Der Kreativitätskomplex: Ein Vademecum der Gegenwartsgesellschaft 9783839445105

Creative practices, processes, spaces and subjects characterize our times. This vademecum explores this »creativity comp

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German Pages 278 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Affektkultur
Arbeit
Ästhetischer Kapitalismus
Ästhetisierung
Atmosphäre
Bühne
Coaching
Computer
Creative Cities
Design
Dispositiv
Entkunstung
Farbe
Genealogie
Imagineering
Improvisation
Innovation
Kapital
Ko-Kreation
Konsum
Kreative Masse
Kreativitätstechniken
Kritik
Künstler
Kuratieren
Mode
Museum
Naturalisierung
Organisation
Performativität
Plastizität
Pop
Produkt
Queer
Schuld
Selbstgenerierung
Spiel
Valorisierung
Postskriptum
Autorinnen Und Autoren
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Der Kreativitätskomplex: Ein Vademecum der Gegenwartsgesellschaft
 9783839445105

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Timon Beyes, Jörg Metelmann (Hg.) Der Kreativitätskomplex

Kulturen der Gesellschaft  | Band 37

Timon Beyes, Jörg Metelmann (Hg.)

Der Kreativitätskomplex Ein Vademecum der Gegenwartsgesellschaft

Unterstützt durch den Fonds für Forschungsgespräche und den Publikationsfonds der Universität St.Gallen sowie durch die Haniel Stiftung im Rahmen des European Haniel Program on Entrepreneurship and the Humanities.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4510-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4510-5 https://doi.org/10.14361/9783839445105 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung Im Kreativitätskomplex Timon Beyes, Jörg Metelmann | 9

Affektkultur Jörg Metelmann | 19

Arbeit Sophie-Thérèse Krempl | 25

Ästhetischer Kapitalismus Elena Beregow | 31

Ästhetisierung Heinz Drügh | 38

Atmosphäre Christoph Michels, Chris Steyaert | 44

Bühne Maximilian Schellmann | 50

Coaching Florian Schulz | 57

Computer Claus Pias | 64

Creative Cities Christoph Michels, Chris Steyaert | 70

Design Claudia Mareis | 76

Dispositiv Sverre Raffnsøe | 83

Entkunstung Vincent Kaufmann | 89

Farbe Timon Beyes | 95

Genealogie Sverre Raffnsøe | 101

Imagineering Jörg Metelmann | 108

Improvisation Daniele Goldoni | 115

Innovation Monica Calcagno | 122

Kapital Emmanuel Alloa | 128

Ko-Kreation Björn Müller | 135

Konsum Dirk Hohnsträter | 143

Kreative Masse Paola Trevisan | 149

Kreativitätstechniken Claudia Mareis | 155

Kritik Dirk Hohnsträter | 162

Künstler Heinz Drügh | 167

Kuratieren Timon Beyes | 173

Mode Monica Titton | 179

Museum Wolfgang Ullrich | 185

Naturalisierung Emmanuel Alloa | 191

Organisation Timon Beyes | 197

Performativität Martina Leeker | 204

Plastizität Emmanuel Alloa | 211

Pop Christoph Jacke | 218

Produkt Dirk Hohnsträter | 225

Queer Chris Steyaert | 230

Schuld Daniele Goldoni | 236

Selbstgenerierung Emmanuel Alloa | 243

Spiel Michael Hutter | 248

Valorisierung Michael Hutter | 252

Postskriptum Die Gesellschaft der Singularitäten und das Kreativitätsdispositiv Andreas Reckwitz | 257

Autorinnen und Autoren  | 273

Einleitung Im Kreativitätskomplex Timon Beyes, Jörg Metelmann

Wohin man auch blickt, finden sich »kreative« Praktiken und Räume, Organisationen und Subjekte. Im Arbeitsalltag, im Stadtleben, in Medien und Werbung, auf den sozialen bzw. soziotechnischen Plattformen, in Schulen und Universitäten muss der Anforderung genügt werden, kreativ – neu und besonders, auffallend und einzigartig – zu sein. »Kreativ und inspirierend« sei das Bachelorstudium an der Universität eines der beiden Herausgeber dieses Buches. Eine solche Qualifikation einer Hochschulausbildung wäre noch wenigen Jahrzehnten allenfalls für gestalterisch-künstlerische Studiengänge sinnhaft gewesen, als Selbstdarstellung universitärer Bildung hingegen kaum vorstellbar.1 Nicht nur da, wo man es erwartet – im Kunstfeld (vgl. White 1993), in dem der Begriff indes eher negativ konnotiert ist (vgl. Loacker 2010, Rosler 2010/2011), in den Medien oder in der Kultur- und Kreativwirtschaft (vgl. Lovink/Rossiter 2007) –, sondern auch in althergebrachten Institutionen wird also auf Kreativität gesetzt. Das Wort hat »in geradezu epidemischer Weise [...] Eingang in administratives und technokratisches Schrifttum« gefunden (Wuggenig 2016, 12). Es ist »das ›Heilswort‹ der Gegenwart«, so zitiert der Soziologe Ulrich Bröckling einen inzwischen diskreditierten Pädagogen, und er fügte im theologischen Duktus an: »Der Glaube an die schöpferischen Potentiale des Individuums ist die Zivilreligion des unternehmerischen Selbst« (2007, 152, Herv. i.O.). Kreatives Ausdrucksvermögen werde nicht mehr bloß eingefordert, sondern sei zur Bedingung der Einstellbarkeit (employability) geworden, und das neoliberale Motto des express yourself, be creative habe seinen 1 | Siehe https://www.leuphana.de/news/meldungen/titelstories/2014/bachelor-stu​ dium-kreativ-und-inspirierend.html; für die u.a. von Joseph Beuys gegründete (und kurzlebige) »Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung« siehe http://pinakothek-beuys-multiples.de/de/glossary/freie-internationale-universi​ tat-fiu/.

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Platz neben dem alten wirtschaftsliberalen Motiv make yourself rich eingenommen, schreibt der Philosoph und Soziologe Maurizio Lazzarato (2017, 175), der gleichwohl das emanzipatorische Potenzial kollektiver Kreativität nicht zur Disposition stellen möchte. Kreativität wird damit als »moralischer Imperativ« (Osborne 2003, 508) sowie als »zentrale postfordistische Subjektivierungsweise« (Raunig/Wuggenig 2016, 72) verstanden: Man mag vieles sein dürfen, kreativ aber hat man zu sein. Unbenutzbar sei der Begriff daher geworden, schreibt der britische Kulturtheoretiker Stuart Hall (2010, X), längst adoptiert und korrumpiert von technologischen, kommerziellen und unternehmerischen Praktiken. Und der Soziologe Niklas Luhmann glossiert bereits 1988 die wachsende Präsenz des Kreativitätsdiskurses als »demokratisch deformierte Genialität« (Luhmann 1988, 16). Wie das Genie selbst sei es durch die Zeitdimension des Neuen, die Sachdimension des Bedeutenden und die Sozialdimension des Überraschenden gekennzeichnet. Allerdings, so der Ironiker Luhmann, auf bescheidenem Niveau: »Wer immer Talent hat und sich Mühe gibt, kann es zur Kreativität bringen. Man braucht langen Atem, und natürlich Planstellen« (ebd.). Ähnliches klingt bei der britischen Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie an (2016), allerdings mit einer Wende zu gesellschaftlicher Prekarisierung und Unsicherheit: Im Namen der Kreativitätswirtschaft finde eine Korrosion, ein downgrading unabhängiger und engagierter Kreativität statt, zugunsten einer Einübung urbaner Mittelschichten in eine Arbeitswelt ohne Planstellen, langen Atem und soziale Sicherheit. Doch auch das Beklagen der Unzumutbarkeit und Korrumpiertheit des Kreativitätsbegriffes, der schädlichen Folgen seiner Vervielfältigung sowie seine Ironisierung – und seine systemtheoretische Neufassung als »Fähigkeit zum Ausnutzen von Gelegenheiten« (Luhmann 1988, 17) – befeuern den Kreativitätsdiskurs und seine Elemente. Auch die Kritikerinnen und Ironiker befinden sich im »Kreativitätskomplex«. Dem Soziologen Andreas Reckwitz zufolge bezeichnet der »vielgliedrige« Kreativitätskomplex »eine historisch außergewöhnliche Erscheinung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts« (Reckwitz 2012, 16), die, so ist hinzuzufügen, das Leben anfangs des 21. Jahrhunderts zumindest in westlich geprägten Gesellschaften wesentlich prägt. Mit der Entstehung dieses Komplexes, so argumentiert Reckwitz, werde Kreativität als soziales und kulturelles Phänomen gleichsam hervorgebracht oder gar erst erfunden. Und damit entsteht auch das Begehren, »in sehr voraussetzungsreichen Begriffen über unsere Kreativität zu denken [...], sie in entsprechenden Techniken zu üben und uns selbst in die Richtung kreativer Subjekte zu gestalten« (ebd.). Dieses Buch ist dem Nachdenken über den Kreativitätskomplex in mehr oder minder voraussetzungsreichen Begriffen gewidmet. Es stellt somit keine Materialien zur Einübung von Kreativitätstechniken zur Verfügung; es reflek-

Einleitung

tiert vielmehr deren Aufstieg (*Kreativitätstechniken). Es liefert keine Handreichungen, um ein kreatives Selbst zu werden, diskutiert aber das Verhältnis von Kreativitätsimperativ und *Selbstgenerierung. Es bietet keine Gestaltungshinweise für vermeintlich kreative und spielerische Räume, sondern denkt mit Begriffen wie *Atmosphäre, *Farbe, *Improvisation und *Spiel über die ästhetische Verfasstheit des Kreativitätskomplexes nach. Von *Affektkultur bis *Valorisierung mobilisiert der Band knapp 40 Konzepte, um die Beschaffenheit des Kreativitätskomplexes und die Proliferation des ›K-Wortes‹ zu erkunden, zu untersuchen und zu analysieren. Die konzeptionelle Spannbreite spiegelt dabei bereits die Allgegenwart und Wirkungsmacht kreativer Topoi, die inzwischen auch sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse infiziert haben. So stammen »die mittlerweile am häufigsten zitierten wissenschaftlichen Einzelarbeiten, welche das Substantiv ›Kreativität‹ oder das Adjektiv ›kreativ‹ im Titel tragen«, nicht aus der Psychologie, der neuen Leitwissenschaft der Cognitive Science oder den ›alten‹ Geisteswissenschaften Philosophie und Geschichte, sondern aus den Sozialwissenschaften – auch das ein Symptom des Kreativitätskomplexes (vgl. Wuggenig 2017, 174). Mit den hier behandelten Begriffen werden somit zum einen empirische Phänomene der Ausweitung des Kreativen benannt und beleuchtet; zum anderen ergeben sie einen theoretischen Begriffsapparat zur Analyse der Kreativitätspandemie. In diesem Sinn möchten wir das Buch durchaus als handlichen, nützlichen Begleiter verstanden wissen, getreu der lateinischen Aufforderung vade mecum (»geh mit mir«): als theoretisches Handbuch für und reflexiver Leitfaden durch den Kreativitätskomplex.2 Mit Blick auf die Bedeutung dieses Komplexes entspricht dies einem Kursbuch für die Gegenwartskultur und für ihre Analyse im Spiegel der zeitgenössischen Obsession mit Phänomenen, Prozessen und Subjekten des Kreativen. Die Autorinnen und Autoren dieses Buches möchten herausfinden, mit welchen Begriffen und Konzepten sich die Verbreitung des Kreativen (und der Kreativen) in sozialer, materieller, affektiver und technologischer Hinsicht fassen und denken lässt. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit Widersprüchlichkeiten und Grenzen des Begehrens, der Anrufung und des Befehls, kreativ zu sein. Wir zielen damit auf mehr als ein Glossar der Kreativität, das ihre gesellschaftlich prägnanten Unterbegriffe und Phänomene versammeln würde (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2004). Den Kreativitätskomplex in seinen Facetten und Brüchen denken zu lernen, heißt, möglichst avanciert, detailreich und damit auch auf ungewohnten Pfaden über

2 | Dass sich das Vademecum zunächst als Gattungsbezeichnung für theologische Handbücher etablierte, erinnert an die theologischen Tiefenschichten, die dem gegenwärtigen Ruf nach Kreativität unterliegen, die u.a. bei Luhmann (1988) anklingen und denen in diesem Band insbesondere mit dem Begriff der *Schuld nachgegangen wird.

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ihn nachzudenken. Die Form des Vademecums und seiner kurzen Einträge scheint uns dafür die geeignete zu sein.

Die Erfindung der Kreativität Das vorliegende Buch würde es nicht geben ohne ein anderes: Die Erfindung der Kreativität von Andreas Reckwitz (2012). Diese originelle, einflussreiche und vieldiskutierte Studie lieferte die Basis und das Sprungbrett für unseren Versuch. Die Einträge dieses Vademecums knüpfen mal mehr, mal weniger explizit an diesen Text an, um ausgehend von dessen Beobachtungen und Thesen den Kreativitätskomplex weiter zu erkunden und begrifflich zu kartieren. Gleichzeitig gehen die Autorinnen und Autoren anhand ihrer spezifischen Lemmata über Die Erfindung der Kreativität hinaus, um die Analyse dessen, was Reckwitz (wie auch Angela McRobbie und Fabian Heubel, 2002) das »Dispositiv der Kreativität« nennt, zu vertiefen, zu erweitern oder an ihre Grenzen zu führen. Reckwitz selbst beschließt dieses Buch in demselben Gestus mit einem eigens für das Vademecum geschriebenen Postskriptum. Darin befragt er vom Standpunkt seines letzten Buches zur Gesellschaft der Singularitäten (2017) aus das Theorem des Kreativitätsdispositivs im Hinblick auf zentrale Begriffe wie Ästhetisierung, Kulturalisierung und das Neue. Damit perspektiviert er am Ende unserer Begriffskonstellationen die kulturwissenschaftliche Diskussion über die Rolle von Kreativität im aktuellen Strukturwandel der Moderne. Jenseits der bloßen Feststellung der Vervielfältigung kreativer Narrative und Praktiken sowie der Kritik ihrer Banalität und Korrumpierung entwickelt Die Erfindung der Kreativität eine gesellschaftstheoretische Genealogie und Analyse. Sie nimmt das Phänomen der Kreativität in seinen mannigfaltigen Formen als Ergebnis und Treiber sozialer Kräfteverhältnisse ernst – und liefert somit die Basiskonstellation für den hier vorgenommenen Versuch eines FortSchreitens. Das heißt zunächst, den Fokus von individualistischen Qualitäten des kreativen Tuns auf die Ebene der Sozialität zu verschieben. Der entscheidende Einsatzpunkt liegt dabei in der Erweiterung der modernitätstheoretischen Dogmen von formaler Rationalisierung (und ihren Prozessen der Bürokratisierung, Vermarktlichung und Verwissenschaftlichung) und funktionaler Differenzierung (und den Unterscheidungen von gesellschaftlichen Systemen oder Feldern) um Praktiken und Prozesse gesellschaftlicher Ästhetisierung. Im Vorwort zur 2017 erschienenen englischen Übersetzung stellt Reckwitz sein Vorhaben in eine spezifisch deutsche Soziologietradition der Modernitätstheorie von Weber und Simmel zu Habermas und Beck. Mit seinem Fokus auf Ästhetisierungsprozessen, die die modernitätstheoretischen Leitunterscheidungen von formaler Rationalisierung und sozialer Differenzierung tendenziell zu übersehen scheinen, obwohl sie als Entästhetisierung im Fall formaler

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Rationalisierung und als feld- oder systemspezifische ästhetische Praktiken z.B. im Kunstfeld oder im Bereich der Masssenmedien immer schon am Werk sind, öffnet sich die Studie zudem einem geisteswissenschaftlichen Erbe von Ästhetisierung und Ästhetisierungskritik (vgl. Rebentisch 2011). Damit wird den großen kritischen Projekten der Soziologie – einer Sozialkritik, die sich gegen soziale Ungleichheit oder Desintegration wendet – eine ästhetische Kritik an die Seite gestellt und der Anspruch einer »Revision des soziologischen Blicks« formuliert (Reckwitz 2015, 21).3 Als drittes Einflussfeld erwähnt Reckwitz den gegenwärtigen Aufschwung einer kulturtheoretisch und kultursoziologisch geprägten kritischen Gegenwartsanalyse (zum Beispiel in den Werken von Ulrich Bröckling, Hartmut Rosa und Joseph Vogl). Nicht zu übersehen ist zudem der Einfluss einer anglo-amerikanischen und französisch geprägten Kultursoziologie und Sozialtheorie, die Die Erfindung der Kreativität über den deutschsprachigen Raum hinaus anschlussfähig macht (auch das ein Grund für die parallele Veröffentlichung des vorliegenden Bandes in einer englischen Fassung). Exemplarisch dafür steht der praxeologisch gewendete und pluralistische Kulturbegriff, der dem Vorhaben unterliegt, aber auch die fruchtbare Beziehung zu Boltanski und Chiapellos einflussreicher Studie Der neue Geist des Kapitalismus (2003). Zwar ließe sich der Aufstieg der Kreativität zweifelsohne anhand rationalisierender Mechanismen ihrer Verwissenschaftlichung, Vermarktlichung oder gar Bürokratisierung untersuchen. Auch kann dieser differenztheoretisch auf distinkte gesellschaftliche Felder bezogen werden, mit den Systemen der Kunst, der Massenmedien (bzw. ihrer Plattform-Nachfolger) und der Kulturund Kreativökonomie als naheliegende Kandidaten. Doch würde damit das gerade spezifische Merkmal der Hinwendung zum Kreativen unterbeleuchtet bleiben: seine ästhetische Verfasstheit. Den großen gesellschaftstheoretischen Figuren von Rationalisierung und Differenzierung ist somit eine dritte beizufügen, die gleichsam enthält, was die anderen beiden cum grano salis ausschließen oder auf gesellschaftliche Teilbereiche beschränken: Ästhetisierung. Die Moderne ist gleichermaßen als »Ästhetisierungs- und Entästhetisierungsmaschine« (Reckwitz 2012, 34) zu begreifen. Damit gerät die sinnliche und affektive Prägung sozialer Formen und Prozesse in den Blick. Nur so lässt sich die eigentümliche »Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung« denken (ebd., 10): Affektive Intensität und körperliche Wahrnehmung werden zu elementaren Bestandteilen sozialer Praxis, und mit ihnen die Objekte und Technologien, 3 | Das lässt sich auch als Versuch der Entfaltung eines Theorieprogramms lesen, das in der Soziologie bereits angelegt ist, siehe z.B. die Schriften Georg Simmels zur Soziologie der Sinn, zum urbanen Leben und zur Mode, Gabriel Tardes Soziologie der Nachahmung oder phänomenologische Ansätze der leiblichen Erfahrung.

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die soziale Affekte und sinnliche Wahrnehmung ermöglichen und beeinflussen. Ästhetische Praktiken beziehen sich in dieser Terminologie auf selbstbezügliche und selbstzweckhafte, verkörperte und sinnlich organisierte Verhaltensweisen, die zweckrationalen Erwägungen und Motiven entzogen sind; in ästhetischen Episoden vollzieht sich ästhetische Wahrnehmung (vgl. ebd., 25). Damit liegt gewissermaßen das Rohmaterial für den Aufstieg der Kreativität als gesellschaftliche Leit- oder Heilsgröße vor. »Der gesellschaftliche Komplex der Kreativität«, so Reckwitz bündig, »territorialisiert die flottierenden Prozesse des Ästhetischen auf eine bestimmte Weise«, nämlich bezogen auf die »Produktion und Rezeption von neuen ästhetischen Ereignissen« (ebd., 20, Herv. i.O.).4 Kreativität ist damit der Name eines ästhetischen, auf sinnliche Wahrnehmung und affektive Intensität abstellenden Regimes des Neuen, Bedeutenden und Überraschenden. Von hier aus wird die zunächst verblüffende Ausbreitung und Vervielfältigung kreativer Narrative und Praktiken zum Symptom einer Ästhetisierung des Sozialen, die sich nicht auf ökonomische oder massenmediale Mechanismen reduzieren lässt. Gleichwohl ist sie mit Prozessen der Ökonomisierung und der technologisch ermöglichten Medialisierung verwoben. Die Amalgamierung von künstlerischen und ökonomischen Praktiken, die Gestaltung des eigenen Selbst, das Design und die Entwicklung primär kulturell und atmosphärisch gedachter Stadträume – all das ist als Aufstieg gesellschaftlicher Ästhetisierung im Gewand vielfältiger Praktiken und Narrationen der Kreativität zu verstehen.

Kreativitätskomplex: zur Genese des Buches Die in Die Erfindung der Kreativität vorgenommene Analyse endet in der Diagnostik des Kreativitätsimperativs »in seiner seit den 1980er Jahren entfalteten Form« (Reckwitz 2012, 51). Reckwitz verwendet das Foucault’sche Konzept des Dispositivs, um Beispiele von Prozessen und Praktiken aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern miteinander in Beziehung zu setzen und das Diffundieren kreativer Praktiken und Episoden nachzuzeichnen. Wie Sverre Raffnsøe (*Dispositiv, *Genealogie) in diesem Buch ausführt, erlaubt die Figur des Dispositivs zudem die genealogische Ausarbeitung der historischen Entwicklung hin zu den 1980er Jahren. Das gesamte Unterfangen, so Raffnsøe, wirkt als Versuch einer Antwort auf die gegen Ende des Buches geäußerte Frage »Wie ist es dem Kreativitätsdispositiv gelungen, sich durchzusetzen?« 4 | Ein solches Verständnis der Ästhetisierung des Sozialen beinhaltet eine Beschränkung des Ästhetischen bzw. ästhetischer Theorie auf das affektive Erlebnis als selbstbezügliche Praktik – vielleicht eine »konsumistische Engführung« des Ästhetischen, die auf eine Auseinandersetzung mit z.B. Werk-, Produktions- und Rezeptionsästhetiken verzichtet (Henning 2016, 311).

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(ebd., 333) Der Rückgriff auf Foucaults Methode der Dispositivanalyse verklammert so einerseits mannigfaltige Praktiken, zudem erzeugt er andererseits aber auch einen enormen Argumentdruck. Denn bei Foucault antwortet das Dispositiv auf eine soziohistorische urgence, eine ›Dringlichkeit‹ oder NotWendigkeit (die Not wenden) im gesellschaftlichen Prozess der Regierung von Subjekten, z.B. im Bereich der Sexualität oder der Überwachung. Reckwitz denkt mit Foucault bis ans Ende dieser Antwortstruktur und positioniert die vielleicht weitreichendste These des Buches mit der Behauptung, dass die Problemlage, auf die das Kreativitätsdispositiv antwortet(e), der »Affektmangel der klassischen gesellschaftlichen, insbesondere der organisierten Moderne« sei (ebd., 317, Herv. i.O.) (*Affektkultur; *Ästhetischer Kapitalismus, *Organisation). Die oben beschriebene Hauptstoßrichtung der von Reckwitz vorgeschlagenen Korrektur der soziologischen Moderne-Theorien in Sachen *Ästhetisierung – Kreativität als der Name eines ästhetischen, auf sinnliche Wahrnehmung und affektive Intensität abstellenden Regimes des Neuen, Bedeutenden und Überraschenden – erhält somit noch einmal emotionalen Nachdruck: Was wir heute unter »Kreativität« diskutieren, wird Teil einer Geschichte der westlichen Gefühlskultur, die seit dem semantischen Höhepunkt um 1800 erst am Ende des 20. Jahrhunderts wieder so intensiv über Gefühle spricht und in emotionalen Konzepten denkt (vgl. Frevert et al. 2011). Reckwitz, der im Postskriptum dieses Bandes Kreativität und das Neue im Strukturwandel der Moderne verortet, schließt mit der Affektmangel-These auch an ein Gründungsnarrativ der Kultur des atlantischen Westens an, der Trennung von Geist und Körper, Verstand und Gefühl (vgl. Metelmann 2016). Diese Rahmung eröffnet die Möglichkeit, den Kreativitätskomplex sowohl anhand unterschiedlicher Phänomene (z.B. *Coaching, *Creative Cities, *Konsum, *Pop) als auch ausgehend von Theoremen (der Moderne) zu diskutieren (z.B. *Ästhetisierung, *Kapital, *Plastizität, *Schuld). In der Konfiguration als Komplex, so die Ausgangsthese, erhält die Gegenwartsanalyse ihre volle Schlagkraft. Mit dem Begriff des Kreativitätskomplexes möchten wir den AnalyseHorizont also (noch einmal) weiten, um über die »Dispositiv«-Diskussion hinaus die vielfältigen und heterogenen Elemente einer ästhetisch gedachten Gegenwart in den Blick zu nehmen und in einer Begriffskonstellation abzubilden versuchen. Was wir so unter Umständen an theoretischer Schärfe im Vergleich zur auf die »Dringlichkeit« gefluchteten Dispositivanalyse verlieren, hoffen wir mit einem schärferen, weil in sich widersprüchlicheren Gegenwartsbezug kompensieren zu können. Der Begriff des Komplexes bietet sich dafür in hervorragender Weise an – Andreas Reckwitz führt das nicht weiter –, eröffnet er doch allerhand spielerisch-lustvolle Assoziationen, beginnend mit einem schon fast kalauerhaften ›Der Komplex ist komplex‹. Zudem denkt man sofort an größere gesellschaftliche Machtformationen wie den »militärisch-industriellen« oder gegenwärtig den »Security-Entertainment«-Komplex, denen

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in Teilen auch eine verschwörungstheoretische Latenz innewohnt (Martin 2008; Beyes 2019). Dem Komplex als paranoider Denkfigur korrespondiert dabei zudem eine reflexive Dimension des Begriffs, die sich auch auf das Feld der Forschung und der Forschenden beziehen lässt: Wie gut und plausibel kann sich die akademische Welt (dieses Buch ausdrücklich eingeschlossen), die neuerdings selbst gern ›kreativ und inspirierend‹ sein mag, als solche positionieren, denkt sie den Verhältnissen doch prinzipiell nach (ist also nicht neu), publiziert mit kleinen und kleinsten Reichweiten (ist also nicht bedeutend) und sortiert die Welt in Fußnoten (ist also nicht überraschend)? Solche Einschränkungen haben die Lust am Denken aber nicht bremsen können, die bei einem Abendessen mit Andreas Reckwitz in St.Gallen im April 2014 geweckt wurde. Ausgehend von der gemeinsam entwickelten Idee, mit der Erfindung der Kreativität über sie hinaus zu denken, organisierten wir Herausgeber – unterstützt durch Mittel der Duisburger Haniel Stiftung im Rahmen der St.Galler Haniel Seminars und des European Haniel Program on Entrepreneurship and the Humanities – zwei internationale Tagungen in Kopenhagen im Oktober 2014 und in St.Gallen im Oktober 2016, bei denen jeweils auch Andreas Reckwitz mitdiskutierte. Die Beiträge der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Workshops bildeten den Grundstock unseres Vademecums, der dann um weitere Begriffe ergänzt wurde. Die so entstandene Liste von Lemmata bildet natürlich keine abgeschlossene Auswahl, zielt aber auf eine repräsentative Konstellation und lauffähige Kartierung. Wie sich das für solche Versuche (bzw. Denk-Wege) gehört, kann die Lektüre an jeder Stelle einsetzen, sich umwenden, zurücklaufen, nach vorne springen oder stehen bleiben. Den mannigfaltigen Bezügen zwischen den Lemmata soll mittels ihrer bereits in dieser Einleitung praktizierten *Hervorhebung Rechnung getragen werden, die ihrerseits nicht-lineare Lektürewege ermöglicht. Wir bedanken uns vielmals bei Andreas Reckwitz und den Diskutantinnen und Diskutanten, Autorinnen und Autoren.5 Unser Dank gilt zudem der Haniel Stiftung (Rupert Antes und Anna-Lena Winkler), Morten Rishede Philipsen (Kopenhagen) und Sabrina Helmer (St.Gallen) für die Ermöglichung und Organisation der Tagungen sowie dem Publikationsfond der Universität St.Gallen für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ohne die sehr gelungenen Übersetzungen und das editing von Erik Christopher Born gäbe es keine parallel aufgelegte englische Fassung dieses Buches. Die Zusammenarbeit mit dem transcript Verlag und Annika Linnemann war wunderbar angenehm. Und last but not least haben Maximilian Schellmann (Kopenhagen) und Inga Luchs (Lüneburg) die Entstehung dieses Buch tatkräftig unterstützt – danke! 5 | Hinsichtlich geschlechter(un)spezifischer Endungen haben wir die Schreibweise der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors übernommen und nicht standardisiert.

Einleitung

Literatur Beyes, Timon (2019): »Surveillance and Entertainment: Organizing Media«, in: Timon Beyes/Lisa Conrad/Martin Reinhold, Organize, Minneapolis/ Lüneburg: University of Minnesota Press/Meson Press (im Erscheinen). Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, übers. v. Michael Tillmann, Konstanz: UVK. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2004): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frevert, Ute et al. (2011): Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt a.M.: Campus. Hall, Stuart (2010): »Foreword«, in: Helmut Anheier/Yudhishthir Raj Isar (Hg.), Cultural Expression, Creativity and Innovation. The Cultures and Globalization Series 3, London: Sage, S. IX-XII. Henning, Christoph (2016): »Grenzen der Kunst«, in: Michael Kauppert/Heidrun Eberl (Hg.), Ästhetische Praxis: Kunst und Gesellschaft, Wiesbaden: Springer VS, S. 303-327. Heubel, Fabian (2002): Das Dispositiv der Kreativität, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Lazzarato, Maurizio (2017): Work, Welfare, and Creativity in the Neoliberal Age, hg. v. Jeremy Gilbert, Cambridge, US: MIT Press. Loacker, Bernadette (2010): Kreativ prekär. Künstlerische Arbeit und Subjektivität im Postfordismus, Bielefeld: transcript Verlag. Lovink, Geert/Rossiter, Ned (Hg.) (2007): MyCreativity Reader. A Critique of Creative Industries, Amsterdam: Institute of Network Cultures. Luhmann, Niklas (1988): »Über Kreativität«, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Kreativität – ein verbrauchter Begriff?, München: Fink, S. 13-19. Martin, Reinhold (2003): The Organizational Complex. Architecture, Media, and Corporate Space, Cambridge, US: MIT Press. McRobbie, Angela (2016): Be Creative. Making a Living in the New Culture Industries, Cambridge, UK: Polity Press. Metelmann, Jörg (2016): Ressentimentalität. Die melodramatische Versuchung, Marburg: Schüren. Osborne, Thomas (2003): »Against ›Creativity‹: A Philistine Rant«, in: Economy and Society 32(4), S. 507-525. Raunig, Gerald/Wuggenig, Ulf (2016): »Kritik der Kreativität. Vorbemerkungen zur erfolgreichen Wiederaufnahme des Stücks Kreativität«, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien: transversal, S. 71-77.

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Rebentisch, Juliane (2011): Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2015): »Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen«, in: Andreas Reckwitz/Sophia Prinz/Hilmar Schäfer (Hg.), Ästhetik und Gesellschaft: Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, Berlin: Suhrkamp, S. 13-52. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp. Rosler, Martha (2010/2011): »Culture Class: Art, Creativity, Urbanism, Part I-III«, in: e-flux Journal 21/23/25. Online verfügbar unter: https://www.eflux.com/journal/21/67676/culture-class-art-creativity-urbanism-part-i/ (abgerufen am 17.04.2018). White, Harrison C. (1993): Careers and Creativity. Social Forces in the Arts, Boulder, CO: Westview. Wuggenig, Ulf (2016): »Kreativitätsbegriffe«, in: Raunig/Wuggenig, Kritik der Kreativität, S. 11-69. Wuggenig, Ulf (2017): »Literaturhinweise zum Gebrauch des Kreativitätsbegriffs«, in: Kunstforum international 250, S. 174-183.

Affektkultur Jörg Metelmann

In ihrer luziden und systematischen Analyse ist der Aufstieg und die Allgegenwart der Kreativität an eine – der ubiquitären *Ästhetisierung anbei gestellte – Großthese gekoppelt: »Auf welche Problemlage reagierte nun das Kreativitätsdispositiv? Die Antwort lautet: Die Dringlichkeit bestand im Affektmangel der klassischen gesellschaftlichen, insbesondere der organisierten Moderne. Diese betrieb eine systematische Verknappung der Affekte, die den vergesellschafteten Subjekten hätten Motivation und Befriedigung verschaffen können. Die Ästhetisierungsprozesse des Kreativitätsdispositivs versuchen, diese Verknappung zu überwinden.« (Reckwitz 2012, 314 f.) Auch wenn die »Affektverknappung der Moderne« laut Reckwitz nicht vollständig war, da mit den »Affektballungsräumen« des Ästhetischen, Religiösen und Politischen alternative Orte der emotionalen Bindung von Energien zur Verfügung standen (ebd., 317), so schafft doch die Moderne selbst die Notwendigkeit (Foucaults »urgence«), auf den Mangel zu reagieren. Mit Affektkultur ist somit ein – wenn nicht das – zentrale Scharnier des Kreativitätskomplexes angesprochen, das der weiteren Reflexion bedarf (*Atmosphäre, *Farbe). Diese möchte ich mit dem Versuch vorantreiben, die im »Kreativitätsdispositiv« noch wenig oder undefinierten »Affektballungsräume« als wertende Verstehensformen zu fassen. Der Ausgangspunkt hierfür ist eine terminologische Frage. Was genau bedeutet bei Reckwitz »Affekt«, in Abgrenzung zu »Gefühl«, »Emotion« oder »Stimmung«? In heutigen Theoriekontexten wäre damit wahrscheinlich im Anschluss an Gilles Deleuze (Reckwitz selbst verweist auf Tausend Plateaus und das Desiderat einer »Affektkartographie der Moderne«, ebd., 317, Herv. i.O.) und Brian Massumi das noch ungeformte Eruptiv-Transitorische gemeint, eine Kraft, die durch Körper hindurch wirkt und fixierte Konstellationen dynamisiert (vgl. Massumi 2010, 5-34). Doch das scheint Andreas Reckwitz nicht zu meinen. Über Namen wie besonders Norbert Elias (vgl. ebd., 317, FN 7) und die Bezüge zu Durkheim, Weber, Marx und die Kritische Theorie ruft Reckwitz eine der Großkonstellationen der Neuzeit auf, die Trennung von Geist und Körper, Vernunft und Gefühl, Kognition und Emo-

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tion. Hier meint Affekt das Undomestizierte, das Nicht-Rationale, das Andere des Begrifflichen und auch Sachlichen: »Industrialisierung, Kapitalisierung, formale Versachlichung und Mensch-Ding-Separierung erscheinen damit zunächst wie eine resolute Entästhetisierungsmaschine. Sie wirken rückbildend und hemmend auf eigendynamische sinnliche Perzeptionen und Affekte, auch wenn dies nie vollständig gelingen mag« (ebd., 32). Interessanterweise setzt Reckwitz vor den Bereich der »Affekte« noch die »Perzeptionen«, also das Ästhetische, was insofern sehr aussagekräftig ist, als es ihm – so mein Eindruck auch mit Blick auf das Schlusskapitel »Ästhetisierungsgesellschaft« – eigentlich mehr um die Opposition von zweckrationalem Handeln als »Weltbearbeitungsmodus« versus den »Welterfahrungs- und -verarbeitungsmodus des selbstreferenziellen Erlebens in den ästhetischen Praktiken« (ebd., 26, Herv. J.M.; *Ko-Kreation) geht. Will sagen: Wenn es Reckwitz zentral darum geht, etwas gegen die systematische Instrumentalisierung von Welt in der (organisierten) Moderne aufzubieten, dann scheint ihm das Zweckfrei-Ästhetische wichtiger als das Undomestiziert- oder Transitorisch-Affektive. Vielleicht kommt daher die terminologische Offenheit in punkto »Affekt(e)«, die sich auch an anderer Stelle zeigt, an denen Reckwitz »Affekt« und »Emotion« synonym verhandelt (Reckwitz 2008, 178, FN 4 und 194). Denn wie ließe sich der genaue Gehalt eines »Affektballungsraums« (des Ästhetischen, des Politischen, des Religiösen) – also der »Orte und Strategien, die [von Anfang an] darauf ausgerichtet waren, den Affektmangel zu kompensieren« (Reckwitz 2012, 317) – fassen und kulturell einbetten, wenn man ihn nicht als mehr oder weniger dicht kodiertes, historisch bedeutsames und damit auch intersubjektiv interpretierbares Feld beschreibt? Verstanden als transitorisches Kräftefeld, als das Andere der sozialen Kodierung, wie das unter Rekurs auf Deleuze/Massumi und auch teilweise Elias naheläge, bliebe die theoriestrategisch wichtige Position meines Erachtens zu schwach, weil unterbestimmt. Vielmehr denke ich, dass man den »Affektballungsraum« als Emotionsknoten oder Gefühlsszenario deuten muss, also als ein Feld von Gefühlen mit Geschichte(n) und einer bereichsspezifischen *Performativität. Christiane Voss hat dazu in ihrer Studie »Narrative Emotionen« einen konsistenten Rahmen erarbeitet, in welchem kleine Erzählungen die Grundeinheit einer Emotion bilden. Eine »Emotion« ist dabei im Unterschied zum Oberbegriff »Gefühl« bestimmt als ein »Gefühl des Bewegtseins (von etwas)«, dies im Gegensatz wiederum etwa zur »Stimmung«, die kein Objekt hat (kein von etwas). Im Hinblick auf das Verständnis einer Emotion ist es für Voss wichtig, a) das Objekt und seine Bewertung, b) das davon ausgelöste Verhalten sowie c) die körperliche Reaktion (physische Veränderung) zu untersuchen. Mit einem solchen Ansatz gelingt es Voss zum einen, zwischen naturalistischen und kulturalistischen Theorien zu vermitteln, indem sie von einem Übergang zwischen primären und sekundären Gefühlen ausgeht, je nach Grad der

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kulturellen Formung durch soziale und mediale Interaktion. Diese Interaktionen, »mit denen wir in Erzählungen, Spielen, Filmen, Berichten und vor allem in Begegnungen im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden« (Voss 2004, 219), bilden in der Summe unsere Deutungsfolie für emotionale Erfahrungen. Medien im weitesten Sinne spielen also eine wichtige Rolle, denn sie versorgen uns auch mit einem »Begriffsverständnis solcher Emotionsterme, die wir biografisch eventuell nie selbst erfahren haben« (ebd., 214). Es ist dies begründet und möglich durch die »Sprachabhängigkeit unseres Emotionsverständnisses« sowie durch die »Fähigkeit zur Phantasie«, die uns immer schon an »übersubjektive Erfahrungs- und Verstehensräume« anbinden (ebd.). Ein solches Verständnis gilt, wie Voss immer wieder betont, vor allem für sekundäre oder komplexe Emotionen wie »Eifersucht, Verliebtheit, Neid, Schuld, Scham, Stolz, Enttäuschung, Rache, Freude, Mitleid, Glück, Hass, Ressentiments, Langeweile« oder für »höherstufige Emotionen wie Stolz auf Mitleid, Schuldgefühle über Neid usw.« (ebd., 221) Ein solcher Begriff von ›Emotion‹ kann diese logischerweise nicht als unbewusst, ungeformt oder singulär-transitorisch verstehen, wie die dominanten Affekttheorien annehmen. Denn es geht per definitionem um Emotionen als wertende Verstehensformen, in denen »ein persönlich wertendes Verhältnis zur Welt abgebildet und auch zeitlich begrenzt erlebt wird.« (ebd., 222) Ein Vorschlag wäre nun, dass die Bereiche Ästhetisches, Politisches und Religiöses präziser denn als »Affektballungsräume« als eben solche wertenden Verstehensformen gefasst werden können. Denn was wären »aggressiver Millenianismus« im Feld des Religiösen oder das »Ideal einer diesseitigen Vervollkommnung des sozialen Kollektivs« im Bereich des Politischen der Moderne (beide Reckwitz 2012, 318) anderes als hochgradig (medial) gedeutete und insofern anschlussfähige (replizierbare, interpretierbare) Gefühlsszenarien, die um einen narrativen Kern der »Bestätigung oder Durchkreuzung unserer Erwartungen« bzw. der »Erfüllung oder Enttäuschung unserer Wünsche und Zielvorstellungen« (Voss 2004, 218) entstanden sind? Andreas Reckwitz selbst weist in diese Richtung, wenn er in einer Fußnote schreibt: »Man kann die These vertreten, dass gerade die vorgeblich politisch besonders rationalisierte organisierte Moderne zugleich kompensatorisch auf intensive Affektmuster angewiesen war, die sich im Zeitalter der ›europäischen Bürgerkriege‹ manifestierten.« (Reckwitz 2012, 318, FN 10) Als ein solches »intensive[s] Affektmuster« bzw. Gefühlsszenarium kann man beispielsweise auch das Ressentiment deuten, das Europa aktuell prägt (vgl. zum Folgenden auch: Metelmann 2017). Es ist eine der Grundeinsichten im Nachdenken über Ressentiments seit Friedrich Nietzsche und Max Scheler, dass die Aversion, die sich entladen darf, nicht ins Ressentiment führt. Für Scheler (1955, 41) ist es vielmehr die Unmöglichkeit des Ausdrucks und Auslebens eines Gefühls, die zur Ohnmacht, zur persönlichen Kränkung führe,

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die sich dann bei jeder erneuten unmöglichen Expression verschärft – das Re-Sentiment verstanden als Wieder-holung der Kränkung. Eine weit verbreitete Erklärung für das Wiedererstarken der Ressentiments in Europa ist gemäß dieser Logik, dass es das Silencing, die Sprechverbote der »politischen Korrektheit« waren, die das Gefühl der Ohnmacht bestimmter Gruppen und Schichten immer weiter gesteigert haben, weil viele Menschen glaubten, nicht mehr das sagen zu dürfen, was sie denken. Die Populismen der letzten Jahre, kulminierend in Donald Trumps Diffamierungsreise ins Weiße Haus, lassen sich vor diesem Hintergrund als ein Sprachventil verstehen, das eine wahrgenommene ›Stauung‹ öffnet, ein Ohnmachtsgefühl bearbeitet. Dabei haben die ›Ohnmächtigen‹ trotzdem oftmals das Gefühl, ihren Unmut nicht äußern zu können, nicht gehört zu werden und sich daher wehren zu müssen. Die Ohnmacht ist also nicht nur eine, die daher rührt, dass man glaubt, nicht alles sagen zu dürfen, sondern auch eine, die sich aus der Frustration nährt, überhaupt nicht gehört zu werden, selbst wenn man etwas sagt, kurz: politisch und gesellschaftlich ›abgehängt zu sein‹. Gut erkennt man hierin Schelers Beobachtung, es seien vor allem die »Dienenden, Beherrschten« (Scheler 1955, 41), bei denen sich das Ressentiment ausbilde. Dieses Doppel von Einschluss (etwas sagen können) und gleichzeitiger Ablehnung (nicht gehört werden) ist eine Spielform der breiteren gesellschaftlichen Gefühlsströmung, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, obwohl man die (gefühlte) Mehrheit stellt. Sie reflektiert eine Grundspannung, der gemäß das liberal-demokratische Subjekt selbst immer auch anfällig für das Ressentiment ist, weil es sich in bestehenden Machtkonstellationen gegen andere behaupten, d.h. die eigene Stimme erheben und so die Not mangelnder Anerkennung zum Besseren wenden muss: Das Individuum positioniert sich allein oder mit anderen als Opfer und Auf begehrender, das sein sprichwörtliches Stück vom Kuchen will. Was natürlich voraussetzt, dass man überhaupt einen allgemein akzeptierten Anspruch auf den Kuchen hat, was für eine adlige Gesellschaft vor der Französischen Revolution nicht, für die egalitär-partizipativen Demokratien nach 1776 bzw. 1789 aber der Fall ist. Dazu notiert schon Max Scheler, dass beim Ressentiment eine »gewisse Gleichstellung des Verletzten mit dem Verletzer stattfindet«, so dass sich »um so größere Mengen dieses seelischen Dynamites bilden werden, je größer die Differenz ist zwischen der politisch-verfassungsmäßigen oder der ›Sitte‹ entsprechenden Rechtsstellung und öffentlichen Geltung der Gruppen – und ihren faktischen Machtverhältnissen« (Scheler 1955, 43, Herv. i.O.). Das Problem sei, dass in einer solchen Gesellschaft »jeder das ›Recht‹ hat, sich mit jedem zu vergleichen, und sich doch ›faktisch nicht vergleichen kann‹.« (ebd.) In dieser kulturtheoretischen Rahmung gehören liberales Subjekt und Universalismus auf der einen, ressentimentales Subjekt und Partikularismus auf der anderen Seite zur gleichen Medaille der Moderne, die mit dem

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allgemeingültigen Anspruch antritt, Andersheit gleich zu behandeln – ohne Vergleich. Zugleich mit diesem Anspruch entsteht aber die Notwendigkeit, legitime Ansprüche auszuhandeln, die aus oftmals ungleich und ungerecht verteilten besonderen Bedingungen hervorgehen. Und diese Aushandlung geschieht im Modus des Vergleichs mit anderen Gruppen in der Gesellschaft, die das haben, was man selbst nicht hat. Es besteht insofern keine Trennung oder Gegensatz zwischen den Mustern der Rationalität und der Affekte, sondern beide sind gesamtkulturell aufeinander bezogene Teile eines spannungsreichen Diskursgeflechts der Moderne. Indem Reckwitz die Affektgeschichte von der Rationalisierungsgeschichte cartesianisch löst und dann das »Kreativitätsdispositiv« fast wie eine Revanche »kompensatorisch« auf den Affektmangel reagieren lässt, konstruiert er eine Konstellation, die mehr nach Kritischer Theorie klingt als zu Foucault passt. Denn Letzterem ging es nicht um Kausalitäten: Eine »urgence« (Dringlichkeit, Notstand, Notwendigkeit) ist kein Grund, der ein späteres Verhalten erklärt. Die Reaktionen auf die »urgence« dienen strategisch der Bearbeitung eines Problems – etwa der Inklusion einer freigesetzten Volksmasse –, aber sie sind kein Effekt eines auslösenden Grundes (vgl. Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2016, 286; *Dispositiv, *Genealogie). Das Dispositiv weist ordnend in die Zukunft, nicht erklärend in die Vergangenheit: Es geht darum, ein Problem zu lösen, woraus aber wiederum neue Probleme entstehen – im Falle des Kreativitätsdispositivs zum Beispiel Phänomene der Erschöpfung, des Burn- oder Bore-outs (*Coaching, *Schuld). Man kann, so besehen, die »Dispositiv«-Methode kritisch auf ihre Funktionalität für Reckwitz’ Argumentation hin befragen: Wie gut füllt der »Affektballungsraum« den Argumentsog, der durch die »urgence« entsteht? Zudem lässt sich auch der zentrale Dispositiv-Imperativ »Sei kreativ!« noch einmal anders verstehen, und zwar im Sinne einer invers gedeuteten Repressionshypothese à la Foucaults Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Hier legt Foucault bekanntlich dar, dass der Sex über die Jahrhunderte sicherlich strikten Verboten unterworfen war, aber eben nicht nur – vielmehr ging es neben dem Schweigen auch immer um diskursive Anreizung. Umgekehrt angewandt auf unsere Zeit und unser Thema hieße das zugespitzt, dass wir gar nicht so kreativ sind und sein müssen, wie wir uns in stetig wiederholten Imperativen immer Mantra-gleich vorsprechen – in der Hoffnung, dass keiner merkt, wie repetitiv, einfallslos und marginal variant eine professionell betriebene Kreativität in Arbeits- und privaten Zusammenhängen oftmals ist. Das Kreativitätsdispositiv würde damit nicht nur auf einen Affektmangel der (organisierten) Moderne antworten, sondern als Schutzbehauptung auch auf den Ideen- und Zukunftsstau der postmodern-neoliberalen Gegenwart reagieren (*Imagineering, *Kreativitätstechniken).

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Literatur Massumi, Brian (2010): Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve Verlag. Metelmann, Jörg (2017): »›Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.‹ Über Hass-Rede und Ressentiment als Gefühlsszenario«, in: Ulrich Ernst Huse (Hg.), Kodex 7: Zensur und Medienkontrolle in demokratischen Gesellschaften, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, S. 143-157. Raffnsøe, Sverre/Gudmand-Høyer, Marius/Thaning, Morten S. (2016): »Foucault’s Dispositive: The Perspicacity of Dispositive Analytics in Organizational Research«, in: Organization 23(2), S. 272-298. Reckwitz, Andreas (2008): »Umkämpfte Maskulinität. Zur Transformation männlicher Subjektformen und ihrer Affektivitäten«, in: ders. (Hg.), Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: transcript Verlag, S. 177-196. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Scheler, Max (1955): »Das Ressentiment im Auf bau der Moralen«, in: ders./ Maria Scheler (Hg.), Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern: Francke Verlag, S. 33-147. Voss, Christiane (2004): Narrative Emotionen. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien (= Ideen & Argumente), Berlin/New York: Walter de Gruyter.

Arbeit Sophie-Thérèse Krempl

Michael Glawoggers Dokumentarfilm Workingman’s Death ist ein Sittenbild von Gegenwart und Zukunft der globalen Arbeit. Er folgt Arbeitern in illegalen ukrainischen Minen; Schwefelarbeitern in indonesischen Vulkangebieten, die kilometerweit kiloschwere Körbe schwefelhaltigen Gesteins auf den Schultern balancieren; Tagelöhnern in Pakistan, die marode gewordene Kreuzfahrtschiffe zur Entsorgung zerschneiden; nigerianischen Schlachtern auf offener, von Tierblut durchtränkter Erde; chinesischen Stahlarbeitern, deren Öfen so aussehen wie zu der Zeit, als sie in Europa geschlossen wurden. Den Epilog bilden spektakuläre Aufnahmen aus dem Freizeitpark der 1985 stillgelegten Hochofenanlage in Duisburg-Meiderich. Workingman’s Death erzählt über den anderen Raum und die zweite Wirklichkeit der Transformationen der Arbeit. Die schwere körperliche Arbeit in Indonesien, Pakistan, China, der Ukraine und in Nigeria, wo die toten Tiere über alten europäischen LKW-Reifen gegrillt werden, ist das Analogon unserer Vergangenheit zu unserer im permanent gewordenen Zukunftsmodus operierenden Gegenwart (*Imagineering, *Ko-Kreation). Der Film dokumentiert eine Arbeit, die noch unsere Lebensgrundlage, deren archaischer Charakter aber für uns verschwunden und von Arbeitsformen abgelöst ist, die wir unter dem Rubrum der ›Subjektivierung‹ und der gesellschaftlichen *Ästhetisierung durch das »Kreativitätsdispositiv« (Reckwitz 2012) zu fassen versuchen. Wenn wir Arbeit zu Beginn des digitalen Zeitalters genauer fassen wollen, gehört diese globale Grundlage zur lokalen Perspektive, denn sie illustriert ein Wesensmerkmal von Arbeit: die körperliche Belastung, das Leid, die Plage, die Mühe, den bis zu Erschöpfung und Tod erzwungenen Energieverbrauch, der keine Alternative kennt. Sie bildet trotz des Endes unseres industriellen Zeitalters den Kernbestand unseres Arbeitsbegriffs: eine von den Gesetzmäßigkeiten unserer Lebensumstände erzwungene Notwendigkeit zur Gewinnung, Sicherung und Wahrung unserer Lebensgrundlagen zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, zur Existenzsicherung. Diese Arbeit ist von zwei Kennzeichen geprägt: der repetitiven Unausweichlichkeit, die dazu zwingt, immer

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und immer wieder dieselben Tätigkeiten zu verrichten, ohne über Handlungsspielräume oder Alternativen zu verfügen; zweitens ihrer Nutzenorientierung, die keinen anderen Zweck kennen kann als die Sicherung der Lebensgrundlagen. Die Industrialisierung ließ beide zu jener nutzenorientierten Routinierung von Arbeitsabläufen verschmelzen, aus der sich Effizienz und Arbeitsteilung als Antwort auf die Frage entwickelten, wie wir zur Erreichung derselben Ziele weniger Energie aufwenden und den Nutzen unserer Arbeit (zudem für eine größer werdende Gruppe von Menschen) vermehren konnten. Der historische Bogen der Systematisierung ihrer Organisation verläuft von Adam Smith über Frederick Taylor zu Henry Ford. Ihre gemeinsame Basis ist jener Zweck-Nutzen-Gedanke, der die industrielle Arbeitsorganisation prägte. Hier bestimmte die Technik des Arbeitens den Menschen und seine soziale Bedeutung. Seit dem Umbruch in das postindustrielle Zeitalter befindet sich auch unsere Arbeitsorganisation in einem Transformationsprozess, der dies umdreht: Der Mensch bestimmt die Bedeutung der Arbeit und sucht nach Modellen, die Arbeitstechniken ihr anzupassen. Nicht mehr der gesamtgesellschaftliche, sondern der intrinsische Einzelwert für das Subjekt ist relevant; die Organisation orientiert sich an Wert-, nicht an Nutzmaßstäben und wandelt Arbeit vom Produktionsinstrument der Ökonomie zum Sinnproduzenten des Lebens (*Organisation, *Valorisierung). Hierbei handelt es sich um mehr als eine technologische Veränderung – es handelt sich um eine Transformation bislang gültiger Paradigmata von Arbeit und ihrer Dispositive (*Dispositiv). Der Arbeitsbegriff der früh-, mittel- und spätkapitalistischen Zeit, auch des industriellen Zeitalters, wurzelt in jenem polaren aristotelischen Lebensweltbild, das unser neuzeitliches Strukturdenken und die Motivationslogiken der Ökonomie gleichermaßen geprägt hat: Alles Tun wird danach bewertet, ob es selbstwertes, sinnhaftes Tun ermöglicht, das keinem anderen Zweck folgt (»Denn wir arbeiten, um dann Muße zu haben« [Aristoteles 1983, 1177b, 5-6]). Erst Luthers Erfindung des Berufs (Luther 1996, 23) bildet auf dem Weg zur kapitalistischen Gesellschaftsorganisation einen Markstein der Transformation. Dieses eine Wort verschränkt die aristotelischen Dispositive von Notwendigkeit und Muße miteinander und setzt den Anfang einer sozialphilosophisch wie sozialhistorisch folgenschweren Relativierung: Die Bereiche getrennter Dispositive von Muße/sinnhaftem Tun und Arbeit/zweckhaftem Tun werden verbunden und ineinander verschränkt. Die aristotelische Teleologie, deren Ziel ein ausgleichendes Mittelmaß ist (Mesotes-Lehre), wird ungültig: die Verschränkung, nicht die Ausgleichung der Gegensätze prägt die neue Kausallogik. Gerade wegen ihres qual- und mühevollen Charakters, so die lutherische Lehre, trage die Arbeit zum christlich-moralischen Selbstbild des Menschen bei; gerade in der zweckbezogenen Tätigkeit gingen Wertschöpfung und Sinn vonstatten. So wird die Arbeit zur moralischen Pflicht: Um ihr einen Sinn zu

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geben, wird sie mit dem Dienst an Gott beglaubigt – eine versteckt früh-materialistische Theodizee (*Schuld). Revolutionär daran ist, dass der Diskurs der Bewertung in die Ethik einzieht und damit letztlich die Ökonomie begründet. Vormals operierten Morallehren nicht mit der Bewertung von Handlungen, sondern dichotomisch anhand des Ge- und Verbotsmaßstabs. Mit der metaphysischen Aufwertung der Arbeit zieht ein instrumenteller Zweck und damit eine Bewertung in die Moral ein (die Frage lautet nicht mehr: »Ist dies Tun gut?«, sondern: »Wie gut ist dies Tun?«) und macht Arbeit zu einem religiösen Instrument der Sinnstiftung. Das lutherische Arbeitsethos der Berufung ist Voraussetzung für Webers Analyse des Protestantischen Geists des Kapitalismus: dass es die Moralisierung der Arbeit sei, die den Erfolg des kapitalistischen Wirtschaftssystems ausmache und den Menschen dazu bringe, sich »auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse« (Weber 2004, 78) zu beziehen. Der Markt, das Geld und die abstrakte Bindung der Menschen an die Vielzahl der Produkte machten möglich, den eigentlichen Zweck der Arbeit darin zu sehen, dass sie einen Sinn habe, weil sie Zwecke erfülle. So wird Arbeit im Kapitalismus wieder profaniert, bewahrt aber ihre Bewertbarkeit, sodass ihr Wert zu einem intrinsischen wird: Der Beruf wird zur Selbstberufung, Arbeit zu einem Sinngenerator. Hannah Arendt versucht, diese Internalisierung aufzuheben, und dreht den aristotelischen Spieß um; sie weitet das, was Arbeit ist, so aus, dass andere Tätigkeitssphären unterscheidbar bleiben. Ihre Anthropologie bewahrt die Zweckorientierung der Arbeit und die Sinngenese als menschliche Begabung voreinander. Arendt liegt daran, einen öffentlichen Raum zu schützen, in dem die kommunikative Begegnung vergesellschafteter Bürger möglich ist, die ihre Lebensbedingungen interessenunabhängig verhandeln können. Ein von Zwecken und Zwängen unabhängiges Handeln beweise das Talent des Menschen zu Freiheit (vgl. Arendt 1967) und öffne erst den Bereich moralischen Handelns, das als einzige menschliche Tätigkeit sinnstiftend wirke. Die freiheitliche Sphäre beginnt, wo die Selbstbestimmung nicht in zweckdeterministischen Kontexten, deren primären die Arbeit bildet, beeinträchtigt werden kann. Doch ihren Versuch, die kantische Ethik mit der marxistischen Soziallehre zu vereinen, hat die Geschichte ironisiert: Der postmoderne Arbeitsbegriff folgt der Marx’schen Anthropologie darin, dass er alle Lebens- und Tätigkeitssphären internalisiert; Arbeit als »Selbstgewinnung, Verwirklichung, Selbsterzeugungsakt des Menschen« (Marx 2005, 144) wird gerade deshalb Sinn zugesprochen, weil sie zweckmäßig, zweckhaft, (weiter-)verwertbar ist. Arbeit bedarf keines metaphysischen Legitimationsmediums mehr, um der gesellschaftliche Strukturgeber zu sein und gerade unter dem Paradigma der Nützlichkeit Sinnproduktion zu behaupten.

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Hatte der moderne/industrielle Arbeitsbegriff Verschränkungen produziert, so transformiert der postmoderne/postindustrielle ›objektive‹ Zwecke (Arbeitsprodukte) zu ihrer ›Subjektivierung‹ (ihrer subjektiven Bedeutung für den Arbeitenden und seine Eigenverantwortung), verschränkt sie spiralförmig und erhöht so die Abhängigkeitsdichte: Arbeit als Selbstverwirklichung schneidet Arbeit auf Bedürfnisse (und Fähigkeiten) des Arbeitenden zu; ihre Bedingungen können so gestaltet werden, dass die Arbeit eine dem schöpferisch-kreativen Akt vergleichbare Befriedigung erlangt und das Produkt der Arbeit für den Einzelnen nicht mehr nur noch zweckhaft, sondern Ausdruck eines sinnhaften Tuns ist. Das Kreativitätsdispositiv, das Reckwitz als Folge eines »Affektmangels der organisierten Moderne« (Reckwitz 2012, 315) identifiziert (*Affektkultur), hat sich als neuer Imperativ aus den Motivationsschlagworten, die Arbeit unter dem Primat der Sinnstiftung als Selbstzweck propagieren, herausgeschält und hebt in der Arbeitsorganisation auf das Schöpferische, Gestalterische und vor allem das Prinzip der Selbstbestimmung und Autonomie, das Kreativität und den kreativen Typus schlechthin: den Künstler, prägt, ab (*Künstler, *Kuratieren). Es ist das Leitmedium neuer Zwänge und der vorläufige Superlativ der Zustandsbeschreibung heutiger Arbeitsanforderungen. Diese Entwicklung hebt alte Dispositive der Arbeitsorganisation wie Zweck, Funktion, Kollektiv/Klasse und Solidarität auf und propagiert eine Grenzenlosigkeit von Arbeit (*Kreative Masse). Doch je höher der Grad der Selbstverwirklichung, desto höher das Risiko des Verlusts sozialer Arrangements und das Risiko, den dispositiven Funktionen nicht zu entsprechen. Wurde dieses Risiko im Industriezeitalter im Verhältnis der Ausbeutung von zwei Parteien gestaltet und mit ›doppelter‹ Entfremdung belegt (vgl. Marx 2005, 62 ff.), so hat der Sinn in der Arbeit diese Dispositive im postindustriellen Zeitalter internalisiert: Die heutige Entfremdung heißt Überidentifikation, die heutige Ausbeutung Burn-out (*Coaching). Legt man die aristotelische Dichotomie von Sinn und Zweck unter das Kreativitätsdispositiv, wird erkennbar, dass unter Umsetzung dieser Postulate des Kreativen neue, systematische Zwänge, Widersprüche und Aporien entstehen. Zwar ist das Modell der Sinnstiftung im Grunde unabhängig davon, ob der Künstlertypus zum role model der Gesellschaft wird (*Künstler), Kreativitätsanspruch und Selbstverwirklichung sich auf alle Lebensbereiche ausdehnen und Sinn, Bedeutung, Individualität/Besonderheit und Eigenwert anstelle der alten Dispositive treten, die davon geprägt waren, dass die Arbeit eine Zeit okkupiert, um andere Zeiten selbst bestimmen zu können. Doch beansprucht es, Solidarität, soziale Integration und Anerkennung durch Selbstverwirklichung, Gestaltungsfreiheit und Autonomie, Funktionsbezüge durch Sinnbezüge ersetzen zu können. Denn die Internalisierung des Sinns in den Zweckzusammenhang schafft eine Paradoxie, nämlich Neues in repetitiver Form zu erfinden – schließlich

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bleibt dieser Charakter der Arbeit erhalten. Doch gerade auf jener Paradoxie der Repetitivität von Schöpfung baut das Sinnparadigma seine Wirkungslogik auf und macht diesen Widerspruch ökonomisch fruchtbar, indem es mithilfe des Kreativitätsdispositivs neue Verwertungsketten löst: Mit dem Dispositiv von Kreativität und ästhetischer Praxis (d.h. einer auf funktionsunabhängige Geltung abzielende Tätigkeit) kann jede Beschäftigung eine Arbeit sein oder eine werden (*Ästhetischer Kapitalismus). Entscheidend ist, in welchen Funktionszusammenhängen die Tätigkeitsdispositive stehen (vgl. Krempl 2011, 284 ff.). Denn unabhängig davon, wie selbstbestimmt, schöpferisch und kreativ die Arbeit und ihre Organisation gestaltet ist – unter ökonomischen Bedingungen steht am Ende ein marktverwertbares Produkt. Die Repetitivität der Arbeit packt die Funktionalität an den Hörnern ihrer Geltungssucht und versteckt sie vor aller Augen unter dem roten Tuch der Sinnstiftung. Doch damit verstärkt sich der Widerspruch der Subjektivierung der Arbeit: Je größer Freiheitsaspekte in der Arbeit werden (je dominanter das Kreativitätsdispositiv gilt), umso mehr wird Arbeit zur zentralen Handlungskompetenz unserer Gesellschaft (und umso kleiner Bereiche, in denen das Prinzip nicht gilt) und wird es schwer, gesellschaftliche Maßstäbe zu bewahren und weiterzuentwickeln. Diesen Zustand diagnostiziert Reckwitz als eine »Krise des Allgemeinen« (Reckwitz 2017, 432 ff.), die sich in den Krisen der Anerkennung, der Selbstverwirklichung und des Politischen zeige, wie Arendt vor 50 Jahren prognostiziert hatte. Arbeit soll nicht mehr Zweck, also Instrument zur Freiheit sein, sondern trägt als Verwirklicherin ihrer Freiheit und Selbstzweck bitter zynische Züge. Arbeit macht frei – von ihr; das dem Sinnparadigma der Arbeit zugrunde liegende Postulat beansprucht, Arbeit umzuwerten, sie nicht mehr als Arbeit, sondern als das, was früher ihr Gegenteil war, zu werten: Sinn und – in höchster Vollendung: Kunst. Es handelt sich bei dieser »Krise des Allgemeinen« also nicht um eine Krise der Sinnstiftung, sondern der Zwecksetzung. Solch eine Krise ist dann am Werke, wenn aus Widersprüchen eindeutige Lösungen abgeleitet werden: Arbeit unter dem Diktat des Sinn-, Subjektivierungs- und Kreativitätsdispositivs ist nicht mehr einfach nur das entscheidende soziale Zugangsmittel einer Arbeitsgesellschaft, das die Gleichwertigkeit gesellschaftlicher Anerkennung reguliert; Arbeit unter dem Sinndispositiv stellt die eigene Anerkennung seiner selbst, die Selbstzufriedenheit des Einzelnen, zur Disposition. Zwar schlägt der Marxismus hier der Geschichte wieder einmal ein ironisches Schnippchen, indem das Sinnparadigma Arbeit zu einer »von allen Gesellschaftsformen unabhängige[n] Existenzbedingung des Menschen« (Marx 1962, 57) macht; denn je subjektiver bewertbar Arbeit ist – und unter dem Imperativ des Kreativitätsdispositivs kommt es zu seiner Vollendung –, umso zwingender wird die Notwendigkeit der Arbeit und umso unfreier derjenige, der die Befreiung in der Arbeit sucht.

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Doch gerade dieser Widerspruch verlangt eine angemessene Organisation. Je zentraler eine Gesellschaft ihren Integrationsmechanismus positioniert und validiert, desto zugänglicher muss er sein. Die Rahmung von Arbeitsbeziehungen muss den moralischen Ansprüchen, die das Modell der Sinnstiftung mit seinem Imperativ des Kreativitätsdispositivs an die Arbeit als inklusive und ultimative Leistung menschlichen Tuns stellt, gerecht werden. Nur so kann sie dem Widerspruch, Geltung über die Zweckhaftigkeit von Arbeit hinaus zu beanspruchen und darin doppelte Interessensbefriedigung zu leisten, gerecht werden. Denn solange die Grundlagen kreativer Arbeit Produkte instrumentellen Charakters sind, werden wir uns dieses Rests dichotomischer Definition nicht entledigen können. Dann aber inkludierte sie jene Teile der globalisierten Arbeitsgesellschaft, die wir in nationalen Bemühungen um soziale Strukturierung nicht berücksichtigen. Es wäre eine Voraussetzung dafür, dies zu ändern (*Kritik).

Literatur Arendt, Hannah (1967): Vita Activa, München: Piper. Aristoteles (1983): Nikomachische Ethik, Stuttgart: Reclam. Krempl, Sophie-Thérèse (2011): Paradoxien der Arbeit, Bielefeld: transcript Verlag. Luther, Martin (1996): Kritische Gesamtausgabe, Bd. 12, Weimar: H. Böhlau Nachfolger. Marx, Karl (1962): Das Kapital, Berlin: Dietz. Marx, Karl (2005): Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Hamburg: Meiner Verlag. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp. Weber, Max (2004): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, München: C.H. Beck Verlag. Workingman’s Death (2005) (DE/A, R: Michael Glawogger).

Ästhetischer Kapitalismus Elena Beregow

Dass Ökonomie und Kultur getrennte, ja gegensätzliche Bereiche der Gesellschaft bilden, ist eine bis heute wirkmächtige Auffassung. Gerade in der deutschen Tradition eines kantisch grundierten Kulturbegriffs ist Kultur mit ›hoher‹ Kultur, den schönen Künsten, dem Erhabenen und Zweckfreien assoziiert – mithin einer ›weichen‹ Sphäre, die das Privileg besitzt, von den ehernen Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie befreit zu sein. Ein solches Kulturverständnis dürfte in der heutigen Soziologie kaum mehr explizit vertreten werden. Doch die zahlreichen Diagnosen einer ›Ökonomisierung‹ des Sozialen, die eine Vermischung der Logiken von Ökonomie und Kultur konstatieren – und häufig auch beklagen –, setzen so ihre genuine Getrenntheit voraus. Der Ökonomie kommt in diesen Diagnosen eine hegemoniale Steuerungsfunktion zu, die zunehmend in vermeintlich nichtökonomische Bereiche wie Kultur, Ästhetik und Subjektivität einwandert. Mit dem »Ästhetischen Kapitalismus« schlägt Andreas Reckwitz in seiner Studie Die Erfindung der Kreativität (2012) einen Begriff vor, der eine Richtungsänderung weg von der vielbeschworenen Ökonomisierung der Kultur hin zu einer *Ästhetisierung des Ökonomischen einleitet. Dass Reckwitz sich aber nicht mit einer bloßen Umkehrung der Ökonomisierungsthese begnügt, wird schon an seinem Anspruch einer umfassenden Gesellschaftsdiagnose deutlich. Die Ökonomie ist neben der Kunst, den Medien und anderen Bereichen nur ein Bestandteil umfassenderer Prozesse gesellschaftlicher Ästhetisierung, deren Analyse in der These einer Ästhetisierungsgesellschaft mündet. Die leitende Annahme der Studie lautet, dass es in der Gegenwart zu einer Rekonfiguration und gesellschaftlichen Steigerung ästhetischer Prinzipien kommt. Reckwitz’ Pointe besteht darin, die kapitalistische Wirtschaft in diesem Prozess nicht nur als Objekt, sondern vielmehr als einen der Motoren der Ästhetisierung zu untersuchen; sie wird nicht nur ästhetisiert, sondern wirkt selbst hochgradig ästhetisierend. Seinen Strukturkern findet dieser Ästhetisierungsprozess im Kreativitätsdispositiv – einer ästhetisch-ökonomischen Hybridform, die den Dualismus von Ökonomie und Kunst unscharf werden lässt.

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Was aber bedeutet Ästhetisierung für Reckwitz? Ausgehend vom Begriff der Aisthesis, der jede sinnliche Wahrnehmung als ästhetische akzentuiert, nimmt Reckwitz eine Eingrenzung des Ästhetischen auf einen ganz bestimmten Modus sinnlicher Perzeption vor: »auf eigendynamische Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, die sich aus ihrer Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben.« (ebd., 23, Herv. i.O) Es ist also der selbstzweckhafte, selbstreferenzielle Charakter des Sinnlichen, der das Ästhetische auszeichnet. Wahrgenommen wird nicht aus einem bestimmten Zweck heraus, sondern »um der Wahrnehmung willen« (ebd.). In der Annahme dieses eigendynamischen Charakters des Ästhetischen folgt Reckwitz dem klassischen Kant’schen Ästhetikverständnis des ›interesselosen Wohlgefallens‹ und setzt das Ästhetische in einen scharfen Gegensatz zum Rationalen. Ästhetisierung als Prozesskategorie impliziert für Reckwitz folglich die gesellschaftliche Ausdehnung und das Komplexerwerden eines zweckfreien Ästhetischen (vgl. ebd., 21). Auch wenn er Kants Kopplung des Ästhetischen an das Wahre, Gute und Schöne nicht teilt, so wird die Lektüre von der Frage begleitet, wie sich ein solches Verständnis des Ästhetischen in einer kapitalistischen Moderne fortschreiben lässt – umso mehr, als Reckwitz diese Moderne zunächst einmal durch eine durchschlagende Entästhetisierung charakterisiert sieht. Reckwitz’ Lektüre der ›klassischen Gesellschaftstheorie‹ bei Marx, Weber und Durkheim ergibt zunächst ein erstaunlich geschlossenes Bild: Kapitalisierung, Versachlichung und funktionale Differenzierung bilden Triebkräfte einer Entästhetisierung, die zweckrationale gegenüber sinnlichen Prinzipien priorisieren und das Ästhetische systematisch ausschließen. Hier sieht Reckwitz den »modernen Dualismus von Ästhetischem und Rationalen« (ebd., 30) am Werk, der als begriffliche Unterscheidung aus der klassischen Ästhetik in die Soziologie einsickert und zugleich als »reale Bifurkation« (ebd., 30) eine praktische soziale Wirksamkeit entfaltet. Dagegen beansprucht Reckwitz, die Mischformen stark zu machen, die die Moderne nicht nur als Prozess der Entästhetisierung, sondern vielfältiger parallel verlaufender Ästhetisierungen erscheinen lassen. Dazu macht er fünf »Ästhetisierungsagenten« (ebd., 34) aus, zu denen mit dem »Expansionismus der Kunst« (ebd.; *Entkunstung) und der »Medienrevolutionen« (ebd., 35; *Pop) zwei ›klassisch‹ ästhetische Bereiche gehören; daneben nennt Reckwitz die »Subjektzentrierung« (ebd., 38; *Selbstgenerierung), die den Einzelnen ab dem späten 18. Jahrhundert als gleichermaßen reflexives wie empfindsames Selbst adressiert, sowie eine »Objektexpansion« (ebd., 37), in deren Zuge eine Vielfalt neuartiger Artefakte in Technik, Architektur und Design geschaffen wird (*Atmosphäre, *Farbe). Schließlich verwandelt sich aber auch die »Kapitalisierung« (ebd., 36) als ein zuvor als entästhetisierend markierter Bereich in der Moderne in einen Ästhetisierungsmotor (*Kapital). Die ästhetische Sprengkraft der kapitalistischen Ökonomie sieht Reckwitz vor allem in der sinnlich-affektiven

Ästhetischer Kapitalismus

Wirkweise der modernen Warenwelt begründet (*Produkt), wobei der Druck zur Ausweitung und Neuerschließung den Kapitalismus bereits seit den 1920er Jahren zum systematischen Einsatz »›immaterieller Arbeit‹ an Zeichen und Gefühlen« (ebd.) treibt. So entfaltet sich bereits im Fordismus ein schöpferischer – gleichwohl noch nicht ästhetischer – Innovationsdrang, während seine innere Organisationsstruktur eine Standardisierung und Wiederholung des Verhaltens verlangt (vgl. ebd., 135). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonfiguriert sich dieser hochgradig organisierte Kapitalismus zu einem zunehmend »desorganisierten« Kapitalismus – eine Diagnose, die Scott Lash und John Urry bereits früh in ihrem Buch Economies of Signs and Space (1994) formuliert haben. Lash und Urry zeigen, dass sich der Kapitalismus mit seiner Informations- und Wissensexpansion und raumzeitlichen Verdichtung zu einer globalen Zeichenökonomie entwickelt hat (Lash/Urry 1994, 10 f.). Doch weil die ›Postmoderne‹ die Verarbeitungsmodi des Rationalen und Kognitiven übersteigt, muss sie zunehmend auch eine ästhetische Reflexivität hervorbringen, die sie aus der Tradition der ästhetischen Moderne schöpft und mithilfe ›ästhetischer Expertenkulturen‹ aus Medien, Popkultur und Kunst auf das Alltagsleben ausdehnt (vgl. ebd., 54; *Valorisierung). Der Diagnose vom ›desorganisierten Kapitalismus‹ schließt sich Reckwitz an, deutet aber in seiner Variante des Ästhetischen Kapitalismus die Zeichenökonomie immer schon unter dem Gesichtspunkt ihrer inhärenten Ästhetisierungswirkungen. Als Strukturkern des gegenwärtigen Kapitalismus macht Reckwitz deshalb die ästhetische Ökonomie aus, die die Herausbildung des Kreativitätsdispositivs ermöglicht und vorantreibt (vgl. Reckwitz 2012, 140). Im Kreativitätsdispositiv verdichten sich die Ästhetisierungsmotoren der Moderne zu einem neuartigen Regime des ästhetisch Neuen, in dem zwei zuvor getrennte Teilprozesse konvergieren: Das Prinzip dynamischer Innovation, das bereits den organisierten Kapitalismus ausgezeichnet hatte, koppelt sich an die Subjektfigur des kreativen Produzenten nach dem Vorbild des schöpferischen Künstlers (vgl. ebd., 40). Das nunmehr ästhetisch gedachte Neue steht nicht unter dem Vorzeichen des Fortschritts, sondern wird begriffen als »perzeptiv-affektiv wahrgenommener und positiv empfundener Reiz« (ebd.). Während das Neue im rationalen Kapitalismus auf technische Innovationen reduziert und so auch entästhetisiert wurde, zielt die ästhetische Ökonomie in ihrer Produkt- und Organisationsentwicklung auf die »permanente Innovation« (ebd., 141) von »Zeichen, Sinneseindrücke[n] und Affekte[n]« (ebd., 140). Diese Ästhetisierung der Innovation durchdringt in der Folge alle Teilprozesse ästhetischer Arbeit (vgl. ebd., 142). Nicht nur die Produktion ästhetischer Güter und Dienstleistungen in den creative industries (*Creative Cities), auch die Arbeit selbst wird ästhetisiert, indem sie einem »postromantische[n] Arbeits- und Berufsmodell« (ebd.) persönlich ›erfüllender‹, d.h. kreativer Arbeit verpflichtet ist

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(*Arbeit). Und schließlich bedarf es eines ästhetisch empfänglichen Publikums aus Konsumenten, welche in ihrer Rezeption und im Gebrauch der affektiven Güter und Dienstleistungen selbst als »kreativ« ins Bild gesetzt werden (ebd., 143; *Konsum, *Bühne). Wie Reckwitz einräumt, bestimmen die genannten Merkmale ästhetischer Ökonomien keineswegs die gesamte Ökonomie in ihrer Breite und Heterogenität. Im Zuge einer »grundlegende(n) Ästhetisierung dieser Innovationsorientierung« (ebd.) wird die ästhetische Ökonomie aber zunehmend hegemonial, so Reckwitz’ These (vgl. ebd., 140). Wie ist diese Entwicklung zu erklären? Zur Beantwortung dieser Frage rekonstruiert Reckwitz ab der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert ganz disparate Ursprünge der ästhetischen Ökonomien. Zu den Schrittmachern der Revision eines ökonomischen Rationalismus zählen die bürgerliche Arts-and-Crafts-Bewegung und der spätbürgerliche Diskurs des »Unternehmers«; die frühen creative industries und die creative economy in Mode, Werbung und Design, die schon innerhalb der fordistischen Ökonomie ihren festen Platz hatten; und schließlich die frühe amerikanische Managementlehre der 1950er sowie der postmoderne Managementdiskurs der 1980er Jahre (ebd., 144; *Organisation). Mit diesem Materialspektrum der ästhetischen Avantgarden auf der einen und dem Managementdiskurs auf der anderen Seite ist die prominente ›Vereinnahmungsthese‹ verbunden, die Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem Buch Der Neue Geist des Kapitalismus (2003) formuliert haben. Sie argumentieren, dass das Erbe der Künstlerkritik der 1960er Jahre in die Motivationsstruktur einer »projektbasierten Polis« Einzug hält, die Aktivität – also das Generieren neuer Projekte und Kontakte – zum Maßstab der Wertigkeit erhebt (Boltanski/Chiapello 2003, 152). Indem der Künstler zur Vorbildfigur ökonomischen Handelns wird, stattet sich der Kapitalismus sowohl mit einer kulturellen Legitimations- als auch einer Motivationsgrundlage aus, die er aus sich selbst heraus nicht generieren kann. Anders als Boltanski und Chiapello geht Reckwitz aber keineswegs von einer Einsickerung des Kunstfeldes in die Ökonomie aus. Er lokalisiert die Herausbildung der ästhetischen Ökonomie vielmehr »im Umkreis und im Innern der fordistischen, formal-rationalen Ökonomie selbst« (Reckwitz 2012, 144, Herv. i.O). Zwar finden sich in der Artsand-Crafts-Bewegung und in den Kreativindustrien vielfältige Vernetzungen zum Kunstfeld, aber die radikalisierten ökonomischen Regime des Neuen, so Reckwitz’ Argument, sind im Kern gar nicht ästhetisch ausgerichtet (vgl. ebd., 190). Bei den frühen ästhetischen Ökonomien wie Werbung und Mode handelt es sich um Prototypen ästhetischer Apparate, d.h. »institutionelle(r) Komplexe der Produktion, Präsentation und Konsumtion« (ebd., 192), in denen ästhetische und zweckrationale Dimensionen – wie Lohn und Gewinn – sich von Anbeginn vermischen. Die spezifischen Techniken und Kompetenzen der ästhetischen Arbeit entgehen Boltanski und Chiapello in ihrer Engführung auf

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die motivationalen Aspekte der »Arbeit als Mittel der Selbstentfaltung« (ebd., 195), weshalb sie die Struktur der ästhetischen Ökonomie nur selektiv erfassen, so Reckwitz’ Kritik. Dabei übersehen sie auch den wichtigen Status des ästhetisch sensibilisierten Publikums, das auf die Güterproduktion wie die Arbeitskultur schon früh entscheidende Wirkungen hatte. An der wiederkehrenden Kritik der Selektivität zeigt sich Reckwitz’ eigene Ambition, mit dem Ästhetischen Kapitalismus einen programmatischen Begriff zur Analyse der gegenwärtigen Ökonomie vorzulegen. Mit der Verwendung des Kapitalismusbegriffs als Zeitdiagnose reiht er sich implizit in eine Tradition ein, die mit einer *Kritik der politischen Ökonomie verbunden ist. Dass es Reckwitz nicht um die Produktions- und Eigentumsverhältnisse und die damit verbundenen Antagonismen geht, wird früh deutlich – allerspätestens aber dann, wenn er als Dissonanzen einer Kreativökonomie »Aufmerksamkeitszerstreuungen« (ebd., 351) und »Ästhetisierungsüberdehnungen« (ebd., 353) benennt. Nicht nur marxistische, sondern auch neoklassische und kulturtheoretische Ansätze können sich häufig auf ein Minimalverständnis des Kapitalismus einigen, nach dem die selbstzweckhafte Vermehrung von Kapital den Kern der kapitalistischen Ökonomie bildet (so auch Boltanski/Chiapello 2003, 39). Doch ausgehend von einer solchen Bestimmung würde Reckwitz’ Definition des Ästhetischen als eigendynamisch-selbstzweckhafter Prozess einen Grundwiderspruch zwischen einem Selbstzweck des Kapitals und dem Selbstzweck des Sinnlichen eröffnen. Nicht zufällig finden sich im Buch nur vereinzelte und vage Hinweise auf ästhetische Arbeit in ihrer Eigenschaft als Lohnarbeit und den Profitdruck, dem auch ästhetische Ökonomien unterliegen (zu einer marxistischen Kritik an Reckwitz vgl. Loheit 2016). Eine Erweiterung des Kreativitätsdispositivs um die Frage nach den Ausbeutungsverhältnissen in einer vielfach prekären Kreativökonomie sowie nach seiner Wirkweise über urbane Mittelschichten hinaus wäre nicht nur empirisch erhellend, sondern auch hinsichtlich ihrer kulturellen Implikationen und theoretischen Konsequenzen (*Arbeit, *Queer). Doch mit dem Konzept des Kreativitätsdispositivs lässt sich nicht nur die Ökonomie analysieren; vielmehr verdichten sich unter seinem Vorzeichen heterogene Felder wie die Kunst, die Medien, der Stadtraum und das Selbst zu einer »Ästhetisierungsgesellschaft« (Reckwitz 2012, 313). Aufgrund dieser breiten Wirkweise entscheidet sich Reckwitz für den Foucault’schen Begriff des Dispositivs, um das »Netzwerk von gesellschaftlich verstreuten Praktiken, Diskursen, Artefaktsystemen und Subjektivierungsweisen« (ebd., 49) zu fassen. Eine machtanalytische Perspektive geht damit allerdings nur in abgeschwächter Form einher, wenngleich Reckwitz darauf hinweist, dass sich die »emanzipatorischen Hoffnungen«, die in der kreativen Arbeit liegen, in »neuartige Zwänge eines Aktivismus permanenter ästhetischer Innovation« verwandelt haben (ebd., 18). Gegen Foucault erhebt er den Vorwurf, die affek-

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tive und emotionale Dimension gesellschaftlicher Anrufungen zu übersehen (vgl. ebd., 50). Dieses Kriterium der »Affektivität« ästhetischer Wahrnehmung ist entscheidend, da Reckwitz es neben der selbstbezüglichen Sinnlichkeit als Kern ästhetischer Prozesse bestimmt (vgl. ebd., 23). Aus dieser Perspektive ist der ästhetische Kapitalismus ein affektiver Kapitalismus (vgl. ebd., 193), der auf den »Affektmangel der Moderne« (ebd., 313) mit einer qualitativen und quantitativen Steigerung der Affektivität reagiert (ebd., 196; *Affektkultur). Affekte definiert Reckwitz als »kulturell modellierte[n] leibliche[n] Erfahrungsintensitäten« (ebd., 24), wobei er den Begriff häufig synonym zu dem der Emotion verwendet. Dies überrascht, da Reckwitz mit seinen Bezügen zu Brian Massumi den Affektbegriff in der neueren affekttheoretischen Debatte im Anschluss an Spinoza und Deleuze verortet. Ihre Kerneinsicht lautet, dass der Affekt weder kulturell noch bewusst funktioniert und immer auch entsubjektivierende Effekte hat (vgl. Massumi 1995). Auch wenn Reckwitz das Ästhetische nicht nur als »innerpsychisches Phänomen« (Reckwitz 2012, 24) zu denken ankündigt, sondern insbesondere die Rolle von Objekten betont, so bleibt das affizierte, d.h. bei Reckwitz emotional involvierte (vgl. ebd., 23) Kreativsubjekt letztlich der Fixpunkt der Analysen. Ein von Reckwitz selbst nur am Rande zur Kenntnis genommenes Feld gegenwärtiger Ästhetisierungsprozesse, an dem sich auch die entsubjektivierende Rolle von Affekten untersuchen ließe, ist die ästhetische Ökonomie des Internets. Es bringt die klassischen Kreativökonomien nicht nur unter einen neuen Innovationsdruck, sondern restrukturiert die Bedingungen ästhetischer Wahrnehmung. Ein beträchtlicher Teil des Internets besteht aus Bildern, die ganz im Reckwitz’schen Sinn konsumiert werden: Sie entfalten einen eigendynamischen Reiz des ästhetisch Neuen. Das Klicken durch Bilderstrecken verfolgt in der Regel keinen Zweck als den sinnlichen Reiz des Augenblicks; es lässt sich leiten von einer »Affizierung um der Affizierung willen« (ebd., 24), die nicht zu einer Emotion wird, weil rasch das nächste Bild folgt. Algorithmen, Apps, und Empfehlungssysteme bringen eine Vielfalt solcher eigendynamischen Prozesse hervor: Das Neue, das im Netz fortwährend produziert wird, geht aus einer affekttheoretischen Perspektive auf eine Kreativität zurück, die der Emergenz von häufig zufälligen Ereignissen entspringt – und nicht einem kreativen Subjekt (*Computer, *Performativität).

Literatur Boltanski, Luc und Ève Chiapello (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Lash, Scott/Urry, John (1994): Economies of Signs and Space, London: Sage.

