Poetologie der Stimmung: Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 9783839434338

With the publication of Goethe's `Werther' (1774), a new phenomenon found its way into the history of literatu

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German Pages 516 [518] Year 2016

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Inhalt
Einleitung
1. Ästhetische Stimmung: Gegenstand der Erkenntnis, theoretischer Begriff, methodische Herausforderung
2. Das Thema Stimmung in der Literatur- und Kulturwissenschaft
3. Zur aktuellen Lage der Stimmungsforschung und der Bedarf an Theoriebildung
4. Zum Ort vorliegender Arbeit innerhalb der Forschungsdiskussion. Das theoretische Profil und der praktische Zweck
5. Argumentationsskizze
6. Zum Methodenproblem in der Psychologie und die ‚nicht-ästhetische‘ Theoriebildung
7. Begriffsverwendung und Definitionsversuche in der Emotionsforschung. Das Desiderat einer (neu-)phänomenologischen Grundlagenreflexion
8. Bemerkungen zur historischen Semantik (Spitzer) von Stimmung, ihrer ästhetischen Begriffsgeschichte (Wellbery) und der philosophischen Ausrichtung (Wetz)
TEIL A. STIMMUNG UND METHODE: THEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXION UND HISTORISCHE PERSPEKTIVIERUNG
I. Systematische Orte der Stimmung in der philosophischen Existenzialanalytik und in der historischen Literaturanalyse
1. Das produktive Scheitern von Diltheys Konzeption der Stimmung und dessen Bedeutung für unsere theoretische Konturierung von Stimmung
2. Die ontologische Verortung von Diltheys vorsystematischem Begriff der Grundstimmung durch Heidegger
3. Kann Stimmung als philosophische Beziehungskategorie weitergedacht und literaturwissenschaftlich ‚in Gang gebracht‘ werden für die Vermittlung zwischen Textimmanenz und historischem Kontext?
4. Methodischer Ansatzpunkt, historischer Zugriffsort, anthropologische Weltoffenheit. Zur Heuristik poetologischer Hermeneutik
5. Das existenzial-ontologische Verständnis von Stimmung und die anthropo-topologische Phänomenalität des In-Seins von Dasein
II. Die phänomenologische Interpretation der Stimmung (Heidegger) und ihre poetologische Bedeutung
1. Gestimmte ‚Befindlichkeit‘, erschließende Geworfenheit und das Konstrukt vom schlechten Seienden
2. In-der-Welt-sein und Darstellen. Die Schnittstelle zwischen Existenz und Welt als Ausgang für historische Kontextualisierung
3. Weltberührung statt Welterschlossenheit Bedeutsamkeit und ‚Begegnenlassen‘ im philosophischen und im literarischen Text
4. Literarische Medialität ‚macht‘ Stimmung. Auch im Raum öffentlicher Rede erhält das Phänomen einen relationalen Status im Unterschied zu Affekten und Gefühlen
5. Was in der Philosophie als ontologische Struktur reflektiert wird, formt in der Literatur den Gegenstand ästhetischer Konfigurationen
III. Poetologische Theoretisierung der Stimmung und die methodische Ausrichtung des Begriffes
1. Verstehende Stimmung und gestimmtes Verstehen. Ein phänomenologisches Beziehungsverhältnis und sein kognitiv-mediales Eigenleben im Ästhetischen
2. Definition von Stimmung : Stufe I – die ästhetisch-phänomenale Stimmung
3. Ästhetisches Verstehen: die Funktionalisierung von Stimmung zur Kategorie poetologischer Analyse und historischer Reflexion
4. Definition von Stimmung:Stufe II – die poetologisch-explikative Stimmung
5. Stimmung als Medium von Wahrnehmung
6. Literatur als Medium von Stimmung
7. Literaturwissenschaftliche Theoretisierung der Medialität literarischer Stimmungen
8. Definition von Stimmung: Stufe III – die onto-mediologische Stimmung
IV. Historische Perspektivierung und Prämissen
1. Als die Stimmung in den Vordergrund trat. Literarische Texte und literaturgeschichtliche Kontexte
2. Ästhetische Explikation statt subjektiver Ausdruck. Das Reflexivwerden von Aufmerksamkeit und eine Skizze zum historischen Hintergrund
3. Poetik- und denkgeschichtliche Voraussetzungen. Der gefühlsästhetische Ansatz des jungen Herder
TEIL B. POETIK DER STIMMUNGEN: ANALYSEN EINES LITERARISCHEN PHÄNOMENS (1774-1800)
Werthers expansives Gefühl und die Phänomenologie von Stimmungen: Raumästhetik und Zeitstrukturen
I. Formen kultureller Selbstverständigung und emotionaler Mitteilung
1. Ein empfindsamer Briefroman ‚zur rechten Zeit‘ und die problematische Rede von Zeitstimmungen
2. Stimmung ist die Nachricht. Zur Kommunikation und Medialität in der Erzählform des Briefromans
II. Raum und Konfiguration
1. Von der Empfindung in der Seele zur Stimmung auf der Schwelle. Phänomenalität und poetische Weltbeziehung
2. Einstimmung auf sympathetische Verhältnisse und die Grundstimmung des Schwebens
3. Forschungs-, ästhetik- und geistesgeschichtliche Prämissen
4. Poetische Räumlichkeit. Von Entfernung und Näherung
5. Schwebend in der Gegend. Die konfigurative Stimmung als das literarisch Neue
6. Metaphorische Spiegel statt metaphysische Transzendenz. Wie das Gefühl aus Wahrnehmung Kunst macht – so macht die Stimmung aus Metaphysischem Ästhetisches
7. Stimmungspoetische Räumlichkeit. Das ästhetisch-phänomenale Grundbild eines im Außen schwebenden Inneren
8. Existenziales Einwohnen in Wahlheim und Bachtins Konzept des Chronotopos
9. Glückliche Gelassenheit. Zur kompositorischen Bedeutung der Chronotopoi
10. Die idyllische Initiation und ein poetisches Schibboleth. Die Stimmung wird zum ästhetisch-medialen Gestaltungsprinzip
III. Ästhetische Verfugungen von Raum und Zeit
1. Das Kontinuum und der Kontrast von Stimmung. Die Ereignishaftigkeit vertikaler Zeit und ihre Öffnung des Raums
2. Die Natur und das Ungeheuer. Kinetik und Ekstatik onto-topologischer Strukturen
3. Gefühlserinnerung und Umgebungszustand. Vom Heben der ‚Seele über sich selbst‘
4. Ein neues Verstehen von Liebe. Das gelichtete Lieblingsplätzchen am Ort des Anderen
5. Urstimmung und Todesahndung. Narrative Hyperbolik diesseits und jenseits des Begehrens
6. Der Leseakt und sein Verstehensvollzug. Figuren der Stimmung und ihre ästhetische Matrix
IV. Fazit – Raumästhetik, Übertragungsdynamik und Weltbeziehungen
Hartknopfs Überschreitung empfindsamer Stimmungen: Musikästhetik und Allegorisierung von Selbst-Welt-Harmonie
I. Empfindsame Konstellationen
1. Einleitung – von der psychologischen Fallgeschichte zum allegorischen Stimmungsroman
2. Der Erzähler als empfindsamer Freund. Das Lebensganze des Helden. Erinnerungen an Gesprächssituationen. Die Funktionen des Satirischen und der Stimmung
3. Von Aufschwüngen ins Gefühlspathos zur satirischen Hyperbel. Atmosphärische Stimmungsagenten. Silent Conversation von Gleichgestimmten
II. Das Welt-Ideal der Sphärenharmonie und seine Übertragung in Stimmungen
1. Einsamkeit, Abschied und Vergänglichkeit. Spekulationen über Unsterblichkeit. Die Einführung von Musik und Sphärenharmonie
2. Existenzialer Raum statt psychologische Subjektivierung. Auf der Schwelle zwischen Disposition und Berührung. Verbindungsglied zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik
3. Von der Kunstwerk-Leben-Analogie zur Satire über empfindsame Stimmungsarrangements
4. Kritik an der Aufklärung und Rückgriff auf die Antike. Die Idee einer Remusikalisierung der Weltbeziehung
5. Resonanzerfahrung und Kommunikationsmedium. Durch ‚wohltätige Stimmung‘ zu ‚neuer Schöpfung‘. Die Integration der Genieästhetik in die Autonomieästhetik
6. Die Aktualisierung von Sphärenharmonie und die Funktion der Musik. Gedanken als Stimmungen atmen. Zwischen Umgebungsqualitäten und Gefühlsdisposition
7. Ästhetik der Töne. Die emotionell-ideelle Übergängigkeit von ‚Stimmung‘ und ihre literaturgeschichtliche Analysedimension
8. Historische Abfolgen und Kontinuitäten. Zwischen Herders „allgemeiner Musikalischer Ästhetik“ und Moritz' literarischem Exkurs zur Musikästhetik
9. Wohlabgestimmtheit und Wohltemperiertheit. Musik und Poesie in Wielands Musarion. Ästhetische Entfaltung eines Ideenpotenzials und die Kraft der Übertragung
III. Ästhetische Transfiguration der Harmonie. Von der Stimmung der Seele zum Roman als Allegorie
1. Zwischen Empfindsamkeit und Klassik. Stimmung als Drehscheibe zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik
2. Über die Allegorie und das Fragmentarische. Zur Form von Andreas Hartknopf. Eine Allegorie
3. Das ungestimmte Kirchenschiff. Die Predigt als autonomes Kunstwerk. Eine intermediale Konfiguration im dritten Raum. Zu Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790)
IV. Exkurs – Weitere Beispiele ästhetischer Stimmungen in Textpassagen aus deutscher Erzählprosa bis 1800
1. Jean Pauls Hesperus und Schillers ‚freie Stimmung‘
2. Nuancierungen durch atmosphärische und intermediale Metaphorik in Jean Pauls Titan (1800)
3. Erzählen von Erotik und Diskurse über Kunst. Stimmungsszenen in Wilhelm Heinses Ardinghello oder die glückseligen Inseln (1785)
4. Heinses Form der Darstellung ‚höchsten Lebens‘. Seitenblick auf Moritz’ Die neue Cecilia (1794)
Stimmungen im Drama und die Verstimmung im Abschied. Die weitere Entwicklung bei Ludwig Tieck
I. Konflikte und Stimmungen. Die Tragödie, Lessing und die Dramen des Sturm und Drang
II. Tragische Verstimmungen. Analyse von Ludwig Tiecks Tragödie Der Abschied
1. Das verstimmte Klavier und die Logik der ehelichen Konfliktvermeidung
2. Antizipation des Lebensganzen und die Landschaftsidylle als erinnerte Stimmung
3. Dissens und Diskordanz. Theatralisches Sichtbarwerden von Gefühlen
4. Von der Verdichtung von Stimmungen als dramatischem Prinzip zu einer Art Gesamtstimmung
5. Der Wind und das Schauerliche. Räume des Innen, Außen und Zwischen
III. Die intermediale Anfangskonfiguration. Die weitere Entwicklung der Stimmung im Werk Tiecks. Seine Lyrik in der Frühromantik
Schluss
Literatur
Zitierweise
Siglen
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Poetologie der Stimmung: Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit
 9783839434338

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Stefan Hajduk Poetologie der Stimmung

Lettre

Für M.

Stefan Hajduk (Dr. phil., M.A.) ist Lecturer in German Studies an der University of Adelaide, Australien. Seine Forschungsgebiete sind Ästhetik, Interkulturalität und die deutsche Literatur vom 18.-21. Jahrhundert.

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit

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Inhalt

Einleitung | 11

1. Ästhetische Stimmung: Gegenstand der Erkenntnis, theoretischer Begriff, methodische Herausforderung | 11 2. Das Thema Stimmung in der Literatur- und Kulturwissenschaft | 17 3. Zur aktuellen Lage der Stimmungsforschung und der Bedarf an Theoriebildung | 24 4. Zum Ort vorliegender Arbeit innerhalb der Forschungsdiskussion. Das theoretische Profil und der praktische Zweck | 30 5. Argumentationsskizze | 33 6. Zum Methodenproblem in der Psychologie und die ‚nicht-ästhetische‘ Theoriebildung | 37 7. Begriffsverwendung und Definitionsversuche in der Emotionsforschung. Das Desiderat einer (neu-)phänomenologischen Grundlagenreflexion | 43 8. Bemerkungen zur historischen Semantik (Spitzer) von Stimmung, ihrer ästhetischen Begriffsgeschichte (Wellbery) und der philosophischen Ausrichtung (Wetz) | 51

TEIL A STIMMUNG UND METHODE: THEORETISCHE GRUNDLAGENREFLEXION UND HISTORISCHE P ERSPEKTIVIERUNG I. Systematische Orte der Stimmung in der philosophischen Existenzialanalytik und in der historischen Literaturanalyse | 61

1. Das produktive Scheitern von Diltheys Konzeption der Stimmung und dessen Bedeutung für unsere theoretische Konturierung von Stimmung | 61 2. Die ontologische Verortung von Diltheys vorsystematischem Begriff der Grundstimmung durch Heidegger | 67 3. Kann Stimmung als philosophische Beziehungskategorie weitergedacht und literaturwissenschaftlich ‚in Gang gebracht‘ werden für die Vermittlung zwischen Textimmanenz und historischem Kontext? | 73 4. Methodischer Ansatzpunkt, historischer Zugriffsort, anthropologische Weltoffenheit. Zur Heuristik poetologischer Hermeneutik | 81 5. Das existenzial-ontologische Verständnis von Stimmung und die anthropo-topologische Phänomenalität des In-Seins von Dasein | 91

II. Die phänomenologische Interpretation der Stimmung (Heidegger) und ihre poetologische Bedeutung | 97

1. Gestimmte ‚Befindlichkeit‘, erschließende Geworfenheit und das Konstrukt vom schlechten Seienden | 97 2. In-der-Welt-sein und Darstellen. Die Schnittstelle zwischen Existenz und Welt als Ausgang für historische Kontextualisierung | 102 3. Weltberührung statt Welterschlossenheit Bedeutsamkeit und ‚Begegnenlassen‘ im philosophischen und im literarischen Text | 108 4. Literarische Medialität ‚macht‘ Stimmung. Auch im Raum öffentlicher Rede erhält das Phänomen einen relationalen Status im Unterschied zu Affekten und Gefühlen | 113 5. Was in der Philosophie als ontologische Struktur reflektiert wird, formt in der Literatur den Gegenstand ästhetischer Konfigurationen | 118 III. Poetologische Theoretisierung der Stimmung und die methodische Ausrichtung des Begriffes | 127

1. Verstehende Stimmung und gestimmtes Verstehen. Ein phänomenologisches Beziehungsverhältnis und sein kognitiv-mediales Eigenleben im Ästhetischen | 127 2. Definition von Stimmung : Stufe I – die ästhetisch-phänomenale Stimmung | 133 3. Ästhetisches Verstehen: die Funktionalisierung von Stimmung zur Kategorie poetologischer Analyse und historischer Reflexion | 136 4. Definition von Stimmung:Stufe II – die poetologisch-explikative Stimmung | 142 5. Stimmung als Medium von Wahrnehmung | 146 6. Literatur als Medium von Stimmung | 151 7. Literaturwissenschaftliche Theoretisierung der Medialität literarischer Stimmungen | 154 8. Definition von Stimmung: Stufe III – die onto-mediologische Stimmung | 160 IV. Historische Perspektivierung und Prämissen | 165

1. Als die Stimmung in den Vordergrund trat. Literarische Texte und literaturgeschichtliche Kontexte | 165 2. Ästhetische Explikation statt subjektiver Ausdruck. Das Reflexivwerden von Aufmerksamkeit und eine Skizze zum historischen Hintergrund | 175 3. Poetik- und denkgeschichtliche Voraussetzungen. Der gefühlsästhetische Ansatz des jungen Herder | 184

TEIL B P OETIK DER STIMMUNGEN: ANALYSEN EINES L ITERARISCHEN P HÄNOMENS (1774-1800) Werthers expansives Gefühl und die Phänomenologie von Stimmungen: Raumästhetik und Zeitstrukturen I. Formen kultureller Selbstverständigung und emotionaler Mitteilung | 199

1. Ein empfindsamer Briefroman ‚zur rechten Zeit‘ und die problematische Rede von Zeitstimmungen | 199 2. Stimmung ist die Nachricht. Zur Kommunikation und Medialität in der Erzählform des Briefromans | 207 II. Raum und Konfiguration | 221

1. Von der Empfindung in der Seele zur Stimmung auf der Schwelle. Phänomenalität und poetische Weltbeziehung | 221 2. Einstimmung auf sympathetische Verhältnisse und die Grundstimmung des Schwebens | 229 3. Forschungs-, ästhetik- und geistesgeschichtliche Prämissen | 234 4. Poetische Räumlichkeit. Von Entfernung und Näherung | 240 5. Schwebend in der Gegend. Die konfigurative Stimmung als das literarisch Neue | 247 6. Metaphorische Spiegel statt metaphysische Transzendenz. Wie das Gefühl aus Wahrnehmung Kunst macht – so macht die Stimmung aus Metaphysischem Ästhetisches | 253 7. Stimmungspoetische Räumlichkeit. Das ästhetisch-phänomenale Grundbild eines im Außen schwebenden Inneren | 263 8. Existenziales Einwohnen in Wahlheim und Bachtins Konzept des Chronotopos | 269 9. Glückliche Gelassenheit. Zur kompositorischen Bedeutung der Chronotopoi | 275 10. Die idyllische Initiation und ein poetisches Schibboleth. Die Stimmung wird zum ästhetisch-medialen Gestaltungsprinzip | 280 III. Ästhetische Verfugungen von Raum und Zeit | 289

1. Das Kontinuum und der Kontrast von Stimmung. Die Ereignishaftigkeit vertikaler Zeit und ihre Öffnung des Raums | 289 2. Die Natur und das Ungeheuer. Kinetik und Ekstatik onto-topologischer Strukturen | 293 3. Gefühlserinnerung und Umgebungszustand. Vom Heben der ‚Seele über sich selbst‘ | 298 4. Ein neues Verstehen von Liebe. Das gelichtete Lieblingsplätzchen am Ort des Anderen | 303

5. Urstimmung und Todesahndung. Narrative Hyperbolik diesseits und jenseits des Begehrens | 311 6. Der Leseakt und sein Verstehensvollzug. Figuren der Stimmung und ihre ästhetische Matrix | 317 IV. Fazit – Raumästhetik, Übertragungsdynamik und Weltbeziehungen | 323

Hartknopfs Überschreitung empfindsamer Stimmungen: Musikästhetik und Allegorisierung von Selbst-Welt-Harmonie I. Empfindsame Konstellationen | 331 1. Einleitung – von der psychologischen Fallgeschichte zum allegorischen Stimmungsroman | 331 2. Der Erzähler als empfindsamer Freund. Das Lebensganze des Helden. Erinnerungen an Gesprächssituationen. Die Funktionen des Satirischen und der Stimmung | 339 3. Von Aufschwüngen ins Gefühlspathos zur satirischen Hyperbel. Atmosphärische Stimmungsagenten. Silent Conversation von Gleichgestimmten | 344 II. Das Welt-Ideal der Sphärenharmonie und seine Übertragung in Stimmungen | 351

1. Einsamkeit, Abschied und Vergänglichkeit. Spekulationen über Unsterblichkeit. Die Einführung von Musik und Sphärenharmonie | 351 2. Existenzialer Raum statt psychologische Subjektivierung. Auf der Schwelle zwischen Disposition und Berührung. Verbindungsglied zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik | 358 3. Von der Kunstwerk-Leben-Analogie zur Satire über empfindsame Stimmungsarrangements | 365 4. Kritik an der Aufklärung und Rückgriff auf die Antike. Die Idee einer Remusikalisierung der Weltbeziehung | 369 5. Resonanzerfahrung und Kommunikationsmedium. Durch ‚wohltätige Stimmung‘ zu ‚neuer Schöpfung‘. Die Integration der Genieästhetik in die Autonomieästhetik | 373 6. Die Aktualisierung von Sphärenharmonie und die Funktion der Musik. Gedanken als Stimmungen atmen. Zwischen Umgebungsqualitäten und Gefühlsdisposition | 381 7. Ästhetik der Töne. Die emotionell-ideelle Übergängigkeit von ‚Stimmung‘ und ihre literaturgeschichtliche Analysedimension | 385 8. Historische Abfolgen und Kontinuitäten. Zwischen Herders „allgemeiner Musikalischer Ästhetik“ und Moritzʼ literarischem Exkurs zur Musikästhetik | 389

9. Wohlabgestimmtheit und Wohltemperiertheit. Musik und Poesie in Wielands Musarion. Ästhetische Entfaltung eines Ideenpotenzials und die Kraft der Übertragung | 392 III. Ästhetische Transfiguration der Harmonie. Von der Stimmung der Seele zum Roman als Allegorie | 399

1. Zwischen Empfindsamkeit und Klassik. Stimmung als Drehscheibe zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik | 399 2. Über die Allegorie und das Fragmentarische. Zur Form von Andreas Hartknopf. Eine Allegorie | 404 3. Das ungestimmte Kirchenschiff. Die Predigt als autonomes Kunstwerk. Eine intermediale Konfiguration im dritten Raum. Zu Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790) | 408 IV. Exkurs – Weitere Beispiele ästhetischer Stimmungen in Textpassagen aus deutscher Erzählprosa bis 1800 | 413

1. Jean Pauls Hesperus und Schillers ‚freie Stimmung‘ | 413 2. Nuancierungen durch atmosphärische und intermediale Metaphorik in Jean Pauls Titan (1800) | 417 3. Erzählen von Erotik und Diskurse über Kunst. Stimmungsszenen in Wilhelm Heinses Ardinghello oder die glückseligen Inseln (1785) | 420 4. Heinses Form der Darstellung ‚höchsten Lebens‘. Seitenblick auf Moritz’ Die neue Cecilia (1794) | 427

Stimmungen im Drama und die Verstimmung im Abschied. Die weitere Entwicklung bei Ludwig Tieck I. Konflikte und Stimmungen. Die Tragödie, Lessing und die Dramen des Sturm und Drang | 431 II. Tragische Verstimmungen. Analyse von Ludwig Tiecks Tragödie Der Abschied | 437

1. Das verstimmte Klavier und die Logik der ehelichen Konfliktvermeidung | 439 2. Antizipation des Lebensganzen und die Landschaftsidylle als erinnerte Stimmung | 444 3. Dissens und Diskordanz. Theatralisches Sichtbarwerden von Gefühlen | 448 4. Von der Verdichtung von Stimmungen als dramatischem Prinzip zu einer Art Gesamtstimmung | 452 5. Der Wind und das Schauerliche. Räume des Innen, Außen und Zwischen | 456

III. Die intermediale Anfangskonfiguration. Die weitere Entwicklung der Stimmung im Werk Tiecks. Seine Lyrik in der Frühromantik | 461 Schluss | 469 Literatur | 479 Zitierweise | 512 Siglen | 513

Einleitung

1. ÄSTHETISCHE S TIMMUNG : G EGENSTAND DER E RKENNTNIS , THEORETISCHER B EGRIFF , METHODISCHE H ERAUSFORDERUNG Stimmung zum Thema einer wissenschaftlichen Arbeit zu machen, kann immer noch überraschend oder etwas irritierend wirken. Wohl weniger obwohl, eher weil das Wort Stimmung so alltäglich, beiläufig und selbstverständlich klingt. Jeder kennt Stimmungen und meint mit ihren Höhen und Tiefen, vor allem aber ihren weniger merklichen Mittellagen allzu vertraut zu sein. Gerade diese Natürlichkeit ihres Vorkommens und scheinbare Offenkundigkeit ihres Wesens macht sie indes kulturwissenschaftlich interessant, um nicht zu sagen phänomenologisch verdächtig. Stimmung löst im gegenwärtigen Themenmilieu der Humanwissenschaften den Fahndungsimpuls nach Einschließung von Disparatem aus. Beginnt man nach der Stimmung nur etwas eindringlicher zu fragen, kommt hinter einem Dickicht transsubjektiv ausfransender Gefühlstexturen ein beinahe Nichts zur Erscheinung – oder: ein näher bestimmtes Etwas kaum zur Erscheinung. Es ist mit der Stimmung etwas wie mit dem notorischen Wald, der vor lauter Bäumen nicht gesehen werden kann; oder wie mit dem epistemischen Ding, das verfahrenstechnisch konstruiert werden muss, um untersuchbar zu sein; oder wie mit dem ästhetischen Gegenstand, der erst durch reflektierende Entfernung hervorgebracht wird. Stimmung muss hinreichend entfernt sein – wie dies in ihrer ästhetischen Objektivierung der Fall ist – um verstanden werden zu können. Und doch setzt ihr Verstandenwerden das Eintreten des Verstehens in seinen eigenen Nahbereich, ja ein theoretisches Sich-Hinterschreiten auf die eigenen Ermöglichungsbedingungen voraus. Dass letztere ausgerechnet auf einem prätranszendentalen Feld wuchern, ist ein erkenntnistheoretisch unangenehmer Umstand. Entzieht sich doch mit der Stimmung das als Grundlage begrifflichen Verstehens erst zu Begreifende ins Vorbegriffliche. Bei Kant ist dies noch kein Problem, da nicht sie Gegenstand der Erkenntnis ist. Der Entzug der Stimmung ist durch ihre Integration in die Fakultätenlehre vermieden, wo sie als Vermittlerin zwischen Verstand und Einbildungskraft gerade wegen ihrer noch nicht begrifflichen und nicht mehr nur sinnlichen Zwittergestalt eingeführt wird. Ungeachtet dieses ersten philosophischen Engagements der Stimmung im reflektierenden Spiel der ästhetischen Urteilsbildung wird Kants systematisches Ziel verfehlt, das Auseinanderfallen der Welt in die Reiche der

12 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

Natur und der Freiheit, des Sinnlichen und Übersinnlichen sowie der empirischen und transzendentalen Erfahrung zu verhindern. Mit der nach Kant um 1800 einsetzenden Stimmung verschließt sich der für eine heutige Phänomenästhetik der Stimmung entscheidende Rückgang auf das protopolare Feld komplexer Wahrnehmung und präsymbolischer Artikulationskräfte. Dieses aber ist für die poetische Rede ebenso konstitutiv wie es für die wissenschaftlich etablierten Sprachspiele einen Bereich des Unsagbaren markiert. Während die künstlerische Literatur ihre sprachliche Innovativität aus dieser subliminalen Wahrnehmungsbasis schöpft, bleibt deren Reichtum an aisthetischem Rohmaterial dem an symbolischen Operatoren haftenden Bewusstsein verschlossen. Mit dem dazu poetologisch aufzubereitenden Begriff der Stimmung wollen wir dieses urphänomenale Wahrnehmungsfeld aber für die Literaturwissenschaft erschließen. Dadurch soll diese in die Lage versetzt werden, ihren analytischen Umgang mit Literatur von einem phänomenadäquaten Denken in gleitenden Begriffen her zu entwickeln. Deren semantische Codierung muss fortlaufend offen für Revisionen sein, um den poetischen Präsenzformen der Wahrnehmungsvielfalt und ihren vorläufigen Bedeutungen gewachsen zu sein. Werden begriffsfeste Codes auch nur etwas gelockert, die symbolischen Operationsformen aufgeweicht und mit ihnen die Regeln der Sprachspiele zumindest versuchsweise suspendiert, droht allerdings ein Kollaps des argumentationsfähigen Diskurses. Indes gilt auch für den wahrnehmungsphänomenologisch vorgehenden Literaturwissenschaftler: Wer die sprachlich kontrollierte Bewusstseinsschleuse auch nur etwas öffnet, muss mit einer Flutung durch Sinneseindrücke, Wahrnehmungsüberfülle und Vorstellungsinhalte gefasst sein. Hier zu vermitteln soll Aufgabe der Stimmung sein. Ihr Einsatz als poetologischer Begriff dient wie eine Schleusenkammer, die zwischen dem Wahrnehmungs-Oberwasser und dem Sprache-Unterwasser den Verkehr vom Aisthetischen zum Symbolischen und zurück reguliert. Die poetologische Schleusung durch die Stimmung ermöglicht zwar keinen semantischen Transport wie etwa die poetische Übertragungsleistung der Metapher. Jedoch gewährleistet sie eine hermeneutische Übersetzung – bildlich: technische Übersetzung – vom nicht-verbalen Überfließen der sinnlichen Wahrnehmung zum sprachlichen Artikulationsniveau des Bewusstseinsstromes bis hinein in dessen begriffliche Kanalisierung im wissenschaftlichen Diskurs. Die Umständlichkeit dieses Vergleichs mit dem antiquierten Bildbereich einer technischen Konstruktion samt mechanischer Funktionsweise ist sicher auch Ausdruck der Unzulänglichkeit unserer bisherigen Begriffsbildung in aestheticis. Dem abzuhelfen dient der hier vorgelegte Versuch, die Stimmung als ästhetischen Begriff, also die Wahrnehmung in und von Kunst betreffend, sowie als poetologischen Begriff, also die Struktur von und den Bezug auf Literatur betreffend, einzuführen. Mit diesem Ziel rückt die ihrerseits für Erkenntnis grundlegende Stimmung zunächst in die Position eines Gegenstandes der Erkenntnis. Wir sind oben en passant von der Annahme ausgegangen, dass die symbolisch operierenden, sprachlich codierten Vorgänge des Verstehens, erst recht die bewusstseinsmäßig zugängliche und begriffliche Ebene des Verstandes auf einem phänomenologischen Grund der Wahrnehmung aufruhen. Dieser ist ihnen nicht verfügbar, in seinem Einfluss auf sie undurchschaubar, aber unzweifelhaft als wahrnehmungssinnliche Basis die Voraussetzung von Erkenntnis. Da die Stimmung dieser mit intellektuellen Hausmitteln nicht

E INLEITUNG

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zu erhellenden Sphäre der Kognition angehört, erfolgt die Erkenntnis derselben über eine Bezugnahme der Erkenntnis auf eine ihrer eigenen Voraussetzungen. Wie mit der Stimmung als Gegenstand der Erkenntnis dieselbe reflexiv wird, so wird auch das Verstehen von literarisierter Stimmung von einer reflexiven Wirkung erfasst. Verstärkt wird letztere noch dadurch, dass die Stimmung in der Literatur bereits als eine ihr Subjekt überkommende Reflexionserfahrung dargestellt wird. Hierin liegt – soviel sei vorweggenommen – der ästhetisch innovative Grund für die sensationelle Wirkung der Leiden des jungen Werthers auf seine zeitgenössischen Leser, wie auch der immerhin noch möglichen Wirkung auf den heutigen Leser. Gewissermaßen dem anti-intellektualistischen Vorbehalt Werthers entsprechend muss unser theoretisches Verstehenwollen der Stimmung sich davor hüten, in die diskursive Falle einer Fokussierung aufs Kognitive zu tappen, die mit dem Reflexivwerden des Verstehens aufgestellt ist. Denn wir wollen Stimmung vornehmlich nicht erkenntnis- und wahrnehmungstheoretisch oder allgemein, sondern ästhetiktheoretisch und speziell untersuchen. Anthropologisch muss die Stimmung dafür nur soweit erhellt werden, dass wir mit ihrem Verständnis an den Phänomenreichtum herankommen, wie er über die sprachliche Darstellung von Stimmung in Literatur prinzipiell zugänglich ist. Deshalb ist unser Theorieentwurf zur Stimmung heuristisch und funktional ausgerichtet. Er skizziert nur deren grundlegende Phänomenschemata entlang der cartesisch-methodischen Erkenntnisperspektive, wie sie für die diskursfähige Formulierung der ästhetischen Erkenntnisse durch Literaturwissenschaftler notwendig ist. Deren Gegenstand sind Konfigurationen von Wahrnehmungsphänomenen in der Literatur. Zumeist sind diese dort nicht mit dem Wort ‚Stimmung‘ eigens bezeichnet. Deren Phänomenbestand findet sich jedoch eingelassen in die Darstellungsformen der poetischen Sprache. In ihnen wird die Stimmung rhetorisch generiert und über ihre textuelle Organisation poetologisch entfaltet. In diesem Sinne sprechen wir von Stimmung als einem literarischen Phänomen. Ästhetisch ist diese Stimmung zu nennen, insofern sie erstens innerhalb eines Kunstwerks phänomenologische Wahrnehmungsvollzüge, Gefühle und Atmosphären darstellt. Und zweitens, da sie als literarisches Phänomen historisch lesbar und durch ihre Rezeption wiederum als Stimmung aktualisiert werden kann. Entsprechend ist das Erkenntnisinteresse unserer exemplarischen Textanalyse auf einen ästhetischen Gegenstand konzentriert. (siehe Stufe I der Definition von Stimmung in Kap. A-III.2) Darüber hinaus geht es unserer Arbeit um die Entwicklung des ästhetischen Begriffes Stimmung. Sie setzt mit der Reflexion dessen ein, was die Voraussetzung der ästhetischen Erkenntnis ist, nämlich die Beobachtung und die an diese anschließende Analyse des Textes. Diese Reflexion der eigenen Verfahrensweise hebt den ästhetischen Gegenstand Stimmung auf eine Reflexionsstufe, auf der Stimmung zum ästhetischen Begriff wird. Nämlich durch die methodisch reflektierte Anreicherung durch diejenigen Bedeutungen, die der Stimmung mit den aus Textanalysen gewonnen Ergebnissen zuwachsen. Aus dem ästhetisch empirischen Material der literarisch inszenierten Phänomenkonfigurationen entsteht allmählich die ästhetisch begriffliche Semantik von Stimmung. (siehe Stufe II der Definition von Stimmung in Kap. A-III.4) Jedoch vermag keine Reflexion ex post, auch nicht eine permanente Selbstreflexion noch während des methodischen Fortgangs, wie es zu Gadamers Forderungen gehört, eine vorab geleistete Reflexion darauf zu ersetzen, wonach überhaupt Ausschau gehalten wird oder werden könnte. Ohne jede theoretische Vorgabe ließen sich die äs-

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thetischen Konfigurationen in der Literatur gar nicht als solche der Stimmung identifizieren. Auch die ästhetische Erfahrung bei der Lektüre ließe sich nicht begründet als Stimmung ausweisen. Begriffliche Vorannahmen werden auch bei erklärter Theorieabstinenz, dann allerdings nicht explizit oder unreflektiert getroffen. Das hinsichtlich methodischer Voraussetzungen alte Dilemma zwischen Induktivem und Deduktivem führt Walter Benjamin sich und dem Leser in seiner Schrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels vor Augen, indem er Scheler zitiert. In dessen Untersuchung Zum Phänomen des Tragischen wird eine „kritische Ratlosigkeit“ exponiert, die auch für die heutige Forschung zum Phänomen der Stimmung fruchtbar zu machen wäre: „Wie ... ist ... vorzugehen? Sollen wir uns allerhand Beispiele des Tragischen, d.h. allerhand Vorkommnisse und Geschehnisse, von denen Menschen den Eindruck des Tragischen aussagen, zusammenstellen und dann induktorisch fragen, was sie denn ‚gemeinsam‘ haben? Das wäre eine Art induktorischer Methode, die auch experimentell unterstützt werden könnte. Indes dies würde uns noch weniger weiterführen als die Beobachtung unseres Ich, wenn Tragisches auf uns wirkt. Denn mit welchem Recht sollen wir den Aussagen der Leute das Vertrauen entgegenbringen, es sei auch tragisch, was sie so nennen?“ (Benjamin 1974, S. 219)

Dieses methodologische Problem wird uns noch bei unserem Blick auf die Erforschung von Stimmung in der experimentellen Psychologie wiederbegegnen und betrifft die Emotionsforschung insgesamt.1 Denn auch bei kulturwissenschaftlichen Ansätzen bleibt die Frage, woran sich an einer Erfahrung erkennen lässt, dass sie Stimmung ist und nicht etwa nur Emotion oder nur Atmosphäre, Gefühl oder Wahrnehmung? Muss man erst von seiner Gefühlswahrnehmung oder seinem Wahrnehmungsgefühl ergriffen werden, damit auch vom Phänomen und nicht nur vom Gefühl der Stimmung gesprochen werden kann?2 Wie verhalten sich Gefühl und Phänomen, Erfahrung und Begriff zueinander?3 Folgt die Suche nach Antworten hier der Kantschen Sentenz, wonach Begriffe ohne Erfahrung leer, Erfahrung ohne Begriffe aber blind seien, dann droht gerade dasjenige an der Stimmung verloren zu gehen, was sie als ästhetisches Phänomen ausmacht. Besteht doch der Erkenntniswert für die Literaturwissenschaft darin, mit Untersuchungen ästhetischer Stimmungskonfigurationen spezifisch Poetischem auf die Spur zu kommen, also gerade demjenigen, was sich seiner begrifflichen Erhellung entzieht. Indem Kunst ‚Erfahrung ohne Begriffe‘ zu objektivieren weiß, vermag 1

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Siehe zum seit den 1990er Jahren interdisziplinär anhebenden Forschungsinteresse an der Sphäre des Gefühls Benthien, Fleig und Kasten (Hg.) 2000; Reddy 2001; Anz 2006, 2007; den Themenband zu Emotionen und die Einleitung dazu von Kimmich und Schahadat 2009; Landweer und Renz 2008; das Spannungsfeld zwischen Kultur- und Naturwissenschaften vermessend Hammer-Tugendhat und Lutter 2010. Vgl. zum Problem der objektiven Bestimmung von Stimmung und deren Kennzeichnung als Phänomen Heidegger 2004, S. 89-103. Im fortlaufenden Text fortan zitiert in runden Klammern mit der Sigle GdM mit arabischer Seitenzahl, hier also GdM 89-103. Siehe hierzu und zum anthropologisch fundamentalen „Fühlen“ den konzisen Überblick von Böhme 1996a; mit Blick auf die kulturwissenschaftliche Germanistik Böhme 2002.

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sie immer neue Phänomendimensionen der Erfahrung zu entdecken. Dadurch können sogar bislang ‚leere Begriffe‘ mit Erfahrung gefüllt werden; gewöhnlich jedoch setzt die Arbeit am ästhetischen Begriff erst ein, nachdem die Kunst neues Erfahrungsmaterial für die kulturelle Weiterverarbeitung bereitgestellt hat. Eben dies ist – unserer These gemäß – historisch der Fall seit Goethes Die Leiden des jungen Werthers. In diesem „Büchlein“ (HA IX 589) werden bis dahin nonverbal gebliebene Nuancen des Gefühls, Kräftefelder zwischen Umgebungshaftem und Einsamkeit, Eigendynamiken zwischen ekstatischer Innerlichkeit und atmosphärischer Räumlichkeit sowie Augenblicke der Übergängigkeit zwischen Situativem und Ideellem in poetische Rede überführt. Dadurch artikulierte sich eine gesamtkulturelle Ausdrucksnot zu Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, wodurch der Bedarf an ästhetischer Reflexion und daran anschließender Begriffsarbeit nur noch erhöht wurde. Als eine Folge unter vielen tauchte schon bald die ‚Stimmung‘ auch als Begriff auf und begann sich in der gerade erst entstandenen Disziplin der Ästhetik und den ihr angrenzenden Diskursen zu dem zu entwickeln, was wir heute darunter verstehen. Dazu gehört, wenn es sich nicht in terminologischen Verfügungen verliert oder in klassifikatorischem Zugriff verflüchtigt, weiterhin Unverstandenes, definitorisch Überbordendes, begrifflich Unterdeterminiertes. Seit Diltheys philosophisch-psychologischer Vertiefung der Begriffstruktur von Stimmung und schließlich ihrer existenzial-phänomenologischen Grundierung durch Heidegger ist sie in die ontologische Nähe eines Ursprünglichen gerückt, das wir in einen poetologischen Kontext umbetten wollen. Was Benjamin in der Trauerspielstudie vom Ursprünglichen sagt, nämlich dass es sich im „nackten offenkundigen Bestand des Faktischen“ (S. 219) niemals zu erkennen gebe, gilt auch für die Stimmung selbst. Mehr als den Gemütszustand bezeichnet sie das Transitorische desselben, und wo sie Atmosphärisches meint, ist dessen ephemerer Charakter mitgemeint. Denn sie ist ein gleitendes Phänomen im Fluss des Werdens der Erscheinungen und der ihnen anhängenden Gefühle. Stimmung kennzeichnet pars pro toto das ursprünglich Gleitende des Komplexes aus Phänomenalem und Emotionalem und zeigt dies in der Literatur im ästhetischen Modus konfigurativer Suspensionen. In ihrem beständigen Wandel und mit all ihrer sinnlich geladenen Unbestimmtheit erinnert die Stimmung daran – und ihre ubiquitäre Verwendung in alltäglichen Lebenswelten scheint es zu beweisen –, dass Erfahrung ohne Begriffe durchaus nicht blind ist. Im Gegenteil macht sie die Diskontinuen spürbar, die zwischen der wahrnehmungssinnlichen Präsenzerfahrung und dem symbolisch operablen Verstehensvolumen, zwischen ästhetischer Rede und begrifflich Artikulierbarem und auch zwischen poetischer Sprache und literaturwissenschaftlichem Diskurs bestehen. Gerade weil die Stimmungserfahrung nicht nur nicht blind ist, sondern den Zugang zum Nunancenreichtum der Wahrnehmung in ihrer sinnlichen Gewissheit offenhält, könnte ihre Erforschung manche Begriffsleere im akademischen Umgang mit Literatur zu überwinden helfen. Dass die Stimmungserfahrung mit Blick auf die Literatur als Kunst eher sehend als blind zu machen verspricht, enthebt unsere Arbeit freilich keineswegs der Aufgabe, einen ästhetischen Begriff der Stimmung zu entwickeln. Ohne Begriffe lässt sich wohl aus Erfahrung Kunst und die Erfahrung von Kunst machen. Nicht aber kommt ohne Begriffe eine Verständigung über Kunst, deren Erfahrung

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oder auch nur ein Verstehen von Texten zustande. Erst recht ließe sich kein argumentativ gebetteter Diskurs über Stimmung in der Literatur führen. Allerdings gilt es – bei Strafe des Verlustes des Untersuchungsgegenstandes – sich bei der notwendigen Vorverständigung darüber, was Stimmung ist, vor einem Theorieüberschuss zu hüten, der gleichsam das aisthetische Surplus der Stimmung einholen oder es gar überbieten soll. Deshalb enthält unser funktionales Theoriedesign der Stimmung eine nur heuristische Definition von Stimmung. Erst sie ermöglicht Textinterpretationen am Leitfaden der Stimmung, der sich dabei seinerseits durch Gewährung neuer Einsichten bewähren muss. Angesichts des nach herkömmlichen Standards kaum theoriefähigen Etwas der Stimmung findet in kulturwissenschaftlichen Forschungskreisen immer wieder die Aufklärungssentenz des je ne sais quoi Verwendung. Unsere Forschungsarbeit kann nicht wissenschaftlich feststellen, was die Stimmung denn nun eigentlich ist. Sie will herausfinden, wie Stimmung im literarischen Text funktioniert und sie auf der Basis ihres poetologischen Verstehens zur Kategorie der Literaturästhetik qualifizieren. Die erste Analyse wird an einem Text durchgeführt, der in der Geschichte der Germanistik und ihrer Theorieparadigmen immer wieder ins Zentrum fachlicher Grundlagenreflexion rückt. Aber nicht deshalb wird Die Leiden des jungen des Werthers herangezogen und auch nicht, weil damit der Aufstieg deutscher Literatur zu europäischer Geltung gelingen sollte. Der Grund ist ein literatur- und ästhetikhistorischer: in Goethes Romanerstling wird die Stimmung erstmals zum poetologischen Prinzip, das eine – gemäß der scheinbaren Flüchtigkeit des Phänomens – Gestaltung leitet, die über ihre eigene Beherrschbarkeit hinaustreibt. Das Gestaltungsprinzip Stimmung gliedert den Text in seine zwei Bücher, deren Sukzession sie zu einer äußeren Einheit ergänzt. Diese wiederum wird von innen her durch den Widerstreit der Bücher in Form inhaltlicher Differenzen durchkreuzt. Denn das erste Buch entfaltet ein traditionell mit ‚Stimmung‘ anhebendes Harmonieverlangen, das durch die im zweiten Buch gestaltete Dissonanzerfahrung – wie sie zum dadurch modern anmutenden Bedeutungskomplex der Stimmung gehört – vereitelt, ernüchtert und verzwiespältigt wird. Indes wird die einfache Dualität der Komposition4 schon im gestalterischen Vollzug untergraben, indem Harmonie und Dissonanz in ihren Teilen vom je anderen durchsetzt sind. Dieses in sich Gegenläufige eines semantisch und phänomenal Komplexen, wie es der zunächst konventionell auftretende Briefroman der ästhetischen Erfahrung des Lesers zuspielt, legt die Spur zu Goethes neuer Poetologie der Stimmung. Andere Formen des Einrückens von Stimmung ins Zentrum poetologischer Textorganisation beobachten wir in Karl Philipp Moritz’ Andreas-Hartknopf-Romanen (1785/90), wo in Form von exkursiven Reflexionen historische Bedeutungsschichten der Stimmung für die allegorische Narration reaktiviert werden. An Ludwig Tiecks Der Abschied (1792) werden wir nachvollziehen, wie auch die Gattungsform der Tragödie aus einer in der Exposition konfigurierten Stimmung, die eine Verstimmung ist, das dramatische Handlungsgeschehen sich verselbständigen lässt. Die ab Mitte der 1790er Jahre 4

Mit der wiederholten Bezeichnung Komposition betonte Goethe den künstlerischen und auch fiktiven Charakter seines Werkes. Damit wollte er vor allem die lästigen und der Sache nach irreführenden Fragen nach der biographischen Realität parieren, die für die zeitgenössische Neugier unzweifelhaft den Gegenstand des Romans bildete.

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in Tiecks Erzählprosa eingeschalteten Gedichte zeigen dann den Weg der Stimmung zu ihrer vollen Entfaltung in der Romantik. Während dort auch die gegenwärtige Forschung die Stimmung als zentrales Moment der Lyrik ausmacht, ziehen wir die literaturgeschichtliche Linie nach, die dorthin von den Romanen Goethes und Moritz’ über Tiecks Drama führt.

2. D AS T HEMA S TIMMUNG IN K ULTURWISSENSCHAFT

DER

L ITERATUR - UND

In dem an Dilthey anschließenden literaturwissenschaftlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts kommt zunächst nicht der Sprache, sondern dem Subjekt das Primat in der Theoriebildung zu.5 Damit verbunden ist eine Problematik des Gebrauchs des Stimmungsbegriffs, welche auf die lebensphilosophischen Strömungen um 1900 insgesamt zurückgeht. Die an Schleiermachers Divinationslehre anschließende Hermeneutik der Einfühlung in historisch-biographische Erlebenshorizonte hat eine Individualisierung von Stimmung bewirkt, welche deren Semantik um ihre kommunikativen Anteile weitgehend verkürzt hat. Wer sich wie Dilthey in Dichter und Denker samt ihres Lebensgefühls und sogar über weite historische Abstände hinweg tief einzufühlen vermag, ist auf die interaktive Dimension des Stimmungsbegriffs, wie sie in den literarischen Werken selbst konfiguriert ist, nicht angewiesen. Diese hier stark vergröberte Position ist deshalb zu markieren, weil sie über die seinerzeit maßgebliche Auffassung Diltheys von geisteswissenschaftlicher Grundlegung und Methodik bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus wirkmächtig geblieben ist. Für den Stimmungsdiskurs sollte mit der Einfühlungshermeneutik für lange Zeit ein Problem verbunden sein und ist es bis heute, insofern Stimmung seit Jahrzehnten kein geisteswissenschaftliches Thema mehr – eher Anathema gewesen ist. Das Problem besteht aus unserer Sicht nicht darin, dass erlebnishafte Innerlichkeit in Gedichten oder etwa in rhythmischer Erzählprosa zum Ausdruck kommen und als solche interpretierbar sein soll. Das Problem besteht vielmehr darin, dass dies als allgemeines Einverständnis einfach vorausgesetzt wird, nämlich dass „Gemütserlebnisse“, der „stille Ablauf innerer Zustände“ oder Bewusstseinsinhalte umstandslos zu Textinhalten und -formen konvertieren und dem Interpreten prinzipiell zugänglich sind – wenn er nur hinreichend einfühlsam zu sein geneigt ist. (Walzel 1912, S. 41) Wie aber Psychisches zu Literarischem werden kann und wie textuell codierte Empfindungen, Gefühle oder Stimmungen vom Leser entziffert und ins Psychische re-transferiert werden könnten, das wurde kaum gezeigt und oft nicht einmal gefragt. Vereinfacht gesagt praktizierte die erlebnishermeneutische Deutungstradition als ihren Ausgangspunkt, was sich heute als Problem literaturwissenschaftlicher Erkenntnis darstellt.

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Siehe hierzu seine Schrift „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik (1887)“, in: Dilthey 1959-2005, Bd. VI, S. 103-241. Fortan werden Diltheys Gesammelte Schriften im laufenden Text zitiert mit der Sigle GS + römische Bandzahl + arabische Seitenzahl, hier also GS VI 103-241.

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Vor diesem Hintergrund zeichnet sich folgendes Bild für die germanistische Forschung im Umgang mit dem (1.) Thema und (2.) dem Begriff der Stimmung ab, wie er bis in die 1960er Jahre hinein nicht unüblich war: (ad.1.) Älteren Studien zum Thema Stimmungen in der deutschen Literatur haftet ein Mangel an methodologischer Selbstreflexion an. Dieser zeigt sich beispielsweise bei Lecke darin, dass er zunächst „Stimmung“ zutreffend im „poetischen Vorgang“ als „rezeptiv, produktiv und evokativ wirksam“ verortet. (Lecke, 1967, S. 9f.) Sie bezeichne aber „dabei eine vorerst nicht näher bestimmbare [...] Wechselbeziehung zwischen sich aussprechendem Autor und erlebtem Gegenstand“ (ebd.). In der Folge jedoch wird diese – wie es bezeichnenderweise auch gleich heißt, „vielleicht wesenhaft unbestimmte“ (ebd.) Wechselbeziehung nicht überzeugend zu erklären versucht. Der Grund dafür mag in dem Problemzusammenhang liegen, dass ein Verzicht auf systematischen Anspruch auch das Explikationspotential aushöhlt, welches in der im Prinzip richtigen „Orientierung am Stimmungsbegriff des 18. Jahrhunderts“ (ebd.) liegt. Entsprechend lehnt Lecke in seiner Einleitung „Gegenstand und Methode“ zwar die „Übertragung einer vorgefaßten oder aus der modernen Existenzphilosophie und Anthropologie hergeleiteten Definition“ (ebd.) ab. Im Folgenden kommt er jedoch kommentarlos auf diesen „modernen“ Stimmungsbegriff und auch seine theoretischen Vorbereitungen im 19. Jahrhundert zurück, da sich eine epochenimmanente „Orientierung am Stimmungsbegriff des 18. Jahrhunderts“ (ebd. 9, 11, 13, 17) nicht durchhalten lässt, ohne entscheidend an Deutungskraft zu verlieren. Zudem ist Leckes analytisches Vokabular („seelische Situation des Erlebenden“, des Künstlers) vielleicht immer noch zeitbedingt, aber auch unreflektiert der Diltheyschen Schule entlehnt. Dies mag an dieser Stelle als exemplarischer Hinweis auf die Art methodischer Probleme und systematischer Mängel in der älteren germanistischen Stimmungsforschung genügen. Allerdings sei der Wert dieser und weiterer Arbeiten aus dieser Forschungsphase hinsichtlich ihrer historischen Reichhaltigkeit und materialen Sondierungsleistung erwähnt.6 (ad. 2.) Ähnlich ist die Problematik des Begriffs der Stimmung gelagert, wenn man seine weit verbreitete, zumeist unzureichend reflektierte Verwendung in der germanistischen Forschung ins Auge fasst. Ich sehe dabei vom völkischen Stimmungsjargon der nationalsozialistischen Germanistik 7 mit ihren propagandistischen Instrumentalisierungen ab, wenngleich auch schwülstige Überbesetzungen von irrationalistischem Vokabular wie die erlebnisästhetische Aufbauschung von Stimmung begriffsgeschichtlich in Verbindung steht mit der Subjektivierung von Stimmung im deutschen Idealismus. Wir fokussieren stattdessen eine wichtige Station der literaturwissenschaftlichen Karriere, die Stimmung als Grundbegriff im akademischen Interpretationsbetrieb bis in die 1970er machte, bevor sie als solcher einem verwandelten Zeitgeist diskreditiert erschien und zu einer literaturtheoretischen ‚Leerstelle‘ wurde. 6 7

Zu nennen ist hier etwa Lüthi 1951. Hierzu die Sammelbände Gilman 1971; Reiß 1973 und Vondung 1973.

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Zu Beginn des Jahrhunderts ging Walzel als exemplarischer Vertreter der Dilthey-Schule noch von der Zusammengehörigkeit von Erlebnis und Stimmung aus, wenn er bezüglich lyrischem „Naturbild“ und „Einfühlung“ von der „Stimmung des Erlebnisses“ spricht, die „auch durch die Natur bedingt“ sei. 8 Im Zuge von Emil Staigers Kritik am Begriff ‚Erlebnis‘ rückt Stimmung nicht nur an dessen vakante Stelle, sondern übernimmt mit dessen Prominenz auch ein schwieriges literaturtheoretisches Erbe.9 Denn „in dem Begriff ‚Erlebnis‘ steckt ein Ich und eine Welt an sich. Beide kommen dann zusammen und bilden die erlebte Welt, die Welt, von der die Dichtung spricht“. (Staiger 1963, S. 14) Staiger versucht die im Erlebnisbegriff angelegte Schlagseite zum Ich hin, die er „als blossen Umweg, als künstliche Teilung eines Ganzen“ namhaft macht, aufzuheben zu dem, was er „die Welt des Dichters“ (ebd. 15) nennt. Da diese „im Wort vernehmlich wird“, lenkt Staiger die Aufmerksamkeit weg von den auf das erlebende Ich zentrierten biographischen und zeitgeschichtlichen Kontexten und hin „zum Werk, das uns allein als unmittelbarer Gegenstand gegeben ist“ (ebd.). Damit verbunden war ein Zurücktreten des auf die Werkentstehung bezogenen Begründungsanspruchs zugunsten eines ebenso emphatischen wie empathischen Mitvollzugs kunstwerkinterner Daseinsunmittelbarkeit. (Staiger 1959, S. 16 u.ö.) Da für letztere metaphorisch die Musik einsteht und verbunden mit dieser die Stimmung10, blieb an ihr jene eigentlich gegen den Erlebnisbegriff gerichtete Kritik haften und wurde zusammen mit diesem dem Vorwurf des Irrationalismus ausgesetzt. Dazu beigetragen haben sicherlich Formulierungen wie: „die allgemeine Stimmung, in die uns das Gedicht versetzt“, oder mehr noch: „In der Stimmung an und für sich, in ihrer Mächtigkeit“. (Staiger 1963, S. 29, 69) Sie unterschreiten dabei das von Staiger selbst angesetzte Niveau begrifflicher Differenziertheit, das auf die Gegenwendigkeit abhebt, welche der Stimmung innewohnt: denn in ihr sind wir „in ausgezeichneter Weise ‚draußen‘, nicht den Dingen gegenüber, sondern in ihnen und sie in uns“. (Staiger 1959, S. 46; vgl. 19) Die in Staigers literaturwissenschaftlicher Grundbegrifflichkeit angelegten Möglichkeiten eines phänomenologischen Umgangs mit poetischen Stimmungen werden allerdings durch die überzogene These, dass letztere 8

Walzel 1912, S. 49; weiter unten schwankt zudem die Stimmung zwischen Außen und Innen: „Der Eigenwert des Erlebnisses liegt in der scharf erfaßten und erfühlten Naturstimmung, die dem Erleber das Düstere und tieftraurig Schwermütige des eigenen Schicksals entgegenbringt. Mir aber [...] scheint größer, wer mit wenigen sicheren Strichen der Natur die Stimmung leiht, die der Gemütslage des Erlebnisaugenblicks entspricht“ (S. 54). 9 Hingegen betont Hans Ulrich Gumbrecht (2005) in seiner Besprechung von David Wellberys Lexikonartikel die Verwandtschaft von Erlebnis und Stimmung, die „ja ebenfalls auf Bewusstseinsinhalte verweist, die die Sprache nicht adäquat erfassen und mitteilen kann“. 10 Vgl. Staiger 1986: „Es gibt ein Wort, das ebenso die Musik wie die Poesie trifft: Stimmung. Schon Tieck hat die Stimmung als ahnungsvolle Einheit über das Viele gebreitet, mit höchstem romantischen Recht; denn wie wir von der Stimmung der Seele reden, ist in der Stimmung das Äußere und das Innere ununterscheidbar eins. In diesem Sinne stimmungsvoll ist auch die romantische Musik. Und als der unentbehrlichste Träger der Stimmung erweist sich die Harmonie, die in der Romantik eine neue, ungeahnte Bedeutung gewinnt.“ (S. 83)

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dem Dichter „eingegeben“ (ebd. 25) werden, weitgehend wieder verspielt. Staigers Bedeutung für die Erörterung der mit der Stimmung gestellten Methodenfrage hat in der gegenwärtigen Forschung Hans-Georg von Arburg aufgearbeitet, indem er dessen Position in einer Theoriedebatte (von 1950/51) mit Martin Heidegger und Leo Spitzer beleuchtet. (von Arburg/Rickenbacher 2012, S. 245-59) Es ist für den Niedergang der Stimmungskategorie im literaturtheoretischen Diskurs in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschlaggebend, dass die sie kennzeichnenden Strukturmomente einer dynamischen Verschränkung von Ich und Welt, des fließenden Übergangs von Innen und Außen oder der wechselseitigen Konstituierung von Subjekt und Natur in einem subjektivistischen Gebrauch stillgelegt, auf die Seite des Ich verschoben und weitgehend unkenntlich werden. So spricht Walter Killy mit Blick auf „die für Deutschland so folgenreiche Vermählung des Lyrischen mit dem so genannten Naturgefühl“ in der ‚Wertherzeit‘ zwar zunächst noch von einer Stimmung, „die dem empfindsamen Gemüte nicht weniger eigen ist als der empfundenen Natur“. (Killy 1972, S. 115) Jedoch sieht er in Herders „Mischung von objektiver Wahrnehmung und subjektiver Empfindung zum Zustand eines beide umfassenden traurigsüßen Gefühles“ (ebd.) bereits entdifferenzierende Tendenzen zur Trivialisierung des Lyrischen am Werk. Sie führen für Killy über Exzesse emotionaler Selbstinterpretationen, zu welchen Naturerscheinungen nur den Anlass geben, zum Kollaps lyrischer Realitätsdarstellung in der „Stimmungspoesie“. Letztere ist ihm der Name für eine aus einem historisch angestiegenen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung hervorgegangenen Lyrik und zugleich für deren qualitativen Absturz in sentimentales Sichbespiegeln des Ich zwischen Selbstgenuss und Selbstmitleid. „Nur Stimmung“ bezeichnet hier das schwärmerische Gegenteil von echter „Gefühlserfahrung“, steht für Auflösung des Ich statt „Reflexion“, für „Aufgehen im Gefühl“ anstelle einer „Bewältigung desselben“ (ebd. 123, 125). So abgehandelte Stimmung leitet über in die kitschigen Niederungen von „Trivialliteratur“ und „Schlagertext“ (ebd. 128). Hier wird verständlicher, wie die von Killy als typisch deutsches Phänomen kritisierte Stimmung seit den 1970er, spätestens 1980er Jahren zu einem Unwort in literaturwissenschaftlichen Kontexten werden konnte. Im Zuge der gegenwärtigen Wiederaufnahme des Themas wird geprüft, inwiefern diese Disqualifizierung der lyrischen Stimmung mit einer von der Forschung inzwischen revidierten Auffassung von der bloß „tränenreichen Empfindsamkeit“ sowie mit ihrer Einbettung in die Rezeption von Hegels Ästhetik zusammenhängt. 11 Dort nämlich erfährt Stimmung eine subjektivistische Vereinseitigung, die sich über Nachfolger wie Vischer fortsetzt und 11 Killy zitiert aus Hegels Ästhetik zur Erläuterung des „Begriffs von Lyrik [...], der Theorie und Praxis so lange beherrscht hat [...]: ‚Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hierfür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. Dann nämlich wird das Gemüth selbst, die Subjektivität als solche, der eigentliche Gehalt, so daß es nur auf die Seele der Empfindung und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt. Die flüchtigste Stimmung des Augenblicks, ... die ganze Stufenleiter der Empfindung wird hier in ihren momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfällen über die verschiedenartigsten Gegenstände festgehalten und durch das Aussprechen dauernd gemacht.‘ Es ist dies eine Theorie, welche den Ossian durchaus zu erklären vermag: sie entspricht dem Mangel an Bestimmtheit und Bedeutung, der dort zu finden ist“. (1972, S. 118)

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seinen Einfluss auf das Lyrikverständnis noch bei Kayser und Adorno erkennen lässt.12 Zur selben Zeit, als bereits die Vorbereitungsphase seiner Wiederkehr einsetzt, fällt der Tiefstand des Stimmungsthemas zusammen mit der Konjunktur an polemischen Wendungen oder Distanzierungsgesten gegenüber mit Stimmung assoziierten Traditionen poetischer Innerlichkeit und philosophischer Spekulation. Allerdings wird dann gerade der philosophische und darin nicht nur der ästhetische (i.S.v. kunstphilosophische) Diskurs über Stimmungen für deren systematische Bearbeitung fruchtbar gemacht. Aus diesem selbst heraus lässt sich die idealistische Bindung derselben ans „Gemüt“ differenzierter lesen wie auch die – nach gängiger Lesart – romantische Übergewichtung auf ihre geistig-räumliche Innenseite einer Revision unterziehen.13 Wegweisend hierfür ist die seit dem jungen Nietzsche nicht mehr nur spekulative, sondern zunehmend transgressive Hinwendung zu Denkformen des Anderen, des Leibes und des Außen, wie sie im 20. Jahrhundert von phänomenologischen, lebens- und existenzphilosophischen, poststrukturalen und ästhetiktheoretischen Konzepten entwickelt werden.14 In Weiterführung von Theorieentwürfen der Kritischen Theorie, die aus der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno) die (Ko-)Produktion von Irrationalität erklärt, und der historischen Diskursanalyse (Foucault), welche die in der Vernunftwerdungsgeschichte waltenden Steuerungsmechanismen von Machtdispositiven anhand der den menschlichen Körper betreffenden Ausgrenzungseffekte untersucht, sind es Hartmut und Gernot Böhme (1992) gewesen, welche mit rationalitätskritischem und psychohistorischem Denken am „Leitfaden des Leibes“15 die kulturelle Konstellation um 1800 neu beleuchten. In ihrer Nachfolge wendet sich seit Mitte der 1980er Jahre auch die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit dem lange Zeit als theorieunfähig ausgeblendeten und also wissenschaftlich unzugänglichen Bereich des Körpers und der Emotionalität zu.16 Zu seinem Themenkreis (Leib, Trieb, Sinne, Natur, Affekt, Empfindung, Gefühl, Begehren, Wunsch, Phantasie, Wahnsinn, Krankheit, Geburt, Kindheit, Geschlecht, Sexualität, Unbewusstes, Tod, Leben u.a.), in welchem sich ein kulturelles Bedeutungsspektrum der Wiederkehr des Verdrängten zusammensetzt, ist auch das Thema der Stimmung zu zählen. Ihr historisches Auftauchen aus der „anti-intellektualistischen Hauptströmung“ (Kondylis 1986, S. 287-356) des Aufklärungsrationalismus verweist zugleich auf deren anthropologische,17 gefühlsphilosophische und ästhetische Defizite. Im geistesge12 Siehe Vischer 1923; Kayser 1948, z.B. S. 336; Adorno 1981, z.B. S. 55. 13 Auch Hegels vordergründig vereinseitigte Rede von „Gemütsstimmung“ ist beziehungsdynamisch fundiert, insofern der subjektive Bedeutungsaspekt mit einer Reflexion auf seine Abhängigkeit von einem gegenständlichen Außen einhergeht: Auch inneres Gestimmtsein ist ein von außen Gestimmt-worden-sein. Vgl. Hegel, Ästhetik Bd. I, S. 177. 14 Siehe hierzu z.B. Corngold 1990, S. 67-90; ders. 1986, S. 95-128. 15 Vgl. die spätere, Nietzsches Wort im Titel führende Studie von Pfotenhauer 1987. 16 Siehe hierzu Riedel 1994 und zuvor ders. 1989; ders. 1985. Zum Stand der literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung: Anz 2006; siehe außerdem Voss 2003. 17 Siehe zum gemeinsamen Gegendiskurs von Literatur und Popularphilosophie (Abel, Platner, Garve, Zimmermann, Herder, Moritz) in der Tradition holistischer Anthropologie

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schichtlichen Kontext der „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ (Kondylis 1986, S. 4259) schreibt sich die Stimmung bei Herder (im Einfluss von Spinoza, Leibniz, Rousseau, Shaftesbury, Baumgarten, Winckelmann und Hamann) 18 seiner monistisch inspirierten Empfindungslehre ein. Sie bietet sich als ein wahrnehmungsästhetisches Spürorgan zur sinnlichen Vervollkommnung der Menschennatur an, welches zugleich die Impulse aus dem unterhalb der Bewusstseinsschwelle liegenden Bereich der aktiven Leidenschaften und dunklen Reize mitverarbeitet. Schließlich hat „jeder Mensch ein eigenes Maas, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zu einander“. (Herder 1887, S. 291) Hinsichtlich ihres Integrationspotentials steht die mit den äußeren Sinnen kooperierende Stimmung bei Herder noch in Konkurrenz zum inneren Sinn der Einbildungskraft, welche „nicht nur das Band und die Grundlage aller feineren Seelenkräfte, sondern auch der Knoten des Zusammenhanges zwischen Geist und Körper“ (ebd. 307f.) sei. Die historische Bedeutung der Stimmung für „anthropologische Modelle des Übergangs zwischen Körper und Seele“ sowie für die wissenschaftlich ambitionierten „Hirnhöhlenpoetiken“ der Romantiker wird von Caroline Welsh erhellt.19 Diese zum Thema Stimmungen um 1800 grundlegende Studie20 schließt an Vogls Poetologien des Wissens21 an, insbesondere an die Beiträge von Stefan Rieger (S. 97-119) und Bernhard Siegert (S. 53-68) darin. Welsh arbeitet zudem die Rolle heraus, die Stimmung in der Weiterentwicklung von materiellen Resonanzmodellen zu ästhetischen Bildungskonzepten spielt, und wie Stimmung die Suche nach der poetischen Sprache zu universalpoetischen Klangfiguren und zur Freisetzung der Phantasie in der Romantik beflügelt. Dabei finden die historisch bedeutsamen Diskurse der Physik, Sinnesphysiologie und Musikästhetik im ersten Teil der Studie ebenso Berücksichtigung wie die der Wahrnehmungstheorie, Autonomieästhetik und Transzendentalphilosophie. Welshs vorwiegend wissenschaftsgeschichtlich ausgerichtete Bearbeitung des Themas der romantischen Stimmungspoetik setzt Maßstäbe hinsichtlich der historischen Rekonstruktion ihrer Entstehungsgeschichte und speziell ihrer wahrnehmungstheoretischen Kontexte. An diese Studie, die es bei Stichproben in Form von Analysen der literarischen Manifestation von theoretischer Diskursivität belässt, knüpfen gegenwärtige Studien

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Schings 1977. Dieser Hinweis stammt von Saul 1999, S. 115-22, hier 117; ferner Schings 1994; zur neueren, wissensgeschichtlich orientierten literaturwissenschaftlichen Anthropologie siehe Bergengruen, Borgards und Lehmann 2001. Siehe zu Herder in ästhetikgeschichtlichem Kontext die Beiträge jüngeren Datums von Inka Mülder-Bach 2001; Dongowski 2001; Lulé 2001; und die Studie von Zeuch 2000. Welsh 2003; dazu von Arburg 2006; außerdem Welsh 2006. Daneben ist hervorzuheben Pfau 2005. Er erklärt die Bedeutung der Stimmung für die Romantik an Texten der englischen und deutschen Literatur, insofern die Vielfalt der Emotionen in der Einheit eines Selbst zusammenstimmen, dessen Ausgesetztheit in die Welt von Heidegger her gedacht wird. Vogl 1999. Hier lässt sich in exemplarischer Weise für die neuere wissenschafts- und mediengeschichtliche Forschung nachvollziehen, wie das Hervortreten neuer Gegenstände des Wissens und die Herausbildung neuer Erkenntnisbereiche zugleich als ‚Formen ihrer Inszenierung‘ zu begreifen sind.

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an, welche die spezifisch literarische Textualisierung von Wahrnehmungsmodi näher untersuchen.22 Die Stimmung rückt dabei ins Zentrum der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit unter einem doppelten Bedeutungsaspekt: innovativer Modus von Darstellung zu sein von etwas, was um 1800 zugleich als phänomenal neu in den Beziehungsverhältnissen von Welt/Selbst, Natur/Ich, Geschichte/Gegenwart, Zeit/ Sein, Raum/Bewusstsein, Individuum/Gesellschaft oder Fremdem/Eigenem empfunden wurde. In der Literatur der ‚Sattelzeit‘ werden die theoretischen Stimmungsfiguren nicht nur ab- oder poetisch nachgebildet, sondern auch der Eigendynamik rhetorischer Figurationen ausgesetzt und dadurch umgebildet. Der transformativen Versprachlichung von Stimmung korrespondiert ihre transitive Phänomenstruktur. Diese Akzentuierung und die mit ihr verbundenen Funktionsanalysen von Stimmung auf wahrnehmungs-, text-, produktions- und rezeptionsästhetischer Ebene machen eine theoretische Entfaltung des Begriffs sowohl in historischer als auch – in Verbindung damit – in systematischer Hinsicht erforderlich. So bildet bei Kant Stimmung zunächst scheinbar nur ein Relikt des von ihm verabschiedeten holistischen Denkens, indem sie dort nach dem wortgeschichtlich ursprünglichen Vorbild harmonisch gestimmter und aufeinander abgestimmter Musikinstrumente Vergleichbares für die Kognitionsinstrumente leisten soll.23 Näher besehen jedoch kommt ihr dadurch eine eminent wichtige, stabilisierende Funktion innerhalb der kritischen Architektonik zu. Die beiden Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand werden in eine „proportionierte Stimmung“ versetzt, welche als Grundlage des ästhetischen Urteils dient. Dieses wird dadurch erst (d.h. aufgrund seiner verstandesgemäßen „Zusammenstimmung“) kommunikativ verallgemeinerbar. (Kant 1974, S. 58) Das andernfalls bloß subjektive Gefühl der Lust erhält durch das von der Stimmung strukturierte Schönheitsurteil seine Öffnung auf intersubjektiven Gültigkeitsanspruch. Nach der kognitiven Nobilitierung der Wahrnehmungssinnlichkeit in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft erfährt damit besonders die Stimmung ihrerseits eine Aufladung mit wahrheitsfähigem Potential. 24 Eine solche epistemologisch perspektivierte Schlüsselstellung wie in der Kritik der Urteilskraft kommt der Stimmung in vergleichbarer Weise erst wieder in Sein und Zeit zu. Solche strukturellen Zusammenhänge zu erschließen, wie sie zwischen dem Stimmungsbegriff bei Kant und dem bei Heidegger bestehen, gehört zu den systematischen Aspekten, welche die aktuellen Bearbeitungen der Stimmung auf den verschiedenen historischen und materialen Untersuchungsfeldern untereinander verbindet. So wird die in der Forschung zwischen epistemologischem Vermögen und daseinshermeneutischem Existenzial, zwischen ästhetischer Kategorie und psychischem Zustand oder allgemein: die zwischen Begriff und Phänomen oszillierende Stimmung 22 Sich zugleich von Welshs Ansatz absetzend und an Wellberys Darstellung des ästhetischen Stimmungsdiskurses um 1800 anknüpfend siehe Gisbertz 2009, welche unter dem Aspekt der Stimmung die historische Konstellation um 1900 beleuchtet und das Werk Hofmannsthals untersucht. 23 Siehe zur zeitgenössischen Auffassung und musikpraktischen Herkunft von Stimmung den Artikel beim damals maßgeblichen Kunsttheoretiker Sulzer 1771-74. 24 Siehe zur konstruktivistischen Bedeutung der Stimmung bei Kant und im Anschluss an diesen bei Wilhelm von Humboldt Jacobs 2012.

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in unterschiedlichen Künsten samt ihrer intermedialen Übergänge 25 untersucht: in der Malerei26, der Architektur (von Arburg 2010a), der Musik (Röller 2012), im Film (Prange 2010) und vor allem in der Literatur27. Dieser war auf den internationalen Stimmungskonferenzen – nach der auf Kunst zentrierten von Paris 2007 – in Mannheim 2009, in Lausanne 2010 und in Heidelberg 2012 ein Großteil der Forschungsbeiträge gewidmet. In den dazu inzwischen erschienenen oder noch erscheinenden Sammelbänden28, wie auch in den Monographien (Welsh 2003; Pfau 2005; Gisbertz 2009, Jacobs 2013, Reents o.J.) kommt der Literatur die Funktion eines zentralen Reflexions- und Darstellungsmediums von Stimmung zu.

3. Z UR

AKTUELLEN L AGE DER S TIMMUNGSFORSCHUNG UND DER B EDARF AN T HEORIEBILDUNG

Die Wiederentdeckung der Stimmung als Strukturmoment kultureller und insbesondere ästhetischer Wissenserzeugung geht mit ihrer Untersuchung jenseits und an den Grenzen des epistemischen Diskurses einher. Denn dort ist Stimmung als Medium begrifflich nicht mehr, noch nicht oder grundsätzlich nicht artikulierbarer Erfahrungen wirksam, die unreflektiert in die wissenschaftlichen Prozesse einfließen oder aber einen ästhetischen Typus von dissidentem Wissen bilden. Aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit ist die Literatur und das in ihr poetisch organisierte Denken besonders dazu geeignet, die noch wahrnehmungsgeleiteten Spuren, Vorstufen und Übergänge zum begrifflichen Denken und dessen exklusivem Rationalitätstypus zu erkunden. In Literatur nämlich findet die Stimmung – gerade auch im Unterschied zu Kants Begriffsverwendung – nicht oder nicht nur als Metapher Eingang, die einen vorgängigen, diskursiv auch direkt erschließbaren Sachverhalt noch einmal indirekt, in poetischer Version (re)präsentiert. Nicht als uneigentliche ist die stimmungspoetische Rede von wissensgeschichtlichem und literaturtheoretischem Interesse, sondern als eigentliches Sprechen von die Subjektivität und ihre Weltbeziehungen transformierenden und auch transsubjektiven Erfahrungsweisen. Weniger dass und wo etwas mit ‚Stimmung‘ bezeichnet oder als solche beschrieben wird, ist literarisch bedeutsam. Vielmehr wie und wodurch individuelle Wahrnehmungsvollzüge so artikuliert und rezipierbar werden, dass deren situativ wechselseitige Verschränkung von Subjekt- und Objektsphäre nur mehr unterhalb jeder Differenzierung derselben phänomengerecht erfasst werden kann. Dies verweist auf etwas anderes als dasjenige, was der pejorative Begriff von Stimmungspoesie mit sentimentalem Aufgehen im Selbstgefühl vertiefter Innerlichkeit meint. (Vgl. Hajduk 2011c) Es lässt sich als ein diesem gegenüber gänzlich Anderes auffassen, insofern poetische Stimmung zunächst das Objektgefühl der Welt (der Dinge, des Raums, der 25 Die Intermedialität wird insbesondere zwischen Literatur und Musik beobachtet. Mit Bezügen zum Film siehe vor allem die Beiträge in von Arburg 2010c. 26 Siehe hierzu den Sammelband und die Einleitung der Herausgeberin Thomas 2010b; außerdem dies. 2010c und 2010a. 27 Grundsätzlich hierzu Reents 2009. 28 Siehe von Arburg/Rickenbacher 2012; Gisbertz 2012; Meyer-Sickendiek/Reents 2013.

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Natur, des Außen, des Fremden) erkundet, bevor sie sich als psychische Innerlichkeit konsolidiert. Durch fortgesetztes Spüren in der und in die Außensphäre hinein wird das Ich immer wieder aus sich heraus in eine zeitlich gestimmte Räumlichkeit gezogen, wo sich die Phänomene eines ereignishaften Innen zeigen. Eine solche phänomenologische Auffassung von Stimmung bildet unseren Ausgangspunkt für die literaturwissenschaftliche Rehabilitation derselben. Historisch signifikante Objektivierungen von Stimmung in poetischen Artikulationsweisen und poetologischästhetischen Reflexionen sind der zentrale Gegenstand dieser Forschungsrichtung. Im Folgenden werden Bezüge zu den wichtigsten Monographien – ohne hier deren Eigengewicht hinreichend würdigen zu können – zumindest insoweit markiert, dass sie für die Verortung unserer Arbeit im Feld der Stimmungsforschung kenntlich sind. Weitgehend ohne (neu-)phänomenologische Flankierung kommt Simone Winkos Studie Kodierte Gefühle aus, in der es um die Vermittlung von „Stimmungen oder Gefühlen“ durch „sprachlich-rhetorischen Emotionsausdruck“ geht.29 Einerseits seien Stimmungen schon vor ihrer literarischen Vermittlung und unabhängig von ihrem Ausdruck das, was sie für reale Personen sind; andererseits sollen Emotionen als ‚Textphänomene‘ analysiert werden. Problematisch erscheint bei Winko die anspruchsvolle Einziehung der Abstände zwischen Emotion und Text wie tendenziell auch zwischen Rhetorik und Ausdruck. Hinsichtlich einer Analytik von Stimmungen aber ist die Differenzierung zwischen Phänomenalität und Sprachlichkeit zunächst der Sache nach geboten, bevor sie aus methodologischen und dann auch poetologischen Gründen aufeinander bezogen werden. Aufgrund ihrer systematischen Geschlossenheit und der Suche nach Integrationsmöglichkeiten von diskurshistorischen und literarischen Analysen bildet Winkos Arbeit gleichwohl die vielleicht wichtigste Referenz in der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung. 30 Denn anders als die empirische Emotionsforschung, die den Rezeptionsvorgang als psychologische und physiologische Reaktion des Lesers untersucht, stellt sich Winko dem auch interdisziplinär herausfordernden Problem, wie das komplexe Transfergeschehen zwischen sprachlich-rhetorischen und emotionspsychologischen Strukturen erklärt werden kann.31 Wie Winkos Untersuchung konzentriert sich die Dissertation von Gisbertz auf die literarische Moderne um 1900, speziell auf Hofmannsthal. Sie findet ihren Einstieg bei dem die Moderne mitprägenden Baudelaire, um ihre These von der „Zauber und Gewissheit“ umfassenden Ganzheitserfahrung zu bilden, welche die Stimmung in der Wiener Moderne ausmache. (Gisbertz 2009, S. 10) Die literarisch lokalisierbare Funktion von Stimmung um 1900 wird in einer gegenläufigen Bewegung derselben gesucht: einer, die zu einer Ganzheit zurückführt und einer anderen, „die eine Quelle für die Vielfalt des ‚worldmaking‘“ (ebd. 12) bilde. Dennoch lasse sich an dieser 29 Winko 2003, S. 12; vgl. hingegen Meyer-Sickendiek 2012 und ders. 2011. 30 Siehe an Winko anknüpfend Fries 2009. 31 Daran arbeitet auch das Großprojekt Languages of Emotion, das dazu verschiedenste Disziplinen einbindet. Siehe etwa eine der jüngeren Publikationen von Altmann, Bohrn, Lubrich, Menninghaus und Jacobs 2012; bereits zur an Leserreaktionen orientierten Forschung Oatley 1992; Gavins und Stehen 2003; ferner zur Debatte um die Relevanz kognitiver Ansätze Lauer 2009; Salgaro 2009.

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Bewegung eine Einheit ablesen, die „um 1900 quer durch bestimmte Diskurse metaphorisch als Stimmung gefasst“ (ebd. 13) werde. Gisbertz beleuchtet zunächst den „geistesgeschichtlichen Hintergrund“ der Epoche, indem sie Aspekte des Stimmungsbegriffs bei Nietzsche und Dilthey mit Bezügen zu Heidegger und besonders Bollnow erörtert. Dann entwickelt sie den philosophisch-wissenschaftshistorischen Zusammenhang der Stimmung mit dem Leib-Seele-Thema in der monistischen Perspektive von Ernst Machs Empiriokritizismus, bevor sie schließlich zu Hofmannsthals theoretischen und literarischen Texten kommt. Dieser an Wellberys ästhetiktheoretische Entfaltung des Stimmungsbegriffes anschließenden Arbeit gelingt es, die literatur- und diskursgeschichtliche Bedeutung der Stimmung für die vielleicht am stärksten mit ihr assoziierte Epoche zu erhellen. Zumutesein Weiterführende Einsichten in das Zusammenfließen wissenschaftlicher, philosophischer und ästhetischer Diskurse in Wien um 1900 hat Sergej Rickenbachers Untersuchung zum Frühwerk Robert Musils herausgearbeitet. (Rickenbacher 2015) Er stellt neben dem Törleß mit den Vereinigungen die neben Hofmannsthal stimmungspoetologisch vielleicht einschlägigsten Texte der Epoche um 1900 ins Zentrum seiner Dissertation, die im Rahmen des SNF-Projekts unter der Leitung von Hans-Georg von Arburg entstanden ist. Auch Jacobs Interesse gilt schwerpunktmäßig der historischen Konstellation um 1900. Die Werke Maeterlincks, Rilkes und Hofmannsthals bilden die wichtigsten Bezüge „im Kontext eines epochalen Konzepts der ‚Stimmungskunst‘“. (Jacobs 2004, S. 100) Dieses Konzept wurde in Jacobs breiter angelegtem Buch von seiner Entwicklung bei Humboldt, Novalis und Kierkegaard expliziert. Jacobs beobachtet die „epochalen Grundprobleme einer neuartigen Poetik des Gefühls, wobei die Interferenz symbolistischer Verfahren mit lebensphilosophischen und monistischen Strömungen im Zentrum steht“.32 Mit ihrem diskurshistorisch geöffneten Interesse an der Bedeutung von Stimmungspoetiken in der deutschen Literaturgeschichte ist Jacobs neben Welsh, Arburg, Gisbertz und Reents – um nur die mit größeren Arbeiten Hervortretenden zu nennen – eine weitere wichtige Kraft im breiter werdenden Feld der Stimmungsforschung.33 Eine generelle Herausforderung für die Vertreter aus der Literaturwissenschaft besteht zunächst darin, die text- und erfahrungsnahen Konturierungen von Stimmung als ästhetischem Darstellungsmodus mit wissensgeschichtlichen Erkundungen von kulturellen Konstellationen samt ihres interdiskursiven Transfergeschehens systematisch zu verbinden. Denn neben den poetischen Figurationen der Stimmung kommt dieselbe auch als Wahrnehmungs- und Denkfigur in außerliterarischen Diskursen metaphorisch zum (Über-)Tragen. Sie dient darüber hinaus bei Novalis etwa – unter Aktivierung älterer Bedeutungsschichten des Begriffs – zur Allegorisierung von metaphysischen Ordnungs- und Ganzheitsvorstellungen, die auf pythagoreische, pla-

32 Jacobs 2004, S. 101. Bereits mit ihrem Aufsatz hinsichtlich der Konstellation um 1800 hat Jacobs 2006 im Anschluss an Welsh wichtige historische Bezüge zur Vorgeschichte des Stimmungsbegriffs hergestellt. 33 Einen ihrer stärksten Impulse hat die Stimmungsforschung erhalten von Wellbery 2003. Zur disziplinübergreifenden Wahrnehmung beigetragen haben die Artikel von Gumbrecht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, im Internet unter: www.faz.net/stimmungen.

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tonische, altchristliche und barocke Ideen von kosmogonischer Weltenharmonie, Weltseele34 und Sphärenmusik35 zurückgehen. Damit erweitert sich die auf literaturwissenschaftlichem Boden (Rhetorik/ Poetologie) angesetzte, in kulturwissenschaftlicher Dimension thematischer Neuerschließung (Emotionalität/Ästhetik) durchzuführende Rehabilitation der Stimmung um eine wissensästhetische Perspektive. Die Forschung der letzten Jahre hat begonnen, neue Wege zu beschreiten, indem literatur- und ästhetikgeschichtliche mit wissenschafts- und wissensgeschichtlichen Themenstellungen enger verzahnt werden.36 Hinzu kommt die auch für die Grundlagenreflexion von Stimmung fruchtbar zu machende Emotionsforschung37, die im Berliner Sonderforschungsbereich Languages of Emotion nach einem Methodenprofil suchte, das natur- und kulturwissenschaftliche Ansätze verbindet und von Winfried Menninghaus am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik weiter konsolidiert wird. Bei der Verortung kontextueller Berührungsflächen von Literatur und Wissen im historischen Kulturgefüge eröffnet der semantische Facettenreichtum des Stimmungsbegriffs intermediale und interdisziplinäre Perspektiven auf die Heterogenität ästhetischer Materialentwicklungen und die Interferenzialität des historischen Diskursgeschehens.38 Zum einen nämlich hat sich der ursprünglich musikalisch-praktische Begriff der Stimmung im ästhetiktheoretischen Diskurs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt und bildet im 19. Jahrhundert nach und nach eine Struktur aus, die produktions-, rezeptions- und kunstwerkästhetische Elemente miteinander verbindet und dynamisiert. Zum anderen hat sich die technische Bedeutung erhalten, welche auf das Stimmen (transitive Bedeutung des Verbs stimmen) eines Musikinstruments zurückgeht im Sinne von „demselben oder den einzelnen Theilen desselben die verhältnismäßige Höhe oder Tiefe des Tons [geben]“. (zit. n. Wellbery 2003, S. 706) Die no34 Siehe Thums 2003; Albes 2003, S. 23; ferner den Sammelband Sloterdijk und Macho 1993. 35 Grundlegend hierzu Spitzer 1963; außerdem Schavernoch 1981, hier zu den pythagoreischen Modellen der Sphärenharmonie S. 33-62, bes. 50-60; dazu aus der gegenwärtigen Stimmungsforschung von Arburg 2012. 36 Hier ist vor allem das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (Sigrid Weigel, Bernhard J. Dotzler u.a.) in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Birgit Griesecke u.a.) zu nennen, daneben aber auch die eigenen Ansätze bei Ger hard Neumann, Friedrich Kittler, Vogl und Albrecht Koschorke sowie diejenigen der literarischen Anthropologie (Schings, W. Riedel, Pfotenhauer u.a.). 37 Einige Arbeiten jüngeren Datums seien genannt: Ferran 2008; Breithaupt 2009; Ritzer 2012; siehe im Unterschied etwa zu Winkos überwiegendem Ansetzen beim Text die emotionspsychologisch revidierte Rezeptionsästhetik bei Mellmann 2007; außerdem die anthropologisch sowie die neuphänomenologisch ausgerichtete Philosophie in der von HansPeter Krüger und Gesa Linemann herausgegebenen Reihe Philosophische Anthropologie (2005ff.) und im Sonderband (14/2007) der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, hrsg. v. Hilge Landweer. 38 Zur musikalisch-literarischen Intermedialität seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland siehe Lubkoll 1995; Gess 2006; Für den englischsprachigen Raum siehe etwa Wolf 1999; in theoretischer Hinsicht Zima 1995; Helbig 1998; grundlegend McLuhan 1964.

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minalisierte Form von stimmen meint also eine Praxis, deren Aktivität auf ‚koordinierte Stimmung‘ abzielt.39 Diese ist dazu geeignet – wie um 1800 geschehen – auf den Bereich ästhetischer Empfindung übertragen zu werden, mit der Folge, dass in diesem fortan „ein Integrationsversprechen angelegt [ist], das bis zur IchEntgrenzung und zur All-Einheit führen kann“. (von Arburg/Rickenbacher 2012, S. 4) Daraus erklärt sich vor allem die Bedeutung des Stimmungsbegriffes für die Romantik und die an diese anschließende Geschichte der Ästhetik, die von Schelling, über Kierkegaard 40 und Wagner bis Nietzsche und Dilthey reicht. Darüber hinaus aber erklärt sich vom „Integrationsversprechen“ der Stimmung zumindest teilweise auch das gegenwärtige Forschungsinteresse an ihr. Insofern dieses nämlich von einer geistigen Konjunktur befeuert wird, die mit ‚Inter‘-Konzepten (Interdisziplinarität, Intermedialität, Intertextualität, Interkulturalität) einen Bedarf an synthetischem, kombinatorischem oder eben integrativem Denken signalisiert. Diese von ‚Stimmung‘ ausstrahlende Integrationskraft wird indes erst recht mit Rückblick auf die Bedeutungs- und Ideengeschichte ihres Begriffes verständlicher, wie sie vom Gründungsvater der philologischen Stimmungsforschung vor siebzig Jahren rekonstruiert worden ist. Die Herausgeber des Stimmungsbandes Concordia discors referieren sehr genau das Ergebnis von Leo Spitzers Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word ‚Stimmung‘, das wir hier ausführlich zitieren wollen. Spitzer habe gezeigt, „dass ‚Stimmung‘ einem interkulturellen Ideenkonglomerat entspringt, welches sich wesentlich aus den antiken Konzepten der ‚Sphärenmusik‘ und ‚Weltharmonie‘ sowie deren frühneuzeitlichen Adaptionen speist. In der pythagoreischen Philosophie entstand die Vorstellung eines nach musikalischen Prinzipien organisierten Kosmos. Auf der Grundlage einer durchaus mathematisch verstandenen Musik schien ein Gleichklang zwischen den Elementen in der Welt einerseits und zwischen dieser und der göttlichen Sphäre andererseits denkbar. Als Erbin dieser antiken Harmoniekonzepte ruft ‚Stimmung‘ über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit jene universale Einheitsvorstellung auf, die ein verlorenes Ganzes des Lebens zu kompensieren verspricht. Neben dieser ideengeschichtlichen Grundierung prägt insbesondere die begriffsgeschichtliche Herkunft das moderne Verständnis von ‚Stimmung‘. Das deutsche Wort ‚Stimmung‘ stammt aus der musikalischen Praxis und meint zunächst die Disposition eines Instruments hinsichtlich der physiologisch-physikalischen Wahrnehmung der auf ihm hervorgebrachten Töne. Seit der pythagoreischen Musiktheorie ist bekannt, dass sowohl ein Instrument als auch das menschliche Ohr unmöglich rein nach der absoluten Harmonie gestimmt werden kön41 nen. Zwischen dem physikalischen Ideal, nach welchem die Tonabstände (Intervalle) mathematisch berechnet werden können, und der physiologischen Wahrnehmung herrscht ein nicht auflösbarer Fehlbetrag. Genau dieser obligate Fehlbetrag – das so genannte pythagoreische Komma – macht ein ‚Stimmen‘ des Instruments allererst notwendig. Denn beim ‚Stimmen‘ soll der Fehlbetrag durch eine gezielte Veränderung der Intervalle abgemildert werden, ohne dass 39 Vgl. hierzu ausführlich Wellbery 2003, S. 706. 40 Zur Stimmung bei Kierkegaard siehe Jacobs 2008 sowie Müller-Wille 2012. 41 In der so genannten pythagoreischen Stimmung werden die Abstände der Töne durch reine Quinten zueinander definiert, was mathematisch der exaktesten Tondefinition entspricht.

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dabei die Differenz zwischen Berechnetem und Gehörtem je aufgehoben werden könnte. Die unaufhebbare Differenz wird beim Stimmen durch Vergrösserung bzw. Verkleinerung einzelner Intervalle lediglich umverteilt. Eine reine Stimmung ist tatsächlich auch gar nicht wünschenswert, denn das menschliche Ohr erfährt eine ‚reine‘ Stimmung im Vergleich mit einer ‚unreinen‘ als eindeutig weniger wohlklingend.“ (Rickenbacher und von Arburg 2012, S. 10f.)

Rickenbacher und von Arburg resümieren in ihrer Einleitung Spitzers Studie im Weiteren in ihrer Bedeutung für die Strukturierung des heutigen Forschungsfeldes wie folgt: „Der ästhetische Grundbegriff ‚Stimmung‘ wurzelt somit in mindestens drei diskursiven Zusammenhängen: erstens in musikalischen Praktiken und Theorien, zweitens in mathematischkosmologischen Spekulationen und drittens in psycho-physiologischen Konzepten. Diese diskursive Mehrfachkodierung garantiert die Anschliessbarkeit des Stimmungsbegriffs an verschiedene Disziplinen und verspricht auf der Basis der ideengeschichtlichen Vorgeschichte namentlich auch die Integrierbarkeit des Individuums in die physische und metaphysische Umwelt. Dabei kann ‚Stimmung‘ gerade nicht auf ihre Tendenz zur Ganzheitserfahrung reduziert werden. Denn wie sich bereits im pythagoreischen Komma ankündigt, charakterisieren gleichursprünglich mit der Einheitstendenz die Differenzmomente die ‚Stimmung‘.“ (Ebd.)

Diese Darstellung und die mit ihr verbundene Erwartung finden im bisherigen Verlauf der Forschung, wie sie der Band Concordia discors repräsentativ versammelt, ihre Bestätigung. Sie erfolgt auf verschiedenen Diskursfeldern, in unterschiedlichen Raum-Zeit-Segmenten sowie anhand einer Reihe von künstlerischen Medien und deren adaptiven Wechselspielen. Ungeachtet dieser Ausdifferenzierung bleibt in der Tat ein gemeinsamer Nenner erhalten, der in der dem Stimmungsbegriff inhärenten Ambiguität zu sehen ist. Deren Ausformung zu heterogenen Konzepten in der Wissensgeschichte von Ästhetik, Medien, Literatur, Kunst, Musik und Philosophie bildet den projektübergreifenden Zusammenhang der Stimmungsforschung. Die methodische Ausrichtung auf historische Kontextualität samt der in dieser rekonstruierbaren systematischen Aspekte sichert aber noch kein Verfahren, wie die Stimmung in ihren medialen und materialen Bindungen beobachtet und analysiert werden kann. Dies für die Literaturwissenschaft anhand unseres poetischen Denkmodells zu leisten, ist ein Ziel der vorliegenden Arbeit.42 Hierzu bedarf es der eingangs anvisierten Theoriebildung in heuristischer Absicht. Danach werden ästhetische Phänomene wie die Stimmung als selbst schon geschichtliche aufgefasst und einem Verfahren unterzogen, das von seiner eigenen Geschichtlichkeit ausgeht.

42 Der Bedarf an theoretischer und methodologischer Grundlagenreflexion zeigt sich auch in dem mit der Stimmung verwandten Ansatz der Raumforschung, siehe dazu etwa die von der „International Comparative Literature Association“ (ICLA) einberufene Konferenz mit einem Workshop wie „Affective Spaces. Theorizing Space and Emotion in Literature“ in Paris (IV-Sorbonne 18-24 Juli 2013).

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4. Z UM O RT

VORLIEGENDER ARBEIT INNERHALB DER F ORSCHUNGSDISKUSSION

Das theoretische Profil und der praktische Zweck

Am gegenwärtigen Stand der Stimmungsforschung lässt sich eine Ambivalenz hinsichtlich der Möglichkeit oder aber Unmöglichkeit einer Theorie der Stimmung erkennen. Dies führt im Feld der in den letzten Jahrzehnten theoriefreudigen Literaturwissenschaft zu einer Art Splitting in der Forschungsorientierung. Deren zwei Richtungen schreiben eine mögliche Unsicherheit in puncto Theorie und Methodik, von der sie ausgehen, eher noch fest bzw. fort. (1.) Da ist zum einen die von anti-theoretischer Polemik begleitete Rückkehrempfehlung zu einem von Diskursballast erleichterten, eher feuilletonistischen Umgang mit Literatur, wie ihn Gumbrecht mit der Forderung nach „Schreibenkönnen unter dem Eindruck von Stimmungen“ anstelle von kultur- und literaturwissenschaftlichen Methoden vorschwebt.43 Der akademische Anspruch beschränkt sich hier im Zeichen von Stimmungslektüren auf gelehrte Textkommentare mit gelegentlichen Anspielungen auf biographische, kulturhistorische oder philosophische Kontexte. So bewirken die Zweifel an der Theoriefähigkeit von Stimmung nicht nur deren Ausklammerung aus der literaturwissenschaftlichen Methodik. Letztere soll vielmehr ersetzt werden durch eine ästhetisch sensibilisierte, affektive und körperliche Reaktionen berücksichtigende Lektürepraxis, die sich gewissermaßen mit der Stimmung identifiziert. Dafür werden Präsenz, Unmittelbarkeit, Konkretheit, Empathie und Intuition eingefordert – als wäre die Einnahme einer solchen der Stimmung gegenüber kongenialen Lesehaltung eine theoriefrei offenstehende Alternative. Entsprechend denkt Gumbrecht an die Fähigkeit zur „Irritation“ durch Töne und Rhythmen und will im Verbund mit „gegenintuitivem Denken“ Stimmungen nicht als Bedeutungen verstanden wissen. (Gumbrecht 2011, S. 29) Danach würde die Erforschung von Stimmung auch für die professionelle Beschäftigung mit Literatur heißen: ‚Entdecken‘ statt Rekonstruieren, Sich-einlassen statt Analysieren und schließlich Faszination spüren statt Sinn verstehen. Literarische Stimmungen zu lesen hieße konzeptionell: eine ästhetische Erfahrung zu machen, die die methodischen Sackgassen wie auch die Ansprüche der hermeneutischen Einfühlung vermeidet. (2.) Zum anderen werden literarische Werke nach probater Weise historisch und systematisch kontextualisiert, in synchronen oder diachronen Betrachtungsperspektiven beleuchtet sowie Diskursanalysen unterzogen, die das thematische Vorkommen und die mediale Form von Stimmungen erklären. Diese zweite Ausrichtung des Forschungsprozesses bringt durch die Fokussierung der Schnittstelle zwischen historischer Kontextualität und ästhetischer Konzeptualität eine Vielzahl neuer Einsichten in das Bedeutungsspektrum des Stimmungsphänomens und seines literatur- und wissensgeschichtlichen Wandels mit sich. Hier äußert sich gleichwohl die benannte Unsicher43 Gumbrecht 2011, S. 31; siehe hierzu Hajduk 2012.

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heit in der Theoriefrage der Tendenz nach folgendermaßen: Stimmung wird als Begriff in diskursgeschichtlichen Zusammenhängen des 18. bis 20. Jahrhunderts verortet (philosophische und literarische Ästhetik, psychologische und physiologische Ansätze, Kunst-, Musik-, Mediengeschichte u.a.). Stimmung wird auch als ästhetisches Konzept in der Vielfalt seiner Formen, Motive und Phänomengehalte in Literatur, Musik, Malerei oder Gartenkunst untersucht. Jedoch wird dabei jene von Gumbrecht zurecht geforderte Aufmerksamkeit für das ästhetische Erfahrungsdetail als Herausforderung für das eigene Vorgehen gemieden. Der Frage nach der methodischen Bedeutung von Stimmung für das literaturwissenschaftliche Verfahren selbst wird möglichst ausgewichen. Dies ist wissenschaftshistorisch nicht verwunderlich, wenn man die jahrzehntelange Kritik an der Hermeneutik und die anhaltende Diskreditierung traditioneller Verstehenskategorien wie ‚Sinn‘ und ‚Repräsentation‘, Interpretation und ‚Einfühlung‘ bedenkt. Intradisziplinär kommt hinzu, dass die kulturwissenschaftliche Erweiterung der Literaturwissenschaft der textimmanenten Methode denkbar fern steht, in deren Interpretationen die Stimmung ihren festen Platz und zugleich verschwommene Begriffskonturen besaß. Interdisziplinär schließlich hat der konkurrente Blick auf empirische, mathematische oder sprachanalytische Methodenideale der Sozial- und Naturwissenschaften dazu beigetragen, dass der Begriff ‚Theorie‘ stärker von Ansprüchen auf verifizierbare Begründung geprägt und weniger – seinem griechischen Ursprung gemäß – durch die Beweglichkeit experimentierender Betrachtung bestimmt ist. Erst die jüngste interdisziplinäre Forschungsdiskussion über die Historizität und Diskursivität des Wissens hat zum Einschluss von dessen ästhetischen Formen geführt, insofern in diesen Erkenntnis auf präreflexiver Ebene generiert und als wahrnehmungsabhängig dargestellt wird. Methodisch entsprechen diesem zweiten Trend wissenspoetologische Perspektivierungen von Stimmung innerhalb von diskurshistorischen Rekonstruktionen (vgl. Welsh 2003, 2006, 2009; von Arburg/Rickenbacher 2012, Gisbertz 2009, 2012; Meyer-Sickendiek/Reents 2013). So nachvollziehbar diese beiden Trends der aktuellen Stimmungsforschung sind, also (1.) der zur deklarierten Theorieabstinenz, die implizit dennoch auf theoretische Positionen rekurriert; sowie (2.) der zur Ausklammerung der Stimmung aus Methodenfragen, desto dringender erscheint die Klärung des ihnen zugrunde liegenden Problembewusstseins. Letzteres spitzt sich uns zu der Einsicht zu, dass eine Theorie von Stimmung nicht vollständig objektivierbar sein kann und dennoch benötigt wird. Zum einen als literaturwissenschaftliche Methode in der Lehre; zum anderen als Arbeitsgrundlage in der Stimmungsforschung, auf der die Vielfalt von Ansätzen, Materialien und Kontextualisierungen diskutiert sowie Ergebnisse in vergleichender Perspektive expliziert und verglichen werden können. Schon die Bedeutungsgeschichte von ‚Stimmung‘ lehrt, dass die mangelnde Trennschärfe des Begriffs zwar seine diskursive Anschlussfähigkeit, aber auch die Absturzgefahr ins Unvergleichbare oder gar in Beliebigkeit steigert. Dem ist nicht durch eine terminologische Festlegung auf einen semantischen Kernbestand zu begegnen. Dadurch würde gerade die fruchtbar zu machende Ambiguität verloren gehen. Die hier vorgeschlagene Lösung besteht in einer begrifflichen Formalisierung des Umgangs mit der Bedeutungsoffenheit von Stimmung im ästhetischen Kontext. Unsere theoretische Konzeptualisierung von Stimmung soll dazu geeignet sein, deren ästhetischen Konfigurationen in der Literatur dem argumentativen Diskurs über die-

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selben zuzuführen. Nur so kann das interpretatorische Potenzial des Begriffes der Stimmung für die literaturwissenschaftliche Praxis entfaltet werden. Hierzu werden im Umgang mit Literatur Beobachtung und Verstehen, Analyse und Interpretation kombiniert. Der Prozess der Lektüre, der die textuelle Organisation von Stimmungen fokussiert, wird von einer mehrfachen Reflexion begleitet: der (ästhetischen) Reflexion des dargestellten Phänomens, der (begrifflichen) Reflexion von dessen poetischer Darstellung sowie der (theoretischen) Reflexion dieses zweistufigen Reflektierens von Stimmung samt deren Einwirkung auf diesen Reflexionsprozess selbst. Dadurch werden die systematischen Abgründe zwischen dem Phänomen, dem Begriff und der Kategorie der Stimmung in heuristischer Absicht überbrückt: nämlich indem ein unter dem Vorzeichen von Stimmung auf die ästhetische Verfasstheit und Qualität von Literatur orientiertes Lesen auf methodologische Beine gestellt wird. Somit können die oben genannten Tendenzen in der Forschung zusammengeführt und von einer gemeinsamen theoretischen Basis fortgeführt werden. Zum einen können Stimmungen in der Literatur samt deren sinnlichem Erleben wieder in den Vordergrund rücken. Zum anderen kann ein konzeptioneller Zugang zur Literatur geschaffen werden, ohne den es keine Literaturwissenschaft, keinen Literaturbetrieb, keine Kultur der Reflexion ihrer Kunst- und Wissensbestände samt deren Entwicklungsdynamik geben kann. Wir wollen also beides, indem wir das Ästhetische der Stimmung selbst, d.h. so wie sie als Phänomen in der Literatur dargestellt und über dieselbe erfahrbar ist, zum Ausgangspunkt ihrer begrifflichen Reflexion und Methodologisierung machen. Der Gewinnzug dabei ist ein zweifacher: ein für das Textästhetische sensibilisiertes Deutungsverhalten einerseits und andererseits ein um das Wahrnehmungsästhetische erweitertes Argumentationsdenken. Unsere ein Theoriedefizit behebende Formierung von ‚Stimmung‘ zu einem Analyseinstrument baut auf die in der Forschung erarbeiteten begriffs- und ästhetikgeschichtlichen Befunde auf und berücksichtigt die benannten disziplingeschichtlichen Aspekte. Um als literaturwissenschaftliche Kategorie brauchbar zu sein, muss unsere Stimmung indes systematisch auf der Gegenwartshöhe philosophischer Reflexion und zugleich historisch in der Vergangenheit ihrer literarischen Gestaltung begründet sein. Unsere Theoriebildung muss deshalb durch eine systematische Anbindung an die für das 20. Jahrhundert entscheidende Umstellung im Stimmungsbegriff bei Heidegger erfolgen. Denn die dort gesetzten begrifflichen Reflexionsstandards sind ungeachtet inhaltlicher Bestimmungen noch für ein heutiges Durchdenken der Stimmung gültig. Im ersten Schritt (Teil A. Stimmung und Methode) wird deshalb die theoretische Linie nachgezeichnet, die von Diltheys Stimmungsbegriff in seiner hermeneutischen Problemstellung zur ersten systematischen Verwendung von ‚Stimmung‘ auf philosophischem Begriffsniveau in Sein und Zeit führt, um so ihre Rolle für die Modellierung eines präreflexiven Verstehenstypus kenntlich zu machen. Heideggers der Stimmung zuerkannte methodische Bedeutung für die Daseinshermeneutik wird sodann auf ihre mögliche methodische Bedeutung für die literarische Texthermeneutik weitergedacht. Zwar stellt Heidegger später die Kunst über die Philosophie, indem er sie als ein Ins-Werk-setzen der Wahrheit denkt und damit ihrem vorbegrifflichen Erschließungscharakter gerecht wird. Damit aber ist die Kunst – wie schon die Stimmung in Sein und Zeit –, systematisch darauf festgelegt, (nach-) metaphysische Zugänge zum Sein und dessen Geschichte als Ent- und Verbergung von Wahrheit zu erschließen. Diese seinsgeschichtliche Auffassung von Kunst spielt

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für unser literarisches Stimmungskonzept keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle, da sie sich im offenen Spektrum philosophischer Reflexionen über das „Werk an sich“ verliert.44 Wir revidieren Heideggers existenzial-ontologische Funktion von Stimmung und knüpfen zugleich an sie an. Der Bezug zum Seinsgeschehen wird marginalisiert und die methodische Funktion von Stimmung in unseren ästhetischpoetologischen Kontext eingebettet. Die Ausarbeitung eines theoretischen Profils von Stimmung erfolgt also über die methodische Funktionalisierung ihres Begriffs. Der praktische Zweck für literaturwissenschaftliches Arbeiten wird schließlich dadurch erreicht, dass wir die poetologische und methodologische Reflexion von Stimmung einer heuristisch angesetzten Definition auf drei Stufen zuführen, die hier nur vorläufig markiert werden: Stufe I definiert Stimmung in der Literatur, d.h. als ästhetisches Phänomen und poetisches Darstellungsmedium; Stufe II definiert Stimmung für die Literaturanalyse, d.h. als methodischen Zugriffsort und als diskursives Reflexionsmedium; Stufe III definiert diesen ästhetischen Begriff von Stimmung über die medientheoretische Integration der ersten beiden Stufen, d.h. sie bestimmt ihn als poetologische Kategorie.

5. ARGUMENTATIONSSKIZZE Die Theorie literarischer Stimmung auf der Basis eines Dialogs mit einer Philosophie aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu entwickeln, hat in argumentativer Hinsicht folgenden Grund. Anders als bei alternativen Referenzwerken zur Stimmungstheorie (Geiger, Nietzsche, Riegl, Kierkegaard, Schopenhauer, Hegel, Humboldt, Schelling, Kant, Schiller, Fichte u.a.) wird die Stimmung dort nicht vorwiegend zum Gegenstand theoretischer Reflexion gemacht. Vielmehr wird sie – im (nicht-expliziten) Anschluss an ästhetische Diskurse seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts – von Heidegger als ein theoretische Lasten tragender Begriff mit methodischen Absichten verwendet. Sein und Zeit geht über eine vermögenstheoretische Bestimmung sowie über eine Begründung von Stimmung als Affektzustand hinaus. Die kognitiv und emotional relevanten Aspekte der Stimmung werden für ein fundamentalphilosophisches Potential entdeckt. Stimmung wird zur Kategorie eines existenzial-ontologischen Verstehenskonzeptes und dient in der Folge als ein vor- und überbegriffliches Momentum im Denken der Kultur- bzw. Seinsgeschichte. Die erstmals bei Heidegger auch systematisch hergestellte Verbindung zwischen an sich selbst Vorbegrifflichem (Sein) und der topologischen Ekstatik (In-der-Weltsein) ist es, welche sein Stimmungskonzept für eine literaturbezogene Theorie der 44 Vgl. dazu Heideggers seins- und wahrheitsgeschichtliche Überhöhung des Kunstwerks, die zugleich eine hermeneutische Verengung von historischen Deutungsmöglichkeiten mit sich führt: „Die seynsgeschichtliche Frage nach dem ‚Werk‘ hat jedoch einen ganz anderen Sinn, sobald dieses in seinem Wesen zusammengesehen wird mit dem Seyn selbst und der Gründung seiner Wahrheit. Das Werk selbst erfüllt jetzt die Wesensaufgabe, jene Entscheidung zum Seyn mit zu entfalten. Das Werk ist weder sinn-bildlicher Gegenstand noch Anlage der Einrichtung des Seienden, sondern Lichtung des Seyns als solchen, welche Lichtung die Entscheidung zu einem anderen Wesen des Menschen enthält.“ (1997b, S. 37)

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Stimmung besonders fruchtbar macht. Denn erst so lassen sich Stimmungen auch in der Literatur hinsichtlich ihres räumlich-zeitlichen Phänomengehaltes näher beschreiben und zugleich hinsichtlich ihres kognitiven Potentials erklären, ohne durch den phänomenologischen Ausgangspunkt des Leibes eingeschränkt zu bleiben. Außerdem kann Stimmung von ihrer existenzial-ontologisch gedachten Allianz mit präreflexivem Verstehen (Erschließen) für die Literaturwissenschaft dienstbar gemacht werden, indem wir sie ins Methodische wenden. D.h. Stimmung wird als Kategorie zur poetologischen Bestimmung von Literatur und als Zugang zum Text genutzt, wo hingegen sie als Existenzial zur ontologischen Auszeichnung von Dasein als Zugang zum Sein dient. Eine solche ebenso transsubjektiv ausgerichtete wie funktional konvertierbare Theorie der Stimmung, welche phänomenologische, ästhetische, hermeneutische und mediale Aspekte einschließt, lässt sich eben nicht auch schon von einer historischen Rekonstruktion des Stimmungsdiskurses um 1800 her entfalten. Deshalb halten wir es für angezeigt, dies mit Bezug auf die phänomenologische Linie des hermeneutischen Denkens von Heidegger zu tun. Dies ist für eine künftige literaturwissenschaftliche Verwendung des Begriffs ‚Stimmung‘ zudem deshalb von Vorteil, insofern auch das heute gängige Stimmungsverständnis, wie es zumal den Stimmungsbegriff der psychologischen Emotionsforschung bestimmt, weitgehend vom Denken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt ist. Über Staigers Vermittlung hat ein von Heidegger her gedachter Stimmungsbegriff auch seine Verbreitung in der älteren Germanistik gefunden, bevor er dann durch seine undisziplinierte Verwendung zunehmend ausgefranst und im Wandel theoretischer Paradigmen diskreditiert wurde. Ohne eine aktualisierte Anknüpfung an den theoriegeschichtlichen Höhepunkt von Stimmung in Sein und Zeit wäre deren ästhetische Rehabilitation kaum tragfähig. Unsere in Auseinandersetzung mit Heidegger entwickelte Theorie von Stimmung und deren methodologische Grundlegung für literaturwissenschaftliches Arbeiten bringt eine argumentative Komposition mit sich, in der systematische und historische Aspekte nicht in eine synchrone Perspektivierung eingepasst sind. Denn obwohl unsere Stimmungstheorie aus dem gegen Mitte des 20. Jahrhunderts abgebrochenen Diskurs über ästhetische Stimmung heraus entworfen ist, soll sie ein Phänomen der Literatur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts besser erklären können als Rekurrenzen auf den um 1800 anhebenden Stimmungsdiskurs. Dem philosophischen Interesse an der Stimmung und ihrem Begriff seit Kant geht jedoch deren literarische Inszenierung als Wahrnehmungs- und Beziehungsphänomen seit Goethes Werther voraus. Schon um Stimmung in der Literatur einerseits und im Diskurs andererseits kriteriologisch in Beziehung setzen zu können, ist ein Stimmungskonzept aus der heutigen Gegenwart hilfreich. Es bildet das Kriterium, welches unsere historische Literaturanalyse davor bewahrt, ästhetisch zu untersuchende Texte in diskursiven Rekonstruktionen ‚kontextuell aufgehen‘ zu lassen. Mit den Begriffsversionen bei Kant und Schiller, Fichte oder Humboldt, Schelling oder Schopenhauer lassen sich neben Goethes auch Moritz, Tiecks, Novalis, Hölderlins oder Eichendorffs Stimmungskonfigurationen nicht so gut beleuchten wie mit einem phänomenologisch und ästhetisch, poetologisch und medientheoretisch reflektierten Stimmungsbegriff, wie er hier von Heidegger her entfaltet wird. Diese geradewegs der historischen Abfolge entgegengesetzte These muss in einer phänomenadäquaten Deutungsarbeit am literarischen Material erhärtet werden. Dadurch

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aber, d.h. durch die Phänomenadäquatheit ihres Stimmungsbegriffes, kann sie sich als ‚eigentlich‘ historisch erweisen. Unsere Analysen der textuell organisierten Stimmungen, ihrer ästhetischen Konfigurationen und phänomenalen Gehalte werden zeigen, dass die untersuchten Werke aus diesen als ihrem geschichtlichen Konstitutionsgrund hervorgehen, ohne dass ihre Autoren über denselben gestalterisch verfügen würden. Goethes erster Roman ist von einer Poetologie getragen, deren Wirkung eine bis dahin ungekannte Reflexionsbewegung bei seinen unzähligen Lesern auslöste, die nicht restlos durch die zeithistorischen Umstände der Rezeption (Buchmarkt, Lesewut, Selbstmorddiskurs, empfindsame Briefkultur, Dialektik von Intimität und Öffentlichkeit usw.) auflösbar ist. Wenn von der gründlich erörterten Wertherwirkung nicht gleichsam rundheraus gesagt werden kann, worauf sie zurückzuführen ist oder doch immer ein Rest davon ungesagt zu bleiben scheint, dann verweist dies schon auf die Ästhetik hermetischer Reserven und struktureller Ambivalenzen der späteren Moderne. Entgegen dem lange Zeit gängigen Klassifikationsmerkmal des Subjektivismus für den Werther soll durch Stimmungsanalysen die ästhetische Figur und Medialität einer – zumal sich selbst – unverfügbaren Subjektivität nachvollziehbar gemacht werden. Schon dadurch wird plausibel, warum die bei Goethe, Moritz und den ihnen darin folgenden Romantikern poetisch sich entwickelnde Stimmung nicht mithilfe einer historischen Kontextualisierung durch den philosophischen Diskurs erklärt werden kann. Denn hier kommt zu sehr der idealistische Zug zur Subjektivierung von Stimmung und mit ihm die Grundvorstellung einer konstitutiv verfügenden Subjektivität zum Tragen. Anders als die vornehmlich auf Reflexionsleistungen setzende Philosophie verweisen die Spiegelungsmetaphern der Dichtung seit dem jungen Goethe mehr auf die jedem Gefühl von Identität eingeschriebene Differenz sowie auf eine mediale statt substanzielle Subjektivität. Mit dem Darstellen der Schwellenerfahrung von Stimmungen gerät im Werther eine an Wahrnehmungsphänomenen haftende Objektivität des Gefühls in den Fokus des Ästhetischen. Erst die an einem wahrnehmungsphänomenalen Außen sich sammelnde Subjektivität findet dort und dann auch ein Innen vor, das anders als die idealistische Innerlichkeit Hegels nicht eine Vermittlung des Subjekts mit und durch sich selbst gewährleistet. Vielmehr ist das ekstatische, d.h. topologisch außen befindliche Subjekt poetischer Stimmung auf seine Vermittlung mit Anderem/n verwiesen. Diese exzentrische Struktur von Stimmung ist nicht im deutschen Idealismus, nicht bei Schopenhauer und Kierkegaard und auch noch nicht bei Nietzsche, Simmel und Dilthey in der Philosophie entscheidend. Erst bei Heidegger setzt sie sich durch, zunächst als Existenzial, später als ontologische Lichtung oder Denk-Stätte des Ereignisses. Die Beziehung von Subjektivität auf Anderes, das weder konventionellerweise Gott, noch ein dialektisch erweitertes Selbst und auch kein anzudenkendes Sein, sondern die interne Bedingung ihres Weltverhältnisses ist, macht die ästhetische Bedeutung der Stimmung aus. Unter diesem Aspekt zeigt sich im zweiten Teil unserer Arbeit, wie Goethes Romandebüt den vorläufigen Endpunkt der nach ihm erst einsetzenden Entwicklung des ästhetischen Stimmungsdiskurses bis hin zu Heidegger poetischproleptisch vorwegnimmt. Dadurch erhält vorliegende Theoriebildung bereits über einen systematischen Aspekt ihre historische Begründung. Wie das erfolgreiche Erscheinen des Werther auf dem entstehenden Buchmarkt ist freilich auch das Hervortreten des künstlerisch Neuen der Stimmungspoetologie

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als Momentum des kulturellen Geschehens innerhalb einer bestimmten historischen Konstellation zu begreifen. Durchaus artikuliert es einen geschichtlich gewachsenen Bedarf der Artikulation von äußerer und innerer Erfahrung, von aufblühender Wahrnehmung, Selbstaufmerksamkeit oder von veränderter Reflexion um 1770. Dies diskutieren wir in unserem den Theorieteil abschließenden, historischen Ausrichtung unserer Untersuchung Allerdings sind es nicht die Diskurse der aufkommenden philosophischen Ästhetik, der Psychologie, Physiologie oder Kunstkritik, deren Entwicklung die heute mit Stimmung zu bezeichnende Innovation des Poetologischen erklären kann. Wie Wellberys präzise Nachzeichnung der Begriffsgeschichte von ästhetischer Stimmung zeigt, taucht sie dort und als Wort einschlägig ohnehin erst in den 1790er Jahren auf.45 Vielmehr ist für historische Erklärungen der Voraussetzungen des Entstehens des literarischen Phänomens, das bei Goethe ja noch nicht einmal mit dem Wort ‚Stimmung‘ bezeichnet wird, eine andere, in sich uneinheitliche Strömung des 18. Jahrhunderts heranzuziehen. Sie ist am ehesten mit den Namen Leibniz, Shaftesbury, Spinoza, daneben auch Rousseau, Young, Hamann, vor allem aber mit Herder verbunden. In Herder vernetzen sich eine Vielzahl denkgeschichtlicher Linien zu einem solchen Denken von Geschichtlichkeit, das nicht nur die Formierung von Kulturen in ihren zeitlichen und räumlichen Erstreckungen durchdringt, sondern neben der Menschheit auch die Hominisation geschichtlich begreifen will. Seine phylo- und ontogenetische Spekulation auf ‚erste Töne‘ der Menschwerdung entfaltet Herder als anthropologische Theorien vom Ursprung der Sprache und von der Entstehung und Entwicklung von Poesie. Vor allem aber kommt seiner Auffassung von Gefühl als eine synästhetische Art des Denkens die Aufmerksamkeit des nur fünf Jahre jüngeren Goethe zu. Der Herder des aufziehenden Sturm und Drang, den Goethe in Straßburg vor Entstehen des Werther kennen und verehren lernte, verwendet im Reisejournal als einer der ersten das Wort Stimmung im emphatischen Sinne eines Ästhetischen, das kognitive, anthropologische und künstlerische Aspekte ebenso umfasst wie psychogenetische Spekulationen: „der erste Ton, die erste Stimmung der Seele“.46 Die Vorbereitung von Goethes Poetologie der Stimmung durch Herders Philosophie des Gefühls vermag allerdings nicht das Neue zu erklären, das erst durch künstlerische Gestaltung hervortritt. Der historische Entstehungskontext lässt den ästhetischen Denkimpuls nachvollziehbar werden, der von Herder auf den jungen Goethe übergegangen ist, bevor dieser ein Phänomen des Wahrnehmungsgefühls zum Gestaltungsprinzip der Dichtung macht.47 Was bei Herders Ansätzen ästhetisch konzi-

45 Noch in Sulzer 1771-74 und im entsprechenden Artikel bei Adelung 1774-1786 taucht Stimmung nur in der überkommenen musikalisch-technischen Bedeutung auf; vgl. dazu Wellbery 2003, S. 706f. 46 Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften, Werke Bd. IX/2, hrsg. v. Rainer Wisbert, Frankfurt a.M. 1997, S. 103. Fortan im laufenden Text nachgewiesen mit der Sigle JmR (+ Seitenzahl). 47 Dies betrifft u.a. die Wirkung von Literatur, wie sie Herder mit dem Begriff der Schwingung denkt. ‚Zuhörer‘/Leser müssen sich empathisch auf den dem Dichtermedium eingegebenen Ton einschwingen, damit dieser seine ästhetische Wirkung als „Gegenwart, Auf-

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piert wird, ist bei Goethe poetisch konfiguriert. Nämlich eine objektive Entfaltung von subjektivem Gefühl zu einer reinen Wechselbeziehung zwischen Polaritäten. In dieser von uns als Stimmung theoretisierten Beziehung sind deren Relate, der WeltPol des Wahrgenommenen und der Ich-Pol des Wahrnehmenden, im Phänomen einer eigendynamischen Bewegung aufgehoben. Die solchermaßen als Wahrnehmungsbewegung aufgefasste Stimmung vermag eine Vielzahl heterogener und sogar gegenläufiger Eindrücke, Vorstellungen und Emotionen zu einer objektiven Gefühlsdichte zu integrieren. Der Entstehung eines solchen dichten Gefühls entspricht die Dichtung unter textästhetischem Aspekt, insofern in ihr eine heterogene Vielheit sprachlich ‚verdichtet‘ ist. Das in der Alltagssprache oft schwer ausdrückbare Intrikate der Stimmung ist besser und oft überhaupt erst poetisch zur Sprache zu bringen. Die Literatur als Kunst vermag es mit der Stimmung als einem verschiedene Sinne integrierenden Gefühl – wie wir bei Goethe, Moritz und Tieck beobachten – an subtiler Syntheseleistung und an nuancierter Weltbeziehung aufzunehmen. Diesem Zusammenhang von Wahrnehmung und Darstellung versucht vorliegende Untersuchung durch ihr Ansetzen beim literarischen Phänomen selbst gerecht zu werden. Unser zweiter Band zu literarischen Stimmungen um 1800 knüpft an die Textanalysen mit dem ihnen zugrunde liegenden theoretischen Organon des ersten Bandes an. Zugleich bindet er das darin poetologisch begründete Phänomen an die historischen Diskurse vom ‚ganzen Menschen‘, der entstehenden Ästhetik und des Denkens von Geschichtlichkeit und Mythologie. Die seit Herder aufkommende Rede vom Zeitgeist, bald auch Zeitstimmung, wird dort von der kommunikativen und medialen Funktion sowie den psychosozialen und infektiösen Aspekten der Stimmung her beleuchtet. Dadurch kommt die kollektive Befindlichkeit am Übergang von Empfindsamkeit zum Sturm und Drang bereits im Zeichen einer Stimmung zur Erscheinung, die schließlich der Epoche um 1800 ihre ästhetische Signatur verleihen wird.

