: „Alle nichtmodernen Kulturen und Sozialstrukturen müssen letzten Endes modernen weichen. Dies ist ihr unvermeidliches Schicksal.“ (Berger 2006: 204) Es gäbe zwar Varianten der Moderne, aber keine Pluralität im Sinne von Modernen mit verschiedenen Kriterien für Modernisierung. Überall werde das „gleiche Stück“, wenn auch häufig mit unterschiedlichen Rollen, gespielt (vgl. Berger 2006: 203). Unterschiedliche Entwicklungspfade einzelner Länder würden eher „in Richtung auf ähnliche Ziele als fundamental alternative Ziele“ (Zapf 1996: 73) zielen. Es wird an dieser Stelle auch deutlich, warum der Begriff der Modernisierung im Kontext der Soziologie, wie Gumbrecht (1978: 129) einmal sagte, „seit etwa 1960 eine spezifische Verwendung zur Bezeichnung der Entwicklungsbemühungen in Ländern der Dritten Welt“ besitzt. Modernisierung bezog sich vor allem auf die, wie es Reinhard Bendix (21970: 510) ausdrückte, „Wandlungsprozesse der Nachzügler“. Dementsprechend werden nun, so das westliche Phantasma, in den weniger entwickelten Gesellschaften Prozesse „nachholender Modernisierung“ gestartet, „die mit der Zielsetzung Freiheit, Wachstum und Wohlfahrt explizit auf die Übernahme moderner Basisinstitutionen gerichtet sind“ (Zapf 1994: 7). Als Konsequenz dieses Diffusionsprozesses stellt die Sozialforschung fest, dass wir in einer Welt leben, die immer mehr zusammenwächst. Es scheint als ausgemacht, dass die Welt im 21. Jahrhundert in einer bestimmten Hinsicht als „eine“ Entität wahrgenommen wird, über die sich eine Art „Metakultur“ (Stichweh 2000: 22) spannt. Vor diesem Hintergrund versuchen der Stanforder Soziologe John Meyer und seine Mitarbeiter eine Art weltweite Diffusion westlich geprägter Kulturmuster und Institutionenformate zu beschreiben. In anderem Kontext wird von einer „Dekontextualisierungsthese“ (Stichweh 2000: 17) gesprochen, womit gemeint ist, dass sich interne 136

GLOBALE KONTUREN VON KONTINGENZ

Differenzierungen von Funktionssystemen in einer Art und Weise vollziehen, die keine territoriale Zielrichtung in sich trägt. Modernisierungstheorie – so verstanden – wäre dann laut Wolfgang Zapf (1975: 212) nichts anderes als die Arbeit an der „epochalen, langfristigen, nicht selten gewaltsamen Transformation, die in Westeuropa begonnen, dann aber die ganze Welt in ihrer Dynamik einbezogen hat“. (2) Multiple Modernen: Demgegenüber steht eine Anschauung, dass die Geltung von Werten und Aussagen über Werte gegenwärtig nicht mehr über idealisierende und ahistorische Begriffsbildungen zustande kommen können. Der Prozess der Globalisierung kann nicht einfach als Prozess weltweiter Homogenisierung betrachtet werden. Was die Weltgesellschaft betrifft, kann von einer globalen Auflösung von Tradition und Religion nicht gesprochen werden. Die spezifische Vorstellung von Modernisierung, wie sie in Europa vorherrscht, ist nicht zu generalisieren. Man würde hierbei einem Eurozentrismus aufsitzen. Wer andere Regionen in der globalen Gesellschaft nur als Residualgrößen behandelt, zeigt, dass er nach wie vor der defizitären, oben skizzierten klassischen Modernisierungssoziologie verhaftet ist, die noch immer alle Transformationsprozesse in anderen Regionen als „Verwestlichung“ gefasst hat. Oswald Spengler (1980: 24) hatte bereits abfällig darauf hingewiesen, die Westeuropäer betrachteten sich als den „Mittelpunkt alles Weltgeschehens“1. Es sei vielmehr festzustellen, dass traditionale und regionale Kontexte, die in den Strudel von Modernisierungsprozessen geraten können, eine erstaunliche Beharrlichkeit an den Tag legten. Es ist nun besonders aufschlussreich, dass aus diesen Feststellungen über den Status von Globalisierungsprozessen interessante Schlussfolgerungen hinsichtlich unseres Themas Kontingenz gezogen werden können. Wenn sich nämlich zeigt, dass moderne Institutionen über heterogene kulturelle Transformationsriemen übersetzt werden, die auch als Filter gelten, werden die ursprünglichen Basisprämissen der westlichen Moderne in je spezifischen Regionen grundlegend transformiert und unterschiedlich rezipiert. Diese inhaltlichen Variationen sind also kontext1 „Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur – Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen – eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen.“ (Spengler 1980: 24)

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spezifisch und demnach als kontingent zu behandeln. Wolfgang Knöbl (2001: 448) weist auf Folgendes hin: „[…] die Pfadabhängigkeit des historischen Geschehens ist anzuerkennen. Das bedeutet, daß alle Globalaussagen über vergangene und zukünftige Makrotrends sich immer fragen lassen müssen, ob sie der Tatsache Rechnung tragen, daß sich globale Trends an nationalen oder zivilisatorischen Grenzen brechen.“ Daraus schließt Shmuel Eisenstadt: „Mit anderen Worten, die Expansion der Moderne brachte keine uniforme und homogene Zivilisation hervor, sondern, in der Tat, multiple Modernen.“ (Eisenstadt 2006: 37) Es ist offensichtlich, dass die Annahme, dass man nicht wissen könne, wie sich die Moderne in verschiedenen Kontexten entwickeln und was sich dort zukünftig ereignen werde, auf einer höheren Abstraktionsebene etwas Grundsätzliches in den Blick bekommt. Von nun an müssen nämlich – und das ist für unseren Kontingenzdiskurs von zentraler Bedeutung –, wie Knöbl (2001: 447) formuliert, „die Kontingenzen des historischen Prozesses“ ernst genommen werden, „die allein schon durch die Komplexität des Faktorengeflechts zu erwarten sind“. An die Stelle des Konsenses über gemeinsame Werte, den die Theorie der Weltgesellschaft annimmt, trete nun der Konsens, wie dies Gertrud NummerWinkler mit Hans Georg Soeffner ausdrückt, „daß es solche gemeinsamen Normen kaum mehr gäbe“ (Nummer-Winkler 2001: 320). Das bisher geltende System von Normen löse sich auf. Es würde ersetzt werden „durch miteinander konkurrierende lokale, kulturelle, religiöse, ethische oder sonst wie limitierte Moralen“ (ebd.: 321). Die Grundstruktur der Wirklichkeit ist uns immer weniger gemeinsam, da die eine Bedeutungsschicht von nun an einer global verteilten Vervielfältigung von Perspektiven Platz macht. Das Vorgehen in diesem Abschnitt lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: (1) In einem kurzen Einschub soll zunächst das Thema Globalisierung in aller Kürze skizziert werden (Punkt 4.1). (2) Auf der Basis einer kurzen Theoriediskussion sollen die Theorie der Weltgesellschaft von Luhmann und John Meyer dargestellt werden (Punkt 4.2). (3) Danach wird die theoretische Kritik von Meyers Ansatz behandelt. Zudem möchte ich anhand von Beispielen empirisch belegen, dass von einer einheitlichen, genuin westlichen Modernisierung, die sich unaufhaltsam auf der Welt verbreitet, nicht gesprochen werden kann (Punkt 4.3). (4) Meyers Ansatz werde ich die Perspektive von Shmuel Eisenstadt gegenüberstellen, die von einer Heterogenität von Modernisierungspfaden ausgeht. In der Diskussion um „Multiple Modernities“ nimmt Ei138

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senstadt zu Recht eine herausragende Stellung ein. Im Gegensatz zu Ansätzen, deren Untersuchungsgegenstand die Entwicklung einer weltgesellschaftlichen Homogenisierung ist, legt dieser Ansatz, wie oben dargelegt, sein Augenmerk auf die Kontingenz heterogener Modernisierungspfade. Im Unterschied zur Annahme einer Universalisierung von Weltbildern wird der Horizont, unter dem sich die heterogenen Kulturen der Welt auslegen, als veränderlich pluraler gedacht (Punkt 4.4). (5) Auch Eisenstadts Ansatz werde ich ausführlich kritisch diskutieren. Damit können wir direkt auf das Kontingenztheorem von Eisenstadt Bezug nehmen. Denn aus der Sicht dieser Arbeit ist es vor allem ein Moment in seiner Argumentation, das die Kritik herausfordert: die Frage, ob seine Konzeption von Kontingenz weit genug gefasst ist (Punkt 4.5).

4.1 Das Phänomen Globalisierung Am Anfang dieses Jahrhunderts setzt sich der Eindruck durch, dass sich unsere Welt, in der wir leben, noch einmal dramatisch verändert hat. Der wichtigste Grund für diese Entwicklung ist in der Globalisierung der Kulturen und der damit einhergehenden Internationalisierung der Lebensformen zu sehen. Es ist – im Bild Aihwa Ongs (2005: 16) gesprochen – so, als würden sich die „Kontinentalplatten des gesellschaftlichen Lebens verschieben und neue instabile Formationen bilden“. Globalisierung bezeichnet die grenzüberschreitende Expansion von Strukturen und Prozessen nationaler Institutionen und Unternehmen, die sich auf ökonomische, aber ebenso technologische und politische Sachverhalte beziehen. Am abstraktesten lässt sich Globalisierung zunächst definieren als eine „Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt“ (Giddens 1995a: 85). Es bricht nun die basale Annahme zusammen, wonach Nationalstaaten und die in ihnen integrierten Kulturen und Ökonomien als territorial separierte Entitäten vorgestellt werden. Das Konzept der politischen Schicksalsgemeinschaft wird im Zuge von Globalisierungsprozessen unterwandert. Demgegenüber muss Globalisierung „as the widening, deepening and speeding up of worldwide interconnectedness in all aspects of contemporary social life, from the cultural to the criminal, the financial to the spiritual“ (Held et al. 1999: 2) verstanden werden. Es bilden sich neuartige Konfigurationen und neue Netz-

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werke, die auch neue Konfliktpotenziale zwischen Nationen und nationalen Akteuren entstehen lassen. Eine erweiterte Diagnose zeitgenössischer Globalisierungsprozesse zieht freilich noch ganz andere Phänomene in Erwägung, die im Folgenden – gleichsam im Zeitraffer – schlaglichtartig zusammengefasst werden sollen. (1) Wirtschaftliche Globalisierung: Das Kapital emanzipiert sich vom nationalen Gravitationszentrum. Stattdessen wird jede Region auf dem Erdball potenziell zu einer Relaisstation des Kapitals. Die – in letzter Instanz – global agierenden Unternehmen nehmen dabei die jeweiligen Vorteile unterschiedlicher lokaler Beschaffungsmärkte wahr (Globalsourcing). Marx/Engels (151989: 420f.) haben diese Entwicklung im „Kommunistischen Manifest“ vorweggenommen. Es lohnt sich, die Stelle ausführlich zu zitieren: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. […] Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. […] An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zur ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“

Globalisierung im ökonomischen Sinn bedeutet somit insbesondere die Ausweitung des internationalen Handels, der internationalen Investitionsaktivität und der internationalen Geldtransaktionen. Gerade heute erkennen Unternehmen die Notwendigkeit, sich über die nationalen Grenzen hinauszubewegen. (2) Politische Globalisierung: Globale politische Regierungstechniken beziehen sich auf Formen der Machtausübung und Entscheidungsverfahren jenseits staatlicher Organisationen. Die „gesellschaftliche Denationalisierung“ hat im Prozess der Globalisierung zugenommen. Unter Regieren wird nun mehr als nur staatliches Entscheiden verstanden. Die politische Machtbefugnis wird dementsprechend nicht mehr nur bei den politischen Parlamenten oder in der Staatsregierung verortet. Neben die staatliche Politik schiebt sich eine Sphäre globaler Weltordnungspolitik. Der globale Regelungsbedarf, der sich in „transnationalen Politikregimen“ (Grande 2004) kanalisiert, manifestiert sich etwa im GATT, der WTO, der ILO, der UN, der UNCTAD und schließ140

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lich der OECD (vgl. Scherer 2003: 204ff.). Die Weltgesellschaft überzieht ein dichtes Netzwerk aus internationalen Rahmenbedingungen und Rechtsvorschriften. Während die eben genannten internationalen Abkommen jeweils Beispiele für die Gestaltung der globalen Rahmenordnung sind, wird unter Globalisierung in der Regel auch der Verlust an staatlicher Kontrolle verstanden. Globale Wirtschaft unterwandere die Politik der Nationalstaaten, so heißt es häufig. Sie entzieht dem einzigen Heimathafen der repräsentativen Demokratie, der bisher funktioniert habe, nämlich dem Nationalstaat, die Grundlage. Die Demokratie verliere ihre Legitimation. Man kann das an den Themen Sozialstaat und Arbeitsgesellschaft festmachen. Die Unternehmen suchen sich den vorteilhaftesten Standort aus und produzieren dort, wo Löhne und Steuern niedrig sind. Es ist die Alternative, durch billigere Arbeitskräfte ersetzt zu werden, die faktisch als Druckmittel auf die Lohn- und Entgeltpolitik benutzt wird. Und dabei geht es nicht mehr nur um die Textilindustrie. In den weltweiten Verteilungskampf um Arbeit sind längst schon wissensintensive Jobs der Computertechnologie integriert. Peking und Neu-Delhi gelten als Gewinner der Globalisierung. Es existiert kein auf den Nationalstaat begrenzter Arbeitsmarkt mehr. Wir haben es stattdessen mit einem Weltarbeitsmarkt zu tun. Auch die deutschen Arbeitnehmer fühlen sich dementsprechend bedroht. Sie konkurrieren mit Millionen von willigen Arbeitskräften, für die selbst die niedrigsten Löhne in Deutschland Spitzengehälter darstellen. Zur gleichen Zeit verlagern Unternehmen ihre Fertigungen in den Osten, der zudem billige Steuern verspricht. Die Folge dieser Entwicklung ist eine Entstaatlichung politischer Entscheidungsprozesse. (3) Mit kultureller Globalisierung ist eine ambivalente Tatsache gemeint, auf die in dieser Arbeit später ausführlich eingegangen werden soll. Es ist hier für meine Zwecke nur wichtig, kulturelle Globalisierung als mehrdimensionalen Problemkomplex zu beschreiben. Hinter ihm verbirgt sich, wie Jörg Dürrschmidt (2002: 54) in Anlehnung an Roland Robertson sagt, „die Aneignung universeller Werte und Artefakte im Kontext lokaler und lebensweltlicher Gemeinschaften einerseits sowie die Werbung für bzw. Verteidigung von lokalen und regionalen Werten und Identitätsformen in einer globalen Arena andererseits“. (4) Schließlich eine Anmerkung zur Periodisierung: Globalisierungs- bzw. Internationalisierungsprozesse gab es selbstverständlich schon in früheren Epochen. Andreas Wimmer (2005: 102) befürchtet, dass die derzeitigen Globalisierungsprozesse nicht annährend so neuartig sind, wie die Bühne unseres Kurzzeitgedächtnisses uns glauben machen will. 141

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Hierzu ist Folgendes zu sagen: Die wirtschaftliche Zirkulation von Gütern war sicherlich schon lange nicht mehr auf den Nationalstaat begrenzt. Auch die Prozesse der kulturellen Globalisierung und das Entstehen multiethnischer Gesellschaften sind keine Besonderheiten des beginnenden 21. Jahrhunderts. Michael Mann (1993: 119) weist darauf hin, dass der europäische Kapitalismus „was especially transnational in its early industrial phase, with virtually free mobility of capital and labor and with most of its growth zones located in border or crossborder areas, like the Low Countries, Bohemia and Catalonia“. Viele Autoren glauben, dass die europäische Globalisierung um das Jahr 1500 beginnt, als Kolumbus 1492 Amerika entdeckte und Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach Indien erschloss. Für Immanuel Wallerstein setzt sich der Globalisierungsprozess mit dem Aufbau der spanischen und portugiesischen Kolonialreiche in Gang. Dadurch wird ein regelmäßiger, direkter Kontakt zwischen Europa, Asien, Afrika und Amerika befördert, aus dem sich eine gegenseitige Abhängigkeit ergibt. Die Weltgesellschaft beginne im 15./16. Jahrhundert mit dem „Prozeß der Expansion der europäisch-atlantischen Gesellschaft, der über Kolonialisierung und andere Weisen des Zugriffs das Ganze der verbleibenden Welt in das eigene Gesellschaftssystem inkorporierte“ (Stichweh 2000: 249f.). Zumindest ist ersichtlich, dass ab 1500 die Europäer die Weltmeere befahren. „Den bewegten Bildern des 20. Jahrhunderts gehen die novellierbaren Bilder der großen Globen- und Kartenzeit voraus.“ (Sloterdijk 2005: 86) Dennoch haben sich heute Intensität, Reichweiten und Geschwindigkeiten dieser Prozesse radikal verändert und die verschiedenen Formen von globalisierter Kultur und multikultureller Gesellschaft prägen unsere Konsumgewohnheiten, unsere Kulturlandschaft und unsere kulturell-künstlerische Produktion und Rezeption sowie unser gesellschaftliches Zusammenleben. Das technologische Equipment, die geografische Mobilität, die veränderten Transportmöglichkeiten etc. schaffen Möglichkeiten weltweiter Verflechtungen bisher unbekannten Ausmaßes. Der Grad der Globalisierung ist neu, da die Prozesse nun zu weitgehenden Transformationen in Politik, Ökonomie oder Recht führen.2

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Zu den Differenzen zwischen früheren und heutigen Formen von Globalisierung vgl. Held et al. (1999: 414ff.); Menzel (2004); Sloterdijk (1999; 2005); Therborn (2000).

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4.2 Homogenisierung: Die Expansion der Weltgesellschaft Gemäß einer heute häufig vertretenen These kann festgestellt werden, dass sich eine eigenständige globale Sphäre der Sozialorganisation herausgebildet hat. Für dieses System auf einer höheren Systemebene als die bisherigen Nationalgesellschaften hat sich in der Soziologie der Begriff „Weltgesellschaft“ eingebürgert. Die Annahme einer Weltgesellschaft basiert auf der Hypothese, „dass eine weltweite Dynamik existiert, die für die Interaktion und Kommunikation individueller wie kollektiver Akteure einen Erwartungshorizont darstellt“ (Wobbe/Otte 2000: 455). Es wird die These formuliert, „daß es in der Gegenwart nur noch ein einziges Gesellschaftssystem gibt“ (Stichweh 2000: 245). Die Frage, die sich allerdings aufdrängt, lautet: In welchem Sinne lässt sich von einer Welt sprechen? Und spezifischer: Ist die Welt nur in ihren wirtschaftlichen oder sonstigen Komponenten vereint? Ist sie nur ein Weltsystem in der Bedeutung bei Immanuel Wallerstein? Ein Weltsystem (World System oder World Economy) im Sinne Wallersteins (1983: 303f.) ist simpel formuliert ein System der weltweiten Arbeitsteilung und besteht aus einem Geflecht von Produktions- und Tauschbeziehungen. Es ist eine ökonomische Einheit mit einer einheitlichen Arbeitsteilung, die sich seit dem späten 15. Jahrhundert langsam entwickelt hat. Oder ist die Welt auch eine einzige, was ihre Kultur oder ihre Politik betrifft?

4.2.1 Weltgesellschaft bei Luhmann Luhmann hat bekanntlich ausgehend vom Begriff „Autopoiesis sozialer Systeme“ eine Theorie entwickelt, die auf der Annahme basiert, dass Systeme operativ geschlossen sind. Letzteinheiten von sozialen Systemen sind nicht Menschen, sondern Kommunikationen. Menschen oder materielle Entitäten gehören, sofern sie erwähnenswert sind, zur Umwelt sozialer Systeme. Kommunikationen grenzen sich durch ihre eigene Operationsweise von der Umwelt ab. Kommunikationen bilden die „Außengrenzen der Gesellschaft“ (Luhmann 1997: 150). Die Innenseite der Gesellschaft ist durch die Operationsweise Kommunikation definiert. Das Außen der Gesellschaft ist Nichtkommunikation. Aus dieser Konzeption von Gesellschaft scheint Luhmann nun den Begriff der Weltgesellschaft simpel abzuleiten. Versteht man nämlich unter Kommunikation mit Luhmann eine Systemebene, die sich gerade nicht auf das bezieht, was sich auf der internen Plattform der an Kommunikation teilnehmenden Bewusstseinssystemen ereignet, sondern auf 143

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ein soziales Faktum, dann folgt daraus unmittelbar, dass Kommunikation keinen Ort eingrenzt. Gesellschaft ist eben überall dort, wo Kommunikation ist. Nahezu zwangsläufig ergibt sich für Luhmann daraus, dass Raumgrenzen keine grundsätzlichen Hindernisse für Anschlüsse von Kommunikation an Kommunikation darstellen können. Wissenschaftliche Ergebnisse in der Scientific Community sind heute eben überall auf der Welt nachlesbar. Ein anderes Beispiel: Die Übertragung der Olympischen Spiele oder der Weltmeisterschaft weltweit gewährleistet, dass man diese überall auf der Welt beobachten kann. Oder: Der Ostergruß des Papstes wird über CNN, BBC, AFP und DPA in allen Regionen des Erdballs übertragen. „Wenn man Gesellschaft als jenes Sozialsystem versteht, das alle kommunikativ füreinander zugänglichen kommunikativen Handlungen einschließt, und wenn man daraus unter den spezifischen Bedingungen der modernen Gesellschaft folgert, daß es nur noch ein einziges Gesellschaftssystem gibt, das aus allen Kommunikationen und aus nichts anderem besteht, dann ergibt sich die Schlußfolgerung, daß unter allen Systemgrenzen vor allem die der Weltgesellschaft ohne jeden Zweifel bestimmt werden können.“ (Stichweh 2000: 31)

Freilich bedurfte die erdumspannende Kommunikation bestimmter Medien und Expansionsbewegungen. Das weiß auch Luhmann. Erst die neuen Informationstechnologien schaffen die Möglichkeit, entfernte Orte und Ereignisse permanent miteinander zu verknüpfen. Im Zuge der Digitalisierung und damit der Beschleunigung von Informationsflüssen befinden wir uns in einer „Weltgesellschaft“. „Die elektrische Simultaneität der Informationsbewegungen ergibt die schwingende Gesamtsphäre des auditiven Raums, dessen Zentrum allerorts und dessen Umfang nirgends ist.“ (McLuhan 1978: 81) Spätestens seit der vollständigen Entdeckung des Erdballs und der weltweiten Internetmöglichkeiten ist auf nahezu jedem Fleck dieser Erde Kommunikation anschlussfähig. „Von Europa ausgehend wurde der gesamte Erdball ‚entdeckt‘ und nach und nach kolonialisiert oder doch in regelmäßige Kommunikationsbeziehungen eingespannt.“ (Luhmann 1997: 148) Dementsprechend kann man nach Luhmann davon ausgehen, dass es (gegenwärtig) nur noch ein Gesellschaftssystem in der Welt gibt und entsprechend nur eine gesellschaftlich konstituierte „Welt“ existiert. „Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur“, so kommentierten den Sachverhalt bereits Marx und Engels (151989: 420).

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Luhmann deutet dabei den Begriff Weltgesellschaft nicht im Sinne einer territorial staatlich gedachten Weltgesellschaft. Da die Form, in der sich die Gesellschaft realisiert, Kommunikation ist, und sich die Gesellschaft – im Sinne eines allen Kommunikationen zugrunde liegenden Möglichkeitshorizontes – „ausdehnt oder schrumpft, je nachdem, wie viel kommuniziert wird“ (Luhmann 1997: 156), muss die heutige Gesellschaft mit ihren technischen Möglichkeiten, die weltweite Mobilität zulassen, notwendig eine Weltgesellschaft sein. „Gesellschaft oder Weltgesellschaft kommt nur noch einmal vor.“ (Stichweh 2000: 241) Wie diese aber im Einzelnen strukturiert ist, wie weltweite Anschlussfähigkeit in dieser möglich ist und wie weit die Netzabdeckung auf der Welt reicht, darüber erfährt man in der Systemtheorie wenig. Luhmann benutzt den Begriff der Weltgesellschaft allerdings nicht nur im Rahmen seiner Kommunikationstheorie, sondern führt ihn außerdem über sein Theorem von der funktionalen Differenzierung ein. Das Argument lautet: Das zentrale Formkennzeichen der modernen Weltgesellschaft ist das Prinzip funktionaler Differenzierung. Zunächst ereignete sich die Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung „nur in Europa“ (Luhmann 1997: 683). Die gesellschaftlichen Teilsysteme in ihrer gegenwärtigen ausdifferenzierten Gestalt kennen jedoch, gemäß Luhmann, keine räumlichen Grenzen mehr oder Begrenzungen durch Sachverhalte wie Stände und Schichten. Sie sind im Wesentlichen globale Funktionssysteme. Stichweh (2000: 254) spricht hier von globaler „Diffusion institutioneller Muster“. Die Wissenschaft macht vor den nationalen Grenzen nicht halt. Das Geld zählt auf jedem Platz der Erdregion als Währung. Politische Institutionen setzen sich weltweit durch und unterscheiden sich insofern von anderen Subsystemen – im Übrigen auch von der Religion: „Alle diese globalen Systeme unterminieren die Autonomie der Regionalkulturen der Welt […].“ (Stichweh 2006: 242) Zwar werden die Entwicklungsunterschiede verschiedener Regionen von Luhmann nicht negiert. Aber die verschiedenen Formen von Divergenz der regionalen Entwicklungen sind seiner Meinung nach selbst Konsequenzen der Weltgesellschaft, ja sind, wie er sagt, „selbst ein durch die Gesellschaft geformtes Interesse“ (Luhmann 1997: 162). Die Weltgesellschaft erzeuge Fluktuationen, „die dann regional zu dissipativen Strukturen und zu Notwendigkeiten der Selbstorganisation führen“ (Luhmann 1997: 808).

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4.2.2 Theorie der Weltkultur von John Meyer Blicken wir nun auf den Ansatz des Stanforder Soziologen John Meyer und seines Forschungsteams. Unter „world polity“ versteht Meyer eine historisch gewachsene überindividuelle Matrix, die als „broad cultural order with explicit origins in western society“ (Meyer 1987: 41) beschrieben wird. Weltkultur ist im Sinne Meyers eine Art Metakultur. Mit deren strukturellem Raster will Meyer erklären, warum die heterogenen Gesellschaften in einer nationalstaatlich organisierten Welt dennoch einander in vielen überraschenden Punkten so ähnlich sind und eine eigenartige institutionelle Isomorphie aufweisen. Er spricht also nicht nur wie Luhmann von Kommunikationen, sondern bezieht sich auf reale Institutionen und Organisationen. Die Welt wird gemäß Meyer „zunehmend als ein Raum definiert, der von Völkern bewohnt wird, die in denselben rechtlichen, sozialen und physischen Formen leben“ (Meyer/ Ramirez 2005: 229). Ausgangsbasis für ihn bildet letztendlich der von Weber beschriebene Prozess okzidentaler Rationalisierung, den Meyer quasi auf die sozialen Formationen der Gegenwart anwendet, ausweitet und weiterdenkt. Die universalistische Weltkultur ist, nach seinen Ausführungen, ein Ausfluss des ungeheuer erfolgreichen Formats des früheren religiösen und postreligiösen westlichen Systems. Mit der wachsenden Rationalisierung des christlichen Gottes werden allmählich die immanenten Strukturen der Gesellschaft aufgewertet. Meyer und sein Team greifen hier ein klassisches Paradigma der Modernisierungstheorie auf. In der Moderne kommt es demnach zu einer Entsubstanzialisierung der Traditionen. Der Zuwachs an Moderne manifestiert sich durch die Dichotomie von Tradition und Modernität. Es entstehen das moderne Individuum, das moderne kapitalistische Wirtschaftssystem und der moderne Nationalstaat. Die religiösen Eliten des westlichen Christentums haben sich innerhalb der westlichen Modernisierung in Professionelle, Berater, Forscher, Wissenschaftler und Intellektuelle verwandelt, welche von dem Glauben getrieben werden, „daß das Heil in rationalisierten, auf wissenschaftliches und technisches Wissen gegründeten Strukturen liegt – in Staaten, Schulen, Unternehmen, freiwilligen Verbänden und ähnlichem“ (Meyer et al. 2005: 131). Die Weltgesellschaft orientiert sich am Paradigma von Fortschritt, Gerechtigkeit und den Menschenrechten und demokratischen Institutionen. Sie ist durch eine klare Differenzsetzung zu traditionalen Gesellschaften gekennzeichnet. Diese kulturelle Entwicklung hat gemäß der World-Polity-Theorie seit dem Zweiten Weltkrieg globale Ausmaße angenommen.

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Wie kommt es aber zu dieser verblüffenden Isomorphie? Meyer konkretisiert seine These anhand eines abstrakten Experiments. Gesetzt den Fall, ein Expeditionsteam stieße heute auf eine bis dahin unbekannte Insel, deren Gesellschaft bisher nicht an dem Prozess der Modernisierung partizipierte. Was würde hinsichtlich der Entwicklung von Institutionen und Organisationen mit dieser Inselgesellschaft passieren? Die Antwort von Meyer ist: Innerhalb kurzer Zeit würde der Inselstaat mithilfe von internationalen Organisationen und einem Stab von Beratern Strukturen kreieren, die dem westlichen Modell adäquat wären: „Es würde schnell ein Staat entstehen, der ungefähr wie ein moderner Staat aussehen und über viele der üblichen Ministerien und Behörden verfügen würde.“ (Meyer et al. 2005: 86) Die Berater, Wissenschaftler und NGOs würden die Insel mit Werten (Gerechtigkeit), Entwicklungshilfe, Gesundheitsorganisationen, politischen Programmen, mit Organisationen und Institutionen (Kirchen, Parteien, Verbände) flächendeckend versehen und ihre Bürger in Individuen verwandeln, zu deren Identität es gehört, in dieser oder jener Organisation Mitglied zu sein. Wer sind nun aber die wesentlichen Akteure, die zu diesem festen Set von Dramaturgien beigetragen haben? Eine dominante Strukturierungsvariable, die zur institutionellen Ausdehnung der Weltgesellschaft beiträgt, sind Staaten, Organisationen und Individuen (vgl. Meyer et al. 2005: 111). Ich komme zunächst zu Meyers Beschreibungsvokabular des modernen Individuums. Meyer et al. (2005: 71f.) behaupten, dass das „Modell des effektiven modernen Individuums“ als Basisprinzip der modernen Weltkultur nahezu „überall in auffällig isomorpher Form zu finden“ sei, und dementsprechend verhielten sich die Menschen „überall ähnlich, wenn sie diese Modelle inszenieren“ (ebd.: 72). Individuen inszenierten, so Meyer/Jepperson (2005: 71ff.), auf der ganzen Welt „stark standardisierte Modelle und Drehbücher des Handelns“. Meyer ist kaum daran interessiert, dass jemand in derselben Situation anders handelt als andere oder andere emotionalen Dispositionen, Gewohnheiten oder einen anderen Charakter ins Spiel bringen könnte. Die These ist: Menschen ähnelten sich stark in der Inszenierung eines bestimmten Akteurtypus, der nichts anderes ist als der standardisierte Individualismus der Weltkultur. Letztendlich ist für Meyer die Schablone und das kulturelle Muster des modernen Akteurstatus interessant und nicht der einzelne Mensch. Die Figuren in der Weltkultur passen sich diesen Schablonen an. Auch Organisationen werden als Absender sozialen Wandels im Sinne der Weltkultur berücksichtigt. Sie übernehmen die Rolle, andernorts generierte Regelsysteme und dadurch in Kraft gesetzte Strukturierungsprozesse in neue Territorien zu übersetzen. Internationalen Nicht147

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regierungsorganisationen (INROs) – wie etwa Greenpeace – wird ein enormer Einfluss auf staatliche Politik zugeschrieben, in dem diese eine explizite Rolle in der weltweiten Diffusion von World-Polity-Prinzipien spielen. Ironischerweise sind diese Akteure weniger Herrscher über ihre eigenen Intentionen und Wünsche als Agenten im Namen der Weltkultur. Indem sie wie alle anderen Akteure der Weltkultur an der Inszenierung feststehender globaler Modelle orientiert sind (Menschenrechte, Frieden, Schutz der Natur), treiben sie insgeheim die Verbreitung der weltkulturellen Normen weiter voran (vgl. Meyer et al. 2005: 117f.). Die Akteure sind letztendlich Vollzugsorgan der Weltkultur. Und man ist gleichsam an Hegels Diktum erinnert, dass es die Individuen seien, die für den Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer holten. Als weiterer wichtiger Akteur lassen sich Nationalstaaten nennen. Interessanterweise interpretiert Meyer Nationalstaaten nicht, wie es häufig in der Globalisierungsliteratur geschieht, als von weltgesellschaftlichen Zusammenhängen zunehmend abgekoppelte Entitäten. Sie sind in Wirklichkeit die essenziellen Akteure der globalen Weltkultur. Es geht also in Meyers Konzept von Weltgesellschaft nicht um das Regieren, das sich jenseits des Staates vollzieht. Meyers Weltkultur ist im Wesentlichen nationalstaatlich inspiriert. Die strukturelle Beschaffenheit der Staaten ist exogen strukturiert, da ja auch die Staaten „das Produkt von außen kommender, universalistischer und rationalisierter Modelle“ sind (Meyer 2005: 158). „Der Staat greift demzufolge die globalen Erwartungshaltungen auf, institutionalisiert sie, und erzeugt auf diese Weise mit seiner eigenen Autorität zugleich gesellschaftliche Normen, d.h. der Nationalstaat ist in dieser Sicht gewissermaßen ein Vollzugsorgan weltgesellschaftlicher Anforderungen.“ (Wobbe/Otte 2000: 456)3 Vergleiche man, so Meyer, die institutionellen Muster der Nationalstaaten auf der Governance-Ebene, so stoße man auf strukturelle Ähnlichkeiten. Weder die Einsicht in das innere Gefüge von Verfassungen noch die von den Parlamenten oder den Parteien sei abwechslungsreich. Die Struktur des Nationalstaates mit den Personen als Staatsbürgern und 3

Dass Nationalstaaten in Meyers Ansatz im Lichte der Prozesse der Etablierung weltgesellschaftlicher Erwartungsstrukturen interpretiert werden, ist natürlich hochproblematisch. Die These widerspricht einer ganzen Tradition in der Theorie internationaler Beziehungen. Nach dem realistischen Paradigma der Lehre von den internationalen Beziehungen sind Nationalstaaten gerade diejenigen Institutionen, die für heterogene Kulturen sorgen. Der realistische Flügel der Theorie internationaler Beziehungen geht von einem anarchistischen Weltgefüge aus, bei dem die Staaten durchaus von geo- und territorialpolitischen Strategien und Machtressourcen motiviert werden.

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Organisationen als Entitäten ist global diffundiert. Die Transformation der Rechtsdiktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien in demokratische Staaten Mitte der 1970er-Jahre gab den Anstoß für die größte Demokratisierungswoge in der Zivilisationsgeschichte. Bis zum Jahr 2000 implementierten 87 frühere Autokratien mit dem allgemeinen, gleichen und freien Wahlrecht die Grundlagen einer demokratischen Ordnung. Überall, selbst in den sogenannten peripheren Regionen, setzen sich dieselben internationalen Best Practises durch, nehmen die neuen Staaten an den jüngsten Errungenschaften der Weltpolitik teil. Alle Länder – seien sie auch noch so exotisch – partizipieren an der „Logik des Kopierens“ (Meyer et al. 2005: 100) und etablieren gemäß vorhandener „Drehbücher“ ein geschlossenes System vorgefasster Schablonen. Gerade weil sich die Praktiken der Berater anscheinend überall bewährt haben, werden diese auf andere Situationen übertragen. Die Beraterpraxen fungieren somit als zentrale Vermittler von Imitationen: „Large organizations choose from a relatively small set of major consulting firms, which […] spread a few organisational models throughout the land.“ (DiMaggio/Powell 1991a: 70) Man nehme als Beispiel die Bildung. Bildung hat sich gemäß Meyer in den vergangenen Jahrzehnten als Motor weltweiter Standardisierung institutioneller Formen des Wissens erwiesen. Weltweit besteht die Neigung, Bildung an global standardisierten Lehrplänen auszurichten. Regionale Politiker orientieren ihre Curricula im internationalen Ranking an den besten Unterrichtsmethoden. Auch der europäische Bologna-Prozess lässt sich mit Meyers Muster einfangen. Nach den Bologna-Vorgaben, die für Europa eine einheitliche Vorgehensweise festlegen wollen, werden entsprechende Credits vergeben, sodass Masterstudiengänge standardisiert werden. Ein Vorteil dieser überlappenden Modulstrategien besteht darin, dass Teilqualifikationen voneinander abgrenzbar, separat lehrbar und separat erwerbbar sind. Die Modularisierung von Studiengängen liegt im Trend einer umfassenden Transformation des europäischen Hochschulwesens, welche sich global mit den Stichworten Bildungsliberalisierung, Internationalisierung, Mobilitätserhöhung, Bildungsökonomisierung und Employability skizzieren lässt, wobei zugleich der Gedanke eines harmonisierten europäischen Bildungsraumes im Hintergrund steht. Selbst politische und religiöse Antibewegungen – wie der aktuelle Fundamentalismus –, die sich gegen die erdumspannende World Polity des Westens stemmen, sind insgeheim von dieser beeinflusst. Zumindest sind die Fundamentalisten geneigt, „ihre religiösen Lehren in Anpassung an die typisch modernen Vorstellungen von rational-moralischer Diszip149

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lin umzuformulieren“ (Meyer et al. 2005: 111). Der World-Polity-Ansatz versteht sich somit auch als eine Alternative zu postnationalen Ansätzen, „die dazu neigen, mit dem Axiom kultureller Partikularität Prozesse der Fragmentierung und Entgrenzung theoretisch zu reifizieren“ (Jung 1998: 247).

4.3 Zur Kritik der Konvergenzthese: T h e o r e t i s c h e Ar g u m e n t e u n d e m p i r i s c h e Beispiele Der World-Polity-Ansatz und die Modernisierungssoziologie, wie sie z.B. von Berger und Zapf vertreten werden – auf die ich mich in der folgenden Darstellung vornehmlich beziehen werde –, scheinen zunächst durch ihre empirischen Befunde zu bestechen. Es scheint nur evident zu sein, dass sich Menschenrechte, Umweltschutzbelange, Regeln sozialer Entwicklung, Bildungspolitik, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung etc. als Standard überall auf der Welt durchsetzen. Ist das nicht auch deswegen so, weil sozusagen in the long run die kulturellen Dämme, die sich gegen die westliche Modernisierung stemmen, am Ende aufgelöst werden müssen? Ich möchte im folgenden Abschnitt vor allem Meyers These von der Weltgesellschaft nun zunächst theoretisch (Punkt 4.3.1) und danach lose und indirekt an einigen aktuellen Beispielen (Punkt 4.3.2) kritisch diskutieren.

4.3.1

Konvergenz als Reduktion von Kontingenz: Was analysiert der World-Polity-Ansatz?

Beginnen wir die Diskussion, indem wir den Faden des Kontingenzdiskurses nun wieder aufnehmen. Ich erinnere daran: Eine Bedeutung von Kontingenz bestand darin (vgl. Punkt 2.1.8), dass ein Sachverhalt in seiner Bedeutung unbestimmt und von dem jeweiligen Kontext abhängig ist, in den er gestellt wird. „Jede Regel ist interpretationsbedürftig; ihre Referenz auf die Situation oder den Einzelfall versteht sich nicht von allein.“ (Gamm 1994: 142f.) Werden identische Sachverhalte auf unterschiedliche Bedeutungskategorien angewandt und geschieht ein Wechsel von Bezugssystemen und Argumentationskontexten, so ist in einem Rahmen, der von der Kontingenz von Bedeutungszuschreibungen ausgeht, anzunehmen, dass Bedeutungen durch Überlagerungen und Brüche gekennzeichnet sind. Deswegen bezeichnet der Begriff Kontingenz „Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hin150

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blick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“ (Luhmann 21988: 152). Das impliziert sogleich das Wissen, „daß es andere Kulturen gibt, also Kontingenz der Zugehörigkeit bestimmter Items zu bestimmten Kulturen“ (Luhmann 1992a: 93). Nun behauptet die Theorie der Weltgesellschaft aber genau das Gegenteil: Es gäbe nur eine einzige moderne Gesellschaft und nur eine einzige moderne Kultur. Die moderne Gesellschaft und die moderne Kultur sind Weltgesellschaft. Alle Länder orientierten sich an dem Muster funktionaler Differenzierung (Luhmann) oder an einer Metakultur (Meyer). Das bezeuge gerade die Einheit der Moderne. Bezieht man also das Argument von Meyer auf unser Thema Kontingenz, so hat man den Eindruck, dass Globalisierung auf eine Reduktion von Kontingenz hinausläuft, da die universale Formatierung der Welt durch die westlichen Ordnungsschemata diese auch wesentlich in ihren Möglichkeiten einschränkt. Es gibt ja jetzt nur noch die Singularform der einen Interpretationsfolie jener „Metakultur“, die sich als Übermatrix über den Globus spannt. Kontingenz löst sich auf in der totalen Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Informationen. Schwinn (2005: 216) kommentiert: „Die Kultur der Weltgesellschaft ist das Ergebnis einer Universalisierung okzidentaler Rationalitätsmuster. Die gemeinsame Kultur wird in internationalen Vereinbarungen kodifiziert, in Programmen operationalisiert und über ein Geflecht von internationalen Organisationen in die einzelnen Länder diffundiert.“ Jetzt hängt die Interpretation der Sachverhalte der globalen Vergesellschaftungsprozesse in enormen Maße davon ab, in welcher Weise man den Gegenstand beobachtet. Damit meine ich Folgendes: Bekanntermaßen sind die Daten von Meyers Ansatz quantitativ unterlegten Analysen entnommen: „In diesem Sinne stützt die um John Meyer versammelte Autorengruppe ihre Thesen vorzugsweise auf die Analyse von hochgradig standardisierten Quellengrundlagen, etwa von Verfassungstexten, Curricula oder Schulbüchern.“ (Schriewer 2005: 421) Damit ist allerdings eine empirische Evidenz für die Ausbreitung der Weltkultur nur bedingt gegeben. Denn die Unterstellung, dass die eine Weltkultur auch auf das „Innenleben“ der regional operierenden Länder abstrahlt, könnte man nur verifizieren, wenn man die konkrete Anwendung der globalen Weltkultur realiter auch in den konkreten Bedeutungsrahmen innerhalb der Länder und ihren internen Verarbeitungsmustern analysieren würde. Gerade aber über die konkreten Inhalte erfährt man in den Arbeiten der Meyer-Gruppe kaum etwas. Die Konvergenzthese zehrt somit insbesondere von dem Mechanismus, die Kontingenz heterogener Entwicklungspfade zu missachten und 151

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gerade nicht in Betracht zu ziehen. Meyer et al. konzentrieren sich ausschließlich auf die abstrakten institutionellen Strukturen der Gesellschaft und damit auf deren Ebene der übergreifenden Verfassung. Wie schon für den Strukturalismus in früheren Zeiten sind deswegen „taken-forgranted scripts, rules and classifications […] the stuff of which institutions are made“ (DiMaggio/Powell 1991b: 15). Das „Herunterbrechen“ jener institutionellen Standards soll quasi über die oben benannten Akteure gewährleistet werden, die als Träger der „Weltkultur“ fungieren. Allerdings bleibt der Prozess der Übertragung von institutionalisierten Mustern relativ intransparent. „Institutionen sind ‚irgendwie da‘, sie fallen quasi vom Himmel.“ (Walgenbach/Beck 2000: 325) Im Dunkeln bleiben die „Mechanismen der gelungenen Inkorporierung der institutionellen Struktur der Weltgesellschaft in die Alltagspraxis der Akteure“ (Schäfer 2000: 365). Statt dessen werden die global induzierten institutionellen Vorgaben schlicht vorausgesetzt. Der nahe liegenden Schlussfolgerung, dass der globale Zusammenhang nur makrosoziologisch zu erschließen sei, da man auf dieser Ebene nur „makroskopisch zu beobachten“ (Greve/Heintz 2005: 111) in der Lage sei, ist gleichwohl nicht zu folgen. Es ist unmittelbar einsichtig, dass sich ohne jede Spezifizierung des Bezugssystems, über das man urteilt, keine makrosoziologische Analyse als falsifizierbar erweist. Damit ist noch ein weiterer und ebenfalls sehr relevanter Aspekt verbunden. Grundlegend für die Überlegungen Meyers ist eine an Foucault gemahnende Perspektive, wonach die autonom handlungsfähigen Individuen und Nationalstaaten ein kulturelles Konstrukt sind, dessen Genese in einem engen Zusammenhang mit der Entstehung der Weltgesellschaft steht. Der Rezipient soll, so ist die Vorstellung, die strukturellen Regeln und Kopien der Weltkultur nur als passiver Träger aufnehmen und erscheint dementsprechend als struktureller Effekt und als ihre „semantische Kopie“. Offensichtlich beruht die Vorstellung von Meyer auf einem simplen Sender-Empfänger-Muster, das die EmpfängerKontexte als „struktur- und kulturlos“ (Krücken 2005: 315) beschreibt. Die weltgesellschaftlich induzierte Isomorphisierung trifft bei Meyer scheinbar auf kontextlose, kulturindifferente Gegebenheiten. Kulturelle Wertvorstellungen, die sich vor der Etablierung der Weltkultur offenbaren, bleiben aus der Betrachtung ausgeschlossen. Die Weltkultur erscheint als monolithische Einheit, die interkulturelle Konflikte gar nicht in Betracht zieht, weil divergente Wertesysteme und kulturelle Lebensformen nicht vorkommen. Wichtig ist nun die folgende Einsicht: Mittlerweile wird festgestellt – und dies ganz im Gegensatz zu Meyers empirischen Aussagen –, dass 152

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sich hinter dem institutionellen Isomorphismus in der nicht westlichen Welt „bedeutende Divergenzen hinsichtlich der gesellschaftlichen Eingebettetheit, der spezifischen Funktionsweise sowie der Effizienz und Effektivität von Institutionen“ (Ziltener/Müller 2005: 467) verbergen. Das liegt eben genau darin begründet, dass die Weltkultur, sobald sie implementiert werden soll, auf kulturelle Widerstände stößt, die ihrerseits von den (von Meyer missachteten) „länderspezifischen Rezeptionsfiltern“ (Schriewer 2005: 431ff.) herrühren. Was zu vermuten war, erhärtet sich nun: dass nämlich Übersetzungsprozesse von einer Kultur in die nächste auf kulturelle Schleusen treffen, die eine Selektion bezüglich der Relevanz von Informationen vornehmen. Damit ist die zentrale Nahtstelle der hier zu rekonstruierenden Debatte für die weitere Diskussion skizziert und die Notwendigkeit angezeigt, das Problem der Weltkultur an einigen Beispielen zu exemplifizieren.

4.3.2 Einige empirische Erläuterungen zur Problematik der Theorie der Weltkultur Eine Eignungsprüfung der These von der Weltkultur, die positiv verlaufen würde, müsste aufzeigen, dass die Anwendung der Weltkultur auf unterschiedliche historische und kulturelle Entwicklungsvoraussetzungen eine institutionelle Homogenisierung zur Folge hätte. Ein solcher Ansatz müsste klären, wie die verschiedenen Ebenen der Modernisierungssoziologie ineinandergreifen und welche Passungsverhältnisse sich hinsichtlich ihrer Basisprämissen ergeben. Solche Fragen werde ich im folgenden Abschnitt exemplarisch an einigen unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Variablen der Modernisierungssoziologie untersuchen. An diesen Beispielen manifestiert sich die Problematik der Theorie der Weltkultur, denn die Beispiele zeigen, dass man nicht daran vorbeikommt, für die weltkulturellen Strukturmuster kontextspezifische Interpretationspfade zu veranschlagen.

4.3.2.1 Kapitalismus und Homogenisierung Zu denken ist dabei etwa an China. Man hat förmlich das Bild der westlichen Berater vor Augen, „die nach Süden und Osten ausziehen, um die universellen Wahrheiten der Marktwirtschaft bekannt zu machen“ (Meyer et al. 2005: 142). Die internationalen Organisationen von den Vereinten Nationen über Greenpeace bis zur Weltbank würden, gemäß Meyer, China schnell in einen Nationalstaat mit Gewaltenteilung, Men153

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schenrechtsakzeptanz, Minderheitenschutz und Religionsfreiheit verwandeln und dies – um noch einmal an eine Aussage der Stanforder Forschungsgruppe zu erinnern –, „ohne auch nur das geringste über die Geschichte, die Kultur, die Gewohnheiten und Traditionen dieser bislang unbekannten Gesellschaft zu wissen […]“ (Meyer et al. 2005: 87). „Wenn ich recht sehe“, so Berger (2006: 222), „haben die wirtschaftlich erfolgreichen Länder Ostasiens, in erster Linie Japan, Korea, China und Indien, eigentlich nicht viel anderes gemacht, als die Prinzipien des westlichen Erfolgsmodells zu übernehmen.“ Das scheint aber nur auf den ersten Blick so. China ist ein Beispiel, dass geradezu idealtypisch demonstriert, aus welchen heterogenen Schichten Modernisierung bestehen kann. Die chinesische Strategie der Zusammenarbeit mit dem globalen Kapitalismus ist – wie Ong (2005) zeigt – ganz anders geartet als der westliche Kapitalismus. Die vom chinesischen Staat verfolgte Strategie stelle vielmehr eine Kombination verschiedener Elemente dar. Auf der einen Seite wird der Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht in der Tat durch einen ungezügelten Kapitalismus vorangetrieben. Das ist durchaus ein Kapitalismus, wie man ihn im Westen vorfindet. In China ist seit den 1980er-Jahren ein erheblicher wirtschaftlicher Aufschwung zu verzeichnen. Bekannt wurde der Ausspruch des damaligen Staatschefs Deng Xiaoping, „to get rich is glorious“, der damit auch den Startschuss für einen der größten Wirtschaftaufschwünge der Weltgeschichte (vgl. Ong 2005: 58) initiierte, indem er seinen Landsleuten quasi top-down eine neue Zielsetzung präsentierte. Diese Öffnung hin zu einer neuen kapitalistisch orientierten Gewinnökonomie manifestierte sich auch in der zunehmenden Integration Chinas in die Weltwirtschaft. Zum Symbol wurde hierbei die Aufnahme in die WTO im Jahr 2002. Die Reformkräfte sehen im WTO-Beitritt eine Möglichkeit, den mächtigen Reformwiderstand in den politischen Institutionen und der Bürokratie zu unterminieren. Durch den WTO-Beitritt schirmt China zudem seine Exportmärkte gegen eventuelle Handelsbarrikaden der Zielländer ab, die aus innenpolitischen Interessen motiviert sein könnten, gegen Importe aus China anzugehen. Jörg Mull (2005: 40) fasst zusammen: „Im Ergebnis haben sich seit 1978 über 400 Mio. Chinesen einen Lebensstandard oberhalb der Armutsgrenze erarbeitet. In den Städten an der Ostküste und entlang des Yangtse ist eine ‚Mittelschicht‘ entstanden, die auf mittlerweile ca. 100 Mio. Menschen geschätzt wird. Ein substanzieller Teil der chinesischen Bevölkerung ist heute an ‚westliche‘ Produkte und Dienstleistungen gewöhnt.“

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Der damit einhergehende Wertewandel in China ist ein Beispiel für Meyers These vom Transfer westlicher Werte in eine andere Gesellschaft. Auf der anderen Seite müssen in China Variablen berücksichtigt werden, die überhaupt nicht kompatibel sind mit dem Kapitalismus westeuropäischer Provenienz. Wie Qinlian He (2006) zeigt, gilt China heute als eines der Länder mit der größten ökonomischen Ungleichheit. Korrupte Clans zerstören das Sozialleben. Viele wichtige Wirtschaftszweige (Wohnen, Strom, Telekommunikation, Gesundheitswesen etc.) sind monopolisiert. Das System ist gesteuert „von einem zweigleisigen System von halbmarktwirtschaftlichem Austausch und willkürlicher Einmischung des Verwaltungsapparats“ (Qinlian He 2006: 217). Der Verlust ökonomischen Vertrauens in China manifestiert sich im Verfall der Wirtschaftsmoral des Landes. In den Zentren der Macht werden Gelder unterschlagen. Schmiergelder werden gezahlt. Es werden Schmuggel, Manipulation und offener Diebstahl betrieben. Staatliche Behörden greifen – etwa durch willkürliche Gebühren – in alle wirtschaftliche Transaktionen ein und sogar die Mafia agiert innerhalb der Regierung. Eine der weitreichendsten Folgen dieser Entwicklung ist die nahezu völlige Destruktion gesellschaftlicher Moral. Da weder moralisch-ethische noch gesetzliche Restriktionen beachtet werden, findet eine zunehmende Verwahrlosung lokaler politischer Macht statt. Auf dem Land, wo noch immer die Mehrheit der Bevölkerung lebt, breiten sich wieder alte hierarchische Clan-Strukturen aus. Gleichzeitig ist die Kriminalität – von Korruption bis Menschenhandel – erschreckend angestiegen, bedingt auch durch die hohe Arbeitslosigkeit und die prekäre Lage des großen Heeres der Wanderarbeiter. Auch wird China nach wie vor unter dem Signum des „Sozialismus chinesischer Prägung“ geführt. Neben einer aktiv betriebenen Biopolitik soll der Kapitalismus durch eine konfuzianische Wertehülle abgemildert werden, die als Stärkung von traditionellen Verhaltensweisen aufgefasst werden muss. Auf jeden Fall geht es explizit um eine Differenz zur westlichen Modernisierung. „Die in China entwickelten Theorien lehnen die Vorstellung ab, Modernität ließe sich durch ‚die legitime Verbindung von (westlicher) Vernunft und Kapital‘ definieren.“ (Ong 2005: 79) Die chinesischen Darstellungen sehen im Konfuzianismus die Quelle ihrer moralischen Autorität: „Indem ein derart normatives asiatisches Modell eine distinktive konfuzianische Spiritualität und Instrumentalität,

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die sich im Dialog mit dem Westen befindet, für sich reklamiert, setzt es westlichen Universalitätsansprüchen Grenzen.“ (Ebd.: 79f.)4 Dazu scheint bisher ebenso wenig die konsequente Akzeptanz der Menschenrechte zu gehören. Zwar wurde in die chinesische Verfassung eine Menschenrechtspassage aufgenommen. Aber obgleich Menschenrechtsorganisationen immer wieder darauf hinweisen, ist der chinesische Staat weit davon entfernt, Menschenrechtsverletzungen zu ächten. Zudem gehört China gehört zu denjenigen Ländern dieser Welt, „in denen es keine Meinungsfreiheit gibt; die Regierung hat alle Medien monopolisiert und ihnen die Rolle des ‚Sprachrohrs der Partei‘ zugewiesen“ (Qinlian He 2006: 26). Die chinesische Regierung übt eine allseitig gesellschaftliche Kontrolle aus. „Yet China remains a deeply authoritarian state, brooking no possibility of organised opposition to the Communist Party.“ (The Economist, 22.04.2006) Ong (2005: 59) kommentiert: „Der Staat treibt die wirtschaftliche Entwicklung voran, diszipliniert die Arbeitnehmer, gewährt dem transnationalen Kapital einen genau bemessenen Spielraum, unterdrückt die Menschenrechte und konkurriert auf ökonomischem Gebiet mit dem Westen.“5 Ihr Fazit lautet: „Die chinesischen Modernitätskonzepte basieren auf neuen rassisch-ethnischen Vorstellungen und Herrschaftsformen, die die westliche Hegemonie im Weltmaßstab zurückdrängen sollen.“ (Ong 2005: 12) Wendet man den Blick von China ab, so lässt sich generell konstatieren, dass es einen einheitlichen globalen Kapitalismus in der Weltgesellschaft nicht gibt. Nilüfer Göle (1999) hat darauf hingewiesen, dass die industrielle Kernkultur mit ausgeprägter Marktwirtschaft nicht das einheitliche Modell der globalen Wirtschaft darstellt. Alle diese komplexen Relationen seien vielmehr „kontextgebunden, da das Verhältnis von Kapitalismus und industrieller Vergangenheit in verschiedenen Traditionen von unterschiedlicher Form und Wichtigkeit ist“ (Göle 1999: 4

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Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt Edward Luce (2006) – freilich aufgrund kulturell vollkommen divergierender Gründe – am Beispiel Indien. Indien ist, nach Luce, ein gutes Beispiel dafür, dass Westernisierung und Modernisierung nicht identisch sind. Indien folgt einem eigenständigen Pfad und endogenen Antriebskräften. Es hat sich explizit mit der Modernisierung des Westens beschäftigt. Diese Auseinandersetzung erfolgte jedoch innerhalb eigener kultureller Konstellationen. „Most Europeans“, sagt Luce (2006: 307f.), „tend to think of modernity as the triumph of a secular way of life […]. In Europe the past is the past. But in India the past is in many ways also the future. Europe is no longer the universal standard by which other societies measure their progress.“ Ähnlich Frank Sieren (2005: 32): „Wir sollten uns daher nüchtern darauf einstellen, dass es in China auf Dauer beides nebeneinander gibt – makroökonomische Stabilität und soziales Chaos, Aufschwung und Korruption, Diktatur und Freiheit.“

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126). Als Beispiel möge hier Indien dienen. Die Wirtschaft produziert jährliche Wachstumsraten von bis zu acht Prozent. Die Exporte expandieren mit zweistelligen Raten, obgleich es in Indien niemals ein Industriezeitalter wie in der westlichen Moderne gegeben hat. Göle fordert dazu auf, in empirischen Forschungsprojekten der Frage nachzugehen, wie die industrielle Vergangenheit in verschiedenen Zivilisationen zu bewerten ist.

4.3.2.2 Demokratie und Menschenrechte Menschenrechte sind ein so zentrales Modell, dass sich ihnen gerade im Zeitalter der Globalisierung keine Zivilisation mehr verschließen kann – so scheint es zumindest (vgl. König 2005). Aber auch was die Menschenrechte betrifft, kann man ihre universelle Geltung nicht behaupten. Das habe ich kurz bereits am Fall China diskutiert. Häufig wird auch in anderen Zusammenhängen konstatiert, dass die UN-Menschenrechtskonventionen von 1948 auf europäischen und amerikanischen Wertvorstellungen beruhten, die in anderen Kulturen gar nicht verstanden werden. Versuche, die Menschenrechte universell anzuwenden, werden als Kulturimperialismus diskreditiert (vgl. Steinmann/Scherer 1998: 38). (1) Die islamische Situation: Für die islamische Situation gilt ohnehin, dass sie sich am Scheideweg befindet. Zwar müssen gerade die Regierungen der islamischen Welt differenziert betrachtet werden und es sind sicherlich nicht alle 1,3 Milliarden Muslime radikale Fundamentalisten (z.B. Riedel 2003). Aber die Lage ist – wie Dieter Weiss (2004) anhand der „Arab Human Development Reports“ 2002 und 2003 zeigt – durchaus prekär. Nicht nur ist in den arabischen Ländern eine wissenschaftlich technologische Lücke und mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit festzustellen. Insbesondere die politischen Entwicklungsblockaden sind eklatant. Die Demokratisierungswellen, die in den 1980er-Jahren in vielen anderen Ländern Fuß fassten (z.B. Lateinamerika und Ostasien) und Osteuropa in den 1980er- und 90er-Jahren veränderten, sind in der arabischen Welt bis heute nicht implementiert. „Die patrimonialen Herrschaftsstrukturen haben sich halten können, nicht zuletzt gestützt durch die westlichen sicherheits- und energiepolitischen Interessen an der Beibehaltung des Status Quo.“ (Weiss 2004: 5) Die Ereignisse des 11. September 2001 haben scheinbar noch einmal deutlich die tiefe Kluft, kenntlich gemacht, die zwischen der islamischen Welt und dem Westen liegen. Die Zerstörung des World Trade Centers in New York war eine Kommunikationsstrategie, die die Werte der amerikanischen Kultur treffen sollte. Der absurde Bilderstreit um die dänischen Karikaturen, die Mohammed verspotten, stellt erneut die Frage, 157

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wie viel Demokratie in der säkularen Gesellschaft erlaubt ist. Ende September 2005 hatte die Zeitung „Jyllands-Posten“ zwölf Karikaturen publiziert, die den Propheten Mohammed abbildeten. Obwohl sich die islamische Welt seit über zwei Jahrhunderten mit der westlichen Gesellschaft auseinandersetzen muss, ist das Gottesrecht nach wie vor maßgeblich relevant. Das Menschenrecht, darunter das Grundrecht der Meinungsfreiheit, existiert nur im Rahmen der Scharia. Im Westen bedeutet die Freiheit der Meinung aber auch, dass man das Recht hat, wie die französische Zeitung „France Soir“ schrieb, „Gott zu karikieren“. (2) Die Situation in den USA: Aber wie steht es denn mit der Demokratie in den USA selbst, dem Land, in dem Meyer und sein Team lehren? Der Irak-Krieg zeigt, dass auch das demokratische Amerika vor aggressiven Gewaltausübungen nicht zurückschreckt. Die USA glauben den Irak gewaltsam demokratisieren zu können, obgleich sich die Versuche Washingtons durch die Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen oder andere Erfindungen (etwa die vorgebliche Zusammenarbeit Saddam Husseins mit Al-Qaida), den Irak als globale Bedrohung darzustellen, als Ideologie entpuppten. Tatsächlich war der Irak für das Territorium – im Gegensatz zu den Jahren vor 1990/91 – keine regionale Bedrohung. Und wie Menzel (2004: 93ff.) zeigt, hatten es die zentralen Akteure der Bush-Administration schon längst vor ihrer Amtszeit – und chronologisch vor dem 11. September – auf einen Krieg gegen den Irak und eine „Neugestaltung“ des Nahen Ostens abgesehen. Derrida (2003: 146f.) weist darauf hin, dass die Vereinigten Staaten stets kommuniziert haben, sie seien bereit, gegen jeden Schurkenstaat einseitig (also ohne Abstimmung mit der UNO) militärisch zu intervenieren, wann immer ihre vitalen Interessen zur Disposition stünden. Unter vitalen Interessen verstünden die Amerikaner „[…] ‚ensuring inhibited access to key markets, energy supplies, and strategic resources‘ sowie alles, was von einer ‚domestic jurisdiction‘ als ein solches vitales Interesse bestimmt werde“ (Derrida 2003: 146). Und in der Tat ist keineswegs ausgemacht, so Menzel (2001: 237f.), dass die amerikanische Hegemonie wirklich gebrochen ist. Gäbe es nicht vielmehr nach dem Scheitern der sowjetischen Machtbestrebungen erst recht gute Gründe dafür, dass Amerika seine Hegemonie ausweitet? Oder ist Russland bereits wieder dabei, die verlorene Weltmacht neu zu begründen? Was die demokratische Gestaltung der USA betrifft, ist zumindest eines festzuhalten: Die Uno und das Völkerrecht sind in diesem Krieg mit Füßen getreten worden. Und auch das Ergebnis der gewaltsamen Demokratietransplantation im Irak spricht wider jede Idee einer strukturellen Isomorphie: Der Irak im Jahre 2005 ist nicht ein demokratischer Ableger des Westens – der Irak heute, das ist das Alltagsgrauen und all158

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zu oft eine einzige Todesfalle. Von der Etablierung der Menschenrechte kann hier keine Rede sein.6 Binnen weniger Jahre, so kommentiert Sloterdijk (2006: 340f.) die Situation, „wurde die Welt Zeuge, wie eine dissensfrohe Demokratie unter der wissentlich und willentlich heraufbeschworenen Fiktion des von der ganzen Nation zu führenden Überlebenskrieges ein jähes Artensterben auf dem Gebiet der politischen Meinungsvielfalt erlebte“. Noch war der Furor über die Mohammed-Karikaturen nicht abgeklungen, schockierten Folterfotos aus Abu Ghureib die islamische Welt. Die Art und Weise wie Amerika die Gefangenen im Lager Guantánamo Bay behandelt, stieß auf weltweit heftige Kritik. Insbesondere die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten Hunderte von Menschen gefangen hält, ohne sie eines Verbrechens anzuklagen, verletze die Praxis der Menschenrechte und zerstöre die Selbstachtung des Landes: „Amerika verletzt sehr wohl die Menschenrechte, wenn es Ausländer für bestimmte Zeit in Internierungslagern festhält. Es behandelt sie nicht wie Menschen, deren Schicksal ebenso wichtig ist wie das eines jeden anderen“, so der Rechtsphilosoph Ronald Dworkin (2005: 43).