Ästhetischer Kapitalismus

Loheit, Jan (2016): »Die Erfindung des ›ästhetischen Kapitalismus‹: Andreas Reckwitz und die Schicksale von Ästhetik und Sozialkritik«, in: Das Argument 315, 58(1), S. 54-67. Massumi, Brian (1995): »The Autonomy of Affect«, in: Cultural Critique 31(2), S. 83-109. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Das Kreativitätsdispositiv, das Andreas Reckwitz in seiner Studie Die Erfindung der Kreativität beschreibt, ist aufs Engste mit einer Gesellschaftsformation verbunden, die er »den ›ästhetischen Kapitalismus‹ der Gegenwart« (2012, 11) nennt (*Ästhetischer Kapitalismus). Darunter ist, auf eine Kurzformel gebracht, eine durch Medien und Märkte, Unterhaltungs- und Erlebnisindustrie dominierte Konsumkultur zu verstehen. Die schicken Sneaker, die neue Serie auf Netflix, die jeder sehen will, der tolle Urlaub – lebensweltlich sind das für westliche Überflussgesellschaften ubiquitäre Phänomene, an denen jeder auf die eine oder andere Weise teilhat, so dass eine kritische Positionierung ihnen gegenüber schwerfällt. Eine gute Beschreibung für diese Ambivalenz gibt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in seinem Roman Kämpfen, dem letzten Teil seiner Min Kamp-Hexalogie. »Man findet seine eigene Identität, indem man massenproduzierte Waren kauft«, steht dort in der gängigen Sprache der Konsumkritik zu lesen, und ruppig fährt Knausgård fort: »Man sollte meinen, das ist ein Witz«. Aber »das Schlimmste« sei, dass es kaum eine Möglichkeit gebe, sich kritisch dazu zu verhalten. »Es geht einfach nicht«, meint Knausgård, und zwar deshalb, weil »die Kritik« selbst »inzwischen zu einem Klischee und damit belanglos geworden« sei, weil sie »einfach zu oft wiederholt wurde«, ohne dass sich daraus Konsequenzen ergeben hätten (*Kritik). »Diese kritischen Dinge« gehen einem zwar leicht über die Lippen. Was aber nichts daran ändert, dass man »gleichzeitig« munter auf »exakt [...] die Weise« weiterlebt, die kritisiert wird, nämlich umgeben von Konsumgütern, Popmusik, massenmedial vermittelten Erzeugnissen (Knausgård 2017, 233). Woran Knausgård sich reibt, das beschreibt Hartmut Böhme in seiner Studie Fetischismus und Kultur als die »typische Kompromiss-Struktur des Warenfetischs« (Böhme 2006, 334, Herv. i.O.). Man ist tendenziell genervt und überfordert von der Warenwelt, man weiß ›irgendwie‹ um deren ökologische oder soziale Begleitkosten (wer fertigt denn unter welchen Bedingungen die tollen Sneaker? Wer kann sie sich überhaupt leisten?), und doch ist die Faszination

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der Waren so groß, dass man sich von ihnen verzaubern lässt (*Produkt). Die Konsumlust der Menschen zu leugnen oder nur unter ideologischer Vormundschaft zu gestatten, ist dennoch der falsche Weg. Indem man den Fetischismus »zu zerschlagen glaubt«, drängt man ihn nämlich, so Böhmes These, nur umso wirkungsvoller »ins kollektive Unbewusste« (ebd.). Was also Not tut, ist ein genauer analytischer Blick auf die Sphäre des Konsums und der gesellschaftlichen Ästhetisierung. Reckwitz wählt hierfür zunächst eine historische Perspektive und hält fest, dass Kulturen der Sachlichkeit und der Rationalisierung, wie sie die Milieus der Arbeiter und der Angestellten geprägt haben, im Rahmen zunehmender Ästhetisierung verdrängt wurden. In beiden Milieus war das Ästhetische noch an nur wenige Praktiken gebunden, »welche die Produktion und Rezeption ästhetischer Ereignisse anleite[te]n« (Reckwitz 2012, 25), sprich: die schönen Künste und ihre Rezeption. An dieser Sphäre können oder wollen Arbeiter und Angestellte nur sehr bedingt teilnehmen. »Ästhetische Episoden«, das »momenthaft[e] und »unberechenbar[e]« Aufscheinen einer »ästhetische[n] Wahrnehmung« (ebd.), bleiben die Ausnahme. Was wir unter »Ästhetisierung« verstehen, meint nun aber gerade die gezielte Produktion, »Expansion und Intensivierung des Ästhetischen« (ebd., 22) im Rahmen einer Kultur, in der die Bürger als Konsumenten in Erscheinung treten, über mehr Freizeit und Kaufkraft verfügen als jemals zuvor und, stimuliert von einer neuen Riege von Fachleuten im Bereich des Designs, des Marketings und der Medien, der sogenannten creative class (*Creative Cities), ein reges Interesse an der Produktion von Überraschendem und Originellem entwickeln. Hannah Arendt hatte diesen Weg der Prosperität in westlichen Überflussgesellschaften als Perversion des Marx’schen Befreiungsversprechens gedeutet. »Die große Hoffnung«, schreibt sie in Vita Activa, »die Marx und die Besten der Arbeiterbewegung in allen Ländern beseelte: daß Freizeit schließlich den Menschen von der Notwendigkeit befreien und das Animal laborans produktiv machen würde« – und zwar im Sinne sozialen und politischen Engagements – erweise sich aufgrund der offensichtlichen Attraktivität des Konsums als trügerisch (Arendt 1960, 120 f., *Arbeit). Ein emphatischer Begriff von autonomer Ästhetik, wie er sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts bildete, verliere dabei zunehmend seine Geltung. Adorno beargwöhnte diese Entwicklung als generellen Takeover des Konsums auf die gesamte Kultur und beklagte deren zunehmenden »Reklamecharakter«. Was dabei sei die »Differenz« des Ästhetischen »vom praktischen Leben [...]. Der ästhetische Schein wird zum Glanz, den Reklame an die Waren zediert, die ihn absorbieren; jenes Moment der Selbständigkeit jedoch, das Philosophie eben unterm ästhetischen Schein begriff, wird verloren« (Adorno 1984, 299). Nun betont aber Reckwitz zurecht, dass das bürgerliche Kunstfeld selbst an der Produktion eines konsumistischen Regimes des »Neuen« mitsamt sei-

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nes »subjektivistische[n] Zuschreibungsschema[s]« beteiligt gewesen ist, und zwar in Gestalt der »Genieästhetik« (Reckwitz 2012, 61). Das subjektivistische Moment betrifft in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie den genialen Produzenten, der, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft schreibt, der »Kunst« autonom »die Regel gibt« (Kant 2009, § 46). Vielmehr ist der Geschmack, das rezeptive Gegenstück zum Genie, die entscheidende Kategorie. Geschmack bewirkt nämlich nicht nur die »Disziplin« oder »Zucht« des Genies, indem er dem oft allzu hoch fliegenden Talent »die Flügel [...] beschneidet« (ebd., § 50). Er verklammert zudem das im Grunde idiosynkratische innere Gefühl der Lust bei der Wahrnehmung eines ästhetisch ansprechenden Gegenstandes mit seiner Mitteilbarkeit: Geschmack ist laut Kant das, »was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittlung eines Begriffs allgemein mitteilbar macht« (ebd., § 40). Im Kern des Ästhetischen steht bei Kant also die Frage nach der Kommunizierbarkeit eines Gefühls und die Frage nach der Gemeinschaft. Auch die Romantik lässt sich als Vorgeschichte der umfassenden Ästhetisierung deuten, und auch hier findet sich ein für die ›subjektivistische Zuschreibung‹ zentrales Theorem. So liest der Soziologe Colin Campbell die Romantik in seiner Studie The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism (1987) komplementär zu Max Webers Entwurf einer versachlichenden Moderne. Die Romantik wirke vielmehr an der Konstruktion einer Imaginationsmaschinerie mit, die bis in die moderne Konsumwelt führe (*Imagineering). Entscheidend dabei ist für Campbell die Etablierung des ›Daydreaming‹, einer Imagination, die als zentrales Moment von Subjektivität zwar durch den kultivierten Umgang mit Kunstwerken und die ästhetische Erfahrung der Natur trainiert wird, grundsätzlich aber auf jedes andere Objekt ausgeweitet werden kann. Wer Coca-Cola trinkt, dem geht es um mehr als um den unmittelbar sinnlichen Genuss, der konsumiert vielmehr all jene Markenimages mit, die durch die Werbung, aber auch durch Filme, Popsongs, Romane etc. fortwährend produziert und emittiert werden. Der Selbstgenuss des Konsumenten an solcher Imagination erklärt aus Campbells Sicht, warum sich so viele Menschen in der Überflussgesellschaft mit Dingen abgeben, deren direkter Gebrauchswert zumindest zweifelhaft ist. Die klassische Konsumkritik sieht indes in der Ästhetisierung der Waren eher undifferenziert nichts als oberflächlichen Glanz (*Konsum). Deren Attraktivität erhebe keinen Anspruch darauf, allgemein geteilt zu werden, sie sinke auf die Stufe bloßer »Annehmlichkeit« zurück, die laut Kant im Gegensatz zum Ästhetischen »nur Privatgültigkeit« besitzt (ebd., § 9). Konzepte, die mit der Autonomieästhetik einhergehen, wie Komplexität und Intensität der Wahrnehmung und des Gefühls, die Widerständigkeit des Gegenstandes, die dem Rezipienten »viel zu denken« (ebd., § 49) aufgibt, ohne dass er damit jemals zu einem Ende kommen soll oder kann, werden, so wird vielfach vermeint, durch

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simple Eingängigkeit und Konsumierbarkeit verdrängt. Ästhetisierung würde, so verstanden, zwar für eine quantitative Ausdehnung des Ästhetischen stehen, gleichzeitig aber für dessen qualitative Verflachung. Entsprechend kategorisch erfolgt die Ablehnung. Kunst, oder wie Jacques Rancière wieder unumwunden schreibt: »das Schöne«, wird geradezu definiert als »dasjenige, das zugleich der begrifflichen Bestimmung wie der Verlockung der konsumierten Güter widersteht« (Rancière 2008, 15). Anders gepolt ist jenes ästhetische Kategoriensystem, das Richard Hamilton in einer Briefnotiz aus dem Jahr 1957 für die Ausrufung der Pop Art entwirft. *Pop sei »Popular (designed for a mass audience) / Transient (short-term solution) / Expendable (easily forgotten) / Low cost / Mass produced / Young (aimed at youth) / Witty, Sexy, Gimmicky, Glamorous, Big business« (Hamilton 1982, 28). Hier geht es programmatisch weder um Komplexität noch um Widerständigkeit. Und intensiv ist höchstens ein flüchtiger, rasch vergessener Moment. Doch impliziert diese Umdefinition des Ästhetischen in einer postfordistischen Welt konsumierbarer Güter wirklich seine Entwertung? Oder liegt hier vielleicht der Versuch vor, das Ästhetische vor dem Erstarren in Routinen zu bewahren? Und zwar sowohl im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Ausweitung des Analysefokus wie in einer Schärfung der Debatte über den Status des ästhetischen Urteils (*Entkunstung). Zunächst einmal ermöglicht die Beschäftigung mit dem expandierenden Feld ästhetisierter Gegenstände, ein riesiges Archiv von »repressed aesthetic data of our lives« wiederzuentdecken (Harris 2000, xi). Dass man sich diesem Archiv kulturwissenschaftlich annehmen kann, ist unbenommen, aber ist es statthaft hier von einem unterdrückten Bereich zu sprechen? Sicher nicht, was seine lebensweltliche Dominanz, die ubiquitäre Ästhetisierung in einer hyperkommodifizierten Welt anbelangt; sehr wohl jedoch in Bezug auf die ästhetische Theorie. Denn deren Mainstream wird nach wie vor von Positionen wie jener Rancières gebildet, welche Askese gegenüber den vielen Formen von Hybridisierungen zwischen Kunst und Konsum predigen und ihr Heil nach wie vor von Konzepten des Schönen und des Erhabenen erwarten. »If only we could forget for a while about the beautiful and the sublime«, stöhnt hingegen der Philosoph John L. Austin im Jahr 1957, »and get down instead to the dainty and the dumpy« (Austin 1957, 8) – also hinunter zum Niedlichen und zum Plumpen. Austins sprachphilosophisches Interesse an der ordinary language liegt darin begründet, dass sie all jene Unterscheidungen und Verbindungen speichert, die man allgemein für markierungswürdig hält. Dies lässt sich durch Überlegungen Gérard Genettes zur Praxis ästhetischen Urteilens zuspitzen. Die Äußerung »it’s beautiful« ist für Genette nämlich überraschenderweise nichts anderes als eine »undifferentiated appreciation«, die aufgrund ihrer Abgedroschenheit auf der Stufe eines bloß subjektiven Geschmacksurteils bleibt. Anders ungewöhnlichere und dadurch ebenso prägnantere wie an eine genauere

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Explikation appellierende Urteile wie etwa »it’s graceful« oder »it’s powerful«: »the appreciation is made more precise and, at the same time, motivated by way of a descriptive specification« (Genette 1999, 92). Die stärkste Aufforderung zur ästhetischen Debatte wird heutzutage, von jenen eher außergewöhnlichen, stärker deskriptiven und nach Rechtfertigung verlangenden ästhetischen Kategorien formuliert, wie sie in einer zeitgenössischen, sich mit ihren kapitalistischen Indienstnahmen auseinandersetzenden Ästhetik entstehen. Das popkulturelle »witty, sexy, glamorous« wird rasch von Susan Sontags Konzept des »Camp« flankiert, mit dem sie die Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Verfeinerung in der Massengesellschaft formuliert: »How to be a dandy in the age of mass culture« (Sontag 1966, 288). Dies sei, so Sontags These, nicht mehr durch eine strikte Abwendung von der Popkultur möglich. Vielmehr sollten die »pleasures [...] in the arts of the masses«, aber auch die »psychopathology of affluence« (ebd., 289) Eingang in eine solche Ästhetik finden. Das »ultimate Camp statement« ist deshalb die gemischte Empfindung: »It’s good, because it’s awful« (ebd., 292). Allmählich erreichen diese Ideen wieder die ästhetischen Debatten der Gegenwart. So schreibt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sianne Ngai angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeiten einer expandierenden Konsumgesellschaft, der Dominanz eines Dienstleistungs- und Kreativitätssektors bei gleichzeitig deregulierten und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen und einer massenmedialen Dauerversorgung mit Neuigkeiten von einem, »complicated new set of feelings«, das von Ambivalenz, vom ständigen Wechsel zwischen »pleasure[...]/displeasure[...]« gekennzeichnet ist (Ngai 2012, 41). Der Komplexität einer solchen gesellschaftlichen Situation ist nach Ngais Ansicht mit den klassischen ästhetischen Kategorien ›schön‹ oder ›erhaben‹ nicht mehr beizukommen. Beide implizieren nämlich eine »extra-aesthetic power (moral, religious, epistemological, political)« (ebd., 22), die, so der Verdacht, eher an wohlfeilen Denk- und Handlungsroutinen festhalten lässt, statt zur Erhellung des gesellschaftlichen Orts von Kunst beizutragen. Als »Our Aesthetic Categories« bevorzugt sie daher ungewöhnlichere, ambivalente Kategorien wie ›zany‹, ›cute‹ und ›interesting‹, Kategorien, die eng mit den Realitäten des Arbeitsmarkts und seinen Anforderungen an die persönliche Performance (zany), des Konsums und seinen vielen Niedlichkeiten (cute) und der medialen Distribution mit ihren Aufmerksamkeitsregimes (interesting) verbunden sind (*Ästhetischer Kapitalismus). Indem diese Kategorien ihre »own aesthetic weaknesses and limitations« ausstellen, fordern sie nicht nur weit nachdrücklicher eine ästhetische Debatte ein als ihre etablierten Vorgänger, sie bieten auch eine »more direct reflection« der »relation between art and society« (ebd.). Statt die inflationäre Ästhetisierung der Gesellschaft stereotyp zu beklagen, was auch eine Implikation der immer ein wenig klaustrophobisch oder ausweglos wir-

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kenden Rede von einem *Dispositiv sein kann, wäre auch in ästhetischer Hinsicht differenziert mit dieser Entwicklung zu arbeiten.

Literatur Adorno, Theodor W. (1984): »Das Schema der Massenkultur. Kulturindustrie (Fortsetzung)«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 299-355. Arendt, Hannah (1960): Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart: Kohlhammer. Austin, John L. (1957): »A Plea for Excuses: The Presidential Address«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series 57, S. 1-30. Böhme, Hartmut (2006): Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek: Rowohlt. Campbell, Colin (1987): The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, Oxford/Cambridge: Blackwell. Genette, Gérard (1999): The Aesthetic Relation, übers. v. G.M. Goshgarian, Ithaca: Cornell University Press. Hamilton, Richard (1982): »Letter to Peter und Alison Smithson«, 16.01.1957, in: ders., Collected Words 1953–1982, London: Thames & Hudson, S. 28. Harris, Daniel (2000): Cute, Quaint, Hungry and Romantic. The Aesthetics of Consumerism, Boston: Da Capo Press. Kant, Immanuel (2009): Kritik der Urteilskraft. Text und Kommentar, hg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. Knausgård, Karl Ove (2017): Kämpfen, übers. v. Paul Berf und Ulrich Sonnenberg, München: Luchterhand. Ngai, Sianne (2012): Our Aesthetic Categories. Zany, Cute, Interesting, Cambridge: Harvard University Press. Rancière, Jacques (2008): Ist Kunst widerständig?, Berlin: Merve Verlag. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Sontag, Susan (1966): »Notes on ›Camp‹«, in: dies., Against Interpretation and other Essays, New York: Farrar, Straus & Giroux, S. 275-292.

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Auf einem immer dichter besiedelten Planeten finden wir uns vermehrt in großen Gruppen, crowds und Massen wieder und werden von solcherart verdichteten Gefühlsräumen absorbiert und affektiert. Ob in vollgepackten U-Bahnen oder Zügen auf unserem Weg zur Arbeit, ob in von Menschen wimmelnden Flughäfen oder ebenso vollen Stränden an einem Sommertag – unser emotionales Befinden und unsere persönliche Befindlichkeit sind gekennzeichnet und gefärbt durch kollektive Intensitäten, die wir als Atmosphären bezeichnen. Atmosphären sind Affekte der Masse (*Affektkultur). Sie begleiten und ändern uns, während wir uns durch Alltagsräume bewegen, aus der Geborgenheit der Wohnzimmer zum Gewusel der Wochenmärkte oder zur Stille und Ruhe der Bibliotheken, vom Aufenthalt in der Bürolandschaft zur Erfahrung unwirklich anmutender Festivitäten während des Karnevals: Wir sind immer inmitten von Atmosphären. Es ist daher nicht überraschend, dass das Konzept der Atmosphäre in Reckwitz’ genealogischer Analyse des Kreativitätsimperativs einen bedeutenden konzeptionellen Angelpunkt bildet. Atmosphären greifen eine Vielzahl empirischer Prozesse der sozialen *Ästhetisierung auf und illustrieren diese: Von der Rolle der Artefakte in der Minimal Art bis hin zur Entwicklung von *Design als Generaldisziplin der Kreativwirtschaft (vgl. Reckwitz 2012a, 123-127 und 177-182). Beispielsweise unterstreicht Reckwitz die Rolle der Minimal Art als Vorläufer postmoderner Installationskunst. Insbesondere hebt er deren Idee hervor, Kunstobjekte – oftmals industrieller Machart – so zu platzieren, dass sich die Besucherinnen um das ausgestellte Objekt herum bewegen. Statt die Dekodierung einer vermeintlichen Bedeutung des Werkes anzustreben, werden die Betrachter hierdurch als selbstständige Rezipientinnen und Produzenten von Affekten aktiviert. Minimal Art trachtete also danach, einen Affekt-Effekt dadurch zu produzieren, dass sie die Kunstobjekte im Raum verteilte und somit ihre Betrachter atmosphärisch involvierte. Ein weiteres Beispiel illustriert, wie Design – zusammen mit *Mode und Werbung – den ästhetischen Wert von Waren betont und damit das Leben selbst

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als Kaufentscheid zwischen Design-Stilen oder hochgradig gestylten Markenwelten inszeniert (*Ästhetischer Kapitalismus, *Konsum). Design ist dann nicht länger auf einzelne Objekte reduziert, sondern betrifft ganze Lebensbereiche; Atmosphären können selbst zum Gegenstand von Design werden, dies nicht zuletzt im Kontext von Institutionen und Unternehmen. Die Marketingforschung hat sich nun seit beinahe 50 Jahren im Kontext von Geschäftsdesign mit Atmosphären als ›Marketing-Tool‹ befasst und manifestiert sich heute in den durchchoreografierten Designs von Luxusgeschäften wie Nespresso, Prada oder der Volkswagen-Fabrik in Dresden. Auch in der Gestaltung von Arbeitsräumen spiegelt sich die Bedeutung von Atmosphären unter anderem dadurch wider, dass Arbeitsplatz-Design und Star-Architektur zu Managementmitteln gemacht werden – eine Entwicklung, die von Unternehmen wie Google auf die Spitze getrieben wird. So bietet Google Zürich seinen Angestellten verschiedene atmosphärische Räume, von Arbeitsbereichen mit Schweiz-Bezug, etwa mit Iglu oder Ski-Lift-Thematik, über gemütliche Bibliotheken mit Plüschsofas, bis hin zu Feuerwehrstangen, über welche die Mitarbeitenden zur Kantine und in die Kaffeepause rutschen können. Wie dieses Beispiel illustriert, hat sich Design auf diesem Wege »in eine exemplarische Praxis zur intelligenten Gestaltung von affektiv befriedigenden Atmosphären verwandelt und verzahnt sich immer stärker mit der Sphäre des Managements« (Reckwitz 2012a, 182). Atmosphären bieten daher ein großes Potenzial, um Affekte zu analysieren (vgl. Reckwitz 2012b, 254), insbesondere dahingehend, wie sich ein kollektives Gefühl von Räumen entfaltet. Das Wort Atmosphäre, zusammengesetzt aus ›atmos‹ (Gas) und ›spharia‹ (Sphäre oder Rund), wurde im 17. Jahrhundert erfunden, um zunächst die Gashüllen von Planeten wie etwa der Erde zu beschreiben (vgl. Chandler 2011, 558). Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich dieses Konzept in eine figurativere Richtung und diente der Beschreibung von räumlichen Stimmungen. Daher beschreibt der deutsche Philosoph Gernot Böhme Atmosphären als »ergreifende Gefühlsmächte, räumliche Träger von Stimmungen« (Böhme 1995, 29). Sei es beim Betreten eines Fußballstadions oder beim Betrachten eines vorbeiziehenden Beerdigungszuges vom Bürgersteig aus: Es ist schwer, sich kollektiven Stimmungen wie Euphorie oder Trauer zu entziehen. Atmosphären – als ›sich zusammen in einer Sphäre befindend‹ – ermöglichen daher einen Zugang zur Art und Weise, wie sich heterogene Körper – Menschen, Artefakte, Gebäude, Landschaften – in gemeinsamen Stimmungen oder Affekten vereinen. Ein anderer deutscher Philosoph, Peter Sloterdijk, ist dem Konzept der Atmosphären in seiner großangelegten Sphären-Trilogie nachgegangen (vgl. Sloterdijk 2004). Dabei weist der Autor darauf hin, dass sein Werk auch mit Sein und Raum betitelt werden könne, da es darauf abziele, Raum als essenziell für das Verständnis unserer Existenz zu deuten, in Analogie zur Temporalität in Heideggers Sein und Zeit. In dem er das ›Dort‹ und das ›Zusammensein‹

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von Dasein verbindet, versteht Sloterdijk Atmosphären in Form von Blasen, Globen und Schäumen, die, weiterhin wenig greif barbar, dennoch auf die materiellen Qualitäten von Räumen verweisen. Im dritten Teil des Werkes, dem Konzept von Schaum gewidmet, vergleicht Sloterdijk die Beziehungen in gegenwärtigen Städten mit zu Schaum verdichteten Blasen. Stadtbewohnerinnen werden als ko-isoliert betrachtet: Während Städter die Wohnungswände mit den Blasen der Nachbarschaft teilen, sind sie in den Mitteln der gegenseitigen Kommunikation limitiert. In diesen Schaum-Städten scheint es, als lebten wir mit zugezogenen Vorhängen, während wir uns dennoch einander dauernd hören. Durch das Leben in Blasen oder introvertierten, zurückgezogenen und selbstbezogenen Mikro-Sphären, sind wir quasi-verbunden in einem Berg aus Schaum, niemals in der Lage, gegenseitig zueinander in Bezug zu treten und dennoch niemals gänzlich voneinander isoliert. In einem solchen klimatologischen Verständnis ermöglicht das Konzept der Atmosphäre, das Klima unseres Zusammenlebens nicht nur technisch zu analysieren, sondern ebenso im Hinblick auf die »Temperierung des In-der-Welt-Seins überhaupt, die Stimmung des Daseins zwischen den Polen von Erschwerung und Erleichterung« (Sloterdijk 2004, 723 f.). Die philosophischen Ideen von Böhme und Sloterdijk haben Reflexionen provoziert, insbesondere über die Rolle der Architektur für die Gestaltung von ›architektonischen Atmosphären‹. Eingebunden in soziophysische Gebilde von Schäumen, hat Architektur die Möglichkeit, das Klima zu kontrollieren und zu verändern. Dies versteht sich nicht nur als Möglichkeit, die Qualität und Quantität der Atemluft oder der flüchtigen Eigenschaften von Licht und Düften zu kontrollieren, sondern betrifft insbesondere die Gestaltung des affektiven Potenzials jedweden Raums in seiner umfassenden Materialität (*Farbe). Der Schweizer Architekt Peter Zumthor beispielsweise betrachtet die Aufgabe der Architektur nicht allein in der Schaffung funktionaler Räume, sondern vielmehr in der Gestaltung von Atmosphären und der Herstellung von Resonanzen durch die Poetik eines architektonischen Entwurfs. Zumthor, der die Musik als maßgeblich für die Schaffung von Atmosphären betrachtet, versteht daher architektonisches Design als ›Komposition‹ von Räumen. »Hören Sie! Jeder Raum funktioniert wie ein großes Instrument, er sammelt die Klänge, verstärkt sie, leitet sie weiter. Das hat zu tun mit seiner Form und seiner Oberfläche und der Art und Weise, wie die Materialien befestigt sind« (Zumthor 2006, 29). Die Bandbreite der Variationen von Zumthors architektonischen Kompositionen kann wahrscheinlich am besten in der Badetherme des Schweizer Bergdorfes Vals erlebt werden – schwimmend in einer Komposition aus Stein, Wasser und Licht. Zumthors Therme gilt dabei nicht nur als herausragendes Werk seines Œuvres, sondern ebenso als Maßstab für die architektonische Gestaltung von Atmosphären.

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Atmosphären sind jedoch ebenso in ›weniger sinnlichen‹ Räumen vorhanden, etwa in Klassenzimmern oder Seminarräumen, in denen sowohl Studierende als auch Lehrende beim Betreten in spezifische Stimmungen des Lernens hereingezogen werden und diese gleichzeitig selbst mitproduzieren; oder etwa in Fußballstadien, in denen Atmosphären nicht nur durch das Aufeinandertreffen zweier Mannschaften entstehen, sondern auch von den mitunter historischen Rivalitäten getragen werden, den Fans und ihren Fahnen, den Anstoßzeiten und dem Wetter des jeweiligen Tages und vielen weiteren Dingen, die in Stadien während eines Spiels zusammenkommen. In diesen Beispielen können Gebäude und ihre Nutzung als wohldurchdachte Instrumente der Regulierung oder sogar des Managements von Atmosphären genutzt werden. Die Anlage von Tisch- und Stuhlreihen eines Seminarraums, oder das Tribünendesign eines Stadions stellen nur einige der Spielarten dar, wie Architektur ästhetische Manipulation ermöglicht und wie die Ausgestaltung eines Raumes spezifische affektive Empfindungen fördert. Aus diesem Grund sieht Reckwitz Architektur als einen privilegierten Zugang zur Herstellung von Atmosphären und betont, dass »affektive Beziehung zwischen Subjekten oder zwischen Subjekten und einzelnen Objekten nie von ihren weiteren räumlichen Anordnungen losgelöst, sondern immer in diese eingebettet sind, seien es Straßenkämpfe, romantische Liebe oder die Betrachtung eines Gemäldes im Museum« (Reckwitz 2012b, 254 f., Übers. C.S./C.M.). Architektonische Räume und die Artefakte, die sie umschließen, sind jedoch nicht die alleinigen Produzenten von Affekten, sondern werden erst durch die Körper ihrer Bewohnerinnen sowie deren Fähigkeiten zur Wahrnehmung und Anteilnahme atmosphärisch zum Leben erweckt. Aus diesem Grund verfolgt die Analyse von Atmosphären die materiell-affektiven Praktiken und sucht zu verstehen, wie der Wandel affektiver Strukturen durch das Aufkommen neuer Artefakt-Raum-Komplexe und den damit einhergehenden Wandel des affektiven Habitus’ ihrer Bewohner realisiert wird (vgl. Reckwitz 2012b; Reckwitz 2017). An dieser Stelle verweist Reckwitz auf die bedeutende Rolle von Atmosphären-Managern, die sowohl von Künstlerinnen wie auch Kuratoren ausgefüllt werden können, zwei Berufe, die sich gemäß Reckwitz zunehmend einander ähneln (vgl. Reckwitz 2012a, 116 f.; *Künstler, *Kuratieren). So sammeln und präsentieren Künstler-Kuratorinnen Objekte, Texte und Körper in Raumfolgen, um Affekte zu modulieren und die Körper der Betrachterinnen dadurch zu affektieren, dass sie sich durch diese hindurch bewegen und das Event somit selbst mit produzieren. Die Schaffung von Atmosphären ist jedoch in keinem Fall auf kulturelle Räume, Kunstfestivals oder temporäre Ausstellungen beschränkt, sondern sie ist Teil dessen, wie gesamte Stadträume durch sogenannte Designscapes verändert werden. Im Kontext von Stadtraumpolitik und Stadtplanung etwa haben sich Städte Ästhetisierungverfahren bedient, die ganze Nachbarschaften an-

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hand kulturell orientierter Skripte neu entwerfen (*Creative Cities). Designscapes formen urbane Räume durch Designmanagement, das sich an semiotisch und atmosphärisch kohärenten Erfahrungen orientiert. Ein Beispiel etwa sind Städte wie Barcelona, die ihren Zugang zum Meer als Open-Air-Plattform für Konsum, Unterhaltung und Kultur neu gestaltet haben: An nur einem Tag kann man etwa ein paar Stunden am Strand mit einem schönen Mittagessen sowie Shoppen am Nachmittag kombinieren, um dann am Abend mit der Party-Crowd die Happy Hour zu genießen. Die Gewinner derartiger Szenerien sind kosmopolitische Touristen und wohlhabende Eliten – wie allgemein bekannt, hat diese Entwicklung dazu beigetragen, dass die Anwohner Barcelonas gegen die Touristenströme protestieren und sich eine regelrechte TouristenPhobie entwickelt hat. Ihre Slogans und Graffitis (vgl. López Díaz 2017) – ›Touristen, ihr seid die wahren Terroristen‹ oder ›Alle Touristen sind Bastarde‹ – sind geprägt von starken Emotionen, die nicht nur Frustration oder Irritation umfassen, sondern auch Wut und Hass. Diese affektiven Spannungen vermengen sich mit dem katalanischen Streben nach Unabhängigkeit und lassen die Stadt zu einer Brutstätte von feindseligen und gleichzeitig leidenschaftlichen Affekten werden. Die Idee von Barcelona als Kultur- und Designhauptstadt hat sich somit in eine weit heterogenere affektive Landschaft verwandelt (*Queer). Die Untersuchung, die Analyse und das Schreiben über Atmosphären beinhaltet mehr als ihre Repräsentation über eine Art Außensicht. Man muss sich ihnen von innen her nähern, mit ihren inhärenten Spannungen leben, ihren materiellen Komponenten nachspüren und gleichzeitig aufmerksam bleiben gegenüber den sich ständig ändernden und folgenschweren Intensitäten mit all den fragilen Überschüssen, die diese erzeugen. Mit Hilfe von nicht(oder mehr-als-)repräsentierenden Methoden können Forscherinnen sich auf die Lauer legen, um der Entstehung von Atmosphären auf die Schliche zu kommen, da »sich aus einem Ereignis und einem Gefühl im Nu etwas zusammenbrauen kann, etwas das voll Leben und gleichzeitig bewohnbar ist«, wie Kathleen Stewart (2007, 1, übers. v. C.S./C.M.) feinsinnig darlegt. Das Schreiben über Atmosphären selbst wird somit sensitiv und evokativ und spielt auf die aufdringlichen, dennoch schwierig festzuhaltenden affektiven Situationen des alltäglichen gemeinsamen Erlebens an, jenes Erschauern, das, wenn auch nur für einen Moment, von den Anwesenden gespürt werden kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Leben sich in Resonanz mit den affektiven Atmosphären entfaltet, die wir bewohnen, die wir passieren oder die wir gezielt aufsuchen. Atmosphären bedienen das gemeinsame Erleben des Affektiert-Werdens, das sich nicht auf die individuellen Körper reduzieren lässt, in denen sie nachhallen. Dies können kleinere Nachwirkungen von Atmosphären sein, die wir oftmals selbst gar nicht bemerken, oder aber wir können an größeren kollektiven Erfahrungen teilhaben, bei denen die Spannung einer Revolution in der Luft liegt, getränkt mit Krisen, Gefah-

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ren oder Hoffnungen. Ob wir den Fall der Berliner Mauer oder seine Gedenkfeier miterleben, ob wir an Protestmärschen für Frauenrechte teilnehmen oder ein Musikfestival im Sommer genießen, Atmosphären reflektieren oder ändern spezifische politische und soziale Ordnungen. Sie berühren uns, da sie in Einklang stehen mit größeren Momenten der Bedrohung, Melancholie oder Euphorie, der Langeweile, Despression oder Ektase, aber auch mit einer fast endlosen Liste von Qualitäten, die unseren Erfahrungsschatz bereichern: unheimliche Momente, die unser Leben zerbrechlich, und dennoch überraschend lebendig werden lassen. Sie sind dann das, was wir fühlen, wenn sich unsere Augen mit Tränen füllen, unsere Arme mit Gänsehaut bedeckt sind und unsere Stimmen für einen kurzen Moment brechen.

Literatur Böhme, Gernot (1995): »Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik«, in: ders. (Hg.), Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 21-48. Chandler, Timothy (2011): »Reading Atmospheres: The Ecocritical Potential of Gernot Böhme’s Aesthetic Theory of Nature«, in: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 18(3), S. 553-568. López Díaz, Almudena (2017): »Why Barcelona Locals Really Hate Tourists«, in: The Independent, 09.08.17. Online verfügbar unter: https://www.inde​ pendent.co.uk/travel/news-and-advice/barcelona-locals-hate-tourists-whyreasons-spain-protests-arran-airbnb-locals-attacks-graffiti-a7883021.html (abgerufen am 08.08.18). Reckwitz, Andreas (2012a): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2012b): »Affective Spaces: A Praxeological Outlook«, in: Rethinking History 16(2), S. 241-258. Reckwitz, Andreas (2017): »Practices and their Affects«, in: Allison Hui, Theodore Schatzki/Elizabeth Shove (Hg.), The Nexus of Practices. Connections, Constellations, Practitioners, London: Routledge, S. 114-125. Sloterdijk, Peter (2004): Sphären 3: Schäume, 3. Bd., Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Stewart, Kathleen (2007): Ordinary Affects, Durham, NY: Duke University Press. Zumthor, Peter (2006): Atmosphären, Basel: Birkhäuser.

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Zentraler Bestandteil des neuen Apple-Komplexes ist das Steve Jobs Theatre, jenes Gebäude, in welchem die neusten Produkte des Konzerns präsentiert werden (*Produkt). In einem unterirdischen Raum können sich fast 1000 Zuschauer einfinden, deren Blick auf eine Bühne gelenkt wird. Dort werden dann die Vorstellungen der neuesten Errungenschaften ästhetischer Innovation nach fast sakraler Logik inszeniert. Es ist nicht verwunderlich, dass die Schaffung eines eigenen Bühnenraumes für jenen Konzern, dessen Wirkmächtigkeit durch Produktgestaltung, *Innovation und Marketingaktivität vielleicht exemplarisch für den von Andreas Reckwitz diagnostizierten Imperativ des Kreativen, zumindest jedoch für das Auftreten und den anhaltenden Erfolg einer Designökonomie steht, eine zentrale Rolle einnimmt. Gleichzeitig sind die Parallelitäten zwischen Produktpräsentation und der Logik und Rhetorik der darstellenden Künste, des Theaters, augenfällig: Für die Inszenierung des (vermeintlich) beständigen kreativen Outputs (*Affektkultur, *Atmosphäre) und das Zelebrieren des Sieges des Neuen über das Alte durch und mit den anwesenden Betrachtern bedarf es der Bühne. Hier jedoch mit garantiertem Schlussapplaus. Zu Beginn seines Buches zum Imperativ des Kreativen verweist Andreas Reckwitz mit Michel Foucault auf den Umfang und die Analysebedingungen eines Dispositivs des immer Neuen, der sinnlichen und ästhetischer Gestaltung: Der Fokus der Untersuchung liegt dann nämlich darauf, »das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihren Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne« zu identifizieren. (Foucault, zit. n. Reckwitz 2012, 25). Die Bedeutung der Bühne als Raum, auf dem sich die Wirkmächtigkeit und strategische Bedeutung des Dispositivs nachweisen und aufzeigen lässt, da dessen Kräfte sie betreten müssen, um zu wirken, steht also am Beginn seiner Untersuchung. Die Bühne(n) selbst, auf welcher der Kreativitätskomplex sich entfaltet, sich zu entfalten sucht oder dessen Entfaltung organisiert wird, spielt jedoch in den Texten von Andreas Reckwitz eine – vielleicht zu Recht – eher untergeordnete Rolle. Diese Unterordnung der Frage nach dem Raum, nach dem »Wo« liegt

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ontologisch und epistemologisch in der Verortung im Foucault’schen *Dispositiv begründet, welcher eine Vielzahl von Bühnen voraussetzt. Im Sinne einer »heterogenen Gesamtheit« (Agamben 2008, 9) sucht und findet der Komplex seine Wirkmächtigkeit auf und durch eine Vielzahl von materiellen und immateriellen Orten oder Bühnen: Somit wird der Kreativitätskomplex durch eine Vielzahl von Orten, Anordnungen, Diskursen, Praktiken und Denkweisen wirksam. Der Sprung auf die offene Bühne aus der Unsichtbarkeit der Kulisse heraus – um noch einmal den eingangs zitierten Bezug zu Foucault aufzugreifen – bestimmt die Bühne so auf zweierlei Art: zum einen als Metapher, welche durchaus durch und in einer Räumlichkeit situiert werden kann, zum anderen aber in ebenjenen Räumen selbst, auf die dann konkrete Politiken ebenjenes Imperativs ein- oder entgegenwirken können. Da sich der Bühnenbegriff aber vor allem und zuerst in seiner metaphorischen Qualität ebenso auflöst wie zeigt, spielen die eigentlichen, konkret bestimmbaren Räume, innert derer der Imperativ des Kreativen wirkt, welche er besetzt und schafft, ob der Anlehnung an das Foucault’sche Dispositiv eine nebensächlichere Rolle (im Vergleich etwa zu ihrer Historizität oder ihrer heterogenen Wirkmächtigkeit). Dies gilt in besonderem Maß für jenen Raum, der die Bühne geschaffen hat und den sie ihr ureigentliches Zuhause nennen kann: das Theater. Obwohl das Theater als Form, Ort und Institution der Kunstausübung und Darstellung auf eine jahrtausendealte Geschichte, Tradition und Brüche mit selbiger zurückblickt, nimmt es in Die Erfindung der Kreativität eine untergeordnete Rolle ein und tritt bei Reckwitz entweder als Bemächtigung von (Theater-)Bühnen durch Performance-Kunst, etwa von Marina Abramović, oder der Einordnung in eine Aufzählung von Beispielen der Wirkmächtigkeit des Kreativitätsdispositivs (z.B. bildende Kunst, Musik, Museen, Konzerte und Theater) auf (*Museum, *Performativität). Dies ist umso erstaunlicher, als das Theater als Ort der Vermessung und Neuausrichtung zentraler Begriffe eines Imperativs des Kreativen eine vorrangige Stelle einzunehmen vermag: So lassen sich die diagnostizierte Neuausrichtung und Umgestaltung des Verhältnisses von Publikum und Künstler (und Kunstwerk) ebenso in der Landschaft des Theaters finden wie etwa die Schaffung von rein ästhetischen, sinnlich affektiven Erlebnissen (*Atmosphäre). Aus diesem Grund scheint eine Diskussion von Räumen theatraler Arbeit auch deshalb umso wichtiger, als dass sie eine Untersuchung des sich wandelnden Verhältnisses von Publikum und Kunstwerk voraussetzen muss und dies eben vor allem über die sich wandelnde Ausgestaltung, Nutzung und Neukonzeption von Bühnenräumen geschieht. Zur Diskussion steht somit die Frage nach den metaphorischen Bühnenräumen oder der potenziellen Transformation jedweden Raumes zur Präsentationsfläche kreativer Praktiken: So scheint es nicht verwunderlich, dass die Raumfrage – also die Frage nach dem Ort der Entfaltung des Kreativitätskomplexes – trotz der Abwesenheit eines

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Bühnenbegriffes eine vorrangige Rolle in der Erfindung der Kreativität spielt. So bespricht Reckwitz ausführlich Stadträume als Räume der Ausübung und Nutzbarmachung kreativer Praktiken und Diskurse (*Queer). Die Frage nach der Bühne als einer Ausübungs- und Ermächtigungsplattform kreativer Praktiken und Diskurse wird also in genau diesem Kontext dennoch behandelt. Explizit verweist Reckwitz zu Beginn des Kapitels zu *Creative Cities auf Stadträume als »Bühne«, die als »spezieller Raum«, der »charakteristisch für das Künstlermilieu« ist, von diesem genutzt wird (Reckwitz 2012, 269). Die Kulturalisierung der Stadt geht historisch mit einer Nutzung urbaner Räume als Bühne jedoch nicht nur durch das vielbesprochene und eher vage Künstlermilieu einher, sondern konkret auch mit ihrer Nutzbarmachung und Aneignung durch die beständige und vermeintlich einfach verortbare Institution des Theaters selbst: »In den 1960er Jahren setzte überall in der westlichen Welt ein Auszug aus den bestehenden repräsentativen Theatergebäuden ein, der bis heute anhält. Das Theater begann sich Räume anzueignen, die nicht für Aufführungen konzipiert und geschaffen waren, wie leerstehende Fabriken, stillgelegte Zechen, ehemalige Straßenbahndepots, Schlachthöfe, Kaufhäuser, Tiefgaragen, Straßen, Plätze und Parks oder auch Ateliers, Wohnungen, Garagen und Kellerräume u.a.« (Fischer-Lichte 2010, 133)

Obwohl dieser Zugriff auf die Stadt als Bühnenraum keineswegs eine Neuerung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, sondern auf Methoden und Politiken des 19. Jahrhunderts zurückgriff, deckt sich diese Analyse vor allem in Bezug auf ihre historische Verortung sowie die Eroberung neuer Räume und damit verbundener neuer Praktiken mit der Reckwitz’schen Analyse des Aufkommens eines Kreativitätsdispositivs. Die Aneignung von Stadträumen als Bühnenräume bewirkt jedoch nicht nur einen räumlichen Ausbruch aus der vermeintlichen Enge feststehender Theatergebäude, sondern auch eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Kunstproduzent/innen und -konsument/-innen, zwischen Schauspielern/-innen, Bühnenbildern/-innen und Regisseuren/innen auf der einen, und Zuschauern/-innen auf der anderen Seite. Sie zielt somit auch auf die »Ermöglichungen neuer Gemeinschaften zwischen Akteuren und Zuschauern« ab (Fischer-Lichte, 2010, 133). Die Transformation des urbanen Raums als Bühnenraum für eine Vielzahl kreativer Praktiken und Ordnungen bedingt also wechselseitig eine Erweiterung und Veränderung jener Institutionen, die für lange Zeit beinahe exklusiv den Raum für jene Ordnungen und Praktiken boten. Als exemplarisch für diese wechselseitig bedingten Verschiebungen mögen in jüngerer Zeit etwa Arbeiten der Theaterleute und -gruppen Christoph Schlingensief, She She Pop, Milo Rau oder Rimini Protokoll gelten (vgl. auch Reckwitz 2012, 115).

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In Rimini Protokolls Projekt »Remote X« etwa »bricht eine Gruppe von 50 Menschen, ausgestattet mit Kopfhörern, in die Stadt auf. Geleitet werden sie von einer künstlichen Stimme, wie man sie von Navigationssystemen kennt. […] 50 Menschen beobachten sich gegenseitig, treffen individuelle Entscheidungen und sind doch immer Teil einer Gruppe. [...] Das Projekt bewegt sich als mobiles Forschungslabor von Stadt zu Stadt. Dabei baut jede neue ortsspezifische Version auf der Dramaturgie der Vor-Stadt auf und schreibt das Stück so immer weiter.« (Rimini Protokoll 2018) Der eigentliche Bühnenraum also, das Theater, wird gar nicht mehr betreten. An seine Stelle sind hier im Prinzip beliebige Treffpunkte in beliebigen Städten gerückt worden, die die Betrachter/-innen und Zuschauer/-innen nicht mehr den Schaupieler/-innen, sondern ihresgleichen gegenüber- und nebeneinanderstellen. An einer Stelle des Stücks werden die 50 Teilnehmer/-innen aufgefordert, sich gemeinsam als Gruppe an einem belebten urbanen Raum zu positionieren, einer U-Bahn Station, einem viel frequentierten Platz oder einem Bahnhof etwa. Sie sollen gemeinsam die Szenen betrachten, die sich auf der Bühne vor ihnen abspielen. Die Stimme der künstlichen Intelligenz fordert sie auf, das Auf- und Abtreten und die Darstellung der Schauspieler vor ihnen, der Passanten und Reisenden, zu beobachten. Gleichzeitig verändert das Auftreten der 50 Teilnehmenden den Raum, den sie beobachten und so wird die Gruppe selbst wiederum Teil einer Performance im öffentlichen Raum, welche von Passanten betrachtet, fotografiert oder auch einfach nur bemerkt und ignoriert wird. Was Bühne und Zuschauerraum ist, wer Akteur/-in und Betrachter/-in ist, oszilliert. Der Stadtraum als Bühne funktioniert von Berlin über Denver bis Jerusalem. Und am Ende applaudieren sich die mehr und weniger Beteiligten gegenseitig. Die Bühnen, auf welchen sich der Kreativitätskomplex beobachten lässt, sind also im Sinne des Dispositivs vielfältiger und vielgestaltiger Natur. Dies muss der Fall sein, wenn als Dispositiv all das bezeichnet werden kann, »was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu kontrollieren und zu sichern« (Agamben 2008, 27). Wenn nun Foucault die Hauptaufgabe eines Dispositivs darin verortet, als Antwort auf einen Notstand zu gelten, verweist dies auf jene Eigenschaft, welche Agamben in seiner Lesart des Begriffes in dessen Wirkmächtigkeit als Strategie deutet. Im Falle des Kreativitätskomplexes kann also der Notstand etwa mit Boltanski und Chiapello (2012) als eine immanente Krise des Kapitalismus betrachtet werden, deren vermeintliche Auflösung und Überwindung durch den strategischen, heterogenen Einsatz der Kreativität und des Kreativen geschieht (*Ästhetischer Kapitalismus). Also durch die Mittel und Ästhetik ebenjener künstlerischen Kritik, die den Notstand offenlegen und begründen.

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Wenn nun das Theater als ureigentlicher Ort, dem die Logik und materielle Verfassung der Bühne inhärent ist und aus dem sie stammt (und das, was diese Ordnung trägt und bedingt: der Zuschauerraum, das Haus, in dem gespielt wird, die Verortung in einem Stadtraum, die Aufteilung des Raumes, in dem gesprochen wird, die Anordnung und Aufteilung zwischen Zuschauer/-innen und Besucher/-innen), als Repräsentant und Vorreiter dieser historischen Entwicklung der Ausbreitung kreativer Praktiken bestimmt werden kann, so kann es zur Offenlegung der Wirkmächtigkeit und Hinterfragung des Kreativitätskomplexes beitragen. Denn, um es mit dem Berliner Theatermacher René Pollesch zu sagen: »Zu irgendwas muss der Kasten doch gut sein« (Pollesch 2012, 8). Eine Möglichkeit (im Kontext der Diskussion um die Bedeutung kreativer Praktiken) ist hierbei ein Verständnis des Theaters als potenzielle Heterotopie, da es »gerade nicht allein einen sozialen, öffentlichen Raum darstellt, sondern als Heterotopie in einem Außen liegt, das andere Bedingungen und Regeln ermöglicht« (Wihstuzt 2010, 72). Also als Möglichkeit, die Bühnenerfahrung und Performances als (temporär) realisierten anderen Raum und Raum der Anderen zur Hinterfragung gesellschaftlicher Praktiken zu nutzen und gleichzeitig andere Handlungs-, Denk- und Deutungsmöglichkeiten aufzuzeigen oder zu praktizieren (*Imagineering). Dies ist umso bedeutender, da von der Theaterbühne die Möglichkeit, Antworten auf ebenjene Fragen zu liefern, die Gegenwartsgesellschaft beschäftigen und formen, geradezu erwartet wird: »Die ganz großen Themen im Theater wie ›Gier‹ bekommen es jetzt mit der Universalisierung der ›Kreativität‹ zu tun. Flexibilität, Mobilität und Kreativität haben zwar noch nicht die Wucht von Begriffen wie Gier, Rache, Liebe, da sie nur in der kurzen Epoche des interaktiven Theaters, als Forderungen nach einer Reform des Kapitalismus, laut und offen ausgesprochen wurden« schreibt etwa wiederum René Pollesch (2012, 8). Das Problem ist tatsächlich nicht, dass das Publikum aufgefordert wäre, gierig zu sein, sondern – ebenso wie all die Theaterleute und die Institution Theater selbst – der Aufforderung zu beständigem kreativen Output ausgesetzt ist. Die Bühne, die nun dieser »Theaterkasten« noch besitzt, kann also bestenfalls diesen Imperativ zur Schau, besser noch: zur Disposition und Diskussion stellen. Vielleicht kann es das besonders gut, weil der Dispositivlogik weder Publikum noch Akteur/innen entkommen können: »Den fetten Überlebenden von Nirvana, den will doch keiner mehr sehen. Das reicht doch nicht. Da fehlt doch was.«, heißt es dann auch bei René Pollesch in seinem Stück Kill your Darlings (2012). Er verweist damit genau auf jene beständige Präferenz der Dominanz des Neuen über das Alte, welcher alle Beteiligten des Abends ausgesetzt sind und beständig mitgestalten. Am Ende des Stückes geschieht indes Folgendes: Der Schauspieler Fabian Hinrichs steht zum Schlussapplaus bereit, nachdem schon zwei Mal das vermeint-

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liche Ende abgebrochen wurde, da an den jeweiligen Stellen zu viel Schönheit produziert worden sei, die weder Zuschauer/-innen noch Schauspieler/-innen ertragen könnten. Diese seien nicht die Enden gewesen. Was war denn das Ende? »Dieser Abend war nicht für euch«, wendet sich der Schauspieler an das Publikum. »Wir haben das für uns gemacht.« Und dann, der Imperativ, zwei-, dreimal noch herausgeschrien, direkt an das Publikum gerichtet: »Macht es für euch.« Das Theater als Heterotopie ist dann der Raum, in dem, wenn schon draußen alles »Mehrwert« schreit und schafft – und dieser Mehrwert ist sowohl im Kreativitätsdispositiv als auch im Pollesch-Theaterabend die ästhetische, sinnliche, affektive Erfahrung –, das Licht ausgemacht und die Musik abgestellt werden kann. Auf der Theaterbühne ist  sowohl eine graue Turnhalle als auch der Imperativ dauernder Kreativität zu sehen: Sie kann ein Ort werden, in dem das Dispositiv der Kreativität dargestellt, gezeigt und hinterfragt werden kann, »mitsamt seinen Vorschriften, Riten und Institutionen, die, obgleich den Individuen von einer äußeren Macht auferlegt, dennoch in den Glaubens- und Gefühlssystemen gleichsam verinnerlicht werden« (Agamben 2008, 14). In solchen Fällen kann auf und durch die Bühne eine ästhetische Kritik mit Sozialkritik zusammenfallen – eine *Kritik, die »Formen des Sozialen anvisiert«, dies aber nicht gegen ästhetische Praktiken versucht, sondern mit ihnen (Reckwitz 2012, 356). Den Kreativitätsimperativ auf der Bühne mit den Mitteln der Kreativität offenzulegen und zu hintergehen – schön, sich das auszumalen.

Literatur Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv, Zürich: Diaphanes. Boltanksi, Luc/Chiapello, Ève (2012): »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 18-37. Fischer-Lichte, Erika (2010): »Politiken der Raumaneignung«, in: Erika Fischer-Lichte/Benjamin Wihstuzt (Hg.), Politik des Raums. Theater und Topologie, München: Wilhelm Fink, S. 133-150. Pollesch, René (2012): »Kreativität ist kälter als die Gier«, in: Theater heute. Jahrbuch 2012. Das Theater mit der Kreativität, Berlin: Der Theaterverlag, S. 8-9. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Rimini Protokoll (2018): Remote-X. Online verfügbar unter: http://www.riminiprotokoll.de/website/de/project/remote-x (abgerufen am 01.05.18).

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Wihstuzt, Benjamin (2010): »Anderer Raum oder Raum des Anderen«, in: Erika Fischer-Lichte/Benjamin Wihstuzt (Hg.), Politik des Raums. Theater und Topologie, München: Wilhelm Fink, S. 59-76.

Coaching Florian Schulz

Das Streben nach kreativer Selbsttransformation ist für Andreas Reckwitz (2012) zentraler Bestandteil des Kapitalismus der Gegenwart, dem *Ästhetischen Kapitalismus. Er argumentiert, dass diese Form des Kapitalismus nicht nur auf die kontinuierliche Produktion marktkonformer sozialer und technischer Innovationen ausgerichtet ist, sondern auch auf das Herstellen einer mit dem Schöpfungsprozess assoziierten sinnlichen und affektiven Erregung (Reckwitz 2012, 10). Eine derart auf das kreative Potenzial ausgerichtete Dynamik zieht Individuen, Institutionen und ganze Gesellschaften in seinen Bann und formt deren Wissensfelder und Praktiken um (vgl. ebd., 15). Diese Umformungsprozesse werden von Subjekten nicht nur passiv erlebt, konsumiert und in Form einer Neuausrichtung von subjektiven Begierden wahrgenommen. Da ästhetische Dimensionen zunehmend als essenzieller Bestandteil individueller Produktivität aufgefasst werden, werden sie eingefordert. Deutlich tritt dies im dienstleistungsorientierten Arbeitssektor hervor. Hier rücken zeitgenössische Managementtheorien Kreativität ins Zentrum der Wertschöpfung und propagieren Organisationsformen (*Organisation), durch die sich die kreative Performance fördern und fordern lässt (vgl. ebd., 191 ff.). Der vorliegende Beitrag setzt Coaching in Bezug zum ästhetischen Kapitalismus. Nachdem der aktuelle Status von Coaching dargelegt wird, wird der historische Prozess beschrieben, der es Coaching ermöglicht hat, psychotherapeutische Interventionen in den Dienst spätkapitalistischer Leistungsdiskurse zu stellen. Es wird argumentiert, dass die Bildung eines psycho-managerialen Komplexes die Grundlage für die weit verzweigte Ausbreitung von Coaching in der Arbeitswelt darstellt (*Arbeit). Das Verständnis von Coaching als Praktik der ästhetischen Selbsttransformation wird schließlich als vorläufig letzte, aber bislang erfolgreichste Variante dieser Entwicklung kritisch diskutiert (*Selbstgenerierung).

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Ausbreitung und Status von Coaching im Kontext der Arbeit Während Coaching noch vor 30 Jahren hauptsächlich mit Pferdekutschen oder Sporttrainern in Verbindung gebracht wurde (vgl. Stec 2012), wird der Begriff heute vorrangig als Synonym für eine Dienstleistung verwendet, die eine irgendwie geartete positive Entwicklung oder Veränderung bezwecken soll. Zwar lassen sich Coaching-Angebote für fast alle Lebensfragen finden, seinen größten Einfluss hat Coaching jedoch im Kontext der Arbeitswelt. In der Managementliteratur gilt Coaching seit etwa zwei Dekaden als einflussreiches Phänomen und verzeichnet vor allem in den letzten Jahren einen starken Interessensanstieg. Coaching-Angebote in mittleren und großen Organisationen sind inzwischen zum Standard geworden, was sich in der Herausbildung einer milliardenschweren Coaching-Industrie, die allein in Deutschland 2015 einen Wachstum von 20 Prozent verzeichnete (vgl. Gross/Stephan 2015), widerspiegelt. An dieser Stelle stellt sich die basale, aber kaum triviale Frage: Was ist Coaching? Dabei muss festgestellt werden, dass Coaching aus Sicht der Forschung eine schlecht definierte und empirisch kaum evaluierte Intervention darstellt. Trotz zahlreicher Versuche, eine integrative Definition zu finden, gibt es wenig Konsens über die grundlegenden Ziele, Praktiken, theoretischen Grundlagen oder Anwendungsbereiche des Coaching. Ein oft genannter Grund hierfür ist, dass sich jede Person Coach nennen kann und Coaching keine regulierte Profession darstellt. Das Fehlen einer Berufsordnung, von Ausbildungsstandards sowie einer Kontrolle von Zugangsvoraussetzungen für Coaching-Dienstleistungen hat zur Folge, dass Coaching sich einzig an den Opportunitäten des Marktes orientieren kann. Laufend werden neue Themen und Zielgruppen in den Kanon des Coaching aufgenommen. Selbst wenn man Coaching im engeren Sinn als ein arbeitsorientiertes Gespräch zwischen einem bezahlten Coach und einem berufstätigen Coachee versteht, findet sich eine unübersichtliche Zahl möglicher Zielgruppen, Themen und Anliegen: Selbstführungs-Coaching für »high potentials«, Emotions-Coaching für unprofessionell (d.h. zu emotional) agierende Mitarbeitende oder Work-Life-Balance-Coaching für ausgebrannte Manager. Wahlweise sollen Subjekte gefördert, begleitet, entwickelt, zur Reflexion geleitet, geführt, trainiert, betreut oder gar diszipliniert werden. Die professionellen Identitätskonstruktionen von Coaches sind folglich fragil und inkohärent, und es zeigt sich, dass sich diese fortlaufend legitimieren müssen. An diesem Zustand hat bislang auch die Coaching-Forschung wenig ändern können. Diese ist zwar angetrieben vom Interesse von Coaching-Praktikern, tritt aber seit fast 20 Jahren auf der Stelle, denn es fehlt noch immer an methodisch sauberen Studien, welche die Praktiken beschreiben, Effekte evaluieren und insbesondere auch kritische Aspekte diskutieren.

Coaching

Coaching im historischen und sozialen Kontext In Anbetracht der Identitätsdiffusion und der unbefriedigenden Forschungslage überrascht zunächst, dass Unternehmen und Privatpersonen bereit sind, im Schnitt 260 Euro (vgl. Gross/Stephan 2015, 20) für eine Coaching-Sitzung zu bezahlen. Wie lässt sich der Erfolg von Coaching also verstehen? Um zu einem differenzierten Verständnis von Coaching und dessen Ausbreitung zu kommen, wird Coaching im Folgenden im Rahmen seines historischen und gesellschaftlichen Kontextes betrachtet. Dabei zeigt sich, dass die historische Entwicklung von Coaching Parallelen zu der von Reckwitz beschriebenen Genealogie des ästhetischen Kapitalismus aufweist. Der Begriff Coaching zeigt sich über den Verlauf seiner fast 500-jährigen Geschichte als überaus wandlungsfähig (für eine ausführliche Darstellung siehe Stec 2012). Seinen Ursprung hat das Wort im ungarischen Ort Kocs, wo im 15. Jahrhundert geschlossene Pferdewagen gebaut wurden. Der Ortsname wurde zum Synonym für die Wagen, und semantisch ähnliche klingende Begriffe breiteten sich bis ins 16. Jahrhundert auf zahlreiche europäische Sprachen aus. Noch heute zeugt die »Kutsche«, im Französischen »coche« oder im Italienischen »cocchio«, davon (ebd., 335). Das englische Wort »coach« bezeichnete ab dem 18. Jahrhundert sowohl die Kutsche als auch den Kutscher, also jenen Mann, der die Pferde vor die Kutsche einspannte und antrieb (ebd., 335 ff.). Ab dem frühen 19. Jahrhundert etablierte sich der Begriff im englischen Universitätssport als Bezeichnung für Sportinstruktoren; dabei liegt die Vermutung nahe, dass diese die Athleten, wie die Pferde, zu mehr Leistung anspornen sollten. Der Sport spielt nun für die weitere Entwicklung von Coaching eine entscheidende Rolle. Die Medialisierung und damit verbundene Kommerzialisierung des Sportes hatte die Wettbewerbsfähigkeit des Sportlers im 19. Jahrhundert zu einer wertvollen Kommodität gemacht (*Valorisierung). Entsprechend explorierten Sport-Coaches vermehrt Möglichkeiten, die Leistung der Sportler zu steigern. Nebst der gezielten Optimierung von Bewegungsabläufen und der Verbesserung von Trainingsplänen wandten sich Sport-Coaches ab den 1970er Jahren den humanistischen Motivationstheorien zu. Einen popkulturellen Meilenstein (*Pop) stellt hierbei der internationale Bestseller Tennis – Das Innere Spiel. Durch entspannte Konzentration zur Bestleistung (Gallwey 1974) dar. Im Buch wird argumentiert, dass für ein erfolgreiches Leben auf und neben dem Tennisplatz Leistungshindernisse in Form von Konzentrationsschwäche, Nervosität, Selbstzweifel und Selbstkritik überwunden werden müssen. Ein derart ausgerichtetes Coaching hat dann zum Ziel, Sportler, aber auch andere Leistungsträger, dabei zu unterstützen, ihren »inneren Wettkampf« zu gewinnen und damit hinderliche Leistungsblockaden zu überwinden.

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Anhand des Buches lassen sich eine Reihe wichtiger Übersetzungsprozesse erklären, die die Ausbreitung des Coachings vorbereiteten. Zunächst lässt sich am Buch, das sich über zwei Millionen Mal verkaufte, erkennen, wie sich psychologische Konzepte in Form von Lebenshilfe-Ratgebern weit verbreitet haben. Das Buch markiert den Beginn eines Siegeszuges psychologischer Diskurse (Illouz 2008), der die gesamte Gesellschaft erfasst und die Aktivierung positiver Emotionen ins Zentrum wirtschaftlicher Interessen rückt. Zum Erfolg des Buches trug maßgeblich bei, dass es sich von extrinsisch disziplinierenden Regimen abwendet und die Verwendung von intrinsisch motivierenden Maßnahmen unterstreicht. Erstere versuchen, das Subjekt durch Belohnung und Bestrafung zu beeinflussen, während letztere eine nachhaltige Motivation herzustellen versuchen, indem Leistungsziele an persönliche Werte, Vorstellungen und Wünsche geknüpft wurden. Die Verschiebung von der Disziplinierung zur intrinsischen Motivation war von der humanistischen Psychologie ausgegangen (vgl. Reckwitz 2012, 215), schlug sich alsbald aber auch in der Managementtheorie nieder (vgl. ebd., 155 ff.). Was jedoch bezeichnend ist, ist die Art, wie psychologische Theorien trivialisiert, überzeichnet und umgeformt wurden. Während Carl Rogers zum Beispiel die Selbstentwicklung als emanzipatorische Dynamik verstand, die sich durchaus auch gegen vorherrschende Ideologien stemmte, ist das Ziel der Selbstverwirklichung in Gallweys Buch an das Ziel der Erlangung von Bestleistungen ausgerichtet. Es ist diese Assoziation von Coaching und Hochleistung, die dazu führte, dass der Begriff ab Ende der 1970er Jahre Einzug in das Vokabular der international vernetzten Managementelite fand. Forciert wurde diese Übersetzung dadurch, dass erfolgreiche Sport-Coaches gerne von Topmanagern eingeladen wurden, um über Motivations- und Leistungsthemen zu sprechen. Parallel hierzu nahmen sich immer mehr Manager einen persönlichen Coach zu Seite, der sie zu besserer Leistung befähigen sollte. Coaching, wie es hier verstanden wird, war also zur personenzentrierten Personalentwicklung geworden. Entscheidend dabei ist, dass das Bedürfnis nach solch individualisierten Maßnahmen als Reaktion auf die Veränderung der Anforderungen an das arbeitende Subjekt im neuen Geist des Kapitalismus (vgl. Boltanski/Chiapello 2003) verstanden werden muss, der unternehmerische Tugenden wie Selbstmanagement, Charisma oder Spontanität verlangte. Der bis heute anhaltende Erfolg von Coaching lässt sich aber nicht (nur) auf die Kopplung an spätkapitalistische Diskurse reduzieren. Wäre Coaching nicht in der Lage gewesen, wirksame Praktiken der Veränderung des Selbst vorzuweisen, hätte es sich wohl kaum einen Platz im hart umkämpften Beratungs- und Ausbildungsmarkt erobern können (*Kreativitätstechniken). Bei der Suche nach ebendiesen Praktiken stößt man unweigerlich auf den Einfluss der Psychotherapie im Coaching, was durch die Analyse der Fachliteratur, Ausbildungscurricula und realer Coachinggespräche untermauert wird (vgl. Schulz

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2013). In der Coaching-Landschaft findet sich die Verwendung von Praktiken und Wirkannahmen aller vier psychotherapeutischen Hauptströmungen wieder: der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie, der humanistischen Psychologie mit der Gesprächs- und Gestalttherapie sowie der systemischen Ansätze. Aus diesem heterogenen Repertoire der Psychotherapie werden im Coaching oft einzelne Praktiken in eklektischer und atheoretischer Manier herausgenommen. Im Zuge der Übersetzung ins Management wurden die Praktiken zudem vom ursprünglichen Krankheit-Heilungs-Diskurs der Psychotherapie abgelöst und durch leistungsorientierte Diskurse ersetzt. Ausgestattet mit den Mitteln der Psychotherapie, die eine intensive Bearbeitung des Denkens, Fühlens und Handelns zulassen, konnte sich Coaching so gegenüber den weit weniger individualisierten Trainings profilieren. Was sich hier seit Mitte der 1980er Jahren in Form des Coachings abspielt, kann man als Bildung eines psycho-managerialen Komplexes verstehen (vgl. Schulz 2013). In diesem werden die in der Arbeitswelt dominanten kapitalistischen Leistungsdiskurse mit postdisziplinären Motivationstheorien der Psychologie verknüpft (*Arbeit, *Organisation). Die geschickte Verflechtung dieser Diskurse bildet wiederum die Legitimationsgrundlage für die Coaching-Dienstleistung und hat sich als äußerst erfolgreiche Vermarktungsstrategie erwiesen, die vor allem funktioniert, wenn man die Wirkmechanismen von Coaching nicht allzu genau hinterfragt. Betrachtet man jedoch, wie Coaching in der Praxis umgesetzt wird, zeigt sich, dass das intime Gesprächssetting sowie die verwendeten Interventionspraktiken dem Wissensfeld der Psychotherapie zugeordnet werden können. Verfolgt man die Entwicklung in die 1990er Jahre weiter, zeigt sich, dass Coaching zu einem flächendeckenden Phänomen geworden ist, dessen Einfluss weit über die Bereiche des Sports und der Arbeit bis ins Private reicht. Im Zuge dessen kam es zu der eingangs beschriebenen inflationären Verwendung des Begriffes. Einen wichtigen Grund für diesen Anstieg lässt sich in der Ausbreitung des spätmodernen Kapitalismus mit seiner Forderung finden, auch die intimen und affektiven Bereiche menschlichen Seins in den Dienst der Produktivität zu stellen. War zunächst die Überwindung von Blockaden zentrales Anliegen dieses Komplexes, spielt zunehmend die Intensivierung positivemotionaler Erfahrungen eine Rolle. Tatsächlich inszeniert sich Coaching ab den 2000er Jahren als Weg zum Traumberuf, zum Traumpartner, zur Traumfigur oder zur Erlangung der nächsten Stufe menschlicher Evolution. Zuletzt wird der psycho-manageriale Komplex vermehrt auch auf den Aspekt der Kreativität ausgerichtet, da Leistung zusehends als ästhetische Performanz verstanden wird (*Performativität). Dies umfasst neben der Schaffung innovativer Ideen insbesondere auch das Erbringen individualisierter, emotional positiv aufgeladener Erlebnisse für Kunden. Das Subjekt, wie Reckwitz darlegt (vgl. Reckwitz 2012, 328), ist im ästhetischen Kapitalismus aufgefordert, konstant innovativ zu sein, seine kreativen Kompetenzen zu verbessern, sich selbst

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zu überbieten und zu erweitern. Diese Erweiterung lässt sich im Coaching mit den immer populärer werdenden sogenannten systemischen Ansätzen in Verdingung bringen, die inzwischen zur stärksten Strömung im CoachingMarkt geworden sind. Derzeit ist diese Ausrichtung so präsent, dass Coaching selbst vermehrt mit der systemischen Haltung gleichgesetzt wird. Die initial aus Psychoanalyse und Familientherapie stammenden Interventionsansätze stützen ihre Wirkannahmen auf die Kybernetik, den Konstruktivismus sowie chaostheoretische und narrative Theorien. Es wird betont, dass effektive menschliche Veränderung nicht linear erfolgt, sondern durch Neuordnung der Homöostase psychosozialer Systeme, der Einführung neuer Grundannahmen sowie der De- und Rekonstruktion identitätsstiftender Narrationen (*Imagineering). Die Rolle des systemischen Coaches ist es, alternative Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen durch die Irritation dominierender Annahmen zu ermöglichen. Der Coach wird zum »Sparringspartner« – eine weitere Metapher aus dem Sport – für neue Ideen und Sichtweisen. Mit anderen Worten: Coaching wird zum begleiteten ästhetischen Transformationsprozess, in dessen Zentrum das Selbst und seine Passung zur Umwelt steht. Coaching hat so seine Rolle im ästhetischen Kapitalismus gefunden.

Coaching im ästhetischen Kapitalismus Die historische und kulturelle Einbettung des Coachings ergänzt die von Reckwitz erstellte Genealogie des ästhetischen Kapitalismus um eine spezifische Praktik der Selbsttransformation. Coaching ist es gelungen, sich als personenzentriertes Maßnahmenbündel zur Leistungsoptimierung zu positionieren – früher als Disziplinierungspraktik, durch die Sportler angetrieben werden sollten, später als Maßnahme der Selbstoptimierung von Berufstätigen und schließlich als Praktik kreativer Selbsttransformation für alle. Historisch ältere Praktiken wurden jeweils nicht ersetzt, sondern unter dem Begriff Coaching zusätzlich subsumiert. In diesem Sinne konnte sich Coaching nicht trotz, sondern wegen seiner Identitätsdiffusion ausdehnen. Sein Alleinstellungsmerkmal liegt in einem psycho-managerialen Komplex, anhand dessen das gesamte Spektrum psychotherapeutischer Praktiken für Fragestellungen und Anliegen der Arbeitswelt zugänglich gemacht werden konnte. Zum Gelingen dieses Manövers war entscheidend, dass die Psychotherapie-Praktiken von den mit Schwäche und Unvermögen assoziierten Zielsetzungen der an Heilung orientierten Psychotherapie abgespalten und an manageriale Leistungsdiskurse angegliedert werden konnten. Dabei war die metaphorische Assimilation an den Sport instrumentell. Da Coaching inzwischen omnipräsent ist, wird zunehmend erwartet, dass man sich ihm zu unterziehen hat, um den (Selbst-)Ansprüchen des spätkapitalistischen Diskurses zu genügen. Coaching trägt dazu bei, dass der Imperativ

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der ästhetischen Selbsttransformation durch intensive Arbeit am Selbst zur Selbstverständlichkeit wird. Liegt ein Mangel an Innovationskraft oder positiver Gestimmtheit bzw. Erregung vor, sind Personen aufgefordert, bestehende Coaching-Angebote aufzusuchen. Dabei ist die Initialisierung von CoachingMaßnahmen in Unternehmen nicht immer freiwillig. Sie werden zuweilen zur »Reparatur« von Mitarbeitern, die den jeweiligen Leistungsansprüchen des Unternehmens nicht genügen, eingesetzt. Die unregulierte Anwendung von Psychotherapie-Praktiken in der Arbeitswelt im Rahmen des Coachings ist jedoch nicht ohne Gefahren für das Subjekt. Das unqualifizierte Eindringen in die intimsten Bereiche des menschlichen Seins zum Zweck der Leistungssteigerung kann als psychologische Grenzverletzung erlebt werden und neue Formen von Zwängen etablieren. Die Entwicklung einer kritischen Perspektive auf Coaching ist daher essenziell, und es scheint höchste Zeit, dass vermehrt auch negative Effekte einer derart gestalteten Psy-Technologie (vgl. Rose 1998) aufzeigt werden.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Gallwey, W. Timothy (1974): The Inner Game of Tennis, New York: Random House Inc. Gross, Peter-Paul/Stephan, Michael (2015): »Der Coaching-Markt«, in: Coaching – Theorie & Praxis 1(1), S. 15-24. Illouz, Eva (2008): Saving the Modern Soul, Berkeley: University of California Press. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Rose, Nikolas (1998): Inventing our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge: Cambridge University Press. Schulz, Florian (2013): The Psycho-Managerial Complex at Work. A Study of the Discursive Practices of Management Coaching, St.Gallen, Switzerland: University of St.Gallen. Stec, Deryk (2012): »The Personification of an Object and the Emergence of Coaching«, in: Journal of Management History 18(3), S. 331-358.

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Computer Claus Pias »You can create art and beauty on a computer.« Hacker-Ethik

Wohl kaum ein Ort ist so sehr mit Phantasma und Realität des Kreativitätskomplexes belastet wie das sogenannte »Silicon Valley«. Unter dieser Chiffre firmiert, seit sie Anfang der 1970er Jahre erfunden wurde, ein global exportfähiges Modell von Kreativität und (Selbst-)Unternehmertum, von heroischer counter culture und kalifornischer Ideologie, das –  je nach Standpunkt –  die leuchtendsten und finstersten Zukunftsphantasien hervorzutreiben vermag (vgl. Barbrook/Cameron 1996; *Imagineering). Wollte man eine Ikone der Verschmelzung von Kreativitätsimperativ und dessen medientechnischer Ausstattung aufrufen, so wäre es vielleicht die »think different«-Kampagne, in der zwischen 1997 und 2002 mit Künstlern und ›Andersdenkern‹ wie Albert Einstein und Maria Callas, Martin Luther King und Amelia Earhart, John Lennon und Martha Graham, Buckminster Fuller, Muhammad Ali und Mahatma Gandhi für die kreativitätsfördernde Kraft von Apple-Produkten geworben wurde (*Pop, *Produkt). Zu diesem Zeitpunkt lagen die frühen Konzepte des Personal Computer jedoch schon 25 Jahre zurück. Die medienhistorische These, die hier entfaltet werden soll, lautet schlicht, dass die Vorstellung und Entstehung sogenannter persönlicher Computer eine der entscheidenden Szenen innerhalb einer »Genealogie des Kreativitätskomplexes« darstellt. Die »digitale Revolution des Computers und des Internet« ist nicht allein eine ästhetische der »Transformation der Muster sinnlicher Wahrnehmung und ihrer Gefühlsstrukturen« (Reckwitz 2012, 35). Vielmehr bilden Fragen von Kreativität und *Innovation, von *Spiel und Subjektivierungsformen selbst den medien- und kulturtheoretischen Kristallisationskern, von dem aus die konkrete technische Entwicklung des Personal Computer ihren Ausgang nimmt. Oder anders gesagt: Der PC wird von seinen Entwicklerinnen und Entwicklern nicht als Epiphänomen eines bereits entfalteten, sondern als medientechnische Bedingung eines

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künftigen »Kreativitätsdispositivs« gedacht, für das er selbst die Bedingung gewesen sein wird.

McLuhan lesen Von entscheidender Bedeutung waren dafür zunächst die Schriften Marshall McLuhans. McLuhans Medientheorie der 1960er hatte nicht nur jegliche Haltebedingung dafür entfernt, was alles als ›Medium‹ beobachtbar werden kann, sondern zugleich auch einem derart entgrenzten Medienbegriff die Fähigkeit zugesprochen, ganze Epochen zu unterscheiden, die ihre jeweilige Einheit durch die mentalitätsprägende Wirkung spezifischer ›Leitmedien‹ (wie etwa Buchdruck) gewinnen. Medien konnten also geschichtsphilosophisch als letzte Triebkraft von Gesellschaften, Wirtschaften, Künsten oder Mentalitäten bestimmt werden – als deren mediales Apriori. Diese These war um 1970 bereits tief in die Rede vom sogenannten »postindustriellen« Zeitalter eingewoben (etwa bei Daniel Bell oder Zbigniew Brzezinsky, Alain Touraine oder Jean-François Lyotard), die Digitalisierung als key technology für die Zukunft westlicher Wirtschaften und Gesellschaften einschätzte. Zugleich aber wurde McLuhan begeistert von einer bestimmten Generation junger Informatikerinnen und Informatiker gelesen, die heute zu den ›Pionieren‹ gezählt werden, wie etwa Alan Kay, Seymour Papert oder Ted Nelson. Reizvoll waren McLuhans Thesen zum medialen Apriori ganzer Kulturen und Epochen deshalb, weil sie um 1970 eine Innovation zu propagieren erlaubten, an deren Sinn die damalige Computerindustrie (noch) nicht glaubte, nämlich den Personal Computer. Die PC-Bewegung begriff den Computer nicht mehr (wie die vorangegangene Generation der Kybernetiker) als »Elektronengehirn«, »Denkmaschine« oder riesigen Rechner, sondern (dank McLuhan) als »Medium«. Das Experimentieren mit zivilen (oft noch sinnlos scheinenden) Anwendungen des Computers wurde nun als dessen »Medientheorie« artikulierbar. So wie Molières Monsieur Jourdain plötzlich feststellt, dass er immer schon Prosa gesprochen hat, stellten die Apologeten des PC fest, dass sie es ja mit einem Medium zu tun haben. Und sie fanden sich in der schmeichelhaften Machtposition wieder, Mentalitätsgestalter zukünftiger Medienepochen zu sein. Jedenfalls erlaubte diese theoretische Fundierung des Computers als Medium, bestimmte pädagogische, politische, ästhetische oder epistemologische Aussichten auf eine anbrechende, postmoderne computer culture mit dem Entwurf von konkreter Hard- und Software als deren Apriori zu verbinden.

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Kind, Kreativität, Spiel Diese Computerkultur, für die der PC das mediale Apriori bilden sollte, wurde als eminent ludische Kultur imaginiert, und die maßgeblichen Begriffe der PC-Entwicklung sind demzufolge »Kind«, »Kreativität« und »Spiel«. Das (spielende) Kind bildet nicht nur Nutzermodell und Testperson des künftigen PC, der bei Alan Kay und Ted Nelson explizit an »children of all ages« adressiert wird. Vielmehr findet ein Transfer entwicklungspsychologischer Theoriebildung (etwa Maria Montessori, John Dewey, Jean Piaget oder Jérôme Bruner) in die junge Informatik statt. So entwirft etwa Alan Kay sein berühmtes Dynabook (Vorläufer heutiger Laptops und Tablets) unter explizitem Verweis auf Montessori als »environment of powerful epistemology« und integriert Bruners Stufenmodell kognitiver Entwicklung in die Interfacegestaltung. Bei Seymour Papert etwa – einem Schüler Jean Piagets – wird dessen Theorie eines Wechselspiels von Akkomodation und Assoziation zur Grundlage der Programmiersprache LOGO. Und bei Ted Nelson sind es der durch den PC ermöglichte, individuelle Selbstunterricht im spielerischen Umgang mit Information, der die Curricula entmachten und zu einer pluralistischen Weltanschauung sowie zu life-long learning führen soll. In diesen Beispielen fungiert das Kind als Figur des ungeduldigen und autodidaktischen, des spielerischen und explorativen, befreiten und selbstverantwortlichen Nutzers. Oder in Ted Nelsons Worten, die gegen »ComputerAided-Instruction« als damals vorherrschender Form des e-learning gerichtet sind: »The educational system serves mainly to destroy most people. [...] Nothing in the universe is intrinsically uninteresting. [...] There are no ›subjects.‹ [...] There is no natural [...] order of learning. [...] Anyone [...] can learn anything practically on his own, given encouragement and resources.« (Nelson 1974, 18)

Die entsprechenden Publikationen (etwa Kay/Goldberg 1977) illustrieren dies fast ausschließlich mit Kreativtätigkeiten: Zeichnen und Malen, Musizieren und Komponieren, Lernen und Schreiben sollen die entscheidenden Anwendungsfelder des künftigen PC ausmachen – mithin also all das, was im Zusammenhang mit Computern kurz zuvor noch als sinnlos und unökonomisch galt und allenfalls im Reservat experimentellen Hackens oder früher Medienkunst betrieben wurde. Die stillschweigende Referenz für solch spielerisch-kreativen Erkenntnisgewinn bildete Arthur Koestlers 1964 erschienenes, philosophischpsychologisches Sachbuch The Act of Creation, das – auf bauend auf Bergsons und Freuds Konzepten des Lachens und des Witzes – eine vereinigte Kreativitätstheorie für die Domänen von Wissenschaft und Kunst bereitstellt. Oder in der Kurzfassung von Alan Kay: »All creativity is an extended form of a joke.«

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Creative Computing Es erscheint daher nur folgerichtig, dass eine der ersten Zeitschriften, die sich ab 1974 an PC-Benutzer richtete, Creative Computing hieß und sich im Untertitel als »a non-profit magazine of educational and recreational computing« beschrieb. Dies beinhaltete die ununterbrochene Aufforderung, kreativ mit dem neuen Medium umzugehen. Dementsprechend sind die dort erscheinenden Texte äußerst heterogen und umfassen alle möglichen Bereiche und Anwendungen des persönlichen Computing, von Videospielen und Programmierbeispielen über »classroom activities« und »social commentary« bis hin zu allgemeinen »ideas«. Der »joke« der Kreativität besteht darin, den PC kulturell zu erfinden, ihn in sinnhafte Praktiken einzubinden, und das hieß neue, innovative, persönliche Gebrauchsweisen durch »Herumspielen« zu erfinden, die mit bisherigen Computern nicht denkbar waren – und zwar unabhängig davon, ob diese nun künstlerisch, wissenschaftlich oder bürokratisch sein mochten. Dies verweist auf eine weiträumigere Verschiebung der etablierten, kulturell ausgehandelten Grenzziehungen von Spiel und Nicht-Spiel bzw. Spiel und *Arbeit. Im Verständnis seiner Entwicklerinnen und Entwickler nämlich ist der PC eine universelle Spielmaschine, die die Differenz von Spiel/Nicht-Spiel selbst dekonstruiert. Als Medium, das potenziell alle anderen Medien integrieren kann, haben alle Anwendungen, ob nun ›ernst‹ oder ›spielerisch‹, einen neuen gemeinsamen Nenner: den des kreativen Gebrauchs und des Imperativs von »do your own thing«. Getreu Marshall McLuhans Lehre haust diese Dekonstruktion von Spiel/Nicht-Spiel im Medium und seinen Eigenschaften selbst. Sie ist daher gewissermaßen eine ›gebaute‹ Dekonstruktion, die ihre mentalitätsprägende Kraft ausgehend von einer allgemeinen Verbreitung des PC entfalten und von dort aus in Ästhetiken, Wissens-, Arbeits- und Subjektivierungsformen virulent werden soll.

Spiel/Nicht-Spiel: Kreativität und Computerisierung Man könnte vielleicht sagen, dass durch die Dekonstruktion von Spiel/NichtSpiel im Namen einer allgemeinen Kreativität eine produktive Paradoxie zur Entfaltung kommt. Sie besteht in der von Gregory Bateson erforschten, impliziten Metafeststellung innerhalb der Mitteilung »Dies ist ein Spiel«, die bedeutet: »›Diese Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene Handlungen, die sie bezeichnen, bezeichnen würden.‹ Das spielerische Zwicken bezeichnet den Biß, aber es bezeichnet nicht, was durch den Biß bezeichnet würde.« (Bateson 2007, 195) Innerhalb des Rahmens der Kreativität bezeichnet die Arbeit am PC zugleich Arbeit und Nicht-Arbeit, und bezeichnet Spiel zugleich Spiel und Nicht-Spiel.

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Diese Dekonstruktion, die man auch die ›epistemische Phase‹ des Personal Computing nennen könnte, sollte nicht lange andauern. Vom Erfolg der eigenen Ideologie eingeholt, wurde die zu löschende Differenz von Spiel/NichtSpiel als eine des Marktes wieder eingeführt, die nun zwischen ›spielerischen‹ Homecomputern und ›seriösen‹ PCs, sowie zwischen ›bürokratischen‹ IBMkompatiblen und ›kreativen‹ Apple PCs unterschied und das Spiel an einen ebenfalls boomenden Computerspielmarkt verwies. Was blieb, war die Kreativitätsvermutung mit medialem Apriori. Als Schlagwort der Gegenwartsdiagnose hat »Gamification« seit etwa 15 Jahren in Journalismus und Marketing, in Management, Gesundheitswesen und Wissenschaft Hochkonjunktur. Die Durchdringung von Arbeits-, Erholungs-, Bildungs- und Alltagszusammenhängen mit Methoden, Metaphern, Attributen und Ästhetiken aus der Welt der (Computer-)Spiele wird dabei nicht nur als Motor einer umfassenden *Ästhetisierung des Sozialen gedeutet, sondern auch als eine der zentralen Konstellationen des Neoliberalismus. Allesamt gehen die rezenten Diagnosen von »Ludification« (Jost Raessens), »Ludefaction« (Graeme Kirkpatrik) oder »Exploitationware« (Ian Bogost) jedoch davon aus, dass spielerische Elemente vorgängig sind und dann erst nachträglich in spielfernen Bereichen – etwa zu Zwecken der Arbeitsmotivation, der Kundenloyalität oder -akquisition, oder des Lernens – eingesetzt werden. Ob in kritischer oder affirmativer Absicht ranken sich ihre Narrative um die Geste einer innovativen Grenzüberschreitung, im Zuge derer spielerische Elemente in nicht-spielerische Kontexte transplantiert werden. Eine medienhistorische Perspektive hätte dem entgegenzuhalten, dass Gamification nichts Nachträgliches ist, sondern –  als zentrale Denkfigur einer medientechnisch zu implementierenden Kreativitätsvorstellung –  gleichursprünglich mit der Entstehung des Personal Computing selbst. Vorstellungen von Kreativität und Spiel haben die Konzeptualisierung und Entstehung des PC nicht nur maßgeblich mitbestimmt; sie sind vielmehr als gebaute Medientheorie reflexiv in ihm verkörpert – und zwar im Vorgriff auf die mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des Computers für zukünftige, digitale Kulturen. Und im Hinblick auf eine Genealogie des Kreativitätsdispositivs ließe sich vielleicht festhalten, dass die Phase seiner »krisenhaften Verdichtung« in den 1960er und 1970er Jahren (Reckwitz 2012, 51) auch medien(technik)geschichtlich perspektiviert werden kann. Der Gewinn einer solchen Beobachtung liegt darin, dass sie nicht auf rein menschliche Akteure abstellt, sondern aufzeigen kann, wie ›Kreativität‹  als emergenter Effekt einer materiell zu gestaltenden Interaktion zwischen Menschen und einem historisch neuen Maschinentypus konzipiert wurde – nämlich dem Personal Computer als Spiel- und Denkzeug der anbrechenden postindustriellen Gesellschaft (*Performativität). Dies war bereits in den 1960er Jahren durch Autoren wie Joseph C. Licklider oder Douglas C. Engelbart vorbereitet, die dafür Begriffe wie Mensch-Maschine-»Sym-

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biose« und »Augmentierung« von Intelligenz eingeführt hatten. Während dort jedoch vorrangig Formen von Effizienz- und Intelligenzsteigerung adressiert wurden, wie sie für einen Vorsprung im ›Wettlauf der Systeme‹ erforderlich waren, stellt die PC-Bewegung der 1970er auf eine allgemein ›menschliche‹ und stärker ›künstlerisch‹ codierte Kreativität um. Ihre Medientheorie besagt dabei nicht nur, dass Mensch-Maschine-Verbünde kreativer sein können und auch sein sollen, sondern empfiehlt zugleich auch jedem den Erwerb der dazu notwendigen, medientechnischen Ausstattung. Insofern steht die massenhafte Computerisierung der Haushalte in den 1980ern zumindest in Komplizenschaft mit dem Beginn der »Hegemonialphase« (Reckwitz 2012, 51) des Kreativitätsdispositivs und erhebt sich dabei zur Wachstumsbranche ohnegleichen.

Literatur Barbrook, Richard/Cameron, Andy (1996): »The Californian Ideology«, in: Science as Culture 6(1), S. 44-72. Bateson, Gregory (2007): »Eine Theorie des Spiels und der Phantasie« [1954], in: Claus Pias/Christian Holtorf (Hg.), Escape. Computerspiele als Kulturtechnik, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, S. 193-207. Kay, Alan/Goldberg, Adele (1977): »Personal Dynamic Media«, in: Computer 10(3), S. 31-41. Koestler, Arthur (1964): The Act of Creation, New York: Penguin Books. Nelson, Ted (1974): Computer Lib / Dream Machines [Selbstverlag]. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Richten wir unsere Augen auf Sydney, eine jener Metropolen, die es auf die Landkarte kreativer Städte geschafft hat, und die seit der Sommerolympiade 2000 systematisch ihr kreatives Potenzial fördert. Jedes Mal, wenn das Feuerwerk über der Harbour Bridge am Neujahresabend verklungen ist, beginnt ein Sommermonat mit Kunstfestivals, Open-Air-Kinos, Familienpicknicks und Barbecues, und Scharen von Touristen lassen die automatischen Türen des Kingsford Smith International Airport nicht mehr zur Ruhe kommen. In dieser Zeit kann man beobachten, wie sich vor der ikonenhaften Kulisse des Opernhauses die Besucher noch einen letzten Drink genehmigen, bevor sie sich Puccinis Evergreen La Bohème hingeben. Doch ihre Unterhaltungen geraten ins Stocken, als hinter den wandhohen Fenstern des Foyers ein gigantisches Kreuzfahrtschiff auftaucht, das in einem halsbrecherischen Manöver rückwärts aus dem Hafen ausläuft. Nach einer spektakulären, fast unmöglich erscheinenden Wende, gleitet das Schiff langsam an den Fenstern vorbei und für einen kurzen Moment befinden sich die winkenden Passagiere an Deck mit den Opernbesuchern auf Augenhöhe. Aufgeschreckt von der Theaterglocke stürzen diese hastig ihren Champagner herunter, um ihre Plätze aufzusuchen und der hochkarätig besetzten, jedoch vollkommen belanglosen Adaption dieses Fin-de-Siècle-Stücks über das Leben der Bohème zu frönen. Diese Momentaufnahme evoziert und kombiniert einige typische Bestandteile der kreativen Stadt: atemberaubende Architektur und aufpolierte Hafenanlagen, Kulturfestivals und Open-Air-Spektakel, Räume des Konsums und das Staunen der Touristen (*Konsum). Doch besitzt diese Szene ihre eigene Zwiespältigkeit: Die ganze Opulenz der Kultur, die Konsumfreude, die Kreuzfahrten und der Champagner passen nicht recht zur Vorführung auf der Bühne, die uns an die materiellen Sorgen und gesundheitlichen Nöte erinnert, die Künstlerinnen im Glauben an ihre Kunst und ihre Liebe ertragen. Die Gegenkulturen der Bohemien-Künstler hat im 19. Jahrhundert subkulturelle Milieus etwa in Städten wie Paris, Berlin oder New York hervorgebracht. Diese Milieus waren urbane Mikrokosmen, in denen sich prekäre *Arbeit mit sinnlichen und

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ausschweifenden Lebensentwürfen sowie nonkonformistischer Selbststilisierung vermengte, und die somit als Gegenwelten zu anderen, eher bürgerlichen Lebensstilen fungierten (vgl. Reckwitz 2012, 75 ff.; *Künstler). Es ist bemerkenswert, dass der gegenwärtige Diskurs zur kreativen Stadt nicht ohne Bezug zu diesen Künstler-Lebensstilen auskommt. So misst Richard Florida die ›kreative Klasse‹ unter anderem am sogenannten ›Bohemian Index‹, der die vermeintliche Kreativität eines künstlerischen Lebensstils auf generalisierbare, kollektive urbane Lebensentwürfe überträgt. Nirgends war Kreativität als prägendes organisatorisches Prinzip westlicher Gesellschaften während der letzten 30 Jahre einflussreicher als im Kontext der Stadt (vgl. Reckwitz 2012, 9-13, 269-312; *Organisation). Sowohl die Sehnsucht nach als auch der Zwang zur Kreativität werden von Reckwitz unter dem Schlagwort der ›kreativen Stadt‹ im siebten Kapitel seines Buchs Die Erfindung der Kreativität abgehandelt. Dies sollte uns nicht überraschen. Mit der Doppelbödigkeit von Kreativität als Wunsch und als Aufforderung wird augenscheinlich, wie die Kulturalisierung des Urbanen durch politische Stadtentwicklung und Stadtregierung frühere emanzipatorische Hoffnungen urbaner Kreativität verdreht und überschreibt. Zahlreiche Städte sind auf diesen Zug der ›kreativen Stadt‹ aufgesprungen, von Barcelona bis Dubai, von Brisbane bis Singapur. Diese Städte folgen einem Skript, das ihnen die permanente ästhetische Selbsterneuerung verordnet, vornehmlich durch Investitionen in spektakuläre Bauprojekte, durch die Kernsanierung ganzer Stadtteile und durch die Organisation einer ganzen Reihe kultureller Events wie etwa Open-Air-Kinos und Musikfestivals. Diese Kulturalisierung bezieht sich nach Reckwitz spezifisch auf »ein[en] reflexive[n] Bezug zum Kulturellen der Stadt«, der »seit den 1970er Jahren Bewohner, Besucher, städtische Ökonomie und schließlich auch die politische Planung« erfasst (Reckwitz 2012, 279, Herv. i.O.). Dieser reflexive Bezug ist darauf gerichtet, »die Zeichen und Atmosphären« der Stadt gezielt zu steigern, zu intensivieren und zu verdichten (*Atmosphäre). Wenn nun also Regierungen Kreativität in ihre Planung und Politik einschreiben, dann markiert diese Kulturalisierung urbanen Raumes gemäß Reckwitz einen politischen Richtungswechsel in der Genealogie des Kreativitätsdispositivs. Die Kulturalisierung des urbanen Raumes wurde daher erst durch Interventionen von Planungsstellen systematisiert, die vielerorts auf eine Transformation von Städten in Kreativräume abzielten. Kreativität wurde somit zum Objekt von politischer Steuerung und Kontrolle, angereichert mit von Beraterinnen entwickelten Diskursen, Techniken und Programmen. Diese Stadtberater – als deren vielleicht berüchtigtsten Vertreter zu beiden Seiten des Atlantiks Charles Landry und Richard Florida genannt seien – haben die Idee der ›kreativen Stadt‹ weiterentwickelt und materialisiert. Charles Landry, der den Begriff der ›creative city‹, der kreativen Stadt, geprägt hat, verbindet die Sprache des Innovationsmanagement und der Strategieberatung mit einem tiefen

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Glauben an konzeptionelle Werkzeuge und die Nutzung kreativer Methoden, um die Wandlung von Städten in creative cities voranzutreiben (*Imagineering). Landry versteht Kreativität als Lebensader der Städte und versteht sein Buch als Handlungsaufruf, da im 21. Jahrhundert Städte die *Bühne für das moderne Leben der Mehrzahl der Bürger darstellen. Mit Hilfe seines konzeptionellen Werkzeugkastens kann das Drama des urbanen Wandels in neue Bahnen gelenkt werden, so Landry: »Das Buch The Creative City argumentiert in erster Linie, dass Mentalitätsveränderungen Wille, Leistungsbereitschaft und Energie wecken, die es uns erlauben aufs Neue die Möglichkeiten der Stadt in den Blick zu nehmen. Eine Reihe von Ansätzen und Methoden zum kreativen Denken, zum kreativen Planen und zum kreativen Handeln werden im Buch vorgestellt (*Kreativitätstechniken). Zusammen stellen sie eine neue Herangehensweise für die Stadtplanung bereit.« (Landry 2000, xv, Übers. C.M./C.S.) Augenscheinlich sind in Landrys Programm Ziel und Mittel identisch: kreative Arbeitsweisen für eine kreative Stadtentwicklung. Auf der anderen Seite des Atlantiks verbreitete Richard Florida in seinem Buch The Rise of the Creative Class eine ähnliche Botschaft über die Rolle von Kreativität für urbane Erneuerung, dieses Mal allerdings gestützt auf breite statistische Analysen (und anekdotenhafte Beweise), die zu Berechnungen städtischer Kreativität und zur Aufstellung vergleichender Listen dienen. Und in der Tat – als handle es sich um Marathon, Fußball oder einen Tanzwettbewerb – fingen Städte bald an, um den Titel der kreativsten Stadt wettzueifern. Wichtiger noch scheint es, dass Florida im Kielwasser seiner Publikationen die »Creative Class Group« ins Leben rief, ein globales Beratungsunternehmen bestehend aus Expertinnen, Forschern, Akademikern und Strategieberaterinnen. Das Konzept der kreativen Klasse wird also von einer gigantischen Beratungsmaschinerie begleitet – inklusive populärwissenschaftlicher Publikationen, Eröffnungsworten an Konferenzen, teuren Beratungsverträgen, Online-Kreativitätsdiagnosen und Stadtmarketingkampagnen. All dies materialisiert somit »eine politisch geförderte ›kulturorientierte Gouvernementalität‹ des Urbanen […], die [...] versucht, die creative city als Ort der permanenten Produktion des ästhetisch Neuen auf Dauer zu stellen« (Reckwitz 2012, 280, Herv. i.O.). Trotz dieser weltumspannenden Maßnahmen schien etwas falsch zu laufen. In seinem kürzlich veröffentlichen Buch The New Urban Crisis scheint der »intellektuelle Rockstar«, wie Richard Florida zu Werbezwecken genannt wird, auf Konfrontationskurs mit dem Wettbewerbskapitalismus und den urbanen Eliten zu gehen, die er jahrzehntelang umworben hatte. Nun geht es um gestiegene Ungleichheit, verschärfte Segregation und den Verrat an der Mittelschicht. Dürfen wir Danny Dorling (2017) Glauben schenken, so bietet Florida in diesem »fehlerhaften Buch« bloß Schnellschüsse und vermeintliche Lösungen, die sich als »nicht fundiert und unglaubwürdig« erweisen, wenn-

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gleich die übermäßige Selbstvermarktung Florida zu neuen Beratungsaufträgen verhelfen mag. In den letzten 20 Jahren wurden Städte und Kreativität somit stark miteinander assoziiert und als unschlagbares Tandem vermarktet. Doch ist der Begriff der kreativen Stadt nicht selbst ein Pleonasmus? Sollten wir die Begriffe nicht voneinander trennen und vielmehr von »Städten und Kreativität« sprechen? Auf welche Art und Weise können wir die Verbindung zwischen Kreativität und Städten neu erzählen? Können wir uns auf andere Formen der Kreativität fokussieren, die durch die Räume der Stadt fließen, vom urbanen Leben gespeist werden und umgekehrt das Leben der Stadt in Schwung halten (*Queer)? Wie kann mit dem Großnarrativ der creative city mitsamt seinen überzogenen Erwartungen gebrochen werden? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss zuerst die narrative Struktur hinterfragt werden, der zufolge es jetzt an der Zeit sei, die Städte durch Kreativität zu retten und ihre Entwicklung zu befeuern. Diese Art historischer Kurzsichtigkeit bedient nämlich nur die ihr zugrunde liegende Dringlichkeit nach dem Ausbau der Beratungsindustrie. Stattdessen sollten wir dieses Narrativ kritisch hinterfragen und überlegen, ob Städte nicht schon immer Räume waren, in denen Neues aufgrund ihrer Diversität und Heterogenität möglich war. So brauchen wir uns nur Peter Halls urbanen Epos Cities and Civilization zuwenden, einer historischen Analyse, die zeigt, dass schon immer spezifische Städte zu spezifischen Zeiten als Horte der Kreativität und Räume der Innovation fungierten. Athen und Rom mögen als frühe Beispiele solcher Städte als kreative Plattformen gelten, später dann Amsterdam mit seinem »Gouden Eeuw« (Goldenen Zeitalter) oder auch Paris mit seiner »Belle Époque«. Allerdings hat Hall (1999) zufolge alles seine Zeit, und Städte können ihre kreative Essenz verlieren, ohne dass diese durch einfache und übereilte Maßnahmen zurückerlangt werden könnte. Und noch wichtiger erscheint Halls Erkenntnis, dass ein kreatives urbanes Milieu mit sozialen und intellektuellen Turbulenzen einhergeht und dementsprechend alles andere als angenehme Wohlfühlorte produziert. Kreativität setzt viel eher einen spannungsreichen Austausch zwischen nicht festgelegten ›Klassen‹ voraus als das Auftreten einer neuen und elitären kreativen Klasse. Trotz alldem diente Peter Hall als Inspiration und akademischer Unterbau für Floridas und Landrys Ideen der kreativen Stadt und ihrer Politik der Hoffnung und des Optimismus. So sprang Hall, der das Vorwort zu Landrys und Biachinis Buch The Creative City schrieb, auf den Zug der kreativen Stadt auf und argumentierte, dass die zentrale Frage jetzt die nach dem kreativen Funken zur Erneuerung des städtischen Lebens sei (vgl. Hall 1999, 23). Vor diesem Hintergrund bedarf es einer Erneuerung der (modernistischen) historischen Perspektive durch eine Metareflexion und ein verändertes sozial-theoretisches Verständnis von Städten und Kreativität. So plädierte kürzlich eine interdisziplinäre Forschungsgruppe für eine Historisierung und

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Kontextualisierung des Verhältnisses von Städten und Kreativität und somit für eine Problematisierung der wichtigsten ideologischen und epistemologischen Fundamente des Nexus von Kreativität und Stadt (vgl. Van Damme/De Munck/Miles 2018). Da hier mit übermäßig deterministischen, ahistorischen und essentialistischen Ansätzen gebrochen wird, erscheint das Konzept der kreativen Stadt nicht länger als stabile Einheit, sondern als weit flüchtigeres Phänomen, das aus komplexen und heterogenen Prozessen entsteht und stets im Werden begriffen ist. Gestützt auf die so genannte Akteur-Netzwerk-Theorie und einem neomaterialistischen Verständnis urbanen Lebens bezeichnen die Autoren das Handlungsvermögen von Städten als »eine gut gemachte und kaum durchschaubare Makrostruktur« (ebd., 17, Übers. C.M./C.S.) und widmen sich den Prozessen, die Städte als natürliche Brutstätten der Kreativität haben erscheinen lassen: »Indem die Stadt als verdinglichte und erkennbare Humanökologie verstanden und untersucht wurde, [...] verbreitete sich während des 19. und 20. Jahrhunderts die Vorstellung, dass Städte handelende Dinge seien, dass sie Sachen machen, und vor allem, dass sie Innovation, Kreativität und Wandel erzeugen« (ebd., 16 f., Übers. C.M./C.S.). Die kreative Stadt, verstanden als Ausdruck eines sich wandelnden und instabilen urbanen Gefüges, erfordert daher einen Fokus auf die singulären, partikularen, alltäglichen Praktiken des urbanen Lebens. So mögen wir uns etwa anderen Orten als dem Opernhaus von Sydney zuwenden und tief in die Vielzahl der verschiedenen Stadtteile eintauchen. Ausgehend von Michel de Certeaus Idee, sich von einer panoptischen Perspektive auf die Stadt abzuwenden (die er mit Blick auf New York, vom 110ten Stockwerk des damaligen World Trade Centers blickend, entwarf), müssen wir uns von den hochtrabenden Ansichten verabschieden, die die Stadtplanerinnen und Berater der kreativen Stadt vertreten haben. Stattdessen könnten wir uns den »gewöhnlichen Benutzer[n] der Stadt« anschließen, die »unten« leben, »jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, die Wandersmänner (Silesius), deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können« (de Certeau 1988, 181 f.). Durch die Straßen treibend gewinnen wir vielleicht Einsichten in die kreativen Mittel und Wege, durch die Praktikerinnen im urbanen Raum Pläne aushecken und ihre Leben meistern. Urbane Kreativität würde so von ihrem Thron gehoben und dennoch nicht verschwinden. Sie würde als alltagspraktische Version ihrer selbst wiederauftauchen, geladen mit jenen Affekten und Atmosphären, die das Leben der Stadt in Schwung halten.