6. Z UM M ETHODENPROBLEM IN DER P SYCHOLOGIE UND DIE ‚ NICHT - ÄSTHETISCHE ‘ T HEORIEBILDUNG Die emotionspsychologische Thematisierung von Stimmungen sieht sich dem paradoxalen Umstand ausgesetzt, dass ihr Gegenstand sich einer erfahrungswissenschaftlichen Erforschung gleichsam empirisch entzieht.48 Stimmungen lassen sich als psychische Prozesse in actu weder beobachten, noch verlässlich messen und in ihren konkreten Wirkungsmechanismen nicht genau erkennen. Sie sind in einem Phänoweckung, Stimmung der Seele“ entfalten kann: „Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten,“ in: Herder 1985, S. 149-214, hier 200. 48 Indem wir von diesem Aspekt und der damit verbundenen methodischen Herausforderung an die Stimmungstheorie ausgehen, setzen wir einen anderen Akzent gegenüber dem Überblick von Winko 2003, S. 69-109, darin zur Psychologie S. 69-77, zur Stimmung S. 77-78. Siehe dort (S. 70) den Verweis auf weitere psychologisch grundlegende und umfassendere Forschungsüberblicke zum Thema Emotionen von Vogel 1997, S. 43-106 sowie Alfes 1995, S. 54-85.

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menbereich angesiedelt, in dem es seinerseits noch kein thematisches Bezugsfeld, kein referentielles Schema und kein reflexives Moment geben kann, insofern diese jenem nachgelagert sind. Ihre epistemische Ungreifbarkeit macht die Stimmung interessant, da sie wie andere ästhetische Phänomene die Grenzen der theoretischen Vernunft nicht nur mitmarkiert, sondern sie auch potentiell durchlässig macht und von ihrer anderen Seite her imaginieren lässt. Diese gegenwärtig virtuelle Position im normativen Jenseits wissenschaftlicher Diskurse bringt indes theoretische und methodische Probleme mit sich. Sie begleiten die seit einigen Jahrzehnten über die akademischen Disziplinengrenzen hinweg zu beobachtende Intensivierung der Beschäftigung mit emotionalen Phänomenen. Das Problematische lässt sich zunächst an einer wenig einheitlichen bis unklaren Begriffsverwendung ablesen. Unzählige definitorische Grenzziehungen zwischen Stimmung, Gefühl, Affekt, Emotion49 oder Disposition sind oft mehr Symptom als Lösung des Problems, diese alltäglich erfahrenen wiewohl psychophysisch komplexen Phänomene ontologisch, funktionalistisch oder empirisch näher zu bestimmen. Wird hingegen auf eine terminologische Begriffsklärung vorab verzichtet und alles Theoretische zurückgestellt, bleibt die wissenschaftliche Suche orientierungslos, die Beobachtung unexplizierbar, ein jeglicher Befund unspezifisch. Die philosophische Phänomenologie der Stimmungen und Gefühle geht deshalb von einem vortheoretischen Gegebensein der Phänomene aus, die innerhalb eines Feldes von Affektivität mit einander überlappenden Begriffen verortet werden: „Atmosphäre – Klima – Ausstrahlung – Stimmung – Laune – Gefühl – Gespür – Befinden.“ (Fuchs 2013, S. 17-31) Die empirische Psychologie behilft sich mit einer grobschematischen Stimmungseinteilung zwecks Markierung eines kaum noch sinnvoll bestreitbaren Ausgangsterrains. Beides Mal muss die Quasi-Suggestion eines Minimalkonsenses in Kauf genommen werden, um der Gefahr der Präjudizierung infolge zu weitgreifender Prämissenbildung vorzubeugen. Grundsätzliche Überlegungen dieser Art werden im Folgenden noch etwas ausgeführt, um eine konzise Darstellung theoretischer Probleme im nicht-ästhetischen Diskursbereich einzuleiten. Sodann wird der Entwurf einer psychologischen Theorie skizziert und die Kohärenz von deren Stimmungskonzept geprüft. Dabei geht es in exemplarischer Hinsicht um ungelöste Spannungen zwischen definitorischen Voraussetzungen und experimentellen Verifizierungen. Es sollen allgemeine Probleme einer Theorie der Stimmung ins Auge gefasst werden wie sie seit gut einhundert Jahren im Umfeld der experimentellen Psychologie und Emotionsforschung verhandelt werden. Der avancierte Stand der letzteren lässt sie nach Reisenzein geeignet erscheinen, eine Theorie auch der Stimmungen zu entwickeln, an der sich die Emotionstheorien zu bewähren haben. 50 Suchte man die Ermöglichungsbedingungen einer Stimmungstheorie nach Maßgabe naturwissenschaftlicher Methodenstandards zu bestimmen, so steht am Beginn das Aufstellen einer Arbeitshypothese zur Modellierung von wiederholbaren Versuchen, deren aus49 Siehe etwa Sokolowski 2002; zu begrifflichen Unterschieden und Gemeinsamkeiten sowie Paradigmenwechseln in der Geschichte der Stimmungs- und Emotionsforschung Parkinson u.a. 2000, S. 16-24; vgl. Janke u.a. 2008; Reisenzein und Siemer 2013, S. 105ff. 50 Reisenzein/Siemer 2013, S. 108; siehe dazu den gegenwärtigen Stand der Entwicklung von psychologischen Stimmungstheorien S. 108-117.

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gewertete Messergebnisse die Grundlage für weitere Hypothesen und diesen entsprechend modifizierten Versuchsanordnungen bildeten. Aus der abschließenden Bewertung und Deutung der Versuchsergebnisse ergibt sich eine Verifizierung oder aber Falsifizierung der Hypothesen. Wurden diese bereits zu einem Theoriegerüst montiert, steht und fällt auch dieses damit. Im positiven Fall gelangt man so zu empirischen Wahrheiten. Deren Wert hängt – wie immer auch derjenige von gefundenen oder bestätigten Tatsachen – freilich von der Fragestellung oder der Kompatibilität mit Daten, Befunden und Theorien aus dem Vorfeld ab sowie in der Folge vom Maß ihrer Eignung für Problemlösungen, Analyseverfahren oder für weitere Experimente. Seinerseits erfolgt die Bestimmung dieses Wertes indes keineswegs experimentell, sondern etwa durch Spezifizierung von Geltungsbereichen und des instrumentellen Settings. So werden über eine theoriegeleitete Hypothesenbildung samt der von ihr entsprechend theoriehaften Versuchsanordnung und dann noch einmal durch die Interpretation der experimentellen Ergebnisse in Abhängigkeit von schon vorhandenen Theoriegebäuden empirische Wahrheiten hervorgebracht – oder pointiert gesagt: Tatsachen werden nicht allein in der Erfahrung gefunden, sondern aus Zusammenhängen heraus erfunden. Dass „Tatsachen oder ‚Fakten‘ offensichtlich etwas Gemachtes“ sind, veranlasste Nelson Goodman vor dreißig Jahren dazu, „jede Identifikation des Physikalischen mit dem Realen und des Perzeptiven mit dem bloß Erscheinenden [als] hinfällig“ zu erklären: „Das Perzeptive“, so Goodman in Ways of Worldmaking weiter, „ist ebenso wenig eine ziemlich verzerrte Version der physikalischen Tatsachen, wie das Physikalische eine höchst artifizielle Version der perzeptiven Tatsachen ist.“ (Goodman 41998, S. 116) Wie hier das Perzeptive – oder abhängig von diesem – ist die Stimmung nicht bloßen Erscheinungen zuzuschlagen, hinter denen sich etwas Anderes verbirgt, sei dies als etwas Physiologisches, als Wesen oder als Ding an sich vorgestellt. Der Stimmung theoretisch auf die Spur zu kommen, heißt zunächst Abstand nehmen von rationalistischen, positivistischen oder phänomenalistisch-objektivistischen Denkformen, die ihr epistemisches Gegenstandsfeld über die phänomenale Differenz von Wesen und Erscheinung oder über die gnoseologische Differenz von Subjekt und Objekt definieren. Denn schon als Erscheinen wäre die Stimmung ihr Wesen. Substanzlos ist sie dann das Akzidens und liegt doch jeder menschlichen Essenz existenziell zu Grunde, wenn sie als prähermeneutische Befindlichkeit das In-der-Welt-Sein und damit leiblich-räumliche Dasein in seiner ursprünglichen Wirklichkeitsintegration bestimmen soll. In Heideggers fundamentalontologischer Perspektive erreicht die Stimmung – wie wir noch sehen werden – eine maximale Tiefe ihrer Konzeptualisierung. Als funktionale Weise der Selbsterschließung des ontologisch privilegierten Seienden, nämlich des menschlichen Dasein, ist die räumlich und zeitlich existenziale Stimmung dort dem erkenntniskritischen Schema und auch schon theoretischer Betrachtungsweise entzogen. Auf umgekehrtem Wege versucht die experimentelle Psychologie der Problematik epistemischer Gegenstandskonstitution dadurch zu entgehen, dass sie Stimmung theoretisch ‚flach‘ ansetzt, indem dieselbe zunächst als hypothetisches Konstrukt aufgefasst wird: „Since a hypothetical construct cannot be measured directly we must settle upon indirect indications of its presence.“ William N. Morris erklärt in seinem Buch „Mood. The Frame of Mind“ noch 1989 weiter: „so we must rely upon [...] self-reports and the so-called ‚behavioral‘ measures.“ (Morris 1989, S. 19) Der wis-

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senschaftliche Wert introspektiver Verfahren sollte allerdings viel kritischer gesehen werden, wie die neuere Forschung es auch tut.51 Ferner sieht Morris die Möglichkeit einer physiologischen Messung sehr skeptisch, da Stimmungszustände typischerweise von niedrigem Niveau seien, sodass sich keine aussagekräftigen Messungen und Evaluationen vornehmen lassen.52 Wenig ermutigend findet Morris in dieser Richtung unternommene Ansätze, which „have reported success using electromyographic measures of the facial musculature in connection with various imagining instructions that ought to be mood-inducers.“ (Morris 1989, S. 19f.)53 Eine neuere Studie sieht dies hinsichtlich der Messung von Hautwiderstand ebenfalls skeptisch und arbeitet stattdessen mit Messungen der Herzrate sowie des sympathischen und diastolischen Blutdrucks. (Richter, 2004, S. 80) Wenn man auch davon ausgehen darf, dass sich die messtechnischen Möglichkeiten zunehmend verbessern, so bleibt doch das Problem zu begründen, warum das mehr oder weniger genau Gemessene Stimmung ist. Deshalb wird gewöhnlich eine grobschematische Einteilung der Stimmungen in gehobene, mittlere und gedrückte oder aber nur positive oder negative vorgenommen. (Parkinson u.a. 2000) Diese für ästhetisch-ethisch Orientierte geradezu enttäuschende oder doch trivial anmutende Klassifizierung hat ihren guten, nämlich vortheoretischen Grund darin, dass damit eine kaum noch diskutierbare Vorverständigung über das, was Stimmungen sind, erzielt werden kann. Diese dient dann als Ausgangsbasis für Versuche und Versuchsreihen, die zunehmend demjenigen sich annähern können, was in der Auswertung als Stimmung angesehen werden muss. Allerdings bleiben insbesondere in Feld- und Laborexperimenten mit behavioralen Methoden und erst recht bei solchen, die auf self-reports beruhen, Probleme der Objektivierbarkeit bestehen. 54 Das liegt nicht nur daran, dass Stimmungen weitgehend subjektiv und also unverifizierbar sind. (Morris 1989, S. 20) Es hat auch damit zu tun, dass in Stimmungsberichten eine introspektiv ausgemachte Empfindung etwas ihr Vorhergehendem oder sie Umgebendem zugeschrieben wird und dadurch die schlussfolgernde Analyse fehlgeht. (Ebd.) Die von der Versuchsperson vorgenommene Erklärung der Empfindung wäre dann falsch, während doch seine Empfindung als so oder so empfundene nicht bestritten werden kann. Dieses Referenzproblem, nämlich dass sich nicht auf die Empfindung selbst, sondern auf das sie Auslösende oder etwas mit ihr Verquicktes bezogen wird, ist in der Emotionsforschung als „ob51 Siehe etwa Silvia und Gendolla 2001. 52 Insbesondere entsteht das Dilemma bei Affektmessungen durch Selbstbeurteilungen, „dass das Meßverfahren möglicherweise genau das Phänomen beeinflußt, das es messen will. Einige Forscher haben zum Beispiel darauf hingewiesen, daß bewußte Stimmungserlebnisse ganz andere Auswirkungen haben als unbewußte Stimmungen (Morris 1992).“ Parkinson u.a. 2000, S. 55. 53 Vgl. zu den Zweifeln hinsichtlich der zeitlich erstreckten Stimmungen Ekman 1994, S. 5658. 54 Dies zeigt sich auch am Problem einer quantitativen Erfassung von Stimmungszuständen nach Stärke oder Intensitätsdimension, vgl. Parkinson u.a. 2000, S. 13. Siehe zum gegenwärtigen Forschungsstand mit einem Rückblick auf die Entstehung und einem Überblick über die Methoden der experimentellen Emotionsforschung Janke u.a. 2008.

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ject error“ oder „stimulus error“ (ebd.) bekannt und betrifft nicht nur Stimmungsexperimente. Daran zeigt sich, wie sogar im Versuch selbst, namentlich über die von der Versuchsperson vorgenommene Deutung dessen, was sie erfährt, die Erfahrungsgrundlage von etwas aufgeweicht wird, was von projektiv-imaginärer Natur, bestenfalls von assoziativ-hermeneutischem Geist ist. Gleichzeitig weist diese als error titulierte Probandenaktivität sowohl auf die bereits in die Versuchsanordnung eingegangene Begriffsarbeit hin, als auch auf diejenige, die mit der Evaluation der Versuchsergebnisse immer einhergeht, also auch dann, wenn es keine errors gegeben hat. Solche nicht als kontingent zu bezeichnenden, sondern aus ihrer Voraussetzungslogik heraus zu bedenkenden Fehlerquellen zeigen zumindest eines: Der in methodischer Absicht wohlbegründet vorgenommene Verzicht auf terminologische Festlegungen oder gar auf eine komplexe heuristische Struktur garantiert noch keinen Erkenntnisgewinn auf experimenteller Basis. Die dem naturwissenschaftlichen Methodenideal verpflichtete vorexperimentelle Reduktion hat hinsichtlich der Stimmungsforschung das Ausbleiben einer Theoriebildung zur Kehrseite. Ohne überzeugende Versuchsdaten keine Hypothesenverifikation und also keine empirische Theorie. Wo konsequente Theorieabstinenz nicht durchgehalten wird, weil sie als Theoriemangel empfunden wird, kommt es mitunter explizit zu theoretischen Anleihen bei nichtempirischen Ansätzen wie beispielsweise dem psychoanalytischen von Edith Jacobsen55 oder aber implizit bei solchen wie dem phänomenologisch-anthropologischen von Bollnow56. Oder es wird sich auf Spekulationen eingelassen, um dem eigenen Ansatz doch eine Art theoretischen Reflexionshorizont zu verschaffen, wie Morris dies mit Blick etwa auf Zajonc tut, obwohl dieser nicht systematisch zwischen Emotion und Stimmung unterscheidet.57 Um sein Konzept von Mood as the frame of mind entwickeln zu können, greift Morris auch an anderer Stelle auf nicht stimmungsspezifische Studien wie etwa diejenigen der „arousal plus cognition theories of emotion“ zurück (Morris 1989, S. 15-18, Hvh. St.H.). Trotz der seit den achtziger Jahren bis heute angeschwollenen, zunehmend auf das Verhältnis zur Kognition fokussierten Forschungsliteratur gibt es gegenwärtig noch keine kohärente Theorie der Stimmung, welche unterschiedlichen Ansätzen wie der experimentellen und klinischen Psychologie eine gemeinsame Richtung gäbe. Einer der Gründe hierfür ist im Mangel einer hinreichend differenzierenden und theoretisch belastbaren Terminologie zu suchen, welche die Voraussetzung einer Konsolidierung der empirischen Stimmungsforschung bilden könnte. Der Behebung dieses Mangels auf konventionellem Wege jedoch steht ein generelles Problem mit vorexplikativ verwendeten Begriffen entgegen. Ihre Operationalisierung ermöglicht erst 55 So bei Morris „early mood theorists [...] saw mood as being part of a system designed to accomplish psychological self-regulation.“ (1989, S. X, 1) Morris sieht sich darin in der Nachfolge seiner Vorgänger „Vincent Nowlis, Edith Jacobsen, Alden Wessman, Alice Isen, all of whom recognized that moods are distinctive affective states deserving of special attention. If there is value in this enterprise it is because a larger net more widely cast can catch a bigger fish“ (ebd.). 56 So wird Bollnow (1956) zwar elfmal zitiert, allerdings methodologisch nicht reflektiert bei Schwarz 1987, der auch darin Ewert 1983 folgt. 57 Morris 1989, S. 7, 11-14, 33, 148 (hier 14) mit Bezug auf Zajonc 1980a und 1980b.

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die Untersuchung, in deren Verlauf ihre Definition modifiziert werden können soll, damit Versuchsergebnisse empirisch gesichert und nicht konzeptuell präjudiziert werden. Dieses strukturelle Problem scheint mir Morris im Gegensatz etwa zu Thayer58 außer Acht zu lassen, wenn er glaubt, „that the lack of consistency between theoretical construct and operational definition is a symptom of the more fundamental need to restore a broader theoretical perspective to the literature on mood.“ (Morris 1989, S. 198) Das stimmt zwar, jedoch ist nicht erkennbar, wie auf der zu dünnen Datenbasis experimentalwissenschaftlicher Studien eine solche theoretische Perspektive entwickelbar wäre. (Vgl. dazu Janke/Schmidt-Daffy/Debus 2008) Dem entsprechend unterscheidet sich dieses hier als exemplarisch für die Psychologie aufgefasste Stimmungskonzept von Morris darin nicht von philosophischen, phänomenologischen oder ästhetischen Konzepten, dass es seinen Ausgangspunkt in einer sorgfältigen Begriffsdefinition sucht.59 Gefunden wird er in einer terminologischen Unterscheidung hauptsächlich von Emotion.60 Erweitert wird er um Differenzierungen über Typen, Prozesse und Wahrnehmungsmuster (der Behaviorist Nowlis : bewusst/unbewusst; die Psychoanalytikerin Jacobsen: normal/pathologisch; begleitende Kognitionsprozesse: automatisch/kontrolliert; in oder außerhalb der Aufmerksamkeit; Distinktionsschema: Figure/Ground). 61 Ausgehend von diesen begrifflichtheoretischen Vorgaben wird von Morris die immense Forschungsliteratur der empirischen Psychologie allein bis Ende der 1980er Jahre gesichtet, selektiert und auf ihre Kompatibilität mit dem eingeführten Stimmungskonzept hin diskutiert. So werden Stimmungen in ihrer Diffusität bis hinein in ihren Einfluss auf Prozesse des Verhaltens, des Wahrnehmens und der Kognition nicht empirisch untersucht, sondern ihnen wird mit Bezug auf empirische Studien aus der Emotionsforschung ein theoretischer Rahmen zu geben versucht. Die auch in neueren psychologischen Studien vorgenommenen Definitionen von Stimmung samt ihrer mehr oder weniger für sinnvoll gehaltenen oder durchgehaltenen Unterscheidungen von Emotion, Affekt, Gefühl oder Empfindung gehen zurück auf das Bemühen um sachliche und begriffliche Klärung seit der Psychologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.62 Weder hat dies zur Beantwortung der von William James 1884 gestellten Frage danach, was ein Gefühl ist, geführt, noch zu einer 58 „It is clear from Nowlis’s research, as well as other published studies, that the dimensions of mood usually cannot be seperated from mood assessments. Thus, the hypothetical mood dimensions are often tied to particular systems of measurement.“ (1989, S. 16) 59 „In summary, moods can be defined as affective states that are capable of influencing a broad array of potential responses, many of which seem quite unrelated to the moodprecipitating event. As compared with emotions, moods are typically less intense affective states and are thought to be involved in the instigation of self-regulatory processes.“ (Morris 1989, S. 3) 60 So auch bei Thayer und zusätzlich wird bei ihm mood definiert „as a tendency to act a particular way under certain circumstances [...] although these circumstances are not fully known for any particular mood.“ (1989, S. 15) 61 Zur Bipolarität der meisten Stimmungen vgl. Thayer 1989, S. 17. 62 Zur älteren Forschung siehe etwa Stumpf 1928, S. 3; Pfänder 1922, S. 30. Zur neueren Forschung Reisenzein 2007.

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kohärenten Stimmungs- oder Gefühlstheorie oder auch nur zu einem systematisch konsolidierten Begriff von Stimmung. (Vgl. James 1884a) Wird von einer minimalen Konturierung des Untersuchungsgegenstands durch Zwei- bis Dreiteilung in positive (gehobene/heitere), mittlere, negative (depressive/traurige) Stimmungszustände ausgegangen, scheinen die Versuchsergebnisse nicht genügend Daten zu liefern, deren Analyse eine trennschärfere Profilierung von anderen Affektzuständen erlauben würde. Wird hingegen die bloß vorexplikative Begriffsverwendung zu einem terminologisch tragfähigen Gerüst ausgebaut, dann passen die Befunde nicht mehr hinreichend dazu und werden durch empirisch nicht mehr gesicherte Explikationen ergänzt. Im ersten Fall reicht es nicht für eine veritable Theorie, im zweiten Fall führt es zu keiner verifizierbaren Theorie.

7. B EGRIFFSVERWENDUNG UND D EFINITIONSVERSUCHE IN DER E MOTIONSFORSCHUNG Das Desiderat einer (neu-)phänomenologischen Grundlagenreflexion

Das Problem ungenauer Begriffsverwendung teilt die Forschung zur Stimmung mit derjenigen zum Gefühl, zum Affekt und zur Emotion in der deutschen und angelsächsischen Fachliteratur. Bis in gegenwärtige Theorieansätze werden Definitionen vorgenommen, nach denen einmal Emotion, einmal Gefühl oder auch Affekt umfassender ist. 63 Dem einen wird das jeweils andere Phänomen untergeordnet und es kommt der Sache nach zu Spezifikationen wie Gefühlsemotionen bzw. „emotionalen Gefühlen“.64 Als empirische Basis der begrifflichen Differenzierung dienen „konkrete, reale Veränderungen“ im physischen Organismus, „die im Prinzip daher auch messbar sind“ (ebd. 340). In der Tradition materialistischen Denkens sind in der Gegenwart etwa für den Neuropsychologen Damasio „feelings [...] the mental representation of the physiological changes that characterize emotions“.65 Nach diesem auf James (1884a) und unabhängig von diesem etwa zeitgleich Carl Lange (1887) zu63 Siehe beispielsweise Ferran Vendrell: „Insbesondere untersuche ich die Verbindung zwischen den Emotionen und Körperempfindungen, Gefühlsempfindungen (rein körperlicher Lust und Schmerz), Wahrnehmungen, Urteilen, Werturteilen, Phantasien, Wünschen, Willensakten, Stimmungen, Dispositionen und Charakterzügen sowie die Frage, inwiefern die Emotionen eine besondere Sorte von Gefühlen sind, denn in meiner Arbeit wird zwischen Gefühlen und Emotionen unterschieden. Emotionen sind – so die These – leibliche Intentionen, die sich wesentlich auf Werte richten. Als Gefühl dagegen wird [...] jedes Betroffensein bezeichnet, so dass Emotionen eine besondere Klasse von Gefühlen sind.“ (2008, S. 19) Im Englischen ist affect der umfassendere Begriff, dem also emotion und mood untergeordnet sind. Vgl. Parkinson u.a. 2000, S. 16-20; Reisenzein 2007. 64 Vgl. Schmidt-Atzert: „Eigentlich müsste man von ‚emotionalen Gefühlen‘ sprechen, weil der Begriff ‚Gefühl‘ breiter ist und sich auf andere Phänomene als Emotionen beziehen kann [...] ‚Emotion‘ ist dagegen das breitere Konzept, innerhalb dessen das ‚Gefühl‘ einen Teilaspekt darstellt“. (1983, S. 339) 65 Damasio 2001, S. 781. Zit. n. Schmidt-Atzert 1983, S. 340.

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rückgehenden materialistischen Ansatz, der in der wissenschaftstheoretisch reflektierten Psychologie seit langem kontrovers diskutiert wird (vgl. Cannon 1927), gehen „dem Entstehen einer Gemütsbewegung oder einer emotionalen Vorstellung [...] körperliche Wirkungen“ voraus, die ihrerseits von physisch induzierten Wahrnehmungen hervorgerufen werden.66 Erlebtes Gefühl ist dann ein sekundäres Phänomen. Es stellt das psychische Abbild „körperlicher Reaktionen, neurochemische[r] Prozesse und sogar kognitive[r] Prozesse“ (ebd.) dar. Gemäß der Befragung von Laien zur Unterscheidung von Emotion und Stimmung67 sind es indes eher die Stimmungen, die mit Kognitionen in Verbindung gesehen werden, während die Begriffe Emotion und Gefühl tendenziell das Gleiche bezeichnen. (Ebd. 341) Annäherungen bis Gleichsetzungen dieser Art finden sich jedoch auch in der psychologischen Forschungsliteratur selbst. (Vgl. Schmidt-Atzert, S. 341; Reisenzein 2007) Die Probleme begrifflicher Abgrenzung betreffen in Versuchen, in denen anhand von Fragebögen kategoriale Zuordnungen von emotionalen Merkmalen vorgenommen werden, sogar auch das Verhältnis von Stimmung und Gefühl. (Ebd. 343) Selbst wenn man die sowohl im fachlichen wie im Laienverständnis spezifizierten Unterscheidungsmerkmale (tendenzielle Objektlosigkeit, längere Dauer der Stimmung) in Rechnung stellt, so wird Stimmungen und Gefühlen – anders als den Emotionen selbst68 – die Qualität eines (‚emotionalen‘) Erlebnisses doch als etwas zugeschrieben, das ihnen gemeinsam ist. Dieser gemeinsame Aspekt der Erlebnisqualität bringt indes keine Vereinheitlichung im Sinne gleichrangiger Unterordnung von Stimmung und Gefühl unter den Begriff des Erlebnisses mit sich. Denn die empirische Emotionsforschung versteht Stimmungen auch wiederum als „eine bestimmte Klasse von Gefühlserlebnissen“ (Ewert 1983, S. 399), zu denen außerdem die Erlebnistönungen und Gefühle im engeren Sinne zählen. Auch für Ewerts psychologische Begriffsklärung bildet einmal mehr Bollnows philosophisch-anthropologisch orientiertes Buch über das Wesen der Stimmungen den Referenzhintergrund. Ungeachtet von dessen eher gering geschätztem wissenschaftlichen Wert scheint die deskriptive Vorlage von Bollnow unverwüstlicher Natur zu sein: „Stimmungen sind Gefühlserlebnisse von diffusem Charakter, in denen sich die Gesamtbefindlichkeit eines Menschen ausdrückt. In Stimmungen erlebt der Mensch, wie ihm zumute ist, und Bollnow (1943) weist darauf hin, daß häufig die Namen für Stimmungen mit den annähernd gleichbedeutenden Bestandteilen -mut und -sinn gebildet werden; also Trübsinn, Frohsinn, Leichtsinn, Übermut, Schwermut, Wehmut, Gleichmut, Mißmut (Bollnow, 1943, S. 20 [3. Aufl. 1956, S. 34]) Überträgt man die Figur-Grundunterscheidung auf Gefühlserlebnisse, so bilden Stimmungen den Grund, von dem sich klarer umschriebene Erlebnisse als ‚Figur‘ abheben. Von anderen Gefühlsarten unterscheiden sich Stimmungen dadurch, daß sie eine größere zeitliche Erstreckung haben und über Stunden, sogar Tage hinweg andauern.“ (Ebd.) 66 James 1920, S. 377. Vgl. Ewert 1983, S. 416. 67 Beedie u.a. 2005; vgl. Schmidt-Atzert 1983, S. 341. 68 Siehe hingegen den Beitrag, der die Stimmungen als Emotion auffasst, die ihrerseits Wünsche und Überzeugungen funktional verlängern, vor allem aber als „emotionale Dispositionen“ zu verstehen sind: Reisenzein und Siemer 2013, S. 95.

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Auch die wohl auf die Gestaltpsychologie zurückgehende Figur-Grund-Unterscheidung stellt nur eine bildliche Formalisierung dessen dar, was bei Bollnow ausführlich „als tragender Grund der Seele“ (Bollnow 1956, S. 53), als „jeweils herrschende[r] Stimmungsgrund“ und mit Bezug auf Felix Krueger69 als „gefühlsmäßiges Zumutesein“ (ebd. 54) bezeichnet ist. Was letzterer einem ins Ungerichtete geweiteten Gefühl zuspricht, zeichnet für Bollnow die Stimmung im Unterschied zum gerichteten Gefühl aus. Dieser spricht von der „durchgehenden Gefärbtheit alles Erlebens durch den Untergrund der Stimmung“, auf der sich dann die „Ganzheitlichkeit des Erlebens“ aufbaut, die bei Krueger ein alles umfärbendes Gefühl mit sich bringt. (Krueger 1928, S. 21; zit. n. Bollnow 1956, S. 55) Wie letzterer gehört Paul Schröder der Psychologengeneration an, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Grundlagen der heutigen Gefühlsforschung geschaffen hat. Schon bei diesem findet sich das in der klinischen Psychologie bestätigte und in Ewerts Definition aufgenommene „relativ überdauernde Zumutesein“ als ein Bezugsrahmen für alle anderen Erlebnisse. (Ewert 1983, S. 400) Auch in neueren Studien wird dies noch einmal bestätigt. (Parkinson u.a. 2000) Das gegenüber dem Gefühl erhöhte Zeitmaß der Stimmungen liegt bereits dem von Bollnow zitierten Vergleich Schröders zugrunde, der die Charakterisierung der Stimmungen zudem an deren musikalischen Herkunftsbereich zurückbindet: „Ist die Stimmungslage der Grundbaß, welcher einförmig und gleichmäßig einherschreitet, so sind die Gefühle die darauf aufgebauten, wechselnden, bunten Aussetzungen und Melodien; oder: stellen wir uns die Stimmungslage als eine einförmige Verlaufskurve vor, so bilden Wechsel und Ablauf der Gefühle eine sekundäre Kurve über der ersten; von den Gefühlen aus gesehen können wir auch sagen: die jeweilige Stimmung ist der Rahmen von seelischen Gegebenheiten, in welchem immer nur bestimmte Gruppen und Richtungen von Gefühlen möglich 70 sind.“

Diese – wie auch „alltägliche Vorkommnisse, zufällige Begebenheiten“ – werden im zeitlich relativ stabilen Rahmen der Stimmungen zu „Kristallisationskernen“ für deren „konkrete Ausgestaltung“. (Ewert, S. 401) Solche Abhängigkeit der Gefühle von Stimmungen lässt sich aber auch umgekehrt bemerken, wenn Stimmungen plötzlich umschlagen oder sich allmählich wandeln unter dem Einfluss von neu aufkommenden Gefühlen. In den von ihm bilanzierten Ergebnissen und Problemen der Emotionsforschung stellt Ewert neun Punkte zusammen, nach welchen die Stimmungen von anderen Gefühlserlebnissen unterschieden werden. Diese Charakterisierung dient bis heute als Grundlage von begrifflichen Abgrenzungen in Lehrbüchern und Forschungsarbeiten der Psychologie.71 Sie basiert deskriptiv und definitorisch spätestens auf dem in den 1950er Jahren erreichten Stand der phänomenologischen und psychologischen Forschung. Danach scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass Stimmungen anders als 69 Bollnow (1956, S. 54f.) zitiert Krueger 1928, S. 20f. 70 Schröder 1930, S. 11; zit. n. Bollnow 1956, S. 36, 257. Vgl. Schröder 1932, S. 201ff. sowie Bollnow 1956, S. 257 Anmerkung 8. 71 Siehe z.B. Sokolowski 2002, Schwarz 1987, S. 2.

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Gefühle nicht unmittelbar an Objekte (Personen, Dinge, Ereignisse) gebunden sind. 72 Diese Nicht-Intentionalität mache ihren emotionalen Zustandscharakter aus: „Als charakteristisch für Zustandserlebnisse von der Art der Stimmungen gilt, daß eine Differenzierung von erlebtem Ich und erlebter Welt nicht beobachtet wird.“ (Ewert, 1983, S. 400) Bemerkenswerterweise wird hier auf einen Begriff des Erlebnisses rekurriert, der in der geisteswissenschaftlich geprägten Psychologie der Dilthey-Schule eine zentrale Rolle spielt. Dort kommt ihm eine der Stimmung (Lebensstimmung, Grundstimmung) verwandte Grundlegungsfunktion zu, welche der historischen Vernunft ihre Einheit in einer hermeneutischen Verwindung der erkenntnistheoretischen Subjekt-ObjektTrennung garantieren soll. Dabei wird das geschichtliche Weltverstehen über als Ausdruck verstandene Konkretionen mit einem seinerseits geschichtlich aufgebauten Selbstverhältnis zusammengeschlossen. So sollen Verstehen und Sich-Verstehen eine methodische Einheit bilden können. Hingegen wird hier in der auf objektivierbare Erkenntnisse zielenden Emotionsforschung der Erlebnisbegriff so verwendet, als könnten subjektive Erlebnisse wie Dinge, andere Personen oder äußerliche Ereignisse beobachtet werden, wenn sie nur in „Erlebnisbeschreibungen“ (ebd.) vorliegen. Deren Auswertung scheint kaum mit Unwägbarkeiten des Symbolisierungsprozesses, mit Ungreifbarem im Ausdrucksverstehen oder mit Eigendynamiken der Sprache rechnen zu müssen. Und schon der Schreiber des Selbstberichts scheint keineswegs an der Adäquatheit der Versprachlichung seines Erlebnisses zweifeln zu sollen. Im Fall der Stimmung sieht sich allerdings schon das introspektive Verfahren der Selbstbeobachtung vor das Problem gestellt, etwas gefühlsmäßig, gedanklich und erst recht sprachlich zu fassen zu bekommen, was unterhalb der Schwelle diskret artikulierbarer Bewusstseinsinhalte sich hält, seiner genetischen Struktur nach vor-reflexiv ist und dem einzelnen Gefühl zugrunde liegt. Die Autoren um Parkinson (2000) haben das Versprachlichungsproblem im Vorwort zu ihrem Buch offenbar erkannt, indem sie auf die kontroverse Interpretation von Stimmungswörtern schon innerhalb ihrer Forschergruppe hinweisen. Entsprechend halten sie die Debatte über die „Auswahl der ‚richtigen‘ Adjektive für Stimmungsratings“ für nicht zielführend, halten indes mangels methodischer Alternativen an Selbstberichten fest. (Parkinson u.a. 2000, S. 9) Im Erleben von Stimmung als einem atmosphärisch diffusen Umgebensein wird – wie Ewert richtig „beobachtet“ – nicht nach Distinktionsschemata wie Ich/Welt, Innen/Außen, Selbst/Anderem oder Körper/Seele unterschieden. Im Gegenteil scheint die zuständliche Stimmungserfahrung gerade ein Noch-nicht-auseinanderTreten in solche Duale auszuzeichnen. Aus diesem Befund werden indes keine methodologischen Konsequenzen gezogen. Etwa im Sinne einer kritischen Reflexion auf die der wissenschaftlichen Beobachtungsaktivität zugrunde liegenden Differenzierung von beobachtendem Ich (des Psychologen) und beobachteter Welt (des Klienten). Denn diese „Differenzierung“ wird im oben angeführten Zitat als Garant für eine Objektivität der Stimmungsbeschreibung beansprucht, welche dieser selbst (im Selbstbericht) nicht zugesprochen werden mag, da sie ja gerade ein solches Gefühlserlebnis zu verbalisieren sucht, das sich nicht ohne jene prätranszendentale 72 Nochmals bestätigt bei Gendolla 2000.

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Nicht-Differenzierung spezifizieren lässt. Dadurch soll offenbar unausgesprochen bleiben oder aber die Selbsteinsicht verstellt bleiben können, dass eine phänomengerechte Erforschung von Stimmung immer auch bedeutet, etwas den Ermöglichungsbedingungen von objektivierbarer Erkenntnis Vorgängiges und somit letzterer Entzogenes zu untersuchen. Dies aber widerstrebt einer Psychologie, deren empirisches Selbstverständnis sich aus dem naturwissenschaftlichen Methodenideal herleitet. (Vgl. Janke/Schmidt-Daffy/Debus 2008) Um am epistemologischen Schisma von psychischem Selbst und physischer Welt festhalten zu können, werden eher terminologische Vorschläge wie der von Morris (1992, S. 256-93) gemacht, jenem Innenbereich die Stimmungen und jenem Außenbereich die Emotionen zuzuordnen. Anders als für das psychologische Phänomen ist für das ästhetische Phänomen gerade die präduale Aggregatstruktur, die den Subjekt- und Objektbereich unterschwellig miteinander verfugt, in konstitutivem Sinne bedeutsam. Entsprechend rückt sie ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Die Funktionsweisen ästhetischer Wahrnehmung und Darstellung von Stimmung sind nicht nur – und nicht einmal vor allem – über eine weiterhin behälterartig vorgestellte Innenwelt, sondern mindestens ebenso sehr über ein topologisches Weltinnen zu verstehen. Dabei muss freilich eine ontologische Unterscheidung in psychische und physische Anteile der Weltkonstitution zugunsten einer ästhetischen Bestimmung derselben unterlassen werden. Mit der vorreflexiven Einheitlichkeit des Konstitutionsgrundes des Stimmungsphänomens bleibt eine methodische Herausforderung verbunden. Mit deren Annahme steht und fällt nicht erst die Theoriefähigkeit von Stimmung, sondern schon der Gegenstand des Erkenntnisinteresses an ihr. Dies wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen. Wollen wir doch das gleichermaßen Ungreifbare wie Ergreifende von Stimmungen theoretisch bewusst machen, namentlich wie es sich in der Kunst der Literatur manifestiert und dadurch Gestalt gewinnt. Bezeichnenderweise aber werden Stimmungen auch in der Psychologie nicht ohne metaphorische Anleihen bei genuin wahrnehmungsästhetischen Bildfeldern wie Färbung, Melodie oder atmosphärischer Spannung und deren Überlappung besprochen. Erst von dieser Basis phänomenologisch intakter Wahrnehmung heben sich dann Empfindungen, Gefühle oder Erlebnisse ab, deren Qualitäten von der ihnen vorgängigen Stimmung grundiert sind. Mit den sprachlichen Mitteln und experimentellen Methoden der empirischen Psychologie allein lässt sich dem Stimmungsphänomen – zumal in seiner ästhetischen Komplexität – nicht beikommen. Entsprechend vage müssen Äußerungen ausfallen, die sich auf dessen physisch-psychische Integralität beziehen: „Obwohl Stimmungen und diffuse Organempfindungen erlebnismäßig nicht zusammen fallen, ist die Verwurzelung von Stimmungen in der vitalen Gesamtverfassung eines Organismus als sehr wahrscheinlich anzunehmen. [...] Im Unterschied zu Organempfindungen sind Stimmungen Erlebnisse eines Zumuteseins, das nicht über sich hinausweist. Das Stimmungserleben ist nicht gleichzusetzen mit dem Wahrnehmen beschleunigter Herztätigkeit, verlangsamter At73 mung oder einer funktionellen Hyperämie.“ (Ewert 1983, S. 400) 73 Gleichwohl wird in der Emotionsforschung weiterhin versucht, Stimmungen über den Hautwiderstand und die Herzschlagfrequenz zu messen; vgl. Parkinson u. a. 2000, S. 80;

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Solchen negativen Abgrenzungen in medizinischer Perspektive geht im psychologischen Umgang mit Stimmung deren positive Auffächerung voraus. Schon Lersch entwickelt ein ausdifferenziertes Spektrum zwischen heiter-gehobenen bis trauriggedrückten Stimmungen. 74 Diese Klassifikation habituell etablierter „Lebensgrundstimmungen“ wird ergänzt um aktuale Stimmungen, ihre Verlaufsformen, den Prozesscharakter des Lebensgefühls und verschiedene Gestimmtheiten des Selbstgefühls. Dem gegenüber steht eine dezidiert zur Welt hingewandte und von dieser her gestimmte und bestimmte Gemütsverfassung, womit Lersch also die Objektseite im Stimmungsbegriff definitorisch belastet. Solche von ihm als Weltgefühl namhaft gemachten Gestimmtheiten werden nach optimistischen, pessimistischen bis nihilistischen Grundhaltungen unterschieden oder mit Ernst oder Humor identifiziert. (Vgl. Punkt 6 bei Ewert 1983, S. 401) Wie bei Bollnow sind auch bei Lersch noch lebensund existenzphilosophische Ansprüche wirksam, Stimmungen ontologisch aufzufassen und sie phänomenologisch innerhalb des Horizonts eines Lebenszusammenhanges zu bestimmen. In den folgenden Jahrzehnten verschiebt sich die Fragerichtung vom Wissenwollen, was Stimmungen eigentlich sind, hin zu dem, wie sie sich auswirken und in Bezug auf Handeln, Denken oder Wahrnehmen in Funktionszusammenhängen deskriptiv bestimmt werden können. (Abele 1995; vgl. Janke u.a. 2008) Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden die für psychologische Stimmungsdefinitionen wesentlichen Beschreibungs- und Unterscheidungsmerkmale allerdings nicht mehr entscheidend erweitert. Sie finden indes Eingang in die semantische Vorstrukturierung von wissenschaftlichen Untersuchungen, die den Einfluss von Stimmungen auf kognitive, behaviorale und physiologische Prozesse sowie auf die Bewertung des eigenen Lebens haben. 75 Studien neueren Datums, welche auf Messungen der kardiovaskulären Reaktivität (Blutdruck, Herzrate) beruhen, untersuchen die informationalen und direktiven Stimmungseinflüsse auf die Anstrengungsmobilisierung, Urteilsbildung und Verhaltensintensität. Hingegen wenden sich Parkinson u.a. (2000, S. 23ff.) von der Physiologie der Stimmung (Grade der Anspannung, Erregung, Hormonspiegel, Hirnaktivität) ab, da sie nichts zu den für das psychologische Phänomen bezeichnenden Vorgängen des Wandels, der Regulierung und des Managements von Stimmungen beizutragen vermag. Weiterhin wird untersucht, wie die Ernährung, Drogen, das Wetter, Psychopharmaka oder Krankheiten die Stimmung verändern und auch wie man sie durch neuroaußerdem Janke u.a. 2008. Siehe hierzu den Beitrag, der die Ergebnisse eines Versuches auswertet, bei dem das Lesen von Gedichten als Stimmungsinduktion fungiert und außerdem Spannungen der Gesichtsmuskulatur gemessen werden, um Verbindungen zu verschiedenen Affekten aufzuzeigen: Lüdtke u.a. 2013; vgl. methodisch verwandte Versuche am Berliner Forschungszentrum Languages of Emotion wie den von Altmann u.a. 2012. 74 Lersch 1938. Etwa zur gleichen Zeit und ebenfalls gemäß einem bipolaren Klassifikationsschema bezieht Kretschmer (1955) Stimmungen auf seine menschlichen Konstitutionstypen; vgl. Ewert 1983, S. 402. Siehe in der aktuellen Forschung die Etablierung von mindestens vier Stimmungsarten, der gehobenen, gedrückten, ängstlichen und gereizten Stimmung bei Reisenzein und Siemer, S. 105f. Zu einer weiteren Stimmungsdifferenzierung siehe Schimmack 1999. 75 Siehe dazu folgende Studien Schwarz 1987; Abele 1995; Dshemuchadse 2009.

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chirurgische Eingriffe beeinflussen kann. In jüngerer Zeit wurden Zusammenhänge zwischen Stimmungen und Textverstehen, Körperhaltung, Appetit, Gedankenunterdrückung oder sexuellem Erleben erforscht.76 Außerdem wurden sowohl für den englischen wie für den deutschen Sprachraum statistische Verfahren (Faktorenanalysen, Adjektivskalen) angewendet, in denen überindividuelle Bedeutungen von Stimmungen über die Zuweisung von Adjektiven durch eine Vielzahl von Versuchspersonen erfasst wurden.77 Zwischen der gehobenen und gedrückten ist danach eine ausgeglichene Stimmung und neben diesen Missstimmung, Trägheit und Müdigkeit erfassbar. Skeptisch merkt Ewert hierzu an: „Ein endgültiges Bild über die möglichen Dimensionen von Stimmungen kann aus diesen Befunden nicht abgeleitet werden, doch zeigt sich deutlich, daß Stimmungen erlebnismäßig in einer Vielzahl voneinander unabhängiger Dimensionen repräsentiert sind [und] es nicht ungewöhnlich [ist], daß Stimmungen Anteile von mehreren Dimensionen enthalten.“ (Ewert 1983, S. 402)

In anderen Studien auf der seit langem umstrittenen Basis introspektiver Berichte wurden Stimmungen unter dem Aspekt der Zeit als Dauer ihres Bestands und hinsichtlich ihres Verlaufs untersucht. Danach halten positive Stimmungen länger an als negative und weniger intensive länger als intensive.78 Eine weitere Untersuchung ermittelte durchschnittliche Tageswerte, Variationen, Schwankungen und generelle Niveaus von Stimmungen und bestätigte eine allgemeine Stimmungsabhängigkeit des Selbstgefühls.79 Wie bei noch älteren sowie jüngeren Studien bleibt auch hier kritisch einzuwenden, dass der „interindividuelle Vergleich von Stimmungsänderungen wichtige Aspekte des Stimmungserlebens außer acht lassen muß, so vor allem intraindividuell charakteristische Konstanten und individual-typische zeitliche Verläufe von Stimmungen“ (Ewert 1983, S. 402). Diese Kritik trifft freilich auch anthropologische, existenzialhermeneutische oder lebensphilosophische Verallgemeinerungen von Stimmung zur Grundverfassung menschlichen Daseins. Diese jedoch entgehen im Unterschied zur experimentellen Psychologie mit ihrer statistischen Nivellierung dem Vorwurf der methodischen Isolierung von Einzelaspekten und deren substitutiven Verwechslung mit dem komplexeren Phänomen. Diesen Vorwurf machte Helmuth Plessner der Weber-Fechnerschen Psychophysik sowie der ‚messenden‘ Psychologie. Im Gegensatz zu diesen zielt seine Ausdruckslehre systematisch darauf ab, Ausdruckserscheinungen wie Lachen und Weinen „in ihren ursprünglichen lebendigen Zusammenhang zurück[zu]versetzen“ (Plessner 1950, S. 20). Mit eben solchem integralistischen Gestus behandelt Bollnow die Stimmungen und spricht im zeitgenössischen Jargon der Philosophie von deren Wesen. Dabei entspricht es dem anthropologischen Selbstverständnis, die Abstraktion vom individuell variablen Erleben von Stimmungen durch deren phänomenologische Reduktion auf ihre alltägliche Gegebenheit für die faktische Existenz mehr als zu kompensieren: nämlich indem die 76 77 78 79

Siehe die Studien von Hielscher 1996; Döring-Seipel 1996; Tuschen 1990. Hampel, 1977; siehe kritisch dazu Parkinson u.a. 2000, S. 8f. Siehe hierzu Flügel 1925 und Johnson 1937; vgl. Ewert 1983, S. 402f. Wessman und Ricks 1959; diesn. und Tyl 1960; vgl. Ewert 1983, S. 403.

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Stimmungen „als tragender Grund der Seele“ (Bollnow 1956, S. 53) ausgehoben werden sollen, welcher die emotionale Basis der Selektion von Erlebnismöglichkeiten, der Spezifikation von Gefühlsdimensionen und prinzipiell aller Kognitionsprozesse bildet.80 Wie Bollnows philosophische Anthropologie der Stimmung auf die Phänomenologie aufbaute, so wäre am ehesten die neuere Phänomenologie (u.a. Hermann Schmitz, Bernhard Waldenfels) heute in der Lage, eine gemeinsame Ausgangsbasis für die psychologische und die ästhetische Stimmungsforschung und ihren Theoriebildungen zu erarbeiten. Sie könnte vor dem Hintergrund eines interdisziplinär aufgefächerten Bedeutungsspektrums klären, was mit Stimmung gemeint sein soll, bevor dann die spezifischeren Dimensionen des Begriffs genauer ausgeleuchtet und die psychologischen Mechanismen bzw. poetologischen Funktionen von Stimmung herausgearbeitet werden. Vom Ansatzpunkt der eidetischen Reduktion her verfahrende Theoretisierungen lassen eine Beschreibungsdichte erwarten, deren phänomenale Differenziertheit mit der psychologischen und ästhetischen Vielfältigkeit von Stimmungen korreliert werden kann.81 Stehen sie doch beide, die psychologische wie die ästhetische Betrachtungsweise auf dem phänomenologischen Grund konkreter Erfahrungen, seien diese faktual oder fiktional, individuell oder kollektiv gegeben. Eine phänomenologisch orientierte Grundlagenreflexion würde die Berührungsflächen sichtbarer machen, die bislang zwischen den in psychologischen und ästhetischen Stimmungsstudien vorgenommenen Beobachtungen und erzielten Ergebnissen unterbelichtet bleiben. Hierbei ist insbesondere an psychologische Theorieansätze zu denken, die sich an zeitlichen, prozessualen oder dynamischen Aspekten der Stimmung orientieren.82 Dem zumal zeit- und raumphänomenologischen Aspekt messen wir in unserer poetologischen Theorie von Stimmung besondere Bedeutung zu, so dass sie über eine der Phänomenologie künftig zuwachsende Brückenfunktion anknüpfbar bleibt. Zur Seite der literarischen Ästhetik hin weist die Phänomenologie die Gemeinsamkeit beobachteter Wahrnehmungsvollzüge samt ihrer subtilen Verflochtenheit mit leiblichen, räumlichen und zeitlichen Momenten auf. Zur Seite der empirischen Psychologie hin hält die Phänomenologie die Verbindung über ihre Ausgangsbasis in alltäglicher Erfahrung samt deren Common-sense-Begriffen aufrecht. Die von der Phänomenästhetik der Stimmungen her bestehende interdisziplinä80 Entsprechend betont die untrennbare Verwobenheit emotionaler und rationaler Elemente in der Kognition De Sousa 1987. Mehr den Einfluss von Stimmung auf die Kognition fokussiert Bless 1997. 81 Insbesondere kann die ästhetische Forschung zur einer Ausdifferenzierung des Beschreibungsinventars psychologischer Untersuchungen zu den dynamischen Aspekten der Stimmung beitragen. Das Manko semantischer Unterkomplexität psychologischer Stimmungserfassung benennen Parkinson u.a. wie folgt: „Trotz der allgemeinen Schlußfolgerung, daß Stimmungen mehr umfassen als nur Lust-Unlust und Aktivierung, hat man sich bei der Erforschung von Stimmungsvorgängen und ihrer Beziehung zu anderen psychologischen Faktoren speziell auf diese beiden Dimensionen konzentriert, vor allem auf die Dimension angenehm-unangenehm. [...] Im Hinblick auf spezifischere Stimmungsqualitäten sind künftig noch weitere begriffliche und methodische Arbeiten erforderlich.“ (2000, S. 59) 82 Wie z.B. Parkinson u.a. 2000 sowie Epstein 1983 und Larsen 1989.

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re Öffnung kann sich noch erweitern, wenn phänomenologische Konzepte mit kognitivistischen, welche die Emotionsforschung bislang dominierten, noch engere Verbindungen eingehen, als dies gegenwärtig der Fall ist.83 Ohne die Phänomenologie als Schnittstelle zwischen Poetiken und Ästhetiken der Stimmung einerseits und der mit ihr befassten Emotionspsychologie und Kognitionswissenschaft andererseits, lässt sich kaum eine interdisziplinäre Perspektive der Stimmungsforschung konsolidieren.

8. B EMERKUNGEN ZUR HISTORISCHEN S EMANTIK (S PITZER ) VON S TIMMUNG , IHRER ÄSTHETISCHEN B EGRIFFSGESCHICHTE (W ELLBERY ) UND DER PHILOSOPHISCHEN AUSRICHTUNG (W ETZ ) Die Erforschung von Stimmung in nicht-ästhetischen Diskursen kommt nicht umhin – wie wir anhand der empirischen Psychologie gesehen haben – auf einen konzeptuellen Kern zurückzugreifen. An die Stelle einer methodologischen Reflexion dieses Umstands tritt oft nur die unausgesprochene Einsicht in die Unverzichtbarkeit eines begrifflichen Vorverständnisses. Erst eine von diesem aus vorgenommene vorexplikative Bestimmung des zu Untersuchenden gewährt einen Anhaltspunkt für experimentelle Anordnungen und Erkenntnisziele. Auch die Explikation von Versuchsergebnissen, deren Einordnung in einen Relevanzzusammenhang oder gar ihre Verknüpfung mit nicht-empirischen Theorieanteilen kommt ohne einen vorläufig ausgemachten Begriffskern nicht aus. Ähnliches gilt für den geistes- oder kulturwissenschaftlichen Forschungsbereich. In ihm jedoch erschiene eine Idealisierung von begrifflicher Voraussetzungslosigkeit des eigenen Tuns als eine methodische Fiktion und liefe geradewegs auf ein wissenschaftstheoretisches Selbstmissverständnis hinaus. Denn bei aller disziplinären Ausdifferenzierung und methodischen Diversifizierung bleibt die epistemologische Gemeinsamkeit bestehen, dass die jeweilige Konstitution seiner Untersuchungsgegenstände wie schon die sie ermöglichenden Bedingungen der Forschungspraktiken ihrerseits historisch aufgefasst werden. Entsprechend sind die von ideengeschichtlichen und intern wirkungsgeschichtlichen Fäden durchzogenen Begriffsgeschichten, wie sie im engeren Sinne von akademischen Großprojekten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erarbeitet wurden, von einem wissenschaftlichen Ethos historiologischer Methodenreflexion getragen. 84 Aber auch die neu entstandene Kulturwissenschaft, deren erfolgreiche Institutionalisierung mit dem „Abebben der be-

83 Siehe etwa bei Lüdtke u.a. 2013. 84 Siehe hierzu – sowie zur Vorgeschichte seit der Enzyklopädistik des 18. Jahrhunderts – in einem nochmals historisierenden Rückblick Gumbrecht. Hier werden neben weiteren bibliographischen Hinweisen eine Reihe der wichtigen Wörterbücher vom Historischen Wörterbuch der Philosophie, über Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft bis zu den Grundbegriffen der Medientheorie angeführt.

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griffsgeschichtlichen Bewegung“ (ebd. 7) koinzidiert, hält an der historischen Konditionierung ihrer Forschungsgegenstände auch und gerade dann fest, wenn sie diese in einem systematischen Spiel methodologischer Reflexion erst hervorbringt. Literatur-, musik- oder kunstwissenschaftlich spezialisierte Studien zum Thema ‚Stimmung‘ können historisch-systematischen Ansprüchen nur genügen, indem sie gerade nicht von einer substanzlogisch vorgestellten Stimmungssemantik ausgehen. Wenn allein unter phänomenologischer Berufung auf die alltägliche Gegebenheit von Stimmungen dieselben in zurückliegenden Epochen ins Auge gefasst würden, so zeigte sich schnell, dass Stimmungen durchaus anders als heute ‚gegeben‘, auf anderes bezogen oder gar keine ‚Stimmungen‘ waren. Bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts wurde derselbe Sachverhalt unterschiedlich benannt, war unbekannt oder thematisch unentdeckt. Stimmung als solche gab es gar nicht und sie gibt es auch heute nicht. Allerdings gab es und gibt es im deutschsprachigen Raum seit ca. 250 Jahren Stimmung auch – aber nicht nur – im ästhetischen Sinn nur mit einer historisch variablen Semantik. Diese ist abhängig von diskursgeschichtlichen Formationen und ihren Verschiebungen, von veränderten Problemlagen und Erkenntnisinteressen, wie sie sich aus dem historischen Wandel des Wissenssystems ergeben, sowie von einem sich fortwährend umgewichtenden kulturellen Gefüge insgesamt. Stimmung als kulturelles Phänomen kann also nur Erfolg versprechend untersucht werden, wenn sie als semantisches Konstrukt bestimmter Diskurse in einem definierten Raum-Zeit-Segment verstanden wird. Deshalb sollte die Stimmungsforschung ihren Ausgang nehmen von einer begriffsgeschichtlichen Aufbereitung ihres Gegenstandes. Dazu gehört die historische Klärung der Herkunft und Verwendungsweisen des Wortes, seiner Divorkationen und Sinnverschiebungen; zudem der wenigstens ansatzweise Nachvollzug auch der funktionalen und pragmatischen Bedeutungen sowie deren Wandel in den Kontexten der den Stimmungsbegriff ausformenden Diskurse. Dies hat für den ästhetischen Begriff der Stimmung Wellbery mit seinem Artikel im Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe geleistet. Er hat mit seiner diskursspezifischen Rekonstruktion der historischen Begrifflichkeit von Stimmung der seither prompt anhebenden Erforschung derselben – in ihrer Tragweite als ästhetische Kategorie – auf den Feldern von Literatur und Kunst eine solide Grundlage bereitet. Die wichtigste Vorarbeit hierzu wiederum hat der oben bereits erwähnte Spitzer mit seiner bedeutungsgeschichtlichen Studie Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word ‚Stimmung‘ (1944/45) geleistet. Am Verhältnis von Haupt- und Untertitel lässt sich ablesen, dass Spitzers Verfahren einer historischen Semantik nicht auf den tatsächlichen Gebrauch des Wortes ‚Stimmung‘ und seiner zeitlichen Erstreckung im deutschen Sprachraum und auch nicht auf dessen ästhetikspezifischen Gebrauch restringiert ist. Für ein angemessenes Verständnis von ‚Stimmung‘ geht Spitzer im Unterschied zu Wellbery über das lexikalische Aufkommen von Stimmung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück bis in die platonische Philosophie und darüber hinaus zu den pythagoreischen Lehren der Antike. In letzteren entsteht aufgrund von metaphysisch applizierten Zahlenverhältnissen der spekulative Gedanke der Sphärenharmonie, welche als der musikalische Effekt der kreisenden Bewegung von auf bis zu zehn hochgerechneten Himmelskörpern gedacht wird. Diese Sphärenmusik aber ist für den Normalmenschen nicht hörbar. Für die ‚Stimmung‘, in deren Begriffsstruktur bis heute (Sphären-)Musikalisches nach-

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klingt, ist dies bemerkenswert, insofern sie den metaphorischen Sprung heraus aus dem Bedeutungsfeld der Akustik ohne Einbuße des harmonischen Sinngewichts vollziehen konnte. Für die antike Unhörbarkeit sphärenharmonischer Töne sind zum Teil theoretische Zweifel an einer Korrespondenz zwischen der Umlaufzeit der Planetenbewegungen und den Tonhöhen verantwortlich, zum Teil aber auch die in der pythagoreischen Musiktheorie noch unter Abstraktion vom Gehör vorgenommenen, ausschließlich mathematisch geleiteten Bestimmungen der Tonabstände. Für die Unhörbarkeit der Sphärenmusik spricht zudem ein spekulatives Interesse der Pythagoreer an der idealistischen Überhöhung des Harmoniegedankens. Denn dieser zielt über qualitative Mischungsverhältnisse auf vollendete Konstitution, sei es die des Kosmos mit seinen Gestirnsbewegungen, sei es die des Menschen mit seiner seelisch resonanten Komplexität. Diese Zweiseitigkeit der pythagoreischen Harmonievorstellung präformiert diejenige der Stimmung, insofern diese einerseits das consonante Außen einer Umweltqualität, andrerseits das concordiale Innen eines Gemütszustandes bestimmt. In eine solche Richtung möglicher semantischer Transferbewegungen zielt jedenfalls Spitzers weit ausholende Studie, die sich als Materialaufbereitung und Thesenbildung für eine dann aber nicht mehr eigens ausgearbeitete Interpretation des Wortes ‚Stimmung‘ verstanden wissen wollte. Die Einbettung von dessen Bedeutung in – dem Wort selbst vorgängige – ideengeschichtliche Zusammenhänge ist die Basisoperation eines historisch-kumulativen Verfahrens, das seinen spekulativen Anteilen durch vielfältige Kontextualisierung methodologischen Gegenhalt zu verschaffen sucht. Unsicherheiten der etymologischen Ableitung werden durch bedeutungserweiternde Betrachtungen benachbarter Wortfelder gegengesteuert; Probleme der Kontingenz mancher wirkungsgeschichtlicher Verhältnisse werden zugunsten der Reichhaltigkeit an geistesgeschichtlichen Bezügen übergangen. Bei Spitzer wird die historische Semantik von ‚Stimmung‘ durch das Nachzeichnen derjenigen denkgeschichtlichen Linien sichtbar gemacht, welche von dem alteuropäischen Ideenkreis einer sinnhaften Einheit von Mensch und Welt – speziell von den kosmo-theologischen Konzepten der Sphärenmusik oder Weltharmonie – zur Emanzipation des Stimmungsbegriffes vom musikpraktischen Bereich hinführen. Letzteres geschieht gegen Ende des 18. Jahrhunderts, also in einer Zeit erhöhten kulturellen Drucks zu reflexiver Selbstverständigung. Die vielleicht maßgebliche Antriebsfeder, die Spitzers vielstimmige Auffächerung der Bedeutungs(vor-)geschichte von Stimmung avant la lettre zu einer kleinen Kulturgeschichte ihrer metaphysischen Implikationen werden ließ, scheint uns indes in dem schwer festlegbaren Sinngehalt des Stimmungsbegriffes selbst zu liegen. Dessen Intension im Sinne Leibniz (Lenzen 1983; Swoyer 1995) ist durch einen dem Ephemeren kaum zu entreißenden Phänomengehalt ins Unter- oder aber Überdeterminierte gedrängt. Solche sich verflüchtigende bzw. überbordende Intension des Begriffes ermuntert geradezu Spitzers Überschreitung seiner Extension (sensu Leibniz) hin auf angrenzende Begriffsfelder mit weiter zurück reichenden Wortgeschichten in verschiedenen Sprachen wie etwa bei der Weltharmonie. Die Faszination Spitzers am Wort Stimmung wie auch diejenige die von seiner Studie ausgeht, scheint mit einer intensionalen Fokussierung korreliert, die wir folgendermaßen verstehen können. Was ursprünglich die zahlenphilosophische Spekulation in der mathematisch basierten Proportionen- und Harmonielehre der Pythagoreer hervortrieb, was über die sym-

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phonische Adaptation der Sphärenharmonie bei Platon ideengeschichtlich wirkungsmächtig wurde und in metaphysischen Vorstellungen von Mikro-Makro-kosmosKorrespondenzen bis in die Neuzeit fortlebte, entfaltet sich aufs Neue in der begrifflichen Differenzierung von Stimmung im Spannungsfeld von Ästhetik und Episteme: nämlich eine intuitionsbasierte und zugleich rational belastbare Übergängigkeit von Erfahrung und Wissen. Empfunden wird diese Übergängigkeit zunächst als Ungetrenntheit; reflektiert schon als Untrennbarkeit oder positiv gewendet: erlebt als konstitutives Ineinander von Selbst und Welt. Wie dieses Selbst-Welt-Verhältnis im primordialen Sinne eines Sich-beziehend-bezogen-Seins von Stimmung als prätranszendentales Feld ohne epistemische Ränder gedacht, als ein intentionalitätsfreier Wahrnehmungsraum erschlossen oder aber als synästhetische Konstruktionsdynamik begriffen werden kann, wird über unseren Theoriedialog mit Heidegger ins Auge gefasst. Im Zusammenhang wort- und begriffsgeschichtlicher Aspekte, wie sie Spitzer aus der abendländischen Tradition heraus entwickelt, ist hervorzuheben, dass damit der Welt-Anteil der Stimmung vor dem kulturhistorischen Referenzhintergrund stärker an Kontur gewinnt als deren Selbst-Anteil. Entgegen der Einsicht in die im Stimmungsbegriff strukturell unterlaufene Division in substanzielle Duale – wie es auch Spitzers Zusammenblendung mit der älteren Weltharmonie im Ergebnis zeigt – muss dieser Umstand in der gängigen Distinktionsschematik kenntlich gemacht werden. Denn die semantische Akzentuierung physikalischer Anteile (Astronomie, Tonabstände, Raumbeziehungen) erfolgt im Gegensatz zur empirischen Psychologie, die – wie wir gesehen haben – zur gleichen Zeit, also Mitte des 20. Jahrhunderts, ihrem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse entsprechend auf die psychischen Anteile der Stimmungskonstitution konzentriert ist. Ohne begriffsgeschichtliche Umstände und ohne diskursspezifische Verwendungsweisen mitzureflektieren wird der Begriff Stimmung in psychologischen Definitionsversuchen tendenziell vereinseitigt auf die ‚innere‘ Sinndimension. Deren feine Verfugung mit einer ‚äußeren‘ Sinndimension, wie sie Stimmung mit jener Übergängigkeit auf der Subjekt-Objekt-Schwelle phänomenologisch auszeichnet, regrediert in der Optik klinischer, diagnostischer oder experimenteller Psychologie zur Schnittstelle des psychischen Apparates für eingehende Umweltdaten. Etwa räumlich, landschaftlich, meteorologisch, jahreszeitlich oder musikalisch objektive Qualitäten von Stimmungen werden im psychologischen Begriffsverständnis als Korrelate subjektiver Erlebnisweisen vorgestellt. Als zur Objektwelt gehörende Entitäten sind sie ihrerseits durchaus nicht selbst gestimmt. Sie stimulieren allenfalls ein ihnen dann respondierend gestimmtes Subjekt. Hingegen ist Spitzers nach eigener Angabe über mehr als tausend Texte hinweg gesichtete „ ‚Stimmungsgeschichte‘ of the word Stimmung“ vornehmlich am Weltbezug und seiner historischen Entwicklung interessiert, wie sie sich aus einem „mosaic of texts“ aus verschiedenen Sprachen und Kulturphasen herauslesen lässt. (Spitzer 1963, S. 1) Denn erst der in synchroner wie auch in diachroner Perspektive arbeitende philologische Nachvollzug solcher „world-embracing concepts“ (ebd. 3) ermögliche historisches Verstehen. Offenbar geht Spitzer gegenüber der Allgegenwart eines Denkens von Einheit in der Antike von einem Mangel entsprechender Begriffe in der Gegenwartsmoderne aus, wenn er solche „in all the nooks and corners of our civilisation“ (ebd.) meint aufspüren zu müssen. Er befürchtet sogar, dass der harmonisierende Gestus, der dem antiken Denken von allumfassenden Einheiten wie Welt-

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harmonie eigen ist, auf das Vorgehen des historischen Semantikers selbst übergreifen könnte. Etwa indem ungeachtet der philologischen Materiallage Kontinuitäten in der Bedeutungsgeschichte vermutet werden, nur weil der Blickwinkel ex post dem Historiker es nahe legt, frühe und spätere Phasen einer Entwicklung zu sehen, wo es sich um heterogene Begriffsfelder handelt. Ausdrücklich gibt er zu, dass seine synthetisierende Haltung zumal bei einer Studie zur herzzerreißenden musica mundana ein Problem darstelle, insofern eine Art sehnsüchtiger Begeisterung, ja Liebe aus ganzem Herzen für den Untersuchungsgegenstand, kalte Objektivität verunmögliche. Spitzers sympathisches und um Sympathie werbendes Plädoyer gegen abstrakte „Coolness“ im Wissenschaftsbetrieb sollte jedoch nicht davon ablenken, dass es auch unabhängig vom Maße emotionalen Mitgehens Probleme mit dieser Art von Begriffsgeschichte gibt. Denn indem sie von der Existenz eines Bedeutungskerns („semantic kernel“) ausgeht, bringt sie bereits das philologische Nachverfolgen von dessen Persistenz durch die Sprach- und Kulturgeschichte hindurch auf den Weg. Was der Sache nach, nämlich im antiken Sinn des musikalischen Konzepts von Weltharmonie, angeblich identisch bleibt, wird dann nur noch hinsichtlich seiner „emotional connotations with their variations and fluctuations in time“ (ebd. 1) betrachtet. Die Anführung unzähliger Zitate aus unterschiedlichen Sprachen sowie Kulturräumen und -zeiten, die Auswertung der immensen Menge an Quellen zur Erhärtung der These, dass der Begriff der Weltharmonie dem Wort Stimmung zugrunde liegt, erfolgt unter der Prämisse des Gleichbleibens des schließlich beiden zugrunde liegenden Denkmusters („pattern of thought“, ebd. 3). Solcher Gebrauch von Referenzmaterial verdeckt das eigentliche Problem der Referentialität selbst. Dass das Basiskonzept ‚Weltharmonie‘ und damit das vorgängige Sinnfundament von ‚Stimmung‘ sich entsprechend der historisch in Führung gehenden Denkrichtungen durchaus wesentlich modifizieren kann, diese Möglichkeit theorieabhängiger Bedeutungstransformation gerät Spitzers begriffsgeschichtlicher Vorgehensweise aus dem Blick. Erstmals Verwendung findet das Wort Stimmung im musikalischen Bereich und hier in Bezug auf das Stimmen von Instrumenten. Als solche nominalisierte Form des Verbs ‚stimmen‘ meint Stimmung seit dem 16. Jahrhundert das minuziöse Einstellen der richtigen Tonhöhe oder Tontiefe nach Maßgabe mathematisierter Kriterien, deren theoretische Entwicklung bis in die Antike zurückreicht. 85 In diesem technischen Sinne der absoluten Festlegung eines Tones sowie der verhältnismäßigen Abstimmung der Töne auf einem Musikinstrument entfaltet Stimmung als Stimmen seine transitive Bedeutung. Diese bildet zusammen mit der intransitiven Bedeutung von Stimmen als Tönen oder Klingen die zweidimensionale Semantik von Stimmung in Theorie und Praxis der Musik und ihrer Instrumente bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts. Der objektivierte Erfolg der Tätigkeit des Stimmens im Sinne des Gestimmtseins von Musikinstrumenten ist eine zum Ende des 17. Jahrhunderts hinzugekommene Bedeutung von Stimmung. Soweit kann dem begriffsgeschichtlichen Kenntnisstand entsprechend die lexikalische Vorgeschichte zu ‚Stimmung‘ im heute komplexeren Gebrauchssinn vereinfacht werden, bevor um 1800 ein erster semanti85 Grundlegende historische Quellen sind hier und im Folgenden Carl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen von 1753 (Bach 1969), Sulzer 1771-74 und Adelung 1774-86; vgl. die Referenzen bei Wellbery 2003, S. 706.

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scher Umbruch stattfindet. Dieser erfolgt auf der Basis der operativen Bedeutung von Stimmung als das „In-Verhältnis-Setzen von Teilen (z.B. Saitenlängen) eines Instruments oder von mehreren Instrumenten; Ziel dieses Vorgangs ist die Koordinierung (Harmonisierung) ihres – der Teile bzw. der Instrumente – Zusammenspielens.“ (Wellbery 2003, S. 706) Wellbery sieht in dieser Struktur des Stimmungsbegriffs dessen allmähliche semantische Entfaltung in Theorie und Geschichte der Ästhetik vorgezeichnet. Denn Stimmung fungiere als Metapher, indem sie in der musikalischen Praxis ein konzeptuelles Schema bildet, welches mit dem Zweck semantischer Organisation auf den Bereich der ästhetischen Erfahrung übertragen wird. Diese um 1800 einsetzende Modellfunktion der Stimmungsmetaphorik wird von Wellbery innerhalb des ästhetischen Diskurses nachgezeichnet, hinsichtlich seiner Fortwirkung durchs 19. Jahrhundert untersucht und bis in die von ihm diagnostizierten Erschöpfungssymptome des Stimmungsdiskurses in den Theoriebildungen der Gegenwart weiterverfolgt. Seinen semantik- und ästhetikgeschichtlich instruktiven Lexikonartikel über den Begriff der Stimmung leitet Wellbery ein durch Bemerkungen zum Übersetzungsproblem, welches in verschiedenen Wendungen entweder erfolgreich umgangen oder gelöst wird um den Preis von interpretativen Vereinseitigungen. Den Ausgangspunkt bildet Spitzers Diktum der Unübersetzbarkeit dieses deutschen Wortes, dessen Bedeutungsspektrum von keinem Wort einer anderen Sprache vollständig abgedeckt wird.86 Wohl kann etwa durch romanische Sprachen die geläufige Bedeutung von Stimmung als jeweilige Gemütsverfassung erfasst werden, wie es das italienische ‚disposizione di spirito‘ (span. disposición/condición del espíritu; frz. disposition d’esprit) oder allgemeiner ‚stato d’animo‘ (span. estado/disposición de ánimo; frz. état d’âme) ebenso zeigen wie die Stimmung als ‚gute Laune‘ durch (ital.) ‚buon humore‘ (span. de buen humor; frz. de bon humeur) wiedergegeben werden kann. Jedoch sind diese Ausdrücke auf den subjektiven Zustand fixiert und können nicht wie der deutsche der Stimmung auch auf Verhältnisse im Objektfeld bezogen werden, wie dies bei Stimmungen von Räumen, Festen oder Landschaften der Fall ist. Hierfür muss ein anderer, der Ausdruck atmosfera (span. atmósfera, frz. atmosphère) gewählt werden, welcher wiederum nicht auch auf subjektive Stimmungen im Sinne von Gemütszuständen oder Launen anwendbar ist. Während im Deutschen die Stimmung zwischen innen und außen sowie zwischen subjektiv und objektiv changiert und kraft ihres semantischen Schwellenpotentials die raumschematische bzw. epistemische Dichotomisierung suspendiert, ist die romanische Lexik hier kategorial entschieden (disjunktiv). Der Vergleich mit dem englischen mood hingegen weist – wie Wellbery mit Blick auf die etymologische Verwandtschaft zum deutschen ‚Mut‘ (vgl. Bollnow 1956, S. 34) zeigt – die Besonderheit auf, dass mood ähnlich wie Stimmung beide, 86 Spitzer 1963, S. 5. Indes war die kulturhistorische Herkunft von ‚Stimmung‘ Gegenstand von Spitzers Untersuchung zu einem Zeitpunkt, als die Zerstörungskraft kollektiver Stimmungen einen historischen Höhepunkt erreichte, nachdem das deutsche Drama des ‚Völkerringens‘ die politische Weltbühne erobert hatte und das historische Umschlagen von nationalsozialistischer Hochstimmung in die Endsiegdelierien und sich ankündigenden Untergangsdepressionen des ‚Tausendjährigen Reiches‘ zur Aufführung gebracht wurde.

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den Subjekt- wie den Objektbereich semantisieren kann. Dabei ist mood in subjektiver Deklination gleichsam inniger verinnerlicht als Stimmung; zugleich aber wie der deutsche Mut (wie in ‚guten Mutes sein‘) ohne jeden Anklang des Musikalischen.87 Von letzterem ist allein – auch im Unterschied zu den romanischen Sprachen – unverkennbar getragen die gute, schlechte oder (anderweitig) gewisse Stimmung. Ihre lexikalische Reise führt immer wieder in diejenigen Diskurszonen (vor allem der Ästhetik, Psychologie und Phänomenologie) hinein, in denen sich ein ungeregelter Grenzverkehr zwischen den Bereichen des Subjektiven und Objektiven der Beobachtung entzieht. Wenn Stimmung dort dennoch kompositorisch tätig wird, indem sie der (subjektiven bzw. objektiven) Erkenntnis und noch der eigentlichen Erfahrung vorausgehende Wahrnehmungstotalitäten aufzuspüren vermag, dann zehrt sie von ihrem metaphorischen Proviant aus dem semantischen Quellgebiet der Musik. Es ist diese proto-ästhetische Leistung integrativer Erzeugung von Gesamtqualitäten, welche die Stimmung für die semantische Erschließung von individueller Subjektivität qualifizierte: „Jeder Mensch hat ein eigenes Maas, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zu einander“.88 In Herders Verwendung der Stimmungsmetapher klingt noch deren musikalisch-technischer Herkunftsbereich nach und bereits ihre ästhetisch-subjektive Zukunft an. Ihre Attraktivität mag zum Ende des 18. Jahrhunderts zudem darin zu finden sein, dass mit ihr sich ein Berührungspunkt von Anthropologie, Physiologie und Empfindsamkeit markieren lässt. Während ab diesem historischen Zeitpunkt mit seinem semantisch erweiterten Auftauchen des Wortes ‚Stimmung‘ die ästhetische Dimension ihres Begriffes von Wellbery ausgeleuchtet wird, versucht Wetz dessen „eigentliches philosophisches Profil“ (ebd.) in groben Strichen nachzuzeichnen. Dieses entwickelt sich erst Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Niedergangs der akademischen Metaphysik. Und zwar indem jenes Potenzial zur Herstellung von Einheit oder Ganzheit, welches die Stimmung schon als musikalische Harmonisierung auszeichnete, auf Epochen89, auf Philosopheme der Weltanschauung und schließlich auf ‚Existenz‘ bezogen wird. Damit aber knüpft Wetz implizit an die bei Spitzer 90 rekonstruierten Extensionen von Stimmung im totalphilosophischen

87 Dieses wird indes – stellt Wellbery fest – von dem Wort attunement aufgenommen, freilich „mit einer technischen Akzentuierung, die sich der Übertragung auf Mentales, und erst recht auf Welthaftes, widersetzt.“ (2003, S. 704). In diesem Zusammenhang sieht Wellbery auch das französische Kunstwort tonalités affectives, welches anlässlich der Übersetzung des Stimmungsbuches von Bollnow (1953) eingeführt wurde. 88 Herder 1887; zit. n. Wetz 1998, Sp. 173-76. 89 Beispielsweise spricht Ernst Cassirer mit Blick auf die geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Epochenschwelle zur Neuzeit von deren Ankündigung „gewissermaßen in einer neuen Stimmung und Tönung des gesamten Weltgefühls“ (1927, S. 197). 90 Die großangelegte Studie Spitzers von 1963 [1944] zu dem, was er die historische Semantik von Stimmung nennt, bildet die erste Referenz auch für philosophische Untersuchungen, welche den Begriff, das Wort oder die Bedeutung von Stimmung zum Gegenstand haben. Wie für Wellberys Artikel so dienen zehn Jahre zuvor etwa auch in Tramsens (1998, S. 37-60) philosophischer Dissertation Spitzers Feststellungen zur Unübersetzbarkeit des

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Sinne antiken Kosmosdenkens an, dessen nachmetaphysische Spuren bei Goethe, Moritz, Tieck und der Romantik, aber auch im Stimmungskonzept Heideggers lesbar sind.

deutschen Wortes Stimmung der Heranführung an mit diesem gestellte sprachwissenschaftliche sowie kulturgeschichtliche Herausforderungen.

„Goethe sagt: ‚Es ist nicht immer nötig, daß das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt, wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt.‘“ (Heidegger 2007, S.13)

Teil A Stimmung und Methode: Theoretische Grundlagenreflexion und historische Perspektivierung

I. Systematische Orte der Stimmung in der philosophischen Existenzialanalytik und in der historischen Literaturanalyse

1. D AS PRODUKTIVE S CHEITERN VON D ILTHEYS K ONZEPTION DER S TIMMUNG UND DESSEN B EDEUTUNG FÜR UNSERE THEORETISCHE K ONTURIERUNG VON S TIMMUNG Bei Wilhelm Dilthey kann eine gehäufte Verwendung des Wortes ‚Stimmung‘ beobachtet werden sowie deren philosophische Aufwertung in seinem Spätwerk. Diltheys Denkweg wendete sich von Beginn an gegen zu eng gefasste Rationalitätskonzepte und überzogene Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Vernunft. Dies zeigt sich in der zentralen Stellung der Begriffe Leben, Erleben und Erlebnis, die über die Subjektivität des Erlebenden hinausweisen und mit ihr über den vom Geist, Verstand und Bewusstsein kontrollierbaren Bereich. Wie andere so genannte Lebensphilosophen (Nietzsche, Bergson, Klages, W. James, Ortega y Gasset) benötigte Dilthey für sein Denken beweglichere Begriffe ebenso wie er diese unzureichend bestimmte. Die Begriffbestimmungen der ‚Grundstimmung‘, ‚Lebensstimmung‘ und ‚Gemütsstimmung‘ blieben auf vorsystematischen Ebenen auch deshalb stecken, weil sie ehemals metaphysische Schichten des Philosophierens zum Ausgangspunkt eines psychologisch fundierten Denkens nutzten. Letzteres suchte von der Subjektivität der Stimmung (Gemütsverfassung, Gemütsvorgang) her die Grundbedingungen für einen Weltbezug festzulegen, der die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit aus ihren kulturellen Objektivationen verstand. So nahm Dilthey von Kant den transzendentalphilosophischen Grundlegungsanspruch auf, dessen Explikation durch das Gefühl der Stimmung als Zusammenwirken der Gemüts- bzw. Erkenntniskräfte geleistet wird. Dabei ging es aber nicht mehr um die allgemeingültige Mitteilung ästhetischer Urteile, sondern um die transzendentale Grundlegung der Stimmung als eine der geschichtlichen Möglichkeitsbedingungen für Weltanschauungen, Mythen, Religionen oder Dichtungen. Dilthey führte sein Methodendenken indes zu keiner Klärung zwischen dessen transzendentallogischem Begründungsanspruch einerseits und dem Theorem konsequenter Geschichtlichkeit andererseits. Das Scheitern von Diltheys Methodologie am systematischen Bruch zwischen psychologischer Erklärung und

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hermeneutischer Konzeptualisierung des Verstehens eröffnet uns gleichwohl die produktive Einsicht in den strukturell geschichtlichen Grundzug von Stimmungen. Dieser Grundzug stimmt unter phänomenologischem Aspekt mit dem ephemeren Charakter von Stimmung überein, welcher die „Wirklichkeit [...] unter wechselnde[n] Beleuchtungen vom Innenleben her“ (GS V 378f.) erscheinen lässt. Dass sich auf eine solche Stimmung in ihrer flüchtigen Wandelbarkeit keine konsistente Erkenntnistheorie bauen lässt, musste auch Dilthey zunehmend einleuchten. Allerdings ist nur die Gefühlsqualität der Stimmungen variabel und ihr Nuancenreichtum inkommensurabel. Nicht jedoch steht ihr kontinuierliches Vorhandensein im psychischen Erleben überhaupt in Frage. Dilthey gründete seine Theorie wie auch seine Praxis der Hermeneutik nicht auf das Individuelle einer historischen Person, sondern auf das Besondere von deren phänomenologisch aufgefasster Individualität als einem anthropologisch verallgemeinerten Strukturzusammenhang des Seelenlebens. Für das in letzterem wurzelnde Verstehen war nicht das Wie-Gestimmtsein, sondern ein DassGestimmtsein maßgeblich. Erst die vom Konkreten, Einzelnen und Situativen abstrahierende Stimmung könnte zum kategorialen Aufbau einer geisteswissenschaftlichen Methodik beitragen. Denn nur die ontologisch gedachte Geschichtlichkeit von Stimmung als einem generalisierten Erfahrungsmodus des ‚Lebens‘ wäre nicht vom Perspektivismus jeweiliger Befindlichkeit und der Kontingenz alles Historischen überschattet. Deshalb sprach Dilthey von ‚universalen Lebensstimmungen‘ als einem komprehensiven Strukturprinzip, das die Mannigfaltigkeit der Selbst-Welt-Beziehungen als elementarästhetische Einheit erfahrbar macht. Durch „unsere Stimmungen dem Leben gegenüber“ (GS VIII 81) erhält dasselbe sein Medium, durch welches es sich ursprünglicher selbst versteht, als es etwa der Hegelsche Geist vermochte. Obwohl Dilthey also die kohärenzstiftende und auch mediale Basisfunktion der Stimmung vermerkte, arbeitete er diese nicht zu einem tragfähigen Konzept oder auch nur zu einer seiner ‚Lebenskategorien‘ aus. Stattdessen hielt er sich in seiner Hermeneutik wie auch in seiner Poetik an die programmatische Vorgabe, das Leben aus ‚dem Leben selbst‘ zu verstehen, und zwar noch dort, wo die Abstraktheit des Lebensbegriffes der Sache nach von der Stimmung in konkrete Ganzheitserfahrung überführt wird: „Von einem Lebensbezug aus erhält das ganze Leben eine Färbung und Auslegung“ (GS VIII 81; Hvh. St.H.). Zur semantischen Ambiguität von Diltheys Stimmungsbegriff trug weiterhin die Tendenz seines hermeneutischen Denkens bei, in dem ihm übergeordneten Begriff des Lebens individuelle sowie kollektive Erfahrungen zu vereinen und den subjektiven mit dem objektiven Geist ohne Absolutheitsanspruch zusammenzuführen. Der systematische Riss, der durch Diltheys Theorieversuch einer erkenntniskritischen Grundlegung der Geisteswissenschaften ging, zog sich auch durch seine Idee der Stimmung. Die ungelösten Probleme von Diltheys lebensphilosophischem Verstehenskonzept ergaben sich letztlich aus dessen ausgeweitetem Anspruch auf eine methodische Grundlegung von historischer Erkenntnis. Sie zeigten aber auch in seiner Poetik die geringe theoretische Belastbarkeit von Begriffen wie Erlebnis, Lebensgefühl oder Grundstimmung, wenn diese außerhalb idealistischer Ästhetikkonzepte, die den Gegenstand ihrer Reflexion selber hervorbringen, systematisch zum Zug kommen sollen. Aus den in Diltheys Poetik samt ihrer Ausführung in Das Erlebnis und die Dichtung entstehenden Problemen lässt sich lernen, dass das hermeneutische Potenzial solch rational ungreifbarer sowie semantisch nicht fixierbarer Phänomene besser

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und vielleicht nur im ästhetischen Verstehen derjenigen Ausdrucksformen entfaltet werden kann, in welchen sie sich objektivieren. Dort aber sind sie transzendentallogischen und epistemologischen Zugriffen weitgehend entzogen. Daraus ließe sich für heutige Theorien der Stimmung außerdem lernen, dass Ansprüche methodologischer Konzeptualisierung zurückzuschneiden wären auf eine Systematik und Pragmatik historischer Untersuchungen, in denen die Thematik, Rhetorik, Repräsentation, Medialität, Phänomenologie oder Kognitivität von Stimmungen in Literatur, Kunst oder Musik den Gegenstand bilden. Wenn es dabei künftig um künstlerisch-expressiv erzeugte Einsichten statt um wissenschaftstheoretisch fundierte Wahrheit geht, so lässt sich über Ästhetiken der Stimmung an der Rekonstruktion der europäischen Wissensgeschichte sinnvoll mitarbeiten. Hierzu kann an Diltheys (vor-)phänomenologische Lokalisierung der Stimmung angeknüpft werden. Sie erkennt in ihr eine protostrukturale Schicht, auf der formalästhetische Eindrücke mit geschichtlichen Lebensbezügen konfundieren. Allerdings muss vom mehr oder weniger direkten Zugriff auf den ‚psychischen‘ oder ‚seelischen Strukturzusammenhang‘, wie er Dilthey über biographische oder andere historische Zeugnisse zugänglich schien, abgesehen werden. Allein Stimmungen in der Kunst, wie sie sich als gestalteter Gehalt etwa eines Sprachkunstwerks rezipieren lassen, kann als ein Gegenstand untersucht werden, der den objektiven Weltbezug individueller oder kollektiver Subjekte darstellt. Nicht Erlebnisse eines Autors, Bewusstseinslagen einer Autorengruppe oder gar der Geist einer Epoche können also angesichts von Diltheys Scheitern über Analysen literarischer Stimmungen methodisch kontrollierbar erfasst werden. Wohl aber die Welt- und Selbstbeziehungen von Figuren, insofern deren fiktionale Gestaltung phänomenale Strukturen solcher Komplexionen aufweist, sowie die Bedingungen ihrer Befindlichkeit, insofern diese über ästhetische Zeit- und Räumlichkeitsbezüge dargestellt sind. So kann das Scheitern von Diltheys Hermeneutik für eine Theoretisierung von Stimmung produktiv gemacht werden, die ein den rationalen Verstehensvollzügen ansonsten unzugängliches Terrain einsehbar macht. Dieses schließt das für künstlerische Praktiken fundamentale Gebiet ein, auf dem die protoästhetischen Prozesse ablaufen, wo Dimensionen von Raum und Zeit imaginativ erfahren werden und sich zu generativen Perspektiven auf transitorische Kohärenz und relative Einheit dynamisieren. Der Abstand zu Dilthey bleibt dadurch erhalten, dass für uns ästhetisch durchgestimmte Selbst-Welt-Bezüge in der Literatur weder theoretisch noch psychologisch gegeben, sondern nur sprachlich dargestellt und poetologisch wirksam sind. Stimmungen können als Konkretionen von Figuren oder Räumen, als Selbstentfaltung von existenziellen oder interpersonalen Konstellationen, als Ganzheitswahrnehmung von Gefühlslagen oder Situationen sowohl zur Subjektseite als auch Objektseite hin literarisiert sein. Zum einen wären sie als dargestellte manifest auch mit Dilthey als „Stimmung[en] des Menschen gegenüber dem Zusammenhang der Dinge“ (GS V 379) oder als subjektive „Stimmungen dem Leben gegenüber“ (GS VIII 81) interpretierbar. Zum anderen kann über Dilthey hinausgehend ihre textuell organisierte Bedeutung aufgewiesen werden in der Räumlichkeit einer „gegenständlichen Stimmung“, der ästhetischen „Situation“ des „Daseins“ oder als eine in objekthafter „Anschauung [...] lebendige, die Anschauung erfüllende und gestaltende Stimmung“. (GS VI 131)

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Während Diltheys subjektive Stimmung indes vom Erleben einer historischen Persönlichkeit, der Lebendigkeit des individuellen Erlebnisausdrucks und von der Unmittelbarkeit des sich verstehenden Lebens her zur Kategorie des Verstehens aufstieg, wird unsere Stimmung nur als Disposition zu einem Verstehen aufgefasst, welches mit dem Eigensinn sprachlicher Gebilde rechnet. Insbesondere innerhalb der Theorie und Praxis der Interpretation, wo elementarästhetische Subjektivität oder Objektivität in literarischer Vermittlung den Gegenstand der Untersuchung bilden. Auch wo Dilthey Stimmung als einen ganzheitlichen Weltbezug des KunstSchaffenden ins Auge fasste, der von außen her „alle Vorstellungen sich zu unterwerfen [strebt]“ (GS VI 147), muss er für uns als eine solche ästhetische Objektivität mit epistemischer Dimension literarisch vermittelt sein. So kann die kognitiv relevante Stimmung in der Literatur – wie diese selbst – als anthropologisches Phänomen sowie als Form vorwissenschaftlicher Selbstverständigung thematisiert werden. Etwa in Hinsicht auf individuelle und kollektive Befindlichkeiten in geschichtlichen, respektive fiktiven Zusammenhängen, auf Integrations- oder Zerfallserfahrungen von Wirklichkeit; hinsichtlich der Realität oder Surrealität des Erlebens, der vorgängigen Einheit oder Irre eines Lebensverlaufs oder hinsichtlich der räumlich-zeitlichen Strukturbewegungen in der ästhetischen Konstituierung von Wahrnehmung oder Bedeutung. In Diltheys Poetik und Das Erlebnis und die Dichtung kann eine Verdoppelung von subjektlogisch konzipierter Stimmung beobachtet werden, indem deren produktionsästhetischer Aspekt um einen rezeptionsästhetischen ergänzt wurde. Zwar ging es auch in Diltheys philologischer Praxis um den verstehenden Nachvollzug von ästhetischem Ausdruck in historischen Kontexten, jedoch musste dafür der theoretisch nachgeordnete ästhetische Eindruck berücksichtigt werden. Einmal zur Erklärung des Schaffens des Künstlers auf der vorgängigen Basis empfangener Eindrücke, ein zweites Mal zur Erklärung der Wirkung von Dichtung und Musik auf den Leser oder Hörer. Die poetische, respektive musikalische Stimmung war es, aus der heraus künstlerische Schöpfung entstand, welche sich im Werk manifestierte und die im Rezeptionsprozess nachgebildet sowie als ästhetischer Eindruck nachempfunden wurde. Diese die produktions-, werk- und rezeptionsästhetischen Perspektiven vereinende Stimmung bleibt auch für deren literaturwissenschaftliche Neukonzeption anschlussfähig. Allerdings muss dazu folgendes bedacht werden: erstens, dass bei der Transposition aus einem psychischen Aggregatzustand in den anderen die Stimmung sich wandeln kann – zumal zwischen Individuen und erst recht bei solchen aus historisch und kulturell differierenden Kontexten; zweitens, wie die vorübergehend materialisierte Konstitution der Stimmung im symbolischen Prozess überhaupt zustande kommt; und drittens, dies in einer solchen Weise erfolgt, die sie im Wechsel der systemischen Milieus zwischen Psyche und Kunst noch als dieselbe Stimmung (wieder-)erkennbar bleiben lässt. Denn bei Dilthey ist problematisch, dass er Stimmung auf ihrer Wanderung aus dem Seelenzusammenhang des Künstlers in den Werkzusammenhang und schließlich in den Seelenzusammenhang des Rezipienten als mit sich identisch bleibend vorstellte. Dies ist umso erstaunlicher, als dass er das ‚Getriebe‘ seelischen Lebens ebenso ganzheitlich wie mannigfaltig auffasste und im fortlaufenden Eindruck neuer Empfindungen die permanente Transformation von Vorstellungen, Gefühlen und Stimmungen betonte, wenn auch mit unterschiedlichen Zeitmaßen derselben.

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Der Grund für Diltheys Annahme einer in sich stabilen Transmission von identischen Stimmungen ist in seiner Konzeption des Bildvorgangs nach dem Schema der Repräsentation zu finden. Danach betrifft die Metamorphose der Bilder bei ihrer Übertragung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, Außen und Innen, Seele und Dichtung sowie im ästhetischem Ausdruck und Eindruck nur ihr Repräsentationsformat, nicht aber ihren Stimmungsgehalt. Das relative Eigenleben der Bilder im Zeichenspiel der poetischen Sprache verkannte Dilthey ebenso wie die differentielle Spannung, welcher die Stimmungen im ästhetischen Medialisierungsprozess insgesamt ausgesetzt sind. Dies ist der theoretische Preis, der für den Gewinn einer psychologisch-anthropologischen Explikationsbasis zu entrichten war. Dadurch blieb Diltheys Stimmungsbegriff zuletzt in einem Subjektdenken befangen, dessen transzendentallogischen, metaphysischen und empiristischen Fallstricken er doch durch eine Verlebendigung philosophischer Erkenntnis zu entkommen glaubte. Nämlich indem er dieser, wie auch der Erklärung der Poetik und der geschichtlichen Erfahrung in den Geisteswissenschaften, den „ganzen Menschen [als] dies wollend fühlend vorstellende Wesen“ zugrunde legte. (GS I XVIII) Dieser auch von der sich bald darauf entwickelnden Phänomenologie ausgemachte Ansatzpunkt wurde von Dilthey begrifflich besetzt mit dem ‚Erlebnis‘, welches – wie die Stimmung – dem für Erkenntnis grundlegenden Auseinandertreten in Subjekt- und Objektsphäre vorausliegt. Dennoch wurde die Stimmung zusammen mit dem Erlebnis durch die psychologische Grundlegung dann im theoretischen Umkreis von Subjektivität zentriert, während das Feld der Objektivität zur Darstellungsebene des Erlebnisausdrucks und zur Übertragungsfläche für mentale Stimmungsbilder schrumpfte. Wie Dilthey den Begriff Leben und mit ihm den der Stimmung emphatisch erfahrungsnah wie auch als zur überindividuellen Sphäre des Geschichtlichen gehörig dachte, so abstrakt begründete er sie als Struktur und führte sie kategorial ins Psychologische zurück. Demgegenüber zielt unsere ästhetiktheoretische Revision der Stimmung, insofern sie deren Funktion für die Literatur diskursiviert, auf deren phänomengerechtere Platzierung auf den schwellenartigen Übergängen zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Selbst und Welt. Dadurch kann die bei Dilthey im Anschluss an die idealistische Einheitsformel von der Innen-Außen-Vermittlung in ihrer ästhetischen Bedeutung verkannte Stimmung auch ontologisch ernst genommen und innovativ gefasst werden. Insofern sie nämlich weder auf die eine, noch die andere Seite gehört, und als die Insistenz eines dritten Gliedes die disjunktive Zweigliedrigkeit der überlieferten Ontologie und Epistemologie hinter sich lässt. Als lebendige Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Natur, Selbst und Welt, Seele und Realität oder zwischen Ich und Milieu ist die Stimmung also nicht nur das Medium einer wie auch immer ‚lebendigen‘ Selbstverständigung des Subjekts mit sich oder eines Verstehens des Lebens aus ihm selbst. Vielmehr wollen wir die ästhetische Stimmung als ein solches Medium auffassen, das existenzielles Verstehen mit materiellem Darstellen zu einem ‚ko-intelligenten‘ Verfahren verbindet. Darin wäre das Stimmungsmedium die weder vorgängig seiende noch logisch nicht-seiende Figur des Dritten, welche die hermeneutischen und ästhetischen Prozesse aus ihrem subjektivistischen Selbstrekurs ebenso herauslöst wie es sie vor objektivistischer Illusionierung bewahrt. Denn wie

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die topologische Bahnung etwa auf der Oberfläche eines Möbiusbandes1 bewegt sich unsere ästhetische Stimmung stets auf der Innenseite, deren Außenseite sie konstitutiv verwindet. Die Alternative zu Diltheys Verständnis von Dichtung, Kunst oder Musik als Ausdrucksformen für künstlerisches Schaffen ist nicht deren konzeptuelle Fetischisierung zum autonomen Material. Das Primat des Subjekts kann nicht einfach zum Primat des Objekts verkehrt werden, um aus Diltheys poetischer Imaginationsanthropologie eine autopoetische Stimmungslogik zu machen. Auch soll die phantasmatische Dichte der Innerlichkeit keineswegs ins delirante Offene eines allzuständigen Außen extrovertiert werden. Vielmehr kann an der Stelle von Diltheys festen Kausalbeziehungen zwischen ‚Seelenstoff‘ und Sprachform, welche die Stimmung zum Ausdruckmedium im Sinne eines psychischen Vehikels machten, die ästhetische Stimmung selbst etabliert werden. Nämlich als Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium zugleich, welches also gleichermaßen der Subjektivität wie der Sprachlichkeit angehört und diese poetologisch als voneinander wechselseitig abhängig ausweist. Eine solche ästhetische Konzeption von Stimmungspoetologie überschreitet die zweiwertiger Logik folgenden Unterscheidungen wie Geist/Material, Seele/Form, Subjekt/Objekt, Innen/Außen oder Ich/Milieu. Und zwar zugunsten einer Aufmerksamkeit für transsubjektive Spontaneitäten und damit für ein Verständnis von Information, die nicht Ausformierung der Einbildungskraft ist, sondern ereignishaft im Wahrgenommenen selbst steckt und von der poetischen Sprache prozessiert wird. Dass zur theoretischen Entfaltung einer solchen Ästhetik die Stimmung sich als tragender Begriff anbietet, liegt in dem mit ihm semantisierten Zusammenhang von Grenzphänomenen begründet. Nach unserer Leitthese ist dies außerdem historisch begründet, insofern die Entwicklung des Stimmungsbegriffes aus einem dezidiert ästhetischen Reflexionsbedarf erfolgte, wie er sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der deutschen Literatur und Philosophie artikulierte. Während dort, zumindest in ihren poetischen Anfängen bei Goethe, die Stimmung sich noch ihrer Vereinseitigung entweder zu entziehen wusste oder aber die damit verbundenen Probleme sichtbar werden ließ (Werther), hat sich ihre überwiegend subjektivistische Konzeptualisierung bei Dilthey bereits etabliert. Auch infolge von dessen wirkungsmächtiger Prominenz im poetischen Diskurs des 20. Jahrhunderts klang beim Gebrauch von Stimmung immer etwas von lebensphilosophischem Irrationalismus oder doch metaphysischem Subjektivismus mit. Das musste eine Distanzierung und schließlich das terminologische Ressentiment der jüngeren Literaturwissenschaften hervortreiben. Eine heutige Relektüre von Diltheys Hermeneutik und Poetik am Leitfaden der Stimmung zeigt, dass die zentrale Stellung ihres Begriffes nur aus ihren subjektivistischen Verfestigungen etwas gelöst werden muss. Möglich ist dies dank des Verzichts auf die psychologischen Grundlegungsabsichten, welche Dilthey die poetischen Stimmungen an die Einbildungskraft zurückbinden ließ. Durch ihre Öffnung hin auf räumliche, zeitliche und mediale Phänomenstrukturen lässt sich das semantische Potenzial ihres Begriffes für eine solche literarische Ästhetik wieder entfalten, mit 1

Vgl. zum raumtheoretischen Charme dieser und ähnlicher Illustrationsfiguren (cross-cap, Innenacht), freilich ohne Bezug zum Stimmungsphänomen, Lacans Thematisierungen derselben und deren Darstellung bei Wegener 2007.

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der sich die um die Stimmung gruppierten Problemstellungen um 1800 neu beleuchten und an gegenwärtige anknüpfen lassen. Um an diesen problemgeschichtlichen Zusammenhang heranzukommen, muss im nächsten Schritt das ästhetische Bedeutungsfeld noch näher in den Blick genommen werden, wie es mit dem noch heute akademisch geläufigen Stimmungsbegriff konnotiert wird. Hierfür maßgeblich ist die Bedeutung von Stimmung im Werk Heideggers. Dann erst kann die Stimmung mit der nötigen historischen Trennschärfe und der angezeigten theoretischen Konturierung gewinnbringend zurückbezogen werden auf ihre ästhetische Bedeutung in literarischen Werken des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Dabei birgt dasjenige keinen Nachteil für unsere historische Perspektivierung, was Dilthey in die begründungstheoretischen Schwierigkeiten eines Perspektivismus bringen musste, nämlich die unhintergehbare Geschichtlichkeit auch von Stimmungen samt ihrer Objektivationen in Religion und Weltanschauungen, Philosophie und Kunst, Musik und Dichtung. Eher im Gegenteil gilt, dass erst ein methodisch auf die historische Analyse ästhetischer Medien und ihrer funktionalen Bedeutung zugeschnittenes Konzept eine Theorie der Stimmung ermöglicht, für welche die Einsicht in deren Geschichtlichkeit die Grundlage ihres kulturwissenschaftlichen Selbstverständnisses bildet. Die Voraussetzung hierfür ist die Entwicklung eines funktionalen Theoriedesigns, wie wir es weiter unten skizzieren. Unsere Theorieskizze zielt also nicht darauf ab, schon vorab zu klären, was Stimmung als pathisches oder psychologisches Phänomen ist. Es soll vielmehr dazu geeignet sein, das ästhetische Produziert- und Rezipiertwerden, die Funktionsweisen, Formalisierungsmodi oder Konfigurierungen von Stimmung in der Literatur bestimmter Raum-Zeit-Segmente synchronisch sowie diachronisch über historische Zeiträume hinweg zu untersuchen. So können im Ergebnis ästhetische Konkretionen sich auch zu einer grundlegenden Vorstellung davon ergänzen, was Heidegger mit der methodologischen Bedeutung der Stimmung für seine fundamentalontologische Analyse des Daseins im Blick gehabt hat. Dann könnte sich nämlich das ästhetische Grundbild einer Stimmung abzeichnen, das durch Formen der Darstellung hindurch Heideggers Funktionsweise des „Inder-Welt-Sein als Ganzes“2 – welche Diltheys „psychophysische Lebenseinheit“ (GS VII 86) existenzial erschließt – poetologisch perspektiviert.

2. D IE

ONTOLOGISCHE V ERORTUNG VON D ILTHEYS VORSYSTEMATISCHEM B EGRIFF DER G RUNDSTIMMUNG DURCH H EIDEGGER

In dem Maße wie Dilthey den Geisteswissenschaften eine erkenntnistheoretisch belastbare Grundlegung zu verschaffen suchte, gab er die Beweglichkeit des Stimmungsbegriffes preis. Als er bemerkte, dass die psychologische Erklärung geschichtlichen Verstehens zu kurz griff, verlagerte er zwar den theoretischen Fokus seiner späteren Hermeneutik auf den philosophischen Begriff der Besinnung. Die subjekti-

2

Heidegger 161986, S. 137. Fortan im laufenden Text zitiert mit der Sigle SuZ (+ arabischer Seitenzahl), hier also SuZ 137.

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vistische Verkürzung des Stimmungsbegriffes blieb jedoch im ästhetiktheoretischen Gebrauch bestehen, womit dessen erste Subjektivierung um 1800 verfestigt, seine damals aber noch ko-präsente Objektsemantik liquidiert wurde. Gleichzeitig führte dies Dilthey zur anscheinend kompensatorischen Begriffsausweitung im geschichtstheoretischen Gebrauch, wenn Stimmung – wie in der Weltanschauungslehre – zur fundierenden Schicht (‚Grundstimmung‘) mythologischer, metaphysischer und weltanschaulicher Systeme wird und dabei ununterscheidbar wird von Begriffen wie ‚Lebensgefühl‘ oder ‚Gefühlslage‘.3 Mit dem Verlust an ästhetischer Differenziertheit und an phänomenbezogener Konkretion geht auch die begriffliche Disziplin verloren; namentlich wenn ohne methodisches Problembewusstsein von einer „Stimmung der Zeit“ oder „der Menschen“ einer Epoche (GS VI 253f.; vgl. 255) oder kaum weniger generalisierend von der ‚Lebensstimmung‘ eines historischen Individuums die spekulative Rede ist. So scheint ausgerechnet Diltheys Festhalten an epistemologischer Fundierung seines poetischen wie seines Hermeneutikkonzepts jenen Mangel an begrifflicher Präzision hervorzubringen, welcher den gegen sein Werk gehegten Verdacht des lebens- und geschichtsphilosophischen Irrationalismus nährte. 4 Dieser nicht unbegründete Verdacht richtete sich nicht zuletzt gegen Begriffe wie Leben, Wesen und Geist, die lange Zeit in Geisteswissenschaften und Philosophie zentral blieben. Neben diesen hat sich auch die Stimmung davon bis in die heutigen Diskurse nicht erholt, obwohl sie bei Heidegger auf das systematische Niveau eines philosophischen Begriffs gehoben wird.5 Erfolgte bei Dilthey die Aufwertung der Stimmung nicht systematisch, jedoch mit geschichtstheoretischer Ausrichtung, so bei Heidegger systematisch innerhalb einer hermeneutischen Konzeption des Daseins, jedoch nicht geschichtsphilosophisch. Allerdings ist im Anschluss an Dilthey Heideggers Stimmung prinzipiell geschichtlich gedacht, insofern sie als Existenzial das Dasein an die Zeitlichkeit des Sinns von Sein zurückbindet.6 Heideggers auf existenziale Zeitlichkeit restringierte Geschichtlichkeit entspricht seine systematische Einbettung von Stimmung in ein Denken des Seins, das sich zunehmend als Gegendiskurs zur europäischen Metaphysik und neuzeitlichen Wissenschaft verstanden wissen will. Um die Stimmung als Kategorie für die historische Literaturforschung neu zu entdecken, muss ihr Begriff aus seiner ontologischen Verengung wieder herausgelöst werden. Hierzu gehört eine kritische Revision der Bindung von Stimmung an den existenzialontologischen Begriff der Geschichtlichkeit, wie ihn Heidegger anstelle der wissenschaftlich erforschten Geschichte im empirischen Sinne von Historie einsetzt. 3

4 5 6

Heidegger ontologisches Stimmungskonzept ist gegen diese Auffassung von Stimmung gerichtet, nach welcher sie noch als seelischer und emotionaler Zustand erscheint und noch nicht als ontologisches Geschehen und existenziale Befindlichkeit geltend gemacht wird. Siehe hierzu und die Einführung des Begriffs der Grundstimmung in GdM 97ff. Insbes. seit der neukantianischen Intervention durch Rickert 1922. Siehe hierzu ausführlich den 2. Teil in Ferreira 2002. Damit holt Heidegger anhand der Stimmung nach, was Dilthey mit dem Begriff des Lebens verpasste, nämlich dessen ontologische Bestimmung: „Daß sie ausbleibt, liegt letztlich daran, daß Dilthey das ‚Leben‘, ‚hinter‘ das freilich nicht zurückzugehen ist, in ontologischer Indifferenz stehen ließ.“ (SuZ 209)

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Dies geschieht in wirkungsmächtiger Weise mit dessen veröffentlichtem Hauptwerk Sein und Zeit. Zwar spricht Heidegger darin mit Bezug auf das Problem der Geschichtlichkeit davon, dass seine Erörterung desselben durchaus auf der „Aneignung der Arbeit Diltheys erwachsen“ (SuZ 397) ist. Jedoch lanciert er über die Referenz auf die kritischen Bemerkungen des Grafen Yorck von Wartenburg 7 eher eine lapidare Distanznahme als indirekte Anerkennung von der „Forschungsarbeit Diltheys“.8 Einen wesentlich weiter gehenden als den von Heidegger selbst zugestandenen Einfluss Diltheys hat die Forschung hingegen insbesondere für Sein und Zeit und die frühen Schriften inzwischen aufgewiesen. 9 Diese unterschwellige Geringschätzung der Bedeutung Diltheys ist umso erstaunlicher, als dass (1.) dessen Begriff des Lebens, (2.) die deskriptiv-psychologische Verwurzelung des Verstehens in der ‚Natur des ganzen Menschen‘ sowie (3.) die erkenntnistheoretische Transzendierung der ‚Menschennatur‘ zum Ausgangspunkt eines Denkens der Geschichtlichkeit – die Grundlinien von Heideggers eigenen Denken bis hinein in das der Zeit als Sinn von Sein vorzeichnen.10 Nur wird darin ‚Leben‘ samt seiner Phänomenalität der Zeitlichkeit ersetzt durch ‚Dasein‘; es tritt an die Stelle anthropologischer Psychologie die ontologisch ausge7

Die Bedeutung des Briefwechsels zwischen Yorck und Dilthey (erschienen 1923) für Heidegger wird hervorgehoben von Gadamer 1986-87. 8 Siehe zur früheren, deutlicher erkennbaren Referenz zu Diltheys Werk Rodi 1986-87, S. 161-80, hier 173. 9 Siehe außer den eben erwähnten Gadamer und Rodi vor allem Pöggeler 1986-87. Dieser konzediert jedoch auch, dass Heideggers Einwände (vorgetragen in der letzten Marburger Vorlesung vom SS 1928) gegen die Einflussforschung zutreffend sind, welche die „Analyse des Daseins auf die Zeitlichkeit hin [...] auf fünf Einflüsse zurückführt: auf Einstein, auf Bergson und Spengler, auf Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, auf Kierkegaard und auf Diltheys Aufweis der Geschichtlichkeit.“ (S. 121f., vgl. 127) Im Anschluss an diese Arbeiten wird Diltheys Einfluss ausführlicher bestätigt in der Dissertation von Rauti 1999. Mit Blick auf die Vorlesungen des frühen Heidegger belegt sie überzeugend ihre Grundthese, dass „Diltheys Konzeption eines konkreten, nicht bloß erkennenden, sondern auch wollenden und fühlenden Subjekts und seine Verweisung auf die Geschichtlichkeit der Erfahrung auf Heideggers Philosophie einen prägenden Einfluß ausgeübt hat.“ (S. 15) Rauti wertet für ihre Untersuchung die erst in den 1980er Jahren erfolgte Veröffentlichung der Vorlesungen Heideggers von 1919-27 aus und schließt an die daraus erfolgte Neudiskussion des Verhältnisses Heidegger/Dilthey an. Dies gilt ebenso für die etwa gleichzeitig entstandene, von einer breiteren Fragestellung ausgehenden Dissertation von Kim 2001; vgl. darin zur Zeitlichkeit S. 125-130, 138-141, 230-246; zur Stimmung S. 210218. 10 Vgl. auch Heideggers Begriff der Faktizität, der gegen das begrifflich Weiche des Diltheyschen ‚Lebens‘ aufgeboten wird: „So konnte Heidegger die Interpretation des faktischen Lebens, das historisch ist, als Hermeneutik fassen und in ihr Ontologie verwurzeln. Der Ausdruck ‚Faktizität‘ gibt wieder, daß es nicht um ein leeres Daß geht, sondern um ein Daß, welches sich zum Was und zum ‚Eidos‘ öffnet, so nicht bloße Realisierung eines Was ist, sondern ein Wie-Sein in der Zeit. Der Ausdruck bringt also zur Sprache, was Dilthey mit seiner Rede von der Realität der Zeit meinte.“ (Pöggeler 1985, S. 125).