4.3.2.3 Widersprüche und Ambivalenzen in der westlichen Modernisierung selbst Ich habe es im letzten Abschnitt am Beispiel der USA angedeutet: Meyers Team bietet auch ein unterkomplexes und ahistorisches Bild der westlichen Modernisierung selbst und redet einer Modernisierungstheorie im Sinne einer „Selbstthematisierung erfolgreicher Gesellschaften“ (Mergel 1997: 226) das Wort. Das Ende dieses Prozesses ist bekannt. Er fällt zusammen mit den westlichen Standards, die sich normalerweise in Form von universalistischen (globalen) Modellen wie Staatsbürgerschaft, der „Institutionalisierung des Wachstums“ (Berger 2006: 218), sozioökonomischen Entwicklungen und rationalisierter Gerechtigkeit organisieren und legitimieren (vgl. Meyer et al. 2005: 91). Allein an diesen Aussagen wird ersichtlich, dass Meyer ein zu diskutierendes (a) lineares Bild des Modernisierungsprozesses malt, das sich durch eine (b) Dichotomie von Tradition und Moderne auszeichnet. Die Linearitätsannahmen behauptet eine nahezu zwangsläufige Entwicklung. Der Modernisierungsprozess vollzieht sich von traditionalen hin zu mo6

Der Historiker Paul Kennedy von der Universität Yale sagt über Bushs Intentionen im Irak-Krieg: „Für das Projekt von Demokratie und Toleranz haben wir eine ganze Generation verloren. […] Wir sollten dem Irak keine Demokratie nach westlichem Vorbild aufzwingen.“ (Der Spiegel, 2/2004: 95)

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dernen Gesellschaften (vgl. Knöbl 2001: 32). Die Moderne ist ein Projekt der Abgrenzung zu den vormodernen Gesellschaften. (a) Die Linearitätsannahme in Meyers Ansatz wird vollends fraglich vor dem Hintergrund einer historischen Betrachtung von Modernisierung in der westlichen Hemisphäre. Hinter diesem Anspruch stünde die Annahme, dass die Struktur und die Funktion unserer sozialen Welt und der Außenwelt als geschichtlich gewordene zu verstehen sind. Wir können nicht von einem zielgerichteten, sondern müssen von der Kontingenz historischer Prozesse ausgehen. Auch die westliche Moderne ist wesentlich vielschichtiger, als die Stanforder Forschergruppe behauptet. Vergessen werden hierbei häufig die finsteren Seiten von Modernisierung. Joas (2000) hat zahlreiche Arbeiten vorgelegt, die belegen, dass nicht nur Demokratie, Bürgerrechte, Zivilisierung und der „Sprung vorwärts“ (Berger 2006: 218) zur Formierung der Moderne gehören, sondern dass ebenso Krieg und Gewalt, Hunger und Armut Teil der Moderne sind. Sie stehen nicht außerhalb des Prozesses der Moderne, sondern sind diesem immanent. Die westliche Modernisierungstheorie wiege sich im „Traum von der gewaltfreien Moderne“ (Joas 2000: 49ff.). Nach den vielen Kriegen gelte es aber offen zu sein für die vielfältig gebrochene Aggressionsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Die finstere Kehrseite der liberalen Friedenskonzeption ist die Geschichte kolonialer Herrschaft. Truman konnte, wie der Historiker Niall Ferguson (2006: 740) zitiert, angesichts der Schrecken, die durch den Abwurf der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki verursacht wurden, nur noch erläutern: „‚Das Tier Mensch […] muß sich ändern‘, schrieb er 1946, ‚oder es steht vor der absoluten und völligen Zerstörung, und folgen könnte ein Zeitalter der Insekten oder auch ein lebloser Planet‘.“ Selbst unsere moderne Technologie basiert auf dem Amalgam von Gewalt und Krieg. Spulen, Kondensatoren, Speichermedien und Abwehrmagnetophone, die im Zweiten Weltkrieg entstanden sind, bilden bis heute die Basis der Telekommunikation. Friedrich Kittler (1991: 520) stellt fest: „Kein westlicher Welfare State nach 1945 wäre ohne vorhergehenden Warfare State möglich geworden. Insofern hat es eine Stunde Null nie gegeben.“ Gerade der Kolonialismus zeigt, so Mike Davis (2004), dass die Geschichte des 19. Jahrhunderts, die gerne aus der Perspektive der aufsteigenden Imperien und Metropolen erzählt wird, einem geheimen Nebenpfad folgte. Es ist die Geschichte der Unterdrückung der kolonisierten Regionen. Während die europäischen Weltreiche zusammen mit Japan und den USA jede Gelegenheit wahrnahmen, weitere Kolonien zu besetzen, um Ressourcen für Plantagenwirtschaft und Bergbau zu erschlie160

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ßen, gingen die besetzten Gebiete leer aus. Ganz im Gegenteil: Ihre Geschichte ist gekennzeichnet von Hunger, Elend, Dürrekatastrophen und verheerenden Seuchenepidemien, die Millionen von hungernden Menschen dahinsiechen ließen. Während es in verschiedenen Gebieten der Nationen Getreideüberschüsse gab, nahmen die Missernten und Wassermängel in anderen Teilen der Welt gigantische Ausmaße an. Davis (2004: 17) fasst zusammen: „Was aus der metropolitanen Sicht als das letzte Auflodern imperialer Herrlichkeit des 19. Jahrhunderts erschien, war aus asiatischer oder afrikanischer Perspektive lediglich der schreckliche Widerschein eines gigantischen Bestattungsfeuers.“ Knöbl (2001) weist – insbesondere an den Arbeiten von Michael Mann – nach, dass Modernisierung unmittelbar mit politischen und militärischen Machtfaktoren zusammenhängt. Auch die Genese der Nationalstaaten ist nur vor dem Hintergrund von Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen vorstellbar. Durch militärische Gewalt gewinnt der Staat seine Bedeutung: „Politische und militärische Macht […] haben die westliche Moderne entscheidend geprägt“ (Knöbl 2001: 298), was in einer Theorie, die sich „nur“ einer Weiterentwicklung der Grundeinsichten von Weber und Durkheim verschreibt, übersehen und vernachlässigt wird. Zudem verliefen Prozesse nicht linear, sondern in Sprüngen und waren wesentlich komplexer und verschlungener, als in vielen Ansätzen suggeriert wird (ebd.: 299f.). Das Thema Macht und Moderne spielt bis in die neuere Geschichte hinein eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Bekannt ist, dass die Nato mehrere Jahrzehnte lang mit rechtsextremen Terroristen und Verbrechern kooperierte, wie der Historiker Daniele Ganser (2005) herausarbeitete. Dieses Netzwerk, das bis in höchste Regierungskreise und Geheimdienste reichte, war an verschiedenen Staatsstreichen, wie z.B. dem Militärputsch in Griechenland 1967, beteiligt. Auch duldet es keinen Zweifel, dass das Verhältnis von Demokratie und Politik im 20. Jahrhundert als höchst ambivalent zu beurteilen ist. „Gleichzeitig hat das zwanzigste Jahrhundert einen ungeahnten Siegeszug der Demokratie erlebt“, schreibt Berger (2006: 216) als Vertreter der klassischen Modernisierungstheorie. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Wer von Moderne und Demokratie spricht, darf beispielsweise nicht über Nationalsozialismus und Modernisierung schweigen. Der moderne europäische Staat plante den fabrikmäßig organisierten Massenmord an 6 Mio. Juden. Es handelte sich hierbei also um eine organisierte Gewalt, die sich innerhalb des Staates selbst abspielte. Warum kam in einer zivilisierten Nation ein solches Regime hervor? Niall Ferguson (2006: 372ff.) hat darauf hingewiesen, dass die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts die Zeit der Lager sind. Wohin man auf der Welt auch 161

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blickte, überall entstanden Lager: Konzentrationslager in Deutschland, Arbeitslager in der Sowjetunion, Asyle für Arbeitslose in Amerika. Für Ferguson ist das 20. Jahrhundert zweifellos das blutigste der Geschichte und es war weit mehr von Gewalt durchdrungen als jede vorherige Epoche. Ich kann hier im Einzelnen nicht auf die komplexen Sachverhalte eingehen, aber zu fragen wäre: Ist der Holocaust überhaupt zu verstehen, wenn wir nicht „seinen zutiefst modernen Charakter in Betracht ziehen“ (Joas 2000: 237)? Es lässt sich gerade am deutschen Paradigma nachweisen, dass im Modernisierungspfad einer Nation verschiedene, voneinander differierende Teilprozesse der Modernisierung (Bürokratisierung, Säkularisierung, Demokratisierung etc.) unterschieden werden müssen (vgl. Joas 2000: 239). Die Anwendung des Modernisierungskonzeptes auf den Nationalsozialismus, ist, so Matzerath/Volkmann (1977: 88), „mit einem harmonistischen Grundverständnis der Modernisierung unvereinbar. Sie erzwingt geradezu die Analyse ihrer Verwerfungen und Brüche“. Insbesondere kann von einer Linearitätsannahme bezüglich der Expansion von Wohlstand innerhalb und außerhalb des Westens nicht die Rede sein. Eine Erklärung des westlichen Modernisierungswunders liegt, gemäß Berger, im Wachstum begriffen. „Die Institutionalisierung des Wachstums ist die entscheidende Neuerung.“ (Berger 2006: 218) In welche Rechnung gehen dabei aber die Verlustzahlen des ökonomischen und zivilisatorischen Bankrotts der beiden Weltkriege ein? Wo kommt in dieser Kausalkette des Triumphes die Weltwirtschaftskrise vor? Wo ist in dieser Aussage die paradoxe Diagnose enthalten, dass sich trotz globalen Wohlstandswachstums die Ungleichheit zwischen bestimmten Bevölkerungsschichten aufgrund der Verteilungsmechanismen des Wachstums vergrößert hat (Stiglitz 2002)? Wenn es etwas gibt, dass der westliche Modernisierungsdiskurs von alternativen Beschreibungen lernen kann, dann ist es jener konsequente Versuch, ein „unilineares Bild des Geschichtsprozesses und die Idee der Geschichte als Fortschritt hinter sich zu lassen“ (Knöbl 2006: 71). (b) Auch die Dichotomie von Tradition und Moderne ist in der sogenannten westlichen Welt keineswegs heute so überwunden, wie Meyers Ansatz suggeriert. Eine These der Modernisierungssoziologie lautet ja bekanntlich: „Traditionale und moderne Gesellschaften unterscheiden sich radikal voneinander.“ (Berger 1996: 48) Indes, der Glaube, dass die Prozesse struktureller Isomorphie früher oder später auch die Länder des islamischen Fundamentalismus oder China verändern werden, ist schon insofern überzogen, als ja selbst in den Ländern, die als etablierte Repräsentanten der modernen Zivilisation gelten, antidemokratische und anti162

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moderne Gegentendenzen zu beobachten sind. Mit anderen Worten: Selbst in den westlichen Ländern ist die von Meyer behauptete Isomorphie nicht durchgängig implementiert worden. Vielmehr sind auch in den westlichen Demokratien unter der Oberfläche des Isomorphismus heterogene kulturelle Segmente wirksam, die im Übrigen auch Luhmanns Theorem der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft widersprechen. Auch in der westlichen Sphäre werden der Ökonomie und anderen Institutionen kulturbedingt variierende Hindernisse aufgebürdet. Generell lässt sich beispielsweise, wie Christoph Marx (2001: 89) sagt, hinsichtlich der westlichen Beurteilung des islamischen Fundamentalismus als rückwärtsgewandt eine grundsätzliche Ironie feststellen: Sie ist „ethnozentrisch, denn kaum ein westlicher Autor käme auf den Gedanken, ein Bekenntnis zum Urchristentum, dessen Gemeinschaftsformen häufig in ähnlicher Weise wie die frühislamische Zeit mythisch verklärt werden, als ‚reaktionär‘ zu denunzieren“. Gerade der amerikanischen Gesellschaft ist ein religiöser Fundamentalismus zu eigen. Meyer et al. (2005: 57) meinen, dass in der westlichen Welt eine permanente Abnahme desjenigen Bereiches zu verzeichnen sei, „der direkt unter transzendent-spiritueller Kontrolle steht“. Während Sigmund Freud die religiösen Vorstellungen noch als „Illusionen“ abgetan hatte, die an Bedeutung verlieren werden, weist hingegen Huntington (2005: 83ff.) darauf hin, dass zur amerikanischen Identität vor allem die Religiosität gehört: Amerikaner sind religiöse Eiferer. Huntington (ebd.: 344ff.) diagnostiziert – auch für die Vereinigten Staaten in den 1990er-Jahren – eine Rückkehr der Religion und ein dramatisch gestiegenes Interesse an religiösen Sachverhalten. Bis zu 95 Prozent der USBürger glauben an einen Gott (Der Spiegel, 8/2003: 94). Der emeritierte Soziologe Norman Birnbaum (2005: 49) stellt lapidar fest: „Der Präsident spricht für die religiösen Traditionalisten, er unterstützt die Abtreibungsgegner, die Kreationisten, die das so genannte Intelligent Design als Unterrichtsfach einführen wollen, und er lehnt die HomosexuellenEhe ab.“ Religion ist in Amerika mittlerweile zu einer wahlentscheidenden Variable geworden. Nicht moderne Werte bestimmen also in Amerika in essenziellen Fragen die Politik. Keineswegs kann hier von einem vollständigen Abstreifen der „Fesseln der Tradition“ (Berger 1996: 48) gesprochen werden.

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

4.3.2.4 Zusammenfassung und Übergang. Zum Begriff der Entkopplung Ich fasse diese Diskussion einiger empirischer Sachverhalte vorerst abschließend zusammen. Die zuletzt angestellten Überlegungen zu einzelnen Theoriebestandteilen von Meyer und weiteren Argumenten der Modernisierungstheorie, die in diesen Kontext gehören, haben deutlich werden lassen, wie hoch die Messlatte anzusetzen ist, wenn man von einer global sich ausbreitenden Weltkultur ausgeht. Die Ergebnisse zeigen, dass Meyer von einem Makrodeterminismus getrieben ist, der die interpretativen Eigenleistungen der Akteure nicht in Betracht zieht (Greve/Heintz 2005: 103; vgl. auch Heintz et al. 2001). Das Axiom, dass „Gesellschaft“ unter modernen Bedingungen auf jeden Fall eine „Weltgesellschaft“ darstelle, lässt sich allerdings „mit historisch-vergleichender Empirie nicht begrifflich überzeugend integrieren“ (Schriewer 2005: 437). Insgesamt scheint John Meyers Team somit einem geheimen Hegelianismus aufzusitzen, der im Spannungsfeld von Idee und Wirklichkeit auf die Seite der Idee abdriftet. Wie für Hegel scheint die Verwestlichung der Welt, die eben jene kulturelle einheitliche Weltkultur hervorbringt, das Endergebnis eines immanenten Entwicklungsprozesses zu sein. Hegels Geschichtsphilosophie basierte auf der Annahme eines endogenen und irreversiblen Telos des Weltgeschehens.7 Niemand gibt über diese idealistische Schlagseite selber so informiert Kunde wie Meyers Team selbst: „Vor allem aber sind die Modelle der Weltkultur stark idealisiert und in sich inkonsistent, so daß ihre Realisierung prinzipiell unmöglich ist.“ (Meyer et al. 2005: 100) Unverhofft wird auf einmal zugestanden, dass der Schein globaler Isomorphie trügen könnte. Denn was mit der universellen, nach einem geheimen Drehbuch ablaufenden Homogenisierung von Institutionalisierung korrespondiert, sind „Entkopplungserscheinungen“ zwischen dem vermeintlichen weltkulturellen Konstrukt und den „realen Praktiken“ in den Kontexten. Hinfort erkennt man, dass offensichtlich eine unüberbrückbare Kluft zwischen unterstellter Idee und dem, was in der Realität tatsächlich geschieht, besteht. „Wie kann es sein, daß Werte und Handlungen dauerhaft so schlecht zusammenpassen?“ (Meyer et al. 2005: 101) Dem global etablierten Set von Universalien zu widerstehen ist offensichtlich 7

Eine geschichtsphilosophisch-teleologische These von Hegel lautet etwa: „Im Orient ist nur ein einziger frei (der Despot), in Griechenland sind einige frei, im germanischen Leben gilt der Satz, es sind alle frei, d.h., der Mensch als Mensch ist frei.“ (Hegel 1984, Bd. 1: 97)

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GLOBALE KONTUREN VON KONTINGENZ

genauso unmöglich wie es tatsächlich zu realisieren. Die scheinbar weltweit anerkannten Modelle ökonomischer Entwicklung, fiskalischer Ordnung und entwicklungspolitischer Propaganda prägen zwar die PRBroschüren der Akteure, nicht aber unbedingt ihre pragmatische Realität: „Es ist leichter, Ministerien zu gründen, die Erklärungen zum Ausbau des Bildungssystems oder zum Schutz der Frauen abgeben, als Schulen zu bauen und soziale Einrichtungen zu schaffen, die diese Programme tatsächlich umsetzen.“ (Meyer et al. 2005: 100) Wenn die „world polity theory“ sich von ihrem makrosoziologischen Bezugsrahmen löst und die Perspektive der Praxis und der Mikroebene einnimmt, stellt sie somit selbst fest, dass die unterstellte zunehmende Isomorphie und der Homogenisierungstrend gar nicht zutreffen. In der Organisationssoziologe ist dieser „Entkopplungsprozess“ als Differenz von „talk“ und „action“ bekannt (Brunsson 22003). Auf der Vorderbühne wird im Angesicht der Öffentlichkeit und des beobachtenden Publikums gefällig kommuniziert, während im Inneren des organisationalen Alltags die Maskerade und die Unaufrichtigkeit herrschen und die Außendarstellung als dysfunktional und systemfremd abgetan wird. Die Erfahrung zeigt, dass die auf der Vorderbühne verhandelten innovativen Strategien intern die ihnen zugeschriebenen Funktionen, wie Orientierung oder Handlungsregulierung, im konkreten Organisationsalltag nicht erfüllen. Stattdessen sind sie auf der pragmatischen Ebene lediglich Leerformeln. Statt die Realität abzubilden, verklären sie diese. Interessant ist hier, dass das Stanforder Team aus seinen Beobachtungen nicht die Folgerungen zieht, die ganz offensichtlich angemessen wären. Denn die Ergebnisse können doch nur so verstanden werden, dass unterschiedliche Kulturen eben gerade nicht in denselben rechtlichen, sozialen und physischen Formen leben und dass es nicht ausreicht, dem „talk“ der Hochglanzbroschüren Gehör zu schenken. Schon die suggestive Metapher, dass sich etwas von der Weltkultur, die als Bezugsrahmen gilt, entkoppelt, ist häufig missverständlich, da sie suggeriert, dass sich etwas von einer Gesamtheit abspaltet. In Wirklichkeit aber bricht die weltkulturelle Isomorphie häufig an den institutionellen Barrikaden der fremden Kultur. Anders aber als bei dem biologischen Prozess des Crossing-over, in dem es zu einem harmonischen wechselseitigen Austausch von Teilstücken der Chromatiden kommt, passen die heterogenen kulturellen Segmente und Kontexte nicht in den Horizont der Weltkultur hinein. Umgekehrt ist also die fehlende Realität, die Meyer beanstandet, die fehlende Realität seines Ansatzes. Man müsste die Autoren ergänzen: Es ist leichter, eine homogene Welt per Idee festzustellen, als diese in der konkreten Realität wiederzufinden. Dringend angeraten scheint es daher, 165

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

einen kontinuierlichen Dialog zur Geschichte der Moderne zwischen Sozialwissenschaftlern unterschiedlicher regionaler Kontexte in die Wege zu leiten. Geprägt durch eine lange Tradition, die scheinbar immer noch im Schatten der Gründerväter der Soziologie des Westens einhergeht, und auch einer Logik der „Nationalsoziologie“ (Beck 2002: 52) folgt, muss speziell die westliche Soziologie die Fähigkeit entwickeln, sich für andere Erfahrungen und Erkenntnistraditionen zu öffnen. Die Debatte gibt ersichtlich eine Ahnung davon, dass es offensichtlich schwierig ist, eine Konvergenzthese zu vertreten. Denn es wird in den heterogenen regionalen Kontexten der Weltkultur mit der „Möglichkeit von Entwicklungsabbrüchen gerechnet, und es wird auch die fundamentale Verschiedenheit der kulturellen Muster bzw. Kräftekonstellationen in unterschiedlichen Regionen herausgestellt, die eine weltweite uniforme Entwicklung höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich macht“ (Knöbl 2001: 447). Die Säulen, auf denen die Moderne steht, werden in verschiedenen Ländern und Kulturen „nicht auf ein weißes Blatt eingetragen, sondern es ergeben sich Adaptionsprozesse“ (Schwinn 2005: 218). An dieser Stelle wird somit die Frage relevant, „ob es nur einen einzigen Weg in die Moderne gibt“ (Knöbl 2001: 159).

4.4

Die Multiple-Modernities-Debatte. Zu Shmuel Eisenstadts Ansatz

Wir müssen mehr Sensibilität für theoretische Alternativen entwickeln. Zweifellos gibt es solche Konzepte und Ansätze, die ihre Erklärungskraft dadurch unter Beweis stellen, dass sie statt von einem Universalmodell von Modernisierung von Brüchen und Differenzen in der Logik von Modernisierungspfaden ausgehen. Nun liefert uns der von dem israelischen Soziologen Shmuel Eisenstadt vorgelegte Ansatz einen Schlüssel für das hier Gesuchte. Nicht verschwiegen werden soll außerdem folgender Sachverhalt: Wenn heute die Theorie der Multiple Modernities in aller Munde ist, so muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Zweifel an einer fein säuberlichen Trennung von Tradition und Moderne so neu nicht ist. Mit den seit den 1960er-Jahren diskutierten Modernisierungstheorien wird das Problem der Modernisierung virulent (vgl. Alexander 1994). Ich kann hier nur kurz auf diesen früheren Modernisierungsdiskurs eingehen und möchte mich nicht auf die weit verzweigte Diskussion einlassen.

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GLOBALE KONTUREN VON KONTINGENZ

4.4.1 Wiederaufnahme von kritischen Einwänden der Modernisierungstheorie Meyers Interpretationsansatz könnte man in Anlehnung an Sebastian Conrad und Shalini Randeria (2002: 13ff.) kritisch als Diffusionsmodell bezeichnen. Demnach lässt sich die Geschichte der Modernisierung „einfach“ als die lineare Chronologie einer Art Diffusion oder als eines Transfers von den europäischen Territorien in die Peripherie und die Dritte Welt lesen. „Ohne auch nur das geringste über die Geschichte, die Kultur, die Gewohnheiten und Traditionen dieser bislang unbekannten Gesellschaft zu wissen, könnten wir also viele der Veränderungen vorhersagen, die nach der ‚Entdeckung‘ der Insel unter dem Titel ihrer ‚Entwicklung‘ über sie hereinbrechen würden.“ (Meyer et al. 2005: 87) Dieser Ansatz beruht auf der Annahme – und das Inselbeispiel von Meyer scheint dies nahezulegen –, dass das Projekt der Moderne letztlich von allen sich modernisierenden Gesellschaften unmittelbar übernommen werde. Im Prozess globaler Modernisierung würden die westlichen Werte letztendlich dominant werden und alle Kulturen würden sich die westliche Kultur gleichsam wie eine zweite Haut überziehen. Man ist nahezu an Francis Fukuyamas Diktum vom „Ende der Geschichte“ erinnert, der von der Homogenisierung der modernen Weltgesellschaft nach dem amerikanischen Modell ausging. Die westliche Demokratie hat gesiegt und es gibt keine politischen Alternativen mehr. Es hat, so scheint es, lange gedauert, bis Kritik an dieser asymmetrischen Konzeption von westlicher Moderne und Homogenisierung geübt wurde. Inzwischen entsteht in der Modernisierungssoziologie und seit jüngster Zeit auch in der Anthropologie eine neue Betrachtungsweise des Modernisierungsphänomens. Globalisierung führe nicht zu einer weltweiten Homogenisierung einer einzigen Leitkultur. So wie sich die Strukturen der Gesellschaft in Asien, Lateinamerika und Europa unterschieden, so verliefen je nach Eigenart der Kulturen, auf die sie träfen, auch die Globalisierungsprozesse in den Regionen der Erde unterschiedlich. Allerdings muss für die hier vorgenommene Betrachtung zumindest am Rande berücksichtigt werden, dass eine Kritik an der linearen Modernisierung bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren geübt wurde. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Bereits in dieser Zeit wurde bezweifelt, dass Modernisierung immer eine „Modernisierung in die Moderne“ (Mergel 1997: 216) bedeuten und die moderne Gesellschaft stets als „natürlicher Endpunkt“ (Hans-Ulrich Wehler) gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet werden müsse. Irgendwann in den späten 1960er-Jahren, urteilt Jefrey Alexander (1994: 175f.), war die Moderni167

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sierungstheorie zum Sterben verurteilt. Schon damals wurde der als Diffusion westlicher Prinzipien auftretenden Modernisierungstheorie widersprochen. Es wurde moniert, dass die Mehrheit der Menschen in den Entwicklungsländern arm und unterprivilegiert sei. Diktaturen und Revolutionen setzten sich überall auf der Welt trotz demokratischer Interventionen durch. Robert Bellah (1957) begründet diesen Zweifel der Modernisierungstheorie an seiner Beobachtung, dass in Japan die Industrialisierung einer anderen Interpretation und Bewertung folgt wie in den USA. Eine Reihe von Autoren wäre hier zu nennen, die schon früh darauf hinwiesen, dass die einfache Übertragung von westlichen Modernisierungsprozessen in verschiedene andere Kontexte nicht möglich ist, sodass man den Eindruck hat, wie Knöbl (2001: 196ff.) formuliert, dass die Blume der Modernisierungstheorie nur kurz blühte. Insofern müsste man Meyers Ansatz als „Remodernisierung“ (Alexander 1994: 182ff.) interpretieren. Knöbl (2001: 212) liegt sicher richtig in seiner Behauptung, dass die Kritik an der Modernisierungstheorie spätestens seit 1960er-Jahren einen großen Raum im wissenschaftlichen Diskurs einnimmt. Wirft man also heute einen Blick in die Literatur, werden in Bezug auf das Theorem der Weltgesellschaft ganz ähnliche Muster der Kritik aktiviert, wie sie bereits vor und um 1960 artikuliert wurden. Dieses gemeinsame Grundverständnis der Defizite der klassischen Modernisierungssoziologie hat nun kaum ein Autor deutlicher herausgearbeitet als Eisenstadt. In Eisenstadts Theorem von der Vielfalt von Modernisierungspfaden wird seine Vorstellung besonders gut greifbar. Statt ein weltweit dominantes Strukturmuster als Folge des okzidentalen Rationalisierungsprozesses zu produzieren, erweist sich, so Eisenstadt (2000: 11), die Wirklichkeit moderner Gesellschaften als ganz anders. Die vermeintlich eine Weltpolitik wird nämlich in vielen Gesellschaften in verschiedenen Merkmalen unterschiedlich kombiniert: „Die Entwicklungen in unserem Zeitalter haben die ‚Konvergenzannahme‘ nicht bestätigt; sie sprechen vielmehr für die große Vielfalt moderner Gesellschaften [...].“ Immer mehr Menschen beharren auf kultureller Identität und grenzen sich von den Prozessen der Globalisierung – im Sinne einer Homogenisierung – ab. „In allen oder fast allen Gesellschaften zeigen die verschiedenen institutionellen Sphären – Wirtschaft, Politik, Familie – stets relativ voneinander unabhängige Merkmale, die in verschiedenen Gesellschaften und in verschiedenen Entwicklungsperioden unterschiedlich kombiniert werden.“ (Eisenstadt 2000: 11) Die Ursache dafür sieht Eisenstadt in der Tatsache begründet, dass sich die großen „Kulturen der Achsenzeit“ je nach kulturellem Hintergrund historisch unterschiedlich

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GLOBALE KONTUREN VON KONTINGENZ

entwickelt haben und bis heute ihre Wirkung zeigen. Wie ist Eisenstadts Erklärung zu deuten?

4.4.2 Achsenzeit und gesellschaftliche Entwicklung Bekanntlich übernimmt Eisenstadt den Begriff „Achsenzeit“ von Karl Jaspers. Dieser hatte in seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen die Frage in den Raum gestellt, ob sich der Gang der Weltgeschichte über einen einheitlichen Ausgangspunkt („Achse“) rekonstruieren ließe. Hat die Geschichte, so fragt Jaspers, einen Sinn, einen gemeinsamen Rahmen und eine Struktur? Jaspers erstaunliche Beobachtung lautete, dass offenbar in der Zeit zwischen 800 bis 200 v.Chr. alle großen Weltreligionen ihren Anfang nehmen bzw. mit der von ihm so benannten Achsenzeit zusammenfallen. „Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Diese Zeit sei in Kürze die ‚Achsenzeit‘ genannt. […] In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben.“ (Jaspers 281989: 77f.) Was war das Gemeinsame, was die Kulturen zu dieser Zeit so in Spannung versetzte? Eisenstadt antwortet: Alle Hochkulturen lösten zu diesem Zeitpunkt das mythische Zeitalter ab. Es begann nun „der Kampf mit dem Mythos aus Rationalität und aus realer Erfahrung“ (ebd.: 78). Diese Ablösung manifestierte sich bei allen Achsenkulturen als die Spannung zwischen weltlicher und transzendenter Ordnung: „Das Neue dieses Zeitalters ist überall, daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewußt wird. Er erfährt die Furchtbarkeit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen, drängt vor dem Abgrund auf Befreiung und Erlösung.“ (Ebd.: 78) Der Mensch ist nun nicht mehr „in sich geschlossen. Er ist sich selber ungewiß, damit aufgeschlossen für neue, grenzenlose Möglichkeiten“ (ebd.: 79). Mit bestürzender Klarheit hat Georg Simmel die Erfahrung des zerrissenen Weltganzen, die die Kultur zur damaligen Zeit elektrisiert haben muss, in Worte gefasst: „Dass der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt – mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt.“ (Simmel 1996: 25) Nach Eisenstadt ist es nun der Terminus der „Transzendenz“, der für die Kulturen in Folge relevant wird. Transzendenz und insbesondere der mit diesem Begriff zusammenhängende Erlösungsgedanke wurde offenbar als neues Instrument der Kultur eingeführt. Alle Achsenzeitreli169

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gionen waren Teil eines Rationalisierungsprojektes, das „die vorher geltenden magischen und rituellen Mittel des Menschen, ‚sich zur anderen Welt in Beziehung zu setzen‘ […], überwindet und sich mittels Intellektualisierung ein Bild des jenseitigen Reiches zu entwerfen sucht, das – wie gesagt – scharf getrennt ist vom Bereich des Mundanen“ (Knöbl 2001: 250). Was vorher allerdings eine Einheit war, war nun getrennt: „[…] in the axial-age civilizations, the perception of a sharp disjunction between the mundane and the transmundane worlds developed“ (Eisenstadt 2003: 199), Die vorachsenzeitlichen Kulturen hatten einen solchen Dualismus nicht gekannt. Gemäß Eisenstadt besteht die gemeinsame Problemlandschaft, an denen die Kulturen sich abarbeiteten, in der Frage, wie mit der neuartigen Spannung zwischen dem Transzendenten und dem Jenseitigen umgegangen werden soll. Entscheidend ist für Eisenstadt, welche Strategie die Kulturen – je aus ihrer eigenen Perspektive – im weiteren historischen Verlauf wählten, um mit diesem Problem zurande zu kommen. Alle Achsenzeitreligionen – das Judentum, die griechische Kultur, der Hinduismus, der Buddhismus, der Konfuzianismus und das Christentum – haben zwar den Prozess der Abspaltung von jener vormodernen ursprünglichen Einheit durchgemacht, der sich nun als Spaltung zwischen dem Diesseitigen und dem Jenseitigen manifestierte. Alle Achsenzeitreligionen reflektieren zudem ab einem bestimmten Moment die Spannung, die sich zwischen der transzendenten und der diesseitigen Welt auftat. Aber sie alle verarbeiten diese Dichotomie in ihrer je eigenen Weise und Rationalität. Die Dynamik innerhalb der Kultur fiel eben je nach kultureller Sonderbedingung in dieser oder anderer Weise aus: „No one homogeneous world history emerged nor were the different types of civilizations similar or convergent. Rather, there emerged a multiplicity of different, divergent, yet continuously mutually impinging world civilizations, each attempting to reconstruct the world in its own mode, according to its basic premises […].“ (Eisenstadt 2003: 214) Eisenstadt behauptet, dass nun die jeweils kulturspezifische Art der Problembewältigung der achsenzeitlichen Spanne im Wesentlichen die Wandlungsrichtung und Veränderungsgeschwindigkeit von Zivilisation beeinflusst hat (vgl. Knöbl 2001: 252). Eine reine außerweltliche Orientierung, die mit einer Ablehnung der Welt vereinbar erschien – wie sie im Buddhismus und Hinduismus vorliegt –, motiviert nur wenig für eine Transformation von politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen. Diese Religionen zielten nicht auf die Entwicklung gewichtiger alternativer Szenarien und Ideen für die Gestaltung der politischen und sozialen Ordnung. Deren Hauptziel ist es ja – wie etwa in der indischen Religion –, das schlichte Diesseits zu überwinden. 170

GLOBALE KONTUREN VON KONTINGENZ

Hingegen sind Zivilisationen, die aufgrund ihrer religiösen Struktur eine innerweltliche Orientierung ermöglichen, zu stark beschleunigenden Wandlungsprozessen fähig (vgl. Knöbl 2001: 252). Letzteres trifft etwa auf China zu: „Tatsächlich ist in China niemals eine offizielle, von den ‚säkularen‘ Regeln des Konfuzianismus unabhängige religiöse Lehre entstanden.“ (Eisenstadt 1992, Bd. 1: 17) Hier lässt sich die achsenzeitliche Spannung säkular auflösen. Auch das Christentum war von seinen Anfängen an auf das Diesseits gerichtet und entsprechend intensiv an einer Erneuerung und Orientierung der politischen Ordnung interessiert. Eisenstadt glaubt nun, dass die kulturelle Evolution in der Achsenzeit schon als Basis und Keimzelle der Modernisierung angelegt ist. Wie durch eine dünne Membran werde gleichsam die künftige Entwicklung bereits sichtbar. Freilich werden die erkennbaren Pfade durch die selektive Aneignung neuer kultureller Fragmente aus anderen Kulturprogrammen ständig ergänzt und verformt. Die Moderne übt einen erkennbaren Einfluss auf die kulturellen Pfade aus: „Überall wurden verschiedene Möglichkeiten, die in dem zuerst in Europa formulierten Programm der Moderne angelegt waren, immer wieder neu ausgeformt.“ (Eisenstadt 2000: 174) Alle Kulturen der ersten Achsenzeit müssen sich mit den Metaprämissen der Moderne auseinandersetzen. Insofern übernimmt die westliche Moderne auch für Eisenstadt die Bedeutung einer Art „zweiten Achsenzeit“ (Schluchter 2000: 173), ohne allerdings – und das ist der springende Punkt – die für die Modernisierungssoziologie kennzeichnende Annahme zu teilen, dass sich diese linear in die anderen Kulturen adaptieren ließe. So radikal sich auch im Prozess der Moderne einzelne kulturelle Variablen verschieben, neue Komponenten hinzukommen und sich an anderen Modernisierungsmustern reiben, müssen die Brüche immer auch, wie Knöbl (2001: 257) formuliert, als „Fortsetzungen bisheriger Tendenzen“ aufzufassen sein, „weil sie nämlich aus den noch immer wirkungsmächtigen Problemstellungen der Achsenzeit hervorgegangen sind“. Den Fundamentalismus z.B. deutet Eisenstadt (2000: 182ff.) durchaus als „modernes“ Phänomen, weil er bereits eine Reaktion auf westliche Modernisierung ist: „Die Grundideologie des Fundamentalismus ist antimodern […].“ (Eisenstadt 1998: 77)8 Der Fundamentalismus nutzt die Dynamiken, die durch Globalisierungsprozesse in Gang kommen, und bedient sich moderner Medien- und Kommunikationstechniken. Interessant ist für Eisenstadt allemal, wie die kulturellen achsenzeitlichen 8

Hardt/Negri (2002: 161) würden so weit gehen, den Fundamentalismus aufgrund seiner antimodernen Stoßrichtung „weniger als vormodernes denn als postmodernes Unternehmen“ zu begreifen.

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

Interpretationspfade durch neue Deutungen und Bedeutungsschichten angereichert werden. Gleichzeitig rekurriert der Fundamentalismus auf traditionale religiöse Werte, Urvisionen der eigenen Kultur und „ursprüngliche“ Praktiken: „Diese Antinomien und Spannungen im kulturellen und politischen Programm der Moderne haben ihre Wurzeln in denen der ‚vormodernen‘ Achsenkulturen.“ (Eisenstadt 2000: 26) Georg Stauth (1998: 134) hat das Spannungsverhältnis von Moderne und Religion in Eisenstadts Theorie folgendermaßen kommentiert: „[…] so sehr sich Religion und Politik einerseits seit den Bewegungen der Achsenzeit als separate gesellschaftliche Sektoren entwickeln, so sehr bleiben sie andererseits in der gesamten westlichen Entwicklung bis zur Moderne auf das tiefste miteinander verwoben“. Der Fundamentalismus erscheint in diesem Sinne als das zeitgenössische Muster „der Reiinstituierung der Transzendenz“ (ebd.: 151) im Diskurs der Moderne. Beziehen wir diese These auf die Modernisierungstheorie westlicher Provenienz im Allgemeinen und auf Meyers World-Polity-Ansatz im besonderen: Für die Modernisierungstheorie westlicher Prägung ist der Prozess der Moderne ein die Weltkulturen uniformierender Prozess, sofern er – mit Beginn der industriellen Revolution ungefähr Mitte des 18. Jahrhunderts – jetzt alle Kulturen und Gesellschaften irreversibel erfasst und transformiert. Meyer und sein Team reproduzieren diese Vorstellung, indem sie behaupten, dass sich im Prozess der Globalisierung die grundlegenden Strukturen und Rahmenbedingungen des Okzidents über den gesamten Globus ausbreiten. Das ist auf der einen Seite schon richtig. Die große Kontinuität, die der westliche Modernisierungsdiskurs propagiert, verschweigt allerdings, dass – je nach innerkultureller Entwicklung – Moderne einen unterschiedlichen Pfad einschlagen kann: „Die Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit der modernen Kulturprojekte kann man an der Art und Weise erkennen, in der die institutionellen Muster der westlichen Kultur in nicht-westliche Kulturen übernommen und transformiert wurden […].“ (Eisenstadt 1998: 125). Und die westliche Moderne ist neben mehreren anderen Modernisierungsbewegungen nur ein Pfad. Die unterschiedlichen Zivilisationen haben sich zwar tatsächlich mit den Problemen westlicher Kultur auseinandergesetzt und waren gefordert, sie in ihrer zivilisatorischen Rahmenordnung selbstständig abzuarbeiten. Aber eine solche „[…] Einverleibung der unterschiedlichen Themen und institutionellen Muster der modernen westlichen Zivilisation in den modernen westlichen europäischen Gesellschaften hatte jedoch nicht zur Folge, daß sie in ihrer ursprünglichen Form einfach akzeptiert wurden. Vielmehr bedeutete dies die kontinuier-

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liche Auswahl und Neuinterpretation solcher Themen und die Erneuerung der institutionellen Muster“ (Eisenstadt 1998: 125).

Auch wenn die aggressive Expansion des Westens seine hegemoniale Position unterstützte, leben wir doch längst nicht in einem Container der Moderne, der sich durch eine homogene Kultur auszeichnet, sondern die Entwicklungen sind kontingent zu interpretierten. Man könnte mit Habermas (2005: 121) paraphrasieren: „Welthistorisch betrachtet, erscheint Max Webers ‚okzidentaler Rationalismus‘ nun als der eigentliche Sonderweg.“

4.4.3 Kritische Stimmen zu Eisenstadts Ansatz Der Ansatz von Eisenstadt hat sich mittlerweile zu einer regelrechten Debatte ausgeweitet. Dieser ist zu entnehmen, dass sich aus seiner Position auch neue Probleme ergeben. Im Folgenden geht es darum, diese Problemkomplexe näher zu beschreiben und danach herauszuarbeiten, was dies für das Thema Kontingenz bedeuten könnte.

4.4.3.1 Unterschätzt Eisenstadt die Kontingenz? Die Auseinandersetzung mit Meyers Ansatz liefert gute Gründe für die Annahme, dass Globalisierung nicht einfach Homogenisierung bedeuten muss. Die kulturelle Globalisierung ist also kein einheitlicher oder widerspruchloser Prozess. Kulturelle Werte können in einer Gesellschaft politisch-kulturell sehr Unterschiedliches bedeuten. Eisenstadts Ansatz zeigt die Kontingenz unterschiedlicher Modernisierungspfade. In seinem Kontingenzmodell werden gesellschaftliche Entwicklungen in einen zeitlich-historischen Kontext gestellt. Nun stellt sich folgende Frage: Geht Eisenstadt mit seinem Modell in Richtung Kontingenz weit genug? Nach Meinung einiger kritischer Stimmen macht Eisenstadt hier zu viele Zugeständnisse an die prägende Kraft der durch die Achsenzeitreligionen beeinflussten Zivilisationspfade. Hier seien nun einige Probleme klar erkennbar. Eisenstadt behauptet zwar, dass die Pfadabhängigkeit von Modernisierung kontingent sei, nämlich abhängig von den jeweiligen Kontexten der Kulturen der Achsenzeit, die relativ unabhängig voneinander entstanden sind. Die Pfade selbst sind indessen nicht in großem Maße kontingent, denn diese sind ja durch die Achsenzeit und die jeweiligen Verarbeitungsmechanismen der Kulturen als relativ resistent anzusehen. Hartmann Tyrell (2005: 13) sagt nicht von ungefähr, dass die Idee der „Multiple Modernities“ einerseits durch die Weltreligionen und

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andererseits durch die von diesen formierten Zivilisationen „doppelt rückversichert“ sei. Und das führt uns bereits mitten ins Zentrum des Problems. Die Problematik besteht darin: Eisenstadts Bild von ausdifferenzierten alternativen Modernisierungspfaden setzt sich dem Risiko aus, so der kritische Einwand, die Kulturgeschichte als relativ stabil zu skizzieren, da die Ereignisse sich überwiegend aus der endogenen Betrachtungsweise jeweiliger Modernisierungspfade darstellen. Die Wege für sich selbst betrachtet folgen einer rein immanenten Logik, die ihnen von der Achsenzeit vorgezeichnet scheinen. Die Kulturen bewegen sich wie stabile Inseln durch die Geschichte und scheinen sich nicht zu verändern. Exogene Faktoren, die sich durchaus auch als Konflikte zwischen Kulturen darstellen, spielen eine geringere Rolle. Am Ende male, so Knöbl (2001: 259), Eisenstadt das Bild eines kontinuierlichen und konfliktlosen Geschichtsprozesses und weiche den „diskontinuierlichen Interpretationen der Moderne“ (ebd.: 259) aus. Aber sind die Konflikte des 20. Jahrhunderts, so Knöbl (ebd.: 259), „überhaupt das Resultat von Spannungen in tiefsitzenden und schon lange existierenden kulturellen Programmen“? Nur in Abstrichen kontingent ist ebenso, hier setzt die Kritik von Sebastian Conrad und Sheila Randeria (2002) an, Eisenstadts Perspektive auf die Moderne. Ähnlich wie die Pfade der Achsenzeit hat auch der Modernisierungsprozess für Eisenstadt eine herausragende Bedeutung. Zwar ist die gegenwärtige Moderne seiner Meinung nach am besten zu begreifen, wenn man sie als eine Geschichte kontinuierlicher Konstitution und Rekonstitution einer Vielzahl kultureller Programme auffasst. Aber auch wenn für ihn Westernisierung und Modernisierung nicht identisch sind, so wird doch ihre Priorität und historische Präsenz in den Vordergrund gerückt und wirkt als permanenter Erwartungshorizont für andere Zivilisationen. Das hat selbstverständlich Konsequenzen für die Frage der Relevanz der innerkulturen Kontexte, die sich von der modernen Kultur abheben: „Bei Eisenstadt ist der Blick immer noch insofern auf den Westen fokussiert, als er davon ausgeht, dass es die anderen sind, die sich an den westlichen Herausforderungen abarbeiten müssen. Damit negiert er im Grunde die Möglichkeit, daß auch andere Zivilisationen in der Lage sind, innovative Beiträge zur modernen Konstellation zu leisten […].“ (Randeria et al. 2004a: 15) Im Gegensatz dazu plädieren die Autoren für eine relationale Perspektive, die Geschichte als Entanglement versteht. Geschichte als Entanglement aufzufassen bedeutet, dass die miteinander in Beziehung stehenden Entitäten selbst zum Teil ein Produkt ihrer Verflechtung sind (ebd.: 17). Alles, was existiert, so hatte Hegel (1989, Bd. 1: § 135) gesagt, „steht im Verhältnis, und dies Verhältnis ist das Wahrhafte jeder 174

GLOBALE KONTUREN VON KONTINGENZ

Existenz“. Sartre (1962: 548) hat in einer schönen Metapher darauf hingewiesen, dass „diese Versteinerung des Für-sich durch den Blick des Anderen […] der tiefere Sinn des Mythos von der Medusa“ ist. Soziale Identität ist ein dynamisches Verhältnis von Wechselwirkungen zwischen eigenen Komponenten und fremden Anteilen. Während Eisenstadt die jeweiligen Modernisierungspfade der unterschiedlichen Regionen als autonome, kaum sich gegenseitig beeinflussende Prozesse skizziert, versuchen die Autoren, die hier versammelt sind, die wechselseitigen Beeinflussungsverhältnisse und interdependenten Transformationsprozesse moderner Kulturen zu thematisieren. Unter diesen Umständen lassen sich auch keine langdauernden Achsen mehr feststellen, sondern interessant wird für die Autoren, welche kontingenten Faktoren innerhalb der interdependenten Wege selbst am Werke sind. Es sei dahingestellt, wie weit nun dieses Konzept tatsächlich von Eisenstadt entfernt ist. Ich möchte hier auch nicht alle Verwirrungen, die durch einen Theorievergleich zustande kämen, auflösen. Dies wäre eine kaum zu Ende zu bringende Arbeit. Festzustellen ist hier nur, dass der Begriff „geteilte Geschichten“, den Randeria bevorzugt, eine doppelte Bedeutung besitzt. Auf der einen Seite zielt er darauf ab, die Entwicklung der modernen Welt als „gemeinsame Geschichte“ zu lesen, auf der anderen Seite betont er durchaus, dass im Zuge der Interaktion verschiedener Völker zugleich Abgrenzungen entstanden. Auf jeden Fall halten die Autoren fest: „Das Konzept zielt auf die Überwindung des Tunnelblicks, der die Geschichte einer Nation/Europas im Kern aus sich heraus erklärt. Diese relationale Perspektive legt das Schwergewicht auf die konstitutive Rolle, welche die Interaktion zwischen Europa und der außereuropäischen Welt für die Spezifität der Moderne in den jeweiligen Gesellschaften gespielt hat […].“ (Conrad/Randeria 2002: 17f.)

Das Paradigma der Verflechtungsgeschichten, das hier angeboten wird, bezieht sich somit explizit auf die Frage, wie die spezifischen kulturellen Prägungen des Westens in einem komplexen Wechselspiel der Assimilation und der Abstoßung in nicht westlichen Gesellschaften verarbeitet werden. Nicht erst heute, sondern bereits viel früher haben sich die Nationen beobachtet, quasi „bespitzelt“, und kulturelle Fragmente anderer Kulturen in die eigenen Denk- und Wahrnehmungsschemata übertragen. Nicht westliche Gesellschaften haben sich modernisiert, ohne die eigene Kultur zu vernachlässigen und sich pauschal an westliche Werte und Institutionen zu assimilieren: „Die Moderne der postkolonialen Gesell175

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

schaften lässt sich daher weder auf eine Nachahmung westlicher Ideen und Institutionen reduzieren noch kann sie ohne Verweis auf diese Ideen und Institutionen reflektiert werden.“ (Randeria 2004: 157)

4.4.3.2 Probleme mit der Vielfaltsperspektive Spiegelbildlich zur fehlenden Divergenz der Theorie der Weltgesellschaft hat man Eisenstadt vorgeworfen, er thematisiere zu sporadisch die emergente Ebene des Weltsystems, die eine homogene Ordnung produziere. Eisenstadt sei nur am Erhalt und Ausbau „präexistierender kultureller Diversität“ (Stichweh 2006: 241) interessiert. Wenn vorhin gesagt wurde, Eisenstadt überschätze die Wichtigkeit der modernen Gesellschaft für andere Regionen, wird nun genau umgekehrt gesagt, er unterschätze das moderne Weltsystem. Die Leistungsfähigkeit der Theorie der Weltgesellschaft – und ich referiere in diesem Fall die systemtheoretische Variante von Luhmann und Stichweh – erweise sich hingegen gerade darin, „daß es ihr gelingt, Unterschiede im System der Weltgesellschaft als interne Differenzierungen dieses Systems zu erweisen“ (Stichweh 2000: 13). Die Ausgangsperspektive der Weltgesellschaft ist nicht Divergenz, sondern „die Einheit des diese Unterschiede erzeugenden Gesellschaftssystems“ (Luhmann 1997: 162). Und aus dieser Einheitsperspektive, so die Vermutung, werde kulturelle Vielheit im Zuge der Expansion des Weltsystems – sprich: im Prozess der „Vollrealisierung funktionaler Differenzierung“ (Luhmann 1997: 163) – in „eine interne Differenzierung des Systems umgeformt“ (Stichweh 2000: 32). Die im Einzelfall geografisch und kulturell von der Weltgesellschaft zunächst verschiedene Region wird, wenn ich die Systemtheorie richtig verstehe, durch „Inkorporation“ in das sich kontinuierlich expandierende Weltsystem integriert. Die kontextspezifischen Widerstände und Idiosynkrasien der Region führen zu erneuten Ausdifferenzierungen der Weltgesellschaft, obgleich man eben damit nicht mehr von verschiedenen Regionalgesellschaften sprechen kann. Analoge Argumente würden vermutlich auch von anderen Varianten der Theorie der Weltgesellschaft formuliert werden. Wallersteins Weltsystemtheorie würde darauf hinweisen, dass sich neben dem Zentrum des Weltsystems semiperiphere und periphere Weltregionen bildeten; man müsse aber dennoch davon ausgehen, „daß alles soziales Handeln in einem übergreifenden Rahmen stattfindet“ (Wallerstein 1983: 303). Demgegenüber würde John Meyer geltend machen, dass sich die regional-kontextspezifischen Zwänge und die institutionellen Anforderungen

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der offiziellen Weltkultur entkoppelten. Und die in Richtung Öffentlichkeit dargestellte Aktivität würde zum Teil zur zeremoniellen Attrappe. Abgesehen davon, dass hier mit den Ansätzen der Weltgesellschaf zu diskutieren wäre, wer eigentlich hier wen inkorporiert und adaptiert – die regionale Kultur die moderne (Welt-)Gesellschaft oder umgekehrt die moderne (Welt-)Gesellschaft die Regionalkultur –, ähnelt hier die Argumentation von Eisenstadt im Übrigen tatsächlich ein Stück weit derjenigen von Samuel Huntington. Nach Huntington zerfällt die Welt in acht oder neun Kulturkreise auf der Basis stabiler kultureller Differenzen, die sich seit Jahrhunderten halten. Auch Huntington (2006: 77) hält es für aussichtslos, dass es eine „universale Zivilisation“ (V.S. Naipaul) geben könnte, die durch die „zunehmende Akzeptanz von gemeinsamen Werten, Überzeugungen, Orientierungen, Praktiken und Institutionen“ gekennzeichnet sei. Bei Huntington und Eisenstadt ist die Stabilität der Kulturen im Wesentlichen durch die religiösen Wurzeln motiviert. Diese historischen Traditionen wirken – im Sinne Durkheims – wie stabile Institutionen: „Kulturkreise sind das umfassendste ‚Wir‘, in dem wir uns kulturell zu Hause fühlen […]“ (Huntington 2006: 56). Es gibt aber auch klare Differenzen zwischen Eisenstadts und Huntingtons Vorstellungen: Stärker als Eisenstadt betont Huntington den Widerstand anderer Kulturen gegenüber europäischen Werten. Die Integration der europäischen Moderne in die anderen Kulturen wird bei Huntington nur als Marginalie erwähnt und skizziert (vgl. Huntington 2006: 112ff.). Jede Kultur sehe sich vielmehr „selbst als Mittelpunkt der Welt und schreibt ihre Geschichte als zentrales Drama der Menschheitsgeschichte“ (Huntington 2006: 75f.). Huntington (1993: 40) nimmt daher an, dass „Western ideas of individualism, liberalism, constitutionalism, human rights, equality, liberty, the rule of law, democracy, free markets, the separation of church and state, often have little resonance in Islamic, Confucian, Japanese, Hindu, Buddhist or Orthodox cultures“. Seiner Meinung nach breitet sich keine moderne Weltkultur nach westlichem Modell aus. Stattdessen sieht der Politologe eine Welt voller Konflikte herannahen, deren wesentliche und unheilvollste Variable der Konflikt zwischen Gruppen aus heterogenen Kulturen ist. Die Globalisierung unterbindet beharrlich, was früher erfolgreich gelebt werden konnte, um die spirituelle Homogenität religiöser Gemeinschaften zu stabilisieren: nämlich deren Isolierung. In diesem Zusammenhang ist noch an eine weitere, von der Kritik konstatierte Schwäche des Theorems von Eisenstadt zu erinnern. Aus der Vielfaltsperspektive folge zudem eine inflationäre Ausweitung des Modernisierungskonzepts. Wenn es nämlich in der Modernisierungssoziologie von nun an nicht mehr um verschieden weit entwickelte, mo177

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derne oder weniger moderne Gesellschaften, sondern nur noch um Gesellschaften der Gegenwart gehen soll, die sich alle miteinander von vormodernen Gesellschaften unterscheiden, dann muss die Gleichsetzung Modernisierung = Verwestlichung zusammenbrechen: „Infolgedessen kann fast alles als modern durchgehen.“ (Kocka 2006: 67) Wo liegt dann aber der Unterschied zu (tatsächlich) entwickelten modernen Gesellschaften? Wenn Eisenstadt in Lateinamerika eine Variante von Modernität erkennt, beobachtet Whitehead (2002) in Lateinamerika nur ein „Mausoleum von Modernitäten“. Was sagt dann aber der Begriff noch aus? Führt die Vielfalt der Moderne tendenziell nur noch „zu einer bloß noch enumerativen Beschreibung und Ausweitung von Modernität […]“ (Schwinn 2005: 208)?

4.4.3.3 Die fehlende Einheit des Begriffs der Moderne Diese zum Schluss des letzten Abschnitts angerissene Kritik am Konzept der „Vielfalt der Modernen“ führt uns zu einem nächsten kritischen Punkt. Der besondere Clou an Eisenstadts Ansatz liegt, wie Berger (2006: 203) findet, in der Tatsache, „daß er die Behauptung der Vielfalt in den Modernisierungsprozeß hinein verlagert“. Er zeichnet alternative Pfade innerhalb der Moderne nach. Wenn sich nun aber die Moderne in heterogenen Kontexten – wie differenziert auch immer – vervielfältigt, dann muss es ja hinter dieser Vielfalt auch eine erkennbare Einheit geben. Es leuchtet ohne weitere Begründung ein, dass das, was wir in den verschiedensten Kontexten als verschieden wahrnehmen, sich nur denken lässt, wenn zumindest einige Merkmale von Modernität erhalten bleiben: „Die Annahme einer Vielfalt der Moderne setzt voraus, dass man einerseits einen gemeinsamen Kern bestimmt, der die Moderne im Singular charakterisiert, und andererseits Kriterien angibt, die Formen von Modernität als verschieden qualifizieren.“ (Schwinn 2006: 21) Wenn wir aber den Vertretern der Multiple-Modernities-These Glauben schenken wollen, dann handelt es sich bei der Differenz zwischen moderner Gesellschaft (des Westens) und anderen modernen Gesellschaften um eine unüberbrückbare Differenz. Modernisierung und Westernisierung sind nicht identisch. Eine klare Vorstellung von der Struktur der Moderne wird von Eisenstadt nicht geliefert. Eisenstadt verweigere eine Auskunft darüber, „was unter Modernisierung und Moderne verstanden werden soll. Ohne diese Klärung fehlt der Maßstab, anhand dessen entschieden werden kann, ob ein bestimmtes Muster einen neuen Typus darstellt, der mehr zu sein beansprucht als eine Variation des schon vertrauten Typus“ (Berger 2006: 205). 178

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4.4.3.4 Der mangelnde Maßstab des Begriffs Modernisierung in der Modernisierungssoziologie Umgekehrt lässt sich – und das ist die andere Seite des Problems – der beobachtete Sachverhalt als Dilemma formulieren. Wir müssen somit in rückgekoppelten Folgekonzepten denken. Damit meine ich Folgendes: Die Erkenntnis, dass bei Eisenstadt ein Maßstab der Modernisierung fehlt, schärft den Blick – und gerade durch die Brille von Eisenstadts Ansatz – auf den Kriterienkatalog der Modernisierung im Rahmen der Modernisierungssoziologie. Von welchem homogenen Maßstab geht denn die Modernisierungssoziologie aus? Berger glaubt ja, dass es in der Modernisierungssoziologie einen institutionellen Nukleus gebe, den ich oben benannt habe. Dieser institutionelle Nukleus würde sich überall auf der Welt durchsetzen. Überall auf der Welt wird ja nun das gleiche Stück gespielt. Differenzen und kulturspezifische Unterschiede würden wohl auch, wie Tyrell (2005: 14) betont, von der Modernisierungssoziologie anerkannt: „Die Pluralität in der Zivilisation ist kein Zwischenstadium, sondern ein Dauerzustand, der von uns gewollt werden muß.“ Aber dennoch müsse eine Basis kultureller Gemeinsamkeiten akzeptiert werden: „Varianten der Moderne ja, aber keine Vielfalt im Sinne einer neuen Moderne.“ (Schwinn 2006: 25) Diese Eingrenzung hat selbstverständlich Konsequenzen für die Anwendung des Begriffs Moderne. Ich fahre zur Erläuterung gleich fort. Es zeigt sich beispielsweise im Falle Chinas, wie oben bereits dargelegt wurde, dass sich diese Weltregion durchaus nicht so einfach unter die Kriterien der Modernisierungssoziologie westlicher Provenienz subsumieren lässt. Eine Eigenart in China ist ja, dass es durch die kollektive Anwendung des Konfuzianismus einer Kanonisierung des Traditionellen folgt (vgl. Roetz 2006: 132): „Schon Hegel bringt in den verschiedenen Teilen seines Systems China unter den Begriff des ‚Substantiellen‘ im Unterschied zur ‚Subjektivität‘, die wiederum das ‚Prinzip der modernen Welt‘ ist.“ (Roetz 2006: 132) Wenn nun aber die Moderne sich durch das Abstreifen der Ketten der Tradition kennzeichnet und erst dadurch die „von Tradition zur Modernität sich erstreckende Achse entsteht“ (Berger 1996: 48), hingegen in China die Tradition (in Form des Konfuzianismus) das entscheidende Hindernis für einen Weg in die westliche Moderne ist, dann kann nicht überall auf der Welt das gleiche Stück gespielt werden. Die gleiche Irritation tritt letztendlich bei dem Kriterium „Individualisierung“ auf. Meyer behauptet, dass sich gemäß der Kopierlogik der Weltkultur überall das Basisprinzip der Individualität durchsetzt und tra179

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ditionale Semantiken des Subjekts letztlich abgelöst werden. Wie Ambrose King (2002) und vor ihm Peter L. Berger zeigt, ist der Kapitalismus in Asien wesentlich anders gestaltet als in Europa. Während der moderne Kapitalismus des Westens auf Individualität und Liberalität setzt, konstituiert der asiatische Kapitalismus eine „nonindividualistic version of capitalist modernity“. Es ist generell bekannt, dass sich Personen in Japan stärker an Kollektiven und Gruppen orientieren. Auch Japan dürfte somit nicht den Rang einer modernen Gesellschaft, wie sie im Westen vorliegt, zugeordnet bekommen. Welche Moderne dann aber sonst? Entweder ist also die These der Modernisierungssoziologie in der Sache verfehlt, überall werde das gleiche Stück der Weltgesellschaft gespielt. Dann gibt es doch heterogene Erscheinungsformen und länderspezifische Kombinationsmöglichkeiten des modernen Institutionengerüsts. Dann würde aber gerade auch Meyer und die Modernisierungssoziologie mit derselben Frage – wie vorher Eisenstadt – konfrontiert werden, nämlich mit der Frage, wie die Einheit der Moderne noch gemessen werden könnte.9 Es wäre in der Tat fraglich, was uns dazu motivieren sollte, noch von der Einheit verschiedener Modernen zu sprechen. Oder sie ist in der Sache richtig, aber in der Bewertung falsch, dass sich nämlich Moderne – wie in unseren obigen Beispielen – durch das Kriterium Tradition versus Moderne oder Kollektivität versus Individualität unterscheide. Dann steht aber das Kriterium zur Disposition und wir sind wieder bei der Frage angelangt, was denn im globalen Maßstab gleich ist. Was sind die klar identifizierbaren Kriterien und die formalen Merkmale von Modernisierung? Was ist es, was sich unaufhaltsam über die ganze Welt verbreitet? Was ist denn präzise der „institutionelle Pool“ oder der „Baukastensatz“ des Begriffs Moderne (vgl. Schwinn 2006: 28f.)? In der Regel bricht die Modernisierungssoziologie an dieser Stelle die Debatte ab. Sie kann dann solcherart auftretende Irritationen nurmehr, wie sie es bisher betrieben hat, als Defizit bisher nicht realisierter Modernisierung deuten. Andere Länder seien eben noch nicht so weit wie der Westen. Hier haben wir es aber mit einer bloßen Vermutung zu tun. Solange man nicht weiß, dass spezifische Länder den identischen Modernisierungspfad des Westens einschlagen, bleibt die Homogenisierungsthese leer. Neue Sachverhalte mit empirischer Evidenz vermittelt die Vermutung jedoch nicht: Sie kann wahr oder falsch sein. 9

Man würde sich Schwinns (2005: 208) Einwand aussetzen: „Wenn man die Begriffe ‚Weltgesellschaft‘ und ‚Moderne‘ so umfassend ansetzt, dann subsumieren sie zu Vieles. Je mehr ein Begriff oder Konzept zu fassen beansprucht, desto stärker nimmt seine analytische Präzision ab.“

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Oder sie formuliert so abstrakt, dass Differenzierungen gar nicht mehr möglich sind. Entwicklungsziele lauten dann z.B. „Demokratie, Wachstum und Wohlfahrt“ (Zapf 1996: 67). Aber welches Land – auch schon in der „vermeintlichen“ Vormoderne – würde sich dem Wachstum und dem Wohlstand verschließen? Auch Afrika, über das sich derzeit die „Zone eines neuen Mittelalters“ (Menzel 2004: 104) ausbreitet, würde sich dem Wohlstand nicht verweigern. Oder sie urteilt bewusst ambivalent, wie im Falle Luhmanns, der seine These von der Weltgesellschaft wieder relativiert. Wie immer, wenn Luhmann (1997: 806f.) einen Blick auf die Empirie wirft, verschwimmen seine eindeutigen Kategorien: „Je mehr man auf Details zugeht, desto auffälliger werden die Abweichungen von dem, was die Theorie funktionaler Differenzierung erwarten lässt.“ Kurzum: auch in der Modernisierungssoziologie fehlen eindeutige Kriterien. Und selbst Berger (2006: 204) wähnt: „Es ist ja durchaus fraglich, ob es die Modernisierungssoziologie überhaupt gibt.“ Wie sich schon in der Debatte in der Modernisierungstheorie in den 60er-Jahren zeigte, „gab es keine Einigung über die genaue Bedeutung des Begriffs ‚Modernisierung‘“ (Knöbl 2001: 14). Obwohl wir dies alles wissen, wird trotzdem von der Soziologie immer so getan, als müsse es auch weiterhin so sein, dass man Modernisierung auf diese Weise deuten müsse. Um auf unser Thema zurückzukommen: Bei genauem Zusehen verweist jedes Argument, das wir bisher betrachtet haben, auf den Begriff Kontingenz zurück. Es sind die Gleichzeitigkeit von verschiedenen Pfaden, Sequenzen, Kombinationsmöglichkeiten und die „Unbestimmtheit“ der Begriffe, die uns an generellen Aussagen zweifeln lassen: „Eine generelle kulturelle Konvergenz auf der globalen Ebene gibt es offensichtlich nicht […].“ (Schwinn 2005: 217) Der einzige Weg besteht darin, die verschiedenen Konstellationen in verschiedenen Gebieten herauszuarbeiten und zu sehen, welche Ordnungsformen und -kombinationen zu identifizieren sind. In Konsequenz solcher Prämissen wären die Interpretationsnetze und Übersetzungskriterien zu analysieren, die die Empfänger von Informationen zur Dekodierung zu Hilfe nehmen. Ja, genau genommen wird man letztlich nicht umhin können, selbst den Gedanken von der Vielheit von Modernen als einen diplomatischen Schritt innerhalb der Modernisierungssoziologie zu bewerten. Wie alle Thesen von der Pfadabhängigkeit oder den „varieties of …“ ist man nicht gewillt, zu viel an die Kontingenz der gesellschaftlichen Entwicklung abzugeben, und deswegen schafft man sich Hilfskonstruktionen wie etwa die Vorstellung von Modernisierungsrouten (Therborn

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1995).10 Die Frage ist aber, ob die länder- und kulturspezifischen Variationen von Ordnungsmustern die Rede von einer Moderne – selbst in ihrer Vielheit – noch zulässt oder ob man sich nicht einfach zufrieden gibt mit der Anschauung, dass sie eben kontingent sind. Zweifellos würde es zu weit führen, die hierin angesprochene Konsequenz explizit auszuarbeiten und argumentativ zu stützen: Letztendlich führen uns die eben ausgebreiteten Ergebnisse zu dem Punkt, an dem eine genauere Prüfung der heterogenen Pfade zu geschehen hätte. Hier könnten präzisere Ergebnisse allerdings nur durch weitreichende Vergleichsstudien erzielt werden.

4.5 Zusammenfassung: Das Kontingentwerden der Unterscheidungen Die vorangegangene Diskussion hat einen Überblick über einen weiteren Aspekt im Feld des Diskurses um das Phänomen der Kontingenz gegeben. Kommen wir bezüglich der beiden ausgeführten hauptsächlichen Theorieperspektiven (Homogenisierung–Kontingenz) dieses Kapitels zu einem Fazit: (1) Einerseits wird behauptet, wir lebten in einer Gesellschaft: der Weltgesellschaft. Alle globalen regionalen Kontexte würden allmählich in den Strom der Konvergenz gespült. Ein reichhaltiges Datenmaterial (Berger 2006: 212f.) – bestehend aus Daten zum Bruttosozialprodukt, der Verlängerung der Lebenserwartung, Bildungsbeteiligungen, Demokratisierungsprozesse etc. – belegt, dass alle Länder nach dem gleichen Ziel strebten: „einem ‚mehr‘ an Entwicklung“ (ebd.: 212). Auf der anderen Seite stehen die Thesen Eisenstadts. Diese Ansätze gehen von der Heterogenität unterschiedlicher Modernisierungspfade und von „many globalizations“ (Berger/Huntington 2002) aus. Unabhängig davon, ob beispielsweise Eisenstadt in allen seinen Erklärungen Recht behält, lässt sich Folgendes ableiten: Modernisierungstheoretiker setzen in der Regel die westliche Moderne als Metadiskurs und Orientierungsmuster voraus. Obwohl die Modernisierungstheorie – und das zeigt Eisenstadt – eine Vielfalt vormoderner Gesellschafts- und Lebensformen und deren unterschiedliche Historien reflektiert, propagiert sie eine lineare Transformation dieser Gesellschaftsformationen zu einer Form der 10

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Göran Therborn (1995: 131ff.) unterscheidet vier Eingangspforten in die Moderne: die europäische Modernisierungsvariante, die Modernisierung der neuen Welt (Nord- und Südamerika), die durch exogene Variablen beeinflusste Modernisierung Japans und die Modernisierung der Kolonialgebiete durch die Kolonialherren.

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Moderne, die im Westen verkörpert ist. Die Möglichkeit unterschiedlicher Entwicklungspfade, ohne dass diese wieder in einer Konvergenz von Ordnungsmustern integriert werden, gerät damit aus dem Sichtfeld. (2) Der Ansatz der Stanforder Forschungsgruppe ist, wie Thomas Mergel (1997: 215) dies ausdrückt, von einer „Sogtheorie“ geleitet. Niemand könne sich laut dieser Theorie vorstellen, dass eine „fortgeschrittenere“ und eine „rückständigere“ Gesellschaft auf Dauer nebeneinander bestehen könnten. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (ebd.: 215) müsse auf Auflösung drängen, sodass die entwickelten Systeme die Nachzügler nach sich ziehen würden. Schon Tenbruck (1998: 84) monierte, dass die Theorie der Modernisierung sich fälschlicherweise an einem Modell endogener Evolution orientiere: „Unterschiede zwischen Ländern werden als verschiedene Zeitstufen einer im Grunde überall angelegten Entwicklung begriffen, deren Richtung feststeht.“ Und würden bestimmte Länder einen anderen Pfad einschlagen, „so müssen sie für den Schritt vom Wege der Moderne angeblich am Ende zahlen und wieder in die ‚normale‘ Entwicklung einscheren“ (ebd.: 84). Hier wird man sehen, dass auch die verschiedenen Modernisierungspfade anderer Kulturen in sich gebrochen sind und ein breites Spektrum an Formen offenbaren. Auch diese Spektren sind nicht so ohne Weiteres mit einem generalisierbaren Muster zu fassen. Eisenstadt gibt wichtige Hinweise, so folgert auch Nassehi (2006: 351), „wie sehr die Soziologie oder wenigstens die Gesellschaftstheorie selbst als Teil jener politisierten Modernität beschrieben werden muss, die sie beschreibt“. Bezüglich unseres Themas Kontingenz bedeutet dies auch, dass bisherige Modernisierungstheorien, die sich dem Thema Moderne gewidmet haben, systematisch die Kontingenz möglicher Modernisierungspfade unterschätzt haben. (3) Ein Konvergenz- oder Identitätsmodell ist voller Voraussetzungen. Die Einheit, auf die hin verschiedene regionale Kontexte verglichen werden könnten, müsste erst einmal definiert werden. Wir können allgemein behaupten: Zwei Gegenstände sind dann (qualitativ) identisch, wenn wir es mit Gegenständen zu tun haben, „die Realisierungen ein und desselben Typus sind“ (Tugendhat/Wolf 1986: 169). Aber in der Soziologie zeichnet sich, wie wir zuvor an verschiedenen Stellen gesehen haben, weder in Bezug auf den Terminus „Moderne“ noch hinsichtlich der Einheit der Moderne im Hinblick auf verschiedene Modernisierungsrouten (Therborn 1995) ein Konsens ab. Auch der Begriff der Varianten der Moderne (Schmidt 2006) hilft da nicht weiter, denn die verschiedenen Modernisierungspfade, die zumindest Eisenstadt skizziert, sind nicht konvertibel, sondern kontrovers und inkongruent. Sie stellen nicht verschiedene Ansichten desselben dar, 183

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sondern generieren heterogene Objekte. Eisenstadt (2000: 83) betont immer wieder – hier im Falle der Vereinigten Staaten und Lateinamerikas –, dass die Entwicklungen in diesen Weltregionen „nicht etwa ein ‚Fragment Europas‘, sondern eine eigene, neue Kultur hervorgebracht haben“. Kein Modellsystem liegt vor – die Pluralität bleibt divers. Wie sollten wir hier von einer strukturellen Identität sprechen? Wie sollten wir von Varianten einer Moderne sprechen? Auf diese Weise lässt sich schwerlich ein konzeptionell valider Idealtyp von Modernität entwickeln, obgleich dieser Meyer eigentlich vorschwebt. Die Welt lässt sich nach Eisenstadt nur noch multiperspektivisch verstehen, zumal das idealtypische Ablaufmodell westlicher Modernisierung, nicht einmal auf den westlichen Diskurs selbst passt. (4) Thomas Schwinn (2005: 208) stellt nicht von ungefähr fest, dass keine Theorie in Sicht sei, „die in der Lage wäre, das Verhältnis von Konvergenz und Divergenz zufriedenstellend zu bestimmen“. Man müsste fragen: Wie sollte sie auch, ohne zu simplifizieren? Schwinns Feststellung muss insofern nicht nur als eine richtige analytische Einsicht gewertet werden, sondern drückt auch die Wahrheit über den Status von Großtheorien angesichts der Kontingenz unserer Gesellschaft aus. Die Wahrheitsbruchstücke aus den Theorien von gestern lassen sich zwar aufrechterhalten. Aber zuallererst zusammen ergeben sie ein Bild der modernen Gesellschaften. Weil heutige Gesellschaften nicht mehr die eine, sondern viele Perspektiven herausbilden, muss die Soziologie lernen, sich theoretischeindimensionalen Weltsichten zu entziehen. Spätestens heute gilt es auch für die Modernisierungstheorie das „Ende der Eindeutigkeit“ (Knöbl 2001) zu konstatieren. Wie sich konkrete Entwicklungslinien in einzelnen Ländern, ja sogar in Regionen innerhalb dieser abzeichnen, ist vollständig von singulären und kontingenten Konditionen abhängig und in diesem Sinne nicht prognostizierbar. Wer hierbei den Verlust der Einheit der Differenz der Modernisierungspfade beklagt und behauptet, überall würden sich die gleichen identischen Prozesse des Copying durchsetzen, überträgt auf die Geschichte, in der wie Jacob Burckhardt (1978: 311) wusste, „alles schwebend und in beständigen Übergängen und Mischungen existiert“, eine soziologische Hypothese und verwechselt diese Hypothese mit der Wirklichkeit selbst. In der Tat: Erst im Bewusstsein der Differenz und im Wissen um die Koexistenz sich ausschließender kollektiver Muster beginnt sich allmählich ein Bild des Modernisierungsprozesses abzuzeichnen. Deswegen kommt man an der These von der Kontingenz der Modernisierungspfade und dem damit zusammenhängenden Verlust einer wie immer zu begreifenden Perspektive der Totalität nicht vorbei. 184

5 Kontinge nz in Orga nis atione n

Fragt man ohne organisationssoziologische Hintergedanken, wovon man wohl redet, wenn man Kontingenz in Organisationen zum Gegenstand der Erörterung macht, so ist die nächstliegende Erwartung wohl die, dass mit Erstaunen reagiert oder gar kopfschüttelnd dem Phänomen jeglicher ernsthafter Hintergrund abgesprochen wird. Organisationen haben offensichtlich keine andere Aufgabe als diejenige, Kontingenz zu minimieren. Ihr Sinn besteht in der Begrenzung von Ereignissen und Informationen, und dies im Hinblick auf das Erreichen bestimmter Ziele. Ja, eine Organisation erscheint als Einrichtung speziell mit dem Zweck, bestimmte Ziele zu erreichen, und deswegen geht es bei ihr immer darum, „längerzeitige Synchronisation auch bei hoher Komplexität noch zu ermöglichen“ (Luhmann 1997: 826). Darüber hinaus dienten die Anstrengungen der Betriebswirtschaft „der Verdrängung der Kontingenz in der doppelten Wortbedeutung ihrer Eindämmung mittels elaborierter Effizienzkalküle und ihrer Verdrängung sensu Freud“, wie Günther Ortmann (2004: 37) referiert. Die folgenden Überlegungen sind der Vermutung gewidmet, dass Organisationen schon immer mit dem Phänomen „Kontingenz“ konfrontiert wurden und gerade gegenwärtig verstärkt mit diesem Sachverhalt zu tun haben. Durch die Betrachtung von Positionen und empirischen Beispielen, die im Rahmen der Organisationssoziologie der letzten Jahre entwickelt worden sind, wird gezeigt, dass es tatsächlich einen genuin organisationssoziologischen Sinn der Rede von der Kontingenz in Organisationen gibt, der zum Problem hat werden können. Zumindest hat es kaum eine der Organisationstheorien der jüngeren Vergangenheit versäumt, einem Kontingenz genannten Sachverhalt eine zentrale Bedeutung in systematischer Hinsicht zuzubilligen.