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Literatur de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Dorling, Danny (2017): »The New Urban Crisis by Richard Florida Review – ›Flawed and Elistist Ideas‹«, in: The Guardian, 26.09.17. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class, Cambridge, MA: Basic Books. Florida, Richard (2017): The New Urban Crisis, Cambridge, MA: Basic Books. Hall, Peter (1999): Cities in Civilization. Culture, Innovation, and Urban Order, London: Phoenix Giant. Landry, Charles (2000): The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators, London: Earthscan. Landry, Charles/Bianchini, Franco (1995): The Creative City. London: Demos. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Van Damme, Ilja/De Munck, Bert/Miles, Andrew (2018): Cities and Creativity from the Renaissance to the Present, London: Routledge.

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Ausgerechnet im Design – in einem Tätigkeitsfeld, das wie kaum ein anderes das von Andreas Reckwitz beschriebene Kreativitätsdispositiv zu verkörpern scheint – ist die Absenz eines kritischen Kreativitätsbegriffs augenfällig. Obwohl zahlreiche Studien, wie etwa Guy Juliers Studie Economies of Design (2017), die von Reckwitz untersuchte Verzahnung von Ästhetik und Ökonomie gerade für den Designbereich bestätigen, ist die kritische Reflexion des Phänomens ›Kreativität‹ dort eher die Ausnahme als die Regel. In der Designausbildung und -praxis oszillieren Kreativitätskonzepte häufig immer noch zwischen naturalistisch-affirmativen Auffassungen einerseits oder pauschaler Abwertung andererseits. Beide Tendenzen führen im Endeffekt gleichermaßen dazu, dass über die Kreativitätsthematik im Design kaum geredet wird – geschweige denn, dass sie in einer historisch-kritischen Weise für die Disziplin aufgearbeitet und reflektiert wird. In der ersten, naturalistisch-affirmativen Auffassung wird ›Kreativität‹ von den Akteuren kurzerhand als ›naturgegebenes‹ Talent oder als immanente Komponente des Entwurfsprozesses vorausgesetzt, was jede weitere historische Erörterung zu erübrigen scheint. Die zweite ebenso geläufige Auffassung besteht darin, Kreativität als eine triviale Kategorie zu diskreditieren, über die es sich im Kontext von Design schlichtweg nicht zu reden lohnt. Sie wendet sich, zumindest im deutschsprachigen Raum, oftmals gegen den kulturellen Import des Kreativitätsbegriffs aus den USA in der Nachkriegszeit, dem eine Trivialisierung und kommerzielle Utilitarisierung des Kreativitätskonzepts vorgeworfen wird. Bemerkenswerterweise findet sich auch im deutschsprachigen Raum eine fast gleichlautende Kritik für den ebenfalls in den Nachkriegsjahren aus den USA importierten Designbegriff. Auch diesem werden mitunter ästhetische Beliebigkeit, Trivialisierung und kommerzieller Utilitarismus unterstellt, was dazu führt, dass der deutsche Begriff ›Gestaltung‹ dem englischen Begriff ›Design‹ gern vorgezogen wird. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass der Kreativitätsbegriff gerade im Designbereich zahlreiche negative Reflexe auslöst, die in einer allgemeineren, symptomatischen Lesart als Angst

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vor einer Vergesellschaftung bzw. Entfremdung und Entzauberung individueller schöpferischer Praxis gedeutet werden können (*Künstler). Bezeichnend für die Ambivalenz und das Unbehagen, die mit dem Thema ›Kreativität‹ im Design verbunden sind, ist eine Aussage von Tim Marshall in einem Designwörterbuch zum Thema ›Kreativität‹: »Kreativität ist für Designer und Design-Theoretiker schon immer ein uneindeutiger Begriff gewesen und gilt zunehmend [...] als problematisch« (Marshall 2008, 247). Designer aller möglichen Richtungen würden es vermeiden, so Marshall weiter, »Begriffe wie ›kreativ‹, ›einfallsreich‹ oder ›inspiriert‹ zur Beschreibung ihrer Prozesse zu verwenden«, demgegenüber werde Kreativität seitens der Unternehmen jedoch als »unerlässlich für designbasierte Innovationen« gehandelt (ebd., 248). Marshalls Aussage adressiert ein Spannungsfeld, das sich auftut zwischen der von Reckwitz diagnostizierten wachsenden gesellschaftlichen, vor allem aber ökomischen Bedeutung des Kreativitätsbegriffs einerseits und dem Widerstreben vieler Designschaffender andererseits, ihr professionelles Tun und Selbstverständnis als einen immanenten Bestandteil dieses Kreativitätsdispositivs zu begreifen. Zu beobachten ist mithin ein fast aussichtloser Spagat, die Designpraxis rund um den verpönten, ökonomisch überfrachteten und gesellschaftlich nivellierten Kreativitätsbegriff weiterhin als eine exklusive, individuelle schöpferische Tätigkeit zu behaupten.

Von implizitem Wissen und verdrängter Geschichte Als eine Strategie, um die Designpraxis gegen die vermeintlich drohende Trivialisierung und Unterwanderung durch utilitaristische Kreativitätskonzepte zu verteidigen – die Reckwitz zufolge freilich längst schon stattgefunden hat –, bietet sich eine Verlagerung der diskursiven Fronten an. Zu beobachten ist, dass sowohl in der Designausbildung als auch in der Designforschung vorzugsweise von ›Wissen‹ anstatt von ›Kreativität‹ gesprochen wird. Spezifischer noch ist von einem impliziten Wissen der Designpraxis die Rede. Seit den 1960er Jahren, die einen Verwissenschaftlichungsschub der Designdisziplinen mit sich brachten, wird Design zunehmend unter epistemologischmethodologischen Vorzeichen diskutiert. Die Debatten konzentrieren sich vor allem auf den Prozess des Entwerfens, aus dem – so die Leithypothese – nicht nur innovative Ideen und Produkte, sondern ebenso neue Erkenntnisse und Einsichten, also neues Wissen, hervorgehen könne. Während zu Beginn der Wissensdebatten in den 1960er Jahren der Schwerpunkt noch klar auf einer rationalen Durchdringung und objektiven Darstellung von Entwurfsprozessen lag, hat sich die Ausrichtung dieser Debatte seitdem stark verändert. Im Zentrum der jüngeren Debatten stehen nun überwiegend Wissenskonzepte, die dem erfahrungsbasierten impliziten Wissen und Können der entwerferischen Praxis Rechnung tragen wollen. Konzepte wie »implizites Wissen« (Michael

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Polanyi), »reflection in action« (Donald Schön), »designerly ways of knowing« (Nigel Cross), »design thinking« (Peter Rowe) oder »research through design« (Christopher Frayling) bilden den diskursiven Wandel vom expliziten Wissen hin zum impliziten Können im Design beispielhaft ab. Als maßgebliche Eigenschaften eines solchen designspezifischen Wissens werden gemeinhin folgende Punkte genannt: die Konzeption und Realisierung von neuen Dingen, ein auf Modellen und Szenarien basierendes Möglichkeitsdenken und Zukunftshandeln, ein praxis- und lösungsorientierter Umgang mit schlecht strukturierten Problemen (wicked problems) sowie die Entwicklung nonverbaler (materialer, visueller) Kommunikationsformen (vgl. Cross 2006, 1-12). Obwohl die Idee, Design als eine praxisgeleitete, dritte Wissenskultur zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften zu verorten (ebd., 1), durchaus bedenkenswert ist, birgt dieser Ansatz doch auch die Gefahr, virulente historische und gesellschaftliche Zusammenhänge – wie namentlich das Zusammenspiel von Design und Ökonomie im Rahmen des Kreativitätsdispositivs –  auszublenden und einer weiteren Mystifizierung der entwerferischen Praxis im Rahmen einer »Epistemologie des Unausgesprochenen« (Mareis 2012) zuzuarbeiten. Je mehr Entwurfsprozesse als wissensbasierte, epistemische Prozesse propagiert werden, wie dies insbesondere (aber nicht erst) seit der Umsetzung des Bologna-Systems an vielen Kunsthochschulen der Fall ist, desto weniger scheint es für die betreffenden Akteure notwendig zu sein, diese Prozesse auch einer historisch-kritischen (Re-)Lektüre von Kreativitätsstereotypen zu unterziehen. Durch den Zusammenschluss von Designund Wissensdiskursen (vgl. ebd.) findet nicht nur eine Nobilitierung des Faches statt, sondern die Ausblendung historischer Zusammenhänge sowie die mangelnde Kontextualisierung von Designpraktiken und -kulturen innerhalb ökonomischer Markt- und Produktionslogiken werden dadurch sogar eher befördert. Der Designtheoretiker Clive Dilnot kritisierte unlängst, dass mit dem zunehmenden Hype um Designforschung und Design Thinking ein Schwinden des ohnehin schwach ausgeprägten Geschichtsbewusstseins im Design offensichtlich werde: »History has all but disappeared from thinking design, and certainly from ›design research‹ – which today acts as if it is in a permanent state of forgetfulness about what actually constitutes and forms ›design‹ historically as we receive it (the forces, powers and relations determining it.)« (Dilnot 2015, 150 f.) Dilnot zufolge ist diese Problematik nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die Designforschung sich zunehmend an einem simplifizierenden, quasi-natur- oder technikwissenschaftlichen Modell von Forschung orientiere und sich vor allem um die Definition und oberflächliche Lösung von Designproblemen bemühe – ohne diese Probleme jedoch selbst in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen (vgl. ebd., 151). Anders formuliert, werden weder die disziplinären Selbstverständnisse noch die vermeintlich ›designspe-

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zifischen‹ Praktiken und Methoden in Frage gestellt, mit denen diese (oft erst durch das Design erzeugten) Probleme bestimmt und angegangen werden. Auch kann der Begriffs- und Perspektivenwechsel, der paradigmatisch von der Kreativ- zur Wissensarbeit im Design überleiten soll, nur vordergründig überdecken, dass die Designtätigkeit stärker denn je einem normativen »Regime des Neuen« (Reckwitz 2012, 12) unterworfen ist, das der routinemäßigen Erzeugung von innovativen Objekten, Subjekten und Affekten zuarbeitet (*Ästhetischer Kapitalismus, *Innovation). Der Topos, das Entwerfen bestehe ›im Kern‹ aus der Hervorbringung neuartiger, innovativer Dinge, hat die Verwissenschaftlichungsversuche, denen die Designdisziplin im Verlauf des 20. Jahrhunderts unterzogen wurde, nicht nur nahezu unbeschädigt überdauert, sondern wurde dadurch eher noch verstärkt. Gegenwärtig lebt der Topos des Neuen insbesondere im Modell der praxisgeleiteten Designforschung unter veränderten Vorzeichen weiter fort. Als wichtigstes Ziel dieses Forschungsansatzes wird die Hervorbringung von innovativem, problem- und praxisorientiertem Wissen mit den Mitteln und Methoden der entwerferischen Praxis genannt. Die Vorstellung eines ›Anwendungskontextes‹, für den Wissen effizient und passgenau entworfen werden soll, spiegelt indes nicht nur ein verändertes Verständnis von Design als epistemische Praxis wider, sondern verweist grundlegend auf ein problematisches ökonomisch-utilitaristisches Verständnis von Wissenschaft und Wissen. Unter dem programmatischen Stichwort eines design turn (Schäffner 2010) ist der Designbegriff mittlerweile auch in den Geistes-, Natur- und Technikwissenschaften angekommen und leitet dort die Erforschung von Herstellungsund Fertigungsverfahren wissenschaftlicher Wissensproduktionen aus einer dezidierten Entwurfsperspektive an. Der Designbegriff wird neuerdings im Kontext von interdisziplinären Wissenslaboren ebenso diskutiert wie mit Blick auf Entwicklungen in der Nanotechnologie oder der synthetischen Biologie. Er hat sich somit von einem Paradigma der industriellen Produktion zu einem basalen epistemischen Konzept gewandelt und ist im Herzen der Forschung angekommen. Pointiert formuliert und mit Blick auf Andreas Reckwitz’ Thesen weitergedacht, wird durch den Trend zur Vermengung von Design und Wissensproduktion nicht nur die Dimension der Ästhetik, sondern auch der Epistemologie zunehmend der Produktionslogik des Kreativitätsdispositiv einverleibt.

Design und Neoliberalisierung Wie das Zusammenspiel von Design und Ökonomie vor dem Hintergrund kapitalistischer und neoliberaler Tendenzen kritisch aufgearbeitet werden kann, hat der Designhistoriker Guy Julier kürzlich in seinem Buch Economies of Design demonstriert. Julier zeichnet darin nach, wie sich die Designprofession

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in den letzten Jahrzehnten fortlaufend weiter ausdifferenziert hat, wodurch immer mehr gesellschaftliche Bereiche zum Gegenstand von Designinterventionen geworden sind. Waren in den 1970er Jahren noch Grafikdesign, Industriedesign oder Modedesign die gängigen Anwendungen von Design, kamen mit der Zeit immer weitere Spezialisierungen und umfassendere Aufgabenfelder hinzu, wie etwa Interactiondesign, strategisches Design, nutzerorientiertes Design, nachhaltiges Design, politisches Design oder soziales Design (vgl. Julier 2017, 5). Der wachsende globale Güter- und Informationsverkehr, die fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung durch mobile Technologien trugen ihr Übriges dazu bei, um den globalen Einflussbereich von Design stetig zu vergrößern (vgl. ebd., 6). Kurzum: Design hat sich von einem westlich-industriellen zu einem globalen neoliberalen Phänomen ausgeweitet Bezeichnend für die Verzahnung von Design und neoliberaler Wirtschaftspolitik ist, dass mit ›Design‹ nicht nur die fertigen Konsumgüter gemeint sind, sondern vielmehr die umfassende Gestaltung von Prozessen, Services, Marken, Institutionen, Strategien des Verkaufs und *Konsums. In diesem Zusammenhang kommt dem mit Design assoziierten Versprechen auf zukünftige Wertsteigerung eine bedeutende Rolle zu: »[I]n many contexts design has taken up a role not just in providing goods and services to satisfy current requirements, but has increasingly functioned to indicate sources of future value.« (ebd., 6; *Valorisierung) Auf einer symbolischen Ebene sei Design im Kontext des neoliberalen Systems vor allem dazu da, so Julier, um Dinge »in potentia« vor- und darzustellen. Design materialisiere das Mögliche und spiele in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle, um Investitionen und intendierten Wandel machbar und vernünftig erscheinen zu lassen (vgl. ebd., 3). Wie ich bis hierhin dargelegt habe, wird Design sowohl in epistemischen als auch ökonomischen Zusammenhängen zunehmend als problem- und praxisorientierte Wissenskultur beschrieben, die der Konzeption und Realisierung noch nicht existierender Dinge im demo mode, also mittels Szenarien, Modellen und Simulationen zuarbeiten soll. Design wird in dieser Lesart als ein adaptiver Modus des Zukunftsmanagements par excellence bewertet, der für die Bereiche der Wissens- als auch Güterproduktion gleichermaßen genutzt werden kann. Diese Erwartung wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass Designmethoden und -logiken, wie etwa der Ansatz des Design Thinking, als besonders geeignet angepriesen werden, um mit schlecht strukturierten Problemen, Situationen mit begrenztem Wissen und Krisen umzugehen. Genau diese unscharfe Gemengelage an Attributen und Erwartungen macht es möglich, dass das Konzept von ›Design‹ heutzutage ebenso mühelos für neoliberale Bestrebungen zur Vermarktung zukünftiger Risiken und Chancen genutzt werden kann, wie es gegenwärtig auch im Kontext von Resilienz und Krisenmanagement aufgegriffen wird. Robert Cowley zufolge zeichnen sich

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sowohl die Konzepte ›Resilienz‹ als auch ›Design‹ durch ihre konzeptuelle Unschärfe und Offenheit aus (vgl. Cowley 2018). Darüber hinaus würden in beiden Konzepten die Grenzen zwischen Prozess und Gegenstand, zwischen Aktivität und Ergebnis des Problemlösens konstant verschwimmen. Schließlich würde für beide Konzepte, so Cowley weiter, eine Kompetenz im Umgang mit schlecht strukturierten Problemen und Krisenlagen reklamiert, die auf einen Zustand der stetigen Adaption an Krisenhaftigkeit hinauslaufe (vgl. ebd., 4). Die beschriebene Konvergenz zwischen Design und Resilienz ist gegenwärtig besonders virulent, da sich das optimistische Versprechen der Resilienz im neoliberalen Regime zunehmend als Normalisierung und Ökonomisierung von Unsicherheit und Krisenhaftigkeit entpuppt (*Naturalisierung). Spekuliert wird nicht allein mit Immobilien und Rohstoffen, sondern ebenso mit künftigen Gesellschafts- und Umweltkrisen. Vor diesem Hintergrund befördern Design- und Kreativitätsmethoden – allen voran Design Thinking – nicht einfach bloß ›soziale Innovationen‹, wie uns gerne suggeriert wird, sondern sie arbeiten vielmehr auch der ökonomischen Nutzbarmachung von Krisenhaftigkeit zu. In dem Maß, wie ungewisse Zukünfte als Designprobleme projektiert werden, steigt auch das Interesse daran, diese Ungewissheit als tendenziell vermarktbare ›Ressource‹ zu vermehren (*Imagineering). Im Trend, ungewisse Zukünfte, Transformationen und Krisen zunehmend als Designproblem zu rahmen und mittels Design- und Kreativitätsmethoden (*Kreativitätstechniken) zu behandeln, tritt die Virulenz des von Andreas Reckwitz beschriebenen Kreativitätsdispositivs mit einer besonderen Deutlichkeit zu tage.

Literatur Cowley, Robert (2018): »Resilience and Design: An Introduction«, in: Resilience, Forum: Resilience & Design 6(1), S. 1-34. Cross, Nigel (2006): Designerly Ways of Knowing, London: Springer. Dilnot, Clive (2015): »History, Design, Futures: Contending with What We Have Made«, in: Tony Fry/Clive Dilnot/Susan C. Stewart (Hg.), Design and the Question of History, London: Bloomsbury Academic, S. 131-271. Julier, Guy (2017): Economies of Design, London: Sage Publications. Mareis, Claudia (2012): »The Epistemology of the Unspoken. On the Concept of Tacit Knowledge Within Contemporary Design Research«, in: Design Issues 28(2), S. 61-71. Marshall, Tim (2008): »Kreativität«, in: Michael Erlhoff/Tim Marshall (Hg.), Wörterbuch Design. Begriffliche Perspektiven des Design, Basel: Birkhäuser, S. 247-248. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Schäffner, Wolfgang (2010): »The Design Turn. Eine wissenschaftliche Revolution im Geiste der Gestaltung«, in: Claudia Mareis/Gesche Joost/Kora Kimpel (Hg.), Entwerfen, Wissen, Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext, Bielefeld: transcript Verlag, S. 33-46.

Dispositiv Sverre Raffnsøe

Andreas Reckwitz diagnostiziert das »Auftauchen eines Dispositivs der Kreativität [...], das zugleich eine spezifische gesellschaftliche Ästhetisierungsweise darstellt« (Reckwitz 2012, 51). »In seiner seit den 1980er Jahren entfalteten Form« umfasst dieser »Kreativitätsdispositiv« »Prozesse und Arrangements in unterschiedlichen sozialen Feldern, die sich zunächst zu großen Teilen unabhängig voneinander entwickelt haben, sich mit der Zeit vernetzen und immer wieder von hier nach dort ›diffundieren‹«, bis es »Elemente aus den ästhetischen Subkulturen, dem Kunstfeld, den postindustriellen Arbeitsformen, dem stil- und erlebnisorientierten Konsum, der Erziehung und den psychologischen Diskursen bezüglich menschlicher Kreativität, ebenso wie Philosophien des Vitalismus, Entwicklungen der Medientechnologien, die cultural regeneration im Städtebau und politische Maßnahmen zur Förderung kreativer Potenziale« einschließt (ebd.). Das Konzept des Dispositivs kann damit als eines der wichtigsten (oder gar das wichtigste) in Die Erfindung der Kreativität gelten. Es kennzeichnet den übergreifenden methodologischen Ansatz dieses Buches, dass das Dispositiv eingesetzt wird, um nicht allein den Kreativitätskomplex in seiner ganzen Reichhaltigkeit, sondern auch die langfristige historische Entwicklung bis zum Einsetzen des kreativen turns zu beschreiben (*Genealogie). Reckwitz hat hierfür ein Konzept von Michel Foucault übernommen und weiterentwickelt. Foucault hatte begonnen, seinen eigenen Fokus auf Sprache und Diskurs, wie er ihn z.B. in Die Ordnung der Dinge (1966) formuliert hatte, zu hinterfragen. In seinen Vorlesungen über Die Macht der Psychiatrie in den Jahren 1973-1974 am Collège de France stellte er erstmals Überlegungen an, wie das Konzept eines »Machtdispositivs« in Zukunft als methodologischer Ausgangspunkt einer radikal neuen Analyse dienen könnte, die Handlungsmuster jenseits einer Privilegierung der Repräsentation freilegen könne (vgl. Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2015, 191-207). In späteren Jahren, insbesondere in seinen Vorlesungen am Collège de France 1977-1979, systematisierte Foucault das Konzept des Dispositivs zu einem allgemeinen ana-

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lytischen Werkzeug. Das kam insbesondere der Analyse der Überwachung in Überwachen und Strafen (1975), in dem der Panoptizismus als Muster des disziplinären Dispositivs beschrieben wird, sowie der Diskussion des Sexualdispositivs in Sexualität und Wahrheit I (1976) zugute. Foucault hatte den Ehrgeiz, eine Systematik zu entwickeln, die es nicht nur erlaubte, Wissen mit Diskursen, Institutionen und Architekturformen, Gesagtem und Getanem zu verbinden, sondern die darüber hinaus als Gefüge auch selbst einen wesentlichen Einfluss auf das Gesagte ebenso wie das Ungesagte ausübt, auf das, was getan wird, ebenso wie auf das, was unterlassen wurde oder fehlgeschlagen ist (vgl. Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2016b, 278). Gilles Deleuze machte in der Folge mehrfach darauf aufmerksam, dass das Dispositiv retrospektiv als zentrales vereinheitlichendes Element in Foucaults Werk gelten könne. Der grundlegende Wert von Reckwitz’ Arbeiten besteht darin, dass sie Foucaults Dispositivkonzept in einer Weise produktiv anwenden, die neu und originell ist und dennoch Foucaults ursprünglichem Ansatz treu bleibt. In anderen Forschungen wird das Dispositiv als diagnostisches Werkzeug eingesetzt, das ein Verständnis von in unterschiedlichen Richtungen verlaufenden, übergreifenden und weit zerstreuten wechselseitigen Richtlinien ermöglicht, die sich in Interaktionen ausprägen und einen dauerhaften Einfluss auf diese Interaktionen nehmen. Wichtiger ist aber, dass solche Forschungen das Konzept der Freiheit als eines wesentlichen Antriebs der immanenten Dynamik des Dispositivs erhalten: In der Dispositivanalyse figuriert die Freiheit als unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit sozialer Interaktion, und dies nicht nur insofern, als dass ein Dispositiv durch Freiheit und Ungehorsam in stetiger Entwicklung begriffen ist, blüht, mutiert und sich zerstreut, sondern auch, weil das Dispositiv über die Fähigkeit verfügt, auf die Teilnehmer an sozialen Interaktionen dergestalt einzuwirken, dass sie zu bestimmten Verhaltensweisen neigen – anstatt ihr Handeln zu determinieren (vgl. Raffnsøe/GudmandHøyer/Thaning 2016b). Reckwitz gelingt es nun, in seiner Analyse des »Dispositivs der Kreativität« die Dispositivanalyse auf ein wichtiges Untersuchungsgebiet anzuwenden, dessen Beachtung und Durchdringung seitens Foucaults ihm unbefriedigend erschien (vgl. Reckwitz 2012, 16 f., FN 14). Gleichzeitig entwickelt er eine normative Systematik, die Freiheit nicht lediglich als impliziten, wichtigen Antrieb anerkennt, wie das in der Dispositivanalyse üblicherweise der Fall ist. Vielmehr erscheinen der Ruf nach und der Drang zur Überwindung von Hindernissen und Grenzen mit dem Ziel, sich zu emanzipieren und Neues zu erschaffen, im Kontext des Kreativitätsdispositivs geradezu als der Nukleus sozialer *Organisation. In der Folge davon mündet das Kreativitätsdispositiv in das Oxymoron des »Kreativitätsimperativs« (ebd., 15), in den auf den ersten Blick paradoxen Imperativ bzw. in die Verpflichtung zur freien Schöpfung und Erneuerung. Das Kreativitätsdispositiv führt nicht nur zu einer Institutionali-

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sierung der Freiheit, sondern es findet seine Apotheose in der Verkündigung der institutionalisierten Bestrebung und Verpflichtung zur Freiheit. Auf diese Weise wird anschaulich, was Reckwitz als gegenwärtiges und vorherrschendes »Doppel« bezeichnet: die Vereinigung von »Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ« oder von Wunsch, Wille und der Forderung nach Kreativität, welche »die gesamte Struktur des Sozialen und des Selbst der Gegenwartsgesellschaft« umfasst (ebd., 12 und 15). Ganz grundlegend offenbart diese Dispositivanalyse damit auch, dass eine neue Existenzstufe eine zentrale Rolle in der Organisation sozialer Beziehungen eingenommen zu haben scheint. Anstelle einer sozialen Ordnung, die sich auf den Verweis auf den Zustand des Faktischen (mit seinen vorgegebenen bekannten Maßnahmen, denen wir uns unterwerfen müssen) oder aber auf den Verweis auf den utopischen Zustand des Kontrafaktischen stützt (ein imaginierter Gegensatz, den wir erahnen und dem wir zu entsprechen versuchen, *Imagineering), ist es Reckwitz zufolge möglich, dass wir begonnen haben, eine verpflichtende soziale Ordnung auf einer faszinierenden Ebene zwischen diesen beiden Polen zu formulieren. Dies ist die soziale Bindung in Form einer Zukunft, die immer schon eintritt im Prozess einer fortwährenden Disruption und Transformation der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft. Dies impliziert, dass in der Modifikation unserer Handlungsfähigkeit und -bereitschaft die Realität rekonfiguriert wird (*Ko-Kreation). Diese Existenzstufe darf nicht einfach als das Mögliche gedacht werden, sondern sie stellt das Virtuelle in seiner Gegenwärtigkeit als Kraft dar (virtus) und macht sich selbst als etwas spürbar, das im und durch das Gegebene hindurch handelt. Dieser durch das Dispositiv gegebene Rahmen ist kontinuierlich wirksam, in jeder und durch jede Beobachtung, denn er bewirkt die Entfaltung und Überschreitung der Gegenwart in bestimmte vorgegebene Richtungen, die uns auf (vor-)bestimmte neue Arten und Weisen handeln, denken, ahnen und experimentieren lassen. Reckwitz wählt einen höchst geeigneten analytischen Ansatz zur Beschreibung dieser neuen sozialen Ordnung und offenbart darin sein scharfsinniges Urteil. Implizit hebt er damit die Dispositivanalyse auf die nächsthöhere Ebene. Gleichzeitig gelingt es ihm zu zeigen, wie die Dispositivanalyse mit ihrem Fokus auf Freiheit und Kreativität als unhintergehbare Bedingungen des Möglichen es erlaubt, die These von der »Hervorbringung von Neuem als bevorzugtem Dauerzustand« (ebd., 39) mittels einer beeindruckenden Analyse in unterschiedlichen, breit gestreuten Kontexten zu untersuchen – etwa in der Kunst der Moderne, in postindustriellen Prozessen der *Arbeit und Wertschöpfung (*Valorisierung) oder in disruptiven Entwicklungen von Medientechnologien (*Computer, *Performativität). Doch wo der analytische Ansatz mit dem Untersuchungsgegenstand in solch einem Ausmaß konvergiert, dass Freiheit und der Drang zur freien

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Schöpfung wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen, zeigen sich auch neue, interessante Defizite und Mängel in solch einem Ausmaß, dass sie zu drängenden Problemen werden, die der weiteren Untersuchung wert sind. Wie können wir die hartnäckige und unaufhörliche Faszinationskraft des Kreativitätsdispositivs erklären? Wie ist es möglich, dass das Kreativitätsdispositiv nicht nur die Macht hat, dauerhaften Einfluss auf Menschen auszuüben und bei ihnen Verhaltensweisen auszulösen, die sie ohne es womöglich nicht gezeigt hätten, sondern dass dieses Dispositiv auch fähig ist, sich selbst unablässig und immer wieder von Menschen aktiv affirmieren zu lassen? Wie und in welcher Weise kann das Doppel von Verpflichtung und Wunsch als bindend gedacht werden? Kraft welcher Macht ist das Kreativitätsdispositiv in der Lage, als eine bindende soziale Ordnung einen bestimmenden Einfluss darauf auszuüben, wie Menschen handeln und fühlen, und sogar darauf, wie sie sich die Zukunft vorstellen? Es mag seltsam erscheinen, solche Fragen zu stellen – nicht zuletzt, weil sie doch schon beantwortet zu sein scheinen. Man kann die komplette historische Linie, die Die Erfindung der Kreativität beschreibt, eigentlich als einen Versuch lesen, die Faszinationskraft und bindende Macht des Kreativitätsdispositivs zu erklären. Im Rückblick könnte Reckwitz daher sein gesamtes Unterfangen als Versuch einer Antwort auf diese Frage konstruieren: »Wie ist es dem Kreativitätsdispositiv gelungen, sich durchzusetzen?« (ebd., 333) Bei genauerem Hinsehen indes konzentriert sich die »Genealogie des Kreativitätsdispositivs« zuallererst auf die Fragen nach dem Wie – wie dies so häufig in genealogischen Beschreibungen der Fall ist (*Genealogie) oder auch in sozialkonstruktivistischen historischen Untersuchungen. Dementsprechend gelingt Reckwitz eine höchst detaillierte und umfassende Erklärung des Entstehens und der Verbreitung von verschiedenen Elementen des Kreativitätsdispositivs, verknüpft mit, im Widerspruch zu oder in Kompensation für andere entscheidende Merkmale der Moderne. Doch in der Folge von Reckwitz’ umfassender und detaillierter Untersuchung des Wie der fortlaufenden Verbreitung des Kreativitätsdispositivs treten Fragen nach dem Wozu und dem Warum eher in den Hintergrund. Es bleibt nicht selten rätselhaft, was die um sich greifende »Kolonialisierung des Nichtästhetischen«, die alternativ orientierte soziale Praktiken zugunsten der eindimensionalen Kriterien des Ästhetischen entwertet (ebd., 354; *Ästhetisierung), denn antreibt und motiviert, während die historische Entwicklung von einer Stufe zur nächsten übergeht. Dies gilt besonders für die gegenwärtige Entwicklungsstufe der »Hegemonialphase« seit den 1980er Jahren (ebd., 51). So scheint Reckwitz’ Darlegung, wie es dem »Kreativitätsdispositiv gelungen [ist], sich [als natürliche und unausweichliche Ordnung] durchzusetzen« (ebd., 333) und sich fortwährend als ständig präsente und unvermeidliche Macht aufrechtzuerhalten und zu behaupten, zuweilen einen geschlossenen,

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zirkulären und selbstreferenziellen Charakter anzunehmen. Was sich im Rückblick auf die historische Entwicklung beobachten und nachweisen lässt, sind Vorläufer und die Bestätigung einer unaufhörlichen Durchsetzung und Demokratisierung des Kreativen in der Gegenwart. Gleichermaßen ist das, was in der Gegenwart beobachtet und nachgewiesen kann, vor allem die nicht hinterfragbare Bestätigung der zugeschriebenen Kreativität des Neuen, deren Entstehung in der Geschichte bezeugt und erfahren wurde. Dementsprechend mag das Verhältnis des diagnostizierten Kreativitätsdispositivs zu seiner vergangenen Geschichte wie auch zu seiner unmittelbaren und ferneren Zukunft in erster Linie von Trägheit gekennzeichnet sein. Implizit besteht die vorausgesetzte natürliche Tendenz des Kreativitätsdispositivs darin, dass es sich gleichmäßig fortbewegt, sofern es nicht von einer externen Kraft verändert wird. Doch insbesondere da Dispositive im Allgemeinen ständig durch die Freiheit beeinflusst werden und das Kreativitätsdispositiv im Besonderen Freiheit und Disruption gerade ins Zentrum der sozialen Ordnung stellt, kann das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit und zur Zukunft kaum vollständig mit einer impliziten Hume’schen Annahme von Brauch oder Gewohnheit als dem entscheidenden Treiber menschlichen Verhaltens ›erklärt‹ werden. Anstatt also eine natürliche Neigung zur Wiederholung identischer Vorgehensweisen anzunehmen, formuliert die Dispositivanalyse als eine Analyse des Verhaltens von Handlungsweisen eine differenzielle Struktur. Mit ihrem Fokus auf eine Gegenwartsdiagnose macht die Dispositivanalyse nur umso manifester, dass die Vergangenheit niemals tot ist. Mit William Faulkner lässt sich gar behaupten, dass sie »nicht einmal vergangen« ist. Die Vergangenheit ist hier weniger eine Last, die wir entweder mit uns tragen oder zurücklassen, als vielmehr eine Macht, die beharrlich das Bestehende reaktiviert, das uns in Richtung eines noch unerreichten ›noch nicht‹ antreibt. Was überraschend erscheint und nach Erläuterung verlangen mag, befindet sich also jenseits der ewigen Tendenz zur Wiederholung. Woran liegt es, dass Gegenwart wie auch Geschichte trotz allem dazu tendieren können – in den Worten von René Char (1907-1988) – »eine lange Reihe von Synonymen für die gleiche Vokabel« zu werden, besonders wenn doch der Ausdruck und die Erschaffung des Neuen als wesentliches, monumentales Unterfangen anerkannt wird? Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Dietrich.

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Literatur Foucault, Michel (1975): Surveiller et punir, Gallimard: Paris (dt. Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977). Foucault, Michel (1976): La volonté de savoir, Gallimard: Paris (dt. Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005). Foucault, Michel (2008): The Birth of Biopolitics: Lectures at the Collège de France 1978-79, Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan (dt. Die Geburt der Biopolitik Vorlesungen am Collège de France 1978/1979. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006). Raffnsøe, Sverre/Gudmand-Høyer, Marius/Thaning, Morten S. (2016a): Michel Foucault: A Research Companion. Philosophy as Diagnosis of the Present, New York/Basingstoke: Palgrave. Raffnsøe, Sverre/Gudmand-Høyer, Marius/Thaning, Morten S. (2016b): »Foucault’s Dispositive: The Perspicacity of Dispositive Analytics in Organizational Research«, in: Organization 23(2), S. 272-298. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

Entkunstung Vincent Kaufmann

Nicht zu unterschätzen ist der Beitrag der Avantgarden, insbesondere derjenigen, die sich in den 1960er Jahren durchsetzten, zur Entwicklung der durch Andreas Reckwitz beschriebenen »Kreativitätsgesellschaft«, wobei dieser Beitrag auch als Paradox einzustufen ist bzw. auf ein zentrales Paradox der Erfindung der Kreativität hinweist. Wie Reckwitz schreibt, soll »die einstmals elitäre und oppositionelle Orientierung am Kreativen allgemein erstrebenswert und zugleich für alle verbindlich« werden (Reckwitz 2012, 15). Damit geht diese Entwicklung grundsätzlich Hand in Hand mit dem, was Adorno 1953 in einem Aufsatz zum Jazz als Entkunstung bezeichnet hat. Allerdings geht es hier nicht mehr um eine Entkunstung, die wie bei Adorno auf das Konto der Industrialisierung der Kultur geht und sich als solche eher als das Gegenteil von Kreativität deuten ließe, sondern um eine ›demokratische‹ Entkunstung, deren Horizont während des größten Teils des 20. Jahrhunderts das kommunistische Ideal vieler Avantgarden blieb bzw. als ein Ideal des demokratischen Umganges mit kulturellen Artefakten zu verstehen ist. Gemäss dem in der (französischen) Geschichte der Avantgarden hochgepriesenen Dichter Isidore Ducasse (1846-1870), auch als »Comte de Lautréamont« bekannt, soll die Poesie für alle gemacht werden und, könnte man ergänzend sagen, von allen. Was ist damit genau gemeint? Bei der retrospektiven Einschätzung der historischen Avantgarden (von Dadaismus über Surrealismus bis Situationismus usw.) kann man grundsätzlich zwei Perspektiven einnehmen. Einerseits lässt sich feststellen, dass sich die Avantgarden in den maßgebenden Feldern der Kunst oder der Literatur als Klassiker etabliert haben und nun mehr oder weniger fromm zelebriert werden. Mit diesem Erfolg kann man sich zufriedengeben, man kann es begrüßen, dass die Avantgarden mittlerweile wie alle anderen Künstler oder Autoren ihren Platz in der Kunst- oder Literaturgeschichte gefunden haben. Oder man sieht wie z.B. Peter Bürger (1974) gerade in diesem Erfolg und der damit verbundenen Normalisierung der Avantgarden den Beweis, dass sie grundsätzlich mit ihren revolutionären Ansprüchen gescheitert sind. Andererseits kann man aber auch versuchen, die ›Erbschaft‹

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der Avantgarden nicht an ihrer Anerkennung durch die Museen (*Museum) und Bibliotheken zu messen oder diesen Erfolg als Beweis eines Scheiterns zu interpretieren, sondern an ihrer Fähigkeit, die Grenzen zwischen ›Kunst‹ und ›Nicht-Kunst‹ zu bewegen oder, um es in Chantal Mouffes Begriffen auszudrücken, an ihrer Fähigkeit, sich in exogene Felder zu begeben (vgl. Mouffe 2007). Welche von diesen beiden Perspektiven ist grundsätzlich vorzuziehen? Denkt man die Problematik wirklich durch, sollte sich die Frage gar nicht stellen. Die in den Museen auf bewahrten Relikte der Avantgarden faszinieren uns vor allem als Spuren einer mythischen, erlebten ›Poesie‹, die nur mit dem Ausbrechen aus den traditionellen Feldern der Kunst oder der Literatur entstehen konnte. Zumindest ist das die hier vertretene These: Die Avantgarden sind einerseits ohne den Vektor der Entkunstung oder der Exogenität undenkbar, sind aber andererseits ohne die Existenz von konkreten kulturellen Artefakten durchaus denkbar, wie es die Beispiele des Dadaismus und des Situationismus zeigen. Schließlich geht es hier um avantgardistische Bewegungen, bei denen über längere Zeit keine Werke entstanden sind oder die sogar durch ihren ausdrücklichen Verzicht auf konkrete kulturelle Artefakte gekennzeichnet sind bzw. es gerade durch diesen Verzicht zu einer mythischen Aura geschafft haben. In diesem Sinne ist es für das Verständnis der Avantgarden zentral, dass man dabei von der Exogenität, von einer Axiomatik der Entkunstung ausgeht, von der anzunehmen ist, dass sie auch zu einem besseren Verständnis der Dynamik der Kreativität führt bzw. als deren Bedingungsmöglichkeit zu verstehen ist. Eine solche Axiomatik lässt sich auf die folgenden sechs Axiome herunterbrechen. 1. Alles lässt sich als Kunst einordnen. Das ist das grundlegende Axiom der ›demokratischen‹ Entkunstung, das sich in der Geschichte der Avantgarden von Duchamps Pissoir bis zu der Gruppe Fluxus verfolgen lässt. In der Gegenwart sind die Wirkungen des Axioms sowohl in der Kulturpolitik von zahlreichen Staaten zu beobachten, insbesondere in Frankreich, wo mit der durch den Kulturminister Jack Lang eingeläuteten Demokratisierung der Kulturpolitik ab 1981 alle möglichen Formen von ›Kleinkunst‹ (Comics, Rap-Musik, Breakdance usw.) als Kunst legitimiert worden sind, wie auch auf zahlreichen digitalen Plattformen wie YouTube oder Wattpad, auf die Millionen Künstler und Autoren ihren Kreativitätsanspruch sozusagen hochladen (*Pop). Bei den Avantgarden hat die Aussage noch den Sinn einer Provokation der bürgerlichen Kunstinstitutionen. Der ehemalige Anführer der Situationistischen Internationale Guy Debord erklärt z.B. 1978 in seinem Film In Girum Imus Nocte et Consumimur Igni »Oui, je me flatte de faire un film avec n’importe quoi« (Debord 2006, 1349). Ich bin stolz, einen Film mit irgendetwas (n’importe quoi) machen zu können: Eine solche Aussage versteht sich

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als eine Provokation, die freilich mit dem Übergang zur Hegemonie der Kreativität als solche verloren geht. Alles lässt sich als Kunst umdeuten, aber auf Wattpad ist das nun todernst gemeint. Dem irgendetwas entspricht ferner ein irgendjemand, ein jeder. Wie die Vox Populi sagt: Einen Picasso malen, das kann jeder. Das mag zwar auf Picasso bezogen seit einiger Zeit nicht mehr zu hören sein, kommt aber als Aussage bei noch nicht institutionalisierten Formen des irgendetwas immer wieder zurück. Das soll Kunst sein? Nein, das geht jetzt wirklich zu weit, und das kann doch jeder. Genau das ist aber auch die Annahme, die den gegenwärtigen Stellenwert der Kreativität möglich macht. Jeder kann’s, also soll sich niemand zurückhalten (*Künstler, *Kuratieren, *Kreative Masse). 2. Geistiges Eigentum, Copyrights usw. müssen verschwinden. Genau wie der Kommunismus prinzipiell die Abschaffung von privatem Eigentum voraussetzt, sprechen sich die Avantgarden für das Verschwinden der bürgerlichen Autorschaft und den damit verbundenen Privilegien aus (geistiges Eigentum, Royalties, Copyrights usw.). Es gilt, der bürgerlichen, exklusiven und ausschließenden Kultur, die einer Konfiszierung von kulturellen Gütern entspricht, entgegenzuwirken. Freilich hatten es viele Akteure der avantgardistischen Szene mit dem Verzicht auf ihren Autorenstatus meistens nicht besonders eilig. Jedoch handelt es sich hier auch um ein zentrales Axiom der avantgardistischen Entkunstung, das sich zumindest in Frankreich um Mai ’68 in den zahlreichen protomaoistischen Gruppierungen zwischen ›Arbeitern‹ und ›Intellektuellen‹ (oder Schriftstellern) niedergeschlagen hat. Auch diesbezüglich war Guy Debords Situationistische Internationale maßgebend, zumal sie ausdrücklich auf jede Form von Copyright verzichtet hat, was über Jahre zu zahlreichen ›illegalen‹ Ausgaben und Übersetzungen von den situationistischen Schriften geführt hat. Mit Rückgriff noch einmal auf Isidore Ducasse hat sich die Situationistische Internationale grundsätzlich an eine Ästhetik der Entwendung gehalten, die sich als Ästhetik des produktiven Plagiats umschreiben lässt. Die Situationisten verstanden sich als die Robin Hoods der bürgerlichen Kultur, eine Einstellung, die in den 1960er Jahren sehr verbreitet war, wenn auch z.T. in weniger radikalen Formen: Auch die berühmten Abhandlungen »Der Tod des Autors« von Roland Barthes und »Was ist ein Autor?« von Michel Foucault fallen in die Kategorie der Kritik der bürgerlichen Autorschaft und der damit verbundenen Rechte. 3. Das dritte Axiom ist eine direkte Konsequenz des zweiten und lässt sich als Kollektivierung der Autorschaft zusammenfassen. Die Geschichte der Avantgarden liest sich nicht nur als die Geschichte von spezifischen mehr oder weniger strukturierten Gruppen, angefangen bei der durch Reckwitz genau situierten Bohème (vgl. Reckwitz 2012, 75 f.), sondern auch als die Geschichte der Versuche, die avantgardistische Kunst- oder Literaturpraxis

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zu kollektivieren, als die Geschichte der Versuche, die individuelle (bürgerliche) Praxis zu überwinden. Dadaistische Performances, surrealistische, kollektive Spiele, situationistisches Abdriften in den Städten, Zentralität von (rituellem) Theater in den 1960er Jahren sind dafür nur einige von zahlreichen Zeugnissen eines gemeinschaftlichen Anspruchs und Schaffens (*Bühne, *Queer). Von der Kollektivierung der Kunst- oder Schreibpraxis erwarten die Avantgarden eine Neugründung der Gemeinschaft, die sich übrigens auch am Motiv des Gesamtkunstwerkes verfolgen lässt. Spätestens seit Wagner und dann auch wieder bis zu den Situationisten, die sich den Mai ’68 als kollektives Gesamtkunstwerk vorstellten, prägt dieses Motiv die Geschichte der Avantgarden wie ein roter Faden oder ein Horizont, dessen Umsetzung notwendigerweise kollektiv sein würde: Ein Gesamtkunstwerk entsteht für alle, für die Neugründung der Gemeinschaft, und durch alle (vgl. Kaufmann 1997). Die Situationisten würden sagen: Nur wenn sich alle auf eine kreative Weise daran beteiligen. Damit wird kollektive Kreativität in den 1960er Jahren als Bedingungsmöglichkeit einer ›kulturellen‹ Revolution eingebaut und steht fünfzig Jahre später immer noch zur Verfügung, aber nun revolutionslos (*Ko-Kreation, *Organisation). 4. Damit kommt man auf eine fast natürliche oder zumindest logische Weise beim nächsten Axiom an: die Partizipation des Lesers oder des Zuschauers. Von Brecht bis zum rituellen Theater der 1960er Jahre via das »Théâtre de la cruauté« von Antonin Artaud, vom russischen Formalismus bis zum französischen Nouveau Roman, von Eisenstein bis zu Godard sprechen sich die Avantgarden für die Aktivierung oder die Partizipation des Lesers/ Zuschauers aus. Dieser soll auf seine passive Konsumentenrolle, die ihm durch die bürgerliche oder industrielle Kultur zugeschrieben wird, verzichten und zum Ko-Produzenten von Kunstwerken aufsteigen (*Konsum). Geht man bei diesem Anspruch systematisch und kohärent vor, heißt das, dass es eigentlich keine traditionellen Kunstwerke mehr geben, dass sich das abgeschlossene Kunstwerk zu Gunsten einer permanenten Kreativität auflösen soll. Genau das ist der Punkt des situationistischen Verzichtes auf das Kunstwerk, das grundsätzlich immer als spektakulär einzustufen ist, sobald jemand da ist, um etwas zu lesen oder anzuschauen, an dessen Produktion er nicht selbst beteiligt war. Vollzieht sich dieser Prozess in den 1960er Jahren zu Gunsten der revolutionären Alltagspraxis, so ist es doch die gleiche Dynamik der Aufwertung der Partizipation, die heute zur Zelebrierung der Kreativität führt. 5. Das fünfte Axiom bezieht sich spezifisch auf die Text- oder Printkultur und versteht sich als Auf brechen der Grenzen des Buches als Träger von Werken. Die Avantgarden sind durch eine ›Verunendlichung‹ des Werkes gekennzeichnet, die von Umberto Eco einst als »Opera aperta« beschrieben wur-

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de. Die Literatur schreibt sich von einem Buch zum anderen, hört nie auf, hat schon immer angefangen, besteht aus einer allumfassenden Inter- oder Hypertextualität, an der alle weiterschreiben. Diese Ausrichtung ist insbesondere der die Unterhaltungsindustrie prägenden Produktion von kulturellen Artefakten bzw. von ›Produkten‹ gegenüberzustellen (*Produkt). 6. Und schließlich ist ein sechstes Axiom zu betrachten, das sich als die Ursache oder die Konsequenz der fünf ersten lesen lässt: die (auto-)biographische Ausprägung der Avantgarde, die schlussendlich einer Dynamik der Inkarnation entspricht. Kunst oder Literatur müssen in das Leben übergehen, müssen erlebt werden, sind nicht (mehr) eine Frage der dazu notwendigen technischen und professionellen Fertigkeiten, sondern der Erfahrungen und Erlebnisfähigkeiten. Auch hier läutet die Bohème eine entscheidende Wende ein. Bei dieser autobiographischen Ausprägung geht es wahrscheinlich um die meistverbreitete und älteste Fähigkeit der Kunst zur Exogenität, um es noch einmal mit Chantal Mouffe auszudrücken: Mit dem Übergang von Kunst in das Leben findet eine Entkunstung statt, ein Auf brechen der Grenzen der Kunst, das zwar nicht immer zu einer subversiven oder revolutionären Praxis führt, aber mit dem sich zumindest die Türen der allgemeinen und kollektiven Kreativität öffnen. So viel zur avantgardistischen Axiomatik. Dass mit der sich daraus ergebenden Entkunstung zugleich die Bedingungsmöglichkeiten der Kreativität in unseren gegenwärtigen Gesellschaften ausgelegt werden, wird dadurch bestätigt, dass die betrachteten Axiome andererseits eins zu eins mit der sich dauernd weiterentwickelnden digitalen Kultur übereinstimmen, deren Gegenwärtigkeit und Affinität mit Kreativität sich wohl aufdrängt (*Computer, *Performativität). Es war also grundsätzlich eine Frage der Zeit: Die technologischen Bedingungen der avantgardistischen Entkunstung sind mit einer Verspätung von ein paar Jahrzehnten nun endlich auch eingetroffen. Alle diese Träumereien wären jetzt möglich, sind jetzt möglich, und was möglich ist, wird auch umgesetzt: Wir nennen es Kreativität. Die radikale Demokratisierung des Umganges mit Kunst und Literatur ist aus der Perspektive der Avantgarden ein Horizont geblieben, ist als Vektor einer Anlehnung an ein nie umgesetztes ›kommunistisches‹ Ideal einzuordnen, also eigentlich auch als Vektor des zentralen Mythos der Avantgarde, dem sie ihre mythische Aura verdankt, wie sich das bei einem Mythos gehört: Die Aura des utopischen Engagements für ›Kunstkommunismus‹. Aber genau diesen Horizont haben wir nun dank Web 2.0 erreicht. Wir leben in ihm, es ist nicht mehr ein Horizont, und entsprechend hat sich die für das Verständnis der Avantgarden zentrale Spannung zwischen Kunst und Utopie in Kreativität aufgelöst.

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Literatur Bürger, Peter (1974): Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Debord, Guy (2006): Œuvres, Paris: Gallimard. Kaufmann, Vincent (1997): Poétique des Groupes Littéraires. Avant-gardes 1920-1970, Paris: PUF. Mouffe, Chantal (2007): »Artistic Activism and Agonistic Spaces«, in: Art & Research Journal 1(2). Online verfügbar unter: http://www.artandresearch. org.uk/v1n2/mouffe.html (abgerufen am 06.05.18). Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

Farbe Timon Beyes

Eine Sozialtheorie, die das Ästhetische zum Grundelement der Erkundung des Aufstiegs der Kreativität macht und »sinnliche Wahrnehmung in ihrer ganzen Breite« als »Anfangsintuition« der Theoriebildung begreift (Reckwitz 2012, 22), ist mit Phänomenbereichen des Sozialen konfrontiert, die in der herkömmlichen Sozialforschung einen marginalen oder sekundären Status fristen. Marginal sind sie, weil sich an Farben, Geräuschen, Gerüchen und den Sinneswahrnehmungen menschlicher Körper soziale Beziehungen, Prozesse und Strukturen vermeintlich schwerer festmachen lassen als an Sollensregeln, Kommunikationen, Handlungen. Zwar mag »[e]ine Soziologie der Sinne [...] die soziale Modularisierung des Sehens, Hörens, Tastens, Schmeckens und Riechens, der leiblichen Bewegung und der räumlichen Verortung des Selbst in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und in ihrer historischen Transformation unter die Lupe nehmen« (ebd.). Doch schon die dieser These unterlegten Referenzen auf Walter Benjamin, den Philosophen Gernot Böhme und den Medientheoretiker Marshall McLuhman demonstrieren sozialwissenschaftliche Nischenhaftigkeit (Georg Simmel wäre hier natürlich zu nennen). Das Soziale ist in orthodoxer Lesart zumeist kein (auch) ästhetisch gestimmtes Phänomen, oder wenn, dann eingehegt im Feld der Künste. Der Bezug auf affektive, sinnliche Gemengelagen läuft zudem der gängigen These einer Entästhetisierung der Moderne zuwider, die den großen Analysen von formaler Rationalisierung, kapitalistischer Verwertungslogik und funktionaler Differenzierung in unterschiedlicher Ausprägung eingeschrieben ist (vgl. Reckwitz 2015). Sie sind darüber hinaus nicht falsifizierbar und in gewissem Maß unterscheidungsresistent, damit Gift für die systematische Theoriebildung: Was wäre der Gegenbegriff zu sinnlicher Wahrnehmung? Diese Phänomenbereiche sind sekundär, weil sie unter diesen Bedingungen allenfalls als Symptom und Folge der als primär erachteten Produktionsmittel des Sozialen ins Auge fallen, oder gar als ihr Deckmantel: als klassenspezifischer Geschmack oder als kommunikativ konstruierte Trendfarbe zum Beispiel, für deren marketinggetriebene Verbreitung der Farbton selbst irrelevant ist.

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Wenn nun die Etablierung des Kreativitätskomplexes, wie von Reckwitz ausgeführt, mit der Vervielfältigung selbstbezüglicher ästhetischer Praktiken und einer damit zusammenhängenden Potenzierung affektiver Register erklärt wird, dann ändert sich die Ausgangslage. An den Verfahren und Momenten der Mobilisierung der Sinne – und an dem Material ihrer Mobilisierung – führt kein Weg mehr vorbei. Augenscheinlich und dem genealogischen Ansatz geschuldet ist, dass Die Erfindung der Kreativität die Verfahren und Momente der Mobilisierung der Sinne – gefasst in der Unterscheidung von »ästhetischen Praktiken« und »ästhetischen Episoden« – gesellschaftstheoretisch in großem Bogen zu fassen sucht. Das Material (der Mobilisierung der Sinne) selbst bleibt damit auf Distanz (bzw. steckt allenfalls in den rezipierten Schriften anderer). Das lässt sich als Aufforderung lesen, die Erkundung des Kreativitätskomplexes gewissermaßen zu materialisieren. Ich möchte das im Folgenden skizzenhaft am Phänomen der Farbe zeigen.

Substanzlose Substanz Die der Wahrnehmung gegebene Welt ist von Farbe durchzogen. Farbe erscheint dabei »als Beflügeltes«, so hat es Walter Benjamin zu fassen versucht, »welches von einer Gestalt zur andern überfliegt« – und damit als ein volatiles Medium des Wandels (Benjamin 2007, 21). Weder bloß Teil eines Objektes – auch wenn das manchmal chemisch angenommen wird – noch bloß im Auge oder Hirn der Betrachterin – auch wenn das neurobiologisch nachzuweisen versucht wird – ist Farbe verstanden als soziale Kraft im Dazwischen zu verorten: als instabile, Wahrnehmung formende und ihrerseits formbare Mittlerin. Farben »verkörpern und verändern soziale Beziehungen«, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Natasha Eaton (they »embody and transform social relations«, Eaton 2012, 62). Sie ist damit eine schwer fass- und theorisierbare »polymorphe magische Substanz« (»polymorphous magical substance«, Taussig 2009, 40), wie der Anthropologe Michael Taussig es im Anschluss an Benjamin und Goethes Farbentheorie zu beschreiben versucht. Das sind zumindest für die Sozialforschung ungewöhnliche Formulierungen von einer dem Gegenstand angemessenen Unschärfe, die es vielleicht verständlich macht, warum die Allgegenwart der Farbe mit ihrer weitgehenden Absenz in sozialtheoretischen Untersuchungen korrespondiert. Schon Benjamin stellte die Fluidität und Volatilität der Farbe gegen ein gegenständliches, von Begriffen geleitetes Sehen. In konzeptionellen Taxonomien ist sie daher nicht oder nur unzulänglich zu fixieren. Polemisch ist darauf hingewiesen worden, dass sich gerade die westliche Geistesgeschichte durch eine regelrechte Chromophobie auszeichne, eine Angst vor Farbe in ihrer Unkontrollierbarkeit und Unlesbarkeit (vgl. Batchelor 2000). Diese Farbphobie ist beileibe nicht

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bloß ein epistemologisches Problem, zu dem ich sie hier reduziere: Sie ist Treiberin und Getriebene von kulturellen und rassistischen Stereotypen. Auch im Zuge des material turn scheint sich bezüglich der Vernachlässigung dessen, was Farbe tut oder tun kann, kaum etwas geändert zu haben: Zwar werden Objekte und Technologien in ihrer Handlungsmacht untersucht, die eigentümliche, »substanzlose Substanz« (Michael Taussig) der Farbe wird indes kaum thematisiert oder geflissentlich übersehen. Auch das kann zweifelsohne als Symptom einer andauernden anti-ästhetischen Orthodoxie im Nachdenken über das Soziale und das Gesellschaftliche gelesen werden (vgl. Reckwitz 2015).

Rohmaterial des Kreativitätsdispositivs Wenn ich mich nicht irre, taucht »Farbe« in der Erfindung der Kreativität an genau einer Stelle auf, indes an einer wichtigen. Um die Ausgangsintuition, sinnliche Wahrnehmung zum Ausgangspunkt einer Sozialtheorie zu machen, in theoretisch belastbare Unterscheidungen zu überführen, differenziert Reckwitz zwischen der Gesamtheit sinnlicher Wahrnehmungen und »besonderen sinnlichen Prozesse[n]«: »eigendynamische Prozesse sinnlicher Wahrnehmung, die sich aus ihrer Einbettung in zweckrationales Handeln gelöst haben« (Reckwitz 2012, 23). Sinnliche Wahrnehmung ist immer und überall, wenn und wo menschliches Leben am Werk ist. Daraus lässt sich indes kein Aufstieg der Kreativität ableiten. Hierzu geht es vielmehr um die Proliferation eines spezifischen Typs ästhetischer Praktiken: auf sich selbst bezogene und selbstzweckhafte Praktiken oder Episoden, die affektiv wirken und so bewusst werden oder bewusst gemacht werden. Das ist gewissermaßen der praxeologische Unterbau der Großthese des Affektmangels der Moderne (*Affektkultur). Mit der starken Vermehrung solcherart ästhetischer, auf eigendynamische sinnliche Wahrnehmung bezogener Praktiken steigen die Affizierungs- und Erregungspotenziale. In einer Fußnote und angelehnt an den Philosophen Martin Seel wird nun die Ampelfarbe zum phänomenalen Beleg für diese theoriesystematisch zentrale Unterscheidung: Ampelfarben werden selbstverständlich sinnlich-perzeptiv registriert (und wirken so sozial ordnend). Ästhetisch im engeren und theoretisch fruchtbaren Sinn werden sie aber erst, wenn das Spiel der Ampelfarben situativ als Lichtspiel wahrgenommen wird – und das Subjekt damit affektiv involviert und beeindruckt wird. Die Fußnote demonstriert zunächst, wie gut sich Farbe als materielles Phänomen für die Erläuterung ästhetischer Praktiken und, weiter gefasst, der Durchsetzung des Kreativitätsdispositivs eignet. Wie Reckwitz ausführt, geht es eben nicht um ein »bloßes innerpsychisches Phänomen«, sondern das Ästhetische »bewegt sich in einem sozialen Raum von Subjekten und Objekten, in dem sich ständig perzeptiv-affektive Relationen knüpfen« (ebd., 24). Das scheint mir verwandt mit der oben referierten Auffassung von Farbe als beweg-

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licher Materie, mit der und durch die Wahrnehmung moduliert und geprägt wird, ohne dass sie auf spezifische Objekte oder subjektive Bewusstseinsapparate reduziert werden kann. Farbe ist damit die mannigfaltig auffindbare, flüchtige Substanz des Aufstiegs kreativer Praktiken und Episoden, vielleicht gar sein idealtypisches Rohmaterial. Man kann dann, um bloß ein paar Bereiche zu nennen, auf die Bedeutung der Farbe für künstlerische Experimente und die Entwicklung des Kunstfeldes verweisen, die ja Schrittmacher des Kreativitätsdispositivs sind (*Künstler, *Entkunstung), genauso wie auf die Farbenvielfalt der counter culture, deren Praktiken das Kreativitätsdispositiv geprägt haben. Um die genauso übliche wie nebulöse Reduktion spezifischer Farben auf die vulgärpsychologische Förderung kreativer Kapazitäten des Individuums wird man nicht umhin kommen: Blau wird dann als kreativitätsfördernd vermarktet, oder grün, oder – warum nicht? – auch lila: »ultra violet«, so begründet der Farbtrendsetter und -standardisierer Pantone seine Wahl zur Farbe des Jahres 2018, stehe für Experimente und Nonkonformismus und sporne Individuen dazu an, kreativ Grenzen zu verschieben.6 Taussig zufolge garantiert Farbe eine Lizenz zur Blödheit (»Color provides, it seems, a license to be stupid, wilfully so«, Taussig 2009, 244). Oder man schaut auf die farbenfrohe Gestaltung von vermeintlich kreativen Räumen, wie sie insbesondere den creative industries und der technologiebasierten Gründerkultur zugeschrieben werden (*Creative Cities). Oder man verweist auf die das menschliche Unterscheidungsvermögen weit übersteigende digitale Farbpalette und die damit verbundenen kreativen Alltagspraktiken mit Farbtönen, Kontrasten, Helligkeiten und Schärfen von sozialen Medien zu PowerPoint-Präsentationen. Eine ganze Farbenindustrie ist dem Kreativitätskomplex eingeschrieben; ein colour management prägt den ästhetischen Kapitalismus.

Farbe als affektive Kraft Farbe wird also zum Rohmaterial eines Kreativitätsdispositivs, dessen Ausübung oder Reproduktion ästhetischer Substanzen bedarf. Beließe man es bei dieser Einordnung, würde man riskieren, sich die schwierige Materialität der Farbe und ihre instabile soziale Kraft, wie sie oben mit Benjamin, Eaton und Taussig aufschien, gleich wieder vom Hals zu schaffen. Um genau diesem Motiv zu widerstehen, möchte ich in gebotener Kürze ein systematisches und ein historisches Argument versuchen, die beide miteinander zu tun haben. Zum theoriesystematischen Argument: So einschlägig das Beispiel der Ampelfarben für die Unterscheidung von bloß sinnlich-perzeptiver Registrierung und (im engeren Sinn) ästhetischer Affizierung sein mag, so instabil wird diese Unterscheidung, wenn man der affektiven Kraft der Farbe nachgeht. Farbe, so 6 | Siehe https://www.pantone.com/color-of-the-year-2018 (abgerufen am 17.04.18).

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schrieb Gilles Deleuze in seinem Buch zum Maler Francis Bacon (vgl. Deleuze 2005), ist als präsubjektive affektive Kraft zu verstehen (ein ähnliches Argument machte der Philosoph in seinen Büchern zu den »beliebigen Räumen« des Kinos). Wer den Affekt der Farbe nun auf den Moment der Bewusstwerdung ihres zweckfreien Spiels reduziert, verkennt ihre unheimliche ästhetische Kraft, auf menschliche Körper einzuwirken, bevor und unabhängig davon, ob diese Einwirkung bewusst wahrgenommen wird. Farben affizieren uns immer. Und sie tun das eben nicht nur, wenn ein Individuum ihr Zusammenspiel als ästhetische Episode wahrnimmt. Damit wird die Unterscheidung zwischen vernachlässigbarer, allgemeiner sinnlich-perzeptiver Registrierung und theorierelevanter, affektiv aufgeladener Wahrnehmung fragil. Das scheint mir insbesondere im Zeichen des Kreativitätsdispositivs von Bedeutung zu sein: In Zeiten des »Atmosphärenmanagement« existiert eine Vielfalt ästhetischer Praktiken, mit denen auf menschliche Körper eingewirkt wird und eingewirkt werden soll, ohne damit auf eine selbstzweckhafte ästhetische Wahrnehmung abzuzielen (*Atmosphäre). In Zeiten des Designs städtischer, konsumistischer und medialer Atmosphären und kollektiver Affekte wird mit Farben – und mit weiteren, zur atmosphärischen Steuerung eingesetzten Stoffen – auf ästhetische Regulierung, Kontrolle und Steuerung – auf »ästhetische Normalisierung« (Reckwitz 2012, 46) – abgezielt, die das Publikum, die Konsumentinnen oder die Bürger nicht zwangsläufig in wahrgenommene Erregungszustände versetzen. Der Fall der Farbe problematisiert also die Unterscheidung zwischen sinnlich-perzeptiver Registrierung und selbstzweckhafter Affizierung; auch erstere ist ästhetisches Material sozialer Relationen sowie gesellschaftlicher Ordnung und Unruhe. Zudem kann Zweckrationalität hier nicht mehr als Gegenbegriff des Ästhetischen fungieren, sondern ist ihrerseits als ästhetisch kodiert und über ästhetische Praktiken hergestellt zu betrachten.

Farbe als Ästhetisierungsagent Je näher man sich mit der Geschichte der Farbproduktion und -verbreitung beschäftigt, umso mehr mutet die These einer grundlegenden Entästhetisierung der modernen Gesellschaft wie ein gesellschaftswissenschaftlicher Mythos an. Mit Blick auf Farbe ist die »Entästhetisierungsmaschine« (ebd., 32) industrieller Rationalisierung immer auch als »Ästhetisierungsmaschine« (ebd., 34) zu verstehen. Schon die Geschichte der Kolonialisierung und des Welthandels kann nicht ohne das Begehr und die Jagd nach natürlichen Farben verstanden werden, die in den aufstrebenden europäischen Weltmächten gleichermaßen Faszinosum, Rausch und Schrecken war. Farbe, so formulieren es Eaton und Taussig, war das Kokain des Empire. Die Geburt der chemischen Industrie ist gekoppelt an die Gewinnung chemischer Farben, um den Kolonisatoren eine

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heimische Vielfalt künstlicher Farben zu ermöglichen, die diejenige der Kolonisierten übertreffen sollte. Bereits im 19. Jahrhundert entstanden Farbbücher und Farbkarten, mit denen Auswahl und Farbkombinationen in der Gestaltung des Eigenheims möglich wurden. Und der Aufstieg des US-amerikanischen Waren- und Konsummodells ist unlängst als Geschichte einer Farbrevolution erzählt worden, als grundlegende Ästhetisierung einer Gesellschaft, die sich in kreativen Praktiken geschmacklicher Farbzusammenstellung übt (vgl. Blaszczyk 2012) – eine Art Demokratisierung profaner, konsumorientierter Kreativität auf Basis von Farbtönen und -kontrasten (*Konsum, *Produkt). Schon diese sehr kursorische Auflistung deutet auf eine noch zu erarbeitende *Genealogie gesellschaftlicher *Ästhetisierung qua Farbexpansion hin, die früher einzusetzen scheint und in teils anders gelagerten Schüben verläuft als die Vorgeschichte des Kreativitätsdispositivs. Eine schöne Formulierung Reckwitz’ aufgreifend, ist Farbe als »Ästhetisierungsagent« zu begreifen, die in den anderen Agenten der Ästhetisierung – »Expansionismus der Kunst«, »Medienrevolutionen«, »Kapitalisierung«, »Objektexpansion«, »Subjektzentrierung« (Reckwitz 2012, 37) – am Werk ist, aber nicht in ihnen aufgeht. Ganz im Sinn der Intuition Benjamins wäre sie als Material- und Mediumsgeschichte eigenen Rechts zu erzählen.

Literatur Batchelor, David (2000): Chromophobia, London: Reaktion Books. Benjamin, Walter (2007): »Die Farbe vom Kinde aus betrachtet« [1914], in: Aura und Reflexion: Schriften zur Kunsttheorie und Ästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 21-22. Blaszczyk, Regina Lee (2012): The Colour Revolution, Cambridge, US: MIT Press. Deleuze, Gilles (2005): Francis Bacon. The Logic of Sensation, übers. v. D.W. Smith, London: Continuum. Eaton, Natasha (2012): »Nomadism of colour: Painting, technology and waste in the chromo-zones of colonial India c. 1765-c. 1860«, Journal of Material Culture 17(1), S. 61-81. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2015): »Ästhetik und Gesellschaft – ein analytischer Bezugsrahmen«, in: Andreas Reckwitz/Sophia Prinz/Hilmar Schäfer (Hg.), Ästhetik und Gesellschaft: Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 13-52. Taussig, Michael (2009): What Colour is the Sacred?, Chicago: University of Chicago Press.

Genealogie Sverre Raffnsøe

Der Begriff ›Genealogie‹ spielt eine tragende Rolle in der Erfindung der Kreativität. Ausgehend von der »Leitthese«, dass »was sich seit dem letzten Viertel des gerade vergangenen Jahrhunderts« abspiele, »die Ausbildung eines ebenso heterogenen wie wirkungsmächtigen Kreativitätsdispositivs« sei (Reckwitz 2012, 15, Herv. i.O.; *Dispositiv), formuliert das Buch seine »Ausgangsfrage«: Wie nämlich der Prozess aussehe, »in dessen Verlauf die minoritären Ideen der Kreativität in eine verbindliche gesellschaftliche Ordnung umgeschlagen sind« (ebd.). Dementsprechend besteht das übergreifende Ziel des Buches darin, »zur Klärung der Genealogie dieses Kreativitätskomplexes, seiner unreinen und unebenen Vorgeschichte« (ebd.) beizutragen, indem es dessen »Genese« (ebd., 17) oder »Entstehung« (ebd., 89) nachzeichnet, die in die Ausbildung einer sowohl universellen als auch naturalisierten (*Naturalisierung) und institutionalisierten »Kreativitätsorientierung« (ebd., 15) mündet und es damit unmöglich macht, nicht kreativ und innovativ sein zu wollen (vgl. ebd., 9). Zu Beginn weist Reckwitz darauf hin, dass die Kapitel 2-7 (259 Seiten oder rund 70 Prozent des Buches) insbesondere der Erörterung der »Genealogie des Kreativitätsdispositivs« bzw. der »genealogische[n] Detailanalyse« (ebd., 18) jener Vorgeschichte gewidmet sind, die zu dessen gegenwärtiger »Hegemonie« geführt hat (ebd., 53). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass auch die verbleibenden Kapitel 1 und 8 (110 Seiten) gleichermaßen als Beitrag zur historischen Untersuchung der fortwährenden Konstituierung des Kreativitätsdispositivs als einer bindenden sozialen Ordnung gelten können. Es findet sich allerdings keine klare Aussage zu der Frage, ob ›Genealogie‹ sich auf den historischen Prozess bezieht, der die gegenwärtige Konstruktion hervorgebracht hat, auf einen besonderen historischen Untersuchungsmodus oder auf die historische Genese, die das Resultat dieser besonderen historischen Untersuchung ist. Ebenso wenig findet sich eine Herleitung des Genealogiebegriffs in konzeptueller oder systematischer Hinsicht. Reckwitz hebt jedoch hervor, dass die genealogische Untersuchung methodologisch und ontologisch »keine Strukturen des Sozialen« voraussetzt, sondern vielmehr den

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Wegen nachspürt, »auf denen sich historisch die entsprechenden Elemente versammeln und verdichten« (ebd., 50). Folglich ersetzt die Genealogie »›Warum‹-Fragen durch ›Wie‹-Fragen und untersucht: Wie lässt sich die Entstehung und Verbreitung eines kulturellen Musters in sozialen und historischen Konstellationen nachverfolgen?« (ebd.) Der genealogische Zugriff erlaubt Reckwitz die Untersuchung eines langwierigen, komplexen und widersprüchlichen historischen Prozesses, der mehr als 200 Jahre umfasst. Mithilfe der Genealogie rekonstruiert er das allgemeine Muster dieses Prozesses systematisch und in eindrucksvoller Weise. Er wirft ein sehr erhellendes Licht auf »das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ«, das »die gesamte Struktur des Sozialen und des Selbst der Gegenwartsgesellschaft« umfasst (ebd., 12 und 15). Die »Genealogie des Kreativitätsdispositivs« (ebd., 52) gliedert sich in vier Hauptphasen. Die erste und längste davon reicht vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und wird als »vorbereitende« Phase beschrieben (ebd.). Die Entwicklung der Idee der Originalität und des kreativen *Künstlers zeichnet zusammen mit der Ausbildung eines ästhetischen Publikums einen ersten Umriss des Dispositivs in einem begrenzten Teilfeld des Sozialen: in der Kunst. Diese zunächst randständige Position bildet nachfolgend ein »exemplarisches Format für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts« (ebd., 320), und daher ist die Untersuchung dieses Anfangs ein Schlüsselelement der Reckwitz’schen Genealogie. Eine genauere Überprüfung zeigt, wie diese genealogische Erklärung den zu Beginn entworfenen Zeitrahmen der vorbereitenden Phase transzendiert, da ein wesentlicher Teil der Untersuchung der Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert gewidmet ist und darlegt, wie ästhetische Praktiken zunehmend zum Modell für andere Praktiken werden (vgl. ebd., 90-132). Während der zweiten Phase, die von etwa 1900 bis in die 1960er Jahre reicht, verbreiten sich Positionen und Formen des Gesellschaftlichen, die in der vorbereitenden Phase artikuliert wurden. Zu den Gegenständen der Untersuchung gehören in dieser Phase insbesondere der Aufstieg des *ästhetischen Kapitalismus, wie er etwa in Joseph Schumpeters Figur des unternehmerischen Erneuerers um 1900 aufscheint, und der Fokus auf Kreativität und Motivation im Bereich des Unternehmensmanagements seit 1920 und verstärkt ab den 1950er Jahren (*Kreativitätstechniken, *Organisation). Die dritte Phase umspannt die beiden darauffolgenden Jahrzehnte. In dieser Phase bewirken Jugend- und Gegenkulturen sowie Protestbewegungen eine gleichzeitige Verbreitung, Verdichtung und Radikalisierung des Dispositivs. In der vierten Phase schließlich gewinnt das Kreativitätsdispositiv seit den 1980er Jahren die Oberhand und bildet mit der Entwicklung der Kreativindustrie, der Psychologie der Kreativität, der Weltstars der Pop- und Rockmusik, einer globalisierten

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Kultur der Künste und der Planung kreativer Städte seinen hegemonialen Status aus (*Coaching, *Creative Cities, *Kuratieren, *Pop). Gleichwohl transzendiert die Genealogie der Erfindung der Kreativität die schlichte Erzählung eines fortwährenden Trends hin zur Hegemonie des Ästhetischen. Wenn das Kreativitätsdispositiv einen Kontrast oder eine Ergänzung zu anderen wichtigen gesellschaftlichen Konstellationen bildet und ihnen bei der Auflösung immanenter Widersprüchlichkeiten hilft, erhält es genau dadurch Unterstützung und eine Zunahme an Substanz seitens dieser Konstellationen. Sein Fokus auf Sinnlichkeit etwa macht das Kreativitätsdispositiv zu einer wichtigen Alternative zu einer möglicherweise sogar noch wichtigeren historischen Schöpfung, nämlich der rationalistischen und moralistischen westlichen Tradition (vgl. ebd., 319). Da das Kreativitätsdispositiv die stärkste Erwiderung auf diese Rationalisierungsprozesse mit ihrer Gefahr der Entfremdung, Versachlichung, des Mangels an Affekt und Motivation bildet, kann es einige Lücken in diesen Prozessen besetzen (*Affektkultur, *Organisation). Reckwitz’ Genealogie versammelt eine beeindruckende Menge an historischen Funden und fügt daraus eine originelle, umfassende und komplexe Systematik zusammen. Dadurch weist sie zugleich den Weg zu neuen Untersuchungen und Problemen für die weitere Diskussion. Beispielsweise ergibt sich aus der Genealogie die Frage nach dem Verhältnis zwischen ihrem Ausgangspunkt und ihrem Endprodukt; oder aber nach dem Verhältnis zwischen ihrer ersten, vorbereitenden und der vierten, hegemonialen Phase. Was genau ist es, das später retrospektiv dem ursprünglichen ästhetischen Plan hinzugefügt wird, wie er sich im »Modell des Künstlers« manifestiert, und das daraus »die moderne Kunst als ein exemplarisches Format für das Kreativitätsdispositiv als Ganzes« (ebd., 320) macht? In ähnlicher Weise unterscheidet Reckwitz nicht allein drei aufeinanderfolgende moderne »Regimes« oder »Strukturierungsformen der Orientierung am Neuen«: »das Neue als Stufe (Neues I)«, das »Neue als Steigerung und Überbietung (Neues II)« und »das Neue als Reiz (Neues III)« (ebd., 44). Er behauptet auch, dass es diese dritte ästhetische moderne Stufe ist, die die vorherrschende Eigenschaft des voll entwickelten Kreativitätsdispositivs darstellt. Doch ist das relativ Neue, wahrgenommen als ein Reiz oder ein Event (vgl. ebd., 45), tatsächlich ein entscheidendes Novum, verglichen mit der Beschreibung des Ausgangskonzepts der künstlerischen Schöpfung? Zusätzlich zu solchen Problemen der Interpretation lassen auch die Entwicklungslinien, die von Reckwitz’ Genealogie gezeichnet werden, Raum für weitere Diskussion. Wenngleich etwa die These eines allgemeinen Trends zu Rationalisierung, Desensibilisierung und Affektmangel unter Rückgriff auf so prominente Autoren wie Max Weber und Theodor W. Adorno vorgebracht wird, ist doch die Frage berechtigt, ob sie als allumfassende These tatsächlich

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stichhaltig ist und ob die Lokalisierung von Ästhetisierung als eines widerständigen und kompensatorischen Trends in einem Umfeld der zunehmenden Affektverdrängung wirklich erhellend ist (*Farbe). Sollte sich die Sicht auf die Entwicklungen als Isolierung und Unterscheidung von Gegensätzen als zu grobmaschig erweisen, so wäre womöglich eine Analyse, die auf Akzentverschiebungen und eine fortwährende Transformation des Verhältnisses von Affektivität und Formen der Rationalität fokussiert, vielversprechender (vgl. Loren/Metelmann 2013; *Affektkultur). In vergleichbarer Weise lässt sich die Positionierung von Kunst und Ästhetik an der Wende zum 18. Jahrhundert als das einzige und bevorzugte Muster für den zeitgenössischen Wunsch nach und die Verpflichtung zur Erschaffung des Neuen infrage stellen. Als gleichermaßen wichtigen Vorläufer des gegenwärtigen Bejahens der freien Hervorbringung des Neuen als bevorzugtem Dauerzustand könnte ebenso gut das Bekenntnis zur Aufklärung im 18. Jahrhundert angeführt werden. Dies gilt besonders mit Blick darauf, wie Immanuel Kant 1784 dieses Bekenntnis mit seinem nachdrücklichen Aufruf auf den Punkt bringt, man möge Mut haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sich von der einfachen, bequemen Abhängigkeit von fremder Leitung zu lösen. (vgl. Kant, 1783/1978, 53; Raffnsøe/Gudmand-Høyer/Thaning 2016, 430; *Dispositiv). Darüber hinaus impliziert die Neigung der genealogischen Untersuchung, ›Warum-‹ durch ›Wie-Fragen‹ zu ersetzen, keineswegs, dass Fragen nach dem Warum obsolet wären. Vielmehr wird durch die Arbeit am ›Wie‹ die zusätzliche Untersuchung des ›Warum und Weshalb‹ der beschriebenen historischen Ereignisse nur umso drängender. Reckwitz gibt keine Auskunft darüber, warum er sich für den Begriff ›Genealogie‹ zur Beschreibung seiner historischen Forschung und ihrer Erhellung der Genesis des Kreativitätsdispositivs entschieden hat. Ein begründeter Verdacht fällt jedoch auf seine Foucault-Lektüre, denn Reckwitz verwendet den Begriff ausgiebig im Kontext seiner Diskussion von Foucaults Dispositivkonzept und führt dessen detailreichste Diskussion von ›Genealogie‹ in seinem Literaturverzeichnis an (vgl. Foucault 1987). Wenn der Autor ferner von seinem eigenen Zugang zur »Kreativität als ein soziales und kulturelles Phänomen«, das »gleichsam erfunden worden ist« (ebd., 16), spricht, dann weist er in einer Fußnote direkt darauf hin, dass »eine solche Perspektive auf Kreativität von der Sichtweise Michel Foucaults auf die Genealogie der Moderne inspiriert« ist. Folglich scheint die Genealogie des Kreativitätsdispositivs insgesamt von Foucaults Konzept der Genealogie beeinflusst zu sein. Doch Foucault sieht die genealogische Untersuchung in erster Linie als Untersuchung einer historischen Entwicklung mit dem Ziel, die Gegenwart zu beleuchten als eine Bewegung, die noch nicht vollständig verstanden wird und in die wir eher noch verwickelt sind, als dass wir ihre Schöpfer wären.

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Mehr noch – er führt diese Untersuchung nicht nur durch, um darzulegen, wie es gewesen ist und was dazu geführt hat, sondern auch, um detailliert zu beschreiben: Was ist die Folge dieser Entwicklung gewesen, wozu hat sie geführt? Welchen ihrer Aspekte bleiben wir verpflichtet? Warum bleibt sie als bindende Kraft bestehen und übt eine solche aus? Wohin gehen wir? Fragen nach dem ›Warum und Weshalb‹ spielen auch eine entscheidende Rolle in der Genealogie Friedrich Nietzsches, des Philosophen, der mit seiner Erhebung der Ahnen- oder Herkunftshistorie von einer historischen Hilfsdisziplin zu einem allgemeingültigen Zugang zur Geschichte (vgl. Raffnsøe 2007, 17) den Grundstein für Foucaults genealogischen Ansatz legte (vgl. Foucault 1987). Am Ende der Genealogie der Moral ist für Nietzsche noch immer die wichtigste Frage offen. Er versucht sie im letzten Abschnitt der Schrift in Angriff zu nehmen: Wie kann es sein, dass die westliche Moral und Metaphysik nicht bloß sehr bedeutsame historische Phänomene sind, die Einfluss auf unsere Vergangenheit, auch noch die jüngste, hatten? Wie sollen wir es verstehen, wenn die westliche metaphysische Moral andauernd wiederbelebt, neu aktualisiert, neu angewendet und immer wieder aufs Neue mit Kraft erfüllt wird, und zwar so weit, dass sie unsere Gegenwart dominiert und uns vorgibt, wie wir uns die Zukunft vorzustellen vermögen? Und was sagt uns diese Wiederholung, diese ewige Wiederkehr des Gleichen, über unseren gegenwärtigen Zustand und Lebenswandel? Wie lautet die Frage zu dieser Antwort? Die Frage, die Herausforderung oder die Macht, die uns dazu zwingt, die Antwort und die ›Lösung‹ andauernd zu wiederholen? Nietzsches Versuch einer Antwort auf diese Fragen trug zunächst die Züge einer zirkulären Genealogie. Er wies darauf hin, dass die westliche Moral im Wesentlichen den Status einer »faute de mieux par excellence«, eines klassischen Falls der Ermangelung eines Besseren, habe (Nietzsche 1999, 411). Metaphysik und Moral wurden perpetuiert, weil es keine besseren Alternativen gab und weil die Geschichte nicht nur nachwies, wie sie entstanden waren und sich entwickelt hatten, sondern auch, dass sie die beste und überzeugendste Antwort waren, die die Menschheit bis dato finden konnte. Auf einer anderen Ebene der Untersuchung jedoch gab sich Nietzsche nicht einfach mit der Erklärung zufrieden, dass Metaphysik und Moral lediglich die relativ beste aleatorische Kompensation eines grundlegenden Mangels oder einer grundlegenden Leere ist. Nietzsche zufolge ist der Mensch eine unnatürliche Existenz, die beständig mit einem physischen Schmerz und einem existenziellen Leiden leben muss; genau aus diesem Grunde sieht er sich permanent mit dem Problem und der Frage konfrontiert, wie sich eine Existenz rechtfertigen lässt, die ständig leidet und letztlich zum Verschwinden verurteilt ist. Folglich können Metaphysik und Moral als die bislang überzeugendste Antwort auf ein fortbestehendes gegenwärtiges Rechtfertigungsproblem gelten. Sie werden genau deshalb immer wieder aufs Neue belebt, weil mit

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ihrer Hilfe das ›Warum und Weshalb‹ der menschlichen Existenz nicht allein erklärt, sondern sogar bejaht werden können. Metaphysik und Moral ermöglichen es, die Sinnlosigkeit und Richtungslosigkeit des Leidens zu transzendieren und die Existenz und den Willen des Menschen in neuer Weise zu reaffirmieren. Darin bieten sie der menschlichen Existenz ihre Rechtfertigung und weisen ihr die Richtung. Die erhellende Genealogie des Kreativitätsdispositivs kann als Parallele zu dieser letzten von Nietzsche unternommenen Untersuchung gesehen werden, die allerdings in Reckwitz’ Fall nicht länger nach dem ›Warum‹ von Moral, Metaphysik, asketischer Religion und Erkenntnis fragt, sondern nach dem ›Weswegen‹ [wherefores] des Kreativitätsdispositivs und des ästhetischen Turns: Wie denken und verstehen wir, dass eine Wende zum Ästhetischen und die Schöpfung von Neuem, historisch und in der Gegenwart, wiederholt so entschieden auftreten, dass sie einen tiefgreifenden Einfluss darauf haben, wie wir über unsere Existenz nachdenken und uns unsere Zukunft vorstellen? Wollte man sowohl Nietzsches als auch Reckwitz’ Genealogie fortsetzen, könnte man die These wagen, dass die starke Anziehungskraft des Ästhetischen, die einen großen Beitrag zum hegemonialen Status des Kreativitätsdispositivs leistet, nicht nur in dessen Fähigkeit besteht, die Sinne anzusprechen und Affekte zu produzieren, sondern vielmehr darin, dass es der menschlichen Existenz neue Orientierung bietet (*Ästhetisierung). Wo die traditionelle Moral und Metaphysik Orientierung durch das Festhalten an etablierten und verbindlichen Werten boten, ermöglicht die Wende zur Ästhetik Orientierung durch die fortwährende Transgression zuvor etablierter Werte und Verbindlichkeiten. Auf diese Weise erlaubt die ästhetische Wende (aesthetic turn) die Rechtfertigung menschlicher Existenz in der Transgression und Neuverhandlung ebenjener Existenz in ihrer bisherigen Form. Generalisierung und Ubiquität des Ästhetischen führen dazu, dass die Transformation des Selbst nicht länger auf die Grenzen eines spezifischen ästhetischen Bereichs beschränkt bleibt. Vielmehr erreicht die Fiktionalität des Ästhetischen den Status eines generalisierten Selbstzwecks. Durch die Reaffirmierung und Rechtfertigung einer andauernden Transgression der Existenz in ihrer bisherigen Form ermöglicht es die ästhetische Wende, dass der menschliche Wille zum Wollen (von irgendetwas) an und für sich und ohne die Verpflichtung, etwas Spezifisches zu wollen, gerettet und gerechtfertigt werden kann. Das Kreativitätsdispositiv kann als Konsequenz daraus auch als der jüngste und reine Ableger der Metaphysik betrachtet werden. Mit der Erfindung der Kreativität nimmt eine gereinigte Metaphysik des Willens ihre vergrößerte, flüchtige und intensive Gestalt an. Aus dem Englischen übersetzt von Stephan Dietrich.