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richtete ‚Hermeneutik der Faktizität‘; und schließlich wird der lebensphilosophische Ausgangspunkt existenzialanalytisch aufgeweitet zu einem prätranszendentalen Feld, von welchem aus der Sinn von Sein sich in der Endlichkeitsperspektive geschichtlichen Daseins erschließt. In solcher vereinfachenden Vergleichsperspektive lässt sich auch Heideggers ‚Befindlichkeit‘ als die ontologisch fixierte Version von Diltheys ‚Lebendigkeit‘ wahrnehmen. Allerdings bleibt die konzeptionelle Ähnlichkeit zum Philosophieren Diltheys durch Heideggers Anspruch auf Originalität, Begriffsdisziplin und seine de facto höhere Konsistenz im Ganzen weitgehend verdeckt. Im Einzelnen entspricht dem durchaus, dass die Vorläuferschaft Diltheys hinsichtlich Heideggers systematischerer Konzeptualisierung von ‚Stimmung‘ unerwähnt bleibt. Bevor wir uns den für die methodische Bedeutung von Stimmung einschlägigen Paragraphen (§§ 28-30, 40, 68) im Zusammenhang mit denjenigen Paragraphen zuwenden, die für Fragen der Hermeneutik besonders wichtig sind (§§ 31-34), soll ein Blick auf Was ist Metaphysik? ersten Aufschluss geben über Heideggers Verwendung des Stimmungsbegriffes. In der Freiburger Antrittsvorlesung (1929) bezieht Heidegger sich anders als noch in Sein und Zeit nicht auf Dilthey zurück. Gleichwohl bleibt dessen konzeptuelle Tieferlegung der Stimmung im lebensphilosophisch grundlegenden Sinn einer ‚untersten Schicht‘ von Weltanschauungen erkennbar der Vorläufer für die Einbindung der Stimmung ins metaphysische Fragen nach dem „Ganze[n] selbst“.11 Darin dient die Stimmung der existenzialen Verortung der „wesentlichen Lage des fragenden Daseins“ im „Gebiete der Wissenschaften“, deren „Verwurzelung [...] in ihrem Wesensgrund abgestorben“ sei. (WiM 103f.) Schon am Pathos der Wissenschaftskritik erkennt man die Verwandtschaft mit Diltheys Anliegen, dem von natürlichen Weltbeziehungen abstrahierten Subjekt der neuzeitlichen Episteme eine neue Lebendigkeit ganzheitlicher Erfahrung einzuhauchen. Heidegger lenkt Diltheys wissenschaftskritischen ‚Lebensimpuls‘ hier um auf das Desiderat einer Selbstaufklärung der Wissenschaften über ihre erkenntnisanthropologische Ausgangslage, aus der heraus „sich – der Idee nach – ein In-die-Nähe-kommen zum Wesentlichen aller Dinge“ (WiM 104) vollziehe. Der Mensch sei als „wissenschaftliche Existenz“ in der „wurzelhaften Einheit“ einer dreifachen Perspektive positioniert: einem (1.) dezidiert ontischen „Weltbezug“, der (2.) einer am Seienden der Sachen selbst ausgerichteten „Haltung“ entspricht und dadurch (3.) das Seiende als Ganzes in ein transzendentes Selbstverhältnis tritt, welches Heidegger als „aufbrechende[n] Einbruch“ ontologisch namhaft macht. (WiM 105) Inwiefern dieses „wissenschaftliche Da-sein“ (WiM 105) kraft seiner metaphysischen Selbstdurchleuchtung den Weg zur Beantwortung der Frage nach dem Sein des Seienden freimacht, müssen wir für die Neuverortung der Stimmung im Einzelnen nicht nachvollziehen. Allein der Hinweis, dass dies durch eine negationstheoretische Grundlagenreflexion erfolgt, reicht aus zur Bestimmung ihrer ontologischen Funktion. Denn die Stimmung wird nicht aus ihren bedeutungsgeschichtlichen Kontexten heraus als philosophischer Begriff eingeführt, sondern über ihre exemplarischen

11 Heidegger, „Was ist Metaphysik?,“ in: ders. 21978, S. 103-121, hier 103. Im fortlaufenden Text zitiert in runden Klammern mit der Sigle WiM (+ arabische Seitenzahl), hier also WiM 103.

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Konkretionen als Langeweile, Freude und Angst. 12 In ihnen wird die „Allheit des Seienden“ über ihre mögliche Totalnegation nicht wie im Denken formal gedacht und folglich deren Sein im Gegenzug zum abstrakt gebildeten „Begriff eines seienden Nichts“ verfehlt. (WiM 109) Sondern sie wird überhaupt erst erfahrbar, so wie in der Weltanschauung Welt als Ganzes des Seienden angeschaut wird. Und zwar wird in der Stimmung erfahrbar nicht das Gesamt alles dessen, was der Fall oder existent ist und als Ganzes bloß vorgestellt werden kann. Hingegen ist das „Ganze des Seienden“ allein für einen Teil desselben erfahrbar, desjenigen nämlich, das allein sich als gestimmtes Seiendes „inmitten des Seienden im Ganzen“ zu vergegenwärtigen vermag. (WiM 109) Zur Vermeidung eines intentionalen Bezugs spricht Heidegger indes nicht von Erfahrung, sondern von deren ontologischer Voraussetzung, die er hier „Sichbefinden“ nennt. (WiM 109) Im Unterschied zum „Erfassen“, dem der epistemische Zugriff auf das Ganze des Seienden verwehrt bleiben muss, ist das Sichbefinden im Sinne eines ständigen Verhältnisses zum Ganzen des Seienden aufzufassen. Als solches ist es die ‚unterste Schicht‘ alles epistemischen Geschehens. Befindlichkeit richtet das Dasein ursprünglich am Verhältnis zum Sein aus. 13 Sie ist das ontologische Fundament der Stimmung. Während Dilthey seine weltanschauliche Basisfunktion der Stimmung in der Weltanschauungslehre einfach behauptet, sorgt Heideggers fundamentalanalytische Reflexion derselben für ihre philosophische Begründung. In Sein und Zeit wird die Stimmung durch die Existenzialanalytik als erkenntnistheoretische Grundbedingung herausgearbeitet. Erkennen wird selbst als „im In-der-Welt-sein fundierter Modus des Daseins“ (SuZ 62f.) erklärt. Damit erhält das Erkennen eine vorsubjektive Basis, die sich bereits bis ins Feld möglicher Gegenstände erstreckt noch bevor diese epistemisch objektiviert werden.14 Ähnliches gilt für die Rationalität des Erkennens durch Begriffe, insofern wir diese und „ihre begriffliche Strenge [...] nie begriffen haben [werden], wenn wir nicht zuvor ergriffen sind von dem, was sie begreifen sollen. Dieser Ergriffenheit [...] gilt das Grundbemühen des Philosophierens. Alle Ergriffenheit aber kommt aus einer und bleibt in einer Stimmung.“ (GdM 9; Hvh. i.O.) Es zeigt sich, dass die existenzialontologische Interpretation von Dasein nicht nur das Fundament von Seinsdenken ist. Vielmehr soll sie auch das begründungstheoretische Vakuum füllen, das Diltheys 12 Siehe zu diesen Stimmungsformen auch unter zeitdiagnostischem Aspekt Heideggers Vorlesungen (GdM 89-249). 13 Vgl. in dieser fundamentalen Ausrichtung der Befindlichkeit Pocai 1996. 14 Vgl. zu Heideggers Nachordnung von Erkenntnis gegenüber der ursprünglichen Auslegung der Welt in der Stimmung die zeitgenössisch prägende Wirkung dieser Einsicht bei Bollnow: „Die Bedeutsamkeit der von Heidegger entwickelten Auffassung der Erkenntnis liegt bekanntlich darin, dass in ihr der allgemeine lebensphilosophische Gedanke einer Rückbeziehung der Erkenntnis auf das Leben in einer philosophisch strengen und überzeugenden Weise durchgeführt wird. Das Erkennen ist selber kein ursprünglicher Bezug zu den Dingen, sondern gründet in dem ursprünglicheren Verhalten des Menschen in seiner Welt [...] Ursprünglicher als das theoretische Erkennen ist also der praktische Umgang mit den Dingen und die Art und Weise, wie in diesem Umgang die Dinge gegeben sind.“ (1956, S. 122)

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implizit geschichtstheoretische Rede von Grundstimmung hinsichtlich seiner Weltanschauungslehre und dem ‚Wesen der Philosophie‘ umgibt. Denn Heideggers „Umwege zur Bestimmung des Wesens der Philosophie“ verorten denkendes Begreifen „im Grunde des menschlichen Daseins“. (GdM 10; Hvh. i.O.) Auf diesem verdichten sich Stimmungen und Philosophieren zu einem ebenso existenzialen wie hermeneutischen Geschehen: „Stimmungen, aus denen die philosophische Ergriffenheit und Begrifflichkeit sich erhebt, [sind] notwendig und immer Grundstimmungen des Daseins, solche, die den Menschen ständig und wesenhaft durchstimmen, ohne daß er sie auch immer schon notwendig als solche zu erkennen braucht. Philosophie geschieht je in einer Grundstimmung. Philosophisches Begreifen gründet in einer Ergriffenheit und diese in einer Grundstimmung.“ (GdM 10; Hvh. i.O.)

Heideggers in Sein und Zeit phänomenologisch präzisierte Beschreibung der existenzialen Stimmungsverfugung von Dasein und Welt ergänzt und ersetzt zugleich Diltheys ganzheitlich gedachtes, aber uneinheitlich durchgeführtes Konzept von Geschichte und Leben. Sie verschafft der Diltheyschen Idee von einer die Subjekt- und Objektposition umfassenden Kategorie ‚sich verstehenden Lebens‘ erst eine epistemologisch integrative Tiefenstruktur. Was Dilthey mit dem Ganzheitsbegriff des Lebens „in ontologischer Indifferenz stehen ließ“ (SuZ 209f.), wird von Heidegger in programmatischer Fortführung einer ontologischen Bestimmung zugeführt. Die Analyse der Begriffe Impuls und Wille, Widerstand und Realität führt Dilthey zum „Satz von der Phänomenalität“15, nicht aber über die ontischen Grenzen des Bewusstseins hinaus zur Frage nach dem Sein von Bewusstsein. (SuZ 209f.) Für dessen existenzialontologische Bestimmung in Sein und Zeit aber nutzt Heidegger das Phänomen und den Begriff der Stimmung. In Was ist Metaphysik? wird die systematische Bedeutung der Stimmung im Zuge der Ausarbeitung der Frage nach dem Nichts ersichtlich. Durch die Stimmung wird das Dasein bis in seine alltägliche Zerstreutheit hinein als dasjenige Seiende ausgezeichnet, das alles andere „Seiende, wenngleich schattenhaft, in einer Einheit des ‚Ganzen‘“ (WiM 109) behält. Das Adjektiv ‚schattenhaft‘ weist auf die bis zu dieser Stelle im Vortrag noch gar nicht angeführte Stimmung voraus, die gerade in ihrer Diffusität als ontologische Beziehung zwischen Ontischem, d.h. dem Dasein und anderem Seienden, erfahrbar wird. Am Beispiel der „eigentlichen Langeweile“ (WiM 109) – im Unterschied zur uneigentlichen, die uns im Umgang mit Bestimmtem befällt – wird die Stimmung als eine genuin philosophische Kategorie in Stellung gebracht. Insofern sie nämlich eine ebenso ontologisch wie mediologisch veritable Beziehung darstellt, die als solche weder ganz in den Bezirk der Dinge fällt, noch eigentlich ‚uns selbst‘ angehört.

15 Siehe Diltheys ‚Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht‘ (1890), in GS V 90-138.

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3. K ANN S TIMMUNG ALS PHILOSOPHISCHE B EZIEHUNGSKATEGORIE WEITERGEDACHT UND LITERATURWISSENSCHAFTLICH ‚ IN G ANG GEBRACHT ‘ WERDEN FÜR DIE V ERMITTLUNG ZWISCHEN T EXTIMMANENZ UND HISTORISCHEM K ONTEXT ? Dieser Zwischenstatus des weder zu den Dingen noch zum Erfahrungssubjekt Gehörens spiegelt sich sprachlich in der formalen Impersonalität des Gestimmtseins wider, „darin einem so und so ‚ist‘“; zum Beispiel, dass „es einem langweilig ist“. (WiM 110)16 Die relationale Zwischenstellung der Stimmung zeigt sich für Heidegger besonders deutlich an der selbsttätigen Indifferenz der Langeweile nicht gegenüber etwas Bestimmtem, sondern inmitten des Unbestimmten selbst: „Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen.“ (WiM 110)

Wie die Langeweile den negativ-emotionalen Zustand bildet, in welchem alle einzelnen Empfindungen sich zur Totalempfindung neutralisieren und damit eine Stimmung frei von Affekten bildet, ist es bei der Freude umgekehrt. In ihr führt nicht der Ausfall, sondern die Steigerung der Affektreaktion zur Totalempfindung des Seienden, indem dieses sich etwa zur „Gegenwart des Daseins [...] eines geliebten Menschen“ (WiM 110) versammelt. Dass Heideggers Stimmungskonzept grundsätzlich auch einen positiv-emotionalen Ausnahmezustand als Möglichkeit der Seinsoffenbarung kennt, ist in der auf Sein und Zeit konzentrierten Rezeption oft verkannt worden.17

16 Vgl. hierzu ausführlich die §§ 29-36 in GdM 199-238. 17 Allerdings verkennt umgekehrt eine interpretatorische Weitung der Begriffe Stimmung und Befindlichkeit, etwa zu Gefühl oder im Englischen affect den spezifisch philosophischen Gewinnzug bei Heidegger. So beleuchtet Ballard (1991, S. 129) unter religionsphänomenologischem Aspekt das Verhältnis von Heidegger und Rudolf Otto, indem er Parallelen zwischen den Konzepten ‚Dasein‘, ‚Verstehen‘ und ‚Erkennen‘ einerseits und andererseits Menschsein, Nicht-Rationales und Rationales zieht. Problematisch ist seine Sichtweise auf Heideggers Konzept von Sein und Zeit als eine ‚Philosophy of affects‘, wobei im Englischen affect den Oberbegriff für deutsche Begriffe wie Gefühl, Emotion und eben auch Affekt bildet. Schließlich konzipiert Heidegger nicht auf leiblicher Wahrnehmungssinnlichkeit basierte Affekte des Menschen, sondern einen von ontologisch gedachter Daseinsstruktur aus sich eröffnenden Sinn von Sein. Zwar will Ballard ‚affect‘ als englische Übersetzung von Heideggers Befindlichkeit verstanden wissen, aber er verfehlt damit eben doch die ontologische Dimension der Stimmung zugunsten der ontischen Perspektiven, die Heidegger als philosophisch unreflektierten Gegenstand der Psychologie begreift. Entgegen der in Sein und Zeit betonten ontologischen Differenz interpretiert Ballard die existenziale Struktur von Stimmung als eine eher existenzielle Orientierung.

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In seinem Nachwort zu: „Was ist Metaphysik“ von 1943 begegnet Heidegger neben den „Irrmeinungen“, er rede dem Irrationalismus und Nihilismus das Wort, auch dem „Bedenken“, es ginge in der Vorlesung ausschließlich um Angst, zumal im psychologischen oder gar pathologischen Sinne einer gedrückten Stimmung. 18 Hingegen gehe es ihm mit der Angst im philosophischen Sinne und der Stimmung überhaupt gar nicht um eines unter vielen anthropologisch klassifizierbaren Phänomenen. Vielmehr um einen existenzialontologischen Ansatzpunkt zur Kenntlichmachung der Seinsvergessenheit des Denkens als erstem Schritt zur Überwindung der Metaphysik: „Was hat das Seinsgeschick dieser Angst mit Psychologie und Psychoanalyse zu tun?“19 Bis in die Gegenwart sehen sich Heidegger-Kommentatoren dazu veranlasst, darauf hinzuweisen, dass nicht nur Langeweile und Angst, sondern eine Bandbreite von Stimmungen das Dasein zum ‚Aufbrechen‘ des Seienden ins Eigentliche qualifizie20 ren. Noch Bollnow meinte mit seinem Buch über das Wesen der Stimmungen die Konsequenz aus der von ihm beanstandeten existenzphilosophischen Vereinseitigung auf die Angst ziehen zu müssen. Dabei macht er sich in seiner kritischen Abgrenzung von Heidegger nicht hinreichend klar, dass es diesem auch bei der Stimmung letztlich ums Sein und nicht um den Menschen geht. So zielt seine „Anthropologie der ‚gehobenen‘ Stimmungen [...] des Heiter-, Lustig-, Fröhlich-, Glücklich-seins usw.“ gerade nicht – wie Heidegger sein Konzept fokussiert – auf ein philosophisches Verständnis von Stimmung, namentlich innerhalb der Ontologie. (Bollnow 1956, S. 76) Bollnows auf einem phänomenologischen Tableau differenzierte Stimmungen werden indes konventionell „als tragender Grund der Seele“ oder – ohne explizit Bezug zu nehmen – in Diltheys Formulierung „als unterste Schicht des seelischen Lebens“ (ebd. 53 und 33) verstanden. Sie bleiben damit wie schon in Diltheys psychologischem Grundlegungsansatz letztlich doch auf die subjektive Funktion ihres Weltbezugs festgelegt. Deshalb ist Bollnows anthropologisches ‚Wesen‘ der Stimmungen für unser theoretisches Interesse an deren literarisch-ästhetischer Konzeptualisierung ohne weitere Bedeutung.21 Diese ergibt sich außerhalb poetologischer Kontexte aus18 Heidegger, Nachwort zu: „Was ist Metaphysik“ (1943), in: ders. 1978, S. 301-310, hier 305. 19 Vgl. Heidegger, Einleitung zu: „Was ist Metaphysik“ (1949), in: ebd. 361-378, hier 366f. 20 Siehe etwa Miller 2005, der hinsichtlich der Freude und der Bedeutung anderer Stimmungen bei Heidegger in Fußnote 20 auf Smith 1981 verweist. 21 Bollnow versucht seiner unter dem Titel der philosophischen Anthropologie geführten Untersuchung über Das Wesen der Stimmungen einen „methodisch strengen Sinn“ zu verleihen, indem er voraussetzt, „dass der Mensch in seiner inneren Gliederung ein sinnvoll zusammenhängendes Gebilde ist, in dem alles, was an ihm vorkommt, eine einsehbare Bedeutung für das Ganze hat.“ Indes soll das Sinnganze nur als eine Art regulative Idee fungieren, wörtlich: „es dient nur als versuchsweise angesetzter Leitfaden der Interpretation.“ Auf „vorsichtig konstruktiv-hypothetisch“ verfahrende Weise soll jede Lebenserscheinung im Rahmen einer Teil-Ganzes-Dialektik als „unentbehrlich, als sinnvoll und notwendig“ bestimmt werden können. (1956, S. 16f.) Allerdings wird dabei durchaus nicht – wie Bollnow vorgibt – „eine metaphysische Voraussetzung“ vermieden. Vielmehr wird eine solche im hermeneutischen Zirkel allenfalls eskamotiert, insofern nämlich das Ergebnis, d.i. das

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schließlich dort, wo die Stimmung aus der Bipolarität der Subjekt-Objekt-Beziehung herausgehoben und zumindest tendenziell selbst als Beziehung aufgefasst wird. Dilthey kam einer mehr als zweiwertigen Logik allenfalls im späten Nachdenken über Hegels objektiven Geist nahe, als er sich von der Psychologie entfernt, der philosophischen Besinnung angenähert und ihm die Stimmung beinahe ins Feld kultureller Objektivationen übergelaufen wäre. Während Dilthey aber letztlich vor einer Infragestellung von seit Aristoteles bewährten ontologischen Schemata (seiend/nichtseiend) und damit vor einem Ausscheren aus in der Neuzeit erst recht befestigten Denkstrukturen (Geist/Materie, Subjekt/Objekt u.a.) zurückwich, macht Heidegger sich dies zum Programm einer Destruktion der Metaphysik. Hierzu gehört eine KonBegreifen des Menschen als Sinnganzes, präjudiziert wird. Denn die nur über ihren Bezug auf dieses als sinnvoll begreifbaren Einzelphänomene sind es, die zugleich durch ihr Bezogensein den Menschen als Sinnganzes bestimmen können sollen. Die angebliche Ergebnisoffenheit, die Bollnow darin sieht, dass „mit jeder einzelnen neu untersuchten Erscheinung sich das Verständnis des Menschen im ganzen (verwandelt)“, verbürgt freilich noch keine methodische Solidität. Sein „Prinzip der offenen Frage“ führt weder aus dem hermeneutischen Zirkel heraus, noch im Sinne Heideggers zunächst tiefer in diesen hinein. Es perpetuiert hingegen die metaphysische Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen, wonach „die Gesamtheit aller empirisch gegebenen Lebenserscheinungen“ (S. 18) nichts als ein Sinnganzes ergeben kann. Die über die Pluralisierung der phänomenalen Ausgangspunkte vermeintlich bereits garantierte „methodische Sicherheit“ der philosophischen Anthropologie wird durch Bollnows Restringierung ihrer vorgeblich offenen Fragestellung auf eine ganzheitliche Sinnperspektive wieder verspielt. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei seinem als methodologischer Absicherung gedachten Vergleich der philosophischen Anthropologie mit der literarischen Hermeneutik. Die reflexive Subtilität seiner Gewährsmänner Nietzsche und Heidegger unterbietend, bleibt Bollnows Analogsetzung von philosophischer Daseinshermeneutik und „philologischer Textauslegung“ (S. 19) fixiert auf die interpretatorische Voraussetzung eines „durchgehenden Sinnzusammenhang[es] des Ganzen“. Zwar führt die Einsicht in „Die Notwendigkeit eines indirekten Verfahrens“ (S. 19ff.) zur programmatischen Berücksichtigung der Historizität dessen, was Bollnow nach Dilthey „fixierten Ausdruck“ oder „unbefangene und unvoreingenommene Äußerung“ des Lebens nennt und als „gesicherten Ausgangspunkt“ der philosophischen Anthropologie betrachtet. Auch sei deren Privilegierung „dichterische[r] Zeugnisse [...] für die Deutung der Lebenserscheinungen“ in der Ablehnung „unmittelbarer Selbstbeobachtung“ methodisch begründet, insofern dadurch nur annähernd die „Sicherheit“ der literarischen Texthermeneutik erreichbar werde. (20f.) Ungeachtet dessen bleibt Bollnows Ansatz befangen im „Glaube[n] an die Allgemeinheit der menschlichen Natur“ noch dort, wo er diesen als „widerlegt“ behauptet. (S. 21) Der Feststellung, es gebe „kein festes Wesen des Menschen [...], sondern dieses Wesen wandelt sich im Lauf der Geschichte“ folgt die Erklärung: „Es gibt etwas gemeinsam Menschliches auch über die Trennung der Völker und Zeiten hinweg, und die am eignen Volk gewonnenen Erkenntnisse gelten [...] weitgehend auch darüber hinaus für die Menschen überhaupt.“ (Ebd.) Wie weitgehend bleibt bei Bollnow ebenso unbestimmt wie seine philosophische Anthropologie insgesamt. Siehe zur philosophischen Anthropologie Haeffner 1989; Weiland 1995; Illies 2004; zur literarischen Anthropologie siehe Zymner/Engel 2004.

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zeption von Stimmung, welche deren Wirksamkeit (Funktion) sowie deren Wirklichkeit (Sein) in einem Bereich situiert, der den dualen Sicherungsstrukturen des Erkennens, Reflektierens und sogar des Erfahrens vorausliegt. Das vor aller epistemischen Ordnungsformierung real befindliche Gestimmtsein ist also auch nicht erst dann funktional, wenn es um die Vermittlung von Subjekt-Objekt, Geist-Materie oder Innen-Außen geht, nachdem diese sich erst einmal differenziert haben. Viel eher erschüttert die Voraus-befindlichkeit der Stimmung die Voraussetzungslogik dieser Duale, indem jene effektiv hervorbringt, was diese bewusstlos vorfindet und dann als Gegebenes vergegenständlichen lässt. Dieses passiv Befindliche22 und doch aktiv Leistende der Stimmung konstatiert Heidegger wie folgt: „Die Befindlichkeit der Stimmung enthüllt nicht nur je nach ihrer Weise das Seiende im Ganzen, sondern dieses Enthüllen ist zugleich – weit entfernt von einem bloßen Vorkommnis – das Grundgeschehen unseres Da-seins.“ (WiM 110) Sorgfältig achtet Heideggers Diktion darauf, die ontologische Aktivität des Enthüllens nicht einem Subjekt – etwa dem der Stimmung – zuzuschreiben, sondern der Befindlichkeit. Auch diese ist nicht Befindlichkeit eines anderweitig konstituierten oder bereits für anderes konstitutiven Subjekts, sondern diejenige der Stimmung. Somit ist auch nicht die Stimmung als ‚unterste Schicht‘ gefasst, wie vor Heidegger bei Dilthey oder nach ihm bei Bollnow. Sondern diese ist selber noch einmal auf ihre ontologische Tiefenstruktur hin erfasst. Nicht aber topographisch oder archäologisch als Schicht, sondern topologisch dynamisch oder ereignishaft als Befindlichkeit überhaupt, d.h. als eine solche, deren Wirklichkeit Schichten wie die der Stimmung, der Wahrnehmung und des Bewusstseins erst bildet. Ein protostrukturales Geschehen ist kein ‚bloßes Vorkommnis‘. Ein solches könnte es nur für ein vorgängiges Subjekt sein, für dessen Erfahrung oder gar als dessen Selbsterfahrung es dann einstünde. Davon aber ist dieses ‚Grundgeschehen‘ insofern ‚weit entfernt‘, als die Intentionalitätsstrukturen der Erfahrung von, Wahrnehmung von oder des Bewusstseins von noch gar nicht ausgebildet sein können, solange nicht überhaupt schon etwas ist und nicht vielmehr nichts. Deshalb spricht Heidegger mit gutem – namentlich phänomenologischem – Grund vom ‚Da-sein‘ und nicht vom Subjekt, Bewusstsein oder Menschen. Dabei – wie bei den meisten ungewohnten Begriffsverwendungen und Neologismen in seiner Philosophie – handelt es sich also nicht um terminologische Eigenwilligkeit. Auch Heideggers mitunter beargwöhnter Sprachduktus folgt dem Bemühen um eine angemessene Darstellung von ontologischen Sachverhalten, die einerseits aus ihrer historischen Überlieferung heraus nachgedacht – andererseits aber neu gedacht werden müssen. Die Schwierigkeiten für innovatives Denken und Darstellen ergeben sich aus dem Umstand, dass sie noch hinreichend in den historisch gewachsenen Begriffen der Metaphysik sich vollziehen müssen, um anschlussfähig und verständlich zu bleiben; zugleich aber sich aus ihnen herauslösen müssen, um deren Logik und Wissensformen überschreiten zu können. So wird hinsichtlich der Stimmung – durch passivische Partizipialformen geltend gemacht, dass ihr ontologischer Status jenseits eines Subjekts und doch weiterhin diesseits von Objekten zu denken ist: „Solches Gestimmtsein, darin einem so und so ‚ist‘, läßt uns – von ihm durchstimmt – inmitten des Seienden im Ganzen befinden.“ (WiM 110, Hvh. St.H.) 22 Diesen Aspekt akzentuiert Valavanidis-Wybrands 1982.

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Freilich ließe sich fragen, warum ‚unser‘ Durchstimmtsein inmitten und nicht etwa am Rande des Seienden geschieht und uns so als zentralen Teil von dessen Ganzem platziert? Dieser Um-Stand weist topologisch auf das in Sein und Zeit durch die Existenzialanalytik entfaltete fundamentalontologische Denken des Daseins als desjenigen Seienden hin, welches einen privilegierten Zugang zum Sein als Möglichkeit der Selbsttranszendierung des Seienden erhält. Im Zusammenhang der Frage Was ist Metaphysik? erklärt sich die topo-ontologische Zentralstellung des befindlichen „Dasein[s] des Menschen“ (WiM 110) bereits aus der diesem eigenen Fähigkeit zur Angst. Diese Angst wird als das seltene Stimmungsgeschehen bestimmt, das den Menschen ‚wirklich‘ vor das Nichts zu stellen vermag. Da dies wie bei der Offenbarung des Seienden im Ganzen auf dem Wege der Enthüllung geschieht, zeigt sich für Heidegger einmal mehr, dass das Nichts nicht die Verneinung des Seienden sein könne. Die in der Metaphysiktradition zweiwertig operierende Ontologie des Seienden oder aber Nichtseienden wird durch das Befindlichkeitskonzept der Stimmung außer Kraft gesetzt. Denn in ihm werden das Nichts sowie das Seiende im Ganzen in der gleichen Weise ausgelegt. Wie jede andere Stimmung ist die Grundstimmung der Angst nicht auf Bestimmtes bezogen, vor dem man sich ängstigt wie man sich vor etwas fürchtet. Angst ist immer Angst ums Ganze und schließt die „wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit“ ein. (WiM 111) In solcher Unbestimmtheit ist, wie in der Langeweile (vgl. GdM 111-260), alles einzeln Seiende – die Dinge ebenso wie man selbst – gleich gültig. Jedoch im Unterschied zu anderen Stimmungen, die das Seiende im Ganzen offenbaren, entgleitet dasselbe in der Angst. Was in ihr als Grundstimmung hingegen offenbart wird und uns ‚unheimlich‘ fühlen lässt, ist das Nichts. (Vgl. WiM 111) Die Bedeutung der Angst in existenzialanalytischer sowie metaphysischer Perspektive braucht uns hier nicht ausführlicher zu interessieren. Indes ist Heideggers Erklärung der Angst als Grundstimmung aufschlussreich für das Phänomen Stimmung generell. Zwar gibt es personale Verbvalenzen, wenn es mir, dir, ihr/ihm, uns, euch, ihnen oder eben allen in der Angst unheimlich ist. Jedoch verweisen Heideggers PseudoIndefinitpronomen in der Wendung ‚es ist einem unheimlich‘ in der Angst darauf, dass der phänomenale Sachverhalt nicht an die bestimmte Person gebunden ist, sondern an das „reine Da-sein“. (WiM 111) Die personale Bindung selbst lockert sich in dieser Stimmung: „Wir ‚schweben‘ in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. Darin liegt, daß wir selbst – diese seienden Menschen – inmitten des Seienden uns mitentgleiten. [...] Nur das reine Da-sein in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da.“ (WiM 111)

Wenn es Heidegger mit dem metaphysischen Offenbarwerden des Nichts zunächst um die „Verwandlung des Menschen in sein Da-sein“ (WiM 112) geht, kann der Verdacht aufkommen, dass es diesem Seinsdenken ex negativo zwar um eine Desindividuierung des Subjekts geht, die Subjektivität des Vorgangs jedoch im Maße ihrer Verallgemeinerung ins Abstrakte ontologischer ‚Reinheit‘ nur umso intakter bleibt. In diesem Punkt bleibt Heideggers mehr existenzialontologische als hermeneutische Konzeption von Dasein dem transzendentalen Ich von Husserls Phänomenologie

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ebenso nah wie Diltheys Transzendentalisierung des Verstehens durch Lebenskategorien. Hingegen bleibt es unter dem phänomenalen Aspekt einer Grundstimmung unzweifelhaft, dass diesem schwebend konkreten Dasein der subjektive Rückhalt eines identifikatorischen Selbstbezugs ebenso entzogen ist wie der objektive Gegenhalt eines reflektierenden Weltbezugs. Der Subjekt-Objekt-Polarität entrückt, scheint das Gestimmtsein den modus essendi eines Dritten darzustellen, in welchem das ‚Geschehen des Daseins‘ den dualen Formen von dessen Konstituierung vorgängig ist. Die Stimmung fungiert somit nicht erst als Vermittlerin zwischen Subjekt/Objekt, Innen/Außen oder Selbst/Welt, nachdem diese sich als Korrelate ausgebildet haben werden. Vielmehr bringt eine Grundstimmung diese Korrelationsverhältnisse erst mit hervor, indem sie als Relat selbst oder als ‚reines Zwischen‘ ursprünglicher ist als die Relate. Dieses ursprünglichere Bezogensein des Selbst auf Anderes ist als Relat oder als Bezogen-sein selbst der Polarisierung in einen Pol des Selbst und in ein Gegenüber der Welt ontologisch vorgeordnet. Als solches Relat ist Stimmung im Folgenden nicht substanzlogisch, sondern mediologisch aufzufassen und schließlich dadurch poetologisch relevant. Seiendes in Subjekt- sowie Objektpositionen hat in deren Zwischen seinen Konstitutionsgrund, den die Stimmung bildet. Damit ist die Stimmung zuallererst nicht ontisch bestimmt – etwa als drittes zwischen zwei Seienden, sondern ontologisch. In ihrer ontologischen Funktion nennt sie Heidegger Befindlichkeit. Solche Befindlichkeit aber liegt außerhalb des literaturwissenschaftlichen Untersuchungsfeldes. Innerhalb desselben taucht sie aber dann auf, wenn wir weiter unten ihre ontologische Funktion mit der mediologischen Funktion von Stimmung verbinden. Unter dem als ‚onto-mediologisch‘ benennbaren Aspekt von Stimmung tritt dasjenige, was in der Stimmung vermittelt wird, eben durch diese Vermittlung überhaupt erst in Erscheinung. Dieses In-Erscheinung-Treten aber ist lange vor seiner philosophischen Reflexion Gegenstand von Literatur, in der es Ende des 18. Jahrhunderts seine ästhetische Explikationsform findet. Indes zielt Heidegger – wohl im Anschluss an Hegels Logik23 sowie ferner an die enthusiastische Denkbewegung des platonischen Parmenides – auf eine phänomenologische Explikation der Identität von Sein und Nichts, deren Dialektik sich zum Werden entfaltet. Die im ontischen Denken in die Leere der Anschauung von Sein und Nichts führende Bewegung von deren wechselseitiger Bestimmung wird vom ontologischem Denken Heideggers unter die Ebene des Bewusstseins auf diejenige der Stimmung zurückgeleitet. Dort befinden sich das noch nicht Ich gewordene Dasein sowie alles andere noch nicht gegenständlich gewordene Seiende in der Schwebe ihres Werdens. Je nach der Art der Stimmung erweist das Werden sich als Verschwinden (Angst), Entstehen (Freude) oder Vergleichgültigung (Langeweile). Immer aber geht aus der Befindlichkeit der Stimmung etwas durch Offenbarung hervor, und nicht wie bei Hegel durch das Denken aus der Beobachtung der Bewusstseins-

23 Siehe im Zusammenhang Heideggers Bezugnahme auf Hegels Satz: „‚Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.‘ [...] (Wissenschaft der Logik I. Buch, WW III, S. 74)“. (WiM 119) Vgl. ferner zu Hegels Logik SuZ 431.

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vorgänge. Und dasjenige, was die Befindlichkeit enthüllt und durch ihre Stimmung offenbar wird, ist das Seiende im Ganzen oder aber dessen Entzug im Nichts. Das Nichts indes erweist sich durch die Transzendenz des gestimmten Daseins nicht als logische Verneinung des Seienden oder als dessen gedachte Vernichtung als Ganzem. Vielmehr oder besser: entscheidend früher zeigt sich das Nichts im ontologischen Status quo des Werdens, was Heidegger die Nichtung nennt. Durch die Stimmung enthüllt sich dem Dasein das ‚Nichten‘ des Nichts in derselben Befindlichkeit wie das Sein des Seienden: im Werden. Und zwar einem solchen Werden, von dem im Augenblick der Stimmung offen steht, ob es ein Entgleiten ins Vergehende oder ein Versammeln ins Entstehende des Seienden im Ganzen zeigt. Durch den phänomenologischen Rekurs des Seinsdenken auf die prälogische Befindlichkeit des Daseins in der Stimmung sieht Heidegger schließlich die „Macht des Verstandes im Felde der Fragen nach dem Nichts und dem Sein gebrochen“. (WiM 116) Wenn das Nichts der „Ursprung der Verneinung“ ist und „nicht umgekehrt“, dann ist die „Herrschaft der ‚Logik‘ innerhalb der Philosophie“ und Metaphysik beendet: „Die Idee der ‚Logik‘ selbst löst sich auf im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens.“ (WiM 116) Für Heidegger bleibt dieses Fragen ein philosophisches, das auf ein neuartiges „In-Gang-bringen der Metaphysik“ als ein solches Denken des Seins aus ist, welches mit dem existenzialanalytischen Freilegen der „Grundmöglichkeiten des Daseins im Ganzen“ anhebt. (WiM 121) Den phänomenologischen Ausgangspunkt hierfür aber bildet die Stimmung. Zwar wird sie am Ende von Was ist Metaphysik? nicht als Begriff genannt. Jedoch wird dessen philosophische Bedeutung unter den drei Aspekten entfaltet, die für die fundamentalontologische Perspektive entscheidend sind: (1.) „einmal das Raumgeben für das Seiende im Ganzen“, wie es ihrer ekstatischen Möglichkeit nach jede Stimmung aufgrund ihrer Befindlichkeit in der Welt vermag; (2.) „sodann das Sichloslassen in das Nichts“, welches in der Grundstimmung des Daseins dessen Transzendenz als uneigentlich Seiendes ermöglicht; (3.) „zuletzt das Ausschwingenlassen dieses Schwebens“ in der Stimmung, „auf daß es ständig zurückschwinge“ ins Ereignis des endlichen Seins. (WiM 121, Hvh. St.H.) Für die literaturwissenschaftliche Perspektivierung können solche hier ebenso räumlich wie kinetisch bestimmten Phänomenaspekte der Stimmung aus dem Kontext des seinsgeschichtlichen Denkens herausgelöst und in den Kontexten des kulturgeschichtlichen Prozesses verortet werden. Die drei Stimmungsmomente des Raumgebens, Sichloslassens und Ausschwingenlassens etwa finden sich in Werthers begeistertem Naturverhältnis, seiner rückhaltlosen Liebesleidenschaft und seiner suizidalen Transzendenz der Endlichkeit. Dabei bildet den geschichtlichen Resonanzhintergrund nicht länger ein abstraktes Sein, sondern die konkrete Konstellation der frühen 1770er Jahre. Da Heideggers teils geschriebene, teils „ungeschriebene Poetologie“24 das ‚Sagen‘ von ‚Dichtern und Denkern‘ als das Sprechen der Sprache selbst auffasst, um diese als Ereignis des Seins vernehmen zu können, spielt sie für unsere Theoriekonzeption keine Rolle. Die ontologische Stelle der Geschichtlichkeit des Seins wird gewissermaßen umbesetzt mit der methodologischen Stelle des Zugriffs auf das Sein von Geschichte in seinen vielfältigen Konkretionen als Sozial-, Mentali24 Siehe hingegen die Ausarbeitung im Sinne Heideggers von Appelhans 2002.

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täts-, Wirtschafts-, Medien-, Geistes-, Ideen-, Diskurs- oder allgemein Kulturgeschichte. Erhalten bleibt uns von Heideggers Stimmung indes deren protostrukturale Position, die sie – ebenso vor jeder ‚Lichtung‘ des Seins wie vor den Kognitionen des ‚Gestells‘ – als Offenheit zur sowie von Welt auszeichnet. In unserer poetologischen Betrachtungsweise konturiert die fundamentalontologische Extroversion der Stimmung – namentlich heraus aus mentalistischer Befangenheit und hinein in die geschichtliche Welt – die Ausgangsbasis zu einem ‚ursprünglicheren‘ Befragen literarischer Texte. Es werden die an sie gerichteten Fragen nach Sinn und Bedeutung auf deren phänomenologische Ermöglichungsbedingungen und die in der Darstellung derselben subjektivierte historische Lage erweitert. Die ästhetische und zugleich historische Genese von Sinnkonstitution sowie von Bedeutsamkeit überhaupt wird mit den transsubjektiven Aspekten der Stimmung als Sphäre von Zeit- und Raumerfahrung in den Blick rücken. Namentlich wie Stimmungen aus rhetorisch manifesten Bildern herrühren, von narrativen Strukturen generiert, durch Themen gestaltet oder mittels Motiven und Metaphern konfiguriert sind. Die ‚Machart‘ und Wirksamkeit von Poesie können qua Stimmung auf bedeutsame Unbestimmtheitszusammenhänge hin befragt werden: z.B. Sagbares und Absenz, Ungesagtes und Erhabenes, Aussageloses und Schönheit, Sprechen und Schweben, Begegnung und Ereignis, Form und Endlichkeit, Begeisterung und Langeweile, Eingebettetsein und Tod, Rhetorik und Liebe. Wie aber können qualitative Stimmungskonstellationen, die viel differenzierter als die vage Dreiteilung der Emotionspsychologie (hoch/gehoben, tief/gedrückt, mittel/neutral) sind, historisch rekonstruiert werden? Lassen sich in Poesie eingetauchte oder aus Poesie auftauchende Stimmungen phänomenadäquat und zugleich als historisch bedingt beschreiben, indem sie unter topologischen, zeitlich-existenziellen und kinästhetischen Perspektiven wie Raumgeben, Sichloslassen oder Ausschwingenlassen analysiert werden? Das ‚In-Gang-bringen‘ einer Stimmungstheorie der Literaturwissenschaft stellte diese somit vor die Herausforderung, die Literatur(en) bestimmter raum-zeitlicher Segmente als das Medium zu beobachten, in welchem die Physiognomie solcher Phänomenbewegungen mit geschichtlicher Emergenz ähnlich zusammenfließt wie individuelle Erfahrung und deren allgemeine Voraussetzungen. Das Annehmen dieser Herausforderung verspricht der Literaturwissenschaft einen Ausweg aus der hartnäckig tendenziellen Alternative zwischen textästhetischer Immanenz und diskurshistorischem Kontextualismus. Indem unsere Poetologie der Stimmung für die Einzigartigkeit literarischer Texte sensibilisiert, begegnet sie deren relativistischen Lektüre als bloßem Effekt ihrer Kontexte. 25 Umgekehrt öffnet sie die Binnenperspektive textimmanenter Lektüren für Kontextualisierungen, indem sie ein ästhetisches Phänomen auf seine historischen Implikationen hin explizierbar macht. Wie wäre demnach das wissenschaftliche Verfahren einer Literaturforschung zu bestimmen, die Stimmungen gleichermaßen zum ästhetischen wie historischen Gegenstand ihres Erkenntnisinteresses macht?

25 Zum Aspekt der Einzigartigeit in theoretischer Hinsicht Clark 2005.

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4. M ETHODISCHER ANSATZPUNKT , HISTORISCHER Z UGRIFFSORT , ANTHROPOLOGISCHE W ELTOFFENHEIT Zur Heuristik poetologischer Hermeneutik

Die Frage nach einer poetologischen Hermeneutik konkretisiert sich im Blick auf deren operative Grundlage. Wie muss diese beschaffen sein, damit die Analyse von Literatur bei den Texten ansetzen und von diesen zu Einsichten in die Kontexte vorstoßen kann – und nicht umgekehrt? Sie sollte eine Beobachtung von Texten hinsichtlich dessen erlauben, was sie als literarische im Unterschied zu nicht-literarischen Texten sowie anderen Medien auszeichnet. Zu beobachten ist das in Literatur mit ästhetischer Wirkung organisierte Zusammenspiel von formalen und inhaltlichen, von rhetorischen und motivischen, von gattungsspezifischen und schriftmedialen Aspekten. Dieses Beobachten des ästhetisch elaborierten Verhältnisses zwischen der Sprache, der Gattung oder dem Medium einerseits und der Bedeutung, der Thematik oder des Stoffes andererseits, rückt die Singularität eines Textes in den Blick. Ähnlich wie Hegels Einzelnes als das Besondere des Allgemeinen aufzufassen ist, muss der Text samt seiner Literarizität als kulturelle Produktion verstanden und auf deren historischen Stand bezogen werden können. Solches poetologisches Verstehen, das von der Eigensinnigkeit des literarischen Textes ausgeht und sie im historischen Kontext reflektiert, bedarf aber (freilich ohne jene Eigensinnigkeit geradewegs zu dementieren) der Fokussierung – und sei diese das Resultat einer vorläufigen Sichtung des Untersuchungsfeldes. Bereits die kriterienbewusste Auswahl des zu untersuchenden Materials, sodann dessen Organisation zu einem strukturierten Gegenstandsfeld hängt von vorläufiger Konzentration auf einen Ansatzpunkt ab. Wenn jedoch Literaturwissenschaftler vergleichende Perspektiven entwickeln und über Grenzen zwischen Nationalliteraturen, Epochen, Gattungen, Kulturen oder Medien hinweg systematisch verfolgen wollen, dann benötigen sie dazu einen Zugriff, der diese Vergleichsperspektiven bündelt. Unter dem allgemeinen Aspekt einer erkenntnistheoretischen Voraussetzungslogik ist indes das Markieren von Ansatzpunkten, Installieren von Versuchsanordnungen oder Definieren von Erkenntnisgegenständen oder -zielen durchaus problematisch. Dies für die Literatur- und Kulturwissenschaften ebenso wie für Sozial- und Naturwissenschaften. Wir haben oben bei der Emotionspsychologie gesehen, dass auch empirische Theoriebildungen sich nicht von ihren terminologischen Voreinstellungen so weit lösen können, um nicht mit der vorgegebenen Definition die Deutung experimenteller Resultate, nämlich was Stimmung ist, teilweise schon vorwegzunehmen. Methodische Verfahrensprobleme, die mit terminologischen oder vorläufigen Definitionen vom Untersuchungsgegenstand, von grundlegenden Begriffen, gemeinsamen Nennern, Referenzrahmen oder Ausgangspunkten zusammenhängen, wurden seit je und in kontroverser Weise in der Komparatistik diskutiert, die an Universitätsinstituten wie etwa in Berlin und München sich zugleich für ‚Allgemeine‘ Literaturwissenschaft zuständig erklärt. Einer der wegweisenden Komparatisten hat dieses Methodenproblem pragmatisch zu lösen vorgeschlagen, indem sein Modell vom Ansatzpunkt dessen Funktion des systematischen Zugriffs mit dem seiner Offenheit für materiale Differenzierung ausbalanciert. Dieses Konzept von Erich Auerbach fasst Jonathan Culler wie folgt zusammen:

82 | POETOLOGIE DER STIMMUNG „a specific point of departure, conceived not as an external position of mastery but as a ‚handle‘ or partial vantage point that enables the critic to bring together a variety of cultural objects. ‚The characteristic of a good point of departure‘ writes Auerbach ‚is its concreteness and its precision on the one hand, and on the other, its potential for centrifugal radiation‘. This might be a theme, a metaphor, a detail, a structural problem, or a well-defined cultural function.“26

Die Besetzung des Ausgangspunktes mit ästhetischer Stimmung verspricht aufgrund der strukturellen Offenheit des Phänomens eine solche zentrifugale Ausstrahlung über die deutsche Literatur um 1800 hinaus auf andere Epochen (z.B. Biedermeier, Jahrhundertwende 1900), Literaturen (Europas, Asiens), Medien und Künste (Musik, Malerei, Bildhauerei, Architektur, Theater, Tanz, Fotographie, Film). Die potenzielle Reichweite der Ausstrahlung hängt allerdings davon ab, was genau unter Stimmung verstanden wird. Um das Kriterium der Konkretheit und Präzision zu erfüllen, ist es im Fall der mit Ungreifbarkeit und Ungenauigkeit assoziierten Stimmung notwendig, ihren Begriff zu definieren. Dabei kommt es zum einen darauf an, seine methodische Funktionsweise terminologisch zu sichern, zum anderen die strukturelle Offenheit des mit ‚Stimmung‘ Bezeichneten phänomenologisch zu erfassen. Nur wenn beides gelingt, also eine definitorische Verbindung von methodischer und ästhetischer Begriffsebene, kann die Inadäquatheit einer „external position of mastery“ vermieden, der Zugriff („handle“) und die Zusammenschau auf eine „variety of cultural objects“ aber ermöglicht werden. Solcher historisch orientierten Pragmatik entspricht hermeneutikgeschichtlich eine moderne Akzeptanz des Perspektivischen, die seit Chladenius „Sehe-Punckt“ in den Theorien der Textauslegung und des methodischen Verstehens konsolidiert worden ist. (Vgl. Grondin 1991) Eine hermeneutisch-philosophisch reflektierte Begriffsarbeit und die mit ihr verbundene Methodenreflexion ist angesichts der gegenwärtigen Forschungslage mit ihrer Vielzahl von Studien zu Emotionen, Gefühl und auch Stimmung in Künsten, Literaturen und Architekturen überfällig. Der Bedarf an methodischer Orientierung verstärkt seit einiger Zeit auch die Versuche, die Reaktionen von Lesern (Oatley 1992) und Wirkungen von Literatur (Gavins/Stehen 2003) empirisch zu untersuchen und die Herausforderungen einer kognitiven Poetik anzunehmen (Lauer 2009; Salgaro 2009). Wie in der psychologischen und phänomenologischen Forschung bleibt indes das Problem der Unterscheidung von Affekt, Emotion und Gefühl bestehen. Diesen Begriffe gegenüber, die auch zusätzlich noch im Englischen und Deutschen unterschiedliche Extensionen haben, hat die Stimmung/Mood noch am ehesten Aussicht sich abzugrenzen. Ein Grund dafür ist ihre Nähe zum Räumlichen und Atmosphärischen (G. Böhme 1995, 1998, 2006, 2013), was aber innerhalb der Raum- und Emotionsforschung nicht vor begrifflichen Überschneidungen bewahrt. So ist in neueren Beiträgen von „affektiven Räumen“ in der Urbanistik, von Affekträumen im Film oder atmosphärischen Gefühlsräumen in Literatur, aber auch auf Orte, Räume und Dinge bezogen von „Stimmungen und Gefühle[n]“ die Rede.27 Im Englischen 26 Culler 2006, S. 93; siehe darin den Hinweis in Fußnote 11 und das Zitat von Auerbach 1969, S. 15. 27 Lehnert 2011, S. 9. Siehe darin die Beiträge von Michaela Ott zum Film, Angelika Corbineau-Hoffmann zum urbanen und Zuzanna Jakubowski zum literarischen Raum.

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hat Frijda die Unterscheidung von emotion und feeling wie auch mood problematisiert, wobei Emotionen der höhere Grad an (neuro)physiologischer Determinierung zukommt. Stimmungen im Unterschied zu Gefühlen werden als mentale Erfahrungen mit unklarem Grund und schwächerer Bindung an ein Objekt verstanden, denn sie entstehen aus einem Zwischenfeld von Disposition und Umständen.28 Dieser auch in der Psychologie verortete, zwischen Subjekt- und Objektseite offene Raum der Konstitution von Stimmungen ist für unsere poetologische Stimmungsdefinition (Kap. AIII) grundlegend. Unter dem schon bei Frijda entscheidenden Aspekten der Disposition und weitgehenden Unabhängigkeit von Objekten wurde Stimmung zuletzt differenzierter untersucht von Siemers, bei dem Stimmungen aus ihrer gleichsam schlummernden Disposition erst in kognitiv und emotional relevanten Handlungen zu Bewusstsein erwachen.29 Bevor wir eine Definition mit der oben begründeten Komplexität geben (Kap. AIII), um damit die Stimmung auf eine operative Grundlage für unsere Untersuchung stellen zu können, muss näher bestimmt werden, was sie gleichsam ‚von sich aus‘, nämlich als Phänomen, zum eben erörterten Ansatzpunkt qualifiziert. Denn dieser sollte doch als methodisch reflektierter Zugriff auf ein breit gefächertes Objektfeld nur dann brauchbar sein, wenn er zugleich hinreichend konkret ist, um dort mögliche Gemeinsamkeiten präzise ansteuern oder ggfs. auch revidieren zu können. Vorläufig haben wir den phänomenalen Grundzug von Stimmung mit ‚strukturelle Offenheit‘ benannt und werden ihn weiter unten als Relationalität medientheoretisch bestimmen. Das macht sie als vergleichenden Ansatzpunkt für historische Forschung zwar vielseitig anwendbar (Auerbachs „centrifugal radiation“). Jedoch muss diese – nur scheinbar ahistorische – relationale Offenheit theoretisch präzisiert werden, damit ihr Potenzial für ein Zugreifen auf die historische Vielfalt ästhetisch konkreter Stimmungen genutzt werden kann. Dies erfolgt durch unsere topologische Lesart und poetologische Auffassung von Heideggers Existenzial der Befindlichkeit; des weiteren durch unsere Transposition der Stimmung von der fundamentalontologischen auf eine onto-mediologische Bedeutungsebene. Auf dieser geht es nicht mehr um die Begründung eines Zugangs zum Sein, sondern um das Sein von Stimmung als Medium (Kap. A-III.8) Die welterschließende Stimmung, die bei Heidegger in der Struktur des Daseins wurzelt, wird bei uns in der Struktur von Poesie verortet. Anders als in Heideggers Konzept einer letztlich monothematischen Zwiesprache, wie er sie seit den dreißiger Jahren als Entbergungsgeschehen von Wahrheit mit Hölderlin, Rilke, Trakl und George inszeniert, ist Dichtung dadurch nicht mehr auf das ‚Nennen des Seins‘ festgelegt. Anstelle einer philosophischen Verpflichtung von Dichtern als Verkündern des Seins, womit eine Nützlichkeit von Kunst als Prophetin für kommende Götter korreliert ist, halten wir die historisch-hermeneutische Korrespondenz eines Autors, seines Werkes und dessen Rezeption intakt. Methodologisch entspricht die Fokussierung von Stimmung als Offenheit zur geschichtlichen Welt der Einstellung unseres Blickwinkels auf Literatur in ästhetischer Polyvalenz. Wie die Produktion von litera28 Frijda 1986, S. 179f., 242-45, 252. Vgl. ferner Zoltan Kövesces, Emotion Concepts, New York 1990. 29 Siemer 2005. Siehe auch ders. und Reisenzein 2013.

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rischer Stimmung von approximativ rekonstruierbaren Entstehungsbedingungen einer historischen Konstellation abhängig war, so erfolgt ihre Interpretation unter den wissenschafts- und hermeneutikgeschichtlichen Prämissen der epistemischen Relativität und perspektivischen Subjektivität. Zunächst soll deshalb die besondere Verortung der Stimmung vom allgemeineren Umgang mit Literatur her befragt werden. Um welche Stimmung handelt es sich, wenn von ihrer Poetologie die Rede sein soll? (1.) Um diejenige Stimmung etwa, aus welcher die ‚Einbildungskraft des Dichters‘ anhebt, sein Formschaffen hervorgeht und ihn zum schöpferischen Ausdruck seiner Ursprungsstimmung antreibt; (2.) oder soll die Rede von derjenigen Stimmung sein, die sich beim Lesen, Musikhören oder auch Bildbetrachten im Wahrnehmungsbewusstsein des Rezipienten einstellt?; (3.) oder handelt es sich schließlich um diejenige Stimmung, welche auf kunstspezifische Weise im Text, Klang, Bild oder sonstigem Werk ‚steckt‘ und emergiert? (ad 1.) Die subjektzentrierte Auffassung führte erst auf neuzeitlichen Umwegen zu einer nachhaltigen Bedeutung. Sie formierte sich aus der diskursiven Gegenstellung zur Normativität regelbasierter Klassizismen und fand in der Goethezeit über die Genieästhetik und den Autorgedanken zu kultureller sowie institutioneller Geltung. Diese in Vorstellungen von individueller Souveränität – wenn nicht Autonomie – befestigte Ausgangsposition künstlerischer Stimmungen werden wir weitestgehend abblenden. Denn die darin wirksame Ideenverschmelzung von poeta creator und natura creatrix bleibt poetologisch zu einseitig von einem Ausdrucksschema abhängig, das Kunst aus ihr vorgängigen Bewusstseinsinhalten oder ‚Erlebnissen‘ erklärt. Als deren Objektivierung aber bliebe auch ästhetische Stimmung mentalistisch geprägt. Teils im Gegensatz dazu teils in Verbindung damit stehen philosophisch interessante Poetiken, die neben der Einbildungskraft kreative und auch intentionale Züge des Schreibprozesses und seiner Materialien selbst in den Vordergrund stellen.30 Der produktionsästhetische Aspekt, wie er noch von Dilthey favorisiert wird, fällt für uns außer Betracht. In dessen Poetik hatte er dazu geführt, theoretisch auf ein psychologisches Erklärungsmodell zu rekurrieren. Nach diesem entspringen die Stimmungen dem psychischen Strukturzusammenhang und bleiben doch in demselben befangen. Denn die poetisch oder musikalisch formierten und noch die dadurch im Leser/Hörer/Betrachter evozierbaren Stimmungen sind gemäß Diltheys Ästhetik und Hermeneutik des Ausdrucks mehr oder weniger blasse Repräsentationen ihrer ursprünglichen ‚Lebendigkeit‘. Dabei dienten vor allem Selbstzeugnisse der Dichter dem Theoretiker zur materialen Grundlage. Dem literatur- und musikgeschichtlichen Praktiker indes entglitt der Stimmungsbegriff ins bloß Spekulative der Rede von Stimmungen einer historischen Persönlichkeit oder Zeit, der Seele, Nation, Religion, Natur oder Kunst, eines Werks oder einer Figur, der Musik oder Literatur einer Epoche.31 Und wie dabei der produktionsästhetische Aspekt von seinem kreativitätspsy30 Siehe dazu etwa Blanchot 1955; Paz 1973; Gosetti-Ferencei 2004; dies. 2011. 31 Eine Verschwommenheit des Stimmungsbegriffes zeigt sich am deutlichsten, wo Dilthey die Werke und Biographien von Dichtern und Komponisten in epochalen Zusammenhängen darzustellen versucht. Dies gilt insbesondere für Das Erlebnis und die Dichtung und in

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chologischen Ansatz her verkürzt bleibt, so bleibt auch der philosophische Ausgriff auf die Geschichtlichkeit von Stimmung als subjektiver Reflex des ‚objektiven Geistes‘ entweder spekulativer Art, oder aber vom Versuch ihrer theoretischen Grundlegung her psychologisch gedacht. Der geschichtstheoretische Aspekt interessiert uns im Folgenden nur am Rande und wird in einer eigenen Untersuchung gesondert behandelt.32 Zusammen mit der Ausblendung produktions- und kreativitätsästhetischer Aspekte verliert allgemein das für Kant und Herder wichtige Subjekt der Einbildungskraft und des Ausdrucks von Vorstellungen oder Ideen an Bedeutung für die Stimmungsforschung wie im besonderen auch die im Zeitkontext von Goethes Werther aufkommende Genieästhetik. Wenn jedoch Stimmungen in der gewöhnlichen Weise als inneres Gefühl, seelische Erfahrung oder mentaler Zustand im Untersuchungsfeld auftauchen, werden sie auch als solche behandelt, indem sie ins Verhältnis zur Darstellung von nicht-psychischen Stimmungsaspekten gesetzten werden. (ad 2.) Bei dieser hier ebenfalls nicht bevorzugten Ausgangsmöglichkeit wäre zu beachten, dass zum einen bei rezeptionsästhetischen Ansätzen der Leser/Hörer/Betrachter koproduktive Stimmungsbeiträge zum Kunstwerk beisteuert; zum anderen, dass es auch dem Kunstschaffen vorgelagerte Rezeptionsmodelle gibt, die künstlerische Kreativität als ‚höhere‘ Rezeption im transsubjektiven Sinne eines Kulturgeschehens auffassen.33 Unter rezeptions- und wirkungsästhetischem Aspekt wird die Stimmung, wie etwa in der Poetik Diltheys, als die abgeschwächte Version ihres produktionsästhetischen Originals aufgefasst. Was als subjektive Stimmung im Genie schöpferische Kraft entfaltet, im ‚Vehikel‘ des ästhetischen Ausdruck sich bis in kleinste Formelemente objektiviert, kommt schließlich über den ‚ästhetischen Eindruck‘ im lesenden/hörenden Normalmenschen als re-subjektivierte Stimmung wieder an. Hierbei stellt sich die Frage, wie die Stimmung auf ihrem Weg aus dem Gemüt des Künstlers ins Werk und von diesem ins Gemüt des Kunstrezipienten wenn nicht dieselbe bleibt, so doch eine relative Identität auf ihrem Transfer bewahren muss, um so als ästhetinoch gesteigertem Maße für Von deutscher Dichtung und Musik. Hier ist eine kumulative Verwendung des Wortes ‚Stimmung‘ sowie eine redundante Argumentation mit ihrem Begriff zu beobachten. ‚Stimmung‘ taucht mitunter viermal pro Seite auf (siehe vor allem die Kapitel zu Bach, Haydn, Mozart) und wechselt unkommentiert zwischen den unterschiedlichsten Referenten u.a. hin und her. 32 Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Pfau 2005 gemacht. Er fasst Stimmung richtig als ein ästhetisches und zugleich historisches Aggregat auf, in dem Individualität mit Geschichte vermittelt wird: „in its rhetorical and formal-aesthetic sedimentation, mood speaks [...] to the deep-structural situatedness of individuals within history as something never actually intelligible to them in fully coherent, timely, and definitive form.“ (S. 7) 33 So Heidegger mit seinem hörigkeitshermeneutischen Bezug auf Hölderlin, wenn er die Sprache als selbst sprechend begreift und den Dichter zum poetischen Medium des Gedichteten erklärt (Hölderlins Hymne ‚Andenken‘, Gesamtausgabe Bd. 52, Frankfurt a.M. 1992, S. 13). Daneben in vergleichbarer Weise die eben genannten Blanchot und Paz, vgl. dazu Gosetti-Ferencei 2012, S. 200, 210.

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scher Gegenstand überhaupt identifizierbar zu sein. Innerhalb subjektlastiger Konzepte des ästhetischen Ausdrucks mit der Akzentsetzung auf den Aspekt der seelischen Entäußerung (von Stimmung, Leben, Innerlichkeit, Emotion) wird eine ganzheitliche Manifestation der Stimmung in der objekthaften Ausdrucksgestalt behauptet, nicht aber theoretisch begründet oder empirisch konkretisiert. Eben dies gilt auch für den Übertragungsvorgang im ‚ästhetischen Eindruck‘, insofern dieser wie bei Dilthey nicht empirisch erforscht wird wie etwa seit Fechner und Herbart. Inwiefern und wie genau die während oder nach der Rezeption im Leser/Hörer sich einstellenden Stimmungen durch welche formalen und inhaltlichen Elemente des Kunstwerks ausgelöst werden, ist bis heute nicht geklärt. Mit Bezug auf die neurokognitive Poetik von Schrott/Jacobs (2011) hat Lüdtke (2013, S. 125) über die von diesem Modell ausgehende, empirische Studie zur Rezeption von Stimmungen in Gedichten berichtet, deren Wirkungen nun aber nicht in erster Linie als abhängig von formalästhetischen Aspekten aufgefasst werden. Hingegen seien sie von „fiktionalen Emotionen“ vermittelt, die durch Einfühlung in literarisch dargestellte Situationen vom Leser realisiert werden, wie dies Meyer-Sickendiek als „lyrisches Gespür“ in phänomenologischer Perspektive im Anschluss an Geiger (1911) und Böhme (1995, 1998) dargestellt hat. In dieser Forschungsausrichtung werden Historisierungen und Systematisierungen von Gefühlen möglich, die in literarisierten Situationen manifest sind, wie wir sie im Werther, Hartknopf und den weiteren Texten als phänomenologisch-ästhetisch konfigurierte Stimmungen untersuchen. Zugleich werden auf diese Weise normative Voraussetzungen der ästhetishen Stimmungskommunikation vermieden. Denn noch Diltheys Ansatz war nicht zuletzt an impliziten Annahmen wie der von einer allgemeinen ‚Natur des Menschen‘ gescheitert. Diese sollte als ein transzendental-psychologischer Garant die ästhetische Kommunizierbarkeit auch von Stimmungen ermöglichen, da diese als Teil einer allgemeinen Ausstattung der ‚Menschennatur‘ verstanden wurden. Auf der doppelten Basis der Strukturalität des seelischen Lebens sowie der Geschichtlichkeit des objektiven Geistes rückte bei Dilthey die eigentlich hinsichtlich ihrer Vermittelbarkeit in Frage stehende Stimmung selbst in die Position einer Vermittlerin, freilich ohne dass sie als solche auch konzeptionell erfasst worden wäre. Diese als von sich aus kommunikativ angelegte und darin zugleich zu weitgehende Funktion der Stimmung soll durch ihre medientheoretische Reflexion konzeptionell revidiert werden, indem wir Stimmungen auf drei Ebenen differenzieren: auf der des Textes als Phänomen (Kap. A-III.2), auf der Ebene des Verstehens als Begriff (Kap. A-III.4) und auf der Ebene der Reflexion dieses Phänomenverstehens als Medium. (Kap. A-III.8) Im Sinne rezeptionsgeschichtlicher Entfaltung von Sinnpotenzialen eines Textes, die in diesem angelegt sind, aber je nach Leserschaft wechseln, die in verschiedenen historischen Kontexten oder gesellschaftlichen Aufnahmebedingungen anders realisiert werden – in diesem Sinn von Jauß (1970) spielt die Rezeptionsästhetik für die poetologische Theorie der Stimmung allenfalls eine nachgeordnete Rolle. Es ist durchaus interessant zu fragen, welche Stimmungen unter welchen Lesern unter welchen historischen, kulturellen, soziologischen usw. Voraussetzungen durch welche Texte aufgerufen werden – oder eben nicht, oder nur etwas anders. Und wie unter welchen Rezeptionsumständen bestimmte Stimmungen mit wechselnden oder überhaupt mit Bedeutungen verbunden werden. Dies wäre nicht zuletzt eine Herausforderung für die empirische Rezeptionsforschung, die dann auch die empirisch so wider-

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ständige Stimmung von Rezeptions- und Bewusstseinslagen zu berücksichtigen hätte. Dabei ist mit jenen Problemen zu rechnen, die wir von der experimentellen Psychologie mit Selbstberichten kennen, in denen begrifflich etwas davon vorausgesetzt werden muss, was es zu beschreiben gilt. Dies zeigt sich auch in der von Lüdtke (2013, S. 138) interpretierten Studie, in der die in Leserselbstberichten dokumentierte Rezeption hinsichtlich „Ästhetischer Gefühle“ und „Gefühlter Stimmung“ als „Aspekten der emotionalen Involviertheit“ unterschieden wird. Wenn schon die herkömmlichen Fragen nach Sinn und Bedeutung sich mit der Pluralität von Lektüremöglichkeiten ins Unbegrenzte vervielfältigen und auf der Verhandlungsbasis von Leseerfahrungen eine im Text angelegte Bedeutsamkeit interpretatorisch nur selten einmal unbestritten oder gar konsensfähig ist, wie wenig argumentationsfest müssen dann von der Leserperspektive her zentrierte Interpretationen von Stimmungen in der Literatur ausfallen? Überflüssig scheint es festzuhalten, dass in Texten aufgelesene oder in sie hineingelesene Stimmungen auch von der jeweiligen Stimmungserwartung der unterschiedlich gestimmten Leser nicht unabhängig sind. Über die Sinnhorizonte hinaus und schon vor deren überlieferungsgeschichtlichen Entfaltung sind auch Stimmungsspektren individuell, zeitgeschichtlich, kulturell variabel und von Einfluss auf die Rezeption. Umso mehr wächst unser Interesse daran, wodurch die literaturwissenschaftlich etablierte Leserfunktion gebunden wird, wenn die Stimmung zum Fokus des Textverständnisses gemacht wird. Denn fraglos ist für letzteres der leserinitiative Umgang mit von Iser so genannten Leerstellen mitentscheidend für die Erschließung von Sinnzusammenhängen. Rezeptionstheoretisch in Frage stünde jedoch erstens, ob und gegebenenfalls wie solches durch Textstrukturen mitgesteuertes Verstehen begleitet, geprägt oder gar vorbestimmt ist von Stimmungen? Und zweitens, ob die Stimmungen selber von den Textstrukturen bestimmt sind, aus ihren Leerstellen hervorgehen, oder aber durch deren kontingente Besetzungen im Rezeptionsvorgang, also letztlich durch die Selektionsvariabilität im Leser (un)bestimmt sind? Für historische Untersuchungen literarischer Stimmungen bedarf es keiner weiteren rezeptionstheoretischen Grundlagenreflexion, insofern sich zumindest deren wirkungsästhetische Pointe gewissermaßen von selbst versteht. Es muss nicht eigens die Leserfunktion hervorgehoben werden, wenn stimmungszentrierte Lektüren ohnehin ihr ästhetisches Textverstehen in Verbindung mit Selbstverstehen seitens des Lesers vollziehen. Stimmungen in der Literatur könnten gar nicht als solche erkannt und zum Thema gemacht werden, wären sie dem Leser nicht als ein seiner Deutungsaktivität vorgängiges Phänomen bekannt, welches er dann in poetischer Form als Konstitutionsmoment auch seines eigenen Selbst- und Welt- bzw. Textverhältnisses reflektiert. Insbesondere aber da die poetische Darstellung von Stimmungen – darin unterscheiden sie sich keineswegs von anderen Bedeutungsdimensionen – nicht ohne die textuelle Organisation von ‚Unbestimmtheitsstellen‘ (Ingarden; Jauß) auskommt, gehört deren Auffüllen auch hier zu den hermeneutischen Mindestanforderungen in der Rezeptionspraxis. (ad 3.) Hierbei wird die implizit schon in (1.) und (2.) mitgedachte Medialität von Subjektivität ästhetisch explizit, indem die Stimmungsdimension der Welterschließung oder konstitutiven Offenheit in der manifesten Form des Kunstwerks selbst aufgesucht

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wird. Eine literarästhetische Stimmungshermeneutik hat es erst in zweiter Linie mit den Funktionen des Autors und des Lesers zu tun; in erster Linie jedoch mit den Texten und ihrer Funktion im Zeitkontext. Ihr Gegenstandsfeld umfasst Motive und Inhalte, personale wie rhetorische Figuren, thematische und gattungsspezifische Strukturmerkmale sowie Fragen nach Sinn und Bedeutung, nach Geschichte und Existenz. Hinzu kommen Fragen nach ontologischen und affektiven, medialen, kulturellen und zeithistorischen Bedingungen sowie nach sprachlichen Reflexions- und Konstitutionsformen. Mit einem Wort: es handelt sich vor allem um das Erforschen von Literatur samt dessen Voraussetzungen in historischen und ästhetischen Kontexten. Die Stimmung kann nicht wie eine von Dilthey als Verstehenskategorie ausgegebene Lebenskategorie gleichsam geistesimmanent aufgefasst werden. Auch für das Gefühl, wie es heute in der neurowissenschaftlichen Forschung als „emotionale Reaktion“ auf Körperveränderungen untersucht wird, gilt Ähnliches: erst seine Abbildung in bestimmten Gehirnregionen bindet die Rede vom Gefühl als eine „mentale Erfahrung“ an eine objektivierbare Erkenntnis zurück; auch wenn und wo diese nur den Prozessablauf, nicht aber das Phänomen einer „bewussten Erfahrung“ erklären kann. (Damasio 2013, S. 22) Ohne den kognitiven Umweg über mediale Manifestationen, wo Gefühle oder Stimmungen unter Bedeutungsaspekten gegenständlich werden, blieben sie rationalen und also nachvollziehbaren Analysen entzogen. Hingegen können ästhetisch manifeste Stimmungen den historischen Zugriffsort für Untersuchungen in synchroner sowie diachroner Perspektive bilden. Denn in den medialen Formen der Künste können sie analysiert werden. Außerdem können sie im Entstehungskontext ihrer Zeit sowie hinsichtlich der Funktionen reflektiert werden, die sie etwa für die literarische Artikulation von Grundproblemen des Verstehens innehaben. Zumal in anspruchsvollen Texten wird oft durch Stimmungen ein Verstehen des Verstehens mitthematisiert. Dies geschieht in Verbindung mit einer innovativen Figuralität, d.h. einer Sprache, die rhetorisch-ornamentale Qualitäten hin auf ästhetisch-epistemische Momente überschreitet. Inhaltlich wird das Thema selbstbezüglichen Verstehens entfaltet über ein versuchtes Verstehen des Sinns des eigenen Lebens, der Begegnung mit Anderen, der Liebe, der Geburt oder der Bedeutungen der Welt, des Nichts, des Todes usw. Dass so genannte große Literatur sich auf die Behandlung existenzieller Fragen versteht, versteht sich indes nicht von selbst. Die Untersuchung literarischer Stimmungen sucht nach Auskunft darüber, inwiefern Verstehen verstanden sein will, besonders wenn es in den Texten um historisch aufschlussreiche Antworten auf jene abgründigen Fragen geht. Aber erst durch das Verstehen von Texten eröffnet sich ein Verstehen von Stimmungen, das deren Rolle für das Verstehen selbst mit einschließt. Unser poetologischer Ansatz nimmt die während der Lektüre erfahrenen Stimmungsmomente als Konstitutionsmomente ästhetischer Rede im Medium der Schrift methodisch ernst. Inwiefern es sich dabei um womöglich vom Autor kalkulierte ästhetische Wirkungen auf den Leser handelt, bleibt sekundär und meistens auch nicht aufklärbar. Die poetologische Abkehr von der Autorintention und erst recht von deren Verbindlichkeit hat in der Geschichte der Hermeneutik eine lange, seit dem 18. Jahrhundert sich verstärkende Tradition.34 Sie reicht von Chladenius und Schleiermacher über Nietzsche und Heidegger bis zu Ga34 Dazu Eco 1992; Brenner, 1998. Hingegen die Autorintention rehabilitierend Ineichen 1991.

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damer, Foucault und Eco, während Dilthey eine Gegenposition bildet und Heidegger die Abwertung des Dichters als Autor durch dessen Überhöhung zum Sprecher des Seins gewissermaßen überkompensiert.35 Primär geht es uns um das Verstehen des Beziehungszusammenhangs, der zwischen dem Phänomen der Stimmung und der Ästhetik, insbesondere derjenigen der Literatur besteht (Definitionsstufe I in Kap. AIII.2). Vorausgesetzt wird hierbei, dass solches Verstehen sich seiner Mitwirkung an der epistemischen Konstitution dessen bewusst sein sollte, was es verstehen will. In diesem methodologischen Sinn eines selbstreflexiv kontrollierten Vollzugs des Verstehens wird hier jener Beziehungszusammenhang verändert, konsolidiert und teilweise erst gestiftet, der das Stimmungsphänomen außerhalb seines psychologischen Bereichs im Feld des Ästhetischen und Poetologischen zur Erscheinung bringt (Definitionsstufe II in Kap. A-III.4). Durch ihre Poetizität – und schon qua Sprachlichkeit – ist Literatur der historisch gefächerte Untersuchungsraum, in welchem Stimmungen ungeachtet ihres fraglos bestehenden neurophysiologischen Basiskorrelats hinsichtlich ihrer Phänomenalität sowie Semantik untersucht werden können. Die gegenwärtige Emotionsforschung von Meyer-Sickendiek versucht bisherige Ergebnisse der kognitiven Poetik und empirischen Psychologie mit der literarischen Phänomenologie zu verbinden, worauf wir noch zurückkommen werden, insofern dieser ebenfalls auf dargestellte Situationen blickende Ansatz einen Anknüpfungspunkt für unsere ästhetisch-phänomenale Definitionsebene von Stimmung bildet. (Vgl. Jacobs/ Lüdtke/Meyer-Sickendiek 2013) Die Phänomenalität der Stimmung begegnet uns auf der referentiellen Ebene des Dargestellten, der Bedeutungen oder des poetischen Signifikats. Die Semantik der Stimmung steht auf der sprachlichen Ebene des Darstellenden, der Formen oder des poetischen Signifikanten. Wir gehen von einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zwischen diesen beiden Stimmungsebenen aus: der referentiellen Bedeutung dargestellter Phänomenalität einerseits und der sprachlichen Formen darstellender Semantik andererseits. Das poetische Signifikat ist bedingt durch den poetischen Signifikanten und umgekehrt. Konkret: Stimmungen (in) der Literatur sind nicht nur Bedeutungen von Texten, sondern sie affizieren auch die Sprache ihrer (eigenen) Darstellung. Andersherum pointiert: Literatur thematisiert und formalisiert Stimmungen so, dass sie selbst zur Stimmung wird und als solche literarische Stimmung rezipiert werden kann. Literarische Stimmung ist also nicht nur literarisierte Stimmung, sie ist auch gestimmte Literatur. Indem das Phänomen von Stimmung durch eine Semantik zur Darstellung kommt, wie sie sich nur in poetischen Formen realisieren lässt, bildet der solchermaßen selbst durchstimmte Text den ästhetischen Materialtypus unseres theoretischen und historischen Interesses. Unter methodischem Vorzeichen werden also die Arten von Stimmung untersucht, welche durch Kunstwerke in einer Weise gestaltet werden, die sie selbst zu Stimmungssemantiken machen und als solche verstehbar werden lassen. Da in vorliegender Arbeit diese ästhetische Performanzquali-

35 Vgl. ausführlich zu Heideggers Auffassungen der Instanzen Autor, Text und Interpret Appelhans 2002, S. 72-108; mit kulturgeschichtlich erhellenden Bezügen zur politischen Dimension von Heideggers Hölderlinverklärung Pornschlegel 1994.

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tät von Stimmung allein am literarischen Kunstwerk beo-bachtet wird, ist unser Verfahren als poetologische Hermeneutik gekennzeichnet. Die Praxis und Theorie eines historischen Verstehens von Texten aber, die von Stimmungen ebenso handeln wie sie von diesen gestimmt sind, muss sich nicht nur auf die literaturgeschichtlichen und sprachästhetischen Bedingungen von deren Darstellbarkeit einlassen, sondern ebenso auf die ontologischen und medialen Bedingungen von deren Möglichkeit. Nur so kann die Stimmung über ihre Theoretisierung als ästhetisches Phänomen hinaus auch als variantenreiches Thema von Literatur in unterschiedlichen Zeitkontexten eine theoretische Fundierung erhalten. Vor dem medientheoretischen (s. Kap. A-III.7), soll nun zunächst der ontologische Aspekt der Stimmung erörtert werden (vgl. Gumbrecht 2008), da aus ihm der topologische Charakter der Welterschließung expliziert wurde. Dieser onto-topologische Zusammenhang wird erstmals vollständig entwickelt in der Philosophie Heideggers, wie sie sich vor der Kehre zum eigentlichen Seinsdenken in der Existenzialanalytik als Hermeneutik des Daseins versteht.36 Die Stimmung kommt darin durch eine phänomenologische Reflexion ihrer präsubjektiven Situiertheit als die existenziale Grundschicht zum Vorschein, aus der heraus alles Verstehen anhebt. Diese ursprüngliche Vorgestimmtheit des Verstehens wirkt in den methodisch entfalteten Epistemologien der Philosophie und Wissenschaften ebenso nach wie in den ästhetisch figurierten Erkenntnisweisen von Kunst und Literatur. Dabei nimmt Sein und Zeit seinen Ausgang in der (Neu-)Sensibilisierung für die Zeitlichkeit des Daseins unter der diagnostischen Voraussetzung, dass der Metaphysikgeschichte eine Vergessenheit bezüglich der Frage nach dem Sinn von Sein attestiert werden muss. Anders jedoch als in der Philosophie kann in der Literatur von einer Vergessenheit des Seins, des im Fluss der Zeit verschwimmenden wiewohl auch von ihm getragenen Sinns keine Rede sein. Wie bereits die Bedeutungsvielfalt poetischer Rede, so zeugt die Geschichte der Literatur insgesamt davon, dass diesseits der Logiken des Verstandes und des Diskurses sowie jenseits der Logiken der Identität und der Aussagen sich Sinnbewegungen vollziehen, die für die historische Vielfalt von Seinsmöglichkeiten konstitutiv sind. Mit ihren Darstellungen von Stimmung zielen Literatur und Architektur, Malerei und Musik, Film, Theater und Tanz geradewegs auf das erst Werdende oder schon Flüchtige, das Schwebende und Ephemere, also das dem feststellenden Denken Entgleitende. Als etwas Transitorisches stellen sie konkret dar, was philosophisch als Sein abstrakt oder als dessen Wahrheit verborgen bleibt. Wo Heidegger zufolge der Metaphysik die Frage nach dem Sinn von Sein verstellt geblieben ist, greift die Kunst gleichsam seit je ins Volle. Ganz im Gegensatz zur ‚vorstellenden‘ Noesis arbeitet die darstellende Poiesis ‚immer schon‘ an Formen, die eine raumzeitlich konkrete, historische Sinnbewegung mit ästhetischer Seinserfahrung vermitteln. Darunter ist 36 Siehe zu Heideggers Stimmungsbegriff mit Schwerpunkt beim späten Heidegger des Seinsdenkens Coriando 2013, S. 33-41. Von Heideggers Denken ausgehend diskutiert Coriando bereits in ihrem Buch von 2002 Möglichkeiten und Grenzen der Differenzierung von Gefühl, Affekt, Emotion und Stimmung, insbes. S. 6-8, 260-62. Sie rekonstruiert die historische Entwicklung des Zusammenspiels transgressiver und immersiver Phänomene, dekonstruiert die Subjektzentriertheit des Emotionalen und stellt eine Öffnung des „Wirklichen“ hin auf ein Konzept vom „weltinnige[n] Selbst“ in Aussicht. (S. 264)

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die Stimmung eine bevorzugte Form. Denn sie vermag die Beziehung zwischen Selbst und Welt so zu zeigen, dass deren Phänomengehalt vor der Erfahrung von Innerweltlichem, des Selbst und von deren Unterschiedenheit als relationale Einheit da ist. Während Literatur ein solches Beziehungsphänomens als das Da-sein einer ästhetischen Eigenstruktur vergegenwärtigt, beschreibt es die Existenzialanalytik als das Dasein in seiner ontologischen Vor-Struktur. Nicht weil die Stimmung damit das Fundament legt, von welchem der Zugang sich öffnet zum Sein auch alles anderen Seienden, was nicht menschliches Dasein ist, ist Heideggers Konzept für uns von Bedeutung. Vielmehr weil es den Welterschließungscharakter von Stimmung herausarbeitet und sie dadurch von Gefühl, Emotion oder Affekt unterscheidet; allerdings nicht allein „als objektunspezifische emotionale Disposition“, wie dies in der Emotionspsychologie u.a. von Reisenzein und Siemer (2013, S. 114ff.) vorgenommen wird. Anders als diese emotionale Disposition hat die Stimmung als ästhetische Disposition seither ihren Ort nicht nur und nicht einmal vorwiegend in der Psyche, sondern auf grundlegende Weise im Raum; nicht in einem physikalisch abstrakten Raum, sondern dem konkreten Raum phänomenaler Erfahrung einschließlich deren historischen Bedingungen. Das Subjekt der Stimmung ist entgegen der ausdrucksästhetischen Konvention kein irgendwie besonders emotionales, über empfindsame Innerlichkeit zu entdeckendes Wesen. Es taucht überhaupt erst in der welthaften Äußerlichkeit auf, in der es Wirklichkeit und sich selbst als Offenheit erfährt. Ohne expliziten Stimmungsbezug und mit anthropologischer Ausrichtung sprechen auch Max Scheler und Arnold Gehlen von Weltoffenheit.37 Bei Heidegger wird die Weltoffenheit epistemologisch aufgeladen, indem ihr der Erschließungscharakter von Stimmung zugeordnet wird. Die nur sekundär affektgeladene, primär aber welterschließende Stimmung erhält in Sein und Zeit eine phänomenologische Beschreibungsdichte, welche erstmals an Stimmungen in ästhetischer Artikulationsform heranreicht.38

5. D AS

EXISTENZIAL - ONTOLOGISCHE V ERSTÄNDNIS VON S TIMMUNG UND DIE ANTHROPO - TOPOLOGISCHE P HÄNOMENALITÄT DES I N -S EINS VON D ASEIN

Während in den Diskursen der Episteme herkömmlicherweise nicht und noch heute kaum einmal mit der Unvermeidbarkeit von Stimmungseinflüssen gerechnet wird – mehr noch: der Ausschluss aller unkontrollierbaren Subjektivitätsfaktoren mit dem methodischen Selbstanspruch des neuzeitlich dominanten Wissenschaftstypus zusammenfällt –, so ist dem Bereich des Ästhetischen die Figur gestimmten Verstehens inhärent und gewissermaßen ‚selbstverständlich‘. In ihm ist vorsemantisches Verstehen mit Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen gleichursprünglich. Solches wahrnehmende oder vorsemantische Verstehen ist vorläufig orientierend und damit

37 Vgl. die aktualisierte Bedeutung des Begriffes Weltoffenheit von Scheler über Heidegger bis Gehlen bei Sloterdijk 2004, S. 702-11. 38 In Sein und Zeit und in den Vorlesungen von 1929/30 in GdM.

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grundlegend auch für die vorwissenschaftliche Lebenspraxis allgemein. Es ist also noch nicht methodisch rationalisiert wie wissenschaftliches Erkennen. Insbesondere ästhetisches Verstehen findet aufgrund seiner Selbst- als Weltbezogenheit in der Gestimmtheit seinen Ausgangspunkt. Die Phänomenalität desselben besteht in einem bedrängenden Strom von Sinnesdaten und zugleich anziehenden Sog von Gestalten des Wahrnehmens. Eingebettet in die historische Situation bringt Stimmung ein komplexes Beziehungsverhältnis schon mit sich: zu Naturgegenständen oder Kunstwerken, zu Dingen oder Menschen, flüchtigen Eindrücken und deutlichen Empfindungen, zu Raumstrukturen und Zeitigungsmomenten sowie zu Welt- und Selbstgefühlen. Solche temporale, topologische und differenzielle Bewegtheit situiert Verstehen von seinem Beginn an als geschichtliches. Geschichtliches Verstehen ist den existenzialen und ontologischen Fragen nach seiner eigenen Zeitlichkeit und Raumbezogenheit überantwortet und sucht nach Antworten in der Erfahrung von Realität. Im Ästhetischen taucht die irrationalitäts- oder doch pathosverdächtige Figur gestimmten Verstehens auch in umgekehrter Bezugsordnung als verstehende Stimmung auf: explizit durch die traurig-stillen Heiterkeiten existenzieller Dialektiken (z.B. Tod-Leben, Verlust-Bewusstsein, Liebe-Leiden, Glück-Erfüllung, Zeit-Sein) oder in den sinnhaften Melancholien der Vergänglichkeit, der Trauer und des Wissens. Implizit sind verstehende Stimmungen als Thema und Performativ subliminal gegenwärtig – wie etwa in der Elegie. In solch einem ebenso unterschwellig kognitiven wie vorsubjektiv ubiquitären Sinn aber wird die Stimmung auch in Sein und Zeit konzipiert, wo sie in systematischer Absicht das Verstehen als Seinsweise der menschlichen Existenz ontologisch grundiert. Nicht die Sprache der Dichtung mit ihrer ästhetischen Schrankenlosigkeit, sondern die analytische Beschreibungsdisziplin der Phänomenologie ist es hier, die sich dem epistemisch unfasslichen Sich-wie-von-selbst-zeigen der Stimmung und dem mit ihr gleichursprünglichen Verstehen annimmt. Bevor der Zusammenhang von Stimmung und solchem vorsprachlich einsetzenden Verstehen weiterverfolgt wird, soll zunächst die Stimmung gesondert in ihrer ontologischen Interpretation nachvollzogen werden, um dadurch näher an den phänomenalen Bestand zu gelangen, wie er in der Dichtung auf vielfältige Weise artikuliert wird. Hingegen in ‚fundamentalontologischer Absicht‘ (SuZ 131) erörtert Heidegger die Bedeutung der Stimmung unter dem mit Die existenziale Konstitution des Da betitelten Abschnitt (A.) im systematischen Zusammenhang von Das In-Sein als solches (5. Kapitel). Insbesondere die §§ 28 ‚Die Aufgabe einer thematischen Analyse des In-Seins‘ und 29 ‚Das Da-sein als Befindlichkeit‘ sind aufschlussreich für das existenzialontologische Verständnis von Stimmung. Dieses beansprucht grundlegend hinter alle psychologischen Bestimmungen derselben als einem von sich aus nuancenreichen Phänomen im weiten Spektrum der Affekte, Gefühle oder Emotionen zurückzugehen: und zwar zurück auf eine ursprüngliche Einheit, die ähnlich wie bei Diltheys vorphänomenologischem Ansatz nicht substanzlogisch und statisch, sondern ‚struktural‘ und dynamisch gedacht wird. Nicht aber wird wie bei Dilthey psychologisch und letztlich anthropologisch, sondern phänomenologisch und schließlich ontologisch begründet. Kein psychischer Strukturzusammenhang ‚des Menschen‘, keine Entwicklungsganzheit des Verlaufs des Lebens werden expliziert, sondern der phänomenale Strukturzusammenhang von In-der-Welt-sein und die Seinscharaktere des Daseins in ihrer ursprünglichen Konstitutionseinheit.

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Bei allen Unterschieden zielt Heideggers „thematische Analyse des In-Seins“ als des „tragenden Strukturmomentes“ doch auf etwas dem Diltheyschen Anliegen sehr Ähnliches ab, wenn sie „das Strukturganze einzukreisen und jede Sprengung und Aufsplitterung des einheitlichen Phänomens zu verhüten“ trachtet. (SuZ 130f.) Allerdings nennt Heidegger dieses einheitliche Phänomen nicht Leben, sondern Dasein. Entsprechend versteht nicht das ‚Leben‘ die von ihm selbst durch ‚Ausdruck‘ hervorgebrachte Geschichtswelt (unter Anleihe bei Hegel) als ‚objektiven Geist‘. Vielmehr erschließt sich dem ‚Dasein‘ durch seine Entwurfsmöglichkeiten und existenziale Zeitlichkeit der Sinnhorizont von Welt und Geschichte sowie letztlich von Zeit und Sein überhaupt. Zwar äußert sich Heidegger anerkennend hinsichtlich Diltheys Unterwegssein zur „Frage nach dem ‚Leben‘“ (Vgl. SuZ 46f.), nur bliebe eben ‚Leben‘ ontologisch unbestimmt. Wie Heidegger der nachsokratischen Philosophie und abendländischen Metaphysik insgesamt Seinsvergessenheit vorhält, so der Lebensphilosophie seiner Zeit wie auch der traditionellen und der philosophischen Anthropologie das Verfehlen schon der Frage nach dem Sein des Daseins. Gegenüber der ontologischen Unbestimmtheit von Diltheys ‚Leben‘, die auch dessen Begriff der Stimmung betrifft, bietet Heidegger mit dem erst ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der phänomenologischen Analyse ein Seinsdenken auf, welches seinen exklusiven Einsatzpunkt beim Dasein als demjenigen Seienden findet, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst gehe. Diese allein im Dasein gegebene intrinsische Verfugung des Ontischem mit dem Ontologischen erklärt sich aus der „Grundverfassung dieses Seienden“, die als „In-der-Welt-sein“ das leitende Thema der existenzialen Analytik ist. (SuZ 130) In ihr kommt der Stimmung entscheidende Bedeutung zu, weil sie das phänomenale Aggregat darstellt, in welchem Dasein seine ontologische Bestimmung durch das allem Ontischen vorgängige In-Sein erhält. Es seien nicht erst die Welt und die Subjekte vorhanden, die dann als Seiende im Gesamt des Seienden zu sich fänden, um dadurch dann auch noch ‚da‘ zu sein. Das als grundlegende Seinsart des Seienden topologisch gedachte Phänomen des In-Seins erklärt die ontologische Struktur von Stimmung im weiter oben bereits angeführten Sinne einer veritablen Beziehungskategorie. Veritabel nämlich insofern, als dass die Stimmung durch das, was sie aus ontischen Subjekt- und Objektpositionen heraus aufeinander bezieht, ihrerseits nicht erst entsteht, sondern allenfalls qualitativ bestimmt ist. Ihr Wie-sein, nicht aber ihr Dasssein ist von den Relaten abhängig, die sie als Relation selbst verbindet. Hingegen ist das in Subjekt-Objekt-Relationen Vorhandene schon in seinem Dass-sein von der Stimmung abhängig und noch dazu in seinem Wie-sein. Die durch Stimmung aufeinander bezogenen Entitäten sind durch dieselbe mitkonstituiert, bevor sie in erkenntnistheoretischer Polarität als Subjekte und Objekte in Erscheinung treten. Soweit jedenfalls scheint Heidegger gehen zu wollen, wenn er „das vorhandene commercium zwischen einem vorhandenen Subjekt und einem vorhandenen Objekt“ (SuZ 132, Hvh. i.O.) als ein Interpretationsmodell anführt, welches trotz seiner Beziehungslogik (‚commercium zwischen‘) dem Phänomen existenzialen In-Seins nicht gerecht zu werden vermag: „Diese Auslegung käme dem phänomenalen Bestand schon näher, wenn sie sagte: das Dasein ist das Sein dieses ‚Zwischen‘. Irreführend bliebe die Orientierung an dem ‚Zwischen‘ trotzdem. Sie macht unbesehen den ontologisch unbestimmten Ansatz des Seienden mit, wozwi-

94 | POETOLOGIE DER STIMMUNG schen dieses Zwischen als solches ‚ist‘. Das Zwischen ist schon als Resultat der convenientia zweier Vorhandenen begriffen. Der vorgängige Ansatz dieser aber sprengt immer schon das Phänomen, und es ist aussichtslos, dieses je wieder aus den Sprengstücken zusammenzusetzen. Nicht nur der ‚Kitt‘ fehlt, sondern das ‚Schema‘ ist gesprengt, bzw. nie zuvor enthüllt, gemäß dem die Zusammenfügung sich vollziehen soll.“ (SuZ 132; Hvh. i.O.)

Die hier durch die Sprengungsmetaphorik angezeigte Gewalt und Nachhaltigkeit lassen bereits etwas von der Radikalität eines metaphysikkritischen Ansatzes anklingen, welcher bis zu den Vorsokratikern zurückgehen muss, um auf satisfaktionsfähige Seinsdenker zu treffen. Der philosophische Rückgang auf Ursprüngliches und die Einsicht in die ontologischen Fundamente von Faktizität aber entfernen Heideggers Destruktion der Metaphysik von ihrem eigenen historischen Kontext. Der gewonnene Abstand zum neuzeitlichen ‚Gestell‘ erfolgt durch ein Überschreiten der Grenze des Epistemischen und führt schließlich in die wissenschaftliche Sackgasse einer mehr spekulativen als objektivierbaren Erkenntnis. Hingegen haben auf das Stimmungsphänomen fokussierte Literaturinterpreten es mit Werken aus eben dieser fast zweieinhalb Jahrtausende währenden MetaphysikEpoche‘ zu tun und müssen deshalb mit deren philosophischen Denkkonventionen rechnen. Deren binäre Schemata (u.a. Subjekt-Objekt, Innen-Außen, Ich-Welt, GeistMaterie) werden aber in schöner Literatur nicht einfach reproduziert, sondern mannigfaltig destruiert – nicht nur appliziert, sondern auch generiert und modifiziert. Ästhetische Stimmungen lassen sich als Heterodiskurs zum epistemischen noch dann entdecken, wenn sie nicht die ontologische Strukturganzheit, sondern nur poetische Bruchstücke des Phänomens restituieren. Auch und sogar gerade wo Stimmungssemantiken an jener irreführenden „Orientierung an dem ‚Zwischen‘“ noch festhalten, können sie aus ästhetischen Kontexten heraus epistemologische Schemata dekonstruieren. Etwa indem sie diese aus sich selbst heraus an die Grenzen ihrer Darstellungsmöglichkeiten und so an das von diesen ‚Verhüllte‘, ihnen strukturell Entzogene oder für sie Unsichtbare heranführen. Während für fundamentales Seinsdenken das „ontologisch Entscheidende“ darin liegt, „die Sprengung des Phänomens vorgängig zu verhüten, das heißt seinen positiven phänomenalen Bestand zu sichern“ (SuZ 132), kann für die Dichtung das Ontologische dem Poetologischen nachgeordnet oder sogar unbedacht bleiben. Denn für sie ist eher entscheidend, überhaupt etwas vom In-Sein, dieses aber möglichst konkret darzustellen. Dabei kann dann auch den Spuren versprengter Seinssplitter nachgegangen werden, um auf indirekte Weise einen existenzial erhellten Phänomenbestand zu verdichten. Letzterer braucht in der Dichtung weder ursprünglich noch vorgängig, nicht ganzheitlich und nicht einmal einheitlich zu erscheinen, um ontopoetologisch wirksam zu sein. Philosophisch dagegen bedarf es „weitgehender Umständlichkeit“ (SuZ 132), wieder zu entdeckende Ursprungszusammenhänge wie Einheit und Vielfalt, Identität und Differenz, Sein und Zeit, Dasein und Bedeutung sowie Stimmung und Verstehen phänomenadäquat zu beschreiben. Für Heidegger ist diese von ihm selbst ebenso geduldig ertragene wie sorgsam vorgeführte ‚Umständlichkeit‘ „nur der Ausdruck davon, daß etwas ontisch Selbstverständliches in der überlieferten Behandlungsart des ‚Erkenntnisproblems‘ ontologisch vielfältig bis zur Unsichtbarkeit verstellt wurde“ (SuZ 132).

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‚Selbstverständlich‘ ist hier buchstäblich das Da-sein als ein sich selbst verstehendes. Es ist ein solches Seiendes, das sich als Da in der Welt schon erschlossen ist, bevor es sich als Subjekt gegenüber Objekten vorgefunden haben wird. In der existenzialen Räumlichkeit befindet sich das Dasein an einem Ort auf der Welt, an welchem es mit dieser in einem gleichursprünglichen Näheverhältnis steht. Wenn Heidegger daran das Strukturmoment des In-Seins hervorhebt, dann ist damit im Unterschied zur allgemeinen Behältervorstellung 39 sowie zur Innerlichkeit eines Selbst gegenüber der Äußerlichkeit von Welt gemeint, dass die räumlich bergende Existenzialität des Da ihrerseits auf dem In-der-Welt-sein basiert. Selbst ist das Dasein allein in seinem Da in der Welt, in welcher es als Sein zuhause ist. Das raumschematische Aufbrechen in Innen- und Außenbereiche, wie es die Entfaltung intentionaler, epistemischer oder psychologischer Bezugsfelder kennzeichnet, ist dem In-Sein des Daseins in der Welt phänomenologisch nachgeordnet und ontologisch von diesem bedingt. Nur ein Dasein, das bereits in der Welt seine Erschlossenheit ist, kann des weiteren anderes Seiendes in der Welt entdecken, anderes Dasein oder Sachverhalte verstehen sowie vorhandene Dinge oder strukturelle Zusammenhänge erkennen. Zur Charakterisierung des Seins dieser eigentlich vorontologischen Erschlossenheit aber, was menschliches Dasein schon durch sein bloßes „Sein als Da“ (SuZ 134) ist (In-Sein), mobilisiert Heidegger den Begriff der Stimmung.40 39 Siehe zum Ausdruck „Container“ oder „Schachtel“ als Modell der Raumvorstellung Newtons die von Einstein im Zusammenhang seiner raumzeitlichen Relativitätstheorie geäußerte Kritik, die in der kulturwissenschaftlich aufgefächerten Raumforschung neue Beachtung findet. Einstein 231988, S. 91-109, hier 93. Dazu Einsteins Erläuterung der „Hauptbedeutung der allgemeinen Relativitätstheorie“, die in der „Einfachheit ihrer Grundlage“ bestehe, nämlich „dem Raum-Zeit-Kontinuum seinen absoluten Charakter“ zu nehmen: ders. 1930, S. 173-180. Wiederabgedruckt in und zit. n. Dünne und Günzel 2006, S. 94-101, hier 99. 40 Zum Thema Stimmung bei Heidegger gibt es inzwischen eine Reihe einschlägiger wissenschaftlicher Publikationen, die hier in chronologischer Reihenfolge wenigstens angeführt werden sollen: Haar 1986 und 1988; Held 1991; Fink-Eitel 1992 und 1993. Außer diesen Aufsätzen siehe neben den bereits angeführten Büchern zum Thema von Ballard und von Pocai das schöne Buch von Han 1999; außerdem Ferreira 2002. Ferreira hält sich entsprechend seinem Selbstverständnis „im Sinne Heideggers“ (S. 10) eng an die gedankliche Entfaltung und begriffliche Ausformierung des Stimmungsthemas in Sein und Zeit. Vollständig auf den phänomenologischem Sprachduktus vertrauend, konzentriert er sich auf die methodische Bedeutung von Stimmung für die Existenzialanalytik und darüber hinaus für die Philosophie insgesamt; sodann geht er der systematischen Bedeutung von Stimmung für die Daseinshermeneutik nach, in der sie als Existenzial einen kategorialen Ausgangspunkt allen Verstehens bildet. Schließlich deutet er Heideggers Grundstimmungen der Angst und Langeweile als tiefe Stimmungen. In ihnen befinde sich das Dasein in Abkehr von seinen Erschlossenheiten. In der Begrenztheit von deren Verständlichkeit erfahren wir unsere Endlichkeit, die auch „eine Endlichkeit unseres Verstehens“ (S. 8) ist. Gegenüber den sich in der Immanenz von Heideggers Philosophie bewegenden Studien lenkt vorliegende Arbeit am ontologisch versierten Stimmungsbegriff die Aufmerksamkeit auf dessen theoretische und praktische Relevanz für die Literaturwissenschaft, indem wir auf die (literarische) Darstellung von Stimmung abzielen.

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Stimmung ist damit konstitutiv topologisch und anthropologisch, nicht aber primär psychologisch begründet. Das unterscheidet sie von Affekt und Emotion, aber auch vom Gefühl als Selbstgefühl, deren Weltbeziehungen ein affizierender, kontributiver, korrelativer oder stimulativer, nicht aber konstitutiver Charakter zukommt. Wo Stimmungen in der Psychologie „als temporäre Disposition“ verstanden werden (vgl. Reisenzein und Siemer 2013, S. 114f.), sind sie konstitutiv für Emotionen im Unterschied zum „Normalzustand“ und für Gefühlsreaktionen auf Ereignisse, nicht aber für die Weltbeziehungen überhaupt. Wo indes die neuere Phänomenologie diese Generalisierung zugunsten konkreter Bestimmungen relativiert, ist die Stimmung als Disposition zwar ebenfalls für Gefühle konstitutiv; darüber hinaus aber auch für Erinnerungen, Gedanken, leibliche Haltungen, Verhalten sowie die „Wahrnehmung und Bewertung einer Situation, ja häufig auch eine ganze Weltsicht“ (Fuchs 2013, S. 25).

II. Die phänomenologische Interpretation der Stimmung (Heidegger) und ihre poetologische Bedeutung

1. G ESTIMMTE ‚B EFINDLICHKEIT ‘, ERSCHLIESSENDE G EWORFENHEIT VOM SCHLECHTEN S EIENDEN

UND DAS

K ONSTRUKT

In der metaphysikkritischen Perspektive des Seinsdenkens zeichnet sich menschliches Dasein durch einen nur diesem offen stehenden Zugang zum Sein aus, indem ihm mit seinem ‚Da‘ als In-Sein die Welt je schon erschlossen ist. Erschlossen meint nicht ‚bewusst‘ oder schon ‚erkannt‘, sondern erfahrungsoffen oder ‚verstanden‘. Und verstanden zunächst nur in dem oben benannten vorsemantischen oder vorsprachlichen Sinn, wie wir ihn vom vorläufigen Orientierungsverstehen der Stimmung her kennen. Als dem Dasein erschlossene aber ist die Welt nicht nur noch nicht zu erkennende Welt. Vielmehr ist sie nur noch ursprünglicher offen für das verstehende Sich-Entwerfen eines Daseins, welches als Erschlossenheit zunächst vor seinem ‚Sein als Da‘ steht. Es ist dieses das Dasein vor sein Sein stellende Erschließen des In-der-Welt-seins, was die Stimmung vor aller emotionalen Resonanz und ereignisabhängigen Reaktionen in konkreten Situationen leistet. Sie erhält damit die apriorische Funktion einer Bedingung der Möglichkeit von oder zu etwas, nämlich von In-der-Welt-Sein und zu seinem Sein als Da sich so (eigentlich) oder so (uneigentlich) verhalten zu müssen. Dieses vor sein eigenes Da gebracht und damit auf sein Sein bezogen werden des Daseins nennt Heidegger ‚Geworfenheit‘. Seine Geworfenheit verweist das Dasein auf einen ihm oft selbst entgehenden Seinscharakter: den der „Faktizität der Überantwortung“ (SuZ 135) von Existenz, d.h. der Verwiesenheit des Daseins auf sein Dass-sein und In-der-Welt-sein. Stimmung ist in Sein und Zeit aber nicht nur die abstrakte Ermöglichungsbedingung des sich zu seinem Sein verhaltenen Daseins als Geworfenheit in die Welt. Wie wir gesehen haben ist sie auch die konkret räumliche Seinsweise des In-Seins des Daseins in der Welt. Nicht nur ein transzendentaler Zusammenhang, sondern auch ein „phänomenale[r] Tatbestand“ wird durch die Stimmung namhaft gemacht, wenn sie die „Erschlossenheit des Seins des Da in seinem Daß“, also die Faktizitätsdimension von Existenz bezeichnet. (SuZ 135)

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Dieses in der Stimmung sich vor sein Sein als Da in der Welt gestellt zu sehen, ist aber kein „wahrnehmendes Sich-vor-finden“, sondern ein diesem vorgeordnetes „gestimmtes Sichbefinden“ des bloßen Daseins. (SuZ 135) Gemäß der für das Seinsdenken entscheidenden ontologischen Differenz unterscheidet Heidegger terminologisch zwischen Befindlichkeit und Stimmung. Letztere sowie das synonymgebrauchte Gestimmtsein ist die ontische Bezeichnung des existenzialen Phänomens, während Befindlichkeit die ontologische Bezeichnung desselben ist. Mit Befindlichkeit wird also die zumeist verdeckte Seinsstruktur desjenigen Seienden zu fassen gesucht, das die Stimmung ist, und zwar immer ist, d.h. auch in seinen Formen vermeintlicher Ungestimmtheit oder als Verstimmung. Denn in der als „fundamentales Existenzial“ (SuZ 134) aufgefassten Stimmung sei dem Dasein zwar das Sein grundlegend erschlossen, jedoch weiche es vor diesem im alltäglichen Vollzug auf „ontisch-existenziell[er]“ (SuZ 135) Ebene aus. Befindlichkeit soll nun die „ontologisch-existenzial[e]“ Grundlage des Stimmungsphänomens kennzeichnen, welche in psychologischer Betrachtungsweise eben so unbedacht vorausgesetzt werde wie sie sich in der Uneigentlichkeit der Lebenspraxis des Man gewöhnlich verflüchtigt: „in dem, woran solche Stimmung sich nicht kehrt, ist das Dasein in seinem Überantwortetsein an das Da enthüllt. Im Ausweichen selbst ist das Da erschlossenes“ (SuZ 135). Für eben dieses Ausweichen vor der eigenen Existenzialität und ihr als eigenstem „Unzuhause“ 1 doch gerade dadurch nicht entfliehen können, für die so gewöhnliche – in Heideggers Diktion ontischexistenzielle – Abkehr vom ‚Sein des Da‘ und dessen unausweichliche Wiederkehr hat bessere Dichtung ihr feinstes Gespür entwickelt. 2 Sei es in den antiken Formen tragischer Verhängnisse, sei es in gottgewollten oder säkularen Entwicklungen eines glücklich sich fügenden Schicksals oder aber unglücklichen Bewusstseins, sei es schließlich in modernen Reflexionen stuporhafter Kontigenzerfahrungen – immer wieder und in vielfältigster Weise werden über Stimmungen Bezüge zum Seienden so entwickelt, dass sie zu einem Rekurs auf die Befindlichkeit als existenzialem Seinsverhältnis hinführen. Allerdings muss dies gerade nicht – um diese allgemeine Aussage über das Literarische den entscheidenden Schritt weiterzuführen – zur Hypostasierung des Seins führen. Literarische Rekursionen auf die Befindlichkeit menschlichen Daseins erfolgen zwar über die Darstellung von Stimmungen und verweisen damit über Wirkungsverhältnisse auch auf das Sein zurück. Jedoch anders als im diskursiven Genre geschieht dies generell im ästhetischen Genre durch indirekte Darstellungsmodi. Sie 1

2

Siehe hierzu im Zusammenhang der Stimmung der Unheimlichkeit und der ontologischen Bestimmung der Angst als Grundbefindlichkeit § 40: „Die verfallende Flucht in das Zuhause der Öffentlichkeit ist Flucht vor dem Unzuhause, das heißt der Unheimlichkeit, die im Dasein als geworfenen, ihm selbst in seinem Sein überantworteten In-der-Welt-sein liegt. Diese Unheimlichkeit setzt dem Dasein ständig nach und bedroht, wenngleich unausdrücklich, seine alltägliche Verlorenheit in das Man.“ (SuZ 189) Und zwar gerade auch dann, wenn das Verfallen an die Welt, das Fliehen vor dem Selbst von einer Stimmung existenzialer Unheimlichkeit ausgelöst wird, wie es den weltliterarischen Motiven etwa des ewig wandernden Ashaver aber auch des herumirrenden Odysseus zugrunde liegt.

II. DIE PHÄNOMENOLOGISCHE I NTERPRETATION DER S TIMMUNG

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lassen allenfalls ein im Werden relativiertes Sein durchscheinen statt etwa ein zu Substanz absolutiertes Sein als reine An-sich-Gegebenheit denkbar werden zu lassen. Wo dies doch geschieht, operieren Ästhetiken der Befindlichkeit weiter über Stimmungen – etwa als Existenzmodi eines Werdens zum Sein. Dabei erweisen sie sich als negative Ästhetiken mit ihren Darstellungsformen des Nicht-Darstellbaren, ihren Weisen des Sichtbarmachens des Unsichtbaren oder eines poetischen Sagens des Unsagbaren. Demgegenüber setzt Heideggers Ontologie der Befindlichkeit darauf, über die phänomenalen Strukturen des Daseins ein Sein zu erhellen, das letztlich ohne Werden auskommt, indem die Zeitlichkeit an die vorontologische Seinsverfassung der Existenz gebunden bleibt wie diese in Zeitlichkeit gründet. 3 Heideggers gegenüber einem konkreten Dasein letztlich transzendent gesetztes Sein aber ist für die Literatur seit der Moderne um 1800 immer weniger relevant. Sie thematisiert vielmehr durch Konfigurationen von Stimmungen ein weltimmanentes Sein, das sich gerade über geschichtliches Werden pluralisiert und nur durch dessen individuelle Brechungen zur konkreten Erscheinung kommt. In der Ontologie der Befindlichkeit erfolgt deren topologische Bestimmung zusammen mit der phänomenologischen Charakterisierung der Faktizität des Daseins. Dessen „Daß es ist und zu sein hat“ wird als die „Geworfenheit dieses Seienden in sein Da“ bestimmt. (SuZ 135) Damit erhält die ontologische Befindlichkeit der Existenz die ethische Strenge einer „Überantwortung“ (SuZ 135), die dem entgegen steht, was bei der poetologischen Befindlichkeit als ästhetischer Leichtsinn einer Selbstverantwortung der Kunst erscheinen mag. In letzterer ist das „erschlossene Daß als existenziale Bestimmtheit“ (SuZ 135) des In-der-Welt-seins vom empfundenen Wie als existenziale Unbestimmtheit des Hier-und-Jetzt-seins nicht zu trennen. Im Ästhetischen ist die Befindlichkeit damit durchlässiger oder berührungsoffener für die ‚ontisch-existenziellen‘ Qualitäten ihres weltlichen oder kontextuellen Ortes. Entsprechend vielfältig kann poetisch dargestelltes Dasein sich nicht nur in Geworfenheit, sondern ebenso in Getragenheit oder gar Geborgenheit, in Gesetztheit wie in Gestelltheit oder ganz neutral in existenzialer Gelegenheit befinden. Es ist fortgesetzt eingebettet in seine jeweilige Situation, deren Realität historisch grundiert ist. Die Literaturforschung muss deshalb auf einen disseminativen Charakter von Stimmung vorbereitet sein, der sie im Nuancenreichtum ihrer Gefühle diversifiziert. Im Vergleich dazu erscheint Heideggers Befindlichkeit dann doch tendenziös existenzialistisch getönt, also beinahe einseitig festgelegt auf ein dunkel gestimmtes Sichbefinden in einer Geworfenheit, der immerhin eine Tendenz auf ein fremdes, unwirtliches bis miserables Worein dieser Geworfenheit implizit ist. Das als Dasein seinem Sein überantwortete Seiende ist „auch dem überantwortet, daß es sich immer schon gefunden haben muß – gefunden in einem Finden, das nicht so sehr einem direkten Suchen, sondern einem Fliehen entspringt.“ (SuZ 135) Ontologisch bestimmt 3

Zumindest besteht dieser Einwand gegen die Konzeption von Sein und Zeit, insofern an dessen Ende die Frage nach einem „Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins“ nur gestellt, nicht aber mit dem nie geschriebenen 2. Teil (Zeit und Sein) beantwortet worden ist. Siehe allerdings zu Heideggers seinerseits an poetischer Sprache orientiertem Weg nach der Kehre, wo der Stimmungsbegriff einen ontologischen Ereignischarakter erhält, vor allem in Heidegger 1991 und ders. 1997b, S. 319-21 u.ö.

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wird die scheinbar nur phänomenologische Befindlichkeit unversehens in die ethische Pflicht zur Vereigentlichung zu ernstem Daseins genommen. Zwar ist das „Fliehen“ in die Niederungen des im Vielen zerstreuten Seienden, das Verfallen in die Uneigentlichkeit des Man nur allzu menschlich. Aber faktisch bleibt das Dasein auf das „ursprüngliche Ganze“ (SuZ 436; Hvh. i.O.) als die phänomenologische Einheit seines Seins verpflichtet. Existenzial bedeutet dies, dass die Annahme des „Lastcharakter[s] des Daseins“ unausweichlich ist. (SuZ 134f.) Da hilft auch kein „Enthobensein in der gehobenen Stimmung.“ (SuZ 135) Auch gehobene Stimmung – wie Heideggers Stimmung generell – erschließt die existenziale Lage nicht dadurch, dass es das Dasein emotional positiv auf dieselbe einstimmt oder ihm wenigstens eine gefühlsneutrale Befindlichkeit vermittelt. Vielmehr erschließe die Stimmung allenfalls „als An- und Abkehr“ (SuZ 135) von bzw. zu etwas also, was vorzugsweise gemieden wird. Diese negative Voraussetzung aber liegt weder in der Logik der Stimmung als existenzialem Phänomen noch in der Logik der Befindlichkeit als Da-in-der-Welt-sein. Sehr wohl aber liegt diese Negativität im fundamentalen Interesse einer Onto-Logik, für die alles Seiende im bloß Sinnlichen, verstreuten Vielen oder in den Mythen des Alltäglichen sich verlieren muss. Namentlich um diesem schlechten Seienden ein gutes Sein im strukturellen Sinne eines abgeblendeten Intelligiblen, eines nach-idealistischen Einen oder eines Logos des Ursprünglichen zu Grunde legen zu können oder gar zu müssen. Der Fundamentalontologe spricht zuerst von einer kaum als angenehm vorstellbaren Geworfenheit und Faktizität des Daseins, um so verständlich erscheinen lassen zu können, dass die Stimmung diese nicht durch positive Zuwendung oder „in der Weise des Hinblickens“ erschließen mag. (SuZ 135) Hier müssen schon Fliehen, Verdrängen, Verfallen und Abkehren die Art des Verhaltens oder Weise des Erschließens sein, durch welche die Stimmung das Dasein in ein Verhältnis zum Sein versetzt. Die damit etablierte Negativität des Seinsverhältnisses qua Stimmung kann dann durch deren ontologisierende Vertiefung zur Befindlichkeit einer positiven Bestimmung desselben weichen. Die statuierte Notwendigkeit einer ontologischen Bestimmung des Daseins wird hier durch phänomenologische Beschreibungen (‚Geworfenheit‘, ‚Fliehen‘, ‚Abkehr‘) vorbereitet, die ihrerseits jedoch von kontingentem Charakter sind. Befindlichkeit als vom a priori unbefriedigenden Seienden abgekehrte Seite der Stimmung ist ein fundamentalontologisches Konstrukt. Ästhetisch-poetologische Konstrukte von Befindlichkeit hingegen sind aufgrund ihrer a posteriori bestimmten Bezüge zum dargestellten Seienden immer die Stimmung als Ganzes, d.h. ihre beidseitige Offenheit von Weltlichkeit und Existenzialität umfassend. In Dichtung ist Befindlichkeit das ästhetische Integral der Stimmungen. In Sein und Zeit ist Befindlichkeit das ontologische Differenzial der Stimmung. Literarisch können durchaus Hochstimmungen des Daseins als solche von einem harmonisch in der Welt Seienden dargestellt werden – z.B. im Werther – ohne dass dies als Entlastungsreaktion von einer offenbaren Seinslast ausgelegt werden müsste. Wenn in solcher Literatur dann überhaupt noch zwischen Befindlichkeit und Gestimmtheit des Daseins zu unterscheiden wäre, dann könnte Befindlichkeit allenfalls für das euphorische Gesamt erhebender Stimmungen einschließlich ekstatischer Seinserfahrung einstehen. Seinsphilosophisch indes wird auch „diese Stimmungsmöglichkeit“ auf die primäre Erschließungsfunktion von Stimmungen überhaupt zurückbezogen, diese zu-

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gleich aber als Entlastung von einem vermeintlich offenbaren „Lastcharakter des Daseins“ dekliniert. (SuZ 134) Nur so lässt sich schließlich die phänomenologische Ontologie der Befindlichkeit als die notwendige Tiefenstruktur eines Daseins begründen, das ‚immer schon‘ existenzial besorgt sein muss. Denn das beschwerte Dasein findet sich durch die ontologische „Stimmung [...] vor das Daß seines Da“ geworfen, „als welches es ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt.“ (SuZ 136) Bei einer im seinsphilosophischen Stimmungsdiskurs konnotierten Affektlage von rätselhafter „Angst“, verborgenem „Un-zuhause“ und bedrohlicher „Unheimlichkeit“ wundert es nicht, dass ‚abblendende‘ oder „ausweichende Abkehr“ die Weise sein soll, in welcher die Befindlichkeit „das Dasein in seiner Geworfenheit“ erschließt. (SuZ 136, 189; Hvh. i.O.) Die hier zuletzt thesenhaft herausgestellten Unterschiede zwischen literarisch dargestellter und ontologisch gedachter Stimmung/Befindlichkeit dürfen indes nicht deren wesentliche Gemeinsamkeiten unkenntlich machen. Beide konzipieren „das, was Stimmung erschließt und wie sie erschließt“ (SuZ 135) in phänomenal ähnlicher Weise, indem sie es in einer Sphäre ansiedeln, die den reflexiv zugänglichen Dimensionen des Erkennens, Wissens, Wollens und Meinens vorausliegt. Vorausliegen heißt hier nicht gegenüber diesen kommunikativ eingängigen Dimensionen disparat sein – im Gegenteil heißt es: deren logischen Voraussetzungen zu bilden, die also aus ihnen selbst unverfügbar bleiben müssen. So kann es Literatur zum einen darum gehen, Stimmungen als eine Sphäre nichtbewusster Konditionierungen von Denken, Handeln und des Geschehens insgesamt darzustellen, deren Folgen in der fiktionalen Realität für die Protagonisten ebenso unvorhersehbar waren wie sie für den Leser überraschende Einsichten in faktuale oder auch nur mögliche Realitäten bereit halten. Literarisch werden Stimmungen in ihren inkommensurablen Wirkungsmöglichkeiten zu ermessen versucht, die über die Ästhetik hinaus in die Episteme und das Wissen um deren Grenzen reichen. Dabei handelt es sich im Bereich des Poetischen ebenso wenig wie in dem des Denkens etwa um eine ästhetische Feier irrationaler Urstände. Dies meint Heidegger im leicht missverständlichen Kontext des zeitgenössischen Diskurses klarstellen zu müssen: „Der Irrationalismus – als das Gegenspiel des Rationalismus – redet nur schielend von dem, wogegen dieser blind ist.“ (SuZ 136) Zum anderen also geht es der Philosophie von Sein und Zeit mit ihrer ontologischen Auffassung des Phänomens der Stimmung vielmehr darum, von existenzialen Strukturen her eine der Ermöglichungsbedingungen des Epistemischen überhaupt zu denken. Zwar könne auch umgekehrt menschliches „Dasein faktisch mit Wissen und Willen der Stimmung Herr werden“, was „in gewissen Möglichkeiten des Existierens einen Vorrang von Wollen und Erkenntnis bedeuten [mag]“. (SuZ 136) Unzweifelhaft bleibt jedoch – wie schon die gewundene Formulierung andeuten mag – dass „ontologisch die Stimmung als ursprüngliche Seinsart des Daseins“ anzusehen ist, „in der es ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen ist. Und überdies, Herr werden wir der Stimmung nie stimmungslos, sondern je aus einer Gegenstimmung.“ (SuZ 136) Diese phänomenologische Radikalität, die Stimmung als primordiale Erschließungsbewegung noch vor allen kognitiven und volitiven Prozessen zu verorten, begründet die systematische Positionierung der Stimmung in ihrer ontologischen Form der Befindlichkeit inner-

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halb des Verbundes von existenzialen Basisstrukturen wie dem In-der-Welt-sein, der Sorge und dem Verstehen.