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KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

Organisationen wurden früher häufig als relativ stabile Gebilde beschrieben. Traditionalerweise sah man das essenzielle Kennzeichen von ihnen in ihrer einheitlichen Zielsetzung. Heute wird in der Organisationssoziologie konstatiert, Stabilität sei zunehmend von instabilen Lagen bedroht. Zunehmend seien Unternehmen mit turbulenten Märkten konfrontiert. Alle Effizienzketten der wirtschaftlichen Rationalität stünden derzeit zur Disposition. Zwar könne nicht davon ausgegangen werden, dass in Organisationen alles schiefgehe. Es würden aufwendige Anstrengungen unternommen, um Ordnung in Organisationen zu schaffen. Man denke an Belohnungssysteme für die Mitarbeiter und die Schwärme von Beratern, die ausziehen, um das gesamte Arsenal von technischen Systemen und Prozeduren in Unternehmen zu optimieren. Diese begrenzten den Kontingenzraum und machten damit einen Entscheidungspfad mehr oder weniger beschlussfähig. Wenn sie auch nicht als „Tollhäuser“ aufgefasst werden sollen, so hat die neuere Organisationsforschung doch Ergebnisse geliefert, die zumindest diejenigen nervös machen sollten, die immer noch glauben, dass die ökonomische Rationalität als Idealtyp des organisationalen Handelns deklariert werden könnte. Es kann deshalb nicht verwundern, dass heute zunehmend Ansätze ins Zentrum rücken, die die Ambiguitäten und Paradoxien der Prozesse in Organisationen betonen. Ortmann et al. (1997: 316) stellen fest, dass der Organisationstheorie „so ziemlich alle Selbstverständlichkeiten abhanden gekommen sind, die eben noch den Bestand ihrer Grundüberzeugungen ausgemacht hatten“, inklusive ihrer Steuer- und Machbarkeitsfantasien. Kontingenz bildet hierbei erneut das Leitbild. In der Folge dieser Überlegungen werde ich an einer begrenzten Zahl von organisationstheoretischen Phänomenen anzugeben versuchen, in welcher Bedeutung von Kontingenz sinnvoll gesprochen werden kann. Der Begriff Kontingenz steht nach wie vor für den Verlust an Eindeutigkeit, mit der wir heute konfrontiert werden. Gleichzeitig muss sich allerdings die Organisationssoziologie davor hüten, falsche theoretische Alternativen zu diskutieren. Ob sich in Organisationen alles kontingent oder alles mit Notwendigkeit vollzieht, ist eine fragliche Opposition. Vielmehr muss im Einzelfall entschieden werden, wie organisationale Entscheidungen zustande kommen. Um allzu großen Missverständnissen keinen Platz zu lassen, sei deswegen gleich am Anfang darauf hingewiesen, dass hier nicht der Raum dafür ist, eine Theorie der Kontingenz für Organisationen in einem umfassenden Sinn zu liefern. In der Folge dieser Erörterungen wird man vorerst nur angeben können, in welcher Hinsicht es ein Problem der Kontingenz in Organisationen gibt.

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KONTINGENZ IN ORGANISATIONEN

Nach diesen Vorüberlegungen ist das Programm des Kapitels zu umreißen. (1) Da man der Analyse von Organisationen nicht gleichsam tabula rasa, sondern nur mit einem Vorverständnis folgen kann, scheint es geboten, hier nochmals einige Grundprämissen der Organisationssoziologie in aller Kürze zu skizzieren. Deswegen werde ich zunächst auf den Begriff der Organisation zu sprechen kommen (Punkt 5.1). (2) Die Untersuchung wird zu klären versuchen, warum es sinnvoll ist, Kontingenz in Organisationen zu thematisieren. Dazu ist es aber nötig zu zeigen, warum Kontingenz bisher in der Organisationssoziologie eher verdrängt wurde. Warum haben bisherige organisationssoziologische Konzepte Kontingenz in ihrer Bedeutung und Funktion eher gebändigt? In meiner Untersuchung gehe ich hier auf einige Problemfelder und Theorien der Organisationssoziologie ein, die ich unter dem Stichwort „technokratisches Paradigma“ zusammenfasse. Dieses Paradigma lasse ich Revue passieren, da in ihm, so meine These, unterschiedliche Bezugsrahmen versteckt sind, die eine Erklärung dafür geben, warum Kontingenz im organisationalen Alltag bisher marginalisiert wurde (Punkt 5.2). (3) Von diesem Verständnis von Organisationen als kontingenzhemmenden Entitäten ausgehend will ich die Darstellung der Variable Kontingenz in Organisationen in Angriff nehmen. Den eigentlichen Ausgangspunkt der Thematisierung von Kontingenz innerhalb organisationaler Entscheidungsprozesse bildet die These von Unternehmen als maßgeblichen politischen Arenen. Dieser Ansatz hat in den letzten Jahren unter der Bezeichnung „mikropolitischer Ansatz“ eine umfangreiche Debatte ausgelöst. Mikropolitik hat im Wesentlichen dazu beigetragen, das Thema Kontingenz in organisationalen Entscheidungsprozessen zu vertiefen: „Kontingenz heißt das Losungswort. Daß vieles auch anders möglich und nichts determiniert ist, weder durch den Markt noch durch die Technologie noch durch eine wie auch immer sonst definierte Umwelt, eröffnet die Freiheit zur Mikropolitik.“ (Küpper/Ortmann 21992: 8) Organisationale Entscheidungen sind offensichtlich hochgradig durch die Verläufe, Trajektorien und die Pfadabhängigkeiten bestimmt, wie sie im alltäglichen Vollzug organisationalen Geschehens aufzufinden sind. Mikropolitik findet sich gerade an der vordersten Front der Strategieformulierung und Strategiedurchsetzung. Die Strategiebildung selbst lässt sich als „organisationaler Prozeß und als Kampfspiel“ (Ortmann 1995: 71) verstehen. Die Betonung von Mikropolitik folgt der Einsicht der beiden Soziologen Michel Crozier und Ewald Friedberg (1993: 14), dass man um die Machtfrage in Organisationen nicht herumkomme: „Jede ernstzunehmende Analyse kollektiven Handelns muß also 187

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Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als tagtägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff‘.“ Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dieses Konzept näher zu betrachten, da es heute einen wichtigen Bestandteil im Hinblick auf das Phänomen Kontingenz in der Organisationstheorie bildet (Punkt 5.3). (4) Nachdem ich im vorherigen Punkt zunächst einige allgemeine Positionen zum Verhältnis von Organisation und Kontingenz angeführt habe, möchte ich mich sodann besonderen Sachfeldern zuwenden. In einem ersten Schritt soll eine zeitdiagnostische Komponente des Kontingenzdiskurses im Rahmen der Organisationstheorie diskutiert werden. In der jüngeren Organisationstheorie ist immer wieder behauptet worden, dass der Umgang mit Kontingenz und Ungewissheit zu einer entscheidenden Variable für Organisationen im Allgemeinen und für die Konzeption einer optimalen Organisationsstruktur im Besonderen werde. Baecker (1999: 136) ist folgender Meinung: „War die klassische Organisationstheorie als eine Theorie der Mechanismen der Ungewißheitsabsorption zu formulieren, nämlich als eine Theorie der Nichtbelastung der Entscheidungsverfahren durch Ungewißheit jeder einzelnen Entscheidung, so geht es jetzt darum, eine Organisationstheorie zu formulieren, die die vom Markt und von den Mitarbeitern erzwungene Wiedereinführung der Ungewißheit in die Mechanismen ihrer Absorption untersuchen und beschreiben kann.“

Diese Verdrehung vom Management einfacher Zweck-Mittel-Verkettungen in ein kompliziert anmutendes Management von Ungewissheit und Kontingenz ist eine unmittelbare Konsequenz aus der Tatsache, dass eine Organisation nicht mehr so einfach wie ein streng hierarchisiertes Entscheidungsnetzwerk oder wie ein Großrechner geführt werden kann. Was nun auffalle, so Stefan Kühl (2002: 262), sei, dass „Paradoxien und Dilemmata einen zentralen Stellenwert erhalten und teilweise gar in die Selbstbeschreibungen der Unternehmen integriert werden“. Um diese Entwicklung nachvollziehen zu können, ist es notwendig, nach den Gründen für eine solche veränderte Sichtweise in der Diskussion zu fragen. Ich werde diese Debatte anhand des Begriffspaares Individuum und Organisation aufnehmen, die in der früheren Organisationstheorie als zwei streng getrennte Sphären interpretiert wurden (Punkt 5.4). (5) In einem zweiten Schritt werde ich in gewisser Weise wieder zu den Themen aus Kapitel 4 zurückkehren und damit zum Begriffspaar Konvergenz versus Kontingenz. Die in den 1990er-Jahren forcierte Globalisierungsdebatte hat auch in der Organisationstheorie ihren Nieder188

KONTINGENZ IN ORGANISATIONEN

schlag gefunden. Transnationale Unternehmen und ihre Globalisierungsstrategien sind Objekt einer Vielzahl von Studien gewesen. Das Homogenisierungs-Differenzierungs- bzw. Konvergenz-Kontingenz-Problem durchzieht schon eine längere Zeit die sozialwissenschaftliche Organisationsforschung. Werden Organisationen im weltweiten Austausch immer homogener oder nehmen ihre Kontingenz und ihre Divergenz zu? (Punkt 5.5) Der Beitrag kreist also um die zentrale Frage, die ich mit Andrea Eckardt et al. (1999b: 11) folgendermaßen formulieren will: „Tendieren Organisationen langfristig auf homogene Strukturen und Strategien als Fluchtpunkt der Organisationsentwicklung, die ein Optimum an technischer und ökonomischer Rationalität, Funktionalität oder Umweltadäquanz repräsentieren und denen sich alle Organisationen möglichst stark anzunähern versuchen? Oder differenzieren sich umgekehrt im Verlaufe historischer Entwicklungen immer wieder neue Formen von strategy and structure (Chandler) heraus?“

Die Schlüsseldebatte in diesem Zusammenhang bezog sich lange Zeit auf die Frage nach dem optimalen Produktionssystem. Ist die japanische Lean Production das sich weltweit durchsetzende Produktionsmodell, dem alle Unternehmen folgen? Oder gibt es auch hier Pfadabhängigkeiten, Verstrickungen der Unternehmen im Horizont der Kontingenz? Damit sind die Theoriepartien, die in diesem Kapitel besprochen werden, benannt. Zunächst aber zu einigen Begriffsklärungen, die den Begriff „Organisation“ näher bestimmen möchten.

5.1 Zum Begriff der Organisation Als eigene Systemform muss es sich nun bei Organisationen um einen Typus sozialer Systeme handeln, der sich von anderen sozialen Systemen unterscheidet. Warum gibt es überhaupt Organisationen? Die Definitionen zum Sachverhalt der Organisation sind in der Soziologie so zahlreich wie die theoretischen Positionen, die sich mit ihnen befassen. Es existieren viele Merkmale, die sie von anderen Systemen unterscheiden und die quasi allen Organisationen zukommen sollen. Wenn es auch zahlreiche Begriffe von ihnen gibt, lassen sich doch bestimmte Merkmale herauskristallisieren. In der Regel werden sie folgendermaßen definiert: „Organisationen werden hier als auf Dauer angelegte, abgrenzbare, zielgerichtete soziale Gebilde mit einer auf das Ziel hin

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gestalteten inneren Ordnung verstanden […].“ (Schreyögg 1978: 13)1 Diese abstrakten Definitionen lassen sich anhand der Kriterien einer Organisation folgendermaßen konkretisieren: (1) Mitgliedschaftsregel: Organisationen werden wiederholt über die Mitgliedschaftsregel definiert, d.h. über die prinzipiell freie Ein- und Austrittsmöglichkeit der Mitglieder. Mithilfe von Mitgliedschaftsregeln schaffen es Organisationen, „hochgradig künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren“ (Luhmann 52005: 14). Es besteht ein Konsens darüber, dass die Nichtbeachtung der Regeln, „mit der Fortsetzung der Mitgliedschaft unvereinbar ist“ (Luhmann 1964: 38). Insofern muss sich ein Mitglied einer Organisation immer wieder fragen: „Kann ich Mitglied bleiben, wenn ich diese oder jene Zumutung offen ablehne?“ (Luhmann 1964: 40) (2) Koordinationsmechanismus: Im Unterschied zu Markttransaktionen und Gemeinschaften bezeichnen Organisationen eine bestimmte Form des Koordinationsmechanismus, wie Helmut Wiesenthal (2005) kommentiert. Die besondere Leistungsfähigkeit von Organisationen liege „in der Möglichkeit der Koordination einer großen Zahl von Handlungen (auch abwesender Handelnder) und der zweckhaften Integration parallel prozessierender Teileinheiten mit komplementären Funktionen“ (Wiesenthal 2005: 244). Die Leistungscharakteristika von Organisationen haben in der Organisationssoziologie dazu geführt, Organisationen einer spezifischen Epoche zuzuordnen, ab der sie relevant werden. Die Mitgliedschaftsregel verweist auf die spezifische Modernität der Organisation. Von traditionalen Vergesellschaftungsformen unterscheiden sie sich vor allem dadurch, dass sie ihre Mitglieder nicht komplett assimilieren. Für die Mitgliedschaftsregel gilt freilich, dass sie nicht nur für Organisationen, sondern auch für andere Systeme verwendet wird, etwa für Vereine, Familien oder Freundeskreise. (3) Formale Struktur: Weitere Merkmale bestehen in ihrem Besitz ihrer formalen Struktur, der Arbeitsteilung, inklusive der Machtdifferenzierung, die in der Regel als Problem der Befehlshierarchie gefasst wird. Dazu werde ich weiter unten einige Ausführungen folgen lassen. (4) Entscheidungen: Herbert Simon und James G. March (21993) verstehen Organisationen als Systeme, in denen Akteure Entscheidungen fällen. Es gelte daher, die Entscheidungen von Einzelpersonen und Kleingruppen ins Zentrum des Interesses zu rücken: „The central unifying construct of the present book is not hierarchy but decision making 1

Ähnlich die Definition von Endruweit (22004: 23): „Eine Organisation ist ein soziales System mit überdurchschnittlich spezifizierter Zielbestimmung und überdurchschnittlich spezifizierter Struktur.“

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[…].“ (March/Simon 21993: 3) In der Produktion von Entscheidungen wird „Unsicherheitsabsorption“ geleistet, wiewohl damit nicht gemeint ist, dass nachfolgende Ungewissheiten ausgeschlossen sind. Die Organisation reduziert die Komplexität der Welt und schafft die Basis für eine Entscheidung. Diese Definition ist zunächst ohne jede inhaltliche Qualifizierung. Im weiteren Verlauf argumentieren die beiden Autoren, dass sich die Entscheider all der Hilfsmittel und Mechanismen der Organisation bedienen, um Entscheidungen herbeizuführen und die Komplexität einer unbegrenzten Welt zu reduzieren. Die Organisationsstrukturen mit ihrem inneren Reichtum an Hierarchien, Arbeitsteilungen, Rekrutierungsverfahren und schließlich auch Zweckvorgaben dienen dazu, Unsicherheit zu absorbieren. Ein wichtiges Instrument, um in Organisationen Routinen zu implementieren, nennen die beiden Autoren „Programme“ (March/Simon 2 1993: 162ff.). Programme dienen beispielsweise dazu, die an einem bestimmten Arbeitsplatz (z.B. Montagebändern) vorgesehenen Arbeitsprozesse in habitualisierte Praktiken zu gießen. Programme beinhalten zeitliche und inhaltliche Vorgaben. In der Regel besteht ihre Aufgabe in der Koordination unterschiedlicher Tätigkeiten.2 (5) Organisation und Umwelt: Eines der zentralen Themen der Organisationstheorie ist das Verhältnis von System und Umwelt. Organisationen sind eng mit ihrer Umwelt verflochten. Aber wie das Verhältnis genauer zu fassen ist, darüber gibt es in der Organisationssoziologie noch keinen Konsens: „The boundary between an organization and its 2

Bei dieser Definition taucht, was den Begriff der Organisation betrifft, eine wichtige Fragen auf. Es wird behauptet, dass Entscheidungen explizit das operative Medium von Organisationen seien. Es bedarf aber keiner weiteren Reflexionen, dass unser gesamtes bewusstes Leben, soweit es in Situationen gerät, die Entscheidungen erfordern, durchsetzt ist von diesem Zwang zum Überlegen und Entscheiden. Aus entscheidungstheoretischer Sicht ist das fast selbstverständlich: Die Person ist die Instanz permanenter Entscheidungen und reduziert durch ihre Entscheidung Kontingenz. In dem Augenblick der Entscheidung jedoch geht jedes Räsonieren in einen Handlungsakt über. Dies gilt auch noch dann, wenn man Entscheidungen als Kommunikationen auffasst, die einer Person zugeschrieben werden. Entscheidungen werden sodann empirisch in Haushalten, Familien oder Lebenspartnerschaften getroffen und sind deswegen noch keine Organisationen. Carl Schmitt wiederum reservierte den Begriff „Entscheidung“ für den politischen Souverän und reflektierte über die Struktur der Entscheidung eines staatlichen Souveräns. Es kommt also durchaus auch in anderen Systemen zu Entscheidungen. Warum sollten also gerade Organisationen im besonderen Maße den Begriff Entscheidung besetzen? Wie unterscheiden sich Organisationen von anderen Systemen, die mit Entscheidungen operieren?

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social context is never entirely clear.“ (Blau/Scott 1963: 194) Auf der einen Seite wird von offenen Systemen gesprochen, die mit ihrer Umwelt Beziehungen des Austausches von Informationen und Energie pflegen. Einen Organismus unabhängig von seiner Umwelt zu betrachten erscheint als unhaltbar. Auf der anderen Seite muss ein System fähig sein, sich von der überbordenden Komplexität seiner Umwelt zu unterscheiden, sonst wird es von seiner Umwelt kontrolliert und beherrscht. Für Karl Weick ist die Umwelt des Systems nichts anderes als das Resultat des Übersetzungsprozesses im Inneren der Organisation: „Die Umwelt beeinflusst Organisationen erst durch die Art, wie sie wahrgenommen wird.“ (Weick 2001: 133) Organisationen sind alles andere als ihrer Umwelt ausgeliefert. In der systemtheoretisch orientierten Organisationstheorie Luhmanns (2000b) wird insbesondere der Autonomieanspruch von Organisationen gegenüber ihrer Umwelt betont. Autopoietische organisierte Systeme sind demnach operativ geschlossene Einheiten und in diesem Sinne autonome Systeme. Organisationen konstituieren einen eigenen Raum, in dem Entscheidungen gleichsam auf eine Entscheidungsgeschichte rekurrieren können. Organisationen bestehen aber auf der anderen Seite aus Beziehungen zu ihrer Umwelt. Organisationen sind – wie auch Luhmann weiß – im gesellschaftlichen Kontext zu verorten und sind Teil der Gesellschaft. Organisationen werden durchaus als von äußeren Institutionen geformte Gebilde verstanden. Diese Einflüsse sprechen gegen rein voluntaristische Erklärungsmodelle. In der Betriebswirtschaft wird dem Thema Umwelt eine bedeutende Rolle für die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens zugeschrieben. Die Umwelt/Umfeld-Analyse, die Michael Porter (101999) entwickelt hat, unterscheidet fünf Wettbewerbskräfte, die die Rentabilität des Betriebes beeinflussen, nämlich: neue Anbieter, Abnehmer, Ersatzprodukte, Lieferanten, Wettbewerber der Branche. Bei Porter geht es explizit nicht nur um interne Abläufe (z.B. Produktionsprozesse), sondern auch um den externen branchenbezogenen Kontext des Unternehmens, im Hinblick auf die Diagnose von Wettbewerbsvorteilen. Das bereits an anderer Stelle von mir genannte Forscherteam um John Meyer wies bereits früh nach, dass Organisationen Praktiken und Verfahren aus der institutionellen Umwelt in die Organisation diffundieren lassen, um das Überleben zu sichern: „[…] organizations are structured by phenomena in their environments and tend to become isomorphic with them.“ (Meyer/Rowan 1991: 47) Sie imitieren öffentlich akzeptierte gesellschaftliche „Mythen“, die die Legitimität des Unternehmens stabilisieren, oftmals jedoch gar keine Effizienzkriterien erfüllen. Apparate, die die Kostenspirale nach oben treiben, erhöhen häufig zwar das Prestige von Krankenhäusern, tragen oftmals aber nicht unbedingt 192

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zur Effizienz bei. Die Rekrutierung eines Nobelpreisträgers erhöht das Image einer Universität, reduziert aber das Budget. Rechtliche, politische und gesellschaftliche Anforderungen führen zu Transformationen interner ökonomischer Strukturen von Organisationen und können partiell ebenfalls chaotisches Systemverhalten verursachen. Politische Akteure greifen in die ökonomischen Zirkulationen ein, um kollektive Ziele durchzusetzen, die über die „reine“ Bezugsform des Ökonomischen hinausgehen. Immer wieder zeigt sich z.B., dass ökologische und damit zusammenhängende normative Fragen ebenso in der Rohstoffpolitik wie in der Wirtschaft zu Schlüsselfragen werden (vgl. Zimmerli/Richter/Holzinger 2007). Mengenbeschränkungen von Gütern, die auf die Zahlungskreisläufe zurückschlagen, sind von Produktions- und Naturbedingungen abhängig. Unternehmen werden daher häufig als „polyzentrische Systeme“ (Obring 1992) bezeichnet. Selbst wenn man heutigen Systemtheorien zugesteht, dass niemand die Entscheidung eines Systems von außen determinieren kann, ein System also ohne Rekurs auf die Eigendynamik nicht verstanden werden kann und man den Einfluss der Umwelt nicht überschätzen sollte, wird man gut daran tun, Organisationen als offene Systeme zu begreifen, wie der Organisationssoziologe Richard Scott (1986: 47) es tut. Eine Organisation ist nach ihm „eine Koalition wechselnder Interessengruppen, die ihre Ziele in Verhandlungen entwickelt; die Struktur dieser Koalition, ihre Aktivitäten und deren Resultate sind stark geprägt durch Umweltfaktoren“.

5.2 Das technokratische Paradigma als Modell der kontingenzfreien Organisation Wenn es stimmt, dass man in Unternehmen das Phänomen der Kontingenz antrifft, dann liegt es auf der Hand, dass man eine Begründung liefern muss, warum man es zu einem wissenschaftlichen Problem erklären will. Wie man der Literatur und Forschung über Organisationen entnehmen kann, gibt es insbesondere ein Bild der Organisation, das heute nicht mehr von der Kontingenz abgeschirmt werden kann, das aber lange als Königsweg der Organisationstheorie galt: das Bild von der rationalen, formalen Organisation. Organisationen wurden lange Zeit als rationale Organisationen unter das Credo der Rationalitätsvorstellung gestellt. Man könnte diese Vorstellung von Organisation mit Knut Bleicher (2001: 394) als das „technokratische Paradigma“ bezeichnen. Organisationen zeichnen sich demnach durch rationale Koordination des Handelns aus. Zudem würden gerade Wirtschaftsorganisationen, anders als 193

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z.B. öffentlichen Verwaltungen, ein Symbol dafür sein, ökonomisch rational zu operieren. Die Diskussion um das Thema Kontingenz hat sich nicht zuletzt aufgrund der Skepsis gegenüber dem technokratischen Paradigma entzündet. Für den Zweck unserer Überlegungen müssen die nachfolgenden Charakterisierungen des technokratischen Paradigmas genügen, um einen ersten Eindruck zu vermitteln, warum die Ansätze, die sich um das Thema Kontingenz drehen, nützlich sein könnten, um zu einem ausgewogeneren Bild der organisationalen Wirklichkeit zu gelangen. Im Einzelnen diskutiere ich hier folgende Ansätze: (1) das Maschine-Befehlsmodell der klassischen Organisationstheorie, (2) die Kontingenztheorie, die allerdings diesen Namen – wie zu zeigen sein wird – nur partiell verdient, und (3) die Organisationstheorie Niklas Luhmanns.

5.2.1 Das Maschine-Befehls-Modell der klassischen Organisationstheorie Die soziologische und die betriebswirtschaftliche Organisationsforschung haben bis in die jüngste Zeit einen Begriff von Organisation ins Zentrum gerückt, den man als „Maschinen-Befehls-Modell“ (Luhmann 1968), „Maschinen-Befehls-Organisation“ (Röpke 1977) oder „mechanische Organisation“ (Burns/Stalker 1966) bezeichnet hat. Häufig wird dieses Modell auch näher durch die Differenz von formal–informal charakterisiert. Die formale Organisation besteht aus dem Set von Regeln, das die Hierarchie der Weisungsbefugnisse ausmacht und das für das Funktionieren der Organisation notwendig ist. In der Regel bringt die formale Organisation die Struktur einer Organisation ins Bild. Hinter der formalen Organisation gibt es, so wird angenommen, ungeplante und spontane Prozesse und Privatismen, die gleichsam hinter den offiziellen Strukturen bestehen und die Organisation in ihrem Prozess beeinflussen. Der Befund der bisherigen Forschung lässt keine Zweideutigkeit zu: Lange Zeit bestand für die Organisationstheorie die interessante und hervorzuhebende Seite in der Formalität der Organisation (vgl. Preisendörfer 2005: 66). (1) Zweck-Mittel-Relation: Es handelt sich bei Organisationen um Einrichtungen, die insbesondere zum Zweck der Erreichung von vorher bestimmten Zielen implementiert werden. Organisationen erscheinen als „zielorientierte rational geplante Systeme mit einer auf Dauer gestellten objektiv-versachlichten Struktur“ (Türk 1989: 24). Von den Zielen ließen sich mehr oder weniger klare Kriterien für die Auswahl der adäquaten Mittel ableiten. Im Zweck-Mittel-Verhältnis bestätigt sich diese Vorstellung. Die Zwecksetzung dient der Spezifizierung von relevanten 194

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Handlungsalternativen in bestimmten Situationen. Der rationale Zweck manifestiert gleichsam das innere Wesen der Organisation. Was ist aber an Organisationen rational? Rational ist das Ziel von Organisationen eben dann, wenn es ökonomisch ist und wenn der zu erwartende Nutzen einer Operation maximiert werden kann, d.h., wenn der Gewinn des Unternehmens gesteigert wird. Lange gingen Wirtschaftswissenschaftler von der Annahme aus, dass Menschen ökonomische Entscheidungen streng rational treffen und dabei sämtliche Informationen berücksichtigen, die ihnen zur Verfügung stehen. Nach der rationalen Theorie ökonomischen Entscheidens ist es die Aufgabe des Akteurs, die Chancen und Risiken in der Zukunft gegeneinander abzuwägen. Klar ist auf jeden Fall, dass Unternehmen ökonomisch orientierte soziale Systeme sind, die ökonomisch begründete Entscheidungen fällen. Bis in den Strategieprozess besteht die Hoffnung der Führung des Unternehmens darin, dass eine Art kybernetischer Steuerungskreislauf entsteht: „Wenn nur der Regelkreis oder die Wirkungsketten technisch sauber konzipiert sind, ergibt sich die vertikale Umsetzung jeder Strategie ‚nach unten‘ fast von selbst.“ (Nagel/Wimmer 2002: 99) Nicht ökonomische Variablen sollen in der Regel aus Organisationen herausgehalten werden. Zum Beispiel schließen sich, so wurde angenommen, Wirtschaft und Ethik radikal aus. Moralisches Handeln mache sich, ökonomisch gesehen, eben nicht bezahlt. Bekannt wurde daher auch der Spruch von Karl Kraus, der auf die Frage „Sie wollen Wirtschaftsethik studieren?“ geantwortet haben soll: „Dann entscheiden Sie sich für das eine oder andere.“ (Lenk/Maring 1992: 7) In der Managementtheorie steht daher auch nicht der Mensch im Mittelpunkt. Die Wirtschaft spricht und versteht nur die Sprache des Geldes (Willke 2003: 188f.). Ihre Operationsmodi sind nicht Treue, Liebe, Vertrauen etc. Dies sind gewissermaßen fremde, intervenierende Variablen, die im Unternehmen nur zum Teil konvertibel sind. Unternehmen stellen daher einen Betriebswirt ein, „der sich, komme was wolle, von der Ökonomie nicht ablenken läßt. Sie stellen jemanden ein, der stellvertretend für alle anderen eine Verknüpfung zwischen Ökonomie und Rationalität aufrechterhält […]. Der Ökonom garantiert die Algebra“ (Baecker 1999: 298). Auch Jürgen Habermas schließt unmittelbar an das Zweck-MittelModell an, wenn er bei Organisationen von autonomen Systemen zweckrationalen Handelns spricht. Die „Rationalität“ dieser Betriebsund Anstaltsformen liegt darin begründet, dass die Beamten, Angestellten und Arbeiter zu zweckrationalem Handeln verpflichtet werden. Dieses Handlungsmodell geht davon aus, dass der Akteur im Vollziehen einer Handlung in erster Linie an der Erreichung eines nach Zwecken hin195

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reichend präzisierten Ziels orientiert ist und Mittel wählt, die ihm in der gegebenen Situation geeignet erscheinen – er kalkuliert andere vorhersehbare Handlungsfolgen als Nebenbedingungen des Erfolgs. Der Erfolg ist definiert als das durch den Handlungskontext determinierte Eintreten eines erwünschten Zustandes (vgl. Habermas 1988, Bd. 1: 385). Damit die von einzelnen Akteuren zweckrational ausgeführten Handlungen möglichst effizient ablaufen können, bildet sich im modernen kapitalistischen Staat die Zentralinstanz der Kalkulation und Planung aus, die man ein „zweckrationales Handeln zweiter Stufe“ (ebd.: 48) nennen könnte. Dieses zielt „auf die Einrichtung, Verbesserung oder Erweiterung der Systeme zweckrationalen Handelns selbst“ (ebd.: 48). (2) Arbeitsteilung: Was die Arbeitsteilung betrifft, hat in der klassischen Organisationstheorie jedes Mitglied eine spezialisierte Arbeitsaufgabe. Die Organisation besteht aus einer Vielzahl unterschiedlicher spezialisierter Subsysteme und Positionen. Entscheidungsprozesse werden gleichsam „aufgespalten“ und spezialisiert. Die Einzelziele passen sich an die übergeordneten Organisationsziele an, indem diese nach einem Kaskadenmodell heruntergebrochen werden: „In mechanistic systems the problems and tasks facing the concern as a whole are broken down into specialisms.“ (Burns/Stalker 1966: 5) Die Organisation wurde so als Mechanismus hierarchisch verschachtelter Zweck-Mittel-Beziehungen interpretiert (Sanders/Kianty 2006: 169). Die Position oder Planstelle definiert die Eigenschaften der zu rekrutierenden Personen. (3) Amtshierarchie: Das reibungslose Funktionieren der Organisation wird durch Amtshierarchie gewährleistet. Durch das spezifische Macht- bzw. Hierarchiegefälle ist es möglich, relativ schnell eindeutige Entscheidungen zu generieren. Die höhere Systemebene ist weisungsbefugt und besitzt ein Interventionsrecht. Hierarchie, so lautet das eherne Gesetz der Organisationstheorie, reduziert Komplexität in Organisationen und begrenzt damit Ambivalenzen und Widersprüche. Das Kommunikationssystem ist in der klassischen Organisation vertikal angeordnet und spiegelt so die hierarchische Stellenordnung wider (sogenannter Dienstweg). Die Kommunikation manifestiert das Rollenverständnis und reproduziert den Interaktionstyp Vorgesetzter–Untergebener. Die Organisation erzwingt Disziplin. Disziplin ist „inhaltlich nichts anderes als die konsequent rationalisierte, d.h. planvoll eingeschulte, präzise, alle eigene Kritik bedingungslos zurückstellende, Ausführung des empfangenen Befehls“ (Weber 51985: 681). Die unteren hierarchischen Stufen sind auf die sachlich-formulierten Ziele der Strategien der Führungsspitze angewiesen, damit sie effizient handeln können.

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(4) Manager als Sozialtechnokraten: Die Manager dieser Maschine sind Organisationsingenieure und Sozialtechnokraten, die nach der Vorstellung der Machbarkeit handeln (vgl. Bardmann 1994: 262). In der klassischen Maschinen-Befehls-Organisation werden nur die niederen Motivationen der Mitarbeiter bedient: „Auf den Rängen der Hierarchie herrschen die Belohnungsmittel von Lohn und Strafe, Aufstiegshoffnung und Karriererisiko.“ (Röpke 1977: 220). Durch das Belohnungssystem „bezahlter Indifferenz“ wird der Vorgesetzte für „flexible Sachentscheidungen frei“ (Luhmann 1964: 97). Organisationen bestehen somit aus Mitgliedern, deren Persönlichkeit nur partiell in die Organisation integriert wird. Aus der Perspektive des Individuums wird damit gewährleistet, dass dieses nicht mit Haut und Haaren der Organisation angehört. Der Platz in der Umwelt, würde Luhmann sagen, ist komfortabler, als vollständig mit der Organisation zu verschmelzen.

5.2.2 Der Zweckoptimismus der Kontingenztheorie Zum technokratischen Paradigma als Modell einer kontingenzfreien Organisation zähle ich ebenso die sogenannte „Kontingenztheorie“ (vgl. nur Donaldson 1995a). Obgleich die Kontingenztheorie die historische Situation einer Organisation geradezu zum Thema macht, ist die Grundstruktur des, wie man auch sagt, situativen Ansatzes unter das klassische Maschinenmodell zu subsumieren. Diese Gemeinsamkeit besteht in der Vorstellung, dass es Organisationsprinzipien im Hinblick auf organisatorische Effizienz gibt, die die Organisation zu ihrer Umwelt in ein optimales Verhältnis setzt. Die These lässt sich am besten verdeutlichen, wenn man einige Ergebnisse der Kontingenztheorie betrachtet. Die Kontingenztheorie versucht die Effizienz einer Organisation in Abhängigkeit von ihrer Umwelt zu erklären. Die formale Organisation werde beeinflusst von dem Kontext, in dem sich die Organisation befindet. Der Unterschied zu den klassischen Organisationslehren liegt somit in der Aufmerksamkeit, den die Kontingenztheorie auf die spezifischen Kontextmerkmale richtet, die für ein optimales Passungsverhältnis von System und Umwelt verantwortlich sind. Kontingent meint in diesem Ansatz Bedingtheit im Sinne von abhängig von bestimmen Faktoren oder Kontexten. Organisationen operieren in einem bestimmten Umweltausschnitt und das Interesse des eben skizzierten Ansatzes richtet sich darauf, wie diese Umweltnische in die interne Strukturgestaltung interveniert. Dieser Forschungskontext lässt nun die Kontingenztheorie folgende Schlussfolgerung ziehen: Gemäß ihrer Annahmen kann es den „einen“ Best Way für Organisationen nicht geben (Donaldson 1995b: xi). Die 197

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Organisationsstruktur ist von verschiedenen „Kontingenzfaktoren“ abhängig und variiert je nach Ausprägung dieser Faktoren. Man würde viel gewinnen, wenn man versuchte, derartige relevante, situative Variablen zu identifizieren und zu analysieren. Lex Donaldson kommentiert: „A number of such situational circumstances were identified and termed contingency factors. This means that the structure that the organisation needs to adopt to be effective is contingent or dependent upon the contingency factor or facors.“ (Donaldson 1995b: xi) Dementsprechend ist gerade in den 1970er-Jahren eine Reihe von empirischen Untersuchungen entstanden, die explizit solche Kontingenzfaktoren ermittelt und ihre Effekte auf Unternehmen erforscht haben. Beispielsweise hat sich eine englische Forschergruppe mit der Frage beschäftigt, welche Relationen zwischen Umweltbedingungen und der Beschaffenheit von Organisationsstrukturen bestehen. Beispielsweise wurde herausgefunden, dass Max Webers These korrekt war, dass die Größe einer Organisation direkt mit dem Ausmaß an Bürokratisierung korreliere.3 Ich möchte die umfangreichen empirischen Studien dieses Ansatzes hier nicht im Einzelnen diskutieren. Die entscheidenden Forschungsfragen für die Kontingenztheorie hat Kieser (1993b: 164f.) folgendermaßen zusammengefasst: Welche Wirkung hat die spezifische Situation auf die Organisationsstruktur und die Zielerreichung der Organisation? Welche Auswirkungen haben unterschiedliche Situation-Struktur-Konstellationen auf das Verhalten der Mitglieder der Organisation? Lässt sich für eine jede Situation X eine Organisationsstruktur generieren, die die Effizienz der Organisation sichert? Erhellend ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Disziplin Organisationsforschung selbst. Die Organisationstheorie erfüllt die Aufgabe, die schwer zu fassende Schnittstelle zwischen der Organisation und ihrer Umwelt planbarer zu machen, da sie ja in empirischen Untersuchungen zu klären hat, wie sich die Struktur optimal an die Situation anpassen könnte. Auf der Basis solcher Ergebnisse kann man die Unterschiede des Erfolgs von Organisationen erklären, indem man sie auf die situativen Faktoren zurückführt: „Man kann auch prognostizieren, wie 3

„It can be hypothesised that size causes structuring through its effect on intervening variables such as the frequency of decisions and social control. An increased scale of operation increases the frequency of recurrent events and the repetition of decisions, which are then standardised and formalised […]. Once the number of positions and people grows beyond control by personal interaction, the organisation must be more explicitly structured. In so far as structuring includes the concept of bureaucracy, Weber’s observation […] is pertinent.“ (Pugh et al. 1995: 146)

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eine Organisationsstruktur geändert wird, wenn sich die Situation der Organisation wandelt. Und schließlich kann man auch Gestaltungsempfehlungen formulieren […].“ (Kieser 1993b: 161) Die Organisationstheorie wird somit zum Gehilfen des rationalen Managements, das mithilfe der Ergebnisse der Organisationssoziologie eine adäquate Entscheidungsgrundlage entwickeln konnte. Das Management war durchaus an den Ergebnissen dieser Organisationsforschung interessiert, denn von den Ergebnissen und den Aussagen über die exogenen Variablen ließen sich nun konkrete Ableitungen vornehmen, wie dem folgendem Zitat von Stoner zu entnehmen ist: „The task of managers is to try to identify which technique will, in a particular situation, under particular circumstances, and at a particular time, best contribute to the attainment of managerial goals.“ (Zit. nach Macharzina 21999: 2) Zunächst ist in dieser Theorie dem Faktor Kontingenz durchaus Rechnung getragen, denn von nun an kann es die eine Organisation im Hinblick auf eine stabile Umwelt nicht mehr geben. Im Gegensatz zu älteren Managementprinzipien und klassischen Organisationstheorien, deren Ergebnisse in allgemeingültigen Kategorien mündeten, versuchen kontingenztheoretische Ansätze situativ relativierte Aussagen zu treffen. Trotz dieser Stärke der Kontingenztheorie ist ihr theoretischer Gehalt in einigen Aspekten klärungsbedürftig. Ich möchte hier im Einzelnen weder auf die empirischen Ergebnisse noch auf die zahlreichen kritischen Diskussionen der Kontingenztheorie eingehen. Der Ansatz hat mit zahlreichen methodischen Mängeln und Schwächen zu kämpfen.4 Ich möchte nur auf zwei Konsequenzen der Kontingenztheorie hinweisen, die für unser Thema interessant sind. (1) Es existiert für die Kontingenztheorie zwar nicht die beste Organisationsstruktur. Zudem sind die Organisationsprozesse unterschiedlich wirksam, je nachdem, wie sich die Organisation in ihrer Umwelt zu gestalten hat. Interessant ist jedoch, dass auch die Kontingenztheorie von einem rationalen ökonomischen Akteur ausgeht, der einer gewinnorientierten Organisation angehört. Es werden hinsichtlich der Organisationsgestaltung, gemäß einem ökonomischen Objektivismus, rational handelnde Entscheider unterstellt. Da die Kontingenztheorie vor allem an den organisationsstrukturellen Variablen interessiert ist, werden Machtkomponenten zudem weitgehend ausgeblendet.5

4 5

Siehe nur Endruweit (2004); Kieser (1993b); Preisendörfer (2005: 92ff.); Schreyögg (1978; 1999: 350ff.). Beyes (2003: 69) schreibt: „Die Unterstellung eines rational handelnden Managers, der seine Entscheidung lediglich [!] nach Maßgabe der Umwelt- und Effizienzanforderung fällt, […] erscheint vermessen.“

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(2) Die Kontingenztheorie ist sich selbst gegenüber wenig reflexiv. Zum einen erklärt der situative Ansatz nicht, durch welche Prozesse die Anpassung an die Umwelt zustande gebracht wird (vgl. Kieser 1993b: 181). Welche Ursache-Wirkungs-Verhältnisse konkret erwartet werden und warum, wird nur selten behandelt. Zum anderen erkennt die Kontingenztheorie nicht, dass die Faktoren, die sie analysiert, selbst kontingent sind und nicht einen determinierenden Einfluss ausüben. An der Kontingenztheorie ist bemerkenswert, dass gemäß ihrer Interpretation bestimmte externe Einflüsse (z.B. Technologie, Umweltdynamik, Größe) auch nahezu unausweichlich bestimmte Organisationsstrukturen zur Konsequenz haben. Erfolg ist dann gewährleistet, wenn ein situationsspezifischer „Fit“ gefunden ist. Und die zentrale Selektionsleistung besteht nun darin, in welchen Situationen welche Strukturmuster diesen „Fit“ gewährleisten können. Die Kontingenztheorie sitzt somit einem orthodoxen Determinismus auf. Das liegt daran, dass sie davon ausgeht, dass je nach Umweltkontakt eine Art Zwang für die Selektion jeweils einer bestimmten Organisationsstruktur besteht. In der Regel eröffnen verschiedene Kontextvariablen jedoch einen Spielraum für die Gestaltung der Unternehmensstruktur: „Sie üben keinesfalls notwendigen, determinierten Einfluß auf unternehmensinterne Dimensionen aus; sie sind grundsätzlich anders möglich. Contingency theory ist kontingente Theorie, die ihre eigenen Kontingenz nicht gewahr wird.“ (Beyes 2003: 72) Weder gibt es häufig nur eine richtige Form noch gibt es eine richtige Form, die nicht wieder in irgendeiner Weise suboptimale Nebenfolgen zur Konsequenz hätte.

5.2.3 Die Marginalisierung von Kontingenz bei Luhmann Ich möchte das klassische Modell von Organisation noch an einem weiteren Theorem veranschaulichen, nämlich an dem Entscheidungsmodell von Luhmann, das mir trotz zentraler Verschiebungen des alten Organisationsmodells die Theorie der rationalen Organisation weiterzuführen scheint. Dieses Ansinnen erscheint zunächst, vor allem für Anhänger des systemtheoretischen Paradigmas Luhmanns, befremdlich. Ist Luhmanns Ansatz nicht ein Garant dafür mit einem rationalitätsfreien Verständnis von Organisation zu hantieren? Luhmann (2000b: 9) beschreibt Organisationen als „offenbar […] nichtkalkulierbare, unberechenbare, historische Systeme“. Er möchte die „Rationalitätsprämisse aus dem Forschungsansatz herausoperieren, um sich nicht schon durch den Organisationsbegriff auf einen Zusammenhang von Organisation und Rationalität festzulegen“ (Luhmann 21992c: 165). Das triviale Maschinenmodell 200

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gehöre der Vergangenheit an: „Mehr und mehr geht es nur noch um Reaktionen auf Probleme, die sich im Verhältnis von System und Umwelt oder auch in den Systemen selbst aufdrängen. Die heute prominenten Reformer sind […] nicht mehr Zielstreber, sondern Defektflüchter.“ (Luhmann 2000b: 344) Meine These ist nun, dass durchaus bezweifelt werden kann, dass Luhmanns Charakterisierung das Wesen organisierter Sozialsysteme freilegt. Es wird sich zeigen, dass durch die für Luhmann kennzeichnende Bestimmung von Organisationen der Begriff Kontingenz problematisch wird. Kontingenz wird im Gegenteil in seinem Modell ausgeschlossen und macht der Operation reiner Entscheidungen Platz. Um diese Entwicklung nachvollziehen zu können, ist es notwendig, nach den tieferliegenden Gründen für eine solche Sichtweise zu fragen. Wie sieht die Interpretation von Kontingenz in Luhmanns Organisationstheorie aus? Die Autoren, die der Systemtheorie Luhmanns nahestehen, folgen March und Simon zunächst in der These, dass Organisationen ein Teilbereich sozialer Systeme sind, die aus Entscheidungen bestehen. Entscheidungen fungieren somit in der Systemtheorie Luhmanns als basaler Elementbegriff von Organisationen. Die Systemart Organisation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie im spezifischen Modus der Entscheidung operiert: „Sie produzieren Entscheidungen aus Entscheidungen und sind in diesem Sinne operativ geschlossene Systeme.“ (Luhmann 1997: 830) Anders aber als die Organisationstheorie von Cyert/March oder March/Simon, die die Individuen mit ihren individuellen Zielen ins Zentrum rücken – „People (i.e., individuals) have goals; collectivities of people do not“ (Cyert/March 21992: 30) –, ist der systemtheoretische Ansatz von vornherein auf das soziale System Organisation und nicht auf Individuen bezogen. Luhmann bezieht sich nicht auf Entscheidungen als mentale Akte, sondern setzt auf die Sichtbarkeit von Entscheidungen, indem er sie als explizit soziale Systeme fasst. Die Organisationstheorie präsentiert sich also nicht im genuinen Sinne als Entscheidungstheorie. Die Organisationstheorie ist vielmehr eine „Theorie der Verknüpfung von Entscheidungen, der Reproduktion von Entscheidungen durch Entscheidungen“ (Baecker 1999: 141). Wenn Entscheidungen als Ereignisse die Elemente sozialer Systeme darstellen, wie lassen sich dann Entscheidungen als konstituierende Elemente organisierter Sozialsysteme fassen? Die Entscheidung wird im systemtheoretischen Ansatz näher durch Entscheidungsprämissen konkretisiert. Entscheidungsprämissen sind das Ergebnis absorbierter Unsicherheit. Prämissen sind Verregelungen, aber auch „kognitive Routinen“ (Luhmann 2000b: 250f.), die letztendlich nichts anderes bedeuten als die 201

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Einschränkung des Spielraums anderer Möglichkeiten. Das Organisationssystem ist keineswegs für alle Informationen offen. Es trifft immer schon eine Auswahl. Jede Prämissenbildung ist Grenzziehung, bedeutet Ausgrenzung von Dimensionen, die, nachdem sie einmal ausgegrenzt worden sind, im System selber nicht mehr thematisiert werden. Die Prämissen bleiben selbstverständlich in Organisationen entscheidbar: „Auch diese Regeln sind kontingent. Sie werden nur durch Entscheidung begründet. Sie gelten positiv.“ (Luhmann 52005: 50) Jedoch bedeutet das Setzen von Prämissen, dass die Elemente der sozialen Welt nicht mehr allesamt und in der Fülle ihrer Verschiedenheit voneinander zugelassen, sondern streng kanalisiert werden. Die Implementierung von Prämissen bildet den Horizont, „in dem eine Organisation ihre Welt konstruieren, Informationen verarbeiten und immer neu Unsicherheit in Sicherheit transformieren kann“ (Luhmann 2000b: 238). Konkret handelt es sich bei Entscheidungsprämissen um den gesamten Vorschriften- und Aufforderungskatalog, der die gleichsam nackte Entscheidung spezifiziert. Bei Entscheidungsprämissen handelt es sich um „Ablagerungen vorheriger Entscheidungen, die künftigen Entscheidungen dadurch Struktur geben, daß sie markieren, wie man üblicherweise in einer bestimmten Organisation welche Entscheidungen zu treffen pflegt“ (Baecker 1999: 215). Sie stellen Orientierungswissen zur Verfügung, das es wahrscheinlich macht, dass in künftigen Situationen analog entschieden wird. Am Ende werden Entscheidungen gleichsam in ein „festverschnürtes Paket von Entscheidungsprämissen“ (Luhmann 2 1992c: 178) gepackt und z.B. an Mitarbeiter in bestimmten Positionen weitergegeben. Entscheidungsprämissen sind nur das grundlegendste Instrument, um den Spielraum von Möglichkeiten einzuschränken. Entscheidungsprämissen sind die elementaren Strukturen von Organisationen, damit überhaupt gehandelt werden kann. Der Aspekt von Vorselektion von Optionen wird nun genauer durch den Begriff Entscheidungsprogramme charakterisiert. Organisationen entwickeln, wie Luhmann – in Analogie zu March/Simon (21993) – sagt, „Entscheidungsprogramme“, die einen Gradmesser für die Richtigkeit von Entscheidungen darstellen. Man könnte auch sagen: Jede Stelle in einer Organisation wird mit einem „Performance Program“ versehen. Bei „Performance Programs“ lässt sich an Produktionsprogramme in der Industrie, an Operationspläne im Krankenhaus und damit verbundene Routinen oder an Schulcurricula denken: „For example, the sounding of the alarm gong in a fire station initiates such a program. So does the appearance of a relief applicant at a social worker’s desk. So does the appearance of an automobile chassis in

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front of the work station of a worker on the assembly line.“ (March/ Simon 21993: 162) Die übergeordneten Entscheidungsprämissen steuern die Regelungen des Dienstweges ebenso wie die Kommunikationswege oder die Regulierung des Personaleinsatzes. Die Stellenbeschreibungen schaffen eine institutionalisierte Form der Zuweisung von Aufgabenbündeln: „Organisation zergliedert Aufgaben und verteilt sie auf Stellen. Daraus ergeben sich relativ kleinformatige Arbeitsprogramme.“ (Luhmann 2000a: 272) Tätigkeitsbewertungen und darauf aufsetzende langwierige Rekrutierungsverfahren entscheiden, welche Person ausgewählt wird. Auf jeden Fall scheint – zumindest in diesem Modell klar –, dass Personen nicht deshalb gewählt werden, „weil man sie liebt oder weil sie sich einkaufen oder weil man mit ihnen verwandt oder befreundet ist, sondern deshalb, weil sie sich, wie man meint, für bestimmte Aufgaben eignen. Das heißt: sie werden, ähnlich wie Programme, als Entscheidungsprämissen für Entscheidungen gewählt“ (Luhmann 2000b: 225). Die bisherigen ausgewählten Aspekte zu Luhmanns Überlegungen, wie Organisationen zu operationalisieren seien, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Luhmanns frühere Organisationstheorie, die, wie Thomas Drepper (2003: 300) herausgearbeitet hat, einen „starken ordnungs- und institutionentheoretischen Grundton“ erhielt, wird auch, wie ich meine, in seiner späteren Theorie autopoietischer Systeme beigehalten. Zwar wird die Theorie Luhmanns – worauf ich in Kapitel 6 ausführlicher eingehen werde (vgl. Punkt 6.1.2.2) – durch die Einführung des Ereignisbegriffs dahin gehend modifiziert, dass nun Prozesse stärker ins Gewicht fallen. Luhmann (2000b: 317) konstatiert: „Die Dynamik der Organisation liegt jedoch in Prozessen der Entscheidungskommunikation, in denen Entscheidungen aus Entscheidungen produziert werden.“ Aber dennoch – und hier widerspreche ich Drepper – bleibt die Auseinandersetzung mit dem Ereignisbegriff ein Randphänomen. Die „Ereignisanalyse von Entscheidungen“ (Drepper 2003: 304) wird relativ schnell von der Auseinandersetzung mit klassischen Strukturbegriffen wie Programmen oder Entscheidungsprämissen abgelöst. In theoretischer Hinsicht hat für Luhmann alles dasjenige Vorrang, was zur Konditionierung organisationaler Entscheidungen beiträgt. Das gleiche Muster werden wir später auch in anderen Theorieteilen des Werks von Luhmann wiedererkennen. Und hier bin ich bereits bei einem gewichtigen Einwand: Aufgrund der organisationssoziologischen Ausrichtung lässt sich ableiten, dass Luhmanns Theorie uns kaum Informationen über Organisationen geliefert hat, die das „technokratische Paradigma“ der Organisation als Ma203

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schine ergänzen würden. Wenn eine Organisation aus nichts anderem besteht als aus der Kommunikation von Entscheidungen und diese Entscheidungen auch nur innerhalb eines rekursiv geschlossenen Systems generiert werden, dann fragt sich, wie die Prozesse aufzufassen sind, die im Innern der Organisation auch noch passieren. Darauf gibt Luhmann folgende Antwort: „Alles andere – Ziele, Hierarchien, Rationalitätschancen, weisungsgebundene Mitglieder, oder was sonst als Kriterium von Organisation angesehen worden ist – ist demgegenüber sekundär und kann als Resultat der Entscheidungsoperationen des Systems angesehen werden.“ (Luhmann 2000b: 63) Die Entscheidung und das daraus sich entwickelnde System, das sich durch Entscheidungen mit neuen Entscheidungsmöglichkeiten gleichsam aufpumpt, sind die einzigen Elemente für Luhmann, die die Organisation am Laufen halten. Die Entscheidungsorientierung von Luhmann macht nicht transparent, durch welche Prozesse und aufgrund welcher Ursachen eine Entscheidung zustande gebracht wird. Und wie sehen die Prozesse aus, in denen Entscheidungen Gewicht bekommen? Denn schließlich besteht eine Organisation auch aus sozialen Handlungen, Karriereinteressen von Personen, aus der „heimlichen Ergänzungshilfe der Menschen“ (Rudolf zur Lippe), aus Unternehmenswerten, kurzum: aus all den Entitäten und Wirkungsketten eben, die möglicherweise Entscheidungspfade in diese oder jene Richtung bringen können. Dieser Sachverhalt lässt sich auch so formulieren: Die Entscheidung ist das Einzige, was die Systemtheorie interessiert. Kontingenz, die vor der Entscheidung am Werke ist, wird bei Luhmann nicht thematisiert. Luhmann weiß natürlich, dass vor einer weitreichenden organisationalen Entscheidung die Situation offen und kontingent ist: „Man beobachtet die zur Entscheidung anstehende Alternative anders je nach dem, ob man auf die Zeit vor der Entscheidung oder auf die Zeit nach der Entscheidung abstellt.“ (Luhmann 2000b: 170). Und er sieht sehr genau: „Vor der Entscheidung ist die Kontingenz offen, die Wahl jeder Möglichkeit ist noch möglich.“ (Ebd.: 170) Da er sich aber eben nur für die Entscheidung und für das, was chronologisch darauf folgt, interessiert, ist Kontingenz an sich für ihn gar nicht interessant. Entscheidend sei nur, dass entschieden wird.6

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So auch Nassehi (2002: 458f.): „Alles, was in Organisationen geschieht, ereignet sich in Form von Entscheidungen und kann nur durch neue Entscheidungen rückgängig gemacht werden. […] Entscheidungstheoretisch ist zunächst nicht von Belang, wie Entscheidungen zustande kommen, rational, irrational, intentional, von langer Hand geplant oder spontan, gewollt oder gezwungenermaßen, ob mit oder ohne Zweifel oder wie auch

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Aber darin liegt eben die spezifische Ausrichtung der Theoriekonstruktion. Nach der Entscheidung ist die Kontingenz geschlossen. Die Unsicherheitsabsorption, die durch die Entscheidung und die nachfolgenden Maßgaben initiiert wurde, stabilisiert Routinen. André Kieserling (1999: 352) kommentiert dies so: „Organisationen schließen sich auf der Grundlage der Zumutung von Entscheidungsverhalten. […] Damit sind sie das Problem, dass kommuniziertes Entscheidungsverhalten immer auch kommunizierte Kontingenz ist und dadurch zu Ablehnung herausfordert, zunächst einmal los.“ Kieserlings Metapher vom „Loswerden“ der Kontingenz bringt die Quintessenz der systemtheoretischen Organisationssoziologie exakt auf den Punkt. Luhmanns Fokussierung auf das Ergebnis organisationalen Entscheidens ist ein theoriestrategischer Akt, der geradewegs vom Thema Kontingenz wegführt. Theorietechnisch mündet die dargestellte Weichenstellung in der luhmannschen Theorie in eine Konsequenz, der Becker et al. (21992) in der Vermutung Ausdruck geben, dass Luhmann aufgrund seiner Theorieentscheidung möglicherweise doch das Wesentliche von Organisationen verpasse: „Die meisten relevanten organisatorischen Probleme stellen sich jenseits der Entscheidung: als Probleme ihrer Durchsetzung, Ausführung und deren Kontrolle; als Probleme der (Mikro-) Politik, die sich nicht oder nur zu hohen Preisen auf Entscheidungen reduzieren läßt.“ (Becker et al. 21992: 106) Wenn man die eben dargestellte Argumentation Revue passieren lässt, so kann man folgendes Fazit ziehen: Luhmanns Konzipierung von Organisationen kann man dahin gehend interpretieren, dass sie nicht an Kontingenz, sondern an Reduktion von Kontingenz interessiert ist. Seine Passion ist der Akt der Entscheidung und insofern ist für ihn am Entscheidungsprozess nur relevant, wie aus Möglichkeit Wirklichkeit, aus Komplexität Eindeutigkeit wird. Nur aus dieser Logik heraus bestimmt die hier zur Debatte stehende Theorie die Entscheidung als Transformation von Kontingenz, als ja gerade im Akt der Entscheidung Mögliches ausgewählt und anderes aus dem Raum der Möglichkeiten aus dem System herauskatapultiert wird. Die Entscheidung ersetzt Unsicherheiten durch selbst erzeugte Sicherheiten. Ich würde also Dreppers Argument widersprechen und darauf verweisen, dass aus den eben genannten Gründen Luhmann dem Anspruch, eine „Ereignisanalyse von Entscheidungen“ (Drepper 2003: 304) zu liefern, gerade nicht gerecht wird. Damit soll nicht bezweifelt werden, dass Organisationen sich nicht auch durch Entscheidungsprämissen, formalisierte Erwartungen, regulaimmer. Entscheidend [sic!] ist vielmehr, dass entschieden wird bzw. dass alles, was geschieht, als Entscheidung sichtbar wird.“

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tive Bestimmungen oder durch eine vertikale und hierarchische Strukturierung von Kommunikation beschreiben ließen. Aber Luhmann skizziert ein halbiertes Bild von Organisationen, denn die Existenz von Entscheidungen (Prämissen) in Organisationen ist selbst ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Die Fokussierung auf den Entscheidungsakt ist eine theoretische Verengung. Gerade die Organisationstheorie der letzten Jahre hat aber gezeigt, dass Zieldefinitionen von Entscheidungen und daraus abgeleiteten Entscheidungsprämissen nicht vor der Entscheidung, sondern als Erfahrung und als Konsequenz der Segmente der Entscheidungsgeschichte vorgenommen werden: „Organization members discover their motives by acting […] decisions often occur through oversight or quasi-random mating of problems and solutions.“ (DiMaggio/Powell 1991b: 19) Die Entscheidungsprämissen entstehen nicht in einem einmaligen schöpferischen Akt, sondern reaktiv und in aufeinanderfolgenden Iterationen. Auf die Unterkomplexität von Luhmanns Ansatz macht auch Wil Martens aufmerksam. Martens (1997: 273) stellt fest, dass für die Organisationstheorie Luhmanns körperliche Elemente des Menschen, die Arbeit, Maschinen und Mittel keine Bedeutung haben. Die Entscheidungen, die als kommunikative Ereignisse und Entscheidungsprämissen aufgefasst werden, scheinen Abbreviaturen zu sein, die einen Tiefgang in die unteren Stockwerke der Organisation nicht mehr notwendig machen. Dort unten befinden sich ja nur die Akzidentien, die Konsequenzen des „festgeschnürten Pakets“ der Entscheidungen sind. Häufig sind es aber gerade, so Martens (1997: 273) Einwand, die zusammenhängenden technischen und sozialen Operationen in den Betrieben, die die gesellschaftlich anerkannten Resultate und Probleme zur Folge haben. Die technische Infrastruktur und ihre Beteiligung an der organisationalen Entscheidungsfindung wurden gerade in den letzten Jahren immer wieder in der Organisationstheorie betont (vgl. z.B. Law 1994). „Einsicht in den Zusammenhang dieser verschiedenartigen Operationen aber ist für eine praktisch interessierte Organisations- und Managementwissenschaft, die die technisch-organisatorischen Zusammenhänge der Betriebe erforschen und besser bzw. rationaler gestalten helfen möchte und daraus auch ihre Anerkennung bezieht, unverzichtbar.“ (Martens 1997: 273) Bei Luhmanns Gemälde von Organisationen hingegen findet man darüber nichts. Dies alles ist – mit Luhmann gesprochen – „sekundär“. Auch die verändernde Kraft von Akteuren spart Luhmann aus. Zwar sind, wie Luhmann kommentiert, Entscheidungsprogramme nicht unbeeinflusst von denjenigen Personen, die sie festlegen: „Mit Personalentscheidungen wird über Stellenbesetzungen und damit über Entschei206

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dungsprämissen entschieden.“ (Luhmann 2000b: 288) Er wirft der klassischen Organisationstheorie des technokratischen Paradigmas mangelnden Akteursbezug vor: „Gegen alle Legenden über ‚unpersönliche‘ Bürokratie muss festgestellt werden, dass die Orientierung an Personen innerhalb von Organisationen eine erhebliche Bedeutung besitzt.“ (2000b: 286) Wie aber von Personen, die im eigentlichen Sinne zur Umwelt der Organisation gehören, aktiv auf die Organisation eingegriffen werden kann, wird bei seinem Organisationsmodell nicht klar: „Akteurtheoretisch beobachtet bringt Luhmanns Konzept kommunikativer Autopoiesis also eine Fiktion akteurloser Sozialität zum Ausdruck.“ (Schimank 2002: 42)7 Aber selbstverständlich haben Personalentscheidungen – bedingt durch die Person – enorme Auswirkungen auf die Struktur und Strategie von Unternehmen. Häufig ändert der designierte Vorstandsvorsitzende einer Organisation die Konzernstruktur vollständig neu und gruppiert ganze Unternehmenssegmente um. Neue hinzugewonnene Segmente verändern die Größenschwellen von Organisationen. Organisationen und ihre Entscheidungsprogramme werden durch derartige Handlungsmuster fortwährend geändert und abgewandelt. Ich werde wie gesagt in Kapitel 6 ausführlich auf Luhmanns Verständnis von Kontingenz als dominantes Strukturprinzip von Funktionssystemen zu sprechen kommen. An dieser Stelle lässt sich nur folgendes Fazit ziehen: Die Maschinenmetapher diente der früheren Organisationssoziologie dazu, Organisationen als Entitäten zu verstehen, die man in Analogie zur Maschine bis in ihre letzten Einzelbestandteile zerlegen kann, um sie dann zu einem umfassenden Funktionszusammenhang rekombinieren zu können (vgl. Bardmann 1994: 262). Luhmann möchte diesem Bild einer trivialen Maschine widersprechen. Am Ende reduziert sich aber auch seine Organisationstheorie auf nur drei Strukturierungsformen: Entscheidungsprogramme, Kommunikationswege und Personal, was dem Bild einer trivialen Maschine wieder recht nahe kommt. Die Entscheidungsprämissen bauen das ablauf- und aufbauorganisatorische Gesamtgefüge wie von selbst zusammen. Es steht sicherlich außer Frage, dass Luhmanns Organisationsanalyse verschiedene Aspekte von Organisationen erfasst. Es ist nicht zu bezweifeln, dass Begriffe wie organisatorische Regeln, Routinen, Konditi7

Zu einem ähnlichen Resultat kommen Becker et al. (21992: 105ff.). Organisationen, so die Autoren, leben nicht von Kommunikationen und Entscheidungen allein. Sie müssen „einkaufen, produzieren, verkaufen. Es muß gehandelt, nicht nur entschieden werden. Es muß gearbeitet, geführt, motiviert, interpretiert werden. […] Macht mag die Selektion von Entscheidungsprämissen bewirken, ist aber selbst durch Entscheidungen allein weder produziert noch ausübbar.“

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onalprogramme etc. ein wesentlicher Bestandteil von Organisationen sind. Wer wollte bestreiten, dass es in Organisationen ein festes Set von Regeln gibt, das die „normative Bedingung der Richtigkeit, Brauchbarkeit, Akzeptierbarkeit des Verhaltens programmiert“ (Luhmann 52005: 51)? Will man aber über die komplizierten Prozesse von Entscheidungen ein Bild einfangen und Erkenntnisse darüber sammeln, wie es überhaupt zu jenem festen Set von Entscheidungsprämissen kommt, das dann in Form von Programmen bis hin zu konkreten Arbeitsplätzen kaskadiert, dann wird von Luhmann keine große Hilfe zu erwarten sein. Ich erachte dabei insbesondere folgende Fragen als relevant: Welche kollektiven Phänomene prägen die Bildung von Entscheidungen? Wie kommt es bei Entscheidungsprozessen zur Kohärenz von mentalen Modellen, Kommunikationen und Disputen? Wer sind die zentralen Akteure in der Entscheidungssituation? Welche Rolle spielen Konflikte und Ambiguitäten? In welcher Frequenz ändern Organisationen ihre Legimitationsebene und welche Veränderungen entstehen aufgrund nachhaltiger Veränderungen der Umwelt?

5.3 Kontingenz und Entscheidungskorridor: Macht und Mikropolitik Zusammenfassen könnte man das technokratische Paradigma in der Organisationstheorie folgendermaßen skizzieren: Die Organisation ist ein System, welches seine Programmierung nach Zielen einrichtet, dafür geeignete Mittel selektiert und das implementierte Programm über den Übersetzungsriemen eines formalen Hierarchie- und Herrschaftsapparates durchzusetzen versucht. Die These von Autoren, wie sie hier diskutiert werden soll, lautet nun also, dass gerade dieses Prinzip am stärksten kontrovers diskutiert wird. Die Handlungen (Entscheidungen) von Organisationsmitgliedern würden sich gerade nicht entlang von streng kausalen Zweck-Mittel-Ketten aus ökonomischen Gewinnzielen ableiten. Organisationen, so Ortmann (1995: 61), seien in Wahrheit als kontingente Gebilde aufzufassen: „Kontingent meint ‚Auch-anders-möglich-sein‘, weder notwendig noch unmöglich.“ Die Frage, die sich nun stellt, lautet: Was ist aber in Organisationen kontingent? Unter der Vielzahl der hier zu behandelnden Themen gebührt besondere Aufmerksamkeit dem Begriff der Macht. In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, einen soziologischen Zugang zum Thema der Mikropolitik zu skizzieren, der sich einerseits von den gängigen organisationstheoretischen Ansätzen unterscheidet und andererseits aufnahmefähig ist für die Annahmen der Theorie von formalen Organisationen. Im Zuge 208

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der Entfaltung des mikropolitischen Paradigmas sollen Antworten auf die oben gestellten Fragen gefunden werden.