Genealogie

Literatur Foucault, Michel (1987): »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1978): »Was ist Aufklärung?« [1783], in: Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Loren, Scott/Metelmann, Jörg (2013): Irritation of Life. The Subversive Melodrama of Michael Haneke, David Lynch and Lars von Trier, Marburg: Schüren. Nietzsche, Friedrich (1999): »Zur Genealogie der Moral«, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, München: De Gruyter, S. 245-412. Raffnsøe, Sverre (2007): Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, Paderborn: Fink Verlag. Raffnsøe, Sverre/Gudmand-Høyer, Marius/Thaning, Morten S. (2016): Michel Foucault. A Research Companion. Philosophy as Diagnosis of the Present, New York/Basingstoke: Palgrave. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp.

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In Die Erfindung der Kreativität erzählt Andreas Reckwitz die Kulturgeschichte der »Gegenwartsgesellschaften« der westlichen Spätmoderne als den kometenhaften Aufstieg des Kreativitätsimperativs, der als Leitgestirn am Himmel der globalisierten post-fordistischen Arbeitswelt steht: Sei kreativ! »Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen. Dies gilt für Individuen ebenso wie für Institutionen« (Reckwitz 2012, 9). Aber es scheint nicht für die Gesellschaft als Ganzes zu gelten, zumindest nicht, sofern sie als gemeinsames Projekt an der Gestaltung einer gewünschten, lebenswerten und nachhaltig lebensfähigen Zukunft arbeitet. Aus Sicht der Zukunftsvisionen kehrt sich der Befund gerade um: Parallel zum Aufstieg des Kreativitätsdispositivs nehmen die Energien kollektiver Vorstellungskraft seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ab (*Entkunstung). Wir scheinen uns nichts Neues im Hinblick auf unser eigenes Zusammenleben, das auch noch sinnlich ansprechend und einnehmend wäre (die beiden Hauptpunkte der Kreativität nach Reckwitz, vgl. ebd., 10), mehr vorstellen zu können: »Contemporary reality is the beta version of a science fiction dream«, fasst Richard Barbrook diesen Mangel an kollektiver Kreativität pointiert zusammen (Barbrook 2007, 9). Das kulturelle Imaginäre scheint leer, die Gesellschaften bild- und gefühlslos, wie man sinnvoll und emphatisch in eine solidarische Zukunft auf brechen könnte. Zwar haben sich viele technische Versprechen und materielle Wünsche erfüllt, doch fehlt es an Ideen, wie Städte, Länder und Kontinente angesichts von Klimawandel, die soziale Ungerechtigkeit verstärkendem (Finanz-) Kapitalismus und Migrationsbewegungen anders leben könnten. »Die großen Utopien der Anarchisten vom Ende von Hierarchie und Herrschaft überhaupt, der Kommunisten vom Ende der Entfremdung, der Situationisten von einer Verschmelzung von Kunst und Leben – sie alle sind 19. und 20. Jahrhundert. Das 21. hat noch keine großen Utopien hervorgebracht«, schreibt dazu der Sozialpsychologe Harald Welzer (2018, 8).

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Wobei »Utopie« nicht ganz das richtige Wort zu sein scheint, denn diese Modellierungen eines ›Nicht-Ortes‹ sind per definitionem (Griech. »οὐ« = nicht) nicht auf Wirklichkeit bzw. Realisierbarkeit ausgerichtet, doch das wäre ja genau wichtig: Diese Spannung versucht zum Beispiel Rutger Bregman in seinem Bestseller Utopien für Realisten schon im Titel abzubilden. Terminologisch genauer wären die ›Eu-Topien‹ (also die positiven Vorstellungen, im Gegensatz zur Dystopie, von denen es reichlich gibt) oder der Rückgriff auf die Heterotopien als »realisierte Utopien«, wie sie Michel Foucault in »Andere Räume« (1992, 39; *Bühne) definiert hat: Praktiken, Bilder und Zusammenhänge, die anders sind als das (räumlich) Vertraute, gleichwohl aber da, präsent – oder, mit Blick auf die Zukunftsszenarien, zumindest dem Weg ihrer Verwirklichung nach beschreibbar. Um zu solchen »Bildern der Zukunft« zu kommen (ein Initiative von Harald Welzer: https://www.bilderderzukunft.de) bedarf es neuer Techniken, sich die Welt vorzustellen (*Ko-Kreation, *Kritik). Die ›kreative‹ Gegenwartsgesellschaft braucht ein neues soziales »Imagineering«, wie man unter Entlehnung des markenrechtlich geschützten Disney-Begriffs sagen könnte.

Kritik der Unsichtbarkeit Vor knapp 20 Jahren hat Tom Holert den Begriff dem Mega-Konzern schon einmal entwendet und unter dem Sammelband-Titel Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit eine vielstimmige Kritik der Macht der Bilder und der Bildingenieure orchestriert. Ausgehend von der Ambivalenz im Umgang mit Bildern – einerseits werden sie nach dem pictorial turn immer bedeutsamer, andererseits auch immer unglaubwürdiger – fokussiert Holert auf die Funktionsweisen von Bildern in konkreten Kontexten und die entsprechenden Bildfähigkeiten der Rezipienten, die mit dem erhöhten Sichtbarkeitsdruck umgehen müssen. Im Vergleich zur Situation um 2000 hat sich die Lage 2018 radikal geändert: Die Prozesse der Macht und des Kapitals sind nahezu unsichtbar geworden, von der NSA bis zum »Überwachungskapitalismus« (Zuboff) der Silicon-Valley-Giganten, einschließlich aller anderen (nationalen) Spielformen. Das heutige Desiderat scheint in einer kritischen Hinsicht daher weniger zu sein, sich mit übervoller Visualisierung zu beschäftigen, als vielmehr, die Unsichtbarkeit von Big Data zu reflektieren und die Wertschöpfung durch Daten zu thematisieren: also auch in diesem Sinne ein neues »Imagineering«. Denn diese veränderte Produktions- und Wertschöpfungsrealität ist eigentlich erst jetzt richtig ›in die Funktionale gerutscht‹: Zu Brechts Zeiten konnte man immerhin noch in die Fabrik gehen und dort Ausbeutung maschinellmateriell erleben, auch wenn man sie von außen nicht sah. Der Blick in einen Serverraum der westlichen Welt zeigt dagegen tatsächlich nichts dergleichen.

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Kritik der bürokratischen Kontrolle David Graeber hat zu dieser veränderten Wertschöpfungsrealität eine starke These entwickelt, wurzelnd in seiner eigenen Frustration, dass er auch mit über 50 Jahren noch nicht in einem fliegenden Auto unterwegs sein kann – obwohl er als Junge glaubte, dass dies um 2000 sicher möglich sein sollte. Den Grund findet Graeber im Wechsel von einer poetischen Technologie zu einer bürokratischen. Seit den 1970er Jahren seien Mittel, die noch in den 1960ern für Dinge wie den Mondflug mit Fernziel Marskolonie ausgegeben wurden – also in die Umgestaltung der Welt entlang einer starken Vision der Zukunft flossen –, in die weitere Disziplinierung der Arbeit und verbessere soziale Kontrolle investiert worden (Graeber 2016, 120; *Organisation). Da der Löwenanteil aller öffentlichen Förderung zum Beispiel der Robotik durch die Hände der NSA gegangen sei, werde es verständlich, dass die Welt zwar eine rasante Drohnen-Entwicklung, nicht aber eine vergleichbare Entwicklung z.B. von Robotern in Bauxit-Minen gesehen habe. Die »dunkle« Erklärungsmöglichkeit für dieses Ungleichgewicht könne ferner sein, so Graeber spekulativ, dass die USA ihren Sieg über die UDSSR in der Art ›total‹ machen wollten, dass sie neben der technisch-militärischen Deklassierung des externen Feindes auch jeder denkmöglichen kritischen sozialen Bewegung in den USA, also dem inneren Feind, den Garaus machen wollten (ebd., 128). Doch auch ganz ohne diese Spekulation bleibt für den Anthropologen Graeber der Befund in Sachen ›Bessere Zeiten‹, dass wir zwar immer gesagt bekämen, wie viele Möglichkeiten die Computerisierung der Gesellschaft eröffne (*Computer), dass dies aber nicht zu einer Befreiung der Arbeitnehmer/-innen, sondern nur zu ungebändigtem Finanzkapitalismus, extrem flexibilisierten und prekarisierten Arbeitsverhältnissen und natürlich zu einer massiven Ausweitung der Überwachung geführt habe (ebd., 129). Die Nutzer/-innen mögen einen möglichen Mehrwert haben, weil sie sich immer überall zeigen, etwas bestellen oder arbeiten können, zahlen dafür aber mit dem hohen Preis ihrer Daten (*Performativität).

Kritik der Ästhetisierung Warum sie das tun, hat Lewis Randolph mit seinem Konzept des »Funopticon« treffend auf den Begriff gebracht: Es macht eben einfach Spaß, alles immer online machen zu können, auch wenn man dadurch völlig gläsern wird. Jedes neue Update, jede neue App, jede Siri bringt den Nutzer näher an die bestmögliche Gestaltung seiner wertvollen Zeit und die Gesellschaft ein kleines Stückchen näher an die Realität des Lebens mit künstlicher Intelligenz, die seit über 60 Jahren schon vorausgesagt wird. So diene die Gegenwart dazu, das Potenzial der Zukunft zu zeigen – und die Zukunft dazu, die Gegenwart,

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so wie sie ist, zu legitimieren: »The present already contains the future and the future explains the present« (Barbrook 2007, 8). Diese horizontlose Präsenz des algorithmischen Konsums der Gegenwart (*Ästhetischer Kapitalismus, *Konsum) kann auch gelesen werden als Effekt der »Ästhetisierung gesellschaftlicher Prozesse«, wie Andreas Reckwitz sein Buch im Untertitel nennt (*Ästhetisierung). Das Kreativitätsdispositiv sei die Form zum Medium der Ästhetisierung und richte das »Ästhetische am Neuen und das Regime des Neuen am Ästhetischen aus« (Reckwitz 2012, 20, Herv. i.O.). Ästhetisierung bedeute dabei immer Sinnesaktivität und Affektivität (*Affektkultur) und lasse sich praxeologisch in momenthafte Episoden und gewohnheitsmäßige Praktiken unterscheiden (vgl. ebd., 25). Wer zum Beispiel versucht hat, die Konzertbühne vor lauter hochgehaltenen Smartphones zu sehen oder beim Wandern den Go-Pro-bewehrten Bikern beim Downhill-Trail ausgewichen ist, hat eine Anschauung davon, wie sinnliches Erleben (des eigenen Körpers, der Natur), die Lust auf Neues, die Sucht nach dem Kick sowie rasant verbesserte Technik (im Verbund mit den Social Media als Publikationsorganen des Selbst) die Formen der Ästhetik prägen und umprägen. Interessant für unseren Kontext ist dabei die Frage, wie sich ästhetische Freiheit, in welcher seit Schiller das bürgerliche Subjekt seine (politische) Freiheit (anfangs antizipierend) genießt, verändert, wenn die Ästhetisierung ubiquitär und der Druck, ästhetisch je neu zu erleben, zum Imperativ wird (denn genau das leistet ja laut Reckwitz das Kreativitätsdispositiv; *Genealogie). Wie kann ein Selbstzweck, der das ästhetische Erleben immer auszeichnete, in eine komplexe soziale Dynamik der (Selbst-)Repräsentation, Produktion und Vermarktung überführt werden, ohne dass dies entscheidende Änderungen des Konzepts bedeuten würde – z.B. im Hinblick auf die Vorstellungskraft und die soziale Einbettung dieser Imaginationsfähigkeiten? Ein Anknüpfungspunkt für diese Frage an der Schnittstelle von Ästhetik, Gesellschaft und Zukunftspolitik sind sicherlich Rancières Überlegungen zur Aufteilung des Sinnlichen und die Potenziale, die aus einem Blickwechsel im ganz konkreten Sinne resultieren können (hier liegt auch die Verbindung zu Holerts kritischen Praktiken im Bildraum): »Die Bezugnahme auf das Ästhetische [...] soll die der Rancière’schen Auffassung der Politik inhärente Gefahr der Verfestigung, Parteibildung und Polizeiifizierung bannen, um stattdessen Aspekte der Kontiguität, Ent-Identifizierung und Potentialisierung als Entstehung neuer Möglichkeiten zu sehen, zu handeln und zu sprechen, in den Vordergrund zu stellen« (Klammer 2010, 201). Die Arten und Weisen, solche neuen Möglichkeiten zusammen zu sein, unter Gleichen auszuhandeln, wäre nichts anderes als eine (neue) Form von Imagineering in dem oben definierten sozial-nachhaltigen Sinne. Allerdings hängen diese öffnenden Verständigungsprozesse zentral von den praktischen Bedingungen der Gleichheitsproduktion ab, und Rancière operiert in seiner Doppelbewegung

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»Emanzipation der Ästhetik – Ästhetik der Emanzipation« zu unscharf und pauschal in der Gleichsetzung von ästhetischen und politischen Potenzialen (ebd., 207-210). Gelesen mit Reckwitz (der Rancière nicht zitiert) müsste man eben fragen, wie der Kreativitätsimperativ das Ästhetische nicht nur auf das Neue hin formiert, sondern auch de-formiert, indem er es auf diskurs- und marktfähige Neuigkeit und Distinktion prägt (und es so eben kein Selbstzweck mehr ist).

Das Land der besseren Erkenntnis Denn es stellt sich die Frage nach den imaginativen Kollektivkräften doch auch so: Warum haben die zahlreichen Kreativitätstechniken, die seit den 1950er Jahren nicht nur Walt Disneys »Imagineering«, sondern auch breitenwirksame Tools hervorgebracht haben (z.B. Brainstorming; *Kreativitätstechniken), nicht auch eine öffentlich präsente und diskutierte Anzahl von gesellschaftlichen Eutopien? Eine erste Antwort könnte sein, dass es sich um Techniken für Teams und Individuen (*Ko-Kreation) in einem (vergleichsweise) konkreten Anwendungsrahmen handelt, also die jeweilige Erkenntnis des kreativen Prozesses (vergleichsweise) eng an eine Umsetzung auch in technischer Hinsicht rückgebunden ist – ›vergleichsweise‹ konkret und eng in Bezug z.B. zu einer Vision für eine andere Möglichkeit des sozialen Miteinanders, das notwendig komplexer sein muss. Eine weitere Antwort wäre zudem sicherlich, in Anlehnung an das Argument oben, dass das Kreativitätsdispositiv als Konkretion des *ästhetischen Kapitalismus nur marktförmige Ideen, also gleichsam portionierte Produkte und Innovationen, generieren kann. Insofern könnte doch die Kunst (*Entkunstung, *Künstler, *Kuratieren) eine interessante Anregung zur Methode, also zum Weg des Voranschreitens zu einer Eu-/Utopie des 21. Jahrhunderts, bieten – eingedenk der schon bei Rancière angesprochenen Hierarchien, die in die soziale Gleichheitsproduktion auch im Hinblick auf Sinneseindrücke, Affekte und Kunstrezeption eingelassen sind. Insofern ist Paul Klee sicherlich ein kanonischer Maler des 20. Jahrhunderts, doch bietet seine Reflexion »Reise ins Land der besseren Erkenntnis« auch dann Anregung, wenn man nicht sofort einen Zugang zu seinen Bildern findet. Seine 1920 erstmals in der Anthologie Schöpferische Konfession erschienene Werkbeschreibung und Imaginationslehre startet mit den Worten: »Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis.« (Klee 1976) Danach schreitet der Text durch eine Landschaft und formt diese sowohl als persönlichen Eindruck als auch als Bildereignis: »Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie).« (ebd.) Klee entfaltet so eine Textbewegung, die spiegelbildlich komplementär zum Erleben einer ›realen‹ Landschaft ist: Wo man sich vorstellend-fühlend ins Bild begibt und so von den Symbolen (Text-

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zeichen) zu den sinnlichen Konkreta kommt, da sind die körperlich-perzeptiven Vorgänge in der realen Landschaftsbegehung auch immer schon Abstrakta, die uns über ›Raum‹ und ›Zeit‹ informieren. Klee weist so darauf hin, dass der angesprochene »topographische Plan« nicht ein dem Tun vorgeschaltetes Anderes, sondern vielmehr der Weg selbst ist: Die Ausführung entlang des Plans ist vom Plan nicht zu unterscheiden, der Betrachter ist entlang von Linie etc. wirklich in der Landschaft. Klees Landschaften, die imaginäre Orte sinnlich aufsuchen, »changieren [...] zwischen zwei Polen: zwischen handelndem, bewegtem, immersivem Sehen ohne Gegenstand einerseits und einem Sehen, das festhalten, zu Bild gerinnen will, andererseits. Die Theorie und Energie liegt aber nur im ersten Zustand, demjenigen, der sich im Handeln und nicht im Bilden von Gegenständen ergibt« (Söffner 2018, 124). Dieser Zugang zum Sehen scheint dem oben beschriebenen Vergegenständlichungsimperativ vieler Kreativitätstechniken entgegenzustehen und könnte gerade deshalb ein Startpunkt für ein kollektives Update Imagineering 4.0 sein, das Disneys Credo »Was ich träumen kann, kann ich auch bauen« mit Klee und Kunst-Manifest-Sätzen über das Dispositiv hinaus in eine komplettere, weil auch sozial global vernetzte Zukunft hinaus fortentwickelt: »Landschaft ist, wo man wandern kann. Man befindet sich in ihr – hat sie nicht vor sich oder nur im Kopf« (ebd., 123). Eine zukünftige Landschaft ist eine Bewegungs- und Handlungswelt: Ihre Sichtbarmachung ist Bild-Tat und Bild-Akt.

Literatur Barbrook, Richard (2007): Imaginary Futures. From Thinking Machines to the Global Village, London/Ann Arbor: Pluto Press. Foucault, Michel (1992): »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/ Heide Paris (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam, S. 34-46. Graeber, David (2015): The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, Brooklyn, NY: Melville House. Klammer, Markus (2010): »Jacques Rancière und die Universalität der Gleichheit«, in: Drehli Robnik/Thomas Hübel/Siegfried Mattl (Hg.), Das StreitBild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 195-212. Klee, Paul (1976): »Schöpferische Konfession: Paul Klee« [1920], in: ders., Schriften. Rezensionen und Aufsätze, hg. von Christian Geelhaar, Köln: DuMont Buchverlag, S. 118-122. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Söffner, Jan (2018): »Landschaften«, in: Cathrin Klingsöhr-Leroy (Hg.), Paul Klee – Landschaften, Kochel am See/München: Hirmer, S. 119-125. Welzer, Harald (2018): »Wo geht’s nach Utopia?«, in: 3Sat TV- & Kulturmagazin 2/2018, S. 7-9.

Improvisation Daniele Goldoni

Die Gegenwart befreit die Singularität Wenn man unter musikalischer Improvisation die Tatsache versteht, dass man – entweder als Solo oder im Laufe einer Performance (*Performativität) – etwas spielt oder singt, das nicht eindeutig vorherbestimmt ist, dann stellt die Improvisation eine Praxis dar, die in allen Musiktraditionen der Welt existiert und sich im Westen in der griechischen Antike, in der mittelalterlichen und barocken Musik, im Flamenco, in vielen Folklore-Traditionen, im Blues, in der Rock-Musik und im Jazz findet (vgl. Bailey 1993, 1-58). In diesen unterschiedlichen Traditionen gehen improvisatorische und kompositorische Elemente Hand in Hand oder wurden jedenfalls nicht strikt entgegengesetzt, wie es in der westlichen Musik des 20. Jahrhunderts, vornehmlich nach den 1940ern, der Fall war. In dieser Zeit blühten Verfahren und Theorien des Improvisierens und der ›Unbestimmtheit‹ auf und nahmen mitunter radikale Formen an. Die ›freie‹ Improvisation grenzt sich stets von vollständig (vor)geschriebenen Kompositionsformen und Partituren ab, sowie allgemein von jedweden Mustern des Jazz, der klassischen Musik, der starren Serialität der Darmstädter Schule. In dieser Suche nach Freiheit in der Improvisation treffen sich in gewisser Weise die Szenen in den USA – meistens afroamerikanische, der Free Jazz und freie Improvisation (Ornette Coleman, John Coltrane, Art Ensemble of Chicago, Cecil Taylor, AACM, Anthony Braxton) – und die freie Improvisation in europäischen Kreisen und Gruppen wie z.B. von Franco Evangelisti (Nuova Consonanza), Cornelius Cardew (AMM), MEV, New Phonic Art, Instant Composers Pool, Music Improvisation Company, Karlheinz Stockhausen (Aus den Sieben Tagen) usw. Es entstehen auch Kompositionen, die Improvisation voraussetzen: von Earle Brown bis Terry Riley, von Karlheinz Stockhausen über Bruno Maderna bis hin zu Sylvano Bussotti usw. In der freien Gruppenimprovisation gibt es weder Partituren noch Komponist oder Dirigent. Jeder kann seine eigene musikalische Erfindung frei einbringen (*Ko-Kreation). Das bedeutet nicht, dass jeder irgendetwas Beliebiges tun kann. In den meisten Praktiken und Poetiken geht es um das Miteinan-

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der-Hören, eine dialogische Haltung (nicht bei G. Scelsi), eine breite Kenntnis des musikalischen Materials und kompositorische Kompetenz. Es bedarf also ernsthafter Vorbereitung, um zu improvisieren (vgl. Evangelisti 2013; Bailey 1993, XII und 109 ff.) Der Sinn dieser musikalischen Praxis liegt darin, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart und auf die fortwährende Veränderung des Inhalts zu lenken statt auf ein Gesamtwerk, das sich von Anfang bis Ende nach Plan entfaltet. Die Gegenwart ist nicht mit dem »Jetzt« (nun) der Metaphysik (von Aristoteles zu Kant und Hegel) zu verwechseln: ein Punkt auf der Linie, die Vergangenheit und Zukunft verbindet. Die Gegenwart der Improvisation sieht weder in die Zukunft noch in die Vergangenheit. Sie liegt in der Immanenz einer Wirklichkeit, die nicht entschieden, nicht abgeschlossen ist: Da (wie im Leben) gibt es viel Spüren, viele Hinweisen, die man in die eine oder andere Richtung vollenden kann. Deshalb gibt es in der Improvisation keine externen zeitlichen oder andere Wertmaße. Ein Klang, der in der Gesamtstrategie einer Komposition nur ein Detail sein könnte, kann in der Improvisation den ganzen folgenden Weg ebnen. Dies ist das ständige Wunder der Improvisation in einer Zeit ohne Erwartungen, die rein von der Gegenwart gestiftet wird. Dies ist kein chronometrisches Konzept, sondern eine ethische Haltung. Cardew zitiert (frei) Wittgensteins Satz: »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann kann man sagen, dass der ewig lebt, der in der Gegenwart lebt« (vgl. Cardew 1971). Die Musiker ›werden Musik‹, befreit von dem Gewicht der Erwartungen, jenseits ihrer subjektiven und individuellen Absichten. Die Aufnahme einer Improvisation kann nützlich für die Improvisatoren sein, um partielle Aspekte dessen zu erkennen, was sie spielten; doch sie folgt damit einer anderen musikalischen Logik. Sie ist keine Improvisation mehr, weil sie zum Text geworden ist, mit einem Anfang und einem Ende: Es handelt sich um ein »separate phenomenon« (vgl. Cardew 1971; Bailey 1993, 103 f.). Ebenfalls droht in der Aufzeichnung eine Festschreibung der Improvisation und damit wiederum die Entstehung eines autoritativen Modells und nachzuahmender Regeln, wenn nicht gar ein regelrechter Persönlichkeitskult um den Improvisator herum entsteht – wie es oft geschehen ist. John Cage, La Monte Young, Earle Brown, Terry Riley, Pauline Oliveros und andere erfanden bzw. praktizierten die sogenannte »Experimentalmusik«, die sich dadurch auszeichnete, dass darin die Vorgaben so gedacht waren, dass ihre Umsetzung »unbestimmt« sei (Nyman 2011, 9 ff.). Ziel dieses ›Unbestimmtheits-Prinzips‹ war es, Vorurteile und Erwartungen beim Hören so weit wie möglich auszuschalten, um auf den Klang aufmerksam zu machen. Cages Bemühungen, über nicht unbedingt koordinierte Ereignisse einen wahrnehmbaren Zeit-Raum zu schaffen, entsprach einer Vorstellung von der Befreiung des Geistes, um das Leben in all seinen Zufällen, seinen Einfällen

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und seiner Unbeständigkeit anzuerkennen. Die klassischen Kausalketten verschwanden aus dem musikalischen Prozess, während die Gegenwart in ihrer Wandelbarkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte (»awakeness«, Cardew 1971). Verschiedene Mittel standen dabei zur Verfügung, sogar über den Zufall (bei Cage) hinaus: offene Partituren (Brown), Wiederholungen (Young), tiefes Zuhören (»deep listening«, Oliveros), unvorhersehbare Interaktion von Klangmodulen (Riley). In diesen musikalischen Praktiken konvergierte Unbestimmtheit teilweise mit Improvisation, obwohl Cage der Improvisation kritisch gegenüberstand, weil er darin noch ein Nachleben der expressiven Künstlerpersönlichkeit und noch immer zu viel Intentionalität sah. Aber die freie Improvisation und das Prinzip der Unbestimmtheit, auf die Cage und andere Experimentalmusiker abzielten, hatten ein gemeinsames Merkmal: die Befreiung der Singularität, d.h. die Befreiung des Soseins des Lebens, in seiner Grundlosigkeit und Unvorhersehbarkeit (*Dispositiv, *Genealogie). Dieses singuläre Sosein ist nicht mit der individuellen Subjektivität der modernen Philosophie, Politik und Ökonomie zu verwechseln.

Ethisch-politische Implikationen Die Praxis des freien Improvisierens und der Unbestimmtheit waren Alternativen zu einem musikalischen Ordnungsmuster, in dem die Arbeitsteilung zwischen Komponisten, ausführendem Interpreten und Zuhörer immer rigider geworden war: Die ›Komposition‹ war, nicht zuletzt durch den ›Strukturalismus‹, gleichbedeutend mit einer abgeschlossenen Autorschaft des Werkes. Dass die Musik nur noch eine Ausführung eines Textes sei, der von anderen – dem Autor – ersonnen worden ist, wäre mit einer sprachlichen Situation zu vergleichen, in der man nur solches sagen dürfte, was von anderen textlich vorverfasst worden wäre. Dabei gibt es dafür ja sogar ein Vorbild in der westlichen Kultur: die Heilige Schrift, die von den Kirchen verwaltet wird. Die freie Improvisation hatte demgegenüber die Absicht, die eigene Stimme zum Ausdruck kommen zu lassen, während die Experimentalpraxis das Konzept der Autorschaft eher in Frage stellte und die Rückführung des Hörens auf eine passive Zuhörerschaft beanstandete. Dabei ging es nicht darum, bestimmte Rollenzuweisungen oder besondere Befähigungen zu bestreiten; der Nachdruck lag darauf, dass Rollen und Befähigungen durchlässig und beweglich bleiben sollen. Die Unterschiede waren lediglich gradueller Natur. In einigen Fällen war der persönliche Aspekt vorherrschend, in anderen stand der ethnische oder soziale Aspekt im Vordergrund, so etwa in der afroamerikanischen Tradition, während wiederum die soziale Komponente im gemeinschaftlichen Projekt des MEV überwog (vgl. Nyman 2011, 128). Beide Praktiken wiesen – im Medium der Musik – politische Möglichkeiten auf. Im Hintergrund stehen

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die Beat-Kultur, die Hippies, die psychedelische, antirassistische, antikapitalistische, antiimperialistische und »antidisziplinäre« (Deleuze/Guattari) Gegenkultur, die eine gemeinsame antiautoritäre Gesinnung verbindet, die dann auch in die 68er- und 70er-Bewegung einfloss.

Manager und Psychologen interessieren sich für die ›Kreativität‹ der Improvisation Die Transformation, die Ende der 1970er Jahre erfolgte, und in der sich die westliche Wirtschaft und Gesellschaft von einer disziplinär-fordistischen zu einer post-fordistischen Produktionsweise verwandelte, verschob die Aufmerksamkeit der Organisationstheoretiker wie der Managementtheoretiker und Psychologen auf die ›kreativen‹ Aspekte der Praxis, vor allem in den Künsten (*Organisation). Jetzt wurde die musikalische Improvisation als neue Kunst des Handelns präsentiert, und gilt heute als Vorbild für eine kreative und strategische »Intuition« in Management (vgl. z.B. Lewis/Piekut 2016, Bd. 1, 385-395). Den kognitivistischen Psychologen kam hierbei die spezifische Rolle der Erforschung der Improvisationskunst zu, d.h. zu ergründen, wie es Musikern gelingt, mit Regeln zu spielen, ohne sich davon einschränken zu lassen bzw. neue Regeln aufzustellen. Die beliebtesten Testfälle waren solche, bei denen die Sätze der Solisten als extrahierbare Formvariablen gefasst wurden, die man mit einfachen und definierten Regeln koppelte, so etwa der Akkordzyklus im Swing und im Bebop (als Paradebeispiel galt Charlie Parker) sowie im Hard Bop. Schlussendlich übersetzte man diese Frage sogar in einigen berechenbare Algorithmen (z.B. seitens des kognitivistischen Psychologen Philip Johnson-Laird) und entwickelte daraus Computerprogramme, die in der Lage sein sollen, Improvisation zu simulieren und mit den Musikern persönlich zu interagieren (vgl. zum Beispiel das im Pariser IRCAM entwickelte Programm) (*Computer). Diese Reduktion auf Regeln und Ausnahmen offenbart eine fehlgeleitete Auffassung davon, was Improvisation ist. Sie braucht natürlich Mittel und Konventionen, um Bestand haben zu können, doch was sie ist, lässt sich nicht mit externen Regeln verrechnen: Sie bleibt eine immanente Erfahrung der Gegenwart.

Die Avantgarden und das »Neue« Dieses Missverständnis ist auch einer gewissen Ambivalenz innerhalb der zeitgenössischen westlichen Avantgarde in Sachen Improvisationspraxis geschuldet (*Entkunstung). Das »Neue« ist ein Schlüsselbegriff der Moderne, der von den meisten Avantgarden übernommen wurde, wie Andreas Reckwitz ausführlich in Die Erfindung der Kreativität gezeigt hat (vgl. Reckwitz 2012, 2053). Die Aufgabe, die Zukunft zu antizipieren und zu bauen, gilt auch für die

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Musik. Die Komponisten sollten revolutionär (Wagner) oder mindestens progressiv (nach Adorno) sein. Futurismus (siehe das Manifest L’improvvisazione musicale) und Surrealismus schrieb der Improvisation eine höhere Kreativität als dem komponierten Werk zu. Viele Improvisatoren der »Kreativen Musik« der 1960er und 1970er Jahre schienen dasselbe zu denken. Dieser Gedanke ist überzeugend, wenn ›Kreativität‹ als freies Spiel in der Gegenwart interpretiert wird (wie z.B. in D.W. Winnicotts Playing and Reality). Aber wenn Kreativität als *Innovation verstanden wird, dann besteht das Risiko, dass die Gegenwart der Improvisation von der Zukunft und dem, was die moderne Komposition in herrschender Meinung als »Neues« betrachtet, gleichsam verschlungen wird. Und das Neue altert zudem schnell. Tatsächlich haftete in den 1960ern und frühen 70ern mancher Improvisationspraxis der Avantgarden, im Gegensatz zu »experimenteller« Musik (Nyman 2011, 26-30), etwas Ambivalentes an. Ein Anti-Wiederholungszwang und eine programmatische Kampfansage an jedes Klischee, stets auf der Suche nach neuen Sprachen (bis hin zur Suche nach dem Nicht-Idiomatischen bei D. Bailey, 1993, XI ff.)), baute viele Vorurteile ab, gab jedoch im Laufe der Zeit auch Anlass zu neuem Konformismus. Wenn Originalität darin besteht, neue Formen und Sprachen zu entwickeln, mit bestimmten »Klangparametern« (was ein analytisches Konzept des kompositorischen Prozesses ist) neu und anders zu spielen (ob nun über Tonhöhe, Tempo, Dynamik, Timbre, Akzentuierung usw.), dann können dabei auch neue Stereotypen entstehen, deren Sprache die nachfolgenden Improvisatoren dann übernehmen. Die Industrie der reproduzierten Musik hat die ›originellsten‹ und ›genialsten‹ Improvisationen der »Kreativen Musik« in interessante, manchmal wunderbare Klangtexte (= Kompositionen) verwandelt, die mittlerweile, über entsprechende Schulen oder über Selbstlernen, unendlich viele Nachahmungen (wenn nicht Kopien) hervorgebracht haben.

Ein Wandel in der Gesellschaft und im Gebrauch der Musik In der Zwischenzeit verwandelte sich die Disziplinargesellschaft in eine Kontrollgesellschaft. Die Wirtschaft wurde dereguliert, und zugleich hielt der Kreativitätsimperativ, wie von Reckwitz treffend beschrieben, auch in den ökonomischen Produktionsprozessen Einzug. Viel Klangstoff, den die »Kreative Musik« hervorgebracht hatte, ist seitdem für Soundtracks wiederverwendet worden, für Hintergrundmusik und allgemein für den Konsum in Form wiederabgespielter Musik (ob als Platte, CD oder Streaming). Dieser Konsum ist nicht mehr eigentlich ›populär‹. Der Ausdruck popular music war noch bis zum Ende der 80er Jahre treffend, als die reproduzierte Musik noch eine Schnittstelle zu den kollektiv-populärgesellschaftlichen Verwendungsweisen etwa beim Tanz oder auf Festen bot (*Pop). Heute entspricht

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der Musikgenuss eher dem Wandel in Begriff und Praxis dessen, was als individuelles ›Erlebnis‹ gilt: Es ist ein privater Moment der Befriedigung, der Emotion, der Erregung – an der Bar, während man läuft oder schwimmt, in öffentlichen Verkehrsmitteln usw. Aber das schließt nicht aus, dass diejenigen, die Musik, Improvisation und Unbestimmtheit mit einer gewissen Ethik praktizieren (vgl. Cardew 1971), die neuen Medien dazu verwenden, das Leben musikalisch zu erfahren.

Von einer erzwungenen ›Kreativität‹ zur Befreiung Der Zwang zum Kreativsein funktioniert als Säkularisierung einer Religion, die in der Idee der Ursünde gründet (*Schuld). Zu ihrem Grundzug gehört, dass das Leben über die Negation des eigenen Naturzustands und die fortwährende Selbsterneuerung gerechtfertigt bzw. gerettet werden muss. Die zwanghaften Bemühungen einer gewissen (nicht nur musikalischen) Avantgarde, das Neue hervorzubringen und sich von dem abzugrenzen, was lediglich angenehm oder ›schön‹ wäre, sind auch auf die Genealogie einer zwar verborgenen, aber doch höchst wirksamen Theologie zurückzuführen. Einfach nur aus Lust an der Freude zu singen oder zu tanzen wäre banal, ja sogar »regressiv« (so Adornos Verdikt). Die Geschwindigkeit, aber auch die Langsamkeit, das Bedürfnis zu ändern und zu vergessen, aber auch zu wiederholen: all das ist ›originell‹, weil originär im Leben. Man improvisiert, um dieses Leben zu besingen, und zwar in Anbetracht der jeweils gegebenen Freiheit, genau das nicht zu befolgen, was schon gesungen wurde, wenn man es nicht wünscht, aber auch in Anbetracht der Freiheit, genau das zu tun, nachzuahmen und zu wiederholen, was schon getan wurde, wenn darauf unser Wunsch zielt. Auch im Leben wiederholt sich vieles, und doch wiederholt sich die Wiederholung jeden Tag immer wieder anders: Warum sollte es in der Musik nicht so sein? Wenn man zusammen improvisiert, oder die grundsätzliche Unbestimmtheit der Improvisation erlebt, wiederholt man, in der Tat, aber nie das Gleiche. So wie im Leben auch. Aus dem Italienischen übersetzt von Emmanuel Alloa.

Literatur Bailey, Derek (1993): Improvisation. Its Nature and Practice in Music, New York: Da Capo Press. Cardew, Cornelius (1971): »Towards an Ethic of Improvisation«, in: ders., Treatise Handbook, London: Edition Peters. Online verfügbar unter: http:// www.ubu.com/papers/cardew_ethics.html (abgerufen am 08.08.18).

Improvisation

Evangelisti, Franco (2013): Musik Konzepte 43-44, Hofheim am Taunus: Wolke. Lewis, George/Piekut, Benjamin (2016): The Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies, Bd. 1 und 2, Oxford: Oxford University Press. Nyman, M., (2011): Experimental Music: Cage and Beyond (1974), Cambridge: Cambridge University Press. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Innovation Monica Calcagno

In einem Zeitalter der ästhetischen Ökonomie ist das rationalistische Paradigma von *Organisation durch das Paradigma des sinnlichen Organismus ersetzt worden (vgl. Reckwitz 2012), dessen Werte mehr in Zeichen und Symbolen als in Funktionen und technischem Wissen liegen. Die in diesem Kontext wahrgenommene Anforderung, permanent innovativ sein zu müssen, hat die Kreativität sowohl zu einem Wunsch als auch zu einem Imperativ gemacht und zugleich zu einer weiteren Annäherung zwischen Kunst und Ökonomie geführt. Nach Reckwitz besitzt ›Kreativität‹ zwei Bedeutungen: »Zum einen verweist sie auf die Fähigkeit und die Realität, dynamisch Neues hervorzubringen. [...] Diese Hervorbringung des Neuen wird nicht als einmaliger Akt gedacht, sondern als etwas, das immer wieder und auf Dauer geschieht. Zum anderen nimmt Kreativität Bezug auf ein Modell des ›Schöpferischen‹, das sie an die moderne Figur des Künstlers, an das Künstlerische und Ästhetische insgesamt zurückbindet. Es geht um mehr als um eine rein technische Produktion von Innovationen, sondern um die sinnliche und affektive Erregung durch das produzierte Neue.« (Reckwitz 2012, 10)

Diese Definition betont das Zusammenspiel von Kreativität und Innovation, indem sie sich auf das Gebiet der Kunst bezieht, in welchem das Ausmaß von Innovation die Komplexität technischer Innovation vielleicht übersteigt. Und obwohl das Zusammenspiel von Kreativität und Innovation breit diskutiert worden und der Prozess künstlerischen Schaffens als privilegiertes Feld des Experimentierens anerkannt ist, bleibt die eigentliche Natur jenes Prozesses, durch den Kreativität zu Innovation wird, unklar und vieldeutig (*Künstler).

Kompetenzbasierte vs. marktbasierte Perspektiven Innovation, in der ökonomischen Theorie als Auslöser von Wandel eingeführt, wurde traditionellerweise als Quelle des Erfindungsreichtums und der »schöpferische[n] Zerstörung« (Schumpeter 1934) betrachtet, als eine Welle

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des zumeist technologiegetriebenen Wandels, der die Position alteingesessener Marktteilnehmer schwächte und jene von neu eintretenden Marktteilnehmerinnen stärkte. Von Anfang an markierte das Konzept der Innovation eine Kombination aus Kreation und Zerstörung als wechselseitigen und komplementären Prozess, welcher implizit mit der Idee verbunden war, dass Kreativität technischem Erfindungsreichtum entsprang. Betrachtet man jedoch Innovation aus zwei der gegenwärtig dominierenden Perspektiven in der ökonomischen Theorie – der kompetenzbasierten und der marktbasierten (vgl. Bergek et al. 2013) – eröffnet sich eine andere Definition als jene klassische Unterscheidung zwischen radikaler, potenziell disruptiver und inkrementeller, sich akkumulierender Innovation. In der kompetenzbasierten Perspektive beginnt (innovative) Zerstörung dann, wenn technologischer Wandel die Wissensbasis alteingesessener Unternehmen, die durch die Nutzung älterer Technologien den Markt kontrollieren, nivelliert (*Computer). Diese Unternehmen verlieren ihre vorherrschende Stellung im Markt, während neue Unternehmen durch die Ausnutzung junger Technologien ihre eigene Position ausbauen. Mit der weiteren Unterscheidung in modulare und architektonische Innovationen wird dieser Ansatz zu untermauern versucht. In den 1990er Jahren hat die Konsolidierung einer technologisch geprägten Perspektive dazu beigetragen, den Begriff der Innovation in einen konzeptuellen und einen physisch-technischen Bereich zu teilen. Davon ausgehend werden modulare und architektonische Innovationen (vgl. Henderson/Clark 1990) nach der Maßgabe bestimmt, wie sie einzelne, separate Elemente eines Produktes (daher modular) oder die Beziehung zwischen zwei oder mehr Elementen (daher architektonisch) verändern. Dieses weiterentwickelte Verständnis betont den technischen Charakter von Innovation und erklärt die aus ihr resultierenden Aspekte in Management und Organisation als Konsequenz von Entscheidungen hinsichtlich der architektonischen Konzeption eines *Produktes. Diese kompetenzbasierte Perspektive geht daher mit einem technischen Verständnis von Management einher, das von einer vorrangigen Stellung technologischen Wissens gegenüber organisatorischen und menschlichen Dimensionen im Innovationsprozess ausgeht. In einer marktbasierten Sichtweise wird dagegen das Ausmaß der Radikalität und Disruption durch technologischen Wandel allein anhand der MarktPerformance beurteilt. Disruptive Innovationen werden dann dahingehend definiert, dass sie Marktpräferenzen verändern können, neue Kundensegmente ansprechen und die Position bisheriger Marktführer aushöhlen. Dementsprechend sind es eher Newcomer, die diesen Prozess dadurch anstoßen, dass sie in Märkte eintreten und die Stellung von Marktführern dadurch angreifen, dass sie Marktsegmente mit nur geringen Gewinnmargen, die vorher unangetastet geblieben waren, bedienen. Auf diesen Einstiegsangeboten auf bauend,

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bespielen Newcomer zusehends Marktsegmente mit höheren Gewinnmargen und attackieren somit die Stellung traditioneller Marktführer. Komplettiert wird diese marktbasierte Sicht durch den Ruf nach Innovationsstrategien, die fortlaufenden Wandel garantieren können sollen. Obwohl die kompetenz- und die marktbasierten Ansätze ihren Fokus auf jeweils unterschiedliche Perspektiven legen – man kann sie einmal als von organisationsintern und einmal als von organisationsextern getrieben beschreiben – fassen sie beide Innovation als technischen Prozess, der von einer kleinen Gruppe von Experten und Expertinnen angetrieben und gesteuert wird und zum »managementorientierten Strang[...] der Innovation« (Reckwitz 2017, 154) gehört. Der Einfluss von Innovation hängt hier von der Möglichkeit ab, Diskontinuitäten in einen Gleichgewichtszustand und daher mehr oder weniger radikalen Wandel herbeizuführen, der möglicherweise in einer Schumpeter’schen kreativen Zerstörung gipfelt. Interessanterweise werden somit selbst disruptive – also ein Geschäftsfeld grundlegend verändernde – Innovationen nicht im Hinblick auf Kreativität bewertet, sondern allein im Hinblick auf ihre kompetenz- oder marktverändernden Kräfte. Kreativität verbleibt so im Hintergrund und wird zuallererst als individueller Prozess definiert, der von der Figur des Unternehmers personifiziert wird, der »als die Instanz der unberechenbaren Kreation des Neuen eingeführt« wird (ebd., 151). Doch auch wenn man Kreativität in diesem Sinn als einen Prozess betrachtet, der mit einer einzigen Akteurin beginnt und in neuen Produkten resultieren mag (vgl. Amabile 1988), bleiben konzeptuell viele Fragen offen: Wer sind die kreativen Akteure und Akteurinnen, die auf den verschiedenen Stufen solcher Prozesse eingebunden sind? Wie werden die Ergebnisse dieser Prozesse hinsichtlich Neuheit und Nützlichkeit bewertet? (*Valorisierung) Ist all das allein eine Frage des Markterfolges?

Innovation und Kreativität in künstlerischem Schaffen Die aktuelle Literatur zum Innovationsmanagement widmet der Frage der Kreativität nun weit mehr Aufmerksamkeit und hat sich dabei anderen Akteuren und Akteurinnen wie etwa Designern und Kreativarbeiterinnen zugewendet und somit die Liste derjenigen ausgeweitet, die als ›kreativ‹ bezeichnet werden können (*Ko-Kreation). Wie auch Reckwitz betont, ist jede/r heutzutage dazu aufgefordert, kreativ zu sein, neue und nützliche Ideen sowie potenzielle Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln oder sogar Start-ups zu gründen. In diesem Kontext und auf den ersten Blick eher befremdlich wird die Kunstwelt zum idealen Beobachtungsfeld für Managementforscherinnen. Kreativer Schaffensdrang und die leidenschaftliche Hingabe an die Kunst allein um der Kunst willen formen die Idee des Künstlers als einer Art kreativem

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Held, der radikale Innovationen hervorbringt (*Improvisation). Doch auch ein solcher Zugang mit seiner griffigen Rhetorik läuft Gefahr, die komplexe Materie eher zu verdunkeln als zu erhellen. Das Auftreten und die Verstetigung innovativer Praktiken in der Kunstgeschichte resultierten aus dem Zusammenspiel zwischen individuellen und kollektiven Entscheidungen, die in spezifischen historischen Kontexten mit bestimmten Regeln und Institutionen eingebettet waren. Die Geschichte künstlerischer Innovationen bietet so verstanden einen komplexen und bedeutsamen Rahmen, um die Strategien jener Akteure – der Künstlerin und der Kunstwelt – zu analysieren, mittels derer sie Innovationen und ein hohes Maß von Kreativität förderten. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Auftreten des Kubismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts (*Entkunstung). Dieser radikale Bruch mit den Darstellungskonventionen war das Ergebnis des Zusammenspiels dreier Elemente (vgl. Sgourev 2013): erstens der individuellen Kreativität einzelner Künstler, wie Picasso und Braque, die die Bewegung anführten; zweitens der kollektiven Handlungen all derer, die in den künstlerischen Prozess an verschiedenen Stellen wie etwa der Produktion, Distribution oder Vermarktung eingebunden waren; und drittens schließlich des sozialen Wandels im Umfeld der Entstehung dieser Werke in Paris. Die gemeinsame Evolution dieser drei Elemente ermöglichte einen Prozess radikaler Innovation, der zu einem künstlerisch einschneidenden und auch kommerziell erfolgreichen Wandel führte. Genauer betrachtet sind es zwei Dynamiken, die über die Beschäftigung mit dem Kubismus hinaus zu einem besseren Verständnis des Verhältnisses von Kreativität und Innovation beitragen. Die erste Dynamik richtet sich auf das Ausmaß an Mehrdeutigkeit und Fragmentierung, die die Malerei in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszeichneten. Beide Dimensionen ermöglichten und beförderten die künstlerische Unabhängigkeit und den experimentellen Ansatz von Picasso und Braque, was zur Entstehung einer radikal neuen künstlerischen Sprache beitrug. Die beiden Künstler profitierten von der Ausbreitung neuer künstlerischer Positionen, zudem bewegten sie sich in einer Art ›geschützten‹ Isolation, in der sie ihren eigenen Ideen folgen konnten und sich nicht darum bemühten mussten, auf dem Markt präsent zu bleiben. Dieser Schutz nahm die Form einer Garantie an, da eine Reihe von Kunsthändlern die Gemälde vorab kauften: »Als sich die Kosten des Experimentierens plötzlich reduzierten, weil die Händler das Risiko des Scheiterns auf sich nahmen, waren die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass eine Kunstrichtung entstehen konnte, die nicht nur anders, sondern radikal anders war« (Sgourev 2013, 1612, übers. J.M.; *Museum). Die zweite Dynamik charakterisiert das Verhältnis zwischen der Steuerung kollektiver Innovationsprozesse und dem Widerstand, der ihnen von Seiten etablierter und konservativer Akteure entgegengebracht wird. In traditionellen

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Kontexten greifen innovative Projekte existierende Positionen an und treffen auf die Gegenwehr des Establishments (der Marktführer bzw. ›Platzhirsche‹ und ihrer Netzwerke). Im Falle des Kubismus schuf aber gerade die Abwesenheit klarer Vorgaben seitens der bekanntesten Künstler (Picasso und Braque) – die ja in einer gewissen Isolation und sogar Distanz zu Paris arbeiteten – mehr Raum und Freiheit für die Experimente, die Adaptionen und die gegenseitige Annäherung oder Abweisung anderer Künstler. So wuchs die Zahl der Künstler, die sich der neuen Bewegung zurechnen ließen und ein schwierig zu attackierendes, da sich beständig bewegendes Ziel darstellten (*Kreative Masse). Die Abwesenheit einer starken Opposition erlaubte es diesen Künstlern, mit Abweichungen zu experimentieren, die nun einmal eine große Rolle in der Durchsetzung von Kreativität und radikaler Innovation spielen. Die Geschichte des Kubismus bietet interessante Einblicke in die Beziehung zwischen Kreativität und Innovation und bestätigt, dass die Radikalität innovativer Prozesse von einem Zusammenspiel und der dynamischen Evolution zwischen individuellen, kollektiven und soziokulturellen Dimensionen abhängt. In diesem Sinne steigern Ambiguität, Fragmentierung, Diversität und ein geringer Grad an Koordination die Möglichkeit, ein hohes Ausmaß an Innovation bei gleichzeitig relativ geringer sozialer Kontrolle durch die Marktführer zu erreichen. Zudem hat Innovation – sei sie nun radikal und störend oder nachhaltig und schrittweise – das doppelte Ziel vor Augen, sowohl neu als auch nützlich zu sein (und damit Markterfolg zu generieren). Wo eines dieser Ziele fehlt, bleibt es bei Kreativitätsrhetorik. Dies bestätigt auch das Modell des *ästhetischen Kapitalismus, wie es Reckwitz beschreibt, in dem Künstler und Künstlerinnen sich anschicken, die wichtigsten Repräsentanten einer neuen Generation von Superberatern vermeintlich kreativer Unternehmen zu werden. Aus dem Englischen übersetzt von Maximilian Schellmann und Jörg Metelmann.

Literatur Amabile, Teresa M. (1988): »A Model of Creativity and Innovation in Organizations«, in: Barry M. Staw/Larry L. Cummings (Hg.), Research in Organizational Behavior, Greenwich, CT: JAI Press. Bergek, Anna/Berggren, Christian/Magnusson, Thomas/Hobday, Michael (2013): »Technological Discontinuities and the Challenge for Incumbent Firms: Destruction, Disruption or Creative Accumulation?«, in: Research Policy 42, S. 1210-1224. Henderson, Rebecca/Clark, Kim B. (1990): »Architectural Innovation: The Reconfiguration of Existing Product Technologies and the Failure of Established Firms«, in: Administrative Science Quarterly 35, S. 9-30.

Innovation

Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Schumpeter, Joseph A. (1934): The Theory of Economic Development. An Inquiry into Profits, Capital, Credit, Interest and the Business Cycle, Cambridge, MA: Harvard University Press. Sgourev, Stoyan V. (2013): »How Paris Gave Rise to Cubism (and Picasso): Ambiguity and Fragmentation in Radical Innovation«, in: Organization Science 24(6), S. 1601-1617.

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»Geld ist gar kein Kapital aber Fähigkeit ist Kapital.« (Beuys 2000, 399) Das Statement von Joseph Beuys bringt auf den Punkt, worum es in Andreas Reckwitz’ Anatomie des gegenwärtigen Kapitalismus geht: der Kapitalbegriff hat sich gewandelt und sich von seiner engen Bindung an Grundbesitz oder Geld emanzipiert. Der human factor ist neuralgischer denn je und persönliche Kompetenzen werden gezielt zum Investitionsobjekt gemacht; gehandelt wird buchstäblich mit ›Optionen‹, also mit Möglichkeiten, die den wirklichen Besitz vielfach um Einiges übertrumpfen. Im Zuge einer solchen neuen Marktwirtschaft des Potenziellen ist Kreativität eindeutig zur Schlüsselkompetenz aufgestiegen. Nicht immer galt es als ausgemacht, dass kreative, erfinderische oder künstlerische Fertigkeiten als ökonomischer Faktor anzusehen sind: Kunst und Kapital sind schließlich nicht gerade artverwandte Kategorien. Wenn ein Künstler wie Joseph Beuys den Kapitalbegriff für sich reklamiert, dann ist mit einer feindlichen Übernahme zu rechnen. Das emanzipatorische Programm, das mit Beuys’ Projekt Das Kapital (1970-77) einherging, stellt sich allerdings unter heutigen Produktionsbedingungen in anderem Licht dar. »Jeder Mensch ist ein Künstler«, verkündete Joseph Beuys 1972 auf der documenta 5 (*Künstler). Was zum Zeitpunkt ihrer Äußerung noch als gesellschaftliche Forderung galt, ist heute längst zur arbeitstechnischen Anforderung avanciert: Während der erweiterte Kunstbegriff einst für einen freiheitlicheren Gesellschaftsentwurf stand, stellt Kreativität mittlerweile eine unvermeidbare Anforderung an die neuen Arbeitnehmer dar (*Arbeit). Beuys’ Aktionen und Phrasen aus den 1970er Jahren hatten insofern visionären Charakter, wenn auch anders, als von ihrem Autor intendiert. »Kreativität = Kapital = Kunst«: In jener dreigliedrigen, von Beuys aufgestellten Gleichung kommt tatsächlich mehr zum Ausdruck als eine idiosynkratisch-provokative Künstlermetaphysik. In Zeiten des *ästhetischen Kapitalismus (Reckwitz), der in der Kreativität seinen Grundimpuls erhält, steht die Kunst dem Kapital schon lange nicht länger frontal gegenüber. Beide verquicken sich vielmehr natürlich, oder zumindest haben

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sich ökonomische Wertschöpfungsketten zahlreiche Alleinstellungsmerkmale künstlerischer Praxis zu eigen gemacht. Denn Kapitalisierung hat es schon seit jeher mit Wertmaximierung zu tun und diese bedarf einer permanenten Suche nach neuen Möglichkeiten. Wer nur auf ausgetretenen Pfaden wandelt, kann nur auf durchschnittliche Erträge hoffen; ein kreativerer Ansatz geht Risiken ein, und testet neue, unvermutete Verbindungen. Die Figur des risikobereiten Unternehmers galt zumeist als Außenseiter, als wagemutiger Pionier: Das trifft auf die vielleicht früheste Abhandlung zu, der Essay on Projectors des Romanciers Daniel Defoe aus dem Jahre 1697 und schreibt sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Wenn Joseph Schumpeter 1911 den unternehmerischen Geist zelebriert, dann doch stets im Bewusstsein, dass es sich hier um eine avantgardistische Elite handelt (*Entkunstung, *Innovation). Ganz anders heute: Der paradoxe KreativitätsImperativ (Be creative!) erstreckt sich auf alle Wirtschaftszweige und darüber hinaus. Allerdings kehrt sich das Begehren nach Innovation, Einfallsreichtum und Selbstständigkeit in Zeiten der ›Ich-AG‹ und der Flexibilisierung der Beschäftigungsverhältnisse in Fremdzwang um. Kreativität wird zum Wettbewerbsfaktor und damit zur Pflicht. Wir wollen kreativ sein und sollen kreativ sein: beides verschwimmt zu einem normativen Telos, das selbstredend nie hinreichend erfüllt werden kann (*Naturalisierung). Daher auch die paradoxe Logik der Kreativität, die auf einen Vorrat verweist, über den das Individuum bereits verfügt (jeder ist kreativ) und doch zugleich ein regulatives Ideal anzeigt, das erst zu erreichen ist (sei kreativ!). Das ›immer schon‹ verbindet sich mit einem ›erst noch‹, ein gewisser anthropologischer Rousseauismus mit einem liberalen Konzept des »unternehmerischer Selbst« (nach Michel Foucault, Nikolas Rose und Ulrich Bröckling). Die paradoxe Double-Bind-Struktur der Kreativität – mach Dich von jeder Anforderung frei! – lässt sich allerdings auch noch anders, nämlich geradezu nietzscheanischer verstehen (*Genealogie). Wenn in jedem Individuum kreatives Potenzial schlummert, dann besteht die lebenslange Aufgabe, eine Fähigkeit zu entwickeln, die man bereits besitzt. Werde, was Du bist, nämlich kreativ. Längst ist eine solche nietzscheanisch-beuysianische Künstlermetaphysik in den Human-Ressource-Abteilungen angekommen: Es geht darum, die eigenen Veranlagungen zu entfalten und damit in die eigenen latenten Fähigkeiten zu investieren. Mehr aus sich machen – Veranlagung als Anlageoption. Wenn künstlerische Fähigkeiten als Kapital ausgegeben werden, wird allerdings nicht nur eine Entgrenzung des Kunstbegriffs vollzogen, sondern auch eine Entgrenzung des Kapitalbegriffs. Als 2016 Beuys’ Installation Das Kapital Raum 1970-77 als Dauerleihgabe im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin aufgestellt wurde, erklärte Museumsdirektor Eugen Blume, Beuys habe den Kapitalbegriff auf seine buchstäbliche Bedeutung zurückgeführt, nämlich auf den caput, den Kopf. Wer in der Kreativität das wahre Kapital sucht, setzt auf

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den einzig wahren Palast, nämlich den »Palast im Kopf« (Beuys). Kreativarbeit ist, banal gesagt, Kopfarbeit. Damit hätte Beuys die Entwicklung der spätmodernen Wissensgesellschaft antizipiert, mit ihrer tendenziellen »Immaterialisierung von Arbeit« (André Gorz), ihren »mentalen Arbeitern« und ihrem globalisierten Kognitariat (Franco ›Bifo‹ Berardi), den »mentalen Kapitalismus« (Georg Franck) und allgemein dasjenige, was der Postfordismus als den general intellect bezeichnet. Die Kopfarbeit des neuen Kapitalismus beschreibt dabei immer weniger die berechnenden und berechenbaren Aspekte des Geistigen – genau diese werden automatisiert und den weitaus effizienteren Algorithmen überlassen –, sondern die konnektiven und affektiven Aspekte. Die Kompetenzen, die insbesondere im Tertiärsektor gefordert werden, werden nach und nach auf alle Bereiche ausgedehnt; immer zentraler wird das sogenannte Beziehungskapital. Auf Spinozas Spuren wandelnd findet parallel eine Renaissance der Affekte statt (*Affektkultur, *Atmosphäre): die Digitalarbeiter sind, bei aller Digitalität, vor allem Affektarbeiter, so etwa die Theoretiker des italienischen Postoperaismus Antonio Negri und Maurizio Lazzarato. Neu definiert wird dabei der Kapitalbegriff selbst. Tatsächlich war dieser stets mit dem ›Haupt‹ verbunden: in der lateinischen Antike bezeichnen die capita die genaue Kopfzahl einer Viehherde (ähnlich in der griechischen Welt, wo kephalaion – von kephalos, Kopf – die ›Hauptsumme‹ eines Darlehens beziffert). In modernen Sprachen finden sich noch Spuren dieser pachtwirtschaftlichen Herkunft. Nicht von ungefähr kommt die Wortnähe zwischen Kapital und dem französischen cheptel oder dem englischen cattle – es handelt sich jedes Mal um Pachtviehbestand –, ähnlich wie sich alles Pekuniäre letztlich auf den pecus (das ›Vieh‹) rückführen lässt. Mit den pecunia oder den capita wird die Kopfzahl angegeben, und damit der Reichtum. Man läge allerdings falsch, wenn man in dieser numerischen Bestandsaufnahme den Kern des klassischen Kapitalbegriffs vermutete. ›Kapital‹ stellt in diesem Sinne nie eine bloß arithmetische, sondern in erster Linie eine generative Kategorie dar. Die Begriffsgeschichte verrät, dass Kapital nie statisch gedacht wurde: Wohin man schaut, der Ausdruck entsprach nicht stehendem, sondern einem sich stets vermehrenden Vermögen. Wenn sich der Stock Market im 18. Jahrhundert etabliert, bricht der Konnex zum Viehmarkt in einer Hinsicht nicht ab: Es geht um die live stocks, um lebendigen Bestand. Der englische Begriff des stocks, den Adam Smith vorzugsweise verwendet, wird zur gleichen Zeit progressiv gegen den lateinischen Begriff capital ausgetauscht. Entscheidend bleibt jedoch der Bezug zur lebendigen Generativität: Kapital ist stets als ›lebendiges Kapital‹ zu denken. Schon in der archaischen griechischen Antike ist diese Verbindung attestiert: Der Viehbestand wird nicht nur von der aktuellen Kopfzahl her gedacht (die archaia), sondern auch von den möglichen ›Würfen‹ her. Der tokos steht dabei unterschiedslos für den biologischen Wurf und den ökonomischen

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Zins, für den Austrag wie für den Ertrag. Es ist dabei jeweils ein bestimmtes Zeitkonzept im Spiel, da sich der Wert des jeweiligen Bestands nicht nur in Hinblick auf die aktuelle Gegenwart, sondern von einem möglichen Zukunftshorizont her bestimmt. Kapital hat es stets mit Potenzialität und fruchtbaren Möglichkeiten zu tun, das hat auch der geistige Kapitalismus nicht vergessen: auch Kopfgeburten sind und bleiben Geburten. Als zinsbringende ökonomische Größe ist dem Kapital somit die Paradoxie inhärent, immer schon mehr wert zu sein als das, was es momentan umfasst. In der vorkapitalistischen Phase wird der Überschuss, den die ›Erwerbskunst‹ hervorbringt, in zwei Sorten unterteilt: in solch einen Überschuss, der in den häuslichen und natürlichen Kreislauf zurückströmt und diesen am Leben hält (Aristoteles nennt dies die oikonomia) und andererseits in einen Überschuss, der völlig selbstreferenziell wird, und in der unendlichen Selbstinkrementierung ihren Zweck hat (die pleonexía, die Habsucht, die einer widernatürliche Erwerbskunst, der Chrematistik, entspricht). In der christlichen Lehre wird der Zins aus ähnlichen Gründen verworfen. Erst in der Renaissance wird der Gedanke eines sich von selbst vermehrenden Vorrats flächendeckend rehabilitiert und im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts werden erste Binnendifferenzen im Kapitalbegriff eingeführt. Die klassische Wirtschaftslehre konsolidiert diese Definitionsversuche, etwa wenn Adam Smith zwischen dem circulating capital (dem Gegenstand von Transaktionen) und dem fixed capital (dem Gegenwert von Investitionen) unterscheidet. Wegweisend ist im frühen 19. Jahrhundert David Ricardos Versuch, den Wert des Kapitals vom dafür aufgebrachten Arbeitsaufwand her zu fassen. Ricardos Konzept vom Kapital als akkumulierter Arbeit dient Marx dann als Vorlage für seine Unterscheidung in lebendige und tote Arbeit: In der Selbstvermehrung des Kapitals durch Investition besteht offensichtlich eine Form von Tätigkeit, sie ist jedoch steril. Das Kapital ist bei Marx insofern kreativ tätig, als es sich selbst zu verwerten weiß. Es schöpft aus sich heraus einen Mehrwert, und stellt insofern ein »automatisiertes Subjekt« dar. Eine solche Kreativität des Kapitals bleibt insofern zutiefst beschränkt, als es nur um eine arithmetische Selbstvermehrung geht, um eine Art monetäre Parthenogenese, die aus sich selbst noch mehr herauszuholen weiß. Die Selbstgenerierung bleibt letztlich steril, weshalb Marx hier auch von einer »toten Arbeit« spricht. Anders Joseph Schumpeter, der den kapitalistischen Prozess als einen im Kern kreativen verstehen will. Gegen die Anhänger einer neoklassischen Wirtschaftsanalyse und ihrer Theorie des allgemeinen Gleichgewichts, geht Schumpeter davon aus, dass sich ökonomische Wertschöpfung über den »Sturm der schöpferischen Zerstörung« – und damit auch über Krisen, Brüche und Sprünge – vollzieht. Herkömmliche Produktionsweisen müssen aufgegeben und dafür neue Verbindungen erprobt werden, die immer auch scheitern können. Der Unternehmer verkörpert hier so etwas wie eine kreative

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Avantgarde, als risikobereiter Experimentator, dem das restliche Wertschöpfungssystem dann folgt, im Sinne einer »Durchsetzung neuer Kombinationen« (*Valorisierung). Erst dann kann das Abweichen von althergebrachten Mustern tatsächlich als erfolgreiche *Innovation gelten. Ein zweiter Theoretiker des kreativen Kapitals ist hier noch anzuführen, der in diesem Kontext zu Unrecht nie Erwähnung findet: Friedrich Nietzsche. In dessen Abhandlung Menschliches Allzumenschliches wird der künstlerische Schaffensprozess selbst als Energiehaushalt, der nach langer Anhäufung irgendwann einen unvermuteten Überschuss erzeugt. Der Energiehaushalt stellt dabei selbst so etwas wie einen Kapitalstock dar, ohne den jede Inspiration machtlos ist. Das künstlerische Experiment vollzieht sich niemals im luftleeren Raum, sondern setzt bereits akkumulierte Arbeit voraus. Im Original-Wortlaut: »Wenn sich die Produktionskraft eine Zeitlang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Ausguss, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, als ob ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fortbestand wie gesagt, das Interesse der Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur angehäuft, es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen.« (Nietzsche 1988, 147)

Während Schumpeter somit gewissermaßen als Vordenker des kreativen Moments im Wirtschaftsgeschehen auftritt, liefert Nietzsche Hinweise für eine ökonomische Erklärung künstlerischer Suchbewegungen (*Schuld). Da wo der eine gleichsam einer Experimentalisierung der Ökonomie den Boden bereitet, leistet der andere eine Ökonomisierung des Experimentellen Vorschub. Hier kommen zwei Paradigmen miteinander in Berührung, die im Laufe des 20. Jahrhunderts immer wieder aufeinandertreffen und das Gefüge neu ordnen. Auf der einen Seite das Auf brechen eines rigiden Wirtschaftsverständnisses, das sich an der berechenbaren Vernunft des Homo oeconomicus orientiert, um spielerischen, sozialeren und experimentelleren Dimensionen mehr Raum zu geben (es wird an Dewey erinnert: »the acquisitive instincts of man were exaggerated at the expense of the creative«, 1950, 144). Auf der anderen Seite die zunehmende Ökonomisierung all jener Bereiche, die bislang als nicht-objektivierbar galten, nämlich genau solche Dimensionen wie Sozialität, Emotionalität, Phantasie oder Kreativität. In das erste Paradigma gehört der Aufstieg der creative class (Richard Florida), die Kreativwirtschaft allgemein, mit ihren creative industries (*Creative Cities) sowie der neue *ästhetische Kapitalismus, in das zweite Paradigma gehören Konzepte wie ›geistiges Kapital‹, ,Sozialkapital‹ oder auch ›Humankapital‹.

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Der kreative Kapitalismus bietet einen durchaus passenden Rahmen für eine kapitalisierte Kreativität: Hier kommen beide Paradigmen wieder zusammen. Man mag hier an die Patentierung von Konzepten oder Ideen denken (vgl. etwa die neuesten Entwicklungen im Kunstfeld: Kuratoren lassen mittlerweile Ausstellungskonzepte patentieren und sichern sich somit die Hoheit über künftige Umsetzungen, ob in öffentlichen Museen oder privaten Institutionen; *Kuratieren). Neue Monopolstellungen entstehen, die nicht nur, wie noch klassisch bei Marx, auf der Monopolisierung der Produktionsmittel beruhen, sondern auf immateriellen Ökonomie des Brandings und des Conceptual Engineerings. Erfolgreich etablierte Konzepte können ihre Erfinder über Nacht zu ›Ideenrentieren‹ werden lassen, den sogenannten ›Aufmerksamkeitspensionären‹ nicht unverwandt. Nach dem Industriekapitalismus zeichnen sich Formen eines neuen Aufmerksamkeitskapitalismus ab. Wo Max Weber den Kapitalismus als affektbefreite »Entästhetisierungsmaschine« gezeichnet hatte, beobachtet man heute den Aufgang einer neuen ›ästhetischen Ökonomie‹. Die Gegenkultur der 1960er Jahre ist selbst zur Triebfeder einer umfassenden ästhetischen Mobilmachung des Kapitalismus geworden: was einmal als Subkultur oder counter culture galt, ist zur Leitkultur aufgestiegen, die Ideale der historischen Boheme sind zum Rückgrat postfordistischer Produktivitätsweisen geworden (*Entkunstung). In ihrer gewichtigen Studie über den Neuen Geist des Kapitalismus haben Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) aufgezeigt, in welchem Ausmaß sich der Idealtypus des Arbeiters immer stärker an bislang marginalen Berufsbildern orientiert, allen voran dem Künstler. Ihre detaillierte empirische Analyse des (französischen) Arbeitsmarktes der 70er und 80er Jahre, vor allem aber auch von Management-Handbüchern zeigt die eindrucksvolle Fähigkeit des spätkapitalistischen Systems, sich jede Form von *Kritik im Sinne einer permanenten Selbstkorrektur anzueignen. Ausgehend von der These von Max Weber, wonach der Kapitalismus nicht nur bestimmter materieller Infrastrukturen bedarf, sondern vor allem eines bestimmten »Geistes«, um die Maschine in Gang zu halten und das »Gespenst der Nutzlosigkeit« zu beschwören, haben Boltanski und Chiapello die bemerkenswerte Wandelbarkeit dieser Ideologie nachgezeichnet. Marx’ Vermutung, der Kapitalismus würde an sich selbst scheitern, wurde historisch widerlegt: Jede potenzielle Bedrohung wird in ein Optimierungsinstrument umfunktioniert. Das gilt insbesondere für die Form von Kritik, die Boltanski und Chiapello auch als »Künstlerkritik« beschreiben: die Anprangerung sämtlicher Formen von Repression, Vereinheitlichung und Kommodifizierung kreativer Energien. Vor diesem durchwachsenen Hintergrund lohnt es, noch einmal neu zu Joseph Beuys zurückzukehren, dessen Utopie einer kreativitätsbasierten Gesellschaft im Rückblick einen ambivalenten Eindruck hinterlässt. Am 20. November 1985, ein Jahr vor seinem Tod, tritt Beuys in den Münchner Kammerspielen

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auf, in der Vortragsreihe Reden über das eigene Land. Noch einmal vertritt der bundesrepublikanische Schamane die Gleichsetzung von Kunst und Kapital, und entwirft die Grundzüge einer Kapitalwirtschaft reiner Kreativität: »Jetzt ist die arbeittragende Fähigkeit das Kapital. Geld ist ja gar kein Wirtschaftswert! Der Zusammenhang von Fähigkeit und Produkt sind die zwei echten Wirtschaftswerte. So erklärt sich die Formel des erweiterten Kunstbegriffes: KUNST = KAPITAL. Die Kreativität des Menschen ist das wahre Kapital.« (Beuys 1985, 45) Wenn Kreativität als neues Kapital zu gelten hat, so sagt dies mindestens genauso viel über die Kreativität des Kapitals aus.

Literatur Beuys, Joseph (1985): »Sprechen über das eigene Land: Deutschland. Vortrag, 20.11.1985«, in: Hans Meyer/Joseph Beuys/Margarete Mitscherlich-Nielsen (Hg.), Reden über das eigene Land: Deutschland 3, München: Kulturreferat der Landeshauptstadt München, S. 33-52. Beuys, Joseph (2000): Das Geheimnis der Knospe zarter Hülle. Texte 19411986, hg. v. Eva Beuys, München: Schirmer/Mosel Verlag. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, übers. v. Michael Tillmann, Konstanz: UVK. Dewey, John (1950): Reconstruction in Philosophy [1920], New York: New American Library. Nietzsche, Friedrich (1988): Menschliches, Allzumenschliches (= Kritische Studienausgabe in 12 Bänden, Band 2, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari), Berlin/New York: Walter de Gruyter. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Inzwischen bevölkern diverse ›Ko-‹s die Kreativ-Diskurse und -Praktiken: Unter ›Kompliz-/innen‹ und in der ›Community‹ geht es um ›Co-Working‹, ›Kollaboration‹ und ›Ko-Kreation‹. Ko-Kreation steht in diesem Beitrag für einen strukturellen Wandel von kreativer Praxis und damit von grundlegenden Verhältnissen von Subjekten, Objekten, Technologie, Lokalitäten und Temporalitäten. Dabei bündelt Ko-Kreation wie in einem Brennglas einige der zentralen Ambivalenzen kreativen Handelns und lässt sie uns neu verstehen. Zwei aufeinander bezogene Dissonanzen rücken bei der Betrachtung von Ko-Kreation in den Mittelpunkt. Erstens, die spezifische Sozialform der KoKreation – abgeleitet nicht aus dem Künstlermodell (*Künstler), sondern aus der partizipativen *Design- und Ingenieurspraxis – professionalisiert und profanisiert Kreativität zugleich. Ko-Kreation setzt in experimentellen Settings auf die von professionellen Anleitenden und Rahmungen strukturierten regelgeleiteten Spiele und Experimente einer heterogenen Laiengruppe von Teilnehmenden und Mitspielenden. Zweitens wird aus einer sozialkritischen Perspektive die eigentümliche Dynamik zunehmender Kreativitätsanstrengungen – »dass es zugleich zu viel und zu wenig Neues gibt« (Reckwitz 2012, 353) – hinterfragt: Wie verhalten sich die durch Ko-Kreation in immer weitere Arbeits- und Lebensbereiche getragenen Kreativitätsbemühungen zur weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Verunsicherung, Apathie oder Zukunfts-Indifferenz in einer alternativlos scheinenden »absoluten Gegenwart« (Quent 2016)? Der Blick auf das Phänomen Ko-Kreation macht deutlich, dass die Zukunft auf dem gemeinschaftlichen Spiel steht, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Sowohl das gemeinschaftliche Reden über Zukunft als auch dezidierte Zukunftspraktiken sind wichtig, da sie Zukunft und Wirklichkeit erzeugen können, und zwar im Hier und Jetzt. Zukunftsvorstellungen können gemeinschaftsstiftend sein, kollektive Erwartungen erzeugen, Möglichkeiten hervorheben und handlungsleitend sein (*Imagineering). Aber es gilt auch: Das unterschiedliche Reden über und Imaginieren von Zukunft erzeugt unter-

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schiedliche Gegenwarten. Die begriffliche und sozialkritische Analyse des Phänomens Ko-Kreation soll dies im Folgenden am Beispiel der paradigmatischen ko-kreativen Formate ›Design Sprint‹ und ›Social Lab‹ verdeutlichen.

Ko-Kreation als Format und Modus kreativen Handelns Im englischen Diskurs lassen sich drei spezifische Verwendungen des Begriffs co-creation differenzieren. Zunächst werden zwei unterschiedliche Formate gekennzeichnet, weiter wird Ko-Kreation als grundsätzliches Arbeits- und Entwicklungsverfahren charakterisiert. Als ökonomisches Marketing- und Designformat zeigt sich Ko-Kreation erstens am Beispiel des ›Design Sprints‹, ein ursprünglich von Google Ventures entwickelter mehrtägiger Designprozess. Vorrangig geht es um »value co-creation«, also Wertschöpfungsprozesse, bei denen neue Produkte, Dienstleistungen und Serviceangebote etc. aus der Zusammenarbeit von Anbieter/-innen und Konsument/-innen entstehen. Leitend sind die dahinterstehenden Annahmen aus dem Design Thinking: Probleme sollen besser gelöst werden können, wenn interdisziplinäre Teilnehmende in einem kreativitätsförderlich-spielerischen Umfeld gemeinsam eine Fragestellung entwickeln, die Bedürfnisse und Motivationen der Kund/-innen berücksichtigen und dann Ideen entwickeln, die mehrfach mit potenziellen Konsument/-innen getestet werden (*Konsum). Neben den Resultaten soll der Prozess innerhalb von Organisationen durch das Einbinden vieler Beteiligter eine breitere Verantwortungsstruktur ermöglichen. Zweitens bedeutet Ko-Kreation die gemeinsinnorientierte Form eines offenen Innovationsprozesses (engl. open innovation) mit einer netzwerkartigen Wertschöpfungslogik (*Valorisierung). An den Grenzen von Wissenschaft, Unternehmertum, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft, Kunst und Politik soll mit der Hilfe heterogener Akteure gemeinsam etwas geschaffen werden, das alleine nicht möglich wäre. Beispielhaft stehen sogenannte »Social Labs« (Hassan 2014) für anwendungsorientierte Problemlöseverfahren, bei denen diverse Interessenvertreter/-innen sozial-gesellschaftliche Herausforderungen angehen (*Organisation). Wiederum sorgen meist regelgeleitete Designprinzipien für wechselseitige Lern- und Willensbildungsprozesse zwischen den Akteuren. Aus dem spielerischen und affektiven Aufeinandertreffen unterschiedlicher Akteure, und damit diverser Ideen, Perspektiven, Erfahrungen etc., sollen neue Lösungen für die großen Probleme unserer Zeit entstehen. Zur Schärfung des Phänomens Ko-Kreation dient zunächst der Vergleich mit koordinierenden, kooperierenden und kollaborativen Arbeits- und Sozialformen. Networking, Koordination, Kooperation und schlussendlich Kollaboration sind auf einem Kontinuum der zunehmenden interaktiven Integration der in-

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dividuellen Aktivitäten und Ziele verordnet. Das eine ist Baustein des anderen: Koordination erweitert Networking; Kooperation erweitert Koordination; Kollaboration erweitert Kooperation und subsumiert so alle anderen Formen der Ko-Innovation. Entlang des Kontinuums erhöht sich der Grad der gemeinsamen Ziele, des Commitments und der verwendeten Ressourcen für das gemeinsame Unterfangen. Der entscheidende, qualitative Sprung ist zwischen kooperierenden und kollaborierenden Modi kreativer Praxis. Dillenbourg (1999) unterscheidet zwischen Kooperation als Form der fixen vertikalen Arbeitsteilung – die individuelle Bearbeitung von unterschiedlichen Teilaspekten und die additive Zusammenführung dieser Teilleistungen – und Kollaboration als dynamischer horizontaler Arbeitsteilung. Die Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen beinhaltet hier die gemeinsame Gestaltung ebendieser Arbeitsbeziehung. Sowohl das Arbeitsumfeld (vgl. Reckwitz 2012, 182) als auch der Modus der Zusammenarbeit ist selbst zu gestalten. Das ›Ko-‹ der Kollaboration umfasst hier also auch die nicht-menschlichen Akteure – das durch Objekte, Technologien, Atmosphären und Räumlichkeiten gestaltete Arbeitsumfeld wird oft als konstitutiv betrachtet (*Atmosphäre). Das experimentelle System der Kollaboration soll sich entlang der fortschreitenden Zusammenarbeit entwickeln. Kollaborative Zusammenarbeit ist höchst anspruchsvoll: Einem Grundprinzip entsprechend findet sie in einem ›Dazwischen‹ statt, einem wenig definierten Raum, in dem institutionelle und persönliche Grenzen, Motive und Mandate zunächst unklar sind. Es braucht Zeit, Raum und Frustrationstoleranz, um gegenseitiges Verständnis zu entwickeln, unrealistische Erwartungen abzubauen und mit politischen Dynamiken umzugehen. Aus diesen Gründen scheitern viele Kollaborationsversuche oder liefern wenig zufriedenstellende Resultate.

Ko-Kreation als eigenständiges Format und Modus kreativer Praxis Ko-Kreation sucht wie Kollaboration die Synthese und das ›Mehr‹ aus der Summe der anteiligen Arbeitsprozesse; die spezifische soziale Logik der relationalereignishaften Performanz differenziert Ko-Kreation jedoch als eigenständigen Modus (*Performativität). In einer eigentümlichen Verbindung von Professionalisierung und Profanisierung (vgl. Reckwitz 2012, 358 ff.) eröffnet Ko-Kreation hierbei ein differenziertes soziales Modell für Kreativität. Im Gegensatz zu Reckwitz zentraler These (vgl. ebd., 17) ist das soziale Modell für Kreativität hier nicht die ästhetische Kreation des Künstlers/der Künstlerin mit ihrer starken Trennung von Produzent/-in und Publikum. Ganz im Gegenteil ist die »technische Innovation des Erfinders« (ebd.) und Designers/der Designerin in experimentellen, iterativen und ko-kreativen Formaten maßgebend (*Innovation). Unter professioneller Anleitung werden Produzierende und Publikum in

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strukturierten profanen Kreativitätsprozessen nun als »Teilnehmer und Mitspieler« (ebd., 359) eingebunden; es wird versucht, Kreativität als »ein immer schon im Überfluss vorhandenes öffentliches Gut« (ebd., 360) zu aktivieren (*Naturalisierung). In der meist regelgeleiteten spielerisch-performativen Begegnung mit anderen und anderem soll ›etwas passieren‹. Dreh- und Angelpunkt in der (gemeinsam) gestalteten und gestaltenden *Arbeit ist der Wert und der Status des Miteinanders als Mittel und Zweck an sich. Das Hohelied auf kreativ-spielerische Sozialformen ist dabei zumeist ein Abgesang auf die soziale Logik der klassischen Arbeitsteilung. Nicht die diachrone Zerstückelung der ausführenden Arbeit in immer effizientere Prozessschritte, sondern die effektive Synthese aus synchron ablaufender schöpferischer Arbeit steht im Vordergrund (*Computer). Spezifische Eigenheiten von Ko-Kreation als Modus kreativen Handelns werden im Folgenden durch Bezüge zu den beiden erstgenannten Formaten ›Design Sprint‹ und ›Social Labs‹ herausgestellt. Ko-Kreationsformate locken als »Einheit des Besonderen« (Reckwitz 2017, 200) mit ihrer kollektiven Ereignishaftigkeit und Singularität. Während Kollaboration meist längerfristig angelegt ist, sind ›Design Sprint‹ und ›Social Labs‹ auf wenige Tage beschränkt. Sie sind der ultimative Ausdruck von schöpferischer Arbeit als kulturalisiertem Event: temporär-affektive Einheiten mit dem Ziel der ereignishaften Produktion von Zukunft. Die Eigenzeit der Ko-Kreation ist dabei die spielerische Gegenwart. Immer wieder neu soll ›jetzt‹ durch das Zusammentreffen der unterschiedlichen Akteure etwas (Besonderes) passieren. Die Sozialität von Ko-Kreation ist die enthusiastische, anti-bürokratische ›Keimzelle‹ – es geht um die Mittäterschaft derer, die im Dienste der Ko-Kreation ›gemeinsame Sache machen‹. Die »interobjektive« Struktur der affektiven Relationen orientiert sich hierbei nicht so sehr am Leitbild des klassischen Künstlerkollektivs (vgl. Reckwitz 2012, 196 f., 322), sondern am Modell unternehmerischer Designagenturen (›Design Sprint‹) bzw. aktivistischer Mitmachprojekte (›Social Labs‹). Ko-Kreation findet dementsprechend neben ›Labs‹ auch in Studios, Ateliers und Garagen sowie anderen temporären Begegnungsorten des Dazwischen statt (*Bühne). Im performativ-affektiven Kurzschluss von Produktion und Konsumtion ist Ko-Kreation selbstbezüglich und verbindet kollektive Wertschöpfung und Eigenwert. Für das kreative Selbst scheint die Teilnahme an solchen Formaten mehrfach bereichernd (*Selbstgenerierung). Anders als in der Kollaboration sind bei den oft rezeptartigen und moderierten Formaten ›Design Sprint‹ (mehr) und ›Social Labs‹ (weniger) Kontext und Modus der Zusammenarbeit im Gegensatz zu längerfristigen Kollaborationen schon vorbestimmt. Durch den gesetzten und begleiteten Rahmen fällt die oft Frust auslösende Unsicherheit über das ›Wie‹ der Zusammenarbeit weg. Als Paradebeispiel einer im

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Kreativitätsdispositiv zentralen positiven *Affektkultur kann so die »scheinbar unbeschränkte Positivität des Gestaltens, Erlebens, Bewunderns und Anregens, des Könnens und Dürfens« (ebd., 330) ihre sinnliche Selbstzweckhaftigkeit entfalten und dabei gleichzeitig das soziale und kulturelle Kapital der Beteiligten mehren (*Kapital). So bedient Ko-Kreation den »konformistischen Nonkonformismus« (Bröckling 2012, 129) einer postsozialen, singularisierten Kreativgesellschaft. Für eine intensivierte, kurze Zeit können wir uns als Kollektiv fühlen, belebt von den Kreativkräften des Einzelnen. Die von ›Innovationskraftunternehmer/-innen‹ bevölkerte Bühne der Ko-Kreation kann dabei besonders im Format ›Design Sprint‹ als Double Bind erlebt werden. Die Protagonist/-innen der singularistischen Superstarökonomie des 21. Jahrhunderts erleben das Künstlerdilemma des 19. Jahrhunderts: Der Anspruch auf einen intrinsischen Wert kreativer Arbeit reibt sich mit der Kontextualisierung dieses Anspruchs in kompetitiven Marktstrukturen (vgl. Reckwitz 2017, 216 f.; *Kreative Masse) Die kreative Arbeit an der Welt und das Spiel um die Zukunft ist allen Ko-Kreationsformaten gemein. Hierbei lohnt der Blick auf die meist unhinterfragten Methoden und Prinzipien des Design Thinking. Umgesetzt in anwendungsfreundlichen Werkzeugen, Checklisten und Ablaufplänen stellt sich Ko-Kreation hier als Modus einer zielorientiert-regelgeleiteten Weltbearbeitung dar (*Kreativitätstechniken). Die mancherorts auch »human-centered design« genannten Designgrundsätze adressieren dabei private Nutzer/-innen und Konsument/-innen in einer Welt der sich wandelnden Warenästhetik und einer Komfortökonomie (convenience economy; *Ästhetischer Kapitalismus). Im spielerisch-sinnlichen Erzeugen von Differenzen erscheint Ko-Kreation hier als Modus der Weltverarbeitung. Was die systematisierte und als »empirisch« propagierte Orientierung an den Bedürfnissen und Sehnsüchten der Konsumenten suggeriert, erscheint dabei ebenso einfach wie ökonomisch attraktiv: Ideen sind kein Geniestreich, sie lassen sich quasi nach Rezept im Austausch mit den Nutzer/-innen entwickeln. Die unsichere Zukunft wird drastisch reduziert oder sogar abgeschafft. Aus dieser Perspektive kann man fragen, inwiefern Ko-Kreation vor allem kathartisch wirkt, möglicherweise als eine »gigantische Ersatzhandlung […] zur Steigerung des Sicherheitsgefühls« (Hornuff 2017)? Als Kind einer nach permanenter Veränderung und dynamischem Wachstum verlangenden ›Designökonomie‹ erzeugt Ko-Kreation im Format ›Design Sprint‹ verkürzte Zukünfte: In ihrem weltbearbeitenden und verarbeitenden Modus dient Ko-Kreation der ›Diktatur des gewollten und naheliegenden Neuen‹. Auf diese Weise trägt sie zum Erhalt einer politisch problematischen, da alternativlos scheinenden ›absoluten Gegenwart‹ bei; das Neue reduziert sich auf ein Spiel von entweder ästhetischen Differenzen für Konsument/-innen

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auf der Suche nach dem Besonderen oder auf die nächste verbraucherfreundliche App. Die Wachstumsökonomie verlangt nach immer produktiveren Formen der Weltverarbeitung; deren differenzbildende Dynamik verspielt allerdings die Zukunft – denn einer Welterarbeitung steht dies im Weg. Die Orientierung am ›gewollten Neuen‹ – die ›pains‹ und ›gains‹ der als Konsument/-innen adressierten Nutzer/-innen – vergibt das mögliche Potenzial von Ko-Kreation als spielerisch-offenem Umgang mit einer ungewissen Zukunft.

Ko-Kreation als Welterarbeitung? Während fiktionale Erwartungen und imaginierte Zukünfte im unhinterfragten Rahmen eines Marktfundamentalismus die Wirtschaft antreiben, scheinen weite Teile der Gesellschaft gleichzeitig politisch und gesellschaftlich fantasielos geworden zu sein. In diesem Zusammenhang erscheint Ko-Kreation im Gewand der offenen Innovation, wie in den ›Social Labs‹, als mögliche Lösung, verspricht sie doch gemeinschaftliche Welterarbeitung: mehr modus vivendi denn operandi, sollen sich hier freiheitlich-demokratischer Gemeinschaftssinn und die Erzeugung (echter) Zukunft miteinander verbinden und potenzieren können. Damit Ko-Kreation die Zukunft als Möglichkeitsfeld mit Eigenleben im guten Sinne ›aufs Spiel setzen‹ kann, muss sie sich allerdings kritisch fragen lassen (*Kritik): Wie kann sich Ko-Kreation vom doppelten Erbe der Verbraucherorientierung und des Spektakels emanzipieren? Wie entsteht (nachhaltige) Zukunft aus momenthaften Ereignissen? Wie offen ist das ›Ko-‹ der Kreation? In ihrer Suche nach dem Ereignishaften schafft Ko-Kreation oft neue Asymmetrien und Ungleichheiten. Auf der Suche nach dem gewollten Neuen sind besondere Orte, vermeintlich besondere Individuen und ausgefallene Praktiken gefragt – auch wenn auf Diversität gesetzt wird kommt nicht jede(r) in Frage. Die Gefahr der Ko-Kreation ist, dass sie zu einer Art Lifestyle-Arbeit der an sozialem und kulturellem Kapitel reich gesegneten Innovationselite wird. Der Blick auf Ko-Kreation drängt die Frage der Nachhaltigkeit auf. Der eventhafte Charakter vieler Formate lässt vergessen, dass oftmals »Ideen nicht das Problem sind«. Was passiert mit den inzwischen täglich landauf und -ab produzierten Post-it-Bergen? Die Konversionsrate von Ko-Kreation zu nachhaltigen Veränderungen ist statistisch nicht belegt, darf aber wohl niedrig angesetzt werden. Dies hat auch mit der Art der im Rahmen von Ko-Kreation entwickelten Lösungen und deren zugrunde liegenden Veränderungstheorien zu tun. Das Design-Thinking-Erbe impliziert marktbasierte Produkt- und Dienstleistungslösungen. Bei offeneren Formaten fallen die Teilnehmenden schnell auf ihre eigenen, meist individualistisch-kognitiven Veränderungstheorien zurück. Ko-Kreation braucht daher eine Methodenvielfalt und eine situations-

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adäquate Reflektion über Veränderungstheorien aus den erweiterten Design-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Hierzu gehört auch, dass Ko-Kreation das Innovationsmantra »Neu gleich besser« zu hinterfragen lernt. An Ideen mangelt es ja oftmals nicht – deren Umsetzung, Skalierung und Weiterverbreitung braucht allerdings nachhaltige und oftmals vergleichsweise trockene Formen der Zusammenarbeit. Der eventhafte Charakter von Ko-Kreation und die hiermit verbundene positive Affektivität können einer solchen nachhaltigen Arbeit im Wege stehen. Welterarbeitung braucht Zeit, Pflege und einen übenden Umgang mit Unterschiedlichkeiten jenseits eines schnellen Brainstormings. Immerhin bringt die experimentelle Profanisierung von Kreativität in der Ko-Kreation potenziell unterschiedliche gesellschaftliche Anspruchsgruppen zusammen. Die Professionalisierung von Ko-Kreation, gewachsen aus Design- und Ingenieurspraktiken, konstruiert hierbei allerdings die Zielgruppe als ›private‹ Nutzer/-innen und Verbraucher/-innen. Was wäre, wenn statt des verbraucherorientierten Designansatzes ein bürgerzentriertes Design (citizencentered design – Bürger im Sinne von ›citoyen‹, nicht ›bourgeois‹) sinn- und handlungsstiftend für Ko-Kreation wäre? Und zwar in beiden Formaten ›Design Sprint‹ und ›Social Labs‹? In diesem Sinn hat Ko-Kreation durchaus das Potenzial, eine lebendige demokratische Praxis zu sein. Neben ihren Arbeitsbedingungen würde es in der bürgerzentrierten Ko-Kreation – im Gegensatz zu den meisten Problemlösungsformaten – noch zu zwei weiteren Gestaltungsaufgaben kommen: Es gilt in einem ersten Schritt das Spiel mit der Zukunft gemeinsam zu erfinden und dabei, wie bei jedem Spiel, die Regeln gegebenenfalls verändern zu können. Das Spielfeld wäre ein Möglichkeitsfeld rund um ein gemeinschaftlich relevantes Anliegen. Dabei wären die Teilnehmenden zweitens nicht (nur) als private Verbraucher/-innen zu adressieren, sondern immer auch als citoyen: als Träger/-innen eines emanzipativen Gesellschaftsprojekts. Vielleicht lässt sich Welt und Zukunft so erspielen, auch wenn sie dann anders kommt. Die Gegenwart hätte sie auf jeden Fall schon verändert.