2. I N - DER -W ELT - SEIN

UND

D ARSTELLEN

Die Schnittstelle zwischen Existenz und Welt als Ausgang für historische Kontextualisierung

Damit gehört die (ontische) Stimmung als das Existenzial (ontologische) ‚Befindlichkeit‘ zu dem, was für den Heidegger von Sein und Zeit den analytischen Ausgangspunkt sowie das „Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens“ (SuZ 436) bildet: die Existenz.4 Hier scheint die Parallele zur Literatur besonders nahe zu liegen, bildet die menschliche Existenz doch den ästhetischen Fluchtpunkt eines beträchtlichen Teiles ihrer besseren Werke. Allerdings ist bei dem Begriff Existenz Vorsicht geboten, insofern er auch trivial für alles stehen könnte, was im weitesten Umkreis von Allzu-Menschlichem auf jedes Selbstverhältnis in einer ahistorisch erscheinenden Welt bezogen wird. Nicht-trivial hingegen ist die Darstellung von menschlicher Existenz als singuläre Befindlichkeit, die durch kontextuell bestimmte Erfahrungen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit so konkretisiert ist, dass sie auf die besondere Situation einer historischen Welt hin lesbar wird. Aus philosophischem Blickwinkel wird historisch-situatives Eingebettetsein indes prinzipiell gefasst als die Offenheit zur/der Welt und ihrer Geschichtlichkeit. Existenz ist dann als ontologischer Titel terminologisch reserviert für das Sein des Daseins, aus welchem dieses sich als die Möglichkeit seiner selbst versteht, „es selbst oder nicht es selbst zu sein.“ (SuZ 12) Wenn Heidegger von diesen Möglichkeiten sagt, dass das Dasein sie „entweder selbst gewählt, oder es [...] in sie hineingeraten oder je schon darin aufgewachsen“ (SuZ 12) ist, dann scheint damit zugleich ein thematischer Brennpunkt der Weltliteratur markiert zu sein. Aber schon Heideggers anschließender Satz, nämlich dass die Existenz „in der Weise des Ergreifens oder Versäumens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden“ (SuZ 12) werde, lässt Zweifel an der Kompatibilität mit Literatur aufkommen. Denn zeigen die lyrischen, dramatischen und narrativen Explorationen der Existenz nicht eher das Gegenteil? Sind es nicht in einem immer wieder zu entdeckenden Maße oder grundsätzlichen Sinn Fremdbestimmungen, anomische Weltverhältnisse, Wirkungen der Spiegelungen im Anderen oder jedenfalls mehr ein Fremd- oder Mitsein als das dezisionistische Moment von Selbstsein, welche als existenzentscheidend literarisch zur Darstellung kommen? Hier wird vom literaturwissenschaftlichen Blickwinkel ein Problem von Sein und Zeit einsehbar. Es besteht darin, dass die analytische Strenge, die zur systematischen Entfaltung der ontologischen Differenz aufgewandt werden muss, in eine auch daseinshermeneutisch kaum haltbare und schon programmatisch nicht beabsichtigte Nähe zu Denkfiguren wie ‚reine‘ Autonomie und konstitutive Selbstbezüglichkeit 4

Vgl. zum Übergreifen der Frage der Existenz auf das Fragen selbst: „Das eigentliche Fundament der Philosophie ist das radikale existenzielle Ergreifen und die Zeitigung der Fraglichkeit“ (Heidegger 1994a, S. 35).

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hinein- oder zurückführt. Dies zeigt sich an Formulierungen wie der, dass die „Frage der Existenz [...] immer nur durch das Existieren selbst ins Reine zu bringen“ sei. (SuZ 12) Anders als in der poetisch fiktionalen wie auch in der gewöhnlich faktualen Wirklichkeit, wo die „Frage der Existenz [ – ‚nur‘ aber eben doch sachgerecht – als] eine ontische ‚Angelegenheit‘ des Daseins“ (SuZ 12) abgehandelt wird, muss in der phänomenologisch beanspruchten Wirklichkeit eigens eine „theoretische Durchsichtigkeit der ontologischen Struktur der Existenz“ (SuZ 12) erzielt werden. Dies aber heißt keineswegs, dass Kunst und mit ihr die Literatur den für die Existenz konstitutiven Struktur- oder Verweisungszusammenhang unentdeckt lassen oder übergehen müssten. Vielmehr lassen sie diesen durch die genuin ästhetische Darstellung der ontischen ‚Daseinsangelegenheiten‘ hindurch als Zeitkontext sichtbar und über die ästhetische Rezeptionsseite gewissermaßen historisch ‚nacherlebbar‘ werden. Dem entspricht phänomenologisch der Anspruch auf die prinzipielle Geschichtlichkeit des ekstatischen Daseins. Um diesen ontologisch als Existenzialität (SuZ 12) bezeichneten Zusammenhang von Daseinsstrukturen in konkreten Situationen zu erhellen, bedient sich die Literatur in vielfältiger Weise der Stimmungen. Durch deren thematische, motivische oder formpoetische Darstellung auf ontischer Ebene lassen sie aus der Offenheit der Welt und ‚wie von selbst‘, d.h. auch ohne poetologische Reflexion auf die ontologische Befindlichkeit, Tiefenstrukturen von Existenz in ihren Kontexten aufscheinen. Literatur bedarf hierzu keiner analytischen Unterscheidungen von oberflächlichem Seienden und tiefem Sein, von Dasein und Existenz, von Existenziellem und Existenzialem, Welt und Sein, sowie von Stimmung und Befindlichkeit. Vielmehr bewegt sich Literatur gewissermaßen selbst in dem Unterschied, den die ontologische Differenz theoretisch auseinander legt. Namentlich wenn sie durch das Seiende, das die Stimmung ist, dessen Sein ästhetisch darstellt, indem sie etwa die Relate Dasein und Welt als ein einziges Beziehungsgeschehen konfiguriert. In diesem verschwinden die Relate nicht einfach, sondern ihre Opposition wird zu einer Drittposition aufgehoben, die logisch noch kaum formulierbar, poetologisch seit je in spontan generativen Metaphern oder konstitutiven Bildqualitäten formiert ist. Während der philosophische Diskurs über Befindlichkeit das existenzielle Verstehen auf ein seinstheoretisches Niveau hebt, indem er es als existenziales Verstehen phänomenologisch explizit macht, artikuliert der literarische Diskurs der Stimmungen, wie sich in deren Phänomenstruktur selbst existenzielles Verstehen ästhetisch vollzieht. Und dadurch erreicht Stimmungsdichtung auf ihre Art eine poetologische Tiefenschärfe, die beim Seinsdenker „ontologische Wahrheit“ hieße. Nämlich insofern es auch poetisch um „das Seiende als solches geht“ (GdM 523; Hvh. i.O.), das hieße dann um das Sein der Stimmung. Anders als die Literatur, für welche die „Aufgabe einer existenzialen Analytik des Daseins“ (SuZ 12f.) sich nicht stellt oder die sie gleichsam en passent erledigt, vermag das fundamentalontologische Denken dieser Aufgabe nur mit hohem theoretischen Aufwand nachzukommen. Schließlich findet es doch immer wieder deren „Möglichkeit und Notwendigkeit in der ontischen Verfassung des Daseins vorgezeichnet“ (SuZ 12f.). Was seinsphilosophisch erst mithilfe des Theorems der ontologischen Differenz analytisch getrennt wird, muss postwendend phänomenologisch wieder synthetisiert werden. Denn die „existenziale Analytik ihrerseits aber ist letztlich existenziell, d.h. ontisch verwurzelt“ (SuZ 13). Mit dem zeitlich sich wandelnden Ontischen aber ist

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nicht nur die Analytik selber geschichtlich, sondern auch die Existenz und deren Stimmungen sind es. Die Analyse von Existenzstrukturen zielt zwar auf ein transzendentales Wissen von der Seinsverfassung des Daseins und damit auf eine Universalität, die bei Dilthey als ‚Natur des Menschen‘ gedacht und schon als solche mit dessen Geschichtlichkeit theoretisch letztlich unvermittelt geblieben war. Da die Transzendentalität des fundamentalontologischen Wissens sich jedoch durch ihren Bezug auf die Existenzialität der Existenz einstellt, gerät auch sie in Konflikt mit der dieser anhängigen Geschichtlichkeit. Es gibt durchaus immer Annahmen von ‚Weltlichkeit‘ oder Gegenweltlichkeit des In-der-Welt-seins, wohl auch überhistorisches In-sein betreffend, wenn man Umkehrvarianten des Außerhalb-der-Welt-seins miteinrechnet 5 , ein Überhaupt-Verstehen und generell das Dispositiv der Befindlichkeit. Nur bleiben auch sie vom prinzipiellen Wandel durch Zeit und Geschichte eben nicht unberührt. Er bestimmt den Lauf der Welt, bewirkt deren So-und-schon-wieder-anders-sein und hält die Vielheit möglicher Stimmungen irreduzibel. Nicht-unberührt-bleiben vom Existenziellen heißt für die Existenziale, dass ihre Struktur und Bedeutung sich ändern, ihre Gewichtung untereinander sich verschieben oder gar ihre Existenzialität selbst fraglich werden können. Beispielsweise mochten in Heideggers zeitgenössischem Kontext der aufkommenden Massengesellschaft der 1920er Jahre die Vereigentlichung des Daseins, die Entschlossenheit zur Existenzergreifung oder Entdinglichung des IchBewusstseins als Existenzialtheoreme überzeugend erscheinen. Heute hingegen gehen sie als solche in durchindividualisierten Arbeits- und Lebensformen, in Zeiten der Selbst-Erschöpfung, des Originalitätsstresses und der Kreativitätszwänge nicht mehr unbezweifelt durch. Existenziale unterliegen Konjunkturen und Insolvenzdrohungen in dem Maße wie ihnen in historischen Konstellationen und deren kulturellem Wandel, mithin in gesellschaftlichen und symbolischen Prozessen Funktionalität und Aufmerksamkeit zukommen: aus der Zeitlichkeit eines Existenzials zeitigt sich schließlich die Zeit als Sinn von Sein. Für die Stimmung bedeutet dies, dass sie den temporalen Verständnishorizont bildet, in dem die Befindlichkeit des Daseins sich geschichtlich konkretisiert. Zunächst aber ist sie die Zeitigung eines allererst ansetzenden Verstehens, das sich dann auch nur als befindliches vollziehen kann. Als solche ist die Stimmung die Seinsweise, in der Befindlichkeit erschlossen und damit dem Dasein der Ort seiner Existenz zugewiesen wird. So heben poetische Figurengestaltungen zumeist nicht damit an, wie eine Person in Bezug auf andere oder auf sich einen psychischen Zustand vorfindet. Es ist noch gar nichts da, dem sich schon zugewandt werden könnte. Da das Phänomen Befindlichkeit keineswegs den „Charakter eines sich erst um- und rückwendenden Erfassens“ (SuZ 136) hat und dennoch Effekte und Affekte von Selbstpräsenz von ihm ausgehen, ist es für Poetiken von großer Bedeutung. Mit Darstellungen von Befindlichkeit oder ihrer Andeutung durch Stimmungen lassen sich subtile Formen und 5

Schon damit deutet sich die Geschichtlichkeit noch bei vermeintlich unhintergehbaren Existenzialen an. So war ein Außerhalb-dieser-Welt-sein das gnostische Ideal-Existenzial, dem über zwanzig Jahrhunderte hinweg mit unterschiedlicher kultureller Durchschlagskraft ontologische Bedeutung zugemessen worden ist.

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Vorformen von Subjektivität erfassen, die eine Figur lebendig erscheinen lassen, noch bevor man etwas von ihr weiß. 6 Dieses ‚man‘ kann die Figur selbst, den Leser und sogar den Autor als Referenten haben. Unabhängig von Informationen über die personale Identität einer Figur lässt sich über phänomenologische Beschreibungen von Befindlichkeit die Existenz ‚dieser‘ Figur suggerieren. Literatur macht sich poetologisch die allgemeine, d.h. nicht spezifisch ästhetische Phänomenologie der Subjektivierung von Existenz in vielfältiger Weise zunutze. Sie bereichert dieselbe aber auch, indem sie sie künstlerisch kultiviert. Für Heidegger ist es von ontologischer Bedeutung, „daß alle immanente Reflexion nur deshalb ‚Erlebnisse‘ vorfinden kann, weil das Da in der Befindlichkeit schon erschlossen ist.“ (SuZ 136) Für Literatur – und zwar aller Gattungen und Genres – ist dies von poetologischer Bedeutung. Beispielsweise dienen narrative Rückblicke, Vorblicke und Vergegenwärtigungen nicht nur der Informationsanreicherung, Plot-Ergänzung, Charakterabrundung und allgemein der stofflichen Komplexitätssteigerung. Vielmehr stiften oder stabilisieren sie die (fiktionale) Identität ihres Subjekts (Ich-Erzähler) oder der von ihnen betroffenen Subjekte, indem dessen/deren präsubjektives Da-Sein darstellungsimplizit vorausgesetzt werden kann. Ähnliches gilt für die Suggestivität eines lyrischen Ich oder Du. Auf ‚Erlebnisse‘ kann sich nur beziehen, wer im Selbstgefühl schon ‚da‘ ist – oder in externer Reflexion: von Erlebnissen anderer kann nur die Rede sein, wenn deren Subjekte als zumindest in ihrem Dasein sich bereits erschlossene vorgestellt werden müssen. Die Frage drängt sich auf, was denn die Kunst der Stimmung sei, wenn ihr Gegenstand Befindlichkeit doch ‚immer schon‘ da ist? Es scheint trivial, die Antwort darin zu suchen, dass es eben gerade die Darstellung mit der für sie erforderlichen Subtilität und Indirektheit ihrer Formen ist. Und doch liegt im Erschaffen solcher Darstellungsformen für Stimmungen eine schwierige Herausforderung. Nehmen sie es doch mit einem Gegenstand auf, der als solcher selbst in der nicht-fiktiven Wirklichkeit gar nicht gegeben, d.h. nicht gegen-ständlich ist. In Heideggers Terminologie: das Da der Befindlichkeit ist ja kein Seiendes wie das Zuhandene, Vorhandene oder auch nur Vorgestellte. Es ist auch nicht dasjenige Seiende, das Dasein heißt, sondern nur oder vielmehr dessen Weise des Sicherschlossenseins. Und dies ist es in der ontologischen wie auch poetologischen Befindlichkeit vor aller Differenzierung in Selbst und Welt, Subjekt und Objekt oder Innen und Außen, wie sie für die Konstituierung von Gegenstand und (dessen) Erfahrung sowie von Bewusstsein und Wahrnehmung unabdingbar ist. Diese temporale und logische Vorgängigkeit der Befindlichkeit ist es, an welcher phänomenologische Beschreibungen sich abarbeiten und welche in ästhetischen Darstellungen die hohe Kunst der Stimmungserzeugung erforderlich macht. Diese besteht vorzugsweise in der Abkehr von dichotomisch strukturierenden Kategorien wie Repräsentation, Mimesis oder einer Bildlichkeit, deren Qualität sich nach Maßgabe originalgetreuen Abbildens ermisst. Stattdessen verfährt das Darstellen von Stimmung als In-derWelt-sein durch (1.) evokative Präsenzformen, die nicht bereits Bestehendes oder vorhanden Gewesenes wiedervergegenwärtigen, sondern ihren Gehalt erst aus dem 6

Wie am Beginn des Werther zu bemerken ist, der gerade eine Lebensphase hinter sich lassen möchte. Vgl. Kap. B-II.1.

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Vollzug ihrer Präsentation hervorbringen. (2.) Anstelle von Mimesis wird Expression bevorzugt, aber eine solche, die nicht Ausdruck von gegebenen Bewusstseinsinhalten ist, sondern eine Artikulation, die Stimmung aus der Materialität ihres Mediums generiert und damit sich der Poiesis nähert. (3.) Bilder und Sprachbilder schließlich bilden keine Originale ab, vielmehr bilden sie diese gewissermaßen aus einer Verdopplung, die keine ist. Herausforderungen bestehen indes nicht nur für das ästhetische Darstellen der Stimmung zwischen Welt und Existenz. Für die phänomenologische Beschreibungsarbeit kommt erschwerend hinzu, dass die ‚bloße Stimmung‘ nicht nur „das Da ursprünglicher“ als bewusstseins- und wahrnehmungskonstitutive Vorgänge erschließt: „sie verschließt“ das Da in der Befindlichkeit „auch entsprechend hartnäckiger als jedes Nicht-wahrnehmen.“ (SuZ 136; Hvh. i.O.) Mit der gleichen anscheinenden Selbstverständlichkeit, mit der das Da-sein in seiner jeweiligen Stimmung sich in affektiver Selbst-Evidenz befinden kann, so kann es auch – zumal in einer ‚Verstimmung‘ – „sich selbst gegenüber blind“ und in einer sich verschleiernden „Umwelt“ verloren sein. (SuZ 136) Mit dieser Selbstverständlichkeit gestimmter Daseinsbedingungen, die sich eben auch als Unverständlichkeit der Selbst-Welt-Verhältnisse erweisen kann, tut sich schöne Literatur weniger schwer als die phänomenologische Ontologie. Denn sie hält sich nicht nur wie diese an die Stimmungsphänomene, wie sie sind. Sondern sie braucht – anders als die Philosophie – sich nicht darüber hinaus auf eine apriorische Bestimmung des Wesens einzulassen, das den Erscheinungen zugrunde liegen soll wie in traditioneller Metaphysik transzendente Ursachen Gegebenheiten begründen. Anders als dem diskursiven reicht es dem ästhetischen Genre, die Wirkungsweisen der Stimmung zu zeigen, d.h. ohne sie als Operationsmodi von etwas anderem, etwa der Befindlichkeit, noch ontologisch zu bestimmen. Nur bei letzterem ergibt sich die Schwierigkeit, dass die Befindlichkeit grundsätzlich die Sphäre einer „gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz“ (SuZ 137) bilden können soll. Namentlich auch dann, wenn die Stimmung gar nicht gut oder eigentlich Verstimmung ist, die Welt sich entsprechend verdüstert, alles Mitdasein unangenehm ist und Existenz sich verschließt. Der Vorteil der Präreflexivität, die Ursprünglichkeit von Erschlossenheit durch Stimmung als konstitutions- und zeitlogische Vorgängigkeit gegenüber Bewusstseinsleistungen (Erkennen, Wollen usw.) mitbegründen zu können, verkehrt sich in den Nachteil der Reflexionslosigkeit. In deren abgründigem Dunkel – oder bestenfalls meditativer Leere – müsste auch solche verstimmte Befindlichkeit gleichwohl als eine „existenziale Grundart“ (SuZ 137) der Daseinserschlossenheit erklärbar sein. Und zwar „weil diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist“ (SuZ 137), d.h. der Erschließungscharakter befindlichen Daseins unabhängig von der affektiven Qualität der Stimmung funktionieren soll. Schon Heideggers erste ontologische Wesensbestimmung des Erschließens von Geworfenheit implizierte die Suggestion eines schlechten Seienden, um den existenzialen Zug zum entschlossenen Ergreifen eigentlicher Daseinsmöglichkeiten phänomenologisch begründet erscheinen lassen zu können. Mit einer ähnlichen Negativierung arbeitet auch seine zweite ontologische Charakterisierung des Wesens der Befindlichkeit, das „jeweilige Erschließen des ganzen In-der-Welt-seins“ (SuZ 137). Dabei soll die am Beispiel der reflexionslosen Verstimmung aufgezeigte „negative Abgrenzung der Befindlichkeit gegen das reflektierende Erfassen des ‚Innern‘ zu

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einer positiven Einsicht in ihren Erschließungscharakter“ führen: die Stimmung erschließt ungeachtet ihrer Affektqualität immer „In-der-Welt-sein als Ganzes“ (SuZ 137). Hier ist die Negativierung nicht auf das Seiende im Ganzen sondern auf dasjenige Seiende bezogen, das die Stimmung unter ontisch-existenziellem Aspekt darstellt, wenn sie schlechte Stimmung ist. Wiederum wird so die Notwendigkeit einer ontologischen Wesensbestimmung der Stimmung phänomenologisch mehr suggeriert als begründet. Zwar soll die Wahl negativer Beispiele von Stimmung (Verstimmung, Angst, Langeweile, Furcht) zeigen, dass sogar noch unter Wegfall der von positiver Stimmung bekannten psychologisch-konstruktiven Weltbeziehungsaspekte der ganzheitliche Erschließungscharakter intakt bleibt. Was indes unter systematischem Aspekt auf dem Spiel steht, ist die fundamentalontologische Bestimmungslogik überhaupt und damit die philosophische Strategie von Sein und Zeit. Wie wir oben bereits vermerkt haben, kennt Heidegger durchaus die heiteren, das Dasein in der Welt erhellenden Stimmungen als Möglichkeiten eigentlichen Daseins. Zum einen aber lassen diese Seiendes in allzu gutem Licht erscheinen, als dass sich phänomenologisch überzeugend von einer ‚Geworfenheit‘ in dasselbe sprechen ließe, welche dann auch noch von Befindlichkeit erschlossen werden müsste. Zum anderen droht die Erschließungskraft solch positiver Stimmungen bereits im Ontischen selbst hinlänglich genug zu sein, als dass diese noch ins Ontologische einer Befindlichkeit gewendet werden müssten, von welcher her zuerst das Ganze des In-der-Welt-seins in den Blick geriete. Um letzteres und mit ihm die existenziale Analytik als Grundlegung von Daseinshermeneutik insgesamt als philosophisches Desiderat erscheinen lassen zu können, wird die Präferenz negativen Stimmungen gegeben. In dem Maße wie sie die Welt des Seienden einschließlich des In-Seins in derselben verdunkeln, kann das existenzial aus dem ‚Nirgends auf sich zurück Geworfenwerden‘ als ontologische Ermöglichungsbedingung dafür zur Erscheinung kommen, dass das Dasein sich als Inbegriff seiner Selbstentwurfsmöglichkeiten versteht. Zur Festigung des fundamentalontologischen Grundlegungsanspruches wird die Schwierigkeit in Kauf genommen, ausgerechnet anhand der affektiv abgründigen Angst, der Gefühlsleere der Langeweile oder der in existenzielle Enge treibenden Furcht die Welt- und Selbsterschließungsfunktionen der Stimmung zu erklären. Hierzu muss – wie bei Heidegger alles psychologisch Stimmige – der Bezug vom „Gestimmtsein [...] auf Seelisches“ (SuZ 137) als nachrangig verworfen werden. Ferner werden die depressiven Fixationen dunkler Stimmungen als deren ontologische Tiefe des Zugangs zum befindlichen Da ausgegeben, die Angsterfahrung des Nichts als Stimmungsimpuls zum Sein gedeutet und insgesamt dem stuporhaften oder schweren Dass-sein gegenüber dem leichteren Wie-sich-Fühlen des Daseins prinzipiell der Vorzug gegeben. So dient die Perspektive der ontologischen Differenz weniger der Erklärung der Phänomenologie von Stimmung als der Absicherung des systematischen Anspruchs der Existenzialanalytik, innerhalb welcher ihr die Schlüsselfunktion einer vorreflexiven Initiation des Verstehens von Dasein und Sein zugeschrieben wird. Dass es dazu einer ontologischen Begründung von Stimmung als das Existenzial ‚Befindlichkeit‘ nicht bedarf, dies lässt sich aus der Funktionsvielfalt von Stimmung in der Literatur verstehen. Allerdings müssen Literaturwissenschaftler und Leser hierzu verstehen, was und wie durch Stimmungen verstanden werden kann. Ohne sich auf die Stim-

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mung als im In-der-Welt-sein schwebenden Ausgangspunkt und affektiven Vollzugsmodus des Verstehens zu verstehen, lassen sich auch die literarischen Stimmungen nicht verstehen. Deshalb ist es trotz unserer Kritik an Heideggers Ontologisierung des Stimmungsphänomens sinnvoll, an seinem Konzept der Befindlichkeit nachzuvollziehen, wie letztere überhaupt erst den Horizont für ein „Verständnis der Weltlichkeit der Welt“ (SuZ 137) eröffnet. Die damit zugleich sich eröffnende Möglichkeit der Begegnung mit Innerweltlichem schließlich kommt dem Erschließungscharakter von Stimmungen in der Literatur am nächsten. Unsere Reflexion auf die ontologische Schnittstelle zwischen Existenz und Welt verschafft der historischen Kontextualisierung, wie sie die Erforschung literarischer Stimmungen bestimmt, ihre methodologische Begründung ‚in der Sache selbst‘.

3. W ELTBERÜHRUNG

STATT

W ELTERSCHLOSSENHEIT

Bedeutsamkeit und ‚Begegnenlassen‘ im philosophischen und im literarischen Text

Welterschließung wird in Sein und Zeit als die dritte „Wesensbestimmung“ der Befindlichkeit erörtert. Durch sie wird die „vorgängige, zum In-Sein gehörige Erschlossenheit der Welt [...] mitkonstituiert“ (SuZ 137). Bereits unter dem ersten Aspekt des Erschließens der Geworfenheit, mehr noch unter dem zweiten des Erschließens ganzheitlichen In-der-Welt-seins war die Befindlichkeit durchgängig als eine ontologische Struktur anvisiert, die von sich aus offen zur Welt ist. Nun aber gerät die Welt selbst noch etwas näher in den analytischen Blick. Sie bleibt aus Heideggers existenzialem Blickwinkel indes eingebunden in die Seinsstruktur des Daseins. Somit geht es darin weiterhin nicht um Seiendes in der weltlichen Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungen, sondern um die im Sein des Daseins gründenden, phänomenologischen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Was aber der philosophisch unbeirrte Blick des Fundamentalontologen als ‚umsichtiges‘ und ‚besorgendes‘ „Begegnenlassen“ (SuZ 137) in existenzialer Hinsicht erfasst, ist für den Literaturwissenschaftler in poetologischer Hinsicht von Bedeutung. Findet er doch Stimmungen in der Literatur wenn nicht als existenzial gedachte, so doch als poetisch gestaltete Formen von ‚Begegnenlassen‘ vor, die als solche eine individualisierte und situative Weise der Weltberührung darstellen. Anstelle ihrer abstrakten Position zwischen Dasein und Sein in der Philosophie kommt die Welt in Literatur als Medium konkret zur Sprache. 7 Denn in der Literatur werden Dinge, Tiere und Menschen samt ihrer Eigenschaften nicht als Entitäten einer Welt behandelt, in deren allgemeiner Gegenständlichkeit sie als fraglos gegeben erscheinen. Vielmehr werden sie stets in einer ästhetisch formierten Perspektive als aktuelle, besondere oder jeweilig relevante ausgemacht. Literarisch interessiert ebenso wenig ihre Objektivität wie die Subjektivität ihrer Konsti7

Diese Stellung des Daseins wird seit Mitte der 1930er Jahre, insbesondere in „Der Ursprung des Kunstwerks“ (Heidegger 2003a), von der poetischen Sprache übernommen. Deren Verhältnis zur Welt wird indes nicht ohne Rückbindung der Welt ans Seins bestimmt. Vgl. dazu Gosetti-Ferencei 2012, S. 192. Siehe ferner die breit angelegte Theorie der Literatur als Medium von Jahraus 2003.

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tuierung. Es ist die durch Stimmungsdarstellungen poetisierte Befindlichkeit in der Welt, welches das aus dieser Emergierende mit einer ersten, noch vorsemantischen Bedeutung ausstattet. Unter diesem phänomenologischen Aspekt ihrer Bedeutsamkeit wird alles innerweltlich Seiende befragt und aufgebaut, kombiniert und wieder zerlegt. Das durch Stimmungen Darzustellende wird immer zurück bezogen auf jemanden oder etwas, für welchen/s es bedeutsam ist. Wenn dies nicht das Leben einer Person, die Welt für einen Menschen, ein Geschehen für eine Handlung oder gar die historische Existenz eines Daseins ist, dann ist es etwa das System einer Gesellschaft, die Kultur einer Epoche, die Zeitlichkeit des Seins. Im Fall von Selbstreferentialität ist es der symbolische Prozess des Poetischen selbst, der den bedeutsamen Bezugspunkt für das Darzustellende ausmacht. Die literarische Erzeugung von Bedeutsamkeit erfolgt als sprachliche Freilegung von Referenzstrukturen, deren formale sowie thematische Realisationen u.a. Zeitlichkeit und Endlichkeit, Sein und Dasein nicht in einen ontologischen Diskurs eingespannt und dadurch semantisch fixiert werden. Vielmehr sind letztere in Literatur vor allem als Stimmungen bedeutsam, indem sie als Komplexionen ihrer historischen Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten präsentiert werden. Für Bedeutsamkeit überhaupt konstitutive Strukturmomente wie Zeitlichkeit oder Endlichkeit sowie Sein oder Dasein kommen in der Komplexität ihrer Verwobenheit in kulturelle, gesellschaftliche und damit zeitgeschichtliche Verhältnisse zur Darstellung. Literarisch muss innerweltliches Seiendes nicht erst durch ein entsprechend gestimmtes Dasein zugänglich werden, sondern es ist bereits zugegen in einer historisch signifikanten Stimmung, welche Daseinsbefindlichkeit und Weltoffenheit ineinander verfugend ist. Der philosophische Text (von Sein und Zeit) mit seinem metaphysikkritischen Anspruch indes distanziert das Seiende erst, um es als Innerweltliches anschließend begegnen lassen zu können. Für eine solche prinzipialisierte „Angänglichkeit“ (SuZ 137) aber erscheint dann die Ontologisierung der Stimmung zur Befindlichkeit die notwendige Voraussetzung zu sein. Diese existenzial durch InSein ausgezeichnete Stimmung (Befindlichkeit) lässt schließlich das „Begegnenlassen ein primär umsichtiges, nicht lediglich noch ein Empfinden oder Anstarren“ (SuZ 137; Hvh. i.O.) sein. Hingegen hält sich der literarische Text zumeist von vornherein an innerweltlich Begegnendes. Er bewegt sich durch seine rhetorische und motivische Inszenierung von Stimmungen bereits in der ontologischen Differenz, d.h. ohne sie als solche eigens ausweisen zu müssen, um sich dadurch selber als Argumentationsdiskurs zu legitimieren. In Literatur benötigt Stimmung nicht nur keine ontologische Diskursivierung, um ‚primär‘ zu sichten, was in der Welt begegnet und wie Dasein von solchem „Zuhandenen [...] angegangen werden kann“ (SuZ 137; Hvh. i.O.). Vielmehr zeigt die literarische Stimmung anstelle des ontologischen Diskurses, was dieser als Phänomenologie der Weltlichkeit des In-Seins existenzialanalytisch erklären will: den Vollzug des Daseins als In-der-Welt-sein. Bevor das ‚Begegnenlassen‘ von Innerweltlichem überhaupt zu einem nachträglichen ‚Empfinden oder Anstarren‘ werden könnte, ist es in der Literatur bereits durch Stimmungen geschehen. Denn literarische Stimmung ist die historisch Gestalt gewordene Nähe des Nächsten, während letztere durch den philosophischen Stimmungsdiskurs erst „existenzial in den Begriff zu heben“ (SuZ 140) ist.

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In solcher allgemeinen Sichtweise des Poetologischen kann Literatur als das künstlerische Pendant zu einer Philosophie erscheinen, welche stets nach den Möglichkeitsbedingungen von Etwas fragt, das Wissen vom Seienden auf das in ihm ungelichtete Sein hinterfragt oder Wissenschaft hinsichtlich ihrer unreflektierten Voraussetzungslogik metaphysisch überdenkt. Eine solche ohnehin problematische Parallelisierung jedoch hätte zu bedenken, dass der so genannte frühe Heidegger noch nicht wie der spätere das Sein und die mit diesem beinahe synonymisierte Sprache als absolute Transzendenz denkt. Denn das Denken von Sein und Zeit scheint zwar auf eine Transzendenz von Seins-Sinn hin ausgerichtet, ist aber eigentlich ganz untranszendent, nämlich der Zeitigung immanent. Überdies ist solche Transzendenz nicht absolut, sondern relativ, wenn das Sein nicht von sich aus – und noch nicht vom ‚Sprechen der Sprache‘ – zu Lichtungen kommen kann, sondern diese nur über das existenzial erschlossene Sein des Daseins möglich sind. Heidegger sucht sich von den metaphysischen Erblasten eines vorgestellten Seienden und vergegenständlichenden Denkens durch eine neue Ontologie samt phänomenologischer Revision von Subjektivität zu entledigen. Dazu gehört das Bemühen um eine vom metaphysischen Jargon gereinigte Sprache, die freilich von dessen Strukturen noch geprägt bleibt, indem sie sich von ihnen abstößt. Erst in seiner Philosophie nach der ‚Kehre‘ denkt Heidegger die Dichtung als die Parallelaktivität einer Kunst, die ihrerseits an der Destruktion des am Ontischen ausgerichteten Diskurses der Metaphysik mit seinen Subjektzentrierungen, Bewusstseinsverdinglichungen und Präsenzfixierungen arbeitet. Und zwar indem Dichtung ihre das Ontologische bewahrheitende Sprache selber sprechen lässt, aus der sich dann jene ‚verwesentlichten‘ Stimmen vernehmen lassen sollen, die ein authentisches Dasein bis hin zur Wahrheit des Seins verlautbaren. Die poetische Sprache auf ein durch sie zu lichtendes Sein verpflichtet zu sehen, zu lesen oder zu hören, mithin Dichtung zum Organ der Verlautbarung einer Wahrheit zu erklären, die außerliterarisch allenfalls noch dem Seinsdenken selbst vorbehalten ist, – das wäre nicht nur hermeneutisch vormodern, sondern auch ganz unliterarisch gedacht. Zumal unter dem Aspekt der Stimmung – um nicht zu sagen in der poetischen ‚Lichtung‘ derselben – erscheint Literatur in ihrer historischen Formen- und Themenvielfalt gerade nicht auf etwas Bestimmtes festlegbar oder gar ontologisch(immer schon‘ auf Seinslichtungen festgelegt. Literatur mit dem Heidegger von Sein und Zeit zu lesen heißt indes, sie aufs Ganze gesehen erst einmal gegen – insbesondere den späten – Heidegger zu denken. Literarische Stimmungen sind auch mit dem Vor-der-Kehre-Heidegger nicht ohne Einschränkungen zu lesen.8 Namentlich sind sie nicht ontologisch fundamental, sondern poetologisch ästhetisch zu denken. Während der Ontologe das Ungedachte denkend bergen möchte, welches von einem dem Ontischen verfallenen Denken mitproduziert wird, entdeckt der Poetologe das Ungesagte, welches in ästhetischer Rede als das genuin Poetische hervorgebracht wird. Wo jener ein philosophisches Fundament aus 8

Eine Lektürepraxis in einer impliziten Art ‚mit Heidegger‘ scheint zu empfehlen, indem Literatur ontologisch zu fassen gesucht wird, Gumbrecht 2011, S. 12f. Ausdrücklicher nimmt Gisbertz (2009, S. 43-49) Bezug auf Heideggers Stimmungsbegriff auch unter Berücksichtigung davon abweichender, sprachmedialer Aspekte.

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der (ontologischen) Differenz zu einem als insuffizient erachteten Seienden bildet, da belässt es dieser beim Auffüllen einer literarischen Leerstelle, die sich in der ästhetischen Differenz zwischen dem sprachlich Darstellenden und dem dargestellten Seienden auftut. In seiner diskursiven Sprache vollzieht der Poetologe nach, was die poetische Sprache bislang Unsagbarem abringt und damit als Welt erschließt.9 Bei beiden aber ist es die Stimmung, durch welche Sinn, Welt und Sein überhaupt möglich sind, indem deren kategoriale bzw. existenziale Formen der Bedeutsamkeit, Weltlichkeit und Dasein in der Stimmung gründen. In deren ontologischer Denkform wie auch in deren ästhetischer Darstellungsform ist es eine jeweilige, entweder existenzial oder aber kontextuell strukturierte Befindlichkeit, welche das Dasein bzw. eine Figur in ihrer Welt offen sein und folglich von dem in dieser Begegnenden betroffen sein lässt. Auch die jeweilige Qualifizierung der begegnenden Menschen, Dinge oder Sachverhalte (undienlich, widerständig, bedrohlich), welche die „Betroffenheit“ als bestimmte spürbar macht, ist somit von der jeweiligen „Gestimmtheit der Befindlichkeit“ abhängig. (SuZ 137) Umgekehrt ist letztere in einem ursprünglichen Sinne wie auch durch leibgebundene Sinne angewiesen auf die Welt und das in ihr Begegnende, indem das inmitten der Welt befindliche Dasein zu (Be-)Rührung, Affizierung und Gestimmtwerden disponiert ist. Diese als Kehrseite der zur Weltoffenheit disponierenden Stimmung auffassbare, gestimmte Disposition nennt Heidegger die existenzial in der Befindlichkeit liegende und „erschließende Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann“ (SuZ 137f.). Für die Literatur ist dieser strukturelle Weltbezug selbstverständlich, wenn sie Figuren mittels Darstellung von Stimmungen so aufbaut, dass diese für sie zugleich das Sensorium ihrer Welt- und Selbstbeziehung bilden. Was die Existenzialanalyse hier theoretisch zu sichern versucht, nämlich die ontologische Struktur des Daseins als In-der-Welt-sein, ist für die Literatur der historische Gegenstand ihrer poetischen Rede. Diese sagt, was jene denkt. Literatur muss nicht erst etwas Abstraktes wie Existenzialität thematisieren, um dadurch Weltlichkeit als Seinsstruktur des Daseins aufzuweisen. Wenn sie Stimmungen darstellt, wird auch nicht erst ein mentales, psychisches oder affektives Selbstverhältnis gezeigt, um an diesem dann seine Weltoffenheit ablesen zu lassen. Vielmehr sind literarische Stimmungen in dem Maße und der Weise, wie sie mediale Selbstbeziehungen sind, auch schon Weltbeziehungen und umgekehrt. Die Stimmung hat den Ort ihres Geschehens hier in einem ästhetisch materialisierten Beziehungsraum von Welt und Selbst. Das qualifiziert sie zum Ansatzpunkt für historisch perspektivierte Kontextualisierungen. Heideggers Theorem der Angewiesenheit auf Welt hingegen verschiebt den Ort der Weltbeziehung in die existenziale Seinsstruktur des Daseins, um mithilfe von dessen Befindlichkeit das ontologische Fundament einzuziehen, auf welchem Weltlichkeit jeweilig gründet und der Seinszugang geschichtlich offensteht. Noch oder gerade durch die existenziale Grundierung von Welt- und Seinsoffenheit bleibt aus ästhetischem Blickwinkel der Verdacht auf eine immer noch subjektphilosophisch 9

Im Unterschied zu Heideggers Lektüren von Hölderlin, Trakl, George und Rilke wird dabei die poetische Sprache nicht noch einmal rückgebunden an eine außersprachliche Instanz wie das Sein, das später nicht zufällig in Unterwegs zur Sprache (1959) in ein immer weniger distinktes Näheverhältnis zur Sprache gerät.

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angestoßene Selbsttranszendierung ontologischen Denkens bestehen, obwohl Heidegger sich energisch gegen Missdeutungen seines Begriffs Dasein als nur ein anderes Wort für Bewusstsein verwahrt.10 Das hieße, dass möglicherweise die terminologische ‚Ersetzung‘ vor allem der Begriffe Subjekt oder Bewusstsein durch Dasein jene als metaphysisch bekämpfte Subjekt- oder Bewusstseinszentrierung des ‚vorstellenden Denkens‘ nur in eine phänomenologische Latenz verschiebt. Phänomenologisch manifest hingegen soll mit ‚Dasein‘ die existenziale Stelle markiert werden, welche als die „Ortschaft der Wahrheit des Seins erfahren und dann entsprechend gedacht werden soll“ (ebd.). So wendet sich zwar die ontologische Denkweise beharrlich gegen „theoretisches Hinsehen“, das „immer schon die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet“ hat, indem sie ihm noch in seiner reinsten Betrachtungsform die Abhängigkeit von Stimmung als einem „ruhigen Verweilen“ zuschreibt. (SuZ 138) Jedoch löst sie damit die auch für das epistemisch vergegenständlichende Denken strukturbildende Subjekt-Objekt-Beziehung nicht eindeutig zugunsten von Beziehung im theoretischen Sinn ihrer Primatstellung gegenüber deren Relaten auf. Dies aber ist unsere Absicht, um durch die so erzielte Öffnung zur historischen Kontextualität die ästhetische Kategorie der Stimmung literaturwissenschaftlich produktiv zu machen. Hingegen bleibt das Primat eines ‚Dasein‘ genannten Subjekts noch bestehen, wenn die Weltlichkeit erst ein Strukturmoment von dessen Ganzheit bilden soll, aus welcher dann die Offenheit zur Welt die Beziehung zu demjenigen gewährt wird, was in dieser als Seiendes oder bloß ‚Vorhandenes‘ begegnen mag. Die Eingliederung der Welt in die Strukturganzheit des Daseins zieht die Nachordnung des Innerweltlichen (Seienden) gegenüber dem Existenzialen (Sein) sowie von konkreter Historizität gegenüber abstrakter Geschichtlichkeit auch in Heideggers Konzept der Stimmung nach sich. Dies zeigt sich noch in dem nur anscheinend vom Ästhetischen her formulierten Satz: „Gerade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der ‚Welt‘ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist.“ (SuZ 138) Denn es ist auch hier nicht die Welt – in ästhetischer Darstellung etwa im wechselnden Licht der Tages- und Jahreszeiten –, welche die spezifische Weltlichkeit des Zuhandenen wandelt und so die Stimmungen verändert. Vielmehr ist es das ‚Sehen der Welt‘ – offenbar im steten Wandel ihr vorgängiger Stimmungen –, welches die Identität des Zuhandenen ins ‚Flackern‘ versetzt. Indem Heidegger der Stimmung die Wendung ins Ontologische gibt und dort Befindlichkeit nennt, macht er die sie im Ästhetischen ‚gleichursprünglich‘ mitbestimmenden Elemente des innerweltlich Seienden abhängig von ihrer existenzialen Erschlossenheit. Ob nun eine unstete Stimmung das alltägliche Sehen der Dinge in der Welt flackern lässt, oder eine ruhige Stimmung das theoretische Betrachten der Gegenstände der Erkenntnis ermöglicht – immer hat bei Heidegger die Weltlichkeit nicht nur des Daseins, sondern auch die der Welt ihren ontologischen Konstitutionsgrund in der existenzialen Befindlichkeit. 10 Vgl. im Kontext, „Platons Lehre von der Wahrheit [1942]“ (Heidegger 1978, S. 202-36): „Weder tritt nur das Wort ‚Dasein‘ an die Stelle des Wortes ‚Bewußtsein‘, noch tritt die ‚Dasein‘ genannte ‚Sache‘ an die Stelle dessen, was man beim Namen ‚Bewußtsein‘ vorstellt.“ (S. 202)

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Deshalb erfolgt unsere Anknüpfung an Heideggers Explizitmachen der Stimmung in Form einer Herauslösung derselben aus ihren philosophisch-ontologischen Fundamenten und ihrer Analyse im Medium der Literatur.

4. L ITERARISCHE M EDIALITÄT ‚ MACHT ‘ S TIMMUNG Auch im Raum öffentlicher Rede erhält das Phänomen einen relationalen Status im Unterschied zu Affekten und Gefühlen

In Sein und Zeit geht es ausschließlich um das Grundlegende, d.h. Ontologische. Ihm wird alles Ontische explikativ zugeordnet. Auch die existenzialanalytische Phänomenologie dient nur der Hermeneutik des Daseins und diese dem Verstehen des Sinns von Sein. Deshalb wird auch die Befindlichkeit, nachdem sie erst einmal ontologisch gesichert erscheint, nicht hinsichtlich der Vielheit ihrer Modi ausgedeutet. Hingegen nimmt es Literatur mit der phänomenalen Vielheit der Stimmungen auf und lässt deren ontologisch-existenziale Bedeutungen nur gelegentlich, namentlich aber in konkreten Durchgängen durch die ontische Weite fiktionaler Welten aufscheinen. Indes pflegt auch die Philosophie seit je her einen ontischen Umgang mit den unterschiedlichen Befindlichkeitsmodi und behandelt sie gewöhnlich „unter dem Titel der Affekte und Gefühle“ (SuZ 138). Ihre Thematisierung reicht von der griechisch-römischen Stoa, über die Theologie des Mittelalters, zur Philosophie der Neuzeit bis in die Psychologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Heidegger sieht unter ontologischem Aspekt nicht nur keinen Fortschritt in dieser Tradition, sondern kritisiert die ontische Klassifikation der Affekte und Gefühle „unter die psychischen Phänomene, als deren dritte Klasse sie meist neben Vorstellen und Wollen fungieren. Sie sinken zu Begleitphänomenen herab.“ (SuZ 139) 11 Erst mit dem Aufkommen der Phänomenologie werden die ‚Fundierungszusammenhänge‘ des Affektiven zu erhellen begonnen und auf Räume, leibliches Befinden und Atmosphären bezogen. (Vgl. Fuchs 2013, S. 19-23) Noch in der gegenwärtigen, interdisziplinär ausgerichteten Emotionsforschung spielen die alte und neue Phänomenologie12 sowie die Psychologie eine bedeutende Rolle und bilden speziell in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Stimmungsforschung wichtige theoretische Bezugspunkte.13 Da indes Heideggers phänomenologische Interpretation des Affektiven exklusiv der Ausarbeitung seiner ontologischen Problemstellung dient, meint er auf dessen ‚bloß‘ ontische Thematisierung verzichten zu können und gleich alle Psychologie und Anthropologie ignorieren zu müssen. 11 Ausführlicher geht Heidegger auf die Abgrenzung seiner Behandlung von Stimmungen in ontologischer Hinsicht von der „Psychologie und der traditionellen Auffassung“ ein und bestätigt zunächst deren „Charakteristik der Gefühle“, denn „Stimmungen sind Gefühle“, in GdM 98. 12 Siehe hierzu im Kontext der Stimmungsforschung Gessmann 2013, S. 50-56. 13 In der jüngeren Emotionsforschung siehe hierzu Vendrell Ferran 2008; ein wichtiger Text aus der älteren Phänomenologie der Stimmung ist Geiger 1911; aus der neueren Phänomenologie seien außerdem die einflussreichen Ansätze genannt von Schmitz, 1967 und 1969; Waldenfels 2000 und 2004; G. Böhme 1995, 1998 und 2013.

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Die nicht erst seit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts als Affekte und dann als Gefühle philosophisch behandelten Befindlichkeitsmodi sieht Heidegger schon bei Aristoteles nicht unter Psychologie, sondern in der Rhetorik behandelt. Diese sei „als die erste systematische Hermeneutik der Alltäglichkeit des Miteinanderseins“ (SuZ 138) aufzufassen. Von ihr her gerät die Stimmung jedoch auch außerhalb der systematischen Rahmung der Fundamentalontologie vorübergehend in den Blick. Nicht nur die existenziale Nähe der eigentlichen Seinsart des Daseins (Befindlichkeit) zeichnet sich durch Gestimmtheit aus, sondern auch die öffentliche Weite der uneigentlichen „Seinsart des Man“ (SuZ 138). Wie die medial ausgesteuerte Öffentlichkeit der Moderne so bedarf schon der rhetorisch geschulte Redner der Antike der Stimmungen. Beide wissen ihrerseits Stimmung zu ‚machen‘, insofern sie deren Entstehungsbedingungen, Lenkungsmöglichkeiten und ihre kommunikative wie auch infektiöse Funktionsweise verstanden haben: „Die Stimmung steckt an.“ (GdM 100) Hinsichtlich solcher auch interpersonaler Wirkung ergeben sich Bezüge zwischen Stimmungen und Literatur, deren ästhetische Kommunikation allerdings heute gewöhnlich nicht mehr oder erst seit neuestem auch wieder öfter in mündlicher Rede erfolgt. In schriftlich vorliegender Form sollte schöne Literatur indes sowohl um die rhetorischen Mittel der antiken Stilfiguren wissen, als auch dramatische und narrative Strategien der Stimmungserzeugung kennen. In jedem Fall aber muss sie einen realen und bereits gestimmten Leser affektiv ansprechen können, obwohl dieser nicht mit einer faktualen, sondern bloß fiktionalen Wirklichkeit konfrontiert ist. Stimmungen müssen literarisch so gestaltet sein – z.B. mit einem spürbaren Situationsprofil –, als ob sie in physischen Präsenzformen vorlägen und wahrnehmungssinnlich spürbar wären. Bis ins Diesseits kognitiver Verarbeitungsmuster und bis ins Jenseits propositionaler Aussagemöglichkeiten reichen ästhetische Appelle, wenn es der poetischen Sprache gelingt, Stimmungen textuell so zu organisieren, dass sie beim Lesen imaginativ reproduzierbar sind. Die Ergebnisse von empirischen Studien zur emotionalen Leserreaktion auf Gedichte bestätigen solche Stimmungsreproduktionen, allerdings lassen dabei die gefühlten Stimmungen sich nicht denselben Einflussfaktoren zuordnen, die für das ästhetische Gefallen verantwortlich sind. (Jacobs/Lüdtke/MeyerSickendiek 2013; vgl. Lüdtke 2013, S. 138) Bei der Textproduktion mit intendierter Versprachlichung und Wirkung von Stimmungen kann indes keineswegs von einer bereits bestehenden Stimmung ausgegangen werden, die dann poetisch transformiert würde. Zumindest wenn man bereit ist von denjenigen Stimmungen abzusehen, die ein Autor sich bei seinem möglichen Leser als ‚in diesem‘ zum Rezeptionszeitpunkt vorhandene Stimmung vorstellen mag oder ‚in sich‘ selber im Augenblick des Schreibens als nur noch auszudrückende Stimmung vorfindet. Dies war ein Problem Diltheys, dem die ‚poetischen Stimmungen‘ ins psycho-poetologisch Ununterscheidbare zu Gemütszuständen entglitten. Vielmehr kann der Autor allenfalls nur von einem ästhetischen Wissen um die Konstitution von Stimmung ausgehen, das Möglichkeiten ihrer Darstellung samt deren Wirkungspotenzial einschließt. Solches Stimmungswissen basiert auf der vorkünstlerischen Alltagserfahrung und erweitert sich in der (sprach-)künstlerischen Praxis. Es hält sich idealerweise während seiner Anwendung offen für Neuakquisitionen und Revisionen seiner Bestände, die sich aus dem poetischen Vorgang der Imagination und Gestaltung von Stimmung ergeben können. Die produktionsästhetische Situation simuliert somit Möglichkeitsbedingungen der literarischen Medialität, indem Stim-

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mungen etwa als situative Konstellation hervorgebracht und als gegenwärtig vorgestellt werden. Die daraus realisierbare Manifestierung von deren phänomenalem Gehalt im Text schließlich eröffnet einem darauf ansprechenden Leser die imaginative Vergegenwärtigung von solcherart ästhetisch medialen Stimmungen. Neben ästhetischen Gefühlen wurden diese gemäß den Modellen der Rezeptionsästhetik (Iser 1994) und der Reader Response Criticism Theory (Tompkins 1980) in der oben angesprochenen Studie (Lüdtke 2013) empirisch untersucht. Die Ergebnisse – so Lüdtke (S. 138) – zeigen, dass sich ästhetische Gefühle „am besten aus dem Zusammenspiel von [formalen] Vordergrund- und [inhaltlichen] Hintergrundelementen verstehen“ (vgl. Jacobs 2013) lassen, wie wir es in unserer 1. Definitionsstufe von Stimmung berücksichtigen (Kap. A-III.2). Die ästhetische Medialität von Stimmungen besteht dabei darin, dass diese in der Literatur als vermittelnde vermittelt werden, während ihre Phänomenalität nur fiktional präsent ist. Faktual präsent ist sie hingegen dem Redner und seinen Zuhörern gleichermaßen, indem sie den Raum zwischen diesen beiden ausfüllt – besser: überhaupt erst ein- oder erräumt und so zum Ort ihres aufeinander Bezogenseins macht. Beispielsweise ist die Stimmung im Vortragssaal, im Kirchenschiff oder im Parlamentsgebäude nicht identisch mit der vorgängig bestehenden und sich entwickelnden des Publikums, der Gemeinde oder des Parlaments. Auch nicht im abstrakten Sinne einer Summe aus den Einzelstimmungen der Zuhörer, Gläubigen oder Abgeordneten. Selbst wenn man der Stimmungsganzheit eines solchen Kollektivs Gestaltqualität zuerkennen wollte, müssten immer noch atmosphärische Faktoren wie Beleuchtung, Raumakustik und -temperatur, die Einrichtung samt ihrer Materialität und ein gewisses Man-weiß-nicht-was hinzugenommen werden. Aber auch dann wäre die Stimmung noch nicht phänomenadäquat erfasst, wenn man ihr einen beziehungsdynamischen Aspekt nicht geradewegs absprechen wollte. Freilich reicht es nicht, die vom Redner ausgehende oder ihn tragende, die um ihn herum entstehende oder ihn befangende Stimmung zu derjenigen der anderen im Vortragsraum noch zu addieren. Überflüssig hinzuzufügen, dass die Stimmung im Raum schon gar nicht mit derjenigen des Redners allein identifiziert werden kann. Vielmehr und vor allem ist die Stimmung im Raum öffentlicher Rede ihrem phänomenalen Kernbestand nach als reine Beziehung, d.h. als das Geschehen der Beziehung selbst zu fassen. Als ‚rein‘ oder über ihren Selbstbezug bestimmt ist diese Beziehung zu bezeichnen, insofern sie nicht in ihrer Funktion des In-Beziehung-setzens zweier gegebener Relate aufgeht, sondern die Relation als solche, d.h. funktionstranszendent ist. Transzendent meint hier nicht in einem raumschematisch vorgestellten Jenseits über dem funktional aufeinander Bezogenen schweben – sondern: temporal dynamisch gedacht das Beziehungsgeschehen als eigenständiges Drittes zwischen den zwei Beziehungsgliedern sein. Dieser onto-relationale Status der Stimmung ist in rhetorischen sowie literarischen Praktiken bestimmend. In der philosophischen Theorie Heideggers aber muss er unbedacht bleiben, solange Stimmung darin einseitig in die Transzendierung des Daseins auf dessen ontologisches Wesen, d.h. seine Existenz eingebunden wird. Wie wir gesehen haben ist auch das ontologische Wesen der phänomenalen Welt auf die Seite des Daseins gerückt, von der es durch die existenziale Seinsart gestimmter Befindlichkeit je schon erschlossen ist. Erst recht dem Sein selbst werden keine für Stimmung konstitutiven Momente zugeschrieben, zumindest solange es wie vor der

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Kehre noch nicht von sich her als lichtend gedacht wird. Sein wird schließlich in seinem möglichen Sinn allein von einem Dasein angesteuert, das die ontisch offene Form der Selbstbezüglichkeit des Seins ist. Dem ontologischen Interpretationsansatz von Sein und Zeit entsprechend gelangt die Stimmung nicht aus dem Erschließungszusammenhang heraus in die Welt, ohne von der existenzialen Seinsstruktur des befindlichen Daseins überformt zu sein. Eine Ausnahme lässt sich in Heideggers oben angesprochener Bezugnahme auf die Affektlehre im zweiten Buch von Aristoteles’ Rhetorik erkennen. Hier spielt er beiläufig auf die öffentliche Situation des Redners und ihre Stimmung an: „In sie [die Stimmung] hinein und aus ihr heraus spricht der Redner.“ (SuZ 138) Diese für die ästhetische Theorie von Stimmung interessante Bemerkung erfolgt bezeichnenderweise hinsichtlich der für Heidegger vernachlässigbaren Fundierungszusammenhänge bloß ontischer Stimmungen. In der rhetorischen Praxis erscheint die Stimmung nun nicht restringiert auf die ontologische Sphäre samt ihrer Gleichursprünglichkeit von Befindlichkeit, Verstehen und Rede. Zumal die Rede wird nicht mehr ausschließlich als Existenzial behandelt. Zumindest klingt es so, wenn der Redner in eine Stimmung ‚hinein spricht‘, dass diese von und in einer phänomenalen Welt mitkonstituiert ist, deren Fundamente nicht mit denen der im Sein des Daseins ‚je schon erschlossenen‘ Welt kongruieren. Wenn der Redner im selben Atemzug aus dieser Stimmung ‚heraus spricht‘, dann ist diese auch nicht allein von der Seinsbefindlichkeit zu erklären, welche die Geworfenheit des Daseins und dessen Angewiesenheit auf Welt vorstrukturiert. Vielmehr gerät durch Aristoteles’ Lehre von den Affekten (patè) als Bezugspunkt von Heideggers ontologischem Stimmungskonzept, welcher wegen seiner Inkompatibilität mit demselben unausdrücklich oder doch vage bleiben muss, die Stimmung einmal anders in den Blick. Nämlich im Sinne eines eigendynamischen Beziehungsgeschehens, wie wir es oben als rhetorisches Modell für die literarische Stimmungskommunikation angesprochen haben. Insofern die Stimmung etwas ist, in was die Rede sich ergießt und zugleich aus ihr hervorquillt, kann jene nicht vollständig von dieser erst hervorgebracht werden. So gesehen ‚braucht‘ der Redner die Stimmung. Und doch ‚macht‘ er sie auch. Insofern ist die Stimmung offenbar etwas, was seinerseits aus der Rede hervorgeht. Dem allmählichen Sichverfertigen der Rede in der Stimmung entspricht ein allmähliches Aufkommen von Stimmung beim Reden. Stimmung und Rede bedingen einander wechselseitig und sind doch mehr als das Produkt des jeweils anderen. Hinsichtlich der Existenz als Wesen des Daseins nennt Heidegger sie ontologisch gleichursprünglich. Wie die Rede, in der sich existenzial das „verfallend gestimmte Verstehen artikuliert“ (SuZ 335), so trägt auch die Stimmung den ontologischen Index des Werdens. Er weist sie zeitekstatisch einer „Zukunft und Gegenwart“ zu, welche aber ihrerseits von „Gewesenheit“ modifiziert bleiben. (SuZ 340) Als ein solches in der Zeit befindliches – Dilthey würde sagen: lebendiges – Existenzial ist die Stimmung aber nicht nur ein zeitlogisch, sondern – wie wir gesehen haben – auch ein beziehungslogisch bestimmtes Geschehen. Indem Heidegger über die Analyse der existenzialen Strukturen befindlichen Geschehens (wie Stimmung, Rede, Verstehen) seine Hermeneutik des Daseins entfaltet, um damit den Sinnhorizont der Frage nach dem Sein zu eröffnen, muss und kann er sich auf die ontologische Interpretation von dessen Phänomenalität konzentrieren. Dadurch verengt sich der Beziehungsaspekt zu einem „Zurück-

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bringen auf...“ (SuZ 340; Hvh. i.O.) und grenzt Weltbeziehungen als bloß existenzielle aus. Die mit der Seinszentrierung des Konzepts der Stimmung verbundene Beschränkung der Phänomenologie derselben auf existenziale Befindlichkeit ist für die Problematik von Sein und Zeit nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern schlüssig, da zielführend. Umso wichtiger ist es für das literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse an der Stimmung, die Funktionalität des ontologisch eingestellten Blickwinkels Heideggers nachvollziehen zu können, um letzteren nicht und erst recht nicht unbedacht zu übernehmen. Denn dadurch ließe sich die in Literatur in den Vordergrund tretende historische Vielfalt von Stimmung nicht angemessen berücksichtigen und das Phänomen selbst nicht hinreichend unter jenem dynamischen Beziehungsaspekt beobachten, der dessen Selbst- und Weltbezüglichkeit mit einschließt. Denn anders als die Seinsphilosophie, welche durchgängig auf ihre Argumentationsstringenz Acht geben muss, kann und will Literatur die ontologischen Dimensionen wie die Zeitlichkeit, Endlichkeit oder Sterblichkeit als individualisierte Erfahrungen von Bedeutsamkeit einblenden. Namentlich ohne immerfort das Seiende in seiner selbstbezüglichen Form als Dasein samt dessen Ganzheit verbürgender Sorgestruktur privilegieren zu müssen. Das im Seinsdenken pejorativ eingefärbte andere Seiende (Uneigentlichkeit, Verfallenheit, Gerede, Man, Dahinleben u.a.) kann indes im Literarischen ontisch-existenzielle Urstände feiern, weil darin die Phänomenologie des In-der-Welt-seins befreit ist von den existenzial-ontologischen Fundierungszwängen. Herausgelöst aus dem daseinszentrierten Befindlichkeitskonzept – eigentlich: gar nicht erst festgelegt auf dasselbe – zeigt sich die Stimmung im Spektrum ihrer literarischen Gestaltungsformen erst in der ganzen Breite ihres Phänomenbestands. So muss Stimmung nicht mehr allein affektiver Modus eines ursprünglichen Verstehens sein, welches das Dasein als ein sich in seiner Welt sorgend erschlossenes auszeichnet. Sie kann ebenso als atmosphärischer Modus eines sich von sich her Zeigens erscheinen, welches die Welt als eine sich in ihrem Dasein (entgegen Heideggers terminologischer Reservierung) kontingent präsentierende kennzeichnet. Die häufige Metaphorik der Tages-, Jahres- wie auch Lebenszeiten ist hierfür ein variationsreiches Beispiel; die gleichzeitig mit dem Stimmungsbegriff aufkommende Naturthematik in der Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts nur ein anderes unter vielen. Literarische Stimmungen dienen also außer der Gestaltung emotionaler, kognitiver sowie mentaler Zugänge zu Welt, Geschichte oder Natur auch dazu, letztere mit einer ‚ontischen‘ Eigenständigkeit, Auszeichnung oder Rahmung zu versehen. Stimmung ist – Heideggers konzeptionelle Differenzierung aufnehmend – nicht nur ein Existenzial (Befindlichkeit), sondern auch eine Kategorie. D. h. sie dient im poetischen Feld, das weiter ist als der philosophische Denkansatz tief zu sein hat, neben der (ontologischen) Charakterisierung des Wesens von Dasein (Existenz) noch – und zwar darstellungsästhetisch gleichwertig – der (ontischen) Charakterisierung des Erscheinens von Seiendem (Welt). Dieses wird literarisch auch nicht als bloß Zuhandenes, Vorhandenes oder Um- bzw. Innerweltliches (existenzial) dekliniert, sondern als reale Dinge, echte Menschen und historisch Weltliches (existenziell) fiktional gestaltet. Über diesen Unterschied zur Fundamentalontologie, dass Literatur auch die existenzielle Seinsweise alles möglichen in der Welt Seienden darstellt, darf indes nicht ihre Gemeinsamkeit vergessen oder verdeckt werden. Nämlich dass Stimmung litera-

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risch und seit Heidegger auch philosophisch die existenziale Seinsweise in der Welt befindlichen Daseins meinen kann. Dabei bedeutet Stimmung dessen strukturelle Offenheit zu Innerweltlichem, bildet die affektive Grundverfasstheit von historischem Erfahren ab oder umgrenzt die präsubjektive Ortschaft, von der Reflexions-, Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse ihren Ausgang nehmen. Dass die Dichtung lange vor Heidegger und vielleicht ‚immer schon‘ Stimmung mit einem solchen Theoriepotenzial zum Thema und Gestaltungsprinzip hatte, mindert nicht dessen Leistung, sie für die und in der Philosophie diskursfähig und damit theoretisch explizit entfaltet zu haben. Literatur und Philosophie rücken im Zeichen der Stimmung wieder näher zueinander. Dank der systematischen Hebung von Stimmung auf das begriffliche Niveau von Sein und Zeit kann schließlich der ansonsten auf einem zum Irrationalismus hin abschüssigen Gelände verortete Begriff wie die Stimmung für die literaturwissenschaftliche Theoriediskussion von heute wieder rehabilitiert werden. Dieses Ziel zu erreichen ist umso aufwendiger, als dass Stimmung bereits einmal von Heidegger her für die Literaturwissenschaft gleichsam mit negativen Folgen fruchtbar gemacht wurde. Dies gilt für die Verwendungsweise etwa bei Emil Staiger (31963, S. 29, 81, 103 u.ö.), worauf für die gegenwärtige Stimmungsforschung von Arburg (2012) und zuletzt Previsic (2013) hinweisen.14 Wegen des Mangels einer methodologischen Ausarbeitung des Stimmungsbegriffs ist dieser in der Nachfolge Staigers zur pseudopoetischen Kategorie eines verschwommenen Pathos des Gleichgestimmtseins verkommen. Zur nachhaltigeren Vermeidung einer konzeptuellen Verwahrlosung von Stimmung sollte deren literaturwissenschaftliche Theoretisierung den Dialog mit der Philosophie auf dem in dieser erreichten Begriffsniveau fortführen.

5. W AS IN DER P HILOSOPHIE ALS ONTOLOGISCHE S TRUKTUR REFLEKTIERT WIRD , FORMT IN DER L ITERATUR DEN G EGENSTAND ÄSTHETISCHER K ONFIGURATIONEN Bezüglich der Stimmung teilt der philosophische Diskurs mit dem literaturwissenschaftlichen nämlich die Herausforderung, etwas systematisch zu behandeln, was nicht ohne weiteres über die Sagbarkeitsgrenze sowie an Handlungs- und Affektkontrollen der Alltagsroutinen vorbei zu führen ist. Indes wurde ein sakralisierender bis ritualisierter Umgang damit traditionell in den Religionen gepflegt. Noch heute und auf verschiedenen transkulturellen Ebenen probat ist der Umgang mit dem im alltäglichen Lebensvollzug sich Entziehenden vor allem in ‚östlichen‘ Meditationspraktiken. In ihnen wird ein transzendent vorgestelltes Erhabenes als das unsagbare aber umso mehr spürbare Erhebende kultiviert. Noch allgemeiner gesagt: mit dem nonchalant raumgebenden Gestus der Spiritualität werden jenseits der Intelligibilität von Erfahrung die Dinge sowie das Dasein und deren Stimmung untereinander ganz sich

14 Siehe jedoch auch die fachgeschichtlich reflektierten Überlegungen, in denen gegenüber der Irrationalismusschelte auch an die „Vorzüge seiner Grundbegriffe“ erinnert wird, von Lamping 2013, S. 283.

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selbst überlassen. Noch deren behutsamste Besprechung verstehen die Weisen unter den Erleuchteten allenfalls als stammelnde Annäherung an eine bestenfalls kontemplativ erreichbare Wirklichkeit. Was für die mannigfaltigen Traditionen des Yoga, Zen und Taoismus gelten mag, findet sich in ähnlicher Weise auch in der religiösen Mystik christlicher Überlieferung. Vor allem wurde Meister Eckhart als geistige Bezugsgröße auch für den späten Heidegger immer wieder angeführt. Mystische Praktiken überführen das seit Aristoteles als grundlegend philosophisch bemühte Staunen in eine theologisch überformte Affektion, welche das Äußerste an Erfahrung zum innersten des Seins aufzuheben sucht. Sieht man einmal von diesen hier nur andeutbaren Traditionen zusammen mit den orphischen, neuplatonischen sowie gnostischen Nachströmungen in der europäischen Neuzeit ab15, so ist es seit der Moderne die Kunst, die mit ihrer ästhetischen Umkreisung der Topoi des Unsagbaren, Erhabenen oder Unmittelbaren an dieser gewissermaßen seit je untergehenden Kulturpraxis der Seinskontemplation weiterarbeitet. Aus den dissidenten Positionen avantgardistischer Ästhetiken der Hässlichkeit oder Symbolizität, der Expressivität oder Surrealität, später der Heterogenität, der Plötzlichkeit, der Materialität oder Dekonstruktivität (u.a.) werden immer wieder auch postmetaphysische Seinsmomente anvisiert, deren Transzendenz oft zugleich negationstheoretisch relativiert erscheint. Zumal die Literatur versucht, weiterhin den Bereich des nicht ganz, des nicht mehr oder eigentlich noch nicht Sagbaren für und durch die poetische Sprache zu erschließen. Hierzu verwendet sie seit je uneigentliche Redeformen und erweitert fortlaufend ihr strategisches Arsenal an ästhetischen Gestaltungsmitteln. In Verbindung hiermit aber ist die Darstellung phänomenaler Gehalte wie derjenigen von Stimmungen zu sehen. Für die Literaturwissenschaft besteht dabei das nie abschließend zu lösende Problem, die aus dem höchstens unterschwellig Artikulierbaren gleichsam dennoch anhebende poetische Rede in argumentative Rede zu übersetzen. Dieses Problem des durch Begriffe begreiflich machen wollen von begrifflich Ungreifbaren teilt sie mit der Philosophie. Zumindest seit und solange diese die phänomenologischen, sprachlogischen und epistemologischen Herausforderungen annimmt, Empfinden, Fühlen und Wahrnehmen als Grundlagen von Denken, Wollen und Erkennen zu erforschen. Doch die Philosophie versucht selber zu artikulieren, was sie nicht erstmals aber dezidiert reflektierend seit Hegels Phänomenologie im Bewusstsein an Gegenständlichem und Prozessualem introspektiv beobachtet, um dessen Anteile an der Konstituierung von Welt und an den Verstehensmöglichkeiten ihrer Wirklichkeit zu ermessen. Hingegen findet die Literaturwissenschaft artikulierte Formen menschlichen Erlebens in historisch überlieferten Beständen bereits vor: nämlich als Literatur. Durch ihren Bezug auf textuelle Verkörperungen vermag sie ihre Aussagen über, ihr Auslegen von oder ihre Erkenntnisse von immerhin objektbezogen zu begründen. So hat Literaturwissenschaft bessere Chancen der Gefahr zu entgehen, nur verstehen zu können, was sie selber als kulturelle (Be-)Deutungspraxis zuvor erzeugt hat. Dieses Problem fasste Dilthey in der Nachfolge Vicos nicht als Nachteil zirkulären Verste-

15 Mit deren Denken allerdings bereits der junge Goethe seit seiner Frankfurter Rekonvaleszenzzeit vertraut war. Hierzu ausführlich Zimmermann 1979.

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hens auf, sondern wollte es gar zum methodologischen Vorzug historisch verfahrender Geisteswissenschaften entwickeln. Gegenüber Diltheys psychologischen Grundlegungsversuchen mit ihrem Immanentismus eines Verstehens durch ‚Lebenskategorien‘ bietet Heideggers fundamentalontologischer Klärungsversuch den Vorzug, menschliches Dasein durch dessen allzu vertrautes In-sein, d.h. aus der Weltlichkeit seiner Welt heraus zu verstehen. So versucht Sein und Zeit den Dass-Überhaupt-Charakter von Seiendem und Welt möglichst abstrakt zu erklären (ontologisch), um sich nicht in deren ontischer Vielfältigkeit mit ihrem heterogenen Einzelnen zu verlieren. Zugleich sollte damit eine Abgrenzung von der philosophischen Tradition einer am bloß ‚vorhanden‘ Seienden orientierten Ontologie kenntlich werden. Zudem beansprucht Heidegger mit seinem Ansatz sich vom transzendental-egologischen Konzept Husserls und mit ihm vom Intellektualismus cartesianischen Typs abzusetzen, indem er noch das Denken reinen Seins an die Geschichtlichkeit des Daseins und dessen alltägliche Lebenspraxis zurückbindet. Die Geschichtlichkeit des Daseins aber sowie dessen „Bestand und Möglichkeit“ (GdM 101) manifestieren sich historisch in der Stimmung. Damit wird auch Bedeutsamkeit prinzipiell im nicht-semantischen Konstitutionsgrund der Endlichkeit fundiert, jeder Sinn kann seiner existenzial mitbedingten Möglichkeit nach nur aus der Zeitlichkeit gestiftet werden. Danach ist Sinn ein Existenzial und keine Kategorie. Er gehört zunächst zur Struktur des Daseins und mit dieser zur Welt und dann erst zur Struktur der Sprache. Das zum abstrakt Vor-gestellten distanzierte Seiende aber verliert gegenüber dem selbstbezugsfähigen Dasein an ontologischer Dignität. Die Dinge zerstreuen sich zu ‚Vorhandenem‘, die anderen Menschen verblassen in ihrem ‚Mitsein‘ wie die angeschaute Welt in ihren Konturen verschwimmt, wenn die Seinsphilosophie den Fundamentalbezug existenzialer Weltlichkeit fokussiert. Sie muss das Innerweltliche als bloß Ontisches trivialisieren, das alltägliche Ausweichen des Daseins vor seinem Authentizität garantierenden Abgrund als existenziale Verfehlung ausweisen und positiv Gegebenes als philosophisch zu kurz gegriffene ‚Zuhandenheit‘ erklären, um die Fundamentalontologie als philosophisches Unternehmen zu legitimieren. In ihm muss die Stimmung als das „ursprüngliche Wie, in dem jedes Dasein ist, wie es ist“ (GdM 101), in einer abstrakten Geschichtlichkeit formal bleiben. Hingegen kann sich die Literatur durch Darstellung von Stimmungen dem WieGenau-Charakter von Seiendem und der Welt als geschichtlich konkreter ProzessGestalt zuwenden. Auch ontologisch Verwerfliches kann poetologisch von Wert sein. Etwa können ein daseinsmäßiges Verfallen in Alltäglichkeit, das Gerede des Man oder die Neugier aus Uneigentlichkeit als Gegenstandsfeld ästhetischer Darstellungen von Bedeutung sein. Sie können sogar auch im ontologischen Sinne bedeutsam werden, freilich nicht in der literaturwissenschaftlich fragwürdigen Weise, dass dem Sein damit ein hermeneutisches Primat zukäme. Dies allerdings praktiziert der spätere Heidegger mit seinen vom George-Kreis inspirierten Deutungen von Dichtung, zumal derjenigen Hölderlins.16 Auch seine Theorie des Kunstwerks inauguriert eine 16 Zu Heideggers Denken im Verhältnis zur Literatur, zur zeitgenössischen Literaturwissenschaft und dem Einfluss von Stefan George siehe Appelhans 2002. Zum „Dichtungscharakter des Denkens“ und der Bedeutung der Räumlichkeit, wie sie sich im Heideggers Satz

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seinsphilosophische Vereinnahmung von Kunst, indem beinahe ausschließlich deren ‚Lichtungs‘-Qualitäten fokussiert werden. Dem entgegensetzt wäre das Gewinnpotenzial einer von Stimmungen ausgehenden Interpretationsweise gerade in der Offenheit für eine Sinnpluralität zu suchen, die unter anderem auch existenzielle Seinsmöglichkeiten einschließt. Zuerst ausgehend von ihrer ontischen Heterogenität ist die fiktionale Einzigartigkeit der Dinge, Menschen und Geschehnisse poetologisch von Interesse. Sie sind nicht nur in strukturellen Denkzusammenhängen der Zuhandenheit, des Mitseins oder der Bewandtnis existent, sondern poetisch gewinnen sie kraft ihres Dargestelltseins Be-deutungen aus der Disposition zum Verstandenwerden. Denn Poesie vermag den imaginativen Sog unentdeckter Möglichkeiten (in) einer anderen Wirklichkeit als Version der eigenen, nämlich ästhetischen Wirklichkeit auszulösen. Es ist zumeist eine ontisch bestimmte Situativität dargestellten Erlebens, von welcher her dann auch ontologische Momente die ästhetische Konfiguration bedeutsam vertiefen, d.h. in ihrer prozessualen Zeitstruktur transparent machen. Da im Gegensatz zum Literaturwissenschaftler der Seinsdenker aber nicht von verkörperten Sinnstrukturen ausgeht, wie sie z.B. in der materialisierten Form der Literatur vergegenwärtigt werden können, muss er das Verstehen enger an das ZuVerstehende selbst (das Sein) koppeln. Dies geschieht durch die Existenzialanalytik, die das Dasein durch Existenziale strukturiert. Zu diesen für die Beschreibung von daseinsmäßigem Seienden reservierten Kategorien zählen neben der Befindlichkeit, Zeitlichkeit und Rede auch der Sinn und das Verstehen selbst. In Heideggers Hermeneutik des Daseins ist das Verstehen des Daseins deshalb als ein genitivus subjectivus und objectivus zugleich aufzufassen. Das sich verstehende Dasein ist das zu verstehende Dasein. Dem Immanenzcharakter solchen Verstehens – wie er schon bei Dilthey hervortrat – versucht Heidegger dadurch zu entgehen, dass er das dieser Art verstandene Dasein verstehend auf ein Sein bezogen sein lässt, welches über das Sein des daseinsmäßigen Seienden hinausweist. Das über seine Existenziale strukturierte Dasein eröffnet schließlich den exklusiven Verstehenszugang zum Sinn von Sein überhaupt. Dies soll möglich sein, weil es dem daseinsmäßigen Seienden um sein Sein in einer solchen Weise „verstehenden Erschließen[s]“ geht, die es ihm erlaubt, vorsprachlichen „Sinn“ zu „artikulieren“. (SuZ 151) Heidegger spricht erstaunlicherweise auch noch von ‚Artikulieren‘, wo schon die Rede von ‚Sinn‘ außerhalb jeder formalsemantischen Halterung oder aber texthermeneutischen Konzeptualisierung kaum nachvollziehbar ist. Der Literaturwissenschaftler hat es hier vermeintlich leichter, insofern sein vom ‚Ontischen‘ her erfolgender Zugang zunächst ein Verstehen des Sinns von Sprache erforderlich macht, um anschließend aus der Textsemantik heraus zur Bedeutsamkeit ästhetisch erfahrener Befindlichkeit fortzuschreiten. Bei Heidegger wird die Zirkularität des Sichverstehens von Verstehen also entlang der existenzialanalytisch gezogenen Linie der ontologischen Differenz zu durchbrechen versucht. Denn das Verstehen wird auf der einen Seite phänomenologisch als „Grundmodus des Seins des Daseins“ (SuZ 143) interpretiert. In diesem ontologischen Sinn ist Verstehen als ursprüngliches Erschließen der Bedeutsamkeit jener Welt begriffen, von welcher das Dasein als In-der-Welt-sein strukturell unge„Aber das denkende Dichten ist in der Wahrheit die Topologie des Seyns“ ausspreche, siehe Pöggeler 1969), hier S. 331.

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schieden ist. Auf der anderen Seite wird Verstehen hermeneutisch aufgefasst und ist dann als explizites Verstehen von etwas als etwas konzipiert. In diesem ontischen Sinn eines zur Erkenntnisart ausgebildeten Verstehens wird in Sein und Zeit (§ 32) von ‚Auslegung‘ gesprochen, worauf im folgenden Abschnitt einzugehen sein wird. Hier ist zunächst das ursprüngliche und als solches auf der existenzialen Ebene der Seinsstruktur mehr geschehende als operierende Verstehen für die Entfaltung eines ästhetischen Begriffes von Stimmung von Bedeutung. Namentlich insofern dieser sowohl Aufschluss über Möglichkeiten und Arten des Verstehens (in) der Literatur geben als auch die Wissenschaft von der Literatur zu einer methodologischen Reflexion ihres Umgangs mit derselben anhalten soll. Bei Heidegger ergibt sich der Zusammenhang von Stimmung und Verstehen daraus, dass das vorgängig die Welt als existenziale Sphäre erschließende Verstehen ein im Sein und in der Zeit „immer gestimmtes“ (SuZ 142) Verstehen ist. Die ontologisch als Befindlichkeit gefasste Stimmung hat ihrerseits „je ihr Verständnis“ (SuZ 142), indem sie zuallererst existenziale Räumlichkeit erschließt, in welcher sich die Welt auf Bedeutsamkeit hin erschließen lässt. Umgekehrt hat das Verstehen je seine Stimmung, indem Da-sein als In-sein in dem Maße affektiv spürbar wird, wie die Welt – noch Dilthey würde sagen: als Lebenszusammenhang teleologisch – erschlossen ist als phänomenale Struktur menschlichen Erlebens. Heideggers Nebeneinanderordnung von Stimmung und Verstehen auf demselben Fundierungsniveau der Seinsstruktur von Dasein ist es, was für unsere konzeptuelle Entwicklung von Stimmung zu einer literaturwissenschaftlichen Kategorie den ebenso verdeckten wie zentralen Anknüpfungspunkt bildet. Dieser ist verdeckt und umständlich erst zu entdecken deshalb, weil der Stimmung in ihrer Verfugung mit Verstehen in Sein und Zeit eine systematische Funktion zukommt, welche sich mit derjenigen innerhalb unseres ästhetischen Literaturkonzepts nicht decken kann und soll. Denn in der Existenzialanalytik dient sie einer phänomenologischen Interpretation des Daseins, welche dieses als einen geschichtlichen Verstehensvollzug auszeichnet.17 Die offene Möglichkeitsbewegung von dessen entwerfendem Erschließen soll zunächst die Freiheit zum Eigentlichsein eröffnen und zuletzt die Zeit als Sinnhorizont von Sein denkbar werden lassen. Hingegen kann in der Literaturästhetik die Stimmung in ihrem Verstehenspotenzial nur entwickelt werden, wenn sie im Text auf einer referentiellen und selbstreferentiellen Ebene zugleich entdeckt wird. Alles Thematische oder Motivische der Stimmung ist in seiner textuellen Organisation verortet, das Inhaltliche durch Formen gegeben oder das Dargestellte im Wechselbezug zum Darstellenden erfahrbar. So ist die Stimmung ein Phänomen in der Literatur und kann als solches lesend beobachtet werden. Das Stimmungsphänomen selbst gelangt in Literatur in vielfältiger Weise zur Darstellung. Darunter auch so, dass das Wort Stimmung gar keine Verwendung finden muss, um dem Phänomen nach ästhetisch gegenständlich und adäquat beschreibbar zu sein. So sind in Goethes Werther die psychischen Zustände des jungen Mannes, seine Verliebtheit und sein Bangen, der Enthusiasmus und Lebensüberdruss, die Heiterkeit und Depression in Resonanzbeziehungen mit wohn- und naturräumlichen, tages- und jahreszeitlichen aber auch meteorologischen und kommunikativen Ver17 Letzteres prägte dann Gadamers Hermeneutik von Wahrheit und Methode (ders. 1990).

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hältnissen literarisiert. Dadurch kommt eine Gegenwendigkeit von Positionen wie Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, Ich und Natur, Liebender und Geliebte zur Darstellung, welche die Trennungslinien zwischen diesen Dualen zu Verbindungslinien auszeichnet, wie es für das Stimmungsphänomen kennzeichnend ist. So bedarf es zu dessen Thematisch-Werden oder Zur-Darstellung-kommen durchaus nicht notwendigerweise des Wortes Stimmung oder ihm bedeutungsverwandter Wörter wie Atmosphäre und Gemütszustand oder gar der Benennung bestimmter Empfindungs-, Affekt- oder Gefühlskomplexe. Allerdings bedarf es dazu der Darstellungsmittel, deren rhetorische, dramatische und narrative Mannigfaltigkeit noch von ihrerseits stimmungsartig schwer zu fassenden Aspekten wie Stilhaltung, Intertextualität, Intermedialität u.a. ergänzt werden. Dabei ist zumal für die Poetik der Stimmungen zu bedenken, dass sie nicht immer aus einem schon bestehenden Arsenal von Stilfiguren, Tropen oder Darstellungsformen einfach auswählen kann, wie dies etwa in der indischen Typologie theatraler und literarischer Stimmungen der Fall ist.18 Vielmehr erweitert oder verändert sich dieses in dem Maße, wie historisch neue oder auch nur als neu empfundene Stimmungen in den Erfahrungs- und dann Gegenstandsbereich einrücken oder bereits bekannte Stimmungsphänomene anders zur Sprache kommen sollen. Bemerkenswert ist zudem in ästhetikgeschichtlicher Perspektive, dass die Ablösung von normativen Regelpoetiken hin zu solchen der Wirkung und Kreativität sich in eben jenem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vollzieht, in welchem die Entwicklung der Stimmung zur ästhetischen Kategorie allmählich anhebt. Den zeitgenössisch geradezu als Medienskandal empfundenen Auftakt zur Stimmungsästhetik aber setzte Goethes Werther. In ihm werden auf der Basis darstellungspoetischer Traditionsbestände deren Verwerfung und zugleich deren Neuordnung im Zeichen der Stimmung organisiert. An dieser Stelle, wo es auf den theoretischen Zusammenhang von poetischer Stimmung und existenzialem Verstehen ankommt, gilt es nur thesenhaft festzuhalten, dass unter poetologischem Aspekt mit einer (Rück-)Wirkung des Darzustellenden auf die Mittel seiner Darstellung zu rechnen ist. Schon das Ephemere der Stimmungsqualität in der ästhetischen Zwischenräumlichkeit eines reinen Beziehungsgeschehens treibt die Darstellungsfähigkeit an den Rand ihrer Möglichkeit. Die poetische Rede entkommt immer wieder der Unmöglichkeit, etwas Unsagbares, wie es ein situatives Gefühlsganzes ist, zu sagen, indem sie anstelle von propositionalen Aussagen figurale Konstellationen formiert, diese umformiert oder mit anderen verbindet. So gelingt es besserer Literatur, auch der Stimmung trotz ihres transitorischen Charakters sprachlich beizukommen und sie aufzubauen. Der innovative Einsatz von uneigentli18 Die formalen Ausdrucksmittel von Stimmungen hießen dvani, die im Zuschauer/Leser realisierten Stimmungen heißen rasas. Das Festgelegte dieser Darstellungs- und Rezeptionsformen ist hinsichtlich ihrer Entstehung und Entwicklung für die historische Emotionsforschung interessant, solange sie nicht als ein transkulturell und überhistorisch gültiges Modell missverstanden werden. Zugleich fehlt damit aber das Moment der Offenheit von Stimmungen für die ästhetische und geschichtliche Erfahrung unter situativen Bedingungen, die unser Erkenntnisinteresse leitet. In der Forschung wurde diese tief in der indischen Kultur verwurzelte Gefühlspoetik von Oatley 2003 und daran anschließend besprochen von Kohn 2008, hier S. 131f.

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chen Redeweisen sowie der Umbau von Kommunikationsformen ermöglichen poetische Darstellungen von Stimmungswandel bis hinein in dessen eigentliche Ungreifbarkeit. Dem psychischen Phänomen entsprechend ist das literarästhetische Phänomen ‚Stimmung‘ mitunter sogar nur über rhetorische Performanz zu erklären. Etwa wenn eine existenziale Befindlichkeit durch Metaphorik und Figuren der Aussparung indirekt gezeigt oder die Stimmung durch die Lücken im ‚Textgewebe‘ dargestellt wird. Zu denken wäre beim Werther zudem an die Anordnung der Briefe, die Gedankenstriche und Ausrufungszeichen, an rhetorische Figuren wie Anakoluth, Aposiopese und Ellipse, Apostrophe, Diminutiv, Emphase und Konzinnität. Die seinsphilosophische Fragestellung, die vom Dasein als exklusivem Zugang zu dem ausgeht, was Sein eigentlich ist, wird also literarisch nicht direkt verfolgt. Sie geht in uneigentlichen Redeweisen auf, insofern sie sich eigentlich ‚sprachlich‘ nicht beantworten, aber ‚negativ‘ ästhetisch erfahren lässt. Allenfalls kann die ästhetisch objektivierte Zeiterfahrung als Freilegung der Frage nach dem Sinn von Sein verstanden werden, solange die poetische Sprache nicht in die Diskursivität der metaliterarischen Sprache überführt ist. Deshalb muss die Hermeneutik der Stimmung gewissermaßen vor sich selbst auf der Hut sein, um sich in der Auslegungspraxis nicht selbst zu widerlegen. Solange sie in einer stimmungshermeneutischen Art schwebender Aufmerksamkeit sich zu halten weiß, vermag sie rhetorische Figuren, ästhetische Abläufe und poetische Strukturen zu analysieren, welche Stimmungen als Sinnbewegungen geschichtlicher Faktizität aufscheinen lassen. Dies ist umso weniger eines sprachmystischen Gestus verdächtig, je mehr man sich klarmacht, dass die diskursive Sprache darauf aus sein muss, das Moment der Zeitlichkeit, das sie im Fall der Interpretation von poetischer Stimmung darzustellen hätte, aus ihrem eigenen Darstellungsmodus gerade ausschalten muss. Namentlich zwecks stabiler Nachvollziehbarkeit in der Zeit. Andernfalls würde die diskursive ihrerseits zur ästhetischen Rede. Versucht diese doch das temporalisierende Moment so zu figurieren, dass propositionale Gehalte in Sprachformen einrücken, welche sie zur Selbstauflösung ins Ungehaltene der Zeit selbst drängen. Ästhetiktheoretisch aber geht es nicht allein um den Flüchtigkeitscharakter bestimmter Stimmungen und die sich diesem anschmiegende sprachliche Beweglichkeit der poetischen Diktion. Vielmehr geht es darum, das Problem der ästhetischen Objektivierung von Stimmung mit demjenigen ihrer theoretischen Objektivierung zusammen zu denken. Wie allgemein der Übersetzbarkeit von ästhetischer in diskursive Rede Grenzen gesetzt sind, so ist auch eine Theorie von Stimmung nie vollständig objektivierbar. Theorieversuche über ästhetische Stimmung dennoch anzustellen, ist deswegen aber nicht zwecklos. Versprechen sie doch gerade indem sie sich auf der Grenze ihres eigenen Möglichseins bewegen, mit der Erkundung von dessen Bedingungen zugleich die Bedingungsmöglichkeiten von Verstehen überhaupt zu erkunden. Denn mit der Theoretisierung von Stimmung wird etwas zum Gegenstand des Verstehens gemacht, was selbst Modellcharakter für Verstehen besitzt. Vorausgesetzt Verstehen wird nicht methodologisch restriktiv als Erkenntnisverfahren gefasst, sondern als strukturell offener Prozess des Sich-zur-Realität-Verhaltens. Jenseits des Ästhetischen wird dieser Übergang des Verstehens von – historisch vor allem in den Medien Schrift und Bild – vorgegebenem Sinn hin zum „Verstehen

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als praktische Orientierungsleistung“ als „pragmatische Wende“ der Hermeneutik bezeichnet und mit den Namen Diltheys und Heideggers verknüpft. 19 Im Ästhetischen wird die Übergängigkeit von verstehendem Verhalten und phänomenologischer Wahrnehmung anhand dichter Beschreibungen oder Inszenierungen von Stimmung dargestellt. Stimmung wird z.B. im Fall Werthers zum Medium eines zwischen Euphorie und Einsamkeit umstürzenden Selbst-Welt-Verhältnisses. Ihre Konfigurationen als relationales Gefühl bringen die Raum-Bewegtheit und Zeitlichkeit eines weltoffenen In-seins zur Darstellung, das seine Endlichkeit in der Liebe als Bedeutsamkeit erfährt.

19 Hierzu mit systematischer Klarheit und historischer Übersicht Jung 2001, hier S. 71.

III. Poetologische Theoretisierung der Stimmung und die methodische Ausrichtung des Begriffes

1. V ERSTEHENDE S TIMMUNG UND

GESTIMMTES

V ERSTEHEN

Ein phänomenologisches Beziehungsverhältnis und sein kognitiv-mediales Eigenleben im Ästhetischen

Aus unserer ‚Vorhabe‘ heraus sind die beiden Namen Dilthey und Heidegger zunächst mit einer philosophischen Verwendung von ‚Stimmung‘ verbunden. Wurde Stimmung bei Dilthey noch in einer epistemologisch ebenso ‚untersten‘ wie unklaren ‚Schicht‘ des Verstehens positioniert, so wird sie bei Heidegger systematisch klar in die Hermeneutik des Daseins samt dessen exklusivem Seinsverständnis eingegliedert. In ihrer ontologischen Grundschicht ist die Stimmung das Existenzial, welches das mit ihr gleichursprüngliche Existenzial des Verstehens auf einer vorprädikativen Stufe struktureller Weltorientierung ansiedelt. Dort ist Verstehen nicht mehr etwa das Resultat eines verfahrenslogisch gesicherten Textverständnisses, sondern wird zum Fundament allen Seinsverständnisses verallgemeinert. Seinsverständnis resultiert nämlich aus derjenigen Seinsweise menschlichen Daseins, welche gestimmte Befindlichkeit ist und das gestimmte In-der-Welt-sein selbst zum Nabel allen Verstehens bestimmt. Diltheys weltanschauungstheoretisch vage Tieflegung der Stimmung als Lebens- oder Grundstimmung findet also in Heideggers existenzial-ontologischer Grundlegung der Stimmung als (Grund-)Befindlichkeit ihren systematischen Abschluss. Mit demselben phänomenologischen Schritt einher geht die daseinshermeneutische Fundamentalisierung des Verstehens zum „Grundmodus des Seins des Daseins“ (SuZ 143). Mit Heidegger ist also nicht erst die theoretische Betrachtung von Dasein, sondern auch der Vollzug von Dasein selbst als Verstehen aufzufassen. In solchem verstehenden Daseinsvollzug ist die Differenz zwischen einem Subjekt des Verstehens und dessen Objekt weitestgehend aufgehoben. Der dabei erzielte Gewinn an Performanzqualität des Verstehens wird freilich mit einem Defizit an Objektivierbarkeit des Verstandenen bezahlt. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der dem existenzialen Verstehen zugeschriebenen Geschichtlichkeit, insofern damit ein diesseits historischer Erkenntnis ablaufendes Geschehen gemeint ist, dem überhistorische Bedeutsamkeit zugemessen wird. Indem Heideggers daseinshermeneutische Phänomenologie die

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metaphysische Voraussetzungslogik neuzeitlicher Rationalität destruiert, werden Einsichten in die ontologischen Fundamente des Denkens ermöglicht. Jedoch verzichtet sie damit auf die diskreten Ergebnisse historischen Verstehens. Dies macht sie problematisch für jede wissenschaftliche Hermeneutik. Deshalb nehmen wir Heideggers metaphysikkritischen Impuls zwar auf, indem wir der Stimmung als ästhetischem Wahrnehmungsmedium das theoretische Primat gegenüber reflexiven Bewusstseinsleistungen zuerkennen. Zugleich machen wir aber eben diese Stimmungen zum Gegenstand einer Untersuchungspraxis, die auf die historische Erkenntnis der mit ihnen verbundenen Momente ästhetischen Verstehens zielt. Entsprechend ist ein selbstbezügliches Moment für unsere literaturwissenschaftliche Theorie der Stimmung zu vermerken. Nicht nur zielt die theoretische Betrachtung von literarischer Stimmung auf ein Verstehen derselben ab, sondern Stimmungen können im Medium der Kunst als eine Vollzugsform von Verstehen verstanden werden. Beispielsweise können Stimmungen in der Literatur dazu dienen, Menschen zu zeigen, die ihren Lebensweg entlang einer Verkettung von Stimmungsmotiven finden oder verfehlen, ihre Lebenswelt und Mitmenschen nicht erst durch Reflexion, durch analytisches Denken oder sprachlich realisierte Kommunikation, sondern durch Stimmungen hindurch verstehen. Dabei können Stimmungen als solche der Lebenswelt wie als solche des Gemütszustandes oder aber als eine Beziehung zwischen diesen erfahren werden, welche dem Subjekt solcher Erfahrung neue Gefühlsmöglichkeiten des Seins erschließt. Z.B. kann Lotte auf dem Ball beim Grenzübertritt zur Intimität den Namen ‚Klopstock‘ wie ein Schibboleth nennen, das die sommerliche Gewitterstimmung zum Medium sprachlosen Verstehens macht und Werther in die fatale Passion seiner unmöglichen Liebe initiiert. Außer dem Leiden an der Liebe oder den Glücksversprechen derselben, der Bangigkeit sowie der Seligkeit gibt es zahllose Möglichkeiten in der Literatur, auf die hin Figuren, Handlungen oder Settings entworfen werden. Dass bestimmte Möglichkeiten an der Wirklichkeit oder der Kontingenz des Anderskommens womöglich scheitern oder von vornherein als Unmöglichkeiten absehbar waren, ändert nichts am ursprünglichen Möglichkeitscharakter selbst. Einen solchen entwirft Literatur als denjenigen der Entwicklung eines Geschehens, einer Konstellation oder eines Menschen. Diese narrative oder dramatische Entfaltung von situativ gestimmtem Verstehen auf ebenso bloße wie unbegrenzte Möglichkeiten hin, wird in § 31 (‚Das Da-sein als Verstehen‘) von Sein und Zeit – ohne literarischen Bezug – als phänomenologischer und existenzialer Entwurfscharakter des Verstehens analysiert. Dieser zeichnet ein sich stets in seiner Grundverfassung erschließendes Dasein als ein geworfenes Inder-Welt-sein aus, das sein faktisches Seinkönnen im Sich-Entwerfen auf Bedeutsamkeit hin erfüllt. Zeit seines Lebens versteht sich menschliches Dasein aus Möglichkeiten zu sein. Existenzial entscheidend dabei ist gerade nicht das thematische Erfassen von Möglichkeiten, also etwa konkrete biographische Selbstentwürfe, sondern das Möglichsein des Entwerfens von Möglichkeiten als Vollzugsform gestimmten Verstehens: „Das Verstehen ist, als Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist.“ (SuZ 145) Solches abstraktes Sein zu Möglichkeiten der phänomenologischen Philosophie aber liegt in konkreten Darstellungsformen der Modernisierung der deutschsprachigen Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zugrunde. Dort bereits werden poetisch implizit die Existenziale des

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Entwurfs, der Möglichkeit und des Verstehens durch die ästhetische Auffächerung von Stimmung hindurch literarisiert. Bei Goethe etwa ließe sich dies in der frühen Lyrik und Dramatik mit ihrem bis dahin unerhörten Ton ebenso zeigen wie am Wilhelm Meister. Dessen Poetik kann als eine der Stimmung interpretiert werden, in welcher sich ein schmerzlicher Prozess des Selbstverstehens vollzieht: Wilhelms anfangs durch gegebene Vor- und Selbstbilder hindurch entworfenen Möglichkeiten seines Lebens werden durch dessen Verlauf schließlich auf existenziale ‚Turm‘-Einsichten in die bloße „Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen“ (SuZ 144) zurückgezwungen. Das mit existenzialer Stimmung durchwirkte Motiv der Entsagung verweist auf Wilhelms Revision seiner Möglichkeitsbestände und Selbstentwurfspraxis während der Lehrjahre. An deren Ende hat er gelernt, dass das Leben nicht im Erfüllen einmal gefasster Zukunftspläne besteht, sondern sich im Entwerfen als Vollzug von Möglichsein bewegt, worauf bereits der Titel der Wanderjahre verweist. Danach stünde das bekanntlich mit Goethes Meister anhebende Genre des Bildungsromans bereits im Zeichen des existenzialen Mottos „werde, was du bist!“, bevor es rund einhundert Jahre später bei Nietzsche lebensphilosophisch ausgegeben, und wohl von dort her bei Heidegger zitiert wird (SuZ 145). Während wir dies in einem Folgeband näher beleuchten werden, wollen wir uns in vorliegender Untersuchung auf den Beginn literarischer Stimmung im Werther, Hartknopf und bei Tieck konzentrieren. Der mit dem Paradoxalen spielende ontologische Imperativ existenzialen Möglichseins („werde, was du bist!“) formuliert in eins mit dem Entwurfsmoment des Verstehens (‚werde!‘) die Daseinsfaktizität der Befindlichkeit (‚was du bist‘). Die Literatur, wie wir sie mit Bezug und zugleich im Unterschied zur Daseinsphilosophie auffassen, scheut indes die Welt des Seienden nicht zugunsten einer universalen Bestimmung von Existenz, sondern nutzt jene extensiv zur besondernden Darstellung der letzteren. Was Philosophie im existenzial-ontologischen Imperativ formalisiert, dekliniert Literatur in existenziell-ontische Möglichkeiten. Deren Entwürfe erfolgen immer auch durch die poetische Vielfalt von Stimmungen, wie das Dasein in der „Weise der Gestimmtheit Möglichkeiten [ ‚sieht‘], aus denen her es ist.“ (SuZ 148) Für eine literaturbezogene Theorie von Stimmung ist Heideggers systematische Verbindung von Stimmung mit Verstehen fruchtbar zu machen, insofern dadurch die kognitive Funktion von Stimmung auch in der Literatur deutlicher werden könnte. Indem gestimmte Befindlichkeit und gestimmtes Verstehen in der existenzialen Struktur des Daseins verankert werden, wird dieses vor seiner in Wissenschaft und Philosophie ansonsten gewöhnlichen Vergegenständlichung auf einem mit Dingen und Sachverhalten gemeinsamen Feld der Episteme bewahrt. Phänomenologisch als Existenzialien im ontologischen Fundament von Dasein verortet, sind Befindlichkeit qua Stimmung und Verstehen qua Möglichkeitsentwurf ihrerseits von dem Hinterschreiten der Dualität betroffen, welche das vergegenständlichende Denken kennzeichnet. Zum einen ist Verstehen von Existenz strukturell zugleich Verstehen von Welt und damit das kognitive Milieu, in welchem es getragen von Stimmung die basale Daseinsverfassung des In-der-Welt-seins erschließt. Wo in der Literatur Verstehensprozesse im Gefühl dargestellt sind oder sich durch Literatur vollziehen, da sind sie zumeist entlang einer solchen phänomenologischen Vermittlungslinie zwischen Selbst und Welt organisiert, welche anstelle einer epistemologischen Grenze zwischen denselben nachzuvollziehen ist. Entsprechend wird in ästhetischen Konfigura-

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tionen von Verstehen auch nichts an Bedeutungen festgestellt, sondern Bedeutsamkeit aus der poetisch aufgerufenen Entwurfsbewegung hin auf Seinsmöglichkeiten erschlossen. Zum anderen ist die Stimmung von Existenz zugleich die Stimmung von Weltlichkeit und damit das affektive Milieu, in welchem solche Verstehensprozesse ablaufen und das Erschließen auch von historischer Bedeutsamkeit seinen Ursprung hat. Nur aus einer irgendwie gestimmten Befindlichkeit heraus kommt eine bestimmte Wirklichkeit der Welt zur Erscheinung und mit ihr ergeben sich erst jene Möglichkeiten des Selbstentwurfs innerhalb des Weltkontexts. Zurückgenommen in die holistische Struktur des existenzial-ontologischen Fundierungszusammenhangs aber ist die Stimmung keine psychische, sondern eine beziehungsdynamische Befindlichkeit. Als solche entgeht die Stimmung bei Heidegger ihrem mentalistischen Missverständnis, wie es noch Dilthey im methodologischen Zusammenhang seines psychologischen Grundlegungsversuches der historischen Geisteswissenschaften unterläuft. Selbstverständlich kennt die Literatur neben Empfindungen, Affekten und Gefühlen auch Stimmungen als psychische Phänomene, wenn es eben um die Darstellung mentaler Zustände geht. Oft genug geht es jedoch gerade nicht nur um letztere, wenn Stimmungen poetisch erzeugt und zum Strukturmoment von Texten wie Werther oder Hartknopf werden. Wo sie nämlich in einem ästhetischen Reflexionszusammenhang auftauchen oder einen solchen herstellen, verselbständigen sie sich zumeist zu einer Wechselbeziehung innerhalb des Selbst-Welt-Verhältnisses. Dieses erscheint dadurch nicht mehr als oppositive Zweiheit, wie sie das erkennntistheoretische Dual von Subjekt/Objekt kennzeichnet, sondern als strukturale Einheit, wie sie das existenzial-ontologische Fundament von Heideggers ‚Dasein‘ auszeichnet. Als „geworfene Möglichkeit“ (SuZ 144) und sich zugleich auf Seinsmöglichkeiten entwerfendes Dasein bildet dieses In-der-Welt-sein des Menschen ein anti-dualistisches Modell von Verstehen, das dem ästhetischen Darstellen von Stimmung in der Literatur nachgebildet sein könnte. Bekanntlich nähert Heidegger erst nach Sein und Zeit, insbesondere im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Hölderlin die Philosophie der dann emphatisch Dichtung genannten Literatur an.1 Und nur allmählich ordnet er sein dann emphatisch Denken genanntes Philosophieren der Dichtung unter, was die Möglichkeiten authentischen Sprechens aus der ‚Lichtung‘ des Seins angeht. Dadurch aber wird umgekehrt die Dichtung auf ihre Funktion der Artikulation von Sein verpflichtet. Indem Heidegger zuletzt die poetische Sprache der diskursiven Sprache ontologisch überordnet, erklärt er Literatur zum Organ der Philosophie: der ‚kommende Gott‘2 in der Gestaltlosigkeit des Seins kündigt sich ihm schließlich in der lyrischen Rede eines Hölderlin, Rilke oder George an. Noch ohne die Inanspruchnahme dieser Dichter für die seinsphilosophische Sache und also lange vor der freundlichen Übernahme von Poetologie durch Ontologie weist etwas auf diese Entwicklung – oder doch auf deren Möglichkeit – bereits in der Daseinshermeneutik voraus. Es handelt sich dabei um die auch für unsere Stimmungstheorie wichtige, bei ihr jedoch mit ästhetischem Vorzeichen versehene Konstellation von gestimmter Befindlichkeit und erschließendem Verstehen. Als gleichursprüngliche Existenziale halten sie in Sein und Zeit das jeweils an1 2

Heidegger 1992; siehe dazu Gosetti-Ferencei 2004. Siehe ausführlich zur Bedeutung dieses Motivs über Heidegger hinaus Frank 1982.

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dere in seiner ontologischen Funktion intakt, die im Komplettieren des phänomenologischen Strukturganzen des Daseins besteht. Vor seiner Rationalisierung zu einem Verfahren epistemischer Objektivierung (etwas-als-etwas verstehen) befindet das Verstehen sich in der Sphäre der Stimmung, in der es bloßes „Sein als Existieren“ (SuZ 143) sein kann. Umgekehrt ist die Stimmung vor ihrer Auseinanderfaltung in psychische und physikalische Phänomenbereiche, also noch vor jeder Binarität von Innen und Außen, inmitten der Erschlossenheit eines Verstehens, in der sie das „volle In-der-Welt-sein“ (SuZ 143) spürt. Der Verstehenscharakter der Stimmung und der Stimmungscharakter des Verstehens sind in ihrer gegenwendigen Komplementarität Bestandteil von anspruchsvoller Literatur. Diese stellt gewöhnlich kein Registrieren von Fakten einer vom Wahrnehmungssubjekt unabhängigen Realität dar, um ihr entsprechende Affektbildungen und deren Weiterverarbeitung zu Gefühlen anschließend zu zeigen. Vielmehr sind Stimmungen in der Literatur bereits vollzogene, affektgeleitete Primärdeutungen des Realen und weisen Fakten als interpretatorisch gemachte aus. Die jeweilige Bedeutsamkeit der dargestellten Welt, in der das Leben einer Figur sich vollzieht, wird als eine durch deren Befindlichkeit mit hervorgebrachte Bedeutsamkeit vergegenwärtigt. So wird deutlich, wie menschliches Dasein seine Welt von vornherein unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für es selbst überhaupt wahrnimmt, also vorgängig nach Relevanz selektiert, deutet, versteht und dem ent- oder widersprechend fühlt, denkt und handelt. Dinge oder Sachverhalte in der fiktiven Realität werden oft als durch Stimmungen hindurch intendierte Gegenstände bzw. erzeugte Fakten sichtbar gemacht. Damit leisten Stimmungen mehr und sind etwas Anderes als (nur) Emotionen. Werden letztere doch in im kognitions-und neuropsychologischen Sinne als Reaktionsmuster auf situative Gefahren oder Entlastungen, Zumutungen oder Begünstigungen schematisiert.3 Erst die über Emotionen hinausgehenden Gefühle und insbesondere Stimmungen machen die Literatur- als Mentalitätsgeschichte lesbar, in der sich der historische Wandel dessen abzeichnet, was als ‚Welt‘ entworfen und verstanden wird. Literarisch kommt Stimmung also nicht nur als emotionale oder affektive sondern auch als produktive Form des Selbst-Welt-Verhältnisses zur Darstellung. Als solche überformt die Stimmung die Innen-Außen-Dualität zu einer Einheit der Wahrnehmung. In deren beziehungsdynamischer Binnenstruktur fließen Empfindungen und Gefühle mit Naturdingen und Artefakten sowie Denken und Wollen mit Gegenständen und Sachverhalten zusammen. Dabei tangieren und tingieren sich diese, erhellen oder verdunkeln einander. Während die Konstellation Stimmung/Verstehen seit Sein und Zeit in eine Daseinshermeneutik eingebettet ist und später als ein Schlüsselmoment der Seinsgeschichte gedacht wird, bleibt sie in der Literatur – ohne diese ontologische Einbettung – auf das Phänomenale jener geworfen-entwerfenden Befindlichkeit bezogen. Deren vorsystematischer Ganzheitsbezug kommt durch literarästhetische Darstellungen in seinem Doppelcharakter des Entdeckens und Verdeckens, des Erschließens und Verschließens, des Erhellens oder Verdunkelns zur Erscheinung. Auch in der Literatur zeigt sich die Grundgestimmtheit noch im Verbergen von Erschließungsmöglichkeiten als ein ursprüngliches, prinzipiell in den Lebensbezügen eingebettetes Verstehen, dem es um verallgemeinerbare Bezüge zu stets noch zu Ent3

Siehe etwa dazu etwa ein Standardwerk der Emotionsforschung Frijda 1986.

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deckendem geht. Insofern Stimmungen in der Literatur situatives Eingebettetsein von Verstehen darstellen, bilden sie eine Fundgrube historischer Forschung. In beiden, in Philosophie und Literatur, ist die Stimmung das Medium, durch welches Welt und Sein, konkreter: Beziehungen zu Menschen, Tieren, Räumen (v)ermittelt sowie Erkenntnisfelder, Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensoptionen (v)erschlossen werden. So ist Stimmung zunächst das Medium von Wahrnehmungen, die aufgrund ihres affektiv etablierten Selbstbezuges die Dinge und Sachverhalte der Welt als Gegenstände erkennen, die durch Intentionalität mitbestimmt sind. Stimmungen verstehen es also, dem philosophisch reflektierten – und dadurch als Allgemeines gesetzten – Dasein wie auch dem literarisch gestalteten – und dadurch als Besonderes dargestellten – Dasein ihr In-der-Welt-sein zu verstehen zu geben als etwas, das reine Beziehung des Verstehens ist. ‚Rein‘ deshalb, weil diese das Selbst-Welt-Verhältnis grundierende Verstehensbeziehung nicht von einem seiner Relate (Selbst oder Welt) oder beiden konstituiert oder auch nur gesteuert ist. Vielmehr ist die als ästhetisches Beziehungsphänomen verstandene Stimmung das Medium eines Verstehens, das in der Nische zwischen Subjekt und Objekt eine Art kognitives Eigenleben führt. Dieses kognitiv-mediale Eigenleben der Stimmung macht sie erst aufschlussreich für die Bestimmungsversuche hinsichtlich der physikalischen und psychischen Anteile der Welt, für dingliche, räumliche und zeitliche Phänomenstrukturen einerseits, sowie für mentale, emotionale und affektive Phänomenstrukturen andererseits. Es ist dieses unterhalb der Schwelle zum vollen Bewusstsein sich vollziehende und außerhalb desselben angefangene Vermittlungsgeschehen zwischen Welt und Selbst, das in seiner Eigendynamik das Phänomen ausmacht, welches seit Ende des 18. Jahrhunderts einen bevorzugten Gegenstand der Literatur bildet. Dieses schon bei Goethe auch theoretisch als Unaussprechliches adressierte Kunstphänomen (vgl. Wellbery 2003) wird sowohl mit wie auch ohne den Gebrauch des Wortes ‚Stimmung‘ in inhaltlich und formal vielfältiger Weise von literarischen Texten zur Darstellung gebracht oder scheinbar nur beiläufig ästhetisch konfiguriert. Was in dieser phänomenalen Hinsicht auf der literarischen Ebene als Gegenstand der Darstellung durch die poetische Sprache aufzufassen ist, bildet die erste (I.) Stufe unserer Definition von Stimmung. Auf ihr erfolgt die noch vorbegrifflichsondierende Identifikation von Stimmung in der Vielheit ihrer ästhetischen Präsenzformen. Die zweite (II.) Stufe der Definition wird durch die theoretische Reflexion jener auf Stufe I zu beobachtenden, zu identifizierenden und analysierenden Phänomene gebildet. Hier werden diese durch Differenzierung nach Funktionen, Medien und Gattungsformen zu ästhetischen Begriffen von Stimmung. Stufe II bezeichnet somit dasjenige, was auf literaturwissenschaftlicher Ebene zur Bildung des Begriffes Stimmung beigesteuert wird, um ihn als poetologische Kategorie und Analyseinstrument fassen und für die historische Kontextualisierung nutzen zu können. Die dritte (III.) Stufe der Definition von Stimmung wird durch eine methodologische Überformung der beiden vorangegangenen Definitionsstufen erreicht. Die dort erfassten Ebenen der Phänomene und ihrer poetischen Darstellung (Stufe I) sowie der Ebene der ästhetischen Erklärung nach Funktion, Medium und Gattungsform durch begriffliche Reflexion (Stufe II) werden schließlich zu einem medientheoretischen Konzept integriert, das dann in die jeweilige Perspektive historischer Untersuchungen eingepasst wird. Dadurch formiert sich die Stimmung zu einem literaturwissen-

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schaftlichen Begriff. Bevor diese beiden Definitionsstufen (II. und III.) in den beiden folgenden Kapitelabschnitten entwickelt und jeweils an deren Ende formuliert werden, blicken wir zusammenfassend zurück und wenden uns somit der ersten Stufe zu.

2. D EFINITION VON S TIMMUNG : S TUFE I – DIE ÄSTHETISCH - PHÄNOMENALE S TIMMUNG Stimmung ist als ästhetisch-phänomenale Stimmung auf der Werkebene angesiedelt, wo sie dem materialen Medium, der literarischen Gattung sowie der historischen Konstellation entsprechend unterschiedliche Gestalten annimmt Hier ist sie ein polyvalenter, polymorpher, mitunter amorpher ‚Gegenstand‘ künstlerischer Darstellungen und als solcher ein konstitutiver Teil von Literatur. Dieser Darstellungsgegenstand ‚Stimmung‘ wird einerseits unter inhaltlichem Aspekt, also im Hinblick auf das Dargestellte aufgefasst; andererseits unter formalem Aspekt, also mit Rücksicht auf das Darstellende. Ohne die Voraussetzung eines strukturellen Ineinandergreifens von phänomenbezogenem Inhaltsaspekt und materialgebundenem Formaspekts gäbe es den definierbaren Darstellungsgegenstand der ästhetischen Stimmung nicht. Erläuterung: Die analytische Unterscheidung zwischen dem (inhaltlich) dargestellten Phänomenalen und dem es (formal) darstellenden Medium ist eine literatur-, musik- bzw. kunstwissenschaftliche Verfahrensroutine. Sie ist bezüglich der Stimmungsdefinition allein aus heuristischen Gründen gerechtfertigt, aber auch geboten, obwohl die ästhetische Erfahrung im Rezeptionsvollzug (siehe Stufe II) gerade aufgrund der ästhetischen Nicht-Trennung von Phänomengehalt und Erscheinungsweise erfolgt. 4 Der schon sachlich bedingt verschwommene, da das ineinander Verschwimmende zu erfassen suchende Stimmungsbegriff kann jedoch zu dem Zweck einer methodisch-praktischen Bestimmung innerhalb von Ästhetik besser über eine vorläufige Differenzierung der Betrachtungsperspektiven erfolgen; zumal sowohl im Inhaltlichen als auch im Formalen eine historisch heterogene Mannigfaltigkeit von Stimmungsdarstellungen zu erwarten ist. Da sind zum einen die mehr oder weniger konventionellen Ensembles der Thematisierung (z.B. Gemütszustände, Raum- und Zeitbeziehungen, Liebe, Ehebruch, Natur, Milieu, Wetter, Sehnsüchte), der Topoiverwendung (z.B. Weltharmonie, Buch der Natur, catena aurea, Lebensreise, Hadesfahrt, Paradies/Garten, Makrokosmos/ Mikrokosmos) und der Motivgestaltung (Enge, Weite, Schweben, Sonnenaufgang/ Sonnenuntergang, Mond, Musik, Nacht, Landschaft, Herz, Wärme, Kälte usw.). Hierbei ist die inhaltliche Stimmungsdarstellung insbesondere am Vollzugscharakter des Lebens ausgerichtet und fokussiert in diesem erfahrbare Grenz-, Zeitlichkeitsoder Schwellenphänomene: Erotik, ein Übersichhinausschießen in Emphasen der Vitalität, Gefahren, Krankheit, Alter, ein Zusichselbstkommen des Lebens in der Liebe 4

Vgl. ohne Bezug zur Stimmung, aber im Anschluss an Gadamers Begriff der „ästhetischen Nichtunterscheidung“ Boehm 1996, hier S. 97. Zit. n. Jung 2001, S. 152f. Wir bevorzugen den Begriff der ästhetischen Nicht-Trennung anstelle von Nichtunterscheidung, weil damit das Bewusstsein möglicher Unterscheidung intakt bleibt.