5.3.1 Zum Begriff der Mikropolitik In der Kritik an Luhmanns Theorie schwingt bereits mit, dass wir die Organisation nicht allein über den Akt der Entscheidungen verstehen können. Die meisten wichtigen organisatorischen Problemstellungen ergeben sich jenseits der Entscheidung, und zwar genau deswegen, weil der Prozess, der der Entscheidung vorausgeht, kontingent ist. Jetzt müssen wir aber sehen, wie der Faktor Kontingenz in diesem Kontext perspektivisch aufzulösen wäre. Einer der Faktoren, der letztlich in Organisationen kontextspezifisch, unbestimmt und willkürlich ist, ist der Sachverhalt, der heute mit dem Begriff „Mikropolitik“ bezeichnet wird. Dieser soll zeigen, wie in Organisationen vor jeder Entscheidung die Offenheit des So-und-auch-anders-möglich-Seins herrscht. Aber wie ist Mikropolitik zu fassen und wie beeinflusst sie die Prozesse in Organisationen? Für diesen Zugriff ist eine Präzisierung des Begriffs nun unumgänglich. (1) Kritik der ökonomischen Rationalität: Mikropolitik meint nach Ortmann (21992: 217) zunächst „politisches Handeln in Organisationen“. Die zentrale Stoßrichtung des mikropolitischen Ansatzes richtet sich auf den Ökonomismus der Theorie rationaler Akteure sowohl der Betriebwirtschaft als auch der Sozialwissenschaften. Mikropolitik soll gleichsam den Kontrapunkt der Profit- und Gewinnmaximierungshypothese der neoklassischen Ökonomie darstellen. Das erwerbswirtschaftliche Prinzip könne als „Ur-Grund“ (Ortmann 1995: 122) nicht in Betracht kommen, da es „spezifikations- und kontextualisierungsbedürftig ist und erst in dieser Spezifikation und Anwendung auf situative Umstände seinen präzisen Sinn erhält“ (ebd.: 114). Erst die mikropolitische Analyse erlaube „ein praxisadäquates Verständnis der auftretenden Probleme, der Widerstände, der Handlungsstrategien der Beteiligten, ihrer Machtressourcen, der mikropolitischen Funktion von Wirtschaftlichkeitsanalysen und Budgetierungsverfahren, der Koalitionen, des Konflikts zwischen Innovation und Routine […]“ (ebd.: 69). Ortmann plädiert hier also eindeutig für einen Ansatz, der Organisationen als konkrete Analyseeinheiten auffasst. Ins Zentrum des Interesses rückt der Prozess, wie eine Organisation entsteht und stabilisiert oder destabilisiert wird. Ortmann (1995: 31) kritisiert dementsprechend – gerade auch am marxistischen Ansatz – den „ökonomischen Objektivismus“, „der – in merkwürdiger Übereinstimmung mit neoklassischer Ökonomie – uner209

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schütterlich an die vom Markt erzwungene Rationalität der betrieblichen Prozesse und Strukturen glaubt“. Das impliziert auch die Absage an Patentrezepte, wie sie etwa noch die Kontingenztheorie entworfen hat (vgl. Punkt 5.2.2). Verworfen wird aber auch die sich bis in die Theorie funktionaler Differenzierung haltende Grundüberzeugung, dass Wirtschaft und unternehmerisches Handeln nach rein ökonomischen Kriterien funktionierten: „Das moderne Wirtschaftssystem hat seine Einheit im Geld.“ (Luhmann 21988: 625) Die Rationalitätslogik der Wirtschaft orientiere sich in eminenter Weise am Kriterium der Rentabilität (vgl. Schwinn 1999: 428). Schon an dieser Stelle gilt es einzuhaken: Grundsätzlich eröffnet der Begriff der Rentabilität eine Vielzahl von Bezugspunkten, denn das, was sich in Unternehmen unter Kosten-Nutzen-Kriterien verstehen lässt, kann sich auf einer Skala auf recht unterschiedliche Sachverhalte beziehen, bis hin zur Orientierung an Nichtrentabilität. Das Problem besteht offensichtlich darin, dass es der Organisationstheorie große Schwierigkeiten bereitet, sich von der Theorie rationaler Wahl und dem Paradigma der Gewinnmaximierung zu trennen. An deren Stelle tritt in der Tat der konkrete Entscheidungspfad in einer Organisation: „Organisationale Entscheidungsprozesse sind in ihrem Ausgang und in ihrem Verlauf kontingent, d.h. prinzipiell offen.“ (Ortmann 1995: 62) Entscheidungen und die daraus abgeleiteten Funktionsweisen von Organisationen – also gerade dann wieder die alltäglichen Routinen – sind nichts anderes, wie die beiden Organisationssoziologen Michel Crozier und Erhard Friedberg (1993: 7) kommentieren, „[…] als die immer spezifischen Lösungen, die relativ autonome Akteure mit ihren jeweiligen Ressourcen und Fähigkeiten geschaffen, erfunden und eingesetzt haben, um die Probleme kollektiven Handelns zu lösen, d. h. vor allem, um ihre zur Erreichung gemeinsamer Ziele notwendige Zusammenarbeit trotz ihrer widersprüchlichen Interessenlagen und Zielvorstellungen zu ermöglichen und sicherzustellen.“

(2) Cherchez la structure: Wichtig ist wiederum, dass sich Mikropolitik nicht nur auf das Handeln sowie die Chancen und Ressourcen der Akteure auswirkt, sondern ebenso auf die Strukturen und Entscheidungsprämissen der Organisation: „Die Botschaft mikropolitischer Analyse des Managements lautet: cherchez la structure“ (Ortmann 1995: 69). Es zeigt sich, dass es sich häufig gerade bei den behaupteten ökonomischen, technischen oder organisatorischen Zwängen und Randbedingungen um in Organisationen selbst produzierte, interpretative Sachverhalte handelt, die in Entscheidungssituationen von Akteuren für vorent210

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scheidende Weichenstellungen präpariert und modifiziert werden können. Mikropolitik verändert den strategischen Entscheidungsprozess und damit sämtliche darauf folgenden Programme. Macht ist daher, nach Henry Mintzberg (1983: 22), „built on the premise that organizational behavior is a power game in which various players, called influencers, seek to controll the organization’s decision and actions“. Organisationen sind gemäß Mintzberg keine rationalen Gegebenheiten, nicht das automatische Ergebnis der Entwicklung von Sachgesetzlichkeiten und auch nicht Produkt der Summe äußerer Determinanten: „There is considerable evidence that political activities are a key element in strategic decision making.“ (Mintzberg et al. 1976: 274) Die Dimension Macht zielt hierbei, wie das Mintzberg-Zitat bereits deutlich macht, nicht „nur“ auf den funktionalen Beitrag von Hierarchien und auf das Rollenverständnis des klassischen Autoritätsprinzips. Es wird in dieser Art von Soziologie vielmehr die Frage der Bedeutung von Macht für die sozialen Träger von Macht als personae wichtig, die eben auch von ganz spezifisch persönlichen Zielen motiviert werden. (3) Das reale Organigramm einer Organisation: Der theoretische Fokus der Mikropolitik ist somit weniger auf die offiziellen formellen Organigramme gerichtet als vielmehr auf die vielfältigen Zusammenhänge zwischen einer Organisation und den Möglichkeiten der Machtausübung. Die sich herauskristallisierende Machtkonstellation zeigt sich als das eigentliche Erklärungswürdige an Organisationen und nicht der offizielle „talk“, den Organisationen für gewöhnlich an die externe Öffentlichkeit absondern. Es lassen sich nun die Abweichungen skizzieren, die zwischen der offiziellen Fassade einer Organisation und ihren reale Prozessen bestehen: „Diese Machtstruktur, die die formalen Vorschriften ergänzt, berichtigt, ja sogar beseitigt, stellt im Grunde das wirkliche Organigramm der Organisation dar. Die Strategien aller Akteure bilden sich letztlich in Bezug auf sie und richten sich an ihr aus.“ (Crozier/ Friedberg 1993: 55)

5.3.2 Strukturmuster von Mikropolitik Als Begriff taucht Mikropolitik erstmals bei Tom Burns auf. Er fasst Organisationen als soziale Systeme auf, in denen Akteure eigene Interessen verfolgen, miteinander konkurrieren oder Koalitionen bilden. Dieses Verhalten nannte er „politisch“. Für Burns ist „micropolitics“ gleichwohl ein „mechanism of institutional change“ (Burns 1962: 257). In Deutschland wurde der Begriff zunächst umfassend von Horst Bosetzky rezipiert. Bosetzky/Heinrich (41989: 193) definieren Mikropo211

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litik als „die Bemühungen, die systemeigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele, insbesondere des Aufstiegs im System selbst und in anderen Systemen, zu verwenden sowie zur Sicherung und Verbesserung der eigenen Existenzbedingungen“. Wer in einem Unternehmen führen will, so Bosetzky (21995: 1518), „muß die ‚Schattenordnung‘ seiner Organisation möglichst weitgehend kennen und auch selber mikropolitisch denken und handeln“. In analoger Weise definiert Oswald Neuberger (62002: 685) Mikropolitik als „das Arsenal jener alltäglichen ‚kleinen‘ [Mikro-!]Techniken, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen“. Innerhalb der mikropolitischen Figurationen bilden sich verschiedene paradigmatische soziale Relationen und Strukturmuster aus, die den Verlauf des Spiels häufig beeinflussen. Im Folgenden sollen einige dieser Strukturmuster betrachtet werden.

5.3.2.1 Spiele Mikropolitik stellt nicht nur das bestehende Rationalitätsmodell der Organisationstheorie auf den Kopf, es widerspricht ihr auch in der These, dass Entscheidungen stets, gemäß hierarchischer Stufenordnung, topdown verlaufen. Simplifizierende Theoreme einer störungsfreien Realisierung innerorganisatorischer Hierarchieebenen werden aufgegeben. An deren Stelle tritt ein Forschungsprogramm, das den täglichen Kampf um die Kontrolle, d.h. um Macht und Ressourcen, untersucht (vgl. Türk 1989: 123). Auf der Mikroebene des Unternehmens zeigt sich der im luftleeren Raum schwebende Begriff des Betriebes als ein soziales System, das eigenen Regel- und Entstehungsbedingungen mit je eigenen Machtbeziehungen gehorcht. Dementsprechend stehen auch nicht nur die strukturellen Variablen der Organisation im Fokus, sondern die Macht- und Verhandlungsprozesse zwischen heterogenen Gruppierungen, die zuallererst die Entscheidungen und damit auch das Design des Unternehmens in diese oder andere Richtung lenken. Mikropolitik wird im Rahmen von sogenannten „Spielen“ betrieben. Der Begriff des Spiels ergänzt den formellen Rahmen der Organisationen. Spiel ist für Crozier/Friedberg der „Mechanismus, mit dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und regulieren und sich doch dabei Freiheit lassen“ (Crozier/Friedberg 1993: 68). Ortmann versteht unter einer Organisation nichts anderes als die Gesamtheit jener Spiele. Eine Organisation ist, seinen Ausführungen zufolge, „eine Gesamtheit miteinander verzahnter Spiele, die kontingente, d.h. relativ autonome menschliche Konstrukte darstellen und durch ihre formalen und 212

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informellen Spielregeln eine indirekte Interaktion der konfligierenden Machtstrategien der Organisationsmitglieder bewirken“ (Ortmann et al. 1990: 55). Organisationen gleichen Kampfstätten mikropolitischer Aushandlungsprozesse, in denen jeder „sein“ Spiel spielt. Die Akteure verfolgen ihre Strategien im Kontext bestimmter Spielsituationen und setzen ihre Ressourcen („Trümpfe“) ein. Jeder Akteur besitzt Macht über andere Akteure. In den Augen der Mikropolitik ist die Organisationsstruktur keine unschuldige Sphäre, sondern das zentrale Medium zur Schaffung und Reproduktion von Machtpositionen. Mikropolitik ist darüber hinaus nicht einfach nur mit Vermachtung gleichzusetzen. Im Fokus der Mikropolitik steht die Frage, auf welche Art und Weise in den frei gelassenen Nischen der Organisationsstrukturen, mithin: innerhalb der organisationellen „Ungewissheitszonen“ (Crozier/Friedberg 1993: 17), Räume für das strategische, aber auch eigensinnige, freiheitsorientierte und innovative Handeln von singulären Akteuren entstehen. Selbstverständlich gibt es innerhalb dieser Spiele Machtasymmetrien. In der Regel verfügt ein Untergebener nicht über die gleichen Machtressourcen wie sein Vorgesetzter. Aber wie Crozier/Friedberg an verschiedenen Beispielen zeigen, sind bestimmte Spielregeln auch für die mächtigeren Akteure relevant. Ein Key Acccount Manager, der einen besonders intensiven Kontakt zu seinen Kunden pflegt, hat eine Machtressource gegenüber seiner Organisation in der Hand, die er gegebenenfalls ausspielen kann. Ein EDV-Experte hat aufgrund seines Spezialwissens eine wichtige Position inne und kann diese gegenüber Personen ins Feld führen, die von einem EDV-Programm abhängig sind. Selbst die in der formalen Organisationstheorie thematisierten organisatorischen Regeln und der hierarchische Aufbau, die für gewöhnlich einen Herrschaftsimperativ für den Untergebenen darstellen, indem sie Ungewissheitsquellen ausschalten, haben eine ambivalente Doppelstruktur. Da nämlich in der Regel der organisatorische Alltag komplexer ist und flexibleres Handeln erfordert, als das durch die Regel bewirkte regelkonforme Verhalten, hat der Untergebene einen Trumpf in der Hand. Der Vorgesetzte hat nämlich keine Handhabe, seinen Untergebenen zu mehr zu zwingen, als die Regel fordern. Je stärker die Stellenbeschreibungen und Kompetenzregelungen reguliert sind, desto weniger Spielraum gibt es für den Vorgesetzten zur Änderung – man denke hier z.B. an den „Dienst nach Vorschrift“.

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5.3.2.2 Koalitionen und Intrigen Koalitionen sind ein zentrales Instrument mikropolitischer Kalküle. Nach Macht strebende mikropolitische Akteure bauen in der Regel informelle Gruppen auf. Sie instrumentalisieren das Karrieresystem ihrer Organisation, indem sie eine Gruppe von Personen fördern, um zu einem späteren Zeitpunkt Gegenleistungen zu fordern. Bekannt wurde hier Bosetzkys Begriff des „Don-Corleone-Prinzips“. Prinzipiell dient die Koalitionsbildung dem Ziel, durch Vermehrung der Knoten im Netzwerk die Machtbasis zu verstärken. Die typische Koalition hat die Struktur der Seilschaft. Positionen werden über persönliche Netzwerke besetzt. Der geeignetste Bewerber für ein Amt oder einen Posten ist jener, der die engste Verflechtung mit der vergebenden Person oder Institution besitzt. Persönliche Beziehungen, die auf Verwandtschaft, Freundschaft oder Klientelzugehörigkeit gründen, haben eine maßgebende Bedeutung, hinter denen andere Qualifikationen zurücktreten. Ein Beispiel hierfür ist die Deutschland AG. Finanzunternehmen bauten durch Überkreuzbeteiligungen ein dichtes Netzwerk gegenseitiger Beziehungen auf. Persönlichen Absprachen wurde ein höheres Gewicht zuerkannt als dem Börsenkurs eines Unternehmens. Die Deutsche Bank und die Dresdner Bank galten zusammen mit der AllianzVersicherung als heimliche „Regenten der Wirtschaft“. Bis heute werden in großen Gesellschaften Aufsichtsratsposten häufig mit Personen aus den Freundesnetzwerken besetzt. Einigen Managern der Firma Siemens wurde vorgeworfen, über ein Netzwerk von Tarnfirmen Schmiergelder gezahlt zu haben. Mindestens 200 Mio. Euro hätten die beteiligten Manager in „fortgesetzten Untreuehandlungen zum Nachteil der Firma Siemens“ (FAZ, 26.11.2006, Nr. 47: 44) über schwarze Kassen ins Ausland transferiert. Breit wurde in den Medien auch das engmaschige Netz aus gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Gewerkschaftern und Topmanagern diskutiert. Regelverletzungen werden in diesem Zusammenhang generell häufig geduldet, „um in einer Art mikropolitischem Tausch dafür Gegenleistungen zu erhalten“ (Ortmann 2003: 106). Gerade für das Ausland gilt bekanntermaßen, dass wirtschaftliche Beziehungen vor allem über Seilschaften laufen. In China beispielsweise spielen persönliche Beziehungen eine erhebliche Rolle, weil sogenannte „guanxi“ als zentral für Erfolge im Geschäftsleben betrachtet werden. Guanxi sind langfristig angelegte und reziproke persönliche Beziehungen zwischen Akteuren, die sowohl einen persönlichen und emotionalen

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Kontext als auch einen instrumentellen Charakter besitzen (vgl. Depner 2006: 188f.). Wer glaubt, dass das Thema Seilschaften vor allem in der Wirtschaft zum Tragen kommt, sieht sich getäuscht. Seilschaften, Klüngel und Postengeschiebe kennzeichnen auch die deutschen, aber ebenso die französischen Universitäten, wie Bourdieu (1992) im „Homo Academicus“ gezeigt hat. Die patronale Durchdringung ist hier besonders hoch, weil sich kein kohärentes System durchgesetzt hat, das zur Objektivierung der Leistungen, zur Vereinheitlichung der Qualitätskriterien und zur Transparenz des Ausleseverfahrens geführt hat. Das akademische Arbeiten ist in den deutschsprachigen Kultur- und Geisteswissenschaften durch persönliche Patronage bestimmt, wie Valentin Groebner (2003) moniert. Das althergebrachte Modell, wonach der Professor seine Mitarbeiter auswählt, ihnen wissenschaftliche Themen zuspielt, sie nach Abschluss ihrer Promotion mit Forschungsprojekten über Wasser hält und sich am Ende im äußersten Glücksfall für eine Professur einsetzt, sei in den Korridoren der Universität nach wie vor dominant. Als Gegenleistung, so Groebner (2003), könne der Professor von ihnen bis ins fortgeschrittene Alter weitgehende Hörigkeit und Unterordnung unter seine Forschungsinteressen verlangen. Die Macht über die Reproduktionsinstanzen sichert ihren Inhabern „eine statuarische Autorität, eine Art Funktionsattribut, das weitaus stärker mit der Stellung in der Hierarchie zusammenhängt als mit der außergewöhnlichen Eigenschaften der Person oder deren Werken“ (Bourdieu 1992: 149). Ob allerdings die Patronage am Ende für den einzelnen Wissenschaftler zum Erfolg führt, bleibt häufig dem Zufall überlassen, denn der erfolgreiche Abschluss in diesem hermetisch abgeriegelten „zünftischen“ akademischen System ist von der Kooperation durch den richtigen Patron abhängig. Max Weber hat bekanntlich die wissenschaftliche Laufbahn unter das Diktat des Zufalls gestellt. Ob es jemandem jemals gelingt, in die Position eines vollen Ordinarius aufzurücken, ist nach Weber eine Angelegenheit, die Hasard ist: „Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine solche Rolle spielt.“ (Weber 1991: 240) Koalitionen haben im Übrigen nicht immer einen kriminellen oder unmoralischen Touch, wie die oben genannten Beispiele suggerieren mögen. Cyert und March hoben die Koalitionsbildung als den zentralen Vergesellschaftungsmodus in Organisationen hervor: „Let us view the organization as a coalition. It is a coalition of individuals, some of them organized into subcoalitions.“ (Cyert/March 21992: 31)

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Tatsächlich geht es bei der Mikropolitik nicht nur um den Aufbau von Koalitionen. Es geht vielmehr auch darum, gegnerische Akteure aus dem Rennen zu werfen. In der Regel heißt Mikropolitik also vor allem Nichtkoalition, d.h. die „Abwertung (Abqualifizierung) seiner Gegner, Minderung der gegnerischen Machtpotentiale“ (Bosetzky 21992: 29). Alle Machtsammler in Organisationen kennen das Spiel mit Intrigen: „Intrige ist geplante, zielgerichtete und folgerichtig durchgeführte Verstellung zum Schaden eines anderen und zum eigenen Vorteil.“ (von Matt 2006: 54) Gerade weil in Großorganisationen Konflikte entstehen, gerät der Handlungskontext oft zum „Intrigenbiotop“ und zum Schussfeld für Heckenschützen und Fallensteller. Häufig werden bestimmte Mitarbeiter zu Opfern einer systematischen Belästigung durch Kollegen, indem ihre Kommunikation manipuliert und das soziale Image destruiert wird. Jeder, der in Großorganisationen zumindest einen Teil seines Lebens verbracht hat, kann über Intrigen berichten. Oftmals stellt sich die Situation so dar: Jemand hat ein Projekt perfekt vorbereitet und ist der Ansicht, alle wichtigen Akteure in das Projekt integriert zu haben. Doch plötzlich wird das Projekt gestoppt, was das Ende der großartigen Idee bedeutet. Das Projekt wird ohne ersichtliche Gründe eingestellt. Zurück bleibt das Rätselraten, wer wohl den Prozess zum Kippen gebracht hat. Politisches Gespür gehört somit zu den Überlebenstaktiken in Großorganisationen und bewahrt die Betroffenen oftmals davor, auf Minen zu treten. Insbesondere ist ein Sensorium für die Doppelbedeutungen von Kommunikation zu entwickeln: Wer sagt was zu wem und wer meint in Wahrheit was?

5.3.2.3 Die Kontingenz von Verhandlungen Es wäre übertrieben zu behaupten, dass in Organisationen alles auf Koalitionsbildung und das Spiel der Intrige hinausliefe. Mikropolitik erscheint häufig in drei verschiedenen Phasen: Zuerst bilden sich Koalitionen, dann kommt es zu einem internen Kampf um die Meinungsführerschaft, schließlich werden Kompromisse geschlossen. Ein wichtiges Element der Vermeidung von organisationellen Konflikten und mikropolitischen Spielen ist somit das Medium der Verhandlung. Der Entscheidungsprozess nimmt insofern die Merkmale eines Verhandlungsprozesses an. Hier werden in verschiedenen sequenziellen, parallelen „Bargainings“ Ziele und Aufgaben neu gefunden oder bestätigt. Die Bildung von Entscheidungen ist ein relationales, kollektives Phänomen, das mit einem methodologischen Individualismus nicht zu begreifen ist.

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Bei March/Simon (21993) sind die Entscheidungsprozesse das Produkt permanent ablaufender Verhandlungsprozesse über die Reichweite individueller Interessen und gruppenspezifischer Probleme. Es wäre falsch, würde man behaupten, dass in Organisationen a priori die für das Unternehmen rationellste und ökonomisch sinnvollste Entscheidung gefällt würde, denn die Kernkomponenten der Verhandlungen bilden unterschiedliche, umstrittene Werte und Ziele, die eher über Konflikt- und Kompromissprozesse aufgelöst werden als in Form von wirtschaftlichen Erwägungen. Strategien und strukturelle Einflussgrößen entstehen aus den Verhandlungsergebnissen und sind das Sediment dieser Diskurse. In der organisationalen Realität wird verhandelt, welche Handlungsmuster gewählt werden. Organisationen sind Verhandlungsarenen, in denen zahllose Übereinkünfte permanent getroffen, überprüft und revidiert werden. Weick (1995: 12) drückt das anders aus, meint aber im Prinzip das Gleiche: „Organisieren ist zuallererst gegründet auf Einigung darüber, was Wirklichkeit und was Illusion ist […].“ Die Verhandlungsresultate beziehen sich dabei sowohl darauf, dass genügend organisatorische Anreize zur Verfügung stehen, um die Beiträge der Mitglieder der Organisation zu sichern (z.B. im Rahmen von Ziel- und Belohnungsvereinbarungen), als auch auf größere organisationale Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen, die sich zumindest darauf geeinigt haben, eine gemeinsame Entscheidungsfindung zu unternehmen (z.B. Tarifverhandlungen). Der Zweck einer Organisation, so argumentieren auch Cyert/March (21992), konstituiert sich im reziproken Prozess der Interaktion der Koalitionäre. Mit anderen Worten: Die Ziele einer Organisation (und selbstverständlich auch die darauf abgestimmten Programme) sind nicht von vornherein existent. Sie schälen sich vielmehr im Rahmen der Verhandlungsprozeduren heraus. Entscheidend ist „the bargaining process by which the composition and general terms of the coalition are fixed“ (Cyert/March 21992: 33). Die ausgehandelten Ziele – sind sie erst einmal fixiert – werden dann allerdings über Kontrollsysteme stabilisiert. Aber wie rational sind diese Ziele, die verhandelt werden? Rationale Modelle gehen von einem linearen Entscheidungsprozedere aus, das systematisch angegangen wird und auf vorher antizipierte Ziele fokussiert ist. March/Simon (21993) hingegen sprechen den Akteuren nur eine „bounded rationality“ zu. Entscheidungen sind demnach nur begrenzt rationalisierbar, da menschliche Entscheidungen auf der Basis begrenzter Informationsverarbeitungskapazität operieren. Entscheider haben zu Beginn des Entscheidungsprozesses nur wenige Informationen und die Situation ist intransparent. Die begrenzte Rationalität in Organisationen ist die Ursache, dass Situationen komplex und mehrdeutig sind. Sie ist das 217

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Ergebnis der Tatsache, dass Ziele und Anforderungen häufig nicht eindeutig bestimmt werden können und die Organisationsmitglieder nicht in der Lage sind, alle Handlungsoptionen und möglichen Folgen zu überblicken: „Most human decision-making, wether individual or organizational, is concerned with the discovery and selection of satisfactory alternatives; only in exceptional cases is it concerned with the discovery and selection of optimal alternatives.“ (March/Simon 21993: 162) Entscheidungen werden zudem aufgrund der Divergenz der Ziele häufig nur auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen, anstatt den optimalen Standard festzulegen („satisfactory standards“ versus „optimal standard“), da die Akteure nicht nachgeben wollen. Einen Schritt weiter als diese Ansätze geht das sogenannte „Garbage Can Model“ (Cohen et al. 1972). Die These ist, dass Handeln in Organisationen nicht auf präzisierte Ziele gerichtet ist, da weder Übereinstimmung im Hinblick auf das Problem noch Einigkeit über die anzuvisierende Lösung und die einzusetzenden Mittel besteht. Auch die Verhandlungsbasis scheint häufig unklar. Die Ziele sind nicht genau definiert (problematische Präferenzen) und die Mittel zur Erreichung der Ziele sind den Organisationsmitgliedern intransparent (unklare Technologien). Häufig wechseln auch die Partizipanten des Entscheidungsprozesses und deshalb werden bestimmte Themen wieder und wieder diskutiert (fluktuierende Partizipation). Kurzum: Die Lösungsvorschläge für ein bestimmtes Problem liegen ungeordnet, quasi wie in einem Mülleimer, umher, werden immer wieder neu gemischt und die Entscheidungssituationen gleichen eher „organized anarchies“ (Cohen et al. 1972: 1) denn einer mathematisch-statistischen Entscheidungstheorie, wie sie der homo oeconomicus vorsieht. „To understand processes within organizations, one can view a choice opportunity as a garbage can into which various kinds of problems and solutions are dumped by participants as they are generated. The mix of garbage in a single can depends on the mix of cans available, on the labels attached to the alternative cans, on what garbage is currently being produced, and on the speed with which garbage is collected and removed from the scene.“ (Cohen et al. 1972: 2)

Die Konsequenz daraus ist: Die Organisation erfasst Ziele erst, nachdem bereits Prozesse in Gang gesetzt wurden: „[…] it discovers preferences through action more than it acts on the basis of preferences.“ (Cohen et al. 1972: 1) Der Organisationssoziologe Robert Chia (1994: 789ff.) spricht hier von der „actionality of decision, and the decisionality of action“. Gerade für das strategische Management hat die Grundbegriff218

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lichkeit der Verhandlung maßgebliche Konsequenzen. Denn es gilt die Konsequenz zu ziehen, dass die Strategie, die ja vor allem die Richtung vorgeben und die Organisation definieren soll, sich erst nach der Handlung allmählich herauskristallisiert. Die Organisation entwickelt ihre strategische Anlage erst aus ihrer Vergangenheit heraus. Ziehen wir ein Fazit: In der vorangegangenen Diskussion prototypischer Entwicklungslinien, die im Diskussionsfeld um das Thema Kontingenz in Organisationen anzutreffen sind, ging es vor allem darum zu zeigen, dass Entscheidungen in einen historischen Kontext eingebettet sind. Sie entstehen in einem relativ offenen Horizont. Im Überblick kann als den diskutierten Ansätzen gemeinsame Ansicht festgehalten werden, dass die Entscheidungslogik dem klassischen strategischen Management der Betriebswirtschaft widerspricht, wonach das Ziel des strategischen Denkens und Entscheidens darin besteht, durch Planung eine Ordnung sicherzustellen. Wie die Diskussion zeigte, werden mit diesem Modell die betrieblichen Entscheidungsprozesse maßgeblich vereinfacht. Die kritische Analyse der Entscheidungsphase führt zur Erkenntnis, dass Rationalisierungseffekte, die dem strategischen Entscheidungsverhalten zugesprochen werden, nachträglich an die Entscheidung herangetragene Interpretationen sind. Entscheidung fungiert als „post-hoc-Rationalisierung, die Ursache-Wirkungs-Beziehungen abstrahiert und reifiziert“ (Ortmann 1999: 167).

5.3.2.4 Vor- und Nachteile von Mikropolitik Ein ganz unverzichtbares Moment von Mikropolitik besteht darin, ihre positiven Effekte zu erkennen. Mikropolitik ist auf einem bestimmten Level dringend notwendig, denn sie definiert Unternehmensregeln und bestimmt Verhaltensregeln. Es ist bekannt, dass in Organisationen nichts voranginge, wenn sich alle strikt an ihre Verordnungen hielten. Gäbe es in Unternehmen nur das individuell erlaubte und seitens des Unternehmens zwingend erforderliche Verhalten, gäbe es keinen Wandel und keine Innovation. Es wird in der Literatur zum Thema Mikropolitik immer wieder betont, dass mikropolitische Konstellationen auch förderlich sind, um z.B. verkrustete Strukturen aufzubrechen und starre hierarchische Prozesse in Organisationen in eine bestimmte Dynamik zu versetzen, die am Ende durchaus ökonomisch relevante Ergebnisse zur Konsequenz hat (vgl. Bosetzky 21995: 1525; Ortmann 2003: 202). Auf der anderen Seite schadet Mikropolitik allzu oft aber auch dem Unternehmen, wenn die persönlichen Interessen der Akteure nicht zu den Zielen des Unternehmens passen. Wenn die Eigeninteressen der 219

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Handelnden sich nicht unter die Systeminteressen subsumieren lassen, kann dem Unternehmen erheblicher Schaden entstehen. Je selbstreferenzieller Seilschaften beispielsweise sich nur noch um sich selbst drehen und sich von den erforderlichen Strategien entfernen, desto größer werden die Kosten. Häufig ist das Intrigenspiel in einer Organisation die Ursache für ein schlechtes Klima. Intrigen, wenn sie als „Blockiermacht“ angewandt werden, können die offizielle Organisationsstrategie unterlaufen. Vertrauensverlust, Frustration und Motivationsreduktionen sind wohl die wichtigsten Reaktionen auf Intrigen. Das Problem an Mikropolitik besteht darin, dass Routinen und Positionen gerade gegen innovative Angriffe verteidigt werden wollen. Jede Innovation bedeutet eine Verschiebung von Positionen und Machtverhältnissen. Intrigen richten sich deswegen gerade häufig gegen Innovationen und werden gegen Akteure ins Feld geführt, die als Innovatoren gelten. Wer Machtpositionen besetzt, benutzt diese u.a. dafür, diese nicht zu verlieren. Das spannungsgeladene Gegeneinanderstehen von Interessen kann daher im Ergebnis das Interesse der Gewinnerzielung vereiteln. Machterhalt ist somit das entscheidende Thema von Mikropolitik, und zwar sowohl in wirtschaftlichen Unternehmen als auch in der politischen Arena. Der Zusammenhang zeigt sich gerade auch in der Frage, wie einzelne Entscheider die Programmierung von hochwertigen unternehmensweiten Entscheidungen im Kontext des Spannungsverhältnisses von aktuell zu verrichtenden operativen Aufgaben auf der einen und dem Grundsatz der Nachhaltigkeit von strategisch langfristigen Überlegungen auf der anderen Seite vornehmen. Nicht von ungefähr entscheiden sich Topmanager und Vorstände für die Pragmatik des Hier und Jetzt und lassen unangenehme strategische Themen außen vor. Ähnlich wie für Politiker gilt auch für die Unternehmensleitung, dass ihre Macht auf einem Strukturproblem aufgebaut ist, das Richard von Weizsäcker – hier auf die Politik zielend – als das Problem der „Verherrlichung der Gegenwart und der Vernachlässigung der Zukunft“ (zit. nach Tremmel 22003: 350) bezeichnet hat: „Es ist nun einmal so, dass wir nicht anders regiert werden können und regiert werden wollen als durch auf Zeit gewählte Vertreter, die mit ihrem Angebot zur Lösung der Probleme gar keinen weiteren Dispositionsspielraum zur Verfügung gestellt bekommen als den ihrer Legislaturperiode.“ (Ebd.: 350) Bekannt sind die Zwänge der befristeten Verträge der Manager, die die Ursache dafür sind, dass diese ihre Machtpfründe lieber in der Zeit ihrer Tätigkeit sichern, als sich für eine ungewisse Zukunft, die sie selbst häufig gar nicht mehr erleben werden, einzusetzen. Die Verhaltenswei220

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se, die hier oftmals angewandt wird, lässt sich in dem Ausdruck „Nach mir die Sintflut“ zusammenfassen. Störende Elemente, die hier Widerstände entgegensetzen, werden dann häufig ausgeschaltet. Natürlich haben es die Manager deswegen, gerade weil auch ihre Vorgänger beharrlich Zukunftsthemen verdrängt haben, mit den Folgen früherer Entscheidungen zu tun. In der Politik ist dies nicht anders. Gerade unangenehme Themen werden häufig in die Zukunft verschoben, weil spezifische Wählerkollektive sonst vergrault werden könnten. Wie hoch die Opportunitätskosten von Mikropolitik in Organisationen wirklich sind, zeigt sich im Vergleich zu Systemen, die durch ihre Strategien und Transparenz Mikropolitik weitestgehend auszuschließen vermögen. Die Firma Toyota z.B. ist u.a. so erfolgreich, weil es dieses Unternehmen schafft, auf allen Ebenen machtstabilisierende Tabus zu zerstören, indem es die Mitarbeiter zu permanenten Optimierungsprozessen zwingt. Die Strategie jeder Funktion und Arbeitsposition ist es, Ineffizienzen – bei Strafe der Ächtung des persönlichen Ansehens des Mitarbeiters – zu vermeiden. Es soll hier nicht darum gehen zu bestreiten, dass auch Toyota durch Macht zum Erfolg geführt wird. Vielleicht ist die Firma sogar ein extrem rigides, ja menschenverachtendes System. Es geht mir nur darum zu erklären, warum Toyota in bestimmten Regionen so faszinierende Erfolge erzielt. Das Unternehmensleitbild von Toyota konkretisiert sich in der Vision des innovativen Unternehmens, das sich kontinuierlich optimiert. Diese Firma ist wohl deshalb eine lernende Organisation, weil jede Teileinheit und jedes Mitglied des Systems ständig darum bemüht und angehalten sind, Verbesserungsideen und – auf kleiner Ebene – Innovationen einzuführen und so das Leistungsniveau des Gesamtkonzerns zu maximieren (Spear 2004). Toyota transportiert den Drang nach permanenter Weiterentwicklung in die Köpfe der Mitarbeiter. Ineffizienzen ergeben sich bekanntermaßen häufig gerade deswegen, weil „Machtkartelle“ nicht aufgelöst werden und alles so bleiben soll, wie es ist. Die Forschung über Hochsicherheitssysteme, sogenannte „High Realiability Organizations“, hat gezeigt, wie effizient und zuverlässig Organisationen arbeiten können. Sie bewältigen dieses Ziel, wie Weick/ Sutcliffe (2001: 7f.) oder Pawlowsky et al. (2005) verdeutlichen, durch fünf Prinzipien: (1) Derartige Organisationen sind sensibel für Fehler und richten ihre Aufmerksamkeit eher auf diese als auf ihre Erfolge. (2) Sie schrecken vor einfachen Erklärungen zurück. (3) Sie entwickeln ein feines Sensorium für betriebliche Abläufe. (4) Sie streben nach Flexibilität. (5) Sie haben Achtung vor internen und externen Experten und delegieren Entscheidungen an diese. Dies impliziert, dass die Hierarchien 221

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nur eine untergeordnete, hingegen die Lernbereitschaft eine besonders wichtige Rolle spielt.

5.3.3 Kritische Diskussion des mikropolitischen Ansatzes Mikropolitik als Erklärungsansatz zieht unweigerlich die Frage nach sich, wie weit die Prozesse in Organisationen tatsächlich kontingent sind. Ich möchte diese Kritik anhand von Wolfgang Stapels (2001) Diskussion des mikropolitischen Ansatzes von Günther Ortmann darstellen. Stapel (2001: 33) kritisiert an mikropolitischen Ansätzen, dass an der Erfahrung von Kontingenz in Organisationen durchwegs gezweifelt werden muss. Unbeschadet der Tatsache, dass letztendlich kein Handeln durch Strukturen determiniert ist, muss zumindest geklärt werden, inwieweit – trotz zugestandener Autonomie – nicht alles möglich ist. Unabhängig von den Verdiensten, die die Mikropolitiktheorie durch ihre „Realitätsnähe“ für die Organisationstheorie erbracht hat (Stapel 2001: 129), besteht die zentrale Frage darin, inwieweit die mikropolitischen Entscheidungsbefugnisse nicht doch von Situations- und Strukturmerkmalen determiniert sind. Es ist, nach Stapel (2001: 33), bereits zu bezweifeln, dass die mikropolitische These – „Individuen erfahren ihre Umwelt als kontingent“ – empirisch zutreffend ist. Hier greift Stapel auf das ihm vertraute Subsystem Universität zurück. Er sagt: „Natürlich erfährt jeder Hochschulleiter (zumal in Zeiten sog. Hochschulautonomie) seine Umwelt als kontingent und dementsprechend gestaltbar […].“ Betrachte man allerdings „das Hochschulsystem der Bundesrepublik insgesamt, so ist die (scheinbar über Nacht entstandene) Bewußtseinslage der rund 250 Hochschulleiter von atemberaubender Uniformität: kein einziger, der (Profilbildung hin oder her) seine Universität nicht als ‚Standortfaktor für die Region‘, ‚Dienstleistungsbetrieb‘ oder ‚ Studierende als Kunden‘ usw. auffassen würde. Schon vor diesem Systemhorizont schrumpft der ‚Horizont möglicher Abwandlungen‘ offensichtlich auf Null – von einer als kontingent erfahrenen Umwelt kann nicht die Rede sein“ (Stapel 2001: 33).

Nun wirft Stapel mit seinem Beispiel möglicherweise mehr Fragen als Antworten auf. Schon allein die Schwierigkeit, wie sich derzeit in den Universitäten Wandlungen und Veränderungen vollziehen, dürfte das Bild Stapels relativieren. Auch provoziert Stapel mit seinem Beispiel die alte Frage, wie lange man eigentlich von der stabilen Identität einer Organisation sprechen darf, wenn Organisationen im Innern permanent va-

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riieren und im Prozess der Entwicklung geändert werden. Zumindest für wirtschaftliche Unternehmen trifft dies zu. Im Übrigen eignen sich Universitäten – wie ich oben bereits kommentiert habe – gerade für das Thema Mikropolitik. Darauf nimmt Stapel hier freilich nicht Bezug. Dennoch muss man darauf hinweisen. Es sind, wie Bourdieu (1992) bereits zeigte, die politischen und zusätzlich jeweils universitätspolitischen Konstellationen, Planstellenbewirtschaftungen, Seilschaften und Netzwerke oder persönliche Vorlieben für einzelne Wissenschaftler, die ausschlaggebend sind dafür, wie, was, wann und warum in Universitäten institutionalisiert werden kann. Und ob dann die Profilbildung – verursacht durch die starke Außen- und Publikumsorientierung – zu einem starken Schub in Richtung Isomorphie kommt, sei dahingestellt. Entscheidend ist doch, was auf der Hinterbühne für ein Spiel gespielt wird. Vielleicht wird ein anderes Beispiel von Stapel klarer: Er wirft mikropolitischen Ansätzen im Kern vor, sie verleugneten die „Trends“, Moden (z.B. „Fusionsmoden“) und Kräfteverschiebungen im globalen Wettbewerb. Kontingenz beziehe sich doch immer nur auf die Mittelebene. Könne man wirklich wähnen, dass „für den gewaltigen sozialökonomischen Prozeß der ‚Fusionswelle‘ Motive und Handlungen (gar der ‚Größenwahn‘) einzelner Individuen oder Führungsgruppen maßgeblich oder gar konstitutiv sind“ (Stapel 2001: 134)? So wenig zu bezweifeln sei, meint dieser, dass in diesen Kontexten die Akteure kämpfen, mauscheln, spielen, so wenig spreche dafür, dass am Anfang der Prozesse – wie etwa im gegenwärtigen Fusionswellen-Größenwahn – Spielereien standen: „Vielmehr deutet alles darauf hin, daß ursächlich für solche Prozesse in der Tat Strukturen sind.“ (Stapel 2001: 134) Auch die Verhandlungskonstellationen, die Ortmann, aber auch Simon und March und noch stärker das „Mülleimer-Modell“ zur Erklärung von Kontingenz heranzögen, seien homogener, als es den Anschein hätte. Das zeige sich gerade bei den vielfältigen Positions- und Kräfteverhältnissen im Rahmen der Definition von Arbeitsverhältnissen, wie sie in der Debatte um den Standort Deutschland im Zuge der Globalisierung hervorgebracht würden. In diesen Rahmen würden ja bekanntlich Kompromisse ausgehandelt, die Namen wie „Bündnis für Arbeit“ trügen. So sehr die Details hier auf der Mittelebene auch variieren mögen, was die Ergebnisse und Richtungen solcher Bündnisse anbelange, „zeichnet sich ein scharf umrissenes Muster ab: Stets verzichtet die eine Seite auf sog. betriebsbedingte Kündigungen (jedoch nicht auf Rationalisierungen!), wofür die andere Seite reale und nominelle Verschlechterungen des Leistungs-/ Lohnverhältnisses hinnimmt“ (Stapel 2001: 135). Wenn auch am An223

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fang solcher Verhandlungsprozeduren Spiele, Mauscheleien etc. stehen, „dann gibt es keinen hinreichenden Grund anzunehmen, daß diese Prozesse insgesamt und auf Dauer in einer Richtung ablaufen (müssen). Dies ist aber in der Erwerbswirtschaft genau der Fall […]“ (ebd.: 134). Nun kann man die Wirkung von Kapital-, Wettbewerbs- und auch Globalisierungslogik in der Tat nicht bestreiten. Aber erstens sind diese „Trends“ keine Strukturen und zweitens müssen diese „Logiken“ durchaus nicht daran schuld sein, dass die Organisationsstruktur – wie das Maschinenmodell suggeriert – als eine Art geronnene und in Struktur gegossene Rationalität vorgestellt werden muss (im Sinne „ökonomischer Strukturen“). Denn wie die einzelnen Mächte in der Organisation verteilt sind und wie die Organisation auf die einzelnen Logiken und Strukturen antwortet, kann von ganz unterschiedlichen Kräften entschieden werden. Dennoch macht die Kritik von Stapel klar, dass Organisationen in ihren Entscheidungen durch interne und externe Präferenzordnungen und Richtlinien beeinflusst werden. Was mikropolitische Ansätze häufig unterschätzen, sind die technischen Restriktionen. Um gerade externe Zuströme von Ressourcen aus der Umwelt zu gewährleisten, müssen Organisationen zudem mit ihren Leistungen am Ende überzeugen: „Betriebsblindheit, Abteilungsborniertheiten, technologische Fixiertheit unter anderem können einer Organisation natürlich blaue Flecken und rote Zahlen bescheren, die von einer erheblichen Handfestigkeit ihrer Umwelt zeugen.“ (Ortmann et al. 1990: 44) Ortmann et al. (1990: 65ff.) sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Entscheidungskorridor“: „Der Begriff des Entscheidungskorridors bezieht zunächst die restringierenden Aspekte von Strukturen auf das Handeln – hier: auf das Entscheiden – zurück.“ In einer Organisation lassen sich in der Regel nur kleine Schritte gehen. „Muddling through“ und Stückwerktechnologien sind die basalen Entscheidungsbausteine, die zur Verfügung stehen. Der „Tanker Organisation“ ist relativ unbeweglich. Seine Wände bestehen aus organisationalen, kulturellen, juristischen und technologischen Barrieren, aus ökonomischen Nötigungen, auch aus dem Bedürfnis nach Reduktion von Komplexität, aber vielleicht auch aus Gewohnheit, Tradition, Unternehmensgeschichte und tausend anderen Kleinigkeiten. Auch einmal Ausgehandeltes wird nur ungern angetastet. „Mikropolitisch gesehen, bedeutet Entscheidungskorridor: Lösungen tun sich in dem Maße schwer, wie sie bestehende Ressourcen- und Machtverteilungen tangieren.“ (Ortmann et al. 1990: 67) Damit schränkt Ortmann den Kontingenzspielraum erheblich ein. Allerdings sind auch diese Barrieren der Kontingenz sozial produziert.

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Wie letztendlich Entscheidungen durchgesetzt werden und welche Faktoren bei der Organisationsgestaltung eine zentrale Rolle spielen, darüber herrscht in der Organisationssoziologie kein Konsens. Die heterogenen und komplexen Modelle von „Organisationskonzeptionen“, die hier entwickelt wurden (vgl. nur Preisendörfer 2005: 95–152), geben Zeugnis von der Komplexität des Sachverhaltes und lassen eher den Schluss zu, dass diese Frage selbst – wie nicht anders zu erwarten – kontingent beantwortet werden muss.8

5.4 Paradoxien und Kontingenz in der Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. P r o b l e m e d e r G r e n z ve r o r t u n g z w i s c h e n Individuum und Organisation Das Kontingente, das dürften meine obigen Überlegungen gezeigt haben, ist längst nicht mehr auf die Glasperlenspiele von Soziologen, Literaturwissenschaftlern und Philosophen zu begrenzen, sondern dringt immer mehr in sämtliche Bereiche des organisationalen Alltags ein. Zur Erläuterung und Plausibilisierung der aufgestellten Behauptungen soll noch ein weiteres Thema angesprochen werden, das unter dem Stichwort der Paradoxien im Management bekannt geworden ist. Ungeachtet ihrer widersprüchlichen Einschätzung ist die Managementlehre in den letzten Jahren von dem Gedanken getrieben, dass die Turbulenzen auf dem Weltmarkt und der Druck der Wettbewerbskräfte neue Managementmethoden implizieren, die in der klassischen Organisationslehre nicht bedacht wurden und gar nicht nötig waren. Die Umwelt von Organisationen werde immer komplexer und wirke sich so auf den organisatorischen Innenraum aus. Je dynamischer sich der Umweltausschnitt gestalte, den eine Organisation besetze, desto mehr müsse reagiert werden. Ob Automobil-, Telekom- oder Dienstleistungsunternehmen: Nur die Besten können heute überleben. Organisationen müssen sich in ihrer Branche so positionieren, dass sich ihr Unternehmen optimal gegen diese Kräfte zur Wehr setzen kann. Schlanke Organisationen, Intrapreneurship, Verantwortungsbereitschaft, Enthierarchisierung, Teamstrukturen und Matrixorganisation sind nur einige Tools, die hier genannt sein sollen. Alles deutet zunächst darauf hin, dass die neuen Managementmethoden einen wesentlichen Beitrag zur Wertschöpfungskette und zum rei8

Schon Kieser (1993a: 1) sagt: „Organisationen sind hochkomplexe Gebilde. Es ist unmöglich, alle ihre Eigenschaften und alle Beziehungen zwischen ihren Elementen in einer Theorie zu erfassen.“

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bungslosen Funktionieren der Organisation beitragen. Und wir erinnern uns: Sollte nicht gerade die Organisation ein Instrument darstellen, mit entsprechenden Mitteln ein vorhandenes Ziel auf möglichst effiziente Art und Weise zu erreichen? Auffällig ist nun aber, dass die neuen Managementmethoden für die Organisation schwerwiegende Implikationen haben, die zumindest eines klarstellen: Die neuen organisationalen Veränderungen und Mechanismen zeigen, dass sie nicht zur Unsicherheitsabsorption beitragen, sondern eher wohl zur Steigerung von Paradoxien und Dilemmata. Dies läuft, nach Baecker (2003: 38), auf die „Wiedereinführung der Ungewißheit in die Mechanismen ihrer Absorption“ hinaus. Kühl fasst die neuen Aufgaben des Managements im Bild des Sisyphos. Demnach führen die neuen Managementmethoden nicht dazu, die neuen Anforderungen in die Organisationsstruktur zu integrieren. Beim Streben nach der optimalen Organisationsstruktur entstehen Nebenfolgen, die geradewegs zum Gegenteil dessen führen, was die moderne Organisationstheorie ständig versprach, nämlich die Transformation von Kontingenz in klare und stabile Entscheidungen. Stattdessen schreibt Kühl (2002: 12): „Die optimale Organisationsstruktur scheint dem Management genauso zu entgleiten wie Sisyphos der Felsbrocken.“ Ich will Kühls Metapher an den zwei Themenkomplexen Dezentralisierung und Enthierarchisierung und Intrapreneurship diskutieren und in den größeren Kontext stellen, den ich hier als „Probleme der Grenzverortung zwischen Individuum und Organisationen“ bezeichne. Dabei geht es um Folgendes: Die traditionelle Sichtweise der betrieblichen Individualisierung geht von einer Vorstellung aus, die mit dem Stichwort „Indifferenzzone“ beschrieben worden ist (Baecker 2003: 239). Die Organisation habe „ohne Ansehen der Person“ zu funktionieren. Die Organisation läuft, wie im Maschinenmodell suggeriert, ohne Zorn und ohne besonderen Eifer quasi automatisch ab. Die Mitgliedschaftsrolle bildet das „Scharnier“ (Holtgrewe 2005: 346) zwischen den Erwartungen der Organisation und den Individuen. Mitgliedsrollen, die sich in Stellenbeschreibungen und Handlungsnormen manifestieren, bilden die Vorgaben an das Individuum. Die Leitmaxime des modernen Industriesystems ist es, auf dieser Basis eine Stabilität herzustellen. Massenproduktion und Bürokratie sind die nicht wegzudenkenden Variablen dieses Strebens nach Stabilität (vgl. Reihlen 1999: 271f.). Selbst die ökonomischen Rahmenbedingungen und Kundenpräferenzen werden als stabil interpretiert. In vielerlei Hinsicht ist dieses Bild heute nicht mehr tragbar. Weil Unternehmen heute verstärkt auf das subjektive Potenzial ihrer Mitglieder zurückgreifen müssen, verändert sich die wechselseitige Beziehung 226

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von Mitgliedern und Organisationen. Dieses Phänomen ist freilich ambivalent zu beurteilen. Auf der einen Seite besteht die Konsequenz dieses Phänomens darin, dass Organisationen häufiger auf die Handlungsund Strukturierungsvermögen „lebendiger Subjektivität“ (Holtgrewe 2005: 344) zurückgreifen müssen. Auf der anderen Seite führen diese Prozesse zu komplexen Nebenfolgen, die sowohl aufseiten der Mitarbeiter als auch aufseiten der Organisation verarbeitet werden müssen. Auch im Verhältnis von Individuum und Organisation ist ein Kontingentwerden der Unterscheidungen festzustellen, das sich häufig auch in bestimmten Paradoxien bemerkbar macht, die die Ordnungsstrukturen der Organisation unterlaufen.

5.4.1 Personen als Umwelt von Organisationen Was das Verhältnis von Individuum und Organisation betrifft, so hat sich wie gesagt die Organisationssoziologie eine lange Zeit – eigentlich noch bis zu Colemans „asymmetrischer Gesellschaft“ – am hierarchischen Modell Webers orientiert. Nach diesem Modell gehört das Individuum zur Umwelt des Organisationsgeschehens. Die Organisation setzt Unterscheidungen, die sich auf das Verhältnis von Dienst und Privatleben beziehen. Über die Mitgliedschaftsrollen befreit sie sich davon, ein ausgeprägtes Interesse am privaten Lebenszusammenhang von Personen zu entwickeln. „Die Ausdifferenzierung der Mitgliedschaftsrolle konstituiert eine Pufferzone zwischen System und Person und ermöglicht eine weitgehende Abkopplung der Sinnbezüge des systemadäquaten Handelns von den persönlichen Sinn- und Motivstrukturen. […] Für den Betrieb sind die privaten Lebenszusammenhänge aller Beschäftigten zur Umwelt geworden“, so beschreibt Habermas (1988, Bd. 2: 456) das Verhältnis von System und Umwelt. James Coleman (1986: 40f.) wiederum hat dieses Phänomen als „Bedeutungslosigkeit“ von Personen für die Organisation bezeichnet. Coleman fiel auf, dass in Organisationen so gehandelt wird, dass die Einzigartigkeit und der Reichtum einer singulären Person gerade nicht in die Strukturierung der Position eingehen sollen. Die Organisation muss alles tun, um sich ja nicht von Einzelpersonen abhängig zu machen. Und dieses Ziel erreicht sie, indem sie den Manager als Person für das Funktionieren der Organisation unerheblich und entbehrlich werden lässt. Daraus folgerte Coleman (1986: 33) die spezifische Asymmetrie der Beziehung zwischen Organisation und Individuum. Organisationen entwickelten eine Form, „die aus Positionen und nicht mehr aus Personen besteht und in der Personen bloß Inhaber von Positionen sind“ (Coleman 1986: 169). 227

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5.4.2 Der neue Trend zur Individualisierung und seine Hintergründe Webers Konzept „bürokratischer Herrschaft“ orientiert sich an der suggestiven Metapher vom „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“. Der Beschäftigte unterwirft sich gegen vertraglich abgesicherte Barzahlung allen Anordnungen und akzeptiert die Regeln des Unternehmens, indem er die Kontingenz seiner Launen unter Kontrolle bringt. Die Mitgliedschaftsmotivation verläuft über Geldzahlungen. Der homo sociologicus findet sich, nach einem Bild von Uwe Schimank (2005a: 226), „im Schlepptau des homo oeconomicus“: „Der homo oeconomicus erklärt sich bereit, bis auf weiteres im organisatorischen Rahmen als homo sociologicus zu agieren.“ (Ebd.: 226) In der Betriebswirtschaft spricht man hier auch im Kontext der Führungstheorie von transaktionaler Führung. Die transaktionale Relation bezieht sich auf den Führenden und den Geführten: „Die transaktionale Führung wirkt im Sinne eines rationalen Tauschkonzepts zwischen Führenden und Geführten.“ (von Rosenstiel 2002: 224) Führung wird als Tausch interpretiert: Der Geführte gehorcht, weil der Führende Belohnungen – in der Regel monetäre Belohnungen – bezahlt. Die spontane und kreative Seite von Individuen wird als Störgröße behandelt. Die Position schreibt den Mitgliedern vor, welche Kompetenzen und Arbeitsenergien sie mitbringen müssen, um ihre Rolle optimal spielen zu können. Mitarbeiter werden in der Regel zu passiven Rezipienten von Zielbotschaften degradiert. Wenn die Praxis eines Akteurs in Organisationen in nichts als in der Ausübung organisatorischer Regeln besteht, wie sollte er dann ins Zentrum des Interesses rücken? Mit der Passivität der Mitarbeiter korrespondiert die Stabilität der Organisation insgesamt. Das System der modernen Massenproduktion – Präzision, Stetigkeit, Disziplin – und die Ausbildung hierarchischer Koordinationsmechanismen ist Ausdruck der stabilisierenden Faktoren des modernen Industrieunternehmens (vgl. Reihlen 1999: 270ff.). Dieses in der Organisationssoziologie etablierte Bild wird dem gegenwärtigen Geschehen in Organisationen nicht mehr gerecht. Seit einiger Zeit dringen neue Managementtrends in Unternehmen durch, die gerade die Potenziale der Motivationsebene der Individuen betonen. Stichworte wie „Empowerment“ und „Individualisierung“ sind keine Seltenheit mehr. Metaphern wie „Unternehmer im Unternehmen“ versuchen ausdrücklich die subjektive Seite von Individuen ins Unternehmen zu holen: „Individualisierung bedeutet dann, daß die Unternehmung stärker als bisher in ihrem mitarbeiterbezogenen Handeln von den individuellen Bedürfnissen, Fähigkeiten, Werthaltungen und Grundannah228

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men ihrer Mitarbeiter ausgeht soweit dadurch Unternehmungsleistung und -erfolg nicht gefährdet, sondern gefördert werden.“ (Drumm 31995: 453) Sowohl die Mitarbeiter als auch die Unternehmen haben an diesem Trend ein beiderseitiges Interesse. Betrachten wir zunächst die Interessen der Unternehmen, die mit dem Thema Individualisierung verbunden werden. Eine zentrale Rolle spielt zunächst die Tatsache, dass sich Unternehmen schwerfällige Maschinen, wie sie Weber beschrieben hat, nicht mehr leisten können. Sie stehen durch den globalen Wettbewerb und die Entwicklung der Weltwirtschaft reichlich unter Druck. Insolvenzen sind keine seltene Nachricht mehr. Innovationen sind eines der wesentlichen Elemente für den Erfolg von Unternehmen und teilweise zumindest auf die kreativen Leistungen der Mitarbeiter zurückzuführen. Die Motivation soll das Individuum mit Leib und Seele an das Unternehmen binden: „Wie sollte man sich innovative Lernprozesse mit Personen vorstellen, die als träge, verantwortungslos, veränderungsunwillig und ungebildet betrachtet werden und nur durch strenge Führung, Anreizsysteme und ständige Überwachung zum Arbeiten bewegt werden?“ (Reihlen 1999: 287) Vor dem Hintergrund unsicherer Märkte und komplexer Systemumwelten ist es nur logisch, dass die Unternehmen Strategien generieren, die eine Erhöhung von organisatorischer Flexibilität zur Folge haben. In diesem Zusammenhang bekommen Individualisierung und Arbeitnehmerpartizipation einen wettbewerbsorientierten Fokus. In vielen Unternehmen scheint sich zudem ein Abbau von Hierarchien, eine größere Partizipation der Mitarbeiter durchzusetzen. Die Mitarbeiter werden zu Gestaltungssubjekten, die ihren Einfluss auf den Organisationsprozess geltend machen wollen. Ein weiteres Tool ist das Konzept des „Führens nach Zielvereinbarungen“, das heute in nahezu allen Unternehmen Eingang gefunden hat. Grundsätzlich geht dieser Ansatz davon aus, dass durch die Führung über Ziele nicht nur eine einheitliche Zielorientierung der Mitarbeiter erreicht wird, sondern durch die Delegation von Entscheidungsbefugnissen auch Initiative und Spontaneität der Mitarbeiter geweckt und entwickelt werden. Dieser Ansatz löst sich zudem von einer reinen Funktionsorientierung, setzt stattdessen auf eine bewusste Zielorientierung und wirkt damit einer wachsenden Kristallisation und Starre in Organisationen entgegen. Beim „Führen nach Zielvereinbarungen“ wird häufig betont, dass eine partizipative und partnerschaftliche Vereinbarung von Zielen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter unabdingbar ist. Häufig soll damit beim Mitarbeiter die Ausbildung einer emotionaleren Bindung an eine Unternehmenskultur gefördert werden, die keine eindeutige Zuordnung mehr nach „Beruf“ und „Privatheit“ erlaubt. 229

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Das Indifferenzmodell wird heute aber auch von den Erwartungen des Mitarbeiters unterlaufen. Die Zahl derjenigen Menschen, die ihren Lebenssinn ausschließlich in der Berufstätigkeit sehen, nimmt ab. Die neuen Mitarbeiter suchen herausfordernde, abwechslungsreiche Tätigkeiten. Das Individuum wird stärker als früher von Eigenständigkeit, Emanzipation, Freiheit, Transparenz, Beteiligung und Mitgestaltung geprägt. Als primäre Motivation wird der (tatsächlich bestehende) Wunsch der Mitarbeiter nach Individualisierung genannt, hervorgerufen durch einen multidimensionalen Wertewandel: Die Mitarbeiter wollen durch Individualisierung ihre Identität erkennen und erfahren. Daraus resultiert auch ein sich wandelndes zwischenmenschliches Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Es entwickeln sich neue Führungskonzepte, die mit folgenden Stichworten umschrieben werden können: situatives Führen durch den Vorgesetzten, die Führungskraft als Moderator in Veränderungsprozessen, der Vorgesetzte als Trainer und Coach bei der Entwicklung seiner Mitarbeiter, neue Informations-, Transparenz- und Beteiligungsansprüche der Mitarbeiter.

5.4.3 Dezentralisierung und Enthierarchisierung Häufig ist heute zu hören, dass sich die Hierarchie in Unternehmen auflöse und zunehmend einer projektorientierten Grundstruktur weiche, die sich flexibel auf neuartige verändernde Kontexte einstellen kann. Man spricht auch von partizipativen oder heterarchischen Organisationsmodellen. Heterarchie ist dabei der Platzhalter für Selbststeuerung und Selbstbestimmung der Mitarbeiter und betont dezentrale Entscheidungsprozesse. Im Gegensatz zu einer Organisationsform, die in einem hierarchischen Weisungszusammenhang der Zusammenarbeit von oben nach unten eindeutige Rechten und Pflichten zuordnet, „ist die Heterarchie ein polyzentrisches Organisationskonzept mit demokratischen Entscheidungsstrukturen“ (Reihlen 1999: 282). Diese zeichne sich durch ein „offenes Kommunikations- und partizipatives Entscheidungssystem aus“ (ebd.: 282). Die heterarchische Form der Organisation beruhe „auf den intelligenten Einzelinitiativen ihrer Mitglieder, die im kooperativen Wettbewerb um temporäre Positionen konkurrieren“ (Reihlen 1999: 285). Dadurch verschiebt sich auch die Führungskonstellation. Zunehmend arbeiten Führungskräfte in Projektteams, die stärker als hierarchische Organisationsformen auf die Selbstabstimmungsfähigkeiten der Teammitglieder setzen. Die Führungskräfte sollen die Position eines „Veränderungsmanagers“ (Doppler/Lauterburg 102002) einnehmen, der Mitarbeiter unterstützt und dazu motiviert, Innovations- und Verände230

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rungsprozesse erfolgreich zu realisieren. Diese Ursachen finden ihren Niederschlag in neueren Modellen wie der Motivationstheorie und „transformationaler Führung“. Bei der transformationalen Führung steht die Vision im Mittelpunkt. In Anlehnung an Webers „charismatische Führung“ geht es in diesem Ansatz darum, dass der transformationale Führer versucht, höhere Bedürfnisse seiner Mitarbeiter zu wecken und zu befriedigen, die sich nicht nur auf die monetären Aspekte konzentrieren. Für Burns (1978: 20) liegt transformationale Führung dann vor, „[…] when one or more persons engage with others in such a way that leaders and followers raise one another to higher levels of motivation and morality.“ Die essenzielle Differenz zu anderen Führungsstilen liegt darin, dass transformationale Führer eine Transformation in der Bedürfnisstruktur ihrer Mitarbeiter von den niedrigeren Bedürfnissen in Maslows Bedürfnispyramide (existenzielle Bedürfnisse) zu den höheren Entfaltungsbedürfnissen (Anerkennung und Selbstverwirklichung) anstreben. Führungskräfte inspirieren ihre Mitarbeiter mithilfe von Visionen. Wie empirische Studien zeigen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Implementierung neuer Organisationsstrukturen nur die Prozessqualität in Organisationen erhöht. Das Gegenteil ist der Fall. Häufig wird vielmehr die Kontingenz in den Abteilungen erhöht, und zwar sowohl für die Führungskraft als auch für den Mitarbeiter. Das Problem ist eben, dass mit der Ausdifferenzierung neuartiger projektähnlicher Strukturen die alten hierarchischen Strukturen häufig nicht außer Kraft gesetzt werden, sondern gleichsam nur zum Schein in den Hintergrund treten, damit der Mitarbeiter das Gefühl hat, größere Verantwortung zu besitzen. Wie Armbruster/Kieser (2003: 155ff.) zeigen, werden mit Enthierarchisierungs- und Intrapreneurshipprogrammen selten die Hierarchien aufgehoben. Tatsächlich soll der suggestive, rhetorische und ideologische Rahmen vornehmlich zu einer Transformation der Selektionskriterien und der Wahrnehmung der Mitarbeiter führen, der am Ende folgenden Effekt haben soll: „People who are persuaded verbally that they possess the capabilities to master given tasks are likely to mobilize greater sustained effort than if they harbor self-doubts and dwel on personal deficiencies when difficulties arise.“ (Zit. nach Armbruster/Kieser 2003: 156) Kommt es dann allerdings zu schwerwiegenderen Entscheidungen, schwingt das Pendel in die alten Strukturen zurück. Die Führungskraft entscheidet, denn in der Regel wird die Organisationsleitung gleichwohl durch untergeordnete Hierarchieebenen reproduziert. Dementsprechend beklagen sich die Mitarbeiter über die neu geschaffene Unübersichtlich-

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keit. Einerseits sollen sie entscheiden, andererseits aber nimmt ihnen ihr Vorgesetzter die Entscheidung ab. Die von den Mitarbeitern wahrgenommene Situation beschreibt Kühl (2002: 77) mit der Fahrt zweier Personen in einem Kanu. Dabei würden zwar beide paddeln, aber nur der Hintere steuern. Würde nun der Hintere von seinem Vordermann verlangen, er solle doch auch einmal steuern, so würde sich dieser berechtigterweise veralbert vorkommen. Er würde erwidern: „Du steuerst doch, sag’ doch, wenn du willst, dass ich mehr paddeln soll.“ Die Situation wird von den Mitarbeitern als widersprüchlich wahrgenommen: „Bei den Mitarbeitern besteht der Eindruck, dass man selbst entscheiden darf, aber immer nur unter Vorbehalt. […] Bestimmen wir über diesen Veränderungsprozess mit oder werden wir lediglich an einer bereits getroffenen Entscheidung beteiligt?“ (Kühl 2002: 81) Das Paradox, zu entscheiden und gleichzeitig nicht zu entscheiden, liegt in der neuen Organisationsstruktur selbst enthalten. Aber auch für die Manager werden die enthierarchisierten Strukturen zum Problem. Sie müssen ihre Rollen neu definieren. Auf der einen Seite macht die neu gewachsene Verantwortung der Mitarbeiter die Führungskräfte potenziell funktionslos, denn die entsprechenden Entscheidungen werden ja nun von den Projektmitarbeitern gefällt. Zudem muss die Führungskraft damit rechnen, dass die Mitarbeiter in der Folge der neuen Organisation, die ja nicht mehr nach klassischem Muster hierarchisch geordnet ist, an sie neue Anforderungen und Erwartungen stellt. Führungskräfte und Leiter von Teams und Projekten sollen ihre Führungsansprüche in einem kollegialen Modus kommunizieren. Es entsteht für die Manager immer mehr eine Diskrepanz zwischen zugewiesener Verantwortung und wirklichen Handlungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite sind es trotzdem die Führungskräfte, die sich am Ende vor dem Vorgesetzten verantworten müssen. Gerade weil in den nach wie vor hierarchischen Organisationen ein Thema jederzeit in der Hierarchie „nach oben“ hin zu den Führungskräften und Projektleitern gezogen werden kann (vgl. Kühl 2002: 80), besteht die Dezentralisierung nur partiell. Darin liegt eben das Paradox begründet. Ein Hinweis des Teamchefs bei seinem Vorgesetzten, ein Teammitglied habe entschieden, würde bei diesem nicht als Entschuldigung akzeptiert werden. Da mag es Enthierarchisierung geben oder nicht: Verantwortlich ist die Führungskraft. Die neuen Muster von Hierarchie verweisen primär auf einen Formwandel, dessen signifikante Manifestation die Paradoxie ist. Für Luhmann (1997: 1144) war ohnehin klar: „Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit.“

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5.4.4 Die Dialektik des Unternehmers im Unternehmen Ähnliche Paradoxien ergeben sich beim Modell des „Unternehmers im Unternehmen“. Wie ich oben bereits sagte, ist in vielen Unternehmen Führen durch Zielvereinbarungen nicht mehr wegzudenken und Zielvereinbarungen sind zu einem festen Bestandteil der Führungsphilosophie geworden. Der Mitarbeiter soll auf der einen Seite, gemäß dieser Philosophie, zu einem zentralen Akteur werden, der direkten Einfluss auf die Umsetzung der Unternehmensziele nehmen kann (vom bloßen MitArbeiter zum Mit-Unternehmer oder Intrapreneur). Intrapreneurshipprogramme fördern die „moralische Mobilisierung des Leistungswillens“ (Walgenbach 1999: 20). Nun ist freilich auf der anderen Seite klar, dass die Formel des Unternehmers im Unternehmen nur metaphorisch gelten kann, denn der Mitarbeiter wird ja nicht wirklich zum Eigentümer an den für die Wertschöpfungskette relevanten Produktionsmitteln. Es findet keine Ablösung der Mitarbeiter durch selbstständige Unternehmer statt (vgl. Kühl 2002: 59). Im günstigsten Fall wird „das Instrument des Arbeitsvertrages um Elemente des Werkvertrags angereichert“ (Kühl 2002: 59). In vielen Firmen hat man sich zum Ziel gesetzt, im Gehalt aller Mitarbeiter einen Fixanteil und einen variablen Anteil (meist von 20 Prozent) zu verankern. Mit einem variablen Bonussystem werden die Gehälter und Motivationen an das Erreichen der Umsatz- und Ertragsziele geknüpft. Tatsächlich werden mit der Einführung des Unternehmerischen ins Unternehmen vielfältige Flexibilisierungsprozesse und Entgrenzungsprozesse bisheriger Arbeitsverhältnisse in Gang gesetzt, die nur zum Teil zugunsten der Mitarbeiter geschehen. Zwar werden die Besten hofiert und in das Unternehmen integriert und sie erhalten Aktienoptionen am Unternehmen. Personen oder Gruppen, die überdurchschnittlichen Einfluss auf die Unternehmensleistung haben und für Kunden und Shareholder besonders wertschöpfend arbeiten, werden gefördert. Aber sozial oder psychisch Schwache haben häufig schlechte Karten in diesem Spiel. Denn in vielen Sparten hat sich – über das Thema Intrapreneurship hinaus – eine neue Arbeitskultur manifestiert, die mit den Stichworten befristete Anstellungsverträge, Auflockerung des Flächentarifs, freie Mitarbeit, Scheinselbstständigkeit, Projektaufträge, Teilzeit- und Telearbeit charakterisiert werden kann. Die Arrangementmöglichkeiten, in die Erwerbsarbeitsgesellschaft integriert zu werden, multiplizieren und pluralisieren sich auf betrieblicher und sozialstaatlicher Ebene, partiell freilich auch zuungunsten der Gesellschaftsmitglieder. Die heutigen Arbeitnehmer tragen die Hauptlast der flexiblen Spezialisierung und der damit einhergehenden Verschiebung der Risikolas233

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ten auf den einzelnen Mitarbeiter. Man spricht bereits von der „Virtualisierung der Belegschaft“ (vgl. Littmann/Jansen 2000: 59f.). Die Loyalität des Unternehmens seinen Mitarbeitern gegenüber schwindet. Häufig sind auch Zielvereinbarungen mit der Kürzung von Gehaltszahlungen verbunden. Die Gehälter nehmen eher ab, die Rechte sollen beschnitten werden und die Gewerkschaften verlieren zunehmend an Einfluss. Oft gehen mit den neuen Managementprozessen steigende Leistungsanforderungen, nicht selten aber drastisch eingeschränkten Rahmenbedingungen (Personalabbau, reduzierter Beschäftigungsschutz, Entgelteinbußen, Abbau von Sozialleistungen etc.) einher. Der Hintergrund für die eben benannte Differenzierung der Arbeitslandschaft in verschiedene Segmente und die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse sind in den neuen Ausgangsbedingungen der Unternehmer zu suchen. Diese globalen Rahmenbedingungen zwingen Unternehmen dazu, die Kosten zu minimieren. Es gilt Wachstum und Gewinn zu optimieren. Radikaler werden die Maßnahmen bei nachlassender Konjunktur. Dann folgen Massenkündigungen, Gehaltskürzungen und Schließung von Standorten. Die Beendigung von Arbeitsverhältnissen wird in einem „aus der Marktradikalität abgeleiteten Darwinismus“, wie der Saarbrücker Forscher Christian Scholz (2003: 202) formuliert, immer mehr zur kollektiven Realität. Die Formel vom selbst organisierenden, durch Eigenmotivation geleiteten Intrapreneur transportiert also eine ambivalente Doppelbödigkeit, die Günter Voß (1998: 477) folgendermaßen skizziert: „Zukünftig werden daher in wesentlich höherer Qualität als bisher Arbeitende kontinuierlich und mit systematisch gesteigerter „Reflexivität“ eine aktive Gestaltung ihres Arbeitens betreiben müssen. Kern der Qualität entgrenzter Arbeitszusammenhänge ist damit eine systematisch widersprüchliche Anforderung an Beschäftigte: Nutzung der erweiterten Möglichkeiten entgrenzter Arbeitsformen im Sinne betrieblicher Anforderungen zur Steigerung der Komplexität und Dynamik der Betriebsabläufe – zugleich aber auch die selbständige Begrenzung der Möglichkeiten, um einen praktisch bewältigbaren Handlungsrahmen für die eigene Arbeit zu schaffen.“

Den hoch bezahlten Mitarbeitern, die von den Firmen heiß umworben werden und die phänomenale Gehälter empfangen, stellen Littmann/ Jansen den permanenten Existenzgründer entgegen: „Mitarbeiter, in welchem Arbeitsmarkt auch immer, werden in abgestufter Weise zu einer permanenten Existenzgründung berufen.“ (Littmann/Jansen 2000: 211) Das heißt jedoch, dass der komplexe Prozess der Sicherung von Arbeitsleistung verstärkt auf die Beschäftigten selber abgewälzt wird 234

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(vgl. Voß 1998: 479). Die Kompetenz der Selbstintegration in das Unternehmen wird nun zur zentralen Anforderung des Mitarbeiters, die auf das gesamte gewohnte Verhältnis von „Arbeit“ und „Leben“ ein neues Licht wirft. Die normierte Erwerbsarbeit der Industriegesellschaft verwandelt sich für viele in eine Schar von flexibilisierten Einzelprojekten. Das Individuum muss diese durch aktive Selbststeuerung und unternehmerische Tätigkeit akquirieren. Es muss seine Arbeitskraft permanent – wie ein Unternehmer seine Ware – auf dem Arbeitsmarkt anbieten. Modernisierungsgestaltung wird hier zum paradoxen Unterfangen, denn die Rücknahme von direkten Initiativen der Arbeitskontrolle wird erkauft durch indirekte Steuerungen, wie z.B. Vorgaben von Leistungszielen und Leistungsbedingungen (vgl. Pongratz 2004: 18ff.). Mit der Einführung des Unternehmers ins Unternehmen „wird der Mitarbeiter selbst mit dem Problem des Einschluss und Ausschluss konfrontiert“ (Kühl 2002: 60). Und daraus folgt: „Man weiß nicht mehr, womit man rechnen muss, was man darf und was nicht. Es gibt keinen Schutz mehr vor den Launen der Mächtigen in der Organisation, und es findet keine Entlastung von unbegrenzter Verantwortung mehr statt.“ (Kühl 2002: 62) Dörre (2006) zeigt, wie die flexiblen Formen der Beschäftigung mental auch auf diejenigen Personen zurückschlagen, die einen klassischen Arbeitsvertrag besitzen. Gerade weil sich die neuen „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß 1998) in unmittelbarer Nähe zu den über Normarbeitsverhältnisse Integrierten befinden, wirken sie als permanentes Mahnmal. Und gerade weil Unternehmen immer häufiger zum Instrument „Flexibilisierung der Arbeit“ zurückgreifen, erscheint das Thema „Intrapreneurship“ insgesamt als neue Disziplinarform. Auf diese Weise sorgt die Konfrontation mit prekären Beschäftigungslagen, wie Dörre (2006: 12) mit Robert Castell sagt, nicht nur für eine „Destabilisierung des Stabilen“: „Indem sie die einen diszipliniert und den anderen elementare Voraussetzungen für Widerständigkeit nimmt, fördert sie zugleich eine eigentümliche ‚Stabilisierung der Instabilität‘.“ Die Konsequenz daraus ist eine allgemein sich ausbreitende subjektive Unsicherheit, die auch bis tief hinein in die Wahrnehmungsmuster der formal Inkludierten reicht.