Literatur Bröckling, Ulrich (2012): »Die Tyrannei des Neuen. Ulrich Bröckling über ›Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung‹ von Andreas Reckwitz«, in: Texte zur Kunst 88, S. 129. Dillenbourg, Pierre (1999): »What Do You Mean by Collaborative Learning?«, in: ders. (Hg.), Collaborative-learning: Cognitive and Computational Approaches, Oxford: Elsevier S. 1-19. Hassan, Zaid (2014): The Social Labs Revolution: A New Approach to Solving our Most Complex Challenges, San Francisco, CA: Berrett-Koehler Publishers, Inc.

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Hornuff, Daniel (2017): »Lasset uns denken! Wie Teamwork zum Dogma wurde«, in: Brand Eins, 09/2017. Quent, Marcus (Hg.) (2016): Absolute Gegenwart, Berlin: Merve Verlag. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp.

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Von der »Unvermeidlichkeit des Kreativen« in der Gegenwartskultur zu sprechen – wie die Ausgangsdiagnose von Andreas Reckwitz’ Studie über die »Erfindung der Kreativität« lautet – leuchtet nur dann ein, wenn davon auch ein Bereich betroffen ist, der lange Zeit kaum mit der aktiven Hervorbringung des Neuen in Verbindung gebracht wurde: der Konsum (Reckwitz 2012, 9). Und tatsächlich vertritt Reckwitz nicht nur die Auffassung, dass sich die Kultur der Moderne auf eine Weise transformiert hat, die »den Status des Konsums für die moderne Lebensführung umstürzt und von der diskreditierten Peripherie in das Zentrum des modernen Lebensstils verschiebt«, sondern darüber hinaus die Ansicht, dass die Konsumkultur selbst einem Wandel hin zur Kreativität unterliege (Reckwitz 2008, 221). In der späten Moderne (also seit den 1970er Jahren) dominiere zumindest in den westlichen Ländern »der aktive Konsument, der anstelle des Massenkonsums des Fordismus sich einen individuellen Lebensstil aus unterschiedlichen symbolischen Gütern zusammenstellt« und dabei nicht mehr der »sozialen Normalitätskontrolle« der Angestelltenkultur des frühen 20. Jahrhunderts unterworfen sei (Reckwitz 2012, 139; 2008, 230). An die Stelle eines Konsumenten, der sich mit der Verführung zum Erwerb seriell produzierter Waren zufriedenstellt, trete ein neuer Typus, der käufliche Dinge »mit vielfachen Bedeutungen, Imaginationen und IchIdealen« versehe und darauf hoffe, die eigene Identität »durch diese symbolisch und affektiv aufgeladenen Objekte zu transformieren« (Reckwitz 2008, 220; zur Doppelfunktion von Bedeutungsbildung und Identitätstransformation durch Konsumgüter vgl. bereits Ullrich 2006). In welchem Sinne erlaubt es dieser Befund, von kreativem Konsum zu sprechen? Und an welche Grenzen stößt die Subsumtion des Konsums unter das »Kreativitätsdispositiv«? In diesem Eintrag geht es zunächst darum, die Rede vom Kreativkonsum zu präzisieren, um sodann gegenläufige Tendenzen innerhalb des Gegenwartskonsums anzuführen. Das Ziel der Überlegungen besteht darin, den Ort des Konsums innerhalb des Kreativitätsdispositivs genauer zu bestimmen.

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Im vierten Abschnitt seiner Untersuchung trifft Reckwitz zwei eng miteinander verknüpfte Aussagen über den »neuen Konsumenten« (Reckwitz 2012, 142 f.; vgl. auch 191 und 194). Zum einen sei dieser »weniger oder bestenfalls sekundär am Nutzen und Statuskonsum von materiellen Gütern interessiert, sondern daran, im Umgang mit Gütern und Dienstleistungen sinnliche und affektive Erfahrungen zu machen« (*Affektkultur, *Ästhetischer Kapitalismus). Daher werde dieser zweitens als kreativ adressiert, »als ein Subjekt, das nicht bloß Güter kauft und nutzt, sondern auch aktiv Bedeutungen, Erfahrungen und Emotionen produziert und sich mit ihrer Hilfe einen eigenen Lebensstil zusammenstellt.« Bei seiner Konkretisierung des spätmodernen Kreativkonsumenten nimmt Reckwitz eine für sein Buch nicht untypische argumentative Engführung von Kulturalisierung, Ästhetisierung und Kreativität vor, die jedoch nicht zwingend ist (in späteren Überlegungen präzisiert Reckwitz sein Verständnis von Kulturalisierung und definiert diese als Valorisierung oder Eigenwertzuschreibung, vgl. Reckwitz 2016a und *Postskriptum). Generell gilt, dass nicht jede Kulturalisierung eine *Ästhetisierung (im starken Sinn einer Prävalenz des Ästhetischen) impliziert und nicht jede Ästhetisierung mit der Generalisierung von Kreativität einhergeht. Auf dem Gebiet des Konsums lässt sich dies leicht zeigen: Die Zurückstellung des Gebrauchswerts bei der Produktauswahl bedeutet nicht unbedingt, das Design zum Kaufkriterium zu machen – genauso gut können ethische Gründe den Ausschlag geben. Und so einleuchtend es ist, den Konsum in der Spätmoderne nicht bloß auf statusbezogene Symbolwerte bezogen zu sehen, sondern weiterreichende Zeichenund Ereigniswerte in den Blick zu rücken, so wenig folgt daraus ohne weiteres die Adressierung der Konsumsubjekte als kreative Akteure. Ästhetisierte Produkte setzen nicht automatisch die Kreativität ihrer Käuferinnen und Käufer in Bewegung, vielmehr mag sich ihr stimulierender Effekt auf das Auslösen präformierter Imaginationen beschränken (*Farbe). Umgekehrt kann sich das Innovationsvermögen von Konsumenten auch bei der Erfindung von Gebrauchswerten zeigen, ohne dabei auf die Zeichenhaftigkeit der Dinge oder ihren Erlebniswert abzuheben. Trotz dieser Einschränkungen wird man Reckwitz’ Diagnose zustimmen, dass sich der gegenwärtige Konsum vielfach als kreativ bezeichnen lässt. Drei Typen von Konsumentenkreativität können meines Erachtens unterschieden werden: anverwandelnder, kuratierender und koproduzierender Konsum.7 Unter anverwandelndem Konsum verstehe ich die Umgestaltung und Umnutzung käuflicher Dinge durch Verbraucher, wie sie die angelsächsischen Cultural Studies, die neuere Ethnologie und Michel de Certeaus Theorie des Alltagslebens beschrieben haben. Dabei geht es um findige Umgangsweisen mit Waren und eigensinnige Aneignungspraktiken, in deren bisweilen sub7 | Der folgende Abschnitt folgt meiner Einleitung zu Hohnsträter 2016, 7-13.

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versiv gemeintem Gestus ein gegenkultureller Rest mitgeführt werden kann (vgl. de Certeau 1988). Ein Beispiel dafür ist die Verfremdung des Logos auf Apple-Computern, bei der ein bewusster Verzicht auf das Prestige der Premiummarke zugunsten individueller Aneignung geleistet wird (dass damit ein je nach Milieu stärkeres, sekundäres Prestige erzeugt werden kann und der Konzern sich diese Praxis längst in einem Werbeclip einverleibt hat, lässt allerdings Zweifel an der Wirksamkeit der Unterwanderungsabsicht auf kommen). Mit kuratierendem Konsum sei die von Reckwitz stark gemachte Praxis individueller Auswahl und überraschender Kombination von Waren bezeichnet, die von Konsumenten mehr oder weniger phantasievoll zur symbolischen Selbstpräsentation und stilistischen Distinktion vorgenommen wird (*Kuratieren). Dieser Ansatz zeigt eine auffällige Nähe zum »Künstler als Arrangeur« und bestätigt am ehesten die These vom im Kreativitätsdispositiv verorteten Konsum (Reckwitz 2012, 115). Der dritte, von mir als koproduktiv bezeichnete Typus kreativen Konsums reicht bis in die Produktionssphäre hinein. Er meint die Beteiligung von Konsumenten am Entwurf der Waren, beispielsweise im Rahmen sogenannter Mass-Customization. Alvin Toffler hatte bereits 1980 den Begriff des Prosumenten eingeführt, um damit Personen zu beschreiben, die selbst Hergestelltes auch selbst verbrauchen. (vgl. Toffler 2010; sowie kritisch rekonstruierend Hellmann 2010) Im Zuge der Digitalisierung wird Tofflers Terminus weiter konnotiert und schließt partizipative Praktiken ein, die vom individuellen Produktkonfigurieren im Online-Handel bis zur Mitgestaltung von Computerspielen seitens der Spielteilnehmer reichen (*Produkt). Durch die Eigenaktivität der Kon- oder eben: Prosumenten werden Sach- und Dienstleistungen »in ihrer Beschaffenheit, ihrer Verwendungsweise und ihrem Erscheinungsbild soweit verändert, daß man kaum mehr von Konsumtion im klassischen Sinne sprechen kann« (Hellmann 2010, 29). Tim Brown, der Präsident der Designagentur IDEO, bringt diese neue Konstellation auf den Punkt: »Früher haben Unternehmen neue Produkte entwickelt und den Kunden vorgesetzt. Heute gibt es die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kunden Neues zu entwickeln und sogar eine Plattform zu schaffen, auf der Konsumenten selbständig Produkte entwerfen« (Brown 2012, 102). Was Brown als Fortschritt bewertet, spiegelt freilich auch die von Reckwitz herausgearbeitete Doppelstruktur von »subjektivem Begehren und sozialer Erwartung«, Wunsch und Anforderung, die das Kreativitätsdispositiv auszeichnet, wider (Reckwitz 2012, 10; *Dispositiv, *Genealogie). Denn die vorgebliche Befreiung kann auch als raffinierte Ausbeutung von *Arbeit und Zeit, Energie und Einbildungskraft der Kunden interpretiert werden. In der wissenschaftlichen Debatte um kreativen Konsum herrscht kein Konsens (vgl. Hellmann 2016). Wie kreativ sind die mit diesem Attribut beschrie-

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benen Praktiken tatsächlich? Methodisch spricht die von Reckwitz an anderer Stelle zu Recht hervorgehobene, zugleich ermöglichende und einschränkende Affordanz-Struktur von Artefakten gegen die Annahme sehr weit reichender Kreativitätsspielräume beim Konsum (vgl. Reckwitz 2016b, 92 ff.). Welchen Anteil nehmen die kreativen Konsum-Praktiken am Gesamt des gegenwärtigen Konsumierens ein? Auch Reckwitz relativiert den im Dispositivbegriff mitschwingenden Totalitätsanspruch, wenn er einräumt, »dass sich einzelne Segmente der spätmodernen Gesellschaft der Ästhetisierung entziehen« und betont, dass die Wirtschaft der Spätmoderne »nicht zur Gänze eine ästhetische Ökonomie« sei, vielmehr »bestimmte, herausgehobene und expandierende Arbeits-, Markt- und Konsumformen« die »Produktion neuartiger Zeichen, Sinneseindrücke und Affekte« forcierten (Reckwitz 2012, 39 und 140). Des Weiteren nuanciert seine Schlussbetrachtung zur »Alltagsästhetik der Wiederholung« das Narrativ (ebd., 362-368). Blickt man auf den Konsum, so fällt auf, wie sehr Normalitäten und Routinen das Geschehen bestimmen – und dies nicht nur als kulturhistorisches Residuum, sondern der Logik des Überflusses folgend (*Naturalisierung). Zu konsumieren bedeutet in vielen Fällen weniger zu kreieren, zu kuratieren und zu stilisieren als sich auf als vertrauenswürdig bestimmte Entlastungsinstanzen zu verlassen. Weil es praktisch unmöglich ist, die Fülle des Warenangebots persönlich und in jedem Fall zu prüfen, ziehen Konsumenten das Bewährte dem Neuen, das Sortiment der Suche, die Marke dem Experiment vor. Man vertraut Made in Germany, Manufactum und Miele, der Stiftung Warentest, dem EU-Biosiegel und dm. Wochenmarkt und Stammitaliener sind Ausdruck wohltuender Wiederholung statt permanenter Wahl; Trägheit und Ritual des Normalkonsums entlasten vom Erneuerungsdruck. Eine vielleicht nicht tonangebende, aber doch still die Wirtschaft tragende Mehrheit will den gleichen Turnschuh wie Michael Jordan, den gleichen Dorsch wie Friedrich Liechtenstein und die immer gleiche Customer Journey bei Aldi, kurzum, sie will alles, nur nicht den Aufwand, sich selbst zu erfinden (*Selbstgenerierung). Zwar lässt sich gegen diese Beobachtung einwenden, dass die Wertschätzung vom Entlastungserleben ex negativo auf soziale Kreativitätserwartungen bezogen bleibt und insofern die Dominanz des Dispositivs bestätigt. Zugleich fällt aber auf, dass selbst da, wo Kreativkonsum etabliert ist, sich gleichsam von innen heraus Korrekturen entwickeln. Wer die Website des bayerischen Startups mymuesli besucht, sieht sich mit der Aufforderung »Sei kreativ« konfrontiert (vgl. mymuesli 2018). Aus über 80 unterschiedlichen Bio-Zutaten können die Kundinnen und Kunden nach Angaben des Unternehmens 566 Billiarden Müslivariationen kombinieren. Doch abweichend vom ursprünglichen Alleinstellungsmerkmal bietet das Unternehmen mehr und mehr Fertigmischungen an, hebt die beliebtesten Zutaten hervor (»Da ist es gar nicht so leicht zu wissen, wo man anfangen soll.«) und bringt vorportio-

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niertes »Lieblingsmüsli« auf den Markt. Offenbar wollten viele Kunden sich nicht die Mühe machen, ihr Müsli jeden Morgen neu zu erfinden. Ist der gegenwärtige Konsum also zum Inbegriff der »leitenden kulturellen Form, die das moderne Individuum annimmt« geworden, zum Vorzeigefall des Kreativitätsdispositivs? (Reckwitz 2008, 221) Zweifellos kann die zentrale Stellung des Konsums als einer Arena des Selbstausdrucks, der Kommunikation und des ästhetischen Erlebens kaum sinnvoll bestritten werden. Der moderne Konsument ist als eigensinnig anverwandelndes, einfallsreich kuratierendes und koproduktiv prosumierendes Subjekt zudem ein kreatives. Allerdings treibt die Logik des (Über-)Vielen auch die Installierung von Entlastungsinstanzen hervor, die sich zu den Imperativen des Kreativitätsdispositivs gegenläufig verhalten.

Literatur Brown, Tim (2012): »›Wir müssen mehr Wissen preisgeben.‹ Tim Brown im Gespräch mit Lothar Kuhn und Michael Leitl«, in: Harvard Business Manager, 05/2012, S. 100-103. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve Verlag. Hellmann, Kai-Uwe (2010): »Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte«, in: ders./Birgit Blättel-Mink (Hg.), Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden: Springer/VS, S. 13-48. Hellmann, Kai-Uwe (2016): »Der Zauberstab: ein Quell der Freude für jede gute Hausfrau. Soziologische Reflexionen zum Verhältnis von Konsum und Kreativität«, in: Dirk Hohnsträter (Hg.), Konsum und Kreativität, Bielefeld: transcript Verlag, S. 165-193. Hohnsträter, Dirk (Hg.) (2016): »Einleitung«, in: ders., Konsum und Kreativität, S. 7-13. mymuesli (2018): »Mixtipps«, in: mymuesli.com. Online verfügbar unter: https://www.mymuesli.com/mixtipps (abgerufen am 18.09.16). Reckwitz, Andreas (2008): »Das Subjekt des Konsums in der Kultur der Moderne. Der kulturelle Wandel der Konsumtion«, in: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld: transcript Verlag, S. 219-223. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2016a): »Zwischen Hyperkultur und Kulturessentialismus. Die Spätmoderne im Widerstreit zweier Kulturalisierungsregimes«, in: Soziopolis, 24.10.16. Online verfügbar unter: http://www.soziopolis.de/ beobachten/kultur/artikel/zwischen-hyperkultur-und-kulturessenzialis​ mus/ (abgerufen am 22.02.17).

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Reckwitz, Andreas (2016b): »Kultur und Materialität«, in: ders. (Hg.), Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld: transcript Verlag, S. 83-95. Toffler, Alvin (1980): The Third Wave, New York: Bantam Books. Ullrich, Wolfgang (2006): Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt a.M.: Fischer Verlag.

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Die Rhetorik der kreativen Klasse Seitdem der Kultur- und Kreativsektor in der ökonomischen Diskussion einen immer beträchtlicheren Raum für sich beansprucht, ist ein Interesse am Begriff der kreativen Klasse zu verzeichnen. Es überrascht nicht, dass sich auch Die Erfindung der Kreativität gleich zu Beginn und damit als allererste Referenz auf diesen Terminus bezieht (vgl. Reckwitz 2012, 9). Die Begriffsprägung verdankt sich den Arbeiten von Richard Florida (2002). In seinem Bestseller The Rise of the Creative Class führt der amerikanische Stadtforscher das Entwicklungspotenzial einer gegebenen Stadt auf deren Fähigkeit zurück, das anzuziehen, was er auf den Namen »kreative Klasse« tauft (*Creative Cities). Die kreative Klasse wird zunächst relativ breit definiert, und sie umfasst nicht nur *Künstler, Dichter, Musiker und Schauspieler, sondern auch Wissenschaftler und Ingenieure, Architekten und Designer, bis hin zu der sogenannten thought leadership, zu der Analysten, Forscher, Feuilletonisten und allgemein die buntgescheckte Gruppe der wissensbezogenen (knowledge-based) Arbeiter gehören, die in den unterschiedlichsten Bereichen angestellt sind, von der Technologie bis hin zu Finanzdienstleistungen. Was die Kreativen verbindet, ist das Setzen auf die eigene Erfindungsgabe und auf das Talent zur *Innovation, um neue, bedeutsame Formen (meaningful new forms) zu generieren. Was die Lektüre von Floridas Buch lehrt, ist die Tatsache, dass es für Städte nicht nur vorteilhaft ist, solche Profile für sich zu gewinnen, sondern dass der Eintritt in die kreative Klasse grundsätzlich allen offensteht – und grundsätzlich auch von allen begehrt wird (*Kapital). Wenn Kreativität tatsächlich ein Merkmal menschlichen Daseins darstellt, und entsprechend ›niemand nicht kreativ‹ sein kann, dann gehört jedes Individuum (zumindest potenziell) immer schon der kreativen Klasse an. De facto zählen aber nur solche Individuen wirklich dazu, die auch hinlänglich ambitioniert, entschlossen und erfolgreich sind, um für ihre Kreativität bezahlt zu werden (*Ko-Kreation). Entsprechend stellt sich die kreative Klasse als eine Menge dar, die aus begabten und motivierten Personen besteht, die ihre Erfindungsgabe frei und autonom ausdrücken können, äußerst ehrgei-

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zig sind und an Werte wie Leistung und Individualität glauben, die statischen Lebensformen und monotonen Arbeitsrhythmen entfliehen, um sie gegen Selbstständigkeit und Flexibilität einzutauschen und ihren Intuitionen rückhaltlos zu folgen. Gleich fallen einem, bei einer solchen Auflistung, bestimmte Biografien von Persönlichkeiten ein, die durch Bücher und Biopics berühmt wurden, und zu den bekanntesten Vertretern dieser Klasse gehören. Tatsächlich hält die Figur der kreativen Klasse, wie sie Florida konzeptualisiert, täglich in unserem Alltag Einzug, und zwar durch Erzählungen und vermittels jener, die es geschafft haben: all die Steve Jobs und Mark Zuckerbergs, die so etwas wie das erfüllte Versprechen darstellen, das an jeden von uns gerichtet war. Bei einem derlei frivolen Einsatz eines so bedeutsamen Begriffs wie ›Klasse‹ waren die kritischen Reaktionen allerdings programmiert, und einer einseitigen Beschwörung von Werten wie Selbstverwirklichung und Freiheit wurden die Dimensionen der Unterdrückung, der Macht und der Ungleichheit entgegenhalten. Zu den Kritikern des Begriffs der kreativen Klasse gehören Forscher wie etwa Andy Pratt und Rosalind Gill (2008), die die Kehrseite der Medaille betont haben, in Gestalt eines neuen Kapitalismus, der in der Form des kreativen Unternehmens und eines ins Extreme gesteigerten Individualismus seinen Ausdruck findet (*Ästhetischer Kapitalismus, *Kritik, *Queer). Mit dem Versprechen, dass jeder Teil dieser ›Klasse‹ werden kann, bewegt sich die ›Masse‹ der Kreativen in diese Richtung hin, und wird dabei nicht selten in die Prekarisierung gedrängt, in der Rechte und Einspruchsmöglichkeiten grundsätzlich verwehrt sind (*Arbeit). Wie bereits früher, so verfallen auch heute – um es in den Worten Adornos und Horkheimer auszudrücken – »die betrogenen Massen mehr noch als die Erfolgreichen dem Mythos des Erfolgs« (Adorno/Horkheimer 2006, 142). So kommt es denn auch, dass der Begriff der kreativen Klasse nach einem Gegenbegriff ruft: dem der kreativen ›Masse‹. Doch worin besteht diese Masse genau, unter der Vorgabe der heutigen Kulturindustrie? Ohne gleich wieder die Namen bedeutender Denker zu bemühen, die in der Vergangenheit für ihre jeweiligen philosophisch-politischen Projekte auf dem Begriff der ›Masse‹ setzten, möchten wir versuchen, den Blick auf die Gegenwart zu richten und ihn an realen Praktiken in der gegenwärtigen Kultur- und Kreativindustrie zu schärfen. Unser folgendes Beispiel aus Italien knüpft damit an eine zentrale Behauptung von Andreas Reckwitz an, nämlich seine These, der Kreativitätsimperativ gelte für »Individuen ebenso wie für Institutionen« (Reckwitz 2012, 9), und spezifiziert sie im Hinblick auf den Kulturbetrieb, der bei Reckwitz in erster Linie im Hinblick auf das »Starsystem« (ebd. 239 ff.) vorkommt.

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Auf der Suche nach der kreativen Masse Der hier vorgeführte Gedankengang fußt auf einer umfassenden Studie über zeitgenössische italienische Opernhäuser, und damit über den Kern der Kreativindustrie, genauer gesagt auf einer Reihe von Beobachtungen, die an einem dieser Theater zwischen 2014 und 2015 angestellt werden konnten (vgl. Trevisan 2017). Anders als die deutschen und überhaupt mitteleuropäischen Opernhäuser sind die italienischen traditionell an ein System gebunden, dessen Produktionen stark saisonbezogen sind. Das heißt, dass jeder Titel einer Saison als selbstständiges Projekt verstanden wird, für das während einer überschaubaren (nämlich auf die Projektdauer beschränkten) Zeit verschiedene künstlerische Persönlichkeiten zusammenwirken. Die Besonderheit eines solches Systems, das jede Opernaufführung als eigenständiges Projekt ansieht, besteht darin, dass sich die jeweiligen Ensembles immer wieder neu zusammensetzen, und keine festen Angestellten des Opernhauses sind, sondern ad hoc für ein Einzelprojekt eingestellt werden. Tatsächlich stellt kein einziges Operntheater Italiens Solisten oder Regisseure fest an, dafür hat hingegen jedes ein mehr oder weniger großes Castingbüro, das wiederum Beziehungen zu diversen Agenturen unterhält, Proben durchführt und die Verträge mit den Künstlern für jede einzelne Produktion vorbereitet. Zu den Festangestellten gehören nur die Mitglieder des Orchesters und des Chors. Auf sie ist in der Regel der Ausdruck der ›künstlerischen Masse‹ gemünzt, im Opernjargon, aber durchaus auch in offiziellen Dokumenten. Die hier vorgelegte Konzeptualisierung der kreativen Masse nimmt ihren Ausgang von dieser empirischen Fallstudie, beschränkt sich allerdings nicht darauf. Allgemein ist Kreativität in Opernhäusern kein Vorrecht, das Musikern und Solisten vorbehalten wäre. Für Mitglieder der künstlerischen Massen gilt, dass der Status des Künstlers durch spezifische Ausbildungen institutionalisiert und durch Akademien und Konservatorien beglaubigt wird. Kunst ist allerdings eine »kollektive Handlung«, wie es bei Howard Becker heißt (1974), und wer Kunst analysiert, kommt nicht umhin, die dazu notwendige Arbeitsteilung zu analysieren, die sie möglich macht. Während es einerseits Künstler gibt, so gibt es andererseits eine ganze Reihe von Subjekten, die das künstlerische Projekt mittragen, und deren Beteiligung unabdingbar ist, damit das Projekt zur Verwirklichung kommt. Die Grenzziehung zwischen Arbeitsformen, die ein bestimmtes künstlerisches Gespür verlangen (und somit zwischen Arbeitern, die als Künstler angesehen werden können) und solchen, die darauf verzichten können, ist gleichwohl weder selbstverständlich noch den jeweiligen zeitlichen und sozialen Kontexten enthoben, sondern hängt stark von Normen und Konventionen jedes spezifischen künstlerischen Feldes ab. Unsere Fallstudie im Opernhaus hat zum Nachweis geführt, dass in der technischen Sparte, insbesondere bei

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den Bühnenbildbauern und bei den Kostümschneidern, eine ganze Reihe von Tätigkeitsprofilen durchaus einen Anteil an der kreativen Dimension des Projekts für sich in Anspruch nimmt. Die Vorgaben erhalten sie zwar von den Bühnenbildnern und den Kostümdesignern, und setzen sie dann um. Doch anders als bei verwandten Arbeitsprofilen, die in den klassischen Sparten der industriellen und handwerklichen Produktherstellung arbeiten, pflegen sie das ›Schöne‹: Die Bühnenbilder müssen nicht nur auf der Bühne Bestand haben, die Kostüme nicht nur der Figur der Sänger auf den Leib geschnitten, und die Beleuchtung nicht nur funktional sein – sie müssen auch schön sein. Diese Zweckdienlichkeit mit der Schönheit zu verbinden, die visionären Ideen der Bühnen- oder Kostümbildner konkret umzusetzen, ohne deren künstlerische Intuition dabei zu opfern, das allein ist schon ein kreativer Akt. Im Operntheater umfassen die kreativen Massen das künstlerische Ensemble (Orchester und Chor) sowie die technische Abteilung und kraft einer sorgfältigen Arbeitsteilung beider kann die kulturelle Produktion, d.h. die Opernaufführung, entstehen. Operntheater haben solange Erfolg, wie ihre Massen technisch und künstlerisch sind, und sich als fähig erweisen, die künstlerischen Visionen von Dirigenten und Regisseuren zu verstehen, zu interpretieren und auf die Bühne zu bringen. Was von den Mitgliedern der kreativen Masse verlangt wird, entspricht also weniger der Tatsache, der eigenen Begabung und der individuellen Kreativität freien Lauf zu lassen, als vielmehr, an einem gemeinsamen Strang zu ziehen und ein Projekt auf die Beine zu stellen, das von allen Teilnehmer verlangt, die eigene technische Fertigkeit und künstlerische Sensibilität für ein kollektives Unterfangen einzubringen (*Ko-Kreation). Vom Orchester verlangt man etwa, bereits vorliegende Partituren zu spielen, und nicht neue zu schaffen, und von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass die Interpretation einzigartig und bei der Ausführung alle aufeinander abgestimmt sind, ohne dass sich einzelne dabei profilieren. Ähnlich geht es in der technischen Abteilung zu, wo das Motto gilt: »Alle sind wichtig, aber niemand ist unverzichtbar«, der Einzelne mag noch so qualifiziert sein; sinnvoll wird seine Arbeit erst im Zusammenspiel mit anderen. An dieser Stelle unserer Untersuchung der kreativen Masse lässt sich festhalten, dass das Kreativsubjekt der Arbeitsindustrie weniger im Einzelnen zu suchen ist (*Kuratieren), als vielmehr im Ensemble – und damit in der Masse. Will man versuchen, das Ergebnis dieser Beobachtungen zu verallgemeinern, kann man behaupten, dass die kreative Masse ein Orchester sein kann, aber auch eine Zeitungsredaktion, ein Modehaus, ein Team von EDV-Entwicklern und vieles mehr. Alles Namen, die im Singular geführt werden, die jedoch für Organisationsformen stehen, innerhalb derer die kreative Masse ihre kreative Tätigkeit ausführt (*Organisation). Die Masse ist es, die das Neue mittels ästhetischer Praktiken und Episoden hervorbringt: etwas Besonderes, Einzigartiges und (für einen Moment) Unvergleichliches, das Zuschauer bewegt (etwa eine

Kreative Masse

Opernaufführung), die Erfahrung von Konsumenten mit Bedeutung anfüllt oder die affektive Sphäre der Nutzer sozialer Netzwerke unterfüttert (Reckwitz 2012, 25; *Affektkultur). Die kreative Masse glaubt an kollektive Werte wie Kooperation, Bescheidenheit, Respekt gegenüber Mitmenschen und deren Arbeit, Kompromissfähigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Der eigene Einsatz, d.h. das jeweilige kreative Talent, das die Mitglieder der kreativen Masse in einem gemeinsamen Projekt an den Tag legen und bei dem sie wissen, dass ihr Beitrag nicht mehr und nicht weniger hervorgehoben wird als der aller anderen, ist durch das Vertrauen in die Qualität des Projekts motiviert und in die jeweiligen Emotionen, die es hervorruft (etwa ein Musiker, der sich aus Liebe zur Oper um die Aufnahme in ein entsprechendes Orchester bemüht, oder die Autor/-innen dieses Buches, die durch ihren jeweiligen Text hoffen, einen bescheidenen Beitrag zum Gesamtverständnis von Kreativität beitragen zu können). Selbstverwirklichung rührt dann weniger von so etwas wie Autonomie und Freiheit her als sie vielmehr von der Lust getragen ist, neue Erfahrungen, neue Bedeutungen und Formen zu entwerfen.

Unterwegs zu einer vom Kreativitätsdilemma befreiten kreativen Masse Unser Fallbeispiel der italienischen Opernhäuser erinnert daran, dass wir Opernaufführungen nicht so sehr einzelnen Komponisten, Dirigenten oder Sopranisten verdanken als vielmehr einem Zusammenspiel von Orchestermusikern, Chorsängern und Technikern. Dennoch haben die Untersuchungen auch ergeben, dass es für einige Musiker noch immer mit einem Makel behaftet bleibt, wenn man Teil der Masse ist, anstatt in die Klasse der Solisten aufsteigen zu dürfen: Nach Jahren der Übung und der Aufopferung, an deren geträumtem Ende eine Karriere stehen sollte, die dem eigenen Vorbild nachempfunden ist, ist es für einige sogar schlimmer, ein hervorragender Orchestermusiker zu sein als ein schlechter Solist. Ein anderer aus der Fallstudie hervorgehender Faktor ist, dass die Kreativindustrien wie Unternehmen strukturiert sind, und als solche sich an Grundsätzen wie Wirtschaftlichkeit, Effizienz und unternehmerischem Geist orientieren. Dennoch wurde auch deutlich, inwiefern die Anwendung rein marketingorientierter Strategien sowohl in der technischen Sparte als auch in der künstlerischen Masse einen Konflikt zwischen Kunst und Ökonomie erzeugte. Kurzum, anders als im klassischen Konzept der kreativen Klasse, bei dem der Schwerpunkt auf dem Individuum als schöpferischem Subjekt liegt, erinnert die ›Entdeckung der kreativen Masse‹ daran, dass die Kunst-, Kultur- und Kreativproduktion stets eine relationale Komponente enthält (die nur dadurch zur Verwirklichung kommen kann, dass die Autonomie und der individuelle

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freie Ausdruck zumindest in Teilen zugunsten eines gemeinsamen Projekts zurücktritt) sowie eine organisationale bzw. unternehmerische Komponente (die wiederum voraussetzt, dass zwischen der Kreativität als Wert per se und den wirtschaftlichen und finanziellen Zielen der Organisation ein Kompromiss gefunden wird). Solche Merkmale tragen dazu bei, bei den Mitgliedern der kreativen Masse eine Reihe von Frustrationen zu erzeugen: die Frustration, sich nicht aus der Masse abzuheben und das eigene Potential nicht als ›Solisten‹ ausleben zu können, aber auch die Frustration, nicht selbstbestimmt entscheiden zu können, wie die eigene Kreativität eingesetzt werden kann, wenn man sich nach unternehmerischen Vorgaben fortwährend ›verkaufen‹ muss. Solcherlei Dilemmata können dadurch behoben werden, dass der Kreativitätskomplex von der Rhetorik der kreativen Klasse befreit wird. Das hieße dann nicht nur, der ästhetischen Ökonomie und der Kunst-, Kreativ- oder Kulturproduktion endlich jene relationale und organisationale Komponente zuzuerkennen, die ihr eigen ist. Es würde darüber hinaus auch bedeuten, den Mitgliedern der kreativen Masse, die allzu oft zwischen dem Erfolgsmythos und der Illusion völlig ungebundener Kreativität gefangen sind, eine eigene Würde zuzusprechen, indem solche Grundprinzipien hochgehalten werden, die im Absatz zuvor genannt wurden. Aus dem Italienischen übersetzt von Emmanuel Alloa.

Literatur Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (2006): »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 148-196. Becker, Howard S. (1974): »Art as Collective Action«, in: American Sociological Review 39(6), S. 767-776. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class, and How It Is Transforming Work, Leisure, Community and Everyday Life, New York: Basic Books. Gill, Rosalind/Pratt, Andi (2008): »In the Social Factory? Immaterial Labour, Precariousness and Cultural Work«, in: Theory, Culture & Society 25(7-8), S. 1-30. Trevisan, Paola (2017): Reshaping Opera. A Critical Reflection on Arts Management, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing.

Kreativitätstechniken Claudia Mareis

Der Imperativ ›kreativ zu sein‹ betrifft seit spätestens den 1950er Jahren längst nicht mehr nur vereinzelte Akteure in Kunst, *Design oder Architektur, sondern ist zu einer Grundlage für spätmoderne Gesellschaften insgesamt avanciert. Andreas Reckwitz zufolge durchzieht dieses sogenannte »Kreativitätsdispositiv« fast alle sozialen Schichten und Tätigkeitsfelder unserer Gesellschaft. Es zeigt sich als normatives »Regime des Neuen« (Reckwitz 2012, 327), für das die Forderung der permanenten Erzeugung innovativer Objekte, Subjekte und Affekte genauso konstitutiv ist wie deren ständige Vermarktung und Konsumption (*Affektkultur, *Innovation, *Konsum). Kreativitätstechniken spielen bei der Durchsetzung und Stabilisierung des von Reckwitz beschriebenen Kreativitätsdispositivs eine zentrale Rolle, da sie das Versprechen auf Systematisierung und Produktivmachung ungebändigter kreativer Prozesse und impliziter Wissenspotenziale in sich bergen. Vor dem Hintergrund postfordistischer Wissensökonomien, unternehmerischer Selbstoptimierung und neoliberaler Deregulierung ist der Einfluss vermeintlich trivialer Kreativitätstechniken keinesfalls zu unterschätzen, da der ökonomische Wert von kognitivem Kapital, wie es Kreativität oder Wissen darstellen, zunehmend an Bedeutung gewinnt (vgl. Reckwitz 2012, 139). Die spielerische Leichtigkeit und der lässige Habitus, mit denen Kreativitätstechniken vielfach daherkommen, täuschen darüber hinweg, dass der Kampf um die besten Ideen und Designs längst nicht mehr nur eine unternehmerische, sondern vielmehr eine soziale und gesellschaftliche Überlebensstrategie geworden ist (*Imagineering).

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Systematik Als ›Kreativitätstechniken‹ werden gemeinhin Methoden und Vorgehensweisen bezeichnet, die der gezielten, planmäßigen Stimulation und Erzeugung neuartiger Ideen, Problemlösungen, Designs und Produkte dienen sollen.8 Dazu zählen kombinatorische Verfahren, Assoziations- und Fragetechniken, Notations- und Visualisierungstechniken, Methoden der Problemstrukturierung, Szenariotechniken oder Rollenspiele. Zu den bekanntesten Kreativitätstechniken der Gegenwart gehören Methoden wie Brainstorming oder Synectics (moderierte Ideenfindungsprozesse in der Gruppe), der morphologische Kasten (ein kombinatorisches Verfahren zur Erzeugung von Problemlösungsvarianten) oder Mindmaps (assoziativ-visuelle Gedankenlandkarten). Der kreativitätstechnischen Logik folgend werden neuartige Ideen und Einfälle nicht plan- oder absichtslos generiert, sondern mit Ankündigung und System: Erst durch die Befolgung spezifischer Prozeduren und Regeln eröffnet sich – so die Leithypothese kreativer Prozessoptimierung – ein experimenteller Denk- und Handlungsraum, in dem sich die schöpferisch-kreative Tätigkeit optimal entfalten kann. Damit verbunden ist freilich aber auch ein Kontrollmoment, da es stets »zwischen wünschenswerter und fragwürdiger Produktion von neuen Ideen zu unterscheiden« gilt, wie Reckwitz festhält, denn: »Die uneingeschränkte Förderung des Divergenzdenkens wäre einfach zu riskant.« (Reckwitz 2012, 225 f.) Konformität in der Nonkonformität kann demnach als ein wesentliches Element kreativitätstechnischer Praxis gesehen werden (*Naturalisierung). Daneben ist das iterative Wechselspiel von Systematik und Spontaneität, von Kontrolle und Zufall, von Regelbefolgung und -bruch für das Verständnis und die Funktionsweise vieler Kreativitätstechniken konstitutiv, wie Ulrich Bröckling treffend formuliert hat: »Kreativitätstrainings standardisieren den Bruch mit Standardlösungen [...]. Sie normieren die Normabweichung und lehren, sich nicht auf Gelerntes zu verlassen. [...] Kreativ zu sein, bedeutet harte Arbeit und verlangt doch die Leichtigkeit des Spiels.« (Bröckling 2010, 94; *Spiel) Von reinen Versuch-und-Irrtum-Methoden sowie von situativen oder individuellen Ad-hoc-Herangehensweisen unterscheiden sich Kreativitätstechniken durch den Anspruch, das Problem der Kreativität im Sinne einer doppelten Rationalisierung anzugehen. Durch Kreativitätstechniken sollen Ideenfindungs- und Problemlösungsprozesse sowohl rationaler (also nachvollziehbarer) als auch rationeller (also effizienter) gemacht werden. Kreativitätstechniken beruhen auf dem Versprechen, geeignete Ideen und Problemlösungen 8 | Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine weiterentwickelte, überarbeitete Version von: Claudia Mareis (2018): »Kreativitätstechniken«, in: Barbara Wittmann (Hg.), Werkzeuge des Entwerfens. Ein Abecedarium des kreativen Handelns, Zürich/Berlin: diaphanes, S. 89-102.

Kreativitätstechniken

mit einer höheren Wahrscheinlichkeit herbeizuführen, als dies ohne sie der Fall wäre. In der virulenten Phase der Ideenfindung ist aufgrund eines statistischen Kalküls die schiere Quantität von Ideen deren Qualität vorzuziehen: Massenhaft generierte Ideen, zumal wenn sie von mehreren Personen einer Gruppe entwickelt werden, erhöhen die Wahrscheinlichkeit, auf die eine ›zündende‹ Idee zu stoßen, die sich als besonders geeignet und gewinnbringend für den gewünschten Bedarf erweist. Kreativitätstechniken bedienen nicht selten ein utilitaristisches Verständnis von Kreativität. Demnach wird der Wert kreativer Ideen und Produkte vorrangig anhand ihres ökonomischen oder gesellschaftlichen Nutzens gemessen (*Valorisierung). In dieser Lesart, die seit der Nachkriegszeit überhandgenommen hat und kennzeichnend für das von Andreas Reckwitz beschriebene Kreativitätsdispositiv ist, zeichnet sich Kreativität denn auch weniger durch überraschende, phantasievolle Ideen oder die Nonkonformität von Personen aus, sondern durch die Relevanz und Wirksamkeit kreativer *Produkte. Statt wochen- oder monatelang unsystematisch über einem Problem zu brüten und dabei wertvolle Arbeitszeit zu verlieren, sollen Kreativitätstechniken dabei helfen, Ideen innerhalb von kürzester Zeit wie ›am Fließband‹, zu produzieren. So gesehen hallt im Kreativitätsverständnis postfordistischer Organisations- und Dienstleistungsgesellschaften noch immer die tayloristische Effizienz- und Standardisierungslogik industrieller Produktionsprozesse nach (vgl. Mareis 2018; *Organisation). Der eng an den Kreativitätsbegriff gekoppelte Begriff der ›Innovation‹, der seinerseits mit Mythen der sozioökonomischen Verwertbarkeit überbefrachtet ist, unterstreicht nur noch das utilitaristische Bewertungsregime, mit dem schöpferische Arbeit, Erfindergeist und Einfallsreichtum im Kontext des Kreativitätsdispositivs bemessen werden (*Innovation).

Epistemologie Kreativitätstechniken beziehen ihre Legitimation aus der Überzeugung, dass das kreative Potenzial eines Menschen durch geeignetes Training gesteigert werden könne. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass Kreativität eine bis zu einem gewissen Maß erlernbare Fähigkeit oder Kompetenz sei, die durch die gezielte Einübung und die wiederholte Anwendung spezifischer Prozeduren, Methoden und Techniken optimiert werden könne. Kreativitätstechniken unterscheiden sich in dieser Hinsicht deutlich von der Idee einer voraussetzungslosen, unerklärbaren Creatio ex nihilo und setzen dem Mythos des exklusiven, genialischen Schöpfersubjekts ein vergleichsweise rationales, demokratisches, aber eben auch utilitaristisches, unternehmerisches Konzept von Kreativität entgegen. Diese Sicht auf Kreativität ist wesentlich der US-amerikanischen Kreativitätspsychologie geschuldet, deren Fokus sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf das kreative Potenzial der Massengesellschaft rich-

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tete, und die Kreativität zu einer weitverbreiteten ökonomischen Ressource erhob (vgl. Reckwitz 2012, 222 f.; *Coaching). In der Regel adressieren Kreativitätstechniken eine bestimmte Kategorie von schlecht definierten Problemen (wicked problems) und operieren damit im epistemischen Graubereich von Ungewissheit und Risiko. Ihre wesentlichen Anwendungskontexte lassen sich sehr allgemein mit den Stichworten ›Entwurf‹, ›Erfindung‹, ›Ideenfindung‹, ›Problemlösung‹ und ›Innovationsmanagement‹ umreißen. Die Grenzen zwischen einer Technik, die für die Lösung eines Problems, der Herbeiführung einer Entscheidung, der Hervorbringung einer neuen Idee oder eines neuen Produkts zur Anwendung kommt, sind oftmals nicht trennscharf zu ziehen. Ihrer inhärenten methodischen Offenheit entsprechend finden Kreativitätstechniken in zahlreichen unterschiedlichen Arbeitskontexten Anwendung. Sie sind nicht nur in gestalterisch-künstlerischen Arbeits- und Produktionszusammenhängen verortet, sondern auch, wenn nicht sogar überwiegend in technisch-inventiven, organisatorischen, pädagogischen und psychologischen Kontexten auszumachen. Im Kontext technischer oder organisatorischer Arbeitszusammenhänge werden sie namentlich für die Lösung von schlecht strukturierten Problemen empfohlen, bei denen man mit Routinehandeln oder logischen Mitteln allein nicht weiterkommt. Dies wiederum rückt Kreativitätstechniken in eine unmittelbare Nähe zu Heuristiken. Auch für Heuristiken gilt, dass sie vorzugsweise mit Blick auf unklare Problemlagen und in Situationen des begrenzten Wissens zum Einsatz kommen. Kreativitätstechniken erlauben es genauso wie Heuristiken, sich in Anbetracht neuartiger, unbekannter Situationen und ungewisser Problemlagen schrittweise vorzutasten und in der Wiederhol- und Nachvollziehbarkeit dieser Schritte zumindest ein Minimum an Rationalität, Methodik und Systematik zu gewährleisten. Zwar sind weder Heuristiken noch Kreativitätstechniken ein Garant für eine Problemlösung, jedoch scheinen sie die Aussicht darauf dank einem systematisierten Best-Practice-Prozedere merklich zu erhöhen. Indem sie auf das Design zukünftiger Entwicklungen einzuwirken versuchen, stellen Kreativitätstechniken zudem eine temporale Relation zwischen Gegenwart und Zukunft her. Sie behaupten, anders formuliert, eine antizipatorische, projektive Dimension, die sie besonders für Anwendungen in Designprojekten, in der Zukunfts- und Trendforschung oder in der Politikplanung attraktiv macht (*Ko-Kreation). Mit diesen Beobachtungen ist auch bereits angedeutet, dass kreativitätstechnische Praxis mit unterschiedlichen Formen des Wissens und Könnens, des Nichtwissens und Unsicherheitsmanagements zu tun hat. Der Umgang mit Kreativitätstechniken erfordert zunächst ein abstraktes methodisches Wissen über den geplanten Ablauf und die einzuhaltenden Regeln einer solchen Technik. Ebenso fließen bei ihrer Durchführung aber auch Routinen, individuelle Erfahrungen, implizites Handlungswissen, subjektive Erwartungshal-

Kreativitätstechniken

tungen oder Vorannahmen ein, die den Prozess und das Ergebnis entscheidend prägen. Kreativitätstechniken sind als habitualisierte und tradierte Körperund Kulturtechniken zu verstehen, als »physisch-psychisch-soziologische[...] Verbindungen von Handlungsreihen« (Mauss 1989, 218), bei denen der Körper im Wechselspiel mit Medien und Instrumenten als »das erste und natürlichste technische Objekt und gleichzeitig technische Mittel des Menschen« fungiert (ebd., 206). Kreativitätstechniken appellieren sowohl an eine implizite, naturalistische Vorstellung von Kreativität, als dass sie auch diejenigen kulturtechnische Mittel propagieren, »die zurück zu jener Natur führen sollen, die vermeintlich im Prozess kultureller Formierung verschüttet wurde« (Bröckling 2010, 91). Ulrich Bröckling spricht in genau dem Zusammenhang von einer »Einheit von Deskription und Präskription«, der eine paradoxe Zeitstruktur entspricht, die das »immer schon« mit dem »erst noch« zusammenzieht (ebd.) Schließlich werden durch Kreativitätstechniken aber auch soziale Aspekte und Dimensionen von Wissen und Praxis manifestiert und perpetuiert: So nehmen die Teilnehmer einer Brainstorming-Gruppe beispielsweise oft unterschiedliche soziale Rollen wahr oder gehören unterschiedlichen professionellen Hierarchiestufen an. Aus diesem Grund können sie sich – ungeachtet der formalen Regeln der Partizipation, die für eine Brainstorming-Sitzung gelten – kaum gleichberechtigt in der Gruppe äußern oder auf gerechte Weise an der Kommerzialisierung einer Idee teilhaben. Der Technikbegriff, der den Ausdruck ›Kreativitätstechnik‹ wesentlich definiert, verweist neben den Aspekten der Erlern- und Systematisierbarkeit einer Vorgehensweise wesentlich auf das wechselwirksame, inkommensurable Zusammenspiel von Technik und Medium, von Schreibwerkzeug und Erkenntnis, von Visualisierung und Imagination (vgl. Wittmann 2018; *Computer). Auch macht er die relative Stabilität medientechnischer Verfahren und Systeme augenfällig. So können schriftliche Aufzeichnungen, wie Notizen oder Skizzen, im Verlauf kreativitätstechnischer Prozesse unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen annehmen: Während einer Ideensitzung dienen sie der visuellen Stimulierung von Ideen, der materialen Fixierung von Aussagen oder der Dokumentation individueller Urheberschaft. Nach Abschluss des Kreativprozesses können solche Aufzeichnungen zu partikulären Speichermedien mutieren, die in der Lage sind, einmal notierte Ideen unabhängig von ihren Urhebern zu archivieren und zu vermitteln, ohne dabei jedoch den originären Entstehungszusammenhang in seiner ganzen Komplexität wiedergeben zu können. Kreativitätstechniken sind folglich nicht als ›rein‹ kognitive Techniken oder mentale Methoden der Ideenstimulierung zu verstehen, sondern vollziehen sich ausnahmslos im Wechselspiel von Körpern, Medien und Instrumenten.

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Genealogie Wie bei anderen menschlichen Fertigkeiten und Praxen so stellt sich auch die *Genealogie kreativitätstechnischer Praxis nicht als geradliniger, konsistenter Prozess dar. Vielmehr lassen sich je nach historischem oder kulturellem Kontext veränderliche und durchaus widersprüchliche Konzeptionen von Kreativität und Originalität finden, die Kreativitätstechniken als situative, zeit- und ortsabhängige Konstellationen von Subjekten, Wissen, Medien und Praktiken ausweisen. Während sich für gewisse inventive Verfahren, wie beispielsweise für die Kombinatorik oder für rhetorische Mnemo- und Findetechniken, eine jahrhundertealte Tradition der ars inveniendi beschreiben lässt, so haben viele der heute gebräuchlichen Kreativitätstechniken erst Mitte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen. Spätestens als US-amerikanische Psychologen unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs die Erforschung von Kreativität mit Nachdruck zu betreiben begannen (vgl. Guilford 1950), und Kreativität als ›effizientere‹ Form von Intelligenz proklamierten, florierte auch das Geschäft mit den Methoden und Techniken, von denen man sich eine gezielte Freisetzung kreativer Potenziale erhoffte (vgl. Reckwitz 2012, 215 ff.). Mit Blick auf den Einzelnen mochte dieses kreative Potenzial vielleicht nicht überdurchschnittlich hoch ausgeprägt sein, in der Gesamtsumme bildete es jedoch ein schier unerschöpfliches Reservoir an gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Produktionskapital. Das gesteigerte Interesse an Kreativitätstechniken wie Brainstorming, Synectics oder dem morphologischen Kasten, das um 1950 einsetzte, ist in einer direkten Relation zu den militärischen, psychologischen, pädagogischen und unternehmerischen Bestrebungen der Zeit zu sehen, die danach strebten, Kreativität als individuell verkörpertes kognitives Kapital zu systematisieren und zu normalisieren. Einem schlaffen Muskel gleich, so schienen auch die individuellen Fähigkeiten zu kreativem Verhalten nur darauf zu warten, durch geeignetes Training und vermittels der richtigen Techniken aktiviert zu werden (*Plastizität). Flankierend zur systematischen Förderung von Kreativität wurde eine Synchronisation von individueller Schöpfungskraft und kollektiver Produktionskräfte eingeleitet, die Ulrich Bröckling mit den Worten kommentiert hat: »Was die Gesellschaft als Ganze benötigte, sollte zugleich das sein, worin die Einzelnen sich selbst finden« (Bröckling 2010, 91). Vermittels einer solchen Definition wurde Kreativität von einem raren Gut zu einer weitverbreiteten wirtschaftlichen Ressource umdeklariert. Sie wurde dem Bereich des abnormalen, pathologischen Handelns entrissen und für die Zwecke einer »verwalteten Welt« (Adorno) normiert. Während des Kalten Krieges setzten die USA, wie viele andere Länder, im Wettlauf um die militärisch-technologische Vormachtstellung auf die Kraft des methodisch systematisierten Querdenkens. Kreativität wurde in dem Zusammenhang nicht nur

Kreativitätstechniken

als eine nützliche, sondern vielmehr als eine überlebenswichtige soziale Eigenschaft verstanden, die anhand der aus ihr resultierenden Produkte gemessen wurde – egal ob es sich dabei um »poems, patents, buildings, or bombs« handelte (Cohen-Cole 2009, 241). In diesem Zusammenhang wurden Kreativitätstechniken nicht zuletzt auch als therapeutische Verfahren zur Re-Aktivierung latenter schöpferischer Potenziale gesehen. Diese ›Therapie‹ setzte in der Nachkriegszeit allerdings »nicht mehr bei der Heilung des Kranken, sondern bei der qualitativen Verbesserung des Mittelmäßigen« an (Reckwitz 2012, 217) und trug damit grundlegend zu einer Verbreitung und Normalisierung des Kreativitätsbegriffs bei, wie Reckwitz dies mit seinem Konzept des Kreativitätsdispositivs treffend beschrieben und problematisiert hat.

Literatur Bröckling, Ulrich (2010): »Über Kreativität. Ein Brainstorming«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kadmos, S. 89-97. Cohen-Cole, Jamie (2009): »The Creative American: Cold War Salons, Social Science, and the Cure for Modern Society«, in: Isis 100(2), S. 219-262. Guilford, Joy P. (1950): »Creativity«, in: American Psychologist 5(9), S. 444-454. Mareis, Claudia (2018): »Brainstorming. Über Ideenproduktion, Kriegswirtschaft und ›Democratic Social Engineering‹«, in: Jeannie Moser/Christina Vagt (Hg.), Verhaltensdesign. Bildungs-, Erziehungs- und Regierungsprogramme, Bielefeld: transcript Verlag (im Druck). Mauss, Marcel (1989): »Die Techniken des Körpers« [1934], in: Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, S. 197-220. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp Verlag. Wittmann, Barbara (Hg.) (2018): Werkzeuge des Entwerfens. Ein Abecedarium des kreativen Handelns, Zürich/Berlin: diaphanes.

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Kritik Dirk Hohnsträter

In welchem Sinn ist ›im Kreativitätsdispositiv‹ von Kritik die Rede? Um diese Frage zu beantworten, muss man unterscheiden zwischen dem Selbstverständnis der Reckwitz’schen Soziologie als einer (möglicherweise) kritischen Wissenschaft und der Betrachtung von ›Kritik‹ als Gegenstand soziologischer Analyse. Erstere fragt, ob und wie Reckwitz sich als kritischer Denker versteht, letztere will herausfinden, wie es sich mit dem Phänomen der Kritik in der Moderne verhält. In der Einleitung zu seinem Kreativitätsbuch behauptet Reckwitz zunächst, die Genealogie des Kreativitätsdispositivs lasse sich »kühl beobachten und sezieren«, verschränkt dann aber die Ebenen und argumentiert, dass Kreativität und Ästhetik in der Kultur der Moderne zu stark normativ und affektiv aufgeladen seien, um als Soziologe dem Ideal der Wertfreiheit entsprechen zu können (Reckwitz 2012, 17). Daher habe er sein Buch in der Haltung »eines Schwankens zwischen Faszination und Distanz« verfasst (ebd., 18). Diese von Reckwitz nur knapp skizzierte Position ist nicht unproblematisch. Zwar ließe sich argumentieren, dass die zeitliche Distanz zum historischen Geschehen eine kühle *Genealogie ermögliche, in der Gegenwartsanalyse jedoch eine Außenposition unmöglich bezogen werden könne. Andererseits reichen die historischen Entwicklungen ja gerade im Fall des Kreativitätsdispositivs tief in die Jetztzeit hinein, weshalb nur schwer zu sehen ist, wie dem retrospektiven Beobachter das analytische Ablegen der eigenen Affizierung gelingen kann. Umgekehrt wird man die von Reckwitz kultivierte Haltung ambivalenter Bewertung eher als einen Modus reflexiver Analyse denn als eine Form intervenierender Kritik beschreiben. Und tatsächlich zeichnen sich die ›kritischen‹ Passagen des Buches durch ihren zurückhaltenden, mehr fragenden als fordernden Charakter aus. Reckwitz hat seine Position zum kritischen Gehalt der Soziologie in Die Gesellschaft der Singularitäten, der auf das Buch folgenden Diskussion sowie in seiner Auseinandersetzung mit Hartmut Rosa präzisiert und weiterentwickelt (vgl. Reckwitz 2017a, 21 ff.; Reckwitz 2018; Reckwitz 2017b). Dabei plädiert er für eine »kritische Analytik« in der Tradition Bourdieus und Foucaults, die »signifikante Spannungsfelder, unintendierte

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Folgen und neue Ausschlussmechanismen« herausarbeitet (Reckwitz 2017a, 23). Anstatt normative Vorgaben zu machen, überlässt sie die ethischen Konsequenzen »der Urteilskraft der Leserinnen und Leser sowie der politischen Auseinandersetzung« (Reckwitz 2018). Als kritisch kann eine solche Analytik gleichwohl gelten, da sie in der sozialen Praxis unthematisch vorausgesetzte Ordnungen und Dynamiken transparent und in ihrer Veränderbarkeit kenntlich macht. Selbst nicht bewertend, will die kritische Analytik Anschlussmöglichkeiten für Ethik, Politik und die Reflexion der eigenen Lebensführung bereitstellen. An dieses von Reckwitz vorgeschlagene Modell einer kritischen Soziologie können drei Fragen gerichtet werden: Erstens wäre es nicht uninteressant zu prüfen, inwieweit seine Exponenten das Ideal des kühlen Blicks faktisch einlösen, da auch reservierte Intellektuelle beispielsweise in bestimmten Medienkontexten durchaus Meinungen äußern, auf die dann gleichsam die Autorität ihrer kühlen Analysen abstrahlt. Zweitens – und wichtiger – muss gefragt werden, ob dieser Kritiktypus prinzipiell überhaupt möglich ist oder ob nicht vielmehr auch Ambivalenzen herausarbeitenden Analysen implizit Normen zugrunde liegen, die hinter vorsichtigen Formulierungen verborgen bleiben anstatt ausdrücklich reflektiert zu werden. Schließlich stellt sich die Frage, ob ein rein diagnostischer öffentlicher Auftritt es sich nicht zu leicht macht, indem er zunächst ein Bedürfnis nach Orientierung erzeugt oder zumindest verstärkt, sich dann aber aus dem Diskurs zurückzieht. Ist es nicht verständlich, wenn das Publikum von Intellektuellen, die sich gründlich mit einer Materie vertraut gemacht und dabei ihre denkerischen Kapazitäten unter Beweis gestellt haben, Vorschläge zur Problemlösung erwartet? Solange diese nicht in apodiktischem Gestus vorgetragen werden und klar zwischen (historischer) Analyse und (kritischer) Anregung getrennt wird, spricht systematisch kaum etwas dagegen. Auf das Reservoir historischer Alternativen oder wenig registrierter Gegenwartspraktiken zu verweisen, anstatt sich auf eine rigide Trennung deskriptiver und normativer Zuständigkeiten zu berufen, dürfte durchaus mit einer kritischen Analytik vereinbar sein, den betroffenen Intellektuellen freilich auch umstrittener und angreif barer machen (*Queer). Gerade der Einwand erhebende Typus von Kritik ist es auch, der ›im Kreativitätsdispositiv‹ als Gegenstand soziologischer Analyse in den Blick kommt. Kritik hat darin nämlich die Funktion eines Movens von Transformationsprozessen der Moderne. Von Transformation ist im Rahmen des »Kreativitätsdispositivs« in einem doppelten Sinn die Rede: auf einer Mikro- ebenso wie auf einer Makroebene. Zum einen nämlich bezeichnet Kreativität das permanente individuelle und institutionelle Streben »zur kreativen Selbsttransformation« (Reckwitz 2012, 9). Kreativ zu sein, bedeutet eine auf Dauer gestellte Umformung der Subjekte und Strukturen vorzunehmen und dabei das Neue dem rasch Altgewordenen vorzuziehen (*Kapital, *Naturalisierung). Diese Erneuerung orientiert sich, wie Reckwitz betont, weniger am Technisch-Innovativen

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als am Künstlerisch-Expressiven (*Innovation). Zum anderen bezieht sich der Begriff der Transformation aber auch auf einen Wandel der Gesellschaft insgesamt, gleichsam auf eine »Great Transformation« (Polanyi 1978; *Imagineering). Hier kommt eine historisch-genealogische Perspektive zum Tragen, die eine Verschiebung der soziokulturellen Grundausrichtung der Moderne konstatiert: von der Versachlichung zur Ästhetik, von der Zweckrationalität zur Kreativität als leitender Episteme (*Ästhetisierung). In paradoxer Koinzidenz wandelt sich die Gesellschaft zum permanenten Wandel – eine Formation, deren Selbstanwendung Reckwitz in der Schlussbetrachtung seiner Untersuchung die Frage aufwerfen lässt, ob die Kreativitätsfixierung der Spätmoderne »kreativ genug« sei, um mit »dem leerlaufenden Regime des Neuen« auf eine ›ökologische‹ Weise umzugehen (Reckwitz 2012, 368; *Dispositiv, *Genealogie). Das Makroverständnis von Transformation wirft mithin in zweifacher Weise die Frage nach dem Verhältnis von Transformation und Kritik auf. Zum einen macht Reckwitz klar, dass sich die Neuausrichtung der Moderne dem Erfolg gegenkultureller Impulse verdankt. Diese seien von der gesellschaftlichen Peripherie ins Zentrum gerückt und »in die Hegemonie umgeschlagen« (ebd., 14). Zum anderen verweist das auf den letzten Seiten des Buches adressierte Unbehagen an der Verwandlung von Emanzipationsutopien in zwanghafte Innovationsimperative auf die Schwierigkeit einer hochgradig dynamisierten Kultur, stabilisierende Fixpunkte zu gewinnen, die weder einen Ausstieg aus dem Kreativitätsdispositiv mit sich brächten noch als bloß ephemere ästhetische Reize daran scheiterten, korrektive Bindekräfte zu entfalten. Wie also kann das Verhältnis von Kritik und Transformation ›im Kreativitätsdispositiv‹ gedacht werden? In ihrer auch für Reckwitz’ Ansatz wichtigen Studie zum »neuen Geist des Kapitalismus« haben Luc Boltanski und Ève Chiapello mit Blick auf die Ökonomie einige richtungsweisende Überlegungen zum Verhältnis von Kritik und Transformation angestellt. Sie gehen davon aus, dass »der Antikapitalismus genauso alt wie der Kapitalismus selbst« ist und letzterer ersteren auch gegen dessen Intentionen zu vereinnahmen versteht (Boltanski/Chiapello 2003, 79). Boltanski und Chiapello unterscheiden zwei Typen kapitalismuskritischer Empörung: die »Künstlerkritik mit ihren Forderungen nach Emanzipation und Authentizität« einerseits und die »Sozialkritik, die auf Notlagen und Ausbeutung aufmerksam macht« andererseits. (ebd., 380; ferner, 79 ff., Herv. i.O.) Bezieht man diese Typologie exemplarisch auf die Konsumkritik, so prangert die Künstlerkritik beispielsweise die Standardisierung der Waren an, während die Sozialkritik vor allem auf die Produktionsumstände der Konsumgüter abzielt (*Konsum, *Künstler, *Produkt). Insofern wäre sie als sozialökologische Kritik treffender bezeichnet, da dann auch Einwände gegen Ressourcenverschwendung und Abfallproduktion Berücksichtigung fänden. Reckwitz betont nun, dass die Sozialkritik »als ein Instrument gegen Ästhetisierungsüberdehnun-

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gen« in Anschlag gebracht werden kann, gibt aber ebenso zu bedenken, dass eine aussichtsreiche Relativierung des Kreativitätsdispositivs auf Formen der Kritik angewiesen ist, »die über die politisch traditionsreiche Sozialkritik hinaus in erneuerter und anderer Weise Kriterien des Ästhetischen in Stellung bringen« (Reckwitz 2012, 356 und 367). Die Art und Weise, wie Reckwitz sich in seiner Argumentation auf Boltanski und Chiapello bezieht, geht von einem genealogischen Narrativ aus, das Ästhetisierungsprozesse als success story beschreibt und die Sozialkritik gleichsam nachträglich als Kritikvariante in Anschlag bringt. Allerdings lässt sich das Verhältnis von Kritik und Transformation – zumindest auf dem Feld des Ökonomischen und insbesondere des Konsums – auch auf andere Weise in den Blick nehmen, nämlich so, dass der kreativ gewordene Konsum keine Generaltendenz, sondern den Spezialfall einer breiter angelegten Transformationsdynamik der modernen Ökonomie bildet. Ungeachtet der unterschiedlichen historischen Verläufe beider Kritikströmungen lässt sich nämlich beobachten, dass sowohl die Künstlerkritik als auch die Sozialkritik nicht ohne Auswirkungen auf die Ökonomie im Allgemeinen und die Konsumkultur im Besonderen geblieben ist. Die mit der industriellen Massenfabrikation einhergehende Uniformierung wich individualisierten Angeboten, während Fair Trade und Bio-Kriterien unterliegende Produkte auf die Kritik an Mensch und Umgebungsnatur ausbeutenden Entstehungsbedingungen antworten. Boltanski und Chiapello sprechen von einer »Ökonomisierung der Differenz« und diskutieren die damit einhergehenden Vertrauensprobleme seitens der Verbraucher. (Boltanski/Chiapello 2003, 476) Entscheidend ist an dieser Stelle, dass diese Differenz sich auf beide Kritiktypen beziehen lässt. Man muss von einer doppelten Transformationsbewegung der modernen Konsumkultur sprechen, deren eine Seite in der Integration von Kreativität und deren andere in der »Moralisierung der Märkte« besteht. (vgl. Stehr 2007) Auch die sozialökologische Kritik und nicht nur, wie Reckwitz es nahelegt, die Künstlerkritik, ist »eingesickert und dabei nicht dasselbe geblieben« (Reckwitz 2012, 14). Kreativer *Konsum erweist sich in diesem weiter gefassten Rahmen als Teil einer breiter angelegten Transformation der Konsumkultur durch Kritik, die ethische Elemente einbezieht – wenngleich diese quantitativ vermutlich einen geringeren Teil einnehmen als der kreativitätsbezogene Part (*Entkunstung). Im Gegensatz zur Hegemonialisierung des Kreativen lässt sich die Überführung von politischem Protest in Produkte und konsumierende Praktiken nicht unter dem Stichwort der ästhetischen Ökonomie ablegen. Denn so sehr sich Phänomene wie Greenwashing und Gewissenskonsum distinktions-, zeichen- und erlebenssoziologisch beschreiben lassen, so sehr zeugte eine solche Reduktion von der methodischen Vernachlässigung materieller Aspekte, einer Vernachlässigung, zu der die Ästhetisierungsthese freilich einlädt (*Farbe). Im

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ethischen Konsum vor allem eine Sensibilisierung für sensorische Singularitäten zu sehen, verfehlt gerade das Besondere alternativen Konsums, handelt es sich dabei doch zunächst einmal nicht um nach innen gerichtete oder expressive Praktiken, sondern um materielle Interventionen, um Unterscheidungen, die Stoff- und Energieströme, sozioökonomische Kollateraleffekte, Externalitäten, zunehmend auch Codes, in jedem Fall aber ›Außenseiten‹ betreffen. Auch hinsichtlich der Datierung unterscheidet sich die Endogenisierung sozialökologischer Kritik in den Konsum vom Zueigenmachen der Künstlerkritik. Erstere ist nämlich kein primär spätmodernes Phänomen, sondern lässt sich in unterschiedlichen Schüben, mit unterschiedlicher Intensität und auf unterschiedliche Art seit den Anfängen der modernen Konsumkultur nachweisen. Damit ist schließlich auch klar, dass die Aufnahme (oder, je nach Standpunkt: Vereinnahmung) von Kritik in die Ökonomie nicht finalisierender Natur ist, sondern vielmehr in Gestalt einer auf Dauer gestellten Transformationsdynamik erfolgt. Die Kette mitlaufender Einwände kommt – etwa in Form von Wachstumskritik und Kritik am digitalen Konsum – nicht zum Erliegen und erzeugt permanent aus blinden Flecken neue Formen. Eine Vollendung der modernen Transformationsbewegung im *ästhetischen Kapitalismus darf also mit guten Gründen bezweifelt werden.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (engl. Original 1944). Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2017a): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2017b): »Auf dem Weg zu einer Soziologie des gelungenen Lebens?«, in: Soziologische Revue 40(2), S. 185-195. Reckwitz, Andreas (2018): »Reckwitz-Buchforum (10): Die Gesellschaft der Singularitäten«, in: Soziopolis, 17.04.2018. Online verfügbar unter: https:// soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/reckwitz-buchforum-10-die-ge​ sellschaft-der-singularitaeten/ (abgerufen am 22.05.18). Stehr, Nico (2007): Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Künstler Heinz Drügh

Seit der Postmoderne, schreibt Andreas Reckwitz in Die Erfindung der Kreativität, lässt sich »eine erneuerte affektive Besetzung der Figur des Künstlers« beobachten. Verantwortlich hierfür sei, dass »Künstler« zunehmend als »massenmedial repräsentierte[...] Star[s]« erschienen (Reckwitz 2012, 119). Wichtiger als die Tatsache, »dass der Künstler ein Werk hergestellt hat«, sei es nun, »dass er sich als Künstler massenmedial reproduziert«, sich geradezu »permanent selbst dar- und herstellt« (ebd., 120; *Performativität). Der Celebrity-Faktor ist zu einer zentralen Währung auf dem Markt für bildende Kunst geworden. Ästhetische Urteile werden häufig weniger von Kritikern denn von Sammlern und ihrem Kaufverhalten bestimmt; bzw. von Kuratoren und anderen Geldgebern (*Kuratieren). Sogar die *Kritik ist als Darstellung »oppositionellen Geistes« in dieser von »enorm viel Geld« bestimmen Welt mitunter nicht mehr als eine Pose, ein »Schmuckwerk« im Rahmen der »Repräsentation« des Sammlers (Ullrich 2016, 41 und 129). In der Literatur geht es bekanntlich um deutlich weniger Geld. Nicht selten sind große Autoren Subventionsunternehmen. Sicher, Autographen verstorbener Stars sind zu so etwas wie Spekulationsobjekten geworden. Etwa die Briefe Franz Kaf kas, bei deren Versteigerung Literaturarchive Privatsammler nur mit einem finanziellen Kraftakt ausstechen konnten. Viel Geld verdient wird mit Literatur aber meist nur dort, wo weniger ästhetischer Glanz vorherrscht. Es gibt freilich Ausnahmen – gar nicht mal unbedingt mit Blick auf die wirkliche Wertschöpfung denn auf die mediale Inszenierung: »Wir tragen Größe 46«, unter dieser Headline ließen sich die Pop-Autoren Benjamin von StuckradBarre und Christian Kracht im Jahr 1999 von der Wochenzeitung Die Zeit interviewen (*Pop). Kracht posierte stahlblond vor blauem Hintergrund, mit akkuratem Scheitel, im hellen Anzug mit Krawatte, die Bildunterschrift lautete: »Ich bin ja sehr reich.« Zur selben Zeit standen die beiden Jungautoren Modell für ein Werbebanner des Modehauses Peek & Cloppenburg. Das war deutlich zu warholesk für einen Literaturbetrieb, der seinen widerständigen Habitus nach wie vor pflegt und die beiden als Popper oder Schnösel abtat.

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Im Literaturbetrieb gilt der Abstand zur Alltagswelt, zu Marken, Märkten und Medien oft noch als Gütesiegel (*Ästhetischer Kapitalismus). Ökonomische Erfolglosigkeit wird denn auch nicht mit mangelndem ästhetischem Wert identifiziert, sondern als Ausweis ästhetischer Autonomie und Unabhängigkeit begriffen: »Wer verliert, gewinnt« (Bourdieu 1999, 345; *Valorisierung). Im sich ausbildenden System der autonomen Kunst um 1800 entsteht der Typus des neuzeitlichen Künstlers als Individuum, das ganz anders ist als die anderen, anders lebt, fühlt und denkt, das deshalb stets auch als gefährdet erscheint, darin aber zugleich seine Geschäftsbasis findet. Denkt man etwa an den Siegeszug der Roman-Hexalogie Min Kamp des norwegischen Starautors Karl Ove Knausgård – ein Textgebirge aus mehreren tausend Seiten mit langen, nicht auf Pointe geschriebenen Alltagsschilderungen – dann fallen in der Begleitorchestrierung nicht nur die Lesungsauftritte im Stil eines Rockstars auf, sondern vor allem auch die Porträts des Autors. Sieht man genauer hin, erinnern manche davon an jene ikonische Selbstdramatisierung, mit der etwa Gustave Courbet auf seinem fast lebensgroßen Selbstporträt Der Verzweifelte die Zerrissenheit zwischen äußerster subjektiver Vergrößerung und Überhöhung und inneren Zweifeln in Szene setzt – nicht zuletzt genährt durch die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung als Künstler. Der Begriff ›Künstler‹ etabliert sich im 18. Jahrhundert analog zum Kollektivsingular ›Kunst‹ für die ›schönen Künste‹. Charles Batteux meint damit in seiner Abhandlung »Les beaux-arts réduits à un même principe« aus dem Jahr 1746 solche Künste, die reines Vergnügen bereiten bzw. einen subjektiven Ausdruck fordern: Musik, Poesie, Malerei, Bildhauerei und Tanz. Architektur und Rhetorik gelten nurmehr als Mischformen aus Schönheit und mechanischer Anwendung. In dieser Funktion war die Rhetorik für viele Jahrhunderte gemeinsam mit der Grammatik und der Logik fester Bestandteil der drei artes liberales, der freien Künste (im Plural), die im Zentrum der akademischen Ausbildung standen. Die aufkommende Disziplin der Ästhetik, vor allem das Konzept des Genies, prägt dann ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Bild des Künstlers und ist bis heute wirksam. Genies, schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft, seien »Günstlinge der Natur«, begabt mit einem »Talent[...]«, dem weder durch »Lernen« oder »Gelehrigkeit« noch durch »Fleiß« auf die Sprünge zu helfen ist. Wie sich die »phantasiereichen und doch zugleich gedankenvollen Ideen« im Kopf des Künstlers zusammenbrauen, »weiß« dieser denn auch »selbst nicht« (Kant 2009, § 47). Ein solches Je ne sais quoi findet sein Pendant in jenem Typus des Rezipienten, der es genießt, im Umgang mit Kunst zwar »viel zu denken« (Kant 2009, § 49), damit aber nie bei einem festen Begriff, einer gesicherten Interpretation anzukommen. Man versenkt sich in die Sache und vergisst dabei sich selbst und seine übliche Art zu denken und zu fühlen, ein Vollzug, den Karl Philipp Moritz

Künstler

mit ebenso sanften wie gewaltsamen Zügen zeichnet: »Das süße Staunen, das angenehme Vergessen unsrer selbst bei Betrachtung eines schönen Kunstwerks« geschehe dadurch, dass wir dem Schönen »eine Zeitlang eine Art von Obergewalt über all unsre Empfindungen einräumen«: »Wir opfern in dem Augenblick unser individuelles eingeschränktes Dasein einer Art von höherem Dasein auf« (Moritz 1981, 545, Herv. i.O.). Eine solche Intensität der ästhetischen Erfahrung fordert die Distanzierung nicht nur von sich selbst in Normalverfassung, sondern auch von allen anderen: »[...] Der ist aber ferne; nicht mehr dabei. / Irr ging er nun; denn allzugut sind / Genien; himmlisch Gespräch ist sein nun«, lauten die Schlussverse von Friedrich Hölderlins Ode Ganymed. »Gesellschaftliche Anerkennung«, so Reckwitz, ist es gerade nicht, was dem Künstler im bürgerlichen Kunstfeld winkt, er verkörpert vielmehr ein »nichtverallgemeinerungsfähiges Anderes gegenüber der herrschenden Kultur« (Reckwitz 2012, 122). Wobei die Sache bei näherer Betrachtung natürlich ambivalenter ist: »Im Künstler finden der bürgerliche Individualismus und Produktivismus ihr geheimes Idol. Der Bürger sehnt sich nach dem Künstler, der er selbst nicht zu werden vermag« (Reckwitz 2016, 188). Wir wissen, was die Schopenhauer-Lektüre mit Thomas Buddenbrook macht. »Die bürgerliche Moderne kann in ihren Kernpraktiken der Arbeit und der Familie nicht auf ästhetischen Experimentalismus setzen, sondern formt sich über Zweckrationalität und Regelförmigkeit. Der Künstler avanciert im bürgerlichen Kontext damit zum Objekt der auratischen Bewunderung – und zugleich der heftigen Verwerfung« (ebd.; *Arbeit, *Organisation). Der Aufstieg des Kreativen zu der Sozialfigur des Postfordismus führt indes dazu, dass der zuvor »hoffnungslos[...] minoritäre« Künstler imaginär geradezu mit dieser ökonomisch überaus wichtigen Erscheinungsform der Kreativität verschmolzen wird bzw. »der Künstler in den Kreativen umkippt« (ebd.), wie Reckwitz plakativ schreibt. »Der postmoderne Künstler wird zum imitierbaren Ideal-Ich« (Reckwitz 2012, 122). Was heißt das näher besehen? Zunächst einmal, dass der Habitus des Künstlers, seine Persona, auf Bereiche abfärbt, in denen es eher um Lifestyle als um Kunst geht, um die unentwegte Produktion des »symbolisch und erlebnishaft Neue[n]« (ebd., 189) in der Konsumgüterindustrie (*Produkt). Wer höchst flexibel und unter dauerndem Kreativitätsdruck arbeitet, der möchte auch auf entsprechend hippe Weise konsumieren (*Konsum). Indes wäre darüber nachzudenken, dass eine Fülle von Künstlern eben nicht aus den Meisterklassen der Kunstakademien stammen, sondern aus dem Umfeld der angewandten Kunst: Nehmen wir als Beispiel nur den Modezeichner Warhol oder den Applied-Arts-Dozenten Richard Hamilton. Könnte es daher sein, dass unser hehrer Begriff von Ästhetik nicht einfach nur in ein Kreativitätsdispositiv ›umkippt‹, sondern unter dessen Bedingungen neu verhandelt wird? (*Ästhetisierung, *Improvisation)

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Um dies zu diskutieren, möchte ich einen Blick auf einige typische Reaktionen werfen, die der Tod David Bowies ausgelöst hat. Auf Facebook schreibt etwa Madonna am 11. Januar 2016: »I found him so inspiring and innovative. Unique and provocative. A real Genius«. Dass hier eine »Entzauberung des Schöpferkünstlers« (ebd., 124) vorliegt, die Reckwitz generell für die Postmoderne diagnostiziert, lässt sich kaum behaupten. Schließlich sind die bekannten Ingredienzien ästhetischer Wertschätzung alle da: Einzigartigkeit, Widerständigkeit, Genialität. Auch eine lebensverändernde Intensität ist David Bowie für Madonna gewesen: »I’m devastated. David Bowie changed the course of my life forever.« Warum und vor allem wie er das vermochte? Hier sticht ein Aspekt hervor: »He created a persona and used different art forms within the arena of Rock and Roll to create entertainment.« Typisch postmodern: ein Zitatspiel nicht nur mit Identitäten und deren abrupten Abbrüchen und Neuanfängen, sondern auch mit Kunstformen, ein Spiel, das stets die Grenze zwischen Kunst und Unterhaltung überschreitet? Mithin ein Exempel jener laut Reckwitz typisch postfordistische[n], »variable[n] Zeichenträger für Lebensstilgruppen«? (ebd.) Offenbar nicht oder nicht nur, nimmt man Madonnas Einschätzung als Beleg. Denn ich würde nicht einfach urteilen, dass bei ihr der Künstlerappeal leichthin auf etwas ganz anderes, im Grunde ökonomisch Gesteuertes übertragen würde. Vielmehr wäre mit Madonna zu überlegen, ob sich überzeugendes Künstlertum nicht insbesondere dort bewährt, wo man sich nicht in der Manier des Künstlerfürsten von dem Tand der alltagsweltlichen Kreativitätsimperative distanziert, sondern sich – etwa als Thin White Duke – durch diese hindurcharbeitet, stets in dem Bewusstsein, diese immer auch ein Stück weit selbst zu verkörpern. So bezeichnet Bowie die Figur Ziggy Stardust, als die er 1976 auftritt, als einen »Mix aus Ballett und Ramschladen – ›a cross between Nijinsky and Woolworth’s‹«. Frank Kelleter sieht darin »die Möglichkeit angesprochen, über den Umweg von Billigartikeln zu einer geradezu übermenschlichen Anmut zu gelangen« (Kelleter 2016, 24 f.). Anders gesagt: Bowies Pop entlarvt mit einem geradezu »Warholschen Kunstverständnis« die »Echtheitsversprechen von Folk und Rock« als »Theater«. Seine Kunst ist aber auch insofern als kritisch zu verstehen, als sie »die Theatralik des Popgeschäftes selbst so eingehend verdoppelt und intensiviert, dass man zu sehen beginnt, wie bizarr das alles im Grunde ist« (ebd., 32). Bowie wäre folglich, auch nach dem Verständnis von Reckwitz, ein Künstler, der mit seiner Arbeit »den Ort der Selbstbeobachtung des Kreativitätsdispositivs« (Reckwitz 2012, 131) markiert, und zwar gerade dadurch, dass er nicht prätendiert, von außerhalb desselben agieren zu können oder zu wollen. Eine Art, sich mit dem Innovations- und Glamourisierungssdruck im Kreativitätsdispositiv auseinanderzusetzen, begegnet auch in dem, was Reckwitz als »profane Kreativität« bezeichnet: »ein Phänomen, das sich in den alltäglichen Netzwerken immer schon ergibt und dabei auf kein Publikum an-

Künstler

gewiesen ist«, »Praktiken, die häufig weder professionell betrieben noch von den kulturaffinen Mittelschichten getragen werden.« (ebd., 359 f.). Damit in Verbindung steht eine »Alltagsästhetik der Wiederholung, [...] die die Wiederholung gegenüber der Originalität prämier[t]« (ebd., 362 ff.). Eine Profanierung des Künstlerbildes, die sich vor dem Hintergrund von solchen Verweigerungen gegenüber einer »heroische[n] Kreativität« (ebd., 361) verstehen ließe, ist auch bei unserer Künstlerikone Knausgård wahrzunehmen. Wann hätte man einen Autor schon einmal so ausdauernd wie ausufernd bei täglich wiederkehrenden, ganz und gar unglamourösen Handlungen wie dem Frühstückmachen für die Kinder, ihrer Begleitung in den Kindergarten, ihrem abendlichen Bad in der Wanne, dem Wäschewaschen, und dem Einkaufen im Supermarkt beobachten können wie im sechsten und letzten Teil von Min Kamp. Was heißt es, wenn gleichzeitig Reflexionen über Martin Heideggers Bemerkungen zu Ernst Jüngers Essay »Über die Linie« mitlaufen? Als Knausgård das Buch im Bücherregal sucht, steht plötzlich die älteste Tochter mit der Forderung ›»Baden!«‹ vor ihm. »›Sprich in ganzen Sätzen‹«, forderte ich sie auf. ›Baden!‹, sagte sie noch einmal« (Knausgård 2017, 37). Wird hier der schöpferische Impetus geerdet, in den Kontext alltäglicher Verrichtungen zurückverfrachtet, der ihn ja stets umgibt, und damit profaniert? Oder geschieht hier genau das Gegenteil, wie der Kritiker Richard Kämmerlings meint: »Hinter der vermeintlichen Normalo-Attitüde des Teilzeit-Schriftstellers steckt tatsächlich die Vorstellung vom Genie, das sich geistig aus dem Sumpf des Materiellen zieht« (Kämmerlings 2017). Vielleicht stimmt ja beides: Wenn der Starautor die Badewanne mit dem Inhalt einer »Jif-Flasche« auswäscht, bevor er seine Kinder hineinsetzt und ihnen die Haare mit Shampoo aus einer Flasche wäscht, die ein »Bild aus dem Pixar-Film Cars« (Knausgård 2017, 39 und 41) ziert, dann bleibt im Tauchbad des Alltags nicht mehr viel von dem vermeintlichen Glamour der Unterhaltungs- oder Gebrauchsgüterindustrie übrig. Einerseits. Andererseits werden Jif und Cars, »Ketchup« und »Köttbullar« (Knausgård 2017, 27) durch die Darstellung der Alltagsverrichtungen eines Literaturstars für viele seiner Leser auch wieder mit Glanz versehen. Eine Flasche mit Kindershampoo und Pixarmotiv kann auf diese Weise genauso erhebend werden wie ein exquisites Manufactum- oder Naturladen-Produkt. Die Erlösung von den Banalitäten des Alltags und ihrem materiellen Niederschlag findet dabei nicht statt. Der Künstler verliert sich aber auch nicht in ihnen. Seine zeitgemäße Ausprägung, die Transposition von klassischen Erwartungen an die Werke des Künstlers wie Intensität, Komplexität oder Autonomie, verwirklicht sich nicht in der Abkehr, sondern in der produktiven Auseinandersetzung mit jenen vermeintlichen Banalitäten (*Entkunstung).

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Literatur Bourdieu, Pierre (1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kämmerlings, Richard (2017): »Mit ›Kämpfen‹ hat Knausgård sich selbst eingeholt«, in: Die Welt, 23.05.2017. Kant, Immanuel (2009): Kritik der Urteilskraft. Text und Kommentar, hg. v. Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. Kelleter, Frank (2016): David Bowie. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam. Knausgård, Karl Ove (2017): Kämpfen, übers. v. Paul Berf/Ulrich Sonnenberg, München: Luchterhand. Moritz, Karl Philipp (1981): »Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten. An Herrn Moses Mendelssohn«, in: Horst Günther (Hg.), Werke, 2. Bd., Frankfurt a.M.: Insel, S. 543-548. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2016): »Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne«, in: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld: transcript Verlag, S. 185-194. Ullrich, Wolfgang (2016): Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust, Berlin: Wagenbach.

Kuratieren Timon Beyes

Mehr noch als der *Künstler erscheint der Kurator als idealtypische Sozialfigur des Kreativitätskomplexes. In den Ausführungen zum »postmodern Künstlersubjekt« in der Erfindung der Kreativität klingt diese These zumindest an. Seit den 1970er Jahren, so beobachtet Andreas Reckwitz (2012) mit Verweis auf den einflussreichen Ausstellungsmacher und Impresario Harald Szeemann, verfließen die Grenzen zwischen Künstler und Kurator. Mit dem »Künstler-Kurator« entstehe »gewissermaßen ein Künstlersubjekt zweiter Ordnung« (Reckwitz 2012, 117): ein Hybrid aus Arrangeur ästhetischer Prozesse und Theorien, Regisseur kultureller und atmosphärischer Events oder Interventionen sowie Koordinator, Vermittler und Vernetzer unterschiedlicher Akteure – Medienvertreter, Mäzene, Künstler, Kritiker – und des Publikums. Mit dem Niedergang des genieästhetisch gefassten Künstlersubjektes und seiner auratischen Praxis geht, so scheint es, nicht nur der Aufstieg des Kurators als »Atmosphärenmanager« (ebd., 117) einher (*Atmosphäre). Kuratorische Praktiken verschmelzen Reckwitz zufolge mit den künstlerischen zu einem neuen Amalgam künstlerisch-kreativer Arbeit, das mehr mit der Kreativwirtschaft als mit den Bedingungen ehemals künstlerischer Praxis zu tun hat: »Ein künstlerisches ›Kompetenzprofil‹ löst die exklusive Figur des Künstler-Originals ab. Dieses Profil, in dem sich semiotische, affektorientierte, intellektuelle und mediale Kompetenzen vereinen, hat eine ähnliche Struktur wie die Kompetenzprofile anderer Berufe aus den creative industries [...] In der Kunst zeichnen sich damit die Merkmale des professionellen Kreativsubjekts und seiner ästhetischen Arbeit insgesamt ab.« (ebd., 115) In der Figur des Kurators, so ließe sich dieser Befund zuspitzen, zeigt sich das paradigmatische Kreativsubjekt.

»The fabled persona of contemporar y art« Diese Beobachtung trifft sich zunächst mit der Diagnose der »kuratorischen Wende« im globalisierten Kunstfeld (O’Neill 2012). Wir leben, so liest man, im Zeitalter des Kurators, dieser »fabled persona of contemporary art« (Lee

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2011, 194). Damit einher geht ein veritabler Starkult um so genannte unabhängige, d.h. institutionell nicht oder nur zum Teil gebundene Kuratoren und Kuratorinnen, der sich prototypisch an zwei Schweizern festmachen lässt: historisch an Harald Szeemann und gegenwärtig an Hans-Ulrich Obrist. Allerdings gilt bis anhin, dass der Bekanntheitsgrad von Kuratoren mit Ausnahme weniger Ausnahmefiguren nicht den der bekanntesten global operierenden Gegenwartskünstler übersteigt (vgl. Munder/Wuggenig 2012). Interessanter als einzelne Figuren erscheint die hybride Praxis des Kuratierens, die im gegenwärtigen Kunst- und Kulturbetrieb einen erstaunlichen Aufstieg hinter sich hat. Was als Organisieren von Ausstellungen hinter den Kulissen des Kunstbetriebes begann und sich zu einer Form des storytelling, des Leitens der Zuschauerin durch eine Anordnung von Objekten in einer spezifischen narrativen Ordnung, entwickelte, ist inzwischen zu einem Bündel von Kompetenzen und Prozessen wie ermöglichen, öffentlich machen, lehren, analysieren, kritisieren, theoretisieren, editieren und inszenieren geworden. Professions- und disziplinäre Behälter hinter sich lassend, vereinigt das Kuratieren die Rollen von Künstlerin, klassischem Kurator, Museumspädagogin, Publizist, interdisziplinärer Forscherin, Kritiker und Theoretikerin. Ganz im Sinne von Reckwitz’ soziologischer Großthese der sozialen Entdifferenzierung durch ästhetische Praktiken, also der Auflösung klarer Grenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen durch ihre Ästhetisierung, arbeitet das Kuratieren mit Handlungs- und Wissensformen unterschiedlicher sozialer Felder (vgl. Reckwitz 2012, 128). Dementsprechend werden die ›Curatorial Studies‹ als Hybrid aus künstlerischen und wissenschaftlichen Methodologien, Techniken und Formaten gelehrt. Als Meta-Perspektive, gewissermaßen als Ebene des forscherischen Kuratierens des Kuratierens, wird dabei die epistemische Struktur oder das Wissensfeld des Kuratorischen eingeführt. Wie bei der Etablierung neuer Forschungsbereiche und Ausbildungsgänge und allemal im Kunstbetrieb nicht unüblich, wird dabei rhetorisch gerne überzogen: »The curatorial«, so Irit Rogoff, »seems to be an ability to think everything that goes into the event of knowledge in relation to one another« (Rogoff/von Bismarck 2012, 23).). Wenn alles, das in ein Ereignis des Wissens eingeht, in seinen Verhältnissen zueinander gedacht wird, sei man also auf dem Feld des Kuratorischen angelangt.

Die kuratorische Wende Innerhalb des Kunstfeldes kann der Aufstieg des Kuratierens, dessen Beginn – in geradezu idealtypischer Passung für Reckwitz’ Genealogie des Kreativitätsdispositivs (*Dispositiv, *Genealogie) – in den späten 1960er Jahren verortet wird und der insbesondere seit Ende der 1980er Fahrt aufnahm (vgl. O’Neill 2012), sowohl als Krisensymptom als auch als Antwort auf Krisen gelesen

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werden. Helmut Draxler (2012) unterscheidet in dieser Hinsicht drei Krisenmomente: Der erste bezeichnet die Schwierigkeiten der Institutionen des klassisch-bürgerlichen Kunstestablishments, auf die Entgrenzung der Gegenwartskunst seit Ende der 1960er Jahre zu reagieren, was überhaupt erst einen Operationsraum für unabhängige Kuratoren eröffnete. Der zweite verweist auf das potenziell konflikthaltige Verhältnis von Künstlerinnen und Kuratoren, wenn letztere von Ausstellungsmachern zu autonomen, einflussreichen Akteuren werden und sich als Autorinnen, Sinnproduzenten oder gar Künstlerinnen gerieren – ein Moment, der bereits darauf hinweist, dass die These der Verschmelzung von künstlerischer und kuratorischer Arbeit vielleicht etwas zu rasch fusioniert, was durchaus in kritischer Spannung steht. Der dritte besteht in einer Krise der künstlerischen Produktion selbst, die die Originalität und den Innovationsgrad der modernen Kunst nicht aufrechterhalten kann und sich einem ›sekundären Modus‹ der Reflexion, der Appropriation, des Recyclings und des Arrangierens (auch) historischer Formen zuwendet – und sich in Richtung einer Art Atmosphärenmanagement entwickelt, um Reckwitz’ Begriff wieder aufzunehmen. In dieser Hinsicht verschwimmen in der Tat die Grenzen zwischen künstlerischer und kuratorischer Praxis, und es ist demzufolge nicht überraschend, dass inzwischen Künstlerinnen vermehrt kuratorisch agieren bzw. das Kuratieren zu einer künstlerischen Ausdrucksform wird. Als eine Art »Inkorporationskunst« – der Begriff kommt von dem Kurator Dieter Roelstrate (2012) – lässt sich die Ausbreitung des Kuratorischen also als Antwort auf Krisenmomente im Feld der Kunst verstehen, die durchaus institutionskritisch neue und zum Teil kollektive und potenziell emanzipatorische Wege der Versammlung von Objekten, Akteuren und Diskursen erprobt. In der Einverleibung unterschiedlicher Rollen, Konzepte und Techniken in der Praxis des Kuratierens findet die Entgrenzung der Kunst ihr organisatorisches Pendant – und wie Draxler schreibt, haben viele der interessantesten Kunstprojekte heute kuratorischen Charakter.