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oder ihrem Verlust, ein sanftes Heraus- oder Hineingleiten ins (Nicht-)Eigene, ins etwas oder ganz Andere, ein Vorausspüren des Todes inmitten des Lebens oder des Stillstands in der Ekstase. Ferner die in Steigerungen in Erfahrungsextreme aufflackernden Momente der Dispersion, des Zufalls und des Verfallens, des notwendigen Erlöschens; vor allem aber die kaum merklichen, ‚unausprechlichen‘ Übergänge zwischen Du und Ich, Außen und Innen, Physischem und Psychischem, von einem Zustand in den anderen und einer Situation zur nächsten. Zum anderen dienen tradierte Bestände der Ästhetik und der Poetik, der Motivik und Metaphorik, der Kompositorik und Ikonographie, der Rhetorik und Narrativik, damit zusammenhängende medien- und gattungsspezifische Form- und Stilelemente sowie im Literarischen schon allgemeine Basistechniken (z.B. Auslassung, Theatralisierung, Personifikation, Konstruktion von Parallelen, Gegensätzen, Kontinuitäten, Wiederholungen, Allusionen, Chiasmen) der Darstellung von Stimmung. In dem Maße aber wie Stimmungsdarstellung etwa in Literatur eine nicht nur beiläufige oder ornamentale Funktion übernimmt, sondern ihr darüber hinaus strukturierende und kognitive Funktionen zukommen, bringen innovative Arrangements von Gestaltungsmöglichkeiten, kreative Textstrategien und ästhetische Konfigurationen (u.a. Interdiskursivität, Intertextualität, Intermedialität; Metaphorik, Prosopopeia, Spiegelung, Steigerung, Inversion, Synästhesie) die dann genuin po(i)etischen Stimmungen hervor. Konzentriert man das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse auf diese kreativkonstitutive Dimension von Stimmungen, so lässt sich von dieser I. Definitionsstufe aus das Beobachtungsfeld von den Phänomenen her weiter eingrenzen. Danach sind Stimmungen als künstlerische Artefakte definiert, welche strukturale Verhältnisse zwischen Dualen 5 zusammenklingen lassen, oder allgemeiner: sie durch formalästhetische Ganzheitsmomente darstellen. Und zwar so, dass die jene Dualität hervorbringende Grenze in ihrem Verbindungscharakter zur Erscheinung kommt, entlang solcher Verbindungslinien die jeweilige Binarität von der Figur eines Dritten überschritten wird – oder: dass das relationale Zwischen aufeinander bezogener Strukturelemente als ästhetische Verräumlichung eines reinen Beziehungsgeschehens gegenwärtig wird. Somit ist Stimmung das situativ sensible Wahrnehmungsmedium, welches in ein dynamisches Kräftefeld vor seiner Polarisierung eingelassen ist oder es eröffnet, objektive Strukturen bildet und diese vorläufig abstimmt mit subjektiver Befindlichkeit. Stimmung fungiert als ein im raum-zeitlichen Zwischen angesiedeltes Spürorgan für lokale Atmosphären in ihrem Verschmelzen mit temporaler Situiertheit. Diese generell über eigendynamische Konfigurationen definierte Stimmung ist sodann phänomenal spezifizierbar als das Medium von Wahrnehmungen, welche noch nicht explizit Verstandenes, Gedachtes oder Gesagtes vermitteln. In diesem protostrukturalen Sinn eines Wahrnehmungsmediums kann die Stimmung auch als ursprüngliches Verstehen bestimmt werden, welches erst zum reflektierenden Verstehen von etwas als etwas (Auslegung) disponiert. Ist Stimmung phänomenal als ein solches Wahrnehmungsmedium – d.h. inhaltlich beispielsweise für literarische Figu5

Selbst/Welt, Subjekt/Objekt, Innen/Außen, Kultur/Natur, Ich/Anderem, Psyche/Physis, Geist/Materie, Seele/Körper, Einheit/Vielheit, Leben/Tod, Wirklichkeit/Fiktionalität u.a.

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ren, dramatische Konstellationen oder ein lyrisches Ich – identifizierbar, dann kann sie überdies ästhetisch als Darstellungsmedium für eben diesen Phänomengehalt bestimmt werden. Ästhetisch-phänomenal definiert ist Stimmung in der für uns zentralen Literatur also dadurch, dass zumeist durch raffinierten Einsatz von poetischen Stilmitteln, ästhetischen Konfigurationen oder narrativer Technik Wahrnehmung zur Darstellung kommt. Dies erfolgt zumeist auf der rhetorischen Basis von assoziativem (Sprach-)Bildmaterial. Ein direktes Darstellen von Stimmungen, einfach unter Verwendung des Wortes etwa, geht indes leicht an der Sache der Stimmung vorbei. Eher gelangt die phänomenale Komplexion von Stimmung in einer sistierten Inhaltsdarstellung zur Wirkung. Solche implizite ‚Thematisierung‘ der Phänomenologie gestimmten Wahrnehmens erfolgt oft beiläufig mittels der poetischen Produktion von Leerstellen. So wird die in Stimmungen zur Wahrnehmungsbewegung aufgehobene Inhaltlichkeit etwa durch formal manifeste Aussparungen literarisiert. Generell der literarischen Form-Inhalt-Korrelation entsprechend ist die ästhetisch-phänomenale Stimmung zugleich ein Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium. Dies qualifiziert sie für Literatur zu deren Ambitionen, die opaken Zonen des Vor- und Unbewussten, des Prä- und Irrationalen, des der Reflexion und Erkenntnis Entzogenen und des diese doch beeinflussenden Disparaten zu erhellen; sowie all dies Sprachlose bis Unsagbare beispielsweise in Form von Ahn(d)ungen und Erinnerungen, (Alb-)Träumen und Phantasien, Befindlichkeiten und Absencen durch die poetische Sprache dem Bereich des Sagbaren zuzuführen. So lässt sich die Stimmung auch in ihrer Bedeutung ermessen, die ihr für die genuin ästhetische Generierung von Wissen in Literatur zukommt. Denn durch die poetische Figurierung von Stimmung als konfus-strukturale Vorsubjektivität werden Phänomene der Zeitigung und Raumwerdung objektivierbar. Diese schließlich ermöglichen ästhetische Erfahrungen der Selbst-Welt-Beziehung, welche ein Wissen vermitteln, das in der alltäglichen Lebenspraxis historisch unterschiedlicher Realitäten wurzelt, bis zu einem Wissen um Endlichkeit oder Sterblichkeit reicht sowie – etwa im Werther, Hartknopf und Abschied – zu Imaginationen von Ewigkeit und Transzendenz überleitet. Ihre zweifache Bestimmung als phänomenales Wahrnehmungsmedium und ästhetisches Darstellungsmedium definiert Stimmung auf dieser I. Stufe als einen poetischen Gegenstand. Als solcher ist die Stimmung in ihrer ganzen Beweglichkeit auf einer Beobachtungsebene positioniert, welche den literarischen Texten selbst eingezogen ist. Die Ebene der Beobachtung von demjenigen, was und wie die Literatur in ihren verschiedenen Gattungen sowie im Unterschied zu anderen Medien beobachtet, wird erst auf der zweiten Stufe der Stimmungsdefinition erreicht. Diese ist damit zugleich als eine Stufe der Beobachtung zweiter Ordnung zu nehmen.

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3. ÄSTHETISCHES V ERSTEHEN : DIE F UNKTIONALISIERUNG VON S TIMMUNG ZUR K ATEGORIE POETOLOGISCHER ANALYSE UND HISTORISCHER R EFLEXION Unsere theoretische Erörterung von Stimmung hinsichtlich ästhetischer Konfigurationen konzentrierte sich auf eine durch diese organisierte Erkenntnishaltung, die als präreflexives Verstehen oder primordiales Wahrnehmen bezeichnet werden kann. Dies erfolgte in Auseinandersetzung mit der existenzial-ontologischen Interpretation von Stimmung als einer phänomenologischen Vor-Struktur von Verstehen. In Analogie zu ihrer ontologischen Auffassung als dem fundamentalen Existenzial verstehender Befindlichkeit wurde Stimmung poetologisch als die vorhermeneutische Situation erfasst. Diese wird in Literatur ihren unterschiedlichen Gattungsformen entsprechend ästhetisch ausgeleuchtet und historisch variantenreich gestaltet. Poetisch fungieren Stimmungen demnach zur Darstellung ursprünglicher Erschlossenheit des Daseins, indem Figuren über das Mit-sein anderer Figuren, ihre Existenz durch Erfindung einer Welt oder das Handlungsgeschehen durch fiktionale Wirklichkeiten konstruiert werden. Darin folgt die ästhetische Rede – gewissermaßen selbstredend – einer poetischen Logik von Stimmung, welche textuelle Entitäten aus Beziehungen derselben untereinander generiert, während Heidegger durch eine Revision des griechischen Logos6 die ‚Rede‘ als ‚Aussprechen‘ des ‚Seins des Da‘ ontologisch erklären muss. Dadurch soll die Rede als konstitutiv für Befindlichkeit und Verstehen ausgewiesen werden und ein mit diesen gleichurprüngliches Existenzial bilden. Infolge dieser ontologischen Fundierung der ‚Rede‘ erhält sie jene „grundsätzliche Ursprünglichkeit und Weite“ (SuZ 165), wie sie ihr in der ästhetischen Artikulationsform der poetischen Sprache gleichsam von sich aus zukommt. Was Heidegger in existenzialontologischer Hinsicht für die Philosophie an fundamentalem Terrain zurückgewinnen will, namentlich die Freiheit eines verstehenden und gestimmten Sichentwerfens hin auf Sinnhorizonte, ist der Literatur als ästhetische Basis ihres Gestaltens von Bedeutungszusammenhängen durch Stimmungen auf- und mitgegeben. Mit dieser fundamentalen Ähnlichkeit zwischen Philosophie und Literatur ist indes auch die Stelle markiert, an dem sich die Wege der Fundamentalontologie und der Literaturwissenschaft trennen. Der Philosophie und Literatur gemeinsame Berührungspunkt der phänomenologischen Konstellation von Stimmung–Verstehen–Rede ist zugleich der Ausgangspunkt, von welchem zur einen Seite die Existenzialanalytik den Zugang zum seinsgeschichtlichen Denken öffnet. Mit dem Durchlaufen ‚der Kehre‘ wird dann die Faktizität des Daseins hinter sich gelassen und das denkerische Aussprechen des Seins wird zusehends vom dichterischen Sprechen der ‚Sprache selbst‘ angewandelt. Heideggers seinsphilosophische Nobilitierung der Dichtung er-

6

Durch die Herausstellung der Rede – stellvertretend für Sprache – will Heidegger zurückfinden zur ursprünglicheren ontologischen Struktur eines Logos, der sich nicht am Konzept der Aussage und deren Logik orientiert. Schließlich sei letztere für die philosophische Orientierung in Richtung einer „Ontologie des Vorhandenen“ (SuZ 165) verantwortlich.

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weist sich jedoch in seiner eigenen Deutungspraxis (vor allem Hölderlins) als ebenso philologisch unhaltbar wie poetologisch unfruchtbar. Zur anderen Seite hin wendet sich indes die Literaturwissenschaft den poetischen Formen und Inhalten der Darstellung von Phänomenzusammenhängen in historischen Konstellationen zu. Dazu gehören die zeitgeschichtliche Selbstreflexion, eine affektgebundene Situativität des Erschließens von Weltbeziehungen und die schon im Anheben des Wahrnehmungsprozesses verstehenden Stimmungen. Anders als Heideggers späteres Seinsdenken verhält sich die Analyse von literarischen Stimmungen diesen gegenüber aber nicht anverwandelnd, sondern sie entfernt sich von ihnen so weit wie nötig, um sie verstehen, und sie entfernt sich so wenig wie möglich, um sie noch ästhetisch erfahren zu können. Solche für ästhetisches Verstehen grundlegende Zusammenführung von notwendiger Distanznahme und unverzichtbarer Nähebewahrung zum Untersuchungsgegenstand kann durch eine strategische Zweigleisigkeit erfolgen. Diese haben wir mit der zweifachen Definition von Stimmung auf Stufe I vorbereitet und setzen sie nun für die folgende Stufe methodisch um. Die verfahrenstechnische Trennung von inhaltsbezogenem Phänomenaspekt und formbezogenem Darstellungsaspekt ist die Voraussetzung für mögliche Analysen der rhetorisch-poetischen Mittel, mit welchen die ästhetische Rede Stimmungen zur Sprache bringt. Getrennt von den stilistischen und formalen können thematische, motivische und inhaltliche Aspekte des Stimmungsphänomens klarer beobachtet und für sich genommen behandelt werden. Die reflektierte Nicht-Trennung jener Aspekte hingegen ermöglicht die ästhetische Erfahrung von literarischen Stimmungen in ihrer korrelativen Einheit von Dargestelltem und Darstellendem, von Phänomengehalt und Sprachform. Je enger jene Unterscheidung und diese Nicht-Trennung in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zusammengeführt werden, desto eher werden diese ihrem Gegenstand gerecht werden können. Das Gelingen einer solchen doppelten Praxis ästhetischen Verstehens aber wird umso wahrscheinlicher, wie sie von einer Theorie gestützt wird, die funktional auf die zu untersuchende Phänomenkomplexion zugeschnitten ist. Die hier auf der Basis der ersten Definitionsstufe vorgeschlagene Kombination von analytisch-deskriptiver Entfernung mit ästhetisch-rezeptiver Annäherung zu einer stimmungshermeneutischen Gesamteinstellung erfolgt danach auf der eigentlich literaturwissenschaftlichen Ebene. Diese veranschlagen wir im anschließenden Abschnitt auch für die Formulierung der zweiten Definitionsstufe. Bevor auf der dritten Definitionsstufe eine medientheoretische Integrationsebene erreicht wird, soll auf dieser zweiten Ebene also ein Zwischenschritt den Begriff der Stimmung unter poetologischem und methodologischem Aspekt bestimmen. Dies bedeutet nichts anderes als die in der Literatur formal und inhaltlich identifizierten Stimmungsphänome (Stufe I) zum Untersuchungsgegenstand zu erklären und denselben verstehenstheoretisch zu sichern. Indem die auf der literaturinternen Ebene angesiedelten Stimmungen als ästhetisch-phänomenale verstanden werden sollen, handelt es sich damit um ein explizites und begriffliches Verstehen. Schon auf vorbegrifflicher Ebene nennt Heidegger die von der Erschlossenheit des In-der-Weltseins weiterführende „Ausbildung des Verstehens“ Auslegung: „In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst. Auslegung gründet existenzial im Verstehen,

138 | POETOLOGIE DER STIMMUNG und nicht entsteht dieses durch jene. Die Auslegung ist nicht die Kenntnisnahme des Verstandenen, sondern die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten.“ (SuZ 148)

Was wir aber zum Gegenstand der Auslegung machen sind nicht die im eigenen daseinsmäßigen Verstehensvollzug entworfenen Möglichkeiten, sondern in Literatur objektivierte Stimmungen, die unter anderem solches Entwerfen von Seinsmöglichkeiten als ästhetische Wissensgenese inszenieren. Deshalb interessiert uns hier nicht die ontologische Dimension der existenzialen Fundierung von Auslegung, sondern deren methodische Anwendung zur Ausarbeitung der in den literarisierten Stimmungen selbst enthaltenen Verstehensmöglichkeiten. Solchermaßen ausdrücklich verstandene Stimmungen der Literatur haben die „Struktur des Etwas als Etwas“ (SuZ 149). Als primordiales Wahrnehmungsmedium literarisierte Stimmungen haben indes ihrerseits Verstehenscharakter. So gesehen praktiziert die Literaturanalyse ein ausdrückliches Verstehen (Auslegen) von jenem befindlichen Verstehen (Erschließen), das sie in den ästhetischen Stimmungsfigurationen dargestellt findet. Durch die oben besprochene Nähedisposition zur ästhetischen Erfahrung des ansonsten analytisch Verstandenen aber kommt es doch zumindest und schon zuvor zu einer Affizierung des Untersuchenden durch das Untersuchte, also des die Stimmung Verstehenden durch die als verstehende verstandene Stimmung. Diese zeitweise – nämlich für den wiederholten oder erneut vergegenwärtigten Moment der ästhetischen Lektüreerfahrung – zustande kommende Rückkoppelung von auslegendem Verstehen (explizit) und gestimmtem Verstehen (implizit) ist keineswegs negativ, nicht als methodische Verhedderung oder gar als epistemische Implosion zu bewerten. Vielmehr gewährleistet sie jene dem ästhetischen Erfahrungszustand verwandt bleibende präreflexive Einstellung, die oben als notwendiges Verfahrensmoment der literaturwissenschaftlichen Stimmungshermeneutik benannt wurde. Daneben freilich muss deren analytischer Anteil in seiner objektivierenden Distanznahme intakt bleiben, um so die methodische Balance des ästhetischen Verstehens zu erhalten. Denn dieses soll sich doch durch eine kombinatorische Ausgewogenheit zwischen gegenstandsadäquater Aufmerksamkeit einerseits und vergegenständlichender Erkenntnis andererseits auszeichnen. Die Vergegenständlichung von Erkenntnis, Bewusstsein und eben auch Stimmung soll also gerade nicht durchgängig gegengesteuert oder gar oder epistemologisch grundsätzlich vermieden werden, wie es Heideggers auch zeitbedingte Grundintention der phänomenologischen Analyse des Weltverstehens ausgehend von alltäglichen Daseinsvollzügen war. Hingegen und sehr wohl aber soll Stimmung als ein die vergegenständlichende Dualität des Subjekt-Objekt-Verhältnisses aufhebendes Konzept zum Gegenstand von an Literatur objektivierbarer Erkenntnis gemacht werden. Nur so lässt sich die „Strenge der begründenden Ausweisung“ erreichen, die auch Heidegger allgemein dem „wissenschaftlichen Erkennen“ auferlegt sieht und insbesondere der „philologischen Interpretation“ zuspricht. (SuZ 152) Deren traditionell an schriftlicher Sprache orientierte Hermeneutik geht zwar nicht von den ursprünglichen Formen des Verstehens und Auslegens aus wie es erstmals die Hermeneutik des Daseins für sich beansprucht. Jedoch gehört es zur Methodenreflexion der Theorie und Praxis von Interpretationen, ihre Verstehensstruktur als hermeneutischen Zirkel zu problematisieren.

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Danach muss dasjenige, was Gegenstand der Auslegung werden soll, bereits irgendwie verstanden worden sein. Die Anwendung der elementaren Logik, nach welcher im hermeneutischen Zirkel ein „circulus vitiosus“ zu erkennen sei, heißt für Heidegger „das Verstehen von Grund aus mißverstehen.“ (SuZ 152f.) Stattdessen müssten die „wesenhaften Vollzugsbedingungen“ (SuZ 153) des Auslegens erkannt werden, was der phänomenologische Aufweis der ontologischen Basis existenzialen Verstehens leisten soll. Der Vorschlag, den Zirkel des Verstehens nicht zu vermeiden, „sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“ (SuZ 153), basiert namentlich auf der Einsicht in die Seins- und Sinnstrukturen von Dasein. Tragen diese doch jene gestimmte Befindlichkeit, deren existenziales Weltverstehen die „positive Möglichkeit ursprünglichsten Erkennens“ (SuZ 153) erst freisetzt. Das logische Problem vitioser Zirkularität des Auslegens wird durch die Vorverlegung von Verstehen gewissermaßen verungegenständlicht und durch holistische Perspektivierung gegenstandslos. So kommt in existenzialanalytischer Auflösung vielmehr der daseinshermeneutische Schlussstein der Philosophie von Sein und Zeit als eine „ontologische Zirkelstruktur“ zur Erscheinung, welche nämlich „Seiendes, dem es als In-derWelt-sein um sein Sein selbst geht“, auszeichnet. (SuZ 153) Unserer Konzeptualisierung ästhetischen Verstehens hingegen geht es um Stimmung, dessen In-der-Literatur-sein die Kontur derselben als Gegenstand von Verstehen bildet. Nicht also Seinsverständnis über existenziale Sinnstrukturen erzielen, sondern Textverständnis über literarästhetische Stimmungsfiguren verbessern, ist hier das Anliegen. Es geht um keine Phänomenologie des Daseins in befindlicher Stimmung; vielmehr um ästhetische Stimmung in Literatur und ihre Poetologie. Zunächst einmal ist dadurch die Immanenz des Reflektierens auf Vorgänge des Verstehens aufgebrochen. Denn nicht Stimmung in uns Verstehenden (selbst) oder Stimmung überhaupt, sondern Stimmung im zu Verstehenden (Text) oder eben literarische Stimmungen werden hier der theoretischen Betrachtung unterzogen. Dennoch ist damit die Frage nach dem hermeneutischen Zirkel nicht gegenstandslos. Sie stellt sich nur etwas anders und kann nicht existenzial-ontologisch, sondern muss ästhetisch-poetologisch beantwortet werden. Muss also nicht bereits ein Vorverständnis von literarischer Stimmung vorliegen, wenn diese in Texten interpretiert werden und ihre Auslegung zu einem Mehrwert an Erkenntnis führen soll? Und wenn ja, liegt dann nicht eine hermeneutische Art von Präjudizieren des doch erst Aufzuweisenden vor? Die Antwort auf die erste Frage lautet ja, die auf die zweite nein. Zunächst ist die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was ‚Vorverständnis‘ heißt.7 Schon die Differenzierung des Begriffes von Verstehen könnte den Zirkel des Verstehens aufbrechen. Hierzu reicht es freilich nicht, dem Vorverständnis Vagheit, dem Verständnis aber Deutlichkeit zuzuschreiben. Ersteres also als vorläufiges Ergebnis eines gleichsam noch leeren oder seiner Vollendung entgegen sehenden Verstehens, letzteres indes als endgültiges Resultat eines vollen Verstandenhabens aufzufassen. Mit einer solchen intellektzentrierten Steigerungserwartung verfiele auch unsere Stimmungshermeneutik zuletzt wieder jener „Wut des

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Siehe zum produktiven Vorurteil und Vorverständnis Gadamer 1990.

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Verstehens“, welche zurecht an der literarischen Hermeneutik als Symptomatik ihrer literaturfern entfesselten Auslegungspraktiken kritisiert wurde.8 Vielmehr bedarf es einer zumindest typologischen Unterscheidung von Verstehen, um einem Herumrasen im hermeneutischen Zirkel zu entkommen oder aber denselben mit Erkenntnisgewinn zu durchlaufen. Irgendein ‚Vorverständnis‘ benötigen wir ja in der Tat, wenn wir literarische Stimmungen analysieren und für ein besseres Verständnis von Texten nutzen wollen. Müssen Stimmungen in der Literatur hierzu doch erst einmal identifiziert oder aber – und damit deutet sich bereits die ästhetische Alternative an – wenigstens erfahren werden. Identifiziert werden könnten literarische Stimmungen nicht ohne Merkmale aufzuweisen, welche ihnen qua Definition oder Konvention vorab zugeschrieben worden sind. Indes wäre durch ein solches definitorisch oder allgemeines Vorverständnis von Stimmung zwar eine kriteriologische Orientierung ihres Verstehens am Text gesichert. Jedoch bewegte sich dieses an einem semantisch formierten Sinn von Stimmung orientierte Verstehen offensichtlich wieder im hermeneutischen Zirkel. Deswegen kann das Vorverständnis nicht einem solchen kriterienfesten Sinnverstehen entsprechen oder gar einem solchen entsprungen sein. Es stammt hingegen aus der ästhetischen Erfahrung, welche während der – auch wiederholbaren – Lektüre eines literarischen Textes möglich ist. Insbesondere der Lektüre desjenigen Textes, in welchem wir anschließend als dessen Stimmungen untersuchen, was wir als Gegenstand unserer ästhetischen Erfahrung wahrgenommen – oder meinen verstanden zu haben. ‚Vorverständnis‘ ist also kein begriffliches Verstehen, kein ‚etwas als etwas‘ Auslegen, ist nicht zu Aussagen mit propositionalem Gehalt in der Lage oder eben im sprachlogischen Sinn nicht wahrheitsfähig. Vorverständnis ist hier indes ein wahrnehmungssinnlich empfindliches, aisthetisches und vorrationales Verstehen, ein seine Als-Struktur erst aufbauendes, vorsprachliches Auslegen. Als ein in der ästhetischen Erfahrung des Lesens von Literatur wurzelndes Verständnis, moderiert es die auf Semantik drängende Sinnstrukturierung in einer präreflexiven Haltung. Eben dieses haben wir oben als ein Verfahrensmoment benannt, welches für eine literaturwissenschaftliche Stimmungshermeneutik unentbehrlich ist. Hier nun wird es deutlicher als der Einstieg in den Zirkel eines Verstehens, in welchem der Übergang von einem im Wahrnehmen gründenden Verstehenstypus zu einem im Reflektieren sich manifestierenden Verstehenstypus vollzogen wird. Als ein der rezeptionsästhetischen Erfahrung entspringendes Initiationsmoment ist dieses noch wahrnehmungsnahe Vorverständnis eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für ästhetisches Verstehen. Hinzukommen muss das vom prototypischen Verstehen angestoßene, von diesem aber typologisch zu unterscheidende Verstehen, das namentlich nicht mehr wahrnehmungsgeleitet, sondern reflektierend produktiv ist. Sich dann in freier Reflexion entfaltend führt das nun erst vollständige ästhetische Verstehen zu Erkenntnissen, die nicht schon auch im Vorverständnis vorlagen und nur aus ihrer wahrnehmungssinnlichen Opazität heraus reflexiv erhellt worden wären. Deshalb und schon weil im Wahrnehmungsmodus des primordialen Verstehens (Typus: Vorverständnis) keine Festlegungen, Aussagen oder Urteile getroffen werden, kann nicht von einem Präjudizieren gesprochen werden. Auf seiner 8

Siehe dazu ausführlich Hörisch 21997.

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Reflexionsstufe gelangt ästhetisches Verstehen zu Einsichten, welche von der Wahrnehmungsstufe zwar abhängig, nicht aber ableitbar sind. Auch wird in der ästhetischen Reflexion erst deren eigener Gegenstand hervorgebracht, auch wenn der Impuls dazu aus der Wahrnehmungserfahrung stammt. Mit seinem kognitiven Milieuwechsel überschreitet das ästhetische Verstehen auch Grenzen zwischen epistemischen Ordnungen, so dass es hier eher die Vorstellung von einem Zirkel des Verstehens selbst wäre, die in eine hermeneutische Irre führen müsste. Dies bedeutet für den von uns theoretisch vorbereiteten Praxisbereich ästhetischen Verstehens, dass in ihm keine vorab definierten Stimmungen in Texten identifiziert werden, um sie anschließend untersuchen zu können. Nicht die literaturtheoretische Voreinstellung, sondern die rezeptionsästhetische Grundhaltung initiiert den Vorgang des Verstehens. An dessen Anfang stehen Lektüreerfahrungen, in denen sich etwas zu spüren gibt, von dem durchaus noch nicht klar ist, ob es sich dabei überhaupt um Stimmungen, geschweige denn um literarische Stimmungen handelt.9 Selbst wenn beim genießenden wie beim professionellen Lesen sich – gemäß dem allgemeinen Begriff – ‚Stimmungen‘ einstellen, ist deren Evidenz zunächst wohl im Leser, aber nicht auch schon im Text ohne weiteres festzustellen. Dabei könnte die Stimmung also ebenso gut – und das wird sie immer auch – in einem kaum zu bestimmenden Maße von der jeweiligen Befindlichkeit des Lesers, seinen Vorerfahrungen, der Tageszeit, der räumlichen Umgebung, dem Wetter usw. herrühren. Tatsächlich werden sich bei verschiedenen Lesern und beim selben Leser zu verschiedenen Zeiten sowie unter anderen Rezeptionsbedingungen auch unterschiedliche Stimmungen bei der Lektüre desselben Textes einstellen. Deshalb kann die individuelle Lektüreerfahrung nur als eine Art Einführungssituation theoretisch berücksichtigt werden – muss dies aber auch, wie wir gesehen haben –, von welcher der ästhetische Verstehensprozess seinen Ausgang nimmt. Dieser kann nur – und erst – eine auch methodische Wendung erhalten, wenn sein Einsetzen in der ästhetisch-vorreflexiven Erfahrung reflektiert und zum Ausgangspunkt für ein von nun an epistemisches Verfahren genommen wird. Diese Reflexion des in seiner Erfahrungsunmittelbarkeit ursprünglichen (Vor-)Verständnisses schafft eine Distanz zu demselben, welche jetzt dem Verstehen auch die rechte Entfernung zum zu Verstehenden einräumt. Ausgerechnet aus der vermeintlich unmittelbaren Erfahrungsnähe heraus entsteht so die für Mitte(i)lbarkeit notwendige Distanz eines explizit werdenden Verstehens, welche dieses zur Vergegenständlichung nutzen kann. Die Stimmungsmelange im Leser etwa scheidet sich in die subjektiv ‚hausgemachten‘ und die objektiv vom Text gemachten Anteile. Im damit zugleich sich vollziehenden Auszeichnen seiner Konturen gewinnt der reflexiv konstituierte Gegenstand an epis-

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Seinem theorieskeptischen Grundgestus in Sachen Stimmung entsprechend problematisiert Gumbrecht 2011 keine methodischen Möglichkeiten seines Ansatzes des „Stimmungen lesen“, sondern belässt es bei dem, was wir hier unter ästhetischem Vorverständnis verstehen, als Grundlage des akademischen Umgangs mit Literatur. Hingegen plädieren wir dafür, dem Anliegen Gadamers gemäß durchaus den zweiten Schritt hin zu einem hermeneutischen Anspruch auf eine Wahrheit zu gehen, die auf dem Wege ästhetisch begründeten Interpretierens erzielt wird.

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temischer Statur: die Stimmung als ästhetische Konfiguration im Text rückt in den Blick und das Verstehen kann analytisch werden. So wendet sich das Verstehen der Frage nach der Machart von Stimmung zu, ihrer textuellen Organisationsform, der rhetorischen Inszenierung ihres phänomenalen Gehaltes. Die ästhetisch-phänomenale Stimmung in der Literatur (siehe oben Definitionsstufe I) wird im methodischen Vollzug des Verstehens derselben zur poetologisch-explikativen Stimmung (siehe unten Definitionsstufe II). Erst dieser aus theoretischer Betrachtung des Untersuchungsgegenstands entwickelte Begriff von Stimmung erlaubt eine praktische Anwendung desselben, in der er als eine Kategorie der Reflexion von poetischer Sprache sowie als Kategorie der Analyse der textuell konfigurierten Phänomene fungiert. Nur mit reflektiertem Methodenbewusstsein können überhaupt ihre inhaltlichen und formalen Funktionen am Text analytisch sowie kontextuell bestimmt und nun als diejenigen Strukturen desselben interpretiert werden, die den Leser in einen ästhetischen Zustand versetz(t)en. Ob dieser vom Leser als Stimmung erfahren worden ist oder als Sensibilisierung für etwas – zumindest vorläufig – Unbestimmtes, ändert nichts an der möglichen Auslöserfunktion, die dem in ästhetischer Erfahrungsform erreichten Vorverständnis für den Vorgang des Verstehens von literarischen Stimmungen zukommt. Eine ideale Praxis ästhetischen Verstehens von literarischen Stimmungen tut gut daran, während ihres methodischen Prozedierens die Lektüre des Textes zu wiederholen. Namentlich um die am Text beobachteten und analysierten Stimmungsfunktionen mit der wirkungsästhetischen Leseerfahrung zu vergleichen. Dabei kann mitunter eine weitgehende Deckungsgleichheit zur Erscheinung kommen: und zwar von der im Text aufgewiesenen Phänomenfigur, also eines durch Stimmungen wahrnehmenden Verstehens einerseits, mit der in präreflexiver Haltung gemachten – oder gleich als Stimmung wahrgenommenen – Texterfahrung andererseits. Dass eine solche Kongruenzerfahrung zwischen literarästhetischer und rezeptionsästhetischer Stimmung möglich ist, macht den ganz eigenen Reiz von Stimmungslektüren aus. Vielleicht ist diese potenzielle Überein-Stimmung sogar generell für die von ästhetisch avancierter Literatur ausgehende Faszination mitverantwortlich.

4. D EFINITION VON S TIMMUNG : S TUFE II – DIE POETOLOGISCH - EXPLIKATIVE S TIMMUNG Stimmung ist als poetologisch-explikative Stimmung auf literaturwissenschaftlicher Ebene angesiedelt. Hier ist sie ein theoretischer und analytischer Begriff, der aus der Reflexion jener poetischen und phänomenalen Aspekte gebildet wird, die Stimmung auf der literaturinternen Ebene definieren. Damit geht der Stimmungsbegriff auf dieser Definitionsstufe II aus der Abstraktion dessen hervor, was auf Stufe I die Stimmung in literarästhetischen Konkretionen des Phänomens ausmacht. Durch diese operative Aufstufung wird mit ‚Stimmung‘ nicht mehr nur ein bestimmter Gegenstand (in) der Literatur erfasst, sondern zusammen mit diesem die Reflexion von dessen Erfasstwerden miterfasst. Hier erst wird Stimmung zum ästhetischen Begriff und somit für die literaturwissenschaftliche Forschungspraxis operabel. Denn sie ermöglicht es, Textphänomene unter systematisch-gattungspoetologischen Aspekten zu be-

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obachten, in historisch-kontextanalytischen Perspektiven zu differenzieren und sie in medientheoretischen Zusammenhängen zu reflektieren. Erläuterung: Der interpretatorische Zugriff auf literarische Stimmungen unterwirft sich so einer praxeologischen Selbstkontrolle. Diese bereitet ein methodisches Bewusstsein vor, das vom Einfluss des Gegenstandes auf dessen Behandlung weiß. Denn die Analyse von dessen Phänomengehalten und Darstellungsformen setzt deren Identifizierung als stimmungsmäßig und damit ein Vorverständnis des zu Verstehenden voraus. Schon um überhaupt ein Erkenntnisinteresse an Stimmungen in der Literatur zu formulieren, müsste auf den semantischen Grundstock des allgemeinen Stimmungsbegriffs mit seiner alltagssprachlichen Verschwommenheit zurückgegriffen werden. Dies würde aber nicht dazu ausreichen, ein solchermaßen vages Interesse an der Stimmung auf deren gattungs- und medienästhetische Bedeutungsdimensionen hin zu entwickeln. Hierzu bedarf es eines methodisch funktionalisierten Begriffes von Stimmung, wie er auf dieser zweiten, praxeologischen Reflexionsstufe definiert wird. Dass es sich dabei nicht um eine rein terminologische Begriffsbestimmung handelt, die auf eine Präjudizierung der mithilfe ihrer Applikation erzielten Untersuchungsergebnisse hinausläuft, haben wir im vorangegangenen Abschnitt gezeigt. Das dort als ästhetisches erläuterte Verstehen verläuft (sich) nicht in einem vitiösen Zirkel, in welchem stets schon Verstandenes einmal mehr, allenfalls nur deutlicher verstanden würde. Das im notwendigen Vorverständnis bereits vollzogene Verstehen zeichnet sich keineswegs durch einen geringeren, sondern eher durch einen höheren Grad an Luzidität aus. Nur handelt es sich dabei nicht um begriffliche Klarheit. Deren Mangel freilich ist für vorbegriffliches und präreflexives Verstehen konstitutiv. Er begründet sogar seine potenziell größere Reichweite, Tiefe oder Subtilität, zumindest aber seine Heterogenität. Deshalb wäre besser von unterschiedlichen Verstehenstypen zu sprechen, die am Prozess des ästhetischen Verstehens von Stimmungen beteiligt und elementar für dessen Zirkelstruktur sind. Zur Hervorhebung des typologischen Unterschieds lässt sich das präreflexive Verstehen der Sache nach auch als primordiales Wahrnehmen bezeichnen. Aus dessen Vollzugsbewegung wird sein Gegenstand – der also nicht schon gegeben ist – ‚ursprünglich‘ hervorgebracht und durch Einbildungskraft in statu nascendi gehalten. Dieses initiale Verstehensmoment macht die eigentlich ästhetische Erfahrung aus. Es bildet den Einstieg in den stimmungshermeneutischen Zirkel. Erst wenn dessen so angestoßener Durchlauf in Reflexion übergeht, entsteht damit die Distanz, welche das Verstehen zur Vergegenständlichung benötigt. Diese prozedurale Distanzbildung, die zur stabilen Statuierung des vorab prozesshaft konturierten Gegenstandes führt, gehört zum Einsatz des zweiten Typus, des reflexiven, prädikativen und virtuell begrifflichen Verstehens. Beide Verstehenstypen, der präreflexive und reflexive, sind Elemente des ästhetischen Verstehens, dessen Struktur sich aus deren Zusammenspiel bildet. Die reflektierte Praxis solchen ästhetischen Verstehens von Stimmungen schließt an die Objektivierbarkeit von Stimmung auf der Ebene gattungsspezifischer Texte an. Sie definiert ‚Stimmung‘ nun auf literaturwissenschaftlicher Ebene durch die Erweiterung von deren Begriff um eine poetologische und explikative Dimension. Die auf erster Stufe in heuristischer Absicht differenzierten Aspekte des Formal-

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Poetischen einerseits, des Inhaltlich-Phänomenalen andererseits, kommen auf zweiter Definitionsstufe verfahrenstechnisch zum Tragen. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Zunächst ist in der theoretischen Unterscheidung dieser Aspekte (Stufe I) die Ermöglichungsbedingung für eine Analytik von Stimmungen (Stufe II) zu sehen, die sich auf deren poetisches Gemachtwerden konzentriert. Hier werden formale Aspekte des Darstellens untersucht, also textuelle Organisationsformen, gattungsästhetische Gestaltungen und rhetorische Mittel. Daneben lassen sich anderseits die Bedeutungsstrukturen von Stimmungen, durch sie intonierte Themen sowie bestimmte Stimmungen evozierende Motive – also die inhaltlichen Aspekte des Dargestellten explizieren. Zumal aber kann das poetologische Bestimmungsverhältnis zwischen Darstellendem und Dargestelltem nur über ihre analytische Differenzierung in der Theorie erkannt werden. Ihrerseits setzt die Praxis der Analyse von literarischer Stimmung eine Objektivierung derselben zum Untersuchungsgegenstand voraus, welche auch in die Bestimmung ihres Begriffes eingeht. Sodann ist die theoretische Differenzierung der Inhalts- und Formaspekte die Voraussetzung ihrer praktizierten Nicht-Trennung in der mit Stimmungslektüren verbundenen ästhetischen Erfahrung. Letztere aber sorgt durch ihr präreflexives Verstehen für jenes imaginative Vorverständnis, das die hermeneutische Zirkelbewegung initiiert und noch in deren Reflexionsstadien an ihren wahrnehmungssinnlichen Ursprung zurückbindet. So grundiert die rezeptionsästhetische Nicht-Trennung von Dargestelltem und Darstellendem nicht nur die poetologische Korrelation, sondern sogar gesonderte Analysen von Phänomengehalten und Gestaltungsformen literarischer Stimmungen. Die theoretische Reflexion dieses Verfahrens, das ursprüngliches Verstehen aus der ästhetischen Lektüreerfahrung mit explizitem Verstehen aus der literarischen Textanalyse kombiniert, formiert die literaturwissenschaftliche Dimensionierung des Stimmungsbegriffes. Dessen methodische Funktionalisierung ist jedoch erst vollständig, wenn die den Verstehensprozess einleitende – dessen epistemischer Objektivierung vorangehende – ästhetische Texterfahrung ins Verhältnis zu der im Text poetisierten Stimmung gesetzt wird. Denn diese bildet ja nicht erst den Untersuchungsgegenstand in der Analysephase des dann reflexiven Verstehens, sondern bereits den Erfahrungsgegenstand in der Wahrnehmungsphase des noch vorreflexiven Verstehens. Als solcher bindet die (literarische) Stimmung die (ästhetische) Aufmerksamkeit des Lesers, wodurch sie von der literarästhetischen in die rezeptionsästhetische Sphäre überspringen kann. Eine solche Transposition der Stimmung vom Textmaterial in die Leserpsyche wird tatsächlich seit je her durch Erfahrungsberichte von Laien genießerisch bestätigt, von Experten je nach theoretischer Couleur mehr oder weniger gerne zugegeben. Die Möglichkeit eines solchen Überspringens von poetischen Stimmungen aus Büchern in ihre Leser zuzugeben hieße aber noch nicht, davon ausgehen zu können oder gar müssen, dass ein solcher oder gar derselbe Stimmungsübersprung auch unter der Hand des Autors aus dessen ‚Seelenleben‘ in den entstehenden Textkorpus statt-

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gefunden habe.10 Allerdings wird nicht nur in literarischen Zirkeln bis heute gleichsam überzeugend behauptet – aber eben nicht erklärt –, dass Stimmungen aus der Einbildungskraft des Dichters in dessen Ausdruck im Kunstwerk und von dort über den Eindruck in den Leser gelangen. In der Tat schließen an rezeptionsästhetische unvermittelt produktionsästhetische Überlegungen an, weil auch für sie – nur umgekehrt – sich die Frage nach den Bedingungsmöglichkeiten der Übersetzung der Stimmung vom Artefaktischen ins Psychophänomenale stellt. Das ImmersionsModell der neurokognitiven Poetik (vgl. A.M. Jacobs 2013; Schrott/Jacobs 2011) für den Rezeptionsvorgang und der empirische Forschungsansatz hierzu bestätigen immerhin die Möglichkeit des Stimmungstransfers zwischen Gedicht und Leser, wie ihn – so Lüdtke (2013, S. 123) – schon Max Kommerell 1943 in seinen Gedanken über Gedichte geschildert hat. Diese Fragen sind bis heute theoretisch nicht überzeugend beantwortet. Unbeantwortet bleiben Fragen der produktiven Encodierung und rezeptiven Decodierung von Stimmungen, ihrer ästhetischen Prozessierung durch die doppelte Schnittstelle Autor/Text und Text/Leser. Diesbezüglich haben Winko (2003) und Fries (2007, 2009) allerdings wichtige Beiträge geleistet. Hier ist der Ansatzpunkt für interdisziplinäre Konzepte, welche zusammen mit der ästhetischen auch affektive Kommunikationsformen unter sozialpsychologischen, kultur- und bioanthropologischen Aspekten untersuchen. Die mimetische Infektiosität und kulturelle Kontaminativität von Stimmungen zwischen Individuen, Gruppen von Individuen und innerhalb von sozialen Massen ist ebenso deutlich wie ihr historischer Wandel.11 Für unsere Thematik der literarischen Stimmung und ihrer ästhetischen Verstehbarkeit spielt indes der interpersonale Transfer von Stimmung eine allenfalls nachgeordnete Rolle (z.B. Inhalts-/Textebene), sogar auch gegenüber intertextuellen und intermedialen Transferbewegungen. Im Zentrum steht der Text und für die Methodenreflexion wird daneben auch noch das Verhältnis Literatur/Leser bzw. Text/ Interpret berücksichtigt. Dabei bringt die Fokussierung auf Stimmungen es nicht notwendig mit sich, das Artefakt als eine Art Shuttle für dieselben zu begreifen. Ob es zum ästhetischen Verstehen von Stimmungen dazugehört, dass die gleichen oder überhaupt Stimmungen auch im Verstehenden selber empfunden werden, muss aus methodologischen Gründen sogar offen bleiben.12 Verstanden werden können nämlich auch etwa ganz befremdliche Stimmungen, indem sie in poetischen Figuren, Zeiten und Räumen oder deren Konstellationen nur beobachtet, vielleicht situativ nachvollzogen und dann im Textzusammenhang gedeutet werden. Wie Stimmungen ohne Empathie während der Lektüre verzeichnet werden können, so lassen sie sich auch aus formalen Strukturen (Gattungsmerkmalen, Narrativik, Dramaturgie, Rhythmus, 10 Dies stand noch für Dilthey auf der psychologischen Basis seiner Hermeneutik und Ästhetik des Ausdrucks samt der Orientierung an der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts außer Frage. 11 Siehe für den Zeitraum 1750-1850 die sozial- und kulturgeschichtliche Studie, freilich ohne Fokus auf das Stimmungsthema, von Stalfort 2013. 12 Schließlich können wir nichts mit Bestimmtheit sagen über die Phantasien, Gefühle und Stimmungen des Autors, dessen Werk wir umso begeisterter lesen, je mehr wir darin an Stimmungen usw. zu finden meinen, während diese längst in uns als Rezipienten wirksam und womöglich nie andere als die unseren gewesen sind.

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Klangverbindung, Tropik u.a.) poetologisch erklären. Aus solcher observativen und analytischen Distanz allein ließe sich freilich kaum ein Erkenntnisinteresse an literarischen Stimmungen, auch nicht deren poetikgeschichtliche Bedeutung und schon gar kein interesseloses Wohlgefallen an ihnen begründen. Hierfür bedarf es der präreflexiven Verstehenseinstellung samt ästhetischer Erfahrungsoffenheit im Umgang mit der Literatur, aus welcher Stimmungen in figurativen Konstellationen auftauchen, die sie als Phänomen wahrnehmungsästhetisch grundierten Verstehens sichtbar machen. So entsteht der Gegenstand der ästhetischen (Leser-)Erfahrung in einem homologen Verhältnis zur Vollzugsform derselben. Zeigt sich die Stimmung im Text und dessen historischem Kontext ihrerseits als ein aisthetisches Wahrnehmungs- und ursprüngliches Verstehensmedium, so wird sie dadurch in ihrer kognitiv-morphologischen Ähnlichkeit zum präreflexiven Verstehenstypus der ästhetischen Erfahrung entdeckbar. Umgekehrt kann letztere auf diese text/rezeptionsästhetische Weise auch als Stimmung im Leser/Literaturwissenschaftler aufgefasst werden. Vorausgesetzt es wird beachtet, dass sie nicht dieselbe verstehende Stimmung ist, die zuvor nur im Text konfiguriert und womöglich noch in dessen Autor gegenwärtig war. Eine solche Identität von Stimmung lässt sich nämlich nicht – jedenfalls nicht frei von Illusionen und jedenfalls bloß autosuggestiv – erfahren, geschweige denn sachgerecht begründen; wohl aber die Strukturanalogie von Stimmungen hinsichtlich des kognitiven Aspekts ihrer Konditionierung von ursprünglichem Verstehen. Unter der Voraussetzung, dass Stimmung wesentlich durch diesen kognitiven Aspekt bestimmt gesehen wird, kann von einer Transfiguration der Stimmung vom Literarästhetischen ins Wirkungsästhetische die Rede sein: die poetisch-phänomenale Stimmungsfigur überschreitet die Grenze der Textebene – und wird zur poetologisch-explikativen Stimmungsfigur auf der Reflexionsebene. Erst durch die Reflexion der Stimmung als ästhetisches Verstehensmedium wird ihr Begriff auf eine literaturwissenschaftliche Ebene gehoben, auf der sie dann als Beschreibungskategorie und Analyseinstrument auch für historische Untersuchungen fungieren kann. Mit dieser Funktionalisierung kann ein methodisch kontrolliertes Fortschreiten im stimmungshermeneutischen Prozess von der ästhetischen Erfahrung hin zum analytischen Stadium erfolgen. Dort kommt es zum expliziten Verstehen von literarischer Stimmung als implizitem Verstehen (befindliches Erschließen), also zum Auslegen von etwas als Stimmung oder von Stimmung als etwas und somit zum Interpretieren von Texten und Kontexten am Leitfaden von Stimmungen. Die reflexive Entfaltung einer poetologisch-explikativen Begriffsdimension markiert somit die Stufe II der Definition von ‚Stimmung‘ als die literaturwissenschaftliche Ebene der Beobachtung desjenigen, was auf der literaturinternen Ebene an Stimmungsphänomenen (siehe Stufe I) beobachtet wird.

5. S TIMMUNG

ALS

M EDIUM

VON

W AHRNEHMUNG

Im konstruktiven Anschluss an Heideggers systematische Integration von ‚Stimmung‘ in die existenzial-ontologisch ausgearbeitete Hermeneutik des Daseins haben wir die Stimmung als befindliches Erschließen und damit als eine ursprüngliche Art geschichtlichen Verstehens aufgefasst. Dabei haben wir sie zunächst auf der literatur-

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internen Ebene angesetzt und dort vorläufig nur thesenhaft als ästhetische Konfiguration eines reinen Beziehungsphänomens erklärt. Danach dient die Stimmung in der Literatur zur Darstellung und zugleich zur Hervorbringung von Selbst- und Weltverhältnissen, die generell durch affektive oder pathische Wahrnehmung und in diesem Sinne als ursprüngliches Verstehen vorstrukturiert sind. Insbesondere aber vermag literarische Stimmung das vermittelnde Zwischen des Selbst-Welt-Verhältnisses als ein Medium mit kognitiver Eigendynamik sowohl zu zeigen wie auch selber zu organisieren. Kraft dieses autopoetischen Zugs kommt solcher medialen Stimmung ästhetische Performanzqualität zu. Sodann haben wir die durch affektive Wahrnehmung verstehende und solchermaßen als Wahrnehmungsmedium verstandene literarische Stimmung von der literaturwissenschaftlichen Analyseebene her ins Auge gefasst. Aus diesem methodischen Blickwinkel wurde der Stimmungsbegriff um operationale Aspekte erweitert, die ihn als Kategorie der Phänomenbeschreibung und als Instrument von Inhalts- und Formanalysen in historischer Perspektive handhabbar macht. Hierbei wird das in der Literatur beobachtete Phänomen des liminalen Unterlaufens von Subjekt-ObjektBeziehungen auch als das initiale Erfahrungsmoment des ästhetischen Verstehens von Literatur methodologisch reflektiert. Denn dieses Phänomen taucht im LeserText-Verhältnis wieder auf, indem von vornherein nicht etwa auf eine Stimmungstransmission vom Autor her spekuliert wird. Vielmehr realisiert der Leser im ästhetischen Eindruck der Textstimmung sein ursprüngliches Verstehen in Analogie zu deselben: die Fiktionalität literarischer Stimmung wird zur Realität des Rezeptionsvorgangs. Nämlich dann, wenn sie als Möglichkeit ergriffen wird, den ästhetischen Raum zwischen Text und Leser ebenfalls als ein eigenständiges Verstehensmedium zu imaginieren, das seinerseits Stimmungscharakter sowie eine Grundlegungsfunktion für dann auch reflexives und historisches Verstehen hat. Von der möglichen Überein-Stimmung von Phänomenen in fiktionaler Darbietung und dem ästhetischen Verstehen des Textrezipienten stellt sich die Frage nach der Wahrheit von Dichtung etwas anders als sie Philosophien der Dichtung mitunter verhandeln.13 Poetische Wahrheit ist nicht in einem Adäquationsverhältnis zu einem kunstfernen oder naturgegebenen Sachverhalt, einer innerweltlichen Realität oder gar einem transzendenten Sein zu suchen. Eher ergibt sich die Wahrheitsfähigkeit von Poesie aus der strukturellen Kopplung von Text und Leser, von poetischer und wahrnehmungssinnlicher Phänomenalität sowie von semiotischen Polyvalenzen und geschichtlicher Sinnoffenheit. Denn auch die textuelle Vielheit von Zeichenbedeutungen kann in der ästhetischen Erfahrung als Einheitlichkeit einer Stimmung wahrgenommen und als Zeitlichkeit von Sinn reflexiv verstanden werden. Solches gleichsam im oder hinsichtlich des Vagen genaue Verstehen wird gerade durch die semantische Infixibilität von Stimmung ermöglicht. Entspricht diese Unfestigkeit doch dem allenfalls stochastischen Wahrnehmungsprozess des Stimmungsphänomens einerseits, andererseits der nicht arretierbaren Sinnbewegung in symbolischen und ge-

13 Siehe hierzu Petersen 1996, S. 291. Er stellt ohne Bezug zur ästhetischen Stimmung aus seiner eigenen rezeptionstheoretischen Position die Wahrheitsfrage und nimmt dabei Bezug auf Hamburger 1979, S. 138.

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schichtlichen Prozessen, so dass das Stimmungsverstehen der Poetizität und Historizität von Literatur Rechnung zu tragen vermag. Sei es hinsichtlich der Frage nach poetischer Wahrheit, sei es in Bezug auf die Verfahrensweise ästhetischen Verstehens oder sei es mit Blick auf die Welt als Struktur existenzialer Befindlichkeit: immer entfaltet sich das kognitive Potenzial von Stimmung aus der relationalen Dynamik performativer Vollzüge, welche einen als Medium zu verstehenden Zwischenraum dimensionieren. Deshalb soll in diesem und den beiden anschließenden Abschnitten geklärt werden, was (1.) das Mediale der Stimmung als Phänomen von Wahrnehmung ausmacht, wie das kognitive Potenzial (2.) im Verbund mit dem Medialen von Literatur fungiert und schließlich (3.) inwiefern Medialität für die literaturwissenschaftliche Theoretisierung und Historisierung von Stimmung aufzufassen ist. Bereits diese Thesenstruktur, also dass Stimmungstheorie immer auch Medientheorie, Literatur ein klassisches Medium und Stimmung selber ein Medium ist, lässt erkennen, dass hierbei ein allgemeiner, zumal nicht technikspezifischer Medienbegriff zum Tragen kommt. Er geht hinter das massenmediale Übertragungskonzept der Moderne zurück und knüpft an das wahrnehmungstheoretische Konzept von Aristoteles medium diaphane an.14 Nach dem Refraktionsmodell der Luft, die das Licht erfahrbar macht, indem sie es bricht, ist Stimmung als Medium zweierlei in einem: die Mitte zwischen wahrnehmendem Ich und wahrgenommener Welt sowie das Mittel, durch welches geschichtliche Wirklichkeit durchscheint aber immer auch eingefärbt wird. Gleichwohl ist zu beachten, dass auch der im 20. Jahrhundert im Eindruck technischer Erfindungen bzw. Weiterentwicklungen (Tele-, Photo-, Kinemato- und Phonographie, Rund- und Mobilfunk, Fernsehen, Video, PC, Internet) durchgesetzte Medienbegriff der Nachrichtenübermittlung und Datenverarbeitung noch Bedeutungsaspekte älterer Traditionen mit sich führt und diese auch theoretisch reflektiert werden von Benjamin über McLuhan bis zu Kittler und der Gegenwart. 15 Ein zentraler Bezugspunkt dabei ist Aristoteles’ Begriff von Medium (metaxü), der ein Dazwischen, ein eigenständiges und gegenwärtiges Mittleres oder eine Mitte von elementarem Integrationscharakter bezeichnet. Demgegenüber sind duale Strukturen wie Seele/Körper, Ichbewusstsein/Außenwelt oder Subjekt/Objekt, aber auch Sender/Empfänger nachgeordnet. In dem in aristotelischer Tradition als selbsttätiges Vermitteln aufgefassten Medium geht es nicht nur um die Vermittlung gespeicherter Daten, die technische Umcodierung von Botschaften und Übersendung zuvor aufbereiteter Nachrichten, sondern vielmehr auch um die Genese einer Präsenzform des zu Vermittelnden aus seinem Vermitteltwerden selbst. Dabei wird solche mediale Per14 Siehe zur philosophischen Wiederentdeckung von Aristoteles Medien- als Wahrnehmungsbegriff Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987. 15 Hörisch (2004b, S. 184) zählt in einem Überblicksartikel – nach Bezügen zu Kracauer, Anders, Kittler, Virilio und H. Pross – eine Reihe von Namen als Auswahl von wichtigen Medientheoretikern der Gegenwart auf: Assmann, Baudrillard, Beck, Bolz, von Braun, Coy, Enzensberger, Flusser, Goody, Groys, Haverlock, Innis, Kerckhove, Lazarsfeld, Luhmann, Noelle-Neumann, Reck, Rötzer, Schmidt, Serres, Sloterdijk, Zizek. Siehe überblicksartig auch Hoffmann 2002.

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formativität unter den kulturhistorischen Bedingungen der 21. Jahrhundertwende zum Teil als Paradoxiefaktor abgeschrieben. Sie wird jedoch auch in der bis zum Schlagwort gereiften Resonanz bestaunt, die der fragwürdige Satz ‚The medium is the message‘ (McLuhan) erhalten sollte. Dabei ist in der Antike wie in der Moderne der phänomenale Sachverhalt der Medialität dadurch bestimmt, dass sich etwas durch etwas als etwas zeigt. Als performativ ist solche Medialität zu bezeichnen, wenn das Durch-Etwas dem Sich-Etwas eine Präsenzform gewährt, ohne welche es gar nicht zur Darstellung käme, in welcher es aber als zeichenhaft Bestimmtes erscheint und so zur Wahrnehmungsfigur seiner Singularität transzendiert. In gegenwärtigen Theoriedebatten über Medien dient der Rückbezug auf Aristoteles auch der Freilegung von solchen wahrnehmungssinnlichen und ereignishaften Fundamenten. So erörtert Hartmut Böhme vor dem Hintergrund griechischer Wahrnehmungslehren und Naturphilosophie (sowie mit Bezug auf Heidegger) das aristotelische metaxü als „die Sphäre der Anwesenheit des Wahrnehmbaren [, in der die] Dinge in der Weise des Sich-Zeigens“ sind.16 Wenn für Aristoteles „Wahrnehmung das Ineins von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem“ (ebd.) ist, dann weist solches Denken auf eine wahrnehmungstheoretische Auffassung von Medium, aber auch auf eine medientheoretische Auffassung von Wahrnehmung hin. Böhme expliziert sowohl die wahrnehmenden Sinne des Menschen, als auch die wahrgenommenen Erscheinungen der Natur (wie Licht, Luft, Wasser) als ‚natürliche Medien‘. Erstere können Medien genannt werden, insofern durch sie Gegebenes überhaupt erst in Erscheinung tritt, als etwas Bestimmtes oder doch Bestimmbares gegenwärtig und so zum Gegenstand von Erfahrung, Deutung und Erkenntnis wird. Indem letzteres unter historischen Bedingungen erfolgt, verbinden sich in den menschlichen Sinnen natürliche (körperliche, organische, neuronale) mit kulturellen (geistigen, sozialen, wissenschaftlichen) Voraussetzungen, unter welchen sich die Welt bildet. In dieser können wir uns also erst wieder-, zurecht-, ein- oder zunächst vorfinden, da und nachdem sie wahrnehmend – im griechischen Sinne des kosmos aisthetos – konstituiert worden ist. Was bei Heidegger als In-der-Welt-sein ontologisch fundiert und als gestimmte Befindlichkeit existenzial dekliniert wird, erhält in Böhmes von der Antike her gedachten Medientheorie der Natur seine aisthetische Grundlage. Als „die großen Medien unseres Weltbezugs“ (ebd.) bilden die menschlichen Sinne das ‚ZwischenSein‘ einer wahrnehmungsoffenen Befindlichkeit. Die Naturerscheinungen ihrerseits erhalten eine mediale Qualität durch ihr „AufWahrnehmung-hin-Eingerichtetsein“, was sie nach der antiken Elementenlehre als geordnetes Ganzes, wie auch im einzelnen durch ein „Sich-selbst-Präsentieren der Dinge“ (ebd. 108f.) sind. Diese „Ekstase der Dinge“ (ebd.) und der Natur macht dieselben zu Medien, durch welche sie von den Sinnen wahrgenommen werden. Dem solchermaßen über seine natürliche Medialität präsenten kosmos aisthetos kommt also insgesamt und von sich her jener Charakter der Erschlossenheit zu, den Heideggers Existenzialanalytik als Weltlichkeit der Welt der Seinsstruktur des befindlichen Dasein einschreibt. Diesbezüglich markiert in unserem Verständnis die Stimmung den fugenhaften Übergang von der von Heidegger als Existenzial systematisierten Befindlichkeit zur 16 Böhme/Matussek 2008, hier S. 109f.

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Spontaneität des primären Welterschließens. Damit hält sie das Dasein strukturell offen für die ekstatischen Entwürfe des Sich-Verstehens im seinerseits offenen Horizont von Seinsmöglichkeiten. Die Stimmung garantiert eigentlich jene Offenheit, die Heidegger auf das Sein bezogen wissen will, während wir sie auf die Welt beziehen. Nämlich insofern ‚Welt‘ für uns nicht auf ihre Bedeutung als ontologisches Fundament von Existenz zu reduzieren ist, sondern auch in ihrer historischen Strukturprägnanz interessiert. Heidegger denkt noch die Ekstasis als das „ekstatische Wesen des Daseins,“ also von der Sorgestruktur desselben her und nicht durch die Stimmung.17 Da wir nicht die Schwierigkeiten zur philosophischen Begründung von ‚Existenz‘ mitzutragen haben, können wir die Ekstasis als Charakterisierungsmerkmal der Stimmung zuschreiben. Und zwar einer solchen Stimmung, die nicht erst innerhalb des Beziehungsschemas von Subjektivität und Objektivität ihren Ort findet, sondern außerhalb desselben ek-sistiert und vor dessen Implementierung den prärationalen Raum dafür schafft. Dort steht sie nicht aus etwas anderem heraus und steht auch nicht in der „Offenheit des Seins“ (Heidegger, Einleitung: Was ist Metaphysik, S. 369) ‚inne‘. Vielmehr bewegt Stimmung sich in der Offenheit einer Welt, welche ihrerseits, namentlich als Wahrnehmungsgeschehen, erst durch die ekstatische Stimmung konstituiert wird. Die wahrnehmungstheoretische Fundierung von Stimmung aber macht sie als mediales Zwischen im Verhältnis von Selbst und Welt zueinander plausibel. Der ontologische Status der Stimmung – Werden oder Sein, geistig oder materiell usw. – hingegen ist für deren Medialität unerheblich. Zur Herausarbeitung der ontologischen Fundierung von Existenz fokussiert Heidegger die Stimmung bezeichnenderweise in den Formen der Angst und der Langeweile, in welchen die mediale Wahrnehmungsoffenheit zur Welt hin besonders verengt oder schon kollabiert ist. (Vgl. GdM §§ 19-36) Für unseren literaturtheoretischen Zusammenhang haben wir weiter oben bereits von den ontologischen Fundierungsabsichten abgesehen und stattdessen die wahrnehmungs- und darstellungslogischen Aspekte ins Auge gefasst. Denn sie zeigen die Stimmung in ästhetischen Kontexten als ein ebenso liminales wie mediales Phänomen. Wenn wir so die Stimmung auf der Inhaltsebene von Literatur als Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium bezeichnet haben, dann wird dies im Anschluss an Böhmes Konzept natürlicher Medien besser nachvollziehbar. Die Stimmung als Medium sinnlicher Wahrnehmung bildet das Medium zwischen den Sinnen als Medien und den (Natur-)Erscheinungen als Medien. Um die mediale Verschachtelungskomplexion zu reduzieren: Stimmung ist das Medium, das die ekstatischen Qualitäten des Wahrnehmenden mit denjenigen des Wahrgenommenen zur Wahrnehmung vermittelt, namentlich im aristotelischen Sinne dieses Begriffes als aisthetischer Strukturganzheit.

17 Heidegger stellt die „Ekstasis“ damit in den Dienst, Existenz im Unterschied zum „Innern einer Immanenz des Bewusstseins und des Geistes“ zu charakterisieren. (1978, S. 369)

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Bis hierher ist die Erörterung der Medialität von Stimmung entsprechend unserer Definition derselben auf der literaturinternen Ebene erfolgt, wo sie als vorsprachliches Phänomen des Weltverstehens ein Gegenstand sprachästhetischer Darstellungen ist (vgl. Stufe I). Wie aber muss die Medienfrage für die literaturwissenschaftliche Ebene umgestellt werden, damit sie auf dieser für die Analyse literarischer Stimmungen fruchtbar gemacht werden kann? Da Stimmung auf Definitionsstufe II als ästhetisches Erfahrungsmoment reflektiert und zur Analysekategorie funktionalisiert wird, rückt sie in eine Distanz theoretischer Betrachtung, in der sie als Bestandteil des untersuchten Sprachgebildes erscheint. Stand bislang unter sachlichem Aspekt der nicht-sprachliche Mediencharakter von Stimmung als Wahrnehmungsphänomen allein im Blickpunkt, so tritt neben diesen jetzt der sprachliche Mediencharakter von Stimmungstexten. Im literarischen Text wird die Medialität von Stimmung gezeigt und durch denselben wird sie vermittelt. Stimmung wird also nicht nur als Medium in der Literatur gegenständlich und untersucht, sondern es soll nun auch Literatur als Medium von Stimmung untersucht werden. 18 Der Untersuchungsgegenstand ‚literarische Stimmung‘ ist also in zweifacher Hinsicht medientheoretisch gekennzeichnet. Dabei ist die mediale Binnendifferenzierung der Stimmung als Wahrnehmungsgeschehen zwischen den natürlichen Medien der Sinne und der Erscheinungen (siehe oben) noch nicht oder nicht mehr berücksichtigt. Allerdings sollte es auch im folgenden gegenwärtig bleiben, dass durch Literatur etwas zu versprachlichen und sogar zu verschriftlichen versucht wird, was sich gerade als etwas anderes als Sprache darstellt und sogar deren symbolischen Formkräften entzogen zu sein scheint: nämlich ein – phänomenologisch perspektiviert – wahrnehmungssinnlich komponiertes Phänomen, das vorwiegend durch akustisch, haptisch, olfaktorisch oder visuell mediatisierte Erfahrungsmomente entsteht. So rückt nun neben die als Medium aisthetisch komplexe Stimmung selbst – die ihrerseits als Medium kaum minder komplexe Literatur. Diese arbeitet als klassisches Medium der Schriftkultur daran, etwas ästhetisch erstmals dar- und dadurch erneut herzustellen, was einem Medientheoretiker und -historiker wie McLuhan zufolge in den Jahrhunderten der ‚Gutenberg-Galaxis‘ zerstört worden ist. Namentlich eine den „integralen und taktilen Stammesmenschen“ behausende, sein Dasein ganzheitlich durchstimmende Sphäre: „Bis zur Erfindung der Schrift lebte der Mensch im akustischen Raum: ohne Grenzen, ohne Richtung, ohne Horizont, im Dunkel der Seele, in der Welt der Gefühle, der ursprünglichen Intuition.“ (McLuhan, zit. n. Assheuer 2011) Diese von der Moderne her als vormodern imaginierte, angeblich in sinnlichgeistiger Einheit spürbare, kulturell geschlossene Raumvorstellung korrespondiert 18 Da wir Stimmung gerade nicht als Wahrnehmungsbewusstsein oder allein als Gegenpol zu textuellen Objektivierungen auffassen, steht das hier angedachte Medienkonzept von Literatur bei mancher Ähnlichkeit letztlich doch quer zu dem von Jahraus 2003. Dessen weitausgreifende und anspruchsvolle Theoriebildung zu den kognitiven und kommunikativen Dimensionen von Literatur und Medien erfasst schließlich doch vorwiegend wieder „den literarischen Text als Medium der Subjektivität“ (S. 523).

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unter dem Aspekt von Ganzheitsharmonie der erlösungsgeschichtlichen Vorstellung von der christlichen musica mundana sowie der kosmotheologischen Vorstellung von der antiken Sphärenharmonie. Die begrifflich-mentale Wirkungsgeschichte dieser topoi hat – wie eingangs angemerkt – Spitzer für die historische Semantik des Wortes Stimmung bis zu dessen lexikalischem Aufkommen Ende des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet. Zu eben diesem historischen Zeitpunkt taucht die Stimmung indes nicht nur im bis heute zunehmend alltäglichen Sprachgebrauch auf, sondern auch in den diesen mitprägenden Diskursen der Philosophie und Wissenschaften (vgl. Welsh 2003, 2006, 2009). Zuvor taucht die in ihrer Bedeutung sich wandelnde und erweiternde Stimmung als ein poetisches Konzept in der Literatur auf (Goethe), noch bevor in ihr das Wort ‚Stimmung‘ zunehmend Verwendung findet (z.B. bei Tieck, Novalis). Als poetisches Konzept freilich stellt Stimmung sich erst dar oder heraus, indem sie durch Literatur und d.h. von Literatur als Medium dazu entwickelt worden ist. Dies geschieht formal durch Aufbietung ihrer gattungspoetischen Gestaltungsmöglichkeiten, ihrer rhetorisch-tropologischen Mittel (Metaphorik im weiten Sinne), bis hin zu experimentellen Selbstüberbietungen derselben in Erfindungen neuer Figurationsperspektiven (Synästhesie, Transzendentalpoesie, Gattungsmischung u.a.). Am Anfang der mediologischen Selbstreflexion von Literatur als Stimmung steht Lottes ‚Klopstock‘. Denn mit dem Dichternamen wird nicht nur die Stimmung eines bekannten Gedichts (Frühlingsfeier) empfindsam evoziert, sondern auch das Mediale der Stimmung literarisch und das Literarische der Stimmung medial codiert. (Vgl. Kap. BII.10) Seither versucht Literatur in ihrer Vielfalt sprachästhetischer Konfigurationen jedoch auch thematisch die Stimmung als ein wahrnehmendes Verstehen zu erproben. Indem Verstehen als semantisch-inhaltliches Interpretieren (Sinn von Texten) zurückbezogen wird auf diesem vorgängige semiotisch-phänomenale Stimmungserfahrungen (poetische Sprache), wird rationales Verstehen von dessen vorrationaler Grundlage her relativiert und gleichsam in der Schwebe seines Anderen fundiert. Zugleich wird damit in einer historischen Konstellation mit erhöhtem Reflexionsbedarf Verstehen auf einer breiteren Basis erprobt. Diese umfasst Ende des 18. Jahrhunderts demnach nicht nur die seit Baumgarten als neue philosophische Disziplin aufstrebende Ästhetik, sondern auch Kunst, Musik und Literatur. Zum einen stellt die transzendentale Elementarlehre Kants dem begriffsproduktiven Verstand die reizrezeptive Sinnlichkeit, den Synthesen der anschauenden Vorstellungskraft diejenigen der erzeugenden Einbildungskraft und insgesamt der Logik die Ästhetik an die Seite. Nachdem durch die Kritik der reinen Vernunft (1781/87) der Ästhetik als Theorie des Sinnlichen eine erkenntnistheoretische Basisfunktion zuerkannt worden ist, rückte Ästhetik auch als Theorie des Geschmacksurteils (Kritik der Urteilskraft, 1790) auf in den Bezirk des lógos, in welchem Vernunft und Sprache die Urteils- und Aussagestruktur der Wahrheit begründen. Die Sprache indes wird vom romantischen und idealistischen Denken nicht mehr nur als passives Medium der Vernunft verstanden, insofern diese sich in ihr als lógos zu artikulieren vermag. Vielmehr wird Sprache um 1800 als das aktive Medium gedacht, in welchem die – einst göttlich inspirierte – Sprache ihrerseits den lógos hervorbringt. Namentlich indem es die Sprache selbst ist (und nicht die Vernunft), welche einzelne Elemente zu einer logischen Aussagestruktur verknüpft – ursprünglicher aber: zur

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poetischen Rede verdichtet. Diese schöpferische Potenz der Sprache wird gemäß dem griechischen lógos poietikós der Dichtung zugesprochen, welche die Welt zuerst als „Raum der Verstehbarkeit“ erschließt, deren Tatsachenzusammenhang dann auch noch zum Gegenstand von Erkenntnis objektiviert werden kann. 19 Zum anderen also werden Kunst und Literatur um 1800 – und erneut bei Heidegger20 – auf ihre Wahrheitsfähigkeit hin bedacht, indem ihre konstruktive Rolle für ursprüngliche Welterschließung, d.h. für die Entwicklung eines vortheoretischen Dispositivs des Verstehens von Wirklichkeit erwogen wird. Diese Thematik wirkt hinein bis in die jüngsten Debatten über Zusammenhänge zwischen Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte21, über Poetologien des kulturellen Wissens22 oder über ‚Literature and Science‘23. Hierbei werden die Grenzlinien diskutiert, überschritten wie auch neu gezogen, welche die Episteme und die Kunst traditionell trennen und doch aufeinander bezogen sein lassen. Die anhaltende Kontroverse über die „two Cultures“ schreibt jedoch auch die Unvereinbarkeit derselben in dem Maße fort, wie sie dieselbe hinter sich zu lassen gedenkt. (Vgl. Dotzler 2002, hier S. 108; ders./ Weigel 2002) Die „Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“ (Dotzler 2002, S. 108) hat sich seit der ihr entsprechenden institutionellen Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert und ihrer methodologischen Vermittlungsversuche durch Dilthey eher noch verfestigt. Welsh (2009) hat mit Bezug auf letzteren die Stimmung als eine Denkfigur diskutiert, die zwischen den Wissenschaftskulturen vermitteln könnte, indem Stimmung als ein ihnen gemeinsamer Gegenstand von Wissen die Künstlichkeit des Narrativs von ihrer Trennung vor Augen führt. Diese Trennung ist historisch als das Ergebnis der Emanzipation der Naturwissenschaften gegenüber der Philosophie anzusehen, von der sie im Laufe des 19. Jahrhunderts die Deutungshoheit in Sachen Wahrheit ebenso übernimmt wie von der literarischen Bildungstradition insgesamt das „Selbstverständnis als Leitkultur“ (ebd.). Dem zugrunde liegt „die prinzipielle Teilung zwischen Literatur oder gar Poesie einerseits, wahrheitsfähigem Wissen oder gar Wissenschaft andererseits“ (ebd.). Deren Anfänge reichen bis in die Antike zurück, seit welcher Platons „Skepsis gegenüber dem Wissen aus der Literatur“ (ebd.) ebenso traditionsbildend wirksam werden sollte wie Aristoteles‘ Poetik als Prototyp von Literaturwissenschaft. Ebenso und weiter in die mythologischen Urszenen der Antike zurück geht jedoch auch ein Verständnis von Literatur als Medium der Übertragung von Stimmungen. In Hesiods Theogonie etwa werden der musischen Dichtung stimmungstherapeutische Kräfte zugeschrieben, die den lesenden oder hörenden Depressiven seine „Missgestimmtheit“ und „Leiden“ rasch vergessen lassen. (Helmes/Köster 2002, S. 24) Den Heilungserfolg garantieren hierbei nicht vom Subjekt selbst zu leistende Trauerarbeiten und reflexive Distanzgewinne zur Unglücksursache, sondern die Trost 19 Frank (1989a, hier S. 24) entwickelt diese Sichtweise ausführlich mit Bezügen u.a. zu Heidegger, Schelling und Novalis. 20 Insbes. als Ins-Werk-setzen der Wahrheit, siehe hierzu Heidegger 2003a, S. 1-74. 21 Vgl. Schlaffer 1990; H. Böhme 1998; Weigel 2001 und 2004; Werle 2006. 22 Brandstetter/Neumann 2004; Vogl 1999, 1997 und 2002; Görner 2009. 23 Plumpe/Werber 1995; Elsner und Frick 2004; Wood 2005; Lamping 2005; Hörisch 2007; Köppe 2008.

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spendenden „Gaben der Göttinnen“ (ebd.). Sie werden dem Betrübtem durch die apollinisch inspirierten Dichter verabreicht. Dadurch werden diese selbst kraft ihrer hermetisch-mercurischen oder angelikal-christologischen Mittlerfunktion selbst zu Medien. Entscheidend für deren Wirksamkeit auf den medial zu Heilenden ist ihre kommunikative Funktion. Diese besteht in der Vermittlung einer Verbindung zwischen den „frischbekümmerten“ Menschen und den „seligen Göttern“ (ebd.). Diese mediale Dienstleistung ist Sache der „Sänger“, welche als „Freunde“ der Musen die transzendente Mensch-Gott-Verbindung durch persönlichen Einsatz samt Selbstverwandlungsbereitschaft herstellen.24 Und zwar über das Medium der Poesie, welches die mögliche Gottverbundenheit für den leidenden Menschen wahrnehmbar macht. Medienpoetisch wird aber nicht nur der Beistand der Götter angerufen, sondern auch die imaginäre Zeugenschaft der „Menschen der Vorzeit“.25 Diese generationelle Spannweiten übergreifende telekommunikative Stimmungssituation ermöglicht die psychopoetische Verwandlung des Rezipienten. Denn sie lässt ihn seinen Kummer im zeitenthobenen Nachklingen der Urahnen mit diesen teilen und im Erscheinen Gottes eigentlich vergessen. Der verzweifelte Augenblick des individuellen Schicksals wird gattungsgeschichtlich relativiert und lässt sich als mitgetragen von der erhabenen Schöpfungsordnung imaginieren. Die intrapsychische Missstimmung des aktuell Vereinzelten erscheint im „glückseligen“ (ebd.) Vernehmen des musischen Zuspruchs mit einem Mal aufgehoben zur kosmophysischen Stimmung eines überzeitlich mediatisierten Ganzen.

7. L ITERATURWISSENSCHAFTLICHE T HEORETISIERUNG DER M EDIALITÄT LITERARISCHER S TIMMUNGEN Ein solcher zwischen inspirierender Psychopoetologie und theophaner Sphärenharmonie oszillierender Medienbegriff von Stimmung scheint auf den ersten Blick wenig zu tun zu haben mit einem solchen, der in analytischer Version wahrnehmungsund sprachästhetische Gebilde dekonstruieren und die Generierung von Wissen in Literatur verstehen helfen soll. Es ist indes die für den individuellen Stimmungsumschwung verantwortlich gekennzeichnete telekommunikative Situation, welche nicht nur – wie in Hesiods Kosmogonie – metaphysische Tröstung leistet und ein poetisches Wissen induziert. Vielmehr ist eine solche (Zu-)Stimmungskommunikation es auch – wie in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit –, welche empirische Erkenntnis konsensuell oder kritisch, jedenfalls aber kollektiv beglaubigt und dadurch überhaupt erst zu wissenschaftlichem Wissen macht. Die für die literarische und die wissenschaftliche Kultur gleichermaßen unentbehrliche Kommunikation von Wissen erfolgt 24 Ebd.; vgl. zur Wirkung auf die Mittler selbst die Herkunft von Medien aus religiösen Praktiken bei Böhme/Matussek 2008: „‚Medien‘ sind im herkömmlichen Sinn nicht einfach Übermittler von Botschaften, sondern Vermittler von spirituellen Kräften. Sie dienten nicht nur der Distribution von kulturellem Wissen zwischen Sendern und Empfängern, sondern führten zum Erlebnis einer Transformation der Beteiligten im Vollzug kultureller Praktiken“ (S. 94f.). 25 Siehe Helmes/Köster 2002, den Abschnitt zu Hesiod: ‚Theogonie‘, S. 24.

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demnach nicht primär durch rational gesteuerte Kontrollmechanismen, sondern über die medialen Prozesse der Publikation und Rezeption. Bücher und Zeitschriften ebenso wie Laborprotokolle und Konferenzbände arbeiten mit den basalen Medien wie Sprache und Buchdruck, Schrift und Bild sowie Text und Grafik. Dadurch bilden sie Kommunikationsformen, in welchen die physische Präsenz von Personen entbehrlich wird, nicht aber deren Funktion der Beglaubigung des poetischen respektive theoretischen Wissens. Dass diese literary technology auch für den „empirischen Stil“ der Naturwissenschaften von grundlegender Bedeutung ist, hat die neuere Wissenschaftsforschung entdeckt. Dotzler fasst die grundlegende Einsicht in Medialität wie folgt zusammen: „Experimentelle Wissenschaft beruht auf der Umstellung von der Alleingültigkeit mathematischer Beweisführung auf die Zeugenschaft eines scientific public. Dieses wiederum entsteht aus der Multiplikation und Distribution der zu bezeugenden/bezeugten Fakten; es entsteht, heißt das, aus dem Paradox einer nicht notwendig unmittelbaren Augenzeugenschaft, sondern eines virtual witnessing durch die Vervielfältigung der Experimente im Druck. Ihre schriftliche Fixierung und Veröffentlichung räumt die Möglichkeit ein, sie durch Wiederholung zu überprüfen – Reproduzierbarkeit im doppelten Wortsinn trägt das empirische Experiment“. (Dotzler 2002, S. 109)

Überprüfen heißt prüfen, ob etwas stimmt, korrekt durchgeführt und sachverhaltsadäquat ist, ob es mit vermeintlich gesicherten Erkenntnissen übereinstimmt, ob es mit vorangegangenen Experimenten, anderen Positionen oder Theorien verbindbar, kombinierbar ist oder aber in Widerspruch steht. Auch dieses semantische Potenzial von stimmen als richtig im Gegensatz zu falsch-sein, von zutreffend-sein, aufeinander bezogen-sein, von ästhetisch stimmig-sein oder von rhetorischer Konzinnität klingt mit, wenn der Begriff der Stimmung im objektiv koordinierenden Sinne Anwendung findet. Die Reaktivierung dieser älteren Bedeutungsschicht zielt allgemein auf das Herstellen von objektiven Bezügen, ihre Vergegenwärtigung und Verhältnisbestimmung; insbesondere auch auf das Stiften von lebenspraktischer, sozialer, religiöser oder politischer Ordnung, deren Realisierung zugleich das Moment der Subjektivierung von Stimmungen als „gruppenformende[n] Medien“ (vgl. Sloterdijk 2001, S. 23) signalisiert. Ob es sich um das Gewahrwerden einer kosmotheologischen Ordnung von antiker Weltenharmonie durch eine politische Gemeinschaft handelt oder um die Wahrnehmung einer kulturhistorischen Ordnung von modernen Wissensbeständen durch eine scientific community oder aber um die Wahrnehmung von ästhetischen Zeichenordnungen in Kunstwerken – das ist für die Stimmung als medial kommuniziertes Beziehungsverhältnis allerdings unerheblich. Es ist gerade diese Indifferenz der Stimmung gegenüber dem durch sie Vermittelten was sie als Medium kennzeichnet. Auch hier gilt, dass sich nur etwas durch etwas als etwas zeigen muss, damit der Sachverhalt der Medialität vorliegt. Dieser zeigt sich auch an einem so allgemeinen Stimmungsverhältnis wie dem zwischen Selbst und Welt, vorausgesetzt letztere ist als Wirklichkeit vermittelt, d.h. als die integrale und dynamische Gesamtheit potenzieller Erfahrung von geschichtlich wirksamen Kräften. Wenn nämlich aufgrund ihrer Unbestimmtheit und Formempfänglichkeit „Materie das Medium der Realität“ (Luhmann 2002, hier S. 300)

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abgeben konnte – etwa für eine ontologische Metaphysik –, so kann aus denselben Gründen Stimmung als das Medium der Wirklichkeit angesehen werden. Die terminologische Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit dient hier dazu, traditionell zu deren Differenzierung verwendete Schemata wie Geist/Materie oder Innen/Außen zu suspendieren, um dadurch näher an die Medialität von Stimmungen heran zu kommen. Danach meint Realität den objektiven Zusammenhang der Welt als Gesamt von Tatsachen und physischen Dingen in einem raumzeitlichen Kontinuum. Demgegenüber bezeichnet Wirklichkeit die dynamische Verkopplung dieser äußeren Realität mit den sinnlichen Apparaturen eines Subjekts der Wahrnehmung. Im Vollzug des Wahrnehmens des real Gegebenen erfährt das Abstraktum (‚äußere‘) Realität seine Konkretion, d.h. Wirklichkeit ist realisierte Realität. Sie gehört weder dem Bereich subjektiver Innerlichkeit, noch dem objektiver Äußerlichkeit allein an, sondern bildet deren sie verbindenden Grenzverkehr. Mit solcher stimmungsmedialen Wirksamkeit kommt der Wirklichkeit eine ontische Sphären erschließende statt trennende Funktion zu. Ihre Konstitution steht im ontologischen Zeichen des Werdens. Denn die Wirklichkeitskonstitution ist als stets vorläufiges Resultat von Rationalität aufzufassen und wird fortlaufend als ästhetische Wirkung koproduziert; und zwar von den chronischen Prozessen des sinnlichen Wahrnehmens und imaginativen Vergegenwärtigens. Diese laufen bereits ab bevor Prozesse der Reflexion und Erkenntnis stattfinden oder sie in dieselben übergehen, welche die dann auch als objektiv benennbaren Wirklichkeitsanteile hinsichtlich ihrer Materialität realisieren. Das Medium dieser solchermaßen als transitorisches Ergebnis jeweiliger Wahrnehmungsvollzüge verstandenen Wirklichkeit aber ist die Stimmung. Sie prozessiert dabei zunächst als Arbeits- oder Zwischenspeicher der für die Konstituierung von Wirklichkeit selektierten Sinnesdaten. Sodann ist Stimmung ein präreflexives Wahrnehmungsmedium, in welchem die Daten für weitere Kombinationen präpariert werden. Stimmung ist hier nicht mehr rohe Sinnesdatenmasse und noch nicht logisch geordnete Wahrnehmung – nicht einmal gerichtetes Gefühl. Als ein solches ProtoWissen ist sie bereits unterhalb der Bewusstseinsschwelle und gewissermaßen immer als wahrnehmende Weltbeziehung aktiv. Namentlich indem sie dort die unablässig einlaufenden Daten der Sinneswahrnehmung sowie der memorialen, imaginativen und volitiven Ströme, welche das prätranszendentale Feld überfluten, vorläufig in affektiven Bahnen kanalisiert. Noch bevor also die Sinnesdaten zu Informationen kognitiv weiterverarbeitet werden und sich als Bewusstseinsinhalte darstellen und schließlich dargestellt werden können, sind sie primär das Material einer konfusen (Erst-)Reaktion. In dieser geht die permanent anschwellende Sinnesdatenmenge mit Elementen der emotionalen Struktur eine instabile Verbindung ein, welche ihrerseits psychogenen, affektiven und assoziativen Impulsen ausgesetzt ist und durch diese mitformiert wird. Stimmung ist so gesehen eine aisthetische Konnotationsmatrix und als solche bewussten Vorstellungen und Willensakten, Gefühlen und Gedanken vorgeschaltet. Aus der von psychischen und natürlich von physiologisch mitbefeuerten Kettenreaktionen durchzuckten Masse an Sinneseindrücken nimmt schließlich dasjenige Gestalt an, dem wir als fein ‚getuneter‘ Stimmung zwischen Selbst und Welt begegnen – sei es zu bestimmten Zeiten oder in gestimmten Räumen, sei es in uns selbst. Weder gehört solch eine Wahrnehmungssynthese eindeutig zur Welt oder zum Ich,

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noch etwa ist Stimmung gänzlich jene oder dieses. Sie kann Ich und Welt nur vermitteln, und kann dies, da sie weder in jenem noch in dieser aufgeht. Ihre schier unbegrenzte Empfänglichkeit für Stimuli von beiden Seiten qualifiziert sie zum Medium von Wirklichkeit im beschriebenen Sinne von wahrnehmungsdynamischer Realität. Je nach Überwiegen der Welt- oder aber der Selbstanteile wird sie jeweils als meine Stimmung oder aber als diejenige erfasst, der ich ausgesetzt bin. Unabhängig von der Zuschreibung ihrer Konstitutionsgründe im Innen oder Außen, kann sie keinesfalls ohne wechselseitige Beziehung derselben erklärt werden. Mit Heidegger ist die Stimmungsräumlichkeit ohnehin eine solche, in der jedes Innen nur als ein von und im Außen gestimmter Ort spürbar sein kann: „Stimmung ist nie ein bloßes Gestimmtsein in einem Innern für sich, sondern ist zuerst ein so und so sich Be-stimmen- und Stimmenlassen in der Stimmung. Die Stimmung ist gerade die Grundart, wie wir außerhalb unserer selbst sind. So aber sind wir wesenhaft und stets.“ (Heidegger 1998, S. 100) Die topologisch offene Struktur der Stimmung ist zudem prozessual offen für die Integration einer potenziell unbegrenzten Menge an welt- und ichhaften Elementen gleichermaßen. Der Wahrnehmung in actu zuarbeitend und dadurch selber wahrnehmbar werdend, nimmt die Stimmung eine vorläufige Selektion aus dieser Unzahl an Elementen vor. Deren lockere Verknüpfung, gegenseitige Profilierung und situative Koordinierung leistet sie ebenso wie sie deren abrupte Exklusion vollziehen kann. Stimmung ist ein freies Kombinationsspiel von Wirklichkeitsmöglichkeiten, d.h. sie besteht stets vor der Realisierung einer bestimmten Möglichkeit von Wirklichkeit. Durch ihre strukturelle Offenheit für Ereignisse genauso wie für deren Ausfall – die Leere der Zeit – ist die Stimmung aber auch einem virtuell unausgesetzten Gestaltwandel unterworfen. Ihr Mitgleiten im Strom der Zeit qualifiziert sie zum Wahrnehmungsorgan für Geschichte. Dadurch kann Stimmung in literarischer Darstellung zum Gegenstand einer Literaturforschung werden, die Texte innerhalb historischer Konstellationen untersucht und die Bedingungen ihrer Entstehung und Wirkung rekonstruiert. Ihre kontinuierliche Wandlung – Dilthey sprach von der Korruptibilität von Zeit und Leben – teilen Stimmungen mit der zeitgeschichtlichen Gegenwart. Insofern letztere durch ideosynkratische Stimmungen hindurch individuell wahrgenommen, aber auch kollektiv verarbeitet und wieder objektiviert wird, wurde in der Nachfolge Diltheys die Stimmung (einer Zeit, einer Epoche, einer Nation usw.) zur geschichtsphilosophischen Kategorie. Wie dadurch erst beim späten Dilthey der Weltanschauungslehre von Lebens- und Grundstimmungen die Rede ist, so spricht auch im Unterschied zu Sein und Zeit erst der späte Heidegger von „Grundstimmungen“ in Korrelation zu Epochen des Denkens.26 Während aber die geschichtliche Zeitstimmung als jeweilige Gegenwartsgestalt stets zum Gegenstand der Historiographie erst werden wird, ist sie immer schon aktueller Gegenstand literarischer Verarbeitung. Auf diese Weise konnte Literatur über Jahrhunderte hinweg bis in die Gegenwartsmoderne ihre Funktion als Medium der Wahrnehmung, Reflexion und Darstellung von historischer Wirklichkeit ausüben. 26 Vgl. Heidegger 2003b, S. 24ff. Zum Begriff Grundstimmung bei Heidegger siehe Held 1991.

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Wie aber praktiziert Literatur ihre seismographische Medienkunst? Wiederum durch Medien, namentlich die Schrift, den Buchdruck, durch die Sprache in ihren poetischen Formen, welche ihrerseits mediale Prozesse einsetzen, konfigurieren und ästhetisch Gestalt gewinnen lassen. Unter den das menschliche Selbst-Welt-Verhältnis organisierenden Medien ist – worin Heideggers Analyse befindlichen Daseins zuzustimmen ist – dasjenige der Stimmung von fundamentaler Bedeutung. Sieht man von der existenzial-ontologischen Terminologie einmal ab, verkörpert Stimmung in Sein und Zeit doch die pathische Verdichtung des phänomenologisch aufeinander Bezogenseins von Welt und Selbst und rückt sie darüber hinaus in eine kulturelle Position zwischen Geschichte und Subjekt, Gesellschaft und Individuum. Deshalb wohl wird Stimmung als lebensweltliche Bezogenheit von der Literatur nicht nur als eines ihrer Grundphänomene privilegiert, sondern über ihre Formensprache auch als das Medium erst produziert, durch welches sie sich vermittelt. Dies ist die vorweg genommene Antwort auf die Frage, wie Stimmung als Medium und ebenfalls Literatur als Medium sich zueinander verhalten. Literatur nämlich ist hier – im Sinne Luhmanns – ein Medium zweiter Ordnung, indem sie aus ihrem Verhältnis zum Primärmedium Stimmung die Formen samt Inhalten schafft, durch welche sie diejenigen Stimmungen kreiert, die sie als literarische kommuniziert. Aus diesem intrinsischen Bedingungsverhältnis von Literatur und Stimmung mit seiner wechselseitigen Voraussetzungslogik entstehen also jene literarischen Stimmungen, für deren auf die Lebenswirklichkeit hin geöffnete Welt der Leser zumeist aufgeschlossen, die Literaturwissenschaft aber eher indisponiert ist. Die vorliegende Theorie der literarischen Stimmung konzipiert also zum einen Stimmung als Medium (1. Ordnung). Zum anderen versucht sie daran zu erinnern, dass Literaturtheorie immer auch sich selbst als kritisches Reflexionsmedium (3. Ordnung) der Kultur, dessen Teil sie ist, verstehen sollte – und dies auch kann. Dies aber kann ihr nur gelingen, wenn sie ihren Gegenstand, die Literatur als ein ebenso historisch bedingtes wie künstlerisch versiertes Medium der Beobachtung (2. Ordnung) des kulturellen und zeitgeschichtlichen Geschehens begreift. Erst die überfällige Verabschiedung der Scheinalternative zwischen poetologischer Werkimmanenz einerseits und historischer Kontextbedingtheit andererseits, eröffnet eine angemessene Perspektivierung, welche namentlich essentialistische Restriktionen des Literaturbegriffes ebenso ausschließt wie kulturalistische Verallgemeinerungen desselben. Danach ist Literatur aufgrund ihrer genuin ästhetischen Materialität als Medium zeitlich und damit auch geschichtlich gestimmter Befindlichkeit sowie als Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium von kulturellem Wissen zu verstehen. Hierzu freilich wird eine Erweiterung nicht nur des Begriffes von Stimmung, sondern auch desjenigen von Medium erforderlich. Medium wird weiterhin Träger und Mittel von technischer Kommunikation und Informationsspeicherung, von kulturellem Wissenstransfer und epistemischer Objektkonstruktion meinen. Darüber hinaus aber sollte ‚Medium‘ auch in seinen begriffsgeschichtlich und kulturhistorisch älteren Bedeutungsschichten erneut verwendbar sein, insofern diese zu besserem Verständnis kultureller Praktiken, historischer Prozesse und wissenschaftlicher Entwicklungen – kurz: zum Verstehen von Gegenwart beitragen. Dabei ist die Inflationierung des Medienbegriffes solange nicht zu fürchten, wie mithilfe desselben die Komplexität von zugleich temporalen, materialen und kognitiven Prozessen reduziert und in ihrer Produktivität erklärt werden können. Dies allerdings ist

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der Fall, wenn hier Stimmungen sowie Literatur als Wahrnehmungs- und Darstellungsmedien erörtert werden, welche ihren jeweiligen Gegenstand transformativ vergegenwärtigen oder sogar performativ selber hervorbringen. Sowohl hinsichtlich der Stimmung als auch der Literatur lässt sich mit dem Medienbegriff das für Wahrnehmung und Darstellung konstitutive Zusammenspiel von Phänomenen der Zeitlichkeit und Räumlichkeit, der Prozessualität und Situativität, der Empfindung und Erinnerung, der Dinglichkeit und Imagination, der Materialität und Funktionalität erfassen. Schließlich kann erst die als Medium – genauer: als Kopplung von Medien verstandene literarische Stimmung als vorgängige Erfahrung ihrer ästhetischen Einheit reflektiert, in ihrer komplexen Phänomenstruktur analysiert und so als literaturwissenschaftliche Kategorie auch methodisch eingesetzt werden. Von der in Literatur genuin ästhetischen und zugleich historischen Basis ihrer Medialität aus ließe sich die kognitive Funktion der Stimmung dann auch in Philosophie und Wissenschaft besser verstehen. Deren unterschiedliche, konkurrierende wie ergänzende Produktionen kulturellen Wissens hätten demnach auf transzendentaler Ebene, wo Einbildungs- und Verstandeskraft, Phantasieimpulse und Vernunftansprüche um ihre Anteile am Erkenntnisprozess streiten, etwas gemeinsam: nämlich dass sie dort bereits gestimmt oder eben vorgestimmt sind. Aufgrund der ästhetischen Bedingtheit kultureller Wissensproduktion durch Stimmung, erhielte letztere nicht nur für die Rekonstruktion von literarhistorischen, sondern auch epochenhistorischen Konstellationen ihre methodische Bedeutung. Sie könnte – hier allerdings spekulativ – als Symptom kollektiver Befindlichkeiten in der Geschichte den vibrierenden Untergrund einer allgemeinen Verfassung in ähnlicher Weise bilden wie sie als existenziale Befindlichkeit des In-der-Welt-seins den tragenden Untergrund einer individuellen Verfassung bildet. So würde die literaturtheoretische Ausarbeitung des Stimmungsbegriffes dazu führen, ein in ästhetischen Objektivationen vermitteltes und als ein über dieselben vermittelndes Phänomen auch zum Gegenstand historiographisch und kulturwissenschaftlich breiter angelegter Studien zu machen. Dabei käme unter stimmungstheoretischen Aspekten dem Geschichtsdenken von Herder bis Heidegger besondere Bedeutung zu, insofern kulturhermeneutische und ereignishafte Momente systematisch zu verbinden wären. Die in vorliegender Studie spezifisch literaturwissenschaftliche Erforschung von Stimmungen findet demgegenüber ihren nicht-spekulativen Gegenstand in deren ästhetisch-historischen Objektivationen selbst. Denn Stimmungen in einem als SchriftMedium fungierenden Text werden durch diesen ihrerseits als – im Fall Werthers sogar ihrerseits als literarisch (Goldsmith, Klopstock, Homer, Ossian) induzierte – Medien gezeigt, welche ein wahrnehmendes Verstehen ohne semantische Determinierungen vollziehen. Bei Moritz und Tieck, aber etwa auch bei Heinse, kommt diese Rolle der Malerei oder Musik, mitunter einer Kombination von beiden zu. Dieses vorläufige – von seinem möglichen Scheitern schon informierte aber noch unbeirrte – Verstehen ist indes Gegenstand propositional ausdrücklichen Verstehens im Interpretationsvorgang. Insofern Verstehen als etwas, nämlich als wahrnehmendes verstanden wird. So bilden Stimmungen in ästhetischer Textgestalt den Grund in der Literatur, der diese hier zum wissenschaftsfähigen Gegenstand macht: und zwar nicht obwohl, sondern insofern er ein schwankender Grund ist. Methodologisch mitreflektiert wird dadurch, dass Stimmungen verstanden werden können noch und gerade als die figurierte Unmöglichkeit eines Verstehens, das ohne semiotisch konsolidierte Erfah-

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rung auszukommen sucht. Literatur wird durch die Fokussierung der Lektüre auf Stimmungen zu einem Medium, dessen historische Erforschung auch dem Verstehen des Untersuchenden selbst zeigt, was Verstehen ist und nicht sein kann: dass es ästhetisches Verstehen von Literatur geben kann oder keines. Literaturhistorische Stimmungsforschung betreibt so gesehen die Wissenschaft von der ästhetischen Erfahrung des Verstehens von Literatur. Was literarische Stimmung als Phänomen sichtbar macht und zu verstehen gibt ist dasjenige Historische, was nur ästhetisch zu verstehen und zu erklären ist, auch und gerade weil sich darin rationales Verstehen in seinen Grenzen erfährt. (Vgl. Jung, Hermeneutik 155, 158)

8. D EFINITION VON S TIMMUNG : S TUFE III – DIE ONTO - MEDIOLOGISCHE S TIMMUNG In der onto-mediologischen Dimension von Stimmung sind zwei begriffliche Perspektiven ineinander geblendet: (1.) Da ist erstens die ontologische Perspektive auf dasjenige, was sich in der phänomenologischen Wahrnehmung durch die Sinne zur Wirklichkeit sammelt. Solches als Stimmungswirklichkeit wahrgenommene Sein wird zumeist als transitorische Einheit erfahren. In Literatur oder durch befindliches Verstehen verdichtet sich diese flüchtige Wahrnehmungseinheit – manchmal zu einem Sinn von Sein. Diese teils empirische, teils transzendente (Doppel-)Perspektive der Sinne und des Sinns strukturiert aber auch die Stimmung als sich in der Welt gewöhnlich zerstreuendes Wahrnehmen und Verstehen. Sie schließt auch das Verstreute ein, was jene – die Sinne – nur vage wahrnehmen oder nicht ganzheitlich halten können und was diesen – den Sinn – an der Vielheit des Andersseins orientiert und ihn von seiner Selbstverfestigung in der Zeit abbringt. Die ontologische Stimmungsperspektivierung zentriert das Verstehen also nicht auf den existenziellen Sinn von Erfahrungen, sondern auf die in sie eingebetteten Möglichkeiten phänomenologischen Zur-Erscheinung-Kommens selbst. (2.) Da ist zweitens die mediologische Perspektive auf das Sich-Zeigen der Stimmung und auf ihr als solches Gezeigtwerden in der Literatur. Medial ist darin die Stimmung kraft ihres topologischen Vergegenwärtigungseffektes, der sie selbst erst als jenes evidente (Da-)Zwischensein und In-Beziehung-Seiende hervorbringt. Die analytische Aufmerksamkeit richtet sich hier also auf die ästhetische Performanz, durch welche diese Stimmung erst wird, was sie ist. Erst in der spatialen Dimension des Darstellenden zeigt sich die Wahrnehmungsstruktur des Dargestellten: medial ist Stimmung das ‚Zwischen‘ zwischen Relaten, welche darin das sie konstituierende Vermittlungsgeschehen finden. Dieses generative Stimmungs-Zwischen schwebt zugleich über der bipolaren Seinsstruktur und ist als ein solches onto-mediologisches Drittes die den ästhetischen Begriff der Stimmung prägende Theoriefigur.

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Stimmung ist als eine solche onto-mediologische Stimmung auf einer Metaebene angesetzt, welche die auf ihren Definitionsstufen I und II vorgenommenen Bestimmungen poetologisch integriert. Erläuterung: Die auf der Ebene zu untersuchender Texte als poetisch-phänomenale verortete Stimmung (Stufe I) wird zum einen hinsichtlich der den dargestellten Phänomenen selbst zukommenden Medialität betrachtet. Diese Phänomene können in der lebensweltlichen Befindlichkeit fiktionaler Personen, in Gefühlslagen interpersonaler, lebensgeschichtlicher oder handlungsbestimmter Situationen und deren sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen verankert sein. Sie können ihre poetische Halterung in naturalen Ensembles wie Landschaften, Wetterlagen, tages-, jahres oder lebenszeitlichen Atmosphären, in kulturellen Bezügen wie zeitgeschichtlichen Ereignissen oder historischen Konstellationen sowie in intermedialen Settings haben. Immer rückt dabei die Medialität in den Vordergrund, insofern durch Stimmungsphänomene hindurch sich etwas als Bestimmtes zu zeigen anfängt, sich etwas an assoziative, memorative, imaginative, kognitive Prozesse angeschlossen erweist. Ohne diese Stimmungsmedialität könnten sich Sinn und Bedeutung nicht aus ihrem sprachbasierten Verweisspiel herausheben. Zum anderen wird neben diesem sachlich und semantisch bestimmten Medienaspekt von Stimmungen in der Literatur auch deren figurativer, ästhetischer und materialer Medienaspekt geltend gemacht. Denn Sprachbilder und -rhythmisierungen, Metaphern im weiten Sinn (inklusive Vergleiche, Gleichnisse) und Klangformen, ein Heer von Tropen und Tönen leisten in der Sprache als Schrift, was die mediale Aufgabe von deren älteren Geschwistern, dem Bildnis und der Stimme war: etwas durch etwas als etwas zeigen – sei es auch etwas anderes. Wenn die uneigentliche Rede etwas genuin poetisch bespricht, gibt es dasselbe ‚eigentlich‘ nicht. D.h. das ästhetische Surplus gegenüber eigentlicher Rede ergibt sich aus der Kreativität der poetischen Sprache, insofern sie erschafft, was anders nicht da, jedenfalls nicht in Sprache formulierbar wäre. Eine solchermaßen nach allen ungeschriebenen Regeln der Kunst performative Sprache ist die mediale Praxis der Selbstausweitung des Sagbaren um die ästhetischen Dimensionen des Unsagbaren. Wie das kulturhistorisch frühere Bild als Medium der Vergegenwärtigung von Abwesendem fungierte, so artikuliert die Sprachkunst diskursiv nicht Artikulierbares. Vor allem durch bildhafte und musikalische (Syn-)Ästhetisierungen arbeitet sie daran, Stimmungen als vorsprachliche Wahrnehmungsphänomene von ihrerseits medialem Charakter zur Darstellung zu bringen. Eine solche auf Medienqualitäten der inhaltlichen Phänomenalität und der poetischen Sprachlichkeit von Literatur eingestellte Analyse aber erfolgt bereits unter Inanspruchnahme des poetologisch-explikativ gewendeten Stimmungsbegriffes (vgl. Definitionsstufe II). Gewannen wir diesen aus der methodologisch abstrahierenden Distanz der Beobachtung von Literatur als Beobachtungsmedium, so entsteht die Definitionsstufe III durch Eingrenzung der literaturwissenschaftlichen Reflexionsebene auf deren medientheoretischen Umkreis. Innerhalb desselben wird der Aspekt der phänomenalen Beziehung fokussiert, indem die auf literarischer Ebene beobachtbaren inhaltlichen und formalen Aspekte ästhetischer Stimmung ihrerseits in medialer Perspektive betrachtet werden: zum einen wird alles dargestellte Phänomenale (Wahrnehmung, Raum, Zeit, Natur, Liebe usw.) fokussiert, so dass diese ‚themati-

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sche‘ Stimmungsdimension als Beziehungsmedium erkennbar wird (Inhaltsaspekt); zum anderen wird das darstellende Sprachliche (Rhetorik, Poetik, Textästhetik) fokussiert, so dass die ‚gestalterische‘ Stimmungsdimension als Darstellungsmedium erkennbar ist (Formaspekt). Wie der analytische Umgang mit Literatur seit je an die Einsicht in die Untrennbarkeit von Inhalt und Form herangeführt hat, so muss auch die auf literarische Stimmung eingestellte Perspektive hier mit einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis rechnen. Ebenso wenig wie es Stimmung als literarisiertes Beziehungsmedium ohne Darstellungsmedium geben kann, so wird sich umgekehrt kein Darstellungsmedium ohne Reflektieren des Dargestellten in ihm bilden können. Die beziehungsmediale Dimension bedingt die Ausformung der die Stimmung poetisch zur Sprache bringenden darstellungsmedialen Dimension mit. In unseren auf Literatur konzentrierten Analysen zeigt sich dies an den Gattungsdifferenzen zwischen Briefroman (Werther), ‚allegorischem‘ Romanfragment (Hartknopf) und Tragödie (Abschied). Der vom Phänomen über seine Versprachlichung reichende Aspekt der ästhetischen Beziehung zeigt, was die Medialität als die Logik der Stimmung ausmacht. Das in seiner Beziehungslogik erhellte Phänomen des Medialen nennen wir Mediologie, deren Begriff sich darin von dem kulturanthropologisch und diskursanalytisch geprägten Begriff der Mediologie bei Koschorke (1999) unterscheidet. Was aber heißt es, wenn wir bei dieser begrifflichen Abstraktion nicht allein von einer Mediologie der Stimmung sprechen, sondern von deren Onto-Mediologie? Zum einen fragt Onto-Mediologie unter seinstheoretischem Aspekt danach, was, wie, wann und wo Stimmungen sind und unter welchen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und mediengeschichtlichen Bedingungen sie so geworden sind: was Gestimmtsein von Dingen, Räumen, Zeiten, insbesondere aber für Menschen bedeutet; wie Stimmungen gespürt werden; wann sie auffällig werden und wo sie zu verorten sind. So gesehen zielt Onto-Mediologie durchaus darauf ab, mit der phänomenologischen auch die existenzielle und geschichtliche Grundierung literarisierter Stimmungen zugleich sichtbar zu machen: ekstatisches In-Stimmung-sein im topologischen Sinne eines draußen Bei-sich-seins oder eines der Welt wie des Selbst gegenwärtigen Außer-sich-seins. Mit dieser vieldeutigen aber deutlicher zur ontischen Welt hin offenen Perspektivierung begreifen wir Stimmung mit den seit Sein und Zeit geläufigen Termini als räumlich gespürtes In-der-Welt-sein und nicht als ontologisch introvertierte Befindlichkeit. Das Ontologische der Stimmung ist danach in einem Wirksamsein des Darin zu verstehen, d.h. in welchem etwas existent, ‚da‘ oder überhaupt etwas ist, indem es wahrgenommen wird. Zugleich ‚außer sich‘ und ‚in etwas‘ zu sein aber ist der spatiale und zugleich mediale Wahrnehmungsmodus der Stimmung, der das Selbst-Welt-Verhältnis ontologisch erhellt und es ontisch als In-BeziehungSeiendes gründet. Dadurch aber ist Stimmung nicht im existenziellen Sinn von Sein zu interpretieren, sondern im phänomenologischen Sinn ihres Erscheinen selbst. Zum anderen fragt Onto-Mediologie unter medientheoretischem Aspekt danach, als was, wie, wann und wodurch Stimmung dargestellt wird: als was sie erscheint, um Bedeutsamkeit zu erhalten, wie Stimmung als Präsenzform funktioniert; wann sie sich zeigt; und wodurch ihre Wirksamkeit und performativ sie selbst entsteht. So gesehen zielt Onto-Mediologie durchaus darauf ab, Ermöglichungsbedingungen von Sinn und Bedeutung zu erkunden. Sie will jenen im Anthropologisch-Ekstatischen aufscheinenden Seinsstatus als einen des Dazwischen-Seins und des In-Beziehung-

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Seienden verstehen: nicht ganz Innen und nicht ganz Außen, aber im Äußersten darinnen sein; die Subjekt-Objekt-Beziehung unterlaufend und überformend; eigentlich weder seiend noch nicht-seiend; uneigentlich der Rede nach, welche Stimmungen metaphorisch auf außersprachliche Referenzen bezieht und doch in der poetischen Sprache selbst generiert. So vermag Literatur die onto-mediologische Stimmung als situative Offenheit derjenigen Welt zu zeigen, in der wir nicht nur sind, sondern deren primordiale Ekstase uns auch trägt. Denn im gestimmten Weltinnenraum sind wir fortgesetzt auf anderes bezogen und erst dadurch auch bei uns selbst befindlich. Dabei vermittelt Stimmung in Literatur durchaus die Erfahrung von Sein. Jedoch wird ‚Sein‘ dabei anders als im Denken Heideggers nicht zum Ereignis einer numinosen Präsenz abstrahiert (Seyn), sondern zum Ereignis situativer Begebenheiten konkretisiert. Im Gegensatz zu der in der Seinsphilosophie zur Geschichtlichkeit überhaupt geronnenen Geschichte wird diese in der Literatur durch Stimmungen hindurch als das kontingente Geschehen heterogener Wirklichkeiten historisch erfahrbar. An die philosophische Stelle des Sinns von Sein, wie sie durch existenziale Zeitlichkeit definiert ist, tritt im literarischen Feld der Sinn von Darstellung: die Möglichkeiten der ästhetischen Selbstexplikation zu zeigen, wie sie der Bedeutungsvielfalt von Texten, die ‚an ihrer Zeit‘ sind, eingeschrieben sind.

IV. Historische Perspektivierung und Prämissen

1. ALS

DIE

S TIMMUNG

IN DEN

V ORDERGRUND

TRAT

Literarische Texte und literaturgeschichtliche Kontexte

Unsere theoretische Exposition der Stimmung erfolgte in Auseinandersetzung mit einem Denken, das im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die Lebensphilosophie Diltheys mit der Phänomenologie Husserlscher Prägung epistemologisch ‚griffig machte‘ und sich mit Sein und Zeit zu einer Fundamentalkritik neuzeitlicher Metaphysik formierte. Damit verschob sich beim Begriff der Stimmung der semantische Gravitationspunkt vom psychologischen Erleben von Gefühlszuständen hin auf existenziale Räumlichkeit und Zeitlichkeit sowie von der Subjektivierung des ‚objektiven Geistes‘ (Hegel/Dilthey) hin zur Objektivierung von phänomenologischen Wahrnehmungsvollzügen. Diese konzeptionelle Dezentrierung der Stimmung weg vom affektiven Ich und reflexiven Selbstbewusstsein haben wir philosophisch nachvollzogen, anschließend aus ihrer seinstheoretischen Perspektivierung bei Heidegger herausgenommen, um sie stattdessen poetologisch auszurichten. Maßgebend waren dabei allgemein gehaltene Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Literatur wie es sich auf der Grenze zwischen diesen in vergleichender Betrachtung darstellt. Indes gingen genauere Beobachtungen im Feld literarischer Texte einerseits, im Feld der Ästhetik und Poetik andererseits bereits unserer Definition von Stimmung voraus. Sie liegen somit deren thesenartiger Formulierung für die philologische Praxis implizit zugrunde. In diesen Beobachtungen zeigten sich ästhetische Phänomene, deren Bezüge zu demjenigen, was wir von ihnen ausgehend und also vorläufig als Stimmung theoretisch gefasst haben, nun explizit gemacht werden sollen. Hierzu wird im Folgenden Literatur aus jenem historischen Raum-Zeit-Segment näher untersucht, in dem ihre avancierten Texte von Stimmungen nicht nur beiläufig handeln, ornamental Gebrauch machen oder ‚irgendwie‘ mitbestimmt sind, sondern erstmals von Stimmungen durchstrukturiert, poetologisch getragen oder insgesamt getönt erscheinen. Eine solch weitgehende Prägung durch das Stimmungsphänomen betrifft selbstverständlich nicht alle, auch nicht die meisten Werke (in) der erstmals von Korff so genannten Goethezeit (1770-1830). Jedoch gilt sie – in unterschiedlichem Maße – zunächst für viele Werke, die entweder eine eminente und prominente Rezeptionswirkung (z.B. Goethes frühe Lyrik, Werther, Lehrjahre) hatten oder aber als besonders aufschlussreich – wenn nicht exemplarisch – für die literaturgeschichtliche Entwicklung

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ihrer Zeit angesehen werden (z.B. Tiecks frühe Dramen, Der blonde Eckbert; Eichendorffs Gedichte oder Das Marmorbild). In narrativen, dramatischen sowie lyrischen Texten werden Wahrnehmungs- und Gefühlsdarstellungen, lebensgeschichtliche Reflexionen, tages- und jahreszeitliche Symbolik sowie Musik-, Kunst- und Naturmetaphern zur Generierung unterschiedlichster Stimmungen eingesetzt. Insofern diese einem konventionellem Regime unterstehen, können Stilanalysen Auskunft über deren historische Semantik geben. Solche literarische Tradierung von Stimmungen erfolgt mittels Lexik und Metaphorik (einschließlich Vergleiche, Gleichnisse, Metonymien), über Allegorien und Symbole sowie durch Topoi und Motive, die einzeln oder im Verbund Stimmungen kodieren. Mit dem Konzept der Kodierung hat Winko einen methodischen Zugang zu Gefühlen in Texten erarbeitet. Danach werden Emotionen von Literatur nicht nur dargestellt, sondern auch historisch mitgeformt, wodurch das Entziffern der literarischen Gefühlskodes zu einer Form der historischen Gesellschafts- und Kulturanalyse genutzt werden kann.1 Wenn aber die Herstellung von Stimmungen in Texten einem emphatisch individuellen Impuls folgt, muss der Vorteil konventioneller Kodes, nämlich ihre Verständlichkeitsgarantie, zumindest eingeschränkt werden. Nur so können Spontaneität, Konnotativität und Innovativität des sprachlichen Ausdrucks erreicht werden, die einst auch eine inzwischen verblasste Metaphorik oder abgenutzte Lexik auszeichneten. Sie erst ermöglichen das Entstehen – genieästhetisch gesprochen: das Schöpfen, wissenspoetisch gewendet: das Erfinden – von Stimmungen im Text. Als Beleg für unsere These vom historischen Bedeutungszuwachs von Stimmungen für die deutschsprachige Literatur nach 1770 können also nicht allein Formen der Umcodierung, Neuinszenierung oder auch erstmaligen ‚Literarisierung‘ von Stimmungen gelten. Setzt doch eine solche künstlerische Verarbeitung das vorgängige Bestehen des Phänomens in psychologischer Erfahrung oder gar ein bereits Vorhandensein des Phänomens in der literarischen Tradition zu sehr voraus. Deshalb muss über das Fortschreiben der herkömmlichen Rhetorik von Stimmungen hinaus noch etwas anderes hinzukommen, das ihr Hervortreten in den poetischen Vordergrund zu diesem historischen Zeitpunkt bedingt. Im Rahmen der europäischen Aufklärung und aus deren explikativen Grundzug heraus entsteht eine Vielzahl an Erklärungsversuchen zu dem, was seit und weiterhin unter dem Einfluss der Antike das Schöne ist und als solches im Zentrum der Künste und ihrer Verfahrensweisen steht. Dabei kommt es neben Wiederentdeckungen wie der des Erhabenen, des Idyllischen, des Utopischen oder des Zweckes von Kunst auch zur Diskussion ihrer medien- und gattungsspezifischen Unterschiede sowie Möglichkeiten, die Nachahmung der ‚Alten‘ oder der ‚Natur‘ zu bewerkstelligen. Spätestens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts aber verstärkt sich die Emanzipation der Modernen von den ‚Alten‘, der Kunst durch Identifikation mit der Natur oder der Einbildungskraft gegenüber dem Verstand. Damit einher geht eine poetologische Umstellung von Mimesis auf Poiesis, von Nachahmung einer natura naturata zum Schöpfen wie die natura naturans. Das aus der ideellen Verschmelzung von Na1

Siehe zur konventionellen ‚Kodierung von Gefühlen‘ und Stimmungen in dieser Hinsicht Winko 2003, S. 85-90. Siehe auch Fries 2007.