5.4.5 Ein Fall von doppelter Kontingenz: Spieler ohne Stammplatzgarantie Nun würde man fehlgehen in der Annahme, dass die Kontingenz nur aufseiten der Mitarbeiter eskalieren würde und alle Ungewissheiten nur zu deren Lasten zu verbuchen wären. Auffällig ist nämlich, dass diese 235

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neuen Unternehmensformen nicht wieder zu einem zweckrationalen Organisationsverständnis zurückführen, sondern nun ihrerseits auf die Unternehmen zurückschlagen. Wer die Auflösung jener stabilen, flächendeckend geltenden strukturellen Begrenzungen von Arbeitsprozessen, wie sie für die Industriegesellschaft paradigmatisch waren, betreibt, muss auch den Preis dafür zahlen. Denn nicht nur die Unternehmen machen Druck, auch die Mitarbeiter haben sich in ihren Einstellungen geändert. Die Diagnose von Scholz (2003) lautet: Die Arbeitswelt ist längst schon durchsetzt von darwinistischen Unternehmen und opportunistischen Mitarbeitern. Der klassische soziale Vertrag zwischen Firma und Mitarbeitern gemäß dem Modell der klassischen Industrieunternehmen, in dem Loyalität und lebenslange Beschäftigung ein stabiles Bündnis eingingen, ist von beiden Seiten aufgekündigt. Es geht den Mitarbeitern nicht mehr nur um Geld oder sichere Arbeitsplätze. Im Zentrum des Interesses stehen die Optimierung der eigenen Biografie und die individuelle Lebensgestaltung. Die neuen Mitarbeiter sind Opportunisten. Sie nutzen die Chancen, die sich ihnen bieten, ohne Rücksicht auf andere und ohne Rücksicht auf die Unternehmen. Was die Firma vorlebt, wird vom Mitarbeiter übernommen und nur zu Ende gedacht. Wenn der Mitarbeiter als Unternehmer in eigener Sache auftritt, dann kann er dies auch mit äußerster Konsequenz tun, mit allen Folgen auch im Hinblick auf Loyalität: „Wenn Manager Mitarbeiter als eine leicht einsetzbare und leicht ersetzbare Ressource behandeln, so ist es nur folgerichtig, dass die Mitarbeiter das Arbeitsverhältnis ebenfalls als eine leicht ersetzbare Beziehung behandeln.“ (Scholz 2003: 66) Niemand bekommt heute mehr eine Stammplatzgarantie, weder Firmen noch Mitarbeiter. „Darwiportunismus“ nennt Scholz das Wechselverhältnis von individueller Suche nach Chancen („Opportunismus“) und dem Mechanismus des Aussortierens aufseiten der Unternehmen von dem, was nicht zur Wettbewerbsfähigkeit des Systems beiträgt („Darwinismus“). Die unerbittliche Logik des Darwiportunismus ist freilich auch am Ende für die Unternehmen zerstörerisch, denn kein Unternehmen kann es sich leisten, auf Loyalität vollständig zu verzichten. Bisher ist die Organisationstheorie immer davon ausgegangen, dass die persönlichen Ziele der Mitarbeiter mit den organisatorischen Entscheidungsprozessen nicht in Widerstreit geraten sollen: „Die Handlungen von Organisationen sind Handlungen von Personen, die Ziele der Organisation und nicht persönliche Ziele verfolgen.“ (Barnard 1970: 157) Organisationsziele sollen in der Regel für die Mitarbeiter eine motivierende Funktion haben, da sich diese nun konkret auf gewisse Leitziele hin orientieren können. In einer Systemlogik, wie sie Scholz beschreibt, kann aber von ei236

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ner solchen Loyalität der Mitarbeiter nicht mehr ausgegangen werden. Der Wunsch nach der individuellen Lebensgestaltung lässt das Wohl des Unternehmens zur Nebensache werden. Der Mitarbeiter von heute ist selbstmotiviert und ehrgeizig, aber sein Zielrahmen ist nicht unbedingt mit dem des Unternehmens identisch. Die Situation ist quasi vergleichbar mit einem Zustand, den Luhmann „doppelte Kontingenz“ nennt: „Wenn jeder kontingent handelt, also jeder auch anders handeln kann und jeder dies von sich selbst und den anderen weiß und in Rechnung stellt, ist es zunächst unwahrscheinlich, daß eigenes Handeln überhaupt Anknüpfungspunkte (und damit Sinngebung) im Handeln anderer findet.“ (Luhmann 21988: 165) Doppelte Kontingenz würde nur aufgelöst werden, wenn die Akteure sich auf eine gemeinsame Orientierung einigen könnten. „Darwiportunismus“ führt auf Dauer in ein soziales Dilemma. Ein solches ist gekennzeichnet durch eine Situation, in denen es Akteuren nicht gelingt, zu kooperieren. Soziale Kooperationen scheitern, weil die individuellen Akteure Trittbrettfahrerverhalten oder parasitäres Ausnutzungsverhalten fürchten und sich deswegen keine Vertrauensbeziehung ausbilden kann. Mit anderen Worten: Vertrauensverlust ist nicht nur eine schwere Last für jede Art von Zusammenarbeit, er ist auch ein Kostenfaktor. In einem Kontext, in dem das Vertrauen fehlt, dauern Entscheidungsprozesse um ein Vielfaches länger und die Opportunitätskosten sind besonders hoch. Der Ausfluss einer solchen Misstrauenskultur ist eine Zunahme von Unsicherheit. Der Unternehmer im Unternehmer führt zum hobbeschen Mythos vom Kampf aller gegen alle zurück.

5.4.6 Zusammenfassung und Übergang In diesem Abschnitt ist der Versuch unternommen worden, neuere Organisationskonzepte zu diskutieren, von denen gesagt wird, dass sie Organisationen flexibler gestalten würden. Diese veränderte Sichtweise gewinnt auch an praktischer Bedeutung für Unternehmen. Wie die Diskussion gezeigt hat, gewinnen in diesem Kontext Stichworte wie „Unternehmertum im Unternehmen“ und „dezentrale Organisationsstrukturen“ mit partizipativer Führung besondere Bedeutung. Die zentrale Zielrichtung der Diskussion des letzten Punktes lag jedoch – unter einem neuen Fokus – darin, auf die Kontingenz von Organisationen aufmerksam zu machen. Die neuen Managementmethoden führen nicht zu effektiveren Organisationen, sondern eher zu Ambivalenzen und Paradoxien. Es kommt somit nicht von ungefähr, dass die Organisationsforschung zu der Einsicht gelangt, dass sowohl die Manager als auch die Mitarbeiter darüber sprechen, dass ihre Aufgabe zu237

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nehmend darin besteht, gleichzeitig verschiedene sich widersprechende Anforderungen zu erfüllen (vgl. Osterloh/Grand 1999). Es ist die Hoffnung aufzugeben, so Kühl (2002: 12), eine „optimale Organisationsstruktur für ein Unternehmen oder eine Verwaltung zu erreichen“. Die Lösung von Problemen zieht häufig grundlegende neue Probleme nach sich. Paradoxerweise erhöhen just die unter dem Begriff der „Komplexitätsreduktion laufenden Maßnahmen zur Entbürokratisierung und zum Hierarchieabbau die Kontingenz in Organisationen und führen damit zur Erhöhung von Komplexität“ (ebd.: 259). Durch welche Qualitäten aber könnte das Verhalten in Organisationen von anderen Verhaltensweisen differenzierbar sein, die ein solches Verständnis möglich machten? In unserer ersten, vorläufigen Annäherung können wir den Sachverhalt solchermaßen fassen. Timon Beyes hat darauf hingewiesen, dass der Anfang jeglicher kognitiver Verarbeitung von Kontingenz in der Akzeptanz ihrer nicht zu verleugnenden Existenz liegt: „Ein Kontingenzmanagement beginnt mit ‚Kontingenztoleranz‘, also der Einsicht in die wachsende Kontingenz der Welt und folglich in nicht zu beseitigende Ungewissheit.“ (Beyes 2003: 267) Es wird in einem letzten Kapitel zu zeigen sein, dass die eben formulierte Erkenntnis gerade auch für die Globalisierung von Organisationen zutreffend ist. Wenn die vergleichende Organisationsforschung – wie sie etwa in der Automobilindustrie schon seit Jahren betrieben wird (vgl. nur Pries 2000) – auf die zunehmende Diversität von Organisationen hinweist und bestätigt, dass der Erfolg einer globalen Strategie an spezifische regionale Kontexte gebunden ist, dann wird erneut der Einflussfaktor Kontingenz relevant. Davon handelt der letzte Abschnitt.

5.5 Der Status transnationaler Organisationen Konzerne entwickeln seit einigen Jahren zunehmend transnationale Organisationsstrukturen als Konsequenz weitgehender Internationalisierungsprozesse. Die sogenannten „Saturated Markets“ setzen aber auch kleine Unternehmen zunehmend unter Druck, international zu expandieren und ihre Marken und Produkte in neuen ausländischen Märkten zu vertreiben. Durch Globalisierung erschließen sich Unternehmen neue Möglichkeiten, die tradierten Selbstverständlichkeiten bezüglich ökonomisch und organisatorisch wirksamerer Organisationsstrukturen neu zu überdenken. Unternehmen können Wertschöpfungsketten erfolgreich reorganisieren, indem sie Fertigungsprozesse oder neue Produkte standardisieren und gleichzeitig Serviceeinheiten marktnah positionieren. Günter Teub238

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ner (1991: 191) z.B. verspricht sich von dem von ihm benannten neuartigen „Netzwerk-Konzern“ eine Organisationsform, die „gleichzeitig dezentrale Autonomie und hohe Systemintegration zu steigern versucht“. Nicht die Hierarchie sollte demnach das Rechtsbild des Unternehmens bestimmen, „sondern das Netzwerk, nicht die Leitungsmacht der Konzernspitze, sondern die Koordinierung autonomer Aktionszentren“ (Teubner 1991: 203). Geht man etwas genauer auf die Details und damit auf die Voraussetzungen ein, die das Konzept der transnationalen Organisation bestimmen, so zeigt sich, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die Frage relevant wird, wie das transnationale Unternehmen grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten und Leistungsströme zwischen den Standorten organisiert. Es wird häufig darauf hingewiesen, dass hinsichtlich der vorhandenen Muster und des Niveaus der kollektiven Aushandlung und Festlegung von Arbeits- und Beschäftigungskonditionen „eine mehr oder weniger einheitlich gerichtete und längerfristig konvergente Entwicklungstendenz im Sinne einer De-Regulierung vorherrsche“ (Pries 2002b). Was das Stichwort „Konvergenz“ betrifft, das Pries hier nicht von ungefähr aufgreift, so verweist es noch auf einen anderen wichtigen Gesichtspunkt. So ist bereits in Kapitel 4 dieser Arbeit gezeigt worden, dass der Terminus Konvergenz und der unter ihm subsumierte Sachverhalt eine entscheidende Rolle im Globalisierungsdiskurs spielen. Zudem rangiert nicht von ungefähr die Theorie der Weltgesellschaft des Neoinstitutionalismus auch im Rahmen der Forschung über transnationale Organisationen an vorderster Front. Damit berühren die angeführten Beispiele eine Reihe von Themenfeldern, die hier unter dem Schlagwort „transnationale Organisationen“ diskutiert werden. Im folgenden letzten Punkt dieses Kapitels möchte ich nochmals die Debatte aufnehmen, die ich in Kapitel 4 auf kultursoziologischer Ebene abgehandelt habe und die sich um diese Frage drehte: Sind wir Zeugen einer zunehmenden monokulturellen Standardisierung oder einer zunehmend diversifizierten globalen Kulturvielfalt? Im Prinzip geht es aber auch darum, die Konvergenz-Divergenz-Debatte aus dem allgemeinen kultursoziologischen Diskurs herauszunehmen und auf das Thema Kontingenz in Organisationen anzuwenden. Stimmt die These, dass die Globalisierung zu einer Konvergenz von Organisationspraktiken und damit zu einer Reduktion von Kontingenz führt? Die Ökonomen Christopher Bartlett und Sumantra Ghoshal (1990) haben – insbesondere aus ökonomischer Perspektive – bereits vor einigen Jahren einen Idealtypus „transnationaler Unternehmen“ entwickelt, der die kluge Synthese zwischen globaler effizienter Kostenkalkulation 239

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und lokaler Präsenz realisieren würde. Meine Vermutung lautet freilich, um dies als These vorwegzunehmen, dass Transnationalisierungsbewegungen in Konzernen Kontingenz nur begrenzt reduzieren. Häufig kommt es sogar dazu, dass Kontingenz im organisationalen Raum erhöht und nicht reduziert wird. Man könnte auch sagen, dass Transnationalisierung eine Erhöhung der Komplexität der Beziehung einer Organisation und ihrer Umwelt nach sich zieht. Managemententscheidungen – gerade auch in Richtung Standardisierung – sind häufig nicht falsch. Aber sie können die Kontingenz gerade nicht ausschalten. Allzu schnell allerdings, das hat die Diskussion in der letzten Zeit gezeigt, wurden die Widerstände und Hemmnisse, die im Rahmen von Transnationalisierungsprozessen entstehen, bereinigt.

5.5.1 Zum Begriff der transnationalen Organisation Man kann das Thema transnationale Organisationen von verschiedenen Perspektiven aus angehen. Einige der wichtigsten und auch wohl am meisten diskutierten Aspekte der Soziologie zu diesem Thema sollen in diesem Punkt diskutiert werden. Im Wesentlichen werde ich mich hier auf Organisationen vom Typus „Wirtschaftsunternehmen“ beziehen. Transnationalisierung hat zunächst einmal ganz sicherlich mit der Ausbreitung und Entwicklung eines Unternehmens auf andere Märkte zu tun. Zwar ist davon auszugehen, dass sich die großen Konzerne strategisch für eine offensive Markt- und Produktionsexpansion in den wichtigsten Weltregionen bereits in der ersten industriellen Revolution und spätestens in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren entschieden. Aber während der 1990er-Jahre lässt sich bei fast allen Firmen ein deutlicher Globalisierungsschub ausmachen. In vielen Firmen ist der relative Anteil des Auslands an der Gesamtbeschäftigung gewachsen. Gerade die deutsche Automobilindustrie, die bis zum Ende der 1980er-Jahre entweder nur auf Deutschland oder auf Europa konzentriert war, entwickelte sich Ende des 20. und Anfang der 21. Jahrhunderts zu einer global operierenden Wirtschaftsbranche (vgl. Eckardt et al. 1999a: 168f.). Die reine Ausbreitung des Vertriebs- und Produktnetzes eines Unternehmens in immer mehr Länder und Regionen würde allerdings für sich genommen nicht den Terminus „Transnationalisierung“ rechtfertigen. Daher müssen zusätzliche Elemente hinzukommen. Der entscheidende Punkt ist folgender: Transnationale Unternehmen können sich in dem Sinne global organisieren, als im Rahmen einer Strategie grenzüberschreitender Konzernintegration ein Optimum an Standardprozessen durch horizontale Abstimmung zwischen Aufgaben, Sachbereichen und 240

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verschiedenen Standortorganisationen möglich wird. Transnational operierende Unternehmen zeichnen sich nach Ludger Pries (2002a) dadurch aus, „dass grundsätzlich alle Stufen der Wertschöpfungskette explizit auf ihre Raumverteilung hin thematisiert werden und dass der Gestaltungsspielraum für die geografische Verteilung von Ressourcen, Funktionen und Kompetenzen durch die Globalisierung – aber auch durch neue Kommunikationstechnologien – erheblich erweitert ist“. Mit zunehmendem Größenwachstum und fortschreitender Internationalisierung ergibt sich für Firmen die Notwendigkeit einer professionellen Integration zwischen Konzernzentrale und Tochterunternehmen. Zumindest wird davon ausgegangen, dass unternehmungsübergreifenden Relationen und Steuerungen immer häufiger eine zentrale Karte im Spiel um die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmungen ausmachen. In der Industriesoziologie wurde beispielsweise festgestellt, dass auf dem Wege von Transnationalisierungsprozessen die bis dahin „weitgehend isolierten Montage- und Produktionsaktivitäten der verschiedenen Länder […] in eine immer dichter und komplexer werdende transnationale Aufgabenstruktur und Arbeitsteilung eingebunden“ (Eckardt et al. 1999a: 174) werden. Neoinstitutionalistische Ansätze gehen davon aus, dass Organisationen dazu tendieren, sich andere Organisationen als Leitbilder zu nehmen und die Organisation nach deren Vorbild zu strukturieren. Die Imitationsspirale führt dazu, dass Policies, Standards und Ziele weltweit in ähnlicher Weise konstruiert werden. Die regulativen und normativen Rollenvorgaben sorgen allmählich dafür, dass sich global überall Best Practices durchsetzen. Die Angleichungsprozesse werden von DiMaggio/Powell (1991a) mit dem Begriff der „institutionellen Isomorphie“ bezeichnet. Dahinter verbirgt sich das eben skizzierte Phänomen, dass sich innerhalb heterogener institutioneller Strukturen Angleichungs- und Anpassungsprozesse (z.B. durch Zwang, Imitation, normative Ansprüche) ergeben, die sich in homogenen bindenden Vorschriften und institutionellen Regeln niederschlagen: „[…] isomorphism is a constraining process that forces one unit in a population to resemble other units that face the same set of environmental conditions.“ (DiMaggio/Powell 1991a: 66) Durch das Kopierverhalten von Firmen und Berater würden Organisationen maßgeblich zu gleichförmigem Handeln angeleitet. Diese Argumentation spräche „für eine Konvergenz von Organisationskonzepten multinationaler Konzerne einerseits und die Angleichung von Organisations- und Produktionskonzepten innerhalb einzelner Konzerne andererseits“ (Becker-Ritterspach 2003: 122).

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Indirekt zielen auch Bartletts/Ghoshals (1990) Überlegungen zum transnationalen Unternehmen auf eine solche These. Zunächst entwerfen sie eine Theorie, die man als ökonomischen Kosmopolitismus bezeichnen könnte. Ihr „Idealtypus“ des transnationalen Unternehmens schwebt quasi im Zustand vollendeter ökonomischer Rationalität über den Nationalstaaten hinweg. Auffällig ist an diesem Modell somit, dass institutionelle und organisationalen Strukturen nahezu gänzlich jenseits des Nationalstaats anzusiedeln sind und damit als vom „Ursprungsland losgelöste, selbstreferentielle Einheiten transnationalen Typs“ (Dörrenbächer 2003: 151) aufgefasst werden können. Transnationale Unternehmen, wie sie von den beiden Autoren skizziert werden, haben somit ihre Wurzeln von einem nationalistisch oder ethnisch integrierten Großraum losgelöst. In Unternehmen kommt es zur transversalen und grenzüberschreitenden Disposition und Abwicklung der Wertschöpfungsketten. Die Unternehmensglobalisierung zieht ihren Vorteil gerade daraus, dass eine konsequente Verteilung von Kapazitäten, Funktionen und Kompetenzen nach Standorten und Ländern vorgenommen werden kann. So kann eine Firma z.B. Segmente oder die gesamte Produktion von Teilen in andere Regionen, etwa solche mit geringeren Kosten für Arbeit und Energie, verlagern. „Das transnationale Unternehmen konzentriert manche Ressourcen im Hauptquartier, andere im Ausland, wieder andere werden unter den zahlreichen nationalen Filialen aufgeteilt. Daraus resultiert eine komplexe Konfiguration von verstreuten, aber spezialisierten Vermögenswerten und Kompetenzen. Die weitgestreuten Ressourcen werden durch starke Interdependenzen in das Unternehmen eingebunden.“ (Bartlett/Goshal 1990: 85)

Die beiden Autoren legen ein Modell multinationaler Unternehmen vor, das die Kluft von globaler Standardisierung und lokaler Differenzierung des Produktportfolios zu schließen vermag. Das Unternehmen ist global organisiert und lokal geerdet. „Marktnähe ist primär ein Instrument, um im internationalen Geschäft flexibel reagieren zu können.“ (Bartlett/ Goshal 1990: 84) Das Organisationsdesign des transnationalen Unternehmens ähnelt einem heterarchisch strukturierten Netzwerk, dessen Knoten nicht von einer geografisch lokalisierten Zentrale gesteuert werden (vgl. Bartlett/Goshal 1990: 118ff.). Zwar fungiert die Zentrale als Steuerungs- und Reflexionsinstanz, aber häufig gibt sie ihre Machtbefugnisse an die Niederlassungen ab. Nur so können sich unternehmensübergreifende Beziehungen als zentrale Komponenten einer interorganisationalen Zusammenarbeit etablieren. Denkt man in strategischen Netzwerken, dann kann die Zentrale stets nur einer von vielen lokalen Punk242

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ten im Netzwerk sein. „Die Besonderheiten dieser Struktur machen ihre Stärke aus: die Streuung der Anlagen, die Spezialisierung der Aktivitäten und die Interdependenz der Beziehungen.“ (Ebd.: 118) Manuel Castells (2001: 190ff.) spricht hier von „horizontalen Netzwerken“, um die netzwerkartige Struktur der strategischen Allianzen anzudeuten. Diese seien dadurch gekennzeichnet, dass sich übergeordnete Ordnungsschemata ausbildeten, die in der Vertikalen ihre Wirkung zeigten. Die Leistung eines Netzwerkes ist nach Castells (2001: 199) von zwei fundamentalen Eigenschaften abhängig: „seinem Verknüpfungsstatus, d.h. seiner Fähigkeit, störungsfreie Kommunikation zwischen seinen Komponenten zu ermöglichen; und seiner Konsistenz, d.h. dem Ausmaß in dem es eine Gemeinsamkeit von Interessen zwischen den Zielen des Netzwerkes und den Zielen seiner Komponenten gibt“.9 Transnationale Unternehmen unterscheiden sich aus diesem Grund von defizitären Organisationsprinzipien wie internationalen, multinationalen und globalen Unternehmen (vgl. Bartlett/Goshal 1990: 73ff.).10

5.5.2 Kontingenz und Konvergenz in transnationalen Unternehmen Bartlett und Goshal ist es geglückt, einen eindrucksvollen – wie sie selbst sagen – „Idealtypus“ zu skizzieren. Den beiden Autoren kann das Verdienst zugeschrieben werden, im Prozess der Globalisierung die großen Chancen für die Unternehmen markiert zu haben. Hier stellt sich nun natürlich mit aller Dringlichkeit die Frage, ob dieser Idealtypus gerechtfertigt ist. Die Antwort auf diese Frage kann meines Erachtens nur lauten: ja und nein. 9

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Castells (2001: 201ff.) hat hierbei u.a. japanische Netzwerke im Blick, bei denen es sich um dichte Konglomerate gegenseitiger Verpflichtungen, verzahnter finanzieller Abhängigkeiten, Marktabsprachen, Personaltransfers und gegenseitiger Informationen handelt. Internationale Unternehmen transferieren zentral entwickelte Prozesse und Produkte, die in der Heimatorganisation bereits etabliert sind, in die Auslandsmärkte. Sie kreieren in diesem Sinne keine den spezifischen lokalen Bedingungen angepassten Produkte und Prozesse. Das Kennzeichen multinationaler Unternehmen ist – gerade umgekehrt – ihr hoher Grad an Lokalisierung und Dezentralisierung. Sie entwickeln über ihre Tochtergesellschaften in heterogenen Regionen eine starke lokale Präsenz und sind damit in der Lage, flexibel auf regionale Trends zu reagieren und diese innerhalb ihres Unternehmens umzusetzen. Der Schwachpunkt ist freilich, dass die unterschiedlichen Produktionsstandorte wenig integriert sind. Globale Unternehmen schließlich orientieren ihre Prozesse und Produkte stark an globalen Standards und passen diese kaum an nationale Kontexte an. Sie entwickeln weltmarktorientierte Produkte.

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Sinnvoll an dem Modell erscheint es, dass die Autoren die Gleichzeitigkeit von Divergenz und Konvergenz ins Zentrum ihres Interesses rücken und diese in ihrer Spezifität herausarbeiten wollen. Es darf jedoch nicht verschwiegen werden, dass Bartlett und Goshal auf der Metaebene doch von einer Konvergenz von Organisationen ausgehen. Denn entscheidend für unser Thema ist, dass sie offensichtlich glauben, dass sich die Konkurrenzbedingungen für global agierende Firmen „in allen Branchen und auf allen Märkten in einem konvergenten Entwicklungsprozess befinden, und zwar in eine Richtung, die die transnationale Strategie und Organisationsform zur alternativlos richtigen, angepassten ‚Lösung‘ macht“ (Wagner/Petermann 2006: 15f.). Geppert et al. (2006: 86) führen gegen Goshal und Bartlett an, dass eine größere Distanziertheit im Hinblick darauf angebracht wäre, ob die von führenden Managementforschern proklamierte „Transnational Solution“ wirklich der adäquate Weg wäre, um die Lern- und Anpassungspotenziale der gesamten multinationalen Organisation zu erhalten. Der von Goshal und Bartlett propagierte reibungsfreie Balanceakt einer parallel ablaufenden Kombination von Homogenisierung einerseits und funktionaler Dezentralisierung mit einer ausgeprägten partikularen Sensibilität andererseits gleiche eher einer platonischen Idee denn einer realen Beschreibung. Zuwenig werde auf das nicht reibungsfreie Verhältnis von global homogenisierten Wirtschaftsräumen eingegangen und die länderspezifischen Gegebenheiten reflektiert. Dieser letzte Aspekt führt uns auch wieder auf die Theorie des Neoinstitutionalismus zurück. Besondere Relevanz erhält die These des Neoinstitutionalismus dadurch, dass sich global agierende Unternehmen gemäß einem Standardmuster organisieren. Jedoch ist auch diese These wenig einleuchtend. Denn entscheidend ist doch, ob die Übertragung von Konzernvorgaben auf die konkreten lokalen Standorte vor Ort auch kompatibel übersetzt werden können. Spricht die Realität nicht gegen die universale Anwendung von Produktionsmodellen, Produkten und Marken auf dem Weltmarkt im Sinne eines „one best way“? Wir haben es hier also mit Feststellungen und Fragekomplexen zu tun, die in den folgenden Punkten näher erläutert werden. Überlegen wir einen Augenblick lang, wie der lokale Erfahrungsraum durch fremde Infrastrukturen, Managementsysteme, Kennziffernprogramme oder Qualitätsstandards beeinflusst wird. Ohne den Anspruch zu erheben, den Versuch unternehmen zu wollen, das weit ausdifferenzierte Forschungsfeld aufzuarbeiten, konzentriere ich mich auf drei Ansatzpunkte organisationaler Gestaltung: auf den Transfer von Produktionssystemen, von Marken und von Managementsystemen.

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5.5.2.1 Transfer von Produktionssystemen Der Transfer von Gütern, Technologien und Maschinen spielte für Unternehmen schon lange eine wichtige Rolle. Die Übertragung von Produktionssystemen von einem Land in ein anderes Land ist seit Jahrzehnten ein Thema. Häufig, so wurde festgestellt, sind bei der Übersetzung von Produktionssystemen (Maschinen, Produktionsanlagen, Fabrik- und Arbeitsorganisation) Eins-zu-eins-Übertragungen möglich und können ohne große Widerstände in dem jeweiligen Betrieb überernommen werden (vgl. Dörrenbächer 2003: 152). Allerdings sind gerade in jüngster Zeit Forschungsergebnisse vorgelegt worden, die auch hier auf Widerstände hingewiesen haben. Sie haben eines gezeigt: Erfolgreiche Unternehmensstrategien sind von spezifischen Profitstrategien und historischen Konstellationen abhängig. Über Jahrzehnte hinweg konnten sich in der Automobilindustrie die fordistische Massenproduktion und die fordistisch-tayloristische Arbeitsteilung auf der ganzen Welt nicht nur durchsetzen, sondern auch behaupten. Mit dem Toyota-Produktionssystem wurde die Entstehung eines neuen Typs industrieller Produktion und Arbeitsbeziehungen propagiert. Wesentliche Bestandteile dieses Systems lassen sich mit Begriffen wie der Lean-Production-Philosophie, der Theorie der „flexiblen Massenproduktion“, der „neuen Produktionskonzepte“ oder der „systemischen Rationalisierung“ beschreiben. Bis vor kurzer Zeit wurde das Toyota Produktionssystem vom MIT als „one best way“ gepriesen. Eine MIT-Studie konstatiert „a revolution in manufacturing, that old massproduction plants could not compete, and that the best way – lean production – could be transplanted successfully to new environments“ (Womack et al. 1991: 84). Die Autoren wollen in ihrer Studie nicht nur die Unternehmen dazu anhalten, die Lean Production zu implementieren. Sie sind der festen Überzeugung, „that the principles of lean production can be applied equally in every industry across the globe […] it will truly change the world“ (ebd.: 7f.). Die MIT-Studie, so scheint es, bringt John Meyers Homogenisierungsthese empirisch auf den Punkt. Denn, wir erinnern uns, dieser Ansatz konstatierte: „Once a field becomes well established […] there is an inexorable push toward homogenization.“ (DiMaggio/Powell 1991a: 64) Wie man am Fall Toyota sehen kann, sind einer globalen Übersetzung eines von kulturellen Variablen stark abhängigen Systems Grenzen gesetzt. Tatsächlich wurde das Toyota-Produktionssystem in verschiedenen Ländern außerhalb Japans erfolgreich umgesetzt. Auf der anderen Seite scheint selbst ein vom Erfolg verwöhntes Unternehmen wie Toyota zu bemerken, dass nicht alles überall und zu jeder Zeit möglich ist. 245

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Auch Produktionssysteme lassen sich nicht ohne Weiteres übertragen (vgl. dazu generell Pries 2006). Toyota hatte bei der Umsetzung des Produktionsmodells in England und Frankreich enorme Schwierigkeiten, die das japanische Unternehmen zumindest vor Ort in eine schwere Krise geraten ließen. Was waren die Gründe hierfür? Tommaso Pardi (2006) führt die Ursachen der Krise auf die spezifischen regionalen Situationen und die unterschiedlichen kulturellen Landeskontexte zurück, die auch divergierende Praktiken in der jeweiligen Arbeitsorganisation und den Labor Relations nach sich ziehen. Die europäischen Überstundenregelungen, die Aktivitäten der Gewerkschaften, andere Gehaltsgefüge und Gehaltserwartungen, divergierende Führungsstile und Managementmentalitäten, die sich auch in der disziplinären Struktur der Organisation abbildeten, etc. bildeten für die Etablierung des rigiden Produktionssystems von Toyota eine eher dysfunktionale Umwelt. Innerhalb der ersten vier Jahre, so Pardi (2006: 56), hatte z.B. ein Drittel der Belegschaft des französischen Werks, bedingt durch beidseitige Kündigungen, das Unternehmen verlassen. Pardi folgert daraus: „The viability of a car manufacturer, or in this case of car transplants, depends on so many different factors that it would not only be impossible but also fundamentally wrong to establish a universal solution for the problems faced today by the automotive sector.“ (Ebd.: 59) Das ToyotaProduktionssystem mit seinen kulturellen Wurzeln in der japanischen Unternehmenskultur passte offensichtlich nicht in den Organisationskontext der britischen und französischen Unternehmenskultur. Gerade das aber zwingt uns zu der Annahme, dass sich Tarifverträge, innergewerkschaftliche Muster, die Personalpolitik, die Arbeitsorganisation, aber auch eine Menge von arbeitsrechtlichen Mindeststandards international in den Unternehmen unterschiedlich manifestieren und voneinander unterscheiden. Die Unbestimmtheit nimmt ab dem Moment zu, wo zwei nicht kompatible Systeme übereinandergelegt und miteinander gekoppelt werden, sodass die nun ambivalenten Erwartungsprogramme den Verarbeitungsrahmen der Systeme und die Handlungserwartungen der Mitglieder zu sprengen drohen.

5.5.2.2 Marken als Eigenstrukturen der Weltgesellschaft? Funktioniert Transnationalisierung, wenn schon nicht mit den Produktionssystemen, dann mit Marken reibungslos? Auch das Beispiel „transnationale Marke“ steht, so die These, grundsätzlich in Abhängigkeit von den im ausländischen Markt vorhandenen Übersetzungsverhältnissen.

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Gemäß einer Einsicht der Systemtheorie ist davon auszugehen, dass durch das Tauschmedium Geld das Kapital in jeder Region auf dem Erdball Einzug halten kann. „Marken“ sollen sich, nach Stichweh (2006: 243), als „Eigenstrukturen der Weltgesellschaft“ ausbilden, „die in keiner Weise auf die traditionellen Regionalkulturen der Welt reduziert werden können“. Marken sind somit ein Phänomen, das weltweite Bedeutung und Geltung erlangt und überall auf der Welt unabhängig von partikularen Kontexten Standards zu setzen in der Lage ist. Marken sind ein Exempel der „soziokulturellen Penetration der unwahrscheinlichsten Regionen der Welt“ (ebd.: 243). Damit ist aber noch nicht viel ausgesagt, denn interessant wird das Thema erst, wenn man darüber nachdenkt, wie und auf welche Weise Marken in unterschiedlichen Märkten der Welt wahrgenommen werden. Kai-Uwe Hellmanns (2003) Ergebnisse, die er in seiner „Soziologie der Marke vorlegt“, sind hier durchaus differenzierter und ambivalenter. Auf der einen Seite gräbt sich Hellmann tief hinein in die neueren Befunde der Sozialstrukturanalyse. Individualisierung und Atomisierung, so lautet Hellmanns Befund, sind schon längst beim Kunden angekommen. Demzufolge gibt es keine feststehende Kundennatur mehr, sondern der heutige Kunde schafft sich immer neu ein Bild von sich selbst und seiner Umwelt. In immer größerem Maße machen sich die Käufermassen von ihren Lebenslagen und selbst Milieus unabhängig. Hellmann (2003: 424) vermerkt: „Die ‚alten‘ Vergemeinschaftungssysteme werden unter der Flut neuer Angebote, anders zu leben, gewissermaßen erdrückt […].“ Es lösen sich die homogenen Gruppen von Käufern auf, die die Marktforschung in einzelne Segmente einteilt, um den Markt transparent zu machen. Zumindest unterlaufen insbesondere die jüngeren Generationen die Korrelation von Lebensstildifferenzierung und dem Hierarchiemuster sozialer Schichtung. Das Signal und der stilistische Code, der von der Marke ausgesendet wird – und man könnte mit Wittgenstein sagen, die Regeln ihres Gebrauchs – stehen nun zur Disposition. Es muss eben immer wieder neu ausgehandelt werden, ob Regelbefolgung durch die Identität der Regel, die sich letztlich im Kaufakt der Ware manifestiert, noch gewährleistet ist. Heute erzeugen die Kunden ihre Welt buchstäblich selbst. Und wenn es nicht mehr gelingt, so Hellmann (2003: 119), „Konsumenten zu größeren Einheiten zusammenzufassen, denen man ähnliche Kauf- und Konsummuster zuschreiben kann“, drohe dasjenige zur Faktizität zu werden, was sich in dem Schlagwort ankündigte: „Each Customer is individual.“ (Ebd.: 119) Anders gesagt: Ästhetische Entscheidungen sind prinzipiell subjektabhängig. Für das Marketing würde dies freilich zwar nicht die Unmöglichkeit der eigenen Existenzberechtigung bedeuten, 247

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„aber doch das höchst ungewisse Treffen ‚beweglicher Ziele‘, weil es dann so viele Ziele wie Konsumenten gibt“ (ebd.: 119). Hellmann lenkt dann aber wieder auf sein eigentliches Thema ein. Seine Habilitationsschrift handelt davon, wie Marken als Kommunikationsprogramme Kontingenz reduzieren: „Marken erleichtern die Übersicht angesichts der enormen Angebotsvielfalt moderner Märkte […].“ (Hellmann 2003: 291) Marken schaffen Kontinuität. Mit dem Kauf der Marke wird die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht manifestiert. Marken stehen für Reproduktion und Konstanz. Marken haben daher Vergemeinschaftungseffekte (ebd.: 449). Bourdieu lässt grüßen. Ähnlich wie Stichweh geht Hellmann (2003: 16f.) davon aus, dass es die globalen Brands sind, die immer mehr weltweite Geltung genießen „und nicht unbeträchtliche Auswirkungen auf die regionalen Gegebenheiten haben“. Und Hellmann schließt daraus – Helmut Maucher zitierend –: „Unternehmen wie Nestlé, verbunden mit den modernen Möglichkeiten der Kommunikation, können hier in großem Stil, in großem Maße Konsumgewohnheiten einer Region über die ganze Welt verbreiten.“ (Ebd.: 17) Man könnte in diesem Zusammenhang auf George Ritzers These von der „McDonaldisierung“ verweisen – einen Prozess, den Ritzer (2005) heute selbst gerne als „Grobalisierung“ bezeichnet –, der davon ausgeht, dass immer mehr Werbungsmuster auf der Welt homogenisiert werden. Die Massenmedien als weltweites Instrument von Vereinheitlichung wurden bereits von Adorno/Horkheimer vorweggenommen. Das berühmte Kulturindustriekapitel der „Dialektik der Aufklärung“ würde das Bild ergänzen. Adorno/Horkheimer (1988: 157) kommentieren: „Gesund ist, was sich wiederholt, der Kreislauf in Natur und Industrie. Ewig grinsen die gleichen Babies aus den Magazinen […].“ Die Kulturindustrie habe „den Menschen als Gattungswesen hämisch verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar“ (ebd.: 154). Die Analyse muss allerdings darum bemüht sein, das gesamte Spektrum der Möglichkeiten aufzudecken, in denen eine Marke sich bewegt. Worauf es ankommt, ist beides zu erfassen: die Globalisierung der Welt durch Marken und die Tatsache, dass sich Bedeutungen von Marken im globalen Raum verschieben und offene Ränder behalten. Empirische Studien zeigen, dass sich die Produktpaletten der globalen Unternehmen den lokalen Räumlichkeiten zunehmend anpassen müssen. Es setzt sich die Tendenz durch, globale Entwicklungs-, Produktions- und Marketingstrategien mit lokalen Anpassungsprozessen zu verbinden. Robertson (1998: 198) spricht von „Mikro-Marketing“, womit „das Zuschneiden von und Werben für Güter und Dienstleistungen

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auf globaler Ebene für zunehmend differenzierte lokale und partikulare Märkte“ gemeint ist. Man kann zwar von einer „globalization of meaning“ ausgehen, wie Schimank (2005b: 402) in Anlehnung an John Meyer sagt. Aber wie die Bedeutungen in den spezifischen Regionen wahrgenommen werden, liegt eben im Auge des Beobachters. Keine Marke verkauft sich, wenn sie nicht in das Netzwerk des historischen, politischen und sozialen Kontextes eines fremden Landes passt. Verhaltensformen vor dem Hintergrund kultureller Codierungen determinieren das Kundenverhalten. Für Bartlett/Ghoshal (2003: 97) endet hier nicht von ungefähr die globale Standardisierungsmöglichkeit des Unternehmens. Ganz im Gegenteil: Countrymanager müssen gerade auf internationalem Gebiet Experten der Politik und Sozialstruktur zurate ziehen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Sie müssen für die fremden Kontexte probate Mittel entwickeln. Und das gilt nicht nur für ihre Produkte und Modelle. Selbst die Fertigung einer bestimmten Produktvariante (z.B. Motorversionen in der Automobilindustrie) muss in Feinabstimmung mit den lokal situierten Gebrauchs- und Verwertungszusammenhängen abgestimmt werden. Hinsichtlich des Verhältnisses von Zentrale und Auslandsgesellschaft ließen sich in den letzten Jahren, so wurde in der Managementlehre festgestellt, sogar eine Tendenz zu Hierarchieabbau auf Unternehmensebene sowie ein Trend zur Rollenwandlung bei den Auslandsgesellschaften weg von der des Gehilfen und Knechtes (der Zentrale) und hin zum gleichberechtigten Partner (Riedl 1999: 101) beobachten. Wer seine Modellpolitik nicht auf lokale Märkte anpasst, wird scheitern. Ich verweise nur auf ein bekanntes Beispiel der Automobilindustrie, nämlich Volkswagen China. Wer glaubt, dass der deutsche „Volkswagen“ als Markenartikel und „Global Car“ auch in anderen Ländern grundsätzlich vertrieben werden kann, sieht sich mittlerweile durch das Beispiel China getäuscht. Einige angebotene Modelle bei Volkswagen waren entweder veraltet (Santana) oder sie zielten, wie im Fall des 2004 eingeführten Polo, zunächst am Publikumsgeschmack des chinesischen Marktes vorbei, der sich in den letzten Jahren auf großvolumige Pkw fokussiert hat. Der Polo war am Anfang für den chinesischen Markt zu teuer (Blume 2004). Der chinesische Konsument wird sich zukünftig immer mehr an Status und Komfort größerer Wagen orientieren. Entgegen der bisherigen Meinung, aufgrund des minimalen chinesischen Einkommens würden besonders viele Kleinwagen nachgefragt, expandiert die Nachfrage nach Mittelklasseautos deutlich stärker. Der Magotan, die China-Version des aktuellen Passat, und der Cross Polo, die rustikaler wirkende Variante des Kleinwagens, verkaufen sich dementsprechend erfolgreicher (vgl. Reil 2007). 249

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Was ich mit dem Beispiel zeigen will, ist, dass das Bild einer geringen kulturellen Designkomplexität, der eine relativ einfach organisierte Kultur entspräche, aufgegeben werden muss. Die Zeiten, in denen Henry Fords Model T einer breiten Käuferschicht verkauft werden konnte, sind vorbei. Die Weltkultur ist stattdessen aus vielen Komponenten aufgebaut und enthält eine Fülle von Varietäten, die doch nur schwerlich in jene logische und verhaltenstheoretische Ordnung gebracht werden kann, wie Stichweh suggeriert: „Für das Verständnis einer Marke ist es besonders wichtig zu wissen, dass ihr Wert in hohem Maße individualisiert ist. […] Dennoch sprechen die meisten Marketingmanager über den Wert einer Marke so, als handele es sich dabei um eine geschlossene, monolithische Einheit.“ (Rust et al. 2005: 42) Rust et al. (2005) gehen davon aus, dass in den Markenabteilungen immer noch das alte Paradigma vorherrscht, wonach transnationale Unternehmen den Kunden erschaffen. Im Jargon der Markenforschung heißt das: „Der Markt wird durch die Marke gemacht und nicht durch den Konsumenten.“ (Vgl. Hellmann 2003: 124) Auch bei Hellman wird diese Situationsbestimmung transparent, wenn er wähnt, dass „Weltmarken“ durchaus Markensymbole seien, die mit einer „Weltsprache“ in Verbindung gebracht werden könnten, „die nahezu überall auf der Welt anschlussfähig“ (ebd.: 17) sei. Was den Erfolg der Marke betrifft, so kann freilich nicht davon ausgegangen werden, dass Marken in der modernen Gesellschaft überhaupt nicht mehr anschlussfähig wären. Wenn dies so wäre, existierten die großen Markenunternehmen schon längst nicht mehr. Jedoch muss jedes Unternehmen heute mit erhöhter Sensibilität auf die jeweils vorherrschenden Erwartungshaltungen der Kunden reagieren. Die Marke wird heute weniger vom Produzenten als von seinen Käufern determiniert. Der gesamte Wertschöpfungsprozess muss sich nach den Kundenwünschen richten, die von Land zu Land divergieren: „Von den Bedürfnissen und Wünschen der Kunden ausgehend, rollt sich die Wertschöpfungskette rückwärts auf.“ (Levitt 2004: 127) Wie lässt sich aber kompetent und strategisch operieren in einer Situation, in der sich Märkte, Kulturen und Konsumenten ständig verändern? Wer ist heute überhaupt der Kunde im unübersichtlichen Gestrüpp der sich permanent wandelnden Wünsche, Stimmungen und Trends? Er ist keine feststehende Substanz mehr und lässt sich nicht mehr einfach in soziologischen Lebensstiltypologien abbilden. Die Komponenten des neuen Kundenbildes sind Individualität, Singularität, Unabschließbarkeit, Sprunghaftigkeit. Heute muss das Verhältnis Marke und Kunde umgekehrt werden. Markenmanager sollten sich vielmehr auf die Erweiterung des Kundenstamms anstatt auf die Marke konzentrieren. Zum 250

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Leitbild werde, wie Gerhard Schulze konstatiert, das semantische Verstehen heterogener Kulturen. Und Schulze (2006: 145) sagt: „Rechnen kann man auf der ganzen Welt nach denselben universellen Regeln, verstehen muss man nach kulturspezifischen Regeln, am besten vor Ort.“

5.5.2.3 Probleme transnationalen Managements Diskutieren wir die Homogenisierungsthese noch an einem anderen Fall, und zwar beim Thema Management. Rein formal gesehen sind Konzerne Entscheidungs- und Handlungseinheiten, die faktisch alle Konzernunternehmen in eine einheitliche Leitung integrieren. Ob diese reibungslos funktioniert, hängt davon ab, mit welcher Strategie das Unternehmen geführt wird und in welchem Verhältnis die Interessen des Gesamtkonzerns (Headquarters) und der lokalen Standorte zueinander stehen. Die Konstellation der Machtverteilung an der Front von Gesamtkonzern und ausländischem Standort entscheidet darüber, wie sich im Rahmen von grenzüberschreitenden Prozessen die Erwartungsgrenzen zwischen ausländischen Standorten und Konzernzentralen verschiebt (Mense-Petermann 2006: 66ff.). Die Frage ist also, wie das Binnenverhältnis der Organisationsbestandteile aufzufassen ist. Bartlett und Goshal lösen das Integrationsproblem, indem sie ein reflektiertes Management und eine sich über den Konzern spannende integrative Unternehmenskultur annehmen:11 „Transnational denkende Manager wissen, daß Ressourcen außerhalb des Stammlandes für das Gesamtunternehmen nutzbringend eingesetzt werden können. Sie fördern die Entwicklung entsprechender organisatorischer Werte und sichern sie für das Gesamtunternehmen.“ (Bartlett/Goshal 1990: 90) Die umfassende Unternehmenskultur wirkt integrierend. Im Idealentwurf der Organisation sind alle Manager hochreflektiert. Und auch die Belegschaft soll sich an die transnationale Konzernkultur assimilieren: „Das Top-Management eines transnationalen Unternehmens muß die persönliche Verbundenheit jedes Beschäftigten mit dem übergreifenden Ziel des Unternehmens sichern. Dieser Prozeß der Einbindung erzeugt ein Wir-Gefühl der Mitarbeiter.“ (Ebd.: 97f.)12 11

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Unternehmenskultur wird hierbei nach Siegfried J. Schmidt (2004: 39) bestimmt „als kollektives, emotional positiv besetztes Wissen unterschiedlicher Art, das aus Erfahrungen entsteht und die Wahrnehmung, das Denken, Fühlen und Handeln (idealiter) aller Unternehmensmitglieder maßgeblich bestimmt (Programme, Orientierungsmuster)“. Ford forderte seine Belegschaft dazu auf, nationale Identitäten abzustreifen: „Geschäftlich sind wir alle Ford-Bürger und keine Deutschen, Engländer, Franzosen, Taiwanesen, Amerikaner oder Kanadier […].“ (Vgl. Wagner 2006: 226)

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Insbesondere Edgar Schein (2003: 32ff.) hat sich in seinen Arbeiten auf die integrierende Wirkung von Unternehmenskultur fokussiert. Für ihn besteht diese aus drei Ebenen: der Ebene der Artefakte, die man sehen, hören und spüren kann, der Ebene der öffentlich vertretenen Werte (Teamarbeit, Werte, Prinzipien, Moral) und schließlich der Ebene der unausgesprochenen Annahmen. Dabei handelt es sich um Werte und Normen, die das Unternehmen in seiner Geschichte erfolgreich gemacht haben. Der eigentliche Motor einer Unternehmenskultur sind kollektiv geltende Prämissen, auf denen routiniertes, alltägliches Handeln gründet. Aber auch hier muss differenziert werden: Eine auch nur kursorische Sichtung empirischer Daten zeigt, dass von einer problemlosen Übersetzung zwischen regional auseinanderliegenden Standorten nicht gesprochen werden kann (vgl. Dörrenbächer 2003; 2006; Becker-Ritterspach 2003). Es ist festzuhalten, dass sich transnationale Unternehmen immer mehr mit Fragen konfrontiert sehen, die mit einer Pluralisierung der Wertesysteme zu tun haben. Wo Firmen ihre Einflusssphäre in neuen Märkten erweitern wollen, müssen sie sich mit den kulturellen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Die kulturelle Globalisierung ist auch unter der integrierenden Hülle einer transnationalen Organisation kein einheitlicher und widerspruchsvoller Prozess. Zwar können Prozesse und Strukturen in den betreffenden Organisationen üblicherweise in einigen Punkten den lokalen Erwartungen und Gepflogenheiten angepasst werden (z.B. über zusätzliche Hierarchiestufen oder Abstimmungsprozesse). Ebenso müssen in den Tochtergesellschaften regelmäßig u.a. Controllingverfahren und damit verbundene ITSysteme, Berichtserfordernisse an die Muttergesellschaft und Zielvereinbarungssysteme im Personalbereich eingehalten werden. Das bedeutet aber nicht, dass eine vollständige Assimilation der Organisationsstrukturen an die lokalen Wertvorstellungen stattfindet. Irritationen im Alltag innerhalb transnationaler Organisationen gibt es zu jeder Zeit zuhauf. Und die Designkomplexität und die Verarbeitungskapazität der Konzernzentrale stehen in einem Missverhältnis zur Gesamtkomplexität der Organisation. Auch hier sind die Gründe vielfältig. Auf der einen Seite finden in jedem Übersetzungsprozess organisationsinterne Machtspiele und mikropolitische Konstellationen statt, die für die Übersetzer Blockaden und Widerstände bedeuten. Nicht immer sind die Boten der Konzernzentrale an den lokalen Außenbezirken willkommen – erst recht nicht, wenn sie die lokalen Macht- und Verantwortungsstrukturen verändern möchten. Jede Reorganisation und Innovation – darauf wurde oben bereits verwiesen – hat Widerstände zur Konsequenz, vor allem dann, wenn lokale Regionen in ein Umerziehungsprogramm integriert werden sollen. 252

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Interessant ist, dass auf der anderen Seite häufig gerade der Rückübersetzungsprozess von Informationen von den Niederlassungen in die Headquarters – beispielweise durch Expatriates – genauso wenig funktioniert. Die Organisation zieht keinen Nutzen aus ihrer Globalität und erkennt deren Potenziale nicht. Häufig bleibt der Umgang der Organisation mit Expatriates und Auslandserfahrungen kontingent und die kulturelle Lernerfahrung von Zentralen findet nicht statt (vgl. Klemm/Popp 2006: 215).13 Inzwischen sind auch die Verhaltensweisen des Managements auf dem fremden Terrain erforscht. Es mehren sich die Stimmen, die behaupten, dass neben falschen Strategien und unfairen Verträgen insbesondere beim Management Fehler festgestellt werden, die in Konflikt mit lokalen Kulturen geraten. Konflikte werden hier in der Regel „als interkulturelle Konflikte gesehen, die aus der Einbettung der Standorte und der Konzernzentrale“ (Mense-Petermann 2006: 80) resultieren. Hier treffen offensichtlich verschiedene Kulturen und Regulationsweisen aufeinander. In einer Untersuchung von 2.000 Allianzen im Jahre 2001 wurde ermittelt, dass lediglich 53 Prozent der Joint Ventures erfolgreich arbeiten, d.h. eine höhere Rendite als die Kapitalkosten erwirtschaften (vgl. Bamford et al. 2004). Eine detailreiche Studie zu diesem Thema hat der Sozialgeograf Heiner Depner (2006) am Beispiel der Automobilindustrie in Shanghai vorgelegt. Depner begibt sich in den kulturellen Schmelztiegel der chinesischen Joint Ventures und fragt nach dem Zusammenspiel der Kräfte. Er zeigt, wie die untersuchten deutschen Zulieferer die Organisation im fremden Territorium steuern. Seine These ist: In vielen Fällen verhindern unterschiedliche Gewohnheiten deutscher und chinesischer Angestellten die Institutionalisierung einer kohärenten Organisation. Genauer: Weil die deutschen Manager es nicht schafften, eine kulturelle Nähe zu den chinesischen Belegschaften aufzubauen, wurden Ziele in erheblichem Maße nicht erreicht. Die Manager, so Depner, hatten Schwierigkeiten, ihre vom Mutterstandort internalisierten Denkschablonen und Praxisstrategien aufzubrechen. Sie übertrugen die in ihrem System von Dispositionen abgelager13

Dass Global-Player-Eigenschaften nicht genutzt werden und offensichtlich nicht einmal ein Global Mindset vorhanden ist, wurde auch in anderen Untersuchungen festgestellt. Nach Befragungen und Beobachtungen in der Automobilindustrie kommt Pries (2002a) etwa am Beispiel eines bekannten Automobilunternehmens – das hier als eines von mehreren Beispielen herangezogen werden soll – zu folgendem Ergebnis: „Nirgendwo stellten wir klare und eindeutige Ausstrahlungswirkungen eines der untersuchten ‚peripheren‘ Produktionssysteme in den jeweiligen Gesamtkonzern fest.“

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ten kulturellen Erfahrungen auf den fremden Kontext und mussten damit scheitern. Die Spannung zwischen Verständigung und ökonomischem Nutzen erwies sich in manchen Fällen als so radikal, dass sich einige deutsche Manager im chinesischen Machtfeld vollständig isoliert hatten. Einer der vornehmlichen Gründe bestand darin, dass die deutschen Manager es nicht für nötig erachtet hatten, ihre Abläufe und Strukturen auf die Konventionen der chinesischen Belegschaft anzupassen. Die Manager taten das, was sie sonst auch tun: ihre eigenen Standardisierungen und Normierungen und vor allem ihre eigene Überheblichkeit in den fremden Kontext zu implementieren. In drei der von Depner (2006: 188f.) untersuchten Joint Ventures hielten sich die deutschen Expatriates samt ihren technischen und organisatorischen Vorschlägen für überlegen und forderten die chinesischen Kollegen auf, diese zu übernehmen. Je überheblicher die deutschen Manager wurden, desto mehr schirmte sich die chinesische Belegschaft von ihnen ab und präferierte die chinesischen Manager. Gerade weil sie nicht bereit dazu waren, in eine „Interkultur“ mit dem chinesischen Personal einzutreten und sich über Lernspiralen an die kollektiven kulturellen Muster ihrer Umwelt anzupassen, bildete sich auf beiden Seiten kein Vertrauen (vgl. Depner 2006: 188). Obgleich die Rolle des Expatriates den Managern eigentlich eine Dezentralisierung der Nationalkultur hätte abverlangen müssen, waren diese nicht in der Lage, die regionalen Kulturinhalte ihrer Deutungsschemata abzustreifen und sich auf den Fremden einzulassen. Damit ist erkennbar, dass Adorno gar nicht so Unrecht hatte, als er unser Denken als „Zirkel der Identifikation“ kennzeichnete, der „schließlich immer nur sich selbst identifiziert“ (Adorno 51988: 174). Depners Fazit lautet: Der Manager, der daheim in der dunklen Kammer isolierter kultureller Programme verbleibt und vor Ort darauf wartet, dass diese sich simpel in eine weltumspannende „Metakultur“ einpassen, wird scheitern. Man könnte sagen: Die Führung hat deswegen versagt, weil sie die Operationsweise des zu steuernden Systems nicht verstanden hat.

5.5.2.4 Abschließende Diskussion: Kontingenz der Pfade Bei unserer Frage nach dem Status grenzüberschreitender Transfers in multinationalen Unternehmen lässt sich folgendes Ergebnis festhalten: Es gibt durchaus Fälle, wo erfolgreiche Übersetzungsketten und gleichgerichtete Entwicklungslinien in transnationalen Unternehmen inszeniert werden konnten. Soweit diese Meinung besagen soll, die Welt werde immer homogener, ist sie falsch. Denn es muss ebenso festgehalten wer-

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den, dass von einer unproblematischen und reibungslosen grenzüberschreitenden Konzernintegration nicht gesprochen werden kann. Kontingenz wird durch das heutig geartete Management keineswegs aus dem Weg geräumt. Wie schon in Kapitel 4 am Beispiel der Vielfalt von Modernisierungspfaden festgestellt wurde, lässt sich auch im eben diskutierten Themenschwerpunkt festhalten: Eine homogene Werteorientierung als Ausdruck einer stabilen Einheit kann in der Vielheit der kulturellen Sprachspiele nicht länger als bereits etabliert angenommen werden. Stattdessen müssen eine solch gesicherte Verständnisbasis und ein Stück gemeinsamer Praxis in einem Interaktionsprozess erst „vor Ort“, nämlich in der fremden kulturellen Region, hergestellt werden (Steinmann/Scherer 1998: 64). Das Problem grenzüberschreitender Kommunikation ist vor allem ein Problem grenzüberschreitender Werte. Dies zeigt umso mehr, dass lokale Kulturen stets das Netzwerk darstellen, in dem die Verfahren der Konzernvorgaben in die lokalen Standorte transportiert werden können. Heinz Bude (1995: 275) hat einmal über den Begriff Kultur geschrieben: „Überall auf der Welt funktionieren Banken wie Banken, Bibliotheken wie Bibliotheken und Flughäfen wie Flughäfen. Aber da ist noch ein alltäglicher Rest, der dem Beobachter das Ganze als fremdartig und erstaunlich erscheinen lässt. Das ist Kultur.“ Man müsste Bude ergänzen: Zumindest transnationale Organisationen funktionieren nur, wenn die Strategien des Headquarters in jenen „alltäglichen Rest“, d.h. in die lokalen kulturellen Besonderheiten, eingegliedert werden können: „Das, was man häufig als das Lokale bezeichnet, ist vielmehr ein konstitutiver Bestandteil des Globalen.“ (Robertson 1998: 208) Das zeigt gerade auch die große Anzahl gescheiterter Joint Ventures und Fusionen. Was bedeutet das aber konkret für ein transnationales Management? Gefordert wäre sicherlich als Mindeststandard eine neue Lernkultur, die einer Kultur der Vielfalt den Weg ebnete. In transnationalen Organisationen müssen alle Akteure, gerade weil die territorialen Kräfte des Nationalen nicht mehr simpel greifen, eine neue Zuhörerkompetenz gewinnen: „Das Zuhören erfordert eine Haltung, wie Hans Georg Gadamer einmal gesagt hat, ‚andere zu Wort kommen zu lassen und von der Möglichkeit auszugehen, dass der andere was zu sagen hat‘“ (Zimmerli 2006: 285). Die erfolgreiche Einbindung von Managern in einen fremden regionalen Kontext erfordert eine intime Kenntnis interner Macht- und Verhandlungsstrukturen und eine Reflexion über die eigenen Vorurteile. Depner (2006: 198) zitiert dann auch einen chinesischen Experten: Der qualifizierte Expatriate „should have interest in the Chinese culture and

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be culturally sensitive, have enough patience in managing the Chinese workers […] and be willing to stay for at least three years“. Der Modus dieser neuen Lernkultur kann nicht mehr der Belehrungskultur entlehnt werden, sondern scheint eher ein Modus wechselseitigen Lernens und Verstehens zu sein, bei dem jeweils geklärt werden muss, wer von wem lernt. Die Industriegesellschaft des Westens, so Wolf Lepenies (1996), „die sich traditionell als Belehrungsgesellschaften verstanden, müssen zu Lerngesellschaften werden“. Und gerade Manager, die sich im transnationalen Raum bewegen, müssen für den fremden Kontext Toleranz etablieren. Kurzum: Um die Kommunikationskonflikte, die in multinationalen Konstellationen auf der Hand liegen, intelligent anzugehen, braucht man eigentlich gar kein neues „Managementtool“. Führungskräfte und Manager müssen das Vermögen ausprägen, zu verstehen, und das bedeutet, dass sie einen vorübergehenden kognitiven Perspektivenwechsel vollziehen müssen, der mit der Preisgabe des egozentrischen Standpunktes einhergeht. Sie müssen die Strukturierungsleistungen ihrer eigenen kulturellen Schablonen erst einmal zertrümmern. Man könnte sagen, dass sie das eigene kulturelle Gedächtnis ein Stück weit verlieren müssen, um in die Kommunikations- und Beziehungsdynamiken des lokalen Standortes einzutauchen. Baecker bezeichnet dies als eine Art von Oszillationskompetenz: „Die Zukunft wird geöffnet mit Hilfe der Möglichkeit, zwischen den durch ‚Interkultur‘ bezeichneten Werten oszillieren zu können und die Entscheidung zwischen diesen Werten jeweils neuen Gegenwarten (und damit der Zukunft) überlassen zu müssen.“ (Zit. nach Günther 2000: 143). Nur so können sie sich auch auf den Standpunkt des anderen und damit auf den anderen, der wertgeschätzt werden soll, einlassen. Die Ausbildung eines empathischen Gespürs ist in interkulturellen Kontexten unverzichtbar.14

5.6 Zusammenfassung: Kontingenz in Organisationen (1) Vor Beginn unserer Analysen wurde die Arbeitshypothese formuliert, dass Kontingenz bisher in der Organisationstheorie nur am Rande thematisiert wurde. Zunächst ging es darum zu rekonstruieren, was wohl die Organisationstheorie daran gehindert hat, Kontingenz in Organisationen zu analysieren. Vor dem Hintergrund der vorgenommenen Analyse 14

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Der Erfolg wirtschaftlich leistungsfähiger Unternehmensagglomerationen resultiert dann auch „aus strukturell und institutionell verdichteten Kooperations- und Lernprozessen“ (Hirsch-Kreinsen 1999: 119).

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des sogenannten „technokratischen Modells“ dürfte die Antwort wohl darin liegen, dass die Analyseeinheiten der Organisationstheorie auf das wesentliche Moment der „Reduktion von Komplexität“ in Organisationen konzentriert waren. Sinn und Zweck korporativen Handelns ist nach diesem Modell die Absorption von Ungewissheit. Schreyögg/Koch (1999: 18) formulieren prägnant: „Wenn es ein zentrales Thema der klassisch-modernen Organisationstheorie gibt, dann ist es das der formellen Regelung und der damit verbundenen Erzeugung von Eindeutigkeit, etwa in Form eines Organigramms. In diesem Thema konvergiert der Entstehungsgrund der modernen Organisation mit dem Erklärungsgrund für ihre Effizienz.“ (2) Aufgrund der Aporien, in die sich die Vision „des one best way, der Gedanke der Zweckrationalität und alle daran anschließenden Determinismen verstrickt haben“ (Ortmann 21992b: 222f.), wurden in einem zweiten Schritt Ansätze diskutiert, die den Faktor Kontingenz unabdingbar auf die Tagesordnung setzen. Es handelt sich dabei vor allem um solche theoretische Perspektiven, die gegenüber betriebwirtschaftlichen Forschungsansätzen, die häufig normativ argumentieren, von politischen Prozessen in Organisationen ausgehen. Dem Konzept der Mikropolitik kommt eine Schlüsselrolle zu. Das Erklärungsziel des mikropolitischen Ansatzes besteht darin, die internen Entscheidungsprozesse und Zielverhandlungen zu thematisieren, die den Organisationen zuallererst ihre institutionellen Arrangements und organisatorischen Settings verleihen. Anders als Ansätze, die ihren Fokus ausschließlich auf das Endergebnis von organisationalen Entscheidungsprozessen – den kommunizierten Entscheidungsakt – legen, wird hier das komplexe Zusammenspiel von Machtspielen, Verhandlungen und Kompromissen zwischen konkurrierenden Gruppen und Koalitionen in Zentrum der Analyse gelegt. Gerade weil in Organisationen die zentralen Akteure konkurrierende Ziele haben, wird eine eindeutige, ökonomisch-rationale Lösung per se nicht gewählt. Crozier/Friedberg (1993: 7) betonen dabei: „Es handelt sich immer um kontingente Lösungen im radikalen Sinn des Wortes, d.h. letztlich unbestimmte und daher willkürliche Lösungen.“ Die Fähigkeit, Ungewissheit zu kontrollieren, ist davon abhängig, welche Machtpotenziale Akteuren zur Verfügung stehen. So differenziert man auch mit mikropolitischen Argumentationsmustern umgehen muss, so kann man nicht leugnen, dass Mikropolitik als wesentliche handlungs- und entscheidungsleitende Orientierungen in Organisationen aufgefasst werden muss. Noch einmal sei an den Satz von Kieser und Kubicek erinnert, die „die Machtstruktur der Organisation als den letztlich entscheidenden Bestimmungsfaktor der Organisationsstruktur ansehen“ (zit. nach Ortmann 1995: 45). 257

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(3) Dass sich in den letzten Jahren, wie Kühl (2002: 265) es ausdrückt, „eine Erosion der zweckrationalen Lesart von neuen Organisationsformen“ angedeutet hat, wurde auch an einem zweiten Problemkomplex ersichtlich. An einigen Beispielen wurden die vielfältigen paradoxen Auswirkungen von Organisationsformen diskutiert, die in den letzten Jahren im Zuge von Reorganisationsprozessen implementiert wurden. Entscheidend ist die Folge: Die Vorstellung einer neuen optimalen Organisation von Unternehmen, die die ökonomische Zielsetzung von Organisationen noch besser erreicht, machte der Erfahrung Platz, dass Kontingenz und paradoxe Effekte die Nebenfolgen des Traumes der optimalen Organisationsstruktur waren. Der Komplexitätsdruck transformiert den „heroischen“ Manager, der alles weiß und alles viel besser weiß als andere, zu einer quasi postheroischen Figur, die um die Grenzen ihres Könnens und ihres eigenen Nichtwissens weiß. Organisationen kommen allmählich und nach immer erneuten Versuchen der Steuerung und von Gestaltungsbemühungen nicht umhin, „ihre Kontingenz, ihre Veränderbarkeit und die Abhängigkeit dieser Veränderung von teils selbstgewählten, teils von außen durch Gewerkschaften, Banken, Technologieentwickler und Ökologen erzwungenen Zufällen als das einzige Verläßliche anzusehen, womit sie es zu tun haben. Organisationskultur ist daher zunehmend Kontingenzkultur“ (Baecker 1999: 110). (4) Angesichts der Globalisierungsaktivitäten von Organisationen lässt sich annehmen, dass die Unternehmen zunehmend ähnliche Herausforderungen annehmen müssten und mehr und mehr durch Best Practises konvergent würden. Das ist eine Idee, die uns bereits in Kapitel 4 begegnete. Nach allem, was in Betracht zu ziehen ist, handelt es sich um ein Missverständnis, wenn man annimmt, der Globalisierungsprozess führe zu globaler Konvergenz von Organisationen und Märkten. Wie schon in Kapitel 4 fällt die Antwort folgendermaßen aus: Auch wenn kulturelle Austauschbeziehungen im Rahmen ökonomischer Prozesse seit jeher in unterschiedlicher Intensität stattgefunden haben, wird jedoch im Zeitalter wachsender Denationalisierung die Kompetenz, mit heterogenen Werten und kultureller Diversität umzugehen, zu einem entscheidenden Faktor (vgl. Zimmerli/Holzinger 2006). Unternehmensglobalisierung führt nicht zu einer Homogenisierung von Organisationsstrukturen. Ganz im Gegenteil: Die Organisationstheorie hat gerade in den letzten Jahren gezeigt, dass Globalisierungsprozesse hochgradig pfadabhängig, marktabhängig und komsumentenabhängig geworden sind. In der Organisationstheorie verweisen Stichworte wie „Pfadabhängigkeit von Organisationsentwicklungen“, „Firm Trajectories“ und „Biografie von Organisationen“, die Organisationswandel und Organisa258

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tionsstrukturen beeinflussen, auf eine Abkehr von der Homogenisierungsthese hin (vgl. Eckardt et al. 1999b: 17). Die Unternehmen werden gedrängt, der Heterogenität regionaler Kontexte Rechnung zu tragen. Pries (2000: 679) nimmt dazu klar Stellung: „Gegen die Annahme einer universellen Modernisierungs- und Rationalisierungslogik und/oder einer generalisierten Konvergenz der weltweit vorfindlichen disparaten Produktionssysteme sprach dabei der Befund, dass Unternehmen selbst bei gleichen Umweltbedingungen und Kontextvariablen auf Grund ihrer jeweils unterschiedlichen Entwicklungsverläufe und Geschichte mit unterschiedlichen strategischen Schwerpunktsetzungen (gleich oder zumindest ähnlich) erfolgreich sein können.“

Die Heterogenität der Kontexte führt auch zu einer Veränderung der Leistungswahrnehmung des Managements (Beyes 2003). Klassisches Management basiert auf Komplexitätsreduktion und häufig auf dem irrtümlichen Glauben des Managers, er könne alles steuern. Die Haltung des Managers zur Systemumwelt ist hier der Glaube, dass die Eigenkomplexität des Systems schon die Umweltstruktur unter Kontrolle habe. Wenn die Systemstruktur umweltkompatibel ist – und davon geht ja die Konvergenzthese aus –, ist die Umwelt des Managers kein Problem. Management von Kontingenz bedeutet hingegen, dass man Nichtwissen und Ungewissheit als strukturelle Voraussetzung jeder heutigen Entscheidungssituation akzeptiert.