Die doppelte Entgrenzung des Kuratierens Was die kuratorische Praxis jedoch zum Idealtpyus des Handelns im Kreativitätskomplex macht, ist gewissermaßen eine doppelte Entgrenzungsbewegung: ihre Entgrenzung aus dem Feld der entgrenzten Künste heraus, in andere gesellschaftliche Bereiche hinein. Die Rede vom Kuratieren hat längst die porösen Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst überschritten und sich im weiten Feld kultureller und gesellschaftlicher Produktion eingenistet. Es gibt somit nicht nur eine Kultur des Kuratierens, sondern grundsätzlicher ein Kuratieren des Kulturellen (vgl. O’Neill 2012). Zwar bleibt das Kunstfeld in dieser Lesart Experimentierfeld und entscheidender Impulsgeber für ästhetische Praktiken, die auf Ökonomie, Stadtentwicklung, Digitalkultur und Formung des eigenen

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Selbst übergreifen. Der ästhetischen Mobilisierung im Bereich der Kreativwirtschaft und Designökonomie, des Strebens nach dem Label der kreativen Stadt sowie der Arbeit am kreativen Selbst korrespondiert indes zwangsläufig die zweite Entgrenzung des Kuratorischen. Restaurants lassen Speisekarten von Nahrungsexpertinnen kuratieren; Kaufhäuser kuratieren ihre Waren; Konferenzen werden nicht mehr organisiert, sondern kuratiert; Social Media-Plattformen laden dazu ein, das eigene Profil zu kuratieren; und in der digitalen Curation Nation – so der Titel eines Bestsellers (Rosenbaum 2011) – und ihren unübersichtlichen Datenmassen, in der Konsumenten immer auch Schöpfer sind, ist ohne kuratorische Kompetenz kein (Online-)Geschäft mehr zu machen (*Performativität). Es ist leicht abzusehen, dass Führungskräfteseminare demnächst in die Kunst des Kuratierens einführen: als der Gegenwart angemessene Form des Managements, die die organization woman oder der organization man der Gegenwart zu beherrschen hat. Der sprichwörtlich gewordene organization man war ja der (männliche und) loyale, konformistische und keinesfalls als kreativ erachtete oder zur Kreativität verpflichtete Mitarbeiter großer westlicher Nachkriegskonzerne. Der ›entgrenzte‹ Organisationsmensch hingegen kuratiert sein Kompetenzprofil und bündelt unterschiedliche Praktiken und Wissensformen zum Arbeitssubjekt des Kreativitätskomplexes (*Organisation). Dass diese Entwicklungen mit einer zunehmenden Projektbasiertheit und Instabilität von Erwerbsverhältnissen einhergehen, die nicht mehr primär davon geprägt sind, dass Großorganisationen ihren Angestellten eher Routine als Kreativität auferlegen, ist in der soziologischen und organisationstheoretischen Literatur hinlänglich dokumentiert. Gerade wegen dieser doppelten Entgrenzung ist es allerdings sinnvoll, an der Unterscheidung zwischen den Sozialfiguren des Künstlers und des Kuratoren zumindest bis auf weiteres festzuhalten und – trotz Kuratorinnen, die sich wie Künstler gerieren, und Künstlern, die zu Kuratorinnen werden – die Hybridfigur des ›Atmosphärenmanagers‹ eher als Symptom denn als empirisch vollzogene ›Entkunstung‹ der Kunst zu lesen (*Entkunstung). Die These des Endes der Kunst aufgrund ihrer Verschmelzung mit dem Kunstfernen ist eher konstitutiv für das Kunstfeld, als dass sie zu seiner Abschaffung beitrüge. Denn bei aller Entgrenzung und Veralltäglichung der künstlerischen Praxis, durch die das Kunstfeld möglicherweise »seinen außeralltäglichen Status als Raum exklusiver ästhetischer Praktiken und Identifikationen« verloren hat und zugleich (entzaubert) »zum Modell der spätmodernen Gesellschaft und ihrer Kreativitätsordnung insgesamt« geworden ist (Reckwitz 2012, 89), zeigen sich am Künstlersubjekt weiterhin – wiewohl vielleicht anders gelagerte und kaum noch pathologisierte – Elemente des Auratischen, Nicht-Alltäglichen, Genialischen (*Künstler). Die Autonomie der Kunst ist zwar stets umkämpft und allein im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu verstehen; sie bleibt indes eine tragende Kraft künstlerischer Praxis.

Kuratieren

Der Kurator hingegen erscheint als genuine Figur sozialer Entdifferenzierung durch ästhetische Praktiken, die in und jenseits des Kunstfeldes reüssieren. Zwar ist der Aufstieg dieser Figur zunächst noch an die Entwicklungen im Kunstfeld gekoppelt: an die Vervielfältigung und Profanisierung künstlerischer Praxen und Positionen, denen kein noch so alltägliches Material fremd ist, sowie die damit zusammenhängenden Faktoren der »Entgrenzung ästhetischer Objekte« (ebd., 97) und der »Readressierung des Publikums als gleichberechtigte Instanz« (ebd., 98) bzw. die »Aktivierung des Rezipienten« (ebd., 107; *Bühne) als »Kokreativer« (ebd., 123; *Ko-Kreation). Inzwischen ist die Präsenz des Kuratorischen jedoch nicht mehr an das Kunstfeld gebunden; ihre profane Allgegenwart führt sie über die Anrufung künstlerischer Kreativität hinaus. Im Kreativitätskomplex der Gegenwart trägt die Figur des Kurators damit idealtypische Züge. Dass jedermann und jede Frau Künstler/-in sei, sagt sich leicht dahin, scheint aber selbst im Kreativitätskomplex eine kaum verallgemeinerbare These zu sei. Dass jedermann und jede Frau kuratorische Kompetenzen entwickelt oder zumindest sein/ihr eigenes Profil zu kuratieren habe, scheint eher die elementare Anforderung geworden zu sein. Zudem bietet das »affektive Kampffeld« der bürgerlichen Kunst (Reckwitz 2012, 88) auch (oder gerade) wegen der Aufladung der Künstlersubjekte und ihrer Praxis mit Genialitäts- und Abweichungsverdacht weiterhin Potenziale des Widerstands und der Reibung, die im weiteren Feld der Kreativwirtschaft und des allgegenwärtigen Kuratierens so kaum zur Verfügung stehen. Wie die öffentliche Auseinandersetzung oder gar der Kulturkampf um die Intendanz der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin gezeigt hat, können sich Künstler öffentlich und widerständig – und mit breiter Unterstützung des Publikums – vom Modell des Kuratoren als Atmosphärenmanager abgrenzen und dieses bekämpfen. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung verkörperte der designierte (und dann früh gescheiterte) Volksbühnenintendant, der Kurator und ehemalige Leiter des Londoner Tate Modern, Chris Dercon, ein solches Modell, gegen das – in sich wiederum unterschiedliche –Verständnisse der Rolle und Ausübung von Theaterkunst und Stadttheater mobilisiert wurden (*Bühne). Mag im Kreativitätskomplex gegen die Sozialfigur des Kurators und gegen die Verbreitung kuratorischer Praktiken kein Kraut gewachsen sein, im Kunstfeld selbst sind dazu weitere Auseinandersetzungen zu erwarten.

Literatur Draxler, Helmut (2012): »Crisis as Form: Curating and the Logic of Mediation«, in: Beatrice von Bismarck/Jörn Schafaff/Thomas Weski (Hg.), Cultures of the Curatorial, Berlin: Sternberg Press,, S. 53-60.

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Lee, Pamela M. (2011): »The Invisible Hand of Curation«, in: Armen Avanessian/Luke Skrebowski (Hg.), Aesthetics and Contemporary Art, Berlin: Sternberg Press, S. 193-205. Munder, Heike/Wuggenig, Ulf (Hg.) (2012): Das Kunstfeld Eine Studie über Akteure und Institutionen der zeitgenössischen Kunst, Zürich: JRP Ringier. O’Neill, Paul (2012): The Culture of Curating and the Curating of Culture(s), Cambridge, US: MIT Press. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Roelstrate, Dieter (2012): »Art Work«, in: Texte zur Kunst 86, S. 151-163. Rogoff, Irit/von Bismarck, Beatrice (2012): »Curating/Curatorial«, in: Beatrice von Bismarck/Jörn Schafaff/Thomas Weski (Hg.), Cultures of the Curatorial, Berlin: Sternberg Press, S. 21-38. Rosenbaum, Steven (2011): Curation Nation. How to Win in a World Where Consumers Are Creators, New York: McGraw Hill.

Mode Monica Titton

Wie viele Theoretiker/-innen vor ihm, nimmt Andreas Reckwitz in Die Erfindung der Kreativität die zentrifugalen Kräfte zur Kenntnis, die die Mode auf die moderne Gesellschaft ausübt. Mode manifestiert sich als kreative Praxis, als Motor der Konsumkultur und als kontinuierliche Quelle der Neuheit. Reckwitz argumentiert, dass die Modebranche seit den 1980er Jahren »als Knotenpunkt in der ästhetischen Ökonomie insgesamt aufgegangen [ist], in der die Grenzen zwischen Mode, Design, Werbung, Medien, Kunst, Starsystem und Verkauf fließend geworden sind« (Reckwitz 2012, 171). Gleichzeitig theoretisiert er die »kulturorientierte« Stadt als ideales Ökosystem für das Gedeihen der ästhetischen Ökonomie. Städte bieten Räume für die Begegnung von Menschen, für die Schaffung kreativer Szenen und für die Entfaltung von Lebensstilen und Konsumgewohnheiten (*Creative Cities). Die Mode produziert durch ihre Medien kollektive Repräsentationen und Narrative und trägt damit seit der Moderne wesentlich dazu bei, urbane Landschaften als reale und imaginäre Kulissen für die von Reckwitz analysierte kreative Subjektivität zur Verfügung zu stellen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts ist die Stadt zu einem der bedeutendsten Räume für die Mode geworden, sowohl als ästhetisches Reservoir für die Konstruktion von modischen Identitäten als auch als ein reales räumliches, soziales und ökonomisches System, das Ökonomien, kreative Akteur/-innen und Stadtbewohner/-innen zusammenbringt, die an dem Konsum und dem Spektakel der Mode teilnehmen. Um mit einer textilen Metapher zu sprechen, verwebt die Mode in der Metropole verschiedene Modi der Subjektivität, der Kreativität, der Neuheit und des *Konsums (*Bühne, *Plastizität). In den letzten Jahren ist die Figur des Street-Style-Bloggers bzw. der StreetStyle-Bloggerin, zur idealtypischen Verkörperung eines Agenten urbaner Kulturalisierung avanciert. In der vergangenen Dekade hat der digitale ModeMedien-Boom die Hierarchien der Macht in der Modeindustrie neu geordnet: Blogger/-innen sowie so genannte »Social Media Influencer« haben sich dank ihrer erfolgreichen Inkorporierung selbstunternehmerischer Ideale als neue

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Trendsetter/-innen etabliert. Auf Blogs und in sozialen Medien wie Twitter und Instagram zählen Street-Style-Fotos zu den beliebtesten Sujets – kaum ein anderes Genre strahlt so viel Coolness, Modebewusstsein und zeitlose Modernität aus. Street-Style-Blogs konzentrieren sich auf die Dokumentation kollektiver (jedoch individualisierter) urbaner Modepraktiken und sind im Wesentlichen digitale Bildarchive von ›modischen‹ oder ›stylischen‹ Menschen in städtischen Räumen. Dank ihrer Wiederbelebung in digitalen Mode-Medien hat sich die Street-Style-Fotografie als etabliertes ästhetisches Terrain innerhalb des kollektiven Imaginären der Mode reaffirmiert. Street-Style-Blogs und Street-Style-Instagram-Accounts prägen eine positive Beziehung zwischen Städten und zeitgenössischen Mode- und Style-Praktiken: Das Image von Städten wie Paris, New York, London und Mailand als internationale Modezentren ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass diese Städte tatsächliche kommerzielle Drehpunkte der Modeindustrie sind, sondern es ist auch das Resultat ihrer fortdauernden medialen und popkulturellen Darstellung als Mode-Metropolen (*Kuratieren, *Pop). Ein Blick auf die historische Entwicklung der urbanen Modefotografie belegt die Bedeutung der Stadt als Chiffre der Moderne für die kollektive Imagination der Mode und, parallel dazu, als paradigmatischen Ort für die Inszenierung zeitgenössischer kreativer Subjektivität. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts war es in den Städten nicht mehr möglich, den sozialen Status einer Person nur aufgrund ihrer Kleidung zu ›dekodieren‹. Das Stadtleben hatte neue und komplexere soziale Codes hervorgebracht, »denn in der Metropole war jeder verkleidet, inkognito, und doch war ein Individuum mehr und mehr das, was es anhatte« (Wilson 2005, 137, Übers. M.T.). Es war in erster Linie die Erfahrung des Lebens in der Großstadt, die Zeitgenossen wie Charles Baudelaire, Georg Simmel und Walter Benjamin dazu animierte, über die der Mode eigenen Spannung zwischen Individualität und Uniformität zu schreiben und über ihre faszinierenden Potenziale des Versteckens und des Verhüllens nachzudenken. Das großstädtische Milieu in Paris, Berlin oder London mit seiner Anonymität und Schnelllebigkeit war ein fruchtbarer Boden für die Produktion und Performance moderner Subjektivitäten, und die Mode war dazu prädestiniert, mit dieser dezidiert urbanen Erfahrung Schritt zu halten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die moderne Metropole zur essenziellen Kulisse und idealen Domäne der Mode und leitete den fortschreitenden Niedergang des »aristokratischen Modells« (Barthes 1985, 297) der Mode ein. Zu einer Zeit, in der Theoretiker wie Benjamin und Simmel über die Realität des urbanen Lebens und dessen Folgen für Kultur, Gesellschaft und Identität nachdachten, dokumentierten Pioniere der Straßenfotografie wie Eugène Atget, Alfred Stieglitz, Paul Strand, August Sander und Jacques-Henri Larti-

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gue mit ihren Kameras die vielen Facetten des städtischen Lebens des Fin de Siècle und des frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Scott 2007). Die Fotografie wurde zu einer eigenständigen Kulturtechnik, die einerseits dem Repräsentationsbedürfnis der urbanen Bourgeoisie diente und andererseits die künstlerischen und narrativen Ambitionen der Straßenfotograf/-innen förderte. Im Zuge des 20. Jahrhundert wurde die pulsierende Metropole zur Kulisse, vor deren Hintergrund sowohl das Genre der Studio-Porträtfotografie als auch das Genre der sozial-dokumentarischen Straßenfotografie ihr Potenzial zur Chronik moderner Subjektivität entfalteten. Straßenfotografen wie Atget, Sander und Stieglitz porträtierten in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts die Armut des städtischen Proletariats und die Trostlosigkeit von Vagabunden, Prostituierten, Kriminellen und anderen ›Außenseitern‹ in den sich verändernden Stadtlandschafen von Paris und Berlin (vgl. Scott 2007). Gleichzeitig richteten vor allem Lartigue, aber auch Stieglitz und Sander, ihr Objektiv auf den extravaganten Lebensstil der Reichen und lichteten ihre modische Kleidung nicht mehr ausschließlich in der Intimität ihrer Ateliers ab, sondern zunehmend auch in einem urbanen Umfeld. Während Straßenfotograf/-innen die Wirklichkeit des modernen Großstadtlebens beobachteten und en passant die Rolle der Mode in der Selbstdarstellung von Stadtbewohner/-innen dokumentierten, beschäftigten sich Modefotograf/-innen immer noch mit der Konstruktion einer weitgehend fiktiven Welt. Modemagazine wie Vogue oder Harper’s Bazaar konstruierten Mode als Ausdruck eines aristokratischen, aufstrebenden Lebensstils, in dem die Realität der Stadt zu einer fiktionalisierten Ergänzung des fotografischen Narrativs mutierte. In den 1930er und 1940er Jahren begannen Modefotografen wie Erwin Blumenfeld jedoch, ihre Fotografien außerhalb des Studios in den realen Räumen der Stadt zu inszenieren. Das Stadtbild von Modestädten wie Paris, New York, London oder Rom wurde in die symbolische Geographie der Modefotografie integriert und damit dem ästhetischen Regime der Mode untergeordnet. Städtische Wahrzeichen wie der Eiffelturm oder die Wolkenkratzer Manhattans sowie anonyme Szenerien leerer Straßenecken oder stark befahrener Straßen wurden zu Standardkulissen der Modefotografie. In den 1940er und 1950er Jahren kam es zu einer zunehmenden Professionalisierung der Fotografie durch die Gründung von Fotoagenturen (wie Magnum, gegründet 1947) und Berufsverbänden, was zu einer großen Transformation im Bereich der Fotografie führte (vgl. Vettel-Becker 2005, 4). Viele Amateurfotograf/-innen entschieden sich, selbständig zu werden und viele von ihnen verdienten ihren Lebensunterhalt als Werbefotograf/-innen, um sich die nötige finanzielle Basis zu verschaffen, um ihrer ›wahren‹ Leidenschaft der Straßenfotografie nachgehen zu können. Andere aufstrebende Berufsfotograf/-innen verdienten sich ihr tägliches Brot als Porträtfotograf/-innen, als

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Kriminalfotograf/-innen für die örtliche Polizei, als Pressefotograf/-innen oder als gelegentliche Modefotograf/-innen (vgl. ebd.). Die zunehmende Involvierung von Straßenfotograf/-innen, die als Modefotograf/-innen jobbten, setzte eine allmähliche ästhetische Annäherung und Vermischung von Straßen- und Modefotografie (vgl. ebd.) in Gang, was einige Jahrzehnte später zur Geburt der Street-Style-Fotografie beigetragen hat. In den 1960er Jahren nutzten Modefotograf/-innen die Stadt als die emblematische soziale Arena der Mode – denn die neue futuristische Mode musste in einem Umfeld präsentiert werden, das die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zum Ausdruck brachte. Fotografen wie William Klein, David Bailey, Terence Donovan, Brian Duffy und John French inszenierten ihre Fotoshootings in den Straßen von London, New York City, Rom oder Paris, auf denselben Straßen also, auf denen Straßenfotograf/-innen auf ihren Streifzügen nach passendes Sujets Ausschau hielten. Die Stadt war für die Modefotograf/-innen ein unbeschriebenes Blatt und sie waren an ihr interessiert, weil sie einen Ort repräsentierte, der die visuelle Präsenz der Kleidung zu verbessern mochte und Models zu idealtypische Verkörperungen weiblicher Urbanität machte. Die unterschiedliche Instrumentalisierungsmodi des Stadtraums in der Mode- und Straßenfotografie weisen auf die ästhetische Polarität zwischen den beiden fotografischen Genres hin: Die Straßenfotografie ästhetisiert das Gewöhnliche, die Stadt, das Alte, das Entstellte, die Außenseiter, Reiche und Arme gleichermaßen und entlarvt den Betrachter/-innen ihre ›menschliche Seite‹. Die Modefotografie dagegen macht das Gegenteil: Sie steigert das Ästhetische, das bereits schöne Modell, das bereits schöne Kleid und kapitalisiert dazu das Neue, die Formen der Architektur und der Stadtlandschaften (*Ästhetischer Kapitalismus, Ästhetisierung). Street-Style-Fotografie ist die Synthese dieser Polarität, und sie entsteht in den späten 1970er Jahren. Street-Style-Fotograf/-innen suchen zwar ›das Gewöhnliche‹, wollen aber auch außergewöhnliche Schönheit zum Vorschein bringen. Sie suchen nach einem frischen, neuen, dennoch alltäglichen Stil, der sich leicht in den Kanon der Modeikonografie einfügen lässt. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren begann die allmähliche Annäherung zwischen Modefotografie, urbaner Dokumentarfotografie und Straßenfotografie, die den Weg für die heutige Street-Style-Fotografie ebnen sollte. Zwei zeitgleiche Entwicklungen führten zur Entstehung des Genres und seiner jüngsten Renaissance in den digitalen Medien. Die erste Entwicklung begann in den frühen 1980er Jahren, als das Genre der Street-Style-Fotografie in unabhängigen Style-Magazinen in Großbritannien und in den USA auftauchte. Die in London produzierten Indie-Magazine i-D, The Face oder Blitz ließen sich von den eklektischen Inhalten der PunkFanzines inspirieren und mixten Modestrecken mit Rubriken zu Tanz, Film, Musik und Politik. Street Style als Fashion-Kategorie wurde im August 1980

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in der ersten Ausgabe der Zeitschrift i-D eingeführt. Die Rubrik »straight-up« zeigte Bilder von jungen, modischen Menschen, die von Fotograf/-innen auf den Straßen Londons ›entdeckt‹ worden waren. Die semi-dokumentarischen Bilder wurden in natürlichem Licht vor einer einfachen Kulisse aus Wänden oder Hausfassaden aufgenommen und unterschieden sich dramatisch von den Bildern in herkömmlichen Modemagazinen. Gleichzeitig produzierte die amerikanische Fotografin Amy Arbus eine monatliche Street-Fashion-Kolumne mit dem Titel »On the Street« in dem New Yorker Indie-Magazine The Village Voice. Die zweite Entwicklung, die einen wesentlichen Einfluss auf das Genre der Street-Style-Fotografie in der Mode hatte, war die Arbeit des Fotoreporters und Society-Fotografen Bill Cunningham. Zwischen 1978 bis zu seinem Tod im Jahr 2016 lieferte Cunningham der Sonntagsausgabe der New York Times Street-Style-Fotografien. In seiner Kolumne »On the Street« arrangierte er 20 bis 30 Bilder in einer Collage und dokumentierte damit jede Woche einen anderen Trend oder eine Modeerscheinung, die er auf den Straßen von New York City, vorzugsweise in Midtown Manhattan, beobachtet hatte. Cunningham sah sich selbst als einen Zeitzeugen der Mode, als Chronist der Bekleidungsgeschichte, und hob in den kurzen Texten zu seinen Bildern oft historische Referenzen zwischen aktuellen Trends und vergangenen Moden hervor. Die Street-Style-Fotografie sollte als Kritik an das elitäre Selbstverständnis konventioneller Modemagazine verstanden werden und stellte einen Bruch mit den Konventionen der Hochglanz-Modemagazine dar. In den späten 1990er Jahren begannen jedoch Modezeitschriften wie Elle und Vogue ihre eigenen Street-Style-Rubriken zu produzieren, die den Fotostrecken der alternativen Style-Magazine der frühen 1980er Jahre und der Arbeit von Streetfashion-Fotograf/-innen wie Cunningham und Arbus nachempfunden waren. Im Laufe der letzten zehn Jahre haben Street-Style-Blogger/-innen auf etablierte räumliche Narrative über modische Urbanität zurückgegriffen und, vermittelt über die Gesichter und Körper der von ihnen fotografierten Subjekte, eine Korrespondenz zwischen Städten, Nationen und spezifischen Modepraktiken hergestellt (*Atmosphäre). Die Faszination von Street-Style-Blogs und ihrem endlosen Bilderstrom liegt in der Darstellung modischer Individualität inmitten der chaotischen Metropole. Die visuelle Darstellung von angesagten Modevierteln, gentrifizierten Vierteln, alten imperialen Parkanlagen und Finanzbezirken, die auf StreetStyle-Blogs produziert wird, sind ein Indiz für die Integration der Geographie der Mode in eine globale Finanzgeographie, aus der globale Städte als Knotenpunkte postindustrieller Produktion, Finanzkraft, Netzwerke und Infrastruktur hervorgehen (vgl. Sassen 1996). In einer globalisierten Wirtschaftsordnung, in der, wie Sassen schreibt, »Orte durch globale Kommunikation und Hypermobilität des Kapitals neutralisiert werden« (ebd., 207, Übers. M.T.),

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behaupten Street-Style-Blogger/-innen, dass es immer noch identifizierbare, ›authentische‹ und ortsspezifische Identitäten, Moden und Styles gibt. Mit ihren umfangreichen Chroniken urbaner Modepraktiken liefern Street-Style-Fotograf/-innen Taxonomien von Akteur/-innen kultureller Urbanisierung und tragen damit zur Gestaltung der modischen Repräsentationen der von Reckwitz beschriebenen kreativen Subjektivität bei. Street-Style-Blogs haben das Kollektivbewusstsein der Mode mit den gut gekleideten, hoch gebildeten, kosmopolitischen Stadteliten animiert und zur Sichtbarkeit und Begehrlichkeit des Lebensstils der globalen Mittelklasse beigetragen – zum Nachteil von ›unsichtbaren‹, marginalisierten und lokalen Modekulturen.

Literatur Barthes, Roland (1985): Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Sassen, Saskia (1996): »Whose City is it? Globalization and the Formation of New Claims«, in: Public Culture 8, S. 205-223. Scott, Clive (2007): Street Photography. From Atget to Cartier-Bresson, London/New York: I.B. Tauris. Vettel-Becker, Patricia (2005): Shooting from the Hip. Photography, Masculinity, and Postwar America, Minneapolis/London: University of Minnesota Press. Wilson, Elizabeth (2005): Adorned in Dreams. Fashion and Modernity, London: I. B. Tauris.

Museum Wolfgang Ullrich

Andreas Reckwitz hat die Gegenwart als Epoche bestimmt, die sich unter der Herrschaft eines »Kreativitätsdispositivs« befinde (Reckwitz 2012, 49). Seiner Einschätzung zufolge hatte es im »Zeitraum von um 1900 bis in die 1960er Jahre« seine »Inkubationszeit« (ebd., 52). Dafür gibt es tatsächlich zahlreiche Indizien. Am Beginn der Inkubationszeit steht etwa die programmatische, aber zu ihrer Zeit weitgehend folgenlose, christlich-sozialistisch imprägnierte Prognose Tolstois, der 1898 in seinem Traktat »Gegen die moderne Kunst« ein antielitäres Verständnis von Kunst propagierte und davon sprach, künftig solle und werde »ein jeder Künstler werden können« (Tolstoi 1898, 159 f.). Am Ende der Inkubationszeit steht das schlagartig sehr populäre, seinerseits einer christlich-sozialistischen Vision entspringende Diktum von Joseph Beuys »Jeder Mensch ist ein Künstler« (*Kapital, *Künstler). Das Menschenbild, das Beuys propagierte, hat sich innerhalb einer Generation nahezu widerstandslos durchgesetzt, was Reckwitz gleich im ersten Satz seines Buches folgendermaßen bilanziert: »Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen.« (Reckwitz 2012, 9) Den Satz »Jeder Mensch ist ein Künstler« könnte man daher als das Mantra des Dispositivs der Kreativität bezeichnen. Demokratisierung und Ermächtigung des Individuums sind zu neuen Idealen geworden. Sie sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie zur zeitgleich stärker werdenden Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche passen: Kreativ zu sein, verheißt nicht nur, sich als unentfremdet und authentisch – somit als Individuum – erleben zu können; es bedeutet auch, in einer Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft die Chance auf Erfolg zu haben, da man schneller, origineller, überraschender als andere agiert. Seit Kreativität zum generellen Anspruch geworden ist, sind die Menschen aber auch vermehrt auf der Suche nach Quellen der Inspiration. Viele vermögen das postulierte kreative Potenzial in sich nämlich nicht hinreichend zu entdecken und setzen daher auf die Übertragung von Kreativität. Sie leben in der Sorge, nicht genügend Ideen zu haben, zu unflexibel, zu unspontan, zu

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uncool zu sein, im Wettbewerb mit anderen dröge und phantasielos zu wirken. Für alle, die sich selbst als unkreativ erfahren, ist es wichtig und beruhigend, sich Kreativität als frei flottierende Ressource vorzustellen, die sie zusätzlich erwerben und in sich aufnehmen können (*Coaching, *Kreativitätstechniken, *Naturalisierung). Das heißt auch, dass Kreativität zu einem Konsumartikel wird: Wer nicht genügend davon hat, sucht nach Möglichkeiten, sich entsprechende Stimulanzen und Atmosphären zu besorgen. Mit Blick auf die letzten Jahrzehnte lässt sich feststellen, dass die Konsumkultur wohl sogar zur intensivsten Inspirationskultur geworden ist, die es jemals gegeben hat (*Konsum). Ganze Industriezweige bieten heutzutage kommodifizierte Inspiration, um Menschen in schöpferische Laune zu versetzen. Dennoch wird der Transfer von Kreativität niemandem eher zugetraut als dem *Künstler. Viele, die sich von den Kreativitätsimperativen unter Druck gesetzt fühlen, sehen in ihm die Instanz, die über die Ressource ›Kreativität‹ verfügt und sie umverteilen kann. Damit hat das Kreativitätsdispositiv tiefgreifende Folgen auch für Kunstmuseen und Ausstellungshäuser. Sie erleben den markantesten Funktionswandel ihrer mehr als 200-jährigen Geschichte. Dieser besteht darin, dass die Besucher nicht mehr nur kommen, weil sie die Schöpfungen – Meisterwerke – anderer bewundern, sondern weil sie sich auch selbst als kreativ erleben wollen. Im Museum ereignet sich am deutlichsten, was Reckwitz generell fasst, wenn er davon spricht, dass sich im Zuge des Kreativitätsdispositivs »die Unterscheidung zwischen Produzenten und Rezipienten [ab]schwächt«, ja »die Asymmetrie zwischen ›(er)zeugendem‹ Originalgenie und ›empfangendem‹ Publikum nivelliert wird« (ebd., 107). Zugleich bedeutet der Funktionswandel eine Aufwertung des Kunstmuseums, ist es doch nicht länger dem Verdacht ausgesetzt, lediglich eine Luxuseinrichtung für eine kleine bildungsbürgerliche Klientel zu sein. Vielmehr übernimmt es die geradezu existenzielle Funktion, möglichst vielen Menschen möglichst viel Inspiration zu bieten. Zumindest soll es die Menschen von der Sorge entlasten, selbst zu unkreativ zu sein. Man könnte das als palliative Funktion beschreiben, sie wird ergänzt und überboten von der stimulierenden Funktion. Um die zunehmend ins Zentrum gerückten Museums-Funktionen auf einen klaren Begriff zu bringen und die Differenz zum herkömmlichen Begriff von Museum deutlich zu machen, könnte man dieses neu als Kreativitätsagentur fassen. Die neue Aufgabe der Museen versteckt sich hinter dem Begriff der ›Kunstvermittlung‹. Sie mag zwar auch dazu da sein, Wissen zu vermitteln und Verständnis für Werke und Künstler zu schaffen, vor allem aber steht sie im Dienst des Publikums, das ausgehend von eigens auf bereiteten Werken Inspiration erfahren und sich selbst erleben, ausprobieren, kreativ engagieren soll. Kunstvermittlung ist daher institutionalisierter, konfektionierter Musen-

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dienst; er richtet sich vor allem an diejenigen, die von sich aus wenig Übung darin haben, in eine kreative Stimmung zu gelangen, denen es also nicht genügt, nur in der Nähe von Kunst zu sein. Kunstvermittler selbst beschreiben ihre Tätigkeit gerne als »Hebammenarbeit«, welche die Besucher dazu motivieren soll, »selbst gestalterisch tätig zu werden und Kunst zu erschaffen« (Meyer-Eggenschwiler 2008, 79). Bereits in den ersten Texten, die der Kunstvermittlung gewidmet sind, noch in der Inkubationszeit des Kreativitätsdispositivs, taucht dieses Motiv auf. Als der US-amerikanische Unternehmer Albert Barnes eine in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eigens für seine Mitarbeiter zusammengestellte große Kunstsammlung in wöchentlichen Kursen nutzbar machte, operierte er mit Konstellationen, bei denen ganz Unterschiedliches in Nachbarschaft geriet, um das Assoziationsvermögen anzuregen. Die »unorthodoxe Gruppierung von offensichtlich sehr unterschiedlichen Gemälden sowie anderen Kunstwerken« wecke »Neugier« (»the student’s curiosity is usually aroused by the unorthodox grouping throughout the gallery of apparently disparate paintings and other works of art«). So formuliert es Violette de Mazia, langjährige Mitarbeiterin von Barnes und verantwortlich für das Kursprogramm, in einem Aufsatz von 1942. Weiter schreibt sie, dass der Kursteilnehmer nach Ähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Artefakten suche, um schließlich »einen Anreiz zu eigener kreativer Tätigkeit« zu erhalten (»a stimulus to creative work of his own«; de Mazia 1978, 140 f.). Indem die Kunstvermittlung Museumsbesucher dazu anregt, sensibler zu werden, eigene Ideen zu entwickeln und das selbst Erfahrene differenziert auszudrücken, übernimmt sie gesellschaftspolitisch relevante Aufgaben. Zugleich entfernt sich das Museum von seinen ursprünglichen Zielsetzungen. So war es, zumindest der Idee nach, der Ort, an dem die Werke rein für sich, losgelöst von ökonomischen oder instrumentalisierenden Faktoren, als etwas Überlegenes wahrgenommen werden sollten, um sich in ihrem Gehalt zu erschließen. Der Kustos stand ganz klar im Dienst der Werke und der Künstler, er empfand das Publikum geradezu als Störung. Dagegen ist der Kunstvermittler sein Anwalt. Systematisch betreiben Kunstvermittler eine Nobilitierung des Besuchers zum aktiven Kreativen. Damit er hinreichend Selbstvertrauen bekommt, bedarf es seiner Ermutigung: Aktionen, mit denen er sich seiner eigenen Kreativität vergewissern kann. So wird es z.B. üblich, die auf Initiative von Kunstvermittlern in Workshops entstandenen Artefakte der Besucher in die Ausstellungen zu integrieren – oft sogar so stark zu integrieren, dass sie im selben Display wie die Exponate präsentiert werden, sich die Urheber also als (gleichberechtigte) Künstler erfahren dürfen. Erst recht werden die sozialen Medien dazu genutzt, den Besuchern eine aktivere Rolle zu geben und Aneignung von Kunst als kreative Reaktion auf die Werke zu begreifen. So werden

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Besucher etwa dazu aufgerufen, Hashtags zu folgen und sich oder andere zusammen mit Smartphones so vor Kunstwerken zu fotografieren, dass es aussieht, als würden deren Protagonisten gerade ein Selfie machen. Man nutzt es also, dass fast alle Museumsbesucher heute in Form ihres Smartphones nicht nur einen Fotoapparat bei sich haben, sondern während des Besuchs auch an die Welt der Onlinenetzwerke angeschlossen sind, also nicht für sich alleine durch die Räume gehen, sondern in ständiger Verbindung mit Freunden, Followern und Communities stehen. Allein deshalb sind sie in anderer – diversifizierterer – Weise aktiv als früher, sind aber auch umso motivierter, sich als kreativ zu erweisen (*Performativität). Entsprechend gerne werden Vorschläge aufgegriffen, was man alles im Museum tun und produzieren kann. Das erinnert an die Frühzeit der Museen, als dort auch schon aktiv gezeichnet und gemalt wurde, da Kopisten und Kunststudenten sich in bildnerischer Praxis übten. Nicht zuletzt für sie wurden Museen ursprünglich sogar eingerichtet. Dahinter stand der Glaube, große Kunst könne maßgeblich auf die Begabtesten der nächsten Generationen wirken. Auch damals unterstellte man der Kunst also schon inspirierende Kraft, allerdings nur für eine kleine Minderheit. Heute hingegen wird es mehr und mehr zur Selbstverständlichkeit, sich Besucher grundsätzlich als aktiv und kreativ vorzustellen. Leitend geworden ist die Vorstellung, Kunst könne mit ihren positiven Kräften überhaupt nur gegenüber einem aktiv-kreativen Betrachter, nicht aber für einen passiven Rezipienten wirksam werden. Hanno Rauterberg fasste die heutige Museumssituation 2015 folgendermaßen zusammen: »War es für die Museen lange wichtig, Orte der Abgeschlossenheit und Einmaligkeit zu sein, so tun sie neuerdings viel dafür, mit Twitter-Partys oder Instawalks die eigenen Bestände der digitalen Sphäre zu öffnen. Einst war Fotografieren streng verboten, nun werden die Besucher vielerorts dazu ermuntert, mit sogenannten Artselfies für sich, die Kunst und das Museum in den Sozialen Medien zu werben. Mittelfristig wird es nicht mehr nur darauf ankommen, was eine Sammlung zeigt. Ebenso wichtig wird es sein, was es davon außerhalb des Museums zu sehen gibt – auf den kursierenden Bildern des Netzes. Damit aber ist das Museum nicht länger nur ein Ort des Betrachtens, es wird zum Ort der Produktion.« (Rauterberg 2015)

Der hier angesprochene Rollenwandel des Besuchers, der zugleich die Ansprüche gegenüber dem Museum verändert, wäre ohne Kunstvermittlung nicht möglich. Im Zuge der Verwandlung der Museen in Kreativitätsagenturen ist zu erwarten und zum Teil auch schon zu beobachten, dass die Kunstvermittlung auch an einer anderen Stelle innerhalb der institutionellen Arbeit ihren Platz bezieht: War sie lange dem Ausstellen nachgeordnet und galt Kuratoren gar als lästiges Beiwerk, ja wurden die Vermittler erst aktiv, wenn die Ausstel-

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lung schon stand, werden sie zunehmend früher einbezogen und können so auch Einfluss auf Themen und deren Inszenierung innerhalb von Ausstellungen nehmen (*Kuratieren). Damit wird der beschriebene Funktionswandel erst recht manifest – und zeugt von einem Paradigmenwechsel. Würde dieser vollständig vollzogen, wäre das aber eine in ihrer Einseitigkeit bedenkliche Entwicklung. Vielmehr sollte anerkannt werden, dass sowohl das Paradigma, bei dem Werk und Künstler im Zentrum der Aufmerksamkeit des Museums stehen, als auch das neue Paradigma, durch das dem Publikum die Schlüsselrolle zukommt, in sich legitim sind. Im einen Fall sind öffentliche Gelder zu rechtfertigen, weil es darum geht, als herausragend erkannte menschliche Artefakte, denen identitäts- und sinnstiftende Kraft attestiert wird, zu bewahren und zur Verfügung zu stellen. Im anderen Fall sind öffentliche Gelder berechtigt, weil Menschen verschiedener Milieus darin unterstützt werden, sich selbst als aktiv und erfolgreich zu erfahren, was wiederum soziale Energien fördert. Da beide Paradigmen wichtige Aufgaben formulieren, ist es nicht angemessen, sie gegeneinander auszuspielen oder einen völligen Paradigmenwechsel zuzulassen. Die Zukunft der Kunstmuseen könnte vielmehr in einer Aufgabenteilung bestehen, die aus der Einsicht folgt, dass die Evolution dieser Institution an einen Punkt gelangt ist, an dem sich zwei Äste voneinander trennen und jeweils für sich weiterentwickeln. Gibt es dann im einen Fall das Museum, an dem historisches Bewusstsein wachgehalten und geschärft wird sowie die Bestände intensiv gepflegt und vielfältig auf bereitet werden, so im anderen Fall das Museum, das sich als Institution mit primär sozialpolitischem Auftrag begreift und die Kunst als Anlass und Ausgangspunkt begreift, um Projekte zu initiieren, Communities zu stiften, kreative Fähigkeiten zu üben, Gegenpol zu den Orten zu sein, an denen die Menschen sich belastet fühlen. Gewiss kann eine solche Zweiteilung nur ein Gedankenkonstrukt sein, aber es scheint zumindest möglich, dass sich künftig nicht mehr alle Museen um alles kümmern, sondern es vielmehr eine Vielzahl an Subspezies gibt, die im Zuge der Evolution dieses Institutionstyps entstehen. Warum auch sollte dasselbe Museum innovative Provenienzforschung betreiben und sich zugleich engagiert um soziale Minderheiten kümmern? Warum sollten im selben Haus Techniken der Restaurierung vorangetrieben und Kreativworkshops angeboten werden? Oder anders gefragt: Welcher anderen Institution außer dem Museum würde man ein so überfordernd breites Spektrum an Aufgaben zumuten, die von historischer Forschung bis zu Inklusion reichen? Das Museum hat über zwei Jahrhunderte nicht nur Exponate, sondern auch Aufgaben und Ansprüche gesammelt und platzt nun aus allen Nähten, muss also in die Phase der Arbeitsteilung übergehen. Das Kreativitätsdispositiv liefert dafür die stärkste Begründung.

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Wolfgang Ullrich

Literatur De Mazia, Violetta (1978): »An Experiment in Educational Method at the Barnes Foundation« (1942), in: John Dewey et al. (Hg.), Art and Education. A Collection of Essays (1954), Merion, Pa.: Barnes Foundation Press. Meyer-Eggenschwiler, Yvonne (2008): Kunst erleben durch Kunstvermittlung. Projekte und Methoden zum Thema Kunstvermittlung und Museumspädagogik, Saarbrücken: VDM Verlag. Rauterberg, Hanno (2015): »Unser drittes Auge«, in: Die Zeit 46/2015. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2015/46/fotografie-smartphone-kunstselfies-museen/komplettansicht (abgerufen am 30.04.18). Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Tolstoi, Leo (1898): Gegen die moderne Kunst, Berlin: Hugo Steinitz Verlag.

Naturalisierung Emmanuel Alloa

Der Prozess der Naturalisierung besteht darin, etwas natürlich werden zu lassen, was es zunächst von sich aus nicht war. Mit anderen Worten: Natürlichkeit ist nicht angeboren, sondern will erst gewonnen werden. Eine der ältesten Formulierungen dieses Gedankens findet sich bei Michel de Montaigne. Die Herren Naturforscher, erklärt Montaigne, »verkünsteln« die Natur (artialisent la nature); im Gegenzug besteht die Herausforderung für den Schriftsteller, die Kunst zu »naturalisieren« (naturaliser l’art; de Montaigne 1965, 128). Mit der Semantik des ›Kreativitätsdispositivs‹ wird nahegelegt, dass es sich bei Kreativität weniger um eine unnachahmliche »Naturgabe des Genies« handelt (Immanuel Kant), als um ein komplexes Phänomen, das sich von seiner Einbettung in ein je spezifisches gesellschaftliches und normatives Setting nicht loslösen lässt. Entgegen einer langen Tradition der Genieästhetik wird damit die Spontaneität kreativer Gestaltung zurückgewiesen: Kreativität ist nicht schlicht gegeben, sondern stellt immer schon das Ergebnis normativer Prägeprozesse dar. Der Rückgriff auf Michel Foucaults Dispositiv-Begriff verweist dabei auf solche Formierungsraster von Kreativität, aber auch auf eine ganz bestimmte historische Konstellation, die Andreas Reckwitz (2012) mit dem Kreativitätsdispositiv verbunden wissen will. Dispositive sind spezifische Arrangements von Sicht- und Sagbarkeiten, von dem was wahrgenommen und getan werden kann (*Dispositiv). Zudem handelt es sich jedoch auch um ein Subjektivierungskorsett, das Muster erwartbarer Handlungs- und Denkweisen vorgibt; das Dispositiv ›disponiert‹ Subjekte auf dasjenige hin, was zu tun ist. Aber Dispositive sind selbst wiederum Symptome bestimmter historischer Konfigurationen, auf die sie eine Antwort darstellen. Wie Foucault in einem Interview darlegt, ist das Dispositiv ein »Gebilde, das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, einer dringenden Anforderung nachzukommen« (Foucault 2003, 392). Dispositive bilden somit den Transformationsriemen zwischen Psychogenese und Soziogenese, da sie sowohl auf der Ebene der einzelnen Subjekte wie auf derjenigen der Gesellschaft Kräfte bündeln und in eine bestimmte Richtung lenken.

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Wo Kreativität zum Regulativ geworden ist, für Individuen wie für Organisationen gleichermaßen, stellt sich die Frage, wie sie urbar gemacht werden kann (*Organisation). Denn schon die Rede von der Kreativität als neuer Norm führt die Paradoxie vor Augen: Während Normen der Zug verbindlicher Allgemeinheit eignet, definiert sich Kreativität klassischerweise durch die Abweichung vom Standard (*Queer). Wenn die Normabweichung selbst wiederum zur Norm gerät, ist allerdings ein neuer Grad an Metakomplexität erreicht: Die Hervorbringung und Rezeption des Neuen wird Gegenstand von Planspielen. Im Kreativitätsdispositiv herrscht eine Erwartbarkeit zweiter Ordnung vor, bei der davon auszugehen ist, dass Überraschungsmomente prämiert werden. Diese Normabweichung gilt im Übrigen nicht nur für die Warenwelt (*Konsum), sondern auch für Individuen. Wenn sich Exzentrik mit Effizienz verquickt, wird Differenzierung zum neuen, paradoxen Imperativ. Sich abgrenzen, sich abheben, aus der Masse hervorstechen – diese Distinktionsmechanismen sind nicht länger einer soziokulturellen Elite vorbehalten, sondern greifen in alle Gesellschaftsbereiche ein (*Kreative Masse). Dieser Prozess spiegelt sich im Aufzug einer neuen Ökonomie wider, die im Zeichen des »Massenoriginals« (Jörg Metelmann) steht: seriell hergestellte Unikate, durch die sich »Otto Normalabweicher« (Jürgen Kaube) vom Rest abheben kann. Die Lage stellt das Subjekt vor folgende Alternative: Distinct, or extinct! – so zumindest hat es Tom Peters, ein zentraler Name im Diskurs der Selbstvermarktung, in seinem Brand You Survival Kit dargestellt (vgl. Peters 2004, zit.n. Bröckling 2007, 152). Das Problem ist allerdings leichter benannt als gelöst. Trotz des rasanten Erfolgs der Ratgeberliteratur, der Workshops zu *Kreativitätstechniken und des Innovations-Coachings (*Coaching) sind der Erlernbarkeit von Erfindungsgabe Grenzen gesetzt. Ein universelles Kreativitätsrezept gibt es bis dato nicht. Standardisierte Kreativität beschert ebenso fragliches Machwerk wie aus der Programmkunst vertraut. Die These von der Normalisierung der Kreativität ist daher ambivalent, denn sosehr man sich der Beweislast von der neuen Normierungskraft von Kreativität schwer entziehen kann, so ist man doch von einer Normalisierung von Kreativität weit entfernt. Kreativität ist und bleibt keineswegs selbstverständlich, sie ist mitnichten trivial. Welche Ideen, Produkte oder Verhaltensweisen kreativ waren, ist immer erst retrospektiv festzustellen. Das sprichwörtliche ›Das kann doch jeder!‹, das so manch ein Werk zeitgenössischer Kunst seinen Betrachtern entlockt hat, bestätigt lediglich, dass faktische Innovation immer in der Verwirklichung von übersehenen, aber letztlich allen offenstehenden Möglichkeiten besteht (*Museum). Erst nachträglich stellt sie vor Augen, was man immer schon hätte wissen müssen. Die rückwärtsgewandte Logik, die bei der Akkreditierung des Neuen greift, macht auch deutlich, warum Kreativitätstechniken von Anbeginn Grenzen gesetzt sind. Aus der Wissenschaftsgeschichte ist bekannt, dass die größten Entdeckungen beiläufiger Art waren: Es

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sind Nebenwege, auf die der Forscher zufällig stößt (man spricht auch von Serendipität, d.h. von den glücklichen Zufällen, die gerade dann kommen, wenn man sie nicht sucht.) Beiläufigkeit ist ein Aspekt, der bislang im Kreativitätsdiskurs noch nicht hinlänglich berücksichtigt wurde. Jenseits einer Auffassung von Kreativität als spontaner Willensleistung eines Individuums und Kreativität als normativer Zielvorgabe gilt es daher, über routinierte Kreativität nachzudenken. Der Aspekt der Naturalisierung spielt dabei eine wesentliche Rolle. Routinierte Kreativität ist insofern naturalisierte Kreativität, als sie beiläufig geschieht. Darüber hinaus stellt die Routinisierung von Kreativität eine maßgebliche Lösung für das Problem dar, wie Kreativitätspotenziale perpetuiert und auf Dauer gestellt werden können. Um es gleich vorwegzunehmen: als internalisierte Kreativität soll sie gleichsam zur ›zweiten Natur‹ werden. Doch gehen wir schrittweise vor. Auf den ersten Blick wirkt die Idee einer routinierten Kreativität widersprüchlich, da man Kreativität landläufig mit der Fähigkeit in Verbindung bringt, gewohnte Abläufe zu durchbrechen und eingefahrene Routinen in Frage zu stellen. Eine habitualisierte Kreativität muss diesbezüglich wie eine contradictio in adiecto klingen. Exploratives Verhalten, Umdenkenkönnen kund Improvisationstalent – alles Merkmale, die mit Kreativität assoziiert werden – passen nicht recht zum Bereich der Gewohnheit (*Improvisation). Und doch steht jedwedes kreative Handeln vor der Herausforderung, seine Wirkungen auf Dauer zu stellen. Wie bereits unterstrichen, kann nicht jede Abweichung von der Norm bereits die Kraft des Neuen für sich beanspruchen; die absolute Abweichung erweist sich sogar – wie jeder Dialektiker weiß – als vollendete Form schlechthin von Regelfolge. Ausnahmehaftigkeit allein garantiert daher noch kein Subversionspotenzial, ganz im Gegenteil. Lediglich solche Abweichungen, die ex post als erfinderisch anerkannt werden, können sich darauf Hoffnungen machen, das Gütesiegel der Kreativität zu bekommen. Allgemein steht die Kreativitätsökonomie somit vor der Herausforderung, neue Erlebnisarten in ihrer Neuheit auszuweisen und als solche wahrnehmbar werden zu lassen (*Valorisierung). Das Durchbrechen von Erfahrungen ist auf einen Erfahrungsboden bezogen, von dem es sich zugleich abhebt, kreative Lösungen verfahren innerhalb eines Gewohnheitsrahmens, mit dem sie zugleich brechen. Mehr noch: der kreative Akt muss nicht nur als solcher identifiziert werden, sondern auch identifizierbar bleiben, um im Sinne eines ökonomischen oder symbolischen Kapitals verwertbar zu sein (*Kapital). Für eine nachhaltige Sicherung muss Kreativität daher in einen gewohnheitsmäßigen Erfahrungskontext eingeflochten werden, wobei die Voraussetzung ihrer Anerkennung zugleich immer schon die Gefahr ihrer Banalisierung mitführt; (als Beispiel: Gutes *Design ist solcherart, dass es von allen Konkurrenten übernommen wird und kein Alleinstellungsmerkmal mehr dar-

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stellt. In diesem Sinne sind die besten Erfindungen solche, die irgendwann völlig selbstverständlich geworden sind). Was für die Konsumwelt gilt (*Konsum), gilt mit Abstrichen auch für ihre Subjekte. Innovationen müssen sich ähnlich etablieren, wie sich Erfahrungen setzen müssen. Die »Sedimentierung« (um hier Edmund Husserls Begriff zu bemühen) gilt für Produkte wie für Handlungen gleichermaßen. Das ist auch der Grund, warum die klassische Dichotomie zwischen Automatismus und Innovation entschieden zu kurz greift. Herkömmlich geht man von einer arbeitsteiligen Zuständigkeit aus: Kreativität einerseits, als ›freie‹ Betätigung, absichtsvolle Absichtslosigkeit und als *Spiel, und Automatisierung andererseits, für alle Abläufe, die nicht mehr eigens bedacht werden müssen und im Hintergrund ablaufen; (es hat im Übrigen durchaus Gründe, dass wir auf diese Mechanik der Gewohnheit nicht genauer achten, schrieb auch Elias Canetti einmal: »Wer von allein seinen Gewohnheiten Kenntnis nähme, wüsste nicht mehr, wer er ist.«) Dieser Gedanke einer notwendigen Trennung von unbewussten Abläufen und bewusster Kreation prägt schon die Psychologie der Jahrhundertwende, etwa wenn es bei William James heißt: »There would be no chance of learning a new fact or mastering a new action, were it not that the automatic action of habit takes care of all old and familiar experiences, and thus leaves conscious and purposive actions free« (James 1967, 103). Sosehr hier noch der Gegensatz von automatischer Gewohnheit und explorativer Erkundung betont wird, der enge Konnex deutet sich bereits an. Wenn Kreativität keine Black Box im Innern der schönen Seele mehr darstellen soll und der schöpferische Akt keine creatio ex nihilo, dann muss mehr zu sagen sein über jene Momente, die Kreativitätsschübe ex ante vorbereiten und wiederum ex post einholen. Um zu erklären, wie Neues entsteht, bedarf es also einer Theorie des Gewöhnlichen. Im Anschluss an James hat insbesondere die Tradition des Pragmatismus hierauf das Augenmerk gelegt. Für John Dewey etwa drückt sich Kreativität in der Regel nicht in Abgrenzung zu, sondern in der Gewohnheit aus. In den meisten Fällen geht es weniger um eine andere Praxis als um eine Praxis, die anders und neuartig ausgeführt wird. Die jeweilige Situation stellt ein Subjekt vor neue Herausforderungen, Antworten müssen erfunden werden, die man bislang nicht zu haben glaubte. Das gilt für völlig unbekannte Kontexte wie für alltägliche Situationen: die Durchführung hat sich per definitionem ihren Umständen anzupassen, die je anders sind, und insofern gehört zu jeder Gewohnheit stets ein gewisses Maß an Kreativität. Dewey schlägt daher vor, zwischen einer routinierten Gewohnheit und einer intelligenten Gewohnheit zu unterscheiden: »All habit involves mechanization… But mechanization is not of necessity all there is to habit« (Dewey 1982b, 50, Herv. i.O.). Ein genialer Geiger erfindet keineswegs jeden Abend auf der Bühne seinen Stil neu, so Dewey, aber seine Kunst erschöpft sich nicht in der virtuosen Beherrschung seines

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Instruments. Einerseits verfügt der Musiker über ein inkorporiertes Knowhow, das er gleichsam blind abrufen kann, andererseits kann seine Interpretation eines Bach’schen Violinkonzerts vom Publikum als äußerst expressiv oder gar als radikal neu bewertet werden. Beide Formen der Spielpraxis greifen hier ineinander, weshalb Dewey auch zum Schluss kommen kann: »True spontaneity is henceforth not a birth-right but the last term, the consummated conquest, of an art« (Dewey 1982a, 352). Anders formuliert: Spontaneität ist das Ergebnis verselbstständigter Gewohnheit – und nicht etwa umgekehrt. Das Projekt der Naturalisierung, das sich der Pragmatismus auf die Fahnen geschrieben hat, kann daher in mehrfacher Hinsicht gelesen werden: Als Rückführung auf ein anti-repräsentationales Verständnis von Vernunft (vgl. Deweys Idee der »naturalization of intelligence«), zudem aber auch als Inkorporierung von Reflexionsmomenten. Das ergebnisoffene Verhältnis muss selbst wiederum zur ›zweiten Natur‹ werden, zu einer Gewohnheit zweiter Stufe. Durch fortwährende Selbstkorrekturen und kritischen Rückbezug auf das eigene Tun wird dieses permanent optimiert. Zumindest in dieser Hinsicht lassen sich Verbindungslinien zur Kybernetik zweiter Ordnung aufzeigen, und deren Idee eines sich selbst über Rückkopplungsschleifen ( feedback loops) regulierendes, aber dennoch grundsätzlich offenen Systems (*Computer). Nicht umsonst geben natürliche Organismen das Vorbild für gelungene Selbststeuerung ab. Biologische Systeme können anders als Maschinen tatsächlich innovative Systemsprünge erzeugen, weil sie einerseits die Selbst-Umwelt-Differenz ganz anders funktionalisieren, und sich andererseits – im Sinne einer autopoietischen *Selbstgenerierung – fortlaufend neu definieren. An die Stelle stumpfer Regelausführung tritt ein variabler und dynamischer Verlauf, der sich durch Kontingenz, Rekursion und Emergenz auszeichnet. Erfolgreicher Erwerb innovativer Merkmale wird durch den evolutionären Prozess zudem für die gesamte Art gesichert und auf Dauer gestellt. Seit den 1960er Jahren beobachtet man jedenfalls in der Innovationsforschung den zunehmenden Einfluss biologischer Modelle (*Innovation). Das gilt für die die sogenannten Psycho-Kybernetik (vgl. etwa den Bestseller Psychocybernetics von Maxwell Waltz) ebenso wie für die Organisationstheorie (*Organisation). Das Paradigma der hierarchischen Arbeitsstruktur wird durch eine organischere Netzwerkmetapher ersetzt und an die Stelle fremdgesteuerter Prozesse tritt ein dezentraler, selbstverwalteter Ablauf. Auch dies ist eine Form der Naturalisierung, weil selbststeuernde organische Systeme zum Vorbild genommen werden: Kultur muss selbst als ein »hervorgebracht Natürliches« gedacht werden (Gilbert Simondon). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Naturalisierung von Kreativität sowohl der genieästhetische Individualismus als auch der normative Universalismus zurückgewiesen werden soll. Kreativität ist weder spontan noch kann sie einer verschriebenen Rezeptur folgen, sie muss ›natürlich‹ wer-

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den, als implizites Wissen und verinnerlichtes Können etwa. Mit anderen Worten, Kreativität darf nicht ›aufgesetzt‹ wirken, und daher muss solches, was angeeignet ist, als urwüchsig auftreten. Um hier Adorno zu bemühen: Thesis muss als Physis ausgegeben werden. Kreativität (so ließe sich der Leitgedanke der Naturalisierung auch zusammenfassen) ist nicht selbstverständlich – sie soll es werden.

Literatur Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. de Montaigne, Michel (1965): Essais, Livre III, Chapitre 5, Paris: PUF. Dewey, John (1982a): 1918-1919 (=The Middle Works: 1899-1924, hg. v. Jo Ann Boydston, Bd. 11), Carbondale: Southern Illinois University Press. Dewey, John (1982b): 1922: Human Nature and Conduct (= The Middle Works: 1899-1924, hg. v. Jo Ann Boydston, Bd. 14), Carbondale: Southern Illinois University Press. Foucault, Michel (2003): Schriften in vier Bänden, Dits et écrits, Bd. 3, 1976-1979, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. James, William (1967): Psychology (= The Early Works: 1882-1887, hg. v. Jo Ann Boydston, Bd. 2), Carbondale: Southern Illinois University Press. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

Organisation Timon Beyes

Wo keine Organisation ist, so eine Standardformel der gesellschaftstheoretischen Organisationsforschung, können keine gesellschaftlich relevanten, weil kollektiv bindenden Entscheidungen fallen (vgl. Luhmann 2000). Soziale Felder oder Systeme oder Dispositive entscheiden selbst nichts (›die Wirtschaft‹ spricht nicht); sie sind dem Beobachter als Handlungs- oder Kommunikationsfelder oder Machtordnungen rekonstruierbar. Entscheidungen von Einzelnen mögen feldkonform sein, Systemlogiken reproduzieren und auf ein Dispositiv zurückgeführt werden können; darüber hinaus bleiben sie ohne organisationale Unterfütterung im Normalfall belanglos. Auch der Kreativitätskomplex ist also auf Organisation angewiesen. Dies gilt umso mehr, wenn der Aufstieg der Kreativität an die gesellschaftliche Ausweitung ästhetischer Praktiken und Momente geknüpft ist, an eine Art Ökonomie der Erregung von Sinnen und Affekten (vgl. Reckwitz 2012, 194; *Affektkultur). Diese Stimulierung und Modulierung der Sinne ist zu organisieren. Es bedarf organisationaler Prozesse und Formen, die auf die Ausweitung des Sichtbaren, Hörbaren, Fühlbaren und Sagbaren reagieren und ästhetische Praktiken und Episoden hervorbringen. Wäre dies nicht so, bliebe die Diagnose einer durchgreifenden Ästhetisierung des Gesellschaftlichen eigentümlich folgenlos. Mit der These, dass »[d]er gesellschaftliche Komplex der Kreativität [...] die flottierenden Prozesse des Ästhetischen auf eine bestimmte Weise« »territorialisiert« (ebd., 20), ist somit die Frage der Organisation aufgeworfen. Wie lässt sie sich skizzenhaft beantworten?

Organisierter Kapitalismus In der Erfindung der Kreativität wird Organisation als Operator und Schmiermittel, als Bedingung und Effekt gesellschaftlicher Ästhetisierung primär im Kontext der »ästhetischen Ökonomie« adressiert (ebd., 133 ff.). Das mag einer feldspezifischen Unterscheidungslogik – also dem Strukturprinzip des Buches  – geschuldet sein, die Organisation mit ›der Wirtschaft‹ assoziiert und

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letztere von den Feldern der Ästhetisierung des städtischen Raums bzw. der *Creative Cities, des Kunstfelds, der kreativen Selbsttechniken sowie der Massenmedien unterscheidet, auch wenn Kreativität auf all diesen Feldern zu organisieren ist. Zudem scheint die einflussreiche Studie zum Neuen Geist des Kapitalismus mitzuschwingen (vgl. Boltanski/Chiapello 2003), mit der das ästhetisierte Soziale (und seine Vorläufer in Spielarten der Künstlerkritik) zum Legitimationsregime der Ökonomie verkommt (*Kritik). Selbst zusehends ästhetisiert, wird der organisierte Kapitalismus zum Motor der Ästhetisierung (*Ästhetischer Kapitalismus). Damit ist aber die Problematik aufgeworfen, wie die in der Erfindung der Kreativität in ihrem gegenseitigen Spannungsverhältnis diskutierten Großprozesse der *Ästhetisierung und Ökonomisierung in der Frage der Organisation zusammenfallen. Auf der Ebene der Organisation und des Organisierens scheint der Aufstieg sinnlicher, selbstbezüglicher Praktiken mit ihrer zweckrationalen Verwertbarkeit und Verwertung ausbalanciert werden zu müssen – auf die Gefahr hin, dass eine organisationstheoretische Perspektive das Einfalten der Ästhetisierungsthese in das Primat ökonomischer Verwertungszusammenhänge impliziert. Bei alldem hallt Max Webers epochale und folgenreiche Begründung der Organisationsforschung in ihrem Fokus auf Zweckrationalität und entästhetisierten bürokratischen Strukturen nach – auch wenn bürokratische Zweckrationalität ja gerade kein Alleinstellungsmerkmal ökonomischer Strukturen darstellt. So wird die ›alte‹ Kultur der Ökonomie im Bild einer unsinnlichen, weitgehend affektfreien Maschine gezeichnet, die sich primär seit den 1970er und 80er Jahren ästhetischen Praktiken bzw. ästhetischer Arbeit und der Kreativitätsemphase öffne (vgl. Reckwitz 2012, 141). Ob staatliche Verwaltung, Universität, Unternehmen oder Non-Profit-Verein: Organisation heißt in dieser Tradition stabile Binnenstruktur, routinisierte Entscheidungsverfahren sowie weitgehend klare Hierarchie- und Mitgliedschaftsverhältnisse; für Kreativitätsemphase und das selbstbezügliche ästhetische *Spiel scheint hier kein Platz zu sein. Dass die moderne Gesellschaft als »Organisationsgesellschaft« im Sinne dieserart formalisierter Organisationsverhältnisse zu betrachten sei, ist zumindest mit Blick auf das 20. Jahrhundert von fragloser Evidenz: Formale Organisationen bestimmen das gesellschaftliche Leben von der Wiege bis zur Bahre. Wenn nun der »Kreativitätskomplex als eine historische außergewöhnliche Erscheinung des letzten Drittel des 20. Jahrhunderts« (ebd., 16) zu verstehen ist, wäre indes zu fragen, inwiefern und wie sich damit Organisationsformen und -prozesse transformieren. Immerhin ist der »ästhetische Kapitalismus«, so Reckwitz, »in seiner fortgeschrittensten Form auf Arbeitsweisen [angewiesen], die das lange vertraute Muster einer routinisierten Arbeiter- und Angestelltentätigkeit, ihres standardisierten und versachlichten Umgangs mit Objekten und Subjekten, hinter sich gelassen haben« (ebd., 11; *Arbeit).

Organisation

Genealogien des Organisierens Jenseits vermeintlich stabiler Formen und Kriterien der Organisation und ihrer Reduktion auf das ökonomische Feld bringt die Frage nach den Organisationsmechanismen also die empirischen und analytischen Verhältnisse ins Schwimmen. Dass dem Begriff der Organisation eine gewisse Widersprüchlichkeit oder zumindest eine ausgeprägte Heterogenität anhaftet, ist ein Beleg dafür – und macht ihn fruchtbar für die nähere Auseinandersetzung mit den Ausgestaltungen und Funktionsweisen des Kreativitätskomplexes. Ganz in diesem Sinn, indes ohne als Theorem eigens ausbuchstabiert zu werden, erscheint das Phänomen der Organisation in Reckwitz’ materialreicher Analyse des Aufstiegs der ästhetischen Ökonomie auf unterschiedlichen Ebenen: als formale Organisation mit ihren Binnenverhältnissen; in der Form unternehmerischer und künstlerische Gegenbewegungen; und als kreativwirtschaftliches Amalgam aus ästhetischen Praktiken und ökonomischer Zweckorientierung. Zum ersten ist da die Ästhetisierung etablierter Organisationen und mithin die Perspektive, die am ehesten im Weber’schen Verständnis von Organisation als Maschine formaler Rationalisierung und ihren bürokratischen Strukturen aufgeht. Die Organisation gilt hier weiterhin »als prototypische Einheit einer wohlgeordneten Sozialität, in die sich das Individuum einfügt« (ebd., 138). Allerdings tritt auch in dieserart wohlgeordneten Unternehmen, so die Diagnose, ein Wandel hin zu »postbürokratischen Arbeitsformen« ein. Vorgeschichten dazu liefern Mitte des 20. Jahrhunderts die Diskussion und Behandlung des – bereits auch als ästhetisches Problem aufgefassten – Motivationsproblems der Bediensteten und ein verstärkt wahrgenommener, noch technologisch getriebener Innovationsdruck (*Innovation). Zweifelsohne hat dieser Wandel zu einem Aufstieg von netzwerkförmigen und projektorientierten Arbeitsformen geführt, die den arbeitenden Menschen nunmehr als (zumindest der Organisationszwecke förderliches) kreatives Subjekt modellieren und bis hin zum paradoxen Bild des ›Binnenunternehmers‹ oder Intrapreneurs als schöpferischen Zerstörer im Rahmen der wohlgeordneten Sozialität der Organisation führen (vgl. ebd., 139). Die so genannten räumlichen und ästhetischen Wenden in der konventionellen Organisationsforschung unterstreichen diese These, indem unter Ausklammerung von Fragen kommunikativer Rationalität und formalisierten Entscheidungsprozessen die räumlich-ästhetische und affektive Verfasstheit von Organisationen in den Mittelpunkt des Interesses rückt (vgl. Beyes 2016; *Atmosphäre). Ob mit dieser Ästhetisierung des Organisationsalltags tatsächlich die »bürokratische Wiederholungsstruktur« erodiert (Reckwitz 2012, 143), scheint allerdings fraglich. Es handelt sich um einen Befund, der vielleicht etwas zu sehr dem empirischen Material der Diskursanalyse geschuldet ist, die sich auf Managementtheorie und -literatur be-

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zieht, deren normativer Fokus auf ›Entscheidungsträger/-innen‹ sich oftmals kaum um empirische Organisationszusammenhänge schert. So hat der Anthropologe David Graeber unlängst auf »das eiserne Gesetz des Liberalismus« hingewiesen, demzufolge vermeintliche Deregulierungs- und Enthierarchisierungsbemühungen verlässlich mehr Bürokratie in Form von Regeln und Kontrolle, Prozeduren und Formularen produzierten (Graeber 2015). Nicht zuletzt an Universitäten lässt sich davon ein Lied singen. Aus organisationsforscherischer Sicht wäre daher im Kontext etablierter Organisationen differenzierter zu untersuchen, ob und wie sich bürokratische Prozesse und Strukturen in einer zusehends ästhetisierten, dem Kreativitätsimperativ verschriebenen Arbeitswelt einrichten. Zum zweiten führt Reckwitz die britische Arts-and-Crafts-Bewegung und den Unternehmerdiskurs des frühen 20. Jahrhunderts zum genealogischen Strang der »bürgerlichen Gegenbewegungen« zusammen, deren Bejahung von dezidiert ästhetischer Arbeit auf der einen und permanenter Innovation auf der anderen Seite Frühformen des ästhetischen Kapitalismus der Gegenwart darstellten (Reckwitz 2012, 144). Beiden Formen ist gemein, dass sie Organisationsverständnisse erfordern, die sich radikal von der Orthodoxie formaler Organisationen und ihren Mitgliedschafts- und Entscheidungsverhältnissen unterscheiden. Der größtenteils industriefeindlichen und kapitalismuskritischen Arts-and-Crafts-Bewegung wäre eher mit einer Art Affekt- und Materialitätenlehre des Organisierens beizukommen als mit den Weber’schen Prämissen von Zweckrationalität und Entästhetisierung. Und wenn hier, wie Reckwitz vermutet, ein einflussreicher Experimental- und Vorstellungsraum für das Entstehen des ästhetischen Kapitalismus vorliegt, dann müsste das die Suche nach unorthodoxen Prämissen der Organisationsforschung provozieren. Ähnliches gilt für das alternative, weil nicht-künstlerische Geniesubjekt des spätbürgerlichen Unternehmers als schöpferischen Zerstörer. Dieser »Exklusivfigur von höchster affektiver Intensität« (ebd., 153) und ihren Folgen ist aus organisationstheoretischer Sicht eher mit einem prozessualen Verständnis von organization-creation beizukommen, die das immer auch affektiv aufgeladene ›Organisieren-von-Etwas‹ in den Mittelpunkt stellt, anstatt von kodierten und routinisierten Mitglieds- und Entscheidungsverhältnissen auszugehen (vgl. Hjorth 2013). Zum dritten, und organisationstheoretisch gewissermaßen zwischen formaler, zweckorientierter Organisation und sinnlich- bzw. symbolorientierten Prozessen des Organisierens gelagert, ist die Vorgeschichte derjenigen Ökonomie zu nennen, die nicht primär Produkte, sondern Sinneswahrnehmungen und Symbole in den Mittelpunkt stellt: die creative industries bzw. die Kulturwirtschaft. Reckwitz identifiziert *Mode, Werbung und *Design als frühe, genuine Kreativbranchen und somit Wegbereiter des ästhetischen Kapitalismus. Fernab der vermeintlich überkommenen bürokratischen und entästhetisierten

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Wiederholungsstruktur sind die Organisationen dieser Branchen durch Orientierung an affektiver Intensität und ästhetischer Innovation nach innen und außen gekennzeichnet. In diesem Organisationsmilieu scheint am ehesten ausprobiert zu werden, was als Fluchtpunkt der ästhetischen Ökonomie gelten kann: eine »Strukturähnlichkeit von ökonomischen und künstlerischen Praktiken«, mit der »das vermeintliche kulturelle Andere der wirtschaftlichen Rationalität, das Ästhetische, die Ökonomie der affektiven Logik kreativer Produktion und ästhetischer Rezeption« [...] »unterwirft« (Reckwitz 2012, 145).

Kreativität als Organisationskomplex Die These der Unterwerfung ökonomischer Rationalität unter die selbstbezüglichen Prozesse von kreativer Gestaltung und sinnlicher Affizierung ist von einiger Sprengkraft. Sie muss sich in Organisationsprozessen widerspiegeln, die mit den Merkmalen der formalen Organisation, wie sie den organisierten Kapitalismus des 20. Jahrhundert geprägt hat, nur noch wenig zu tun hat. Zu fragen ist – bzw. empirisch zu untersuchen wäre – also, inwieweit, anhand welcher Mechanismen und in welchen Kontexten Kreativität zum organizing principle sozialer Organisation geworden ist (*Creative Cities, *Ko-Kreation, *Kreative Masse). Reckwitz belässt es in diesem Zusammenhang bei dem – durchweg in Anführungszeichen gesetzten – Verweis auf den »desorganisierten Kapitalismus« bzw. die disorganizations, wie sie der britische Soziologe Scott Lash (2002) recht markant als primär affektiv getriebenes und mobiles Kräftefeld des Organisierens beschrieben hat, das zusehends an die Stelle der – Lash zufolge – absterbenden sozialen Form der ›modernen‹ Organisation tritt. Nun ist ein Manko der Organisationsforschung, dass sie von Wesensannahmen ausgeht, mit denen Organisation – zumeist als formale Organisationen – immer schon bestimmt ist, um von da aus bestätigen zu können, was angenommen wurde, oder sich allenfalls in Maßen überraschen zu lassen (vgl. Luhmann 2000). Vielleicht führt jenseits der binären Unterscheidung von starr-formaler Organisation und frei flottierender Desorganisation und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ebenen der Organisation, die bereits in der Genealogie der ästhetischen Ökonomie angelegt sind, eine vorsichtigere, weniger der Rhetorik des Epochenbruchs verhaftete Herangehensweise weiter. Die Ästhetisierung des Ökonomischen subsumierend, verwendet Reckwitz etwas vorsichtiger den Begriff der »ästhetischen Apparate«, »das heißt institutionelle Komplexe der Produktion, Präsentation und Konsumtion, Mischformen aus ästhetischen und nichtästhetischen Praktiken, deren zentraler Zweck jedoch darin besteht, ästhetische Ereignisse hervorzubringen« (Reckwitz 2012, 192). Die Figuren des Apparates und des Komplexes erlauben ein vielschichtigeres Bild unterschiedlicher Organisationsprozesse und -formen, die eben nicht in dem Dualismus von konventioneller Zweckrationalität und

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desorganisierten Erregungsintensitäten als jeweils dominantes Organisationsprinzip aufgehen. Einer Denkfigur des Architektur- und Medientheoretikers Reinhold Martin zufolge ist bereits der US-amerikanische militärisch-industrielle Komplex Mitte des 20. Jahrhunderts als Organisationskomplex zu verstehen. Es sind Organisationsnetzwerke und Organisationsprozesse, die, so Martin, die ästhetischen und technologischen Erweiterungen und Konkretisierungen des militärisch-industriellen Komplexes bewerkstelligen (vgl. Martin 2003, 3 f.). In den Architekturen und Arbeitsräumen der Unternehmen und Großorganisationen der Nachkriegszeit sowie anhand kybernetischer Theorien und Technologien werden Organisationssubjekte geprägt, die – weit mehr als entfremdete Rädchen im System – sich als individualisierte und teils selbstorganisierte Akteure zu verstehen beginnen. Mehr als eine bloße »Struktur der Wiederholung und Reproduktion im Innern der Organisationen« (Reckwitz 2012, 137), die den »organisierten Kapitalismus« bis in die 1970er Jahre hinein vermeintlich prägt, entfaltet Martin das Bild einer ästhetisch und technologisch geprägten Organisationslandschaft, die bereits standardisierte Abläufe mit dezentralisierten Handlungsspielräumen und dem Postulat der Selbstregulierung verknüpft. Am Phänomen der Organisation scheinen hier ergänzende Spuren einer *Genealogie auf, die Die Erfindung der Kreativität mit Blick auf die Entstehung der »ästhetischen Ökonomie« verfolgt. Mit dem Bild des Organisationskomplexes finden sich nun Elemente ästhetischer Praktiken »im Innern der fordistischen, formal-rationalen Ökonomie selbst« (ebd., 144; Herv. i.O.) – und zwar in großen Korporationen, dem Inbegriff des organisierten Kapitalismus mit seinen routinisierten, standardisierten, vermeintlich entästhetisierten Organisationsbinnenverhältnissen. Wichtig daran scheint mir, dass sich mit Blick auf die Kybernetik ein Technologieverständnis des Organisierens etabliert, das das eindimensionale »Modell des Technologischen«, wie es der Theorie der bürokratischen Wirtschaftskultur und dem scientific management unterliegt (ebd., 137), bereits Mitte des 20. Jahrhunderts verabschiedet, um sich mit technologisch gestützten Feedbackschleifen und Selbststeuerungsformen zu beschäftigen, die der Reflexion und Gestaltung ihrer räumlichen und medialen Ästhetik bedürfen und sich durchaus auch auf die explizite Förderung kreativen Denkens und Handelns richten (vgl. z.B. Martin 2003, 127; *Kreativitätstechniken, *Computer). Zudem umgeht das Theorem des Organisationskomplexes die Verengung der Organisationsfrage auf ›die Wirtschaft‹. Wenn der Kreativitätskomplex zu organisieren ist, dann sind diesbezügliche Organisationsformen und -prozesse keineswegs bloß im ökonomischen Feld zu suchen. Selbst die großen öffentlichen Aktiengesellschaften der Nachkriegszeit, so legt Martins Studie nahe, sind als Knotenpunkte eines technologisch und ästhetisch geprägten Netzwerks zu verstehen, das staatliche Akteure ebenso umfasst wie Wissens- und Ge-

Organisation

staltungsformen aus dem akademischen und künstlerischen Feld. Damit ist die Aufgabe bezeichnet, die die Erfindung der Kreativität der Organisationsforschung auf den Weg gibt.

Literatur Beyes, Timon (2016): »Art, Aesthetics and Organization«, in: Barbara Czarniawska (Hg.), A Research Agenda for Management and Organization Studies, Cheltenham: Edward Elgar, S. 115-125. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. Graeber, David (2015): The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy, Brooklyn, NY: Melville House. Hjorth, Daniel (2013): »Public Entrepreneurship: Desiring Social Change, Creating Sociality«, in: Entrepreneurship & Regional Development 25(1-2), S. 34-51. Lash, Scott (2002): Critique of Information, London: Sage. Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Martin, Reinhold (2003): The Organizational Complex. Architecture, Media, and Corporate Space, Cambridge, MA: MIT Press. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

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Performativität Martina Leeker

Der Fall Namuth/Pollock Performance und Performativität kommen in Andreas Reckwitz’ Theorie vom Kreativitätsdispositiv als erschöpfendem, am Immer-Neuen sowie an SelbstPerformances orientierten Regime spätmoderner Gegenwartskultur ein zentraler Stellenwert zu (vgl. Reckwitz 2012; Reckwitz 2016). Dazu ist eine doppelte Strukturierung von Performativität ausschlaggebend, die Reckwitz exemplarisch am »Fall Namuth/Pollock« entfaltet. In dessen Zentrum steht der Film »Jackson Pollock 51« (1951) von Hans Namuth, der die Arbeit des Künstlers mit »Tropfmalerei« (drip painting) dokumentiert. Auf der einen Seite wird im Film, so Reckwitz’ Deutung, ein entfesselter Performativitätsbegriff entwickelt. Dieser soll die Herstellung eines Kunstwerkes durch Zufall sowie durch die Eigenmächtigkeit des Ausführens von Handlungen theoretisch fassen. Diese ereignen sich in Pollocks Arbeitsweisen des Tropfens, Träufelns oder Spritzens von Farbe auf die am Boden liegende Leinwand und unterlaufen damit gründlich Modelle eines modernen, d.h. autonomen und intentionalen Subjektes. Zugleich aber wird der *Künstler Jackson Pollock u.a. durch den Film zu einem »Kunststar« (Reckwitz 2012, 94; Reckwitz 2016, 212), der sich im Aufführen des Action Painting gekonnt und kontrolliert als »kreatives Subjekt« (Reckwitz 2012, 239) erzeugt. Für Reckwitz ist es diese, auf den ersten Blick paradoxe Dopplung, die die Bedeutung von Performance und Performativität für das Kreativitätsdispositiv ausmacht. Denn mit der Entfesselung der Performativität im Action Painting wird Kunst normalisiert und damit für jeden machbar (*Entkunstung, *Naturalisierung). Diese Normalisierung ist mithin erstens Bedingung der Möglichkeit, dass aus Kunst ein Zwang zur Kreativität werden kann. Dazu gehört zweitens das Künstler-Subjekt als angemessenes SubjektModell für das Regime der Kreativität. Denn das »performing self« (Reckwitz 2012, 247), das sich ständig kreativ neu erfindet, steht nun innerhalb eines Starsystems mit verschiedenen, imitierbaren Typen der Selbsterschaffung jedem zur Verfügung (vgl. Reckwitz 2012, 247-268).

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Diese doppelte Figur des Performativen spielt auch jenseits des Kreativitätsdiskurses eine zentrale Rolle, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Performativität in digitalen Kulturen (vgl. Leeker/Schipper/Beyes 2017). Paradigmatisch ist diese Figur etwa in der künstlerischen Auseinandersetzung mit der ›Digitalisierung‹ seit den 1960er Jahren (vgl. Leeker 2016). In Performances und Installationen wird seither immer wieder die Eigentätigkeit technischer Dinge als Performance entfesselt und zugleich der Künstler als ihr Ermöglicher und Kontrolleur erzeugt. Dieser Umstand wird hier zum Anlass genommen, zum einen das Reckwitz’sche Modell des Performativen als einen wichtigen Bestandteil der Vorgeschichte digitaler Kulturen zu rekonstruieren. Zum anderen soll Reckwitz’ doppelte Gliederung des Performativen abschließend als subversives Moment von Performativität in digitalen Kulturen freigelegt werden.

Pollock zwischen Bilderzeugungs- und Selbst-Performance, re-visited Ins Zentrum rücken dabei zunächst die Aspekte des Performativen im Fall Namuth/Pollock, die Reckwitz weniger stark macht. Werden sie herausgearbeitet, wird nämlich deutlich, dass und wie sein Modell des Performativen im Kreativitätsdispositiv an der Erzeugung einer posthumanen, mehr-als-menschlichen Performativität digitaler Kulturen partizipiert. Für Reckwitz steht in Namuths Film über Pollocks Malen als Performance (Action Painting) im Vordergrund, dass der Künstler gleichsam automatisch, unbewusst und somit ohne Kontrolle über sein Tun handelt. Es sind die Eigendynamik der Materialien sowie die Art der Performance, nicht zuletzt die Macht der Schwerkraft, mit der die Farben auf die am Boden liegende Leinwand kommen, die das Werk sowie künstlerisches Schaffen bestimmen. Im Prozess des Entstehens sowie durch die Aktivierung der Rezipierenden, die das Werk im Akt des Schauens erst hervorbringen (vgl. Reckwitz 2012, 107), wird der Künstler zum »Arrangeur« (ebd., 115; Reckwitz 2016, 200), der Materialien aussucht, kombiniert und neu ordnet, sowie zum »Atmosphärenproduzent« (Reckwitz 2012, 123; *Atmosphäre). Pollocks Performances haben allerdings noch andere Facetten, die in diesem Performativitätsverständnis nicht in vergleichbarer Weise sichtbar werden. Pollock unternahm nämlich gezielt Interventionen in die Performances des Schaffensprozesses seiner Werke (vgl. Klammer/Neuner 2016). So hing er z.B. die entstehenden Bilder an der Wand auf, um aus einem vertikalen, gleichsam menschengerechten Abstand das Bild zu erfassen und die weitere Entwicklung planend und kontrolliert in die Hand zu nehmen. Zudem übermalte er Bildteile, die ihm nicht angemessen erschienen. Das heißt, in Pollocks Performances geht es um eine Vermittlung von Positionen im Bild, die sich im

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Ausführen des Action Painting einstellen, sowie vor dem Bild – und damit um die Ermöglichung einer Reflexion von Performativität. Es ist mithin auffällig, dass Reckwitz seinen Performativitätsbegriff unter Auslassung der Interventionen Pollocks entwickelt. Damit wird im Hinblick auf eine Vorgeschichte der Performativität digitaler Kulturen erst eine gleichsam posthumane Performativität der Dinge, des Handelns sowie der Physikalität erzeugt, in der menschliche Agierende zu deren Handlangern gemacht werden. Der zweite Aspekt, der in Reckwitz’ Modell des Performativen auffällig ist, bezieht sich auf den Subjektbegriff des Kreativitätsregimes. Pollock wird demnach im Film von Hans Namuth trotz der Entmythologisierung des vom 18. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert gültigen Modells vom modernen, genialischen Künstler dennoch als ein »kreatives Subjekt« (Reckwitz 2012, 239) entworfen. Als solches wird Pollock nicht nur als außergewöhnliche und nicht generalisierbare Künstlerpersönlichkeit des »lonely man« (Reckwitz 2016, 198) inszeniert. Er wird vielmehr zudem mit schweren und farbübersäten Arbeitsschuhen bekleidet und von den tänzerischen Bewegungen des »Drippens« hinweggerissen bei der Arbeit und damit bei einem wenig heroischen, alltäglichen Vorgang gezeigt. Diese Normalisierung tut allerdings seinem Subjektstatus keinen Abbruch! Pollock steht vielmehr paradigmatisch für den Übergang zu einem neuen, postmodernen Künstlersubjekt. Reckwitz’ Vorstellungen von einem eigentätigen kreativen Subjekt sind nun im Hinblick auf ihre Funktionen für die Ermöglichung von Subjektivierung in entfesselter wie in digitaler Performativität bemerkenswert. Dabei ist die auffällige Entkopplung des kreativen Subjektes von der entfesselten Performativität der Dinge ausschlagend. Denn indem eine entfesselte Performativität der Dinge, in deren Kontext das Subjekt nur deren willfähriger ›Arrangeur‹ ist, und die Selbst-Performances eines unabhängigen Subjektes getrennt werden, kann sich letzteres erst bilden. Vor diesem Hintergrund nutzt das Reckwitz’sche Subjekt seine Handlungsfähigkeit nicht für ein Zähmen der Dinge, weil es sich auf diese Weise der posthumanen Performativität unterwerfen würde. Es überlässt die Performances der Dinge vielmehr bereitwillig ihrem Lauf und setzt seine Handlungsfähigkeit für die Herstellung eines unabhängigen performing self ein. Die Erfindung dieses Selbst könnte, so die These, den technologischen Bedingungen digitaler Kulturen zuarbeiten, indem sie sich ihnen mit der Illusion eines handlungsfähigen und kontrollierenden Subjekts entgegenstemmt (*Selbstgenerierung). Wird nämlich die statistisch-algorithmische Subjektivität in sozialen Netzwerken oder präemptiven Kaufempfehlungen in aktuellen digitalen Kulturen herangezogen, zeigt sich, dass sich das Subjekt in eine Verwobenheit mit technischen Umwelten auflöst und damit auch die Kontrolle über seine Handlungen hinfällig wird. Menschliche Agie-

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rende sind jetzt nicht mehr als Subjekte von Interesse, sondern als Zielobjekte für Datenerhebungen. Die Engführung des Performativitätsbegriffes sowie die Behauptung eines handlungsfähigen Subjektes, die Reckwitz vornimmt, sind mithin nicht nur passgenau für die Argumentationslogik des Diskurses vom Kreativitätsregime. Sie sind möglicherweise zudem als Vorgeschichte sowie diskursive Praxis im Kontext der technosozialen Bedingungen digitaler Kulturen zu lesen.

Im Anschluss an Namuth/Pollock. Deep Dreaming in Daten-Performances In Fortsetzung des Falles Namuth/Pollock zeigen sich posthumane Performativität sowie digitale Kreativität exemplarisch in Daten-Performances der Software »DeepDream« (2015), die der Google-Mitarbeiter Alexander Mordvintsev u.a. zur Mustererkennung in Bildern entwickelte. Was nach Reckwitz bei Pollock die Materialien und der Akt des Schaffens taten, nämlich ein Werk erzeugen, wird in digitalen kreativen Prozessen von Datenverarbeitung und Algorithmen übernommen. Das neuronale Netzwerk DeepDream lernt nämlich nicht nur Bilder zu erkennen und zu klassifizieren, so dass es nach entsprechendem Training z.B. Katzen oder Hunde in einem Bild identifizieren kann. Die Software wird zudem vermeintlich kreativ. Werden dem trainierten Netzwerk z.B. katzen- und hundelose Bilder vorgelegt, durchsucht es sie in mehreren Phasen (Iterationen) mit seinen Datensätzen und erzeugt in der Umkehrung des Erkennungsprozesses mit seinem ›Wissen‹ eigene Bilder, fügt also Bildern etwa Hunde oder Katzen hinzu. Nachdem der Quellcode der Software 2015 offengelegt worden war, entstanden in einer vermeintlichen Kooperation zwischen menschlichen Agierenden, die die Iterationen anstoßen, und der Software, die sie durchführt, Unmengen von befremdlichen Bildern. In diesen tummeln sich etwa auf Gemälden von Vincent van Gogh oder Porträts von Nietzsche und Karl Marx realistische bzw. stark verfremdete Augen, Tiere oder Gebäude. Sie erscheinen als daten-performative Fortführung des Remix, den Reckwitz als Kern postmoderner Kreativität nach Pollock einführt, in der die Variation an die Stelle von Neuschöpfung tritt (vgl. Reckwitz 2012, 125). Remix erlaubt für Reckwitz Kreativität für alle sowie, so wäre am Beispiel von DeepDream hinzuzufügen, für Automatismen. Diese Bilder werden im diskursiven Raunen um DeepDream als Ausdruck des Träumens der Datenoperationen bezeichnet bzw. mit der Bildlichkeit verglichen, die bei einem LSD-Rausch entstehen soll. In den posthumanen, algorithmischen Performances kommt es also nicht nur zu einer technischen Automatisierung der von Reckwitz im Fall Namuth/ Pollock beschriebenen Performances von Dingen sowie des Zufalls. Es findet zudem eine interessante Umkehrung von Pollocks Produktionsprozess im

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Action Painting statt, der nachzugehen ist. Während Pollock sich nämlich vom figurativen Malen abwandte, identifiziert DeepDream phantastische Tiergestalten im abstrakten Bild und macht sie sichtbar, wie sich in der Version von DeepDream zu Pollocks erstem Bild mit Drip Painting »Number 5« (1948) zeigt.9 Diese Verkehrung der Performativitätsästhetik lässt sich entschlüsseln, wenn zugrunde gelegt wird, dass der figurativen maschinellen Mustererkennung jegliches semantisches Verständnis abgeht (vgl. Esposito 2017). Diese besondere Konstitution wird allerdings in der oben beschriebenen diskursiven Verzauberung der Bilder verborgen. Was als vermeintlich psychedelisches, paranoides und apophänisches ›Deep Dreaming‹ der Software gepriesen wird, nämlich in den Farben, Linien, Lichtreflexionen oder den Rhythmen der bildlichen Komposition Pollocks Muster oder gar Figuren zu erkennen, ist eine Tätigkeit der betrachtenden Menschen. Die Maschine operiert dagegen auf der Ebene von Korrelationen sowie selbstbezüglicher Einspeisungen und Verarbeitungen von Datensätzen. Erst in diesem ambivalenten Vorgang der maschinisch-menschlichen Bedeutungsgebung kommt die posthumane Performativität digitaler Kulturen zu sich selbst (*Computer). In ihrem Zentrum steht nämlich der Umstand, zum Zwecke einer technoanthropologischen Bindung zu verbergen, dass den menschlichen Agierenden in der vermeintlichen Kooperation im mehr-als-menschlichen Schaffensprozess wenig gleichberechtigte Funktionen zukommen. Wird nun die automatische Bildererkennung als Kreativität aufgewertet und deren Rezeption als Rauscherlebnis inszeniert, ist dies eine Weise, Menschen in die datentechnischen Operationen einzubinden und sie damit an diese zu binden. Dies wird nötig, da menschliche Agierende in digitalen Kulturen nicht mehr als Subjekte von Interesse, aber als Datengeber zur Aufrechterhaltung der smarten technischen Umwelten unerlässlich sind. Das heißt, automatische und psychedelische Kreativität dient als Köder für menschliche Beifügungen, indem Erkennungs- und Interpretationsangebote geschaffen sowie Lustgefühle vermittelt werden. Da Konnektivität und Kooperativität im paranoiden apophänischen Deuten, mithin in der Beifügung von Figürlichem im Abstrakten, wirksamer erzeugt und aufrechterhalten werden dürften, tritt, so die These, in der posthumanen Performativität nach Pollock dieses an die Stelle der Abstraktion. Werden nun die Überlegungen von Andreas Reckwitz zur entfesselten Performativität als Beitrag zur Vorgeschichte dieser posthumanen Performativität weitergedacht, dann wird deutlich, dass erstere es erst ermöglichen, auch Datenoperationen wie die von DeepDream als sinnhafte Performances anzu9 | Siehe zum Beispiel Jackson Pollock’s No. 5, 1948, #inceptionism, #deepdream, by @brdskggs (Brad Skaggs), 19:02, 3 July 2015: https://twitter.com/brdskggs/sta​t​ us/617151522321862656.