IV. HISTORISCHE P ERSPEKTIVIERUNG

UND

P RÄMISSEN

| 167

tur und Kunst hervorgehende Genie schließlich hypostasiert ein Konzept von Kreativität – der Künstler als creatura creatrix–, das die moderne Ästhetik teilweise bis heute mitprägt. Das durch die Lektüre von Schriften Shaftesburys und Youngs befeuerte Aufkommen der Genieästhetik, die für die junge Autorengeneration des Sturm und Drang zum Stichwortgeber wird, ist zudem mit der Umorientierung der deutschen Diskussion von französischen hin zu englischen Einflüssen und vom römischen zum griechischen Kulturideal verbunden. Es ist die historische Prozesskonstellation Anfang der 1770er Jahre, in der die Herstellung von Stimmungen in der Literatur vom konventionellen Gebrauch rhetorischer Arsenale auf deren innovativen Gebrauch umschaltet und von der stilistischen Ebene der sprachlichen Ausdrucksfindung auf die kompositionelle Ebene der Textorganisation überzugreifen beginnt. Indem das poetologische Primat von der Mimesis zur Poiesis übergeht, wird das Darstellen von etwas auf seine eigene Tätigkeit als Darstellendem aufmerksam und die Stimmung setzt zu einem doppelten Weg ‚nach innen‘ an: ins Innere des Subjekts der Darstellung wie ins Innere des Objekts der Darstellung. Erst mit dieser aus der Poiesis selbst anhebenden Selbstaufmerksamkeit tritt die ästhetische Stimmung literaturgeschichtlich in den Vordergrund. Dies ist im Anschluss an Klopstock erstmals beim jungen Goethe der Fall. Dessen Werk hat zwar die Tradition zur Voraussetzung, es setzt sich aber von ihr in eine poetologische Eigenständigkeit ab, die dann ihrerseits traditionsbildend wird. Hierbei kommt dem Entdecken von ästhetischen Effekten einer sich frei entfaltenden Sprachbewegung im Einklang mit einem zur Welt hin offenen Selbstgefühl zentrale Bedeutung zu. Zumal das Entdecktwerden von Stimmung auf der Suche nach der poetischen Sprache diesseits von deren historisch-normativen Herstellungsmustern (Klassizismus) und jenseits von lebens- und sozialgeschichtlichen Produktionsbedingungen (Biographismus) macht sie zu dem literarischen Phänomen, dem wir im Nachhinein epochal einschneidende Qualitäten zuerkennen. So wird in der Lyrik seit den Sesenheimer Liedern ein Ton eingespielt, der tradierte Formen transformierte oder sprengte, indem der junge Goethe sie dem Eindruck gleichermaßen persönlicher wie angelesener Erlebnisse aussetzte, um sie dann weitgehend der Eigendynamik des symbolischen Prozesses zu überlassen. Dieser neue ‚Ton‘ – ein Lieblingsbegriff des jungen Herder –, wurde kraft seiner expressiven Subjektivität immer wieder als bereits ‚modern‘ anmutend empfunden. Er steht als ebenfalls musikmetaphorischer Ausdruck dem nahe, was wir als Stimmung identifizieren und als Phänomen erklären wollen. Denn der Ton kann als die aufs Ganze eines Werkes ausschwingende Klanggestalt der akustischen Wahrnehmungsdimension verstanden werden. ‚Ton‘ bildet damit wie die Stimmung eine ästhetische Parspro-toto-Figur nicht nur für Musik, sondern etwa auch für Literatur (Schreib- oder Sprechweise) und Malerei (Farbton), insofern diese ihre Schriftlichkeit bzw. Bildlichkeit synästhetisch oder auch nur analogisch überschreiten. Dieser metonymischen Drift von ‚Ton‘ wie auch von ‚Stimmung‘ korrespondiert einerseits deren unscharfe Verwendung als ästhetische Begriffe, anderseits ermöglicht deren transmediale Sinn-

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dimension erst Betrachtungsperspektiven der Künste in Form von Analogie, Homologie oder Transfiguration.2 In der Lyrik, in deren Formen bereits die Strophik, Rhythmik, Melodie, Reim und Metrik auf Ton und musikalische Stimmung ausgerichtet sind, gehen die intermedialen Sinnaspekte dieser Begriffe eine traditionell enge Verbindung mit den Empfindungsweisen des Produzenten und Rezipienten des Tones bzw. der Stimmung ein. Deshalb wurde und wird Lyrik als besonders affin zu Stimmung, Gefühl oder Emotion verstanden und darüber hinaus die Gattung seit ihrer Diskussion in der Romantik vor allem im Zeichen von Subjektivität charakterisiert. Diese Diskussion nimmt Winko (2003) zunächst theoretisch auf („Emotionalität als implizites Gattungsmerkmal“, S. 119-28), rekonstruiert dann Konzeptionen von Lyrik um 1900 und fügt exemplarische Analysen an. (Vgl.Winko 2007) Auch um 1800 wurde Lyrik bereits als die Gattung eingestuft, die aufgrund ihrer Gefühlsnähe der Subjektivität am ehesten Ausdruck gibt, wie wir in der Einleitung an Hegels Auffassung gesehen haben. Dennoch kann die emphatische Betonung von Subjektivität nach 1770 nicht ohne weiteres als Evidenz für den Aufstieg von Stimmung an die ästhetische Spitze der Poetik um 1800 angeführt werden. Die lyrische Prägnanz von Stimmungen ist keineswegs schon hinreichend erfasst, wenn man sie über eine verstärkte Loslösung von der Formtradition her (Klopstock)3, durch die Öffnung zu freien Rhythmen oder zur individualisierenden Sprachwerdung von gesteigerter Subjektivität bestimmt sieht, die nicht mehr religiös gebunden sind (Goethe). Vielmehr wäre zu zeigen, dass und wie Stimmungen in Gedichten sich dadurch auszeichnen, dass sie gerade die äußeren Umgebungen von inneren Zuständen, mehr und näher die Welt als das Selbst, die Natur gegenüber dem Ich oder die Gegenwendigkeit der Subjekt- und Objektseite von Erfahrung sprachlich in den Blick rücken, wie wir dies am Romanerzählen (Werther) zeigen werden. Damit entziehen sie sich weitgehend der Analyse nach dualen Schemata wie Emotion/Ausdruck, Affekt/Objektivierung oder auch Kontemplation/Einfühlung und lenken die Aufmerksamkeit auf ästhetisch komplexe Schwellenphänomene. Der in solcher Hinsicht kritisch zu erprobende Begriff von Stimmung könnte sich schließlich als geeignet erweisen, klassifikatorisch etablierte, aber systematisch vereinseitigende Begriffe wie ‚Erlebnislyrik‘, Subjektivismus oder Innerlichkeit zu ergänzen oder phänomenologisch sachgemäß zu modifizieren. Zum stimmungsgemäßen Umgang mit moderner Lyrik hat Meyer-Sickendiek (2011) zuletzt eine wichtigen Beitrag mit seinem Buch Lyrik geleistet. In diese Richtung weist aber auch die gegenwärtige Stimmungsforschung4 von Jacobs/Lüdtke/Meyer-Sickendiek (2013) zur Lyrik, wo sie u.a. im Anschluss an das 2

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Die mit dem Ton-Begriff verbundene theoretische Reflexion über Möglichkeiten der Verbindungen der Künste bzw. Medien untereinander wird im 18. Jahrhundert bereits bei Sulzer erfasst. Siehe aber Previsics (2013, S. 147) Beobachtung, dass Klopstock gerade unabhängig von der „freirhytmischen Lyrik im Sinne Staigers“ zu stimmungserzeugenden „Modulazionen“ und einer „rhythmischen ‚Eigensemantik‘ des ‚Mitausdrucks‘ über metrisch gebundene Formen findet. Von den von Meyer-Sickendiek/Reents (2013) publizierten Beiträgen zur Stimmungskonferenz 2012 sind eine ganze Reihe hauptsächlich auf Lyrik bezogen: zwei aus der Perspek-

IV. HISTORISCHE P ERSPEKTIVIERUNG

UND

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kognitive Beschreibungsmodell von Schrott und Jacobs (2011) das Schema des Foregrounding/Backgrounding verwenden, das schon der Gestalttheorie mit zugrunde lag. Von letzterer her wird das Wechselspiel von Foregrounding/Backgrounding den ästhetischen Konzepten der Einfühlung und Abstraktion als Strukturmerkmalen romantischer bzw. moderner, impressionistischer bzw. expressionistischer Lyrik zugeordnet, während deren literaturgeschichtliche und poetologische Trennungen mit der Kategorie der Stimmung zugleich als intrinsische Verbindungen erscheinen. Mit Bezug auf Lampings Lyriktheorie (Lamping 2000) werden so Epochenkriterien zwischen „Romantik bzw. Goethezeit“ samt „Stimmungs- und Erlebnisgedicht“ (ebd. 75) hinsichtlich ihrer systematischen Differenzierung relativiert, insofern Einfühlung und Abstraktion sich wechselseitig bedingen und nicht etwa als Gegenkonzepte ausschließen und nur historisch aufeinander folgen können. Gehörte es zum Selbstverständnis des modernen Lyrikers sich von allem ‚Stimmungsmäßigen‘ (Benn) als trivialen Einfühlungsangeboten zu distanzieren, ja Stimmung in diesem Sinne zu zertrümmern, so erscheint Stimmung unter dem Abstraktionsaspekt des Foregrounding mit einem Mal selbst modern, indem sie vom hermetischen Formgedanken nicht aussondern eingeschlossen ist. In Tiecks Lyrik deutet sich diese Doppelbödigkeit der Stimmung bereits an, wo er semantisch rekonstruierbare Referenzen (Einfühlung/Backgrounding) zugunsten klanglicher und rhythmischer Figuren (Abstraktion/Foregrounding) reduziert. Eine Epochengrenzen konstruktiv relativierende Perspektive werden wir in ähnlicher Weise an Moritz beobachten. Dort lässt sich mit dem Stimmungsbegriff dessen Ausgangspunkt in der Ästhetik der Empfindsamkeit (Einfühlung/Backgrounding) mit seinem theoretischen Zugang zur Ästhetik der klassizistischen Formautonomie verbinden, wie er in den Predigerjahren auch literarisch reflektiert wird. Ob in der lyrischen Dichtung auf Abstraktion oder Einfühlung gerichtet, so sind Stimmungen doch wortgewordene Gefühle, aber sie berühren die Außenseite der Wirklichkeit noch dort, wo letztere von psychischer Disposition präformiert und von Affektprojektionen überflutet erscheint. Besonderheiten solcher Stimmungen in der Lyrik – oft auch im Unterschied zur sog. ‚lyrischen Stimmung‘ – aber sind, dass sie neben und mit der Metaphorik des Sehens solche des Hörens verwendet; vor allem aber, dass ihre formalisierte Sprache nicht vorgängig bildhafte Gefühlslagen oder gar Bewusstseinsinhalte repräsentiert, sondern über den je ‚angeschlagenen Ton‘ – damit ganz wie in Alltagsdiskursen – eine Stimmung erst kreiert. So wenig wie diese in Literatur, Kunst oder Musik generell identisch ist mit Harmonie und Disharmonie und allenfalls deren Übergänge einschließt, so besteht lyrisch erzeugte Stimmung nicht immer in Wohlklang oder aber Missklang. Vielmehr geht sie aus einem offenen Spektrum von Klangnuancen hervor, deren Differenzierung musikästhetisch, kulturanthropologisch, psychologisch, mediengeschichtlich und nicht zuletzt individuell grundiert ist. Oft sind in der Stimmung eines Gedichts akustische Reize zu einer Gesamtqualität integriert, deren Wirkung imaginativ ist, indem zur Schrift geronnene Klänge zugleich Bilder evozieren und Klangnuancen als Farbnuancen erscheinen. Durch die imaginative Übersetzung akustischer in visuelle Reize fungiert die Stimtive der Psychologie, zwei aus der Musikästhetik und vier aus der Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts.

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mung lyrisch als ein Medium der Übertragung zwischen Musik und bildender Kunst. Als synästhetisches Übertragungsmedium aber funktioniert Stimmung in Gedichten auch umgekehrt, wenn sie die Wirkung einer Versifizierung von Bildern, optischen Figuren oder Hell-Dunkel-‚Klängen‘ ist. Dabei kann es im Fall der Ekphrasis, wenn etwa Landschaftsmalerei literarischer Gegenstand ist, zu einer Re-Formalisierung von Farben zu Tönen kommen, die zuvor als Farbtöne oder auch Farbstimmungen musikmetaphorisch erfasst wurden. Die intermediale Dimension von literarischer Stimmung ist keineswegs auf Lyrik begrenzt, sondern findet sich in Prosa (Erzählungen, Novellen, Romanen und Reiseberichten), aber auch in der Dramatik., wie wir bei Tieck sehen werden. In besonderem Maße kommt der Genese von Stimmungen aus intermedialen Arrangements in der eigentlichen Theaterarbeit Bedeutung zu, wo Text und Bühnenbild samt Beleuchtung, dialogisches Sprechen und szenisches Spielen, Prosodie und Choreographie, Musik und Narration dramaturgisch zusammentreten. Etwa zeigt hinsichtlich der die Inszenierungen von Brecht vorbereitenden Regiearbeit (mit Caspar Neher) Marianne Streisand am Beispiel von Herr Puntila und sein Knecht Matti, wie „Wort-, Schrift-, Bild- und Raumkünste in diesem Fall von szenisch praktizierter Intermedialität einen engen Arbeitszusammenhang ein[gehen]. Von der Story ausgehend, zeichnet die Malerei gegenüber der Schrift hier die Eroberung des Raumes vor. Die Malerei gibt den bildhaften Ausdruck vor, indem sie Arrangements schafft, die den Vorgang in neuer Weise auffassen.“ (Streisand 2000, S. 571)

Unabhängig von Inszenierungspraktiken werden wir intermediale Aspekte der Stimmungsproduktion in (Lese-)Dramen der ersten Hälfte der Goethezeit (1770-1800) am Beispiel von Ludwig Tiecks Der Abschied (1792) beleuchten. Darin spielt u.a. ein Portrait die Rolle eines imaginär Anwesenden und das Klavierspielen wird zum szenischen Handlungssymbol interpersonaler (Ver-)Stimmungen. Mit seiner Abwendung vom klassizistischen Vorbild Frankreich und hin zum englischen Genie-Ideal zeigt sich ein Hervortreten von Stimmungen im deutschsprachigen Drama etwa auch an der Theatralisierung von Alleinsein in Monologen und daran, wie diese eine gedankliche sowie emotionale Selbstexplikation darstellen (z.B. Goethes Faust, Tiecks Abschied). Hinzu kommen dramaturgische Mittel wie räumlich-szenische Bühnenanweisungen und Figurenbeschreibungen, die auch für das Lesen von Dramen relevant sind; oder narrative Verklammerungen von Szenen, deren freiere Abfolge und Heterogenität von historischer Couleur und sozialer Atmosphäre eingebunden werden (z.B. Götz von Berlichingen). Von einer den Text prägenden Wirkung von Stimmungen kann indes erst dann gesprochen werden, wenn ihre Konstituierung aus dem Verhältnis von situativen Bedingungen und den persönlichen Dispositionen der Figur(en) Gegenstand der sprachlichen Darstellung wird. Fries unterzieht in seiner semiotischen Perspektive diese Art Darstellungsgegenstand einer Formalisierung, indem er am Beispiel von Büchners Leonce und Lena von „emotionalen Szenen“ spricht, die „durch die Beschreibungseinheiten Experiencer, Stimulus, emotionale Werte sowie aus Urteilen über Bedingungen emotionaler Bewertungen konstituiert“ sind. (Fries 2009, S. 22) Ohne die damit gewonnene analytische Explikation ist eine solche Differenziertheit in jedem Entwerfen, Spielen oder Verstehen von Dramenszenen implizit am Werk. Von einer Poetologie der Stimmungen sprechen wir aber

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erst dann, wenn ihre Erzeugung (Poiesis) – sei sie dialogisch, reflexiv, intermedial und/oder rhetorisch inszeniert – maßgeblich der Charakterisierung der Hauptfiguren sowie dem Aufbau und der Steuerung des dramatischen Konflikts dient. Da dies in Tiecks Der Abschied auf besonders eindrückliche Weise der Fall ist, haben wir dieses Drama ungeachtet und auch wegen seiner geringen Beachtung in der Literaturgeschichte gewählt. Dass und wie indes auch ein stärker repräsentativer Dramentext der Epoche deutlich von seiner Stimmungsproduktion lebt, könnte an Goethes Faust gezeigt werden, wo im Gegenzug zu ästhetischen Anleihen bei der sphärenharmonischen solche bei der gnostischen Tradition gemacht werden, aus der die zweite Seele Fausts ihre Stimmungen bezieht. (Vgl. Hajduk 2010) In der Prosa untersuchen wir zuvor mit Die Leiden des jungen Werther einen weiteren Text von Goethe, der diesem nach dem ersten großen Erfolg des Götz den auch internationalen Durchbruch zu Anerkennung, ja frühem Ruhm einbrachte. Da und auch obwohl das Genre Briefroman auf dem neu entstandenen und gewissermaßen boomenden Literaturmarkt der 1770er Jahre bereits gut etabliert war, ist es bemerkenswert, dass dieser in mancher Hinsicht wenig originell wirkende, die Empfindsamkeit scheinbar nur ins Exzessive fortschreibende Roman einer ‚tragisch‘ endenden Liebe europaweit Furore machte. Unter sorgfältiger Berücksichtigung der extrem ausgedehnten Werther-Forschung fügen wir dieser die These hinzu, dass es poe(i)tisch generierte und als solche sich verselbständigende Stimmung ist, die den Sprachduktus Werthers und die narrative Organisation des Romans beherrscht und dessen außerordentliche Wirkung auf den zeitgenössischen Leser und die nachfolgende Literaturentwicklung begründet. Da die Produktion von Stimmungen den Romantext als Ganzes erfasst, d.h. ebenso auf linguistischer wie literarischer Ebene einschließlich intertextueller, lexikalischer, syntaktischer, graphematischer und stilistischer Komponenten ansetzt, dabei auf innovative Weise aus dem rhetorischen, semantischen und gattungspoetischen Repertoire der Tradition schöpft, kann ‚Stimmung‘ als neues poetologisches Gestaltungsprinzip geltend gemacht werden. Indem im Werther-Roman durch den Einsatz einer Vielzahl sprachlicher und literarischer Mittel Stimmung erzeugt, ästhetisch auffällig und zum Teil enthusiastisch rezipiert wird, manifestiert sie sich erstmals als kulturelles Phänomen, während das psycho- und anthropologische Stimmungsphänomen in Latenz keineswegs neu war. Wie etwa Anthropologie, Psychologie und Ästhetik im 18. Jahrhundert sich allmählich zu Disziplinen ausdifferenzieren, obwohl ihr jeweiliger Erkenntnisgegenstand mindestens seit der Antike existent und bekannt ist, so differenziert sich im Wissensprozess der Aufklärung auch das Interesse an Affekten, Empfindungen, Gefühlen und schließlich Stimmungen deutlicher voneinander. 5 Die früh- bis hochaufklärerische Aufmerksamkeit für Affekte oder Leidenschaften, ihre bedrohliche Macht, die von ihnen ausgehende Gefährdung der Vernunft und des von dieser aus entworfenen Menschenbildes sowie für Möglichkeiten der Affektkontrolle bildet einen philosophischen Bezugspunkt auch für die Dichtungstheorie der Zeit. Von der Rhetorik der Antike bis in die Poetikdebatten des 17. und 18. Jahrhunderts, in Baumgartens Aest-

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Siehe dazu etwa Tetens 1979 [1777], insbesondere „Zweeter Versuch“ ‚Ueber das Gefühl, über Empfindungen und Empfindnisse‘‚ S. 166-261.

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hetica und Lessings Dramaturgie ist weniger die Vermeidung als die Erzeugung von Affekten Gegenstand theoretischer Überlegungen. Teils in Auseinandersetzung mit, teils in Abgrenzung von der Regelpoetik Gottscheds, die dieser im Anschluss u.a. an Boileau als klassizistischen Reformansatz für die deutsche Literatur propagiert hatte, entwickelt sich ein poetisches Denken, das weniger um die Souveränität des Verstandes besorgt ist und sich umso mehr für die Virulenz emotionaler Phänomene interessiert. Es schiebt sich zunächst der Begriff der Empfindung und später der des Gefühls ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 6 Dieses rückt damit nicht weg von der Vernunft oder gar gegen dieselbe, sondern es löst deren Ansprüche aus rationalistischer Vereinseitigung heraus und löst sie in ihrer Ausdehnung auf die Sphäre der Empfindungen weitergehend ein. Entsprechend behandelt die heutige Forschung die von England über Frankreich bis Deutschland reichende Strömung der Empfindsamkeit als Binnenbewegung der Aufklärung und nicht länger als eine Gegenbewegung zu derselben. Dasselbe gilt für den bereits mehr am Begriff des Gefühls orientierten Sturm und Drang, dessen literarische Revolution das Phänomen der Stimmung von empfindsamen Konventionen entbindet und in poetologische Eigenständigkeit freisetzt. 7 Nachdem sich die Korrektur der älteren Literaturgeschichtsschreibung hinsichtlich von deren Kontrastsetzungen nach dem Rationalismus-Irrationalismus-Schema weitgehend etabliert hat, können die Aufklärung wieder mehr auf interne Transformationsmomente hin bedacht und damit die Epochentheoreme der Kontinuität, Radikalisierung und Dynamisierung ergänzt werden.8 Als ein literaturgeschichtliches Moment der Transformation lässt sich die Stimmung erstmals anhand von Werther nachvollziehen, insofern sie einen Wandel auf formaler sowie inhaltlicher Ebene mitbedingt.9 Der Briefroman erhält statt seiner bisherigen poly- oder dialogischen eine monologische Form; die Konversation empfindsamer Herzen wird von einer Artikulation leidenschaftlicher Liebe übertönt; Gefühle werden nicht mehr in einer Landschaftskulisse drapiert, sondern mehr von als in der Natur und sogar als ein imaginatives Element derselben hervorgebracht; an die Stelle einer tugendmoralisch geschürzten Handlung tritt das Geschehen einer wahrnehmungsästhetisch reflektierten Sensibilität. Diese vereinfachende Aufreihung von Veränderungen unter Aspekten der Gattungspoetik, der Genieästhetik, des Sprachduktus und der Stoffaufbereitung und -darbietung zeigt zum einen, dass der mit Goethes Erstlingsroman eintretende Wandel dennoch nur eine Akzentverschiebung darstellt. Gab es doch in unterschiedlichem Maße schon bei Abbé Prévost, Marivaux und Rousseau, bei Richardson, Fielding, Sterne und Goldsmith, bei Gellert, Pfeil, Hermes, Wieland oder der La Roche durchaus die Fiktionalisierung der Authentizität von Erfahrung, Intensität von Leidenschaften, der Reflexivität von Empfindungen, 6

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Zum diskursgeschichtlichen Übergang von ‚Empfindung‘ zu ‚Gefühl‘ im 18. Jahrhundert siehe Moses Mendelssohns ‚Über die Empfindungen‘ (1775); dazu und im Kontext mit der Entstehung der Psychologie seit Tetens sowie mit Bezug auf die Rolle Kants Campe 1990, S. 379-401. Hierzu die Diskussion seit Sauder 1974-1980; s. auch ders., 2003. Zu letzterem siehe Matthias Luserke 2010. Mattenklott 1977; ders. 1980, insbes. S. 197; Kaiser 1991, S. 209f.; außerdem Lange 1994.

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Unbedingtheit von Gefühlen und mitunter eine beseelt-spiegelnde Natur. Zum anderen aber bringt die oben markierte Akzentverschiebung auch eine Radikalisierung der sprachlichen und thematischen Darstellung von Emotionalem mit sich. Dadurch steigert sich dessen Reflektiertheit im Vergleich zu früheren Romanen der Empfindsamkeit noch einmal und berührt den eigenen medialen und ontologischen Status. Denn mit Werthers Briefe schreibenden Aufschwüngen des Gefühls öffnet sich die seinem Gefühl einwohnende und es erst hervortreibende Dimension phänomenologischer Wahrnehmung, so dass die Verwurzelung noch des ‚innersten‘ Gefühls in einem realen Anderen oder existenziellen Außen sichtbar wird. Für letzteres findet anderthalb Jahrhunderte später Rilke das Wort ‚Weltinnenraum‘. Diese nur scheinbar paradoxale Erfahrungsdimension des Gefühls, die In(tro)versionen und Extroversionen wechselseitig konvertibel macht, nennen wir in ihrer ästhetischen Darstellung Stimmung. Wie ihr Konversionscharakter zwischen Außen und Innen vermittelt, so auch zwischen Objekt- und Subjektseite, Natur und Ich, Welt und Selbst, Zeichen und Bedeutung und nicht zuletzt zwischen Sinnesempfindung und Sinnstiftung. In Goethes fiktionalen Briefen werden dem Leser Nachrichten aus dem noch kaum erschlossenen Gebiet zwischen Aisthesis und Semantik übermittelt. Sie berichten von wahrnehmungsästhetisch generierter und literarisch vermittelbarer Bedeutsamkeit. Zwar erzählt Goethes Briefroman die Leidensgeschichte des jungen Werther im pietistischen Zeichen einer imitatio christi. Er enthält aber auch die frohe Botschaft vom nicht-metaphysischen Aufschwung ‚höheren‘ Sinns aus den vermeintlich ‚niederen‘ Sinnen, insofern Werther Empfindungen wie Zeichen behandelt, deren unterschiedlichen Bedeutungen sich ihm durch die jeweilige Stimmung erschließen. In der Interpretationsperspektive einer solchermaßen nicht psychologisch restringierten Stimmung relativiert sich die Bedeutung von Fragen nach der Pathologie des Selbstmörders, des Narzissten oder Dilettanten, wie sie die Werther-Forschung bis heute beherrschen. Nach ihrer poetologischen Entdeckung beim jungen Goethe kommt die genuin ästhetische Phänomenqualität der Stimmung, die auf der 3. Stufe unserer Definition als onto-mediologisch gekennzeichnet wurde (Kap. A-III.8), zunächst in der deutschsprachigen Literatur der Folgezeit zunehmend zur Darstellung. Dies wird auf kursorische Weise an weiteren Erzähltexten der letzten zweieinhalb Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts aufgezeigt. Namentlich insofern sie Passagen mit Stimmungen enthalten, die in der zuvor im Werther-Roman analysierten Weise konfigurativer Darstellung beobachtbar sind, dieselbe variieren oder aber von ihr in eigenständige Formen abweichen. Ausführlicher beschäftigen uns die Werke von Karl Philipp Moritz, besonders Andreas Hartknopf. Eine Allegorie von 1786 und die Predigerjahre von 1790, sowie von Ludwig Tieck, besonders einige in Dramen- und Erzähltexte eingebettete Gedichte. Mehr als die Psychologie des autobiographischen Romans Anton Reiser und dessen intertextuelle Beziehung zu Werther interessieren bei Moritz die musikästhetischen Aspekte im allegorischen Roman Andreas Hartknopf. Sie erlauben eine intermediale Perspektive auf das Phänomen der Stimmung als Vergleichsmoment in den Ästhetiken von Literatur und Musik sowie als Wiederaufnahme des kosmoontologischen Stimmungsmotivs der antiken Sphärenharmonie. Von literaturgeschichtlichem wie auch gattungspoetischem Interesse ist hier zudem die satirische Reflexion der empfindsamen Beziehung zwischen arkadischer Natur und melancho-

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lischer Melodie. Im Unterschied zu der als Melodie der Natur vernommenen Stimmung bei Moritz ist es beim frühen Tieck nicht die Musik, sondern die Malerei, die in und im Vergleich zur Literatur als Darstellungsmedium von Stimmungen thematisiert wird. An die Stelle des enthusiastischen bis schwärmerischen Naturverhältnisses in Empfindsamkeit und Sturm und Drang tritt in der Frühromantik bei Wackenroder und Tieck die Kunst- und Künstlerbegeisterung. Entsprechend wird im Unterschied zu Moritz, wo die Musik als Naturklang idealisiert erscheint, bei Tieck die Malerei als Kunst verklärt und diese zum Medium religiöser Stimmungen stilisiert. In der folgenden Romantik schließlich wird die Stimmung zur Signatur der Epoche, wovon in der heutigen Vulgärauffassung von ‚romantischer Stimmung‘ bestenfalls Sentimentales nachklingt. Zum einen ließe sich die literarische Bedeutsamkeit von ästhetischer Stimmung außer in der weiteren Entwicklung von Goethes sowie Tiecks Werk zunächst bei Novalis, Brentano, Hoffmann, Eichendorff, Hölderlin, Jean Paul und Heine näher beobachten. Sie pflanzt sich über mit ihr affiliierte Motive wie ‚Weltschmerz‘ und ‚die blaue Blume‘, ‚Zerrissenheit‘ und ‚das Unbewusste‘, ‚Melancholie‘ und ‚das Unheimliche‘ durch das 19. Jahrhundert hindurch fort, bevor es in Berlin, München und Wien um 1900 zu einem zweiten Höhepunkt an literarischer Stimmungskunst kommt. 10 (Vgl. Jacobs 2013; Gisbertz 2009) Romantische Literatur inszeniert Stimmungen einerseits als Imagination von märchenhafter WeltSelbst-Harmonie, von universeller Geburt-Tod-Dialektik, von idealischer Natur-IchKommunion oder von poetischen Zeit-Raum-Kristallisationen, deren gleichsam musikalische Abstraktheit die Wunschphantasien korrespondieren, die aus einer utopischen Unvordenklichkeit heraus eine lebendige Ursprungseinheit restituieren wollen. Andererseits ist seit der ‚schwarzen‘ Romantik angesichts des Realen mit seinen mehr oder weniger verdeckten Zumutungen des Schlechten oder Bösen, Erstarrten oder Haltlosen auch ein Abdriften melancholischer Stimmungen ins Angstbesetzte, Chaotische, Traumatische bis Nihilistische ein Thema wie auch eine Darstellungsherausforderung der Literatur.11 Zum anderen zeigt sich eine wissenskulturelle Bedeutsamkeit von ästhetischer Stimmung in den programmatischen Ansprüchen der deutschen Frühromantiker mit ihren Tendenzen auf Synthesen von Geist und Natur, Individualität und Mythologie, Kunst und Leben, Dissemination und Enzyklopädie oder von Novalis’ dichterischem ‚Subjekt Objekt‘. Sie fließt überdies in die romantischen Spekulationsgebärden ein, etwa die ‚fremd machende Potenzierung‘ (Novalis), die poetische Universalisierung (Schlegel), die harmonische Totalisierung, die historische Idealisierung oder ‚Vergegenwärtigung des Unendlichen‘ (Hölderlin)12. Sowohl diese unvollständige Viel10 Von anderen europäischen ist vor allem die englische Literatur mit ihren zahlreichen Fokussierungen auf moods anzuführen. Zumindest zu nennen sind zusammen mit den bereits oben genannten Autoren der Empfindsamkeit Young, MacPherson und Radcliffe, sodann Blake, P.B. Shelley, Wordsworth und Byron, Keats, Rossetti und Morris, Swinburne, M.W. Shelley und Hardy. 11 Hierzu mit Bezug auf der deutsch- und englischsprachige Texte Pfau 2005. 12 Siehe zu Hölderlins komplexem Umgang mit Stimmung als dem „Reinen“ wie auch in Form von „harmonischentgegengesetzten Stimmungen“ Jacobs 2013, S. 105ff. und Previsic 2013, S. 150.

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zahl heterogener Schlagworte als auch die oben angesetzte Reihe nur der prominenteren Autoren weisen auf die Schwierigkeit hin, den Untersuchungsgegenstand ästhetischer Stimmung im Feld der Literatur wenigstens annähernd ‚griffig‘ einzugrenzen. Denn Stimmungen lassen sich anders als Affekte nicht ohne weiteres mit einer Gattungstypologie korrelieren und historisieren, insofern in ihnen selbst Gefühlsmischungen angelegt sind und in einer Gattungsformen entgegensetzte Stimmungen entfaltet werden, wie im Werther, Hartknopf und Der Abschied. 13 Unvermeidlich scheint diese Eingrenzungsschwierigkeit zu sein, insofern Literatur mit Stimmungen intrinsisch, d.h. gewissermaßen schon vor und dann von ihren produktions-, text- und rezeptionsästhetischen Bedingungen her verbunden ist; und dies nicht erst seitdem die Stimmung mit Goethes Werther poetologisch explizit geworden ist. Durch die theoretische Anbindung der poetologischen Explikation von Stimmung an deren spätere existenzialontologische Konzeptualisierung wollen wir dieser intrinsischen Verbindung von Literatur und Stimmung auf die Spur kommen. In diesem Sinne ist die entlang von phänomenologischen Gliederungsaspekten ausgeführte Werther-Analyse von exemplarischem Charakter. Sie versucht mit ihrer Offenheit zu philosophischen Fragestellungen der Eingrenzungsschwierigkeit des in Frage stehenden Phänomens gerecht zu werden und zu begegnen, um dasselbe anschließend punktgenauer in seinem literaturgeschichtlichen Fortgang bis zu seiner vollen Manifestation um 1800 weiterverfolgen zu können.

2. ÄSTHETISCHE E XPLIKATION STATT SUBJEKTIVER A USDRUCK Das Reflexivwerden von Aufmerksamkeit und eine Skizze zum historischen Hintergrund

In der Kulturgeschichte gehen nicht selten der theoretischen Bewusstwerdung von Wissensinhalten künstlerische Experimentalpraktiken voraus, die – mehr oder weniger bewusst – bereits Reaktionen auf historische Krisensymptome darstellen können. So kommt nach unserer These die vom europäischen Kontext angetriebene Entwicklung des deutschen Romans in Goethes Werther an den Punkt, an dem die bis dahin der Literatur implizite, als kulturelle Selbstverständlichkeit allgemein verdeckte Stimmung ästhetisch explizit wird. Das noch bei Wieland intakte Selbstverständnis eines auktorialen Erzählers, zwischen latenter Autor- und Publikumsstimmung, zwischen Tugendmoral und Affektüberschüssen sowie Unterhaltungserwartung und Kritikzumutung zu moderieren, weicht dem Vordringen der Stimmung ins gegenständliche und formal organisierte Zentrum ästhetischer Aufmerksamkeit. Dass dieses Explizitwerden zuerst in der Literatur stattfindet, ist durch deren Aufstieg zum Leitme-

13 Siehe zur einer sinnvollen Zuordnung von Affekten und Gattungsformen die auch Stimmungen und Gefühle umfassende Studie von Meyer-Sickendiek 2005.

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dium im Zusammenspiel mit technischen Verbesserungen des Buchdrucks und des angewachsenen Leserpotenzials Ende des 18. Jahrhunderts bedingt.14 Zugleich stellt die poetische Stimmungsexplikation – gesamtkulturell gesehen – eine historische Reaktionsbildung innerhalb des Zeitalters der Aufklärung dar. Sie kann heute auf mentalitäts- und ästhetikgeschichtlicher Ebene wahrgenommen werden, nachdem in der Forschung spätestens seit den 1970er Jahren mehr ideologie- als geistesgeschichtliche Antagonismuskonstrukte (Irrationalismus, Gegenaufklärung, Deutschtum) historisch besser fundierten Einsichten in die ebenso heterogene wie integrative Struktur der Aufklärung gewichen sind.15 Seither ist eine tiefer gehende Zusammengehörigkeit der aufklärerischen Gefühls- mit der Wissenskultur evident geworden. (Vgl. Luserke 1995) Dabei entsteht zunächst ein deutlicheres aber auch komplexeres Bild vom neuzeitlichen Auseinandertreten von epistemischen Gegenstandbereichen und psychokulturellen Kohärenzbedürfnissen: auf der einen Seite die methodische Formung des Objektivitätsideals der mathematischen Naturwissenschaften, auf der anderen Seite die systematische Theoretisierung der Subjektivitätserfahrung in der transzendentalen Philosophie; einerseits das experimentelle Forschen, analytische Entdecken und die begriffliche Explikation bislang verborgener Tatsachen, andererseits ein metaphysisch-synthetisches Betrachten, ein narratives Theoretisieren und ein ästhetisches Zur-Erscheinung-Bringen auch von emotional relevanten Phänomenlatenzen. Das Gemeinsame besteht im Trend zum Explizitmachen von einem zuvor im Implikationszustand schlummernden Etwas, das noch nicht ist, aber im Vorbegriff ist zu werden. Verbindend ist auch die neuzeitlich zunehmende Spannung zwischen Erkenntnisgewinn und Weltverlust, die sich nicht zuletzt auch in der holistischen Spekulation von Neuplatonismen, Pantheismen und romantisch-organologischen Naturphilosophien von Spinoza bis Schelling entlädt. Aus dem Hintergrund dieses Bildes der sich weiter differenzierenden Neuzeitzivilisation tritt schließlich in der Spätaufklärung die bislang im anthropologischen Dunklen haushaltende Stimmung hervor. Sie macht durch ihr ästhetisches Erscheinen im Aufklärungslicht der rationalen Auflösung der Welt auf den mit dieser verbundenen Lockerung an räumlichexistenzieller Integration aufmerksam. Solange der Weltbezug des Gefühls allgemeine Konvergenzen von Kultur und Natur, von Denken und Sein beinhaltete sowie eine für buchstäblich selbstverständlich gehaltene Wirklichkeit als menschliches Lebenselement umschloss, bedurfte es der Entbergung der Stimmung aus dem alltäglich Verborgenen nicht. Mit dem drohenden Zerfall inzwischen porös gewordener Bindungen im Ich-Welt-Gefüge und mit der schwindenden Tragfähigkeit tradierter Ganzheitsimagines jedoch sind die der Stimmung eigenen Kräfte des Aufspürens, Beziehens und Verfugens von Divergentem historisch gefragt. Ihre kompensatorische Funktion bringt die Stimmung zwar in die Nähe von ‚Harmonie‘ oder zur Idealisierung von integralem Ganzen. Jedoch bleibt sie von diesen unterschieden, indem sie 14 Siehe zur sozialgeschichtlichen Entwicklung der Literatur als Medium im 18. Jahrhundert Koschorke 1999 und zu weiteren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen von Literatur im ‚Zeichen der Schrift‘ Hörisch 2004a, S. 81-214. 15 Richtungsweisend haben dabei gewirkt die Arbeiten von Sauder 1974-80; ferner siehe ders. 2003.

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deren Gegenteil miteinschließt. Stimmung setzt grundlegender und situationsbedingt an, mobilisiert Reflexion von ihrer wahrnehmungssinnlichen Basis her und ist gegenüber deren ideellen und emotionalen Besetzungen zunächst neutral. So tritt mit ihrem Explizitwerden im ästhetischen Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium bereits der für die Moderne wichtig werdende Zug einer historischen Reflexivität mit seismographischer Empfindlichkeit hervor. Bevor das kulturelle Wissenssystem der Aufklärung auf diese mit groben Strichen skizzierte makrohistorische Bedarfslage mit der Diskursivierung von Stimmung und damit dessen Entfaltung als Phänomen reagierte, kam die Stimmung aus der sie verdeckenden Viel-Fältigkeit zuerst im Feld der Literatur zum Vorschein. Darin wird sie nicht nur als das sichtbar, was sie ohne ästhetische Inszenierung auch schon war. Vielmehr bringt das diskrete Hinüberfließen vom lethischen Zustand der Latenz in den phänomenalen Zustand der Manifestation die Stimmung erst auf ein ontologisches Niveau, auf dem die poetische Sprachwerdung sie auf ihr bald folgendes Auftreten im Diskurs vorbereitet. Ehe Stimmung diskursiv ins Thema gehoben wurde, konfiguriert sie sich zunächst als ästhetisches Phänomen. Die Schwelle zu erkennbaren Stimmungskonfigurationen wird erstmals mit Werther überschritten, wo eine durch stilles Bücherlesen induzierte Einsamkeit mit einer pantheistischen Ganzheitsfreude zusammenströmt, die aus sympathetischer Naturkontemplation resultiert. Zum noch nicht thematischen aber bereits ästhetischen Phänomen wird hier die Stimmung allerdings nicht als ausgedrückte Innerlichkeit, artikulierte Sentimentalität oder als versprachlichte Emotion. Hingegen wird sie dies als eine konfigurative Bewegung, die Natur- mit Zeiterfahrung verbindet sowie vor allem Raumgefühl in Selbstwerdung übersetzt und umgekehrt. Auf diese phänomenologischen Aspekte der neuen Stimmungspoetik konzentrieren sich deshalb unsere Analysen zu Werther. Sie zeigen vor dem sozial- und mediengeschichtlich erforschten Hintergrund des Reflexivwerdens von Gefühlen, wie der empfindsame Briefschreiber eine Aufmerksamkeit dafür artikuliert, wie im Vollzug der Reflexion seines Gefühls dessen Herkunft vom Außen oder vom Anderen wahrnehmbar wird. Letztere erscheinen in Form von Natur als ‚Gegend‘ bzw. in Person von Lotte als Liebe. Damit sind die exzentrischen und intersubjektiven Dimensionen von Gefühl bezeichnet, die wir Stimmung nennen. Sie werden mit Werthers anfänglicher Begeisterung wie noch mit zunehmendem Leiden als Gewinn an Welthaftigkeit erfahren, insofern diese über Empfindungen der Sinne ebenso vermittelt ist wie über das sprachliche Erschließen von Sinn. Damit aber bewirkt das Reflexivwerden des Gefühls in der ästhetischen Perspektive von Stimmung das Gegenteil dessen, was das Reflexivwerden der Wirklichkeit im epistemischen Blickwinkel nach sich zieht: nämlich einen Verlust an Welt im phänomenologischen Sinn des von sich aus Erscheinens des Raumes, in dem wir sind und den wir als solchen wahrnehmen. Dass dieser im neuzeitlichen Feld der Episteme mit zunehmender mathematischer Abstraktion sich verflüchtigende Raum phänomenologischer Wahrnehmbarkeit mit der Emergenz der Stimmung einen raumbildenden Gegenhalt im Feld des Ästhetischen findet, gehört zu unseren historischen Prämissen. Dazu gehört ferner die Annahme, dass es zwar kein Subjekt der Geschichte gibt, das einen solchen Gegenhalt suchte; wohl aber dass kulturelle Prozesse gewissermaßen selbst erfinderisch sind, indem sie Ausgleichsbewegungen evolutionär befördern. Geschichtsökonomisch ver-

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einfacht gesagt: ohne einen Bedarf an welteröffnender Neu-Reflexion keine Erfindung der Stimmung als poetisches Raumgefühl. Zu zeigen ist am Werther demnach, dass die ihn poetologisch bestimmenden Phänomene durch unseren phänomenologisch revidierten Begriff von Stimmung adäquat erfasst werden und auch besser erklärt werden können als mit Begriffen wie ‚Ausdruck‘ von ‚Innerlichkeit‘ oder ‚Subjektivismus‘. Gegenüber diesen sollte Stimmung als der ästhetisch komplexere und sachlich angemessenere Begriff erkennbar werden. Denn er meint nicht nur Ausdruck von Bestehendem, also etwa von Bewusstseinsinhalten oder Affekten, also psychischen Elementen. Vielmehr deckt er deren Gegenhalt in der physischen Welt wie auch den durch die ästhetische Darstellung dieses generativen Geschehens gewonnenen Mehrwert mit ab. Dadurch gewinnt umgekehrt ‚Stimmung‘ als späterer Begriff ästhetischer Theorie eine historische Bedeutung, die ihn avant la lettre auf einen materialen Bestand des Phänomens zurückbezieht. Mit der literaturwissenschaftlichen Anwendung von Begriffen oder manchmal nur Schlagworten wie ‚Subjektivismus‘ auf die Literatur der frühen Goethezeit werden hingegen auf dieselbe allzu oft und mitunter irreführende Vorstellungen von Ich-Autonomie, Selbstbezogenheit oder allgemein: von Bewusstseinsaktivität projiziert. Diese jedoch treffen allenfalls auf gedankliche Konstrukte des deutschen Idealismus und auch dort nur auf Teilaspekte des philosophischen Diskurses über denselben zu; keineswegs jedoch auf die von prekären Außenbezügen, Fremdheitserfahrungen und Hingaben an(s) Andere handelnde Dichtung der Jahrzehnte vor und nach 1800. Was sich mit Bezug auf dieselbe an Rede- wie auch an Denkweisen mit bewusstseinsphilosophischen Konnotationen erhalten hat, ist begrifflichen Adaptionen durch die Germanistik seit ihrer Entwicklung im 19. Jahrhundert geschuldet. Akademisches Sprechen über Literatur bezieht vielfach seine von Philosophemen abgezogenen Kategorien aus den Spannungsfeldern zwischen Naturalismus und Naturphilosophie, Materialismus und Geistphilosophie, Positivismus und Subjektphilosophie. Demgemäß klassifizieren noch im 20. Jahrhundert gängige Lesarten von Goethes Briefroman dessen „Thema“ und „Darstellungsprinzip“ als „Subjektivismus“. (Herold und Wittenberg 1983, S. 104f.) Dieser finde in einer für Werther „charakteristischen Konzentration der Wahrnehmung auf die eigene Psyche“ seinen „Ausdruck“ (ebd.). Entsprechend subjektzentrisch wird der Stimmungsbegriff verwendet, wenn es etwa weiter heißt, dass „die Wahrnehmung der Außenwelt nur Anlaß [sei], die innere Befindlichkeit und emotionale Gestimmtheit zu erfassen“ (ebd.). Danach gehe es in Werthers Verhältnis zu Natur wie zur Kunst „nicht um die Auseinandersetzung eines Ichs mit der Außenwelt, sondern um die Intensivierung einer bereits vorgeprägten inneren Gestimmtheit“ (ebd.). Was hier stellvertretend für die vorherrschende Interpretation von Werther unter Subjektivismus rubriziert wird, fokussiert psychologische, pathologische und auch epistemologische Aspekte. Obwohl oder auch weil diese Deutung in der weltarmen Perspektive des Subjektivismus durchaus zutreffende Bestimmungen vornimmt, scheint sie von der darin angelegten Vereinseitigung ihrerseits affiziert zu werden. Die an der Romanfigur beobachtete Selbstbezüglichkeit wird als die eines Subjekts auf sich gedeutet und narzissmustheoretischen Ansätzen entsprechend als die Symptomatik eines psychischen Ich diagnostiziert. Dadurch aber wird ein fiktionales wie ein reales Ich behandelt, die Psycho-Logik des letzteren auf ersteres projiziert und

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damit dessen Poeto-Logik unversehens überlagert oder interpretatorisch bewusst ersetzt. Ausgeblendet bzw. umgedeutet werden somit Werthers durchaus auch und sogar stark ausgearbeiteten Wahrnehmungsbezüge, seine andere Menschen erreichenden Gefühle und seine realitätsfähigen Empfindungen der Außenwelt. Nicht nur in der Wertherforschung reproduzieren mitunter Interpretationen in ihrem eigenen Vorgehen die Zwänge – hier also die Vereinseitigungen des (im doppelten Sinne des Genitiv) Subjektivismus –, die sie zuvor an ihrem Gegenstand erkannt oder ihm zugeschrieben haben. Ist das diagnostische Schema der Pathologie erst einmal auf eine literarische Figur angelegt, erscheint deren Reduktion auf das psychische Format nur folgerichtig. So wird die Stimmung im eben zitierten Beispiel als „innere Befindlichkeit und emotionale Gestimmtheit“ um ihre äußeren und phänomenalen Dimensionen verkürzt, obwohl diesen im Text eine zumindest nicht geringere Bedeutung zugemessen ist. Dieses vom hermeneutischen Blickwinkel der Pathologie ausgegrenzte Feld phänomenologischer Wahrnehmung beleuchten unsere Werther-Analysen. Sie lassen es zudem für die an die Empfindsamkeitskultur anschließenden Literaturstimmungen sinnvoll erscheinen, ‚Selbstbezüglichkeit‘ deutlicher als diejenige von Gefühlen aufzufassen und weniger als diejenige der Subjekte dieser Gefühle. Literarische Stimmungen gehen oft aus Momenten von Aufmerksamkeit für Gefühle hervor oder fallen gar mit dem Aufmerksamwerden für eben diese Gefühlsaufmerksamkeit ineins.16 Diese ästhetisch procedierende Selbstbezüglichkeit im literarischen Darstellen unterscheidet sich von der transzendental konstitutiven Selbstbezüglichkeit im philosophischen Denken. Sie ist nicht wie letztere in einem Ich zentriert, das sich in der Reflexion seiner Bewusstseinsvollzüge als Gegen-wart(e) zur Welt konsolidiert. Vielmehr entfaltet sie sich ex-zentrisch im Raum, der durch die emotionale Vigilanz eröffnet wird und dieselbe auf sich als in der Welt raumbildende Bewegung zurückbezieht. Wenn also in Verbindung mit literarischer Stimmung überhaupt oder weiterhin von Subjektivität die Rede sein kann, dann nur in diesem raum- und kinästhetisch erweiterten Konzept von Subjektivität. Den Begriff der Subjektivität im Zusammenhang von Stimmungsanalysen zu verwenden kann zuweilen geboten sein, wenn es gilt, die Anschlussstellen zwischen Literatur und der Philosophie im historischen Kontext kenntlich zu machen. Dass dabei oft übersehene Unterschiede bestehende oder auch nur vermeintliche Gemeinsamkeiten überwiegen, lässt bereits unsere Überlegung zur dezentrierten Selbstbezüglichkeit von Vigilanz erwarten. 17 Deren literarische Erschließung durch das Schlüsselphänomen der Stimmung seit dem jungen Goethe bildet gewissermaßen das resonanzästhetische Gegenstück zum reflexionsphilosophischen Idealismus der folgenden Jahrzehnte aus. Denn zur Reflexion in der Philosophie um 1800 gehört es, dass sie Identität-mit-sich sowohl beim transzendental begleiteten Denken als auch 16 Siehe zum Begriff der Aufmerksamkeit in kulturgeschichtlicher Perspektive Thums 2008. Ferner in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive Daston 2001. 17 Zum Begriff der Vigilanz im philosophisch-anthropologischen Sinne freier Wachzeiten siehe den dritten Teil der Sphärentheorie in makrohistorischer Perspektive, Sloterdijk 2004, Kapitel 3 „Auftrieb und Verwöhnung. Zur Kritik der reinen Laune,“ S. 671-859, insbes. 833-859.

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beim ich-autonom modellierten Selbstbewusstsein zur Voraussetzung hat. Hingegen gehört es zur Reflexion in der Literatur um 1800, dass sie eine Bewegung hin auf eine paradox anmutende Differenz-an-sich beschreibt. Damit ist die poetische Ausrichtung auf ein Darstellen von Empfindungen der Abkünftigkeit des Eigenen von Anderem gemeint, von Gefühlen der Abhängigkeit des Selbst von anderen oder von Stimmungen der Nachträglichkeit von Sinnstiftung gegenüber der Sinneswahrnehmung. Gegenstand poetischer anstelle von philosophischer Reflexion ist nicht, was unterschwellig schon da ist und sich wider-spiegelnd als (prä-)existent entdeckt –, sondern was phänomenal erst wird, indem es aus dem resonanten Spiel einer Differenz hervorgeht. Gegenüber der visuellen Metaphorik des Reflexionsbegriffs hat die akustische Metaphorik des Resonanzbegriffes hier den Vorzug, dass sie anstelle von logischen Sequenzen im Sichtfeld perzeptive Gleichzeitigkeit in einem Hörraum vergegenwärtigt. Die Reflexion hat in der bewusstseinsphilosophischen Denkform eines sich qua Wider-spiegelung erkennenden Ichs eine stabilisierende Funktion für dessen ontologischen Status (Sein). Hingegen hat die Reflexion in stimmungspoetischer Darstellungsform eines etwas (anderes) qua Resonanz zeigenden Geschehens eine generative Bedeutung hinsichtlich von dessen ontologischen Status (Werden). Wird Reflexion – denkgeschichtlich gesehen – für methodische Skepsis und voraussetzungslogische Begründungen in Anspruch genommen, so dient die Resonanz – motivgeschichtlich gesehen – der ästhetischen Imagination und kosmologischen Erklärung. Moritz etwa im Andreas Hartknopf und später Novalis knüpfen mit ihrer musikalischen Metaphorik an die antiken Vorstellungen der Sphärenharmonie an. Dabei wird deutlich, wie das ästhetische Resonanzgeschehen einer momentanen Stimmung an das ontologische Weltgeschehen eines überzeitlichen Ganzen zurückgebunden erscheint. Für die Emanzipation des Stimmungsbegriffs vom musikalischtechnischen Bereich, für seine ontologische Erweiterung und auch für die existenziale Verdichtung desselben ist die wahrnehmungsanthropologische Tatsache von Bedeutung, dass die Ohren anders als die Augen nicht verschlossen werden können. Während das ‚Gesicht‘ mit den Augen ‚zugemacht‘ werden kann und Nachtruhe erhält, bleibt das Gehör permanent auf Empfang und verarbeitet noch im Schlaf einrieselnde Geräuschdaten. Wie wir niemals gänzlich ohne akustische Reize sind, so sind wir auch niemals völlig ungestimmt. Phänomenologisch ist das Ich ein unausgesetzt für Resonanzen offenes Subjekt. Diese transsonore Subjektqualität ist für unsere mediale Auffassung von ästhetischer Stimmung unverzichtbar. Historisch ist sie einerseits mit den auf den Hörsinn konzentrierten, theoretischen Spekulationen auf die Ursprünge von Kulturentwicklung und Psychogenese beim jungen Herder korreliert, worauf wir im folgenden Abschnitt kurz eingehen. Andererseits bilden Empfindsamkeit, Sturm und Drang und Romantik den literaturgeschichtlichen Referenzhintergrund für eine medial verfasste Subjektivität, deren Weltbezüge sich als Stimmungen darstellen. Die neuere Forschung differenziert die Empfindsamkeit viel stärker als früher vom Pietismus ohne deshalb sprachliche Einflüsse des letzteren auf erstere leugnen zu müssen. (Vgl. Sauder 1974-80, 2003; Kaiser 2007) Im Fall des jungen Goethe sind dessen persönliche Vertrautheit mit pietistischen Zirkeln und deren Sprachgestus ebenso bekannt wie ein Überschreiten moralischer und sprachlicher Konventionen und Restriktionen bereits unübersehbar ist. Noch die seit 1751/55 erscheinenden Gesänge des Messias lassen sich mit ihrer „heiligen Poesie“ (Vorrede) als eine Art historischer Kompromissbildung zwischen der

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Verbindlichkeit mythisch-religiöser Semantik und der Freiheit ästhetisch-emotionaler Darstellung verstehen. Unabhängig von einflussphilologischen Ableitungszusammenhängen lässt sich indes eine ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstehende Kultur intensivierter Selbstbeobachtung und gesteigerter Aufmerksamkeit verzeichnen. Insofern theologische Vorstellungen maßgebend und solange religiöse Bindungen intakt sind, bleibt die Selbstbeobachtung moralisch geleitet und die Aufmerksamkeit normativ konzentriert. Gleichwohl erhält auch unter teils pietistischem teils deistischen Vorzeichen das Emotionale eine grundsätzliche Aufwertung, die von einer Relativierung der Gefährdung durch Leidenschaften bis hin zu einer Theologie des Gefühls bei Schleiermacher reicht. Insoweit die literarische Empfindsamkeit sich aus dem theologisch und philosophisch disziplinierten Aufklärungsdiskurs herauslöst, wird die Selbstbeobachtung existenziell prekärer und die Aufmerksamkeit dringt ins Disparate bis Unerhörte vor. Freigesetzt in schwärmerischer Zärtlichkeit, vermittelt über erhabene Naturverehrung, imaginiert durch enthusiastische Herzensempfindungen und schließlich entfaltet zu welteröffnenden Stimmungen rückt das Gefühl im Zeitalter der Aufklärung ins Zentrum des Poetischen. Dabei verschieben sich tendenziell die Ausrichtungen der Aufmerksamkeit wie es auch zu Umbesetzungen innerhalb der Orientierung gebenden Verhältnisse kommt: vom Himmel zum Horizont, von der Heilsgeschichte zur Universalgeschichte, von Gott zur Natur, von der Fülle des Selbst zur Offenheit der Welt, vom melancholischen horror vacui zur romantischen Stimmung der Liebe. Im Zuge solcher nur vage zu bezeichnenden Umstellungen ist die Zunahme an ungebundener Aufmerksamkeit nicht nur in ästhetik- und literaturgeschichtlicher, sondern auch in sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert. Das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend – wenn noch nicht politisch, so doch schon ökonomisch – emanzipierende Bürgertum musste zwar nur allmählich und auch nur in Teilen, aber insgesamt weniger Aufwand für die generationelle Reproduktion betreiben.18 Mehr Geld und Zeit zur freien Verfügung trieben ein Mehr an freier Aufmerksamkeit hervor. 19 Gesellschaftlich noch ungewisse, aber ethisch relevante Anteile an Unabhängigkeit des Einzelnen wurden entdeckt, dessen Eigenwert, der sich über tugendmoralische Überhöhungen erkannte, trat hervor. Standesgesellschaftlich bedingte wie auch provozierende Fragen nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, von Repräsentation und Arbeit, von Lebenssinn und Zeitlichkeit wie auch von Wahrheit und Gefühl stellten sich wie von selbst, ohne schnelle Antworten erhalten zu können. Zusammen mit der steigenden Zahl lesefähiger und lesewilliger Individuen – Zeitgenossen sprachen von ‚Lesewut‘ –, vervielfachte sich auch die Anzahl der auf den rasch wachsenden Markt gebrachten Bücher. Zugleich nahm der Einfluss des breiter werdenden, zahlungsfähigen Publikums auf die Buchproduktion zu, was die Durchsetzung der Gattung Roman begünstigte. Nicht 18 Lepenies (1972) sieht in der Stimmung der Melancholie eine depressive Reaktion auf die politische Ohnmachtserfahrung des deutschen Bürgertums. Gegenüber dieser Verengung auf eine kompensatorische Perspektive ist auf die Eröffnung einer historischen Vielfalt an produktiven Perspektiven in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verweisen, denen nicht zuletzt eine Vielfalt an Stimmungen entspricht. 19 Vgl. nochmals in makrohistorischer Perspektive Sloterdijk 2004, S. 671-859.

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nur bediente dieses größere Format der Erzählprosa das Bedürfnis nach leichter Unterhaltung besser als traditionell mythisch beschwerte Versepen. Es behandelte auch die zeitgeschichtlich anstehenden Themen und bot so der neu entstandenen bürgerlichen Öffentlichkeit die Möglichkeit einer problembezogenen Selbstverständigung im Medium Literatur. Neben dieser gesellschaftlich-kommunikativen Funktion einer kollektiven Zusammen-Stimmung hatte die mediale Praxis des Bücherlesens eine persönlich-kontemplative Funktion des in Ruhe auf sich selbst Aufmerksamwerdens. Denn das sich ausbreitende und allmählich zum Standard werdende still für sich Lesen ermöglichte eine Selbstverständigung auch des Einzelnen, wobei die bislang akustisch gestützte Stimmungspraxis gemeinsamen Lesens der audioimaginativen Selbststimmung des einsam lesenden Individuums wich. Die steigenden Investitionen an historisch freigewordener Aufmerksamkeit in Literatur von der Seite der Rezipienten hatte ihre Entsprechung von der Seite aufgeweckter Produzenten. Mit der Anzahl im Silentium der Lektüre zu sich kommender Individuen stieg auch diejenige der Autoren. Mehr Schriftsteller einsamer Nebenstunden20 wie bald auch in Deutschland erste hauptberufliche21, deren Werke nicht länger in Abhängigkeit von fürstlichem Mäzenatentum entstanden, bedeutete ein größeres Volumen an literarisch investierter Aufmerksamkeit insgesamt. Dass nicht nur Söhne aus wohlhabenden Familien wie Goethe in der Literatur ein ebenso persönlich wie gesellschaftlich fruchtbares Betätigungsfeld sehen konnten oder auch nur wollten, zeigt besonders auffällig die Generation der um die Mitte des 18. Jahrhunderts geborenen Stürmer und Dränger. Die meisten von ihnen führten finanziell prekäre Existenzen, hatten im Anschluss ans Studium kaum Aussicht auf auskömmliche Stellen und fanden doch oder deswegen die Zeit, Konzentration und den Ehrgeiz, mit literarischen Werken hervorzutreten. Dass dies in den 1770er Jahren nur – aber immerhin – vorübergehend möglich war, kann vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund einer generellen Umstimmung gesehen werden: von pietistischem Sündenbewusstsein oder allgemeiner: von religiös flankierter Introspektion hin zu gesellschaftlich agierter Empfindsamkeit und zu sozialkritisch dramatisierter Aufmerksamkeit. Die gesellschaftsgeschichtlich, sozialpsychologisch und zeitökonomisch bedingte, quantitative Zunahme an individuellen Aufmerksamkeitsresourcen brachte auch eine Qualitätssteigerung derselben im Sinne einer über- und auf sich selbst zurückfließenden Aufmerksamkeit hervor. Solches – vernunftkompatibler gesprochen – Reflexivwerden von mentaler Wachheit zeichnet sich durch Einsichten in die situative Abhängigkeit (von Orten, Zeiten, Menschen, Dingen usw.), die konstruktiven Anteile, projektiven Momente und psychologischen Mechanismen des Wahrnehmens und Handelns, des Fühlens und Denkens aus. Auf sich selbst achtsam werdende Aufmerksamkeit lässt meditativ bis konventionell kultivierte Innerlichkeit, Selbstbeobachtung und Selbstsorge aus sich heraustreten und sie als Ermöglichungsbedingun20 Unter den bis heute bekannten Autoren zählen zu diesem ‚ständischen‘ Dichtertypus die Beispiele Brockes, Haller, Hagedorn, Gottsched, Bodmer und Gellert, vgl. Jorgensen u.a. 1990, S. 99. 21 Nach dem diesbezüglichen Scheitern von Lessing und Wieland aber erstmals Tieck; zuvor in England Pope, in Frankreich Voltaire. Siehe hierzu ebd., insbes. den Abschnitt Das Publikum und die Schriftsteller, S. 96-100.

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gen von Durchlässigkeit für das Außen, von Berührbarkeit für Andere/s und von Offenheit für Fremde/s bewusst oder zumindest operabel werden. Das Phänomen der Stimmung im psychologischen Sinn des Fühlens des eigenen mentalen Zustandes zieht in dem Maß diese neue Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit auf sich, wie es seinen Gegenhalt in der Welt als einem Ensemble objekthafter Gefühlsqualitäten findet. Während der Empfindsamkeit war die Aufmerksamkeit in oder an die neu entdeckte Sphäre einer durch stilles Lesen gewölbten Innerlichkeit gebunden und wurde durch zärtliche Kommunikation zwischen sympathetisch Gleichgesinnten ins Fließen, aber durch den Schriftfluss auch auf Distanz gebracht (hierzu Koschorke 1999). Entsprechend zirkuliert das empfindsame Gefühl in den rhetorischen Bahnen einer Sprache der Tränen, deren willkommener Fluss die im Medium der Schrift gestifteten Verbindungen der Herzen gewissermaßen kultisch somatisiert. Das Aufkommen literarisch objektiver Stimmungen signalisiert dann einen anderen Umgang mit dem Gefühl und folglich eine Verschiebung von dessen Bedeutung. Die Gefühlsempfindung selbst scheint problematisch geworden zu sein in den schwärmerisch zwar geweiteten aber weitgehend geschlossenen Binnenräumen empfindsamer Seelen samt deren esoterischen Verbindungen. Mit dem Erfinden von Stimmungen in der Poesie werden dann die imaginativen Übergänge zu den Außenräumen erkundet und diese hin auf deren Innenräume geöffnet, so dass diese Übergänge selbst als wirklichkeitsgenerative Schwellen erfahrbar werden. Dies konnte als umso notwendiger begrüßt werden, als dass die Erfahrung von Wirklichkeit mit den Einsichten in deren medialen Vermittlungscharakter ihre Selbstverständlichkeit verloren hatte. Die Rolle der Literatur als einer Vermittlerin virtueller Realität stellte ja die selbstkritische Erkenntnis in Goethes Werther dar, die freilich einer bloß enthusiastischen Lesart verschlossen bleiben musste. Die auf dem Höhepunkt des empfindsamen Romans zu beobachtende Auffaltung des Stimmungsphänomen ist durchaus neu, keineswegs aber ohne Voraussetzungen. Die zuvor literarisch im Beiläufigen mitbehandelte Stimmung konnte poetologisch erst im Zuge einer anhaltenden Konjunktur des Emotionalen entdeckt werden. Diese setzte zwar bereits mit den Romanen Marivauxs, Prévosts und Gellerts ein, näherte sich aber erst mit den Darstellungsmöglichkeiten des Briefromans seit Richardson und dann bei Rousseau und LaRoche einer individualisierten Intimität, die das Wunschleben auch jenseits moralisch kontrollierter Bewusstseinsgrenzen mitteilen möchte. Goethes Werther gelingt dies formal durch eine bis dahin unerhörte Konzentration des fiktionalen Briefverkehrs unter Empfindsamen auf einen Schreiber. Dessen einziger Wille zum authentischen Herzensausdruck konnte so von den vielen Lesern als ihr eigener Wille, die Gefühlsdichte des Textes als ihre persönliche Erfahrung empfunden werden. Die emotionale Redundanz im schriftlich geführten Soliloquium treibt die Stimmung als dasjenige hervor, von dem der lesende Liebende getragen ist, in das er versinkt und was er als Briefschreiber versendet. Die gleichsam aus rhetorischem Schaum geborene Stimmung teilt sich dem Leser als die intensive Botschaft eines Textes mit, dessen Darstellungsform in der Gattung Briefroman das Eingebettetsein in emotionale Redundanz simuliert. Damit wird auch literaturgeschichtlich eine Schwelle sichtbar, mit deren Betreten durch Goethe die Stimmung poetologisch explizit wird.

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3. P OETIK -

UND DENKGESCHICHTLICHE

V ORAUSSETZUNGEN

Der gefühlsästhetische Ansatz des jungen Herder

Die anfangs vor allem englisch und französisch bestimmte, allenfalls zusätzlich pietistisch beeinflusste Empfindsamkeit wird in Deutschland auf eine Art selbstreflexive Spitze getrieben. Auf ihr wird die literarisch-mediale Vermitteltheit von empfindsamer Innerlichkeit, empathischer Affektbeobachtung und des tränenfreudigen Freundschaftskultes sichtbar. Gellerts Das Leben der schwedischen Gräfin von G... (1746) etwa entwarf anfangs das Möglichkeitsideal, Vernunft und Liebe, Ehe und Leben, Erwartungen der Gesellschaft und Ansprüche des Individuums in Einklang zu bringen. Dabei erwies sich eine entsagungsmoralisch geheiligte Tugend als sichere Führerin, die äußere Realitäten bedenkenlos zum Perspektiv für innere Vorgänge empfiehlt sowie den Verkehr mit anderen Personen vor allem zum Anlass für ein Reflektieren auf sich selbst nimmt. Dabei bildet ‚vernünftiger‘ Pragmatismus ein ethisches Korrektiv für schwärmerischen Idealismus. Weniger als dreißig Jahre später führen das Verwerfen von Vernunftpragmatismus und die Enthemmung von Liebesidealismus Werther in die Abgründigkeit eines Selbstbezugs, der auch durch seinen als holistisches Naturverhältnis praktizierten Weltbezug nicht mehr gegengesteuert werden kann. Die heroisierte Lebensunfähigkeit des Einsamen bei gleichzeitiger Begabung zum Natürlichen sowie Werthers expressiv-melancholische Lebendigkeit bis in den Freitod hinein tragen bereits auch Pathos-Züge des Sturm und Drang. Literaturgeschichtlich weniger offensichtlich lässt sich jedoch auch eine Kontinuität ausmachen, die von entgegengesetzter, nicht-individualistischer Seite, nämlich vom literarischen Rokoko her den Durchbruch der Stimmung zum wirkungsästhetisch und werkpoetologisch zentralen Strukturmoment begünstigt. Es ist vor allem die poetische Ausrichtung auf Konglomerate aus bestimmten Elementen, die einzeln unbedeutend sein mögen, aber ästhetisch so zusammenwirken, dass sie als Ganzes mehr sind als eine Summe von Teilen. Diese gestalttheoretische Formulierung soll etwas Gemeinsames von Rokoko und Stimmung bezeichnen und zugleich die Unterschiede in der Ausgestaltung davon unberührt lassen. Während das Rokoko seine motivischen Besetzungen fast durchweg aus der Antike bzw. aus deren Auffassung im Übergang vom Barock zum Klassizismus ohne den aufklärerischen Aspekt der Tugendproklamation bezieht, ist die Stimmungspoetik um 1800 weniger traditionsgebunden. Sie kann antike Themen wie Sphärenharmonie, die Chaos-KosmosDifferenz oder das Gefühl des Erhabenen aufgreifen (Moritz, Jean Paul, Tieck, Novalis), sie sind ihr aber nicht vorgegeben. Erfolgt im Rokoko die poetische Herstellung ländlicher Idyllen über eine Stilisierung des Natürlichen durch ein konventionelles Ensemble an Zierlichem, Ironischem, Intimisiertem und Kleinstem, so geht es der Stimmungsdichtung um Situationen, zu denen bestimmte Beteiligte – z.B. Menschen, Dinge, Klänge, psychische wie meteorologische Impulse – ebenso gehören können wie deren Unbestimmtheit. Gattungspoetisch wird eine Vorliebe für die Lyrik geteilt, während kleine Formen wie Singspiel oder Dramolett oder solche der Versepik das Rokoko bevorzugt, kommen Stimmungen stärker in der Oper, Dramatik oder dem Roman zur Geltung. Anders als die sinnenfreudige Heiterkeit, der diesseitige Lebensgenuss und die aus ästhetischer Distanz genossene Harmonie des Rokoko kann Stimmungsliteratur – auch im selben Werk (Werther; Faust) – ebenso deren Gegenteil darstellen: also etwa as-

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ketische Verdrießlichkeit, gnostische Weltverachtung und in existenzieller Unmittelbarkeit erlittene Disharmonien. Ferner ist die Vermitteltheit über literarische Vorbilder sowohl im Rokoko (Anakreon, Catull, Horaz) als auch in der Stimmungsdichtung bedeutsam, wie sie mit Werther (Homer, Ossian, Goldsmith, Lessing) einsetzt. Bei ersterer ist sie jedoch bis hinein in die thematische Gestaltung (arkadische Hirtenund Schäferdichtung) affirmativ verstanden; bei letzterer hingegen auch kritisch (Goethe: Werther; Triumph der Empfindsamkeit), psychologisch oder ironisch (Moritz: Anton Reiser; Andreas Hartknopf) gewendet. Sind im Rokoko die literarische Utopie Arkadiens und ästhetische Idealisierung einer eudämonistischen Antike als gesellige Alternativen zu höfischen und bürgerlichen Existenzformen entworfen, so wird die einsame Buchlektüre Werther in ein phantasmatisch gebrochenes Verhältnis zur Wirklichkeit verleiten. Unter Berücksichtigung der angeführten Unterschiede können die idyllischen Settings des Rokoko als Vorläufer der situativen Konglomerate von Stimmungsliteratur angesehen werden. Bei Bewahrung der Souveränität von Vernunft setzen sie poetologisch bereits auf eine Abgrenzung von moralisch und didaktisch überkommenen Ansprüchen der Aufklärung. In gewisser Hinsicht also bereitet das Rokoko sowohl Werthers Verwerfen der spießbürgerlichen Arbeits- und Tugendmoral sowie des aristokratischen Dünkels vor, als auch seine Hinwendung zu einem naturnahen Lebensgefühl und zu erotischer Anziehung. Indes tritt an die Stelle des erotischspielerischen Immoralismus ein emotional-verbindlicher Enthusiasmus, besonnene Verspieltheit wird von rückhaltloser Verliebtheit verdrängt, scherzhafte Leichtigkeit des Seins wird von pathetischer Levitation des Lebens bis in den Freitod hinein überholt. Die distanziert-frivole Virtuosität im Durchspielen von Empfindungsnuancen, die Werther noch aus seinem im ersten Brief angesprochenen Freundeskreis zu kennen scheint, lässt er hinter sich zugunsten eines imaginär-symbiotischen Gefühlsabsolutismus im Durchleben von Stimmungen. Auch für die Helden des Gefühls im Sturm und Drang, die Ideale vom freien Selbsthelfer, ganzen Kerl oder schöpferischen Genie wurden Spontaneität, Impulsivität und Intuition dann maßgeblich. Poetologisch ging dies einher mit der Ablösung von der klassizistischen Regelpoetik, wobei das kunsthandwerkliche Kenntnisregime als Matrix von bedeutender Dichtung durch das schöpferische Originalgenie ersetzt wurde. Das künstlerisch selbsttätige Genie praktiziert keine Nachahmung der Natur im Sinne von möglichst getreuem Abbilden eines vorliegenden Urbildes mehr. Stattdessen agiert das Genie selbst als Natur, indem es wie diese nach eigenen Gesetzen etwas hervorbringt und selbst zur ästhetischen Idee (Kant) wird. Mit der sachlich begründeten, geschichtlich auch polemisch durchgeführten Absetzung von der Objektivität eines normativen Regelwerkes verbunden ist der Aufstieg der Subjektivität zur ästhetischen Kategorie. Während in der Philosophie jener Zeit das Subjekt als Instanz der Vernunft zur Steuerung und Sicherung des Erkenntnisprozesses eingesetzt wurde, blieb in der Literatur das Subjekt als Sphäre des Individuellen der Empfindung und der Verarbeitung des Erfahrungsprozesses ausgesetzt. Aufgefasst und von der Sturm-und-Drang-Generation auch gefeiert als subjektgewordene Natur ist das Genie – z.B. Erwin von Steinbach oder William Shakespeare – mehr kreativ als Kreatur. Dennoch ist eine solche creatura creatrix nicht einfach identisch mit der natura naturata et naturans, sondern Genie ist subjektivierte, zweite Natur. Als Teil und Geschöpf der Kultur wird das kunstschaffende Subjekt

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nicht nur als ideosynkratisches ‚Innerstes‘ gedacht, sondern überwiegend als subjektiviertes Außen. Ästhetisch ist das Individuelle das Kunst gewordene Allgemeine. Der von Goethe gepriesene Architekt des Straßburger Münsters wie Herders genialer Dramatiker des „noch ganzen Mensch[en]“ (Herder 1993, S. 522f.) verkörpern die deutsche Gotik bzw. das elizabethanische Theater. Sie stehen je für das kulturelle „Ganze von Sprache“, Stil und „Zeitalter“ (ebd.) und beide zusammen bilden sie die nordisch-germanische Alternative zum französisch-romanischen Standard. Im Hinblick auf diese teilweise schon in Lessings poetischem Denken tonangebende Opposition gegen den französisch dominierten Klassizismus und die diesem folgende Regelpoetik Gottscheds, besitzt auch die Rede von Kunst als Ausdruck von Individualität, Subjektivität oder Innerlichkeit einen berechtigten, nämlich historischen Sinn. Seit aber Kunst nicht länger durch Anwendung von Regeln hervorgebracht, also als erlernbares Handwerk oder praktiziertes Gelehrtentum normativ gedacht wird, hat der Ausdrucksbegriff mit dem Verlust seiner polemischen Stoßrichtung auch an semantischer Überzeugungskraft eingebüßt. Wenn ‚Ausdruck‘ nicht als sprachlicher oder gleich synekdochisch partikularisierender Ausdruck gemeint ist (pars pro toto: Shakespeares Schauspielkunst für das elizabethanische Theater oder gar Zeitalter; Straßburger Münster für deutsche Gotik oder gar ‚nordische Kultur‘), dann stellt sich damit mehr ein Problem, als dass die Lösung eines solchen gegeben wäre. Inwiefern etwa ist dasjenige, was ästhetischer Ausdruck wird, zuvor ästhetischer Eindruck gewesen? Wie wird qua Kunst aus subjektivierter Wirklichkeit objektivierte Erfahrung? Unsere Thematisierung der Stimmung ist hierauf der Versuch einer Antwort, allerdings in der Weise, dass sie die Frage nach dem Ausdruck in die Frage nach der Stimmung wendet. Da ihr Begriff subjektive und objektive Bedeutungsaspekte sowie innere und äußere Perspektiven umfasst, integriert oder transfiguriert, lässt sich anhand der Stimmung die Frage nach dem ästhetischen Ausdruck erst richtig stellen. Dies gilt in systematischer wie in historischer Hinsicht. Wieso kann seit der Romantik und bis heute oft von der Musik gesagt werden, sie sei der unmittelbare Ausdruck von Gefühlen oder Emotionen, Empfindungen oder Stimmungen? Dieser Frage wollen wir nachgehen, indem wir Andreas Hartknopfs „Studium“ nachvollziehen, das „die Musik zur eigentlichen Sprache der Empfindungen zu machen“ versucht und dies mit „einer gewissen Stimmung der Seele“ verbindet.22 Hier wie auch an den anderen Texten zeigt sich, inwieweit unsere Konzeptualisierung der Stimmung eine Frage theoretisch nachvollzieht, die die Literatur seit den 1770er Jahren poetologisch mitbestimmt. Die empfindsam kultivierte Innerlichkeit, das ihr folgende Ausdruckspathos individueller Subjektivität und die Entwicklung einer literarischen Wirkungsästhetik erschöpfen sich keineswegs in ihrer Opposition zu nachbarocken Regelpoetiken, französischem Klassizismus oder aufklärerischer Verstandeskultur. Darüber hinaus entdecken sie den Eigensinn des Literarischen im Darstellen sinnlicher Wahrnehmungsmomente samt emotionaler Resonanzräume. Der dadurch mit zur Erscheinung kommende Außenbezug von Empfindungen und Gefühlen lässt diese in ihrer räumlichen Dimension erfahrbar werden, wofür bald auch der Begriff der Stimmung Einzug erhält. Auch wo von Stimmung der Seele und 22 Moritz 1996, S. 498f. Fortan im Text zitiert mit der Sigle RH (+ Seitenzahl).

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nicht etwa der Weltseele die Rede ist, bezeichnet Stimmung nicht nur den mentalen Zustand oder dessen Selbstgefühl. Sie ist im psychischen Apparat zu verorten und zugleich in der physischen Umwelt, im geistigen Ich wie in dessen kulturell-ökologischem Milieu. Diese zweiseitige Verfugung teilt die Stimmung mit dem ‚Zeitgeist‘; beides Begriffe, die sinnliche Wahrnehmung und geschichtliche Situativität erfassen und bei sowie im Umkreis von Herder in den 1770ern erstmals auftauchen. Sie stehen in Verbindung mit Herders Geschichtsdenken, das seinerseits onto- und phylogenetische Zusammenhänge zu erfassen und entlang der Achsen Sinn und Sinne, Subjekt und Sprache, Individuum und Gesellschaft, Ich und Kultur, Bewusstsein und Atmosphäre nach Wechselbezügen sucht. Nachdem die Forschung der letzten Jahrzehnte die älteren Vorstellungen von einer im Zeichen des Rationalismus aufgehenden Aufklärung korrigiert hat, stellen sich die Fragen nach einer auf Anschauung basierten Erkenntnis, nach ästhetisch erweiterter Rationalität oder nach dem „Topos vom sinnlichen Sinn“ (Welsch 1987, S. 22) in einer historisch vertieften Perspektive. Denn nicht erst die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts gelangt zu Einsichten in die Notwendigkeit einer Revision der kulturellen Dominanz des logoszentrierten Rationalitätstypus. Bereits die Aufklärung selbst, vor allem in ihrer späteren Phase, drängt über die Rehabilitation des Sinnlichen im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (Kondylis 1986) hinaus auf eine Explikation sinnlichen Wahrnehmens als eigenständiger Form des Erkennens. Während die Philosophie im 18. Jahrhundert ihren disziplinären Kernbestand um die Ästhetik erweitert, entwickelt die Literatur aus ihrem poetikgeschichtlichen Erbe des Wunderbaren, der Einbildungskraft und der Affekte die Stimmung als eine poetische Matrix, die Sinn aus den Sinnen generiert. Kants Kritik der Urteilskraft macht vom neugewonnenen Ästhetischen, das zunächst Defizite des Rationalen zu kompensieren hat (Baumgarten), schon bald einen funktionalen Gebrauch zur Überbrückung des systematischen Abgrundes zwischen den Kritiken der reinen und der praktischen Vernunft. „Nach Kants dritter Kritik“, erklärt Wolfgang Welschs historische Situierung von Aisthesis, „in Schillers und Hölderlins Tagen, rückt das Sinnliche in den Rang der epochalen Verheißung auf. Es soll als Ästhetisches die Versöhnung des Reichs der Notwendigkeit und des Reichs der Freiheit, des Natürlichen und des Vernünftigen leisten. Es wird allenthalben mit ErlöserFunktionen betraut und mit Erlöser-Titeln begabt, und die ästhetische Emphase steigert sich zur Ekstase. Bald jedoch fallen diese Aspirationen in sich zusammen, und einstige Promotoren der Bewegung werden zu ihren herbsten Kritikern.“ (Ebd. 22f.)

Ist es in der Philosophie nach 1800 von der spekulativen Hyperbolik des Sinnlichen zu dessen Degradierung zum allenfalls psychologisch relevanten Randgeschehen des Epistemischen nur ein kleiner Schritt, so hält das Sinnliche in der Literatur den ontopoetologischen Status einer eigenständigen, wenn auch oft verdeckten Quelle von Wissen. Dabei kommt der Stimmung mit ihren synästhetischen und poetologischen Potenzialen die entscheidende Bedeutung zu, insofern sie das Entstehen von anschaulichem Erfahrungswissen in konkreten Situationen literarisiert. Nur eine dem logoszentrierten Diskurs der Philosophie entsprechend klassifizierende Literaturgeschichte konnte entweder mit affirmativer oder aber kritischer Sprechgebärde die Stimmung dem Bereich des Irrationalen zuschlagen. In der falschen Alternative zwischen Ra-

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tionalem und Irrationalem, deren Exklusionslogik bis in heutige Seminardiskussionen fortwirkt, kann das genuin Ästhetische der wahrnehmungsbasierten Stimmung als Alternative zur Ratiozentrik jedoch nicht richtig zur Geltung kommen. Bereits mit dem Einzug der Stimmung in die philosophische Ästhetik und poetologische Reflexion u.a. bei Kant, Schiller und Humboldt, bei Fichte, Hölderlin und Hegel kommt es zu semantischen Aneignungen des Begriffs mit Tendenzen zu Entsinnlichung und Vergeistigung, zu Subjektivierung bzw. Psychologisierung des Phänomens. Deshalb müssen historische Untersuchungen zur literarischen Stimmung Obacht geben, dass sie ihren Gegenstand nicht im Zuge diskursgeschichtlicher Ableitungen verfehlen oder aus philosophischem Blickwinkel verzerren. Es bleibt unter literatur- und mediengeschichtlichen Aspekten festzuhalten, dass das Aufkommen der Stimmung als einer den Texten impliziten ästhetischen Grundierung und poetologischen Organisation nicht als ein Ergebnis der Theoriedebatten des 18. Jahrhunderts ableitbar ist. Als literarisches Phänomen ist die Stimmung nicht nur nicht abhängig vom Gebrauch des Wortes ‚Stimmung‘, sondern auch dem ästhetischen Begriff derselben historisch vorgängig. Stimmung taucht wörtlich vereinzelt und begrifflich in einem krypto-poetologischen Sinn zuerst bei Herder (Journal meiner Reise, 1769) und von diesem beeinflusst bei Goethe (1776), dann bei Moritz (1785) auf, bevor Stimmung bei Kant, dann bei Schiller, Fichte, Humboldt, Hegel und Schopenhauer u.a. als ein ästhetischer Begriff in theoretisch innovativen Zusammenhängen etabliert wird. (Vgl. Wellbery 2003) Insofern freilich die diskurshistorische Forschung zur Stimmung an der Begriffsgeschichte orientiert ist (Welsh 2003, 2006; Jacobs 2013), fallen für sie nicht nur ältere Werke der Literatur, Kunst oder Musik außer Betracht, auch wenn diese das Phänomen bereits ästhetisch konfigurieren und damit die im theoretischen Diskurs nachholend aufbereitete Semantik teilweise präfigurieren. Auch deshalb bedarf die literaturhistorische Forschung des heuristischen Instruments einer Stimmungsdefinition (Kap. A-III), mit der sie Texte darauf hin untersuchen kann, wie sie ästhetische Konfigurationen als Vorläufer von Theoriefiguren und weitgehend unabhängig vom zeitgenössischen Poetikdiskurs hervorgebracht haben. Seit der Querelle des anciens et des modernes wurde anhaltend und kontrovers über den Vorrang von Gelehrtheit (studium) oder Genie (ingenium), die Vorbildlichkeit der Antike (Mimesis, Wahrscheinlichkeit), die Verbindlichkeit der aus ihr hergeleiteten Dichtungsregeln (Poetik, Rhetorik) und die Normativität von Gattungsformen (Aristoteles, Gottsched, Bodmer, Batteaux, Lessing, Herder) diskutiert. In die darin angelegten historischen (Antike/Neuzeit; Frankreich/England) und systematischen Alternativen (Klassizität/Originalität; Geschmack/Genie; Schönes/Erhabenes) fügen sich jedoch die tatsächlichen Entwicklungen in der Gattungspoetik und der literarischen Öffentlichkeit oftmals nicht. Sind diese doch zunehmend von der rasch steigenden Nachfrage seitens des explosiv gewachsenen Lesepublikums mitbestimmt, das durch die historische Alphabetisierungswelle und Verbesserung der Buchdrucktechnik in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem ebenso wirtschaftlichen wie medienpraktischen Faktor geworden war. Auch die in der als philosophische Disziplin sich entwickelnden Ästhetik aufgeworfenen Fragen wie die nach dem Primat von Natur oder aber Kunst bei ihrer wechselseitigen Bestimmung als schön bzw. erhaben (Boileau, Baumgarten, Burke, Kant) sowie die nach theoretischer Ge-

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wichtung von Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Reflexion sind nicht ausschlaggebend für das Explizitwerden von Stimmung als literarisches Phänomen. Allerdings führen die philosophisch-ästhetischen zusammen mit poetologischen Diskursen wie denen über das Wunderbare und Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang von Fiktion und Wirklichkeit sowie über die gattungsspezifische Bedeutsamkeit des Verhältnisses von Unterhaltung und Belehrung zu einer historischen Konstellation, in der die Aufklärung sich zur Moderne hin unter aisthetischem Vorzeichen entfaltet. Das heißt allgemein gesprochen, dass in der geistesgeschichtlich als deutsche Spätaufklärung bezeichneten Kulturentwicklung das Denken sich vom Vorzeichen des Normativen emanzipiert: nach einer längeren Phase diskursspezifischer Kritik (Theologie, Kosmologie, Ethik), weltanschaulicher Polemik (Sensualismus/Intellektualismus; Empirismus/Rationalismus; Materialismus/Idealismus) und des Ankämpfens gegen Monopolstellungen in Sachen Weltdeutung (Vernunft vs. Autorität; Verstand vs. Glauben; Philosophie vs. Religion) wird die aufklärerische Denkgebärde selbstbezüglich und entfaltet neben der nihilistischen Konsequenz des Kausalen (Mechanizismus/Maschinismus) innovative Möglichkeiten der Reflexion. Im Besonderen des Ästhetischen bedeutet die weitere Entfaltung der Aufklärung, dass diese mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in eine Phase tritt, in der ihre Potenziale der Reflexion sich von intellektualistischen Vereinseitigungen lösen und zunehmend die wahrnehmungssinnlichen Grundlagen von Vernunftvollzügen einbeziehen. Damit werden Sinnlichkeit und Einbildungskraft ihrerseits als transzendentale bzw. ‚psychische‘ Konstituenzien in ästhetisch reflektierte Konzepte von Rationalität und Erfahrung (Kant) sowie von Seele und Gefühl (Herder) integriert. Zum einen konsolidiert sich in Weiterführung von Descartes’ selbstbezüglichem Ich eine Auffassung von Subjektivität, die auf deren etymologische Bedeutungsschicht des Zugrundeliegenden aufbaut. Bewusstseinsleistungen wie Denken, Wollen und Urteilen werden als das Handeln eines Subjekts begreifbar, das sich dabei reflexiv begleitet und ontologische Qualitäten aneignet, die zuvor den philosophischen Begriffen der Substanz und Materie zukamen. Zum anderen entwickelt sich unter Anknüpfung an logische, grammatische und rhetorische Kontexte eine Auffassung von Subjektivität, die von historischen Bedeutungsaspekten des Unterworfenseins, des Bestimmt-, Bezogen- oder Bezeichnetwerdens informiert ist. Erfahrungsdimensionen wie Empfinden, Spüren und Fühlen werden als etwas begreifbar, das ihrem Subjekt zwar ebenfalls Selbstbezüglichkeit vermittelt. Diese dient ihm aber nicht zur ästhetischen Vergewisserung, psychologischen Begründung oder ontologischen Fundamentierung des Ich. Vielmehr ist hier Selbstbezüglichkeit der Begleiteffekt eines Erfahrungsvollzugs, der die Sprache, die anderen oder die Welt als etwas präsentiert, das dem Ich vorgängig ist und es ontologisch erst ermöglicht. Der erste, Kant folgende Weg gesteigerter Reflexivität nimmt seinen Ausgang von einem in der Spontaneität des denkenden Subjekts zentrierten Theoriefeld, das sich zwischen den Begriffen der Natur einerseits und der Freiheit andererseits polarisiert. Da die Pole des Sinnlichen und Übersinnlichen vom theoretischen Vernunftgebrauch nicht bruchlos überspannt werden können, engagiert Kant zu diesem Zweck die seit Baumgarten epistemologisch aufgewertete Ästhetik. Indem sie über eine Theorie des Schönen und Erhabenen (Pseudo-Longin, Boileau, Burke) hinausgeht, sind die von ihr für die Einheit von Erfahrung und Vernunft erwarteten Integrationsleistungen orientiert an ‚kritischen‘ Marksteinen wie: ‚Transzendentalität‘, ‚Ding an

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sich‘, ‚kategorischer Imperativ‘, ‚regulative‘ sowie ‚ästhetische Idee‘, ‚Zweckgemäßheit ohne Zweck‘, ‚freies Spiel der Einbildungskraft‘, ‚proportionierte Stimmung‘ von Erkenntniskräften. Dieser Weg führt über die reflexiven Denkfiguren des Selbstbewusstseins, der Autonomie und Dialektik zu den bewusstseins- und geistphilosophischen Konzepten des deutschen Idealismus, der die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Selbst und Welt, Identität und Differenz als wechselseitig konstituierend denkt. In ästhetischer Perspektivik steht indes am End- und Höhepunkt des transzendentalen Denkweges der sich steigernden Reflexion die Inversion als deren Kippfigur. Wo aber die Reflexion in die Immanenz ihrer eigenen Bewegung umkippt, geht der konstitutive Weltbezug verloren und mit ihm die dem Phänomen Stimmung angemessene Begriffsdimension eines integralen Außenbezugs. Unter reflexionsphilosophischen Diskursbedingungen lässt sich Stimmung fortan nurmehr disjunktiv als psychischer Zustand objektivistisch auffassen oder aber subjektivistisch zu ideosynkratischem Gefühl erklären. Die damit zugleich epistemisch ausgegrenzte Stimmung kann beim Subjekt rational gesteuerter Reflexion unterschwellig und umso leichter ins Gefühl der Leere umschlagen während sie jenseits der Themenschwelle zur Wissensfähigkeit begrifflich verwildert. Der zweite, am ehesten mit dem Namen Herder gewiesene Weg gesteigerter Reflexivität nimmt seinen Ausgang ebenfalls im geistesgeschichtlichen Spannungsfeld zwischen Rationalismus und Empirismus. Anstelle der ‚kritischen‘ Vermittlung letzterer in Kants Transzendentalphilosophie entsteht ansatzweise eine Philosophie des gleichermaßen ‚inneren‘ wie ‚äußeren‘ Gefühls, in der Sinnstiftung aus Sinneserfahrung hervorginge. In Herders Gefühlsphilosophie – wäre sie zu Ende gedacht – ginge die Bewegung der Reflexion gerade nicht von der Spontaneität eines Subjekts aus, das sich in seiner (transzendentalen) Erfahrung als konstitutiv für deren Gegenstände erfährt. Sie würde hingegen von der (sinnlichen) Erfahrung selbst initiiert, d.h. bereits mit dem Wahrnehmungsimpuls setzte eine erkennende Reflexionsbewegung noch vor der erkenntnistheoretischen Bifurkation von Subjekt und Objekt ein. Sie entfaltete die genuin ästhetische Dimension von Erfahrung als einen prätranszendentalen Raum, in dem der Erfahrungsgegenstand und sein Wahrgenommenwerden noch in einer Einheit diffundieren. Diese erst der Phänomenologie im 20. Jahrhundert deskriptiv zugängliche Gleichursprünglichkeit von Gegenstands- und Wahrnehmungsbezug wird von Herders Denken der 1760er und 70er Jahre umkreist ohne sie systematisch darstellen oder auch nur theoretisch angemessen erfassen zu können.23 Dies aber wäre für eine philosophische, vor allem für eine literarische Ästhetik der Stimmung entscheidend gewesen. In ihre Richtung weisen die theoretischen Versuche des jungen Herder, etwa wenn die Rede vom „Zauberspiegel des Aesthetikers“ 23 Siehe zu Herders „Phänomenologie“ der Schwingungen im Kontext seiner begriffsbildungstheoretischen Physiologie der Sinne: „Die Würkungen dessen, was in unser Ohr angenehm einfließt, liegen gleichsam tiefer in unserer Seele, da die Gegenstände des Auges ruhig vor uns liegen. Jene würken gleichsam in einander, durch Schwingungen, die in Schwingungen fallen: sie sind also nicht so aus einander, nicht so deutlich. Sie würken durch eine Erschütterung, durch eine sanfte Betäubung der Töne und Wellen“. (Herder 1993, S. 494f.)

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(Herder 1985, S. 79) ist, dessen Reflexion nicht etwa die Identität des in ihn blickenden Subjekts vorspiegelt, sondern die Identität der Gattungsform ‚Ode‘ im historischen Wandel durch Jahrhunderte hindurchspiegelt. Deutlicher als die vom Sehsinn organisierte Figur der Widerspiegelung jedoch weist Herders metaphorische wie auch theoretische Präferenz für den Hörsinn auf das historische Hervortreten des Stimmungsphänomens hin.24 Dabei wird das optisch-visuelle Wahrnehmungsmodell der Reflexion vom akustisch-auditiven der Resonanz überlagert.25 Für die ästhetische Weise des In-der-Welt-seins und die dem entsprechende „neue Denkart“ (JmR 15) bedeutet dies eine Rundung der perspektivischen Tiefe des Raums zur situativen Weite der Sphäre. Gleichsam ‚schwebende‘ oder ‚schwimmende‘ Begriffe wie „weite Sphäre“ der Welt gegenüber dem „engen Kreis einer Situation“, „der rauschende Wellenstrom“ um eine bislang unerhörte Levitation der „Seele“ herum, ein „weiter Luftkreis“ und „flatternde Segel“ (ebd.) formen das gefühlsästhetische Denken im Journal meiner Reise im Jahr 1769. Kraft der überwiegend hymnischen, von reflexiven Momenten gebrochenen Tonart konnte dieser Text zu einem Auftakt des Sturm und Drang werden, dessen literarische Revolution Fragmente einer Sprache der Stimmung hervorbringt. Wo das Reisejournal – gewissermaßen auch selbstbezüglich – die poetische Sprache thematisiert, lenkt es die Aufmerksamkeit auf das physische Erleben des Lesens unter Betonung akustischer Reize und imaginativer Hörerlebnisse. Verstehen beginne bereits – hierzu verweist Herder auf Rousseau – mit dem Vernehmen von „Akzent, Schall, Ton, Stimme“ (ebd. 89).26 Es entfaltet sich schließlich in einer synästhetischen Dimension, die – wie dann auch in der Sprachursprungsabhandlung in Auseinandersetzung mit Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (Vol. II.) – mit spekulativem Rückbezug auf einen frühen „Eindruck der Kindheit“ (Herder 1985, S. 744) erklärt wird. Da aber der früheste Kindheitseindruck en route nach Nantes als „der erste Ton, die erste Stimmung der Seele“ (JmR 103) aufgefasst 24 Siehe zur Aufarbeitung der Diskussion und Geschichte der Sinneshierarchie Zeuch 2000. 25 Dies ist zumal in den frühen Schriften wie ‚Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen‘, ‚Kritische Wäldchen‘, ‚Fragmente zu einer Abhandlung der Ode‘, ‚Journal meiner Reise im Jahr 1769‘, ‚Über den Ursprung der Sprache‘ der Fall. In: Herder 1985 und 1993. 26 Zu Herders Thematisierung der physikalischen Akustik innerhalb seiner „ästhetische[n] Phänomenologie“ (Herder 1993, S. 534) siehe das vierte Kritische Wäldchen. Dort wird der Schall, der mit dem Ton „nicht einerlei“ ist, „als ein dunkles Aggregat der Töne“ analysiert, „um den mathematischen und physischen Verwirrungen zu entgehen“. Diese hatte er in seiner Auseinandersetzung mit Rameaus (Traité de l’harmonie reduite à ses principes naturels, 4 livres, Paris 1722) und d’Alemberts (Elements de musique, theorique et pratique, suivant les principes de M. Rameau, Paris 1752) objektivistischer Harmonietheorie gefunden. (Herder 1993, S. 544f.) Denn „Schall ist kein Ton“: wie in der Akustik dem Schall das äußere Gefühl entspricht, so in der Ästhetik dem „empfindsamen Tone“ das „innere Gefühl“ (ebd. 554). Eine systematische und historische Untersuchung von Herders musikzentriertem Ästhetikentwurf im Vierten Wäldchen einschließlich eines Abgleichs mit der empirischen Forschung vom Stand der 1970er Jahre siehe in Solms 1990, S. 193-242. Hier wird insbesondere auch Herders Interesse an neurophysiologischen Aspekten der Ästhetik des Gehörs nachgegangen.

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wird, kann hier eine ästhetische Bedeutung von ‚Stimmung‘ entdeckt werden, welche die körperliche Wahrnehmung von original rezitierter oder auch nur klangkompetent gelesener Poesie mit entwicklungspsychologisch prägender Früherfahrung verbindet. Entsprechend dem musikalischen Herkunftsbereich der Stimmung verweist Herder auf das kennenlernende „Singen“ einer Fremdsprache, was soviel heiße wie diese „in allen Akzenten der Leidenschaft kennen: das heißt Griechisch können. O könnte ich Homer so wie Klopstock lesen! Skandiere ich nicht: welch andrer Poet! Weiß ich für die Leidenschaft und Natur ihn zu skandieren; was höre ich da nicht mehr! Welche Verstärkung, Stillstand, Schwäche, Zittrung u.s.w. O sange mir Homer, Pindar, und Sophokles vor.“ (JmR 89)

Erst leidenschaftliches Singen, zumindest hebungsbetontes und rhythmusfähiges Sprechen, öffnet für Herder also einen auch affektiv qualifizierten Zugang zur Fremdsprache und deren Poesie. Dies zu erreichen sei bislang freilich ein Privileg der Erziehungsmöglichkeiten von Adligen wie Montaigne und Shaftesbury und nur als Ausnahme bei einem „Professor der Griechischen und Lateinischen Sprache“ möglich. (JmR 89) Denn „lebendig Griechisch können“ resultiere nicht aus lexikalischer und grammatischer Schulung, sondern gelinge nur durch ein „feines innerliches Gefühl, was unsre Ammen besser beibringen, als unsre gelehrte Aristarche!“ (JmR 89) Bevor dieses „innre Gefühl“ (JmR 97) bei Herder und nach ihm bei Goethe auf das Gestalten, die Form, den Inhalt und die Wirkung von Kunst ausgreift, wird es als pädagogisches Ideal des Fremdsprachenlernens exponiert. Herders in Richtung einer ästhetisch-anthropologischen Auffassung von Ton und Stimmung weisenden Intuitionen verlieren sich jedoch in seiner Auseinandersetzung mit Baumgarten und Kant. Denn auf diesem philosophischen Feld werden dem Sinnlichen die Nebenrollen des antagonistischen bis komplementären Gegenspielers zum Rationalen zugewiesen, wodurch die Möglichkeit einer phänomenbasierten Revision von Erfahrung verspielt wird. Herder scheint dies Problem selbst zu bemerken, wenn er an Baumgartens eigentliche Innovation einer auf der gnoseologia inferior aufbauenden Ästhetik als sinnlicher Erkenntnislehre anknüpft. Denn er behauptet, dass diese gar nicht sei, was „ihr Name“ verspreche: „Aesthetik, eine Lehre des Gefühls.“ (Herder 1985, S. 693) Die von Herder selbst entworfene Gefühlsästhetik wird jedoch von demjenigen immer wieder eingeholt, was er an Baumgartens Erkenntnisästhetik kritisierte: namentlich „daß sie alles zu sehr apriori“ in „allgemeine[n] Sätze[n]“ fasse und so „[g]riechisches Gefühl, innere Empfindung des Schönen“ zugunsten von „Spekulation“ (ebd. 692f.) preisgebe. Statt anders als Baumgarten und Kant grundsätzlich von sinnlicher Wahrnehmung (Stimmung, Ton) auszugehen und auf ein neues Denken von und aus Erfahrung abzuzielen, richtet Herder sogar noch seinen ästhetischen ‚Zauberspiegel‘ nach der philosophischen Spekulation auf den gemeinsamen Ursprung der Vermögen des Verstandes und der Sinnlichkeit, der Vernunft und der Einbildungskraft aus. Gleichwohl bleibt Herders Verortung eines solchen Ursprungs ihrerseits schwankend, insofern sie Ästhetik ein Mal mehr von der Wahrnehmung, ein anderes Mal mehr von der Einbildungskraft und wieder ein anderes Mal von der Reflexion bestimmt vorstellt. Dem entspricht in der Ursprungsabhandlung von 1770 die argumentative Unentschiedenheit zwischen dem anthropologischen Charakteristikum der „Besonnenheit (Reflexion)“ als Bedingungsmöglichkeit von Sprache einerseits und

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anderseits dem Gefühl als demjenigen, was „ursprünglich alle Sinne“ (ebd. 722, 746) sind und damit der Spracherfindung vorausliegt. Zum einen wird über den Ursprung der Sprache der reflexive Zustand der Besonnenheit selbst an die Wahrnehmung zurückgebunden und damit als die eigentlich geistige Grundlage von Humanität versinnlicht. Zum anderen wird das Gefühl mitunter aus seiner im Tastsinn zentrierten Bedeutung herausgelöst und damit als die eigentlich wahrnehmungssinnliche Grundierung der Ästhetik zu deren Reflexionskategorie vergeistigt. Das Nichtzustandekommen einer systematischen Positionierung des Gefühls als theoretisches Primat der Ästhetik behinderte auch eine „aesthetische Poetik“ (ebd. 78) der Stimmung, wie sie die literarische Praxis mit dem Frühwerk Goethes zu bestimmen beginnt und dessen Aufstieg zum führenden Autor der später nach ihm benannten Epoche mitbedingte. So unzweifelhaft mächtig Herders Einfluss auf die Entwicklung des jungen Goethe in der Straßburger Zeit ist, so bezeichnend ist eine gewisse Konturlosigkeit seiner Stellung zwischen dem massiv-soliden Denkgebäude Kants und der virtuos-authentischen Dichtkunst Goethes. Den rezeptionsgeschichtlichen Profilmangel solcher erst im geistesgeschichtlichen Nachhinein sich zeigenden Zwischenstellung hätte wohl nur das Erschaffen einer kunstphilosophischen Ästhetik behoben, welche die zeitgenössischen Entwicklungen in der empirischen Psychologie, der Erkenntnistheorie, Zeichentheorie und Poetologie zu integrieren imstande gewesen wäre.27 Aber auch abgesehen von den Konkurrenzwerken Kants und Goethes ließ die diskurshistorische Gemengelage der 1760er Jahre und folgende schwerlich ein genuin ästhetisches Denken im Zeichen von Stimmung zu. 28 Würde ein solches doch zugunsten seines protophänomenologischen Ansatzes die Frontlinien zwischen Intellektualismus und Sensualismus oder auch nur zwischen Rationalismus und Empirismus zu unterlaufen sowie die damit verbundenen vermögenstheoretischen Dichotomien zu übergehen haben. 29 Nämlich um die sich bereits voneinander ab27 Dass dies Herder durchaus gelungen sei, versucht Gaier (1987) nachzuweisen. Er sieht in Herders Ästhetik eine durchaus systematische Verbindung von einer Art poetischen Anthropologie mit einer „semiotischen, besonders sprachphilosophischen Erkenntniskritik“; dies führe Herder zusammen „mit der Fundierung seiner anthropologischen Philosophie in der Seinserfahrung“ zur Entwicklung einer „metatheoretischen Alternative zur Transzendentalphilosophie.“ (S. 202-24, hier 224) Weiter unten werden wir indes sehen, dass es auch eine Nähe zur Transzendentalphilosophie bei Herder gibt, die seinem gefühlsästhetischen Grundlegungsversuch schadet. 28 Herder selbst sieht den Grund für solche Theorieunmöglichkeit in nicht vermittelbaren Temperamentsunterschieden zwischen „heißeste[r] Leidenschaft“ und „kälteste[r] Empfindung der Vernunft“, die in ihrer „Wahrheit und Form so weit verschieden [sind], daß ihr Maß verschwindet: Vernunft und Gefühl bleiben die beiden Ende [sic!] der Menschheit. Eine deutliche durch Worte bewiesene Empfindung ist eben so ein Unding, als der feurige Gang der Leidenschaft, der abgemessen, wie ein Philosoph gehen soll.“ (Herder 1985, S. 90) 29 Eben dies im Sinne einer Vereinigung von unterschiedlichen Logiken geschafft zu haben, nämlich durch eine gleichzeitige ‚Vereigenständigung‘ der Vermögen (Empfindung, Einbildungskraft, Verstand) und deren Verbindung über wechselseitige Modulationen, wird in den theoretischen Ausführungen nahegelegt von Gaier 1987, S. 209-217.

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grenzenden Felder der Episteme und Ästhetik auf dem diesen gemeinsamen Konstitutionsgrund der Erfahrung produktiv machen zu können. Der junge Herder suchte seine Idee zu einer ebenso differenzierenden wie integrierenden Gefühlsästhetik im Anschluss an den vorkritischen Kant und die ihm durch diesen nahegebrachten Werke von Bacon, Locke, Hume, Leibniz sowie im Eindruck seiner Lektüre von Rousseau und Shaftesbury zu entwickeln. (Vgl. Irmscher, 1987, S. 53ff.) Konkret diente ihm dazu die oben angesprochene Auseinandersetzung mit Baumgarten, dessen Metaphysica (1739) er als Hörer von Kants Vorlesungen seit 1762 in Königsberg kennen lernte. Die Ausführung einer desideraten „vollständige[n] Aesthetik für die Poesie“ (Herder 1985, S. 97), die mit der vierten Sammlung von Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur Gestalt gewinnen aber nie geschrieben werden sollte30, wurde als eine „Metaphysik der schönen Künste“ projektiert, „bei der die Baumgartensche Theorie der schönen Wissenschaften bloß einen unvollendeten Anhang ausmacht“ (ebd. 78). Die Aesthetica (1750/58) behielt zwar die seit der Antike tradierte Zuweisung der Wahrnehmungssinnlichkeit zum Bereich der niederen Seelenkräfte bei, sicherte ihr indes erstmals den philosophischen Status systematischer Erkenntnisfähigkeit.31 Nicht zuletzt polemische Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber dem „große[n] Baumgarten, der wahre Aristotel unserer Zeit“ (Herder 1985, S. 97), haben bei oder über dessen Hochschätzung auch zu einer Unterschätzung von philosophischer Begriffsarbeit für die neue Disziplin der Ästhetik geführt.32 Wohl auch in Verbund mit eigenen Defiziten an Systematisierungsfähigkeit33 wird die an Leibniz anschließende, differenzierende Stufung der „schönen Erkenntnis“, wie sie von Baumgartens Schüler Meier fortgeführt wurde, als Vorlage für eigene Grundsätze genutzt, aber zugleich als allzu „[p]hilosophierend und trocken“ verworfen.34 Während es so zu keiner äs30 Vgl. Gaiers Kommentar in Herder 1985, S. 1234. 31 Allerdings wird damit nur ausgebaut, was bei Leibniz’ Anknüpfung an Descartes als dunkle gegenüber der klaren Erkenntnis entworfen und als solche dunkle Erkenntnis übrigens schon die ästhetische Urteilsfähigkeit auszeichnet. Von hier aus lassen sich die Bezugslinien zu ästhetischen Kategorien der Stimmigkeit, wie sie etwa bei Adorno verwendet wurde, sowie zur heute wieder beachteten Stimmung nachvollziehen, insofern ihr kognitiver Aspekt bedacht wird. Zu Baumgartens Fortführung des Denkens von Leibniz, Wolff u.a. siehe Cassirer 1974, S. 74. 32 Als Ausgangspunkt einer konzisen Aufarbeitung der Ästhetikgeschichte im 18. Jahrhundert wird die Entstehung und Etablierung von Ästhetik als philosophischer Disziplin gewählt von Solms 1990. 33 Hingegen sieht Gaier mit Blick auf die Ursprungsschrift „mit ihrem transitorischintegrativen Verfahren eine eigene Art der Systematik“ bei Herder am Werk. in: Herder 1985, S. 1279. Zu bedenken ist indes für jede systematische Rekonstruktion von Herders ästhetischem Projekt, dass dieses sich gerade dem Phänomenbereich zuwendet, der sich den historischen Möglichkeiten seiner Diskursivierung und noch den heutigen Ansprüchen klarer Begriffsarbeit entzieht. Dies führt leicht zu einer rekonstruktiven Überkompensierung an Systematizität und Terminologiekonsistenz, wie dies in Gaiers exzellenten Studien der Fall zu sein scheint. 34 Aus Herders Nachlass zit. n. Gaier in dessen Kommentar in Herder 1985, S. 1233.

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thetisch revidierten Erfahrungsphilosophie in der folgenden Goethezeit kam, entwickelte sich im Feld der Literatur eine konfigurative Poiesis, deren wahrnehmungssinnlicher Zuschnitt sie heute als eine Poetologie der Stimmung analysierbar macht.

„Niemals ist es möglich alle Umstände zu bemerken und zu beurteilen, die auf die Stimmung eines Augenblicks einwirken und sogar in ihr wirken und endlich in der Beurteilung wirken, darum ist es falsch zu sagen, gestern fühlte ich mich gefestigt, heute bin ich verzweifelt. Solche Unterscheidungen beweisen nur, daß man Lust hat, sich zu beeinflussen und möglichst abgesondert von sich, versteckt hinter Vorurteilen und Phantasien zeitweilig ein künstliches Leben aufzuführen“. (Kafka 1990, S. 609)

Teil B Poetik der Stimmungen: Analysen eines Literarischen Phänomens (1774-1800)

W ERTHERS EXPANSIVES G EFÜHL UND DIE P HÄNOMENOLOGIE VON S TIMMUNGEN : R AUMÄSTHETIK UND Z EITSTRUKTUREN

I. Formen kultureller Selbstverständigung und emotionaler Mitteilung

1. E IN EMPFINDSAMER B RIEFROMAN ‚ ZUR RECHTEN Z EIT ‘ UND DIE PROBLEMATISCHE R EDE VON Z EITSTIMMUNGEN Wie die von Herder proklamierte neue „Denk- und Empfindungsart“ mit einer Stimmung korreliert ist, welche die Welt als ‚weite Sphäre‘ des Gefühls dimensioniert, aber auch das Gefühl als die enge Beziehung zeigt, mit der die Welt ‚verschwinden‘ kann – das führte fünf Jahre nach Herders Reiserjournal Goethes Werther dem literarischen Lesepublikum vor Augen: „Wir sind auf die anschauenste Art, mit dem menschlichen Herzen überhaupt und besonders mit all den Eigenthümlichkeiten eines empfindsamen Herzens bekannt gemacht worden, indem wir Werthers ganze Denk- und Empfindungsart vor unsern Augen gleichsam werden und wachsen sahen“. (von Blanckenburg 1775, S. 92)

Blanckenburgs vielleicht maßgebliche unter der Vielzahl zeitgenössischer Rezensionen (1775) resümiert hier Goethes poetische Fähigkeit zur Darstellung „diese[r] höhere[n] Empfindsamkeit“; letztere sieht er allenthalben „hervortreten“ und pädagogisch als schützenswert, ja förderungswürdig an. (Ebd.) Damit versucht Blanckenburg aus aufklärerischem Selbstverständnis zwischen der Ablehnungshaltung der moralischen Bedenkenträger und der Rückhaltlosigkeit emfindsamer Sympathisanten zu vermitteln. Die junge Kraft jeder „weichgeschaffenen Seele“ solle keineswegs unterdrückt, sondern – belehrt durch das Beispiel des unglücklichen Werther – nur „desto besser und sicherer“ (ebd.) in gute Bahnen geleitet werden. Offenbar ist es nötig, moderierend in die ‚heiße‘ Debatte über einen Roman einzugreifen, deren Aufgeregtheit etwas über jenen historischen Zeitpunkt seines Erscheinens zu besagen scheint, der rückblickend in die beginnende ‚Sattelzeit‘ fällt. Zunächst ist die kommunikative Möglichkeit einer solchen tendenziell kollektiven Erregung durch ein literarisches Werk bezeichend, insofern sie nämlich ihre medienhistorische Bedingung in der buchdrucktechnisch avancierten Ver-schriftlichung einer Öffentlichkeitskultur hat. Für die hinsichtlich ihrer großgruppendynamischen Austragung neuen Kontroverse ist es unerheblich, ob die Reaktion auf das im Wer-

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ther Thematisierte und den angeschlagenen Ton expressiver Empfindsamkeit mehr gereizt bis abweisend oder aber überwiegend empfänglich bis überschwänglich ist. In jedem Fall gibt die Heftigkeit der jeweiligen Reaktionen und die Kommunikation derselben Hinweise auf das Berührtwerden einer verbreiteten Gefühlsdisposition, die sich durch infektiöse Medialisierung zu einer Kollektivstimmung verstärken kann. Auch wenn letztere überhaupt erst durch Buch- und speziell Romanlektüre induziert sein sollte, so setzt sie doch eine individuelle Sensibilität voraus, die in einer weiten Streuung doch vergleichbar ausgerichtete oder aber abgedichtete Sensoren aufweist. Solche ähnliche (Nicht-)Empfänglichkeit von Individuen und Gruppen von Individuen basiert auf kulturanthropologischen Bedingungen, die in einer historischen Konstellation geteilt, wenn auch nicht schon immer intersubjektiv mitgeteilt werden. Gemeinschaftliche Stimmungen können – mehr oder weniger –, müssen aber nicht bewusst sein oder gar von allen ihren Trägern als persönliche Befindlichkeiten artikuliert werden. Sie werden dies je nach den gegebenen Kommunikationbedingungen; also gegebenenfalls auch nicht, verzerrt oder nur unvollständig. Das mit der Werther-Lektüre vernehmbar gewordene Erregungs- und Stimmungskollektiv aber erscheint im Sinne Luhmanns als systemtheoretisches Symptom einer kleinen Veränderung mit großen Wirkungen. Denn der Buchdruck als Weiterentwicklung von Rede und Schrift als „Verbreiterungstechniken der Kommunikation“ erlaubt eine epochal einschneidende „Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ als von Stimmungen bewegte und über diese kommunizierende Empfindungsgemeinschaft.1 Schon von ihren anthropologischen Ursprüngen her hängt soziale Kommunikation von natürlichen Gesten und spontan geteilter Aufmerksamkeit, von kooperativer Intentionalität und sozialer Interaktion ab2 und erfolgt in Situationen und durch Medien. Wenn etwa in einer akuten Krise Menschen zusammenströmen, sich zu größeren Gruppen zusammenballen, um die schwierige Lage des je Einzelnen oder seiner Kleingruppe zwecks Verbesserung im Verbund zu kommunizieren, dann reichen dazu freilich schon „die Werkzeuge der Sinne, Augen, Nase, Mund, Ohren“.3 Kommunikativ effizienzsteigernd ist im akuten Fall allerdings schon der Einsatz von Rede. Im chronisch krisenhaften oder doch krisenanfälligen Zustand größerer und kulturell gewachsener Populationen bedarf es zur Verständigung untereinander, zu1

2 3

Vgl. Luhmanns systemtheoretische Kopplung von Evolutionstheorie und dem „Phasenmodelle[n] der historischen Entwicklung“ im allgemeinen Hinblick auf Gesellschaftsentwicklung: „die Gesellschaft als ein universelles, selbstreferentiell geschlossenes Kommunikationssystem aufzufassen, das alle Kommunikationen und nur Kommunikationen enthält und sich durch Kommunikation reproduziert. Diese Theorie suggeriert zwei verschiedene Arten von evolutionären Errungenschaften mit hohem Zentralisierungsgrad, nämlich die Verbreitungstechniken der Kommunikation (Rede, Schrift, Druck) und die Formen der Systemdifferenzierung (segmentär, stratifikatorisch, funktional).“ (2008, S. 112f.) Vgl. die diesbezüglich aufschlussreiche Forschung von Tomasello 2008. In solcher handwerklichen Plastizität drückt sich Goethe (HA) in Dichtung und Wahrheit aus. Zitate aus Goethes Werken mit der Ausnahme des Werther werden direkt im laufenden Text in Klammern nachgewiesen (HA + Bandzahl = römische Ziffer + Seitenzahl = arabische Ziffer) nach der Hamburger Ausgabe in XIV Bänden, hrsg. v. Erich Trunz, München 101981, hier also HA IX 358.