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6 Zur Epistemologie der Kontingenz. Wiss e nss oz iologisc he und ha ndlungstheoretis c he Re flex ione n

Die Konsequenzen, die aus der zu bemerkenden Hinwendung zum Phänomen der Kontingenz gezogen werden, sind bisher auf der Metaebene der soziologischen Theorie schwer auszumachen. Obgleich der Terminus selbstreflexiv in der Soziologie hoch im Kurs steht und auch die Kontingenz der Gesellschaft seit Jahren bemerkt und notiert wird, haben es die Soziologie und die Gesellschaftstheorie lange Zeit nicht vermocht, der Bedeutung und der Problematik dieses Phänomens einen zentralen theoretischen und empirischen Stellenwert einzuräumen und zu den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um dieses Phänomen beizutragen. Ein Diktum Sloterdijks (2004: 36) bringt den Sachverhalt auf den Punkt: „Noch immer liegt auf den modernen Theorien und den Theorien der Moderne der lange Schatten des Substanzdenkens, das dem Akzidentiellen so wenig Geschmack abgewinnt.“ Der Schrecken, den das Phänomen „Kontingenz“ auch heute noch auf manche Gemüter ausübt, erklärt sich aus dem Faktum, dass mit seiner kontinuierlichen Expansion die vollständige Bankrotterklärung einer wohlgeformten Institutionen- und Gesellschaftsordnung, ja einer gemeinsamen Welt impliziert wird. Das methodologische Programm von Durkheim, sich strikt auf die Makroebene der Gesellschaft zu beziehen und vor allem auf dieser Ebene die Gesetze des sozialen Zusammenhangs zu formulieren, muss in einer Soziologie, die sich mit dem kontingenten Kontext der Phänomene befasst, in wachsendem Maße scheitern. Denn gerade der „Makrokörper“ der Gesellschaft ist es, der nun zur Disposition steht.

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Es ist hier nicht der Ort, das Problem umfassend zu lösen, wie sich eine Soziologie gestalten müsste, die das Problem der Kontingenz meistern wollte. In diesem Text werden jedoch einige erste Überlegungen dazu angestellt. Der vorliegende Beitrag soll den Stand der Diskussion zusammenfassen und Ansatzpunkte dafür liefern, wie das Thema Kontingenz epistemologisch für die soziologische Theorie nutzbar gemacht werden kann. Im Folgenden gilt es die Inadäquanz bestimmter methodischer Strategien zu begründen und in einem nächsten Schritt die Konturen eines neuen epistemologischen Denkens zu skizzieren, das die beschriebenen Merkmalsausprägungen von Kontingenz effektiver zu fassen vermag. Die Bearbeitung dieser Problemlage findet, wie angedeutet, auf der Metaebene der soziologischen Theorie statt. Soziologie der Soziologie ist diejenige soziologische Disziplin, deren Gegenstand die Soziologie selbst ist. Wenn Alfred Schütz (1971: 7) soziologische Erklärungen einmal als „Konstruktionen zweiten Grades“ bezeichnet hatte, müsste man nun davon ausgehen, dass wir es im Falle der „Soziologie der Soziologie“ (Mannheim 1980: 39) mit „Konstruktionen dritten Grades“ zu tun hätten. Wie die Wissenschaft insgesamt hat sich auch die Soziologie einen Ort eingerichtet, an dem die Diskussion ihrer eigenen Grundlagen geführt werden soll. Ich möchte in diesem Punkt einige Überlegungen zu den Voraussetzungen einer kontingenten Epistemologie anstellen. Der Text gliedert sich in vier Schritte: (1) Bekanntlich hat Norbert Elias es als Aufgabe der Wissenschaft gesehen, Mythen, Glaubensvorstellungen und vor allem metaphysische Spekulationen zu destruieren: „Wissenschaftler sind mit anderen Worten Mythenjäger.“ (Elias 102004: 53f.) Diesen Gedanken aufgreifend möchte ich zunächst das Unternehmen einer der Kontingenz gerecht werdenden Epistemologie gegen eine szientistische und konstruktivistische Hintergrundphilosophie des zeitgenössischen soziologischen Diskurses ins rechte Licht rücken. Ich bezeichne diese als die zwei Mythen der Sozialwissenschaften. Den ersten Mythos nenne ich den Mythos der Sozialwissenschaften als exakte Wissenschaft. Den zweiten Mythos bezeichne ich als den Mythos der Außenperspektive des Beobachters (Punkt 6.1). (2) Ist die Analyse der erkenntnistheoretischen Basis der zwei Mythen zutreffend, bietet sich sodann als Lösung das Projekt des Relationismus an. Mein Eindruck ist, dass ein mit dem Phänomen Kontingenz sympathisierender Erkenntnisstandpunkt ein methodisches Instrumentarium nach sich zieht, das sich als radikal antifundamentalistisch auch gegenüber Makrostrukturen versteht. Ein solcher Erkenntnisanspruch führt notwendigerweise in einen radikalen Pluralismus, der allerdings 262

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ganz anders begründet ist als beispielsweise derjenige von Luhmann. Das hat auch mit postmodernem Relativismus wenig zu tun. Pluralismus ist nicht gleichzusetzen mit Relativismus. Der Relationismus, der hier als Lösung angeboten wird, behauptet nicht, dass alles gleich viel zählen und jede irrige Anschauung akzeptiert werden würde (Punkt 6.2.). (3) Danach soll der Begriff der Kontingenz im Rahmen der Diskussion um den Themencluster Handlungs- oder Systemtheorie diskutiert werden. Nimmt man das Phänomen der Kontingenz zur Kenntnis, dann wird klar, dass man an der klassischen Dichotomie von Mikro- oder Makroerklärungen nicht vorbeikommt (Punkt 6.3). (4) Schließlich soll in einem letzten Schritt versucht werden, einige methodische Vorschläge zu reflektieren, die in der Soziologie in den letzten Jahren diskutiert wurden und die zeigen sollen, wie das Thema Kontingenz in eine reflexiven Soziologie integriert werden könnte (Punkt 6.4).

6 . 1 Zw e i M yt h e n d e r S o z i o l o g i e „‚Kontingenz‘ heißt das exponierte Zauberwort, das die Schlösser zum Unbestimmbaren öffnet.“ (Gamm 1994: 237) Diese Beobachtung hat, so müsste man annehmen, sicherlich auch Konsequenzen für das methodologische Design der soziologischen Theorie. Allerdings war bisher die soziologische Theorie dem Phänomen „Kontingenz“ – was die methodologische Problematik des Begriffs betrifft – nicht gerade zugänglich. Wie ist das zu verstehen?

6.1.1 Der Mythos der Soziologie als strikte Gesetzeswissenschaft Wie verträgt sich das Phänomen der Kontingenz mit der bei Grundlagentheoretikern der Soziologie nach wie vor vertretenen Anschauung, dass es allgemeine soziologische Gesetze gibt? Während sich allgemeine Gesetze doch scheinbar auf keine kontextspezifischen Variablen oder eingegrenzten Zeit-Raum-Gebiete beziehen, müssen wir beim Phänomen der Kontingenz gerade solche Variablen berücksichtigen. Auch wenn das Wort „Erklärung“ in der Wissenschaftstheorie verschiedene Bedeutungen besitzt, sieht die Soziologie, darauf habe ich in Kapitel 2 bereits hingewiesen, ihr Ziel häufig darin, „starke Erklärungen“ zu liefern und sich damit den Anschein einer Gesetzeswissenschaft zu verleihen. Die Soziologie gibt sich nicht mit Beschreibungen oder Narrationen singulärer Sachverhalte zufrieden. Sie geht von einem „Me263

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thodenmonismus“ (Kieser 1993a: 5) aus, was bedeutet, dass es keine grundlegenden Unterschiede zwischen Erklärungen der Natur- und Sozialwissenschaften gibt. Im deduktiv-nomologischen Modell muss der zu erklärende Sachverhalt (Explanandum) logisch aus den erklärenden Sätzen (Explanans = Gesetzesaussage + Antezedensbedingung) folgen. Das Explanans muss empirischen Gehalt haben. Die Formulierung von möglichst allgemeinen Aussagen gründet in der Intention, an verschiedenen, individuellen Objekten Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu Aussagen mit Allquantor (allgemeinen Gesetzmäßigkeiten) zu gelangen. Das Prinzip der Nomologisierbarkeit setzt voraus, dass jeder singuläre Sachverhalt nomologisierbar ist, d.h. als Fall einer oder mehrerer Gesetze gelten könne. Unter ihre Mengen werden gleichartige Elemente subsumiert und in dieser Klassifikation werden individuelle Gegenstände („Rind“) unter einen allgemeinen Terminus („Säugetier“) gebracht. Für die Soziologie ergibt sich hier noch ein besonderes Interesse. Sie ist bekanntlich an der Erklärung kollektiver („gesellschaftlicher“) Phänomene interessiert. Es ging ihr immer um die typischen Modelle der Eigenschaften von sozialen Relationen, sozialen Lagen und von Institutionen, die diese in eine Struktur gießen. Nur so kann sie legitimieren, dass sie einen im Unterschied zu anderen Disziplinen je eigenen Gegenstandsbereich für sich besetzen kann: „Das Explanandum soziologischer Analysen und Erklärungen sind kollektive Phänomene.“ (Esser 31999: 65) Für Durkheim z.B. war es daher wichtig, dass das Phänomen des anomischen Selbstmordes nicht als eine Individuenkonstante, sondern als ein allgemeines sozialwissenschaftliches Gesetz nachzuweisen war. Das spezifisch raumzeitlich auftretende Selbstmordmotiv des Einzelnen sollte gewissermaßen als „Fall“ unter eine höhere gesellschaftliche Ursachenerklärung subsumiert werden. So würde man feststellen, dass „das so gewonnene Gesamtergebnis nicht einfach die Summe voneinander unabhängiger Einzelfälle darstellt, eben eine Ansammlung, sondern dass dieses Ergebnis eine neue Tatsache sui generis schafft […], die überdies von eminent sozialer Bedeutung ist“ (Durkheim 1983: 30). Die Soziologie hätte es durch den Nachweis der Wirkung einer eigenen emergenten Sphäre – dem sozialen System – mit einem eigenen Problemfeld zu tun. Die empirische Sozialforschung geht bis heute in der sogenannten Variablensoziologie davon aus, dass soziale Regelmäßigkeiten als „Folge des Wirkens von Kontext-Variablen“ (Esser 31999: 233) – wie Alter, Geschlecht, soziale Schicht etc. – zu erklären sind. Wenn eine bestimmte Häufung von empirisch erhobenen Dispositionen vorgefunden wird, die durch vermittelnde Variablen gemessen werden können, dann folgt daraus ein sichtbares Verhalten. Das Individuum reagiert mit einem kor264

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respondierenden Handlungsprogramm. Die Umwelt dient gleichsam als Stimulus und Bezugsrahmen. Jeder Stimulus ruft in dem Individuum eine voraussagbare Handlung hervor. Handeln ist die „Umsetzung der Attitüden und Dispositionen in ein sichtbares Verhalten“ (Esser 31999: 232). Das ist von bloßen Maschinenhandeln oder der Ausübung eines Verhaltens- bzw. Reaktionsprogramms nicht weit entfernt. Analoges sagten March/Simon über die mechanische Beziehung zwischen Stimuli und menschlichen Handlungsprogrammen in Organisationen, das die klassische Organisations- und Bürokratietheorie vertrat.1 Strittig ist nun, ob die eben skizzierten Annahmen dazu berechtigen, von einer Erkenntnis in Form einer Gesetzesaussage zu reden. Aus drei Gründen kann man die Gültigkeit dieser Annahme bezweifeln: (1) Menschliche Handlungen sind, ähnlich wie historische Prozesse insgesamt, nicht unausweichlich und ebenso wenig notwendig, weil Menschen ihrem Wesen nach nicht in Übereinstimmung mit Naturgesetzen handeln. Auch soziale Sachverhalte ereignen sich in der Zeit. Das soziale Dasein der Menschen ist im Wesentlichen bestimmt durch die Zukunft, und diese ist bekanntlich nicht antizipierbar: „Zukünftiges läßt sich nicht beobachten.“ (Luhmann 1991: 83) In der Wissenschaftstheorie zumindest wurde deshalb schon vor Jahren festgestellt, dass insbesondere über bereits vergangene singuläre Sachverhalte keine Gesetzessaussagen möglich sind. „Der Grund, weswegen wir in Geschichtsbüchern keine allgemeinen Gesetze erwähnt finden, ist der, daß dort in streng naturwissenschaftlichem Sinne keine Erklärungen gegeben werden können“, kommentiert Arthur C. Danto (1980: 329). Deswegen hält sich die Soziologie wie alle anderen Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften im Graubereich zwischen Verstehen und kausaler Erklärung auf. Es war Georg Simmel, der auf die Dichotomie von allgemeinem Erkenntnisanspruch in Form einer Gesetzesaussage und dem historischen Erfahrungsgegenstand hinwies. Für die Geschichtswissenschaft stellte er Folgendes fest: „Insofern also Geschichtswissenschaft zu schildern hat, was wirklich geschehen ist, indem sie die Wirklichkeitswissenschaft schlechthin ist, tritt sie in den denkbar schärfsten Gegensatz gegen alle Gesetzeswissenschaft.“ (Simmel 1989b: 348f.) Gerade nämlich „der einzelne nach Zeit und Raum bestimmte Fall, der ihren Inhalt bildet, ist 1

„The environment is viewed as a well-defined stimulus or system of stimuli. Each such stimulus (e.g., an administrative order) evokes in the individual to whom it is directed a well-defined and predictable psychological set. The set that is evoked by the stimulus includes a program for generating a specified behavioral response – the response that is ‚appropriate‘ to the stimulus in question.“ (March/Simon 21993: 53)

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der letzteren“ – und hier käme auch die Soziologie ins Spiel – „völlig gleichgültig“ (ebd.: 349). Zu Recht fragt sich Simmel, welchen Erkenntniswert eine Gesetzeswissenschaft der Erkenntnis beifügen würde, wenn sie über die kontingente Wirklichkeit nichts Treffendes aussagen könnte und wenn sie nicht, wie Simmel (ebd.: 349) sagt, „an sich wertvoll erscheint“. (2) Seit Popper ist bekannt, dass eine Erklärung nach dem oben skizzierten Schema nicht möglich ist. Absolut sichere Erklärungen sind unmöglich, weil die vermeintlichen ursächlichen universell geltenden Gesetzesaussagen, die zur Erklärung herangezogen werden, jederzeit an der Erfahrung scheitern können: „[…] noch so viele wahre Prüfaussagen könnten die Behauptung nicht rechtfertigen, eine erklärend allgemeine Theorie sei wahr.“ (Popper 1973: 18) Die meisten Allaussagen der Soziologie wären gewissermaßen nicht wissenschaftlich, weil sie Ausnahmen zulassen: „Würde man die Sozialwissenschaft – insbesondere etwa die Soziologie – strikt auf solche allgemeinen Wenn-dann-Hypothesen beschränken, so müsste man wohl den größten Teil der allgemeineren soziologischen Theorien wegstreichen […].“ (Lenk 1986: 175) Damit ist freilich nicht gemeint, dass sich in der empirischen Welt überhaupt keine „quasi allgemeinen“ Aussagen finden würden (Lenk 1986: 176f.). Die deduktiv-nomologische Struktur lässt sich auch heute noch auf bestimmte Ereignisse aus sozialen Ereignissen beziehen. Allerdings kann bei noch so vielen Bestätigungen in der Vergangenheit nicht mit Sicherheit darauf geschlossen werden, dass ein sozialer Sachverhalt mit Gesetzesanspruch auch in Zukunft eintreten wird. „Gegenüber einer Erklärung und Prognose auf der Basis deterministischer Gesetze ist dies eine erhebliche Einschränkung.“ (Kieser 1993a: 8) (3) Und schließlich ist noch ein zeitdiagnostisches Moment anzuführen. In einer modernen Gesellschaft, die ja ein explizites Kontingenzbewusstsein entwickelt, ist die Allgemeinheit sozialer Tatsachen zunehmend zu bestreiten. Diese These sei kurz an Essers (31999: 91ff.) „Grundmodell jeder soziologischen Erklärung“ veranschaulicht. Esser (31999: 47f.) betont zunächst zu Recht, dass im gesellschaftlichen Leben die Formulierung allgemeiner Gesetze nicht ausreichend sei. Er schickt sich an zu betonen, dass die Soziologie insbesondere auch singuläre Ereignisse zu klären habe. Und dennoch möchte Esser am soziologischen Erklärungsmuster festhalten, wonach die Sätze der Soziologie ein kollektives Phänomen als Explanandum enthalten müssen: „Bei der soziologischen Erklärung eines singulären Ereignisses geht es aber – paradoxerweise – immer auch um eine allgemeine Erklärung genau dieses Unikats.“ (Esser 31999: 90)

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Essers (31999: 93ff.) Lösung besteht in einem dreigliedrigen Phasenmodell, das als Makro-Mikro-Makro-Verknüpfung aufzufassen ist. Die Soziologie versucht Mikroereignisse mit einem Makrobereich zu verknüpfen, der quasi die Rolle der allgemein geltenden funktionalen Relation zwischen Ursachen und Folgen spielen soll. Esser (31999: 97) kommentiert: „Bei der Situationsanalyse geht der Soziologe vom Makro-Bereich aus, gelangt so auf den Mikro-Bereich der Akteure und des Handelns und kehrt mit der Aggregation der individuellen Effekte des Handelns wieder auf die MakroEbene zurück. […] Die Gesamtheit der drei Schritte bildet immer eine kausalanalytische Konstruktion zweiter Ordnung des Soziologen über das Geschehen […].“

Eine wichtige Prämisse, die Esser nun in seinem Modell unterstellt, besteht in der These, dass die speziellen Mikroereignisse bzw. die Selektion der Handelnden in speziellen Situationen prinzipiell durch ein allgemein geltendes soziales Gesetz erklärbar seien. Hier folgt Esser also einer allgemein akzeptierten soziologischen Hypothese, dass singuläre Ereignisse durch einen allgemeinen nomologischen Kern ausgedrückt werden können. Die meisten Allaussagen der Soziologie setzen eine relative Einheitlichkeit und eine Homogenität der Erfahrungswelt bei den gesellschaftlichen Akteuren voraus. Das bedeutet, dass die Bevölkerung hinsichtlich spezifischer Kategorien in homogene Gruppen geteilt wird. Nur so ist ja der grundlegende Kollektivismus – Soziales durch Soziales zu erklären (Emile Durkheim) – der soziologischen Erklärung zu gewährleisten. Auch Esser geht davon aus, dass der sozialen Erscheinungswelt eine mathematisch beschreibbare Struktur zugrunde liege und dass die soziale Welt im Ganzen in Formenclustern reiner strukturtheoretischer Diskurse darstellbar wäre, auch wenn er nicht im strengen Sinn von Gesetzen spricht. Esser (31999: 90) weiß wohl, dass die Situationen „historisch variieren und grundsätzlich immer ‚einmalig‘ sind“. Die entscheidende Frage bleibt aber dann: „Sind die Regeln der Selektion des Handelns wirklich ‚ahistorisch‘ und allgemein – oder variieren auch diese Regeln mit den historischen Situationen?“ (Ebd.: 90) In der Tat: Gerade diese Frage ist es, die im Rahmen der Thesen um den Begriff Kontingenz absolut zentral ist. Und sie ist es heute im besonderen Maße, denn die empirischen Befunde beispielsweise im Rahmen der Sozialstrukturanalyse geben Anlass, eine verhaltensprägende Wirkung von kollektiven Strukturen immer mehr infrage zu stellen. Das Soziale mitsamt seinen Normen und Institutionen, das, wie Arnold Gehlen (1986: 215) wusste, eine ungemeine Bedeutung für die innere Ver267

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fassung des Einzelnen hatte, da es ihn „von der fallweisen mühsamen Erfindung anständigen Verhaltens“ entlastete, wird in einer Gesellschaft, die auf kontingenten Fundamenten aufsetzt, möglicherweise immer mehr infrage gestellt. Es soll hier nicht behauptet werden, dass es für bestimmte Sachverhalte „quasiallgemeine Aussagen“ nicht mehr gibt. Jedoch muss konstatiert werden, dass empirische Studien von einer Pluralisierung von Lebensstilen sprechen, die immer schwächere Bindungen an Herkunftsmilieus registrieren. Zu synchronen Statusinkonsistenzen seien, so Berger (2001: 205), „diachrone Statusunbestimmtheiten“ hinzugekommen, die die „sozialwissenschaftliche Klassifikation von Einzelpersonen und Gruppen erschweren“. Beck (1986: 139ff.) diagnostizierte bereits vor Jahren „das Ende der Großgruppengesellschaft“ und schlussfolgert, dass die sozialen Klassen oder Schichten mit der empirischen Realität nicht mehr korrelieren, vielmehr „entsteht – paradox genug – eine neue Unmittelbarkeit von Individuum und Gesellschaft“ (Beck 1986: 158). Von einer „Emanzipation von überlieferten Lebensordnungen“ (Berger 1986: 90) und einer „Entstrukturierung der Klassengesellschaft“, ja einer Auflösung der „normativen Orientierungskraft“ (Müller 1992: 355) ist die Rede. Diese sozialstrukturellen Wandlungen müssten also ihrerseits auf die theoretischen Begriffe und Repräsentationen der Sozialwissenschaften zurückschlagen und den Wirklichkeitsgehalt kollektiver sozialer Beschreibungsmodelle infrage stellen. Bei den empirischen Ergebnissen, die in den letzten Jahrzehnten diagnostiziert wurden, müsste also in der Tat innerhalb der Soziologie das Bewusstsein entstehen, dass es zunehmend unwahrscheinlicher wird, schon mit einigen soziologischen Standardvariablen wie Strukturen, Geschlecht, Schulbildung und soziale Schicht die Bewusstseins- und Verhaltensweisen der Akteure hinreichend erklären zu können. Zunehmend ist problematisch, zumindest diskussionswürdig, ob die Soziologie weiterhin an relativ holistischen und kohärenten Kategorien festhalten kann, die „eine für moderne Gesellschaften unwahrscheinliche Form von konsistenter Identität“ (Rössel 2005: 143) vorgaukeln. Ein „erstaunliches Festhalten an einer der Großgruppensoziologie nahestehenden Konzeption“ sei zu beobachten, betont Jörg Rössel (2005: 143) in seiner Diskussion neuerer Ansätze der Sozialstrukturanalyse.2 2

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Rössel in seiner Habilitationsschrift eine durchaus ambivalente Position vorträgt. Er übernimmt die neuen Tendenzen in der Lebensstil- und Milieutheorie, wie sie in der Differenzierungstheorie (z.B. Hradil 1987), der Theorie der Verzeitlichung der Sozialstruktur (z.B. Berger 1996) und der Theorie der Entkopplung

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Selbst Bourdieu war nach allerhand Reflexionsloopings vor allem an der Stabilität seiner Habituskonzeption in der Zeit interessiert. Aufgrund des Passungsverhältnisses konnte er von sozialstrukturellen Positionen und durch den Habitus vermittelten ästhetischen Lebensstilen auf eine Welt prästabilisierter Harmonie schließen. Gleiche sozialstrukturelle Voraussetzungen schaffen vermittelt über den Habitus ähnliche Dispositionen. Die im Habitus sich bündelnde „durch Sozialisation erreichte Kollektivierung des biologischen Individuums“ (Bourdieu 2001: 201) kommt einer Art sozial antrainiertem, instinktivem Verhaltenssystem recht nahe und reproduziert Durkheims Begriff des „Kollektivbewusstseins“, jene „falsche Lösung eines echten Problems“ (Bourdieu 2001: 201). Bourdieu erinnert dann auch an einen Satz von Leibniz, der der Meinung war, dass wir Menschen „‚in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind‘, und daß die, wie es so schön heißt, ‚letzten Werte‘ nichts weiter sind als erste und ursprüngliche Dispositionen des Körpers, Geschmacks- und Ekelempfindungen, in denen die vitalsten Interessen einer Gruppe ihren Niederschlag finden […]“ (zit. Nach Bourdieu 4 1991: 740). von Klassen und Lebensstilen (z.B. Beck 1986) formuliert wurden, keineswegs widerspruchslos. Ganz im Gegenteil: Er kritisiert die besagten Theorien ausgiebig und folgert aus den empirischen Befunden, dass diese Ansätze eher nicht zutreffen würden (Rössel 2005: 24–62 und 336ff.). Allerdings muss ich gestehen, dass ich Rössels Argumentationen nicht immer als konsistent empfinde. Nur ein Beispiel: Auf der einen Seite versucht er der empirischen Evidenz neuerer Theorien zu widersprechen. Er kritisiert die These von der „Verzeitlichung der Sozialstruktur“. Die empirischen Ergebnisse sprächen „für eine fortbestehende Prägung individueller Berufs- und Lebensverläufe durch die strukturellen Bedingungen von Klasse und Schicht und stehen einer zunehmenden Destandardisierung von Lebensläufen entgegen“ (Rössel 2005: 34). Viele Sachverhalte würden weiterhin für die bestimmende Rolle einer Klassenstruktur der Gesellschaft sprechen: „Offensichtlich können Konzepte wie Klassen und Schichten nicht ohne Verlust aufgegeben werden.“ (Ebd.: 82) Auch die Entkopplungsthese von Beck könne nicht bestätigt werden (ebd.: 79). Er behauptet dann allerdings affirmativ, völlig entgegengesetzt, dass historisch gesehen schon viel früher, nämlich im Kaiserreich, eine „Entkopplung von Klassenzugehörigkeit und Lebensstilen“ (ebd.: 77) zu beobachten war. Er sagt dann selbst, dass die Entkopplungsthese zu Recht darauf verwiesen hat, dass „viele Verhaltensweisen und Einstellungen nicht besonders stark mit der Klassenzugehörigkeit einer Person zusammenhängen“ (ebd.: 83) und geht von einer „Überschätzung der Bedeutung von sozialen Klassen in der Vergangenheit aus“ (ebd.: 336). Rössels (2005: 82) eigener Ansatz besteht dann in einem Konzept der „pluralen Sozialstrukturanalyse“, die mehrere Dimensionen der Sozialstrukturanalyse berücksichtigt, die freilich wieder in erster Linie durch die Begriffe Klasse, Milieu und Lebensstil repräsentiert werden.

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Nach wie vor also betreibt die Sozialstrukturanalyse vor allem die Suche nach Homologien und Zusammenhängen zwischen objektiven Lagen und kulturellen Lebensstilen, obgleich schon längst befürchtet wird, dass aus der skizzierten „Diagnose wachsender sozialer Kontingenzen, Ambivalenzen und Unschärfen“ (Berger 2001: 220), die sich aus den Entstandardisierungsprozessen ergeben hätten, eher ein „Mehr an Unsicherheiten, Unschärfen und Ambivalenzen“ (ebd.: 220) zu erwarten sei. Und nicht von ungefähr kann man an manchen soziologischen Instituten „eine Abkehr von den großen gesellschaftstheoretischen Entwürfen“ und „eine Unsicherheit in Bezug auf zentrale Begriffe und Kategorien, eine Abkehr von universalen Regelmäßigkeiten, eine Zuwendung zum historischen Detail“ (Mayer/Müller 1994: 265) feststellen.

6.1.2 Der Mythos von der Außenperspektive des Beobachters An dieser Stelle gilt es einen zweiten Mythos zu zerstören, der sich als Fetisch in der soziologischen Theoriebildung bis heute gehalten hat. Ich meine den Mythos von der „Außenperspektive eines Beobachters“ Bis heute gehen viele soziologische Theorien stillschweigend davon aus, dass entsprechende soziale Kontexte und symbolische Praktiken häufig nur von außen beschrieben werden können. Neben der Mikrowelt der Interaktionen unter Anwesenden müsse man mit einem weiteren Kontext rechnen, mit einer Gesellschaft eben, die nur im Rahmen einer theoretischen Beobachterperspektive zu erfassen sei. Im folgenden Punkt soll expliziert werden, dass in dem Festhalten an dieser Beobachterperspektive ein weiterer entscheidender Grund dafür zu sehen ist, dass das Phänomen Kontingenz in vielen Diskussionszusammenhängen keine Konturen angenommen hat. Die Theorie des Außenbeobachters verstellt sich den Weg zu einem reflektierten Verständnis von historischen Entwicklungen, indem sie Raum und Zeit verabsolutiert. Sie lässt sich selbst als Bestandteil einer diskursiven Strategie analysieren, die den kontingenten Entstehungszusammenhang von Erkenntnis zu marginalisieren versucht, indem sie sich selbst als eine außerhalb der Welt liegende Erkenntnisperspektive präsentiert und somit weder die Prozesse noch die Geschichte sozialer Sachverhalte in den Blick bekommt. Die im Kontext der Theorie der Außenperspektive des Beobachters zu diskutierenden Defizite lassen sich anhand von drei Merkmalsausprägungen und Spannungsfeldern aufzeigen: (1) durch eine Perspektive, die Zusammenhänge und Bedeutungen außerhalb von jedem Bezug auf Situationen generiert, (2) durch eine ahistorische Denkweise, die sich im 270

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Spannungsfeld von Struktur versus Prozess manifestiert, und (3) durch eine relativistische Beobachterperspektive, die sich als bloßer Realismus entpuppt.

6.1.2.1 Homo scholasticus Eine der zentralen Kompetenzen soziologischer Erfahrung ist ihre Fähigkeit, so scheint es, eine „vom gesellschaftlichen Ganzen ausgehende Betrachtung“ (Schimank 2005a: 43) anzufertigen. Sie hat einen „festen Platz, von dem aus sie Gesellschaft beschreibt. Dieser Standort befindet sich aber eine Etage über den einzelnen Teilsystemen“ (ebd.: 15). Und insbesondere wenn es sich um selbstgesteuerte Systeme handle, so nahm die Soziologie bisher an, müsse man eine Perspektive einnehmen, die sich auf abstrakte gesellschaftliche Teilsysteme und schließlich auf die Gesellschaft als Ganzes bezieht. Diese sogenannte „Vogelperspektive der Gesellschaftsanalyse“ (Renn 2006: 240), die häufig von systemtheoretischen Positionen besetzt wird, kann die gesellschaftliche Realität notwendigerweise nur noch im Sinne einer Außenbeschreibung feststellen. Sie nötigt dem Sozialwissenschaftler offenbar wie von selbst „die Außenperspektive eines Beobachters“ (Habermas 1988, Bd. 2: 227) auf. Zu fragen ist aber: Welchen Standpunkt besetzt eigentlich ein theoretischer Beobachter, wenn er eine Außenperspektive einnimmt? Doch wohl nur die, dass er nicht das Innere eines Systems, sondern nur dessen Außen beschreiben kann. Er ist ja nicht „in“ einem konkreten System. Zu fragen ist dann aber: Was sieht ein solcher Beobachter überhaupt? Wie kompetent manifestiert sich ein Kommentar, der aus einer reinen Außenperspektive herrührt, wenn wir doch – wie Luhmann uns ja belehrt hat – jeden kontextunabhängigen Standpunkt negieren müssen, „von dem aus man die Gesellschaft […] von außen beobachten könnte“ (Luhmann 1992b: 133)?3 „Wer immer beobachtet, nimmt daran teil – oder er beobachtet nicht.“ (Ebd.: 86) Die Antwort müsste eigentlich lauten: Der Beobachter sieht offensichtlich nur wenig. Denn jemandem, der nur von außen beobachten kann, fehlt der Bezug zur objektiven Welt. Wie könnte er auch z.B. von 3

Das Problem der „Außenposition“ des Soziologen taucht natürlich an vielen anderen Stellen auf. Hier ergeben sich interessante Parallelen zur neueren Individualisierungsforschung. Wie Peter A. Berger (1996: 15) reflektiert, steht eine verzeitlichte Sozialstrukturforschung „vor der anspruchsvollen – und noch keineswegs gelösten – Aufgabe, soziale Strukturen nicht nur ‚von außen‘, vom vertrauten Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters zu beschreiben. Vielmehr gilt es, soziale Strukturen gleichzeitig ‚von innen‘, also aus dem Blickwinkel der in ihnen lebenden Männer und Frauen, zu rekonstruieren“.

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Bielefeld aus – etwa im Bereich des Wirtschaftssystems – die Gesamtheit der ökonomischen Beziehungen beobachten, die durch Millionen von Tauschbeziehungen zwischen Millionen von Wirtschaftsakteuren definiert werden? Selbstverständlich gibt es statistische Analysen, empirisch-quantitative Datenquellen bis hin zu Ländervergleichen. Auf statistischem Wege lassen sich signifikante Wechselbeziehungen anfertigen, bei denen Trend- und Korrelationsaussagen herauskommen können. Aber selbst diese besitzen den Status einer Komplexitätsstufe, die wohl nicht dazu Anlass geben könnte, zu behaupten, man würde in das Innere von Systemen sehen. Dennoch erscheint es so, dass die Soziologie nach wie vor mit der Rede über Teilsysteme der Gesellschaft oder gar die „Gesellschaft“ die Fiktion einer Anschauung der gesamten Sphäre erzeugt, in welcher von den tatsächlichen Restriktionen des Wissens des einzelnen Beobachters abstrahiert wird. In der Regel sind aber Systeme, die von einer Außenperspektive beobachtbar scheinen, komplex. Komplex ist ein System dann, wenn ein Beobachter es gar nicht mehr vollständig beobachten kann: „Ein Beobachter wird ein System ‚als sehr umfangreich‘ bezeichnen, wenn es in gewisser Weise durch seine Kompliziertheit und Komplexität über ihn triumphiert.“ (Röpke 1977: 21) Vergessen wird also häufig, dass auch die Wissenschaft nicht über den Dingen steht: „Sie kann nicht für sich selbst eine Ausnahmestellung beanspruchen und sich selbst in der Rolle eines externen Beobachters sehen […].“ (Luhmann 1992b: 667) Was für viele Soziologen heute immer noch selbstverständlich erscheint, enttarnte Simmel als den unbegründeten Versuch, „hinter den Flüchtigkeiten der Erscheinung, dem Auf und Nieder der Bewegungen das Unverrückbare und Verläßliche zu finden, und uns aus dem Aufeinander-Angewiesensein zu dem sich selbst Genügenden, auf sich selbst Gegründeten zu führen“ (Simmel 1989a: 94). Simmel spezifizierte derartige Motive als letzte Reste abendländischer Metaphysik. Sie galten ihm als Anhaltspunkte, dass „über die bloßen Beziehungen der Dinge, über ihre Zufälligkeit und Zeitlichkeit hinaus […], ein Absolutes gesucht“ werde (ebd.: 94). Für Simmel (1989a: 210) war Gesellschaft nur der Name für die „Zusammenfassung oder der allgemeine Name für die Gesamtheit dieser speziellen Wechselbeziehungen“. Während Gesellschaft im Allgemeinen für die Soziologie immer etwas Abstraktes ist, war Simmel (1992: 33) gerade an den Verhältnissen interessiert, die sich im Allgemeinen „noch nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verfestigt“ haben, sondern

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„die Gesellschaft gleichsam im status nascens zeigen – natürlich nicht in ihrem überhaupt ersten, historisch unergründbaren Anfang, sondern in demjenigen, der jeden Tag und zu jeder Stunde geschieht; fortwährend knüpft sich und löst und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zur eigentlichen Organisation aufsteigt“.

Für Simmel stand fest: Erst auf der Ebene der Prozesse werde die Soziologie fündig und der Genese sozialer Sachverhalte ansichtig. Aufschlussreich an Simmel ist, dass er relativ früh erkennt, dass der Begriff „Gesellschaft“ nur ein Substantiv für eine Art von Panorama darstellt, das es dem Soziologen erleichtert, sich soziale Sachverhalte als arrangierte Gesamtheit zu denken. Daher kommt jener Drang, für den Gesellschaftsbegriff Äquivalente zu suchen, die ihn als ein „Sozialsystem höchster Ordnung“ (Stichweh 2000: 11) kennzeichnen. Die singulären Entitäten müssen für die Soziologie wie die Sterne am Himmelsgewölbe in einer Gesamtkonstellation aufgehängt und verankert werden. Bis zu Luhmann bleibt die Gesellschaft „die Einheitsadresse der Teilsysteme“ (Schwinn 2001: 368).4 Der Begriff der Gesellschaft war für Simmel hingegen völlig ungeeignet, ein solches Unternehmen anzugehen. Tenbruck (1958: 604) konstatiert bei Simmel die Sorge, die Gesellschaft könnte im Rekurs auf alte metaphysische Traditionen substanzialisiert werden. Simmel machte daher deutlich, dass Gesellschaft „nicht ein substantielles Etwas, sondern eine Fülle von in sich verhakten Vergesellschaftungen“ sei. Helmut Schelsky forderte, den Gesellschaftsbegriff vollständig aufzugeben. Die Gesellschaft ist für Schelsky (1980: 215f.) „nur noch ein metaphorischer Begriff, darstellerisch unentbehrlich, aber kein Gegenstand der exakten Theorie; er wird aus ihr verschwinden […]“. Man könnte in diesem Zusammenhang den Slogan von Margaret Thatcher zitieren, der da lautet: „There is no such a thing as a society.“ 5 Die Wissenschaft besitzt ihre selbst definierte Programmatik darin, zu jedem Zeitpunkt den empirischen Beweis für ihre Hypothesen anzutreten. Aber eine Gesellschaft – und noch mehr eine „Weltgesellschaft“ 4 5

Luhmann (1997: 1141) sagt: „Auch wenn es eine Mehrzahl von Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in der Gesellschaft gibt, gibt es deshalb noch nicht mehrere Gesellschaften […].“ So auch Schwinn (2001: 443), der auf die Frage, was man, wenn man Luhmanns Gesellschaftsbegriff nicht folge, von einem solchen denn sonst erwarte, antwortet: „Nichts! Es gibt gute Gründe, warum der Gesellschaftsbegriff als soziologisches Analysekonzept nichts taugt, weder für die Aufklärung der historisch-genetischen Fragen noch für das Problem der Integration.“

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– im Sinne einer Totalität oder Ganzheit zu beobachten ist ebenso unmöglich wie das Weltganze zu beobachten, welches, wie Kant (1974: B 547) wusste, „jederzeit nur im Begriffe, keineswegs aber (als Ganzes) in der Anschauung“ existiert. Es handelt sich dabei nur um eine regulative Idee. Wir haben es hier mit überfliegenden Abschlussvorstellungen zu tun, die aber in Wirklichkeit „nichts von der Erfahrung Entlehntes“ (ebd.: 561) enthalten (vgl. Albert 2005: 236). „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Kant 1974: B 76). Im wissenschaftstheoretischen Kontext ist eine solche Perspektive hingegen sinnlos. In unserer eigenen Erfahrung finden wir Gesellschaft nicht vor. In diesem Sinne gilt Poppers Kriterium der Wissenschaftlichkeit nach wie vor: „Insofern sich die Sätze einer Wissenschaft auf die Wirklichkeit beziehen, müssen sie falsifizierbar sein, und insofern sie nicht falsifizierbar sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ (Popper 61976: 256) Hypothesen dürfen in die Sphäre der Wissenschaft aufgenommen werden, wenn sie an empirischen Beobachtungsaussagen scheitern können: „Wir können nicht sagen, was und wie die Gesellschaft wirklich ist […].“ (Renn 2006: 504) Warum dann aber permanent reden und nicht lieber schweigen? Man kann nun leicht sehen, dass die „Außenperspektive eines Beobachters“ eine Perspektive ohne direkten empirischen Bezug ist, da sich Begriffe mit empirischem Bezug auf unmittelbar beobachtbare Sachverhalte der Wirklichkeit beziehen müssen. Sie erscheint daher ausschließlich auf den Bildschirmen derjenigen Soziologen, die sich auf das Programm einer Vogelperspektive geeinigt haben. Wir haben es hier mit dem „homo scholasticus“ (Bourdieu 1993b) zu tun. Bourdieu bezog den Begriff „scholastische Sehweise“ auf eine soziologische Perspektive, die Kategorien alle möglichen Bedeutungen außerhalb von jedem Bezug auf Situationen zuspricht. Zu welchen Konsequenzen eine solche Theorieperspektive führen kann, hat Paul Nolte an Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufgezeigt. Ich möchte hier nicht auf die weitverzweigte Diskussion um Habermas’ Ansatz eingehen. Im Vordergrund steht hier vor allem die Frage, welcher wissenschaftlich-methodischer Status Habermas’ Ansatz zugesprochen werden kann. Nolte (1986: 543ff.) weist auf eine Verquickung von soziologischer Theorie und empirischer Entwicklungsgeschichte bei Habermas hin. Er macht auf schwerwiegende Probleme von Habermas’ Ansatz nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern für die soziologische Theorie aufmerksam. Der Mangel an empirischer Konkretion führe zu einer frappierenden Dichotomie von theoretisch deduzierter „Entwicklungslogik“ und historischer „Entwick274

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lungsdynamik“ (ebd.: 535). „Das ‚eigentliche Theorieangebot‘ (Luhmann) der Soziologie an die Geschichtswissenschaft“, sagt Nolte (1986: 536), könne eine solche Evolutionstheorie „erst recht nicht sein – und zwar nicht nur wegen ihres schon von Habermas bezeichneten methodologischen Status’, sondern auch wegen beträchtlicher Lücken, Unklarheiten und Widersprüche in der Theoriekonstruktion selbst“. Habermas verzichte auf die Frage nach dem „Warum“ und auf eine klare Antwort, mithin auf die Ursachenforschung, auf die genetische, kausale Erklärung. Ungeklärt sei vor allem der epistemologische Status eines solchen Theorieansatzes. „Eine soziologische Theorie kann nicht, auch wenn dies attraktiv wäre, ‚automatisch‘ die Entwicklung der Moderne miterklären.“ (Ebd.: 547) Nolte (1986: 546f.) ermahnt die soziologische Theorie zu mehr Orientierung an historischen Entwicklungen und geschichtswissenschaftlichen Resultaten: „Das kulturalistische Übergewicht vieler Entwicklungstheorien muß überwunden werden. […] An die Soziologen muß die Aufforderung ergehen, sich intensiver der Geschichte und der Geschichtswissenschaft zuzuwenden.“ (Ebd.: 546) Es ist wohl kein Zufall, dass Noltes historische Erwägungen mit den bekannten handlungstheoretischen Einwänden gegen Habermas’ „Außenperspektive des Beobachters“ korrelieren, die Joas (21988) unter dem Stichwort der „unglücklichen Ehe“ von System- und Handlungstheorie gefasst hat. Es ist hier nicht nötig, ausführlich auf die Debatte zu sprechen zu kommen. Wichtig ist für unseren Zusammenhang lediglich der Grundgedanke. Das Argument lautet: Wenn man die Integration einer Gesellschaft ausschließlich als Sozialintegration versteht, entscheidet man sich gemäß Habermas für eine Begriffsstrategie, die Gesellschaften als Lebenswelt konstruiert. Hierbei werden gesellschaftliche Prozesse aus der „Binnenperspektive“ (Habermas 1988, Bd. 2: 226) von Angehörigen sozialer Gruppen betrachtet. Der Nachteil dieser Perspektive liegt darin begründet, dass sie den Anschein erweckt, als ob soziale Interaktion allein dem voluntaristischen Belieben der Individuen entspringen würde. Tatsächlich jedoch sind die gesellschaftlichen Vorgänge und Ereignisse der gesellschaftlichen Wirklichkeit keineswegs immer von den Aktoren auch angestrebt und beabsichtigt; vielfach werden die einzelnen Handlungen der Subjekte „auch über funktionale Zusammenhänge, die von ihnen nicht intendiert sind und innerhalb des Horizonts der Alltagspraxis meistens auch nicht wahrgenommen werden“ (ebd., Bd. 2: 226), koordiniert. Gesellschaftliche Integration ist aus systemtheoretischer Sicht also weniger das Ergebnis rationaler Entscheidungen und Produkt der be275

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wussten Wahl von Handlungssubjekten, sondern das Ergebnis der von systemischen Mechanismen bewirkten funktionalen Vernetzung von Handlungsfolgen. Ich will mich hier gar nicht länger mit der Plausibilität dieser These im Rahmen der Organisationsforschung beschäftigen (vgl. z.B. kritisch McCarthy 21988), sondern auf Habermas’ bekannte Konklusion verweisen. Um diesem Phänomen gerecht zu werden, hat Habermas vorgeschlagen, wie oben gezeigt, die Innenperspektive der Angehörigen einer Lebenswelt durch die „Außenperspektive eines Beobachters“ (Habermas 1988, Bd. 2: 227) zu ergänzen. Dann entscheidet man sich für eine Begriffsstrategie, die sich „die Gesellschaft nach dem Modell eines selbstgesteuerten Systems vorstellt“ (ebd.: 227). Das aber führt uns geradezu zu dem Kernproblem, das es in diesem Punkt zu diskutieren gilt. Im methodischen Wechsel von der Teilnehmer- zur Außenperspektive verändert sich die „Qualität des untersuchten Gegenstands“, wie Schwinn (2001: 139) dies ausdrückt. Es ist zum einen offensichtlich, dass, gesetzt den Fall, die Handlungsfolgen systemisch selbstregulativer Prozesse von Akteuren wären nicht mehr erfassbar, es keinerlei Grund zu dem Schluss geben könnte, warum diese aus der externen Beobachterperspektive begreifbar sein sollten. Zum anderen: Der Hinweis, dass Handlungsfolgen aus der Teilnehmerperspektive nicht mehr zu rekonstruieren seien, bedeute eben gerade nicht, Handlungsfolgen gehorchten einer Art selbstregulierten Systemgeschehens. „Wenn es so etwas wie Unausweichlichkeit in der Geschichte gibt“, sagt Danto (1980: 465), „so ist sie nicht so sehr sozialen Prozessen zuzuschreiben, die sich aus eigener Kraft in Gang halten und den Eigengesetzlichkeiten ihrer Natur gemäß ablaufen, sondern eher dem Umstand, daß es zu dem Zeitpunkt, zu dem klar wird, was wir getan haben, zu spät ist, noch etwas daran zu ändern.“ Schwinn (2001: 139f.) bringt es auf den Punkt: „Die letzte, die Qualität der sozialen Phänomene betreffende Unterstellung ist mit dem Perspektivenwechsel bloß erschlichen, aber nicht aufgezeigt.“ Nur wenn Habermas „das Systemische am Gegenstand selbst aufzeigen kann, wird er dem Vorwurf entgehen, es durch den methodischen Perspektivenwechsel bloß erschlichen zu haben“ (Schwinn 2001: 140). Aber genau diese auf einer empirischen Basis gründende Perspektive wählt Habermas nicht, sodass Joas’ (1992a: 325) Schlussfolgerung plausibel erscheint, dass auch bei Habermas der Weg beschritten wurde, „analytisch gewonnene Systeme essentialistisch zu deuten“. Und prompt zeigt sich erneut das basale Anliegen des „homo scholasticus“, nämlich zeitübergreifende Sätze zu formulieren, die sich auf Sachverhalte außerhalb konkreter Raum- und Zeitpunkte beziehen. 276

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Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Außenperspektive des Beobachters resultiert aus einer Interpretation von Erfahrungswerten, die der Philosoph John Dewey (2001: 27f.) die „Zuschauertheorie der Erkenntnis“ genannt hatte. Diese Theorie, so kommentiert Dewey, resultiert aus dem Vorhandensein einer Gruppe von Müßiggängern, die im Elfenbeinturm über philosophische und soziologische Themen reflektieren und schreiben. Sie stehen im Gegensatz zu einer Gruppe der Unternehmer und Manager, die, weil mitten im Leben stehend, gar keine Zeit zur bloßen Betrachtung haben. Damit wird aber jeder theoretische Ansatz notwendigerweise abstrakt und kritikresistent. Die Möglichkeit der Außenperspektive des Beobachters erscheint im Wesentlichen als ein konzeptionelles Problem.

6.1.2.2 Der defizitäre Prozessbezug Natürlich liefern die fachübergreifenden Bemühungen, eine prozessorientierte Argumentationstheorie auf die Beine zu stellen, die ersten Hinweise, so scheint es, dass der Kontingenzbegriff in die Epistemologie Einzug gehalten hat. Zumindest ist festzuhalten, dass in einem Überblick über die thematisch-inhaltliche Konstitution des Begriffs Kontingenz das Themenfeld Struktur versus Prozesse aufzuführen wäre. Und wie wir noch genauer sehen werden, verbindet ein kontingenzsensibler Ansatz mit dieser Konzeption die Vermutung, dass die Hinwendung des Untersuchungsinteresses auf den „ongoing process“ und die Umstände des Entstehens von sozialen Entitäten wesentlicher mehr über ein Phänomen aussagt, als wenn man es statisch voraussetzen könnte. Diese prozesstheoretische Grundlegung des Kontingenzbegriffs bedarf später einer genaueren Explikation. Das Problem, das ich an dieser Stelle zunächst angehen möchte, ist zu zeigen, dass die kontingente Prozessperspektive in einigen Fällen eine reine Suggestion ist. In vielen Fällen, so ist zu beobachten, handelt es sich beim Gebrauch des Begriffspaares Kontingenz und Prozesse um eine Konzession an das, was man für den aktuellen Trend hält. Die Frage, woher eine solche Beurteilung rührt, lässt sich in mehrfacher Hinsicht beantworten. Nun liegt meine Vermutung darin, dass ein theoretisches Problemfeld genau aus der von mir skizzierten Haltung des „homo scholasticus“ resultiert. Ich möchte nun die in Kapitel 5 angerissenen Überlegungen zum Thema Kontingenz im Rahmen der Systemtheorie Luhmanns noch einmal im Lichte der Hypothese aufnehmen, die ich unter dem Stichwort „Reduktion der Kontingenz“ zunächst an Luhmanns Organisationstheorie entwickelt habe und die ich nun präziser auf den Prozessbegriff im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie beziehen kann. 277

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Dass die Prozessorientierung auch in der Systemtheorie zu einem essenziellen Phänomen avanciert, lässt sich an Luhmanns Theorieangebot leicht aufzeigen. Armin Nassehi (2006) und Jean Clam (2004) haben Luhmanns Systemtheorie den Status eines prozessbezogenen Ansatzes zugesprochen. Die Idee der Kontingenz bei Luhmann emergiere aus der Ablösung des ontologischen Paradigmas: „Sobald soziale Kontingenz beobachtbar wird, ist der Weg für eine postontologische Theorie der Gesellschaft frei.“ (Clam 2004: 75) Luhmanns Soziologie, so Nassehi (2006: 233ff.), zeige neben anderen praxisorientierten Ansätzen, die er anhand der „praxeologischen Wende“ in der Soziologie diskutiert, die „praktische, ereignisbasierte Herstellung und den Vollzug von Ordnung“ auf (Nassehi 2006: 386). Luhmann wäre das gegenwartsbezogene Paradigma für eine Perspektive, durch die sich „die Praxis als Praxis entfalten kann“ (ebd.: 386). Hier beginne die Soziologie bei der Beobachtung von sozialen Prozessen. Das sei deswegen so, bekundet Nassehi (1993: 240), weil der Bielefelder Soziologe nicht mehr „von einer identischen Substanz von Systemen“ ausgehe, sondern „von Identität auf Identitätsbildung und von zeitfesten Elementen auf temporäre Ereignisse“ umstelle. Von nun an sei „die Ordnung der Gesellschaft selbst als kontingent darzustellen“ (Nassehi 2002: 451). Allen dankenswerten Differenzierungen durch diese Autoren zum Trotz gilt, dass diese Art von Prozesssoziologie bezüglich des Phänomens Kontingenz nicht anders als ambivalent und alles andere als eindeutig ausfällt. Auch hier sind präzises Zusehen und Sorgfalt anzuraten. Das von Nassehi und Clam entworfene „prozessorientierte“ Bild von Luhmann erweist sich in mehrfacher Hinsicht als irreführend. Es kann an dieser Stelle nicht um eine Untersuchung von Luhmanns Theorie in Form einer Darstellung und einer kritischen Würdigung seines Gesamtwerkes gehen. Aus dem Konvolut an Themenspektren möchte ich nur eine Figur ansprechen, und zwar geht es mir hier nur um die kritische Beobachtung des von Nassehi und Clam anvisierten Versuchs, Luhmann als Prozesstheoretiker zu etablieren. Bei Luhmanns Theorieoption kann man stattdessen schlicht auch das Gegenteil behaupten. Die drei wichtigsten Vorwürfe lassen sich wie folgt charakterisieren: (1) Reduktion von Kontingenz als Leitthema: Wie geht Luhmann denn tatsächlich mit dem Thema Prozesse/Kontingenz um? In Ergänzung zu meinen Überlegungen zu Luhmann in Kapitel 5 über Organisationen lässt sich sagen: Es ist unbestreitbar, dass der Begriff Kontingenz bei Luhmann schon in seinen früheren Werken eine bedeutende Rolle gespielt hat. Für die moderne Gesellschaft macht Luhmann – wie gesagt – ein Forschreiten im Bewusstsein der Kontingenz geltend. Diese Beobachtung und andere methodische Erwägungen haben Luhmann (21988: 278

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165) wohl auch zu dem Schluss geführt, die Prozesshaftigkeit sozialer Ordnung konzeptionell aufzuarbeiten. Luhmanns (21988: 165) Bezugsrahmen ist, wie er selbst sagt, die „Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung“. Er möchte nicht in den Windschatten strukturalistischer Ansätze geraten, deren Verfechter stets bereits objektive Gesetze auffinden, die jeder menschlichen Tätigkeit vorausgehen. Nicht von ungefähr zieht er für seinen Strukturbegriff die Ereignis- bzw. Geschehensphilosophie Alfred North Whiteheads heran, bei der ja bekanntlich die Kategorie des Prozesses, das kreative Fortschreiten ins Neue, im Zentrum steht. Systeme sind beständig vom Zerfall bedroht. Strukturen scheinen nicht länger stabil, sondern sind verzeitlichte singuläre Ereignisse. Nun fällt allerdings auf, dass der antiontologischen und prozesssoziologischen Stoßrichtung und ihrer Rezeption bei Luhmann das merkwürdige Schicksal eines umgangenen und aufgeschobenen Arguments widerfahren ist. Was ist damit gemeint? Meine Annahme verweist auf die Tatsache, dass sich nur an wenigen Stellen, etwa wenn es um „doppelte Kontingenz“ geht, im systemtheoretischen Programm Nahtstellen finden, an denen sich überhaupt festmachen ließe, wo denn Prozesse in Gang gesetzt werden (vgl. Luhmann 21988: 148ff.). Besonders deutlich wird diese Rückkehr zu Strukturphänomenen an der Tatsache, dass Luhmann bereits nach kürzester Zeit von der Ereignisebene mit ihren Kontingenzen und kontextspezifischen internen und externen Größen auf die Strukturebene überwechselt. Moderne Gesellschaften differenzieren, nach Luhmann, Funktionssysteme aus, in denen auf der Basis von teilsystemischen Codes bestimmte Programme ablaufen. Jedem Teilsystem wird ein binärer Code unterstellt, der mit dem Schema einer Leitdifferenz die weitere Programmierung des Systems selbstreferenziell konstituiert. Gesellschaftliche Teilsysteme werden dann als operativ geschlossene Beobachtungseinheiten interpretiert, wenn sie je eigene Sprachcodes ausbilden und sich gegen andere Systeme abschließen. Diese Codes und alle anderen Selektionsmechanismen sind natürlich auch bei Luhmann kontingent. In modernen Gesellschaften werden „alle Strukturen des Gesellschaftssystems in höherem Maße unter-determiniert und kontingent“ (Luhmann 5 2005: 202). Im Gegensatz zu Nassehi und Clam ist meine Vermutung allerdings, dass bei Luhmann von der Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung und der Vielzahl von Beschreibungsmöglichkeiten über einen „Kurzschluss“ unmittelbar zu sozialer Ordnung übergegangen werde. Daniel Barben (1996: 71) hat Luhmanns Ansatz deswegen mit Sven Papcke als „Rechtfertigungslehre von Ordnung sans phrase“ (Papcke 1990: 89) gescholten. Soziale Ordnung, dies macht Barben in seiner kritischen Sichtung 279

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des Theorieansatzes Luhmanns transparent, sei das zu Erklärende und auf Zwischenelemente, die zuerst die Genese der sozialen Tatsache aufzeigten, werde generell verzichtet. Die Folge davon ist, dass soziale Systeme dort theoretisch vorausgesetzt werden (vgl. Barben 1996: 71). Und in der Tat: Wenn man die Konzeption Luhmanns Revue passieren lässt, kann Barben mit Zustimmung rechnen. Überall geht es bei Luhmann um Territorien relativer Nichtzufälligkeit, um „Einschränkung der Kontingenz“ (Luhmann 1997: 205), um „erwartungsleitende Wahrscheinlichkeiten“ (ebd.: 190), um „Systemzustände“, um „Konditionierung“ (ebd.: 203), um Codes als „Totalkonstruktionen“, um alles das also, was nicht zum Rest der „pluralistic ignorance“ (Luhmann 1997: 204) gerechnet wird. Luhmann (2000a: 119) weist – etwa auf der Ebene der Gesellschaft – in all seinen Teilsystemen immer wieder nach, „wie das Funktionssystem selbst seinen ,godterm‘ setzt, um offene Kontingenz mit Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten zu garnieren“. Auf jeden Fall finden wir in Luhmanns Skizze der Teilsysteme der modernen Gesellschaft überall Mechanismen, die darauf abzielen, andere Möglichkeiten und Alternativen, die auch gegeben sind, auszublenden. Die Prozessforschung wird systematisch ausgeblendet. (2) Mangelnder Realitätsbezug: Wie aus der Beschäftigung mit Luhmanns Organisationstheorie deutlich geworden sein dürfte (vgl. Punkt 5.2.3), werden alle materialen Gehalte von Systemen ferngehalten. Wie schon im Kontext der Organisationssoziologie Will Martens (1997), so kritisiert Barben auf der Ebene der Teilsysteme den Formalismus von Luhmann. Die Reduktion aller spezifischen Inhalte auf bloße Formen der Differenzierung führt zu einer Konstruktion von Abstraktheiten, die so weit von der Praxis entfernt sind, dass man kaum noch Informationen über die jeweiligen Systeme erhält und Pauschalurteile eher intransparent wirken: „Um Forschungen zu umgehen, werden Codes durchgängig auf binäre Schematisierung festgelegt; das Fehlen bzw. Nichtberücksichtigen konkreten Anschauungsmaterials erlaubt, ein einfaches und material festgelegtes wie festlegendes Prinzip zu wählen.“ (Barben 1996: 98) Bei genauerem Hinsehen lässt sich erkennen, dass Luhmann dem Prozessproblem entgeht, weil er die inneren Mechanismen unthematisiert lässt. Dass sich die Systemtheorie den Realgehalt von Systemen aufspart, zeigt sich auch darin, dass wir eigentlich niemals erfahren, was denn nun in diesen Systemen geschieht (geschweige denn, wer darin handelt und die Prozesse darin betreibt). Wie werden denn die jeweiligen Codes konkretisiert? Luhmanns Antwort ist: durch Programme. Programme seien „vorgegebene Bedingungen für die Richtigkeit der Selektion von Operationen. Sie ermöglichen einerseits eine gewisse ‚Kon280

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kretisierung‘ (oder ‚Operationalisierung‘) der Anforderungen, die an ein Funktionssystem gestellt werden“ (Luhmann 1986: 91). Wie sehen nun diese Programme aus? Die Frage muss unbeantwortet bleiben, denn Luhmann hat für keines seiner Systeme, für kein einziges Medium den Inhalt des für die Kommunikation notwendigen Programmes ausgearbeitet. Wenn wir etwas über Programme erfahren, dann nur in knappen Skizzen. Daher rührt auch jener hohe Grad an Allgemeinheit, den seine Systemtheorie kennzeichnet. In der Regel erfahren wir eine ganze Menge über technische Details, aber selten etwas über empirischkonkrete Zusammenhänge. Reinhard Bauernfeind (1995: 141) hat darauf hingewiesen, dass durch dieses entscheidende Theoriedefizit, wo es um soziokulturell spezifische (Programm-)Unterschiede und die damit einhergehenden Entscheidungen über die Zuordnung bestimmter Werte geht, der Schlussstein fehle, der die gesamte Konstruktion tragen könne. Denn was in einer Gesellschaft als rechtens bzw. unrechtens oder wahr bzw. unwahr definiert wird, muss ja gerade in einer anderen Kultur/ Gesellschaft nicht gelten, obwohl auch sie mit der Differenz recht– unrecht bzw. wahr–unwahr operiert (Bauernfeind 1995: 141). Es ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend, dass auch das Zusammenspiel und die Interdependenzen der Teilsysteme bei Luhmann nicht berücksichtigt werden. Obgleich etwa das Funktionieren der Teilsysteme der modernen Gesellschaft auf weitreichende Voraussetzungen (z.B. Vernetzungen in Form struktureller Kopplungen) angewiesen ist, geht der Systemtheoretiker von einer bereits hergestellten stabilisierten Harmonie aus. Luhmann (1997: 446) glaubt: „Über strukturelle Kopplung ist eine für die Fortsetzung der Autopoiesis ausreichende Anpassung immer schon garantiert.“ Wo bleiben hier aber die von Nassehi und Clam konstatierten Prozesse? In der Autopoiesis des Wirtschaftssystems z.B. kommt es, nach Luhmann, nur auf Zahlungen an: „Nichts sonst gehört zur Wirtschaft […] Zahlung folgt auf Zahlung folgt auf Zahlung, eine Abfolge von artgleichen Operationen, in die sich kein artfremdes Ereignis einschleichen kann […].“ (Hellmann 2003: 213) Konstitutiv für Luhmanns zahlungstheoretische Ausrichtung des Wirtschaftssystems ist somit die Abkopplung von der Produktionskette. Würde man Luhmanns Theorie im Sinne einer Analogie in die Automobilindustrie übertragen – darauf habe ich bereits im Kontext des Kapitels über Organisationen hingewiesen –, so würde man mit der eigenartigen Vorstellung konfrontiert werden, dass Automobile als Endprodukte in Form von Zahlungskommunikationen existieren, ohne vorher in komplexen Prozessen produziert worden zu sein. Die Banken würden Geldkreisläufe steuern, ohne auf die chronologisch vorgeschobenen Verläufe der Automobilproduktion rekurrieren zu 281

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müssen. Aber ohne Elektronikentwicklung, Einspritztechnik, Produktionssysteme, Qualität, Marketing, Vertrieb, Logistik und Kunde etc. kommen keine Zahlungen zustande. Luhmann scheint durch diese Konsequenz nicht im Mindesten beunruhigt. Die Geldpolitik, die Finanzabteilungen und die Banken erscheinen bei ihm als Magier, deren komplexe Abhängigkeiten von anderen Subsystemen nicht reflektiert werden, weil ihre realwirtschaftlichen Restriktionen außer Acht gelassen werden. Aber bereits eine Preisbildung kann überhaupt nur in Beziehung zu den Produktionsbedingungen und von Angebot und Nachfrage auf dem Markt festgelegt werden. Die Fokussierung auf die Zirkulation von Zahlungen ließe sich, wie Barben skizziert, leicht aufbrechen. In der „Zirkulation wird verteilt, Verteilung setzt Produktion voraus, und diese die Verteilung auf differentielle Positionen, die gesellschaftliche Produktion ins Werk zu setzen – und an der Verteilung in der Zirkulation teilzuhaben“ (Barben 1996: 142). Warum Differenzierung und Vernetzung nicht der Beschreibung wert sind, bleibt das Geheimnis der Systemtheorie. Luhmann scheint dann selbst nicht so ganz an seine Thesen zu glauben. Er erweitert seine Zentralkategorie dadurch, dass nicht nur die Preise, sondern ebenfalls „die Funktionseinteilung Produktion/Verteilung/ Konsum […] die Orientierung des Wirtschaftssystems“ beherrscht (Luhmann 21996: 73). Aber wie soll die Funktionseinteilung Produktion/ Verteilung/Konsum die Orientierung des Wirtschaftssystems beherrschen, wenn das Wirtschaftssystem aus nichts anderem besteht als aus Zahlungen und sich nur an der Sprache der Preise orientiert? Am Ende werden in dieser Soziologie „nach dem Prinzip der Dame ohne Unterleib“ (Mayntz 1987: 102) alle Prozesse und „Laborsituationen […], in denen pralles Leben herrscht“ (Nassehi 2006: 447), vernachlässigt und gerade nicht kontingent behandelt.6 Bei Lichte besehen geht es in der 6

Gerade an diesen Beispielen zeigt sich, dass Luhmann an der Praxis und an den Prozessen nicht interessiert ist. Ironischerweise spielt Nassehi, der vorhin noch von der Praxisorientierung Luhmanns und dessen Gemeinsamkeiten mit den Autoren des „practical turn“ gesprochen hat, Luhmanns Antipragmatismus gegen die Praxissoziologie aus. So etwa am Beispiel der praxisorientierten Wissenschaftssoziologie: „Nicht die Routinen der Forschung und ihre pralle Praxis machen den Anschlusszusammenhang des Wissenschaftssystems aus, sondern eine bestimmte Form der Präsentation von Forschung in Publikationen, auf die allein sich weitere Forschung bezieht.“ (Nassehi 2006: 446) Zunächst handelt es sich hierbei um eine bloße asymmetrische Setzung von Nassehi, die überhaupt nicht begründet wird. Es wird ein (praxisfernes) Modell als Leitfaden genommen, dem gerade in der empirischen Wissenschaftsforschung widersprochen wird (vgl. nur Grundmann 1994). Was zudem Karin Knorr-Cetina oder auch Latour zeigen, auf die sich Nassehi bezieht, ist die Tatsache, dass Zitati-

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Systemtheorie Luhmann niemals um die „warmen“, unstabilen, immer nur um die „kalten“ und bereits stabilen Sachverhalte. Die Systemtheorie beginnt stets da, wo alles schon zu Ende ist. Wiederholbarkeit und nicht der Prozess bildet das temporale Grundmuster in Luhmanns Soziologie. (3) Eine Soziologie ohne Geschichte: Nassehi hebt, wie gesagt, die Bedeutung der operativen Genese von Strukturen (Nassehi 2006: 248) bei Luhmann hervor, denn Luhmann betone den „dynamischen, den operativen Aspekt der Emergenz sozialer Ordnung“ (ebd.: 250). Damit wäre zu erwarten, dass Luhmann auch der Produktion von historischer Wirklichkeit enorme Aufmerksamkeit schenkt. Luhmanns Soziologie ist jedoch im Wesentlichen ahistorisch. Die Betonung seiner Analyse liegt nicht darauf, wie etwas wird, sondern was etwas ist. Dieses Phänomen trifft insbesondere auf Luhmanns theoretisches Kernstück und seine Diagnose der modernen Gesellschaft, nämlich die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, zu. Die funktionale Differenzierung – und hier haben wird es mit der Außenperspektive des Beobachters par excellence zu tun – bietet eine universelle grundlagentheoretische Orientierung, die dem ganzen gesellschaftsstrukturellen, handlungspraktischen und zukünftigen Horizont der Moderne einen eindeutigen Stempel aufdrückt. Haben wir es in diesem Fall mit einem (historischen) Prozessmodell zu tun? Diese Frage muss meinem Eindruck nach verneint werden. Denn ein solches Konzept schließt sich gerade gegen geschichtliche und gegen empirische Forschung ab. Unschärfen und historische Fakten sind in der ahistorischen, unerzählten Welt der Außenperspektive eines Beobachters ganz ungebetene Gäste, denen rasch die Tür gewiesen wird. Lesen wir dazu Luhmann:

onsnetzwerke in der Forschung gerade nicht von ihren Experimentalsystemen und dem Forschungsprozess abgekoppelt werden können. Sie sind die in die Form von Texten gegossenen Abbreviaturen des weitaus komplexeren Forschungsprozesses. Knorr-Cetinas und Latours These lautet im Gegensatz zu Luhmanns Ansatz, dass in operativen praxisorientierten Übersetzungsnetzwerken materielle Komponenten und soziale Entitäten „aneinanderkleben“, sodass die Ausblendung von Ersteren nur mit weitreichenden theoretischen Reduktionismen erkauft wird. Genausowenig können wirtschaftliche Zahlungen von vorherigen Prozessketten abgekoppelt werden. Auch wirtschaftliche Unternehmen (und am Ende auch Zahlungen) funktionieren überhhaupt nur, indem eine enge Kopplung von Technik, Wirtschaft und Wissenschaft erreicht wird. Die Wirtschaft und Unternehmen operieren nicht in kausal getrennten Welten. Sie funktionieren in Begriffen wie Netzen und Feldern und betreiben „heterogeneous engineering“ (Law 1994; Callon 1987).