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sehen und sich mit ihnen einzulassen. Das heißt, der von Reckwitz genutzte Performativitätsbegriff ist ein maschinenkompatibler. Dass er aus dem Action Painting stammt und mit dem Glauben an ein selbstbestimmtes performing self verbandelt ist, dürfte es für menschliche Agierende in aktuellen digitalen Kulturen leichter machen, sich mit der Herabstufung des Menschlichen sowie mit ihrer neuen Aufgabe als Interpretierende von Daten anzufreunden. Dabei dürften die aufrechterhaltene Illusion eines handlungsfähigen Subjektes und damit von Kontrolle über die anthropotechnische Performativität eine große Hilfe sein. An die Stelle eines Regimes der Kreativität als ubiquitärem Lifestyle tritt nun aus dieser Perspektive digitaler Performativität das Regime einer ubiquitären posthumanen Kooperativität und Konnektivität. Reckwitz’ Performativitätsbegriff wäre dann weniger als Beschreibung einer postmodernen Gesellschaft, als vielmehr als Beitrag zu einer diskursiven Erzeugung posthumaner, technoanthropologischer Konnektivität zu sehen.

Anti-Performance und Anti-Subjekte für digital detox Es lassen sich nun allerdings aus dem Fall Namuth/Pollock und von Reckwitz’ daraus entwickeltem Modell einer doppelter Performativität auch subversive Strategien zum Umgang mit posthumaner Performativität ableiten. Dazu ist abschließend die Geschichte des Falles als Anti-Performance stark zu machen. Der Legende nach wandte sich Pollock nach dem Film wieder dem Figürlichen und damit der Kontrolle über das Malen zu, um seine Entindividualisierung und Enthumanisierung abzuwenden. Angeblich ist er nach dem Film aber nach zweijähriger Abstinenz wieder seiner Alkoholsucht verfallen und soll nicht mehr in der Lage gewesen sein, künstlerisch zu arbeiten. Schließlich endeten die entfesselte Performativität und der Fall Namuth/Pollock für letzteren am 11. August 1956 auf Long Island mit einem wegen Trunkenheit am Steuer von ihm verursachten tödlichen Autounfall. Werden nun aus der dramatischen Anti-Performance Pollocks und der mit ihr entstehenden Anti-Subjektivität subversive Strategien zum Umgang mit Big-Data-Maschinen und Algorithmen entwickelt, geht es nicht darum, sich digitalen Kulturen durch Tod oder Trunksucht zu entziehen. Ins Zentrum einer Widerständigkeit rückt vielmehr, Daten nicht mehr auf menschliche Agierende zu beziehen, womit, wie an DeepDream exemplarisch ausgeführt, der Kern digitalen Konnektionismus’ gekappt würde. Pollocks Kampf mit den Performances des Action Painting ist dafür eine Sinnfigur. Denn er stellte sich der posthumanen Performativität entgegen und bezog sich z.B. mit der Vertikalisierung seiner Bilder auf anthropologisches Vermögen zurück. Schließlich ist das Hochhalten eines Subjektes in Reckwitz’ performing self von Interesse. Denn dieses ist mehr als eine Anpassung an digitale Kulturen, indem die Illusion erzeugt wird, menschliche Agierende seien wichtig und verfügten

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über Handlungsfähigkeit. Wird diese Figur an die entfesselte Performance der Dinge zurückgebunden und in Bezug zu Pollocks Rückgriff auf anthropologisches Vermögen gesetzt, entsteht ein widerständig-zauderndes performing self. Dieses steht im Ringen mit Selbstbehauptung und performativem Verschlungen-Werden als Lücke (*Queer), um das Wechselspiel von Autonomie und technoanthropologischer Vereinnahmung zu erfassen, zu reflektieren und immer wieder neu zu justieren.

Literatur Esposito, Elena (2017): »Artificial Communication? The Production of Contingency by Algorithms«, in: Zeitschrift für Soziologie 46(4), S. 249-265. Klammer, Markus/Neuner, Stefan (2016): »Bildfeld und Blickfeld. Figurationen der Abstraktion bei Jackson Pollock«, in: Josef Helfenstein/Nina Zimmer (Hg.), Der figurative Pollock. München, London, New York: Prestel, S. 39-63. Leeker, Martina (2016): »Theatre and Engineering: Kontrolle und Macht in medialen Umwelten in den 1960er Jahren, und heute?«, in: Friedrich Balke/ Maria Muhle (Hg.), Räume und Medien des Regierens, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, S. 198-217. Leeker, Martina/Schipper, Imanuel/Beyes, Timon (2017): Performing the Digital. Performativity and Performance Studies in Digital Cultures, Bielefeld: transcript Verlag. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2016): Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozialund Gesellschaftstheorie, Bielefeld: transcript Verlag.

Plastizität Emmanuel Alloa

Jeder kreative Akt ist auf ein Material angewiesen, das in diesem Akt gestaltet wird. Das gilt auch für einen erweiterten Kreativitätsbegriff, wie ihn etwa Joseph Beuys in den 1970er Jahren propagierte. Anstatt Kunst von bestimmten Eigenschaften (etwa: Schönheit) oder Autorschaften (etwa: dem Künstler) abhängig machen zu wollen, soll fortan jeder kreative Akt, der zu einer Änderung der menschlichen Verhältnisse führt, als künstlerisch gelten. Ganz unabhängig davon, ob die Tätigkeit demnach von einem *Künstler vollzogen wird oder nicht, ganz gleich, ob die Tätigkeit einen bestimmten stofflichen Gegenstand (ein Werk) hervorbringt oder materiell ungreif bar bleibt – künftig heißt der Leitsatz: Kreativität. Doch auch erweiterte Kreativität bleibt nach wie vor auf ein Material angewiesen, an dem sie sich versuchen kann. Der Stoff, den Kreativität im Zeichen des erweiterten Kunstbegriffs bearbeitet, hat bei Beuys einen Namen: »soziale Plastik«. Beuys’ Wortschöpfung ist deshalb aufschlussreich, weil sie Kreativität unentwirrbar mit Sozialität verschränkt. Kreativität soll sich vom einsamen Genie emanzipieren, doch damit nicht genug: Kreativität ist nicht nur ein sozial geteilter Akt, sondern arbeitet sich darüber hinaus an der Sozialität selbst ab, die fortan Akteur und Material in einem darstellen soll. »Subjektkulturen« (Reckwitz) sind nicht vorstellbar ohne entsprechende Subjektskulpturen. Hier kommt die Doppelbedeutung von Plastizität zum Tragen: als plastisch (von griechisch plassein/plattein) lassen sich sowohl Tätigkeiten als auch Stoffe bezeichnen, plastisch ist dann einerseits der Akt der Formgebung, die Bildung, und andererseits die Eigenschaft zur Formannahme, die Bildbarkeit. Beuys’ Konzept der Plastik muss in dieser Doppelbedeutung gedacht werden, und weniger im herkömmlichen Verständnis der Plastik als Gattungsbezeichnung. Nicht um Objekteigenschaften wie Dreidimensionalität oder Skulpturalität geht es, sondern um die zwei Aspekte der kreativen Tätigkeit und ihres elastischen Mediums. Sozial ist diese Plastik dann insofern, als die Gesellschaft in diesem Schaffensprozess zugleich den bildenden Agenten und den bildbaren Stoff abgibt. In dem Maße, wie sich künstlerische Arbeit fortan an ihrer Fähig-

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keit messen muss, gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen, dient die Hervorkehrung kreativer Potenziale aller Menschen sowohl als Mittel als auch als Ziel (*Entkunstung). Jenseits von Beuys’ sozialer Plastik und dem damit verbundenen künstlerischen Agitprop lässt sich die Doppelbedeutung von Plastizität in den unterschiedlichsten Bereichen finden. Im Bereich der Kunst stehen die ›plastischen Künste‹ immer schon für mehr als nur für Bildhauerei, sondern gelten geradezu als Synonym für ›bildende Künste‹ allgemein. Betont wird hierbei der aktive Aspekt, für die Formgebung oder Modellierung. Plastizität steht allerdings nicht nur für eine bestimmte gestaltende Tätigkeit, sondern auch für die Eigenschaft, die ein bestimmtes Material aufweisen muss, um gestaltet werden zu können. Neben der Formgebung bezeichnet Plastizität ferner auch die Fähigkeit, gestaltet werden zu können, kurzum: eine bestimmte Modellierbarkeit. Als plastisch in diesem zweiten, passiven Sinne können die unterschiedlichsten Materialien gelten: Naturstoffe (Wachs oder Ton) ebenso wie synthetische Stoffe (Gelatine, Silikon und allgemein das, was man landläufig schlicht als ›Plastik‹ bezeichnet). Mit diesen plastischen Stoffen hat die künstlerische Moderne immer wieder experimentiert, sowohl für archaische Rückbezüge (Wachs bei Degas, Gips bei Duchamp), erstaunliche Neuerfindungen (Beuys hat bekanntlich der Reihe plastischer Stoffe noch das Fett hinzugefügt), oder auch Umwidmungen (Alain Resnais’ poetisch-filmische Hymne an industrielle Synthetikstoffe in Le chant du styrène von 1958). Dem industriell hergestellten Plastik attestierte Roland Barthes einmal, das modernste, weil wandlungsfähigste Material überhaupt zu sein, eine materia prima, die »weniger eine Substanz als die Idee ihrer endlosen Umwandlung« verkörpert (Barthes 1964, 79; *Farbe). Als Wandelbarkeit, Geschmeidigkeit und Transformationsfähigkeit beschreibt die Eigenschaft der Plastizität nicht nur bestimmte mechanisch bearbeitbare Stoffe, sondern ist bereits seit langem auch auf neuronale Prozesse übertragen worden. Dass heute in der Hirnforschung von einer Plastizität des zentralen Nervensystems die Rede ist, von plastischen Synapsen oder allgemein von neuronaler Plastizität beweist lediglich, dass auch hier wieder beide Aspekte – der aktive wie der passive – wirksam werden. An die Stelle eines vollständigen Neurodeterminismus tritt die Idee einer prinzipiellen dynamischen Ordnung des Gehirns. Betont werden soll eine Anpassungsfähigkeit des Gehirns an bestimmte, funktionale Gegebenheiten, die wiederum an die Gehirnstruktur selbst rückgekoppelt sind, etwa wenn nach bestimmten Läsionen auf der Ebene des Kortex ganze Areale funktional neu belegt werden. Kognitive Prozesse prägen die synaptischen Verbindungen, welche wiederum die kognitiven Prozesse strukturieren usw.: Kognition formt das Gehirn, das wiederum Kognition formt. Die synaptische Plastizität ist erfahrungsabhängig, strukturiert jedoch zugleich auch Erfahrungsmöglichkeiten. Was die heutigen Neurowissenschaften für das Hirn reklamieren, hat wiederum Vor-

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läufer in Psychologie und Lebenswissenschaften, wenn es um die regenerative Strukturen von Organismen geht, oder um die sogenannte ›Resilienz‹ nach psychischen Traumata. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Plastizität folglich zugleich als Strukturmoment und als Wandlungsprinzip fungiert, und einen sowohl aktiven als auch passiven Part enthält. Wo etwas plastisch ist, steht die Möglichkeit offen, dass etwas anderes entsteht, doch diese Veränderung ist selbst nicht ungebunden, dass die Veränderung immer schon auf ein bestimmtes vorstrukturiertes Medium trifft. In diesem Sinne distanzieren sich Konzept von Plastizität sowohl von einer Idee bedingungsloser Kreativität als auch von einer Idee eines materialistischen Determinismus; als Drittes steht es für eine Dynamik, bei der solches, was geformt wird, den Formgebungsprozess – und sei es nur aufgrund seiner Textur und inneren Verfasstheit – immer schon ein stückweit mitbestimmt. Plastizität wäre damit eine Art kreative Reaktivität. Greift man noch einmal Joseph Beuys’ »soziale Plastik« auf, so liegt darin nicht nur eine bestimmte Auffassung von Kreativität, sondern auch davon, worin soziale Existenz und Subjektivität im weiteren Sinne besteht. Wenn eine menschliche Fähigkeit beschwört wird, dem eigenen und dem gesellschaftlichen Leben mittels Phantasie neue Gestalt verleihen zu können, dann spiegelt dies ältere Ansichten wider, die genealogisch zu rekonstruieren wären. Der Mensch als plastisches Wesen – diese Auffassung hat eine lange Vorgeschichte. In der antiken Medizin, etwa bei Galen in De facultatis naturalibus, ist von einer dynamis diaplastikè die Rede. Diese ›bildende Kraft‹, lateinisch virtus formatrix, geistert durch die vormoderne Gedankenwelt, von Lukrez über Cusanus und Paracelsus bis Kepler. Zumeist handelt es sich hier um ein allgemeines kosmisches Prinzip der Lebendigkeit, die von Galen auch als »künstlerisch« (technikè) definiert wird, insofern es dabei um lebenserhaltende Funktion von Organismen geht. Im 17. Jahrhundert bringt etwa Ralph Cudworth die Metapher eines plastischen Lebens der Natur (Plastick Life of Nature) ins Spiel. Schon in Antike und Mittelalter wird jene Verbindung zwischen der biologischen Plastizität und der künstlerischen Tätigkeit in bestimmten Konzepten des Menschen hervorgehoben. So etwa geradezu paradigmatisch bei Plotin, der in seinen Enneaden das Ideal einer ethischen ›Arbeit an sich selbst‹ mit der des Bildhauers vergleicht: »Führe dich auf dich selbst zurück und sieh hin; und wenn das, was du erblickst – du selbst –, noch nicht schön ist, dann verhalte dich wie ein Bildhauer, der von einer Statue, die schön werden soll, immer wieder etwas wegnimmt und abschabt, der hier etwas glättet und da etwas reinigt, bis er an seiner Statue ein schönes Gesicht dargestellt hat. Mach du es genauso und nimm alles weg, was zuviel ist, mach alles gerade, was krumm ist, und was dunkel ist, das reinige und bearbeite es, bis es hell ist. Höre nicht auf, an deiner eigenen Statue zu wirken, bis vor dir das gottgleiche Strahlen

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der Tugend aufleuchtet und bist du Selbstbeherrschung, stehend auf ihrem heiligen Sockel, erblickst.« (Enneade I 6, 9, 7-24; Tornau 2001, 59) Die Idee des Menschen als knetbarer, gestaltbarer Masse erlebt, wiewohl von einigen spätantiken Autoren wie Plotin vorweggenommen, in der Renaissance seine Blüte, allen voran bei Pico della Mirandola, in der der Gedanke der plastischen Selbstumformung aus christlicher Perspektive bedrohlich nah an die häretische Vorstellung einer Selbsthervorbringung herangeführt wird (*Selbstgenerierung). Wenn der Mensch tatsächlich nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, so Pico in seinem De hominis dignitate von 1486, warum sollte er dann nicht auch dessen schöpferische Eigenschaften geerbt haben? Das betrifft in erster Linie die Fähigkeit, aus sich selbst etwas zu machen. Das Potenzial schlägt Picos artifex sui allerdings nicht so aus sich heraus wie der Bildhauer die Form aus dem Marmor holt; vielmehr wird er proteusförmig. Die Humanplastik fußt in einer vorgängig notwendigen Plastizität. »Wer sollte dies unser Chamäleon nicht bewundern?«, fragt Pico della Mirandola (1990, 7) rhetorisch. Zwischen der für die christliche Lehre skandalösen Vorstellung einer Autogenese und dem akzeptableren Axiom der Perfektibilität beruht das Renaissance-Ideal der Selbstbildung auf einem bestimmten Menschenbild, nämlich dem Bild des Menschen als noch unvollständigem Wesen. Selbstvollendung und Selbstvervollständigung – diese Modelle, die etwa die Schriften von Montaigne oder Juan Luis Vives bereithalten, werfen bereits ihren Schatten auf moderne Konzeptionen der philosophischen Anthropologie und eines Menschen, der mit unvollständiger Ausstattung in die Existenz tritt. Was Friedrich Nietzsche mit seiner berühmten Formel des Menschen als »nicht festgestelltem Tier« charakterisiert, lässt offen, inwieweit das »Sich-Selbst-Feststellen des Menschen« (Popitz) individuell oder sozial geschieht. In der Frühromantik, dann aber auch im Deutschen Idealismus, wird dem Konzept der ›Bildsamkeit‹ ein zentraler Stellenwert in der individuellen Subjektwerdung zugeschrieben. Novalis hat das freie Spiel der Einbildungskraft gefeiert, wo das Subjekt zu sich selbst kommt, weil es selbsttätig gestaltet. Für diesen Gestaltungsprozess wählt Novalis den Ausdruck des »Plastisierens«. In allen Wissenschaften, so Novalis, »soll selbstthätig plastisiert werden« (Novalis 1929, 123). J.G. Fichte entfaltet analoge Denkbewegungen, wenn er die »Bildbarkeit« des Subjekts hervorkehrt. Plastizität bleibt nicht nur dem Rahmen transzendentalphilosophischer Erwägungen vorbehalten: Johann Friedrich Herbart zeichnet im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass das Konzept in die Grundbegriffe der modernen Pädagogik einging. In seiner Allgemeinen Pädagogik (1806) argumentiert Herbart für den Gedanken einer unendlichen Lernfähigkeit (in neuerer Literatur wird diese Fähigkeit – dem allgemeinen Trend entsprechend – als Lernkompetenz neu rubriziert). In der ersten Schubphase des modernen Bildungswachstums sollen Methoden entwickelt werden,

Plastizität

die Bürger an ein neues Selbstverständnis heranzuführen. Der Erziehungsbegriff braucht dabei einen neuen, flexibleren Identitätsbegriff. Anstelle einer bloß äußerlichen Prägung durch Züchtigung und Aufpfropfung geht es immer stärker um ein Gleichgewicht zwischen Fremd- und Selbstbestimmung: Ein Bildungsprozess, der vom Subjekt nicht mitgetragen wird, kann nicht emanzipatorisch sein, so Pestalozzi, und geht an der jeweiligen individuellen Veranlagung vorbei. Der Mensch ist daher Schöpfer und Geschöpf in einem, und muss gleichsam lernen, solches zu formen, wodurch es geformt wird. Dadurch verwirklicht der Mensch nicht nur seine eigene authentische Natur, sondern versinnbildlicht das plastische Wesen der Natur allgemein, wie etwa Alfred North Whitehead diese anthropologische Sonderstellung rechtfertigt: »Die Menschheit ist derjenige Faktor innerhalb der Natur, der ihre Plastizität in intensivster Form erkennen lässt« (Whitehead 2000, 190, Herv. i.O.). In diesem Zusammenhang muss ein Aspekt besonders hervorgehoben werden, nämlich derjenige der Lust an der plastischen Selbstdefinition. Auf die Lust an der (Selbst-)prägung haben nicht nur die klassische Pädagogik eines Pestalozzi gesetzt, sondern auch bestimmte Zweige der Wirtschaftstheorie. So betont etwa Joseph Schumpeter 1911 in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung die Rolle der »Freude am Gestalten«, die seinem Ansatz zufolge eine mindestens ebenso wichtige Triebfeder für Marktinnovation darstellt wie der ökonomische Eigennutz. Schumpeters Ideen, die vor 100 Jahren noch Aufsehen erregten, sind im Zeitalter der Kreativarbeiter selbstverständlich geworden. Die Märkte werden zu Raffinerien von Humanressourcen, und Marktteilnehmer dazu angehalten, das ungenutzte Brachland der eigenen Fähigkeiten umzupflügen und zu modellieren. Lebendiges Wissen wird zur Hauptquelle von Wert und Profit – der Sozialarbeiter benennt nicht länger ein bestimmtes Berufsbild, sondern charakterisiert die Gesamtheit aller Werktätigen. Nischen werden nach und nach geschlossen, bzw. normalisiert und therapeutisch verschrieben (*Coaching). Geheime Zeitreserven, die sich die Industriearbeiter früher mühsam herausschinden mussten, werden von den Kreativunternehmen sogar ausdrücklich gefördert, etwa wenn die Silicon-Valley-Giganten ihre Mitarbeiter zu bis zu einem Viertel ihrer Arbeitszeit freistellen, um eigene Projekte zu entwickeln. Vor allem aber ist maximale Flexibilität zur Vorschrift geworden. Im spätmodernen Sozialisationsprozess lernt das Subjekt, wie die generische Formbarkeit angeeignet, personalisiert und vor allem produktiv gemacht werden kann, wie es also lernt, zu wollen, was es soll. Ist Flexibilität lediglich ein anderer Name für Plastizität? Einer solchen Auffassung – das sei abschließend noch erwähnt – hat Catherine Malabou vehement widersprochen. Bereits in früheren Büchern hatte die französische Philosophin entschieden dazu beigetragen, dem Begriff kritische Konturen zu verleihen, und ihn sozialontologisch, aber auch lebensphilosophisch in

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Emmanuel Alloa

Stellung zu bringen. In Was tun mit unserem Gehirn? hat Malabou (2006) argumentiert, das Problem des Kapitalismus läge darin, dass er Plastizität mit Flexibilität verwechsle. Während Flexibilität die unendliche Anpassungsfähigkeit benennt, müsse anerkannt werden, dass jede Transformation Spuren hinterlässt. Plastische Substanzen sind gerade deshalb fähig, bestimmte Formen anzunehmen, weil sie selbst bereits eine bestimmte minimale Eigenstruktur aufweisen, die im Prozess der Formgebung gelegentlich nicht nur überformt, sondern hervorgestrichen wird. In diesem Sinne steht dann Plastizität nicht nur für unbegrenzte Elastizität, sondern auch für Widerständigkeit. Wenn Plastizität tatsächlich mehr sein soll als allenfalls die passive Bereitstellung eines bearbeitbaren Rohstoffs, dann gilt es, jenseits der Vorspiegelung freigestellter Autonomie, aber auch jenseits fremdbestimmter Sozialdeterminismen, die Spielräume einer Mitgestaltung dessen zu denken, was Subjekte äußerlich formt (*Queer). Für Malabou geht es im Kern um die Wiedergewinnung bestimmter Handlungsoptionen sowie der Redefinition unter wandelbaren Umweltbedingungen, die nicht der Illusion anheimfällt, Veränderungen könnten schmerz- und spurenlos vorgenommen werden. Malabou erinnert daran, dass sich plastische Stoffe besonders gut als Sprengstoffe einsetzen lassen (auf Französisch steht plastiquage für ein Attentat mit einer Plastikbombe). Dadurch soll daran erinnert werden, dass die dynamische Instabilität nicht nur kreative, sondern auch destruktive Seiten haben kann. Es geht, verknappt gesagt, um ein gewaltsames Moment in der Plastizität – eine Idee, der Joseph Beuys vermutlich nicht widersprochen hätte. Für das Kreativitätsdispositiv lassen sich hieraus verschiedene Rückschlüsse ziehen. Zum einen, dass die *Genealogie des Kreativsubjekts um einiges weiter zurückreicht als das romantische Zeitalter, und die Idee der plastischen Bildbarkeit einer humanistischen Tradition zuzuordnen ist, die noch nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Zum anderen, dass Plastizität im 20. Jahrhundert nicht mehr nur das einzelne Subjekt und dessen Modellierbarkeit betrifft, sondern immer schon eine soziale Dimension umfasst. Schließlich, inwiefern das Versprechen der unendlichen Strapazierfähigkeit des plastischen Stoffes durchaus auch an seine Grenzen stößt, und Rückschläge auslöst. Kurzum: Das Kreativitätsdispositiv ist von pluralen, gegenstrebigen Kräften durchsetzt.

Literatur Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Malabou, Catherine (2006): Was tun mit unserem Gehirn?, übers. v. Ronald Vouillé, Berlin/Zürich: diaphanes. Novalis (1929): Schriften, Bd. 3, hg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Leipzig: Bibliographisches Institut.

Plastizität

Pico della Mirandola, Giovanni (1990): De dignitate hominis [1486]. Über die Würde des Menschen, übers. v. Norbert Baumgarten, hg. v. August Buck, Hamburg: Meiner. Tornau, Christian (2001) (Hg.): Plotin. Ausgewählte Schriften, Stuttgart: Reclam. Whitehead, Alfred North (2000): Abenteuer der Ideen [1933], übers. v. Eberhard Bubser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Popmusikkulturforschung als inter- und idealerweise transdisziplinäres Projekt profitiert von Überlegungen der Erforschung von Kreativität – und umgekehrt. An Fragen etwa nach Kreativität im Musizieren (inklusive DJ-en und Remixen), der Musikproduktion, dem Schreiben über Pop oder der aktiven Fan-Rezeptionen bis zu Diskussionen um kreative Klassen (*Kreative Masse), Städte (*Creative Cities) und Industrien lässt sich ablesen: Die Entwicklungen der gesellschaftlichen *Ästhetisierung unter besonderer Berücksichtigung von Kreativitätswünschen und -imperativen sind keineswegs an Pop vorbei erfolgt, ebenso wenig wie Pop diesen Wandel nicht beeinflusst hat. Im Gegenteil: Populäre Kulturen im weiten Sinn (s.u.) mit dem systematischen sowie historischen Nukleus Musik können überaus erkenntnisreich mit dem Dispositiv der Kreativität im Sinne von Andreas Reckwitz (2012) gelesen werden. Sie erscheinen sogar geradezu prototypisch für einen gesellschaftlichen Bereich, der zentral für die Steuerbarkeitsversuche und gleichzeitigen Unsteuerbarkeiten von Kreativität ist und der vor allem gemeinsam mit den Bereichen *Mode, *Design, Kunst, Literatur, Journalismus, PR, Werbung, Games, IT (*Computer) und Sport als interagierendes Machtgefüge beobachtet werden kann. Innerhalb populärer Musikkulturen sind diese Wechselspiele zwischen Konstruktion und Dekonstruktion und damit auch zwischen *Innovation und Tradition, zwischen Progression und Regression sowie – ganz erheblich – zwischen Inklusion und Exklusion und allem ›Dazwischen‹ charakteristisch. Die von Reckwitz (2012; 2017) analysierten Entwicklungen kreativer Industrien und industrieller Kreativitäten werden auch im deutschsprachigen Diskursraum im Zusammenhang mit den genannten gesellschaftlichen Bereichen im Allgemeinen und mit Fokus auf populäre (Musik-)Kulturen im Besonderen beobachtet. Begriffe wie Ästhetisierungsgesellschaft, die massenmediale Konstruktion expressiver Individualität im Rahmen der Genese von Starsystemen (vgl. Reckwitz 2012) bzw. Kulturökonomisierung, Superstarökonomie und Kreativ-Stars (vgl. Reckwitz 2017) schaffen nicht nur Anschlüsse für Analy-

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sen von Pop, sondern sie können als Beobachtungsraster mit der Schnittstelle populärer Figuren in Form von Prominenz und Stars eingeordnet werden.

Pop 10 Popmusik und die sie rahmende Popkultur – hier entgegen anderer Konzepte synonym mit Pop, populärer Kultur, Populärkultur verstanden – werden hier eingeordnet als kommerzialisierter gesellschaftlicher Bereich, der Themen industriell produziert und medial vermittelt, die dann von breiten Bevölkerungsgruppen mit Vergnügen genutzt und zu neuen Angeboten weiterverarbeitet werden. Analytisch strukturiert und für Studien systematisiert werden kann der popmusikalische Kommunikationsprozess in die Handlungsbereiche der Produktion, Distribution, Rezeption/Nutzung und Weiterverarbeitung, die je eigene, sich gleichwohl teilweise überlagernde Handlungsrollen ausgebildet haben. Erst in diesem kommunikativen Prozess auf Grundlage unterschiedlicher Kulturen und der jeweils aktuellen konkreten Verhältnisse zueinander entsteht Popmusik. Zudem lassen sich innerhalb medialisierter Popmusikkulturen, so der umfassende Begriff, zu den einzelnen Strömungen oder Genres jeweils eigene Subkulturen beobachten, die Genregrenzen erweitern oder innerhalb der Grenzen progressiv (oder auch regressiv) verändern wollen und sich dementsprechend an den jeweiligen Mainstreams, Hauptkulturen oder dominierenden Kulturen abarbeiten. Dieses zunächst meist in Kinderund Jugendjahren im Bereich Freizeit und Hobby entstandene vergnügliche *Spiel zur Identitätskonstruktion und -festigung innerhalb ganz bestimmter Regeln bedeutet oftmals Unterhaltung im Sinne von Kommunikation und vor allem Vergnügen und wurde insbesondere wegen seiner Wirksamkeit, Ästhetisierung und Emotionalisierung frühzeitig kommerzialisiert. Mit den zunehmend in Pop sozialisierten Generationen erfolgt eine abgeschwächte Erweiterung dieses Spiels auf die gesamte Lebenszeit hin. Die diesen Zusammenhang mit konstituierenden Verwertungsketten der Musik- und Medienindustrien sowie der sie beobachtenden Medien unterschiedlicher Ausprägung, also vor allem journalistisch, werbend, öffentlichkeitsarbeitend oder künstlerisch, haben längst auch auf den künstlerischen Bereich selbst zurückgewirkt. Im Popmusik-Künstlerischen sowie Popmusik-Wirtschaftlichen als zentralem Raum transglobaler Kulturökonomien lassen sich besonders früh und genau Dynamiken in kulturellen Verhältnissen und vor allem Hybridisierungen diverser vormals getrennter intra- und interkultureller Bereiche selbst ablesen, wie aktuell etwa im Rahmen der Synchronisationen von Musikrechten mit anderen

10 | Dieser Abschnitt ist eine leicht überarbeitete Version eines Kapitels aus Jacke 2017.

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Zweigen der Unterhaltungsindustrien wie Film, Fernsehen, Werbung und Games. Die für Pop so typische Dialektik nach innen (Pop, Anti-Pop und Anti-PopPop) und auch immer noch nach außen (Pop, Nicht-Pop und Gesellschaft) hat durch ihre Aufmerksamkeitserregung und gleichzeitige Massenwirksamkeit mittlerweile nicht nur eine industrielle Bedeutung (Märkte), sondern auch eine mediale Sichtbarkeit (Publizität) und gesellschaftliche Tragweite (Relevanz) erreicht, die sie offenbar auch institutionell erinnerungs- und erhaltenswert macht (popmusikkulturelles Erbe). Pop ist Motor für kulturelle Entdifferenzierung ebenso wie Ausdifferenzierung, konstituiert soziale Gruppen, die durch eigene Praktiken von Inklusion ebenso wie Exklusion wiederum vergesellschaften oder auch gerade nicht. Immer wieder lässt sich hieraus der für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen seismographische Charakter von vergnüglichen teil-kulturellen Konflikten und Vermengungen in Popmusikkulturen beobachten, sorgen diese Bewegungen für dissidente Unruhe. Diese Fähigkeit zur Beunruhigung generiert sich in populären Musikkulturen oftmals ganz besonders über deren prinzipielle Zugänglichkeit und Anschlussfähigkeit – und zwar in großen sowie kleinen Gruppen gleichermaßen: Mitmachen, Teilhabe, Partizipation sind entscheidende Faktoren des hier beschriebenen Populären. Sie tragen damit einerseits bei zu einer latenten, gewissermaßen homöopathischen Kritik und Irritation, andererseits zu einem gesellschaftlichen Zusammenhalt, im Gegensatz zu neuerdings häufiger zu beobachtenden, sich beinahe paranoid sorgenden Gesellschaften, die sich wiederum qua populärer Kulturen auch in Form von Populismen jeglicher Art artikulieren. Populäre Musikkulturen sind daher nicht mehr ein (vermeintliches) Gegenüber oder Außerhalb von Gesellschaft, sondern längst Bestandteil, es ließe sich sogar diskutieren, ob sie nicht für die in entscheidungstragende Positionen nachwachsenden Generationen die prägende Form von Medienkultur, deren Ästhetisierung und Ökonomisierung (vgl. Reckwitz 2012; 2017) bedeuten und damit im Grunde die gesamte Kategorie Popkultur/Popmusik in den etablierten, gesellschaftlichen Kanon aufgenommen worden ist, nicht zuletzt aufgrund von einer erweiterten und ausdifferenzierten Kanon-Kultur.

Kreativität – Unkreativität im Pop »Es handelt sich also bei Kreativität ganz allgemein um eine Form von Morphogenese respektive order from noise, um einen Effekt von Grenzen oder Diskontinuitäten, mithin um flüchtige, zeitgebundene Phänomene. Diese Fähigkeit wird in hochkomplexen und nicht mehr zentral steuerbaren Systemen wie Gehirnen und Gesellschaften immer wichtiger: Wir kommen offenbar ohne Kreativität nicht aus, sie wird zu einem kognitiven, kulturellen und ökonomischen Kapital sowie zu einem Problemlösungs-Device ersten Ranges.« (Schmidt 2017, 127; Herv. i.O.)

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Auch auf allen Handlungsebenen von Pop ist dieses Kapital offenbar unersetzlich geworden, wird ständig Ordnung aus Krach gemacht, aber eben gleichzeitig auch Krach aus Ordnung (schöpferische Zerstörung etc.), werden Grenzen ausgetestet, verschoben, eingerissen, manchmal sogar aufgelöst. Wandel durch Innovation scheint in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften mit Schmidt kein Modephänomen, sondern ein strukturelles Erfordernis zu sein. Obwohl Pop selbst von Differenzen und Abständen (vgl. Jullien 2017, 35-43) lebt, werden diese dort spielerisch oftmals frühzeitig zumindest diskutiert, konstruiert und vor allem dekonstruiert, etwa im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht (*Queer). Mit der Zeit verschieben sich die Inhalte, das Prinzip scheint zu bleiben, weswegen es seit einiger Zeit durchaus angesagt ist, unkreativ zu sein: »Wenn es einen Wunsch gibt, der innerhalb der Gegenwartskultur die Grenzen des Verstehbaren sprengt, dann wäre es der, nicht kreativ sein zu wollen.« (Reckwitz 2012, 9) Genau dieser Wunsch etwa in Form von mal spielerischem, mal ernsthaftem, meist kombiniertem Vergnügen an Ruhe, Müßiggang, Naturliebe, Landleben, Flucht aus der Stadt, Tagträumen (*Ästhetisierung) oder schlichtweg Schlafen, wie er in den letzten Jahren in Phänomenen nicht nur in Pop selbst, sondern etwa auch in der Arbeitswelten (Work-Life-Balance etc.; *Arbeit) zu beobachten ist, scheint wiederum eine ReAktion auf den Kreativitätsimperativ und vor allem dessen negative Seiten wie Angst, Sorge, Erschöpfung, Depression und Krankheit zu sein (*Coaching). Im Grunde wird hier mit Schmidt gleichwohl wiederum kreativ agiert und umgestaltet – order from noise: »Paradoxalität muss nicht nur ›in Schach gehalten‹, sondern auf der Grundlage von bewussten Ambiguitätstoleranzen produktiv gemacht werden können, um bereits verfügbare Beobachterperspektiven umzuperspektivieren, neue Differenzen zu erfinden bzw. verfügbare aufzulösen, Zufälle für Ordnungsbildungen auszunützen, Erwartbarkeiten zu dekonstruieren, Unsicherheiten tolerabel zu machen usw.« (Schmidt 2017, 129) Reck klagt darüber hinaus eine gewisse Sensibilität für präkommunikative Unerklärbarkeiten von Kreativität ein, wie sie sich seines Erachtens in einem ästhetischen Erleben zeigen – bekanntermaßen im Zuge von Erlebnisgesellschaft und eben gesellschaftlicher Ästhetisierung auch schon wieder normativ geladen oder sogar belastet, »[...] um kontrafaktische (also gegen Evidenz und Tatsachen gerichtete) Vergegenwärtigungen zu ermöglichen.« (Reck 2018, 146) Im Bereich populärer Musikkulturen lassen sich die von Reckwitz (2017, 218-223) für die Arbeitskultur des 21. Jahrhunderts beschriebenen Spannungen, Widersprüche und Paradoxien frühzeitig erkennen, historisch könnte sogar zumindest diskutiert werden, ob dieser gesellschaftliche Teilbereich sich nicht überhaupt erst zwischen Künstlerdilemma und Superstarökonomie, zwischen Kulturalisierung und Vermarktlichung entwickeln konnte und auch anderen, noch größeren Arbeitsbereichen wie etwa den Kreativindustrien und

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darüber hinaus immer wieder als Blaupause in Sachen »Eigenblutdoping« (Diedrich Diederichsen) gedient hat.

Stars – Anti-Stars – Anti-Star-Stars Im Bereich der populären Kulturen werden kreative Subjekte (vgl. Reckwitz 2012, 239-268) einerseits geradezu immer wieder neu erwartet, andererseits auch formatiert bzw. industrialisiert und somit als Norm (voraus)gesetzt (*Naturalisierung). Diese Strukturen lassen sich auf allen Ebenen des Kommunikationsprozesses erkennen: Von der Produktion und Distribution über die Rezeption/Nutzung bis hin zur Weiterverarbeitung sind kreativ(e) Handelnde grundlegend für die gleichzeitige Stabilisierung und Veränderung von Kulturen notwendig, ebenso wie sie kultürlich zunächst einmal im wahrsten Sinn des Wortes einen Grund benötigen, von dem sie sich abheben können: »›Starfähig‹ sind [...] kaum Personen, die lediglich herausgehobene berufliche Positionen innehaben, sondern vor allem jene, die sich durch einen ausgeprägten ›expressiven Individualismus‹ auszeichnen: Es handelt sich um Individuen, deren vermeintliche Einzigartigkeit und kulturelle Produktivität sich in ihren Werken und in ihrer öffentlich dargestellten Subjektivität selbst ausdrückt und verwirklicht.« (Reckwitz 2012, 239) Insbesondere im Pop ist das Werk die gesamte Figur, sowohl systematisch mit allen ihren Rollen, Texten, Paratexten (Peri- und Epitexte, vgl. Genette 2001), Hypertexten und Kontexten, als auch historisch, also kontinuierlich. Eine Sängerin wird erleb- und lesbar in ihrer Star-Figur, ihren Songs, deren Klängen und Lyrics, ihren Musikclips, ihren Plattformen im Internet, ihren Pressekonferenzen, ihren Bildern (Fotos etc.), ihren Auftritten und Performances und den mal mehr, mal weniger professionalisierten Berichterstattungen über sie von Musikjournalismen über PR bis zu Amateur- und Fan-Blogs (wobei hier für Pop-Analysen Soziologien der Sinne im Anschluss an Walter Benjamin, Jochen Bonz, Andreas Reckwitz und Michel Serres ausdrücklich berücksichtigt werden sollten). In Zeiten des auch von Aufmerksamkeitsökonomien geprägten Kreativitätsdispositivs, in denen Begriffe wie Leuchtturmprojekt, Alleinstellungsmerkmal oder Exzellenzcluster den Geniekult durch die popularisierte Hintertür wieder in den Diskurs holen, werden dann wiederum sogar Stargenese und Differenzmanagement etwa von Popmusik-Stars und deren Singularitäten selbst wieder medialisiert und ökonomisiert, etwa in Casting-Formaten oder Celebreality. Auf allen Ebenen von Pop lassen sich jeweilige Stars, Anti-Stars, Anti-Star-Stars und zunehmend auch Meta-Stars, also besonders ausgeprägt reflexive Stars, beobachten, die sich über die Kategorien ökonomischer Erfolg, große Publika, mediale Publizität, Wertverstöße/ Verweigerung, systembezogene Leistungen und Beliebtheit messen lassen (müssen). Vor allem in medialen Thematisierungen von Popmusikkulturen

Pop

und ihren Figuren ist die Superstarökonomie etwa an Bezeichnungen wie eben Top-, Super-, Mega- oder Hyper-Star und somit auch auf eine gewisse Art des zwanglosen Zwangs zu Kreativität und Steigerung erkennbar.

Fazit Drei Dinge zeigen die kurzen vorliegenden Bezüge der Reckwitz’schen Konzepte von Kreativitätsdispositiv und Singularitätengesellschaft auf so etwas wie populäre Medien- und Musikkulturen ganz deutlich: 1. Die umfassende Anschlussfähigkeit von Pop: Alle anderen, hier aufgeführten Lemmata könnten nunmehr vernetzt und mit Präfix oder Suffix Pop versehen werden. Nicht alles ist Pop, aber alles kann zu Pop werden – ob das moralisch und ästhetisch gefällt, ist eine andere Diskussion, die selbst wiederum zu Pop gehören kann. Diese Kompetenzen von Pop – und somit immer der in Pop Agierenden, Re-Agierenden und Inter-Agierenden – erklären auch dessen und deren Kompatibilität und Attraktivität für den *ästhetischen Kapitalismus. 2. Pop ist in unseren Gesellschaften angekommen, ist weder per se dagegen (Pop als knallende Subversion) noch per se dafür (Pop als massenwirksame Gewöhnlichkeit), Knall kann bekanntlich auch als schlecht und Gewöhnlichkeit als gut beobachtet werden. Pop ist gleichzeitig ausdifferenziert und allgegenwärtig und somit nicht mehr explizit singulär geworden (vgl. Reckwitz 2017). Pop ist in seinem Imperativ der ständigen, homöopathischen Abweichung in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen zur Norm geworden, deswegen aber weder obsolet noch wirkungslos, weder komplett im Kreativitätsdispositiv (und somit unkreativ sensu Reck), noch im latenten Fluchtversuch (und somit kreativ sensu Reck) zu verorten. 3. In Pop selbst lassen sich umfassend Effekte von Kreativitätsdispositiv und Singularitätengesellschaft finden, die schlichtweg wirken und von Handelnden (bewusst oder unbewusst) zwischen Künstlerischem, Medien und Markt zugelassen oder auch konterkariert werden, hier entstehen Stabilität und Wandel gleichermaßen. Eben so wenig, wie sich Kreativität nun komplett planen, steuern oder sogar negieren lässt, erscheint kommerzieller sowie künstlerischer Erfolg und somit auch Startum in Pop voraussagbar. Ein zu Ende interpretierbarer Popmusiksong oder -star wäre strenggenommen kein Popmusiksong oder -star mehr. Und Kreativität bedeutet hier, Deutungsleerstellen offenzuhalten. Diese auf allen Ebenen und aus allen Perspektiven im netzwerkartigen Kreativitätsdispositiv schwer- oder sogar unkalkulierbare Leerstelle kann als das eigentlich Kreative bezeichnet werden. Gibt es ein Jenseits des Kreativitätsdispositivs im

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Pop? Ist dieses Jenseits eventuell ganz diesseitig diese Leerstelle inmitten des Pop?

Literatur Genette, Gérard (2001): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jacke, Christoph (2017): »Popmusikkulturen: Entwicklung und Verständnis«, in: Claus Leggewie/Erik Meyer (Hg.), Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Stuttgart: J.B. Metzler, S. 67-75. Jullien, François (2017): Es gibt keine kulturelle Identität, Berlin: Edition Suhrkamp. Reck, Hans Ulrich (2018): »›Die Verpflichtung der Kunst auf das Schöne ist Selbstbetrug.‹ Sechs Fragen und Antworten zu Sinn und Bedeutung von Kunst«, in: Kunstforum International 253 (April-Mai 2018), S. 143-147. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp. Schmidt, Siegfried J. (2017): »Kreativität produziert Kreativität«, in: Kunstforum International 250 (Oktober-November 2017), S. 126-133.

Produkt Dirk Hohnsträter

Die *Ästhetisierung der modernen Gesellschaft generell und die Etablierung des Kreativen als kulturellen Kern der späten Moderne im Besonderen findet nicht zuletzt auf dem Gebiet der Wirtschaft statt. Zwischen 1920 und 2000, diagnostiziert Andreas Reckwitz, entwickeln sich Mode, Werbung und Design »zu kulturellen Leitformaten der Ökonomie« (Reckwitz 2012, 165; *Design, *Mode). Diese Transformation nimmt ihren Weg über die Gegenkulturen der 1960er Jahre, deren stilistische Impulse sich seit den 1970er Jahren generalisieren. In den 1980er Jahren enthält dann das Design »den Status einer Generaldisziplin der Kreativökonomie« und der ästhetische Wert von Waren avanciert »für eine immer größere Zahl von Produkten von einem Zusatzwert zu einer primären Eigenschaft« (ebd., 180). Diese Verschiebung von funktionalen Aspekten zu semiotischen und eventistischen, vom Gebrauchs- zum Zeichenund Erlebniswert der Konsumobjekte geht – so die These dieses Eintrags – mit einer semantischen Aufwertung und Neuaufladung des Wortes ›Produkt‹ einher (*Valorisierung). Einen ersten Anhaltspunkt dafür geben Boltanski und Chiapello, die 1999 die Beobachtung mitteilen, »dass sich der gemeinsprachliche Gebrauch des Begriffs ›Produkt‹ in den letzten Jahren stark ausgedehnt hat« (Boltanski/Chiapello 2003, 688). Was könnte hinter dieser auffälligen Attraktivität des Produktbegriffs für den ökonomischen Diskurs der Gegenwart stecken? Warum wird er dem älteren der ›Ware‹ vorgezogen? Boltanski und Chiapello verweisen darauf, dass der Produktbegriff nicht nur materielle Güter, sondern auch Dienstleistungen oder sogar wissenschaftliche Paradigmen umfassen kann. Diese Erklärung bleibt jedoch an der Oberfläche, da sie eher den breiten Erfolg betont, als Gründe für ebendiesen Erfolg angibt. Weiter führt eine Spur, die Reckwitz’ These von der Transformation der modernen Ökonomie unter dem Eindruck gegenkultureller Impulse nachgeht. Ein besonders aufschlussreiches Dokument dieses Prozesses ist das sogenannte »Lost Interview«, das der Journalist Robert X. Cringely 1995 mit Steve Jobs geführt und 2012 wieder aus dem Archiv hervorgeholt hat. Jobs musste das von ihm gegründete Unterneh-

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men 1985 nach internen Machtkämpfen verlassen und kehrte erst zehn Jahre später dorthin zurück, um aus der kurz vor dem Bankrott stehenden Firma den heute bekannten, ganze Märkte verändernden Weltkonzern zu machen. Das 70 Minuten lange Gespräch fand zwei Jahre vor Jobs’ Rückkehr zu Apple statt. Es ist eine außergewöhnlich luzide Selbstbeschreibung der ästhetischen Ökonomie und lohnt daher einen genaueren Blick. Jobs zeigt sich zunächst beeindruckt vom geschäftlichen Erfolg seines Konkurrenten Microsoft, um sodann folgendermaßen fortzufahren: »The only problem with Microsoft is they just have no taste. They have abolutely no taste. [...] In the sense that they don’t think of original ideas and they don’t bring much culture into their product« (Steve Jobs: The Lost Interview 2012). Jobs’ Aussage vereint sämtliche Kernaspekte der Kreativwirtschaft in einem einzigen Satz: die Verquickung des Ökonomischen mit der ästhetischen Kategorie des Geschmacks (»taste«), die Präzisierung dieses Gedankens mit dem Hinweis auf die Hervorbringung des Neuen (»original ideas«) und die Kulturalisierung der Ware (»culture into … product«) *Ästhetischer Kapitalismus). Jobs erläutert diese Ansicht zunächst am Beispiel der Typografie und betont die geschmackserzieherische Verantwortung von Unternehmen, um seinem Gedanken im weiteren Verlauf des Gesprächs einen gegenkulturell inspirierten Dreh zu geben. Er hebt hervor, dass viele Mitglieder des ursprünglichen Macintosh-Teams Musiker, Dichter, Künstler und Geisteswissenschaftler waren, »who also happened to be the best computer scientists in the world« (ebd.). All diese Menschen hätten eine Hippie-Haltung in die Arbeit eingespeist, die das gewöhnliche Karrieredenken überschreite und kreativen Selbstausdruck suche: »It’s the same thing that causes people to wanna be poets instead of bankers [...] and I think that’s a wonderful thing. And I think that that same spirit can be put into products. And those products can be manufactured and given to people and they can sense that spirit.« (ebd.) Es fällt auf, dass Jobs im Fortgang seiner Ausführungen zunächst von »things« spricht, dann jedoch stockt, sich korrigiert, um schließlich »products« zu sagen. Will man die ästhetische Ökonomie verstehen, ist diese unscheinbare semantische Verschiebung entscheidend: Produkte sind weder nur Waren, also rein kommerzielle Objekte, wie sie aus dem Geist industrieller Produktion entstehen und leidlich Gebrauchswerte bedienen (in Jobs’ Beispiel die Bürosoftware von Microsoft), noch sind sie dem kommerziellen Kreislauf entzogene Dinge, wie sie sich beispielsweise als Kunstwerke in Museen finden (Jobs betont, dass seine Mitarbeiter sich zu anderen Zeiten vermutlich künstlerisch ausgedrückt hätten) (*Museum). Im Kontext der Kreativökonomie handelt es sich bei Produkten vielmehr um kulturell aufgeladene käufliche Dinge. Sie sind für die postindustrielle Wirtschaft das, was commodities für die industrielle darstellten. Da der Begriff der Ware nur den kommerziellen und funktionalen Aspekt abdeckt, verliert er an Bedeutung und wird zunehmend durch den des Produkts ersetzt.

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Jobs’ Selbstdarstellung indiziert diese Umakzentuierung, zeichnet sich aber auch durch Einseitigkeiten aus, die einem vollen Verständnis von Produkten als kulturell instruierten Waren entgegenstehen. Zunächst einmal fallen die Äußerungen des postindustriellen Unternehmers bemerkenswert paternalistisch aus. Im Verlauf des Interviews bezeichnet er den *Computer zwar als ein Werkzeug (»tool«) und Software als Instrument sozioökonomischer Ermöglichung (»enabler«), doch interessiert ihn vor allem die Entwicklungs- und Marketingseite: Die kulturell aufgeladene Ware »can be manufactured and given to people and they can sense that spirit« (ebd.). Konstruiert man den Produktbegriff so, kann bereits der bloße Kauf eines Gerätes als Teilhabe am kreativen Anderssein aufgefasst werden – ein Einwand, der den Kern von Evgeny Morozovs Kritik an Apples Variante der kalifornischen Ideologie ausmacht: »Apple’s most incredible trick [...] is to allow its customers to feel as if they are personally making history [...] No wonder that the counterculture fizzled in the early 1980s: everyone was promised they could change the world by buying a Macintosh.« (Morozov 2012) Die Designphilosophie von Apple basiere auf der elitären Annahme einer quasi-platonischen Einsicht in die Essenz künftiger Produkte, »and there is a way for the rest of us to participate in the truth upon which the design is based, and to rise to the human level of the designers themselves: it is to buy an iPhone or an iPod« (ebd.). Die magischen Geräte mit ihrer nahtlosen Form und ihrem puren Weiß werden mithin in einem klassisch marxistischen Sinn fetischisiert – ganz so, als unterscheide sie nichts von den Waren des Industriezeitalters. In einem solchen Verständnis bleibt das digitale Kreativwerkzeug weiterhin ›Konsumprodukt‹, ein Objekt passiver Entgegennahme. Wer es versteht und es sich leisten kann, hat Teil am Kreativitätsdispostiv. Wer nicht, zählt zu den bedauernswerten Kunden grauer Großkonzerne wie IBM und Microsoft. Morozov: »That Jobs could launch a campaign against capitalism by using capitalism’s favorite weapon – and get away with it! – was truly remarkable.« Ein emphatischer Produktbegriff kann jedoch nicht bei der Kreativität der Designer und der Implantation dieser Kreativität ins Produkt stehen bleiben. Er wird auch die Aneignung des Gekauften und dessen Anverwandlung durch die individuellen Nutzer einbeziehen (Morozov (2012) zieht an dieser Stelle eine interessante Parallele zur Agenda der architektonischen Hochmoderne, die ebenfalls pure Form auf Kosten der idiosynkratischen Bewohnerbedürfnisse durchsetzte). Michel de Certeau spricht in diesem Zusammenhang bereits 1980 von einer »Produktion von Konsumenten« (de Certeau 1988, 12). Darunter versteht er »eine andere Produktion, die als ›Konsum‹ bezeichnet wird [...] sie äußert sich nicht durch eigene Produkte, sondern in der Umgangsweise mit den Produkten« (ebd., 13; Herv. i.O.; (*Creative Cities). Zwar unterscheidet de Certeau die primäre von »der sekundären Produktion, die in den Anwendungen verborgen ist«, doch unterstreicht er zugleich, dass beide in ein und derselben

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Ordnung stattfinden. Kulturelle Differenz sei mithin gesellschaftsimmanent und nicht in einem oftmals privilegierten und folklorisierten, gegenkulturellen Außen zu finden. Insofern kann erwogen werden, in einen erweiterten Produktbegriff auch das einzubeziehen, was die Verbraucher mit den käuflichen Dingen machen. Analytisch wäre dann zu unterscheiden zwischen Waren (die sich durch Tausch- und Gebrauchswert definieren) und Produkten, die sämtliche Aspekte ihrer Kulturalisierung umfassen: ihren Zeichenwert, ihre Affordanzstruktur sowie jene Aktivitäten, die in einem Latour’schen Sinn nicht von den ›Objekten‹ getrennt werden können. De Certeau gibt seinen Überlegungen einen politisch-ethischen Dreh, wenn er die Praktiken der sekundären Produktion als Gegengewicht zu den Mechanismen technokratischer Disziplinierung auffasst. Indem Verbraucher in die Produkte »ihre Aktivität einschreiben« schaffen sie sich Spielräume, die quer zu Rationalisierungsimperativen liegen (ebd., 80). Damit ist ein zweiter Aspekt aufgerufen, der bei Jobs fehlt: die Moral der Produkte. Morozov nennt Jobs’ Haltung »decidedly pre-political« und konstatiert: »Jobs himself was never shy about the value that Apple products were to embody: it was liberation – from manual work, from being limited to just a few dozen songs on your music player, from being unable to browse the Internet on your phone.« Diese Werte ignorieren jedoch »civic externalities«, zu denen die Produktionsbedingungen der Gadgets ebenso zählen wie deren ökologische Auswirkungen (Morozov 2012). Ein Produktbegriff, der nicht bloß die *Ästhetisierung käuflicher Dinge umfasst, sondern die Kulturalisierung von Waren in einem umfassenderen Sinn beschreibt, kann den moralischen Aspekt nicht ausschließen. Dies umso mehr, als die sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose nicht nur die Durchsetzung eines Kreativitätsdispositivs rekonstruiert hat, sondern komplementär eine »Moralisierung der Märkte« beobachtet (Stehr 2007). In den Wohlstandsgesellschaften seit dem späten 20. Jahrhundert stiegen – so Nico Stehr – sowohl die Wahlmöglichkeiten zahlreicher Verbraucher als auch ihr durchschnittliches Bildungsniveau, wodurch sich die Handlungsfähigkeit (agency) der Konsumenten verbesserte und ein Trend zum Erwerb von Gütern mit moralischem Gehalt möglich wurde. Die Ausrichtung an normativ richtigem Handeln sei »nicht nur eine Sache der Unternehmensethik«, sondern betreffe alle Marktteilnehmer, mithin auch die Konsumenten: »in den Dienstleistungen und Waren [...] manifestieren sich gesellschaftliche Werte und Normen« (Stehr 2007, 10 und 12, Herv. i.O.; er setzt sich in seiner sozialtheoretisch ausgerichteten Studie kritisch mit »der kulturfreien Welt der neoklassischen Perspektive« auseinander, ebd., 100, Herv. i.O.). Stehrs Analyse streift – im Gegensatz zu Reckwitz’ Genealogie des Kreativitätsdispositivs – historische Vorläufer der von ihm analysierten Entwicklung nur beiläufig auf und vernachlässigt dadurch, dass bereits in den Qualitätsdebatten um 1900 die »Moralisierung der Dinge an ihnen selbst festgemacht [wurde]: im Verhandeln ihrer Gestalt,

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ihres Materials, ihrer Form« (König 2009, 48).11 Das ›Hineinverlegen‹ externer Voraussetzungen und Folgen in die Waren ist die eine Hälfte einer schon mit Beginn des modernen Konsums einsetzenden Kulturalisierungbewegung, deren andere in ihrer Ästhetisierung besteht (*Farbe). »Waren sind keine Waren«, schreibt Latour, und hat insofern Recht, als die Dinge des Konsums ›Produkte‹ sind, Ensembles von Kreuzungen, in die Materialien, Beschaffenheiten, Gebrauchsweisen, Bedeutungen, Werte, Ermöglichungen und Umformungen eingehen, nicht bloß Funktionen und Preise (Latour 2008, 183 f.). Im Kreativitätsdispositiv, genauer: im Kulturalisierungsdispositiv reüssiert der Ausdruck Produkt, weil er diejenigen Aspekte käuflicher Dinge einbeziehen kann, die dem vom Geist industrieller Rationalisierung getragenen Begriff der Ware entgehen: Ästhetik und Ethik.

Literatur Boltanski, Luc/Chiapello, Ève (2003): Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve Verlag. König, Gudrun (2009): Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag. Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Morozov, Evgeny (2012): »Form and Fortune«, in: The New Republic, 22.02.2012. Online verfügbar unter: https://newrepublic.com/article/100978/form-for​ tune-steve-jobs-philosopher (abgerufen am 21.02.17). Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Stehr, Nico (2007): Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Steve Jobs: The Lost Interview (2012) (USA, R: Paul Sen). Trailer online verfügbar unter: http://www.magpictures.com/stevejobsthelostinterview/ (abgerufen am 28.02.16).

11 | Vgl. auch: »Nicht die Moralisierung des Konsums ist überraschend, sondern ihre frühe Konjunktur und ihre Anpassungsfähigkeit.« (König 2009, 16)

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In der genealogischen Analyse des Kreativitätsimperativs bezieht Andreas Reckwitz das Kreativitätsdispositiv nicht auf die Positionen der LGBTQ-Gemeinschaft; auch bezieht er sich nicht auf queere Kritiken an der kreativen Stadt. Dies könnte aber eine wichtige Spur sein. Immerhin wird Richard Floridas’ The Rise of the Creative Class als programmatischer Text vorgestellt, der erläutert, wie sich der kreative Ethos durch das Auftreten einer neuen, schnell wachsenden und kulturell dominanten Gruppe, der sogenannten kreativen Klasse, verbreitet hat. Um diese These empirisch zu dokumentieren, hat Richard Florida auf berühmt-berüchtigte Weise Schwule und Lesben in sein 3-T Modell von Talenten, Technologie und Toleranz inkludiert; eine zwiespältige Zuschreibung, die sie mit Künstlerinnen, Bohemiens und Immigranten teilen. In diesem Lemma möchte ich gerne dieser Spur folgen, da, wie ich meine, durch eine Verschiebung des Verhältnisses von Kreativität und Stadtleben nicht nur eine andere *Kritik ermöglicht würde, sondern auch ein veränderter Blick auf urbane und queere Kreativität entstünde, mit dem Widerstände und Transgressionen des Kreativitätsimperativs besser in den Blick geraten. In Floridas Analyse sollen Städte kreative Zentren sein, die innovative Menschen anziehen – und dies eher im Hinblick auf ihre Lebensqualität als bloß darauf, Arbeitsplätze bereitzustellen (*Creative Cities). Um ökonomische Entwicklung durch *Innovationen und technologische Entwicklung sicherzustellen, müssen Städte junge, talentierte Menschen – etwa Computer- und IT-Spezialistinnen, Videospieldesigner, Architektinnen, Think-Tank-Forscher, Filmschaffende, Meinungsführerinnen und Unternehmer, allesamt Zugehörige des »super-kreativen Kerns« – anziehen, all jene also, die vermeintlich begierig sind, in diese Städte auf Grund ihrer toleranten, diversen und lebendigen *Atmosphären zu ziehen. Florida bewertet und korreliert kreative Städte anhand der Messung ihrer Offenheit und Toleranz auf Basis verschiedener Indikatoren, wie etwa Homosexuellen-, Bohemien-, Schmelztiegel- und Diversitätsindizes. Verschiedenen Minoritätengruppen wird dementsprechend eine zentrale Rolle für urbane Regenerierung zugesprochen, dies allerdings

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mit durchaus fragwürdigen Nebeneffekten. In Bezug auf Schwule und Lesben argumentiert Florida etwa: »to some extent, homosexuality represents the last frontier of diversity in our society, and thus a place that welcomes the gay community welcomes all kinds of people« (Florida 2002, 256). Seine Berechnungen zielen darauf ab, ein positives Verhältnis zwischen dem Homosexuellenindex und dem der kreativen Klasse zu bestätigen – dies unter anderem mit Bezug auf Regionen, in denen viele High-Tech-Unternehmen ansässig sind. Dieser Logik zufolge heißt es, dass »creative people are attracted to, and hightech industry takes root in, places that score high on our basic indicators of diversity – the Gay, Bohemian and other indexes [...]. Why would this be so? It is not because high-tech industries are populated by great numbers of bohemians and gay people. Rather, artists, musicians, gay people and the members of the Creative Class in general prefer places that are open and diverse« (Florida 2002, 250). Während die empirische Konstruktion von Floridas Studien über die Jahre oft kritisiert wurde, setzt die kritische Auseinandersetzung aus queerer Perspektive früh ein. So verweisen David Bell und Jon Binnie bereits 2004 darauf, dass Florida sich allein auf Volkszählungsdaten von Schwulen und Lesben in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bezieht, um daraus eine Beziehung zwischen der Anwesenheit von Homosexuellen und Kreativen zu konstruieren. Aus diesem Grund nennen sie den homosexuellen Index »an index of respectability, of nicely gentrified neighbourhoods« (Bell/Binnie 2004, 1817). Wer nicht in anerkannten Partnerschaften lebt, wird aus der statistischen Erhebung ausgeschlossen, und es wird somit impliziert, dass queere Diversität – Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender oder andere – in einem Modell stabiler, heterosexuell kodierter Beziehungen aufgeht und normalisiert wird. Damit finden sich Schwule und Lesben in einer hochgradig ambivalenten Position eingeschrieben. Auf der einen Seite wird ihnen eine prominente Rolle in der Neu- und Umgestaltung von Städten als attraktive Räume für Touristinnen, Konsumenten und die Elitegruppen der creative professionals zugeschrieben. Auf der anderen Seite werden viele Aspekte eines queeren Lebensstils – allzumal jene, die weniger wünschenswert erscheinen und sogar als pervers bezeichnet werden – in jener aufgeräumten, öffentlichen Version homosexueller Kulturen außen vorgelassen. Durch diese Eingliederung in den Mainstream wird die facettenreiche und antagonistische öffentliche Sphäre der LGBTQGemeinschaft zu einer konsumorientierten und kommodifizierbaren Kultur verengt (*Konsum, *Ästhetischer Kapitalismus). Diese ambivalente Position wird zudem sehr deutlich, wenn man sich der Stadtpolitik zuwendet, die sich auf problematische Weise mit queeren Politiken vermischt. Florida und viele weitere Mainstream-Berater urbaner Politik argumentieren, dass diejenigen Städte in der globalen Ökonomie erfolgreich sind, die als »homosexuellenfreundlich« gelten. Queere Menschen werden

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durch Reklameformulierungen ins Rampenlicht gerückt, zum Beispiel dadurch, dass Schwule und Lesben die »canaries of the creative economy« (zit.n. Peck 2005, 745) genannt werden, da ihre Präsenz eine vielfältige und progressive Umgebung signalisiere, die Kreativität und Innovationen und damit die notwendigen Voraussetzungen für den Erfolg der High-Tech-Industrie fördere. Die Einbindung queerer Menschen in die Anpreisung von Städten als homosexuellenfreundlich mag auf den ersten Blick als etwas erscheinen, dass die LGBTQ-Gemeinschaft begrüßt. Aber sie hat einen Preis: Diese Form städtischer Politik präferiert implizit eine enge und massenkompatible Form des schwul-lesbischen Lebens. Daher argumentieren Bell und Binnie, dass die Einbindung der ›sexuell Anderen‹ in die Strategien der Förderung kreativer und unternehmerischer Räume den gegenteiligen Effekt hat – sie führt zu einer verschärften Regulierung der Typen von sexualisierten Stadträumen. (vgl. Bell/Binnie 2004, 1818) Die Förderung kreativer Städte geht somit mit einer Restrukturierung öffentlicher Räume einher, die die Möglichkeiten reduzieren, das Stadtleben zu queeren. So sind Orte, die einst als Raum für Experimente mit alternativen sexuellen Lebensstilen genutzt wurden, verschwunden und von glamouröseren, gentrifizierten Appartementkomplexen verdrängt worden, die allein eine Untergruppe respektabler und erfolgreicher homosexueller Paare anzulocken suchen. Hinsichtlich dieses sexual restructuring von Städten sprechen Bell und Binnie von einer neuen Homonormativität, die Teil eines breiteren ideologischen Projektes »tied to the logic of assimilationist sexual citizenship« darstellt. (ebd.) Trotz einer solch frühen Kritik hat die Mobilisierung der LGBTQ-Gemeinschaft als Kernstück unternehmerischer Regierungspraxis erheblich zugenommen, allzumal durch eine zunehmende Kommodifizierung als ›besonderes‹ geltender urbaner Räume und Praktiken und die damit einhergehende Veränderung lokaler Nachbarschaften, des Freizeitlebens, touristischer Ziele sowie politischer Aktivitäten der LGBTQ-Gemeinschaft. Mehr und mehr Städte bedienen sich einer pinken Ökonomie und erklären sich selbst zu homosexuellenfreundlichen Reisezielen, egal ob es sich um Winter- oder Sommerreiseziele handelt, oder um die Mitbewerbung um die Ausrichtung solcher Events wie Gay Olympics, EuroPride oder Mr. Gay World. Sogar als typisch geltende queere Events – wie etwa Sydney jährliches Mardi Gras – werden von ähnlichen Kommodifizierungsprozessen bedroht. So wird darauf hingewiesen, dass Mardi Gras – ähnlich wie viele weitere Pride-Märsche und Sommerfestivals auf der Welt – sich vom radikalen Straßenprotest hin zu einem international beworbenen Event gewandelt hat, bei dem nicht die soziale oder politische Bedeutung, sondern eher der wirtschaftliche Wert betont wird. Fürwahr erscheinen viele solcher Spektakel heute eher auf Distanz zu den alltäglichen und politischen Problemen sexueller Minderheiten. Wozu eine weitere »Gay Olympics« in Amsterdam, wenn sie uns die alltäglichen und hinreichend dokumentierten

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verbalen und physischen Angriffe auf ihre LGBTQ-Gemeinschaft vergessen lässt? Und sogar noch bedenkenswerter ist, dass hierdurch die systematische Gewalt gegen – die Diskriminierung, Einsperrung und Tötung von – LGBTQMenschen, die alltäglich in weiten Teilen der Welt vor sich geht, als Teil einer queeren Politik zusehends marginalisiert wird. Es ist an dieser Stelle wichtig zu differenzieren und darauf zu beharren, dass die LGBTQ-Gemeinschaft eben nicht kulturell betäubt ist – als wäre sie nicht in der Lage, ihrer Einschreibung in den kulturellen Imperativ der kreativen Stadt Widerstand entgegenzusetzten. Auch in den repressivsten Systemen kämpfen LGBTQ-Menschen für ihre Rechte und Lebensstile. Aus diesem Grund müssen wir alternative Narrative herausarbeiten, die dokumentieren, wie urbane Kreativität essentiell für die LGBTQ-Emanzipation war und ist. In diesem Kontext empfiehlt David Harvey, den Blick auf soziale Bewegungen zu lenken, etwa wenn er in Rebel Cities fragt: »Can urban-based social movements play a constructive role and make their mark in the anti-capitalist struggle?« (Harvey 2013, 128) So kann ich hier auf eine exzellente (und seltene) empirische Studie des Amerikanischen queer-Aktivisten Benjamin Shepard (2010; 2011) verweisen. In einer zweibändigen Analyse untersucht Shepard, wie spielerische Aktivitäten sozialer Bewegungen zur Emanzipation der LGBTQ-Gemeinschaft ebenso beigetragen haben wie zu einem vielfältigeren Stadtraum. Eine der zentralen Bewegungen, die er untersuchte, ist ACT UP, die es durch karnevaleske und oftmals situationistische Strategien ermöglicht, die AIDS-Epidemie in den 80er und 90er Jahren zu einer Quelle der Kraft queerer Emanzipation (und nicht der Repression und des Niedermachens) werden zu lassen. Shepard erzählt andere Geschichten der Kreativität, indem er dokumentiert, wie ACT UP und andere Aktivistinnen Spiel und Freude als Möglichkeit des »steel out, and rise above« gegenüber des alltäglichen Leidens und Todes durch AIDS mobilisierten. Shepards Fokus auf ludische politische Praktiken verbindet sich gut mit dem Konzept der ›ludic city‹, der spielerischen Stadt, das von Henri Lefebvre vorgeschlgen wurde: »[A] renewed fête [is] fundamentally linked to play, […] subordinating to play rather than to subordinate play to the ›seriousness‹ of culturalism« (Lefebvre 1996, 171; *Spiel, *Improvisation). In Shepards Studie sind die vielen Partys, Pride-Märsche und Paraden – den konstanten Bemühungen, diese in Stadtmarketingkampagnen einzuschreiben, zum Trotz – zentral für eine taktische, verkörperte Antwort auf eine normative urbane Szene. Sie stellen damit Referenzen an die Idee der ludischen Stadt in Form von »Festivals« oder »kollektiven Spielen« dar, die mit Lefebvre als ultimativer Ausdruck sozialer Revolution betrachtet werden können. Sie stehen für die Sehnsucht, die fête zurückzugewinnen, indem das Alltagsleben verändert wird. (vgl. Lefebvre 1996, 168) Spiel und Kreativität sind hier eng verbunden mit den Rechten der Bürgerinnen und Bürger, eine andere Form bürgerlicher Partizipation einzufordern, die die Form einer erneuerten

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fête annimmt, in der sich die unterschiedlichen Begehren des urbanen Milieus kreuzen und ermöglichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine genealogische Analyse, die sich den Brüchen und Öffnungen zuwendet, anhand derer sich ein Konzept (urbaner) Kreativität entfaltet, den kritischen Ansätzen und Interventionen von Feminismus und Queer-Theorie nicht verschließen darf (*Genealogie). Das gilt umso mehr, als diese Perspektiven einige der schärfsten Kritiken von Floridas Position und dem Kreativitätsimperativ im Allgemeinen entwickelt haben. Was Florida und seinesgleichen anstrebten, war nicht weniger, als jene urbanen Räume, die eine entscheidende Rolle in der Emanzipation der LGBTQGemeinschaft spielten, zum Verschwinden zu bringen und in ein Narrativ und eine Stadtpolitik von Konsumismus, Kommodifizierung und Identitätsklischees zu überführen. Um solchen Effekten des Kreativitätsimperativ zu widerstehen, muss die Stadt mehr denn je als Terrain des Kampfes um sexuelle Gleichheit und Gerechtigkeit verstanden werden. Wichtige Fragen, die wir in diesem Sinn stellen müssen, sind etwa: Können Menschen der LGBTQ-Gemeinschaft und all jene, die sich für andere, ›queerere‹ Lebensstile entscheiden, andere ›Orte‹ besetzen als den von kommodifizierten Persönlichkeiten in gentrifizierten Nachbarschaften an der Seite von gutsituierten ›toleranten‹ Bürgern? Die glatte und problemlose Art und Weise, in der die LGBTQ-Gemeinschaft in die verklärenden Skripte der Stadtentwicklung eingeschrieben wurde, wirft eine Frage auf, die essenziell für uns alle ist: Welche Rechte an der Stadt hat ein jeder von uns? Wo können queere Körper leben und sich bewegen, und können queere Subjektivitäten andere Räume der Stadtgestaltung öffnen, die, ohne dabei selbst exkludierend oder exklusiv zu sein, die Stadt selbst offener, toleranter und rebellischer machen? Im Sinne Henri Lefebvres bleibt es wichtig, andere Geschichten urbaner Kreativität abseits des Skripts des Kreativitätsimperativs zu erzählen, so dass »[t]he urban becomes what it always was: place of desire, permanent disequilibrium, seat of the dissolution of normalities and constraints, the moment of play and of the unpredictable« (Lefebvre 1996, 129).

Literatur Bell, David/Binnie, Jon (2004): »Authenticating Queer Space: Citizenship, Urbanism and Governance«, in: Urban Studies 41(9): S. 1807-1820. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class, Cambridge, MA: Basic Books. Harvey, David (2013): Rebel City. From the Right to the City to the Urban Revolution, London: Verso. Lefebvre, Henri (1996): Writings on Cities, Oxford: Blackwell.

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Peck, Jamie (2005): »Struggling with the Creative Class«, in: International Journal of Urban and Regional Research 29(4): S. 740-770. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Shepard, Benjamin (2010): Queer Political Performance and Protest, New York: Routledge. Shepard, Benjamin (2011): Play, Creativity, and Social Movements. If I Can’t Dance, It’s not my Revolution, New York: Routledge.

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Eine philosophische Frage »Die Grundhypothese lautet, dass Kreativität keine ausschließlich angeborene Eigenschaft ist. Alle Menschen sind auf die eine oder andere Weise kreativ und können lernen, ihr kreatives Potenzial zu nutzen.« Das Zitat stammt nicht von einem Philosophen, sondern aus einem Grünbuch der EU-Kommission, das 2010 unter dem Titel Erschließung des Potenzials der Kultur- und Kreativindustrien erschien. Die Programmschrift drückt keine triviale Banalität aus, sondern etwas ganz Entscheidendes, nämlich die Annahme, dass man durch fehlende Kreativität aus der menschlichen Gattung herausfällt (*Kapital, *Kreativitätstechniken). Zu denken gibt ferner, dass auch die Ökonomie, will sie denn eine politische sein, sich den Anschein des Ontologischen geben muss. In Die Erfindung der Kreativität heißt es, dass Kreativität mittlerweile zur Pflicht und zum Wunsch geworden ist (vgl. Reckwitz 2012, 9). Kreativität stelle ein Dispositiv dar, das vom Kapitalismus eingesetzt wird, um auf dringliche Herausforderungen zu reagieren. Die bisherige Gestalt des Kapitalismus – der Fordismus –, die in einem Konzept der berechnenden Vernunft (Max Weber) gegründet war, habe ihre hegemoniale Vormachtstellung in der Gesellschaft verloren (*Organisation). Die Ökonomie der Gegenwart lässt sich mit solchen Kategorien nicht mehr hinreichend erfassen, da in ihrem Kern weniger rationale Prozesse stattfinden, sondern vielmehr »solche der sinnlich-emotionalen Affiziertheit«, so dass der Weber’sche Affektmangel (ebd. 140, 313 ff.) längst durch eine Ästhetisierung der Ökonomie sowie einer Ästhetisierung des Sozialen abgelöst wurde (*Affektkultur, *Ästhetisierung). Reckwitz’ Genealogie gelingt es, die diversen (und in sich durchaus heterogenen) Faktoren herauszuarbeiten, die zur Einrichtung des Kreativitätsdispositivs geführt haben. Das Buch liefert eine reichhaltige und artikulierte Analyse der gegenwärtigen Lage, und wirft zugleich eine Reihe von Fragen auf. Als Erstes wäre die Rolle der Kunst zu klären. Reckwitz argumentiert, dass die Umwandlung des Fordismus in einen *ästhetischen Kapitalismus auf neuen Arbeitsweisen, Markt- und Konsumfor-

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men, Managementtechniken, Organisationen und Institutionen sowie Transformationen des Urbanen basiert (vgl. ebd., 11-18) und in all diesen Prozessen die ›Kunst‹ eine wichtige Rolle gespielt habe (vgl. ebd., 17, 54 ff.). Laut Reckwitz wurden die Ideale der Originalität und Kreativität von antagonistischen Forderungen in der Gegenkultur der 1960er Jahre zu hegemonialen Prinzipien, indem sie in diese neue Ökonomie »eingebaut« wurden. Durch diese Einverleibung verloren die einst kritischen Ideale ihren subversiven Wert (vgl. ebd., 15), ihre Kraft wurde deaktiviert. Es könnte nun so scheinen, als sei das Subjekt und die tragende Kraft des Kreativitätsdiskurses niemand anders als der Kapitalismus selbst. Doch an anderen Stellen klingt die Sache anders. Da heißt es dann, dass natürlich »nicht die Ökonomie das Kreativitätsdispositiv« alleine stützt (ebd., 140, Herv. i.O.) und die Ästhetisierung auch noch auf andere Kräfte zurückzuführen ist. Müssen die Entstehungsmomente für die Archäologie dieses Dispositivs also anderweitig gesucht werden? (*Dispositiv, *Genealogie) Wenn ›Kunst‹ ein exemplarisches Feld darstellt, wie kam es überhaupt, dass bestimmte ästhetische Ideen und bestimmte künstlerische Praktiken so umstandslos in die Ökonomie »eingebaut« werden konnten? Gibt es eine grundsätzliche Bereitschaft der Ästhetik, ökonomisiert zu werden? Ist es nur Zufall, dass die Ästhetik und die politische Ökonomie zur gleichen Zeit florieren? Könnte es sein, dass der Entstehungsmoment in einer gemeinsamen Vorgeschichte zu suchen ist?

Von der Religion zur Ästhetik Worin besteht Ästhetisierung? Reckwitz unterscheidet ›ästhetisch‹ von ›Ästhetisierung‹ und beide wiederum vom Kreativitätsdispositiv (vgl. ebd., 20 ff., 30 ff., 189 ff.). Sein sehr allgemeiner, weder historisch noch geographisch genau situierter Begriff des Ästhetischen, erweitert zu »sinnliche Wahrnehmung« und »Affekt« in den Weisen der »Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbezüglichkeit«, erscheint mir zu breit für eine fruchtbare Analyse, denn er kennt keinen Gegensatz, wenn z.B. selbst die »Pflege östlicher Meditationspraktiken im Westen« einbezogen wird (ebd., 33). Ich würde dagegen eingrenzend behaupten wollen, dass ›Ästhetik‹ (der Name und die Sache) hauptsächlich in Reaktion auf den dualistischen Rationalismus geboren, praktiziert und verwendet wurde und wird (ebd., 25 ff., 79-81), durch eine Vereinigung von innen und außen in einer schöpferischen Subjektivität. Eine Genealogie der Aura dieses ästhetisch-schöpferischen Subjekts beginnt für Walter Benjamin (2012) in alten religiösen Kulten. In faschistischen Regimen diagnostizierte er dann eine »Ästhetisierung der Politik« als Aura der Kreativität, die dem Führer und den Massen für die soziale und technische Erneuerung zuzuschreiben sei. Heute hat sich diese Aura auf kapitalistische, ›kreative‹ Veränderungen ausgeweitet.

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Eine Genealogie, die in der Religion wurzelt, ermöglicht es genauer zu verstehen, wie die subjektive Intensität der modernen ästhetischen Erfahrung entstand und wie die Kreativität zum Imperativ des Neuen als kontinuierliche subjektive gesellschaftliche Produktion werden konnte (*Arbeit). Die Intensität des Gefühls verweist auf die unterschiedlichen Spielarten des Protestantismus zurück. Bei den Baptisten weicht der dogmatische Glaube dem Gebot, ›auf den Geist zu harren‹, woraus sich dann eine ganze Reihe von Konzepten ergeben wie Rechtfertigung, Erweckung und Wiedergeburt (vgl. Weber 2017, 169). Die Demokratie der Vereinigten Staaten schöpft mittelbar daraus ihren puritanischen Geist (vgl. ebd., 171, FN 146), nämlich als eine Art Synthese aus dem Selbstvertrauen (self reliance) und der Selbsterneuerung als ›Urhandlung‹ des ›Genies‹, die etwa R.W. Emerson fordert, und die so charakteristisch ist für die nordamerikanische Kultur, aber zunehmend – gerade in den letzten Jahrzehnten – auch in Europa wirkte. Hier, in Europa, mündet diese religiöse Genealogie des Gefühls in die Kultur der Empfindsamkeit (von Shaftesbury bis Klopstock, von Lessing bis Hemsterhuis und Herder) und in die kantische Ästhetik. Bei Kant sind die »Originalität« des ästhetischen-künstlerischen Gefühls, die Dimension der Mitteilung (der Geschmack) und die »technisch-praktische« Natur des Wissens (Kritik der Urteilskraft, Einleitung) noch unterschieden; mit Schiller (über Fichte) wird das Ästhetische dann allerdings zum konstitutiven Bestandteil der Politik. In Hölderlins Hyperion »fühlt« schließlich der Dichter »den Geist der Welt«: Das Gefühl tritt hier an die Stelle des Glaubens und wird zur Bedingung von Erkenntnis sowie des politischen Handelns.

Von der Ästhetik des Lebendigen zur Ökonomie des Lebens Vom gegenwärtigen Standpunkt aus stellt sich der Gegensatz zwischen Gefühl und rationalem Kalkül als ein historischer dar, der allenfalls in einem bestimmten historischen Übergang der Moderne Gültigkeit beanspruchen konnte (*Affektkultur). Wer Wirkungen einer Aktion berechnet, tut dies zum Zweck, aber auch auf dem Boden der Gewissheit des Handelns. Friedrich Nietzsche hat diesen Übergang erkannt und sein Denken zeugt davon, wenn er den Wert der Kunst in den ›Künstler‹ selbst hineinverlegt. Insofern der *Künstler als frei von jedem spezifischen Medium und von jeder spezifischen Technik interpretiert wird, setzt er die Kreativität des Lebens ins Werk. Das Leben ist Wille zur Macht, der »die primitive Affekt-Form ist«, »alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind« und der als »Kraft- und Füllegefühl im Rausche« erfahren wird (Nietzsche 1972, 92 und 327). Affekt und Wirklichkeit sind eins; Perspektiven, Hierarchien, Kalküle sind Effekte: So erklärt Nietzsche, wie es kommt, dass der moderne Mensch kreativ sein will. Aber der allzumenschliche Wille hängt noch zu sehr an den eigenen Wünschen und hemmt damit das lebendige Werden durch Ressentiment und Mit-

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leid. Aus diesem Grund ist der Übermensch – nicht umsonst als »der Schaffende« definiert – sich selbst »der schlimmste Feind«, muss er sich doch ständig selbst erneuern: »Was ich auch schaffe und wie ich’s auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille«. Ein derart strenges »Gesetz« (Nietzsche 1968, 144 und 77) legt nahe, dass die menschliche Existenz spontan schuldhaft besetzt ist, und zwar in ihrer Neigung, an den Dingen zu hängen. Aus diesem Grund bedarf es einer »Erlösung«, die Nietzsche zufolge in der »Ewigen Wiederkehr« besteht (ebd., 173 ff.). Man könnte meinen, Nietzsche spreche die Sprache der christlichen Theologie, wenn er von Erlösung spricht. Faktisch dient diese Redeweise jedoch ihrer Zersetzung: die tragische Kunst, die ewige Wiederkehr, die Kritik an den Absichten der »bisherige[n] Psychologie« und am freien Willen dienen als »Hammer« (Nietzsche 1972, 93, 99-102 und 4 f.). Gleichwohl hallt in diesen Worten noch immer ein Echo jener Geschichte nach, die durch sie zerstört werden soll. Wenn nicht länger an Gott geglaubt werden kann, wird der Mensch ab-solutum, bar jeder Ursache, jedes Ziels und jeden Sinns (Nihilismus). Wenn schon das Leben keinen Sinn mehr hat, soll es wenigstens gefühlt sein, und zwar mit der größtmöglichen Intensität. Intensives Erleben beerbt die theologische Rechtfertigungslehre. Leben, Wille, Affekt und emotionale Intensität, Erweckung, Erlösung sowie (Selbst-)Schöpfung werden unterschiedslos ineinander geblendet und vermengen sich. Die göttliche Schöpfung und die moderne Kreativität verschränken sich bis zur Unkenntlichkeit (*Plastizität) Ein Widerhall dieser Geschichte ist bei Nietzsche vernehmbar, seine Worte werden so zum ambigen Zeichen der Zeit. In einer Art Vorgriff auf Schumpeters ›kreative Zerstörung‹ deutet Nietzsche den wirtschaftlichen Erfolg der ästhetischen Kunst an. Das Leben muss zerstückelt werden (Dionysos!), um sich zu vervielfältigen. Die Zerstückelung ist dabei nicht mehr im tayloristischen Sinne zu verstehen, nicht mehr als Segmentierung der äußerlichen, mechanischen Abläufe, sondern als Segmentierung der Emotionen im Zeitalter des emotionalen Marketings.

Schuld, Glaube. Wenn Ökonomie religiöse Züge annimmt Der Beweis für die theologische Genealogie des zeitgenössischen Kreativitätsimperativs ist in der Tatsache zu suchen, dass Kreativität von Schuld freikaufen soll. Das Kreativitätsdispositiv ist in erster Linie ein Legimitationsdispositiv, und zwar insofern, als dass Kreativsein dazu dient, die Singularität der Existenz zu rechtfertigen. Theologisch ist daran, dass so der Grundgedanke aktualisiert wird, wonach die Existenz nicht per se gut ist. Der moderne Mensch »will lieber sich schuldig finden, als umsonst schlecht fühlen« (Nietzsche 1972, 24), deshalb erlebt er seine Existenz in der Selbstkasteiung. In dem Maße, wie die »Wiedergeburt« nur »in der innerlichen Aneignung« verspürt werden

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kann, wie sich Max Weber ausdrückt (Weber 2017, 169), muss diese Selbsterneuerung in jedem Augenblick ständig wiederholt werden (*Naturalisierung, *Selbstgenerierung). Die Gesellschaft verlangt heute, dass der menschliche Existenzgrund ›objektiv‹ an Kreativität gemessen wird, aber ihrem Auftreten kommt kein Beweischarakter zu. Dieser konstitutive Widerspruch zeigt sich daran, dass Kreativität einerseits als Eigenschaft definiert wird, die einem Subjekt innerlich zugeeignet ist, sie sich andererseits aber nur a posteriori erweist, wenn sie erfolgreich war. Subjektive Euphorie ist lediglich das Ergebnis des Erfolgs, und keinesfalls ein Gütesiegel für Kreativität. Erfolg kann man schließlich auch aus anderen Gründen haben. Aber das Konzept der Kreativität bleibt überzeugend, auch wenn es keinen Beweis gibt, denn es verbindet zwei Dinge, denen es die gleiche Quelle zuweist: den Erfolg einer bestimmten Innovation einerseits und die legitimatorische Selbsterneuerung der Singularität andererseits. In dieser Verklammerung liegt ihre verpflichtende Kraft, die umso besser wirkt, als ihre Sprungfeder geheim bleibt. Aus diesem Grund fügt man sich nicht nur aus wirtschaftlichen Zwängen ihrer Faszination, sondern ganz ›spontan‹, aus ›Leidenschaft‹, indem man sich selbst herausfordert, durch reale Gefahren (Ökonomie, Sport, Kriminalität, Krieg) oder durch fingierte (Noir, Thriller, Kriegsspiele, Sci-Fi; *Pop). In alledem kommt der neuen materiellen-immateriellen Ökonomie in etwa die gleiche Macht zu, die früher den Kirchen eignete: Sie hütet das Geheimnis hinsichtlich der Verbindung zwischen der selbstschöpfenden Individualität und Wirtschaft und Politik, d.h. mit dem, was Hegel den »objektiven Geist« nannte. Die neue Ökonomie kodifiziert das Geheimnis und wacht über ihren Kult. Ihre Hohepriester sind die ökonomisch-politischen Entscheidungsträger. Ebenso wie die katholischen Kleriker die Wirkung des Sakraments nicht durch ihren eigenen Zustand der Gnade oder Sünde beeinträchtigen konnten (laut Entscheidung des Trienter Konzils 1547 gilt das Prinzip ex opere operato), so sind heute die wirtschaftlichen Entscheidungsträger die Ausnahmen, welche die Regel bestätigen: Ob in der transnationalen Verwaltung des Kapitals, bei den Staatschulden, in den Arsenalen oder der Kommunikation – sie stehen über den Regeln, die sie der restlichen Bevölkerung auferlegen. Bei solchen Regeln haben nur wenige Erfolg. Anders als bei der Beichte der katholischen Kirche vergeben die ökonomischen Hohepriester nicht. Subjektiv betrachtet liegt das alles nicht weit von der Prädestinationslehre entfernt: Alle sind gerufen, aber nur wenige auserwählt. Ob es ›Kreativität‹ als solche wirklich gibt, diese Frage kommt im Übrigen geradezu einem Glaubensakt (oder: -gefühl) gleich, und wenn dieser ausbleibt, treten Schuldgefühle ein: ›Du hast an dein eigenes kreatives Potenzial nicht genügend geglaubt!‹ (*Coaching). Die Schuldgefühle bestätigen den Glauben.

Schuld

Der Glauben an die Kreativität wird ständig durch ökonomische Zwänge und durch das Dispositiv erneuert: Subjektiv ist er nur solange, wie man meint, Existenz sei grundsätzlich mangelbehaftet. Nicht immer war dem so. Während der ästhetische Imperativ der ›Originalität‹ zu den ›Elementen‹ des Dispositivs gehört, waren und sind andere Künste anders orientiert. Man denke etwa an Zufall statt Absicht bei John Cage, LM Young und in der Experimental Music; Improvisation bei Terry Riley, Pauline Oliveros, Franco Evangelisti, Cornelius Cardew und MEV; oder psychedelische Musik: Ethiken und Poetiken, denen es weniger um die Innovation des natürlichen Lebens ging als vielmehr um eine Befreiung von der Pflicht, das Leben durch Arbeit, Konsum und technische Produktivität rechtfertigen (vgl. Goldoni 2015, 2017). In dieser Hinsicht unterschieden sie sich auch von einem gewissen Kult des »Neuen« der europäischen Avantgarden (*Entkunstung, *Improvisation). Wer genauer hinsieht, erkennt darin nur wenig bis gar keine Gemeinsamkeiten mit der gegenwärtigen Ästhetisierung der Ökonomie und der Gesellschaft, wenngleich auch damals die Präsenz des eigenen Körpers, der eigenen Existenz und der Transformation wichtige Themen darstellten. Die Suche nach dem Gewahrwerden des Wunders des Lebens ist nicht notwendigerweise eine »Ästhetisierung« (Reckwitz 2012, 33, 46 f. und 131 f.), weil sie zu alten und zeitgenössischen Philosophien (Wittgenstein) sowie zu westlichen und östlichen ethischen Praktiken gehört. Diese ›Kunst‹-Praktiken sind, meiner Meinung nach, Beispiele einer immer noch andauernden Bewegung der (modernen) Unterscheidung zwischen Ästhetik und Ethik und damit jenseits des ›Neuen‹. Trotz einiger Ambivalenzen in der Figur des Künstlers, trotz der Tatsache, dass einige Praktiken durch die »Hegemonie« des Dispositivs abgewertet und missverstanden wurden (ebd., 361, FN 75): Reckwitz’ Urteil, sie seien »Agenten« des Dispositivs (ebd., 131 f.), scheint mir nicht überzeugend. Die genealogischen Elemente eines *Dispositivs sind nicht dasselbe wie das, was (in es) ›eingebaut‹ ist. Tatsächlich nennt Reckwitz am Ende des Buches unter »Alternative Formen des Ästhetischen?« (ebd., 355 ff.; ich verzweifle ein wenig angesichts des Wortes »Ästhetisches«) dann Improvisation, Aufmerksamkeit auf das Alltägliche, Wiederholung, Übergänge zwischen Kunstpraxis und Publikum und »östliches« Zeitbewusstsein – von denen die meisten aus Praktiken und Theorien den 1960er Jahre stammen und noch in vielen Plätzen in der Welt ausgeübt werden. Der distanzierte soziologische Blick auf das zeitgenössische Leben könnte zuerst Kommunikation, Geld und Geschäft sehen (*Kritik). Für mich aber scheint ein anderes Licht von diesen Praktiken aus auf die Welt. Aus dem Italienischen übersetzt von Emmanuel Alloa.

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Daniele Goldoni

Literatur Benjamin, Walter (2012): »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« [1935], in: Werke und Nachlass, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, Berlin: Suhrkamp, S. 207-250. Goldoni, Daniele (2015): »A Musical-Philosophical Approach to Creativity. An Ethical Turn«, in: Augsto Cusinato/Andreas Philoppopoulos-Mihalopoulos (Hg.), Knowledge-Creating Milieus in Europe: Firms, Cities, Territories, Berlin: Springer. Online verfügbar unter: https://link.springer.com/chap​ ter/10.1007%2F978-3-642-45173-7_2 (abgerufen am 08.08.18). Goldoni, Daniele (2017): »The Religion of Creativity: A Destructive Justice«, in: PuntoOrg 2(2). Online verfügbar unter: http://www.puntoorg.net/it/eng​ lish/a-c-2/daniele-goldoni-2 Nietzsche, Friedrich (1968): Also sprach Zarathustra, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter. Nietzsche, Friedrich (1972): Nachgelassene Fragmente 1887-1889, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Weber, Max (2017): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1905], Stuttgart: Reclam.