I. FORMEN

KULTURELLER

S ELBSTVERSTÄNDIGUNG

UND EMOTIONALER

M ITTEILUNG | 201

mal über wachsende Raum- und Zeitdistanzen hinweg, technisch aufgerüsteter Medien: wie Schrift, Buchdruck, Tele-, Photo- und Phonographie, Telefon und Television, Internet u.a. Wie Medienhistoriker von McLuhan bis Kittler lehren, lässt sich der kulturelle Prozess insgesamt im Sinne einer subliminalen Universalgeschichte als Entwicklung von Kommunikationstechniken auffassen und erklären. 4 Blicken wir auf das 18. Jahrhundert, das im medialen Zeichen der Schrift sich weiterentwickelte, in der zweiten Hälfte die verstärkte Alphabetisierung, das Aufkommen einer Gelehrtenwelt, eines Buchmarktes, der Leihbibliotheken, des Zeitschriftenwesens und einer „Literaturgesellschaft“ sah. 5 Da entstand außerhalb der Höfe, jenseits der Feudalstrukturen sowie der Handelsplätze eine bürgerliche Öffentlichkeit, in der die Befindlichkeiten, die an der Zeit sind, sich Raum zur Artikulation und Kommunikation untereinander schafften. Zu erinnern wäre an die englischen coffee houses, französischen salons und deutschen Lesegesellschaften; aber auch an die pietistischen Konventikeln, Freimaurerlogen und philosophischen Clubs. An diesen öffentlichkeitskonstitutiven Orten wurde nicht nur weiterhin konventionell kommuniziert, d.h. in physischer Gegenwart über die Sinnesorgane und durch eine gemeinsame Sprache interagiert. Vielmehr wurde letztere zumal in ihren schriftlichen Formen und deren drucktechnischer Produktion zum gewissermaßem metakommunikativen Gegenstand einer medienvermittelten Gesprächskultur. Nicht mehr nur theologische Schriften und philosophische Abhandlungen, sondern auch Wochen- und Monatsschriften dienten wechselseitiger Verständigung über die Themen der Zeit, den Stand der Wissenschaften und die politische Situation. Zweifelhaft mag erscheinen, ob sich damit grundlegend eine gegen-absolutistische Öffentlichkeit herausbildete, wie Habermas (1968) einflussreiche Studie darlegt. Eher ist an eine befindlichkeitskommunikative Rückversicherung der Sozialintergration unter Bedingungen einer ersten Lockerung der absolutistischen Eingebundenheit samt repressiven Ausgeschlossenseins zu denken. Unzweifelhaft aber reflektierte sich die gesellschafliche Entwicklung in der medientechnischen Evolution ihrer Kommunikationsformen, indem verstärkt über literarische Bücher und deren Wirkung gesprochen wurde. Schon aufgrund ihrer immens gewachsenen Anzahl, deren Veröffentlichung dank des technischen Fortschritts im Buchdruck möglich geworden war, wurde schöne Literatur in ihrer massenmedialen Qualität samt deren sozialer Kohäsionskraft erfahren. Das Gespräch über fiktive Personen und die gemeinsame Vergegenwärtigung ihrer Gefühlswelten konkretisiert die „Einbeziehung von Nichtanwesenden in die Kommunikation“ (Luhmann 2008, S. 115) ebenso wie sie die Befindlichkeiten der Anwesenden objektivierend distanziert und damit wiederum literarisch kommunizierbar macht. Insbesondere das noch als weniger schöne Literatur eingestufte Genre ‚Roman‘ sollte sich im Verschriftlichungsschub der geselligen Kultur zunehmend etablieren. 4

5

Für den literarhistorischen einschließlich des sozialpsychologischen Zusammenhangs siehe vor allem Friedirch Kittler 1985. An der Figur des Werther akzentuiert Kittler die mediale Verwandlung eines Lesers in einen Schreiber, der den Dichter als Figur des Dritten zum verschwinden bringt, in ders. 1994, S. 310. Dazu mit Blick auf Werther Jäger 1974, S. 397-401. Zur Alphabetisierung und Literaturgesellschaft siehe Anz 1989, insbes. S. 85.

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Nämlich als die gewissermaßen im historischen Gleichschritt mit dem Bürgertum ‚von unten‘ kommende Kunstgattung, welche die entstandenen Kommunikationsbedürfnisse einer neuen Schicht noch am ehesten bedienen konnte und sie zugleich mit einer wachsenden Leserschaft anfachte. Dies hatte sich in dem – neben Frankreich – als avanciertes Land der Aufklärung angesehenen England mit der Romanentwicklung bei Daniel Defoe, Jonathan Swift, Henry Fielding and Laurence Sterne gezeigt. Aber auch an dem Massenerfolg der Romane Samuel Richardsons, eines gelernten und unternehmerischen Buchdruckers. Mit Pamela oder die belohnte Tugend (1740), Clarissa (1748) und Sir Charles Grandison (1753) begann die schon bald internationale Entwicklung der Gattung Roman in Briefform. Dieses neue und bürgerlich vereinnahmte Genre verhalf der privaten Beschäftigung mit intimen Gefühlen zu literarischem Ausdruck und diesem dadurch zu einer sozialen Kommunikationsfunktion. Es entwickelte und verwandelte den lange ‚verdrucksten‘ Diskurs über empfindsame Moralität, machte Beobachtungen von und das Reden über persönliche Befindlichkeiten drucktauglich, öffentlich und damit die begrifflich noch nicht erfassten Stimmungen bereits kommunikativ wirksam. Im Anschluss an diese Prototypen6 verbreiterte sich das Feld der Exkusre und Diskurse, das im Briefroman gewöhnlich um eine gesellschaftlich problematische Liebesgeschichte angebaut wird. Insbesondere zeigte sich die Bereitschaft für eine literarische Rezeption von religionsunabhängiger Gefühlsphilosophie am Erfolg von Rousseaus Schriften, insbesondere von Julie oder Die neue Héloïse (1761).7 Auch im zumal in moralischen Fragen weiterhin religionsaffinen Deutschland rückte die neue Gattung neben die durch den Pietismus zusätzlich kultivierte Aufmerksamkeit für Gemütsbewegungen sowie ergänzend zum autobiographischen Diskurs über innere Erfahrungen. Auf die bis heute einigermaßen bekannten Briefromane von Christian F. Gellerts, Leben der schwedischen Gräfin von G*** (1750), und Sophie von La Roche, Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771), folgte schließlich Goethes Werther (1774). Dessen im Unterschied zu den weitschweifigen Vorgängern geradezu kompakte, zweiteilige Form, eindringliche Charakterzeichnung und poetische Empfindungs- und Darstellungsdichte brachten den oben angeführten Blanckenburg wohl von seiner Ablehnung des Briefromans weg; und hin zu einem positiven Urteil über Werthers Leiden. Nicht nur entspricht die Konzentration auf das individuelle „Innere des Menschen“ seinem zeitgleich mit dem Werther erschienenen, theoretischen Versuch über den Roman. (Blanckenburg 1965, S. 356) Auch die für Blanckenburg zentrale Gestaltungsperspektive poetologischer Wahrscheinlichkeit erscheint ihm durchgehalten: „Daher dünkt uns hier die Wahl der Einkleidung in Briefen dem Manne, der sie schreibt und was er schreibt und schreiben soll, so wohl angemessen, als wir diesen Roman für einen der ersten halten, dem diese Einkleidung ganz zupasse.“ (von Blanckenburg 1775, S. 50)

Im nächsten Abschnitt lassen wir uns unter medientheoretischem Aspekt auf diese ‚angemessene Einkleidung‘ von Goethes ersten Roman ein, indem wir dessen Erfolg 6 7

Der eigentliche Vorläufer des Briefromans ist freilich der für historisch gehaltene Briefwechsel zwischen Petrus Abaelardus und der Abtissin Héloise aus dem 12. Jahrhundert. Siehe zur Bedeutung Rousseaus für den Sturm und Drang insgesamt Wuthenow 1989.

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in der Öffentlichkeit aus der stimmungsbildenden Erzählstruktur zu erklären versuchen. Über die Voraussetzungen unter sozial- und geistesgeschichtlichen Aspekten hinausgehend hat Koschorkes (1999) medienhistorische Rekonstruktion ein neues Verständnis der kulturanthropologischen Verschiebungen im 18. Jahrhundert ermöglicht. Danach entwickelt sich mit der Empfindsamkeit ein subjektiver und intersubjektiver Umgang mit Affekten, in dem die Präsenz des Körpers entbehrlich und dessen Regulation durch Säfte substituiert wird durch eine Kommunikationsweise, die Tinte statt Tränen und das Herzblut nun in (nicht nur) literarische Schriften fließen lässt. Was sich in der Aufklärungskultur im Allgemeinen und mit Blick auf die entstehende Literaturgesellschaft im Besonderen verändert, ist die „Zirkulationsweise sozialer Energien“ (Koschorke 1999, S.15). Die in literarischer Fiktion gestaltete Wirklichkeit kann in Konkurrenz mit einer ‚bloß realen‘ Wirklichkeit treten und befördert auch deren eigene Medialisierung, so dass im ausgehenden 18. Jahrhundert Vorstellungen von der Körperlichkeit und Unmittelbarkeit des Erlebens durch solche der Literalität und Medialität ersetzt sind und jene ästhetisch simulieren. (Vgl. ebd. 195) Schon die Figur Werther modellierte als intensiver Vielleser (vgl. ebd. 424), wie ein „Nachleben von Literatur“ (ebd. 163) das Leben steigern, aber auch körperlos enden lassen kann, gerade dadurch aber den existenziellen Antrieb in der Produktion und Rezeption von Literatur freilegte und verstärkte. In Koschorkes medienhistorische Perspektive fügt sich unsere Deutung von Goethes Briefroman als narrative Inszenierung der ursprünglich an Oralität gebundenen Direktheit einer Erzählform ein, die sich historische „Ressourcen der Authentizität zueignet“ (ebd. 309). Allerdings ist aus unserer Sicht nicht nur die Innerlichkeit als Effekt der Schriftkultur zu sehen, die Kommunikation auf Distanz erlaubt. Die Literatur erzeugt zugleich eine Kommunikation von Näheerfahrung, die der Innerlichkeit die Weltlichkeit zuführt, in deren Differenz sie sich gebildet hat. Der historische Vorgang des Auftauchens des Phänomens und der folgenden Entwicklung des Begriffs der Stimmung kann als Selbstentdeckung des Gefühls in schriftlicher Verständigungsform verstanden werden, was dann die poetologische Durchformung der Stimmung im Werther kulturgeschichtlich erklärt. Koschorkes „Mediologie des 18. Jahrhunderts“ trägt indes unter kulturanthroplogischen und medienhistorischen Aspekten im Zusammeng der historischen Stimmung dazu bei, besser zu verstehen, dass Goethe rückblickend auf den Werther festellen konnte: „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf.“8 Ein marxistischer Geschichtsdenker wie Lukacs sieht von Goethes Rückschau seine These einer Koinzidenz von individual- und gesellschaftsgeschichtlicher, ja sogar von onto- und phylogenetischer 8

Goethe führt an dieser Stelle in Dichtung und Wahrheit aus: „Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publikum nicht verlangen, daß es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle.“ (HA IX 589f.)

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Entwicklung bestätigt. Deren glücklichere Vergangenheit vergegenwärtige der alte Goethe mit „melancholische[r] Stimmung“, wenn er im Gedicht Trilogie der Leidenschaften sein Verhältnis zu Werther in den Versen reflektiert: „Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren, / Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.“ (Lukács 1947, S. 40) Lukacs’ sozialutopische Deutung mit ihrem heroischen Pathos von 1936 wirkt heute befremdlich, wenn er behauptet, der reife Goethe fühle, dass „die strahlende Schönheit des ‚Werther‘ eine nie wiederkehrende Periode der Menscheitsentwicklung bezeichnet, jene Morgenröte, auf die der Sonnenaufgang der Großen Französischen Revolution gefolgt ist“ (ebd.). Nicht zu unrecht hat sich die Forschung gegen prononciert bis reduktiv gesellschaftskritische Deutungen gewendet 9 , indem etwa Kaiser aufgrund der monoperspektivischen Erzählstruktur geltend macht, dass die „Misere der Gesellschaft [...] an sich selbst gar nicht zur Erscheinung [kommt], sondern nur im Blick durch die Brille von Werthers Absolutismus des Herzens.“ (Kaiser 1971, S. 197) Wenn es aber nicht die von Lukacs gefeierte vorrevolutionäre Stimmung ist, welche die ‚rechte Zeit‘ für das Erscheinen von Werthers Leiden ausmacht, was ist es dann? Zwar geht unser Fragen nach der Stimmung davon aus, dass das in ihr anmutende Ganze sich nicht als Summe ihrer Teile vollständig erklären lässt. Wenn nämlich schon für die individuelle Stimmung gilt, dass sich die Komplexität ihrer Struktur durch eine systematische Sichtung der sie konstituierenden Elemente und deren Beziehungen untereinander nicht phänomenadäquat verstehen lässt, dann gilt dies zumal für kollektiv geteilte Stimmungen ‚der Zeit‘. In beiden Fällen geht die Plastizität der Stimmung und damit das eigentlich zu Verstehende in dem Maße verloren, wie von ihm als Gefühlsphänomen zugunsten sozialphilosophischer Deutungen abstrahiert wird. Jedoch bedeutet diese analytische Ungreifbarkeit der Subjektivität von situativer Stimmung bzw. der Geschichtlichkeit von epochaler Stimmung nicht, dass Beschreibungen von deren Phänomenstruktur aus der Perspektive eines historisch vagen Kollektivsubjekts sich erübrigen. Basiert Goethes Hinweis auf die ‚rechte Zeit‘ doch auf einer Fülle von bezeugten Ansichten, offenbar gemeinsamen Erfahrungen oder Anzeichen für eine verbreitete Stimmungslage. Für die zeithistorische Perspektivierung von Stimmungen ist jedoch weniger eine anhand ihrer erstellte inhaltliche Epochendiagnose wichtig, wie für die philosophische Rede etwa von „jener spätantiken Zeitstimmung“ oder der „Weltstimmung der spätantiken und frühchristlichen Jahrhunderte“. (Gadamer 1991, S. 408, 410) Vielmehr ist es das Feststellen der sozialen Stimmungsfunktion im medialen Sinne einer Synchronisierung von Individuellem innerhalb neu entstehender Großgruppen, so dass zumindest formal etwas in den Blick gerät, das die Einzelnen verbindet. Allerdings auch an eine funktional akzentuierte Kollektivstimmung anschließende Zeitbeschreibungen sollten sich ihres deutenden Versuchscharakters jederzeit bewusst bleiben und den Kontakt zu ihrer eigentlich ästhetischen und reflexiv uneinholbaren Wahrnehmungsbasis nie ganz abbrechen lassen. Unter diesem gleichsam historischen-hermeneutischen Vorbehalt wenden wir uns mit dem unscharfen Stimmungsbegriff nur beiläufig dem zu, was Goethe ‚die rechte 9

Beispiele für diese Spanne dem revolutionären Pathos Lukács’ folgend sind Hirsch 1958, S. 229-250 sowie Assling 1981.

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Zeit‘ nennt. Indem sein ‚Büchlein‘ Werther ‚wie von selbst‘ den richtigen Ton anschlägt, bringt es offenbar in seiner Zeit zum Klingen, was es aus deren Bewußtseinslage an ‚geistigem Material‘ empfangen, ästhetisch vernommen und poetisch verarbeitet hat. Woraus könnte sich nach Goethes Diagnose eine historische Grundstimmung ergeben haben, die ein stimmiges Verhältnis zu der später so genannten Werther-Stimmung erkennen ließe? Allgemeiner gewendet: wofür waren die literarisch eingefassten Briefe, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts dank avancierter Buchdrucktechnik über freundschaftliche Lesekreise hinaus zirkulieren konnten, eine Kommunikationsform? Was machte sie zum Medium für die Selbstverständigung eines affektbestimmten Wir? Erschien Goethe die Rezeption des Werther historisch aufschlussreich dadurch, dass ihm eine kollektive Deutung der Erfahrungswirklichkeit eingeschrieben war? Indem wir so mit Goethe nach der ‚Zeitstimmung‘ der frühen 1770er Jahre fragen und vorläufig am Text auszuweisende Stimmungskonfigurationen noch etwas zurückstellen, müssen wir uns versuchweise auf Spekulationen über so etwas wie ein epochales Lebensgefühl einlassen. Jedes Lebensgefühl ist zunächst immer das je individuelle von Einzelnen, aber als solches bezogen auf das gesellschaftliche und kulturelle Ganze seiner Voraussetzungen. Als historische sind diese Einzelnen jenseits schriftlich oder sonstwie speichermedial niedergelegter Zeugnisse natürlich nicht mehr auskunftsfähig. Hinsichtlich eines unter Zeitgenossen geteilten und insofern kollektiven Lebensgefühls ist schon in gemeinsam erfahrener Gegenwart kaum eine exakte Verständigung zu erzielen. Denn allzu vage, ja tendenziell inkommensurabel müssten Aussagen zum je eigenen Lebensgefühl ausfallen; heterogen und letztlich ideosynkratisch würden die hierzu herangezogenen moralischen Empfindungen, ästhetischen Urteile oder sozialen Befindlichkeiten sein. Und doch verweist ihr Ganzheitsbezug auf eine überindividuell erfahrene Lage der Zeit, von der betroffen zu sein einen allgemeinen Horizont meint, in welchem sich der Erschließungscharakter von Stimmungen entfaltet: passiv gewissermaßen immer schon durch den existenziell ergreifenden Weltbezug eines jeden; aktiv hingegen werden Stimmungen zudem in Kunstwerken entfaltet, indem dieser Weltbezug ästhetisch objektiviert und mit ihm eine ganzheitliche Deutung der Zeitsituation Ausdruck erhält. Ohne konkreteren Bezug auf solche medial vermittelten Artikulationen könnte im nachhinein nur durch nichtexplizite Verarbeitung von Nachrichtenmaterial darüber spekuliert werden, wie es sich angefühlt haben mag, jenes Leben im damaligen Hierund-Heute. Implizit aber ist noch jede historische Imagination medial gespeist. Sei es über Literatur hinsichtlich fiktionalen Verliebtseins im Wahlheim des Jahres 1771, sei es über das historiographische Quellenkorpus hinsichtlich der faktualen Vergangenheit in Garbenheim (bei Wetzlar). Poetischen Verfahren unter dem Wahrscheinlichkeitsregime nicht unähnlich, muss indes auch der Stimmungshistoriograph ideell von der Individualität ausgehen, um von ihr überhaupt abstrahieren zu können. Dies aber auch zu müssen, wenn typologische Strukturen – einer bestimmten Zeit, gewisser Umstände oder eben junger Liebender – in den Blick geraten können sollen. Er muss teilweise sogar bereit sein, über lokale und regionale, nationale oder konfessionelle Besonderheiten ebenso großzügig hinwegzusehen wie schichtenspezifische und sozialpsychologische, lebensaltertypische oder bildungsstatusabhängige Voraussetzungen zu relativieren. Wer so die Leistungsfähigkeit historischer Rekonstruktionsarbeit nicht beansprucht, um sich nicht im mikrostrukturellen Unendlichen von Mate-

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rialanalysen oder in einem methodisch Unmöglichen zu verlieren, der muss sich verallgemeinernd auf die kulturelle Überlieferung verlassen. Namentlich als einen mehr oder weniger kontinuierlichen Fluss zeitdiagnostischer Selbstdeutungen, der an seinen Ufern die Beweisbarkeit von deren Aussagen zurücklässt. Denn Zeitdiagnosen verfahren nicht akribisch, indem sie die Überfülle möglicher empirischer Befunde explizieren. Vielmehr reflektieren sie eine historische Evidenz von Erfahrungen, deren exemplarischen Zusammenhang sie aus Affekt-, Gefühls- oder Stimmungslagen beziehen, die von Individuen als ganzheitliche erlebt und als solche artikuliert wurden. Solche eigentlich vorreflexiven Ganzheitsbezüge erhalten Einzug in die von jeder Generation zu leistenden Deutungen des Weltgeschehens, in welchem sie sich dadurch erst als je geschichtliche wiederfinden. Den darauf aufbauenden Geschichtswissenschaften gelingt es nicht immer, diese Vorverständigungen im zu untersuchenen Material selbst hinreichend explizit zu machen. Sie sehen sich darauf verwiesen, auf ihr Material als bereits in sich gedeutetes zurückzugreifen und untersuchen es durch ihrerseits tradierte, geschichtlich weiter zu entwickelnde Erkenntnisformen und Wissenbestände. So wurden etwa nach dem im 19. Jahrhundert entstandenen methodischen Selbstverständnis der Geistesgeschichte unter synchronem Aspekt begrifflich-systematische Zusammenhänge einer bestimmten Zeit erfasst. Diese wurden in diachroner Perspektive zu epochalen Einheiten gegliedert, indem die als generatives Ordnungsmuster zugrunde gelegte Ideengeschichte zu einem wirkungsgeschichtlichen Kontinuum dynamisiert wurde. Bis heute Maßstäbe setzende Beispiele für geistesgeschichtliche Epochenbeschreibungen des 18. Jahrhunderts, welche ideen- und intern: wirkungsgeschichtliche Gesamtrekonstruktionen geleistet haben, sind die Arbeiten von Ernst Cassirer (1932) und fünfzig Jahre später Kondylis (1981).10 Diese vor allem von der Philosophie ausgehenden und auf geschichtliche Strukturganzheit abzielenden Darstellungen scheuen gelegentlich auch nicht die Rede vom Geist, der Stimmung oder Atmosphäre der Epoche, einer ihrer Episoden oder Umbruchsituationen. (Kondylis 1986, S. 542, 562 et passim)11 Gleiches gilt für die großen geistesgeschichtlichen Arbeiten zu Goethe und seiner Zeit (u.a.von Unger, Gundolf, Korff, Lukacz, Staiger, Kaiser bis Zimmermann). Sie entwerfen mit ihren historischen Darstellungen auch ein atmosphärisches Grundbild der von uns anvisierten Jahrzehnte von ca. 1770 bis 1800. Mit methodologischem Problembewusstsein kann auch weiterhin von Zeitstimmungen und deren Wandel gesprochen werden, in denen Goethes Werther, Moritz’ Hartknopf und das Frühwerk Tiecks entstanden und wirkten. Aus den hier nur angedeuteten Vorbehalten gegenüber der Rede von Zeitstimmungen mit ihrem allenfalls heuristischen Wert erhellt sich der erkenntnistheoretische Grund für das Interesse an literarischen Texten als zugleich ästhetisch und histo10 Siehe für den gesamteuropäischen Zusammenhang außerdem die vieldiskutierte Studie von Koselleck 1973. 11 Dies gilt in verstärktem Maße für die literaturgeschichtlichen Überblicksdarstellungen, die im Anschluss an Dilthey in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geistesgeschichtlichen Ansätzen folgen wie Korff 1966; Gundolf 1967; Viëtor 1949, 1950 und 1958; Staiger 1952-1959.

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risch analysierbarem Material. Denn der Literatur gelingt idealerweise die Artikulation der Erfahrung einer kulturellen Komplexität, wodurch diese erst die Plastiziät einer historischen Gegenwart erhält. Diese wird damit bewusster erfahrbar und ist schon für die Zeitgenossenschaft als eine gemeinsame Erfahrungswelt besser zu deuten und zu verstehen. Zunächst aber wird die eigene Betroffenheit als eine solche spürbar, die Betroffenheit von der geschichtlichen Zeitlage ist und als solche virtuell mit anderen geteilt wird. Dies erklärt die ereignishafte Erfahrung der Leiden des jungen Werther als einem kommunikativen Medium der gefühlsbetonten Selbstverständigung für eine ganze Generation junger Leser und Leserinnen. Zur privilegierten Form aber, in der Literatur eine Artikulation von ebenso individueller wie gesellschaftsgeschichtlicher Erfahrung zunehmend gelingt, wird seit dem Erscheinen des Werther die ästhetische Stimmung. Textuell manifest vorliegend, lassen Stimmungen sich schließlich in ihrer welthaltigen Phänomenstruktur analysieren, ohne allein auf subjektive Innerlichkeit und deren symbolischen Ausdruck zu rekurrieren. So werden Stimmungen zum erfahrungsbasierten Anhaltspunkt für kulturelle Deutungen und können spekulativ diagnostizierte Stimmungen ‚einer Zeit‘ mit Material bereichern. Als ästhetische Objektivierungen der „menschlichen Welt“ zeigen Stimmungen dieselbe aber nicht als bloße Metapher, „sondern als das,“ – um mit Merleau-Ponty zu reden – „was sie in Wahrheit ist: das Milieu und gleichsam die Heimat all unseres Denkens.“ (1966, S. 44)

2. S TIMMUNG IST

DIE

N ACHRICHT

Zur Kommunikation und Medialität in der Erzählform des Briefromans

Nach dem oben zitierten, zeitgenössischen Romantheoretiker Blanckenburg stellen Werthers Briefe an einen Freund vor allem die passende Form für einen Roman dar, der dem Leser einen Mann vorstellt, „der nichts war und nichts seyn sollte, als Gefühl“. (von Blanckenburg 1775) Warum aber fühlte sich davon die zeitgenössische Leserschaft so sehr angesprochen oder provoziert, zu moralisch entschlossener Widerrede herausgefordert oder zu emphatischer Zustimmung veranlasst? Dass ein Mann sich der Verehrung einer für ihn unerreichbaren Frau widmet oder sich in deren Idealisierung verzehrt, hat durchaus eine reiche literarische Tradition in der Liebeskasuistik des Minne- und Meistersangs, der Trobadorlyrik sowie des Petrarkismus. (Vgl. Fechner 1982) Aber für einen Romanhelden war es doch ungewöhnlich, dass er keine anderen weltlichen Prüfungen, lehrreichen Krisen oder galanten Abenteuer zu bestehen hat als die schriftliche Mitteilung des Abenteuers seiner ins Maßlose gesteigerten Liebesstimmung und damit zugleich einen latent verbreiteten Unmut gegenüber bürgerlich-moralischer Lebensenge artikulieren konnte. Trotz Pietismus und europäischer Empfindsamkeit neu ‚an der Zeit‘12 war auch das skrupulöse Achtgeben auf die innere Gefühlserfahrung und die sentimentale Offenlegung intimer Empfindungen, sinnlicher Wünsche und existenzieller Befindlichkeit. Dabei geht es der literarischen Empfindsamkeit nicht um ein stürmisches SichAusdruck-verschaffen-wollen; eher um ein bekenntnishaftes Drängen auf Sprachfin12 Vgl. zum Werther in zeitdiagnostischen Kontexten etwa Hoffmeister 1984, S. 147-160.

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dung für die Not der Verständigung und den Willen zur Selbstverständigung.13 Die Rückhaltlosigkeit der Mitteilungsbereitschaft, gemischt mit Zweifeln an der Möglichkeit von authentischer Mitteilung, zeigt sich in der erzählerisch vereinseitigten Darstellung des melancholischen Helden.14 Aber auch in der Darstellung von Werthers Charakterstärke und -schwäche, seiner Handlungskraft und deren suizidaler Erstarrung („dies Herz ist jetzt tot [...] diese herrliche Natur so starr“, LjW 84f.), seiner naturhaft gestimmten Selbsttätigkeit bis hinein in die Imagination von deren Transzendierung ins Jenseits: „Man erzählt von einer edlen Art Pferde, die, wenn sie schrecklich erhitzt und aufgejagt sind, sich selbst aus Instinkt eine Ader aufbeißen, um sich zum Atem zu helfen. So ist mir’s oft, ich möchte mir eine Ader öffnen, die mir die ewige Freiheit schaffte.“ (LjW 71)

Hier wird die Erlösung von den sozialen Zwängen des Lebens, die Befreiung aus physiologisch und psychologisch gleichermaßen bedrückender Zeitlichkeit (‚ewig‘) hin zu einem imaginierten (Frei-)Tod mittels eines Gleichnisses nobilitiert, das über die animalische Instinktsteuerung die Eigendynamik von Leidenschaft ins Bild setzt. Deren pathologische Grundlage, insbesondere die „narzißtische Wut“, mit der gesellschaftliche Kränkungen als Verlust der Selbstkontrolle erfahren werden, hat Kaempfer an dieser Textpassage erläutert.15 Überdies weist das literarische Erzählen eines Erzähltwerdens („Man erzählt“) darauf hin, dass es bei Werthers Leiden nicht um kontingente Empfindungskomplexionen oder ideosynkratische Situationsdeutungen geht. Vielmehr hat die Wertherforschung wiederholt gezeigt, dass es um die Erfahrung der Gefühlsganzheit einer individualistischen Daseinsstimmung geht, die sich auch wegen der gesellschaftlichen Lebensbedingungen als eine getriebene erfährt.16 Nicht zuletzt dass der Protagonist aus dem Versagtbleiben der Realisierungsmöglichkeit seines Begehrens die Konsequenz des Freitods zu ziehen versteht, war in dieser zugespitzten Dramaturgie der Nichterfüllbarkeit eines Liebeswunsches ebenso anstößig wie empathiefordernd. Neben dem sentimentalischen Handlungsgeschehen und emotionalen Nuancenreichtum des Inhalts kommt hohe Bedeutung für die starke

13 Zur neueren Empfindsamkeitsforschung siehe Aurnhammer u.a. 2004. Im Vergleich von Werther zu anderen Werken siehe Hohendahl 1972. 14 In der Perspektive der Melancholieforschung siehe Tellenbach 1960. 15 Ausgehend von Heinz Kohuts Narzissmusforschung wird Werther als ein auch kulturdiagnostisch relevanter Typus von „Suicidgefährdeten” interpretiert bei Kaempfer 1994, S. 283, 289. 16 Siehe unter gesellschaftskritischem Aspekt die für eine Bestandsaufnahme der Wirkungsgeschichte grundlegende Arbeit von Scherpe 1975. Trotz der einseitig sozialgeschichtlich akzentuierten Perspektivierung gelingt es ihr im Anschluss an Lukács (1947), überzeugend, die mehr ideologiegeschichtlich als literaturgeschichtlich gegründeten Klassifikationsschemata zu verabschieden, die mit ihrem Antagonismus von Vernunft und Gefühl sowie von Rationalismus und Irrationalismus die Epochen Aufklärung und Sturm und Drang kontrastieren, problemgeschichtliche Differenziertheiten einebnen oder das geistige Profil einzelner Autoren der Goethezeit verzerren.

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Wirkung auf den Leser der sprachlichen Form zu. 17 In ihr verbinden sich Darstellungsmittel der empfindsamen Naturidyllik (Geßner), die für die Stimmungslandschaften im Werther wichtig sind, mit solchen einer Lyrik, die von neureligiöser Erfahrung und Gefühlsphilosophie inspiriert (Brockes, Haller, E. v. Kleist, Klopstock) ist. Hinzu kommt Goethes poetische Konzentration der nicht nur vom Pietismus her weiten Teilen Deutschlands geläufigen Sprache der Seele.18 Sie lässt pantheistische und melancholische Schwärmerei ineinander fließen und verbindet christologische Passionsmotive (vgl. Zabel 1972) mit solchen einer erotischen Leidenschaft. Da letztere dem Sittencodex des Bürgertums gemäß sublimiert genug erscheinen mochte, konnte Blanckenburg die Anschaulichkeit preisen, mit der der „Dichter“ den jungen Werther „sein Herz reden und sich ergießen läßt“. (von Blanckenburg 1775, S. 534) Ihre ästhetische Wirksamkeit erreicht diese Sprache der Seele oder des Herzens aber vor allem durch ihr Eingelassensein in eine kunstvoll fragmentarische Erzählform. Diese bündelt die persönlichen Redeweisen und scheinbar beiläufigen Bemerkungsformen des Briefes und Tagebuches in einer fortgesetzten Leseranrede, die mit der Empfehlung des fiktiven Herausgebers einsetzt, „das Büchlein deinen Freund sein“ (LjW 7) zu lassen.19 In dieser Stimmungen kommunizierenden Form wurde die Literatur im Sinne von Jahraus (2003) zum Medium einer Subjektivität, die in der Schrift und der mit ihr auferlegten Interpretationsmöglichkeit expandieren konnte. Schon die Tatsache aber, dass es im Werther keine strukturbildende, zumeist nur eine implizite Gegenrede Wilhelms gibt, seine Antwortbriefe nur als stimulative Referenzen in Werthers einsamen Herzensergießungen ankommen, weisen dem Empfänger seine Position im Imaginären des Senders zu. Das Verfassen der Nachricht im Medium der Schrift erfolgt nicht nur faktisch im Alleinsein, sondern setzt die Absenz des Empfängers voraus, der dadurch Raum für interpretative Selbstbezüge erhält. Noch der briefrhetorischen Simulation von dessen Präsenz durch Formen der Anrede, Mündlichkeit und Dialogizität bleibt das medientechnisch bedingte Alleinsein eingeschrieben. Indem dieses auch noch thematisiert wird – Werther weg von zuhause, in der Natur, seinem Zimmer usw. – kommt ihm die emotionale Qualität der Einsamkeit zu, die mit Werther und später bei Moritz eine Umstimmung ins nicht nur Negative erhält. Einsamkeit aber kennzeichnet dann nicht nur die Stimmung des (Brief-) Schreibers, sondern auch des (Brief-) Lesers und zeigt sich als Kehrseite des Phänomens der Kommunikation. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 411-14) Insofern nämlich die Einsamkeit des Lesers von demjenigen über- oder eingenommen wird, das durch 17 Noch heute scheint es attraktiv zu sein, in die Position des empathischen Lesers einzurücken, wie eine Homepage zum Werther zeigt. Dort kann man sich sonntags, an jedem Arbeitstag oder aber zu den Originalterminen Briefe von Werther mit persönlicher Anrede per email oder SMS zusenden lassen. Siehe http://www.die-leiden-des-jungen-werther.de /index2.html. Letzter Zugang am 25.01.2012. 18 Vgl. Langen 1954, insbes. das Kapitel Die Nachwirkung der pietistischen Sprache im 18. Jahrhundert, S. 432-476. ‚Stimmung‘ ist nicht in diesem Wortschatz aufgeführt. 19 Siehe zum literarhistorischen Kontext der Sprache in Verbindung mit der Tradition des Briefromans und im Hinblick auf „das überlegte Zielen auf einen ganz bestimmten Leser“, dem „die Szenerie des Romans“ samt ihrer „spezifischen Stimmungswerte vertraut“ war, Lange 1994, S. 195.

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seine poetische Vergegenwärtigung in der Schrift zur Kommunion in der Stimmung einlädt. So wird der Romanleser, der sich der Briefform entsprechend als Adressat imaginieren soll, zur Identifikation mit dem Briefschreiber samt dessen Selbst-, Wert- und Gefühlsbeziehungen eingeladen. Kognitiv-phänomenologische Erzähltheorien würden von einer Immersion in Werthers fiktionale Welt des Erlebens sprechen. Seine quasi-monologe Rede lässt die Position von einem dialogen Gegenüber zu einem fiktionsinduzierten Selbstbezug des Lesers schrumpfen, ohne dass dieser sich aufmerksamkeitsmoralisch schuldig fühlen müsste. Denn die offen asymmetrische Form, die in realer Kommunikation verdächtig, die sozial anstößig und selbst unter Freunden auf Dauer dysfunktional wäre, wird im Sinne literarischer „Rezeptionsbedingungen“ (Iser 41994, S. 60) zu dem ansprechenden Angebot für den Leser, sich an die Stelle Werthers zu projizieren. Gewissermaßen über-redet zur Teilnahme am Sichergießen eines anderen Herzens und beinahe schon überzeugt von dessen Recht auf ungehemmten Redeschwall, kann ein „anthropologische[r] ModellLeser“20 – sein eigenes Herz übertragend – sich qua Imagination begeistern, betrauern oder erleichtern – und sich doch nichts als empathisch und insgeheim ungewöhnlich erregt fühlen.21 Dieses herkömmliche Projektionsmoment im Rezeptionsvorgang versetzt den Leser von Werthers quasi-monologischen Briefen in eine intime Gesprächssituation, die zugleich auf Einfühlung in die Stimmung des anderen eingegrenzt ist. 22 Auch die schriftliche Simulation eines Gesprächs vermag eine Intimität desselben fühlbar zu machen, indem sie der Stimmung selbst Dialogcharakter zuschreibt. Im intim gestimmten Gespräch – was dann auch in Moritz Hartknopf wichtig wird – ist erlaubt, was nur allein oder zwischen besten Freunden möglich ist: das Einziehen der Distanz zwischen Sprechendem und Zuhörendem, so dass das Gesagte im Augenblick des 20 Der Leser – ohne Bezug auf den Werther – in seiner anthropologischen Grundausstattung, seinen psychologischen Mechanismen und ‚Emotionsprogrammen‘ ist der zentrale Gegenstand theoretischer Reflexion bei Mellmanns emotionspsychologisch revidierter Rezeptionsästhetik. (2007, hier S. 21) Sie fokussiert emotionale Phänomene ausgehend vom Leser bzw. der ästhetischen Wirkung von Texten, ihrem emotionalen und kognitiven Reizpotenzial für einen Rezipienten, der auf Texte als „sprachlich präsentierte Attrappe[n]“ (S. 42) reagiert. Im Gegensatz dazu gehen wir vom Text und den diesem eingeschriebenen Formen der Generierunung, Darbietung und Vermittlung von Emotionalem wie der Stimmung aus. Nicht dem Leserbewusstsein als der Ort rezeptionsästhetischer Textkonstitution kommt das Primat unseres stimmungstheoretischen Interesses zu, sondern dem Text als ästhetisches Phänomengewebe, seinem Gemachtsein und erst von diesem her auch seinem Wirkungspotenzial. 21 Vgl. hierzu unter dem rezeptionsästhetischen Aspekt, der seinen Ausgangspunkt in der Widmung des Romans nimmt und in diesem selbst eine intertextuelle Anleitung zu seiner Rezeption herausstellt, Jäger: „Goethe hat im ‚Werther‘ die Leseridee expliziert und thematisiert. Die Widmung erlaubt dem Leser, die eigenen Probleme in das Werk zu projizieren und es als Lebenshilfe zu erleben. Der junge Anton Reiser fand in Werther seinen Schicksalsgenossen.“ (1974, S. 407) 22 Welche konzeptionelle Bedeutung der Einfühlung im 18. Jahrhundert darüber hinaus auf politischer Ebene zukommt wird dargestellt von Vogl 2002, S. 83-107.

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Aussprechens bereits seinen Sinn erhält. Nicht das informationelle Was-Sagen, sondern zunächst ein formvergessenes Dass-Sagen zählt für Freunde. Kraft der empfindsam gestimmten Pragmatik des Herzausschüttens wird die Bedeutung von Werthers Worten in erster Linie aus der Performanz ihres Ausgesprochenwerdens generiert; erst in zweiter Linie durch ihre Semantik. Seit ein Gespräch sie sind – um Hölderlins Wendung aufzunehmen – können gute Freunde es sich leisten, ihr Gespräch nicht zu führen, sondern es fließen oder sich von ihm führen zu lassen. Und zwar auch über die räumliche Distanz hinweg, insofern die persönliche Nähe durch die Übertragung gegenwärtiger Mündlichkeit der Rede in die räumliche Ordnung der Schrift gleichsam erzählperspektivisch verbrieft wird. Dies gehört in der Luhmannschen Perspektive von Koschorke (1999) zu dem historischen Vorgang im 18. Jahrhundert, in dem Interaktion von Kommunikation überholt und zunehmend ersetzt wird. Werthers Herzensergießungen unterlaufen die Logik der Mitteilung von etwas, z.B. Gefühlen, Gedanken, Meinungen oder Wissen, zugunsten einer Logik der Teilhabe an oder des Mit-seins bei etwas, z.B. Stimmungen, Erlebnissen, Umständen oder Bewusstseinszuständen. Dabei wird der Möglichkeit nach – denn de facto meldet der Freund Bedenken an – vorausgesetzt, was normalerweise als Ergebnis kommunikativen Handelns erzielt wird: nämlich Konsens. Da Konsens hier nicht vernunftgesteuert, sondern gefühlsbestimmt ist, sollte er deshalb besser als Konkord – also ‚Zusammen-Stimmung‘ – bezeichnet werden. Solche vorausgesetzte, weil oft genug bereits erlebte Zusammenstimmung der Herzen (vgl. „der du so oft die Last getragen hast“, LjW 10) kann einer Übereinstimmung im Urteil der Freunde vorausgehen, muss dies aber nicht. Wer wie Werther sich seinem Freund anvertraut und sein Herz sich ergießen lässt, will als Person, durch die etwas hindurchklingt (lat. per-sonare), was nicht deckungsgleich mit ihm selbst ist, verstanden werden. Er rechnet nicht unbedingt damit, dass der andere versteht, was er meint oder denkt, wenn er zu ihm gewissermaßen exzentrisch spricht oder ihm ‚diese Zeilen‘ schreibt. Denn das Gelingen konkordialer Kommunikation steht und fällt nicht mit einem sprachlichen Transfer von bereits semantisch verfertigtem Sinn, sondern mit dessen Erzeugung und Bezeugung im Augenblick der Rede. Durch die dessen Briefe lesende, durch sie eingestimmte Teilnahme23 am berauschten Zustand Werthers, in welchem dieser die Liebe als Taumel von Sinn erfährt, bezeugt Wilhelm die vorsprachliche Genese von Sinn auf der Schwelle zu dessen Sprachwerdung. Die interindividuelle Kommunikation von Sinn als Information des Herzens scheitert in der Gegenwart mündlicher Rede mit Lotte am Ende, nachdem ihr exemplarisches Gelingen auf dem Ball ihre Beziehung begründet hat („Klopstock!“). Mit Albert scheitert sie exemplarisch im Gespräch über den Selbstmord, in dem einer die Vernunft, der andere die Natur zum Begründungsprinzip macht: „Wie denn auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.“ (LjW 102) Die kordiale Kommunikation scheint prinzipiell mit dem Gesandten zu misslingen und vielleicht auch mit dem Grafen: „Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist“. (LjW 74) Das Herz bleibt das buchstäblich Individuelle, also das Unteilbare, Unmitteilbare selbst. Dessen Darstellung erfolgt über eine narrative Inszenierung von Selbstge23 Vgl. zur rhetorisch provozierten Anteilnahme Voßkamp 1971.

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sprächssituationen, deren Stimmung für sich genommen eher sentimental als tragisch wirkt. Insbesondere die Interjektion (Ach) wird darin als das sprachliche Symptom des Schmerzes über die Unmitteilbarkeit des Individuellen lesbar. Diese Schmerzempfindung figuriert für Werther jenes ganzheitliche Andere des partikularen Wissens, das allenfalls vorthematisch und nur in sprachloser Diffusität von Stimmungen spürbar ist: „Ach, was ich weiß, kann jeder wissen – mein Herz habe ich allein.“ (LjW 74) Im Medium der Schrift aber soll die Mitteilung der Unmöglichkeit von gelingender Herzenskommunion gelingen. Durch die im Brief adressierte Absenz des Gesprächspartners stellt sich die Präsenz von Sinn aus der Leere eines Anderen ein, die in ihrer Nichtintentionalität des Gefühltwerdens als Stimmung erfahren wird. Die narrative Form von Werthers Leiden nutzt das Medium des Briefes also für eine eloquente Artikulation des Ineffablen, welche das Individuum zur empfindsamen Freundschaftskonfiguration verdoppelt. In dieser wird letztlich das Scheitern der Vereinigung der Liebenden sprachlich zu kompensieren versucht, indem das Misslingen mündlicher Mitteilungen des eigenen Herzens durch eine Verschriftlichung von Stimmungen kommuniziert wird. Die aus dem Herzen schreibende Teilgabe und lesende Teilnahme der Freunde basiert in kommunikationstheoretischer Hinsicht – und darin folgen wir der Modellbildung Schulz von Thuns – auf einer offenbar eingespielten und für stabil gehaltenen Beziehungsebene. Nur deshalb kann der verliebte Werther großzügig die Ebene der Selbstoffenbarung beanspruchen. Auf ihr treten alle sachbezogenen Nachrichten – etwa das Reichskammergericht, Lottes oder sein äußeres Leben betreffend – hinter Mitteilungen zur intimen Befindlichkeit zurück. Als darin die Liebesnot sich zur Existenzkrise zu verschärfen beginnt, werden zudem Signale auf der Appellebene gesendet und ihrer Dringlichkeit angemessen verarbeitet, etwa wenn Wilhelm seinen Freund zur Entfernung von der Angebeteten auffordert. Offenbar kann Werther sich auf die Signalempfänglichkeit seines Freundes auf allen Kommunikationsebenen samt der erforderlichen Sensibilität, Ambiguitätstoleranz und Empathie durchaus verlassen.24 Und dies trotz der räumlichen Distanz, welche die nonverbalen Mitteilungsmöglichkeiten ausschließt, die für die Befindlichkeitskommunikation besonders wichtig sind. Die im 18. Jahrhundert und zumal im Zeichen geselliger Empfindsamkeit sich ausprägende Freundschafts- als Briefkultur ist darauf angewiesen, jene paralinguistische Zeichenbildung, welche die mündliche Rede in körperlicher Gegenwart ergänzt, im Medium der schriftlichen Sprache abzubilden. Lautstärke und Tonfall, Verlangsamung und Unterbrechung, Beschleunigung und Überschlagen des Redeflusses wollen ebenso in Schriftform übertragen werden, wie möglichst auch Mimik und Gestik, Lachen und Lächeln, die kurrente Tränenproduktion und noch der kleinste Seufzer. Bereits der nicht-literarische Briefschreiber – und das waren ja die meisten Leser des 24 Zur „Empathie als Mittel der Kommunikation“ (S. 16) mit Bezügen zur Narrationstheorie (Fontane: Effi Briest; E.T.A. Hoffmann: Fräulein von Scuderi), Evolutionstheorie sowie kognitiven Ansätzen (Spiegelneuronen: neurologisch bedingte ‚Als-ob-Erfahrung‘; Theory of Mind; Narrative Mind) siehe Breithaupt 2009. Bezogen auf den Leser des Werther wäre nach Breithaupts Ansatz von einer „Unterstellung einer minimalen Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit durch den Beobachter“ (S. 18) auszugehen, um die „Projektion“ (S. 22) des Lesers an die Subjektstelle des Helden gleichsam empathologisch zu erklären.

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Werther – ist mit wiederkehrenden Ausdrucksnöten und einem oft täglichen Ringen um schriftsprachliche Formalisierung seiner oder der Befindlichkeit einer Freundin vertraut. Auch – und zum Teil gerade – wenn sich diesbezüglich Konventionen des Ausdrucks rasch herausbilden, können sie eben dadurch den Ansprüchen auf Individualität oder gar Einzigartigkeit schon nicht mehr recht genügen. Letzteres kann am Übergang vom literarischen Rokoko, insbesondere der anakreontischen Dichtung zum Sturm und Drang beobachtet werden, gilt aber auch allgemeiner für die Sprache des Herzens in ihrem pietistischen bis gefühlsphilosophischen Herkunfsbereich. Schließlich reicht es schon dem Briefschreiber nicht länger mitzuteilen, dass er bestimmte – aber nicht näher bestimmbare – Empfindungen, Gefühle und Stimmungen habe oder hatte. Ihr Wie und möglichst Wie-genau im Erleben ist bereits für die empfindsame Selbstbeobachtung und -analyse entscheidend, umso mehr aber für deren lebendige Verschriftlichung mit dem Ziel ihrer Verständlichkeit für den Briefempfänger. Anders als manche kommunikative Handlungstheorien unserer Gegenwartsmoderne, welche von der vernunftgeleiteten Vorstellung einer prinzipiellen, sachbezogenen Konsensfähigkeit bestimmt sind, ist die nicht minder kommunikationsfreudige Briefkultur der Empfindsamkeit eher von der aufklärerischen Sorge um eine befindlichkeitsbezogene Mitteilungsunfähigkeit getragen. Wer wie Werther seine Stimmung kommunizieren will oder zu wollen wagt, rechnet nicht nur mit einer gewissen Störanfälligkeit einer normalerweise reibungslos funktionierenden Kommunikation. Er geht vielmehr von deren unmöglich scheinendem Gelingen als einem ursprünglichen Dissens aus, um mit allen nur auffindbaren Mitteln und noch zu erfindenden Medien gegen die Unwahrscheinlichkeit eines Konkords anzugehen. So gesehen ließen sich die Briefe Werthers an seinen Freund vom zeitgenössischen Lesepublikum nicht nur als fiktionale Nachrichten von einer unerhörten Leidenschaft der Liebe zur Braut eines anderen aufnehmen. Sie waren als empfindsamer Ausdruck solcher – gewöhnlich auch noch an ihrer Sprachlosigkeit leidenden (vgl. Nutz 1982, S. 217-229) – Befindlichkeit zudem als Leidenschaft zur Sprach(er-)findung vernehmbar. Namentlich für etwas wie Stimmungen, das sich in nicht-ästhetischer Rede zumeist seiner Versprachlichung entzieht. Im Unterschied zu historischen Briefen aus der Epochenströmung der Empfindsamkeit sind Werthers Briefe mit einer literarischen Feder geschrieben, durch welche nicht nur die „Stimmung jener Jahre“, sondern auch die poetische Kraft fließt, „Naturszene, besinnliche Handlung und Empfindung durch die Vermittlung einer fühlenden Figur zu verschmelzen.“ (Lange 1994, S. 193, 199) Überdies verfügt die erzählstrategische Fokussierung dieser Figur die Auslassung von Antwortbriefen, deren poetische Funktion wir bereits anvisiert haben: die Position des Briefempfängers wird als eine Variable markiert, die dadurch zur Besetzung durch den Romanleser freigegeben wird. Dadurch rückt dieser aber an die Stelle eines engen Freundes, der fast überwiegend auf der Kommunikationsebene der Selbstoffenbarung von intimster Befindlichkeit adressiert wird. Dass dies dem Vertrauensverhältnis der Freunde angemessen ist, wird durch die poetische Implikationstechnik des weitest gehenden Weglassens von deren Vorgeschichte suggeriert. Auch bewirkt die narrative Minimierung der Hinweise auf Wilhelms Reaktions- und Sichtweise, dass der an dessen Stelle gezogene Leser die emotionale Nachrichtenflut des Freundes fast ausschließlich empathisch und nur gelegentlich kritisch zu verarbeiten geneigt ist. Die ohnehin wenigen, d.h. künstlerisch oder eben künstlich verknappten Signale, die unter den Aspekten der

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persönlichen Beziehung, des sachlichen Inhalts oder des Appells an Intervention zu interpretieren wären, sind dem Aspekt der Selbstoffenbarung im einzelnen bei- und insgesamt nachgeordnet. Durch darstellungstechnische Vereinseitigung ihres Sendeformats werden die Nachrichten des Verliebten ganz auf dessen Bereitschaft, Bedürfnis und Fähigkeit zur Mitteilung zugeschnitten. Mitgeteilt aber wird beinahe ausschließlich – und der Ungreifbarkeit der Sache nach immer nur annähernd – die persönliche, leidenschaftliche, existenzielle Befindlichkeit des jungen Werther: seine Stimmungen im schwebenden Übergang „vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft“. (LjW 10) In den monothematischen Nachrichten, die mitunter im Stile eines Tagebuchs verfasst sind, scheint ihr Sender aufzugehen wie der Liebende im Erleben seiner Liebe, aber auch wie zuvor bereits das sich suchende Ich in der Stimmung einer „paradiesisch[en]“ „Gegend“. (LjW 9) Indem der freundschaftliche Leser/ Wilhelm sein eigenes Denken und Fühlen zugunsten vollständiger Empathie zurückstellt, ist er nicht nur ‚ganz Ohr‘, sondern auch zum Mitfühlen, Mitleiden und zu tendenziell gänzlichem Miterleben disponiert.25 Der aus der psychoanalytischen Therapieerfahrung bekannten Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung nicht unähnlich wird der Romanleser über die poetische Funktionsstelle der Zuhörerfigur 26 (Wilhelm) in die psychologischen Mechanismen des dadurch eigentlich schon nicht mehr einsamen Sprechers verwickelt. Unversehens wird er im Unglücksfall des jungen Werther nicht allein zum Zeugen von dessen psychodynamischer Befindlichkeit. Vielmehr droht die – idealerweise – gleichschwebende Aufmerksamkeit des Analytikers/Lesers von der zwischen Extremen schwebenden Stimmung des Klienten/ Briefsenders absorbiert zu werden. Das Ich des Lesers droht sich in Werthers konzentrischer Bewegung um sein Ich mit aufzulösen.27 Gerade das aber macht den ästhetischen Genuss der Lektüre des Werther mit aus: die vom Text erzählerisch beinahe erzwungene Immersion in seine Stimmung als dem Strukturganzen seiner darstellungsästhetischen Elemente. Überflüssig anzufügen, dass es mit der beiläufig gezogenen Parallele zur Psychoanalyse hier nicht um 25 Die darin für den zeitgenössischen Leser liegenden Gefahren rückhaltloser Idenfikation waren Grundlage der Kritik seitens literaturdidaktisch orientierter Sittenwächter. Hierzu Scherpe 1975, S. 26ff. 26 Dieser verwandt ist die Rückenfigur in der Malerei Caspar D. Friedrichs, welche den Betrachter in die Position einer das Selbst entgrenzenden Erfahrung einer erhabenen Landschaftsstimmung versetzt. Vgl. hierzu mit Bezug zu Clemens Brentanos Bildbesprechung Jacobs 2006, S. 5-27, hier 7. 27 Ähnlich spricht Breithaupt (2009, S. 63f.) im Zusammenhang der „Wiederentdeckung der Kategorie des Mitleids“ in der Nachfolge Lessings vom „Mitleid als kognitive Dimension des Mitverstehens. Was bei Lessing zum Horizont der Überlegungen wird, nämlich das Ich als Blockade von Identifikation und Empathie, wird mit Goethe zum zentralen Geschäft der Literatur. Damit Fiktion weiter als Fiktion erfolgreich sein kann, muss sie Charaktere anbieten, mit denen die Leser und Zuschauer spontan mitfühlen können und die also für einen kurzen Moment (noch) kein Ich besitzen.“ Hinzufügen ist im Sinne der Stimmung, dass es mit ihrer Poetik um Momente geht, in denen ein Ich nicht mehr besessen werden muss, um ästhetisch genießen zu können.

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eine pathologische Perspektivierung geht, wie sie die Diskussion der Leiden des jungen Werther von deren Erscheinen bis in die jüngere Literaturforschung mitprägt. 28 Es geht hier um das vom erzählerischen Darstellungsarrangement angestoßene Hineingezogenwerden der Subjektivität des Brief(roman)lesers in die Subjektivität des jungen Werthers und deren Auflösung in einer sich verselbständigenden Stimmungsbewegung. Unter dem Regime von Stimmungen nimmt nicht nur Werthers Lebenslauf sein vorgezogenes Ende. Bereits im Vorlauf dazu lösen sich die Subjekt- und Objektstrukturen der Leiden Werthers in der sich nach und nach totalisierenden Bewegung einer Stimmung auf, welche seine Existenz als ganze ergreift. In der finalen Stimmung wird zunehmend unentscheidbar, ob der junge Liebende ursprünglich an der Welt oder eigentlich an sich selbst leidet, ob er an den Zumutungen des Realen oder den Verheißungen des Imaginären zugrunde geht. Wie die Suspendierung wirklichkeitskonstitutiver Dualstrukturen und damit der auch den Leser erfassende Stimmungssog im Werther erzähltechnisch hergestellt wird, soll abschließend noch einmal mit den Termini der Kommunikationstheorie verdeutlicht werden. Entsprechend dem zwischenmenschlich applizierten Modell Sender-Nachricht-Empfänger und nur etwas zugespitzt formuliert: die im Briefroman aufgebauten Positionen des Senders und Empfängers kollabieren, während die sie verbindende Nachricht sich verselbständigt. Nämlich in dem Maße, wie der Sender (Werther) seine Nachricht nahezu exklusiv auf der Selbstoffenbarungsebene anbietet und der Empfänger (Wilhelm) seinerseits nur auf dieser – erzählerisch entsprechend definierten – Ebene beinahe bis zur Selbstlosigkeit empathisch operiert. Nicht nur sieht der ideale Zuhörer von allen ihn selbst betreffenden Aspekten ab, um sich ganz der Diagnose der Befindlichkeit des Freundes zu widmen. Die narrative Ausblendung der Subjektivität des scheinbar nur braven Wilhelm lässt eine funktionale Leerstelle entstehen, so dass mit deren Besetzung durch den Romanleser die empathische Haltung des Empfängers unverbindlich wird und zur Aufgabe von dessen Stellung führt. Deren Subjekt läuft gleichsam im Erzählfluss über zur Stellung – und in die Stimmung – des Senders, der nun seinerseits kein Gegenüber mehr hat und schließlich ganz in der emphatischen Botschaft von seiner Selbstoffenbarung aufgeht.

28 Dies beginnt mit Goethes rückblickender Bemerkung, die mit ‚pathologisch‘ freilich weniger einen psychodiagnostisch zu klassifizierenden Krankheitszustand meint als die pathische Sensibilität in der jugendlichen Entwicklungsphase des Menschen allgemein, freilich am ‚individuellen Beispiel‘ seiner Person: „Das ist auch so ein Geschöpf, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe ... Es sind lauter Brandraketen! Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging [...] Ich hatte gelebt, geliebt und sehr viel gelitten! ... es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder einmal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der ‚Werther‘ käme, als wäre er bloß für ihn geschrieben.“ (LjW 540) Gespräch mit Eckermann vom 2. Januar 1824. Siehe zum psychologischen Strang der Forschung mit einer Zusammenschau an Positionen samt weiterführender Bibliographie Schmiedt 1989. Kritisch zu Goethes Rückblick auf den Werther und schon zu dessen stärker akzentuierten Pathologie in der zweiten Fassung von 1787 siehe Scherpe 1975, S. 105107.

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Was somit bleibt, ist diese Nachricht selbst. Und ihr Medium, das sie mit sich vermittelt. Dieses Übertragungsmedium verbindet keinen Sender und Empfänger mehr, deren Positionen in ihm aufgehoben sind. Die diese zuvor in eine interpersonale Beziehung setzende Nachricht hat sie depositioniert, depersonalisiert und dadurch ihre eigene Zwischenstellung zur Position eines impersonalen Dritten ausgebaut. Auf Selbstoffenbarung vereinseitigt hat diese Nachricht zum Inhalt ausschließlich – oder besser: (all-)einschließlich: Befindlichkeit. Diese ist nun nicht mehr exklusiv die Befindlichkeit Werthers, sondern schließt potenziell diejenige des imaginativ dislozierten Lesers der Briefe bzw. des Briefromans mit ein. Werther ist sich von Beginn an darüber im Klaren, wie belastend es für Wilhelm sein muss, als Mitfühlender in die Angelegenheiten seines ‚unsteten Herzen‘ (LjW 10) involviert zu sein. Die WertherNachricht von integraler (Mit-)Befindlichkeit, welche von einer zweifachen Bewegung von Subjektivität getragen ist, hat eine dadurch inter- und zugleich transsubjektive Stimmung zu ihrem Medium. Stimmung als Medium einer solchen gleichsam sender- und empfängerlosen Nachricht verselbständigt sich zu einem nur noch sich selbst mitteilenden Medium. Stimmung is the medium is the message. Es ist diese paradoxal geschickte, poetologisch gesteuerte Vereinfachung der komplexen Struktur von Kommunikation zwischen dem Briefsender und Briefempfänger und folglich – wie wir gesehen haben – in der ästhetischen Wirkung zwischen Werther und dem Leser, die den Erfolg beim zeitgenössischen Publikum mit ermöglichte. Als ästhetische Vermittlung ihrer ‚eigenen‘ emotionalen Information informiert die Stimmung den Leser über einen Inhalt, der gewissermaßen zugleich seine Erzählform ist. Damit ist im Werther die Stimmung poetologisch als eine Performanzfigur realisiert, wie sie ansatzweise erst zwanzig Jahre später bei Fichte als ‚bewegliche‘ Vermittlungsgestalt zwischen den Subjektivitäten des Künstlers und des Rezipienten29 dann auch ästhetiktheoretisch in den Blick geraten wird: „So drückt der begeisterte Künstler die Stimmung seines Gemütes aus in einem beweglichen Körper, und die Bewegung, der Gang, der Fortfluss seiner Gestalten ist der Ausdruck der inneren Schwingungen seiner Seele. Diese Bewegung soll in uns die gleiche Stimmung hervorbringen, welche in ihm war.“30

Ohne sich auf Spekulationen über Goethes Stimmung und Intentionen einlassen zu müssen, lässt sich am Werther die mediale Funktion aus der narrativen Inhalt-FormInversion ableiten. Die mit dieser verbundene Reduktion von Kommunikationskomplexität erlaubt freilich auch Lesarten, welche die vom Text präsentierte Stimmung ästhetisch genießen, ohne identifikatorisch in sie einzutauchen. Das Besondere der Erzählform samt der in dieser so vertraut klingenden Rede der Befindlichkeit sowie ihrer Wirkungsweise ist jedoch, dass sie dem Werther wie keinem anderen Werk der Epoche die Anleitung zu seiner mitschwingenden Rezeption mit eingeschrieben hat. 29 Siehe zur subjektivitätskonstitituven Funktion der Lektürepraxis im historischen „Übergang vom rhetorischen Modus der Reflexivität zum ästhetischen der Reflexion“ Haverkamp 1982, S. 252. 30 Fichte 1846, S. 287. Vgl. zu dieser Passage im begriffsgeschichtlichen Zusammenhang des ästhetischen Stimmungsbegriffes Wellbery 2003, S. 714.

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Goethes „Erzählen subjektiver Erfahrung“ vollzieht damit auch romangeschichtlich einen entscheidenden Schritt, den Lämmert so namhaft macht: „die Geschichte eines sich selber innewerdenden Menschen der eigenen Lebensgeschichte anzunähern und damit von sich zu reden, während er seine Figuren reden und handeln läßt.“ (Lämmert 1985, S. 16) Dass eine solchermaßen existenzielle Stimmungen anrührende, aufbauende und in diesem Sinne ‚erbauliche Rezeption dem Leser aber durch eine textuell organisierte Kommunikationsstruktur geradezu ‚ans Herz gelegt‘ wurde – das sorgte wohl für die erstaunliche Verbreitung der so genannten Werther-Stimmung. Nicht nur zu einer empathischen Reaktion wird der Leser durch die stimmungsprägnante Briefform des Werther geführt, sondern verführt zu einer identifikatorischen Alter-ego-Beziehung. Diese lässt auch den nicht-naiven Leser in einer Totalperspektive des Helden fühlen, denken und handeln. Denn die Totalität der Stimmung übertönt deren Individualität und bietet noch das Ideosynkratische der Wertherschen Befindlichkeit einer perspektivischen Übernahme durch lesende Stellvertreter an. Die so ermöglichte epidemische Kontagiosität war offenbar stark genug, dass sozialpsychologisch von einem Werther-Fieber die Rede sein konnte.31 Dies führte bekanntlich zu einem Werther-Kult samt Herstellung von kryptoreligiösem Produktdesign mit Werther-Szenen auf Teetassen- und -dosen, Kaffeekannen und -tassen, Bonbonpapier und Keksschachteln. Auch die religiös-erotische Fetischisierung von Kleidung zur Werther-Mode war schon angelegt im testamentarischen Brief an Lotte, in welchem der „unglückliche Freund“ darum bittet, „in diesen Kleidern“ mit der „blassrote[n] Schleife“ der Geliebten in einer der Taschen begraben zu werden. (LjW 123)32 Was da manchem Leser zu Kopfe gestiegen war und sogar zu einem suizidalen Werther-Nachahmungseffekt beitrug, war nicht nur dem relativ neuen, erstmals breitere Schichten erreichenden Roman als bürgerlichem Medium der Selbstverständigung geschuldet. Es hatte also nicht nur mit der Naivität distanzlosen Leseverhaltens zu tun, sondern eben auch mit dieser narrativen Komplexitätsreduktion von inter- und intrasubjektiver Medialität auf einen sich selbst verstärkenden Stimmungsexzess. 33 Dieser (de)figurierte die Kommunikationsdimension von Intimität bis zur Auflösung von deren Individualität. Deshalb konnte in der literatursoziologischen Forschung von einer „kollektiven Synchronisation individueller Verhaltensweisen“ (Lehmann 1965, S. 941) gesprochen werden, wobei deren affektive Grundlage und Stimmungsgebundenheit hinzugedacht werden müsste. Der seinen Autor schlagartig berühmt machende Briefroman erreicht dies schon formal durch die erzählperspektivische Konzentration auf einen Briefschreiber, des31 Siehe zum Wertherfieber als dem erbaulichen unter den drei „Konkretisationstypen“ der 1770er Jahre die differenzierte Analyse von Jäger 1974, S. 394ff. 32 Siehe zu Werthers fetischistischen Gesten und deren psychoanalytischen Dimension Barthes 1988, S. 178f. 33 Eine neuere Arbeit (Andree 2006) zur breit erforschten Wertherwirkung stellt diese in den weiteren Kontext einer Reflexion von Medialität unter den Aspekten Gewalt, Wirkung, Sozialisation und Manipulation durch Medien und analysiert die ‚Programmierung‘ und Lenkung des Lesers durch den Text bis hin zu einer medientheoretischen Deutung der Werther-Selbstmorde.

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sen Gefühlen in ihrer subjektiven Darstellung alles sonst noch Vorkommende, Geschehende oder zu Berichtende nachgeordnet wird. In kommunikationstheoretischem Sinne lässt sich von einer Aufstauung des Nachrichtenflusses zu einer ästhetischen Überfülle sprechen. Zu dieser kommt es infolge der Auskoppelung des Empfängers und der Selbstaufgabe des Senders. Der sich ganz der Offenbarung seiner empfindsamen Befindlichkeit verschreibende Werther indes verliert sich in der daraus hervorgehenden Leidenschaftsstimmung. Deren Macht über ihn und andere vergrößert er durch den Versuch ihrer sprachlichen Vermittlung nur noch mehr. Schließlich schreibt die schriftliche Fixierung der mythischen Überhöhung seiner Leiden zur christologischen Passion in Werthers Abschiedsbrief seinen Entschluss zum Selbstmord endgültig fest. Derselbe geschieht nicht aus Affekt. Er wird aufgrund einer idealisierenden Stimmung mit ruhiger Aussicht auf die Folgen vollzogen. 34 ‚Gleichmut‘ nennt Heidegger solch eine die Ganzheit des Daseins antizipierende Stimmung. Sie „entspringt der Entschlossenheit, die augenblicklich ist auf die möglichen Situationen des im Vorlaufen zum Tode erschlossenen Ganzseinkönnens“ (SuZ 345). Dem durchaus entsprechend, d.h. trotz des Exklamativen, lesen sich Werthers letzte Worte samt Interjektion (ach!) als steigerte durch sie die Abschiedsstimmung sich zur gelassenen Präsenz einer ewigen Erlösung, die das altruistische Pathos der Selbstopferung konjunktivisch einklammert: „Hier, Lotte! Ich schaudre nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll! Du reichtest mir ihn, ich zage nicht. All! all! So sind alle die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt! So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen. Daß ich des Glückes hätte teilhaftig werden können, für dich zu sterben! Lotte, für dich mich hinzugeben! Ich wollte mutig, ich wollte freudig sterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wiederschaffen könnte. Aber ach! das ward nur wenigen Edeln gegeben, ihr Blut für die Ihrigen zu vergießen und durch ihren Tod ein neues, hundertfältiges Leben ihren Freunden anzufachen.“ (LjW VI 123)

Erst die Klopstockschen Wiederholungen der Abschiedsworte („All! all! [...] Sei ruhig! ich bitte dich, sei ruhig! [...] Lotte! Lotte, lebe wohl! lebe wohl!“, LjW 123) machen Werthers finale Stimmung reflexiv und deren Präsenz in der Schrift für sein Leben unwiderstehlich. Manchem Romanleser vermittelt sich eine Unwiderstehlichkeit der Wertherstimmung natürlich auch ohne selber in Liebes- und Lebensnöte zu geraten oder in solchen schon vor der Lektüre gewesen zu sein. Und dies nicht nur aufgrund und trotz der hier kommunikationstheoretisch nachvollzogenen Selbstprojektion an die Stelle des leidenschaftlich gestimmten Briefschreibers. Es ist auch dessen Sprache, die nicht nur dem existenziell Empfindsamen, Gefühlsreligiösen und damit Zeitmodischen folgt. Sondern auch einem poetischen Duktus, der seit Klopstock Empfindsamkeit und Rhetorik, Einbildungskraft und Rhythmus sowie Gefühl und Wortwahl genauer aufeinander abzustimmen beginnt. Durch die Poetizität der Sprache der 34 Idealisierend müsste Werthers Stimmung heißen, insofern sie im psychoanalytisch-genetischen Sinn das Idealich der symbiotischen Mutter-Kind-Dyade vor ihrer triangulären Symbolinitiation fixiert.

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Stimmung wird nicht nur, aber gerade auch die Aufmerksamkeit eines zu reflexiver Distanz fähigen Lesers auf die Sprache selbst und damit auf eine Besonderheit ihrer Zeichenhaftigkeit gelenkt. In der Poesie stehen sprachliche Zeichen nicht mehr nur für etwas anderes, sondern erscheinen in ihrer ästhetischen Qualität. 35 Insofern diese im Selbstbezug des Zeichens auf seine eigene Materialität besteht, vermag sie den Rezipienten von Poesie in eine Erfahrung zu initiieren, die ihrerseits eine ästhetische Beschaffenheit hat. Denn letztere ist im Sinne Kants dasjenige, was die Selbstbeziehung des Subjekts im Vollzug von dessen Objektvorstellung ausmacht. Somit stehen die ästhetische Erfahrung des Lesers und die poetische Sprache des Romans bereits durch ihre analoge Selbstbezüglichkeit zueinander formal in einem Stimmungsverhältnis. Dieses Stimmungsverhältnis bildet schließlich den doppelten Modus der Resonanz für jene Stimmungen, welche im pathischen Sinne Werthers Leiden sind. Unter den hier einleitend beleuchteten Aspekten ästhetischer Kommunikation und Medialität aber zeigt sich, wie durch darstellungstechnische Konzentrierung die Stimmung als Inhalt und zugleich als Medium der Nachricht zur Sprache kommt. In der medialen Materialität der Schrift aufgehend macht die Stimmung – aus der Werther heraus sich liquidiert – schließlich ihr Subjekt überflüssig. Dieses brachte anfangs die Stimmung zur Sprache, um in ihr eine Liebe zu objektivieren, deren Objekt – in Kohuts narzissmustheoretischer Terminologie – vornehmlich ein Selbst-Objekt war. Ein solches aber kann im Realen nicht anders, als sich zu entziehen und sein Subjekt sich selbst zu überlassen. Was als narrative Sprachwerdung moderner Subjektivität am Werther empfunden wird, ist die Transfiguration eines psychologischen Selbst in das symbolische der Autopoiesis. Und es ist die literarische Stimmung, an der sich diese Überschreibung eines psychodynamischen Prozesses von gesteigerten Selbstgefühl in den eigendynamischen Prozess der poetischen Semiosis ablesen lässt. Damit ist im Werther poetologisch vollständig realisiert, was Fichte zwanzig Jahre später am Begriff der Stimmung philosophisch entwickelt. Wellbery formuliert die bedeutungsgeschichtliche Wendung, die die Stimmung bei Fichte nimmt nämlich folgendermaßen: „Bei Fichte ist nun die Stimmung nicht mehr [wie bei Kant, Anm. St.H.] die Möglichkeitsbedingung der Mitteilung, sondern das, was es in künstlerischer Kommunikation mitzuteilen gilt. Man ist geneigt zu sagen, die Stimmung ist zum Inhalt der Mitteilung geworden, nur ist die Stimmung kein Inhalt, sondern die Bewegungsform der eigensten Subjektivität des Künstlers als Selbsttätigkeit“. (Wellbery 2003, S. 714) So erklärt sich auch wie der als Maler dilettierende und als Liebender scheiternde Werther gleichwohl als Genie im Sinne eines ‚Künstlers als Selbsttätigkeit‘ der Natur verstanden werden konnte. In seinem Schreiben von Briefen mit anscheinend bloß persönlichem Inhalt kommt durch oder als Stimmung die „Bewegungsform der eigensten Subjektivität“ zur Darstellung. Zur Mitteilung kommt sie dabei in einer Form des Briefromans, die den Adressaten gleichsam ‚persönlich‘ mit dem jeweili35 In diesem Sinne spricht von ‚Poetizität‘ auch im Zusammenhang einer sprachlichen Botschaft Jakobson: „Die Einstellung auf die Botschaft als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die poetische Funktion der Sprache dar“ (1979, S. 92).

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gen Leser besetzt, während der Autor des Werther bei der Erstausgabe anonym bleibt, wie es bei Romanveröffentlichungen um 1774 nicht unüblich war. Dadurch wird die Stimmung des Romans zusätzlich fokussiert, so dass das scheinbar Besondere des Inhalts, die Gemütsekstase eines Verliebten, zum Allgemeinen der Kommunikationsform eines Briefschreibers wird. Sucht jener den Sinn seines Daseins in der Augenblicksstimmung des Liebens, so findet dieser im Medium der Schrift den materialen Gegenhalt für die Unhaltbarkeit seiner Seelenstimmung. Nimmt man die Evokation des Atmosphärischen hinzu, die wir unten näher untersuchen, dann erscheint Goethes Werther sogar bereits als modern gemäß der von Alois Riegl um 1900 vertretenen These, dass der Inhalt von moderner Kunst die Stimmung ist. (Riegl 1929)

II. Raum und Konfiguration

1. V ON DER E MPFINDUNG IN DER S EELE ZUR S TIMMUNG AUF DER S CHWELLE Phänomenalität und poetische Weltbeziehung

„Wie froh bin ich, daß ich weg bin!“, lautet der erste Satz von Die Leiden des jungen Werthers „am 4. May 1771“1 und zog eine Aufmerksamkeit auf sich, die in der Goetheforschung2 zu seiner Verwendung als interpretatorischer Ausgangspunkt, Buchund Aufsatztitel führte.3 Er drückt die räumlich-leiblich empfundene Erleichterung aus, die sich nach dem Übertreten der Schwelle heraus aus einem Freundeskreis einstellt, der offenbar von Spannungsverhältnissen zwischen Galanterie und Liebesleid durchstimmt war. Bis zum entschlossenen Übertreten der letzten Schwelle in den Tod bleibt Werther aber eine Figur auf der Schwelle. Denn er ist in ‚seinem‘ Wahlheim zu Gast, der Dritte zwischen zwei anderen, ist der bürgerliche Fremde zwischen 1

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Goethe, Die Leiden des jungen Werthers. Paralleldruck der Fassungen von 1774 und 1787, Sämtliche Werke, hrsg. in Zusammenarbeit mit Christoph Brecht v. Waltraud Wiethölter Frankfurt a.M. 1994. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Zitate aus dem Werther im laufenden Text in Klammern mit der Sigle LjW nachgewiesen (LjW + arabische Ziffer = Seitenzahl). Grundsätzlich wird die erste Fassung von 1774 zitiert. Zitate nach der zweiten Fassung von 1787 werden durch den Zusatz B nach der Seitenzahl kenntlich gemacht. Zu den ästhetischen Vorzügen der B-Fassung siehe allerdings Deirdre Vincent 1992. Zur vielstimmigen Forschungsdiskussion über die Vorzüge und Unterschiede der Fassungen siehe Duncan 2005a, S. 123ff. Es gibt vielleicht keinen zweiten Autor deutscher Sprache, bei dem man so sehr von einer zweihundertjährigen Forschung zu demselben profitiert und sich zugleich außerstande erklären muss, deren wesentlichen Befunde – geschweige denn einzelnen Beiträge – in einer wissenschaftlich angemessenen Weise zu würdigen. Den so vielen Sekundärautoren der Gegenwart und erst recht Vergangenheit muss stellvertretend durch die wenigen, die berücksichtigt werden konnten, gedankt und auf deren Erkenntnisse gleichsam anonym verwiesen werden. Schmiedt 1989; Müller-Salget 1981. Das stimmungsräumliche Motiv jugendlichen WegWollens findet sich noch heute unter deutschen Kunstschaffenden und der Reflexion auf ihre Werkgeschichte, wie etwa bei Wenders: „Ich wollte immer nur weg. [...] Alles, womit man weg konnte, war mir recht“ (2013, S. 42).

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Adelsgesellschaft und einfachem Volk und schließlich der Künstler ohne Werk. Die anfängliche Beschreibung der glücklich hinter sich gelassenen Beziehungskonstellation kommt im folgenden Brief an den Freund ohne die wörtliche Verwendung von Stimmung aus. Einige Jahrzehnte später hingegen wird Goethe rückblickend etwa von „einer der meinigen entgegengesetzten Stimmung“ bei seinen damaligen „jüngeren Freunden“ sprechen, als diese durch die „Wirkung“ der Werther-Lektüre in größte Unruhe verfielen, während der Autor selbst sich „durch diese Komposition [...] aus einem stürmischen Elemente gerettet“ fühlte. (HA XI 588) Zur Entstehungszeit des Romans war das Wort ‚Stimmung‘ noch nicht sehr geläufig, während das durch es später bezeichnete Phänomen umso mehr Aufmerksamkeit auf sich zog. Dennoch spricht auch schon ein Zeitgenosse Goethes – nur zwei Jahre nach Erscheinen des Werther – beinahe wie Dilthey in ebenso psychologischem wie poetologischem Sinne von Stimmung: „Die Dichtkunst soll schöne Seelen schildern, und die Stimmung, die eine Seele dichterisch schön macht, ist Kraft, Leidenschaft, ist, was in der Grundlage des Dichters eigene Seele ist“.4 Zumeist aber werden andere Begriffe verwendet. So ist wörtlich von Verlassen und Lieben, von Schicksal und Leidenschaft, vom Übel der Erinnerung und vom Genießen der Gegenwart, von Gefühl und Schmerz, sehr viel von Seele und Herz5 – vor allem aber von Empfindungen die Rede. Empfindungen erhielten in den historischen Kontexten der philosophischen Anthropologie und empirischen Psychologie ab Mitte des 18. Jahrhunderts unter Anknüpfung an Locke, Hume oder Condillac eine große diskursive Aufmerksamkeit. In Deutschland und in der Folge von Leibniz, Baumgarten, Kant und Herder trug die Diskursivierung von Empfindung – aber auch von innerem Sinn und Einbildungskraft – dazu bei, die gefühlspessimistische Skepsis des Pietismus gegenüber der Sinnlichkeit hinter sich zu lassen. Die Diskurse über Schwärmerei und Hypochondrie6, Enthusiasmus oder Begeisterung, über Affekte und Leidenschaften, über Einbildungskraft und die Erfahrung der Seele oder des Herzens trugen zu einer breitgefächerten Differenzierung der Sprache der Empfindung und Gefühle bei.7 In diesem Zusammenhang wird Goethes poetische Sprachinnovation seit Schöffler unter dem Aspekt der Säkularisierung erklärt, insofern die religiös-pietistischen Ausdrucksfor4

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Sprickmann 1776, S. 1049; zit. n. Luserke 1995, S. 247. Luserkes Wertherlektüre (S. 23776) kombiniert diskursanalytische Rekonstruktionen mit sozialgeschichtlichen Argumenten innerhalb des weiteren Rahmens einer historischen Emanzipation der Affekte und Gefühle. Insbesondere der stellt die „pathologisierten Leidenschaften“ (S. 271) ins Zentrum seiner Deutung. Danach stellt Goethe Werther „als denjenigen vor, der bewußt gesellschaftliche Sublimationsangebote unterläuft, der sich der Disziplinierung bis zuletzt zu entziehen versucht.“ (S. 274) „Herz“ kommt nach Michéas Zählung „111mal“ und „Seele 75mal“ im Werther vor. Mit exemplarischem Methodenanspruch zeigt er, wie solche Schlüsselwörter „aufgrund ihrer Häufigkeit und ihrer Kombinationen über Struktur und Wirkungsweise des Denkens Aufschluß geben“ (1994, S. 213). Unter dem Aspekt der Hypochondrie hat eine Deutung des Werther vorgenommen Potter 2012, siehe S. 119-125. Vgl. nochmals Campe (1990, S. 379-401), der die Entwicklung der Darstellung von Affekten und deren Reflexion in den historischen Poetologien bis zur Goethezeit rekonstruiert.

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men mit weltlichen Erfahrungsgehalten weitergeführt werden. 8 Danach erscheint Werther als Enthusiast, nur dass er nicht mehr theologisch positionierbar als ein ‚von Gott Erfüllter‘ auftritt. Vielmehr als der von einer anthropologisch subjektivierten ‚Liebe Erfüllte‘. Gewissermaßen synkretistisch verfügt Goethe frei über ehemals christliche Passionsmotive und religiöse Traditionsbestände 9 , deren Transzendenzmomente in die existenzielle Dramatik von Leben und Tod und zumal in die Liebe als menschliche Form göttlicher Unsterblichkeitsgewissheit überführt werden. Mit der solchermaßen säkular oder eben poetisch entfalteten Gefühlssprache aber ist ein historisch-semantischer Impuls auch für die poetologische Bedeutungsentwicklung von ‚Stimmung‘ im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verbunden. Während im Feld der schönen Literatur Stimmung avant la lettre präsent und rasch gestalterisch tonangebend wird, wird sie im Feld der philosophischen Ästhetik allenfalls beiläufig eingeführt, nur zögerlich theoretisch gegenständlich und tendenziell subjetivistisch vereinseitigt. Während Philosophie und Wissenschaft dieser Zeit außerstande waren, über die binärlogischen Grenzen der neuzeitlichen Episteme hinauszudenken, war das neu bestellte Feld der Ästhetik für die historische Aufnahme eines Schwellenphänomens wie die Stimmung offener. In der Philosophie zeigte allenfalls das idealistische Beziehungsdenken mit seinen dialektischen Pointen Ansätze, die krypto-scholastische Dualität im Rationalismus, Empirismus oder Transzendentalismus zu entkräften. Poesie und speziell die deutschsprachige Dichtung seit den 1770er Jahren hingegen hob damit an, Stimmung als Evidenz eines ästhetischen tertium datur zu präsentieren, Gedanken als Gefühle zu entwickeln und die sonst begrifflich regulierte Vorstellungskraft auf den Achsen zwischen Subjekt/Objekt, Innen/Außen oder Ich/Welt gewissermaßen zum Tanzen zu bringen. Dieser Thesenzusammenhang soll plausibel gemacht werden, indem am epochemachenden Romandebüt Goethes (1774) gezeigt wird, wie der Phänomenkomplex der Stimmung ästhetisch konfiguriert und für die epochemachende Romanwirkung entscheidend ist.10 Ohne die bei Goethe entfaltete Differenziertheit des Gefühlsphä8 9

Vgl. den einflussreichen Aufsatz von Schöffler 1994 [1938]. Den diskursgeschichtlichen Spuren, die vom Leidensbegriff im Werther und dem christologischen Opferbewusstsein an dessen Ende lesbar werden, geht Luserke (1995, S. 240ff.) in seiner oben zitierten Studie nach. 10 Neumann spricht vom Beginn einer neuen „Ära in der Bewußtseinskultur“, dessen Beschreibung wir hier ausführlich zitieren wollen, da sie mit unserer These vom Anfang der literarischen Stimmungsästhetik koinzidiert: „Goethes Werther hat gleich nach seinem Entstehen Furore gemacht, wie kaum ein anderer Roman; und in der europäischen Literaturgeschichte befestigte sich alsbald die Überzeugung, daß mit dem jungen Goethe und seinem kühnen Wurf eine neue Ära in der Bewußtseinskultur begonnen habe. Diese Überzeugung dauert an, auch nach jenen zweihundert Jahren, die inzwischen verstrichen sind. Doch ist es nicht unbedingt leichter geworden, sich ohne weiteres vorzustellen, was damals, im Jahre 1774, geschah, als dieser kleine Roman erschien und in ganz Europa so unerhörtes Aufsehen erregte. Zweifellos gilt jedoch, daß der Eklat, den das schmale Werklein in der literarischen und gesellschaftlichen Welt hervorrief, einen Riss offenbart, der durch die Epoche ging. Was in diesem Erfahrungs- und Wahrnehmungssprung seinen Ausdruck fand“ erkennen und analysieren wir mit dem, was wir Stimmung nennen. Neumann verweist stattdes-

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nomens zu erreichen, gewinnt der Gegenstand Stimmung in der diskursiven Reflexion erst zwanzig Jahre später allmählich theoretische Konturen. Bevor dies im Jahrzehnt 1790-1800 mit unterschiedlichen Akzenten bei Kant, Schiller, Fichte, Humboldt und Schlegel geschieht, dreht sich die theoretisierende Betrachtung weiter um den Begriff der Empfindung. Anders als der Begriff der Stimmung, dessen Bedeutung erst im idealistischen Diskursmilieu um 1800 seine Subjektivierung erfuhr, schien der Empfindungsbegriff von vornherein für die reflexive Konzentration auf emotionale Prozesse samt deren Ausdrucksdynamik geeignet. So liest man in der 1771-74 – zeitgleich zum Werther – veröffentlichten Allgemeinen Theorie der bildenden Künste von Johann Georg Sulzer von phänomenalen Bezügen der Empfindung, die einhundert Jahre später der Stimmung zugeschrieben werden. Sulzers Artikel über die ‚Begeisterung‘ erklärt, dass der „Enthusiasmus des Herzens, oder die erhitzte Würksamkeit der Seele [...] sich hauptsächlich in Empfindungen äußert“ und diese „desto lebhafter“ werden, wenn die „Würkungen des Verstandes“ im dunklen Traumzustand eines ganzheitlichen Präsenzgefühls nachlassen: „der Zusammenhang der Dinge wird nicht mehr durch das Urtheil, sondern nach der Empfindung geschätzt; das Abwesende wird gegenwärtig, und das Zukünftige ist schon itzt würklich. Was jemals mit einiger Beziehung auf die gegenwärtige Empfindung in der Seele gelegen, kommt itzt wieder hervor.“11

Assoziative und projektive Leistungen, zeitextensionale Zusammenziehungen und eigenräumliche Verdichtungen, wie sie für die entstehende Psychologie sich darstellen, werden hier bereits im Bedeutungsfeld von Empfindung, nicht aber von Stimmung verortet. Namentlich die vergegenwärtigenden, resonanzkreativen und zusammenhangstiftenden Funktionen von Empfindung werden jedoch ein Jahrhundert danach bei Nietzsche der Stimmung zugeschrieben – und zwar explizit in deren Verbindung mit Empfindungen: „Alle stärkeren Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich; sie wühlen gleichsam das Gedächtnis auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst.“12

Unter dem an ihren musikalischen Herkunftsbereich erinnernden Titel „Miterklingen“ fährt dieser Aphorismus in Menschliches, Allzumenschliches fort:

sen auf die „Leitformel der Epoche, nämlich die Doppelparole von Vernunft und Leidenschaft, von Geist und Körper, von ‚Kopf und Herz‘“, die aus dem Roman „herausgelesen und als Treibsatz des Geschehens einer Liebesgeschichte in einem Roman erkannt wurde, wie er zuvor noch nicht geschrieben worden war.“ (2001, S. 11) 11 Sulzer zum Stichwort ‚Begeisterung‘, in: Sulzer 1771-74, Bd. 1, S. 182-88, hier S. 183. Vgl. zu Sulzers Artikel zur Begeisterung im Zusammenhang der ‚Schwärmerei‘ Engel 2009, S. 56f. 12 So Nietzsche (1988) in Menschliches, Allzumenschliches I und II (S. 35). Vgl. dazu im ästhetiktheoretischen Kontext der Begriffsgeschichte Wellbery, Stimmung, S. 716.

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„So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie sooft, verbürgt die Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache.“ (Ebd.)

So scheint die Literatur ihren Gegenstand in ‚Verbindungen von Gefühlen und Gedanken‘ hervorzubringen, hergestellt aus Erinnerung und Erwartung, Empfindung und Phantasie, Wahrnehmung und Vorstellung – vor allem aber durch Stimmung und Begehren verdichtet, die als Einheit empfunden werden. Stehen indes Liebe und zumal erotische Stimmungen selbst im Vordergrund des dargestellten Gefühls, gerät dessen Einheitlichkeit in die Schwebe einer prozessualen Offenheit. Von den wenigen Stimmungsmomenten voll sinnlicher bis erotisch-sexueller Präsenz abgesehen (Walzertanzen, Gewitterszene am Fenster, Umarmung auf/vor dem Kanapee) werden die Sinnlichkeitsanteile von Werthers komplexem Verliebtheitsgefühl mehr von den teils gedachten, teils gefühlten Beziehungen zur Natur (Landschaft/Schwärmerei), Kunst (Zeichnen/Dilettantismus), Literatur (u.a. Homer, Goldsmith, Klopstock, Ossian)13 beigesteuert. Nicht als körperliche oder gar sexuelle erscheint die Sinnlichkeit gegenüber der Intellektualität voll rehabilitiert, sondern als psychische und in ihrer Erotik disziplinierte. Auch wenn bereits Werthers Begehren der Frau eines anderen als anrüchig oder gar exzessiv gelten konnte. Historisch entscheidend ist die Bedeutung von Sinnlichkeit als gewandelter Grundstimmung. 14 Namentlich in den Sturm-und-DrangFormen entfesselter Einbildungskraft, rückhaltloser Leidenschaft und bekenntnishafter Selbstentblößung wird im Werther eine expressiv sublimierte und zugleich ontologisch angesetzte Sinnlichkeit als eine Einheit empfunden, die in Nietzsches Sinne einer ‚stärkeren Stimmung‘ ihr verwandte Empfindungen mitanklingen lässt. Dabei können die einzelnen (religiösen, moralischen, philosophischen, poetischen usw.) Gefühle und Gedanken im ‚Complex‘ Verliebtheit aus ihren Verbindungen mit historisch-kulturellen Milieus wie dem Pietismus, Spinozismus, Rousseauismus, Rokoko u.a. hergeleitet werden. Freilich ohne dadurch an Originalität, Phänomenalität und Individualität ihrer literarischen Darbietung einzubüßen. Im Gegenteil scheint diese an ästhetischer Bedeutung nur zu gewinnen durch ihre in der Goethe-Forschung immer wieder herausgestellte Zusammenstimmung mit mentalitätsgeschichtlichen Grundtönen in jener epochalen Umbruchsituation des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. Inwiefern von einer relativen Einheit auch im zeitgeschichtlichen Sinne einer kollektiven Stimmung in einer uneinheitlichen Epoche die Rede sein kann, haben wir oben bereits diskutiert.

13 Siehe zu Werthers Lektüreauswahl Burgard 1985; speziell zur Homer-Lektüre Packalen, 1990. 14 ‚Grundstimmung‘ hier mit Heidegger aufgefasst als existenzialer Bezug zur „Wahrheit des Seyns im Wort“; zugleich nach oder gegen Heidegger verstanden als kulturanthropologische Schicht historischer Sedimentierungen.

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Hier richtet sich unsere Aufmerksamkeit darauf, wie die individualistische Stimmung leidenschaftlicher Liebe ihre Intensität aus dem integralen Zusammenspiel von „ähnliche[n] Zustände[n]“ der Erinnerung und der Aktualität sowie ‚Ahndung‘ von „Empfindungen und Stimmungen“ (ebd.) bezieht. Wie intensives Stimmungserleben dabei das Gedächtnis aufwühlt, so befeuert es gleichermaßen die Erwartung einer Zukunft, deren ontologische Möglichkeiten über die Endlichkeit des menschlichen Daseins hinausreichen. Die Verliebtheit als eine sich existenziell totalisierende Stimmung treibt erst über alle Situativität von Enthusiasmen hinaus, um schließlich aus ihrer Objektbindung sich herauszulösen. Denn diese vermag nicht einzulösen, was ihre Idealisierung durch das Subjekt demselben zu versprechen hatte. Wie die große, idealistische zur unglücklichen, romantischen Liebe mutiert und alles ihr ‚Verwandte‘ mit sich reißt, so wird seine Stimmung für den jungen Werther ganz selbstverständlich zum Nabel der Welt. Werthers Stimmung schließt die Welt mit ein. Diese ist nicht sein erweitertes Selbst, sondern dessen stimmend-gestimmtes Gegenspiel und als solches das exzentrische Resonanzgeschehen einer permanenten Zeit-Raum-Eröffnung. Stimmung wird als Erfahrungsnähe zur Natur und zu Menschen kultiviert, als Ausdrucksmedium und Mitteilungsform von Intimität sowie als existenzialdramatischer Quell- und Endpunkt von Werthers Leben zelebriert. Diesen von seiner Liebesstimmung begeisterten Ekstatiker wollen wir nun in seinen Schwebezuständen zwischen Innerstem und Äußerstem, Gewesenem und Kommendem, auf seinen frühlingsinduzierten Erhebungen in die Zwischenräume von Natur-Gefühl und SeelenLandschaft beobachten und seine antizipierte Vergegenwärtigung von Lebensfülle über seinen Tod hinaus verstehen. Die formalen Bedingungen des Herzensenthusiasmus der Kunstfigur Werther sollen dabei in den Möglichkeiten einer poetischen Sprache erkannt werden, welche die Phänomenstruktur von Stimmung als einen dynamischen ‚Complex‘ existenzieller Bezüge artikuliert. Darin unterscheidet sich Stimmung von Empfindung. Sie macht aus dem gesellschaftlich gefälligen Helden der literarischen Empfindsamkeit das sozial verdächtige, heroische Subjekt einer ekstatischen Einsamkeit, in der es nicht sich selbst, sondern die Andere(n) in der Verkörperung der Liebe feiert. Dabei treten das Gesellige und Solide der Brief- und Freundschaftsdiskursivität hinter das Solitäre existenzieller Selbsterfahrung und das Offenheitspathos eines kosmo-ontologischen Naturgefühls zurück. Alles Moderate der aufklärerischen Gefühlskultur wird vom Exzessiven der Wertherstimmungen überholt. Dabei handelt es sich um keine Steigerung, eher um eine Überschreitung des Subjektiven ohne intersubjektiven Gegenhalt. Was in Goethes ästhetischer Darstellung der Nähe von Glück und Unglück der Liebe, von hochgestimmtem Dasein und stimmungsgetriebenem Sterben überschritten wird, sind die internen Bedingungen von Subjektivität hin auf ihre externen Bezüge. Denn diese durch Natur- und Todesmetaphorik ontologisch verstärkten Bezüge zum und innerhalb des Außen sind es, die Werthers ‚Leiden‘ vom Kläglichen eines erfolglosen Liebhabers, vom Fatalen einer verkorksten Dreiecksaffäre unterscheiden und insgesamt vom Konventionellen der Empfindsamkeit als Diskursivieren von Persönlichem absetzen. So wandelt Goethe den herkömmlichen Briefroman (Richardson, Rousseau, Gellert, La Roche) zur Ausdrucksform einer neuen Selbst- und Welterfahrung um. Diese ist im onto-poetischen Zeichen von Stimmung am phänomenologisch Nahen des Außen, der auch zeitlichen Offenheit

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des Wirklichkeitsgeschehens oder dem Ereignishaften von Seinserfahrungen ausgerichtet. Demgegenüber sucht der oben angeführte zeitgenössische Theoretiker Sulzer die Definition von Empfindung auf den semantischen Bereich des Innen, des Seelischen und seiner Verzweigungen zu beschränken. Namentlich identifiziert er die Ausdrucksmöglichkeit der Empfindung in der Be- oder Erleuchtung, welche diese im eloquenten Seelenzustand der Begeisterung auszeichnet und gleichsam wie von selbst zum Reden bringt: „In dieser Art der Begeisterung liegt nichts klar in der Seele, als die Empfindung, und alles, was eine nahe oder entfernte Beziehung darauf hat. Daher entsteht die ungemeine Leichtigkeit, das, was in der Empfindung liegt, auszudrücken; die Lebhaftigkeit und Stärke des Ausdruks; die süße Schwatzhaftigkeit in zärtlichen Affekten; der wilde, erstaunliche, oder herzrührende Ausdruk in heftigen Leidenschaften; die große Mannigfaltigkeit lieblicher oder starker Bilder; die vielfältigen Schattirungen der Empfindung; die seltsamen und träumerischen Verbindungen der Gegenstände; der, jeder Empfindung so genau angemessene, Ton, und alles, was sonsten in dieser Art der Begeisterung sich offenbaret.“ (Sulzer, S. 183f.)

Sulzers Ausführungen zeigen zum einen die bis heute gängige Auffassung von Empfindung als die innerpsychische Weise des Affiziertseins, die qua Erfahrung die aktuelle Verfassung des Gemütszustandes kenntlich macht. Der ideosynkratischen ‚Unklarheit‘ empfindsamer Selbsterfahrung korrespondiert die ‚süße Schwatzhaftigkeit‘; die subjektive Geschlossenheit von Affektivität wird in der intersubjektiven ‚Leichtigkeit‘ ihres Ausdrucks kompensiert. Jedoch zeigt Sulzers Hinweis auf „alles, was eine nahe oder entfernte Beziehung“ zur Empfindung hat, dass das Interesse an derselben eigentlich schon über sie hinaus geht. Denn nicht das singuläre Datum in der Wahrnehmung ist anthropologisch, epistemologisch oder ästhetisch von Bedeutung. Vielmehr sein Elementcharakter in einer Flut von Wahrnehmungsdaten, die in ‚vielfältigen Schattirungen der Empfindung‘ einer fortlaufenden Strukturierung unterliegen. Hierauf, d.h. auf strukturelle Verhältnisse, „und nicht auf absolut Gesondertes“, ist „faktische Wahrnehmung“ gerichtet, wie Merlau-Ponty für die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts festhält. (Merleau-Ponty 1966, S. 21) Mit gewissermaßen phänomenologisch korrekter Intuition deutet Sulzer dann auch auf die „Verbindungen der Gegenstände“ (Hvh. St.H.) als Ausgangspunkt von Wahrnehmung. Indes verleitet der theoretische Diskurs über Empfindung dazu – wie übrigens noch Ernst Machs Empfindungslehre zeigt –, die Feldstruktur des Wahrgenommenen zum Bewusstseinszusammenhang von Empfindungselementen umzudeuten und damit Wahrnehmung subjektivistisch verkehrt vorzustellen. Erst die poetische Darstellung von Stimmung, wie sie mit Goethes Werther zum Durchbruch kommt, lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Gegenstandsfeld der Wahrnehmung zurück. Dadurch vermag die neue Poetik der Stimmung noch die „seltsamen und träumerischen Verbindungen der Gegenstände“, von denen Sulzer spricht, als objektive Gefühlsqualitä-

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ten zu präsentieren und damit der Phänomenalität von Wahrnehmung samt ihrer „vielfältigen Schattirungen der Empfindung“ gerecht zu werden.15 Indem Werthers Leiden sich auf der Schwelle zwischen Wahrgenommenem und Eingebildetem, Realem und Imaginärem oder Pathischem und Pathologischem zu halten versuchen, entkommen sie weitgehend einer ‚sentimentalen‘ Vereinseitigung von Empfindsamkeit. Und nur insofern Werthers „Ausdruk in heftigen Leidenschaften“ nicht in einen ästhetischen Kitsch weltlos isolierter Gefühlsexzesse abgleitet, ist er in Sulzers Sinn „erstaunlich“ und „herzrührend“. Die mit Goethes ästhetisch inszeniertem Stimmungsphänomen erhaltene Einbindung von Empfindungen in den Wahrnehmungsumkreis des Anderen zeigt sich in einer „Mannigfaltigkeit lieblicher oder starker Bilder“. Sulzers Bestimmung durchaus entsprechend kommt so auch „der, jeder Empfindung so genau angemessene, Ton, und alles, was sonsten in dieser Art der Begeisterung sich offenbaret“ im Werther zum Tragen. Hingegen anders als Sulzers Empfindungspoetik mit ihrer ‚Leichtigkeit‘ zärtlicher Mitteilungen es vorsieht, kommt mit Werthers ebenso enthusiastischer wie scheinbar nur zeitgemäßer Rede von Empfindungen zugleich das Problem von deren (Nicht-)Kommunizierbarkeit zur Sprache. In seinem ersten Brief aus der Fremde erklärt Werther dem Freund und Leser, dass es mehr „Mißverständnisse“ seien, die zu „Irrungen in der Welt“ führen, und weniger „List und Bosheit“. (LjW 12) Nicht moralische Defizite, sondern die grundsätzlicheren der interpersonalen Mitteilungsfähigkeit werden als verantwortlich für die Konflikte im Familien- und Freundeskreis ausgemacht. Freilich werden diese nicht näher erklärt, sondern nur als für den konventionellen Roman typischen sentimentalischen Verwicklungen und damit als fortan nicht weiter zu erklärende Vorgeschichte angedeutet. Dem gegenüber gestellt erscheint die Schwellenhaftigkeit der Selbst-Weltbeziehung, die das „schaudernde Herz“ des jungen Mannes im besten Initiationsalter mit der alles erwärmenden und ihrerseits schwellenartigen „Jahrszeit der Jugend“ unterhält. (LjW 12) Indes liegen die Duale von Herz/Jahreszeit, Gefühl/Natur, Ich/Welt oder Innen/Außen nicht etwa nur emotionalen und kommunikativen Beziehungs- oder Sprachnöten voraus und zugrunde. Vielmehr organisieren sie als Schwellenfiguren auch die ontologische und mediale Weltbeziehung bis hinein in ihre zeitphänomenalen und naturräumlichen Verhältnisse.16 Wie dadurch das Suchen nach poetischer Sprache angetrieben und die Stimmung zum ästhetischen Organisationsprinzip wird, wollen wir mit Blick auf den Romananfang etwas näher betrachten.

15 In der kulturwissenschaftlichen Forschung und dabei ausgehend von Benjamin und der Trauer erläutert die Bedeutung von „objektiven Gefühlen“ H. Böhme 1996b. 16 Das Phänomen der Schwelle hat in der literaturwissenschaftlichen Forschung zuletzt beträchtliche Beachtung gefunden. Dies zeigt exemplarisch ein Sammelband, der von Bezügen zur Natur, zur Sprache, zur Interkulturalität, zum Symbol, zu Medien bis zu Gender einen weiten Themenkreis zieht bei Saul u.a. 1999.

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2. E INSTIMMUNG AUF SYMPATHETISCHE V ERHÄLTNISSE UND DIE G RUNDSTIMMUNG DES S CHWEBENS Die anfänglich ‚herz‘-therapeutisch begrüßte („köstlicher Balsam“) und gewissermaßen nach-pietistisch als animierend gefeierte „Einsamkeit“ in der Natur sorgt bei Werther für eine Wohlbefindlichkeit, die unter ontogenetischem Aspekt an selbstidealische Verhältnisse in intrauteriner Schwebelage erinnert. (LjW 12) Konkret ist es der Topos der „paradisischen Gegend“, vom „Garten“17 Eden mit „lieblichsten Täler[n]“ samt „Lieblingspläzgen“, der hier die individuelle Seele mit der Weltseele in ein konkordiales Dyadeverhältnis setzt. (LjW 12f.) Anschließend und wie zur Illustration generativer Konkordanz wird das selige In-der-Natur-sein auch interindividuell dekliniert, nämlich als ‚herzliches‘ Mit-sein des Ich als „Herr vom Garten“ mit dem Architekten und dem „Gärtner“ (LjW 14). Werthers ins Luxurierende überhöhte Wohlintegriertheit in die Natur – „alles rings umher so paradisisch“ (LjW 16) – spricht einen Ordnungsgedanken aus, der dem jungen Goethe über Brunos, Shaftesburys (Walzel 1909, S. 416ff.) und Leibniz‘ Denken präsent war. In solcher kosmopoetischen Ganzheit klingt die mythische Herkunft der Bedeutung von Stimmung im pythagoreisch-platonischen Sinne der Weltenharmonie nach. Im geistesgeschichtlichen Zusammenhang des 18. Jahrhunderts verweist das Entstehen einer welt- und naturharmonischen Stimmungspoetik auf die optimistisch gewendete Anthropologie der Gefühlsphilosophie und damit auf eine Gegenströmung zum Nihilismus in der Aufklärung, wie er in der materialistischen Radikalisierung der „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ sich darstellt.18 So führt Werthers Wegziehen von Zuhause („meiner Mutter“) ihn zunächst nicht in ein depressives Alleinsein, das die Welt auf den nihilistischen Gefühlsstumpf seiner Existenzstruktur zusammenschrumpfen lässt. Letzteres wird in der Nachfolge von Kierkegaards Verbindung von Stimmung und Angst erst Heideggers daseinsanalytisches Leitkonzept der Angst als einer Grundstimmung der Moderne vorsehen. Allerdings hat der auch existenzialistisch negative Schauder seinen stimmungsgeschichtlichen Ursprung in der schwarzromantischen Ästhetik, deren literarische Vorläufer bis in die 1760er und 70er Jahre zurückreichen. 19 Und auch Werther wird – wie wir noch am Brief des 18. August sehen werden – eine Herabstimmung ins Ungeheuerliche angesichts einer kosmologisch sinnlos gewordenen Natur erfahren. Hingegen ist seine anfängliche Grundstimmung die eines symbiotischen Schwebens zwischen innerer und äußerer Natur. Am Anfang steht keine metaphysische Weltleere, sondern die physische Leibes-„Fülle“ (LjW 12) des Frühlings. Werther fühlt kör17 Der im Kontext als ein ‚englischer‘ Garten erkennbar wird, wie er zur Entstehungszeit des Werther in Deutschland Mode wurde. Vgl. den Kommentar von Trunz in HA VI 567. 18 Vgl. ausführlich zum Nihilismus in der Aufklärung Kondylis 1986, S. 490-536; mit Bezug zum Werther Schultz 1962. 19 Die Entwicklung der englischen Gothic Novel beginnt bereits 1764 mit Horace Walpoles The Castle of Otranto und setzt sich in der Wertherzeit 1771 mit Clara Reeves The Champion of Virtue fort; in der deutschen Literatur heben schauerromantische Stimmungen in der Höhenkammliteratur mit dem frühen Tieck an und setzen sich bei E.T.A. Hoffmann fort.

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perlich diese ‚Natur von außen‘ seine Seele anreichern und sein Herz nicht etwa vor Kälte, sondern in Wärme ‚erschaudern‘: „Jeder Baum, jede Hecke ist ein Straus von Blüten, und man möchte zum Mayenkäfer werden, um in dem Meer von Wohlgerüchen herumschweben, und alle seine Nahrung darinne finden zu können.“ (LjW 12)

In Werthers Rückblick führten im Freundeskreis die „eigensinnigen Reize“ und zu sehr „genährt[e]“ Empfindungen in „Irrungen“ und Schuldverstrickungen; es verleiteten im angedeuteten Erbstreit die medialen Distanzüberbrückungen mangels physischer Präsenz zu Empfindlichkeiten und „Mißverständnisse[n]“. (LjW 10f.) Jetzt aber sind es Sinneseindrücke, deren Stärke und Vielzahl („Jeder Baum, jede Hecke“) sich im Gefühl zu einer Wahrnehmungseinheit bündeln („Straus von Blüten“). Mit der Verwendung der Blütenstrauß-Metapher hebt rhetorisch eine Stimmung an, die jene sensuelle Vielfalt in perzeptiver Einheit vergegenwärtigt. Sie wird noch gesteigert kraft der Levitationsphantasie, welche sprachlich von der Metaphorik des fliegenden Maikäfers realisiert wird. Der Blütenstrauß fungiert als tropische Basis in mehrfacher Hinsicht. Von ihr steigt die Stimmung auf, auf sie kann sich das freischwebende Subjekt setzen und aus ihr kann der Schwebende „alle seine Nahrung“ ziehen. Dabei erfährt das Schweben durch die Meer-Metapher eine Dynamisierung. Im Meer wird die begeistert angestimmte Wahrnehmungseinheit motivisch zu einem entgrenzten Ganzen, welches der transzendierenden Bewegung der Subjektivität einen sinnlichen Gegenhalt in der Schwebe gewährt. Schon hier deutet sich auf den folgenden Text vorausweisend an, dass die darin bildreich gewobene Stimmung durch Metaphern wie „Balsam“, „Paradies“, „Jugend“, „Fülle“, „Blüten“, „Meer“ und ‚Herumschweben‘ einerseits an die sinnliche Erfahrung gebunden bleibt. Andererseits aus dieser heraus – eher unverbindlich als negativ – auf die ideelle Sphäre eines spekulativen Einen, eines alle Vielheit tragenden Urgrundes oder selbstproduktiven Seinsganzen bezogen ist, wie sie die neuplatonische Tradition, Bruno und Spinoza in kunstaffiner Weise geformt haben. Zudem lässt sich an Werthers sinnlich durchtönter Gartenstimmung eine ideengeschichtliche Überschreitung des französisch hochgehaltenen Rationalismus hin auf den englischschottischen Sensualismus ablesen. Hierzu ist das Stimmungskonzept der tradierten Sphärenharmonie als mathematisch-kosmologische Spielart des barocken Rationalismus aufzufassen, wie er in der von Werther als „wissenschaftliche“ Gärtnerei ablehnten Gartenkunst angedeutet ist. Gegenüber der darin objektivierten Konstruktion des Raums bevorzugt Werther eine sein leibliches Selbst einschließende Erfahrung von Raum, wofür ihm der dynamische Naturraum Modell steht. 20 Denn Werthers Präferenz des künstlich natürlichen Landschaftsgartens nach englischem Modell lässt ein integralistisches Potenzial von Stimmung erkennen, das der ästhetischen Refle-

20 Zur phänomenologischen Bedeutsamkeit der Unterscheidung von Raumerfahrung und Raumkonstruktion siehe Waldenfels 2007, S. 79.

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xion den diffusen Wahrnehmungsbereich der Gefühle („Herz“, „Thräne“, „Lieblingsplätzgen“, LjW 12f.) erschließt.21 Dass es sich bei Werthers Beschreibung seiner Befindlichkeit in der Schwebe indes weder um ein ästhetisch verkapptes Verstandesurteil noch um eine ‚rein‘ geistige Drift ins Pantheistische handelt, sondern um eine ‚rein‘ relationale Stimmung im Phänomenalen – dies wird auch durch das Sprachbild einer wahrnehmungssinnlichen Immersion in ein Außen(-„Meer“) festgehalten, das die Elemente Wasser und Luft zum Träger des Gestimmten verdichtet. Es sind olfaktorische Qualitäten und visuelle Reize („Wohlgerüche“, „Blüten“), haptische Imaginationen (Nektarsaugen aus Blüten, Umgreifen des Straußes) und kinetische Phantasie (Herumschweben), welche hier ein wahrnehmungssinnliches Außen als flüssig-leichtes Element einer dann auch inneren Resonanzerfahrung zeigen. Dieses auf den Schwellen zwischen Wasser/Luft, Innen/Außen, Subjekt/Objekt oder Ich/Natur ‚herumschwebende‘ Phänomen wird an dieser Textstelle synästhetisch organisiert und hebt sich damit von analytischepistemischer Dualität ab. Es macht von Beginn an den Grundzug von Werthers Selbst- und Weltverhältnis als eine Stimmung mit hoher und an philosophischen Implikationen reicher Erfahrungsintensität kenntlich. Solche das Selbst zur Welt hin öffnende, von dieser her dasselbe als In-undGetragen-sein erfahrende und sich selbst erschließende Wahrnehmungsbewegungen, die wie hier im Bild des Herumschwebens im ereignishaften Zwischen von Oben/Unten (Himmel/Erde; Geist/Materie; Transzendenz/Empirie usw.) sowie Innen/Außen (Denken/Dinge; Psyche/Physis; Subjekt/Objekt usw.) konfiguriert sind, können wir mit unserem im theoretischen Teil entwickelten, beziehungsästhetischen und onto-mediologischen Stimmungskonzept gut erfassen. Setzt es Stimmung doch als ein wahrnehmungsphänomenologisch fließendes oder schwebendes, indes darstellungspoetisch manifestes Gefühlsschema an, das zwischen dem Ich- und dem WeltPol, den Sinnen und dem Sinn das Vermittlungsgeschehen selbst erfasst. Unsere Stimmungstheorie gibt systematische Anhaltspunkte dafür, wie Goethes Erzähltext über weite Strecken als ästhetische Darstellung der Phänomenalität von Wahrnehmung, der Medialität von Kontemplation und des Gefühls als Zusammenspiel von sinnlichen und imaginativen Anteilen zu verstehen ist. Noch einmal bezogen auf die zitierte Anfangspassage: Werther nimmt nicht den einzelnen Baum, die für sich stehende Hecke oder isolierte Blüten wahr, sondern ihr Zusammenblühen (Metapher: Strauß). Jedes Einzelne kommt nur als Mitspieler im Ensemble zur Erscheinung, nur über sein Verhältnis zu allem anderen kann es überhaupt wahrgenommen und erst zum Phänomen werden. Nicht die Analyse von Einzelempfindungen und eine Feststellung von Objektbeziehungen, auch nicht deren Subjektivierung als Bewusstseinszusammenhang sind Werthers Thema. Vielmehr sind es die Gegenstandskonstellation (Baum/Hecke, Landschaft/Garten) und deren 21 Damit ist Werther ‚natürlich‘ ganz ein Kind seiner Zeit, insofern die aufklärerische Kultur dem neuen Zusammenspiel von Verstand und Gefühl eine neue Gartenkunst an die Seite gesetzt hat. Dass aber nicht erst die ‚englische‘, sondern auch schon die barocke ‚französische‘ Gartenkunst als Objektivierung intellektueller Szenarien und individueller Freiheit gespiegelt werden kann, das zeigt Bredekamp 2012. Siehe außerdem Gerndt 1981 sowie Hammerschmidt und Wilke 1990.

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expansive Gesamtwirkung auf das Bewusstsein (Strauß/Geschenk); nicht dessen Selbstreflexion, sondern die Kontemplation der Bewegung im Wahrnehmungsfeld. Entsprechend ist Werthers Wunsch nach Herumschweben im Meer und ‚DarinNahrung-finden‘ nicht als nur berauschte Frühlingsphantasie oder als bloß rhetorische Metapher zu lesen. Hingegen ist es als das aktive Potenzial zu verstehen, das dem Gefühl an der Natur (wie es später wiederholt präpositional deutlich wird) entsteigt. Es geht am Romananfang um die objektive Stimmung „dieser Gegend“ (LjW 14), die als solche gegenständliche Konfiguration (Baum, Hecke, Hügel, Täler u.a.) von empfindsamer Subjektivität als ästhetisch-synthetische „Nahrung“ aufgenommen, d.h. durch die Sinne wahrgenommen, imaginiert und schließlich sprachlich reflektiert wird. Die anfangs kumulative, im weiteren Text sporadisch disseminierte Metaphorik des Herumschwebens und Schwebens (LjW 12, 14, 16, 72, 100, 176, 184, 262) ist also das poetische Ausdruckskorrelat einer Wahrnehmungsbewegung, wie sie das Phänomen der in einem Resonanzraum originär gehobenen Stimmung nachvollziehbar macht. So neu dies war, so bald sollte das poetische Stimmungsmotiv des Schwebens auch im philosophischen Nachdenken über ästhetische Fragen mit der Frühromantik wichtig werden. Walter Schulz hat diese Ansätze zur weiteren Entwicklung einer Metaphysik des Schwebens auf der Linie von Fichte über Kierkegaard bis Heidegger skizziert und sie im Zusammenhang von philosophischer und künstlerischer Ästhetik im 19. und 20. Jahrhundert diskutiert. 22 Vor der und zur WertherZeit indes gab es trotz der emfindsamen Aufmerksamkeit für Stimmungen wie Schwermut, Verdrießlichkeit und Trübsinn einerseits, und Heiterkeit, Humor und Frohsinn andererseits, noch keine theoretische Diskursivierung des Stimmungsphänomens, die eigenständig neben oder aber innerhalb der angrenzenden Debatten über Melancholie, Schwärmerei oder Enthusiasmus erkennbar wäre. 23 Shaftesbury etwa will in seinem Brief über den Enthusiasmus gute Stimmung (good humour) als „Schutz“ vor oder „Gegengift gegen den Enthusiasmus“ und zugleich die „richtige Stimmung“ als Grundlage von Religion verstanden wissen.24 Dabei wird das Verstehen der Bedeutung von Stimmung (mood, humour) kommentarlos vorausgesetzt. Der Stimmung werden indes nicht die negativen Bedeutungsaspekte zugeschrieben, die am ‚falschen‘ Enthusiasmus kritisiert werden, u.a. übertriebene Leidenschaften, Realitätsverlust, Weltferne, Vernunftresistenz, Exhaltiertheit, Mangel an Affektkontrolle. Zugleich assoziiert Shaftesbury mit Stimmung aber noch nicht den positiven Bedeutungskreis, der den richtigen Enthusiasmus durch seine Verbindung mit dem neuartigen Naturgefühl umgibt. Diese konstellative Bedeutung 22 Vgl. Schulz 1985; ferner auch die kursorischen Bemerkungen zum Schweben in Sloterdijk und Heinrichs 2006, S. 339-343. 23 Siehe zu diesen einschlägigen Debatten im 18. Jahrhundert Lepenies 1972; Schings 1977; Engel 1994. Mit Bezug auf den Werther und dessen Rezeption sowie die Betonung von Werthers Schwermut bei Blanckenburg siehe Dörr 2011. 24 Shaftesbury 1980 [A Letter Concerning Enthusiasm von 1708], S. 14, 35. Bezeichnend für das Übersetzungsproblem mit dem deutschen Wort Stimmung setzt der Übersetzer einmal „gute Stimmung“ und einmal „guten Humor“ für das englische good humour. Vgl. die Stelle mit Erwähnung der „melancholischen Stimmung“ S. 35.

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von Stimmung wird mit Goethes früher Dichtung erst auf der Phänomenebene ästhetisch entwickelt, bevor sie dann in der Romantik – besonders bei Tieck, Novalis und Eichendorff – auch mit dem Wort ‚Stimmung‘ namhaft gemacht wird.25 Die partizipativen Modi und sympathetischen Verhältnisse, welche die Stimmung mit Schwärmerei und Enthusiasmus gleichwohl teilt, werden durch die Intervention des Werther gleichsam für die literarische Ästhetik und deren moderne Entwicklung gerettet. Zwar lebt auch die Wertherfigur noch von der Hyperbolik des Pathischen. Entsprechend wurde sie von einem Teil der Zeitgenossen moralisch verworfen wie auch von einem Strang der literaturwissenschaftlichen Tradition unter Rubriken wie Pathologie, Genie und Subjektivismus klassifiziert.26 Jedoch lässt die Figur Werther selbst bereits die Vereinseitigung auf die psychische Seite der Wirklichkeitskonstitution hinter sich und erweitert diese deutlich um die physische Seite, wie sie als Gegenstandsfeld der Wahrnehmung zur Erscheinung kommt. Die psychologische Ekstatik des Schwärmerischen wird von der ontologischen Ekstatik des Phänomenalen zurückgedrängt. Durch Goethes darstellerisches In-die-Schwebe-Bringen von Subjektivität und Objektivität wird das ästhetische Phänomen erstmals auffällig, welches wenig später auch als Stimmung bezeichnet wird. Was so in oder von der Poesie entdeckt wurde und durchs 19. Jahrhundert hindurch literarisch Karriere machen wird, wurde im Diskurs begrifflicher Reflexion zunächst wieder subjektivistisch verdeckt, bevor die Phänomenologie im 20. Jahrhundert es endlich auch theoretisch wiederzuentdecken ermöglichte. Denn letztere erhebt dasjenige, was die Stimmung im Feld der Ästhetik so produktiv, in demjenigen der Episteme aber unmöglich machte, schließlich in den Rang des wahrnehmungstheoretisch Bedeutsamen, wenn etwa Merleau-Ponty fordert: „Wir müssen uns entschließen, die Unbestimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen. Nur im Bereich dieses Phänomens begegnen uns Qualitäten. Der Sinn, den eine jede Qualität beschließt, ist ein äquivoker, ist mehr ein Ausdruckswert als eine logische Bedeutung.“ 27 Wie das Unbestimmtheitsphänomen im Wahrnehmungsprozess so müssen 25 Auf die Lyrik des Frühwerks hingegen konzentriert sich Wellberys (1996) Entwicklung des ‚specular moment‘ als ein diskursgeschichtlich bedingtes Erfahrungsparadigma bei dem, was früher ‚der junge Goethe‘ hieß und die folgende Romantik erst ermöglichte. 26 Die als erste von vier Phasen der Entwicklung von Goethes Werk (bis 1775) verstandene Zeit des Sturm-und-Drang rubriziert etwa Saul mit dem Schlagwort Genie und sieht Versuche eines Ausgleichs zwischen Goethes „intrinsic subjetivism“ mit der „objective world“ erst mit der zweiten Phase anbrechen, also der ersten Weimarer Dekade (1775-86); vgl. zur verallgemeinernden Rede vom Subjektivismus einer Epoche oder Werkphase seine literaturgeschichtliche Reflexion Saul 2002, S. 25, 30. 27 Merleau-Ponty 1966, S. 25; das Zitat fährt fort: „Die bestimmte Qualität, auf die sich der Empirismus zum Zweck der Definition der Empfindung beruft, ist ein Gegenstand, nicht Element des Bewußtseins, und zwar abgeleiteter Gegenstand des wissenschaftlichen Bewußtseins. In diesem doppelten Sinne gilt, daß ihr Begriff die Subjektivität mehr verbirgt als enthüllt.“ (Ebd.) M.-P. bezieht sich freilich auf den Begriff der Empfindung, nicht auf den der Stimmung. Gegenüber der Empfindung ist die Stimmung die prozesshaft verselbständigte, ihre Konstituierung in raum-zeitlichen Verhältnissen selbst zum Gegenstand erhebende Empfindung.