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„Für die soziologische Betrachtungsweise und besonders für systemtheoretische Analysen sind Kausalerklärungen so schwierig, daß sie auf der Ebene allgemeiner theoretischer Aussagen nicht ratsam sind […] Entsprechend kann die Theorie gesellschaftlicher Evolution keine Theorie sein, die es sich vornimmt, den Verlauf der Geschichte oder auch nur bestimmte Ereignisse kausal zu erklären.“ (Luhmann 1997: 570)

Luhmann lehnt es von vornherein ab, seine Evolutionstheorie überhaupt an historischen Realgehalten zu überprüfen. Weil Evolution nicht mit dem „historisch ablaufenden Kausalprozeß“ gleichgesetzt werden darf, darf sich die Evolutionstheorie nicht damit belasten, „den Übergang von einem Zustand in einen anderen als Übergang […] verständlich zu machen“ (Luhmann 52005: 187). Seine ganze Evolutionstheorie spielt sich in den abstrakten Höhen der Metatheorie ab. Die Evolutionstheorie muss letztlich „die Evolution der Evolution“ (Luhmann 52005: 189) verstehen lernen. Das Herausstellen der ahistorischen Basis geschichtlicher Gesellschaftsformen geht einher mit der absoluten Anfechtung gegen die Prioritätsberechtigung historischer Analyse. Luhmanns Geschichtszeit – wenn überhaupt vorhanden – bleibt linear, sofern sich am Ende nicht die Kraft der Geschichte oder Kontingenz, sondern der Horizont funktionaler Differenzierung eröffnet. Mit großen Schritten wandelt der Systemtheoretiker über die Geschichte hinweg und analysiert die universellen Formen der Differenzierung. Entsprechend global sind dann auch Luhmanns Beschreibungen der ausdifferenzierten Gesellschaftstypen. Für jeden historischen Gesellschaftstyp wird ausschließlich ein zugrunde liegendes Differenzierungsprinzip veranschlagt, was sich im empirischen Durchblick so generell ausgesprochen nicht wird halten können (so z.B. Hondrich 1987: 285ff.). Nicht einmal die Frage taucht auf, inwieweit unter konkreten gesellschaftlichen Konstellationen intendierte Ergebnisse erzielt werden und welche Ergebnisse aus dem Zusammenspiel divergierender Pläne resultieren können. Es fehlt vollkommen ein Begriffsapparat, der je zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Formen und Grade von Handlungskompetenzen messen könnte. Die Gesamtheit der Interaktionen, sagt Luhmann (21988: 575f.), bildet „das Spielmaterial für gesellschaftliche Evolution“. Und diese sorgt nun dafür, dass soziale Systeme weiterhin bestehen oder verschwinden werden: „Über die Zukunft entscheidet nicht die Entscheidung, sondern die Evolution.“ (Luhmann 1997: 1093) Der Funktionalismus der Systemtheorie zeigt sich als eine Spielart eines kruden naturalistischen Denkens, denn die Gesellschaft wird qua kategorialer Deduktionen wieder an eine übergreifende Ordnung eindeutiger Strukturen und Determinanten gebunden. Hierbei rächt sich eben 284

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der schon im Theoriedesign angelegte Kommunikationsobjektivismus. Dieser erweist sich immer dann als verunglückt, sobald es nicht mehr um stabile, sondern um dynamische Sachverhalte, nicht mehr um Entscheidungen zwischen bereits vorhandenen Regelzusammenhängen, sondern um die Bildung und Transformation neuer sozialer Formen geht. Barben kommt Luhmanns Evolutionstheorie betreffend zu folgendem Schluss: Im Gewande einer als wertneutral deklarierten systemtheoretischen Theorietechnik steckt eine Theoriepolitik, die letztendlich „keine anderen Standpunkte als diejenigen akzeptiert, die mit der Struktur der funktional differenzierten Gesellschaft kompatibel sind“ (Barben 1996: 193). Luhmanns antiontologischer Duktus wird dadurch mit (sozial)ontologisierenden Aussagen aufgeladen, generalisiert und pauschalisiert.7 Die Frage, wie gesellschaftliche Differenzierung historisch jeweils in Gang gesetzt wird, wird bei Luhmann nicht mehr gestellt und dementsprechend auch nicht beantwortet. Und da funktionale Differenzierung gar nicht mehr erklärt wird, wird sie zwar als Explanans, aber nicht als Explanandum thematisiert (Schimank 1985: 422). Mit Kontingenz hat ein solcher Standpunkt freilich nichts zu tun. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Präferenzen und Bestimmungen der Theorie Luhmanns legen den Schluss nahe, dass wir es bei seiner Theoriearchitektur mit einem prototypischen Ansatz der „Außenperspektive des Beobachters“ zu tun haben, „der nirgendwann und nirgendwo denkt“ (Rödl 2005: 80). Jedoch: Wie Kant bereits sagte, sind Aussagen ohne Anschauungen leere Aussagen. Der diskursive Verstand ist endlich, d.h., er ist darauf angewiesen, dass ihm das, worauf er sich bezieht, in der Erfahrung gegeben ist. Die Annahme, dass alle sozialen Sachverhalte in der modernen Gesellschaft über das Erklärungsmodell „funktionale Differenzierung“ beschreibbar wären, drückt den nach wie vor bestehenden theoriestrategischen Optimismus in der Soziologie aus, der von einem unreflektierten Vertrauen in die Antizipation und Planbarkeit künftiger Entwicklungen und Trends durchdrungen ist. Aussagen, die in solchen Theorien geäußert werden, sind kategorisch, d.h. allgemein hinsichtlich zeitlicher Be7

Zumindest wird von Luhmann vorgegeben, so Barben (1996: 236), „welche Funktionen von gesellschaftlichen Subsystemen zu bearbeiten sind, daß es sich jeweils um genau eine Funktion handelt, welche Systeme ihnen exklusiv zugeordnet sind und in welcher institutionalisierten Form sie dabei operieren; schließlich ist auch das Verhältnis der ausdifferenzierten Systeme zueinander als horizontale Gleichrangigkeit ohne Dominanz vorausgesetzt. Das alles verweist auf den theoretischen Grundmangel, auf begriffliche Ableitung statt auf historisch empirische Forschung zu setzen“.

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züge. Hans Michael Baumgarten (1996: 159) notiert dazu: „Die ‚Geschichte über den Geschichten‘, wie Droysen einmal formulierte, oder die Geschichte als ‚Kollektiv-Singular‘ (so ein Ausdruck von Koselleck) ist keine Gegebenheit, sondern ein Konstrukt.“ Nun ignoriert Luhmann zwar keineswegs den artifiziellen Konstruktcharakter seines Ansatzes.8 Dennoch wird damit nicht die Frage obsolet, ob somit nicht Konsequenzen hinsichtlich des konstatierten Prozesscharakters des Sozialen zu ziehen sind. Für Barben besteht die Rolle der Theorie funktionaler Differenzierung vor allem darin, alternative Modelle zu marginalisieren. Die Zukunft der modernen Gesellschaft werde dadurch in den Hintergrund gedrängt, dass „die Offenheit und Kontingenz der Zukunft der modernen Gesellschaft durch ‚funktionale Differenzierung‘ geschlossen“ (Barben 1996: 174) wird. Was ist aber, wie Knöbl (2001: 19) bemerkt, von einer Theorie zu halten, „die zwar immer wieder hartnäckig auf den ‚master process‘ der Differenzierung hinweist, zugleich aber zugestehen muß, dass es konträre Nebenprozesse gibt, kontingente Entwicklungsabbrüche und ebenjene so unberechenbaren Akteure, die sich nur selten an die differenzierungstheoretischen Vorgaben halten“? Wie vormoderne Gesellschaften, die Lévi-Strauss (91994: 270f.) als die „kalten“ Gesellschaften beschrieb, weil sie versuchten, „dank den Institutionen, die sie sich geben, auf gleichsam automatische Weise die Wirkung zu annullieren, die die historischen Faktoren auf ihr Gleichgewicht und ihre Kontinuität haben könnten“, ist Luhmanns Gemälde der modernen Gesellschaft eines, in dem die Geschichte nicht vorkommt und welches dem Modell der Homöostase folgt, weil sich die Systeme beständig im Gleichgewicht befinden. Und die Ordnung der Zeit, welche Lévi-Strauss (1976: 709) den Mythen zuordnete und welche sie enthüllten, ist letztlich auch für Luhmann „eine Zeit, die nicht wiedergefunden, sondern, besser, abgeschafft ist“.

6.1.4.3 Der Relativismus als „view from everywhere“ Die bisher entwickelte Diskussion hat gezeigt, dass metaphorischen Ansätzen, wie sie im Modell eines selbstgesteuerten Systems (Habermas) oder einem ahistorischen Evolutionismus (Luhmann) vorliegen, mit größter Skepsis zu begegnen ist. Vor dem Hintergrund der in den vorangegangenen Abschnitten entwickelten Auseinandersetzung mit dem 8

Luhmann sagt dann auch über seine Annahme funktionaler Differenzierung: Zwar sei diese ein „weitreichendes, elegantes, ökonomisches Erklärungsinstrument […]. Ob sie auch zutrifft, ist natürlich eine andere Frage“ (Luhmann 1986: 74).

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„homo scholasticus“ gilt es nun die Frage zu stellen, ob die dort ausgebreitete Lesart durch neuartige Theoriekonstellationen, die in den letzten Jahren von mehreren Autoren vorgelegt wurden, nicht doch wieder außer Kraft gesetzt werden. Denn was die Einhelligkeit der Diagnose im Kontingenzdiskurs betrifft, so gibt es scheinbar wenig Zweifel: Pluralisierung, Relativismus und Konstruktivismus erscheinen als Königsweg und als Ausweg aus den alten Einheitsvorstellungen der „Dingsoziologie“. In Theorieansätzen von Autoren wie Günter Abel, Michel Foucault, Nelson Goodman, Niklas Luhmann, Friedrich Nietzsche, Richard Rorty und vielen mehr bezieht sich der Begriff Kontingenz auf die menschlichen Beschreibungsweisen, mithin auf die Diskurse und Repräsentationen von Welt. Hier bedeutet kontingent sein, dass alle Beobachtungen und Interpretationen über Objekte nur als menschliche Konstruktionen und Konventionen zu verstehen sind und deswegen durchweg auch anders gestaltet werden können. „Der Gedanke ‚an-sich-seiender‘ Gegenstände ist unter kritischem Vorzeichen nicht explizierbar. Gegenstand ist stets Gegenstand unter einer Deskription […].“ (Abel 1995: 456) Es existiert deswegen eine „Vielfalt von Versionen und Sichtweisen“ (Goodman 1984: 15). Luhmann verfolgt die Exposition der skizzierten Problemstellung auf dem Wege einer differenzierungstheoretischen Charakterisierung der modernen Gesellschaft. Die funktional differenzierte Gesellschaft könne sich nur noch polykontextural verstehen, wie Luhmann (1992b: 666) sagt. Die Einheit der Gesellschaft „ist dann nichts anderes als diese Differenz der Funktionssysteme; sie ist nichts anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit“ (Luhmann 1986: 216). Auf der Ebene der Gesellschaft könne kein System ein Privileg für sich in Anspruch nehmen, die Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft zu repräsentieren. Die Differenz wechselseitiger Beobachtungsverhältnisse bleibe unaufhebbar. Auch die Wissenschaft könne nun nicht mehr eine adäquate Beschreibung der Komplexität liefern, weil auch sie – wie alle anderen Semantiken – keine Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft vornehmen kann. Indes: Auch hier ist die Analyse, die dem Phänomen Pluralismus gilt, dem Vokabular der klassischen Totalperspektive und Gesamtpräsentation der „Außenperspektive des Beobachters“ entnommen. Ich will das erneut an Luhmann illustrieren. Luhmann folgert aus den Grundlagen seiner konstruktivistischen Soziologie, dass die Gesellschaft in polykontexturale Beobachterverhältnisse zerfällt. Man kann jetzt nicht mehr von dem Sachverhalt sprechen, da Sachverhalte jeweils teilsystemspezifisch wahrgenommen werden. Die Teilsysteme reservieren eine 287

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Universalzuständigkeit für je ihren spezifischen Weltausschnitt. Jedes System wählt aus dem „Rauschen“ seiner Umwelt eigene Informationen aus. Damit entfällt die eine oder „richtige“ Sicht der Sachverhalte. Das Problem beginnt bereits mit Luhmanns realistischer Beschreibung der „Polykontexturalität“ der modernen Gesellschaft. Die Postmoderne habe zu Recht das „Fehlen einer einheitlichen Weltbeschreibung“ festgestellt (Luhmann 1992a: 42). Das gelte insbesondere auch für seinen Ansatz: Kein Teilsystem könne in sich die Gesellschaft repräsentieren. Nichts liegt Luhmann ferner, als eine naive Sicht auf die Welt zu verbreiten. Dennoch handelt es sich bei seinem Beobachtungsstandpunkt selbst nicht um einen solchen, der Teil eines Bezugssystems in einem Teilsystem der Gesellschaft ist. Denn die Annahme, es könne eine Gesellschaft geben, in der alle Bezugssysteme inkommensurabel seien, setzt von vornherein eine objektivistische Totalperspektive auf Gesellschaft voraus. Ein solcher Beobachter muss ja gleichzeitig die Kunst der „Allgegenwart eines view from everywhere“ (Bourdieu 2001: 136) beherrschen, sonst könnte er ja die Relativität und Heterogenität von Beobachtungssystemen gar nicht feststellen. Und erneut haben wir es mit dem hier vorgestellten Spektrum dekonstruktivistischer Argumentationsweisen sowohl auf konzeptioneller als auch auf inhaltlicher Ebene mit der Metaphysik des „homo scholasticus“ zu tun. Die Betrachtung des Soziologen findet außerhalb von Zeit und Raum statt und besetzt einen „festen Platz, von dem aus sie Gesellschaft beschreibt“ (Schimank 2005a: 15). Mit anderen Worten: Die relativistischen Beobachter dieser Art erfordern eine letzte, die Differenz noch übersteigende Identität und versuchen „sich selbst hinter alle anderen Beobachter zu stellen und alle anderen beim Beobachten zu beobachten“ (Baecker 2003: 116). Die Relativisten wie Luhmann versuchen „aus einer Perspektive Gottes heraus zu sagen, dass es keine Perspektive Gottes gibt“, lautet der ironische Kommentar von Hilary Putnam (1993: 245). Auf jeden Fall lassen sich bei Luhmann keine Spuren finden, die suggerieren, dass seine Theorie etwas anderes ist als eine Repräsentation des Ganzen im Ganzen (vgl. auch Gamm 1994: 244). Luhmann sitzt der Außenperspektive des Beobachters auf, indem er Gesellschaft als einen „polykontexturalen Verdinglichungszusammenhang“ (Schimank 2005a: 51) skizziert. Diese Beobachtung lässt sich im Übrigen auch auf die postmodernen Theorien übertragen, weil auch diese, zumindest in bestimmten Passagen, den Eindruck erwecken, realistisch mit den sozialen Strukturen zu verfahren. Zwar haben diese Ansätze, wie Luhmann (1992a: 7) sagt, „bekannt gemacht, dass die moderne Gesellschaft das Vertrauen in die Richtigkeit ihrer eigenen Selbstbeschreibungen verloren hat. Auch sie 288

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sind jeweils anders möglich. Auch sie sind kontingent geworden“. Das Problem in der postmodernen Theorie besteht freilich darin, dass sie ähnlich wie Luhmann nur Beschreibungen der Gesellschaft aus der Vogelperspektive überliefern. Jede Gesellschaft sei, so nimmt Lyotard an, ein „Gewebe“, in dem sich „eine unbestimmte Zahl von Sprachspielen kreuzen, die unterschiedlichen Regeln gehorchen“ (Lyotard 1986: 119). Die Form einer Ganzheit, die als Leitbild auf ein einziges Ziel hin ausrichten möchte, bedeutet dann naturgemäß die Uniformierung, ja unweigerlich zugleich die Unterdrückung abweichender Lebensformen. Heute gilt es umgekehrt die Eigenart und den Eigensinn der verschiedenen Lebensformen, die unreduzierbare Vielfalt von Sprachspielen anzuerkennen. Aber woher weiß Lyotard das? Von wessen Standpunkt aus wird dieses Phänomen festgehalten? Auf welchen Referenten trifft diese Behauptung zu? Der Gegenstand, den die Theorie abbildet, soll plural sein, nicht aber das Theoriedesign selbst. So hat es die soziologische Theorie – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – seit jeher gehalten. Der Soziologe tritt auf als nicht zu greifender Mann fürs Totale. Gleichwohl ist aus der Totalitätsperspektive, selbst wenn sie plurale Sphären der Gesellschaft feststellt, per se noch nicht viel gewonnen. Wir müssten nun endlich einmal beginnen, uns den „‚lokalen‘ und ineinander vernetzten Sprachspielen, Legitimationsformen und von immer wieder neu zu schaffenden ‚Übergängen‘, Klärungen und Einigungen – ohne die Möglichkeit eines alles umgreifenden ‚Metadiskurses‘ – sei es im Sinne einer ‚Großtheorie‘“ (Wellmer 1985: 105) zu widmen. Nassehi (2006: 452) kommt in seinem Buch über den soziologischen Diskurs der Moderne zu einer meines Erachtens richtigen Beobachtung: „Die Gesellschaft der Gegenwarten ist also eine Gesellschaft, in der sich an Gegenwarten beobachten lässt, dass alles auch ganz anders sein könnte, selbst wenn das den ‚Beteiligten‘ nicht so erscheint.“ In der Tat, das vornehmlichste Ziel der Soziologie sollte in der Fragestellung bestehen, wie sich die Kontingenz in einzelnen Sphären der Gesellschaft verbreitet und multipliziert. Wenn unsere These berechtigt ist, dass Regelsysteme und Diskursarten heute im Plural existieren, dann folgt daraus, dass sie heterogen und auf keine universale Diskursart mehr reduzierbar sind.

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6.2 Zur Methode des Relationismus Wenn man das Gesagte zusammenfügt, dann bietet die Erkenntnisform des „Relationismus“ eine Möglichkeit, wie wir zu einem eigenen artikulierten Denken gelangen können, das das Erbe des Realismus festhält und gleichzeitig das Problem der Kontingenz nicht hintansetzt.

6.2.1 Perspektivische Bewertung von Ereignissen An dieser Stelle können wir einen ersten Blick darauf werfen, was denn unter Relationismus zu verstehen ist. Der entscheidende Punkt hierbei scheint in der perspektivischen Strukturierung von Informationen zu liegen. Wenn nämlich die Soziologie nicht – quasi von außen – auf eine an sich bestehende Gesellschaft zurückgreifen kann, dann müssen alle Daten und Fakten, die die Soziologie generiert, in Relation zu ihrem empirischen Situationszusammenhang interpretiert werden. Das ist die Idee des Relationismus. Der Relationismus fragt: Wie und woher wissen wir eigentlich, was wir wissen? Und seine Antwort ist folgende: Informationen können nicht einfach unabhängig von bestimmten historischen Kontexten hergeleitet werden. Sie sind als relativ zum Bezugssystem von historischen Beobachtern zu interpretieren. Relationismus darf allerdings nicht mit Relativismus verwechselt werden: „Relationismus ist einfach die Einsicht, daß es keinen Standpunkt außerhalb des Stroms des historischen Prozesses gibt.“ (Kilminster 1996: 364) Karl Mannheim sagt über den Relationismus, dass dieser überhaupt nicht willkürlich oder unverbindlich sei. Der Relationismus bestreitet nicht die Möglichkeit von Erkenntnis oder spricht der Wissenschaft keineswegs jegliche Objektivität ab. Eine radikale Historisierung hat im Übrigen nichts mit einer Entthronung von Wissenschaft zu tun, im Gegenteil: Sie nimmt ihren Gegenstand ernster. Sie geht der Sache sorgfältiger auf den Grund. Der Relationismus ist vielmehr – anders z.B. als die Theorie des Außenbeobachters – realistischer als andere methodische Ansätze. Karl Mannheim (1985: 77) definiert den Relationismus folgendermaßen: „Relationismus bedeutet nur die Bezüglichkeit aller Sinnelemente aufeinander und ihre sich gegenseitig fundierende Sinnhaftigkeit in einem bestimmten System. Dieses System aber ist nur möglich und gültig für ein bestimmt geartetes historisches Sein, dessen adäquater Ausdruck es eine Zeitlang ist. […] Was also bei dieser wertfreien Ideologieforschung zum Thema wird, ist die stete Bezüglichkeit jeglicher Erkenntnis und der in ihr enthaltenen Grundelemente auf Sinn- und letzten Endes auf historische Seinszusammenhänge, und es wäre ein

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Aufgeben der bereit erreichten Denkstufe, wollte man diese Einsicht eher umgehen, als sie angemessen irgendwie in Rechnung zu stellen.“

Der Relationismus ist gleichbedeutend mit dem, was Willfried Spohn (1996) eine „historische Soziologie“ nennt. Es ist das Schicksal wissenschaftlicher Beobachtung, dass sie ihre kognitiven Grundlagen nicht auf einer höheren, sondern auf derselben Ebene zu verorten hat, auf denen auch die epistemischen Konfigurationen der historischen Subjekte aufsitzen. Es gibt ja, wie wohl auch Luhmann (1992b: 65) meint, keine „Reflexivitätshierarchien“. Alle Reflexionpositionen zentrieren sich auf einer horizontalen Linie, wo keine beanspruchen kann, eine Stufe höher zu stehen. Damit wird das Ende der Enthistorisierung der Wissenschaft eingeleitet. Vor über dreißig Jahren konstatierte Koselleck (1976: 18) kritisch zu dem Befund der „Enthistorisierung“ der Geisteswissenschaften: „Seit dem Ersten Weltkrieg sind die Geistes- und Sozialwissenschaften dem Prozeß einer rapide um sich greifenden Enthistorisierung erlegen.“ Keine Wissenschaft jedoch, so Koselleck (ebd.: 20), „so aoder antihistorisch sie sich geriert, kann ihrer historischen Implikationen entrinnen“. Mit einem historisch-soziologischen Forschungsprogramm, das nicht primär nomothetisch verfahren würde, ist folgender Anspruch verbunden: Ein Denken, das sich der Kontingenz des historischen Ereignisses widmet, sensibilisiert sich für die konkreten Bezüge menschlichen Handelns in ihrer jeweiligen zeitlichen Singularität und Besonderheit. Der Begriff Relationismus zielt demnach „auf die grundsätzliche Historizität und Kontextualität sozialer Prozesse, auf die Zeit- und Raumgebundenheit der sozialen Wirklichkeit“ (Spohn 1996: 365). Schon Elias’ (102004: 136ff.) figurationaler Ansatz geht von einer relationalen Perspektive auf die sozialen Sachverhalte aus. Elias redet vom „perspektivischen Charakter aller menschlichen Beziehungen“ und von den vielperspektivischen Bezugspunkten sozialer Phänomene. „Relativität“ (im Sinne des Relationismus) ist gemäß Simmel (1989a: 116) das „Wesen der Wahrheit“ und nicht eine bloße „abschwächende Zusatzbestimmung zu einem im übrigen selbständigen Wahrheitsbegriff“ (ebd.: 116). Unser Wissen bleibt stets „Stückwerk“ (ebd.: 116). Aus der Kontextualität sozialer Sachverhalte ergibt sich auch die „theoretische Angemessenheit historisch-soziologischer Methoden“ (Spohn 1996: 367): „So geht die Entwicklung in der modelltheoretischen Richtung von ahistorischen Evolutionsmodellen zu kontextuell situierten Modellen sozialen Wandels […].“ (Ebd.: 370) Theorien sind immer Modelle beobachtbarer Konstellationen, die zunächst keinerlei Gesetze widerspiegeln, sich allerdings von einem bestimmten Stand der Materialkenntnis aus zu einer Gesetzmäßigkeit und einem Strukturzu291

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sammenhang verdichten können (vgl. Elias 161991, Bd. 2: 393). Theorie und Empirie müssen stets aufeinander abgestimmt werden. An die Stelle der gesetzesartigen Theorien rückt die entwicklungssoziologische Betrachtungsweise menschlicher Gesellschaften. Das bedeutet für den Soziologen, dass er in engster Tuchfühlung mit den zu beobachtenden Entwicklungen bleiben muss. Wenn sich der Wandel einer Figuration aus der spezifischen endogenen Dynamik der Figuration selbst herleitet, dann bedeutet dies auch für Elias, dass jeglicher Prozess als singulärer Fall zu betrachten ist, der aufzeigt, wie und warum sich der gesellschaftliche Sachverhalt wandelt (Elias 161991, Bd. 1: LXIX). Gerade wenn es um die Klärung historischer Prozesse geht, was von vornherein eine empirische Aufgabe ist, kann man keine theoretischen Vorentscheidungen gelten lassen, welche die menschliche Geschichte z.B. auf die Evolution hinverschreiben. Die menschliche Geschichte kann nur in den zeitlich bedingten menschlichen Praktiken rekonstruiert werden. Dort, in diesen Realgehalten der historisch sich wandelnden gesellschaftlichen Praxis, ist sie zu analysieren. Und nur dort hat sie überhaupt eine reale Macht.9 Entsprechend dieser figurationstheoretischen Interpretation wird auch der Gesellschaftsbegriff historisiert und entsubstanzialisiert. Ein solches Erklärungsmuster verzichtet auf die Verführung, soziale Tatsachen zu propagieren und so der historischen Betrachtung wiederum eine leitende Theorie aufzusetzen. Allein ein an empirischen Tatsachen orientierter und mit „Anschauungsmaterial gesättigter Aufschluß des geschichtlichen Werdegangs dieser Gesellschaftsformen“ (Elias 161991, Bd. 2: 476) vermag Klärung zu schaffen.

6.2.2 Konstellationen Der Relationismus, das dürfte klar geworden sein, erklärt das gegenwärtige Strukturgefüge aus der Perspektive ihres historischen Werdens. Bereits Weber wies darauf hin, wie Schwinn (2001: 44ff.) kommentiert, dass die soziale Wirklichkeit „durch individuelle Konstellationen und nicht durch eine organische Geschlossenheit und Geordnetheit“ aufzufassen sei. Der Sozialwissenschaftler habe sich der umgebenden Wirklichkeit des sozialen Zusammenhangs zu stellen und die „Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins“ (Weber 1991: 50) zu verstehen. Das könne er aber gerade nicht, indem er der Naturwissen9

Elias (102004: 78f.) sagt: „Jede geschichtliche ‚Unordnung‘ und ihr Verlauf – Kriege, Revolten, Aufruhr, Massaker, Morde, was immer es sein mag – kann erklärt werden. In der Tat ist das eine Aufgabe der Soziologie.“

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schaft nacheifert und Sachverhalte aus Gesetzen deduziert, schon deswegen nicht, „weil es uns für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf die Konstellation ankommt, in der sich jene (hypothetischen!) ‚Faktoren‘, zu einer geschichtlich für uns bedeutsamen Kulturerscheinung gruppiert, vorfinden“ (Weber 1991: 54). Weber beschreibt nicht die funktionalen Erfordernisse eines Phänomens, sondern löst diese hinsichtlich ihres kausal genetischen Erklärungszusammenhangs auf. Schicht für Schicht der Wirklichkeitserfahrung wird in Webers Erkenntnistheorie dabei abgebaut und in die kausal-genetische Herleitungen integriert. Die „einzelnen, für die Gegenwart bedeutsamen, individuellen Eigentümlichkeiten dieser Gruppierungen“ (ebd.: 55) zu analysieren und darzustellen, darin liegt für Weber die eigentliche Aufgabe des Soziologen. Im Kontext dieser Bestimmung von Konstellationen entfaltet Weber, nach Schwinn (2001: 45), eine Theorie, die über keine platonische Ansichten mehr verfügen muss: „Aus einer Theorie läßt sich keine einzige historische Konstellation deduzieren. Zwar ist die Theoriearbeit unentbehrlich, nur über scharfe Begriffe lässt sich überhaupt etwas erschließen.“ Das Entscheidende aber bei historisch-gesellschaftlichen Konstellationen ist immer, „in welcher ganz spezifischen Weise solche im einzelnen regelhaften und daher generalisierungsfähigen Ereignisreihen zusammenwirken“ (ebd.: 45). Ein zentraler Topos auch bei Adorno ist das Denken in Konstellationen. In dieser Methode sollen Gegenstände sowohl konkreter wie abstrakter Art anders als klassifizierend gewonnen werden. Dieser Begriff ist eine komplizierte Konstruktion, in den Gedanken Hegels, Benjamins und Webers eingehen. In aller Kürze sei so viel gesagt: Konstellation ist ein Vorschlag, wie man den identifizierenden Charakter des Begriffs abschwächen und mehr über den Gegenstand erfahren kann. Konstellationen sind demnach nicht „begriffliche Fixierungen, sondern eher Versuche, durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen auszudrücken, worauf er geht, anstatt ihn für operative Zwecke zu umreißen“ (Adorno 51988: 168). Die Konstellation stellt eine Praxis reflektierenden Denkens dar, da ihre Elemente zwar Begriffe sind, ihr Spezifisches jedoch in dem liegt, was über den Einzelbegriff hinausgeht. Was der einzelne Begriff aufgrund der ihm immanenten abstrakten Funktion nicht zu leisten vermag, soll der Strukturzusammenhang von Begriffen ersatzweise „bildhaft“ vor Augen führen. Konstellation bedeutet, dass die Begriffe „um die zu erkennende Sache sich versammeln“ (ebd.: 164). Der „bestimmbare Fehler aller Begriffe nötigt, andere herbeizuzitieren; darin entspringen jene Konstellationen“ (ebd.: 62).

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Die Idee, die Adorno vorschwebt, ist wohl die, dass eine Sequenz von Begriffen den Informationsgehalt über einen Einzelgegenstand erhöht, weil sich diese Sequenz zugleich in ihrem jeweiligen Identifikationsanspruch zurücknimmt, indem die „Gesamtwirkung“ aller Begriffe den Fehler des einzigen Begriffs korrigiert bzw. dem Spezifischen des Gegenstandes in ihrem Gesamtarrangement Gerechtigkeit widerfahren lässt. Der Gegenstand wird durch die verschiedenen Elemente der Konstellation, die jeweils verschiedene Aspekte an ihm aufzeigen, gleichsam eingekreist. Der Grad der Bestimmtheit einer Begriffsbedeutung wird umso größer, je mehr Beziehungen zu anderen Bedeutungen aufgezeigt werden können. Ihren Stellenwert gewinnen sie allein über die Anordnung, die „Gestalt“, die sie gemeinsam herstellen. In der denkend herzustellenden Gestalt der Konfiguration konkretisiert sich die Forderung nach einer Erkenntnis, die die Gegenstände in deren Vermittlung, nicht über deren identifizierende Fixierung zu erfassen sucht. Erst der Zusammenhang mehrerer Begriffe schafft die Voraussetzung dafür, einen Gegenstand von allen Seiten zu betrachten (vgl. ebd.: 164). Im praktischen Vollzug des Verfahrens vermag sich das Denken ein Stück weit seinen Objekten zu nähern, aber es kann jederzeit zu einer neuen Konfiguration ansetzen und ist insofern auch nicht abschlusshaft. Adorno spricht deswegen auch von „wechselnden Versuchsanordnungen“ (Adorno 1973: 335). In Webers Idealtypen sieht Adorno ein Modell für wissenschaftliche Erkenntnis, die sich ihrer Gegenstände in begrifflichen Konstellationen annähert, sich von den Gegenständen leiten lässt und diese nicht durch Substanzbegriffe verdeckt. Die Tätigkeit des „Komponierens“ (vgl. ebd.: 167) ist die des idealtypischen Sinnverstehens. In der „Negativen Dialektik“ rekurriert Adorno ausdrücklich auf Weber und hebt dessen materiale Analysen auch als ein Beispiel dafür hervor, „wie Gegenstände durch Konstellationen zu erschließen“ (ebd.: 166) sind. So seien beispielsweise die zahlreichen Definitionen in „Wirtschaft und Gesellschaft“ weniger operativ-identifizierende Kategorien, sie markierten vielmehr „Versuche, durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten zentralen, auszudrücken, worauf er geht“ (vgl. ebd.: 168). Was entsteht, ist somit ein Netz von aufeinander verweisenden Begriffen, die gemeinsam um einen einzigen, nämlich um den des Kapitalismus, kreisen.

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6.2.3 Historische Epistemologie Indem sich alles aus der Praxis heraus zu bewähren hat, gilt dies insbesondere auch für die soziologische Herleitung des Begriffs. Latour (1988b: 164) weist zu Recht ausdrücklich darauf hin: „Social sciences are not a reservoir of notions and entities from which we would draw our resources. They are part and parcel of the very activity we want to study, part of our problem, not of our solutions.“ Peter Wagner (1995a) und Ian Hacking (2006) sprechen hierbei von einer „historischen Epistemologie“. Der bei allen diesen Texten zentrale Punkt ist der, dass die epistemologischen Termini, die die Soziologie zur Erklärung von sozialen Sachverhalten heranzieht, keine ahistorischen Konstanten sind und keine abstakten Ideen, die einfach – jenseits von zeitlichen Umständen – existieren. Bereits Simmel machte in seiner „Soziologie“ geltend, dass Gesellschaft nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt und das Problem soziologischer Erklärung sein müsse. Strukturen oder Machtbeziehungen sind nicht der Grund sozialer Relationen, sie sind vielmehr in der Reihe der Ermöglichung dieser Relationen das abschließende und letzte Glied. Abstraktionen und Begriffe erklären an sich nichts. Sie müssen selbst erklärt werden. Die Aufgabe der Soziologie ist es, „to fix causation in time“ (Tilly 1997: 67). Darum müssen kausale Erklärungsmuster in den zeitlichen Kontext gestellt werden und lassen generellen Erklärungen keinen Platz. Immer wieder wird für den Relationisten, wie man mit Musil (1978, Bd. 1: 65) sagen könnte, „erst ein möglicher Zusammenhang entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen […]“. Elias hält es für abwegig (1985: 270), wenn jemand lehrt „daß man bei einem Forschungsunternehmen möglichst mit gesetzesartigen Hypothesen beginnen und dann zusehen solle, ob sich diese Hypothesen, möglichst mit Hilfe von Messungen, von quantitativen Methoden, falsifizieren lassen“. Für ihn haben Begriffe wie „Deduktion und Induktion […] keine Funktion mehr“ (ebd.: 275). Elias meint, dass quantifizierende Methoden zwar auch einen Platz in den Sozialwissenschaften hätten, jedoch sei „ihre fruchtbare Anwendung […] sehr viel begrenzter als in den physikalischen Wissenschaften“ (ebd.: 270). Im Übrigen sei in den Sozialwissenschaften wie auch in der Physik selbst die „Entdeckung von zeit- und raumlosen Gesetzen längst nicht mehr die einzige und nicht einmal mehr die am höchsten bewertete Form der Entdeckung“ (ebd.: 275f.). Das Erkennen war auch für Simmel (1989a: 100) „ein freischwebender Prozeß“. Allerdings, gemahnt Simmel (ebd.: 100): „Daß unser Bild 295

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der Welt auf diese Weise ‚in der Luft schwebt‘, ist nur in der Ordnung, da ja unsere Welt selbst es tut.“ Simmel war sogar der festen Überzeugung, dass die Soziologie keine Theorie oder eine eigenständige Wissenschaft fundieren könnte. Sie ist für ihn nur eine „Methode, ein Hilfsmittel der Forschung, um den Erscheinungen aller jener Gebiete auf einem neuen Wege beizukommen“ (Simmel 1992: 15).10 Für die Soziologie hat eine solche Perspektive, wie sie eben skizziert wurde, natürlich maßgebliche Konsequenzen methodischer Art. An die Stelle von soziologischen Gesetzaussagen tritt die Narration bzw. die historische Rekonstruktion der entsprechenden Sachverhalte. Wenn auch in der Geschichte, wenn überhaupt (!) nur wenige Gesetze bekannt sind, „mindert oder gefährdet dies in keiner Weise die erklärende Kraft von Erzählungen“, wie Danto (1980: 404) kommentiert. Die Soziologie ziehe damit einen Schluss, der in der Historie schon längst institutionalisiert worden sei, dass man nämlich Phänomene nicht durch essenzialistische Begriffsverbindungen aufzeigt, sondern dadurch, dass man ihre Geschichte notiert.11 Als Resümee der neueren Geschichtstheorie ließe sich geradezu festhalten, dass die narrative Form der Erklärung nicht nachgeordnet ist, sondern eine eminent wichtige Funktion innerhalb der Erklärung eines Phänomens übernimmt. Die narrative Form besitzt, wie Paul Ricœur (1996: 113ff.) sagt, selbst einen Erklärungswert: Sie gibt „in narrativer Form Auskunft über die Veränderungen, die dazu geführt haben, daß sich eine Nation, ein Staat, eine soziale Klasse, kurz, eine historische Entität, durch eine Reihe von Transformationen von einer Anfangssituation zu einer Endsituation entwickelt hat. […] Es ist dieses Erklärungspotential der Erzählung als solcher, das die Geschichte auf eine höhere kritische Ebene hebt, wodurch sie aus der narrativen Verknüpfung eine Argumentation macht“. 10

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In eben diesem Sinne versteht sich auch die Akteur-Netzwerk-Theorie nur als Methode oder wie Latour (2005: 142) sagt: „It’s a theory, and a strong one I think, but about how to study things, or rather how not to study them – or rather to let the actors have some room to express themselves.“ In der Philosophie ist Ernst Tugendhat einer derjenigen, der auch für dieses Fachgebiet fordert, sich jeglicher Metaperspektive zu verweigern und empirisch zu arbeiten. Auch die Wahrheit, „die die Philosophie anstrebt“, ist, wie Tugendhat (1989: 315) sagt, „eine empirische“. Und das bedeutet nach Tugendhat (1989: 315): „Dann muß ich jetzt auch die Charakterisierung der philosophischen Begriffe als ‚apriori vorgegebener‘ Begriffe, die ich mehr wegen des Anschlusses an die philosophische Tradition eingeführt habe, wieder fallen lassen. Würde sie beibehalten, so müßten auch die philosophischen Aussagen einen überempirischen Wahrheitsanspruch erheben. Er würde implizieren, daß wir nicht nur für die eigene Sprachgemeinschaft sprechen, sondern für eine überempirische Subjektivität.“

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In analoger Weise argumentiert gegenwärtig Latour mit seiner AkteurNetzwerk-Theorie. Sie lehnt die klassische Version von Theorie und Abstrahierungen, die sich den Sachverhalten in einer Art vertikaler „Vogelperspektive“ im Modus der denkenden Betrachtung nähert, als Spekulation ab. Wissens- und Handlungsregeln existieren immer nur in dem Maße, wie sie tatsächlich in zu beobachtenden Praktiken wirken. Latour insistiert überall auf dem empirischen und historischen Charakter jeder Kenntnis von Kausalbeziehungen. Der Blick muss sich dahin wenden, „where the action is“ (Latour 1987). Dies lässt sich in die methodische Anleitung „to follow the actor“ übersetzen und somit als Aufforderung interpretieren, empirisch zu rekonstruieren, wie es Aktanten im Rahmen von historisch zu verorteten Übersetzungsprozessen gelingt, ein Netzwerk von Aktanten zusammenzuführen und zu stabilisieren oder wie in anderen Fällen der Zusammenschluss eines Netzwerkes vereitelt wird. Wir bleiben, so Joas (1992b: 201), „teilnehmende Beobachter bei allen soziokulturellen Prozessen, auch auf den höchsten Ebenen makrosozialer Zusammenhänge“. Tabelle 2: Differenz ahistorischer und kontingenter Epistemologien Epistemologischer Zugang Modus der Beobachtung Kategorien und Termini

Ahistorische Epistemologie „Zuschauertheorie der Erkenntnis“ – ahistorische Betrachtung – Begriffe werden vorausgesetzt

Modus der Erklärung

– deduktiver Modellplatonismus – Erklärung

Vertreter

z.B. Claude LéviStrauss, Niklas Luhmann

Kontingente Epistemologie relationaler Beobachter – individuelle Konstellation – Begriffe leiten sich aus den historischen Konstellationen her und sind das zu Erklärende – historisch-kausale Erklärung eines Sachverhaltes – Erzählung z.B. Max Weber, Norbert Elias, Georg Simmel, Bruno Latour, Paul Ricœur

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Daraus folgt freilich auch, dass jedes Netzwerk, das die Soziologie analysiert, in dem zeitlich situierbaren Kontext, in dem es erscheint, für alle Akteure selbsterklärend ist. „Im idealen Fall“, so zitiert Paul Ricœur (1988: 225) den Historiker Gallie, „sollte sich eine Geschichte selbst erklären.“ Um ein Netzwerk zu rekonstruieren, bedarf es für Latour keiner externen gesellschaftlichen Realität jenseits konkreter Netze, sondern nur der sozialen Praxis innerhalb des Referenzrahmens des Netzes. „Each network by growing ‚binds‘ so to speak the explanatory resources around it and there is no way they can be detached from its growth. […] Every network surrounds itself with its own frame of reference, its own definition of growth, of referring, of framing, of explaining. Hughe’s networks of power grow, and by their very growth they become more and more of an explanation of themselves; you do not need an explanation floating over them in addition to their historical growth.“ (Latour 1996: 376)

Für die Netzwerkanalyse existiert keine Hinterwelt. Ein Netzwerk ist seine eigene Erklärung. Wie die Spinne aus der Nahrung, die sie aufnimmt, permanent den Faden spinnt, der sie das Netz flechten lässt (vgl. Zimmerli 1998: 273), konstruiert der Soziologe seine Erklärung eines sozialen Sachverhaltes aus der Beobachtung einer sich in Zeit und Raum ausdehnenden Netzwerkoberfläche.12 12

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Manche Kritiker, wie z.B. Ingo Schulz-Schaeffer (2000: 207), sind der Meinung, dass die Schwäche eines prozessorientierten Internalismus, wie er in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) vorliegt – auch im Sinne des „Relationismus“ –, darin besteht, dass er alle Prämissen (Normen, Techniken, Festlegungen und Standards etc.) ignoriert, die den zu analysierenden Entwicklungsprozessen selbst vorausgehen. Damit leugne ein solcher Ansatz einen empirischen Tatbestand, der für die Erklärung von sozialen Tatsachen ebenso wichtig sei wie derjenige der Praxis: dass Akteure stets in ein bereits strukturiertes Handlungsgeschehen mit Routinecharakter involviert sind und dass somit bestimmte Komponenten einer entstehenden Institution ihr in Gestalt zu beobachtender sozialer Strukturen vorausgesetzt sind. Die Systemtheorie würde wahrscheinlich argumentieren, ein Netzwerk solcher Art profitiere von der Komplexität des Gesellschaftssystems, wie es im heutigen Umfang unter der Regie funktionaler Differenzierung möglich sei. Netzwerke seien davon abhängig, „daß sich ein Gesellschaftssystem bereits konstituiert hat“ (Luhmann 1997: 13). Die Frage, die sich stellt. lautet allerdings: Worin sollte hier ein Problem liegen? Denn selbstverständlich rekurrieren viele neue Netzwerke und sich etablierende soziale Praktiken auf bereits vorhandene Black Boxes, die aber jederzeit ihrerseits in Netzwerke zerlegt werden können. Ein Netzwerk besteht somit aus weiteren Netzwerken und ist daher präziser als ein Netzwerk aus Netzwerken zu beschreiben. Vergleiche dazu auch Matthias Wieser (2004: 103): „Da jedes Element in einem Netzwerk in sich selbst wiederum ein Netzwerk sein kann, was durch

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6.3 Die Mikro-Makro-Dichotomie ist ein Ar t e f a k t d e r G e s e l l s c h a f t s t h e o r i e Nach wie vor prägt die soziologische Gesellschaftstheorie – das wurde auch in den obigen Abschnitten deutlich – das „Schisma von Akteurund Systemtheorien“, wie Schimank (2005a: 77) sagt. Und er fasst zusammen: „Beide Perspektiven stehen anscheinend unversöhnlich nebeneinander, ohne dass eine der beiden die andere gänzlich verdrängen könnte.“ (Schimank 2005a: 76) Während auf der einen Seite die akteurtheoretischen Perspektiven immer wieder gerne verdächtigt werden, dem Phänomen Kontingenz eine zu große Wichtigkeit einzuräumen, und man ihnen deswegen gerne das Etikett der individualistischen Sozialtheorie verleiht, gelten auf der anderen Seite die makroorientierten Strukturtheorien als akteur- und kontingenzfeindlich. Die Interessenlage des Einzelnen weicht der allmächtigen „generalisierten Handlungsorientierung“ des Systems. Jeder Akteur sieht sich dann nur noch als Vollzugsorgan der jeweiligen Struktur. Nun haben wir im vorhergehenden Teil erfahren, dass es durchaus Ansätze gibt, die sich zumindest im Rahmen wissenssoziologischer Überlegungen mit diesem von Schimank benannten Schisma nicht mehr zufriedengeben wollen. Es sind allesamt Vermittlungstheorien, die ihren Weg zwischen den beiden Polen suchen. Eine detaillierte Erörterung dieser Ansätze braucht hier nicht zu interessieren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Theorien in der Sozialtheorie breit diskutiert werden, kann ich mich kurz fassen. Was die Methodik betrifft, haben am radikalsten bisher Georg Simmel (1992), Norbert Elias (102004) und – aus aktueller Perspektive vielleicht – Anthony Giddens (1988), Pierre Bourdieu (41991), Bruno Latours praxeologisch orientierte Akteur-Netzwerk-Theorie (Callon/Latour 1981; Holzinger 2004; Latour 1987; 1988a; 1995; 2005), weitere Publikationen der neueren französischen Soziologie (Wagner 1993), aber Black Boxing unsichtbar gemacht wurde, besteht Kontext für die ANT letztlich in weiteren Netzwerken.“ Diese Black Boxes aufzulösen – dies wäre ein Einwand, der an Schulz-Schaeffer zurückgeht –, darin besteht gerade die Aufgabe einer Prozesssoziologie. Soziologisch relevante Objekte sind prozesshafte Gefüge und aus diesem Grund können wir mit Whitehead daraus schließen, dass die Beschreibung eines Objekts somit nicht unabhängig von der Beschreibung seines Werdens erfolgt. Der Terminus „wirkliche Welt“ ist mit den Ausdrücken „hier“, „gestern“ oder „morgen“ vergleichbar, er ist relativ, da er seine Bedeutung je nach dem „Standpunkt“, den wir gerade einnehmen, verändert (vgl. Whitehead 1987: 137).

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auch andere Netzwerkansätze techniksoziologischer oder organisationssoziologischer Provenienz (vgl. z.B. Strübing 1997; Weyer et al. 1997; Weyer 2000), die gegenwärtig zur Diskussion stehen, Konsequenzen bezüglich des Phänomens der Kontingenz gezogen. Obgleich diese theoretischen Neuorientierungen vollkommen unabhängig voneinander entstanden sind, lassen sich doch einige Strukturelemente feststellen, die im folgenden Kapitel dargestellt werden sollen. (1) Bedeutsam an den folgenden Ansätzen ist zunächst einmal die Kritik an soziologischen Theorien, die Handlungsprägungen „einfach so“ aus formalen strukturellen Zwängen herleiten. Ungeachtet der Vielzahl theoretischer Perspektiven ist es der Begriff der Praxis, der den gemeinsamen zentralen Ausgangs- und Bezugspunkt der zur Debatte stehenden Ansätze liefert. Das wurde bei meiner kurzen Darstellung von Latours Epistemologie schon deutlich. Aber auch Autoren wie Pierre Bourdieu oder Anthony Giddens stehen geradezu – wie andere – für die aktuelle „Renaissance des Pragmatismus“ (Sandbothe 2000; Joas 1992b). (2) In Ergänzung hierzu liefert eine Stärkung der Prozessperspektive wichtige Anhaltspunkte. Soziale Institutionen sind in ihrem Entstehungsprozess und ihrem Ergebnis wie ein „Geschehen“, wie eine „Figuration“ (Elias 102004), zu verstehen und müssen in ihrer operativen Genese erklärt werden. Die Betonung liegt nicht darauf, was gesellschaftliche Sachverhalte dem Wesen nach sind, sondern darauf, wie sie werden. Mit der Prozessperspektive soll das genetische Erklärungsmanko von Makroansätzen ausgemerzt werden. (3) Eine große Bedeutung für die weitere theoretische Standortbestimmung liefert der Begriff des Netzwerkes. Netzwerke sollen schließlich nun gerade die entscheidende Brücke spielen, die Handlung, Prozesse und schließlich größere Kollektive miteinander verbindet. Sie lassen sich, wie Johannes Weyer (2000) es ausdrückt, als „Mikro-MakroScharnier“ verstehen. Netzwerkansätze erklären den Prozess der Entstehung von Ordnung aus Unordnung und schließen damit, so Weyer, eine Leerstelle in der soziologischen Theorie, deren Manko in der Vernachlässigung des Emergenzproblems besteht (vgl. Weyer et al. 1997: 61).

6.3.1 Die Praxis der Gesellschaft Der Begriff der Praxis lässt sich als neue Spielart desselben Diskurses fassen, der zuvor als Handlungstheorie etikettiert war, und bezeichnet doch etwas ganz anderes, da er auch das veränderte Selbstverständnis der Handlungstheorie ausdrückt. Dabei versuchen die Praxistheorien der Gesellschaftstheorie, die in den letzten Jahren vorgelegt worden sind, 300

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Ideen des amerikanischen Pragmatismus, aber auch der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein in der Theoriearchitektur unterzubringen. Charles S. Peirce, William James, John Dewey und George H. Mead sind die Vordenker und Vorausdenker in diesem Zusammenhang. Ich möchte hier nicht im Einzelnen auf die theoretischen Prämissen eingehen. Zu diesem Punkt sei nur so viel gesagt: In verschiedenen Theorieansätzen, die sich als „Theorien sozialer Praktiken“ (Hörning/Reuter 2004) einen Namen gemacht haben, wächst das Unbehagen, historisch kontingente Realitäten auf dem Weg der Subsumption unter soziale Strukturen begreiflich zu machen. Die basale Annahme ist: Das, was die Gesellschaft ausmacht, liegt zunächst im tatsächlichen Handeln und im Vollzug kultureller Praxis. Der eigentliche Gegenstand der Soziologie ist daher die soziale Praxis. Jegliches soziales Verhalten ist, wie wir seit Wittgenstein wissen, eine Technik, da wir auch hier, in der Sphäre des Sozialen, in eminenter Weise an Regeln gebunden sind: „Wir sagen, wir wissen, daß das Wasser kocht, wenn es ans Feuer gestellt wird. Wie wissen wir’s? Erfahrung hat es uns gelehrt.“ (Wittgenstein 31989b, § 555: 231)13 Man eignet sich diese Gewohnheiten dadurch an, dass man bereits institutionalisierte Praktiken einfach ausübt. Die institutionalisierte Handlungsregel stellt die Anwendung der Regel dar. Die Bedeutung von Regeln kennen wir nur durch ihre Anwendung und nicht durch ihren Sinn. „Darum besteht“, wie Wittgenstein (31989b § 62: 132) sagt, „eine Entsprechung zwischen den Begriffen ‚Bedeutung‘ und ‚Regel‘.“ Alle in einer Kultur gültigen Bedeutungen gründen in Konventionen, sprich: Handlungsweisen. Die soziale Welt besteht nicht aus vorgegebenen objektiven Tatsachen, sondern sie wird laufend in der Praxis hervorgebracht. Gesellschaftliche Tätigkeiten bewegen sich immer inmitten von Handlungskontexten und Prozessketten. „In und durch ihre Handlungen reproduzieren die Handelnden die Bedingungen, die ihr Handeln ermöglichen.“ (Giddens 1988: 52) Soziale Tatsachen machen nicht als autarke übergeordnete Gebilde, sondern im Kontext von Tätigkeiten Sinn. Es zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass auch Kultur im Wesentlichen Praxis ist. Dabei werden soziale Praktiken „durchgängig als eine Doppelstruktur von körperlichen Verhaltensmustern und Interpretationsweisen/Sinnmustern beschrieben“ (Reckwitz 2000: 558). Sie werden „als ein Zusammenhang von routinisierten körperlichen Verhal13

„[…] denk nicht, sondern schau!“ (Wittgenstein 61989a, § 66: 277), darauf hat Wittgenstein schon sehr früh hingewiesen und betont, dass der Begriff Wissen von den Philosophen und Intellektuellen in ein theoretisches Ideenreich befördert wird, anstatt „immer an die Praxis zu denken“ (Wittgenstein 61989a, § 601: 241).

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tensmustern, übersubjektiven Wissensschemata und routinisierten subjektiven Sinnzuschreibungen“ (ebd.: 559) gefasst. Die soziologische Rekonstruktion sozialer Praktiken konzentriert sich nun insbesondere – grob ausgedrückt – auf zwei Teilbereiche, die letztendlich die klassischen Disziplinen der Handlungstheorie und der Hermeneutik repräsentieren: Einerseits werden die routinisierten körperlichen Verhaltensmuster analysiert (häufig auch im Sinne von Körperpraktiken oder Gewaltpraktiken), andererseits sind Wissensroutinen und Wissensordnungen von Interesse. Nahe liegend ist das Thema Wissen wieder in den größeren Kontext der Kulturtheorie zu stellen. Der kultursoziologische Ansatz fokussiert sich dabei insbesondere auf die „Rekonstruktion der kollektiven Wissensordnungen, Deutungsschemata und symbolischen Codes, in die die Akteure eingebettet sind“ (Reckwitz 2000: 95). Auch in der Wissenschaftssoziologie haben sich Ansätze durchsetzen können, die auf die praxeologische Wende in den Wissenschaften aufsetzen. Man spricht hierbei von der Wende „from Science as Knowledge to Science as Practice“ (Pickering 1992). Insbesondere Ian Hacking (1996), Latour (1987; 1988a; 1995), Andrew Pickering (1993; 1995), Rheinberger/Hagner (1993), Rheinberger (1997) oder Joseph Rouse (1987) fordern aus diesem Grund eine konsequente Loslösung von der rein theoretischen Betrachtung wissenschaftlichen Handelns. Auch Theorien entwickelten sich immer nur im Durchgang durch die Materialität der Forschung und im Rahmen experimenteller Praktiken.14 Eine theoriegeleitete Wissenschaftssoziologie müsse einer „praktischen Hermeneutik“ (Rouse 1987) Platz machen, die gezielt den praktischen Umgang des Wissenschaftlers erforscht. In Wirklichkeit ist weder der wissenschaftliche Beobachter noch der in der Welt handelnde Mensch, wie John Dewey sagt, ein bloßer Zuschauer des Weltgeschehens. Wissen und Erfahrung haben nichts mit einem passiven Erblicken der Wirklichkeit zu tun. Die Objekte, mit denen es menschliche Handlungszusammenhänge zu tun haben, sind „in viel höherem Maße Objekte, die behandelt, benutzt, auf die eingewirkt, mit denen gewirkt werden soll, die genossen und ertragen werden müssen, als Gegenstände der Erkenntnis. Sie sind Dinge, die man hat, bevor sie Dinge sind, die man erkennt“ (Dewey 1995: 37). Im Übrigen war es Martin Heidegger (151979: 356ff.), der bereits in „Sein und Zeit“ die pragmatische Seite der Forschung betont hat. Er 14

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„I have been arguing that scientific research is a circumspective activity, taking place against a practical background of skills, practices and equipment (including theoretical models) rather than a systematic background of theory. “ (Rouse 1987: 96)

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machte darauf aufmerksam, dass es falsch sei, anzunehmen, dass „alle Hantierung in der Wissenschaft nur im Dienst der reinen Betrachtung. des untersuchenden Entdeckens und Erschließens der ‚Sache selbst‘ steht“. Wissenschaftliche Überlegungen verlaufen vielmehr nach dem Schema „wenn …, so …“: „Wenn dies oder jenes zum Beispiel hergestellt, in Gebrauch genommen, verhütet werden soll, so bedarf es dieser oder jener Mittel, Wege, Umstände Gelegenheiten.“ (Heidegger 151979: 359) Jeglicher theoretischer Fundierungsarbeit sei in methodischer Hinsicht der pragmatische Umgang mit den innerweltlichen Gegenständen vorzuordnen.15 Theorien im Sinne von Informationen sind bloß die abschließende Verkürzung des materialen Forschungsprozesses. Damit sind die zentralen Momente genannt, die die Theorie sozialer Praktiken vorantreibt. Die behauptete Bedeutung des Begriffs Praxis als Grundlage der Sozialtheorie scheint nun aber erneut im Widerspruch zu der in der Makrotheorie gepflegten Kritik an Akteurtheorien zu stehen, wonach Handelnde für die Reproduktion des Sozialwesens ohne Belang sind. Hartmut Esser (31999: 420) kommentiert diese Ansätze folgendermaßen: „Nur die strukturellen Eigenschaften der Gesellschaft bestimmen das Geschehen – ganz und gar unabhängig davon, ob die Menschen davon wissen oder nicht.“ Die Praxistheorie erzeuge den Eindruck, als sei alles soziale Geschehen auf die Intentionen von Handlungen zurückzuführen. Die Schwäche dieser Ansätze bestehe darin, dass sie alle Prämissen (Normen, Festlegungen und Standards etc.) ignorierten, die den zu analysierenden Entwicklungsprozessen selbst zugrunde lägen. In die Praxis sind nun einmal auch Rollen und Regeln integriert, die disziplinieren und andere Verhaltensmuster vernachlässigen. Institutionen werden hier, wie Türk (1997: 146) sagt, so verstanden, dass sie überindividuell sind: „Raum und Zeit übergreifend, entstammen sie nicht ‚lokaler Produktion‘, sie gelten sozusagen ‚kontrafaktisch‘.“ Keine Institution entsteht offensichtlich aus dem Nichts ohne die Einwirkung von kognitiven, normativen und regulativen Strukturen, die als Voraussetzungen angenommen werden müssen. Soll die Soziologie nicht bei sozialen Tatbeständen stehen bleiben, die sich aus der Perspektive der Intentionen von Handelnden ergeben, dann scheint es keine andere Wahl zugeben, als doch wieder auf die Idee eines selbstgesteuerten Systems zurückzugreifen. Sollte uns eine solche Perspektive in einer nachmetaphysischen Soziologie nicht skeptisch machen? „Die Annahme, Gesellschaften als soziale Ganzheiten seien leicht definierbare Untersuchungseinheiten, ist 15

„Die nächste Art des Umganges ist, wie gezeigt wurde, aber nicht das nur noch vernehmende Erkennen, sondern das hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ‚Erkenntnis‘ hat.“ (Heidegger 151979: 67)

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auf einige schädliche Vorurteile in den Sozialwissenschaften zurückzuführen“, urteilt Giddens (1988: 216). Giddens ist in der Tat zuzustimmen. Selbstverständlich müssen alle Arten von „Transintentionalität“ (Schimank 2005a: 26), aber auch soziale strukturelle Zwänge berücksichtigt werden, die Akteure als Zwang erleben, und dieser Zwang beschränkt oftmals drastisch den Spielraum der Akteure. Die Dezentrierung des Subjekts als Gegengift gegen die übersteigerten Ansprüche der Bewusstseinsphilosophie ist vollkommen gerechtfertigt und muss hier nicht argumentativ nachgeprüft werden. In der Tat gibt es immer auch emergente Situationen, die in ihrer Entstehung und Wirkung nicht von Akteuren geplant bewusst herbeigeführt sind. Friedrich von Hayek (1969: 97) hat diese aus sich selbst erzeugende Ordnung „spontan“ genannt. Neben der Ordnung, die von Menschen geplant wird, existierten andere Ordnungen, „die nicht von Menschen entworfen worden sind, sondern aus der Tätigkeit der Individuen ohne ihre Absicht resultieren“. Es muss aber Folgendes festgestellt werden: Dass sich etwas gegen das Interesse eines Akteurs richtet (oder dass ein Akteur in erster Linie der Logik oder den Handlungserwartungen eines Systems „gehorcht“), heißt nicht, dass dieser auf Folgeproblematiken nicht reagiert und nicht handelt. Es bedeutet nur, dass Strukturen nicht immer oder selten das Produkt menschlicher Absichten und Wünsche sind, nicht aber, dass sie in der Folge nicht das Ergebnis menschlichen Handelns sind. Nicht der Dualismus von „Individuum“ (Bewusstsein) und „Gesellschaft“ steht im Zentrum, sondern die Dualität von Handlung und Struktur (vgl. Giddens 1988: 215). Gerade aus der Vernetzung intendierter und nicht intendierter Handlungsfolgen können oftmals strukturelle Modelle sowie die erkannten (und unerkannten) Umstände für die „nächste Runde des Handelns“ generiert werden, argumentiert Joas (1992a: 338). Auch für Giddens ist nicht alles menschliche Handeln auf die intendierte Zielsetzung von Akteuren zurückzuführen. Immer gäbe es auch Strukturen, die „so weit in Raum und Zeit ausgreifen“ können, „daß sie sich der Kontrolle eines jeden individuellen Akteurs entziehen“ (Giddens 1988: 78). Dennoch gelte es vor allem festzuhalten, dass Strukturen keinen Subjektstatus haben, da sie, wenn sie Bestand haben und Kontinuität erreichen sollen, nur durch die soziale Reproduktion selbst gesichert werden. In der Organisationssoziologie würde man sagen: Organisationen haben eine „regulative, nicht aber eine instruktive Funktion“ hinsichtlich der Integration von Akteuren (Türk et al. 2002: 39). „[…] the system has no existence apart from the succession of practices that instantiate, reproduce, or – most interestingly – transform it“ (Sewell 1999: 47). Das zentrale Forschungs304

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feld sind „die über Zeit und Raum geregelten gesellschaftlichen Praktiken“ (Giddens 1988: 52). Und dies impliziert eine Kritik an den Sozialwissenschaften, die aus der Arena alltäglichen Handelns ausgestiegen sind und mit ihren reifizierenden Schablonen gleichsam top-down das betrachten, was im Mikrokosmos vor sich geht.