Selbstgenerierung Emmanuel Alloa

Im *ästhetischen Kapitalismus werden Konsumenten nicht nur in Hinblick auf Kaufkraft und Bedürfnisse adressiert, sondern als Subjekte umworben, die selbst ästhetisch orientiert sind (*Konsum). *Design beschränkt sich dann nicht nur auf die käuflichen Güter, sondern auf den damit verbundenen Lifestyle: Das Individuum sichert sich nicht allein Zugang zu Gütern, Werten oder Dienstleistungen, sondern gestaltet selbst deren Verhältnis auf eine je eigene Weise. Tayloristische Kontrollphantasien haben ausgedient und standardisierte Normierungen machen einer zunehmenden Individualisierung Platz. Es werden nicht nur Dinge gekauft und genutzt, sondern aktiv Bedeutungen, affektive Assoziationen und emotionale Färbungen produziert, die sich dann wiederum zu einem individuellen Stil zusammenfügen. Anders gesagt: Kreativität beschränkt sich nicht auf die findige Gestaltung von Dingen oder Waren, sondern umfasst auch – und zwar vielleicht sogar in erster Linie – die Gestaltung des Individuums selber. Durch die Personalisierung von Ankäufen finden Distinktionsprozesse statt, eine Persönlichkeit bildet sich heraus. In vielerlei Hinsicht lebt, wie Reckwitz argumentiert, im ästhetischen Kapitalismus eine bestimmte postromantische Tradition fort, die sich unter anderem darin äußert, dass das Self-Fashioning zum regulativen Ideal geworden ist. Ob beim Reisen oder im Hobby, im Beruf oder der Partnerschaft – stets geht es um die sogenannte Selbsterfindung. Bereits in den 1970er Jahren hatte Richard Rorty vom Postromantismus der Gegenwart gesprochen, die er an der neu entstehenden Kultur der »Selbst-Kreation« meint festmachen zu können, und an der rhetorischen Bemühung eines nicht-entfremdetem »self growth« (A. Maslow). Diese romantische Genealogie ist hilfreich, um die Selbsterfindung nicht mit dem ökonomischen Paradigma des Subjekts als Arbeitskraftunternehmer bzw. als enterprising self zu verwechseln. Neben dem Projekt der Selbstverwaltung und Selbstvermarktung lässt sich ein Projekt der Selbsthervorbringung genealogisch rekonstruieren, das durchaus metaphysisch codiert ist. Nicht umsonst wird, so Reckwitz, dem kreativen Subjekt die Fähigkeit zur »Autopoiesis seiner selbst zugeschrieben« (Reckwitz 2012, 235). Dem Prozess

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der Subjektivierung wird der Traum einer Selbstgenerierung hinzugefügt. Im Kreativitätsdispositiv ist das Subjekt nicht nur Impresario seiner selbst, sondern soll zugleich Urheberrechte auf sich selbst einfordern können: fabricando fabricamur – in der Herstellung stellen wir uns selbst her (*Kreativitätstechniken). Selbstgenerierende bzw. autopoietische Prozesse (von autos ,selbst‹ und poiein ,schaffen, erzeugen, herstellen‹) sind in Kultur-, Sozial- und Lebenswissenschaften immer wieder beschrieben worden, und tatsächlich wird der Begriff der Autopoiesis gemeinhin mit dem chilenischen Biologen Huberto Maturana und seinem Schüler Francisco Varela verbunden, die ausgehend von der Selbstreplizierung von Zellen die Autopoiesis als Grundzug des Lebendigen herausstellten. Dennoch täuscht die scheinbare Eindeutigkeit des Begriffs darüber hinweg, dass hierbei teils weit auseinanderliegende Dinge benannt werden. So laufen auch im Ideal der kreativen Selbstgenerierung diverse Gedankenstränge zusammen, die im Übrigen keineswegs gleichbedeutend sind, und die es auseinanderzuhalten gilt. Drei seien im Folgenden herausgehoben: Spontaneität, Autonomie, Rekursivität. 1. Spontaneität: Als Maturana und Varela den Begriff der Autopoiesis in die Theorie der Lebenssysteme einführten, stand, wie sie später selbst erläuterten, Aristoteles’ Konzept der Poiesis Pate. Es geht dabei nicht um ein Tun (Praxis), das im Vollzug aufgeht, sondern um ein Hervorbringen (Poiesis) eines Produkts, das über den Prozess hinaus Bestand hat. Poietische Akte sind insofern Kunsthandlungen, als sie etwas entstehen lassen, was es sonst auf natürlichem Wege nicht gäbe. Anders als bei Naturvorgängen der Physis handelt es sich um den Bereich der Technè, oder, um es lateinisch auszudrücken: anders als bei solchem, was ›naturwüchsig‹ (nativus) gedeiht, muss in diesem Falle künstlich ( facticius) vorgegangen werden. Die Pointe an dem Konzept der Autopoiesis ist nun aber, dass die Lücke zwischen Kultur und Natur in gewisser Weise wieder geschlossen wird, weil es um poietische Generierungen geht, die gleichsam ›von selbst‹ vollzogen werden. Dieses biologische Konzept findet dann sein Pendant in einer bestimmten klassischen Ästhetik, und dem damit verbundenen Ideal der Spontaneität (sponte fit, von selbst gemacht). Im 20. Jahrhundert sind davon auch noch Spuren in der psychosomatischen Selbsthilfelehre zu finden (stellvertretend etwa: Moshe Feldenkrais’ Handbuch Das starke Selbst. Anleitung zur Spontaneität [1985]). 2. Autonomie: Ein etwas anders gelagertes Verständnis der Selbstgenerierung legt weniger den Nachdruck auf die Tatsache, dass etwas von selbst entsteht, als auf die Tatsache, dass hier etwas aus sich selbst heraus entsteht: eine Generierung aus eigenen Mitteln gleichsam, bei der das Subjekt causa sui ist. Selbstgenerierung liegt hier nahe am Ideal der autonomen Selbsterschaf-

Selbstgenerierung

fung. Der Mensch ist artifex sui, »Bildner seiner selbst«, heißt es schon in Pico della Mirandolas Schrift Über die Würde des Menschen (1990, De dignitate hominis, 1486). Bei Herder lautet das dann so: »die Natur des Menschen ist Kunst« (Herder 1877, 117), was soviel bedeutet, dass der Mensch aus sich selbst macht, was er werden kann und soll. In der transzendentalphilosophischen Variante geht es dann um eine Selbstgesetzgebung des Subjekts, und bei Johann Gottlob Fichte um eine Selbstbegründung bzw. um eine »Sichselbstconstruction« des Menschen. Der Autonomieanspruch ist indessen nicht nur Personen vorbehalten, sondern gilt auch für Gruppen und Systeme. Systeme, die sich ihre eigenen Regeln geben, haben dann als autonom zu gelten. Solche Regeln schränken Kreativität im Übrigen nicht notwendig ein, sondern fordert sie mitunter geradezu heraus. Bekannt ist dieses Phänomen in Situationen politischer Zensur (man denke etwa an die Kreativität des iranischen Kinos). In der Bildenden Kunst oder in der Musik ist das Phänomen ebenfalls leicht nachzuvollziehen, etwa am Aspekt des Stils: Ein Stil bildet sich nicht in Abwesenheit von Regelstrukturen heraus oder als Ersatz dergleichen, sondern als deren Interpretation bzw. Ausgestaltung (*Improvisation, *Mode). Unter der Maßgabe auferlegter Regelstrukturen gilt es, einen je eigenen Weg der Ausgestaltung zu finden, der dann mit einem Stil in Verbindung gebracht wird. Der Eigensinn zeigt sich nicht dort, wo alle Regeln außer Kraft gesetzt wurden, sondern wo sie auf je singuläre Weise umgedeutet wurden (aus der Neuen Musik ist diese Tatsache vertraut: eine Komposition, der jede Regelmäßigkeit fehlt, kann den Überraschungseffekt auf Dauer nicht halten und wird belanglos). 3. Rekursivität: Selbstgenerierende Systeme sind nicht nur selbstbezüglich, sondern darüber hinaus rekursiv, d.h., sie verwenden Teile ihrer selbst, um daraus Neues entstehen zu lassen. Nicht umsonst stand hier die Biologie Pate, und an vorderster Stelle eine bestimmte Auffassung davon, was Organismen sind. Organismen weisen eine Einheit auf, die ihnen nicht von außen auferlegt wurde; vielmehr ist ihre Einheit das Ergebnis immanenter Ordnungsmuster. Dass solcherlei systemische Einheiten eine gewisse Geschlossenheit aufweisen, heißt nicht, dass sie nach außen hin abgeschirmt wären, ganz im Gegenteil, vielmehr halten sie ihre Binnen-Einheit dadurch aufrecht, dass die Innen-Außen-Interaktion ständig austariert und neu verhandelt wird, Selektionsmechanismen greifen etc. Derart biologische Muster sind auch in der Kybernetik angewandt worden, so beispielsweise in den Rückkopplungsschleifen in Prozessen der Selbststeuerung (*Computer). In der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann verweist Autopoiesis dann auf die die rekursive Struktur selbstorganisierender Systeme, welche alle jene Elemente, aus denen sie bestehen, durch Selbstreproduktion erzeugen und fortschreiben, und ganz allgemein wurde das Konzept aufgegriffen, etwa um so etwas wie eine Autogenese sozialer Ordnung

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zu rechtfertigen. Kybernetische Modelle fanden auch in andere Wissenschaften Eingang, so zum Beispiel in der Modellierung von Märkten: Das Wirtschaftssystem beruht nicht nur auf einer Selbstreproduktion seiner Elemente (in diesem Fall: der Zahlungen), sondern auch in einer Selbstgenerierung seiner Regeln (in diesem Fall: die Preise) In der Kreativitätsforschung – das lässt sich zusammenfassend festhalten – übernimmt Selbstgenerierung somit unterschiedliche Funktionen, ob in der Selbstreferentialität kultureller Schaffensprozesse, in der Betonung von Spontaneität, in der Eigengesetzlichkeit von Innovation, in der selbstverwalteten Persönlichkeitsentwicklung oder in der Erzeugung neuer Regelvarianten, die dann übernommen und stabilisiert werden. Der Anschein reibungsloser Mechanik kann allerdings nicht darüber hinwegsehen lassen, dass das Ideal der Selbstgenerierung über weite Strecken vor allem Resultat eines bestimmten Narrativs darstellt. Man mag noch so sehr naturwissenschaftliche bzw. mathematische Modelle bemühen – wie schon bei der berühmten Episode des Barons von Münchhausen muss man erst einmal an die Geschichte glauben können, wonach man sich am eigenen Schopf aus dem Schlamm ziehen kann. Eine Analyse der rhetorischen Indienstnahme des Topos der Selbstgenerierung und der damit verquickten Versprechen von Autonomie und Selbstbestimmung macht auch deutlich, warum der Kreislauf selten perfekt ist. Dies ist etwa Richard Rortys Schlussfolgerung, in seiner Diskussion des Motivs der Selbstkreation in der Moderne (vgl. Rorty 1991). Das Projekt einer Selbsteinholung verläuft, so Rorty, über eine Selbstliteralisierung: Da sich das ›Ich‹ nie vergegenständlichen kann, und der Blick über die eigene Schulter unmöglich bleibt, bleibt nur eine unendliche Annäherung, über Selbstnarrativierung und Selbstliteralisierung. Da es – im Sinne einer Einsicht in die radikale Kontingenz von Identität – für das Ich keine richtige, abschließende Beschreibung gibt, muss zur Selbstbeschreibung immer wieder neu angehoben werden. Jede Selbstbeschreibung ist dabei immer schon ein Stück Selbstdefinition, die in ihren Ausprägungen jedoch ungesichert bleiben muss, aus dem schlichten Anlass, dass kein letztgültiges Kriterium der Überprüfung vorliegt. Doch nicht nur derlei differenztheoretische Gesichtspunkte stimmen skeptisch, was das Ideal der grundständigen Selbstgenerierung anbelangt. Auch aus der Perspektive der Kapitalismusanalyse ist Vorsicht geboten, wenn es um das Stilisieren ungebundener, freier Arbeitsgestaltung geht. Was einer bestimmten Post-68er-Generation als ideologische Befreiung galt, nämlich die Möglichkeit permanenter Neuerfindung und endloser Ausdifferenzierung von Lebensweisen, waltet im *ästhetischen Kapitalismus längst als ungeschriebenes Gesetz. Während Guattari mit seiner Schizo-Analyse von Subjekten als »Differenzierungspolen« träumte, sind Differenzierung und Singularisierung

Selbstgenerierung

zu zentralen Marktmechanismen geworden. Sich, wie sich das Guattari vorstellt, in uneingeschränkter Autopoiesis einer »kontinuierlichen Schöpfung hingeben, die nicht den Vorteil eines bereits etablierten theoretischen Bodens besitzt« (Guattari 2014, 97), kann unter heutigen ultraflexibilisierten Produktionsbedingungen schwerlich die gleiche kritische Stoßrichtung mehr haben. Schließlich ist eigenständige Ausgestaltung der eigenen Tätigkeit genau das, was von Arbeitnehmer/-innen mit unvollständigen bzw. relationalen Verträgen (incomplete viz. relational contracts) verlangt wird. Wenn Flexibilisierung von Prekarisierung nicht mehr unterschieden werden kann und Differenzierung nur noch von erfolgreicher Anpassungsfähigkeit zeugt, muss auch die Forderung nach selbstverwalteter Arbeit ihren Glanz einbüßen (*Arbeit). Im Kreativitätsdispositiv – soviel sei abschließend festgehalten – wird das Subjekt als ästhetisches Subjekt adressiert, dem nicht nur ein postromantischer Drang nach Selbstgestaltung und Selbststilisierung unterstellt wird, sondern dem ein solcher Drang gleichsam als Zwang aufoktroyiert wird (*Naturalisierung, *Coaching). Nicht nur Gegenstände wollen designt werden, auch Lebensentwürfe und in diesem neuen Imperativ des Ego Design liegen Pracht und Elend des Kreativitätsdispositivs eng beieinander. Im Durchgang durch die diversen Aspekte der Selbsthervorbringung (Spontaneität, Autonomie, Rekursivität) zeigt sich, inwiefern das Kreativitätsdispositiv bei aller antinormativen Rhetorik von einer starken Normativität durchwirkt ist, deren Effekte in heutigen Gesellschaftsformen immer stärker – nicht zuletzt in ihren pathologischen Auswüchsen – zu spüren sind.

Literatur Feldenkrais, Moshe (1985): The Potent Self. A Guide to Spontaneity, San Francisco: Harper & Row. Guattari, Félix (2014): Chaosmose, übers. v. Thomas Wäckerle, Wien: Turia + Kant. Herder, Johann Gottfried: »Briefe zur Beförderung der Humanität« [1793], in: ders., Sämtliche Werke, Band 17, hg. von Bernd Suphan, Berlin 1877. Pico della Mirandola, Giovanni (1990): De dignitate hominis [1486]. Über die Würde des Menschen, übers. v. Norbert Baumgarten, hg. v. August Buck, Hamburg: Meiner. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Rorty, Richard (1991): Kontingenz, Ironie, Solidarität, übers. v. Christa Krüger, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Spiel Michael Hutter

In »ästhetischen Episoden«, so Reckwitz, »scheint ... eine ästhetische Wahrnehmung auf. Ein Subjekt lässt sich durch ein Objekt affizieren und durchbricht damit den Kreislauf der Zweckrationalität – dann ist das Ereignis vorüber.« (Reckwitz 2012, 25) Wie gelingen solche Ereignisse mit Eigenwert? Wie gelingt das Affizieren der Subjekte, und wie wird im ästhetischen Ereignis das Verhältnis von Subjekt und Objekt verändert? Eine Antwort auf die Frage nach dem Affizieren könnte an einer Stelle ansetzen, die sich zwei Seiten später findet. Dort ist die Rede von den semiotischen Formen, welche die Fähigkeit haben, die Subjekte sinnlich-affektiv anzuregen (*Farbe). Die Zeichen, die in ästhetischen Ereignissen zum Einsatz kommen, verweisen nicht »auf ›reale‹ Referenten [...], vielmehr treten das Spiel der Signifikanten, die Fiktionalität der Bedeutungsproduktion und die alternativen Welten der Narrative in den Vordergrund« (ebd., 27). Drei Varianten bietet Reckwitz also für den erfolgreichen Affekt, der dem Subjekt zur zweckfreien Freude wird. Alle drei, so lässt sich argumentieren, sind Erscheinungsformen von dem, was unter ›Spiel‹ verstanden wird. Für die erste der drei Varianten verwendet Reckwitz den Spielbegriff unmittelbar. ›Spiel‹ steht hier für Unbestimmbarkeit. Die kann sich ergeben aus Spiel und Gegenspiel in Sportwettbewerben, oder durch die möglichen Variationen von Signifikanten in Kunstspielformen, etwa in den Reimformen der Lyrik, oder im Bewegungsspiel von Tanzaufführungen. Spiele werden witzlos, wenn ihnen dieser unbestimmbare Spielraum genommen wird. Die »Fiktionalität der Bedeutungsproduktion« benennt eine weitere Facette, nämlich die der Unterscheidung zwischen Ernst und Spiel. Im Spiel schaffen allein Imaginationen Bedeutung. Für Johan Huizinga, aber auch noch für Beobachter digitaler Videospiele, sind die Spiele klar vom ernsten Teil des menschlichen Lebens zu unterscheiden (*Computer). Der Literaturwissenschaftler Jacques Ehrmann dagegen universalisiert den Anwendungsbereich der Spielfiktionen: »The distinguishing characteristic of reality is that it is played. Play, reality, culture are synonymous and interchangeable« (Ehrmann

Spiel

1968, 56). Dafür spricht, dass die Bedeutungen in fiktiven Spielen den Spielern so wichtig sein können, sie emotional dermaßen berühren, dass sie sogar ihr reales, ernstes Leben danach ausrichten. Auch die ›Produktion‹ muss man sich anders vorstellen, wenn es um Bedeutungen in Kunstspielen und nicht um die Herstellung von marktfähigen Gütern geht. »Pro-ductio« heißt in genauer Übersetzung die Vor-führung, in der ereignishaft das Spiel der imaginierten Bedeutungen aufgeführt wird (*Imagineering). Die dritte Erscheinungsform sind die »alternativen Welten der Narrative«. Die Geschlossenheit dieser Welten entspricht der von Spielen. Dieser Gedanke geht auf den Soziologen Erving Goffman zurück (der seinerseits auf Gregory Bateson verweist). Spiele legen demnach frames of interpretation, oder Bedeutungsrahmen, um Ereignisfolgen. So grenzen sie ein, welche Geschichten erfolgreich erzählt werden können. Spiele dieser Lesart sind etwa die Sprachspiele in Ludwig Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Die social worlds, von Howard Becker und anderen Vertretern der Chicago School erforscht, liefern zahllose Beispiele für die Codes, Regeln und Übertretungsahndungen, die diesen Welten Geschlossenheit verschaffen. Mit der Kombination aller drei Varianten – der unvorhersehbaren Beweglichkeit, der zwingenden Kraft der Imagination und dem virtuosen Umgang mit Spielkonventionen in Bedeutungswelten – gelingt es in ästhetischen Ereignissen, die Subjekte sinnlich-affektiv zu berühren. Sieht man die Ereignisse als Spielereignisse, dann steht unmittelbar eine reichhaltige Terminologie zur Verfügung: Die Ereignisse sind Spielzüge, die von Mitspielern durchgeführt oder beobachtet werden, oder die Ereignisse sind ganze Spielpartien, die über eine Zeitspanne hinweg stattfinden. In den Spielereignissen werden Spielobjekte verwendet, auf deren Umgang die aktivsten Mitspieler sorgfältig vorbereitet sind, und mit deren Hilfe sie den Spielverlauf unbestimmbar und aufregend halten. In derartigen Spielen gelingt das gemeinsame Gefesseltsein, das joint engrossement, das Goffman zufolge bei den Mitspielern Freude auslöst. Schon Huizinga beschreibt in Homo Ludens, dem Klassiker der Spieletheorie, die essenzielle Qualität des Spielens: »Was ist nun eigentlich der Witz des Spiels? [...] Warum verrennt sich der Spieler in seine Leidenschaft, warum bringt der Wettkampf eine tausendköpfige Menge zur Raserei? In dieser Intensität des Spiels, in diesem Vermögen, toll zu machen, [...] steckt das, was ihm ureigen ist.« (Huizinga 1956, 10) Diesem Spielwitz sind auch die Regeln eines Spiels untergeordnet. Wenn sich die äußeren Umstände ändern, passen sich die Regeln an, nicht aber der Spielwitz. Die heuristische Verwendung des Spielbegriffs bewährt sich auch, wenn wir uns der Frage nach dem veränderten Verhältnis von Subjekt und Objekt zuwenden. Hier ist eine weitere von Reckwitz vorgeschlagene Unterscheidung hilfreich, nämlich die zwischen profaner und origineller Kreativität. Als Krite-

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Michael Hutter

rium der Unterscheidung dient der Unterschied zwischen Mitspieler und Zuschauer (*Bühne). Die Verrichtungen profaner Kreativität können »ganz ohne Zuschauer auskommen«, es gibt nur »Teilnehmer und Mitspieler« (Reckwitz 2012, 362). Die »herausgehobenen Konstellationen anerkannter Originalitätsproduktion« dagegen finden immer vor Publikum statt – erst so werden sie also zu einem ästhetischen Ereignis, das Mitspieler und Zuschauer »toll machen« kann. Reckwitz operiert mit der Figur des Zuschauers schon an zwei früheren Stellen. Das »ästhetische Publikum« ist Bestandteil seiner Skizze vom »Regime des Neuen in der Kunst«. Die Zuschauer befinden sich in den Subjektpositionen des Nutzers, des Rezipienten und des sozialen Beobachters. Sie haben über die Jahrhunderte »Kompetenzen ästhetischer Konzentration« (ebd., 66) erworben. Die Rede vom Subjekt, das einem ästhetischen Objekt »zuschaut«, legt eine materielle Interpretation des Objekts nahe, wie beim Bildkunstwerk. Dadurch tritt der fundamental spielerische Prozess, wie er etwa bei Musik- und Theateraufführungen offensichtlich stattfindet, in den Hintergrund. Eine Verlagerung der Beobachtung auf derartige ästhetische Episoden würde eindrücklicher belegen, dass den Zuschauern, ganz zu schweigen von den aufführenden Mitspielern, als Objekt ein zeitlich ausgedehntes, vielfältig variables ›Spielzeug‹ entgegentritt, das sie in all ihren Subjektpositionen affizieren und verändern kann (*Queer). Eine zweite Stelle findet sich in Reckwitz’ Interpretation der ästhetischen Strategien, welche die Avantgarden der Moderne nach 1900 und postmoderne Kunstformen seit den 1960er Jahren einsetzten (*Entkunstung, *Performativität). Parallel zur »Prozeduralisierung des kreativen Akts und der Entgrenzung der Objekte ästhetischer Verfahren« – wie sie im letzten Absatz schon angedeutet wurde – kommt es zur »Aktivierung des Rezipienten«: »Das Publikum wird zum Komplizen des *Künstlers (ebd., 108).« Der Zuschauer wird zum Mitspieler im engeren Sinn, die traditionelle Unterscheidung wird abgeschwächt. Es geht den Künstlern »um die Herstellung eines Wahrnehmungs- und Affizierungsraums«, dessen Wirkung jedoch immer unberechenbar bleibt – es geht ihnen um gelungenes Spiel. Die entscheidende Rolle des Spielzuschauers war zumindest im ästhetikphilosophischen Diskurs schon in den 1950er Jahren bemerkt worden. Gadamer nannte den Zuschauer »ein Wesenselement des Spiels selbst, das wir ästhetisch nennen.« (Gadamer 1990, 133) Friedrich Georg Jünger erkannte, dass durch die »Umwandlung des Nichtspiels in Spiel« in den ästhetischen Spielen ein »unermesslicher Bereich« eröffnet wird, und er stellte fest: »Die Umwandlung ins Spiel erfolgt durch die Darstellung des Schauspielers. Diese Darstellung allein würde nicht hinreichen; hinreichend wird sie erst durch das Zuschauen des Zuschauers.« (Jünger 1953, 104)

Spiel

Das Publikum kann also Macht gewinnen über die ästhetischen Ereignisse, kann bestimmte Qualitäten fördern und andere zum Verschwinden bringen. Gleichzeitig gewinnen die Spiele ihrerseits Macht über die Subjekte. Das Gefesseltsein in den alternativen Welten der ästhetischen Spiele bringt die schon erwähnte Intensität, mit der sich Subjekte in Musik, Dichtung oder auch Videospielen vertiefen, aber erfordert die Aufgabe individueller Freiheit, die mit den Regeln und der Logik des Spiels und mit der möglichen Härte des Wettbewerbs einhergeht (*Selbstgenerierung). Günther Ortmann weist darauf hin, dass schon Nietzsche sich zu den Zielen griechischer Künstler entsprechend geäußert hat: »›In Ketten tanzen‹, es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, – das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten Formeln und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen, innerhalb deren er tanzen musste: und er selber schuf neue Conventionen für die Kommenden hinzu.« (Ortmann 2016, 237, Herv. i.O.) Der Verlust von Handlungsoptionen wird im ästhetischen Spielereignis für die vorführenden Künstlerinnen und Künstler ebenso wie für das anwesende – oder über technische Medien ›zugeschaltete‹ – Publikum zur Voraussetzung ästhetischer Freude. Ist Spiel also mehr als eine Metapher, die Unbestimmtheit konnotiert? Ist die Ästhetisierungsgesellschaft vielleicht ein Konglomerat von lärmenden, vergnügten, streitlustigen Spielern und ihren Zuschauern? Ein derartiger Gedanke blitzt bei Reckwitz an den zitierten Stellen auf, und erhellt so das noch offene Erkenntnispotenzial einer Theorie sozialer Spiele.

Literatur Ehrmann, Jacques (1968): »Homo Ludens Revisited«, in: Yale French Studies 41, S. 31-57. Gadamer, Hans-Georg (1990): Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik [1960] (Gesammelte Werke I). Tübingen: Mohr Siebeck. Huizinga, Johan (1956): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt. Jünger, Friedrich Georg (1953): Die Spiele, Frankfurt: Vittorio Klostermann. Ortmann, Günther (2016): »Innovation: In Ketten tanzen«, in: Werner Rammert et al. (Hg.), Innovationsgesellschaft heute, Wiesbaden: Springer, S. 237-250. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1958): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Valorisierung Michael Hutter

Das Neue, so Reckwitz, »hängt ab von einer entsprechenden Aufmerksamkeitsform und Bewertung, die sich einseitig auf das Neue richtet und es vom Alten scheidet« (Reckwitz 2012, 41). Dafür ist seit dem 18. Jahrhundert ein »Beobachtungs- und Bewertungsraum« geschaffen worden, beeinflusst »durch die Experteninstanzen der Kritik, die den Korpus der neuen und alten Kunstwerke systematisieren und bewerten« (ebd., 67). Seitdem das Publikum mit der Moderne zur Beobachtungsinstanz geworden ist, herrscht freilich ein »Definitionskampf« zwischen Produzenten- und Konsumentenlogik, was denn nun wertvoll sei (ebd., 72). Im letzten Kapitel, in der Skizze einer entstehenden Ästhetisierungsgesellschaft, taucht das Thema der Bewertung des Neuen wieder auf. Demnach gelingt dort die »soziale Zertifizierung« in zwei Formen. Kurzfristig richtet sich die Aufmerksamkeit, gleichsam impulsiv und unbewusst, auf bemerkenswerte Ereignisse, die so alle anderen gegenwärtigen ästhetischen Objekte in den Hintergrund rücken. Langfristig wird das Neue »valorisiert« und für »kulturell wertvoll« erklärt. Das setzt »eine kollektive Bewertung, etwa in Expertenkreisen, voraus, die das Neuheit beanspruchende Objekt einem umfassenden Vergleich mit gegenwärtigen und vergangenen Alternativen unterzieht, der in eine Kanonisierung und die Anerkennung des ästhetischen Objekts münden kann.« (ebd., 331, Herv. i.O.) Was es genauer mit den »Valorisierungsprozessen« auf sich hat, die in der angefügten Fußnote mit Verweis auf Boris Groys erwähnt werden, bleibt offen. Reckwitz sieht seinen Beitrag eher im Blick auf die kurzfristige, spontane Zertifizierung durch Aufmerksamkeit. In Groys’ Essay Über das Neue spielt Valorisierung in der Tat eine zentrale Rolle. Groys unterscheidet zwei Wertebenen, die niedrige des profanen Lebens und die hohe des kulturellen Archivs. Valorisierung bedeutet demnach entweder die Aufwertung von Neuem auf die höhere, oder Abwertung von bislang Wertvollem auf die niedrigere Ebene. Wer diese Valorisierungsprozesse betreibt, blieb schon damals unklar – abgesehen von einer Stelle, an der Museen als »eine Art Banken für kulturelle Werte« beschrieben werden, »welche

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diese Werte ständig im Umlauf halten und gegen profane Dinge austauschen müssen, um ihren Marktwert zu sichern, so wie Geld an Wert verlöre, wenn es nur auf dem Konto läge und nie in Umlauf gebracht würde« (Groys 1992, 135; *Museum). Die Referenz zum Geld dient als Metapher für die Dynamik einer sich ständig verändernden sozialen Bewertung (*Kapital). Geld wird aber auch ganz praktisch für den Unterhalt des »kulturellen Gedächtnisses« gebraucht (ebd., 121). Ob spontane Zertifizierung oder langfristige Valorisierung – die Frage nach den Praktiken der Bewertung von Neuem bleibt offen. Dabei wäre aus den ›pragmatistischen‹ Beiträgen der Pariser Wirtschafts- und Kultursoziologen einiges zu lernen. Luc Boltanski (2010) interpretiert den Einsatz von Kritik nicht als eine Haltung, sondern als eine Strategie. Lucien Karpik (2011) stellt den Zusammenhang zwischen der Produktion einzigartiger, singulärer Produkte und der Praxis komplexer Regimes von »judgment devices« her. Antoine Hennion (2015) untersucht singuläre Praktiken von Musikliebhaber und Weinverkostern. Michèle Lamont (2012) bemerkt, im Blick auf das wachsende Feld der Expertenbewertung wissenschaftlicher und künstlerischer Ergebnisse, den Unterschied zwischen Evaluationen, die externen Kriterien folgen, und Valuationen, die die soziale Wertschätzung bestimmter ästhetischer Objekte steigern oder verringern wollen. Fabian Muniesa (2011) weiß beim Vollzug komplexer »practices of valuation« zwischen dem Einsetzen, Verhandeln, Festlegen und Einordnen von Werten zu unterscheiden. Alle diese Autor/-innen nehmen Bezug auf Grundideen der pragmatischen Philosophie, insbesondere auf Arbeiten von William James und John Dewey (*Naturalisierung). Der Gedanke, dass der Blick auf die konkreten Praktiken des Wertens lohnt, weil die Unbestimmbarkeit neuer ästhetischer Ereignisse eine andauernde Verständigung über die soziale Werteinordnung dieser Objekte erfordert, war beiden gemeinsam. Dewey unterschied dabei in seiner Theory of Valuation zwischen prizing (»in the sense of holding dear«) und appraising (»putting a value on«; Dewey 1938, 5). In diesem noch jungen Forschungsfeld der kollektiven Bewertung zeichnen sich zwei Strukturmerkmale ab. Das eine unterscheidet nach den Rollen der Mitspieler. Zuschauer werten anders als die aktiven Mitspieler einer kreativen Produktion (*Bühne). Noch einmal anders werten Experten, also Zuschauer, die durch die Spezialisierung ihrer Beobachtung, durch Training und durch Erfahrung, zu Mitspielern geworden sind. Erst im Wettstreit innerhalb der jeweiligen Gruppen und zwischen den Gruppen stellt sich deshalb heraus, was als ›kulturell wertvoll‹ gilt. Das zweite Merkmal kann etwas ausführlicher vorgeführt zu werden. Drei Modi der Valorisierung oder Wertschätzung lassen sich unterscheiden. Der Begriff der Wertschätzung transportiert die Ambiguität dieser Prozesse: Einerseits werden durch ein ästhetisches Objekt ausgelöste Gefühle zum Ausdruck gebracht, andererseits wird das Objekt oder Ereignis in

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eine vorhandene Werteordnung eingefügt – und das immer im Wettstreit der Meinungen von allen beteiligten Mitspielern und Zuschauern (*Spiel). Im ersten Modus werden ästhetische Objekte in Wert gesetzt. Werte werden performativ verändert, etwa durch die Zuerkennung von Preisen. Manche der Preise würdigen bereits erbrachte Leistungen, bei anderen liegen die erwarteten Leistungen in der Zukunft. Die Vorgehensweise verknüpft das zu valorisierende Objekt oder die Person mit anderen, bereits anerkannten Wertpositionen. Die Positionen können besetzt sein von berühmten Werken, oder von idealen Qualitäten, die im Kontext bestimmter ästhetischer Spiele angesehen sind. Nun können für bestimmte Wirkungen der neuen Objekte und Ereignisse Werte gesetzt werden, die über dem Durchschnitt, oder über den Erwartungen des Schätzenden liegen, die also loben, und es können Werte gesetzt werden, welche die Defizite im Auftritt des Objekts benennen, die also kritisieren. Lob und Kritik finden besondere Beachtung, wenn sie von Experten kommen, die den Aufstieg oder Fall in sozialen Wertschätzungen richtig vorhersagen konnten. Lob und Kritik werden ebenfalls betrieben von den Erstellern der Objekte selbst, von allen möglichen weiteren Mitspielern, und von den Zuschauern, die schon durch Applaus und Pfiffe ihren ersten Beitrag zur In-Wert-Setzung liefern. Bemerkenswert ist der schmale Grad des Unterschieds zwischen der rein zeichenhaften, semiotischen In-Wert-Setzung eines neuen Objekts durch die verschiedenen Teilnehmer, und deren materieller Positionierung, wenn ästhetische Objekte in einen räumlichen oder zeitlichen Zusammenhang mit wertvolleren oder wertloseren Objekten gebracht werden. So werden Kunstsammlungen aufgebaut und Verlagsprogramme komponiert. Auch fällt es bei Aussagen in diesem Modus besonders schwer, zwischen dem gefühlten »holding dear« und einem interessengeleiteten »pushing a value on« – das über Deweys passive appraisal hinausgeht – zu unterscheiden. Die Aussagen von Erstellern und Förderern werden grundsätzlich als werbende Übertreibung konnotiert, und alle anderen Mitspieler müssen Interessenverflechtungen glaubwürdig zurückweisen können. Häufig wird der Begriff der Valorisierung allein für diesen Modus der aktiven Auf- und Abwertung verwendet. Im zweiten Modus wird der Wert eines Objekts eingeschätzt. Die vorliegenden In-Wert-Setzungen werden aggregiert und in Kennzahlen oder ordinalen Skalen von ›mehr oder weniger‹ erfasst, die dann mit den Kennzahlen anderer kreativer Werke verglichen werden können. Außerdem werden an einem Ende des Spektrums ganz unmittelbar menschliche Sinne eingesetzt: Das Neue wird ertastet, geschmeckt, gerochen, gehört und gesehen (*Farbe). Die Kriterien für diese Evaluation sind mental verankert, und werden häufig nur von erfahrenen Experten beherrscht. Am anderen Ende des Spektrums der Einschätzpraktiken werden kontrollierte Tests eingesetzt, um das Leistungsvermögen von Objekten oder zukünftigen Ereignissen beurteilen zu können.

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Oft sind die Wirkungen komplex, oder oft geht es um die Einschätzung von Quellen, die viele Objekte über eine längere Zeitperiode erstellen. In jüngerer Zeit werden Kennziffern kombiniert und über einen Algorithmus gewichtet, um zu einem prägnanten Schluss zu kommen. Das Ergebnis sind Rankings, die durch die numerische Abfolge ganzer Zahlen eine eindeutige und gleichmäßige Wertabstufung suggerieren. Auch in der Praktik der Evaluation von wissenschaftlichen oder künstlerischen Organisationen werden Kennzahlen errechnet, aber die sinnliche Beobachtungsbasis wird dort erweitert durch die Begehungserfahrung der beauftragten Experten. Des Weiteren hat Kommunikation über digitale Netzwerke eine unkomplizierte ordinale Skala, die ›Fünf-Sterne-Bewertung‹, populär werden lassen. Die so generierten Einschätzungen sind für andere brauchbar, weil eine hohe Anzahl von Einzelbewertungen den Nachteil der auf eine Kennzahl geschrumpften Bewertungsbasis wettmacht. Zudem bekommt eine breite Zuschauerschaft das Gefühl, an der Valorisierung der eigenen Erfahrungen beteiligt zu sein. Im dritten Modus werden Äquivalente getauscht. Liquide Werte, meistens Geldsummen, werden hergegeben, um ästhetische Objekte zu bekommen, oder um den Zugang zu einem ästhetischen Ereignis zu sichern. Die Praktiken unterscheiden dabei zwischen Kauf und Geschenk (*Konsum). Kauf und Verkauf wird dann möglich, wenn der Zugriffswechsel beim Wertetausch leicht definier- und durchführbar ist – was bei physischen Objekten leichter gelingt als bei Musik- oder Textwerken, die vervielfältigt werden können. Ein ganzer Rechtsbereich ist entwickelt worden, um auch Ansprüche auf ›geistiges Eigentum‹ durchzusetzen. Die Praktiken des Verkaufs verlaufen in vielen Spezialisierungen, vom tatsächlichen Tausch ohne Geldmediation über den direkten Bieterwettbewerb bei Versteigerungen hin zu komplexen Mischformen von Rabatten, Optionen, Zugriffs- und Zugangsprivilegien, wie sie Galeristen für ihren Kreis von Sammlern kultivieren. Bei Geschenken spielt die Zeitdimension eine wichtige Rolle, denn durch das Geschenk wird die Verpflichtung geschaffen, einen Gegenwert in der Zukunft zurückzugeben. Moderne Formen des Geschenks sind Stipendien, Förderbewilligungen oder Preisgelder. Die drei Modi gewinnen ihre Wirkung durch ihre Unterschiedlichkeit. InWert-Setzungen sind Ausdruck erlebter Erfahrung, Einschätzungen stützen sich auf ihre Neutralität, und das Eintauschen von Geldwerten liefert schlagende Evidenz der Wertschätzung. Konsequenterweise kombinieren die Mitspieler alle drei Modi im ständigen Wettstreit der Wertungen. Um Vermischung und damit Entwertung zu vermeiden, bieten sich komplementäre Rahmungen an. Ein Mitspieler kann ›on stage‹ Expertise in einem der Modi erwerben, gleichzeitig ›back-stage‹ mit einem zweiten operieren, und den dritten explizit verweigern. Er (oder sie) kann aber auch in unterschiedlichen Arenen seine Fähigkeiten in den jeweiligen Praktiken unter Beweis stellen. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass viele der Teilnehmer am Valorisierungsprozess keine

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Individuen, sondern Organisationen sind, die über ihre Handlungen intern entscheiden und dann mit entsprechenden Handlungen extern auftreten. Es gibt also noch eine weitere, organisations- und unternehmensinterne Dimension, in der Wertungen erörtert und festgelegt werden. Die ›soziale Zertifizierung‹ erweist sich demnach als ein in seiner Komplexität noch kaum begriffener Prozess. Die Methode des Vergleichs ist zweifellos fundamental, wird aber in den drei Modi unterschiedlich eingesetzt. Langfristige Valorisierung bedeutet Aufwertung, die aber nicht nur zwei Zustände kennt, sondern feine Abstufungen, bis hinauf zum ›Kanon der wertvollsten Werke‹, der, als Konzept, seinerseits zum Instrument im Valorisierungswettstreit wird. Die Wertung durch kurzfristige Aufmerksamkeit ist keineswegs spontan, sondern hochgradig konditioniert, sowohl durch die selbst erworbenen Wertschätzungsfähigkeiten der Beobachter von ästhetischen Objekten als auch durch den ständigen Fluss an Werturteilen, der die Ästhetisierungsgesellschaft durchströmt.

Literatur Boltanski, Luc (2010): Soziologie und Sozialkritik, Berlin: Suhrkamp. Dewey, John (1938): Theory of Valuation, Chicago: University of Chicago Press. Groys, Boris (1992): Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München: Hanser. Hennion, Antoine (2015): »Paying Attention: What is Tasting Wine About?«, in: Ariane Berthoin Antal/Michael Hutter/David Stark (Hg.), Moments of Valuation. Exploring Sites of Dissonance, Oxford: Oxford University Press, S. 37-56. Karpik, Lucien (2011): Valuing the Unique. The Economics of Singularities, Princeton: Princeton University Press. Lamont, Michèle (2012): »Toward a Comparative Sociology of Valuation and Evaluation«, in: Annual Review of Sociology 38(1), S. 201-221. Muniesa, Fabian (2011): »A Flank Movement in the Understanding of Valuation«, in: The Sociological Review, 59 (2), S. 24-38. Reckwitz, Andreas (2012): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp.

Postskriptum Die Gesellschaft der Singularitäten und das Kreativitätsdispositiv Andreas Reckwitz

Es ist keine ganz einfache Übung, Bücher, die man selbst geschrieben hat, in ein Verhältnis zueinander zu setzen. Die erste Reaktion könnte sein: Diese Aufgabe überlässt man besser anderen. Die zweite lautet: Es könnte sich lohnen, es doch selbst zu versuchen, verstanden als ein Versuch, Zusammenhänge zu klären. Dass mein 2012 erschienenes Buch Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung und das fünf Jahre später publizierte Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne thematisch miteinander zusammenhängen, liegt auf der Hand. Mit Blick auf die Versuchsanordnung des Kreativitätskomplexes lautet die Frage, inwiefern das zweite Buch die Perspektive und ihre leitende Begrifflichkeit weitet und verschiebt und wie zugleich die Fragestellung und der Analyserahmen des »Kreativitätsdispositivs« ihr eigenes Gewicht behalten. Nun handelt es sich zunächst um zwei eigenständige Bücher, die für sich stehen und die ihre jeweils eigene Untersuchung durchführen. Ganz generell bin ich beim Schreiben nicht daran interessiert, ein einheitliches ›Werk‹ zu verfertigen, das ein über einzelne Bücher hinweg konsistentes und unveränderliches Begriffssystem entwickelt, welches dann konsequent auf verschiedene Gegenstände angewendet wird. Mir erschiene das eigentlich als eine ziemlich langweilige, überraschungsfreie Weise des Forschens und Schreibens. Die Vorstellung, als Autor ginge es darum, ein einmal entwickeltes ›Programm‹ irgendwann nur noch abspulen, ist abschreckend. Als ob der Autor von aktuellen theoretischen Entwicklungen innerhalb des intellektuellen Feldes, von biografisch begründeten Verlagerungen der eigenen Interessensbereiche, von realen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Gegenwart und schließlich von den Unberechenbarkeiten und Überraschungen, die jedes Studienobjekt entwickelt, wenn man sich darauf einlässt, gänzlich unbeeinflusst wäre. Insofern steht mir generell die Form des wissenschaftlichen Schreibens eines Michel

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Foucault oder eines Bruno Latour deutlich näher als die eines Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas: ein Schreiben, das sich auf neue Problemstellungen einlässt und damit nicht als deduktive Theorieanwendung funktioniert. In diesem Sinne hat Die Gesellschaft der Singularitäten ein anderes Anliegen als Die Erfindung der Kreativität. Letzteres ist ein Buch, das einer genealogischen Intention folgt und sich insofern detailliert auf bestimmte historische Kontexte und ihren langfristigen Einfluss bis auf die Gegenwart einlässt. Der Ausgangspunkt ist dabei ein gegenwärtiger: Das Kreativitätsdispositiv stellt sich als ein umfassender und einflussreicher gesellschaftlicher Komplex der Gegenwartsgesellschaft dar. Ich lasse mich von der Basisannahme leiten, dass die ursprünglich utopische und gegenkulturelle Verheißung des ›Kreativ-sein-Könnens‹ sich im Zuge ihrer Etablierung in einen Erwartungskatalog transformiert hat, der die Individuen mit neuen Strukturen und Regeln, Modellierungen des Begehrens, sozialen Asymmetrien, Ambivalenzen und Ausschlüssen konfrontiert. Die Frage ist jedoch, wie dieser bemerkenswerte Prozess verlaufen ist. Ich gehe sie an, indem ich die Entstehung, Umdefinition und Diffusion von Formaten des Kreativen in verschiedenen, zunächst voneinander unabhängigen historischen Kontexten – dem Kunstfeld, dem ökonomischen Management und den entstehenden creative industries, dem Diskurs der Psychologie, der massenmedialen Fabrikation von Stars und schließlich der politischen Gouvernementalität der Städte als creative cities – verfolge. Am Ende vernetzen sich diese miteinander und lassen das Kreativitätsdispositiv entstehen. Das Buch lebt daher von der genauen Rekonstruktion der Genese der heterogenen Diskurse und Praktiken in den einzelnen Feldern und ist im Kern ein kultursoziologischer Text. Zugleich bietet es einen begrifflichen Rahmen zur Analyse des Dispositivs: »Regime des Neuen«, »ästhetische Praktiken/Ästhetisierung« und »ästhetische Sozialität/Produzenten-Publikum-Konstellation« sind Knotenpunkte dieser Heuristik. Die Gesellschaft der Singularitäten funktioniert als Buch anders. Hier geht es nicht um eine exakte historische Genealogie, sondern um die Entfaltung eines gesellschaftstheoretischen Arguments, um einen Beitrag zu einer Gesellschaftstheorie der Spätmoderne. In diesem Buch setze ich mit der systematischen Entwicklung einer Begriffsapparatur an, die von den beiden Unterscheidungen zwischen einer sozialen Logik des Allgemeinen und einer sozialen Logik des Besonderen (der Singularitäten) sowie zwischen einer Rationalisierung und einer Kulturalisierung des Sozialen ausgeht. Darauf aufbauend behandele ich systematisch die wichtigsten sozialen Felder, welche für die Stabilisierung und Expansion der Strukturen der Singularisierung/ Kulturalisierung in der Spätmoderne verantwortlich sind: die postfordistische Ökonomie eines »kulturellen Kapitalismus« (als Sphäre von Gütern, Märkten und Arbeitsformen), die digitalen Technologien, die Sozialstruktur und Lebensstile (mit der Schlüsselbedeutung der neuen Mittelklasse), schließlich die

Postskriptum

Sphäre der Politik. Die Hauptmotivation besteht darin, den grundsätzlichen Strukturwandel der westlichen Gesellschaften von der industriellen Moderne zur Spätmoderne zu begreifen. Die Kernidee ist, dass die Verschiebung der leitenden sozialen Logik in Richtung eines breitflächig strukturbildenden Primats von Singularisierungen/Kulturalisierungen für dieses Verständnis eine Schlüsselbedeutung erhalten muss. Es geht dabei freilich nicht um die einfache Ablösung einer sozialen Logik durch die andere, sondern um die Neujustierung ihres Verhältnisses: vom alten, industriegesellschaftlichen Dualismus zwischen einem doing generality als Masterprozess und einer konträren wie minoritären Singularisierung zu einer neuen Doppelstruktur, die sich aus Strukturen der Singularisierung/Kulturalisierung im Vordergrund und einem weiterlaufenden doing generality als Infrastruktur im Hintergrund zusammensetzt. Durchgängig geht es darum herauszuarbeiten, wie die Gesellschaft der Singularitäten unbeabsichtigt Strukturen der sozialen Polarisierung hervorbringt – zwischen den Gütern, den Arbeitssubjekten, den Lebensstilen, den Regionen und im politischen Bereich – und damit auf krisenhafte Konstellationen hinsteuert. Trotz dieser grundsätzlich unterschiedlichen Vorgehensweise beider Bücher stellt sich die Frage, ob sich die beiden Untersuchungen auf der grundbegrifflichen Ebene ineinander übersetzen lassen. Generell würde ich feststellen, dass sich das Kreativitätsdispositiv als ein zentraler Knotenpunkt innerhalb der modernen und spätmodernen Prozesse der Singularisierung und Kulturalisierung des Sozialen festmachen lässt. Dies bedeutet: Die Prozesse der Singularisierung/Kulturalisierung gehen über das Kreativitätsdispositiv hinaus. Sie umfassen auch solche Prozesse, die – in einer noch genauer zu bestimmenden Weise – nicht an der Kreation des Neuen im engeren Sinne ausgerichtet sind und die nicht allein die Form einer Ästhetisierung des Sozialen annehmen. Umgekehrt heißt dies: die Fokussierung auf das Kreativitätsdispositiv erlaubt einen genaueren Blick auf eine spezifische Struktur der Singularisierung/Kulturalisierung, für die die Verschaltung des Regimes des Neuen mit der Ästhetisierung zentral ist. Um sich diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, muss ich auf die Begrifflichkeit der »Gesellschaft der Singularitäten« und der »Erfindung der Kreativität« näher eingehen.

Gesellschaft der Singularitäten: Die Singularisierung und Kulturalisierung des Sozialen Mein Ausgangspunkt in Die Gesellschaft der Singulariäten lautet, dass in der modernen Gesellschaft von Anfang an zwei konträre soziale Logiken, das heißt Strukturierungsformen des Sozialen, miteinander konkurrieren: jene des Allgemeinen und jene des Besonderen. Das doing generality ist in der Regel mit Prozessen formaler Rationalisierung (und Versachlichung), das doing

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singularity mit Prozessen der Kulturalisierung (und Affektintensivierung) verknüpft. Beide sozialen Logiken beziehen sich darauf, wie Subjekte, Dinge und Objekte, räumliche Einheiten, zeitliche Einheiten und Kollektive sozial ›fabriziert‹ werden. In der sozialen Logik des Allgemeinen werden diese Entitäten systematisch als Exemplare allgemeiner Typen gebildet: beispielsweise industrielle Massengüter, Subjekte mit Funktionsrollen, Städtebau in Serie, eine Zeitlichkeit, in der eine unendliche Wiederholung des Gleichen stattfindet, formale Zweckverbände wie Organisationen, die überall nach dem gleichen Muster funktionieren. Dieses doing generality findet in unterschiedlichen Sorten von Praktiken statt: den Praktiken der Hervorbringung, der Rezeption, der Beobachtung und der Bewertung. Zumal in der Moderne bedeutet es zugleich meist das, was Max Weber formale Rationalisierung nannte: eine Verfertigung von Elementen, die kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck sind. Die großflächige Durchsetzung einer sozialen Logik des Allgemeinen ist für die moderne Gesellschaft zunächst in vieler Hinsicht charakteristisch. Häufig wurde sie gepriesen, ebenso häufig beklagt. In der industriellen Moderne des 20. Jahrhundert fand sie ihren Höhepunkt in Form großflächiger Standardisierungsprozesse. Daneben hat es jedoch immer eine alternative, ja konträre Logik des Sozialen gegeben: jene, die sich um die Fabrikation von Besonderheiten, von Einzigartigkeiten dreht. Klassischerweise sprach man in der sozialwissenschaftlichen Diskussion meist von ›Individualität‹ und ›Individualismus‹. Ich ziehe jedoch diesem einerseits sehr mehrdeutigen, andererseits auf menschliche Subjekte fixierten Begriffen den neuen und präziseren Begriff der Singularitäten und der Singularisierung vor. Im Rahmen einer solchen sozialen Logik des Besonderen werden Objekte und Dinge, Subjekte, räumliche und zeitliche Einheiten sowie Kollektive als besondere, als singuläre und nicht-austauschbare verfertigt, rezipiert, beobachtet und bewertet. Es findet also ein Prozess der Singularisierung, des doing singularity statt. So werden etwa Dinge wie Kunstwerke, Designgegenstände, Marken oder Fotos singularisiert, Subjekte formen sich nicht als Rollenträger, sondern als Träger von Individualität und werden als solche geformt (bis hin zu Stars und charismatischen Führern), räumliche Einheiten werden im Zuge der Singularisierung zu wiedererkennbaren Orten (places), zeitliche Einheiten werden als einzigartige Ereignisse singularisiert, Kollektive als nicht-austauschbare Gemeinschaften oder Projekte. Einzigartigkeit ist nie objektiv einfach vorhanden. Vielmehr werden die Entitäten erst in den sozialen Fabrikationsprozessen singulär ›gemacht‹. Eine solche Singularitätswahrnehmung setzt voraus, in ihnen eine eigene Komplexität und innere Dichte zu erkennen, die sich nicht unter allgemeine Parameter subsumieren lässt. Singuläre Einheiten kommt gewissermaßen eine ›Originalität‹ zu. Zugleich wird in Singularitäten eine starke, qualitative Differenz nach außen perzipiert: Was singulär erscheint, wird als ›andersartig‹ wahrgenom-

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men, als inkommensurabel gegenüber anderen Einheiten. Einzigartigkeit ist dabei im Übrigen nicht notwendig mit Einmaligkeit gleichzusetzen. Natürlich gibt es einmalige Singularitäten, etwa dingliche Unikate oder Ereignisse, aber auch Elemente, die in mehreren oder vielen materialen Trägern vorkommen, können singulär erscheinen: Kubricks Film 2001: A Space Odyssee ist ein einzigartiges Kunstwerk, auch wenn es häufig gezeigt wird, die Marke Apple mit ihrem charakteristischen Design ist singulär, auch wenn die Geräte millionenfach verkauft werden, Venedig bleibt eine singuläre Stadt, auch wenn viele sie bereisen. Der Prozess der Singularisierung ist häufig (wenn auch nicht immer) zugleich ein Prozess der Kulturalisierung: doing singularity und doing culture gehen hier Hand in Hand. Den Begriff der Kulturalisierung verwende ich in einem spezifischen Sinne werttheoretisch. Kulturalität ist aus dieser Perspektive der Gegenbegriff zur formalen Rationalität. Im Zuge eines doing culture werden Entitäten – Dinge, Subjekte, Orte, Ereignisse, Kollektive – mit einem Wert im starken Sinne des Wortes aufgeladen: Sie sind nicht Mittel zum Zweck oder wertneutral, sie erscheinen wertvoll ›aus sich heraus‹. Als wertvoll werden die Entitäten mithin in einem starken Sinne valorisiert, was wiederum von sozialen Kriterien abhängt. Wie die Singularisierung kann auch die Valorisierung in hohem Grade umstritten und konflikthaft sein: was als einzigartig und wertvoll zählt, darüber gibt es zumal unter modernen Bedingungen Auseinandersetzungen, zugleich aber auch ausgefeilte Methoden und Techniken, die versuchen, diesen Status zu ermitteln. Ich interpretiere die Kulturalisierung zugleich affekttheorerisch: Wenn etwas als in starkem Sinne wertvoll erscheint, dann affiziert es auch – im Gegensatz zu den affektiv meist neutralen Standardisierungen. In welcher Hinsicht lassen sich Entitäten nun kulturalisieren? Ich würde hier fünf Aspekte oder ›Qualitäten‹ unterscheiden. Der erste Aspekt, jener des Ästhetischen, liegt auf der Hand: Im Prozess der Ästhetisierung erscheinen Entitäten in der sinnlichen Wahrnehmung als Zweck in sich selbst, sie erlangen einen sinnlichen Eigenwert. Aber auch im Register des Ethischen wird kulturalisiert: Den Entitäten wird hier ein ethischer Eigenwert zugeschrieben, sie erscheinen gewissermaßen ›heilig‹, unantastbar, schützenswert. Unter dem Aspekt des Ludischen und des Gestalterischen – beide in der Nähe zum Ästhetischen – wird Entitäten ein spielerischer Eigenwert zugeschrieben oder die Gestaltung selbst erscheint als ein Wert in sich. Schließlich können Entitäten unter dem narrativ-hermeneutischen Aspekt valorisiert werden: Es ist hier die erzählte Geschichte, die symbolische Bedeutung, die aus Sicht der sozialen Teilnehmer etwa einem Ding, einem Ort oder einer Gemeinschaft einen Wert verleiht, der über Nutzen oder Funktion hinausgeht. Innerhalb der Moderne ist das Feld der Künste von Anfang an ein Nukleus für die soziale Logik der Singularisierung und zugleich der Kulturalisierung.

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Ähnliches gilt für künstlerische soziokulturelle Bewegungen wie die der Romantik. Damit bildete die Singularisierungslogik zunächst jedoch lange Zeit eine Art insularen Gegenpol zur durchgreifenden Standardisierungs- und Rationalisierungslogik der klassischen Moderne. Mit der Spätmoderne, das heißt seit den 1970/80er Jahren hat sich dieses Verhältnis jedoch gewandelt: Die soziale Logik der Singularisierung dehnt sich enorm aus, bildet eigene, umfassende Strukturen, während die Rationalisierungslogik in die Position einer ermöglichenden Hintergrundstruktur rückt. Drei gesellschaftliche Faktoren, die einander gegenseitig verstärken, sind für diesen Aufstieg des Singularisierungs-/Kulturalisierungskomplexes verantwortlich: die Transformation der Ökonomie vom industriellen zum kulturellen (darin auch ästhetischen) Kapitalismus; die digitale Revolution mit ihrer ›Kulturmaschine‹; schließlich der Aufstieg der hochqualifizierten Mittelklasse, deren Lebensführung über Lebensstandard und Status hinaus nach Selbstentfaltung und einem Leben voller wertvoller Einzigartigkeiten strebt. Die fordistische, industrielle Ökonomie gerät in den 1970er Jahren in eine Sättigungskrise. Die Antwort darauf ist die Etablierung großer Segmente eines kulturellen Kapitalismus, dessen Güter – Dinge, Dienste, Ereignisse, mediale Formate – über Nutzen und Funktion hinaus Wert, Affizierung, Authentizität und Einzigartigkeit versprechen. Die Speerspitze des kulturellen Kapitalismus sind die creative industries (mit der digitalen Ökonomie als dem mittlerweile expansivsten Zweig). Aber er geht weit darüber hinaus und umfasst auch Branchen wie den Tourismus, die Immobilien, die Gesundheit oder den Sport und prägt langfristig die Gesamtheit der Konsumgüter um. Die Kulturalisierung der Ökonomie ist ein expansiver Prozess: Es sind in der spätmodernen Wohlstandsökonomie am Ende allein die singulär und wertvoll erscheinenden Güter (selbst dann, wenn sie massenhaft produziert sind und dinghaften Charakter haben wie große Teile der Bekleidungsmode, der Nahrungsmittel oder des Interior Design), die die Nachfrage sichern und das Begehren der Konsumenten anzustacheln vermögen. Während die alte, industrielle Ökonomie auf Standard und Funktion setzte, um die Massenbedürfnisse der Versorgung und des Komforts zu befriedigen, basiert die postindustrielle, ›immaterielle‹ und darin kulturalisierte Ökonomie auf dem, was über diese Grundbedürfnisse hinausgeht: dem Reiz und der Befriedung des Wertvollen und Besonderen. Der zweite zentrale Bedingungsfaktor der Singularisierungs- und Kulturalisierungsprozesse ist die technologische Transformation, welche die gesamte Gesellschaft und ihre Lebenswelten seit den 1990er Jahren erfasst: die digitale Revolution. Natürlich: Auf einer grundlegenden Ebene betreibt der technologische Komplex aus Computing, Digitalität und dem Internet ein innertechnisches doing generality – die Herrschaft der rechenhaften Algorithmen, die Konvertibilität der Medien, der universale Kommunikationsraum des Internet. Aber auf der Grundlage dieser Infrastruktur ermöglicht die Digitalisierung ein

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großflächiges doing singularity. Sie lässt eine globale, transportable Kulturmaschine entstehen, die das spätmoderne Subjekt in seinem Alltag umgibt. Als Kulturmaschine bietet das Internet in enormem Umfang immer wieder neue, immer wieder andere Bilder, Videos, Filme, Texte und Spiele an, die über bloße Informationsfunktionen hinausgehen, den User affizieren, und ästhetischen, narrativen, ethisch-sozialen, ludischen oder gestalterischen Wert haben. Das Internet spannt den Raum für eine gigantische, mobile Aufmerksamkeitsökonomie auf: um dort Sichtbarkeit zu erzeugen, muss man qualitative Differenz markieren und affizieren. So bilden sich – kommerzielle oder nicht-kommerzielle – digitale Singularitätsmärkte, in denen nur das besonders, ungewöhnlich und bemerkenswert Scheinende reüssiert. Auch die Subjekte lernen im Internet damit, sich als nicht-austauschbare Individuen mit ihren einzigartigen Profilen zu inszenieren, woraus sie Status und narzisstische Befriedigung ziehen. Die ökonomischen und technologischen Antriebsfaktoren der Singularisierung/Kulturalisierung können nur wirksam werden, indem sie sich mit einem dritten Faktor verzahnen: der Authentizitätsrevolution in der neuen Mittelklasse. Die Postindustrialisierung des Kapitalismus, die auch und gerade einen Aufstieg der hochqualifizierten Wissensökonomie bedeutet, geht Hand in Hand mit dem Aufstieg der diese tragenden akademisch gebildeten Mittelklasse, der in diesem Sinne ›neuen‹ Mittelklasse (im Unterschied zur alten, nicht-akademischen Mittelklasse), die von der Bildungsexpansion profitiert hat. Zentral für die Lebensführung dieser neuen Mittelklasse ist eine Wertestruktur, die man auf die Formel der ›erfolgreichen Selbstverwirklichung‹ bringen kann. Zentrale Trägergruppe des postmaterialistischen Wertewandels nach 1968, der eine Ablösung von Pflicht- und Akzeptanzwerten durch Selbstverwirklichungswerte bedeutete, strebt die neue Mittelklasse nicht nur nach Lebensstandard, sondern nach Lebensqualität. Dies bedeutet eine konsequente Kulturalisierung und Singularisierung aller Bestandteile des Lebens – von der Kindererziehung bis zum Reisen, von der beruflichen Tätigkeit bis zur Ernährung: Überall geht es um ein doing culture und eine Fabrikation des und Suche nach dem Einzigartigen und dem ›Authentischen‹: Authentisch erscheint, was gerade nicht standardisiert oder rationalisiert zu sein scheint, sondern besonders. Und es ist am Ende dieses Singuläre und Wertvolle, das auch Status und Prestige, damit sozialen Erfolg sichert. Der kulturelle Kapitalismus, die Kulturmaschine der Digitalisierung und die Lebensführung der kulturell und ökonomisch einflussreichen neuen Mittelklasse bilden also die miteinander verknüpften Mechanismen, welche die Etablierung der spätmodernen sozialen Logik der Singularisierung/Kulturalisierung ermöglichen. Zugleich sind sie zentrale soziale Felder und Praktikenkomplexe, in denen diese Singularisierung und Kulturalisierung stattfinden. Man kann hier von einem kulturell-kreativen Komplex sprechen, der auch Teil-

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segmente der Stadtentwicklung (cultural regeneration und Attraktivitätswettbewerb der Metropolen), des Politischen (neuer Liberalismus), des Bildungswesens (ambitionierte Schulen) umfasst. Findet die Singularisierung/Kulturalisierung des Sozialen in der Spätmoderne nun ausschließlich im Innern dieses kulturell-kreativen Komplexes statt? Die Antwort lautet nein. Sicherlich handelt es sich hierbei in den westlichen Gesellschaften um die dominante Form der Singularisierung/Kulturalisierung, aber nicht um die einzige. Es existieren auch andere Formate, in denen in anderer Weise kulturalisiert und singularisiert wird. Die Unterschiede zwischen den beiden wichtigsten Formaten lassen sich als zwei konträre Formen spätmoderner Kulturalisierung begreifen: Auf der einen Seite beobachten wir im Zentrum dieser Gesellschaft eine Kulturalisierung in terms einer mobilen Hyperkultur. Dies ist der Ort des kulturell-kreativen Komplexes, des kulturellen Kapitalismus, der neuen Mittelklasse und der digitalen Kulturmaschine als Ganzer. Auf der anderen Seite erkennen wir eher an den gesellschaftlichen Peripherien eine Kulturalisierung in terms eines identitären Kulturessenzialismus oder Kulturkommunitarismus, getragen insbesondere von den soziokulturellen ›Verlierern‹ der liberalen Hyperkultur; in jüngster Zeit fordert er im Medium des Politischen mit Macht das Zentrum heraus. Versionen dieses Kulturessenzialismus findet man insbesondere im religiösen Fundamentalismus, in sich selbst ethnisierenden Gemeinschaften, in nationalistischen und in rechtspopulistisch-identitären Bewegungen. Es ist bemerkenswert, dass diese Opponenten gegen den kulturell-kreativen Komplex sich ebenfalls von der Kulturalisierung prägen lassen, dieser aber eine andere Form geben. Während der kulturell-kreative Komplex von einer globalen Mobilität kultureller Elemente ausgeht, die sich auf kulturellen Märkten bewegen und von Individuen mit Selbstentfaltungswerten ausgewählt und hybride angeeignet werden, zieht der Kulturessenzialismus strikte Grenzen zwischen Kulturen als Kollektivgemeinschaften, zwischen in-group und outgroup. Die kollektive Identität nach innen gilt es zu sichern, das Außen wird leicht zum Gegenstand der Abwertung. Während im Falle der Hyperkultur potenziell alles zur Kultur werden kann (hyper), scheinen im Kulturessenzialismus die wertvollen Entitäten fix (Essenz). Während der kulturell-kreative Komplex immer wieder neuartige kulturelle Entitäten hervorbringt und – bis hin zur Beschleunigung von Modezyklen und Memen – in die kulturelle Zirkulation einspeist, favorisiert der Kulturkommunitarismus eindeutig das Alte, d.h. das aus Geschichte und Vergangenheit stammende, das immer neu sakralisiert wird. Insgesamt ist die Kulturalisierung der Identitären zugleich ein Singularisierungsprojekt spezifischer Art. Während die Singularisierungspraxis des kulturell-kreativen Komplexes prinzipiell von einer Heterogenität verschiedenster Singularitäten ausgeht, die miteinander beständig um Anerkennung wetteifern, singularisieren die Kulturkommunitarier die ›eigene‹ Kultur

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als einzigartige, vor allem mit Bezug auf die Geschichte, das Ethos oder auch den gemeinsam geteilten Raum: der Kreis der religiös Erwählten, die Einzigartigkeit der eigenen Nation, des Volkes oder der ethnischen Gemeinschaft.

Das Kreativitätsdispositiv als Regime des ästhetisch Neuen Das Kreativitätsdispositiv, dessen Genealogie und Struktur ich in Die Erfindung der Kreativität unter die Lupe genommen habe, stellt sich als ein Knotenpunkt der sozialen Logik der Singularisierung/Kulturalisierung der Spätmoderne dar. Dies betrifft primär den hyperkulturellen kulturell-kreativen Komplex. Zwar ist auch der spätmoderne Kulturessenzialismus gegenüber den Mechanismen des Kreativitätsdispositivs keineswegs immun, so dass etwa auch identitäre oder religiös-fundamentalistische Bewegungen sich ›kreativer‹ Verfahren bedienen, beispielsweise wenn sie sich in der digitalen Kultur bewegen oder es darum geht, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Anhänger zu rekrutieren. Aber im Kern ist die kommunitaristische Kulturalisierung/Singularisierung eine Praxis, die gerade nicht auf die Generierung des Neuen, sondern auf die Fixierung des Alten ausgerichtet ist. Der Kulturessenzialismus ist in dieser Hinsicht tatsächlich eine Gegenkultur, indem er sich nicht wie der kulturell-kreative Komplex – und letztlich die Moderne in ihrem strukturellen Kern von Anfang an – von einem sozialen Regime der Innovation, sondern von einem sozialen Regime des Alten prägen lässt. Dieses ist auf die Sicherung von ›Tradition‹ ausgerichtet, die freilich selbst im Sinne einer »invention of tradition« (Hobsbawm) immer wieder in der Gegenwart geschaffen, ritualisiert und interpretiert werden muss. Hinzu kommt, dass jenes Primat des Ästhetischen, wie man es im Kreativitätsdispositiv findet, nicht ohne weiteres die Form der Kulturalisierung durch die Kulturessenzialisten prägt. Zwar spielen auch in kulturkommunitaristischen Praktiken Elemente des Ästhetischen eine Rolle, etwa wenn es um die Performance von kollektiven Ritualen oder die Verehrung ikonischer Objekte oder Orte geht. Wenn man mit dem Ästhetischen, dem Ludischen, dem Gestaltenden, dem Ethischen und dem Narrativen fünf Qualitäten der Kulturalisierung unterscheidet, kann man jedoch eher vermuten, dass im Falle der Kulturessenzialisten die ersten drei Aspekte weniger grundlegend sind als jene des Ethischen und des Narrativ-Hermeneutischen. Die Narration von historischen Erzählungen sowie die Sicherung eines kollektiven Ethos haben für die Kulturessenzialisten gegenüber den ästhetischen, ludischen und gestalterischen Elementen einen Primat. Zugespitzt formuliert: Während der kulturellkreative Komplex tatsächlich im Kern eine ›postmoderne‹ Ästhetisierung des Sozialen forciert, betreiben die Kulturessenzialisten in einer Wendung gegen die vorgeblich permissive Kultur der Postmoderne eine Ethisierung des Sozialen, in der strikte moralische Regulierungen der Gemeinschaft leitend werden.

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Das spätmoderne Kreativitätsdispositiv ist also primär im Innern jener hyperkulturellen, gesellschaftlich weiterhin dominanten Form der Singularisierung/Kulturalisierung verortet, welche insbesondere durch den kulturellen Kapitalismus, die digitale Kulturmaschine und die neue Mittelklasse getragen wird. Der Begriff »kulturell-kreativer Komplex« erscheint daher recht passend. Aber was heißt »im Innern«? Gehen die Strukturen, die ich dem Kreativitätsdispositiv zugeschrieben habe, komplett in jenen Strukturen auf, die sich in den Strukturen der »Gesellschaft der Singularitäten« findet? Zur Erinnerung: die Struktur des Kreativitätsdispositivs ergibt sich in meiner Analyse an der Schnittfläche zwischen der Herrschaft eines sozialen Regimes des Neuen und den Prozessen der Ästhetisierung. Schnittfläche heißt umgekehrt: Es gibt und gab immer auch Formen eines Regimes des Neuen, welche nicht ästhetisch orientiert, und es gab und gibt immer auch Formen der Ästhetisierung, welche nicht an ein Regime des Neuen gekoppelt sind. Das Kreativitätsdispositiv verschaltet jedoch beides miteinander. Mit dem sozialen Regime des Neuen ist eine Strukturierungsform sozialer Praktiken gemeint, welche eindeutig das ›Neue‹ gegenüber dem ›Alten‹ präferiert. Das Regime des Neuen basiert also auf einer Aufwertung von Gegenwart und Zukunft und einer Abwertung der Vergangenheit. Dies ist nicht nur eine Frage der Semantik und der Diskurse, die beispielsweise Fortschritt oder Innovation glorifizieren, vielmehr betrifft es auch und gerade die praktische Logik der Selektion und Retention von Ereignissen. Während ein traditionalistisches Regime des Alten neue und darin überraschende und andersartig erscheinende Ereignisse, Ideen etc. im Prinzip unter Verdacht stellt und diese in der Regel nach Erscheinen aussortiert (oder man gar versucht, bereits ihre Entstehung zu hemmen), fördert ein soziales Regime des Neuen sowohl die Entstehung als auch die Diffusion neuartiger Elemente – wenn auch niemals uneingeschränkt, sondern immer abhängig von Kriterien des legitim Neuen. Es ist soziologisch wohlbekannt, dass die moderne Gesellschaft seit ihrer Entstehung darauf beruht, in nahezu all ihren sozialen Felder Regime des Neuen zu implantieren, ob in der Technik, der Wirtschaft, der Politik oder der Kunst. Die moderne Gesellschaft ist in diesem Sinne eine Innovationsgesellschaft. Das Regime des Neuen kann allerdings verschiedene Formen annehmen: Im Neuen I geht es darum, die Stufe von der Traditionalität zum Fortschritt nach Art einer politischen Revolution ein für alle Mal zu nehmen. Das Neue II beruht dagegen auf der Vorstellung einer graduellen Steigerung – nach Art der technologischen Entwicklung –, die nie an ein Ende kommt. Das Neue III verzichtet hingegen auf eine Fortschrittskonnotation und strebt eine Sequenz von immer wieder neuen, überraschenden Affizierungen an, wie man sie aus den Originalitäten des Kunstfeldes kennt. Wenn man die Unterscheidung zwischen industrieller Moderne und Spätmoderne verwendet, sind die Regime des Neuen I und II für erstere kenn-

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zeichnend, während in der Spätmoderne das Neue III strukturbildend wirkt. In diesem spezifischen Regime überschneidet sich die Novitätsorientierung mit dem Prozess der Ästhetisierung. Die Ästhetisierung lässt sich als ein Prozess verstehen, in dem Praktiken, Objekte, Ereignisse, Orte, Kollektive nicht mehr als Mittel zum Zweck, sondern als Gegenstände einer sinnlichen Wahrnehmung erscheinen, die ihren Zweck in sich selbst hat. Ästhetisierung ist also eine Unterform dessen, was wir oben als Kulturalisierung kennengelernt haben: die Formung von Entitäten der Welt nicht als Träger eines Nutzens oder einer Funktion, sondern eines Wertes, den sie scheinbar in sich selbst tragen. Der kulturelle Wert ist in diesem Fall eine ästhetische Qualität. Natürlich muss die Ästhetisierung, so wie man sie in verschiedenen Gesellschaftsformen kennengelernt hat, keinesfalls das Neue prämieren: Man denke an die Ästhetisierungen des alten Ostasiens, bei denen es gerade nicht um Innovation oder Originalität, sondern um die Wiederholung der als klassisch und perfekt anerkannten Form ging. Hier war die Ästhetisierung gewissermaßen an ein soziales Regime des Alten gekoppelt, während das (spät-)moderne Kreativitätsdispositiv sie an das Regime des Neuen bindet. Die Kunst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die nicht mehr auf Reproduktion perfekter Regeln, sondern auf Regelbruch, Originalität und Überraschung setzt, ist für dieses Regime des ästhetisch Neuen die Blaupause. Das Kreativitätsdispositiv ist damit von dem geprägt, was ich eine ästhetische Sozialität nenne. Hier handelt es sich um einen spezifischen Grundriss des Sozialen, der aus vier Elementen besteht: auf der einen Seite die Produzenten, die ›Kreateure‹ des ästhetisch Neuen, auf der anderen Seite das Publikum der Rezipienten (das auch zu Ko-Kreateuren werden kann), zwischen ihnen die ästhetischen ›Objekte‹ im weitesten Sinne – und all dies gerahmt von institutionellen Strukturen, welche die Aufmerksamkeit gegenüber dem ästhetisch Neuen und seine Valorisierung strukturieren. Genau dies ist charakteristisch für die Form des Sozialen im Kreativitätsdispositiv. Sie ist in klassischen Modellen des Sozialen, welche dieses nach Art eines zweckrationalen Tausches oder nach Art einer normativ regulierten Intersubjektivität vorstellen, nicht begreif bar. Es gibt auf der einen Seite Kreateure, also Instanzen, die Objekte im weitesten Sinne gestalten und herstellen und es gibt auf der anderen Seite ein Publikum, welches diese Objekte wahrnimmt und sich davon affizieren lässt. Im Kern der spätmodernen Sozialität des Kreativitätsdispositivs befinden sich also Prozesse des Gestaltens, des Wahrnehmens und des Affizierens, letztlich eine Performanz vor einem Publikum. Mit Hilfe dieses Instrumentariums des Kreativitätsdispositivs lässt sich damit ein beträchtliches Segment der spätmodernen Singularisierung/Kulturalisierung genauer betrachten. Die Ursachen und Rahmenbedingungen, die ich für den Singularisierungs- und Kulturalisierungsprozess der Spätmoderne genannt habe, gelten auch für den Aufstieg des Kreativitätsdispositivs: der

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Stabwechsel vom industriellen zum kulturellen (darin auch: ästhetischen) Kapitalismus, die digitale Revolution sowie der Aufstieg der neuen Mittelklasse mit ihren Selbstentfaltungswerten, die zugleich Kreativitätswerte sind. Die Erfindung der Kreativität und Die Gesellschaft der Singularitäten setzen dabei verschiedene Akzente: In ersterem gilt den Praktiken der Produktion und Kreation und ihrem Subjekt, dem »Kreativsubjekt«, ein besonderes Interesse, während in letzterem die Strukturen der Aufmerksamkeit und die Praktiken der Valorisierung durch das Publikum – auf den kulturellen Märkten oder im Internet – stärker in den Vordergrund treten. Die entscheidende begriffliche Differenz besteht jedoch darin, dass auf der einen Seite »Ästhetisierung« der Leitbegriff ist, auf der anderen Seite »Kulturalisierung« sowie auf der einen Seite das Regime des Neuen, auf der anderen die soziale Logik des Besonderen. Was folgt daraus? Das Verhältnis zwischen Ästhetisierung und Kulturalisierung lässt sich, wie deutlich geworden ist, recht einfach klären. Kulturalisierung ist der weitere Begriff, Ästhetisierung der engere. Zur Not ließe sich der Begriff der Ästhetisierung so weit ausdehnen, dass er die oben genannten Qualitäten des Ludischen und der Gestaltung mit umfasst. Bereits die narrativ-hermeneutische Qualität der Kultur bereitet allerdings Schwierigkeiten, umstandslos unter die ästhetischen Praktiken subsumiert zu werden. Hier geht es schließlich nicht primär um den Eigenwert des Sinnlichen, sondern um den Eigenwert des Sinns, der Bedeutungen und Erzählungen, die über bloße Information und Kognition hinausgehen, beispielsweise in der narrativen Valorisierung einer Stadt, eines Konsumgutes, eines Rituals, einer herausragenden Persönlichkeit oder einer ethnischen Gemeinschaft. Vollends an seine Grenzen stößt der Begriff des Ästhetischen hinsichtlich des Ethischen, wo es – plakativ gesprochen – nicht um das intrinsisch Schöne, sondern das intrinsisch Gute geht. Es ist aber ganz entscheidend, dass auch unter ethischen Gesichtspunkten kulturalisiert wird; dies gilt für die Moderne insgesamt, erst recht jedoch für die Spätmoderne. Ethisiert wird nicht nur im Kulturessenzialismus und seinem Ethos der Gemeinschaft, sondern auch innerhalb des kulturellen Kapitalismus. Neben die Ästhetisierung von Konsumobjekten tritt so eine Ethisierung des Konsums, also eine Aufladung von Dingen, Diensten und Ereignissen mit ethischen Werten des Guten (Nachhaltigen, sozial Bewussten, der Vervollkommnung des Selbstdienenden etc.). Auch die digitale Kommunikation hantiert nicht nur mit Ästhetisierungen (vor allem auf der Bildebene), sondern auch mit der ethischen Aufladung der Kommunikation. Schließlich stellt sich das Feld der Politik, etwa wenn es um eine linksliberale Politik der diversity, des kulturellen Erbes oder der Identitätsrechte von Individuen und Kollektiven geht, ebenso als kulturalisiert im Sinne der Ethisierung dar. Aus meiner Sicht ist es weiterhin treffend, im Zentrum des Kreativitätsdispositivs Prozesse der Ästhetisierung auszumachen. Aber die Kulturalisierungsprozesse der Spät-

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moderne insgesamt richten sich nicht ausschließlich auf dieses Ästhetische, sondern umfassen insbesondere auch narrativ-hermeneutische und ethische Qualitäten. Die Valorisierung, das heißt die Zuschreibung eines eigenen Wertes im starken Sinne des Wortes, ist das, was alle diese Prozesse zur Kulturalisierung macht.

Das Neue und das Singuläre Wie sieht es nun mit dem Verhältnis zwischen dem Singulären und dem Neuen aus? Bilden Singularisierung und das Regime des Neuen zwei Aspekte, die untrennbar zusammengehören? Diese Frage ist kompliziert. Zunächst haben beide Phänomene gemeinsam, dass sie – entgegen der häufigen Einschätzung der Akteure im sozialen Feld – nicht objektiv vorhanden sind, sondern von den Kategorien der Beobachtung abhängen: Was neu ist und was eine Reproduktion des Alten, was einzigartig ist und was eine Reproduktion des Typus, liegt nicht ein für alle Mal fest, sondern ergibt sich erst in der sozialen Beobachtung und Bewertung. Es gibt ein doing newness wie es ein doing singularity gibt. Generell kann man nun zunächst feststellen, dass jedes Neue – gleichgültig ob in Form des Neuen I, II oder III – im sozialen Geschehen zunächst den Charakter des Singulären hat. Das Neue ist per definitionem nicht mehr in den Parametern des Alten zu erfassen, was bedeutet, dass es nicht mehr in die Parameter des bisher Allgemeingültigen ›passt‹. Die politische Revolution und der Regimewechsel, der ihr folgt, ist somit singulär, die technische Erfindung ebenso wie das avantgardistische Kunstwerk. Ich würde jedoch vermuten, dass sich die Regime des Neuen I und II einerseits, jenes des Neuen III andererseits im weiteren Verlauf des Prozesses der Singularisierung voneinander unterscheiden. Das Neue I und II basieren offenbar darauf, dass das anfänglich Singuläre diesen Charakter verliert und vom Register des Besonderen in das des Allgemeinen überwechselt, in jenem Sinne, dass die Entität eine allgemeine Geltung für alle erlangt. So sind die russische Oktoberrevolution und die Umwälzungen, die ihr folgen, zunächst singulär; die neuen Strukturen, die sie stiftet, erlangen dann jedoch für das sowjetische Territorium allgemeine Geltung – das Ziel ist sogar universale Weltgeltung (die der Kommunismus faktisch jedoch nicht erreicht hat). Zentral ist aber, dass das Neue I im modernen Sinne immer danach strebt, eine allgemeingültige Struktur zu implantieren, hinter die man nicht mehr zurückfallen kann. In anderer Weise gilt dies auch für das Regime des Neuen II: Auch eine technische Erfindung – etwa des Telefons oder des Desktop-Computers – ist zunächst etwas Singuläres, darin auch Überraschendes oder auch Faszinierendes. Sobald die Erfindung jedoch zum state of the art einer Gesellschaft avanciert, wechselt sie in den Status einer allgemeinen Infrastruktur über. Diese

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Infrastruktur kann auch veralten und nutzlos werden, so dass die Elemente durch andere, bessere Erfindungen ersetzt werden. Der besondere Status des Regimes des Neuen III besteht nun darin, dass hier das Singuläre langfristig nicht ins Register des Allgemeinen überwechselt. Es eröffnen sich hier stattdessen offenbar zwei andere Möglichkeiten: Entweder das fragliche Element bleibt auf Dauer singulär oder es verschwindet rasch wieder. Am modernen Kunstfeld kann man diesen Zusammenhang gut erkennen: Ein Kunstwerk tritt mit dem Anspruch auf Originalität, das heißt Singularität auf, und wenn dies glückt – das heißt die entsprechende Aufmerksamkeit und Valorisierung darauf gerichtet sind –, erscheint dieser Anspruch eingelöst: das Kunstwerk wird singularisiert. Einen Allgemeinheitsanspruch erhebt das Kunstwerk jedoch nicht, noch könnte es dieses realisieren. Ein modernes Kunstwerk kann keine allgemeine ›Gültigkeit‹ erlangen wie eine politische Reform oder eine verbreitete technische Erfindung. Vielmehr betreibt das Kunstfeld ein Differenz- und Komplexitätsspiel von Singularitäten, die Singularitäten bleiben. Also: das Regime des Neuen III unterscheidet sich nicht nur darin vom Neuen I/II, dass hier das Neue kulturalisiert bzw. ästhetisiert wird, sondern auch darin, dass sich hier eine soziale Logik der Singularisierung institutionalisieren lässt. Innerhalb dieser Logik lassen sich jedoch zwei Formen von Singularitäten unterscheiden, die zwei verschiedenen zeitlichen Strukturen entsprechen: Auf der einen Seite befinden sich jene, die nur kurz existieren und im weiteren Zeitverlauf verschwinden. Dies sind einmalige Novitäten in ihrer Moment- und Gegenwärtigkeit: Youtube-Videos, Hits der Popmusik, Bestseller der Saison, kurzfristig gehypte Reiseziele, Politiker oder Restaurants. Das zugehörige Phänomen ist, allgemein gesagt, das der Mode. Etwas Neues erlangt kurzfristig Singularitätsstatus, erscheint wertvoll, ästhetisch reizvoll, positiv affizierend – und ›verglüht‹ dann wieder, das heißt, es vermag diesen Singularitätsstatus nicht dauerhaft zu halten. Es wird abgelöst durch neue Novitäten, die wiederum faszinieren und einzigartig erscheinen. Auf dieser Ebene lässt sich ein endloser Zyklus immer neuer Novitäten beobachten. Auf der anderen Seite gibt es jedoch jene Singularitäten, denen es gelingt, ihren Einzigartigkeitsstatus (ihr Singularitätskapital) auf Dauer zu stellen. Dies sind Novitäten, die im Laufe der Zeit den Status eines Klassikers erreichen. Über den kurzfristigen Reiz der Anfangsaufmerksamkeit hinaus werden sie valorisiert. Dabei verlieren sie keineswegs ihren Charakter als Singuläres und gehen nicht ins Register des Allgemeinen über: Literaturklassiker, Designklassiker, Reiseklassiker, anerkannte Wohnorte, Festivals oder Universitäten mit hohem symbolischen Wert, berühmte Persönlichkeiten der Vergangenheit etc. – in diesen Fällen wird Singularität reproduziert und auf Dauer gestellt (was allerdings keine Ewigkeitsgarantie enthält).

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Die Frage stellt sich, ob diese zweite Ebene, jene der Langfristigkeit und der Singularitätsakkumulation, im Unterschied zur ersten, jener der Kurzfristigkeit und der momenthaft singulären Novität, noch als Teil des Kreativitätsdispositivs zu verstehen ist. Dies hängt davon ab, wie weit man das Konzept des sozialen Regimes des (kulturell/ästhetisch) Neuen versteht. Fasst man es eng, müsste man feststellen, dass es bei der langfristigen Singularitätsreputation nicht mehr um Neues geht: Prämiert wird hier in einem unmittelbaren Sinne das Alte, das, was in der Vergangenheit in die Welt gesetzt wurde. So verstanden, sind die Mechanismen der kulturellen Singularisierung umfassender als jene des Kreativitätsdispositivs. Letzteres würde dann allein jenen Komplex umfassen, in dem die Novitäten einander ablösen. Auf diesem Wege würde man jedoch künstlich die beiden parallelen Zeitstrukturen der Kurz- und Langfristigkeit voneinander abtrennen, die tatsächlich aber die Kultursphäre gerade als Doppel prägen. Dies wäre analytisch unklug. Stattdessen sollte man genauer betrachten, wie im Zuge der Klassikerbildung mit dem Regime des Neuen umgegangen wird. Denn eigentlich wird dieses hier keineswegs durch ein Regime des Alten abgelöst, so wie man es etwa im Falle kulturessenzialistischer Bewegungen findet: Dort wird das Alte – die Tradition in ihrer Ursprünglichkeit, zum Beispiel die ›fundamentals‹ einer Religion – per se prämiert, das Neue erscheint hingegen in der Regel als überflüssig oder schädlich. Im kulturell-kreativen Komplex der (Spät-)Moderne hingegen wird nicht das Alte per se prämiert. Prämiert wird das Neue als das Singuläre. Wenn das Singuläre auf Dauer als solches anerkannt wird, ist es nämlich nur vordergründig das Alte, sondern vielmehr das ehemals Neue, das Neue der Vergangenheit. In der Singularität, welche erstmals in der Vergangenheit auftauchte, ist auch in der Gegenwart gewissermaßen immer noch das faszinierende Moment enthalten, als es in der Gegenwart neu war und man die Singularität ›entdeckt‹ hat. Caravaggio oder Thomas Pynchon, Brasilia oder die Rolling Stones – ihr Singularitätsstatus in der heutigen Gegenwart schließt ein, dass sie in ihrer Entstehungszeit als radikal ›neuartig‹ galten. Sie erscheinen somit auch aus der Gegenwartsperspektive als alles andere denn als unverbrüchliche Traditionen, sondern als kreative Leistungen, als Kreationen des Neuen. Dass sie altern, vermindert die Anerkennung der Kreativität in diesen Fällen nicht. Schaut man mit der Brille der Begrifflichkeit der sozialen Logik der Singularitäten, erkennt man damit schärfer die zeitliche Doppelstruktur von Moment und Dauer, von gegenwärtiger und vergangener Novität, die das spätmoderne Kreativitätsdispositiv prägt. Das exakte Verhältnis zwischen Kurz- und Langfristigkeit innerhalb des Dispositivs ist eine empirische Frage und hängt sehr vom sozialen Feld ab: Manche, wie die digitale Kultur mit ihren Texten und Bildern, leben von extremer Kurzfristigkeit, während in anderen wie der Bildenden Kunst, aber etwa auch dem angelsächsischen Hochschulsystem weiterhin eine Akkumu-

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lation von Singularitätskapital über sehr lange Zeiträume hinweg betrieben wird. In Die Erfindung der Kreativität habe ich die These stark gemacht, dass im historischen Vergleich zur bürgerlichen Moderne in der Kultursphäre der Spätmoderne die kurzfristige Novitätsorientierung eine deutlich stärkere Rolle spielt. Dazu haben nicht nur die digitale Revolution und der kulturelle Kapitalismus beigetragen, selbst im Feld der Künste (das eigentlich mittlerweile ein Teil des kulturellen Kapitalismus ist) findet sich dieser Bedeutungsgewinn der kurzfristigen Aufmerksamkeitsmobilisierung (Wechsel- und Sonderausstellungen, Festivals, Wandel des Buchmarkts etc.). Allerdings sollte darüber nicht übersehen werden, dass parallel dazu die Langfristigkeitslogik singulärer Güter – die ich in Die Gesellschaft der Singularitäten genauer betrachtet habe – fortbesteht. Mehr als das: Innerhalb des kulturellen Kapitalismus und innerhalb der Lebensführung der neuen Mittelklasse (sowie der neuen Oberklasse) spielen diese immer wieder neu angeeigneten Singularitätsklassiker, die Novitäten der Vergangenheit, die den Nimbus des wertvoll Originellen haben, eine zentrale Rolle bei der Kuratierung des eigenen Lebensstils als eines befriedigenden und prestigereichen. Gerade angesichts der Wirkmächtigkeit des Kreativitätsdispositivs mit seiner enormen Diffusion der gegenwärtigen Novitäten versprechen die anerkannten kreativen Leistungen der Vergangenheit besonderen Wert.

Autorinnen und Autoren

EMMANUEL ALLOA ist Research Leader in Philosophie an der Universität St.Gallen. ELENA BEREGOW ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie an der Universität Hamburg. TIMON BEYES ist Professor für Soziologie der Organisation und der Kultur an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Copenhagen Business School. MONICA CALCAGNO ist Assoziierte Professorin im Fachbereich Management der Ca’ Foscari Universität Venedig. HEINZ DRÜGH ist Professor für Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts und Ästhetik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. DANIELE GOLDONI ist Professor für die Ästhetik der Künste an der Ca’ Foscari Universität Venedig und im Master MASVIC (Venedig-Turin). DIRK HOHNSTRÄTER leitet die Forschungsstelle Konsumkultur an der Universität Hildesheim. MICHAEL HUTTER ist Professor emeritus für Theorie der Wirtschaft und ihrer Umwelt. CHRISTOPH JACKE ist Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik an der Universität Paderborn. VINCENT KAUFMANN ist Professor für Französische Literatur und Inhaber des Lehrstuhls »Medien und Kultur« an der Universität St.Gallen.

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Der Kreativitätskomplex

SOPHIE-THÉRÈSE KREMPL ist als Philosophin und Sozialwissenschaftlerin aktuell Mitglied der Theaterleitung am Konzert Theater Bern. MARTINA LEEKER ist Theater- und Medienwissenschaftlerin und Senior Researcher am Centre for Digital Cultures der Leuphana Universität Lüneburg. CLAUDIA MAREIS leitet das Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen sowie das Critical Media Lab an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel. JÖRG METELMANN ist Ständiger Dozent und Titularprofessor für Kulturund Medienwissenschaft an der an der Universität St.Gallen. CHRISTOPH MICHELS ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Architektur und Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein. BJÖRN MÜLLER lehrt und forscht als Unternehmer und internationaler Berater am Lehrstuhl für Organisationspsychologie der Universität St.Gallen. CLAUS PIAS ist Professor für Medientheorie und Mediengeschichte an der Leuphana Universität Lüneburg. SVERRE RAFFNSØE ist Professor für Philosophie an der Copenhagen Business School. ANDREAS RECKWITZ ist Professor für vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. MAXIMILIAN SCHELLMANN ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Copenhagen Business School. FLORIAN SCHULZ ist Leiter der Psychologischen Beratungsstelle der Universität St.Gallen und Post-Doc am Lehrstuhl für Organisationspsychologie. CHRIS STEYAERT ist Professor für Organisationspsychologie an der Universität St.Gallen. MONICA TITTON ist Soziologin, Modetheoretikerin und Kulturkritikerin und lebt in Wien.

Autorinnen und Autoren

PAOLA TREVISAN ist Marie Curie Postdoctoral Fellow an der Copenhagen Business School. WOLFGANG ULLRICH lebt und arbeitet als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Leipzig.

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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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