6.3.2 Wirklichkeitsordnung und Wirklichkeitskonstruktion Die Einsicht, die Gesellschaft erst einmal von der Praxis her zu verstehen, muss nun freilich ergänzt werden. Praxis kann nur die basale Komponente des analytischen Bezugsrahmens sein. Denn in zweiter Instanz gibt es in der Gesellschaft immer auch kollektive Zusammenhänge, die sich als je spezifische Aggregationsformen von einzelnen Akteuren bzw. deren Praxis verstehen lassen. Bliebe man hier stehen, würde der entscheidende Mangel akteurtheoretischer Erklärungen, gesellschaftliche Strukturen und deren Dynamik nicht zu fassen, erneut reproduziert. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus? Bevor ich nun endgültig auf das Thema Strukturen verweise, sei noch ein Zwischenschritt eingeschoben, der für den Argumentationsgang zentral ist. Im obigen Punkt erwähnte ich die Schwierigkeiten, die sich aus der von Durkheim angeregten Dingsoziologie ergeben haben. Alle sozialen Praktiken sind demnach routinisierte Handlungsprogramme und nachgeordnete Derivate sozialer Ordnungsmuster. Immer ist das Resultat, wie Rudolf Stichweh (1999: 467) kritisch bemerkt, dasselbe: „Die Koordination von Mikro und Makro wird über eine Homogenisierung der Mikroebene erreicht.“ Als exemplarisch für eine solche Argumentation ließe sich Luhmanns Ansatz heranziehen, der explizit fordert, soziale Entitäten könnten nur als Konstitution „von oben“ und keinesfalls als Emergenz von unten aufgefasst werden (vgl. Luhmann 2 1988: 43). Aber ebenso bezieht sich das Konzept des Stanforder Soziologen John Meyer ausschließlich auf die strukturellen Ordnungseigenschaften der Makroebene, die er in den Prinzipien der Weltkultur identifiziert. Der Analysefokus ist eine Makrodetermination: Die Makrosphäre – letztendlich die Weltgesellschaft – wird als eigenständige Instanz definiert, die die lokalen Praktiken assimiliert. Die Akteure selber sind „eine hochgradig hinterfragbare Angelegenheit, und Handlung ist die Inszenierung übergreifender institutioneller Drehbücher und nicht das Produkt intern erzeugter, autonomer Entscheidungen, Motive und Zwecke“ (Meyer/Boli/Thomas 2005: 18). Diese zumeist systemtheoretisch angeregte soziologische Betrachtungsweise enthält indes ein Defizit, das einen grundsätzlichen und nicht bloß akzidentellen Mangel dieser Theoriearchitektur betrifft. Diese Art 305

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zu argumentieren scheint die Frage nach der Ordnung und der Reproduktion von Routinen von Anfang an als gelöst anzusehen. Indem nämlich das Lokale unter das Universale subsumiert wird, wird die Soziologie indifferent für die Prozesse, mit denen eine globale (Welt-)Gesellschaft erst produziert wird. Zurück bleibt das „Phantom des Globalen, das überall seine Wirkungen entfaltet, aber dennoch nirgends zu fassen ist“ (Stäheli 2004: 163). Ein zweites Kennzeichen der eben skizzierten neueren soziologischen Ansätze ist ihre radikale Prozessperspektive. Insgesamt ist zu beachten, dass der Duktus dieser Prozesssoziologie von einem heimlichen Essenzialismus, wie er meines Erachtens bei Luhmann vorliegt, deutlich abweicht. Es geht gerade nicht darum, von einem festen Kanon akzeptierter Codes oder Programme etc. auszugehen. Auf der Suche nach einem Modell, das kulturelle Handlungs- und Interpretationsschemata der gesellschaftlichen Akteure nicht simpel als von außen oktroyierte Rollen- und Zwangsprogramme deutet, wird immer deutlicher, dass die Logik der Praxis nur durch einen prozessualen Ansatz abgebildet werden kann. Die soziale Wirklichkeit ist eine im Prozess entstandene Wirklichkeit. Um soziale Prozesse der Realität adäquat abbilden zu können, müssen im Mittelpunkt jeder soziologischen Forschung die Menschen und ihre dynamischen gesellschaftlichen „Verflechtungen“ (Norbert Elias) stehen, die sie miteinander in Beziehung setzen. Elias (102004: 124) kommt zu dem Schluss, dass in der Soziologie soziale Zusammenhänge fast immer als sich im Zustand der Ruhe befindende Sachverhalte begriffen werden: „Man denkt gewissermaßen vom Ruhestand als dem Normalzustand her zu der Bewegung als einem Sonderzustand hin. Man bekommt die Sachverhalte, mit denen es die Soziologie zu tun hat, weit besser in den Griff, wenn man von den Bewegungen, von dem Prozeßcharakter nicht abstrahiert und Begriffe, die den Prozeßcharakter der Gesellschaften und ihrer verschiedenen Aspekte mit einschließen, als Bezugsrahmen für die Erforschung irgendeines gegebenen gesellschaftlichen Zustandes benutzt.“

Die Prozessperspektive, so scheint mir, ist zudem auch der zentrale Schlüssel, mit dem die hier zur Debatte stehenden Autoren die MikroMakro-Dichotomie neu formulieren. Man muss die Mikro-MakroSchnittstelle, so die Hypothese, historisch auflösen und untersuchen, wie sich Handlungskapazitäten einzelner Akteure in makrosoziologische Zusammenhänge überführen. Selbstverständlich gibt es, wie Michel Callon und Latour (1981) in einem gemeinsamen Aufsatz über ihr Konzept der Akteur-Netzwerk-Theorie betonen, Unterschiede zwischen Mikro- und 306

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Makrophänomenen. Insbesondere Latour (1987; 2005) behauptet nicht, dass der Gegenstand dessen, was Mikrosoziologie heißt, das Gesamtfeld der Soziologie definieren würde. Hierin besteht der große Unterschied zur Ethnomethodologie, die notorisch Schwierigkeiten hat, raumzeitlich weit ausgedehnte soziale Sachverhalte zu verstehen. Dieser Ansatz ist wenig geeignet, wenn es um die Erklärung kollektiver Prozesse in der Gesellschaft geht. Dass man Makrostrukturen analysieren kann, die von den Akteuren akzeptiert werden und sich in der Reproduktion von Gewohnheiten niederschlagen, kann allerdings nicht bedeuten, dass man diese im Sinne der durkheimschen Dingsoziologie als Endresultate bereits voraussetzen müsste. Das ist der Irrtum des soziologischen Essenzialismus, der einem „kollektiven Fehlschluß“ (Esser 31999: 593) aufsitzt. In diesem Kontext rückt allein die Reproduktion bereits faktisch vorhandener Orientierungen als Dinge der Kultur ins Zentrum des Interesses. Die Produktion und der Konstitutionsprozess von gemeinsamen Handlungsorientierungen hingegen werden nicht erfasst. Latour folgert daraus: Es handelt sich bei der gesamten, in der Soziologie lange Zeit diskutierten Mikro-Makro-Dichotomie vielmehr um ein zeit- und beobachterrelatives Phänomen (vgl. Holzinger 2004: 97f.). Es gibt gemäß Latour (2005) zunächst a priori auf der Analyseebene keinen essenziellen Unterschied zwischen Mikro- und Makroobjekten. Makrophänomene, die auf Stabilität und Konvergenz ausgerichtet sind – wie z.B. gesellschaftsumfassende Institutionen –, sind gemäß Latour vielmehr erst rückwirkend betrachtet das Ergebnis erfolgreicher Expansion von Zeit- und Raumdimensionen durch Verknüpfung heterogener Elemente. Sie sind Resultate eines Prozesses, die in lokalen Kontexten ihren Ausgang nehmen und von dort verknüpft werden. „There are of course macro-actors and micro-actors, but the difference between them is brought about by power relations and the construction of networks.“ (Callon/Latour 1981: 280) Soziale Tatsachen im Sinne von Makrophänomenen dürfen aber nicht einfach als Konstitution „von oben“ – wie bei Luhmann und Meyer – eingeführt werden. Sie müssen vielmehr in ihrer Genese in einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort eruiert werden. Mit anderen Worten: Es hängt entscheidend davon ab, zu welchem Zeitpunkt und von welchem Beobachtungsstandpunkt man bei der Erklärung eines sozialen Phänomens ansetzt: Analysiert man es zu einem Zeitpunkt, an dem alle strukturellen Zwänge im sozialen Lebenszusammenhang bereits akzeptiert sind und die Wirklichkeit eine kohärente und allgemein verbindliche Inszenierung erfahren hat (Black Box), oder beginnt man die Analyse dort, wo die institutionelle Struktur des zu erklä307

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renden Phänomens noch gar keine systematische Wirkung erzielen kann, weil die Situation des sich entwickelnden Pfades noch von Ungewissheit und Unklarheit durchtränkt ist? Nur so kann man feststellen, wann Unsicherheit reduziert wird und informationelle Offenheit durch graduelle Schließungsprozesse verringert wird. „If the sociology of the social works fine with what has been already assembled, it does not work so well to collect anew the participants in what is not – not yet – a sort of social realm. A more extreme way of relating the two schools is to borrow a somewhat tricky parallel from the history of physics and to say that the sociology of the social remains ‚pre-relativist‘, while our sociology has to be fully ‚relativist‘.“ (Latour 2005: 12)

Wir haben es hier – wie Johannes Rüegg-Stürm (22003: 9) sagt – mit der Unterscheidung von Wirklichkeitsordnung und Wirklichkeitskonstruktion zu tun: „Während die Wirklichkeitsordnung eine gewisse zeitliche Stabilität aufweist, d.h. zeitresistent ist, und kontextübergreifende Strukturmomente […] aufweist, ist die Wirklichkeitskonstruktion als zeitkontingenter irreversibler Prozess zu verstehen.“ Das bedeutet aber auch, dass Gesellschaftstheorie nicht a priori von der sozialen Ordnung ausgehen kann. Der Ordnungs- und Objektstatus der Gesellschaft wird radikal infrage gestellt. Denn wenn die Soziologie sich stets nur auf die bereits verfestigten Routinemuster repetitiver Praktiken konzentriert, ist klar, dass sie die soziale Praxis immer als bereits wandlungsresistente fraglose Black Boxes vorfindet. Anders ist es hingegen, wenn man die Wandlungstendenzen und die Prozesse von Praxis selbst ins Zentrum des Interesses rückt. Whitehead nannte dies die genetische Herleitung des Objekts. Whitehead (1987: 66) sagt: „Das wie ein wirkliches Einzelwesen wird, begründet, was dieses wirkliche Einzelwesen ist; so daß die beiden Beschreibungen eines wirklichen Einzelwesens nicht voneinander unabhängig sind. Sein ‚Werden‘ liegt seinem ‚Sein‘ zugrunde. Dies ist das ‚Prinzip des Prozesses‘.“ Der Historiker Hoffmann (2005: 87) fordert daher konsequent, die Kontingenz von Strukturen in ihrem Handlungsbezug an historischen Ereignissen zu exemplifizieren, ohne dabei die determinierende Relevanz von Strukturen zu vergessen. Insbesondere wäre, wie er mit Bezug auf den Historiker Michel Dobry argumentiert, der historische Blick in eine andere Richtung zu lenken, „weg von den Ergebnissen der Ereignisse, hin zur Geschichte im Augenblick ihres Entstehens“ (Hoffmann 2005: 328). Nur so könnte der Wissenschaftler auch die Wahrnehmung, die Spielräume und die Entscheidungssituation der Akteure in der konkreten spezifischen Situation in den Blick bekommen. 308

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6.3.3 Integration von Mikro- und Makrophänomenen. Die Bedeutung von Netzwerken Ganz abgesehen von dem Gewinn an Präzision sensibilisiert die Prozessperspektive, die im letzten Punkt skizziert wurde, dafür, dass Makrophänomene nicht bereits vorab Strukturcharakter besitzen. Um überhaupt ein der Makroebene entsprechendes Niveau zu erreichen, sind weitreichende Interaktionen und Aushandlungsprozesse nötig, sodass akteurspezifische Interessen zu einer Einheit zusammengefasst werden können. Noch immer steht allerdings die Frage nach der Strukturiertheit sozialer Zusammenhänge aus. Das basale Ordnungs- oder Strukturproblem ist darin zu finden, wie die Praxis im sozialen Leben etabliert wird und wie sich im Gefolge der Reproduktion von Regeln die Kontinuität der Bedeutungen aufrechterhält. Ich komme nun zu den hier relevanten, die Gesellschaft als Strukturen betreffenden Folgerungen der zu diskutierenden Autoren. Die Erkenntnis, dass soziale Strukturen oder Institutionen als prozesshafte Gebilde aufzufassen sind, muss durch eine weitere Einsicht ergänzt werden, die davon ausgeht, dass Institutionen wie Netzwerke aufgefasst werden müssen. An dieser Stelle ist somit die Bedeutung des Netzwerksbegriffs hervorzuheben, der in den letzten Jahren eine beachtliche Rezension erfahren hat. (1) Netzwerke als Mikro-Makro-Scharnier: Hinter dem Netzwerkbegriff steht die Vermutung, dass Strukturen auf der Makroebene nur dann greifen, wenn man zeigen kann, wie Akteure im Zusammenspiel ihrer individuellen Verhaltensweisen und Motivationen eine auf der Makroebene sichtbare Ordnung erzeugen, ohne dass diese gleichzeitig von ihnen als je Einzelne immer gewollt oder für sie erkennbar wäre. Ein Netzwerk, das sich als Institution etabliert, nimmt offensichtlich an Stabilität zu, je mehr heterogene Akteure es in die Mitgliedsgruppe integrieren kann – d.h. aber gleichzeitig, je mehr heterogene und neue Probleme (der verschiedenen Interessenten) es zu lösen vermag. Netzwerke werden stabiler, je mehr Akteure in den Netzwerkzusammenhang aufgenommen werden können. „A network is never bigger than another one, it is simply longer or more intensely connected.“ (Latour 1996: 371) Durch den Netzwerkbegriff gibt es faktisch eine zwischengeschaltete Mesoebene, mit deren Hilfe Makroprozesse stringent zerlegt werden können. Weyer (2000: 239) kommentiert: „Soziale Netzwerke sind Instanzen, über die gesellschaftliche Werte und Normen, aber auch gruppen-, schicht- oder milieuspezifische Verhaltenserwartungen an die individuellen Akteure weitergegeben werden. Durch die Einbettung

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der Akteure in Netzwerke leisten diese (und nicht die Normen oder die Institutionen an sich) die Sozialisationsarbeit sowie die Kontrolle und die Sanktion individuellen Verhaltens. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit kann durch die Interaktion der Akteure als mehrstufiger Prozess begriffen werden, der nicht unmittelbar Gesellschaft hervorbringt, sondern in einem ersten Schritt zunächst soziale Netzwerke als lose, temporärverfestigte Institutionalisierungen von Verhaltenserwartungen, die erst in einem zweiten Schritt zu dauerhaften, gegenüber dem Handeln der Akteure sich verselbständigenden institutionellen Strukturen werden.“

Der Vorteil des Netzwerkkonzeptes besteht darin, dass Netzwerke sowohl auf der Mikro- wie Makroebene anzusiedeln sind, weil Netzwerke als eine Brücke zwischen Praxis- und Strukturebene anzusehen sind, als Mikro-Makro-Scharniere, wie Weyer (2000) sagt. Dieser Ansatz konzentriert sich darauf, die intermediäre Struktur ins Spiel zu bringen, die eine Vermittlung zwischen den Ebenen leistet. Im Sinne der soeben skizzierten Grundintuition lässt sich von der Institutionalisierung eines Handlungs- oder Routineprogramms sprechen, wenn der Prozess der Abstimmung von Ereignissen und Handlungsvernetzungen in eine Eigendynamik und Stabilisierung einschwenkt. Eine Institution kann erst dann wirklich aktiv in die Lebenszusammenhänge der Menschen eingreifen, wenn sie sich in das Gegenteil eines Prozesses verwandelt. Wo sich eine Institution sehr radikal auswirkt, hat der Prozess wenig Entfaltungsmöglichkeit, wo er allerdings sehr dynamisch ist, ist es für die Institution nur schwer möglich, sich als beharrlich zu erhalten. Nimmt man also an, dass sich Institutionen immer in stetigem Wechselverhältnis von Bewegung und Stabilisierung befinden, so kann man sagen, dass Interaktion und Institution zwei Seiten derselben Medaille sind. Sie können nur im Zusammenhang und beide gleichzeitig gedacht werden (vgl. Schülein 1987: 126). Um in diesem Punkt zu einiger Klarheit zu kommen, muss man sich vor Augen führen, dass auch Kultur hier anders als im soziologischen Funktionalismus aufgefasst werden muss. Es ist ziemlich augenfällig, dass Kultur im landläufigen Sinne stets als gesellschaftlicher Zwangsmechanismus verstanden wird, der gleichsam von außen an das Individuum herangetragen wird. Wimmer (2005) hat einen Kulturbegriff in Absetzung zu solchen Ansätzen erarbeitet, die Kultur immer noch substanzialistisch als Reifikation verstehen. Dieser Vorstellung von Kultur als einem musealen Ausstellungsstück setzt Wimmer (2005: 32) einen Kulturbegriff entgegen, der „Kultur als einen offenen und instabilen Prozeß des Aushandelns von Bedeutungen“ fasst, der im Falle eines

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Konsenses zur Schließung sozialer Netzwerke führt. Kultur wird als relationaler Prozess und als Praxis aufgefasst. Im Falle eines Kulturwandels verändern sich das Set von Regeln, die praktischen Fähigkeiten und die Interpretationspraxis mittelfristig in ihrem spezifischen und historischen Gebrauch.16 Nur dann, wenn sich die Interaktionsmodi und kulturellen Praktiken der Akteure den neuen Anforderungen anpassen, könnten sich die neuen Geltungsansprüche, die an sie herangetragen werden, in Routinen verfestigen. Die habituellen Dispositionen müssten im Falle eines erfolgreichen Wandels neue Variationen über die bisher gültigen kulturellen Themen produzieren (vgl. Wimmer 2005: 46). „Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Wörter.“ (Wittgenstein 31989c, § 65: 132) (2) Institutionalisierung eines Netzwerkes am Beispiel der Hygiene: Als besonders prägnantes Beispiel lässt sich der bereits erwähnte Netzwerkansatz von Latour und Michel Callon aufgreifen. Ich möchte meine weiteren Überlegungen an einem Beispiel, wiederum der Theorie Latours entnommen, erläutern. Latour (1988a) hat diese Erklärungsmuster in seiner Pasteurstudie anhand der Pasteurisierung Frankreichs dargestellt.17 Latour erklärt Pasteurs Erfolg damit, dass er nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung von Seuchen geliefert habe, sondern ebenso zur Zielformulierung im politischen Prozess. Hygiene, Gesundheitspolitik, bedeutende strategische Vorteile in der Verteidigungspolitik und wirtschaftliche Prozesse werden durch die pasteurschen Innovationen Gegenstand sozialer Veränderungsprozesse. Pasteur, so lautet Latours Argument, hat ähnlich wie Robert Koch seinen Zeitgenossen Folgendes klargemacht: Nicht nur soziale Klassenunterschiede, nicht die nur unmittelbare soziale Umwelt der Menschen seien die letztendliche Ursache der katastrophalen Gesundheitslage, sondern die Mikroorganismen. Die vorherrschenden Probleme durch Krankheiten und Seuchen basieren auf Keimen, die im Laboratorium sichtbar gemacht werden können. „The Pasteurians added to society a new agent, which compromised the freedom of all other agents by displacing all their interests.“ (Latour 1988a: 122) Die Bakteriologie Pasteurs löste die die Spezifität von Krankheitsursachen außer Acht lassende Hygienetheorie ab. Pasteurs und ebenso Kochs Bakteriologie führte die Krankheits16

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Damit ist freilich nicht gesagt – ich erinnere an das Thema Geschichte der Gewalt –, dass alle Institutionen auf freiwilliger Verhandlungsbasis entstehen und entstanden sind. Auch Herrschaftsverhältnisse spielen selbstverständlich in der Geschichte eine große Rolle. Ich beziehe mich hier auf Ausführungen, die ich bereits in einer früheren Arbeit (Holzinger 2004) dargelegt habe.

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ursache auf einen spezifischen Mikroorganismus zurück. Als präventive Intervention setzte sich die Epidemiologie durch, mit dem Ziel der Isolierung von Keimträgern und Immunisierung. Ausschließlich soziale Erklärungsmuster wurden durch die komplexere bakteriologische Epidemiologie ersetzt. Latours Interesse gilt aber vor allem den institutionellen Veränderungen, die sich auf dem Gebiet der Hygiene und der hygienischen Handlungsvorschriften ergeben haben. Es ist eine Tatsache, dass die Entdeckungen Pasteurs zu einer Veränderung des bis dahin vorhandenen Sensoriums gegenüber der hygienischen Sorge führte. Es wurde nun realisiert, dass Infektionskrankheiten nicht per se durch Schmutz verursacht werden, sondern durch Keime. Die Laboratorien waren zur damaligen Zeit wichtige Knotenpunkte in den entstehenden Hygienenetzwerken und führten zu einer politischen Umgestaltung der Gesellschaft. Es wurden jetzt von Wissenschaftlern beeinflusste Maßnahmen staatlicher Krankenaufsicht in Gang gesetzt. „Die Hygiene muß […] aus den wissenschaftlichen Instituten heraus an den Einzelnen herangebracht werden“, heißt es in dem Hygienebuch von Grotjahn (zit. nach Labisch 1989: 280). Die bakteriologischen Interventionen führten also generell dazu, dass bakteriologisch orientierte Hygieneinstitute und eine Spezifizierung und Technisierung der Stadthygiene entstanden. In nie da gewesener Weise wurden nun auch Proletarier und die Unterkünfte der Armen unter administrative Kontrolle gestellt. Bei alledem sei auf einen zentralen Aspekt bei Latours Modell hingewiesen. Entscheidend für den fallrekonstruktiven Ansatz der AkteurNetzwerk-Theorie ist der Versuch, das zunächst unvermittelte Nebeneinander verschiedener Interessenlagen plastisch zu beschreiben. Die Existenz von makrosoziologischen Ordnungsstrukturen ist gemäß dieser Theorie ein unwahrscheinliches Phänomen. Das Weben von Netzwerken ist ein mühevoller Akt, der häufig im Rahmen von Verhandlungskonstellationen stattfindet. Die Netzwerke sind Orte ständiger Verhandlungsprozeduren und sozialer Arbeit. Der Erfolg eines Netzwerkes und der konsequente Wirkungsradius des Netzeffektes hängen voll und ganz von der Kraft und dem Einsatz ab, den die Übersetzer in das Projekt investieren. Der Verhandlungsaufwand ist entscheidend für die Sicherstellung von Anschlusskommunikationen und die Übernahme von Handlungserwartungen. Netzwerke schrauben sich unter rekursiver Beteiligung aller Aktanten gleichsam spiralenförmig von einem Niveau auf das nächste. Es handelt sich dabei, wie man auch sagen könnte, um „Aufwärtstransformationen“ (Joerges 1996: 145). Netzwerke erscheinen hierbei als Form sozialen Austausches, die – um mit Weyer et al. (1997: 61) zu sprechen – als „Formen der spontanen Selbstkoordination von Akteu312

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ren“ anzusehen sind, „die eigenständige, oftmals überraschende, innovative Problemlösungen erzeugen“. In ihnen findet eine Art Interessenausgleich statt, wobei differente Interessen gewissermaßen ineinander verschränkt werden (vgl. Schimank 2005a: 213; Latour 1987: 108ff.). Beispielsweise konnte sich Pasteur bei der Entwicklung einer neu gestalteten Hygienekultur nicht ausschließlich auf die Überzeugung seiner wissenschaftlichen Kollegen konzentrieren und die Implementierung der Hygieneroutinen den Gesundheitsbehörden überlassen. Er musste die Öffentlichkeit auf seine Seite bekommen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Pasteurs Entscheidungsexperiment in der Gemeinde Pouilly-leFort (Latour 1988a: 87ff.). Am 2. Juni 1881 begab sich Pasteur auf die Farm von Hippolyte Rossignol, einem örtlichen Veterinär. Auf der Farm erwarteten ihn mehr als 200 Regierungsbeamte, örtliche Politiker, Veterinäre, Farmer, Reporter etc. Es ging um die Frage, ob Pasteur tatsächlich einen Impfstoff gegen den Milzbrand entwickelt hatte (einer Krankheit, deren Schäden pro Jahr etwa 20–30 Mio. Francs verschlangen). Pasteur wusste, dass er mit diesem Experiment seinen Ruf ruinieren konnte, denn „ein Jahrmarktspublikum ward zum Richter über seine Wissenschaft“ (Winkle 1997: 80). 25 Schafe wurden am 5. Mai und am 17. Mai geimpft. Weitere 25 Schafe wurden nicht geimpft. Sowohl den geimpften als auch den nicht geimpften Schafen wurden am 31. Mai Milzbrandbakterien injiziert. Pasteur hatte vorausgesagt, dass die geimpften Tiere überleben und die nicht geimpften Tiere sterben würden. Das Ergebnis war, dass alle geimpften Tiere lebten und (bis auf eines) gesund waren, hingegen die nicht geimpften Tiere fast alle dem Milzbrand erlegen waren und die übrigen dabei waren, zu sterben. Latours (1988a: 90) Fazit daraus lautet: „But Pasteur did not wait for the future; he recruited it. Pouilly-le-Fort was a large-scale theater within which with overwhelming arguments he could convince equally enormous social groups – the French stockrearing industry, the Société d’Agriculture, government ministers.“ Der Kampf gegen den Schmutz, ansteckende Krankheiten und unsichtbare Mikroparasiten führte somit allmählich zu kollektiven Lernprozessen, die sich auf der Ebene der Institution als stabiles Set von Regelsätzen herauskristallisiert hat. Hinsichtlich der kognitiven und emotionalen Ebene der Akteure hat der Kampf gegen ansteckende Krankheiten zur Bildung reflektierterer und zivilisierterer Lebensgewohnheiten geführt. Das, was wir heute ganz selbstverständlich als die Regeln der Hygiene bezeichnen – also Vakzinen, Antiseptika, Impfungen, Knowhow, Verhaltensregeln –, war zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine lokale Sphäre begrenzt. Die innovativen Instrumentarien der Hygienisierung standen zunächst nur in einigen lokalen Laboratorien zur Verfü313

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gung. Erst durch die Übersetzungsprozesse der Pasteurianer und Hygieniker wurden sie allmählich in einem kulturellen Kontext und schließlich in jedem Haushalt institutionalisiert. Das Netz der Hygiene hat in der Tat, wie Latour sagt, Ähnlichkeit mit den Elektrizitäts- und Telefonnetzen. Wie das Netz der Gewässer durch Wasserleitungen auszubauen und zu verfeinern ist, bis jeder Haushalt zuverlässig versorgt werden kann, so werden die Instrumente der Bakteriologie in den Haushalten implementiert: „The distribution of the microbes ‚throughout the world‘ is exactly similar to that of gas and electricity.“ (Latour 1988a: 263) Pointierter gesagt: Die Hygiene wird durch das Netzwerk, das quer durch die Gesellschaft verläuft, auf eine neue Art verbindlich. Der Typus von Individuum, der vor allen anderen Werten Gesundheit als vornehmliches, oberstes Lebensziel ansieht, der „homo hygienicus“ also, lag mit der gelungenen Expansion und Ausdifferenzierung der Bakteriologie als Resultat endgültig vor (vgl. Labisch 1989). Das Regelset der Hygiene hat sich zwar auch jetzt nicht verdinglicht und auch nicht verselbstständigt. Der „träge Strom des Handelns“ (Esser 3 1999: 595) rekurriert immer noch auf Entscheidungen, sich jeweils nicht zu entscheiden. Aber die Hygienepraxis gilt in vielen Regionen der Welt als Standard. Bei Hygienevorschriften handelt es sich für gewöhnlich um Regeln, die ohne permanentes bewusstes Befolgen von Regeln befolgt werden. Gesetzt den Fall, sie sind etabliert, so sind Routinehandlungen Handlungen, „die durchtränkt sind von einem Gefühl der Selbstverständlichkeit“ (Giddens 1995b: 175). Es gibt somit auch innerhalb eines solchen Institutionenpfades Momente, in denen der institutionelle Status quo einen systemischen Grad erreicht, bei dem das spontane Verlassen des eingeschlagenen Pfades eher unwahrscheinlich ist. Was nun möglich ist, ist eine weitgehende „Ausblendung der Kontingenz, die dann gleichsam bei jeder Entscheidung nur noch für einen winzigen Moment aufblitzt und gleich wieder vergessen wird“ (Schimank 2002: 48). Hygieneregeln gehen nun als Programme ein in das Set von Rollen oder „sozialen Drehbüchern“ (Esser 1994: 180f.), die das Framing von Situationen strukturieren und so auch zur Herstellung einer gewissen Einheit des sozialen Lebens beitragen. Sie simplifizieren in diesem Sinne auch Sequenzen des Alltagshandelns, weil die Akteure handeln, ohne dass sie permanent über ihre Handlungen nachdenken müssten. Wir haben es hier gleichwohl nicht mit einem essenzialistischen Struktur- oder Systembegriff, sondern mit einem empirischen Sachverhalt zu tun: Systeme existieren eben nur dort, so Joas/Knöbl (2004: 682), „wo sich tat-

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ZUR EPISTEMOLOGIE DER KONTINGENZ

sächlich auch Rückkopplungsschleifen ausweisen lassen, die zu stabilen Prozessen führen“. Allerdings: Auch der sogenannte Routinecharakter der meisten sozialen Praktiken ist etwas, woran die Akteure permanent arbeiten müssen. Gerade weil das Verhalten von Akteuren immer kontingent und damit im Kern störungsanfällig ist, muss der Routinecharakter permanent neu bewältigt und vergewissert werden (vgl. Rüegg-Stürm 22003: 103). Nichts ist hierbei selbstverständlich. Um beim Thema Hygiene zu bleiben: Wie Berichte der UN-Entwicklungsorganisation UNDP zeigen, müssen weltweit 2,6 Milliarden Menschen ohne gesundheitlich unbedenkliche sanitäre Einrichtungen leben. Wegen des Mangels an sauberem Wasser und auch an Toiletten sterben demnach jährlich 1,8 Mio. Kinder an den Folgen mangelnder Hygiene. Fast die Hälfte der Menschen in Afrika, Asien und Lateinamerika lebt ohne Toilette und sanitäre Einrichtungen. Das fördert die Ausbreitung von Krankheiten (Süddeutsche Zeitung, 11./12.11.2006: 34). Nun wird auch noch einmal ersichtlich, warum die hier diskutierten Autoren einen so großen Wert auf die Prozessperspektive legen, über die ich im letzten Punkt referierte. Denn nur so wird überhaupt transparent, wie kompliziert sich die Dauersynchronisation einer großen Anzahl von Akteuren im Hinblick auf eine strukturelle Orientierungsdimension gestaltet. Es wird erkennbar, wie Räume der Kontingenz simplifiziert werden. Wer von der Stabilität einer Struktur sprechen möchte, muss auch von den Schwierigkeiten sprechen, die nötig waren, damit sich eine Erwartungsstruktur relativ stabil halten kann. Der französische Soziologe Luc Boltanski hat auf diese Theorieproblematik in seiner empirischen Studie über die Berufsstruktur der französischen Führungskräfte („cadre“) hingewiesen. Die Grundidee von Boltanski lautet: Es gibt die fertige soziale Gruppe der Führungskräfte für den Soziologen erst dann, wenn die Akteure ihr Selbstverständnis von sich als Gruppe definiert haben. Die Kategorie der „cadres“ kann nicht nur als statistisches Artefakt existieren. Die „cadres“ können als Gruppe nur existieren, wenn die Arbeit der Konstitution und die Definition der Gruppe abgeschlossen sind (vgl. Boltanski 1990: 169). Boltanskis Versuch, die Genese der Institutionalisierung der Führungskräfte zu beschreiben, verzichtet auf jede „Vorabdefinition“ seines Gegenstandes und macht die „historische Konstellation zum Gegenstand der Untersuchung […], in der die cadres explizit als soziale Gruppe mit Namen, Organisation, Wortführern, Repräsentations- und Wertsystemen entstanden sind“ (Boltanski 1990: 47). Dies bedeutet aber, dass der soziologische Diskurs über die Führungskräfte „nicht zum Gegenstand der ‚wissenschaftlichen‘ Analyse oder Diskussion gemacht werden kann, 315

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

ohne daß zugleich gesagt wird, was er den historischen und sozialen Verhältnissen schuldet, in denen er produziert wurde“ (Boltanski 1990: 168f.). Nicht die Führungskräfte werden demnach betrachtet, sondern die immense historische und symbolische Arbeit des Sichgruppierens, die notwendig ist, um heterogene Akteure um die gleichen symbolischen Repräsentationen herum zu gruppieren. Türks (1997: 146) obiges Zitat modellierend könnte man sagen: Es gibt zunächst niemals eine „Raum und Zeit übergreifende“ Institution. Institutionelle Vorgaben übertragen sich nicht von selbst in lokale Kontexte. Alle Institutionen entstammen „lokaler Produktion“. Die Größe und die Dauerhaftigkeit eines Netzwerkes hängen von der Zahl der in es aufgenommenen Elemente ab und von der Möglichkeit, Übergänge von Punkt zu Punkt zu schaffen. Sloterdijk (1999: 675ff.) hat an äußerst erfolgreichen Institutionen, nämlich den Hochreligionen, nachgewiesen, dass diese die gesamte Welt nur deswegen mit religiösem Sinn überziehen konnten, weil es ihnen gelungen ist, ein globales Netzwerk zu errichten. Auch ein religiöses Artefakt wird nur dann gesellschaftlich relevant, wenn es denjenigen gelingt, die diesen Sachverhalt repräsentieren, die Netzwerkoberfläche immer weiter auszubreiten. Erfolgreich sind die Apostel und die Überbringer der Botschaft Gottes demnach nur, wenn sie es vermögen, „Boten zweiten Grades“ hervorzubringen: „Der heute so genannte Netz-Effekt wird schon durch die frühesten ekklesiogenen Kommunikationen eingeübt. Ohne diese Infektionen könnte aus einem bloßen Informationsprozeß keine Welt in der Welt entstehen; ohne den apostolischen Kettenbriefeffekt käme kein Imperium im Imperium, keine reichsweit operierende Kirche […]“ zustande (Sloterdijk 1999: 687f.). Die Netzwerkmetapher ist hier deswegen so innovativ, weil sie die prozessualen Variablen nennt, unter welchen Bedingungen Regeln eine soziale Anschlusslogik generieren und im sozialen Raum eine „Reifung von Regelregimen“ (Schulz und Beck 2002: 137) hergestellt wird. Oder wie Latour (2005: 176) es formuliert: „Macro no longer describes a wider or a larger site in which the micro would be embedded like some Russian Matryoshka doll, but another equally local, equally micro place, which is connected to many others through some medium transporting specific types of traces.“ Joas und Knöbl (2004: 421) kommentieren den Sachverhalt (hier in Bezug auf Giddens) folgendermaßen: „Man kann also […] die Vernetzung von Handlungen vieler Menschen über Raum und Zeit hinweg durchaus auf Grundlage handlungstheoretischer Überlegungen beschreiben. Man benötigt dafür auch keine akteurlose Ordnungstheorie, wie sie der Funktionalismus anbietet. Ja, man darf eine solche funkti-

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ZUR EPISTEMOLOGIE DER KONTINGENZ

onalistische Ordnungstheorie gerade nicht verwenden, weil man durch sie die Flüssigkeit sozialer Strukturen verkennen würde […]“

(3) Auch die Weltgesellschaft bleibt in allen ihren Punkten lokal: Damit kann auch das Mysterium der Weltgesellschaft konkret aufgeklärt werden. Der Begriff Weltgesellschaft, darauf wurde oben hingewiesen (Kapitel 4), wird allzu oft als Problem der Makrosoziologie abgehandelt – geht es doch bei diesem Phänomen um ein soziales Konstrukt, bei dem das Gesellschaftssystem hin zu einem weltgesellschaftlichen Kommunikationszusammenhang expandiert. Das Neue und das Besondere dieser Analysekategorie besteht in erster Linie darin, „daß die Weltgesellschaft als ein umfassendes soziales System aufgefasst wird, das Nationalstaaten transzendiert und sich als eigenes Koordinatensystem über diese spannt“ (Wobbe 2000: 6). Gemeint ist dann, dass die Welt durch die Steigerung des Weltverkehrs vereinheitlicht ist, dass sich, wie vorhin diskutiert, eine globale Weltkultur etabliert und dass durch den weltweiten Gebrauch des Internets alle lokalen Ereignisse in kürzester Zeit zum Bestandteil der Welt werden. Mit diesen Überlegungen – und die Quintessenz der bisherigen Überlegungen zur Weltgesellschaft demonstrierten dies (vgl. Kapitel 4) – hat man zunächst nur eine hochabstrakte, theoretische Figur skizziert. Dabei ist gerade an dem Phänomen der „Weltgesellschaft“ zu studieren, dass die elementaren Voraussetzungen jeglichen sozialen Ordnungsaufbaus in den Mikrobereichen des Sozialen, mithin: in der Mikrosoziologie, fundiert sind. Ich beziehe mich hier nur auf die Bedeutung der Weltgesellschaft als globales Kommunikationsforum und kommunikative Synchronwelt: Auch die Weltgesellschaft hat nicht von sich aus das Potenzial, zu expandieren. Die globale Teilnahme am Kommunikationsgeschehen ist zwar heute prinzipiell oder potenziell überall möglich, weil die Massenmedien überall auf der Welt über Ereignisse auf dem Erdplaneten berichten. Allerdings: Ohne lokale „Aufschreibesysteme“ und regionale Medientechnik, d.h. ohne „das Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und relevanter Daten erlauben“, wie Kittler (42003: 501) dies ausdrückt, kommt keine Weltgesellschaft zustande. Und er fügt hinzu: „Weil es Sprachen ohne Spur und d.h. ohne Spur von Schrift nicht gibt, fällt die ‚kommunikative Vernunft‘ mit der ‚instrumentellen‘ […] immer schon zusammen.“ (Kittler 42003: 502) Man muss sich dieses Faktum vor Augen führen, wenn man begreifen möchte, was eine „Weltgesellschaft“ überhaupt sein könnte. „Welche Vernetzungsgröße und -dichte jeweils gewählt wurde, wie viele 317

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

‚Anschlussstellen‘ und damit Mitglieder die jeweilige Kommunikationsgemeinschaft zählte, hängt von der Leistungsfähigkeit der Informationsund Kommunikationsmedien ab.“ (Giesecke 1998: 335) Interaktion in der Weltgesellschaft kommt nur über den Gebrauch bestimmter Kommunikationsmedien zustande. Latour (2005: 242) gibt zu bedenken: „Wir neigen dazu, in den erweiterten Netzen der Abendländer systematische und globale Totalitäten zu sehen. Um dieses Mysterium aufzulösen, brauchen wir nur den ungewohnten Wegen zu folgen, die diese Maßstabsveränderung ermöglichen: wir brauchen bloß die Netzwerke der Fakten und Gesetze in etwa wie Abwasser- oder Energieversorgungsnetze zu betrachten. […] Kontinuierliche Wege vom Lokalen zum Globalen, vom Partikularen zum Universellen, vom Kontingenten zum Notwendigen gibt es nur, wenn man bereit ist, den Preis für die Anschlüsse zu zahlen.“ (Latour 1995: 156f.)

Bedenkt man darüber hinaus die Tatsache, dass der überwiegende Teil der Menschheit noch gar nichts von der Existenz der neuen Informationstechnologien zur Kenntnis genommen hat, kann man sich vorstellen, wie es um den Begriff „Weltgesellschaft“ bestellt ist: „Society does not cover the whole any more than the World Wide Web is really worldwide.“ (Latour 2005: 242)18

6.4 Reflexive Soziologie Wie viele andere Disziplinen war die Soziologie auf einer Metaebene in den vergangenen Jahrzehnten durch heftige Debatten über ihre spezifischen Grundbegriffe und Anwendungen geprägt. Unentwegt hat sie zur Selbstreflexion gemahnt und wiegt sich im Spiel des „Beobachters zweiter Ordnung“ oder des „observers observed“. Auch in der Ethnologie ist die Barriere zwischen „dem Wissenschaftler“ und „dem Feld“ brüchig geworden. Nicht nur die im Forschungsfeld agierenden Personen, son18

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Die Zahlen, die über den Stand der Internetanbindung in den verschiedenen Kontinenten Auskunft geben, sind alarmierend: In Afrika haben nur etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung einen Zugang zum Internet, im Mittleren Osten sind es 0,8 Prozent, in Asien und im pazifischen Raum 1,6 Prozent. Südamerika hat eine Quote von sogar 2,5 Prozent. Doch hinter Europa, wo immerhin schon 9,9 Prozent online sind, oder gar Nordamerika mit 44,3 Prozent Internetnutzern sind diese Regionen weit abgeschlagen. Europa und Nordamerika haben bei einem Anteil von 23,2 Prozent an der Weltbevölkerung den Zugriff auf 75,4 Prozent aller Internetanschlüsse weltweit (Stand: 2000) (vgl. heise online news „UN-Bericht: Internet polarisiert die Gesellschaft“ http://www.heise.de/ newsticker/meldung/10407).

ZUR EPISTEMOLOGIE DER KONTINGENZ

dern auch die Feldforscher und Feldforscherinnen selbst erwiesen sich als verstehende und interpretierende Beobachter, die mit ihrem jeweiligen Forschungsobjekt in wechselseitige Beziehungen verstrickt sind (Bourdieu/Wacquant 1996). Die Frage, die uns in diesem letzten Abschnitt beschäftigen soll, lautet: Was bedeuten die oben ausgeführten Bemerkungen nun für eine reflexive Soziologie oder, um Luhmanns (1992b: 9) Ausdruck zu benutzen, eine Soziologie, die „Rückschlüsse auf das eigene Tun beachten“ muss?

6.4.1 Beobachter und Teilnehmer Aus dem vorher Gesagten lässt sich jetzt bereits ablesen: Wir können niemals „Beobachter“ eines Sachverhaltes sein, ohne auch zumindest partiell Teilnehmer zu sein. Die in der empirischen Sozialforschung geschulten Ohren werden natürlich aufhorchen. Selbstredend bezieht sich die Datengewinnung auch auf solche Ereignisse, an denen der Soziologe nicht realiter teilnehmen kann. Das bedeutet aber nur, dass man neben der Teilnahme, die face to face stattfindet, eine große Anzahl von Dokumenten aller Art rezipieren muss. Gemeint ist Folgendes: Der Forscher kann systematische Kategorienfehler nur dann vermeiden, wenn es ihm gelingt, seine Deutungen „an den Selbstdeutungen zu bewähren, in denen die Mitglieder von Gesellschaften ihre soziale Lebenswelt selbst auslegen“ (Fuchs/Wingens 1986: 481). Amann/Hirschauer (1999: 503) drücken dies so aus: „Das Wissen für gesellschaftliche Innovationen ist in der Gesellschaft selbst vorhanden und kann dort aufgesucht werden, um gesellschaftliche Entwicklungen in ihren embryonalen Zuständen aufzuspüren.“ Um eine epistemische Asymmetrie zwischen Außenbeobachter und Innenbeobachter zu vermeiden und eine möglichst genaue Beschreibung dessen zu erzielen, was jeweils hinter dem steckt, was der „Fall“ ist, sollte es das Ziel des Analytikers sein, eine möglichst nahtlose „Einkuppelung“ zwischen empirischer Beobachtung und der Untersuchungsrealität zu erreichen, wie Karin Knorr-Cetina dies einmal genannt hat. Wie der ethnologische Feldforscher sollte sich der Soziologe zunächst von der Situation leiten lassen und eine registrierende, enzyklopädische und betrachtende Haltung einnehmen, um das Material selbst zum Sprechen zu bringen. Die qualitative Sozialforschung nennt dies hier auch „beobachtende Teilnahme“ (Hitzler 1999: 477). Es handelt sich dabei nicht nur um Interviews, die geführt werden sollen, die nur punktuelle Einsichten in das jeweils zu erforschende Feld geben. Es sollten mannigfaltige historische Diskursgeschichten, Dokumente (Artefakte, Interviewdokumente, Konversationsmitschnitte, Vi319

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

deotakes), Fallgeschichten und Fallreihen gesammelt werden, um anstatt Erhebungspunkte ganze Erhebungsstrecken (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 16) zu dokumentieren.

6.4.2 Offenes Verhältnis zum Nichtwissen Heißt dies nun, dass der soziologische Beobachter mit seinem Gebiet verschmelzen sollte? Und heißt dies, dass der Soziologe „vollkommen“ voraussetzungslos an die Sachverhalte herangehen könnte? Dies würde allerdings metatheoretischen Einsichten der jüngeren Sozialwissenschaften und Ethnografie widersprechen, die von einer „Krise der ethnographischen Repräsentation“ (Berg/Fuchs 1993a) ausgehen. Widersprochen wird hier der Vorstellung, der Ethnologe oder auch Soziologe könne in ein fremdes Gebiet vordringen, ohne Weiteres den Standpunkt des Eingeborenen einnehmen und die Sachverhalte der fremden Lebenswelt wie Rohdaten naturalistisch abbilden. Dagegen richtet sich die von Clifford Geertz in Umlauf gebrachte Einsicht, dass dasjenige, was der Ethnologe zu repräsentieren wünscht, selbst schon etwas Gedeutetes ist. Zudem muss auch jede Narration dem Umstand Rechnung tragen, dass die Wirklichkeit an sich unfassbar komplex, ein Chaos ist. Auch in einer Erzählung kann man an die Wirklichkeit nicht völlig voraussetzungslos herangehen. Zum einen besitzen wir keinen direkten Zugang zu historischen Ereignissen. Zum anderen wäre selbst eine ideal vorgestellte Chronik nicht denkbar. Eine solche Darstellung würde nichts erzählen, da sie nur Sätze in einer Beobachtungssprache aneinanderreihen würde. Eine Erzählung kann also niemals ein Ereignis vollständig beschreiben. Die Differenz zu einem naiven Realismus kann wohl nur darin bestehen, wie die Soziologie sich auf ihren Gegenstand einlässt. Gerade ein dumpfer Naturalismus muss ja nicht anvisiert werden. Aber ebenso wenig heißt dies, dass man sich Geertz’ Formel von der „Kultur als Text“ aneignen müsse. Denn auch hier droht sich die Ethnologie auf eine Methode zu verkürzen, die nicht mehr an der realen Konfrontation zwischen Forscher und Objekt interessiert ist, sondern zum Selbstzweck und zur „Tagebuchkrankheit“ (Bourdieu 1993a: 366) ausartet. Die Metareflexionen über die Krise der Repräsentation lassen eher erkennen, dass das Interesse an der Erforschung von und den Beziehungen zu anderen Kulturen nachgelassen hat. Ihren Platz nimmt jetzt die (nicht thematisierte) Beschäftigung mit Traditionen der Repräsentation sowie mit Metatraditionen von Metarepräsentationen in unserer Kultur ein (vgl. Fabian 1993: 183). Geertz’ Semiotik und die von ihm beeinflusste Kultursemiotik ignoriert dann auch vollständig „den sozialen Praxiszusammen320

ZUR EPISTEMOLOGIE DER KONTINGENZ

hang, in den auch die Erkenntnisproduktion – und die literarische Tätigkeit – eingebettet ist“ (Berg/Fuchs 1993b: 62). Die Fremderfahrung würde ihren Charakter in der Tat einbüßen, wenn Reflexion nun wieder ausschließlich in der Bedeutung der klassischen Reflexionsphilosophie als Rückbeugung auf sich selbst verstanden würde. Ein solcher semiotischer Ansatz hilft nicht recht weiter. Selbst die Aufhebung der Krise der Repräsentation wäre, gemäß McCarthy (1993b: 36), nur durch eine interkulturelle Kommunikation möglich und damit „durch eine wirkliche Ermächtigung der ‚anderen‘ als gleichberechtigte Partner am ‚Gespräch der Menschheit‘ teilzunehmen“. Eine solche Haltung setzt aber weniger die Position des Allwissenden voraus, sondern diejenige des Lernenden, der ein „offensives Verhältnis zum Nicht-Wissen“ (Amann/Hirschauer 1999: 496) besitzt. Die Basis einer solchen Einstellung dem Fremden gegenüber besteht dann in der Grundhaltung, dass das fremde Terrain nicht unüberwindlich erscheint. „Selbst der Sinnskeptiker könnte sich nicht äußern, ohne mit Verständigung zu rechnen. ‚Wer den Mund auftut, möchte verstanden werden‘, hält Gadamer Derrida entgegen.“ (Waldenfels 1999: 71) Die zunehmende Reflexivität des Faches kann also gerade nicht bedeuten, dass man sich nur noch mit sich selbst befasst. Michael Theunissen (1980: 237ff.) hat in seiner Studie über Hegels Logik nicht von ungefähr den Zugang zum Fremden als „Veränderung“, als ein „Zum-anderenWerden“ bezeichnet.

6.4.3 Transdisziplinarität Das Ziel besteht also aus Sicht der Soziologie nicht in disziplinären Abgrenzungen und disziplinären Grabenkämpfen. Auch selbstreflexive Komponenten, die in der Regel durch Metareflexionen abgedeckt werden, können ganz anders in Gang gesetzt werden. Die Seriosität der soziologischen Reflexion liegt nicht darin, sich stets in metareflexiven Übungen nach hinten zu beugen. Es sollte der Soziologie um eine Vervielfältigung ihrer Perspektiven gehen, nicht um eine Engführung ihres Blickwinkels in „narzisstischen Reflexionen“ (Pierre Bourdieu). Wie könnte sie diesem Ziel näher kommen? Eine Antwort könnte darin liegen, transdisziplinär zu forschen. Unter Transdisziplinarität ist ein wissenschaftsmethodisches Verfahren zu verstehen, das in einem produktiven Dialog die Perspektivenvielfalt fördert und schließlich durch Synthesenbildung zu einer nachhaltig qualitativ höheren Lösung führt. Die transdisziplinäre Forschung zeichnet sich durch ihren Bezug zu gesellschaftlichen Problemlagen und ihren Beitrag zu Problemlösungsstrategien aus. Sie ist von Haus aus perspektivenübergreifend. 321

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

Heute bewegt sich die Wissenschaft auf Forschungsfeldern, die ohnehin zumeist in multidisziplinären Forschungskontexten abgesteckt sind. In vielerlei Hinsicht wird heute versucht, wissenschaftliche Forschung in Anwendungs- und Verwertungskontexte zu integrieren, die zu befristeter transdisziplinärer, problemorientierter Zusammenarbeit auffordern (vgl. Nowotny et al. 2004). Eine nahe liegende Kooperation wäre beispielsweise diejenige zwischen historischer und soziologischer Forschung. Eine „soziologisch informierte Geschichtsforschung“, sagt Rainer Lepsius (1976: 136), diente nicht nur der Erhöhung des Wissenshorizontes von Soziologen, sie hätte eine wichtige Funktion im soziologischen Erkenntnisfortschritt zu übernehmen: „[…] durch den Aufweis der Aussagegrenzen soziologischer Theorien in komplexen Erklärungssituationen, durch den Nachweis unangemessener Kontextinterpretationen durch Soziologen, durch die Konfrontation deduzierter Typologien mit der empirischen Wirklichkeit, durch die Destruktion systematischer Klassifikationen, die den ästhetischen Bedürfnissen von Soziologen oft mehr entsprechen als sie der Erfassung von historischen Konstellationen dienen“.

Eine andere Koalition, die zu Synergieeffekten führen könnte, wäre diejenige zwischen Natur- und Ingenieurswissenschaften („Technoscience“) und Soziologie. Die Soziologen sollten, so fordert Latour (1987; 1988b), das sichere Territorium ihres Wissensbestandes verlassen und sich zu einer bewussten Übersetzung in fremde Fachgebiete entscheiden. Die Soziologie könne sich die Verstehensweisen der Naturwissenschaften nur aneignen, indem sie ihrerseits die Begriffe und Praktiken dieses für sie fremden Gebiets lernt. Die Soziologie kann sich somit nicht auf eine soziologistische Position zurückziehen und sich nur auf dem eigenen Terrain bewegen, sondern sie muss sich darüber vergewissern, wie Gesellschaften und im Besonderen die Wissenschaften es bewerkstelligen, Anschluss an die Natur zu finden, und der Frage nachgehen, wann und wieso wissenschaftliche Realitäten ein derartiges Gewicht in der Gesellschaft erreichen. Das Gleiche gilt natürlich in umgekehrten Fall ebenso für den Ingenieur. Denn auch an ihn werden vom Großanlagenbau über die Ausarbeitung von Verkehrssystemen bis zur Lösung umwelttechnischer Fragen neue Problemkomplexe herangetragen, die er aus den Wissenskompetenzen seines traditionalen, engeren Spezialwissens allein nicht mehr zu lösen vermag und denen er ohne soziologische Kompetenz nicht mehr gewachsen sein kann. Eine einheitliche Erklärung von Natur und Gesellschaft ist nur möglich, wenn sich die Forschenden selbst aus ihren 322

ZUR EPISTEMOLOGIE DER KONTINGENZ

disziplinären Grenzen lösen und fähig sind, in fachübergreifenden Zusammenhängen zu denken. Aus heutiger Warte lässt sich freilich feststellen, dass Transdisziplinarität als reflexiv-methodische Steuerungsinstanz der Disziplinen nicht vollständig ausgeschöpft worden ist, obgleich die Übertragungsmöglichkeiten zunächst einmal grundsätzlich gegeben scheinen. Warum aber hat sich dieses Forschungsmodell bisher so wenig durchgesetzt? Ein Grund dürfte wohl in der bis heute scheinbar unüberwindlichen Kluft der disziplinären Containergrenzen zu finden sein, die die Einheit der Wissenschaften sichern sollen. Wissenschaftliche Reputation basierte lange Zeit auf der fachlichen Atomisierung der Disziplinen. Mit Stichweh (1994: 17) lassen sich Disziplinen als „Formen sozialer Institutionalisierung eines mit vergleichsweise unklareren Grenzziehungen vorlaufenden Prozesses kognitiver Differenzierung der Wissenschaft“ bezeichnen. Neben anderen Kennzeichen ist aus systemtheoretischer Sicht für die gegenwärtige Disziplinenstruktur deren Konzentration auf bestimmte Gegenstandsbereiche charakteristisch, die eine partielle Autonomie garantieren sollen. Ziel und Primärfunktion der Disziplinarisierung besteht in der „Artikulation von Interdependenzunterbrechungen“ (Stichweh 1994: 36) zu anderen Disziplinen. Jede Disziplin kann sich in Ruhe auf den ihr zugeschriebenen Funktionsbereich spezialisieren, weil sie weiß, dass die anderen Subsysteme die Aufgaben erfüllen, die sie selbst nicht bezwingen kann, ja gar nicht in der Lage ist, in Angriff zu nehmen. Jede Disziplin bildet ihre eigenen Teilrationalitäten und Spezialsemantiken heraus. Dieser Effekt führt dazu, dass die Disziplinen in der Definition dessen, was für sie Umwelt ist, autonom werden. Jede Disziplin sollte nach klassischer Interpretation einen bestimmten Rationalitätstypus entsprechen – alles sauber geordnet nach Ressorts und Fachbereichen. Eine Zusammenarbeit wird damit a priori ausgeschlossen. Nun scheint es dennoch zunehmend sicher, dass unsere komplexe Welt, in der wir jetzt leben, von den Disziplinaritäten nur unzureichend erfasst wird. In der Tatsache nämlich, dass wir uns ausgiebig mit Einzelmechanismen befassen und damit eine zusammenhängende Realität in Bruchstücke auseinanderreißen, liegt ein Mangel gegenwärtiger Ausbildung. Der Studierende wird dadurch nicht befähigt, Probleme in komplexen Systemen zu lösen, die sich ihm als „dynamisches Gebilde“ manifestieren. Heute ist die Forschung aber mit Problemen konfrontiert, „deren Disziplin wir noch nicht gefunden haben“, wie dies Lorenz Krüger einmal ausdrückte. Gerade in Deutschland ist die Abschottung zwischen den Disziplinen und Institutionen besonders groß.

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Es entspricht jedoch der Grundüberzeugung vieler Wissenschaftler, dass sich kein Thema mehr allein disziplinär vollständig erschließen und kein Problem nur einer Fachrichtung zuordnen lässt, weil in der realen, inzwischen sehr komplexen Welt ebenfalls weder ausschließlich disziplinär noch bereichsspezifisch separierte Fragestellungen existieren. Freilich ist damit nicht gemeint, dass wir Kompetenzen ausbilden, die zu allem befähigen, und damit das Curriculum auch überfrachten würden. Vielmehr wäre es das Ziel, dass jeder Wissenschaftler eine „wie Hermann Lübbe dies ausdrückt, ‚Mithörerkompetenz‘ erwirbt, die als Lückenwissen auf der Objektebene immerhin die Leistung eines Orientierungswissens auf der Metaebene erbringt“ (Zimmerli 1997: 332). Gerade die Sozial- und Geisteswissenschaften können in der Welt der expansiven Ökonomie und drohenden Klimakatastrophe und im Schmelztiegel globaler sozialer Umbrüche, die alle Lebenssphären des Menschen durchdringen, einen ganz erheblichen Beitrag in der transdisziplinären Forschung leisten (vgl. Holzinger 2007). Wenn es eine Chance – und ich vermute eine gute Chance – für die Sozial- und Geisteswissenschaften gibt, in der Gesellschaft von heute anschlussfähige Themen zu generieren, dann besteht sie darin, transdisziplinäre Themen aufzugreifen. Ziel der geistes- und sozialwissenschaftlichen Anteile muss es sein, die Urteilskraft zu trainieren, indem einzelne Probleme in größere Zusammenhänge gestellt werden. Die Human- und Geisteswissenschaften haben, wie Gumbrecht (2004: 149) formuliert, in erster Linie die Aufgabe, Menschen mit Komplexität zu konfrontieren. Im Übrigen unterliegen auch die Geisteswissenschaften, so Ludger Heidbrink und Harald Welzer (2007: 12), „einer gesellschaftlichen Rechtfertigungspflicht, der nicht schon dadurch Genüge getan ist, dass man sich auf Traditionen beruft, die schon seit Humboldts, wenn nicht gar seit Platons Zeiten gelten“. Mit einem Rückzug in die Vergangenheit, mit dessen Hilfe man wieder traditionelle „Alma-Mater Muster“ oder eine „Refeudalisierung bestimmter Universitätsgefilde“ (Hörisch 2006: 122) implementieren würde, wie der Germanist Jochen Hörisch meint, wird wohl die Krise der Geisteswissenschaften nicht zu bewerkstelligen sein.

6.5 Zusammenfassung: Epistemologie und Kontingenz Ich komme zu einem Resümee. Meine Rekonstruktion des Verhältnisses von Epistemologie und Kontingenz führte mich zu der Frage, ob die Sozialwissenschaften methodologisch dem Thema „Kontingenz“ gewach324

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sen sind. Das Kapitel stellt somit den Versuch einer ersten Eignungsprüfung des Denkens der Kontingenz im sozialwissenschaftlichen Kontext dar. (1) In einem ersten Schritt wurde gezeigt, dass die heutige methodologische Ausrichtung der Soziologie dem Thema Kontingenz nur begrenzt gerecht werden kann. Die wichtigsten in Abschnitt 6.1 erkannten Defizite lassen sich durch zwei Mythen der Sozialwissenschaften zusammenfassen. Den ersten Mythos nannte ich den Mythos der Sozialwissenschaften als exakte Wissenschaft. Den zweiten Mythos bezeichnete ich als den Mythos der Außenperspektive des Beobachters. Im ersten Fall verschwindet die Kontingenz hinter dem Anspruch der Sozialwissenschaften, eine Gesetzeswissenschaft zu sein. Die Soziologie argumentiert dahin gehend, dass soziale Zusammenhänge (quasi wie natürliche Phänomene) zu behandeln und auf derselben Basis wie jedes andere natürliche Phänomen zu analysieren seien. Im zweiten Fall wird Kontingenz marginalisiert, indem man sich quasi als außenstehenden Beobachter betrachtet, der unabhängig von Zeit und Raum allgemeine Aussagen über Gesellschaft und deren Evolution machen könnte. Beide methodologische Konzepte basieren auf einem traditionellen Prinzip der Klassifikation. Die entscheidende Determinante bei der inhaltlichen Erarbeitung der Forschungsstrategien ist in der Reduzierung von Komplexität zu sehen, statt gegenteilig zu wirken. Die „verallgemeinernde Betrachtung“ der Welt führt dazu, dass von empirisch singulären Sachverhalten häufig abstrahiert wird. „Ein Verallgemeinern bedeutet also stets ein mehr oder minder gesteigertes Absehen von der Historizität des betreffenden Gebildes.“ (Mannheim 1980: 126) Die Frage ist allerdings, was hier erklärt wird, wenn jeder empirische Bezug fehlt. (2) Demgegenüber wurde der Relationismus als methodisches Werkzeug vorgestellt. Das Forschungsinteresse und die Perspektive auf die Welt erfahren aufgrund der bisherigen Erkenntnisse einschneidende inhaltliche Akzentverschiebungen. Der Relationismus scheint in der Lage zu sein, die erforderliche Varietät zu generieren. Kontingenz wird hier durch eine historisch-sozialwissenschaftliche Forschungsorientierung eingefangen. Gegenüber „großflächigen makrosoziologischen Analysen“ geht diese prinzipiell „zeit-räumlich kontextspezifisch vor“ (Spohn 2006: 113). Sartre (1962: 404) hat in „Das Sein und das Nichts“ darauf hingewiesen, dass der Standpunkt der „Außenperspektive des Beobachters“ – die reine Erkenntnis, wie Sartre sagt – widerspruchsvoll sei: Es gäbe nur den Standpunkt der „weltgebundenen Erkenntnis“ (ebd.: 404). „Eine reine Erkenntnis wäre wirklich standpunktfreie Erkenntnis, also eine 325

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

grundsätzlich außerhalb der Welt liegende Erkenntnis.“ (Ebd.: 404) Diese sei jedoch sinnlos. Der Mensch und die Welt sind hingegen „relative Wesen und das Prinzip ihres Seins ist die Relation“ (ebd.: 402). Der Relationismus lässt einen möglichen Ausweg aus der Sackgasse erkennen, in die uns die Entwicklung der Soziologie bezüglich des Phänomens Kontingenz gebracht hat. Die Konzeption einer historischvergleichenden Soziologie könnte den dargestellten Anforderungen entsprechen. Das Format der Analyse der spezifischen Konstellationen und Wirkungsgefüge wäre freilich in seinen umfassenden Konturen erst herauszuarbeiten. Es bedürfte sorgfältiger Untersuchungen, um zu klären, wie weit eine historisch vergleichende Soziologie tragen würde und wie sie methodisch operationalisiert werden könnte. Derzeit gibt es auch für die Soziologie eine Reihe von offenen Fragen. Die Multiple-Modernities-Debatte bietet hier nur einen Beleg dafür. (3) Das Thema Kontingenz zielt unmittelbar die Thematisierung der Agency-Structure-Debatte nach sich. Es ist seit längerer Zeit bekannt – und einige Ansätze wurden von mir diskutiert –, dass die zwei elementaren Perspektiven der Soziologie (Mikro-Makro-Dichotomie) nicht als zwei voneinander unabhängig und unverbunden nebeneinander existierende Gegebenheiten zu denken sind. Das sogenannte Ebenenproblem in der Soziologie entspringt nicht einer quasi natürlich bedingten Unterscheidung zwischen einer Makro- und einer Mikrowelt. Diese Dichotomie ist vielmehr eine Frage des Beobachtungsstandpunktes des Sozialwissenschaftlers. Als Fazit ließe sich festhalten: Makrotheorien operieren häufig mit der Differenz von Genese und Geltung, so als ob die geltenden Kriterien nicht ihrerseits als geworden zu verstehen wären. Dann stützt sich Praxis immer auf fraglose Aneignungen von Gewohnheiten. Im Gegensatz dazu gilt es festzuhalten, dass es nichts gibt, das sich von sich aus von einem Kontext in einen anderen transportieren ließe. Die Soziologie muss sich dem in sich ambivalenten Prozess der Herstellung von gesellschaftlicher Ordnung (oder Unordnung) beschäftigen und sich mit den geschichtlichen Akteuren befassen. Umgekehrt sind auch Makrophänomene nicht zu vernachlässigen: Eine der wichtigsten Neuerungen betrifft zweifellos die Rolle von Raum und Zeit, mit denen die „Theorie sozialer Praxis“ arbeitet. Insbesondere Latour, aber auch Giddens betonen, dass die Kohäsion sozialer Beziehungen von der Spanne der Raum-Zeit-Ausdehnung abhängig ist: „[…] je größer die Raum-Zeit-Ausdehnung sozialer Systeme – und d.h. je weiter ihre Institutionen in Raum und Zeit ausgreifen –, desto größer ihre Widerstandskraft gegen die Einwirkung oder Veränderung seitens individueller Akteure.“ (Giddens 1988: 224) 326

ZUR EPISTEMOLOGIE DER KONTINGENZ

Im Anschluss daran wurde die Frage der Begründbarkeit des Themas Kontingenz im Rahmen von sozialen Makrophänomenen diskutiert. Gibt es beim Thema Kontingenz konzeptionelle Schwierigkeiten, sobald man auf die Ebene von makrosoziologischen Sachverhalten gelangt? Mit dem Begriff des Netzwerkes konnte gezeigt werden, dass sich Institutionalisierungsprozesse durchaus auf der Makroebene rekonstruieren lassen. Die Voraussetzung ist jedoch, dass die Koordination von Mikro- und Makroprozessen nicht einfach als Konstitution „von oben“, sondern als Emergenz von unten aufzufassen ist: „Konventionalisierung ist ein Vorgang, der erst an seinem Ende, wenn er denn erfolgreich war, die soziale Realität schafft, die die Grundlage seiner Vorstellung gewesen ist.“ (Wagner 1995b: 120) Nach Latour könne man in der Gesellschaft nicht mehr als sich in der Größe unterscheidende, länger oder kürzer haltende, sich mehr oder weniger stabilisierende Netzwerke erkennen. Diese historischen Netzwerke in ihren Prozessen zu erforschen, das sei die Aufgabe der Soziologie. Die Soziologie hätte die Aufgabe die historischen Sachverhalte nicht durch essenzialistische Begriffsverbindungen aufzuzeigen, sondern dadurch, dass man ihre Geschichte erzählt. (4) Schließlich wurde in einem letzten Punkt gezeigt, dass reflexive Momente der Sozialwissenschaften nicht dazu führen müssen, sich in einem bloßen Narzissmus oder einem naiven Beobachterrelativismus zu verfangen. Die Debatten über Transdisziplinarität demonstrieren, dass es durchaus andere methodologisch-wissenschaftstheoretische Steuerungselemente gibt als pure disziplininterne Reflexionsebenen. Die bereits in Gang gekommenen interdisziplinären Kooperationen zwischen Geschichtswissenschaften und Soziologie, von denen Spohn (2006: 123) spricht, könnten eine fruchtbare Methode sein, das Forschungsfeld einer neuen historischen Soziologie in Angriff zu nehmen. Auf jeden Fall böten sie eine Chance, sich endlich von der Thematisierung ahistorischer Abstraktionen, „sozialer Metaphysiken“ (Boltanski und Thévenaut 1991: 42), kausaler Ableitungslogiken und von Platonismen zu lösen und eine historische Soziologie zu entwickeln. An dieser Stelle gilt es einzuhaken und auf der Basis bisheriger Überlegungen die Weichen für weitere Forschungen zu stellen.

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7 Sc hluss : Die w iedergefunde ne Komplex itä t

Als Fazit der vorliegenden Studie wurden erste Kriterien angegeben, die an eine theoretische Erfassung des Gegenstandsbereichs Kontingenz in der Gegenwart zu stellen sind. Über das Thema Kontingenz und über die Probleme, die sich im Umgang mit Kontingenz ergeben, ist hinreichend viel erörtert worden. Zum Abschluss soll nochmals mit wenigen Strichen auf das Thema „Pluralismus“ eingegangen werden. Es steht außer Frage, dass sich die Geistes- und Sozialwissenschaften in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess befinden, den sie selbst noch nicht in aller Gänze reflektieren. Denn eines ist sicher: Mit dem Kontingentwerden der Beschreibungsweisen, die die Akteure und Institutionen über sich selbst anfertigen, folgt unmittelbar auch die Pluralisierung der soziologischen Referenzebenen und der Perspektiven auf die gesellschaftlichen Sachverhalte. Dieser Pluralismus muss aber nun ganz anders begriffen werden als derjenige, den das systemtheoretische Differenzierungsmodell und der postmoderne Diskurs aus ihren Ansätzen ableiten. Diese sind einem – wie man mit Zimmerli (1999: 135) sagen könnte – „Pluralismus erster Ordnung“ verhaftet. Durch ihre Theorieansätze setzen sie immerhin auf eine Weltsicht, die akzeptiert, dass es verschiedene Meinungen über die Welt gibt. Sie wenden aber das Pluralismusgebot nicht auf sich selbst an. Der „Pluralismus zweiter Ordnung“ als „selbstreferentielle reflexive Wendung des Pluralismus erster Ordnung“ (Zimmerli 1999: 135) ist eine Methodologie, die in Anwendung auch auf sich selbst davon ausgeht, dass es „keine eine Wahrheit gibt“ (Zimmerli 1999: 135). „Es war falsch“, sagt Zimmerli (ebd.: 135), „die Philosophie des Postmodernismus als Pluralismus zweiter Ordnung […] mißzuverstehen, da der Postmodernismus sich nur auf die kulturelle Oberfläche bezieht und Plu329

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

ralität nur um der Pluralität willen fordert“ (ebd.: 135). Und auch die Theorie der funktionalen Differenzierung – von der wir einmal ausgehen, dass sie empirische Prämissen enthält – postuliert zwar für die Gesellschaft heterogene Beobachterverhältnisse, hat aber auf sich selbst angewandt mit Pluralismus nichts zu tun. Unter „Pluralismus zweiter Ordnung“ wäre eine Weltsicht zu fassen, die heterogene Ansichten über die Welt nicht nur akzeptiert, „sondern fordert“ (ebd.: 135). Auf unser Problem bezogen heißt dies, dass es nicht mehr nur eine Super- oder Metatheorie der Gesellschaft geben kann, die uns zu sagen vermag, wie die Gesellschaft strukturiert sei. Die daraus resultierende Semantik der Unbestimmtheit ist gleichwohl „nicht nichts“ (Gamm 2000). Im Gegensatz zu einer universalistischen Theorie handelt es sich bei einem Ansatz der Kontingenz um ein permanentes Abwägen und ein andauerndes Entscheiden, welche Relevanzen in der jeweiligen Situation für die betreffenden Akteure handlungswirksam sind. Zusammengefasst: Alle Beobachtung der Wirklichkeit ist unausweichlich relational, insbesondere für die Soziologie. Und gerade deswegen ist gefordert, dass sie die jeweiligen Beobachtungsstandpunkte behandelt und untersucht. Erst allmählich kommt der Soziologie zu Bewusstsein, dass mit der Einsicht in die Kontingenz von Ereignissen auch Schlussfolgerungen hinsichtlich des Methodenverständnisses der Soziologie zu ziehen sind. Eisenstadt (2000), auf dessen Thesen ich in einem obigen Kapitel zu sprechen kam, hat mit seinem Konzept der „Multiple Modernities“ viel dafür getan, der Kontingenz der Modernisierungspfade Rechnung zu tragen. Die gegenwärtige Moderne ist seiner Interpretation nach am besten zu verstehen, wenn man sie als eine nicht homogenisierbare Schar verschiedener Kulturprogramme begreift. Knöbl (2001) hat, nicht unbeeinflusst von Eisenstadt, gezeigt, wie komplex sich die Geschichte der Moderne gestaltet, wenn man sich von den soziologischen Klassikern des Westens wegbewegt. Seine Kritik bezieht sich insbesondere auf den in der Modernisierungssoziologie zu beobachtenden Trend, den sozialen Wandel zur Moderne international gesehen als relativ uniform zu deklarieren. Gleichzeitig werde eine unhaltbare scharfe Dichotomie von Tradition und Moderne suggeriert, die sich in dieser Simplifikation nicht wird halten können (Knöbl 2001: 32f.). Die Grundeinsicht lässt sich so zusammenfassen: „Hintergrund dieser Haltung ist die allen gemeinsame Einsicht in die Kontingenzen des historischen Prozesses bzw. das Wissen um die Kreativität der Akteure, die es nicht geraten erscheinen lassen, dem Geschichtsverlauf ein lineares Muster aufzudrücken, das zudem möglicherweise auch noch ethnozentrische Konnotationen besitzt.“ (Knöbl 2001: 447)

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SCHLUSS

Insbesondere der Postkolonialismus weitet das Blickfeld der europäischen Soziologie, indem er ihr vorwirft, lediglich einen Weg zur Moderne zu identifizieren, der sich stets nur in der westlichen Hemisphäre manifestiert. Von einer Pluralisierung der Modernisierungspfade sprechen daher auch Randeria et al. (2004: 115), die zu folgendem Schluss kommen: „Obwohl die Modernisierungstheorie eine Vielfalt vormoderner Gesellschafts- und Lebensformen sowie Muster der Tradition wahrgenommen hat, postuliert sie einen gradlinigen Übergang dieser Gesellschaften zu einer Form der Moderne, die im Westen verkörpert ist. Die Möglichkeit unterschiedlicher Entwicklungspfade gerät nicht ins Blickfeld.“ Auch die Gedankenfigur der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Reinhart Koselleck) manifestiert die Erfahrung, wie Hoffmann (2005: 177ff.) zeigt, dass wir in unserer heutigen Gegenwart mit heterogenen Zeitschichten und Erfahrungsebenen konfrontiert werden. Hoffmann bezieht sich dabei auf theoretische Überlegungen von Ernst Bloch, der in seiner Auseinandersetzung mit dem Faschismus schrieb: „Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit leben sie noch nicht mit den anderen zugleich.“ (Zit. nach Hoffmann 2005: 177) Auch unsere Gegenwart ließe sich mit Bloch als „eine temporale Verstrickung von Ungleichzeitigkeiten“ darstellen (Hoffmann 2005: 177), in der eben in einer Gegenwart heterogene Erfahrungshorizonte verschmolzen werden. Mit dem Kosmos der sozialen Wechselverhältnisse verhält es sich nicht anders als mit dem Kosmos der uns umgebenden natürlichen Welt, über die der wahrhafte Kosmopolit Alexander von Humboldt (2004: 35f.) schrieb: „Die Vielheit der Erscheinungen des Kosmos in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhanges zu umfassen, kann meiner Einsicht nach, bei dem jetzigen Zustande unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden. […] Es darf zweifelhaft genannt werden, ob dieser Zeitpunkt je herannahen wird. Die Complication des Problems und die Unermesslichkeit des Kosmos vereiteln fast die Hoffnung dazu.“

Martin Fuchs (2004: 456) weist darauf hin, dass wir am Ende einer langen Reise angekommen sind. Die Wissenschaft hatte es immer als Aufgabe gesehen, mithilfe vorgefasster Begriffe alles zu reduzieren. Heute ist es an der Zeit, das „Ende der Modelle“ festzustellen. Das Verstehen komplexer Kulturen und Interkulturen kann sich nicht mehr von vorgefassten Begriffen und Kategorien leiten lassen. Handlungs- und Deutungsprinzipien lassen sich nur „in praxi im Rahmen sozialer Interaktio331

KONTINGENZ IN DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT

nen“ (Fuchs 2004: 464) verstehen. Wer dem „Heterogenen Gerechtigkeit widerfahren“ (Adorno 101990: 285) lassen will, muss akzeptieren, dass die Welt nur noch mithilfe pluraler Zugangsweisen beschrieben werden kann. Bestimmte Eigenschaften und Zusammenhänge unserer Welt sind nur noch durch diese Vielheit an Modellen zu erfassen. Dies wird schon allein durch die Erfahrung ersichtlich, dass verschiedene Kulturen je verschiedene Ideen, Urteile und Vorstellungen an die Realität anlegen. Gumbrecht (2006: 97) nennt dies die „Regionalisierung des Denkens“. Die Einübung des Möglichkeitssinns wäre ein erster Schritt, um für die Heterogenität der Wirklichkeit zu sensibilisieren. Die „Nationalsoziologie“ steht, was dieses Sensorium betrifft, noch ganz am Anfang.

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Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert September 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie September 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften September 2007, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen August 2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie August 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien Juli 2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge Juni 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen Mai 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

Anne Peters Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Zizek Mai 2007, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-655-7

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht März 2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman Februar 2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität Februar 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie Februar 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe Januar 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

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