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Stimmungen in literarischen Texten (an-)erkannt werden, um deren eigentlich ästhetischen Qualitäten begegnen zu können. Wie im theoretischen Teil ausgeführt, kann ein Verstehen von Stimmungen nur ein seinerseits ästhetisches sein, d.h. es muss einer Hermeneutik des Schwebens möglicher Bedeutungen und nicht etwa einer Hermeneutik des Entzifferns notwendigen Sinns folgen.

3. F ORSCHUNGS -,

ÄSTHETIK - UND GEISTESGESCHICHTLICHE P RÄMISSEN

Der Fokus auf das Stimmungsphänomen erfordert somit durchaus eine neue Lektüre von Goethes Erfolgsroman und ermöglicht ästhetische Einsichten, die vorangegangene Forschergenerationen zugunsten anders gelagerter Erkenntnisinteressen ausgeblendet haben. Angesichts der unübersehbaren Literatur zum Werther scheint es uns zulässig, lange Zeit maßgebliche Perspektiven der Wertherforschung in beiläufigen Hinweisen schlagwortartig zu verkürzen, Positionen zu typisieren und nur gelegentlich auf Beispiele aus der Vielzahl von Interpreten und Kommentatoren zu verweisen. Es sind bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein vor allem Sichtweisen der Geistes- und speziell der Ideengeschichte, die – mitunter implizit – die literaturgeschichtliche Reflexion und Einordnung von Goethes Werk bestimmen. 28 So lassen sich anders als bei unserer stimmungsästhetisch orientierten Lektüre, deren Aufmerksamkeit sich an folgender Stelle z.B. auf den das Blickfeld öffnenden Präpositionalausdruck „rings umher“ richten würde, historische Kontextindikatoren zum Ausgangspunkt von Deutungen wählen. Im hier betrachteten ersten, aber auch den ihm folgenden Wertherbriefen lassen sich solche Hinweise auf Kontexte entnehmen, innerhalb deren sie als fiktionale Dokumente einer historischen Konstellation erscheinen. So etwa bei der Passage, die ans weiter oben Zitierte anschließt: „Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur. Das bewog den verstorbenen Grafen von M.. einen Garten auf einem Hügel anzulegen, die mit der schönsten Mannigfaltigkeit sich kreuzen, und die lieblichsten Thäler bilden. Der Garten ist einfach, und man fühlt gleich bei dem Eintritte, daß nicht ein wissenschaftlicher Gärtner, sondern ein fühlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier genießen wollte.“ (LW 6)

Diese scheinbar nur persönliche Vorlieben aussprechenden Sätze lassen sich – zumal im weiteren Textzusammenhang – über Figuren wie den Chiasmus im Eingangssatz des Zitats bis hin zu den Stichwörtern wie Natur und Herz historisch lesen. Etwa als Verbindungen von Kulturkritik und Naturverherrlichung, von Wissenschaftsskepsis und dem Gartenbauideal des Englischen Gartens und so vor dem diskurshistorischen 28 Für Beispiele vgl. den Hinweis auf Hermann Grimm, Richard Meyer, Albert Bielschowsky, Georg Brandes, Friedrich Gundolf, Georg Simmel, Benedetto Croce, Eugen Kühnemann, Friedrich Muckermann, Philip Witkop, Paul Altenberg, Joseph-Francois Angelloz, Emil Staiger, Peter Boerner, T.J. Reed and Dorothea Hölscher-Lohmeyer (alle mit Arbeiten, die bloß den Titel ‚Goethe‘ tragen) bei Saul 2002, S. 25.

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Hintergrund des Rousseauismus deuten.29 Nimmt man die Rezeption vor allem von Leibniz, Spinoza und Shaftesbury in deren Zusammenwirken hinzu, so ließen sich ausgehend von diesem ästhetischen Urteil – ‚Kultur unangenehm‘ vs. ‚Natur unaussprechlich schön‘– Grundzüge der deutschen Spätaufklärung an den Positionen von Lessing, Herder bis Kant nachzeichnen.30 Konzentriert sich der historische Blick indes auf Goethe, dann ist am Fortgang der europäischen Aufklärung ohne weiteres erkennbar, was für die intellektuelle Jugend der 1770er Jahre in Deutschland attraktiv wurde: erstens ein weltanschaulich annehmbarer Monismus, in welchem Geist und Sinnlichkeit, Vernunft und Einbildungskraft, Verstand und Gefühl, Moral und Begehren zu einer Mensch-Natur-Einheit zusammenfinden; und zweitens eine vom Konfessionellen abgelöste Religiosität, wie sie sich in der gefühlsästhetischen Poetisierung des Pietismus zur Empfindsamkeit nachvollziehen lässt. 31 Die Werthergeneration und die aus ihr hervorgehenden Stürmer und Dränger – so versteht man geistes- und wirkungsgeschichtlich weiter – machen sich in einer emanzipatorischen Art von enthusiastischer Verzweiflung optimistische Züge der Aufklärungsanthropologie zu eigen. Zugleich verarbeiten sie deren pessimistischen Restbestände, die aus der bekämpften Moraltheologie stammen, in depressiven Symptombildungen, die im Fall Werthers bis zur tödlichen Selbstbestrafung führen. Eine die einzelnen Einflussmomente auf den jungen Goethe nachzeichnende Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Gemengelage kann und braucht hier nicht noch einmal vorgenommen werden.32 Auch soll im folgenden die geistesgeschichtlich ausgereifte Goetheforschung nicht zur operativen Grundlage der Stimmungsanalysen gemacht werden. Historische Rekonstruktionen liefern zwar weiterhin durch Herstellung ideen-, wissens- und diskursgeschichtlicher Zusammenhänge aufschlussreiche Deutungsperspektiven für Goethes Werke; 33 und bereits zuvor wurden die historischen

29 Siehe zur Rezeption Rousseaus und seiner Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Literatur und Philosophie im 18. Jahrhundert Süßenberger 1974; Guthke 1958; in der jüngeren Forschung Barton 2001. 30 Dies leistet – freilich ohne Werther-Bezug – unter Berücksichtigung des gesamteuropäischen Kontextes Kondylis 1986, S. 576-649. 31 Neben Einflüssen auf sein Werk auch persönliche Begegnungen Goethes mit Pietisten einbeziehend Kemper und Schneider 2001. Siehe jedoch die Argumente gegen „die Theorie vom pietistischen Ursprung“ der Empfindsamkeit bei Sauder 1980, Bd. III, S. IX. 32 Siehe dazu Schöffler 1994 [1938]. Mit komprehensivem Anspruch siehe immer noch Korff 1966; er spricht auch von Stimmung S. 80 u.ö.; Lukács 1947; Staiger 1957; Viëtor 1950; Zimmermann 1979; darin zum Werther Bd. 2, S. 167-212, 312-20. In der Forschung Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Stimmungsbegriff in der Nachfolge Diltheys und Heideggers geläufig. Dies zeigt sich etwa bei Viëtor 1950, S. 63, 83, 150, 160-62 sowie auf beinahe jeder Seite bei Lange 1994 [1964]. 33 Um einige hervorstechende Beispiele in produktiver Hinsicht zu nennen Matussek 1998a; Jäger 1969, S. 93-103; Meyer-Kalkus 1977; Gutbrodt 1995. Letzterer konturiert die formalen Positionen der Figuren des Romans innerhalb der Verschränkung der Diskurse von Liebe, Bürokratie und Recht und nimmt dabei Bezug auf ihrerseits diskursanalytisch orientierte Arbeiten von Barthes und Kittler.

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Entstehungsbedingungen des Sprachgebrauchs der Empfindsamkeit erläutert. 34 Im Anschluss vor allem an Dilthey fand – wie gesagt – auch der Begriff der Stimmung Eingang in entsprechende Arbeiten der Sekundärliteratur bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei aber wird Stimmung im gemeinsamem Auftritt mit Empfindung und Herz, mit Rührung und Tränen auf eine postreligiöse Sprache des inneren Lebens restringiert und in ihrer poetischen Innovativität verkannt. 35 Ergibt sich diese doch gerade aus dem in der Stimmung reanimierten Außen der Gegenständlichkeit, das den Sinnhorizont erst eröffnet, in welchem Subjektivität als eingelassen in Objektbeziehungen sichtbar wird. In der historisch-rekonstruktiven Perspektive der Geistesgeschichte kann nicht hinreichend geklärt werden, wieso Stimmungen mit einem Mal das poetische Gravitationszentrum von Goethes Frühwerk bilden und darin für die Literatur der folgenden Jahrzehnte einen Maßstab an existenzieller Artikulationsfähigkeit setzen. Ohne ein Heraustreten aus geistesgeschichtlicher Linearität lässt sich Stimmung nicht als Form struktureller Bedeutsamkeit analysieren, d.h. als ein Medium verstehen, das das Selbst als eine der Welt einwohnende Resonanzbeziehung fühlbar macht. Denn in ideengeschichtlicher Perspektive bleibt die phänomenale Struktur der Stimmung unterbeleuchtet, wie sie in der Dichtung der Goethezeit variantenreich konfiguriert wird. Einsichten in die mitunter raffinierte Ästhetik der Stimmung sind indes unverzichtbar für ein historisches Verstehen auch ihrer über literaturinterne Entwicklungen hinausgehenden Bedeutung. Die neuartigen Poetisierungen von Stimmung durch metaphorische Ensembles u.a. von Landschaft, Wetter oder Musik, Räumlichkeit und Zeitlichkeit, Transzendenz oder Medialität dürfen deshalb nicht als ornamentales Beiwerk oder als künstlerisch manierierte Ideosynkrasien in der Tradition deutscher Innerlichkeit abgetan werden. Deshalb haben wir im theoretischen Teil A für Stimmungsanalysen ein methodisches Instrumentarium ausgearbeitet, das in systematischer und kritischer Absicht an Dilthey und Heidegger anschließt, indem es deren phänomenologischen Anteile aufgreift. An historischer Synchronie orientierte Diskursanalysen und einflussphilologisch verfahrende Rekonstruktionsarbeiten der Forschung ergänzen unsere ästhetische Erklärung des Stimmungsphänomens.36 Mit Rücksicht auf die literaturhistorische Prominenz des Werther und unserem bei ihm angesetzten Beginn von genuiner Stimmungsdichtung sind die diskurs- und geistesgeschichtlichen Strömungen zwar immer mitzubedenken. Aus ihnen allein jedoch, d.h. ohne phänomenästhetische Analysen, lässt sich die Wertherstimmung und ihre Virulenz nicht hinreichend begreiflich machen. Der durchschlagende Erfolg des von seiner Briefform her konventionell anmu-

34 Zum Wortschatz und zum Begriff der Empfindsamkeit siehe Sauder 1974, Bd. I, S. 7-11; außerdem Lange 1994 [1964]. 35 Vgl. Dörrs Sicht auf Affektdarstellung im Werther, der zuzustimmen ist, nämlich dass der „Zugewinn an Unmittelbarkeit der Darstellung nicht im Dienst der Theodizee“ steht; „vielmehr stehen die Affekte (und deren Darstellung) selbst im Vordergrund, sie sind [...] ästhetischer Zweck.“ (2011, S. 463) 36 Siehe vor allem die Arbeiten von Welsh und Jacobs sowie die Einzeluntersuchungen im Band von Arburg/Rickenbacher 2012.

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tenden Romans37 verdankte sich auch der Tatsache, dass dieses Buch und die mit ihm veröffentlichte und ins Zirkulieren gebrachte Stimmung einen Nerv der Zeit getroffen hatte. Dies war bekanntlich schon Goethe selbst bewusst.38 Solch ein Nerv aber – um im Bild zu bleiben – muss einerseits bereits subkutan gewachsen sein, um mit einem Schnitt blank gelegt werden zu können. Über den Roman selbst hinaus wurde bekanntlich auch sein Erfolg, der zum Teil „skandalösen Charakter“ hatte, unter Zeitgenossen diskutiert, von empörten „Sittenwächter[n]“ ebenso wie von begeisterten Jungintellektuellen. (Th. Mann 1967, S. 7) Waren die auf einem didaktischen Funktions- und Rezeptionsmodus beruhenden Bedenken ersterer von Fragen der Ethik, Tugend und Talentverschwendung geleitet, so die Zustimmung der letzteren durch Sympathie mit den artikulierten Empfindungen, Gefühlen und Sehnsüchten. Hier wurde eine literarische Stimmung, welche die Skala von zartester Empfindsamkeit zu entfesselter Exaltation auffächert, zum Medium individueller wie gesellschaftlicher Selbstreflexion.39 Dieser stimmungsmediale Aspekt des Literarischen findet sich dabei in der Romanfigur selbst vorgebildet. Er ist aufgefächert zu einer Vermittlungsfigur zwischen Welt- und Selbstbeziehungen, insofern diese ehemals metaphysisch gefüllte Dimension historisch vakant geworden war. Werther reflektiert und bezieht bekanntlich die eigene Heiterkeit aus der Lektüre Homers, bei der eine kosmologisch sinnenfreudige Antike imaginiert wird. Dann findet er in der elegischen Düsterkeit Ossians, welche für die ontologische Negativitätserfahrung der aufklärenden Neuzeit stehen mag, eine seiner Existenznot korrespondierende „Herbst- und Niedergangsstimmung“ (Schöffler, S. 62).40 Nicht nur die identifikationskräftige Jugend, sondern Generationen übergreifend fühlten Leser, deren potenzielle Menge durch die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anhebende Alphabetisierungswelle stark angewachsen war, sich von dieser scheinbar nur sentimentalen Liebes- und Selbstopfergeschichte ergriffen. Selbst einem Lessing, der – zwanzig Jahre älter als Goethe – im Anschluss an seinen individualistischen Pietismus seiner Jugendjahre sich lange Zeit gegen die ‚Schwärmerei‘ gewendet hatte, bereitete „ein so warmes Produkt“ wie der Werther großes „Vergnügen“, wie er in einem vielzitierten Brief vom Oktober 1774

37 Dass die Briefe nun aber nur von einer Person geschrieben werden, war neu. Zudem werden die Briefe, wie Staiger feststellt, stets aus dem Drängen einer Stimmung heraus geschrieben. Entsprechend weisen sie stilistische Besonderheiten im Gebrauch der Satzzeichen auf, aber auch durch die Musikalität und „sympathetische Kraft der Sprache“. (19521959, Bd. I, S. 150-52) 38 Vgl. Dichtung und Wahrheit HA IX 588-94, und sich absetzend von Einflüssen der Zeit im Gespräch mit Eckermann vgl. HA IX 534f. Dort ist hinsichtlich von Klopstocks „Hermannsschlacht“ vom Wecken des „Selbstgefühls der Nation“ die Rede, während sein Werther indirekt als Medium der Stimmung der Zeit erscheint. 39 Siehe zur weitläufigen Rezeption und ihrer soziologischen Deutung Scherpe 21975; darin zur materialen Vielfalt der Wirkung einschließlich der Geschichte ihrer Aufarbeitung S. 14f.; ferner zur Wirkung insbesondere im Sinne kultischer und literarischer Nachahmung I. Engel 1986. 40 Zur Bedeutung Ossians siehe Bahr 2004.

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trotz mancher Bedenken bekannte.41 In der letzten Entwicklungsphase seines eigenen Denkens in den 1770er Jahren strebte Lessing bereits nach einer Vermittlung zwischen Gefühl und Vernunft, empfindsamem Herzen und wahrem Glauben, Sinnlichkeit und Verstand sowie Religion und Philosophie.42 Entsprechend konziliant mahnte er zwar „eine kleine kalte Schlußrede“ des Erzählers an, die Werthers herzerwärmenden Charakter „cynisch“ distanzierte und doch dessen „poetische Schönheit“ uneingeschränkt gelten ließe. 43 Die kontrovers geführte Diskussion über die Moral der Suizidgeschichte ging einher mit der Wucht der Wirkung der Leidenschaftsgeschichte auf die empfindsame Stimmung der 1770er Jahre. Die Resonanz der WertherDebatte ging bekanntlich über Deutschland und auch die frühe Goethezeit weit hinaus.44 Mit dem Aufkommen des Sturm-und-Drang – lehrt die Literaturgeschichte – sollte Moral nicht mehr von ethischen Maximen deduziert, vorab rational gesichert, dann poetisch eingekleidet und schließlich mit erzieherischer Absicht dem Publikum zugeführt werden. So sah es die aufklärerische Poetik Gottscheds vor, und noch in Lessings didaktischer Ausrichtung von Literatur wirkte davon etwas nach. Keineswegs wurden Fragen der Moral verworfen, aber sie mussten sich der ästhetischen Gesamtwirkung eines Werks einfügen. Dessen aufklärerische Funktion untersteht nicht mehr den vernünftigen Intentionen seines Autors, sondern vermittelt sich kraft der dichterischen Darstellung menschlichen Handelns, Denkens und Fühlens. Aus deren Ganzheitlichkeit samt individueller und sozialer Bedingungen geht etwa für den Mitstreiter Lenz die „Moralität dieses Romans“ hervor: „Die moralische Wirkung, die das Leben dieses Romans auf die Herzen des Publikums haben könne und haben müsse [...] besteht [darin], daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich fühlt, die er aber nicht beim Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters“.45

Mit einer seit Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik sich entwickelnden Auffassung vom Künstler, nach welcher dessen subtile Vorstellungs- und Darstellungsfähigkeit das Empfindungsvermögen des Publikums verbessern kann und soll, vertei41 Gotthold Ephraim Lessing, Brief an Eschenburg am 26.10.1774; zu Lessings Gegnerschaft gegenüber der Schwärmerei siehe den 49. Brief vom 02.08.1759 in: Briefe, die neueste Literatur betreffend; vgl. und zit. n. Kondylis 1986, S. 599. 42 Vgl. ausführlich zu Lessings Denken und dessen Entwicklungsgang Kondylis 1986, S. 595-615. 43 Lessing, Brief an Eschenburg am 26.10.1774, zit. n. Peter Müller, Zeitkritik und Utopie in Goethes ‚Werther‘, Berlin 1969, S. 159f. 44 Vgl. Grappin 1974, S. 411-21; Hösle 1976; über Frankreich hinaus Hillebrand 1885; zum literarischen Einfluss des Werther in Großbrittannien samt seiner nationalen Vereinnahmung siehe Robyn L. Schiffman 2010, S. 209; ferner zur Wirkung von Goethes Werk insgesamt Hoffmeister 2002. 45 Jakob Reinhold Lenz, ‚Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers‘ (Vortrag von 1776, gehalten vor der Deutschen Gesellschaft in Straßburg), zit. n. HA VI 528f. Dazu Sommerfeld 1922.

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digt Lenz hier die „Moralität der ‚Leiden des jungen Werthers‘“ (HA VI 528f.). Danach gehe es nicht um den „moralischen Endzweck, den sich der Dichter vorgesetzt (denn da hört er auf, Dichter zu sein), sondern die moralische Wirkung, die das Lesen dieses Romans auf die Herzen des Publikums haben könne und müsse“ (ebd.). Die Qualität des Moralischen scheint sich schon aus der Intensität der Wirkung zu ergeben. Hinzu kommt für Lenz’ ästhetischen Moralbegriff „eine gewisse Übereinstimmung aller unserer Kräfte zu einem Ganzen, eine gewisse Harmonie [...], welche eigentlich den wahren Begriff des höchsten Schönen gibt.“46 Wie später bei Schiller und der Weimarer Klassik zeigt sich unter geistesgeschichtlichem Aspekt hier, wie in dem von Herder inspirierten Sturm-und-Drang insgesamt, die seinerzeit verspätet einsetzende Rezeptionswirkung der Werke Leibniz’ und Shaftesburys.47 In Verbindung mit dem Einfluss der in den 1770er Jahren übersetzten Schriften Shaftesburys48 und dem von diesen her gefühlsbetonten Menschenbild vermittelt Leibniz Dichtern wie Lenz einen Harmoniebegriff, der nicht nur auf ein prästabiliertes Weltgefüge, sondern auch auf das objektive Verhältnis von Moral und Schönheit spekulativ bezogen wird.49 Der hinsichtlich des Zusammenspiels von ethischer Anlage und ästhetischer Produktion ergänzend verwendete Begriff der „Übereinstimmung“ lässt den korrelativen Aspekt von Stimmung lexikalisch mit anklingen.50 Jedoch weder in der zeitgenössischen Reflexion über den Werther, noch in 46 Versuch über das erste Prinzipium der Moral (Vortrag, Straßburg 1775), zit. n. Hans Mayers Nachwort in Lenz 1967, S. 795. 47 Beide werden bei Herder nebeneinander mit Locke in einer Reihe weiterer Autoren von Einfluss genannt (JmR 33 u.ö.). 48 Aus dem ideengeschichtlichen Zusammenwirken von Leibniz und Shaftesbury kann die spezifisch deutsche Ausprägung der Spätaufklärung nachvollzogen werden. Kondylis erläutert deren „radikal optimistische und vereinigungsfreudige bzw. monistische Grundhaltung“ (1986, S. 579) als Folge der Verschmelzung dieser beiden Denker. Dabei müsse der Einfluss von Rousseaus positivem Naturbegriff – unter Abstrichen seiner Kulturfeindschaft – hinzugenommen werden. 49 Siehe etwa folgende Stelle dazu in Die Moralisten von Shaftesbury: „Ich bemerkte, daß die kommende Nacht Ihnen wegen der Einsamkeit, die sie mit sich führte, willkommen war, und der Mond und die Sterne, die nun zu leuchten begannen, in Wahrheit die einzig geeignete Gesellschaft für einen Mann in Ihrer Stimmung waren. Denn nun begannen Sie von der Natur und allen Arten von Schönheiten mit großer Befriedigung zu sprechen, den Menschen jedoch immer ausgenommen. Niemals habe ich eine bessere Beschreibung von der Ordnung der himmlischen Lichter, den Kreisen der Wandelsterne und ihren Begleitern gehört.“ (1980, S. 49) Nicht immer aber ist von Stimmung die Rede, wo es um die aus der Antike tradierte Idee der Sphärenharmonie geht, vgl. ebd. 108-109. 50 Übereinstimmung wie auch der semantisch näher am Stimmungsbegriff liegende Einklang (vgl. lat. consonantia und concordia sowie griech. harmonia) sind nicht nur gängige Begriffe im poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, sondern auch Motive in poetischen Texten. So auch in Goethes Werther – wie schon bei Rousseau – gehören Übereinstimmung oder Einklang der Herzen, Seelen, Urteile oder Empfindungen zum Repertoire des Liebesdiskurses in petrarkistischer Tradition. Vgl. auch eines der Vorbilder des Werther, nämlich Rousseaus Julie oder Die neue Héloise (1978, S. 32, 354f. u.ö.). Hierzu näher

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diesem selbst wird das Wort Stimmung verwendet. Eine gewisse Ausnahme bildet die negative und transitive Verbalform ‚verstimmen‘ (vgl. LjW 108). Dem Phänomengehalt nach aber, wie er in den Folgejahren auch von der Begriffsbildung zum historisch längst gegenwärtigen Sachverhalt erfasst wird, ist Stimmung im Werther ästhetisch bereits präsent und für dessen textuelle Organisation strukturbildend. In solcher literarisch manifesten Form, d.h. als Darstellung von ontologisch Ungesichertem und zwischen Psychischem und Physischem Schwebendem, aber wird die Stimmung als ein ästhetisches Phänomen wirksam. Es macht gewissermaßen subthematisch Geschichte seit die psychokulturellen Folgen des Niedergangs der klassischen Metaphysik samt ihrer ontologischen Halterungen nicht mehr verdrängt oder übersehen werden können. Um das literarische Stimmungsphänomen, dessen historische Einführungskonstellation nun zumindest vage verortet ist, näher zu bestimmen, sollen im folgenden die Strukturen seiner Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Medialität untersucht werden. Denn diese sind es nach unserer These, die Werthers Stimmungen tragen und sich dem Leser übertragen.51

4. P OETISCHE R ÄUMLICHKEIT Von Entfernung und Näherung

Dem in Herders Reisejournal von 1769 artikulierten Jubel über einen dezentrierten Schwebezustand auf der Seefahrt zu neuen Ufern entspricht im Werther eine Stimmung, deren dynamische Gehobenheit ihrerseits durch eine Metaphorik des Schwebens versprachlicht ist. Wie in der aus dem ersten Brief angeführten Maienkäferphantasie kommt sie auch im zweiten und dritten Brief als Teil einer Rhetorik zum Tragen, welche an der Poiese einer primärszenischen Stimmung arbeitet. Die Schwebemetaphorik ist dabei Teil einer weiteren rhetorisch-topologischen Konstellation. Allerdings als Teil fürs Ganze der poetischen Stimmung stehend bildet sie im Brief vom 10. Mai, wenn schon nicht die Grundlage, dann bildgemäß eine Art Höhenlage der Stimmung. In ihr sammeln sich die Übertragungsenergien der Sprachbildlichkeit und verdichten sich zu raumästhetischer Evidenz. Zunächst zeigt sich die überfließende Bewegung einer Subjektivität, die sich als Rückfluss aus einer ‚paradiesischen‘ Gegend erfährt. Nach vollzogenem Abschied von zuhause verwandelt sich die Erfahrung geographischer Ferne in die einer existenzialen Nähe. Der erste Brief berichtet bereits von einer Befindlichkeit, in der das Heraustreten aus dem Vertrauten in eine Einsamkeit mit erhöhter Selbst- und WeltJacques Voisine 1994; außerdem C. Wellbery 1986, S. 236ff. Hingegen markiert Niels Werber einen zentralen Unterschied zum Werther, wenn er Rousseaus Héloise durch eine „heteronome, didaktische Pragmatik des Textes“ (2003, S. 98) bestimmt sieht. Auch Meyer-Kalkus hebt einen Unterschied hervor: „Liebe, die zu tugendhafter Mäßigung und Verzicht ebenso unfähig ist wie zu männlichem Begehren“ (1977, S. 104); vgl. bereits Gundolf 1967 [1916], S. 178ff. 51 Bei unserer medialen Auffassung von Stimmung geht es hingegen nicht um eine „Überschreitung der Medialität“, wobei letztere Bewusstheit voraussetzt, hin auf Unmittelbarkeit, wie es die These ist von Andree 2006, S. 138.

II. RAUM UND K ONFIGURATION

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vertrautheit („köstliche Balsam“) führt. Mit Heideggers Analyse von „Räumlichkeit des In-der-Welt-seins“ lässt sich hier von „Ent-fernung“ in einer „aktiven und transitiven Bedeutung“ sprechen, d.h. Werther entdeckt seine Entferntheit diesseits von Abstand von zuhause als Nähe zu sich in der Welt. (SuZ 104f.) Konkret erschließt sich Werthers Allein-sein aus einem gestimmten Naturraum, indem es sich selbst als in diesem enthalten auffindet. Der Briefschreiber äußert seine helle und sogar heilige Lebensfreude in einer als kongenial gefeierten Seelen-Landschaft, was phänomenologisch dem Sich-Spüren an einem Hier und Jetzt im Naturraum erklären lässt. 52 Berichtet wird ein unfassbares, ihn ganz umfassendes Glück in der alles bergenden oder eben tragenden Mutter-Natur. Der Naturraum konkretisiert sich zum Ort des Selbstgefühls. Die Stimmung ist der Frühlingsmorgen, der jedes Handeln überflüssig und die Kontemplation zum Genuss macht: „Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele [/] eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die [/] ich mit ganzem Herzen geniesse. Ich bin so allein [/] und freue mich so meines Lebens, in dieser Gegend, [/] die für solche Seelen [/] geschaffen ist, wie die meine.“ (LjW 14)

Durch die hier von uns eingefügten Zeichen für mögliche Verszeilenbrüche [/] soll versuchsweise und beispielhaft für weite Strecken vor allem des Ersten Teiles angedeutet werden, wie Goethes rhythmische Prosa eine Sprache verwendet, die beinahe auch als freie Rhythmen, also wie metrisch ungebundene Lyrik gelesen werden könnte.53 Es kommt also nicht auf die von uns gesetzte Länge der Verszeilen und damit die Anzahl der Hebungen an. Sondern nur auf das Aufzeigen der poetischen Möglichkeit, wie dargestellte Stimmung als Inhalt einer eigenrhythmischen Versform eingepasst werden kann, um sie im sprachlichen Ausdruck frei zum Erklingen zu bringen. Am Versende bzw. dem damit teilweise zusammenfallenden Satzteilenden der ersten zwei Sätze alterniert danach – nämlich als Gegenstand der Aussage bzw. Prädikation – Subjektives mit Objektivem: Seele / Frühlingsmorgen / Alleinsein des Ich / Gegend / Seelen ... wie die meine. Über dieses lebendige Hin und Her zwischen den Bereichen des Seelischen und der Ich-Befindlichkeit einerseits und andererseits der „Gegend“, des Jahres- und Tageszeitlichen sowie Landschaftlichen baut sich ein Wechselbezug auf, der die Stimmung gleichermaßen semantisch und rhythmisch als Relationsgefüge organisiert. Zugleich wird damit die anfangs thematische Gemüts- und Frühlingsstimmung ‚Heiterkeit‘ mit dem am Ende thematischen Füreinander-Geschaffensein von Gegend und Seele als eine Stimmung formaler Komplementarität verschmolzen. Dadurch wird deutlicher, dass das gänzlich Eingenommensein der Seele aus einer Heiterkeit her52 Siehe zum Thema Landschaft im Werther Herrmann, in ders. 1994, S. 360-81; ferner Zons 1981. 53 Damit greifen wir einen Hinweis von Trunz in seinen Anmerkungen der Hamburger Ausgabe auf. Mit Bezug freilich auf den zweiten Teil des Briefes vom 10. Mai 1771 sieht er die sich dort einstellende Nähe zur lyrischen Sprache als bezeichnend für das erstmalige Aussprechen von „Werthers religiöse[r] Sehnsucht“ an. (HA 566) Zur Sprache im Werther mit ihrer poetischen Suggestivität und Exklamativität siehe Müller-Salget 1981.

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rührt, welche ursprünglich diejenige der morgendlich-lebendigen Frühlingslandschaft ist. Dieses Primat der Äußerlichkeit der Stimmung vor ihrer Innerlichkeit lässt sie als ebenso „wunderbar“ erscheinen wie die Schöpfung Gottes als Geschaffenwordensein der Welt „für“ ein „Ich“: „Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Daseyn versunken, daß meine Kunst darunter leidet. Ich könnte jetzt nicht zeichnen, nicht einen Strich, und bin niemalen ein grösserer Mahler gewesen als in diesen Augenblicken.“ (LjW 14)

Mit der Aufgabe der cartesianischen Ich-Haltung gegen-über einer Welt abständig erkennbarer Dinge stellt sich die überwältigende Stimmung eines immersiven Glücks als Im-Raum-sein ein. Es lässt die objektschematische Raumreduktion hinter sich, indem es buchstäblich zum In-der-(G)Lücke-sein54 zwischen res cogitans und res extensa wird. Descartes Denkpunkt dehnt sich hier in und mit der Ausdehnung des Substanzraums und hebt den Dualismus in die Schwebe. Werthers Raum der Natur erscheint nicht als konstruiertes Dort, sondern ist existenziales Hier. Der im epistemischen Dual aufgesprungene Spalt zwischen (normativem) Geist und (kausaler) Materie ist mit „dem Gefühle von ruhigem Dasein“ in dem Übermaße gefüllt, wie das Subjekt sich als Teil einer lebendigen Natur verlebendigt erfährt und das Denkende selbst als zu deren Bewegung gehörig erscheint. Nicht das aktivistische Ethos des Schöpferischen, sondern das partizipatorische Pathos des Gestimmten machen das Genie der Wertherfigur aus, wenn der Geniebegriff nicht in die Irre führen soll. 55 54 Mit dem etymologischen Zusammenhang von G-lück und Lück-e greifen wir eine Beobachtung von Hörisch 1983 auf. Er nutzt sie für seine von der Lacanschen Psychoanalyse getragene Deutung der großen Bildungsromane nach deren ‚Logik der Liebe‘: „[D]as Glück der Liebe füllt die Lücke, die bei der Initiation des wünschenden infans in die symbolische Ordnung der Intersubjektivität sich bildete. Wenn die Bildungsromane Glück als liebevolle Supplementierung von pathogenetisch geschlagenen Lücken begreifen, so können sie sich überdies auf die Etymologie des Wortes ‚Glück‘ berufen. ‚Die Bemühungen der Wortforscher sind bey diesem Worte bisher nicht glücklich gewesen‘, heißt es 1775 im entsprechenden Artikel aus Adelung, Wörterbuch, Bd. II, S. 725. Willy Sanders gründliche Forschung hat erst 190 Jahre später überzeugend plausibel machen können, daß ‚gelücke‘ im 12. Jahrhundert zum ‚regelrechten ‚Modewort‘ wird, daß ‚gelücke‘ mit dem französischen Schicksalsbegriff ‚destinée‘ innerlich und äußerlich kongruiert und daß als ‚Urbedeutung‘ von ‚gilukki > gelücke‘ ‚Beschluß, Festsetzung, Bestimmung‘ anzusehen ist. Sanders weist überdies ‚Lücke ... als nächstverwandtes Wort zu Glück‘ aus“. (S. 23f.) Hörisch weist auf Goethes Anspielungen auf diese Wortverwandtschaft im Wilhelm Meister hin und stützt damit die zentrale Deutungsperspektive seiner Analyse. Zitate aus Sanders 1965, S. 203, 211, 259, 241. Vgl. dazu im Werther die exklamative Reflexion von Lücke als negatives In-Sein: „Ach diese Lükke! Diese entsetzliche Lükke, die ich hier in meinem Busen fühle! [...] All diese Lükke würde ausgefüllt seyn.“ (LjW 172; vgl. „die Lükke fühlen“ LjW 174) 55 Dies aber scheint der Fall zu sein, wo im historischen Anschluss ans 19. Jahrhundert die Generation Gundolfs vom Titanismus beim jungen Goethe sprach und noch Saul Werther als „Storm and Stress titan – the titan of sentimentality“ (2002, S. 29) bezeichnet.

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Diese ‚Mit-Lebendigkeit‘ von Denken und Dingen oder von „Seele“ und „Gegend“ erlaubt ein Versinken in einem Daseinsgefühl „so ganz“, dass von diesem noch der Impuls zum Kunstschaffen beruhigt wird. Denn die Immersion in die schaffende Natur macht für Werther das schöpferische Gegenspiel der Kunst überflüssig, da das Ich – selbst Natur seiend – bereits mitschaffend und also kein „größerer Mahler“ sein kann.56 In „diesen Augenblicken“ einer ekstatischen Entdifferenzierung von psychischem Innen und physikalischem Außen, von Ich und Natur offenbart sich die Einheit derselben als Koinzidenz von natura naturans und natura naturata. In solcher autokreativen Augenblicksganzheit der Natur erlöschen also die Kunst und das Ich nicht, sondern sie sind ins emphatische Jetzt einer Stimmung einbezogen und im Sinne Heideggers gelichtet. Denn in der sowohl als schöpferisches Subjekt wie als „größerer“ Kunst ontologisch aufgefassten Natur ist Werthers Ich sich existenziell gegenwärtiger als unter dem malerischen „Strich“ künstlerischer Aktivität.57 Dabei wäre er gerade als Maler, im Sinne Lessings kunsttheoretischer Ausführungen zum Laokoon (Lessing 2007), dazu in der Lage, den gestimmten Augenblick zwischen Natur und Ich durch deren Nebeneinanderordnung im Bildraum darzustellen. Gewissermaßen entgegen Lessings prinzipieller Unterscheidung von Poesie als Zeit-Kunst und Malerei als Raum-Kunst wie auch entgegen seiner Berufung zum Maler (vgl. Aurnhammer 1995) ordnet der Briefschreiber Werther seine zeitlich aufeinander folgenden Worte zu einer Konstellation räumlich kopräsenter Zeichen. Nur so nämlich lässt sich der Komplexität eines Gegenstandes wie der Stimmung beikommen, der gerade in einer (zeitlichen) Flüchtigkeit im Raum und einer (räumlichen) Situativität in der Zeit besteht – somit eigentlich: sich bewegt. Denn die darzustellenden Gegenstände sind nicht die empfindsame oder schöne Seele einerseits, die schöne oder erhabene Natur andererseits, deren Nebeneinander allenfalls durch ein zeitlich abfolgendes Bezugnehmen aufeinander harmonisiert würde. Vielmehr ist Gegenstand der Darstellung die wechselseitige Ein-Beziehungsbewegung als Konstitutionsgrund beider und damit das raum-zeitliche Phänomen eines Zwischen oder Dazwischen-drin-sein. Dessen dynamische Struktur bezeichnet – man möchte sagen: bekennt – Werther im abschließenden Satz dieses Briefes als erhabene „Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen“, unter der seine Subjektivität „erliege“, da sein Ich „darüber zu Grunde“ gehe und im wörtlichen Sinn zum subiectum wird. (LjW 14) Semiotisch formuliert: nicht wird hier Bedeutung durch Dinge oder durch Sachverhalte bezeichnende Zeichen und deren Bezüge aufeinander hervorgebracht. Sondern die Bedeutung ‚Stimmung‘ geht aus dem ästhetischen Zusammenspiel solcher Zeichen hervor, die ihrerseits semantische Identität erst aus der un56 Die Darstellung solchen imaginativen Teil-Nehmens oder -habens am autopoietischen Schaffen der Natur bedarf indes zu ihrer künstlerischen ‚Lichtung‘ eines Autors wie Goethe. 57 Trunz’ Kommentar zu dieser Stelle verweist auf die intertextuelle Anspielung auf Lessings Emilia Galotti. Er blendet dabei den Aspekt imaginativen Mitschaffens aus, wenn er Werther hier als bloß träumenden Dilettanten Conti gegenüberstellt, der durch „inneren Zwang des Schaffens“ echtes Künstlertum beweise. (HA 566) Auf das Thema Dilettantismus gehen wir weiter unten ein. Siehe zur Bedeutung von Werthers Lessinglektüre Duncan 1982; Eyck und Arens 2004.

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gestillten Differenz beziehen, die sie durch fortlaufendes Verweisen aufeinander erzeugen. Der ästhetisch präzise Zeichengebrauch der scheinbar nur empfindsamen Briefzeilen ist auch im Fortgang der Textstelle entsprechend weder auf das Subjekt noch das Objekt der Stimmung, sondern auf dieselbe als beide übersteigendes Bezugsgebilde konzentriert, was dann durch die Schwebe-Metapher angezeigt wird. Im übrigen folgt Goethes Roman hier Lessings Empfehlungen an die Dichter darin, dass er kaum einmal ausführlich die gefeierte Natur beschreibt und auch dann das Ich aus seiner ‚herrlichen Gegend‘ nicht charakteristisch hervortreten lässt: „Wenn das liebe Thal um mich dampft, und die hohe Sonne an der Oberfläche der undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes ruht, und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligthum stehlen, und ich dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und näher an der Erde tausend mannigfaltige Gräsgen mir merkwürdig werden“. (LjW 14)

Tal, Sonne, Finsternis und Wald werden durch die Adjektive (lieb, hoch, undurchdringlich, mein) eng an die Perspektive des Wahrgenommenwerdens zurückgebunden. Sie bleiben in der Darstellung aber Gegenstände des Bewusstseins und werden nicht zu dessen Elementen erklärt. Eher umgekehrt löst sich das Subjekt bewusster Wahrnehmung im Eindruck solcher Natur, insbesondere durch sein Innen-sein im Heiligtum Wald58, beinahe auf (dampft, ruht, sich stehlen, liegen). Es tendiert auf sein eigenstes Aufgehobenwerden, indem es von der ‚dampfenden‘ Umgebungsqualität (liebes Tal) mit in die Schwebe einer tragenden Stimmungsbewegung gehoben wird. Zu dieser fast schon erdrückend gehobenen Stimmung trägt auch die Vertikalität bei, die durch ‚Tal‘, ‚hohe Sonne‘, die ‚Oberfläche‘ des Hochwaldes, ‚einzelne Strahlen‘, ‚hohes Gras‘, ‚fallender Bach‘ aufgespannt ist. Diese Wahrnehmungsvertikalität versinnlicht indes nicht nur eine meta-physische Stimmung einer über allem schwebenden Ordnung, sondern vergeistigt auch die physischen Bewegungs- bzw. Befindlichkeitsverben (dampfen, ruhen, fallen, liegen). Werthers Ruhen ist nicht das eines im frommen Gottesvertrauen substanzlogisch teilhabenden Subjekts. Es erscheint trotz seiner Demut bereits modern als ein nur für ‚diese‘ besonderen „Augenblicke“ Zur-Ruhe-Kommen – wie die „hohe Sonne“ im Zenit für einen kairologisch stillgestellten Moment zu ruhen scheint und Leser nach Nietzsche an den großen Mittag und dessen ontologische Implikationen erinnert. Dieses Liegen im hohen Gras, das sich potenziell immer etwas wiegt („Wehen“), erscheint als horizontal angelegte Relation zur Tief-Hoch-Bewegung. Eine emotional bewegte Ruhe des Selbst inmitten einer Weltbewegung („um mich“), deren Wirkung eine eigenleibliche Nähe zur Mutter-Erde spürbar macht. Die mit solcher paradiesischen Naturerfahrung verbundene Tendenz zu „kosmo-matriarchalischen Holismen“59 wird für Werther in der verwandelten Form seines Liebesabsolutismus fatale Folgen haben. In ästhetischer Hinsicht 58 Diese Waldstimmung ist ein frühes literarisches Zeugnis der seit Klopstock anhebenden, in der Romantik etablierten Verklärung des Waldes zu einem mythopoetischen Raum, wozu auch der Topos vom Waldesdom gehört. 59 Diese Begriffsbildung übernehmen wir von Sloterdijk 1999, S. 293.

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berichtet Werthers Brief hier indes von einer ‚draußen‘ im Wahrnehmungsraum sich einstellenden „innere[n] Stimmung“, deren Kontemplation Schopenhauer mit der „rein objektive[n] Anschauung“ in Stillleben und der Landschaftsmalerei verbindet.60 Bevor es zu Werthers Kontemplation eines Naturinnenraums mit seinen schwebenden Resonanzen zwischen Kleinstem („Würmgen“) und Größten („Allmächtigen“) kommt, das sich psychologisch als imaginäre Wiedereinnistung im Uterus„Thal“ lesen ließe, können wir die raumpoetische Einführung in die Evokation der Schwebe-Stimmung resümieren. Sie erfolgt als schrittweise Schrumpfung eines Resonanzraumes, den Sloterdijks Theorie der Sphären als eine Anthropologie des Heideggerschen In-der-Welt-seins entwickelt und psychogenetisch zurückspekuliert bis zur fötalen Blase mit ihrer plazentalen Dyadik. 61 Werthers Raumschrumpfung führt indes zu keiner Verengung der Gefühlslage, wenn diese vom Weite-Maximum der heiteren „Gegend“, über die fernsichtliche Anmut des „liebe[n] Thal[s]“, in eine ‚heilig‘ schützende Eigenraumhülle („Finsterniß meines Waldes“), und schließlich ins Nähe-„Gras“ mit seiner nabelschnurmetaphorischen Wasserversorgung („am fallenden Bache liege“) regrediert. Vielmehr bringt es eine äußere Kleiner-Formatierung von „innere[m]“ Extensionsgefühl („Heiligthum“) mit sich. Denn der Textfluss hält durch raumpoetische Indikatoren die Resonanzbeziehung über- und durchgängig intakt, welche die Stimmung ausmacht. Sie konfigurieren die Elemente der objektiven Landschaft (Frühlingsmorgen, Gegend, Tal, Sonne, Finsternis, Wald, Strahlen, Heiligtum, Gras, Bach) mit denen der subjektiven Existenz (Heiterkeit, Seele, Gefühl, Dasein, Kunst, Augenblick) zur strukturierten Einheit eines ästhetischen Ensembles. Zu solchen Indikatoren zählen hier Possesiv- und Demonstrativpronomen: „meines Lebens“, „dieser Gegend“; Präfixe, Präpositionen und Präpositionalausdrücke: „Seele eingenommen“, „Dasein versunken“, „in dieser Gegend“, deren Geschaffensein „für solche Seelen“, „meine Kunst darunter leidet“, „Tal um mich dampft“, „Sonne an der Oberfläche“ u.a. So wenig wie die heiter eingenommene Seele ein ausdehnungsloses Fühlendes (vgl. Descartes res cogitans) in oder bloß gegenüber einer ausgedehnten Gegend (vgl. res extensa) ist, so wenig ist das Tal ein vom Ich abgeschlossener oder dasselbe als Position enthaltender Behälter-Raum im Sinne 60 Schopenhauer: „Innere Stimmung, Übergewicht des Erkennens über das Wollen [...]. So viel leistet ganz allein die innere Kraft eines künstlerischen Gemütes: aber erleichtert und von außen befördert wird jene rein objektive Gemütsstimmung durch entgegenkommende Objekte, durch die zu ihrem Anschauen einladende, ja sich aufdringende Fülle der schönen Natur.“ (1960, S. 280f.) Vgl. die „Poetische Landschaftsmalerei“ in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1990, § 80, S. 288-292). 61 Daneben werden phylogenetische Perspektiven an einem reichhaltigen Korpus kulturhistorischer Zeugnisse entwickelt. Diese als philosophische Großtheorie entfaltete Sphärologie integriert psychoanalytische, phänomenologische, kulturanthropologische, metaphysikhistorische, ästhetikgeschichtliche und gegenwartsdiagnostische Dimensionen zu einem originär poetischen Raumdenken. Dennoch bezieht dasselbe sich kaum einmal näher auf literarisches Material. Ungeachtet dessen findet eine Literaturwissenschaft von ästhetischen Stimmungen in Sloterdijks Sphären-Trilogie einen weit aufgefächerten Theoriegegenhalt in Form philosophischer Reflexion. Sloterdijk 1998-2004; hier vor allem Bd. 1 Mikrosphärologie, Blasen (1998).

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Newtons. Vielmehr erscheinen sie als etwas ineinander Ausgedehntes oder aufeinander Eingelassenes, deren Grenzen durchlässig, mehr verbindend als trennend sind. Zwar spricht Werther von der „undurchdringlichen Finsterniß meines Waldes“ und man konnte meinen, er rede von monadisch geschlossener Innerlichkeit. Jedoch ist erstens sein Wald zunächst etwas ihn Umgebendes und nur als solches Außen auch ein Raum, der für Innerlichkeiten oder zeitliche Einräumungen offen ist. Zweitens und nun erschlossen als rundum- und aufgespanntes Expansionsgefühl ist dieses Wald-Selbst seinerseits ein Modus von In-der-Welt-sein – näher am Text: von Unter-der-Sonne-sein. Denn es sind deren Strahlen, die durch das Laubkronendach hindurch „sich in das innere Heiligthum stehlen“ und dessen Empfänglichkeit für profane Außenkontakte beweisen. Dass es nur „einzelne Strahlen“ sind, ist erhellend für die zweifache Gefühlsqualität von Enthalten- und Geborgensein einerseits und Offen- oder Durchlässigsein andererseits. Dadurch lässt sich die poetische Räumlichkeit hier weniger als Ein- oder Verschalung von Entitäten begreifen als vielmehr über metaphorische Auswölbungen, in denen Lebewesen – besser: Schwebe-Wesen von Membranen umgeben sind. 62 Diese für Impulse des anderen, Substanzen der Welt oder „Strahlen“ des Realen durchlässige Membran-„Oberfläche“ unterscheidet Werthers „Wald“-Innen-Raum zumal von Platons Illusions-Höhle ebenso wie von dem locus amoenus der Idylle, insofern mit diesem ein sentimentalischer Utopismus verbunden ist.63 Zur ästhetischen Evidenz der Kontiguität von Innen und Außen, deren Dualität in der Stimmung zu Drittfiguren von innerem Äußeren und äußerem Inneren aufgehoben wird, trägt an dieser Stelle schließlich die Darstellung des Licht-FinsternisVerhältnisses bei. Diese in der Aufklärung einmal mehr beliebte Hell-DunkelMetaphorik zeigt an zitierter Stelle, wie der mit der Sonne codierte Komplex aus Licht und Vernunft, Oben und Gott, Himmel und Klarheit kontrastiv und zugleich konstitutiv aufgelagert ist auf einer nicht minder komplexen Schicht. Nur deren Finsternis lässt Licht-„Strahlen“ sichtbar werden (die sich dazu nämlich hineinstehlen müssen); erst das „innere Heiligthum“ kann das Transzendente Gottes bezeugen; schließlich lässt die abgedunkelte Diffusion die aufklärende Vernunft zum Vorschein kommen.

62 Zu den philosophischen Implikationen, die über den Wortspielcharakter von Lebewesen als Schwebewesen hinausgehen, siehe Sloterdijk, der das ästhetisch interessantere SchwebenZwischen vom traditionell metaphysischen Schweben-Über unterscheidet und anschließt an Schulz 1985. Sloterdijk und Heinrichs 2006, S. 340-43. Die Metapher der Membran benutzt Sloterdijk 1998 durchgängig. 63 Zur „Erzählweise der Idyllik“ sowie den sprachlich induzierten „Stimmungswerten“ im stilgeschichtlichen Zusammenhang siehe Lange 1994, S. 196, 199. Zur Neuthematisierung der Idylle der Aufklärung fand eine geistes- und sozialwissenschaftliche Tagung in der Villa Vigoni unter dem Titel statt: Künstliche Natürlichkeit. Die Naivität der Idylle als Fantasma, Utopie und Überwindungstopos (Koordination: Nina Birkner, York-Gothart Mix, Arbogast, 16.02.–19.02.2011).

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5. S CHWEBEND

IN DER

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G EGEND

Die konfigurative Stimmung als das literarisch Neue

Die nächste Sequenz innerhalb des Zitats („dann“) führt auf die Wiese am Bach, heraus aus dem Waldinneren zur Lichtung. Die raumrelationale Strukturbildung wird weitergeführt durch die Horizontalität des Liegens im „hohen Grase“, wobei das Vertikale durch die Sonne-Waldfinsternis-Metaphorik schon vorbereitet ist und die kontrastive Evidenz der Stimmung weiter aufbereitet. Die maximale Berührung der Oberflächen vom eigenen Körper und dem der Mutter-Erde erscheint als eine letzte Bewegung im Naturraum. Mit ihr wird die Imagination vom Körper zur Leiberfahrung stillgelegt („Liegen“), der Raum als das Umsichtige der Umwelt (vgl. SuZ § 23f.) senkt sich zum Ort als gefühltes Hier. Mit dieser Inversion von räumlichem Inder-Welt-sein zu örtlichem Auf-der-Welt-sein wird das Schweben ausgelöst. Dieser vertikalen Bewegung von Stimmung geht eine horizontale Näheerfahrung voraus, in der noch das kleinste Seiende ontologisch „merkwürdig“, d.h. synekdochisch zum Ereignis von Sein wird. Wegen dieser starken metonymischen Bedeutungsfigur wird hier erst eine mikrophysische Pluralität („tausend mannigfaltige Gräsgen“) im Ansatz inventarisiert, um dann den dadurch erst zum Zünden gebrachten Bezug zum makro(- meta)physischen Ganzen für weiteren Stimmungsauftrieb freizusetzen: „Wenn ich das Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzähligen, unergründlichen Gestalten, all der Würmgen, der Mückgen, näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns all nach seinem Bilde schuf, das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält.“ (LjW 14)

An diesem typisch Wertherschen In-der-Natur-sein sollen nun die stimmungsästhetischem Aspekte der Raum-Wahrnehmung, der Bewegung am Ort, des SchwebeGefühls und das Ereignishafte hervorgehoben werden. Werther schreibt, er „fühle“, wo man infolge der gegenständlichen Differenziertheit und phänomenalen Kleinteiligkeit ‚beobachten‘ erwarten müsste. Noch die negativen Präfixe in „unzähligen, unergründlichen Gestalten“ zeigen nicht nur das reflektierte Scheitern an einem für humane Fakultäten ‚Allzu-kleinen‘ und damit ästhetisch Erhabenen; sie setzen auch Raumwahrnehmung und sogar Bewusstsein von derselben zumindest voraus.64 Wahrgenommen wird nichts partikular Fixiertes, sondern die chaotische Schwarmbewegung eines örtlichen „Wimmeln“; nichts lokal Isoliertes im Sichtfeld eines positionalen Beobachtungsraums, sondern die imaginative Teilnahme an der Kohabitation von Kleinlebe- und Schwebewesen („all der Würmgen, der Mückgen“) in einem mikrosphärischen Lebensraum („der kleinen Welt zwischen Halmen“). Werther ist hierbei nicht einfach ein naturfrommer Schwärmer, der nichts als seine Gefühlsbegeisterung umkreist. Wohl aber ist er als enthusiastisch Gestimm64 Ohne dass Werther – wie Schopenhauer (1960) selbst es dann erklärt – die „ästhetische Kontemplation“ in systematische „Relationen“ zu Ideen und Vermögen setzt, skizziert sein Brief die im 18. Jahrhundert wiederentdeckte „Stimmung, welche man das Gefühl des Erhabenen genannt hat.“ (S. 286f., vgl. 294) Zum Erhabenen im Anschluss an seine postmoderne Renaissance mit Bezug auf Werther siehe Walker 1999.

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ter von einer sinnlichen und imaginativ befeuerten Wahrnehmung geleitet. Sie führt in die Ekstatik einer Stimmung, die sich zunächst als das Schema eines objektiven Gefühls bewährt, bevor sie subjektiven Reflexionen bis hin zu metaphysischen Spekulationen die Bahn bricht. Was in Werthers Gefühlsschema unter anderem wahrgenommen wird, heißt in der Psychologie seit ihres empirischen und theoretischen Fortschritts im 20. Jahrhundert Gestalt, d.h. dasjenige Ganze an einem Wahrnehmungsphänomen, was mehr als die Summe seiner Teile ist. Bemerkenswerterweise spricht schon Werther von „Gestalten“ – wenn auch bezüglich der Insekten; diese können weder in ihrer „unzähligen“ Einzelheit, noch in ihrer „unergründlichen“ Gesamtheit zur Erscheinung kommen; sondern – wie gesagt – nur als ein bewegtes Strukturganzes („Wimmeln“). Und auch dieses nicht abstrakt, sondern auf dem elementaren Unter- oder Hintergrund „der kleinen Welt zwischen Halmen“. Das visuell undurchdringliche Dickicht einer Wiese bildet die komplexe Wahrnehmungsgrundierung, welche überhaupt erst die Konturierung von „Gestalten“ ermöglicht.65 Werthers Stimmung kann hier gestaltästhetisch als strukturaler Effekt einer Zwischen-Räumlichkeit („zwischen den Halmen“) aufgefasst werden, die das Hervortreten von fließenden Umrissen auf dem Wahrnehmungsfeld erlaubt und sich potenziell mit diesen wandelt. Diese wahrnehmungsgeleitete Gefühlseinheit ‚Stimmung‘ ist in theoretischer Hinsicht affektfrei und emotionsneutral. Dies mag umso erstaunlicher anmuten, als dass Goethe sie mit dem Begriff des „ganze[n] Herzen“ benennt. Tatsächlich zeigt er ja keinen Stimmungstheoretiker, der sich einer Selbstanalyse unterzieht, sondern einen jungen Briefschreiber, der sein Erleben von Stimmung beschreibt, d.h. die von der Wahrnehmung ausgelösten Affekte und sich ihr anheftenden Emotionen sogleich beifügt. Durchaus erfolgt dies jedoch in der phänomenologisch korrekten Reihenfolge und angemessenen Gewichtung zwischen Subjekt- und Objektseite des Gefühls, deren relationales Zusammenspiel die Grundlage unserer Analyse und Deutung bildet. Erst werden die Gegenstände, dann die Empfindungen benannt; Wahrgenommenes wird zunächst als Phänomen erfasst, erst anschließend auch im Wahrnehmungsbewusstsein reflektiert. Das Fühlen wird nun durch die rhetorische Figur des Chiasmus zum Kreuzungspunkt des Phänomenalen und Sentimentalen, von Erfahrenem und Vorgestelltem: „Gestalten, all der Würmgen, der Mückgen, näher an meinem Herzen fühle, und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf [...]“. (LjW 14, Hvh. St.H.) Inmitten des Satzes schlägt das Fühlen der „kleinen 65 Vgl. Merleau-Ponty (1966, S. 22) zu den Erkenntnissen der Gestaltpsychologie: „Vielmehr definiert sie das Wahrnehmungsphänomen als solches; sie bestimmt die notwendige Bedingung, unter der überhaupt ein Phänomen als Wahrnehmung angesprochen zu werden vermag. Stets liegt das ‚Etwas‘ der Wahrnehmung im Umkreis von Anderem, stets ist es Teil eines ‚Feldes‘. Nie vermöchte eine schlechthin homogene Fläche, aus der durchaus nichts wahrzunehmen wäre, Gegenstand einer Wahrnehmung zu werden.“ (Hvh. i.O.) Es wäre nach der Funktion der Stimmung für die räumliche Wahrnehmung jenes Umkreises von Anderem zu fragen, für das Feldgefühl. Möglichweise ließe sich die Stimmung als das Wahrnehmungsphänomen näher erläutern, das vom Gegenständlichen und Ichhaften soweit abstrahiert, dass ein Gefühl für deren strukturelle Relationalität und damit das für Wahrnehmungsbewusstsein notwendige Minimum an Ganzheit entsteht.

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Welt“ des kreatürlich Ohnmächtigen um ins Fühlen des „Allmächtigen“ als Weltenund Menschenschöpfer in actu und in situ. Geistes- und ideengeschichtliche Interpreten könnten an dieser Stelle den Einfluss der Theologie samt ihrer durch das gesamte 18. Jahrhundert geführten Kontroversen über Pietismus, Deismus und vor allem Pantheismus plausibel machen. Insbesondere könnte die gedankliche Nähe zum physikotheologischen Gottesbeweis dargelegt werden, insofern auch Werther intelligent abgestimmte Schöpfungsverhältnisse in den zweckhaften Miniaturwelten von Flora und Fauna zu erblicken scheint. Während Kant den argumentativen Nachweis führte, das die Physikotheologie sich nur als physische Teleologie halten lässt, schaltet Goethe auf poetische Weise – dies zeigt die Stimmungsanalyse – die theologische Spekulation mit der sinnlichen Erfahrung in einem Satz zusammen. Werther will nichts beweisen, seinen Freund auch nicht von etwas überzeugen. Es soll etwas von seiner Lage und Erregung gezeigt werden. An dieser Stelle vor allem die erhabene Dimension von Stimmung als einer überwältigenden, Subjektivität und Gegenständlichkeit auflösenden Kraft. Wahrgenommenes und Transzendentes werden beide auf der Ebene des Gefühls und auf dieser ineinander übergehend angesiedelt, wobei die Würmchen-Wahrnehmung den Ausgang bildet für die Gottes-Vorstellung. Hier übersteigt eine erneuerte Sinnlichkeit die alte Metaphysik. Es geht die äußere Näheerfahrung einer inneren Näheerfahrung voran und ebenso die Raumwahrnehmung dem Zeitgefühl. Dadurch wird die im Zeitbegriff der „Gegenwart“ noch gegen-wärtige Raumsemantik einer physisch gegenüber befindlichen Warte aktiviert. Mit dem Umschlagen des natur-teleologischen Diskurses in einen poeto-theologischen und schließlich poeto(po)logischen in einem Satz und auf derselben Gefühlsebene öffnet sich im selben Moment auch die räumlich konfigurierte Stimmung in eine zeitliche Dimension. Damit wird die Wahrnehmung des Phänomens in seiner räumlich-zeitlichen Verfugung komplettiert. Mit dem „fühle, und fühle“ in der ersten Person wird syntaktisch und rhetorisch also eine poetische Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem erzeugt. Es wird die Erfahrungssukzession von Wahrnehmen, Empfinden, Vorstellen, Denken im Fühlen zur Kongruenz gebracht durch die Verzeitlichung der Raumwahrnehmung. Dies ist der heraushebende Augenblick der Stimmung. Indem die räumliche Gegenwart einschließlich des resonanten Selbstgefühls in der Natur zur zeitlichen Gegenwart eines Hier-im-Jetzt invertiert, löst sich das Gefühl von der Gegenständlichkeit des Wahrgenommenen ab und gibt die Wahrnehmung gleichsam frei für imaginative Neubesetzungen. Mit diesen Umstimmungen vom Raum zum Ort sowie der äußeren zur inneren Erfahrung erweitert sich Werthers Fühlen von der Nähe des Mückengewimmels zur Gegenwart des Schöpfers. So gesehen erscheint die religiöse Gegenwarterfahrung an dieser Textstelle sowohl narrativ als auch gemäß ihrer phänomenologischen Anordnung des Wahrnehmungsprozesses nachgeordnet. Bestenfalls erscheint sie dem Naturgefühl beigeordnet, nämlich dann, wenn die instantane Verzeitlichung der Raumwahrnehmung zugleich gegenwendig als Raumwerdung des Zeitbewusstsein aufgefasst wird. Für diese Lesart von hochgestimmter „Gegenwart“, die sich aus dem Aufstauen des Zeitflusses zur ein-geräumten Warte von Präsenz als Epiphanie erhebt, spricht die hier unmittelbar folgende Metaphorik des leichten Elements und das göttlich nominalisierte Partizip-Präsenz-Aktiv, dem dann das menschliche PartizipPräsenz-Aktiv folgt: „[...] das Wehen des Allliebenden, der uns in ewiger Wonne

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schwebend trägt und erhält.“ (LjW 14, Hvh. St.H.) Über ihre biologischen und akustischen Funktionen als Sauerstoff- und Tonträger hinausgehend wird die Luft in ihrer meteorologischen Bewegung zum Träger der Liebe Gottes und somit anscheinend zum ontokosmologischen Element. Versteht man das pantheistisch gestimmte „Wehen“ jedoch auch als Angewiesenheit Gottes auf das Naturmedium Luft, so rückt dessen Allliebe ihn deutlich herunter vom Transzendenten ins Synchronische, vom Übersinnlichen ans Sinnliche – fast in die Nähe des Geliebtwerdens seines Ebenbildes. Die prima vista so metaphysische Liebes-„Wonne“ erscheint poetisch ohnehin durch ihren Zeitmodus des Ewigen zurückgebunden an den die Linearität der Zeit aufsprengenden Augenblick, in dem sich die „Gegenwart“ aus der Raumerfahrung ereignet. Dadurch rückt auch Werthers Stimmung bereits in den nach-metaphysischen Horizont einer poetisch antizipierten Phänomenologie, welche tradierte Bindungen an religiöse Transzendenz allenfalls in Sprachbilder überträgt. In diesen werden sie ästhetisch gelockert zu einer referenziellen Offenheit, so dass sie als anthropologische Grunderfahrungen des Geliebt- und Erhobenwerdens, des Eingebunden- und Getragenseins deutlich werden können. Denn zum einen kommt das quasi-phänomenologische Subjekt des passivischen Wir („uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält“) als der gattungsgeschichtliche Mensch in seiner bio-, psycho-, sozio- und ontologischen Bedingtheit zur Erscheinung. Zum anderen wird durch die signifikant lange Vermeidung des abstrakten Namen „Gott“ dessen Position, wenn nicht wie in der späteren Moderne vakant, so doch bereits zu einer Art rhetorischem shifter. Könnte die Stelle des „Allliebenden“ doch auch mit dem Anderen, die des „Allmächtigen“ ebenso gut mit Natur oder Sein besetzt werden. Die Semantik der schwebenden und tragenden Stimmung bliebe dennoch erhalten, weil sie poetisch generiert und nicht metaphysisch gegeben ist. In solcher ästhetisch erhabenen Stimmung, die der psychologisch gehobenen allenfalls verwandt ist, wird also einerseits das Subjekt aus seinen empirischen und rationalen Bewusstseinsangeln gehoben. Andererseits schwindet die Gegenständlichkeit, nicht nur von Bewusstsein, sondern der Erfahrung selbst, also auch der Empfindungen und Wahrnehmung. Dadurch wird das Gefühl, auf dessen Ebene sich das abspielt, zunehmend abgelöst von der Ebene bisheriger Referenzen. Zuvor fließende Wahrnehmungsmuster verdichten sich, Intentionalität weicht Intensität – wie eine von Werthers Lieblingsmetaphern anzeigt: das Gefühl dampft und hebt sich in eine metaphysisch unverbindliche Höhe. Solch ein allen ideellen Halterungen entschwebendes Gefühl, das psychische und symbolische Prozesse synchronisiert und zugleich realistisch dargestellt ist, ist literaturgeschichtlich neu. Indem es sein Subjekt samt dessen Objektfixierung zugunsten einer Beziehungsdynamik unter sich lässt, wird es wie von selbst – und so gesehen ereignishaft – zur absoluten Stimmung. Diese Tendenz zur Loslösung von ihrer – zumal religiösen – Referenz und die dadurch mögliche Entfaltung eines nach-metaphysischen Ereignischarakters macht die Stimmung im Werther auch heute noch interessant und ästhetisch anschlussfähig.66 Sie ist – was für die Liebesgeschichte, ihre Charaktere, den Plot und das Set66 Unsere poetologische Stimmung ist unter dem Aspekt des Ereignishaften, Epiphanischen und doch Nicht-metaphysischen dem Ansatz Bohrers verwandt. Vgl. hierzu dessen Ab-

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ting gerade nicht unbedingt gilt – modern. Hielte man den Einwand für berechtigt, dass Werthers Rede von der „Gegenwart des Allmächtigen“, vom „Wehen des Allliebenden“ und weiter unten vom „unendlichen Gott“ durchaus den Bestand einer metaphysisch intakten Referenz beweise, dann könnte Werther freilich heute nicht mehr als modern empfunden werden. Und: nicht einmal zeitgenössisch hätte diese ästhetische Rede als unerhört bzw. hinreißend empfunden werden können, wenn sie schlicht als barocke Lobpreisung, empfindsame Rede oder als poetischer Ausdruck eines letztlich doch weiter gottergebenen Pietismus zu verstehen gewesen wäre. Nicht der in seiner subjektiven Ausdrucksqualität modern klingende Ton könnte bei Geltung dieses Einwandes vernommen werden, sondern eigentlich nur eine immer wieder ins Sentimentale anschwellende Frömmigkeit religiöser und später amouröser Schwärmerei. Hingegen verstehen wir Goethes Anleihen bei der metaphysischen Vorstellungsund Begriffstradition als rhetorische Strategie, die Diskontinuität mit Kontinuität, Konventionelles mit Avanciertem, Radikalität mit Konzilianz ausbalanciert. So ruft Werther mit dem „Allliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält“, zwar die alte, mutterleibszentrierte Räumlichkeitsvorstellung eines gehegten Enthaltenseins auf. Jedoch nicht ohne zuvor die damit verbundene Kosmos-Naivität zu durchkreuzen, die von einer gleichsam uterostabilen Lage ‚des Menschen‘ im Naturraum als fester Gegebenheit träumt. Denn anstelle substanzieller Teilhabe in Gott selbst oder einem ontologisch gesicherten Ort inmitten seines Schöpfungsgehäuses imaginiert Werther die ‚windige‘ Stelle eines Draußen-seins, das als In-der-Welt-sein allein durch das „Wehen des Allliebenden“ erspürt werden kann und muss. Bei aller „Einsamkeit“ und „Heiterkeit“, die Werther nach seinem Abschied von der „Mutter“ (vgl. LjW 12) in der Natur Befriedung finden lässt, denkt er die „Gegend“ keineswegs wie ein religiös Gläubiger, der die Welt für eine göttlich garantierte Immobilie hält, in der alles seinen Platz und ein jeder von Gottes Gnaden zuhause ist. Unter dem Vorzeichen des „Wehens“ kommt nämlich eine Metaphorik zum Zug, deren Bewegung solche kosmo-uterinen Immanenzvorstellungen im Sinne faktischer Annahmen hinter sich lässt und durch ästhetische Stimmung ersetzt. An der Stelle des holistischen Topos metaphysischen Geborgenseins in einem geschlossenen Weltbild entsteht mit Werther die Figur einer Stimmung, in der die sinnliche Wahrnehmung der Weltbewegung („Wehen“) zur Epiphanie wird. In dieser freilich erscheint kein Gott, der seine fertige Schöpfung mit dem Menschen im Zentrum als Realität offenbart. Eher zeigt sich darin das Numinosum einer kraft der Liebe offenstehenden Möglichkeit, sich je selbst als Schöpfer der Welt als dem von existenzial aktiven Ein-wohnern geteilten Ort zu verstehen. Was Werther „schwebend trägt und erhält“ ist weniger einfache Gegebenheit, als zweifaches Ergebnis einer imaginativ erwiderten Liebe, einer hochgestimmten Reaktion des Selbstgefühls auf die Gabe des Anderen. 67 Es ist die körperlich im „Wehen“ spürbare „Gegenwart“ eines Seins, dem wir unser Dass-sein verdanken. Dem wir jedoch durch die Stimgrenzung vom Numinosen und die philosophische Begründbarkeit ästhetischer Epiphanien in Bohrer 1994, hier insbes. S. 180ff. 67 Hierin gewissermaßen Grundzüge der Philosophie von Levinas (1999 und 2003) figurierend.

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mungen freien Wie-seins auch entgegen kommen müssen, um in den Genuss eines schwebenden Daseins in einer Welt zu kommen, die (es) dann „trägt und erhält“. Unser Hinweis auf Gemeinsamkeiten mit Heideggers Räumlichkeitskonzept des In-Seins als ursprünglicher Nähe der existenzialen Seinsverfassung des Daseins in einer ontologisch erschlossenen Welt (vgl. SuZ 54) dürfte ebenso deutlich sein wie der Unterschied zwischen geliebtem In-ewiger-Wonne-schweben und geworfenem In-der-Welt-sein auffällig ist. Zwar spricht Sein und Zeit von Geworfenheit des Daseins und dessen Grundstimmung der Angst unzweideutig in explikativer Absicht, d.h. ihre Bedeutung ist in existenzial-ontologischer und nicht gefühlspsychologischer Hinsicht zu verstehen. Dennoch bleibt die divergierende Gefühlssemantik (Getragenheit/Geworfenheit) von Heideggers existenzialer und Goethes poetischer Räumlichkeit aufschlussreich für das Verstehen von ästhetischer Stimmung zumindest unter zweifachem Aspekt. Erstens geht es nicht um prinzipielle, genrespezifische Gegensätze von Philosophie und Poesie. Im Werther sind beide Extreme des Stimmungsspektrums existenzial dekliniert und emotional ausbuchstabiert; also die lebensselige Stimmung oder existenzfreudige Einsamkeit der ersten Hälfte sowie die sterbensselige Stimmung oder melancholische Einsamkeit der zweiten Hälfte. 68 Doch in beiden wird der pänomenästhetische und zugleich existenziale Raumcharakter von Stimmung sichtbar. Zweitens und folglich könnte dies heißen, dass die diversifizierte Stimmung im Werther nicht allein den Anforderungen einer komplexeren Gefühlsdarstellung zu genügen sucht, wie sie ein monoperspektivisch gehaltener Briefroman und eine zumal tragisch verlaufende Liebesgeschichte erfordern. Vielmehr kann sie als Indiz dafür genommen werden, dass in der Literatur durch Stimmungen ein Facettenreichtum an existenzialer Raumerfahrung bereits seit dem 18. Jahrhundert entfaltet wird. Im – so gesehen historischen – Gegensatz zur Philosophie, die erst im 20. Jahrhundert mit Sein und Zeit – und der Zeitlichkeit untergeordnet – ein veritables Denken von Räumlichkeit in einigen Paragraphen auf den Weg bringt. 69 Heideggers „Ansätze zu einer Theorie der ursprünglichen Einräumung des Raums oder Ontotopologie“ dienen dann erst wieder dem philosophisch profilierten Raumdenker als Ausgangspunkt seiner sphärologischen „Analytik des existenzialen Wo“.70

68 Siehe zur Einsamkeit als einer ebenso ästhetischen wie existenziellen Stimmung vor allem beim späten Goethe Osterkamp 2008. 69 Dem zugrunde liegen Husserls Denken und die Phänomenologie. Zu Bedeutung der Topologie bei Heidegger siehe Pöggeler 1969. Zum philosophischen Standpunkt in der gegenwärtigen Raumforschung siehe Ebeling 2007; Dünne und Günzel 2006; zum Stand der literaturwissenschaftlichen Raumforschung Dennerlein 2009. 70 Sloterdijk 2001, S. 396 und 401. Diese „Marginalie“ kündigt gewissermaßen das folgende Projekt der Sphären I-III an. Siehe grundlegend zum gegenwärtigen Interesse an Raumtheorien Weigel 2002; H. Böhme 2005; Döring und Thielmann 2008.

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6. M ETAPHORISCHE S PIEGEL STATT METAPHYSISCHE T RANSZENDENZ Wie das Gefühl aus Wahrnehmung Kunst macht – so macht die Stimmung aus Metaphysischem Ästhetisches

Unsere Deutung des schon von Zeitgenossen wie Karl Philipp Moritz ästhetisch analysierten Briefes vom 10. Mai ist bis zum ersten stimmungsmotivischen Höhepunkt der Metaphorik des schwebenden Getragenseins und Erhaltenwerdens ein gewisses Risiko eingegangen. Namentlich darin, dass ihre nicht-metaphysische Ausrichtung als unzureichend begründet und die Raumsemantik im Werther als a-historisch zurechtgelegt angesehen werden könnte. Deshalb ist nun nachzureichen, was bis hierher zurückgehalten worden ist und nur im Vorausblick auf den Fortgang des Briefes bereits in die Interpretation eingegangen ist. Es handelt sich um den Motivkomplex von imaginierter Schöpfungskraft, dilettantischem Künstlertum und der Kunst als Objektivierung des oben analysierten Expansionsgefühls der Wahrnehmung. 71 In diesem Motivkomplex konvergieren Werthers Erfahrungen von ereignishafter Gegenwart und von Räumlichkeit als generativem Spiel von Resonanzen. Seine Darstellung als Stimmung weist in ihrer Tendenz auf ästhetische Autonomisierung über die Romantik hinaus weit in die Moderne hinein. Wie wir gesehen haben, hebt diese Mai-Stimmung aus einem gegenständlich strukturierten Wahrnehmungsfeld an („Gegend“), löst sich dann von diesem in subjektiver Verdichtung ab („Dasein“), um zuletzt das Subjekt der Stimmung unter sich zurückzulassen zugunsten rein ästhetischer „Gewalt“ („Maler“). Als Werther „so ganz in dem Gefühle von ruhigem Daseyn versunken“ ist, bemerkt er erstmals etwas von einer „Gewalt“, die sein „Herz“ einnimmt und die „ganze Seele“ beflügelt, dass aber seine „Kunst darunter leidet“. (LjW 14) Selbst nicht mitleidend, gibt er sich einem fröhlichen Dilettantismus hin, der ihn sich gerade „in diesen Augenblicken“ gelähmter Schöpfungskraft als großen Maler oder auch als Dichter ‚dem Geiste nach‘ imaginieren lässt.72 Nun folgt die oben näher analysierte Phase, in der den Gegenständen das Feld der Wahrnehmung überlassen und Wahrnehmung selbst nur im Modus der Resonanz des Wahrgenommenen Beachtung findet. Weiter oben haben wir gerade in dieser gegenständlichen und gestalthaften Art Beschreiben und also in Werthers Briefen wiederum Kunstqualität erkannt, insofern der Stimmungsraum ästhetisch geschaffen wird und nicht metaphysisch gegeben ist. Nur beiläufig wurde die Eben-Bildlichkeit erwähnt, die den Schöpfer beim Schaffen des Menschen leitete, obwohl dies genau an der Umschlagstelle vom Fühlen der Insekten zum Fühlen Got71 Diese Auffassung von Kunst ist in Zusammenhang zu sehen mit dem ästhetischen Denken Herders, den der Verfasser des Werther seit etwa drei Jahren kannte. Vgl. Allert 2002, S. 194. 72 Dadurch ist Werther nicht nur als Dilettant, sondern auch als Schwärmer charakterisiert. Denn letzterer zeichnet sich durch einen Mangel an produktiver Differenzierung aus, wie Weissberg mit Bezug auf Luthers Auffassung der „Hermeneutik Augustins“ darlegt: „Derjenige, der den Geist vom Buchstaben nicht richtig zu trennen weiß und damit bei [der] Lektüre versagt, ist ein Schwärmer. Der Schwärmer sieht nicht, daß der Geist sich sinnlich konkretisieren muß, um Wirklichkeit zu werden.“ (1990, S. 162)

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tes steht. Diese Nebeneinanderordnung von tierkörperlich Kleinstem im Raum und göttlich-geistig Größtem als Gegenwart führte uns an die historische Debatte über Physikotheologie und Naturteleologie heran. Nun wollen wir sie durch die Beobachtung erweitern, dass der Mensch als Ebenbild Gottes gleichsam zusammen mit diesem auf der Ebene des Gefühls erscheint. Dort tritt er neben die schwebenden Mückchen und kriechenden Würmchen, die Werther „näher an [s]einem Herzen fühle“ – wie er schreibt, und weiter: „und fühle die Gegenwart des Allmächtigen, der uns nach seinem Bilde schuf“. (LjW 14) Tier, Gott und Mensch bilden eine stimmungsräumliche Konstellation, in der die Beziehungen untereinander in der Schwebe gehalten werden. Denn schon das Zusammenfühlen dieser drei auf derselben Ebene setzt eine weitgehende Suspension des ontologischen Gefälles zwischen ihnen voraus und relativiert die Inkongruenz von den Ohnmächtigen und dem „Allmächtigen“. Zwar wird auf alttestamentliche Bildbezüge angespielt, insofern die Würmchen – wie übrigens im Faust – das kreatürliche Format des Menschen metaphorisieren können. Ein entsprechendes Abhängigkeitsgefühl kommt in Werthers Stimmung aber gar nicht auf, da schon dessen Möglichkeit sogleich gegengesteuert wird durch den anderen Topos der Genesis, dass Gott den Menschen „nach seinem Bilde schuf“. Und noch diesem Geschaffenwordensein wird durch die folgende Emanzipation des Künstlers gegenüber dem Schöpfer das Gewicht einer Ableitungsbeziehung genommen, so dass nun Gott und Mensch in einer schöpferisch gestimmten Juxtaposition erscheinen. Wurde Gott zunächst vom kreatürlich Unähnlichen her als freier Schöpfer, schon nicht aber mehr als reiner Souverän empfunden73, der über der Natur und dem Menschen steht, so wird er nun neben dem Genie als dessen Inspirator platziert. Entsprechend kann Gott im Folgenden auf der selben Bildebene erscheinen wie die menschliche Seele, die ihn spiegelt. Ihrerseits wird die Seele in der Kunst gespiegelt. Deren Spiegelfunktion einer imaginären Raumtiefe führt jene zuvor am Wahrnehmungsvorgang beobachtete Eigenraumexpansion weiter. Die darin aufscheinende Gottesgegenwart erfolgt nicht im metaphysischen Modus der Offenbarung, sondern im ästhetischen Modus der Analogie zum genialischen Selbstgefühl. Im Kunstschaffen(wollen) des Genies lebt der Ebenbildschaffungsimpuls der Genesis fort. 74 Werther nimmt die Gottesebenbildlichkeit gleichsam naturalistisch und genealogisch ernst, wenn er sich als qua Schöpfung geliebter Mensch nicht nur schwebend getragen und erhalten weiß – was noch von christlichen Vorstellungen gedeckt wäre –, sondern dies in dem olympisch privilegierten Zustand „ewiger Wonne“ zu genie73 Vgl. das Kapitel „III. Der Zusammenhang von Gott und Welt: Zum Problem des Pantheismus“, Schulz 1985, S. 234-36, hier 235. 74 Wie der pantheistisch aufgeklärte Gott des Künstlers ist dieser selbst seit der Genieästhetik freier Schöpfer, jedoch nicht Souverän, selbstbestimmt und weltgestimmt, nicht aber vollkommen autonom. Solche Differenzierungen schwinden oftmals unter dem Vorzeichen des Subjektivismus, der rasch auf Solipsismus tendiert und damit Werther zunehmend pathologisch erklärt. Nicht erklärt wird auf dieser bis heute dominanten Deutungslinie, wieso diese Figur so anziehend sein kann und das Lesepublikum sich doch wohl vorwiegend nicht masochistisch identifiziert. Vorwiegend als Masochist wird Werther interpretiert von Fischer 1989.

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ßen wünscht. Just an diesem ersten Höhepunkt der Stimmung erhebt diese selbst ihre Stimme: „Mein Freund!“ Die Anrede des Freundes und Lesers ist rhetorisch als meta-diegetische Figur zu verstehen, insofern durch die Rede des Briefschreibers Werther die des Erzählers als Arrangeur der Stimmung mitklingt, in der er sich selbst in ein Ich und Du verdoppelt. Stimmung wird somit auch narratologisch und nicht nur thematisch präsentiert. Sie wird über Werthers Stimmung hinaus sogar als diejenige des Textinneren selbst kenntlich, in dem sich das Ungesicherte, Konstruierte, ja Zerbrechliche von Werthers Schöpfungsphantasie in der Wenn/dann-Konstruktion und dem Konjunktiv des Wünschens zeigt. 75 Im Fortgang des Zitats wird diese Verschmelzung des (personalen) Subjekts von Stimmung mit dem (literarischen) Sujet der Stimmung noch verdeutlicht. Nämlich indem Werther sich als Schöpfer einer Kunst imaginiert, welche die Schöpfung Gottes nachschöpft, sich zugleich aber als ein Autor/Maler voller Zweifel denkt, was die Möglichkeit einer authentischen Verschriftlichung/Visualisierung unmittelbaren Erlebens betrifft. Er wünscht selbst die Stimmung hervorzubringen, die er in der Natur wie in sich selbst als Lebendigkeit erfährt. Dadurch aber gerät er in Ambivalenzen zwischen Darstellungswunsch und Identitätsverlust, Medialität von Kunst und Erfahrung von Unmittelbarkeit, wie sie der Pygmalion-Mythos tradiert:76 „Mein Freund! wenn’s denn um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht, wie die Gestalt einer Geliebten; – dann sehne ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papier das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes. Mein Freund –“. (LjW 14)

In dieser metadiegetischen Klammer der beiden Freund/Leser-Anreden wird in nuce noch einmal die Genese von Stimmung als Phänomen der Natur und die Kreation von Stimmung als Phänomen der Kunst in ihrer Verbindung über das ästhetische Relais des Gefühls (Metaphern: Herz/Sehnsucht) dargestellt. Die Analyse dieser Textstelle soll nun in drei Schritten erfolgen und die Prävalenz stimmungspoetischer Räumlichkeit gegenüber den genieästhetischen und kunstmetaphysischen Aspekten geltend machen. (1.) Zunächst der erste Teilsatz: „wenn’s denn um meine Augen dämmert, und die Welt um mich her und Himmel ganz in meiner Seele ruht wie die Gestalt einer Geliebten“. Es beginnt wieder mit der Phänomenbeschreibung, welche die Räumlichkeit von 75 Die Vorstellung von einem Textinneren äußert sich beim älteren Goethe: „Das Innere, Eigentliche einer Schrift, die uns besonders zusagt, zu erforschen [und dabei sei] vor allen Dingen zu erwägen, wie sie sich zu unserm eignen Innern verhalte, und in wie fern durch jene Lebenskraft die unsrige erregt und befruchtet werde.“ (HA IX 510) Dieser Stelle aus Dichtung und Wahrheit geht neben Bezügen zu Hamann und Herder folgender Bezug auf die gotische Baukunst voraus: „Das Innere dieser würdigen Gebäude wagte ich nur durch poetisches Anschauen und durch fromme Stimmung zu berühren.“ (HA IX 508) 76 Zur Wirkung des Pygmalion-Mythos seit Ovid siehe Mayer und Neumann 1997.

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Wahrnehmung als die Umgebungsqualität (es „um meine Augen“, „Welt um mich her“) eines Ortes erfasst, an dem sich eine Inversion im Außen vollzieht. Nicht erfährt hier allein ein Subjekt sich im Objektbezug. Da ist vielmehr ein situativ bestimmter Augen-blick („wenn’s denn um meine Augen“) und seine ihn aus der Zeit heraushebende Extension in der schwebenden Bewegung eines schwellenhaften Übergangs („dämmert“), etwa von Helle in Dunkel oder umgekehrt. Dämmern kann hier aber auch metaphorisch für die stimmungstypische Übergängigkeit von Enge/ Weite, Ich/Natur, Innen/Außen, Bewusstsein/Traum u.a. stehen, zumal es keine Hinweise auf die Tageszeit, sondern stattdessen auf die Raumerfahrung gibt. Keineswegs indes wird ein räumliches Außen, eine vorhandene Um-welt mit in dieser positionierten res extensa hier von einem Empfindsamen vergegenwärtigt, verinnerlicht oder zu religiösem Erfahrungsbewusstsein konvertiert. Dagegen sprechen folgende sprachliche Aspekte: die syntaktische Voranstellung des Situativen, der Welt und des zweifachen „um“ vor die personalen Pronomen („meine“, „mich“); das Passivische des Ausdrucks ‚wenn es dämmert‘, und das nicht in sondern „um“ die Augen. Diese sehen oder blicken also nicht aktiv, sondern es fällt ihnen etwas auf, ein Ereignis macht sie aufmerken. Diese von der gewöhnlichen zur Aufmerksamkeit abgehobene Wahrnehmung wird gewissermaßen von Werthers Beobachtung der eigenen Augen im Vollzug einer komplexeren Erfahrung bemerkt. Sie nimmt ihren Ausgang in dem phänomenologischen Umstand, dass das Raum-Außen gleichursprünglich ein Welt-Innen ist. Diese exzentrische Innenräumlichkeit macht den existenzialen Ort aus, an dem Befindlichkeit über psychophysisches Befinden hinaus ihre ontologische Umlaufbahn erreicht und wo – phänomenologisch spürbar – Stimmung vorherrscht. Dem entsprechend zeigen ästhetische Darstellungen von Stimmung, wie diese jenseits und zugleich diesseits der gängigen Innen/Außen-Schematisierung von Subjekt/Objekt-Bezügen ausgebreitet ist und so Evidenzen eines Dritten hervortreibt. 77 So bleiben in Werthers Subjektdämmerung auch keine Objektstrukturen im Vordergrund. Es schließt sich „die Welt“ um das Auge einer Wahrnehmungsbewegung, in der die Horizontale („Welt um mich her“) einer Gesam(mel)theit möglicher Dinge oder Begegnungen sich mit der Vertikalen („Himmel“) von deren Aufhebung zu einer physischmetaphysischen Totalität („ganz“) verfugt. Die Instanz aber, wo diese Verfugung entschieden wird zur Heraufstimmung zum Ereignisganzen ist die „Seele“. Damit die als Gesamt empfundene „Welt“ und der „Himmel ganz in meiner Seele ruht“ können, wie Werther sein Inversionserleben beschreibt, muss seine Seele ihrerseits in die Welt-Himmel-Offenheit (beachte in der Fassung A: „Himmel“ ohne Artikel und der grammatisch falsche Singular „ruht“) ausgerichtet sein. Die seelische Expansion zum eigenräumlichen Ausdehnungsmaximum und die physische Weitung der Welt zum Himmel koinzidieren in der Stimmung, an deren Kulminationspunkt sie zur Ruhe kommen. Dieser wird von Werthers Worten erreicht mit dem Vergleich „wie die Gestalt einer Geliebten“. Fungierte zunächst die anhebende Stimmung einmal mehr als das Gefühlsschema, das die unter77 Die Figur des Dritten hat in den Theoriedebatten der letzten Jahrzehnten theoretische Aufmerksamkeit erhalten, indem sie psychoanalytisch, phänomenologisch, kybernetisch, semiotisch oder topologisch perspektiviert wurde. Siehe bereits programmatisch Weber 1980.

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schiedlichen Erfahrungsqualitäten von Horizontalität („Welt“) und Vertikalität („Himmel“) koordiniert, so integriert sie diese Wahrnehmungsumspannungen nun „ganz“ in einer ruhenden „Gestalt“. Durch den Gestaltcharakter der „Geliebten“ bleibt Werthers Imagination zurückgebunden an die Phänomenkomplexität der Wahrnehmung, während diese ihrerseits umgestimmt wird zum fließenden Muster des Begehrens. Eines Begehrens freilich, das gegenwärtig noch im Bild „ruht“ und gerne das Stimmungsbild eines bipolar geglückten Ineinanderseins abgibt. 78 Auf der Bild-Rückseite ist das Begehren jedoch bereits im Erwachen, insofern die naturfromm daherkommende Metaphorik des In-den-Himmel-steigens und umfangenden In-der-Welt-seins auch eine Penetrationsimago transportiert. Die kompositorische Bedeutung dieser Stelle im vorausdeutenden Sinne einer Exposition des folgenden Sichverliebens aber liegt darin, dass sie die frühlingshaft triviale Gestimmtheit zum Überspringenlassen der Liebe von der Natur auf Lotte in ihrer psychodynamischen Struktur aufblitzen lässt.79 Dies geschieht durch eine poetisch produktive Spielart von Gegenübertragung. Auf psychischer Ebene wird die ganzheitliche Phänomenalität einer in der Seele ruhenden Wahrnehmungsgestalt (Welt-Himmel) übertragen auf die „Gestalt“ eines Liebeswunsches. In umgekehrter Richtung – auf rhetorischer Ebene – spendet die „Gestalt einer Geliebten“ den Bildbereich für die metaphorische Übertragung, welche für eine semantische Innovation der Sprache der Natur samt ihrer Wahrnehmung als Weite und Höhe sorgen soll. Von dieser Gegen-Übertragung wird die Stimmung ihrerseits dynamisiert und auf das Verhältnis Mensch/Gott übertragen. Jetzt geht es nicht mehr um die Koordinierung der Wahrnehnumgsdimensionen des Welthorizontes und der Himmelsentgrenztheit, sondern um die Bestimmung der Beziehung zwischen deren ontotopologischen Einwohnern. (2.) Damit greift die Analyse auf den zweiten Teilsatz über: „dann sehn ich mich oft und denke: ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt [...].“ Wie zuvor die psychometaphorischen Übertragungen auf phänomenal-ästhetischer Beobachtungsebene für eine konstitutive Austauschbarkeit von Objekten der Wahrnehmung und Imagination sorgten, so wird dieses Spiel nun auf die produktions- und medienästhetische Reflexionsebene verlängert. War bislang der Austragungsort die Seele als eine wahrnehmend geöffnete Innerlichkeit, in deren Abgründigkeit die Gestalten und Bilder ruhn, so wird es nun die Seele als eine zum Ausdruck animierte Innerlichkeit, aus deren Entsicherung eben jene Gestalten und Bilder schließlich zu künstlerischer Form gelangen (sollen). Durch diese Mobilmachung seelischer Kräfte erweitert sich die toposemantische Struktur der Seele. Sie ist nicht mehr nur der Ort, an dem jene Übertragungen – die ihrerseits psychogene Wirkungen haben – ihre Austragungsstätte finden. Vielmehr wird die Seele selbst zum Ort einer medialen Übertragung, die sie als ganzes in die78 Zu sexuellem Begehren und Phantasieren unter historischem Aspekt siehe Schindler 2001. 79 Auf Lotte wird später im Unglücklichsein ausdrücklich und kumulativ der Terminus „Gestalt“ (LjW 112) bezogen, wie er anfangs mit Bezug auf die Einbildungskraft eingeführt wurde.

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ses Spiel wechselseitiger Substitutionen eintreten lässt. Was zuvor Wahrnehmung und Empfindungen ermöglicht hat, indem es diese in sich als Gefäß („Seele“) sammelte, zum Ruhen brachte und dadurch beobachtbar machte, das wird jetzt seinerseits zum Gegenstand von Empfindungen und Wahrnehmung und als solcher beobachtet. Und nicht nur beobachtet – wie gesagt – sondern eingesetzt, um als Seele ihrerseits auf dem Feld der Wahrnehmung und Empfindungen zum Gegenstand und damit auch zum Gegenstand künstlerischer Darstellung werden zu können. Darin deutet sich eine Reinszenierung der Verlebendigungsphantasie des Pygmalion an. Wie aber kann in Werthers Vorstellung die Seele, die bislang nur der Ort war, an dem die zwischen Innen- und Außenwahrnehmung sich abspielenden Stimmungsszenen als Bilder abgelegt sind, ästhetisch produktiv gemacht werden? Hierzu bedarf es einer Instanz, die Goethe im Anschluss an Herder vorzugsweise mit Gefühl, dieses aber unter verschiedenen Namen anruft. Werther spricht an dieser Stelle einmal nicht von Herz. Stattdessen werden die heterotopische Verwurzelung von Gefühl im emotionalen und epistemischen Bereich zusammengezogen, wenn es von dem ins Räumliche aufgesprungenen Augenblick höchster Stimmung heißt: „dann sehn ich mich oft und denke“ (Hvh. St.H.). Sehnsucht und Denken („ach könntest du“) entspringen dem raum-zeitlichen Momentum der Stimmungsbewegung. Die Sehnsucht richtet sich auf Verwindung der darin andrängenden Endlichkeit, auf ein mögliches Verweilen des epiphanen Augenblicks in der Kunst, auf eine Aufhebung des Flüchtigen in imaginärer Dauer, letztlich auf Sinnstiftung aus erfahrener Zeitlichkeit. Das Denken steuert sogleich Ideen bei, wie das gehen könnte. Da sind zum einen die um die Formel „wieder ausdrücken“ sich drehenden Vorstellungen von Wiederholbarkeit des Einmaligen im künstlerischen Ausdruck, Vergegenwärtigung von Vergangenem oder Repräsentanz von zuvor gefühlter Präsenz im Medium der Schrift. Es folgt die aus der Antike überlieferte Vorstellung der Inspiration des Dichters oder Malers („dem Papiere das einhauchen“), der als Durchhauchungsmedium für den göttlichen Odem fungiert und dessen Willen zu lebendiger Ebenbildlichkeit ins Kunstwerk weiterleitet. Im Kunstwerk wird somit die Vergänglichkeits-Restriktion der conditio humana imaginär außer Kraft gesetzt. Dabei ist die Übertragung der Einhauchungskompetenz vom welt- und subjektivitätsschöpferischen Gott auf einen dem entsprechend kreativen Künstler vorausgesetzt und implizit ein Bild vom Menschen als ein sich selbst weiterschöpfendes Kunstgebilde mittransportiert. Denn in räumlichkeitsphänomenologischer und -historischer Sicht ist es zuerst der biblische Herr der Genesis, der sich in Adams inspirierter Ebenbildlichkeit ein resonantes Double im Artefakt erschafft, indem er einer hohlraumbildenden Lehmstatue durch die „Nase den Lebensatem ein[blies]“.80 Die Wunschphantasie des

80 Genesis, 2, 4-7, zit. bei und vgl. Sloterdijk 1998, S. 32-37. Unter dem Titel „Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune“ macht Sloterdijk die biblische Urhauch-szene zum Ausgangspunkt seiner Einleitung für sein opus magnum. Darin fasst er seine heterodoxe Sicht der Genesis-Passage mit Blick auf die anthropogene Technikentwicklung wie folgt zusammen: „Das Hauchen war Inbegriff einer Gottestechnik, die sich darauf versteht, die ontologische Lücke zwischen dem Lehm-Idol und dem beseelten Menschen mit einem pneumatischen Kunstgriff zu schließen. Folglich ist Gott der Titel für ein Könnertum, dessen

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Dilettanten versetzt denselben dann in die göttlich privilegierte Position des Schöpfers von etwas in sich und doch nur mit ihm Lebendigem, nämlich von Kunst als Produktionsform von Selbstähnlichkeit („Spiegel deiner Seele“). Sich beinahe schmerzlich sehnend erdenkt Werther aber auch wie Pygmalion eine Souveränität des Dichters/Malers, die diesen in die Stimmung und auch den Stand setzt, dem Rohmaterial die lebendige Bilderfülle seines Gefühls („was so voll, so warm in dir lebt“) „ein[zu]hauchen“. Wer im Stile einer hochgestimmten Reverie dem leeren „Papiere“ die Weiträumigkeit und Resonanzvielfalt seiner Subjektivität einzuzeichnen oder einzuschreiben sich anschickt, ist deshalb jedoch nicht ein Größenselbstbildner, Autarkiebeschwörer und schon gar kein religiöser Schwärmer. Durchaus nimmt Goethe hier das dem zeitgenössischen Geniediskurs zentrale Kreativitätsmotiv auf, was die Forschung dazu veranlasste, Werther aus dem genieästhetischen Blickwinkel in die Vorstellungsreihe vom Titanen, Kraftgenie, Selbsthelfer oder ähnlichen Autonomiefiguren einzufügen.81 Jedoch ist dem gegenüber zu betonen, dass Werthers Sehnsucht ein Kunstdenken entwirft, das weder einer metaphysischen Rückversicherung von Kunst in ideeller Transzendenz, noch einer genieästhetischen Vulgarisierung von Subjektautonomie verhaftet ist. Die spätere Verzweiflung des suizidalen Liebenden wird hier von den Zweifeln des dilettantischen Künstlers vorweggenommen. Etwas davon zeigt sich an der bereits oben angeführten Schlussbemerkung des Briefes, dass er als denkendes Subjekt schon bei der Vorstellung gelingender Kunstschöpfung „darüber zu Grunde“ gehe, d.h. zum ‚erliegenden‘ sub-iectum ästhetischer Erscheinungen wird. Dieses imaginative Subjekt vergeht also nicht „unter der Gewalt“ einer metaphysischen „Herrlichkeit“. Kreativ gestimmt ergeht es sich auch nicht in den Souveränitätsphantasien eines grandiosen Selbstschöpfertums, dessen Objektivierung im Kunstwerk an seiner narzisstischen Hypothek scheitern muss. Hingegen vermeidet die den Inspirationsgedanken präzisierende Reflexion im letzten Teil des Satzes gerade die Vereinseitigung des künstlerisch Schöpferischen auf die Seite kreativer Subjektivität, expressiver Innerlichkeit oder autonomer Reflexivität. Nämlich zugunsten einer ästhetischen Reflexivität, die sich im prozeduralen Modus eines sich autonomisierenden Ausdrucks als objektive Stimmung auffassen lässt. 82 (3.) Diese Stimmung sui generis ist buchstäblich als „Spiegel“-Effekt einer mehrfach gebrochenen und imaginär verdoppelten Subjektivität (Seele, Gott) zu verstehen, wo Werther von Kunst die ursprüngliche Entfaltung eines spekularen Aufeinanderbezogenseins fordert. Die darin stimmungsproduktive Kinetisierung außerästhetischer ReKunst bis zur Schöpfung von lebendigem Selbst-Ähnlichem reicht. Als Schöpfer aller Dinge ist der Genesis-Gott Herr des Unähnlichen wie des Ähnlichen.“ (S. 37) 81 Dies vor allem bei Gundolf (1967) [1916] und Korff [1923], Viëtor (1950, S. 173: „Titanismus als Lebensstimmung“), aber auch noch bei Saul 2002, vgl. S. 29. 82 Hingegen schlägt Meyer-Kalkus diese Naturerfahrung Werthers als ‚unio mystica‘ dem Narzissmus zu. Er spricht hier in psychologischem Sinne von einer „Folge von spiegelbildlichen Relationen, über die sich das Ich in einer unendlichen Bilderflucht reflektiert.“ (1977, S. 90f.)

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ferenzen (Garten, Landschaft, Gott) und die damit eingeleitete Verräumlichung von Zeitlichkeit sollen nun am Abschluss des analysierten Satzes und zugleich Ende des Briefes noch etwas näher beleuchtet werden: „[...] daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes.“ (a.) Werthers Idee einer aus einem spekularen Zwischen anstelle von spekulativer Transzendenz her gedachte Kunst holt die Seele zunächst aus ihrem passiven Gefäßzustand heraus und macht sie zum beweglichen Gegenstand von Darstellung. Aber nicht als ein endlicher Gegenstand unter anderen, der unter der psychologischen Regie eines Realismus behandelt würde. Offenbar denkt Werther eher an eine Art bildräumliche Kunst, die „der Spiegel deiner Seele“ wäre, indem sie die Spiegelung aus ihrer identitätslogischen Reflexivität befreit und auf ein Drittes zwischen Gespiegeltem und Spiegelndem hin bewegt. Denn diese die Seele spiegelnde Kunst wäre eine ein Spiegelbild spiegelnde Kunst. In ihr „würde“ nämlich die „Seele“ so gespiegelt, wie diese der „Spiegel des unendlichen Gottes“ (LjW 14) ist. Die scheinbar eindeutigen Verhältnisse zwischen dem seelischen Urbild und künstlerischem Abbild werden ontologisch dadurch verzwiespältigt, dass das vermeintliche Original in seiner gegenständlichen Primatstellung gegenüber der Kunst angefochten erscheint. Denn wie die Kunst als Inspirationsprodukt eines Genies gegenüber der verbildlichten Seele sekundär sein soll, so rückt mit einem Mal auch die geniale Originalseele ins Sekundäre eines Abbilds. Die spiegelmetaphorische Substitution der bildtheoretischen Erstposition (der Seele gegenüber der Kunst) durch die Zweitposition (der Seele gegenüber Gott) erzeugt eine ästhetische Ambivalenz, die sich nur im Hin und Her der spekularen Bewegung selbst zu einer Drittposition auflösen kann. Diese erhebt sich aus dem Zwischenraum der Positionsverschiebungen, indem sie die Unentscheidbarkeit über die Erstposition, Identität, Ur- und Abbildlichkeit ästhetisch produktiv macht und als Ursprünglichkeit spekularer Komplemente (Seele-Kunst, Kunst-Seele) relational zur Erscheinung bringt. (b.) Versucht man sich hingegen an die Zweiseitigkeit des Spiegelvorgangs noch in dessen Verdoppelung zu halten, dann sähe man auf der einen Seite die Kunst, die Gott spiegelt, auf der anderen Gott, der in der Kunst gespiegelt ist. Dies aber funktioniert nur unter der Bedingung, dass der Seele-Spiegel weder ganz auf Gott noch ganz auf die Kunst ausgerichtet ist. Dies aber heißt auch, dass der Kunst-Spiegel gar nicht auf Gott ausgerichtet zu sein braucht, wenn Gott in ihm sichtbar wird, sondern allein auf den Seele-Spiegel. Eine alternative und scheinbar modernere Lesart der Textstelle kann die Seele als zwei Spiegel aufgebaut sehen, etwa zwei Flügel eines Spiegels oder aber ein Spiegel, dessen Rückseite noch einmal ein Spiegel ist. In dieser Seele mit zwei Spiegeln ‚in ihrer Brust‘ würden die Bilder sich mangels zweidirektionaler Abstimmung nicht begegnen, d.h. dass Gott im Spiegelbild der Kunst also gar nicht erschiene. Verloren ginge dabei aber eben auch die Synchronwirkung zweier ineinander verspiegelter Bilder. Deren mehr als bloß visuelle Reiz besteht gerade darin, dass die dualen Strukturen von Urbild/Abbild, Sein/Schein, Identität/Ähnlichkeit, Original/Double oder Reales/Imaginäres in die Schwebe möglicher Indifferenz gebracht werden. An ihrer Stelle stellt sich die als ästhetisches Beziehungsgefüge gedachte Stimmung ein. (c.) Eine letzte Deutungsvariante von Werthers Spiegelbildmetaphorik geht von der syntaktisch gegebenen Primatstellung der Kunst als Seelenspiegel gegenüber der Seele als Gottesspiegel aus. Hierbei zeigt das Spiegelbild der Kunst mit der Seele

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einen Spiegel, dessen räumliche Tiefe ebenso imaginär ist wie die aller (Spiegel-)Bildkünste. Solche Kunst blickt dabei gewissermaßen hinter den Spiegel der vermeintlich gottähnlichen Seele und findet eine dunkle Fläche. Desillusionskunst dieser Art ent-täuscht zusammen mit der Erwartung der dritten (Tiefen-)Dimension auch die der transzendenten (Höhen-)Dimension, indem sie gleichsam jede Raumillusion zusammen mit dem Spiegelglas zerbricht und bloß auf das Stanniol-Material anstelle der spekulativen Unendlichkeit (Gottes) zeigt. Besonders diese dritte (c.) aber auch schon die zweite (b.) Deutungsrichtung weisen auf ästhetische Strategien der Moderne voraus, wie sie im Werther noch nicht vorliegen, allenfalls solchen Sprachbildern wie dem der einander spiegelnden Spiegel (vgl. oben a.) ästhetisch implizit sein können. Sie sollten mit ihrer Zuspitzung auf ein Obsoletwerden transzendenter Sinnbezüge deutlich machen, dass eben dies im Ansatz bereits an einer Textpassage zu finden ist, die mit Anrufungen des Numinosen das Gegenteil zu beweisen scheint. Indes haben wir gesehen, dass die Formulierungen „Gegenwart des Allmächtigen“ und „Wehen des Allliebenden“ minutiös vorbereitet sind durch konfigurative Stimmungen, in denen sie neben anderen ihrerseits tropologische Sprachfiguren zur objektiven Umschreibung von Gefühlen sind. Die Gottesbezüge sind der raum- und bewegungspoetischen Stimmungskonstruktion von „Gegenwart“ außerhalb der Zeit respektive „Wehen“ im inneren Draußen nachgeordnet. Dies ist freilich weniger im geistesgeschichtlichen Sinne eines säkularisierten Pietismus zu verstehen, sondern eher noch breiter im ästhetikgeschichtlichen Sinne einer kulturell anstehenden und dadurch auch existenziell motivierten Neuaufnahme der Suche nach poetischer Sprache. Wie gegenüber deren bildmächtiger und dadurch Stimmung erzeugender Rhetorik die metaphysische Semantik zurückgesetzt ist, haben wir oben mehrfach und zuletzt unter Punkt (a.) zum Briefschluss angedeutet. Dies soll abschließend – mit Bezug auf die dort ebenso formal bestimmte wie formlos schwebende Spiegelgestalt der Stimmung – an der Verweisstruktur der Metaphorik des Schlussteiles des analysierten Satzes aufgezeigt werden. Es geht darin im Anschluss an die produktionsästhetische Aktivität des Einhauchens von innerseelischem Leben in die leblose Materie um die synchrone Bildbewegung der doppelten Spiegelmetapher. An diesem 10. Mai kommt die Stimmung zu ihrem Höhepunkt, indem sie als Ineinanderblendung zweier Bildsphären deren je einzelne Semantik übersteigt und sie so zu einer metaphorischen „Gestalt“ mit ästhetischen surplus ergänzt. Bei solcher Stimmungsmetaphorik ist weniger die Ähnlichkeit der Relate in einem Positionsraum die Bedingung der gesteigerten Bildwirkung. Vielmehr ist es die Relationalität selbst, d.h. die Unhinterschreitbarkeit wechselseitigen Bezogenseins wie im Bild des Ineinanderspiegelns zweier Spiegel aufscheint. Dabei materialisiert sich das Fragile solcher Relationalität im „Papier“ als medialem Träger. Stimmungsanalytisch vorentscheidend ist die Beobachtung, dass die beiden Metaphern „Spiegel deiner Seele“ und „Spiegel des unendlichen Gottes“ ihrerseits noch einmal in einen metaphorischen Vergleich („wie ... ist“) überführt werden. In diesem ist die psycho-theologische Spiegelmetapher der Bildspender für die kunstpsychologische Spiegelmetapher. Im ausgeführten Vergleich: das Kunstwerk soll sich zur Seele so verhalten, wie die Seele zu Gott. Ausführlicher: das eigentlich gemeinte Verhältnis zwischen Kunst und Seele, für das es keinen adäquaten Begriff zu geben scheint, wird zunächst mit dem Spiegel als einer dunklen Metapher erfasst.

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Sodann wird mithilfe des uneigentlichen Ausdrucks, nämlich das Seele-GottVerhältnis, wie es mit dem Spiegel als vorgeblich konventioneller Metapher erfasst ist, näher umschrieben. Ob der eigentliche Ausdruck in diesem Fall durch den uneigentlichen klarer, die dunkle Metapher durch Spiegelung in der konventionellen wirksam erhellt wird, bleibt allerdings fraglich. Die rhetorische Anordnung und zugleich thematische Rangordnung jedoch scheinen klar bestimmt zu sein. Die Gott spiegelnde Seele wäre danach der Sekundärgegenstand, der zu einer semantischen Innovation, Verfremdung oder einfach Ausstattung des Primärgegenstandes an diesen herangeführt wird. Hierin kann man eine frühe Abkehr Goethes vom Primat des Religiösen erkennen, das außer in den philosophischen auch in den ästhetischen Aufklärungsdebatten noch bei Hamann und Herder nachwirkt. Literaturgeschichtlich im engeren Sinne wäre von Goethes oder besser: Werthers Umkehr des Verhältnisses zwischen Poesie und Religion im Anschluss an Lyriker wie Brockes, Haller und Hagedorn, vor allem aber an Klopstock zu sprechen, deren poetologisches Selbstverständnis noch religiös oder doch deistisch verankert war.83 Kaum noch geht es Werther um eine poetische Lobpreisung Gottes – auch nicht in der Variante deistischer Aufklärung –, eher um eine pantheistische Ästhetisierung von Poesie. Noch einmal metapherntheoretisch gewendet: nicht kommt den tropologischen Sprachfiguren eine explikative oder auch nur ornamentale Funktion bezüglich von vorrangig Religiösem zu – sondern umgekehrt: die theologischen Revisionsfiguren der Aufklärung dienen einer metaphorischen Erhellung der in ihrer Neuheit noch dunklen Sphäre raumpoetischer Stimmung. 84 Die Spiegelmetaphorik (Kunst, Seele) mit ihrer analogen Positionierung von Gott und Natur führt deren Abhängigkeit von Symbolisierung vor Augen, d.h. ontologisch: kein Gott und keine Natur ohne Kunst.85 Der metapherntheoretisch zulässige Einwand, dass der Primär- und Sekundärbereich in ihrer sprachbildlichen Wirkung untrennbar sind und also ebenso gut von einer Objektivierung des Religiösen in einer wie auch immer neuen poetischen Formgebung gesprochen werden könnte, – greift nicht. Im Gegenteil lässt sich dieser Einwand als weitere Bestätigung auffassen, insofern es unter stimmungspoetischem 83 Dies gilt weitgehend auch schon für die Lyrik des jungen Goethe wobei die Hymnen ‚Grenzen der Menschheit‘, ‚Das Göttliche‘ und ‚Ganymed‘ Ausnahmen bilden mögen. Mit Blick auf eben diese frühen Hymnen sieht Bohrer Goethe offenbar noch im Zeichen einer religionsmimetischen Poesie, denn in ihnen habe er „aus einer Nachempfindung altgriechischer Frömmigkeit und aus einem individualisierten Pantheismus das ‚Göttliche‘ besungen.“ Vgl. Bohrer 1994, S. 102f. Hinsichtlich Hagedorns zeigt Martus hingegen, dass bei diesem die „Poesie […] ein von religiösen Kriterien freies Feld“ (1999, S. 378) beanspruche. 84 Zur Debatte über Innovativität und Geschichtlichkeit der Metapher siehe Danneberg 1995. 85 Zur medientheoretischen Funktion von „Natur als Medium“, das „ein Mittleres zwischen Mensch und Gott“ bildet, siehe hingegen Schüttpelz 2012, S. 124. Er reflektiert in historischer Perspektive (1784-1890) den Medienbegriff im Zusammenspiel mit dem Mediumismus von Trancemedien und zeigt unter systematischen Aspekten vom Mesmerismus bis McLuhans Medientheorie, inwieweit Medien „alles durchdringende Umwelten des Menschen“ (S. 143) sind.

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Aspekt bei Goethe durchaus nicht um den Austausch der Besetzung der Primärposition des Bildempfängers geht; sehr wohl aber um deren Nicht-mehr-Besetzung durch das Religiöse. Es reicht vollkommen, wenn das Religiöse nicht als Bildempfänger aufgefasst wird. Als Bildspender mag das Religiöse gleichwohl in eine analogisch unkontrollierbare Bildbewegung zwischen Empfänger- und Spenderpol eintreten. Richardson reservierte nicht zu unrecht den Begriff Metapher für das Paar Tenor und Vehikel. (Vgl. Richards 1936) Denn deren wechselseitiges Zuspielen von Bildfrequenzen verunmöglicht eine Festlegung auf einen der Partner als Primärfigur, ohne dass dadurch die metaphorische Gesamtwirkung verloren geht. Gerade dieses nicht mehr dualistische, eher schon dyadentheoretische Grundbild lässt die Metaphorik geeignet erscheinen, die dem homologe Strukturbewegung der Stimmung zwischen zwei sich in ihr auflösenden Rahmenelementen sprachlich zu begründen. Wenn es unserer These folgend bei Goethe nicht um metaphysische Stimmungen in poetisch neuem Kleid geht, sondern um poetische Stimmung in metaphysisch folkloristischer Tracht, dann vollzieht sich damit nicht einfach ein Wechsel von Fundierungsverhältnissen. Vielmehr geht der Dichtung mit dem metaphysischen Thema zugleich ihre Halterung in einem Außersprachlichen verloren. Während im philosophischen Diskurs – auch über Kunst und Ästhetik – diese Stelle eines systemischen Außerhalb bis weit ins 19. Jahrhundert noch mit ideellen Begründungsfiguren wie dem Transzendenten, Transzendentalen, Absoluten, Geist oder Unendlichen besetzt gehalten wurde, blieb sie in avancierter Literatur seither vakant. An dessen Stelle, dieser diskursiven Leerstelle, taucht erstmals in Goethes Werther die Stimmung auf. Deren nur schwer greifbare Phänomenalität trägt dem ästhetischen Erscheinen insgesamt seither das Problem seiner Begründbarkeit im BegrifflichRationalen ein. Zum historischen Augenblick des Auftauchens der Stimmung aber findet Goethe eine Sprache zumal für deren ästhetische Räumlichkeit, wie sich auch im Schlusssatz des Briefes vom 10. Mai zeigt. Die Präpositionalphrase „darüber zu Grunde“ weist einleitend schon auf ein vertikales Hoch- und Niederspannen; es folgt auf ein horizontales Ab- und Unterspannen der Stimmung („ich erliege unter“). Werther erliegt indes keiner metaphysischen „Gewalt“ mehr, nicht der „Herrlichkeit“ Gottes, sondern derjenigen der bloßen „Erscheinungen“. Hinter oder in diesen verbirgt sich kein ideelles Wesen mehr. Die phänomenale Differenz ist in der Stimmung aufgehoben.

7. S TIMMUNGSPOETISCHE R ÄUMLICHKEIT Das ästhetisch-phänomenale Grundbild eines im Außen schwebenden Inneren

Nach der nah am Primärtext gehaltenen Analyse von räumlicher Stimmung, die uns bis in die subtextuellen Schichten sprachlicher Details hineingeführt hat, kann nun der Blick auf raumpoetische Aspekte der Textgestaltung im Ganzen geweitet werden. Es sollen in unserem aufs Kompositorische eingestellten Blick die Strukturen hervortreten, an denen sich jene Bildelemente anlagern, welche die poetische Bildung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit auslösen. Solche Strukturen bestehen aus Motiven oder – wie wir oben bereits sahen (Kunst/Gott/Schöpfung/Dilettantismus): Motiv-

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komplexen. Sie bilden zusammen mit rhetorischen Figuren und dem Sprachstil einschließlich Rhythmus86 die ästhetischen Mittel, mit denen die Stimmung oft unmerklich hervorgebracht, als „das Innere [...] des Werks“ zum Tragen gebracht und auch für den Leser spürbar wird.87 Zu nennen wären vorab beispielsweise die um das „Bekanntschaft“-Machen (LjW 18 u.ö.) angeordneten Motive der Kutschfahrt, des Blickes, des Besuchens und des Tanzens; oder um die Liebe organisierte Motive wie (gem)einsame Lektüre, Bewegung, Tränen; Gefühlsintegrale wie das Herz und das Klavierstimmen; aber auch Kinder, Mutter, Traum, der Dritte oder das (Selbst-)Opfer und das Grab. Für die Stimmungsanalyse ist es eine Herausforderung – aber auch der „Sinn, die Richtung des Werks“, wie Goethe sich ausdrückt88 –, dass im Werther beinahe alles auf die Liebe hin ausgerichtet ist. Also auch allgemeinste Stimmungsmotive wie diejenigen, die meteorologisch, jahres- und tageszeitlich bestimmt sind: Sonne, Wind, Sterne oder Gewitter; Frühling, Sommer, Herbst und Winter; Abenddämmerung, Mondaufgang, Nacht u.a. Wir haben bereits gesehen, wie am Romananfang über die raumsemantischen Motive Garten, Landschaft und Gegend die Natur eigentlich zur ersten Liebesbegegnung für Werther wird, die bereits die Grundstimmung für alles weitere bis hinein in die Umstimmung ins suizidale Gegenteil bildet. Als „paradiesische Gegend“, wie schon in der pseudo-natürlichen Gestaltung des Gartens, figuriert die Natur nicht nur Distanz zur, sondern auch Entfernung von der Mutter. Natur konfiguriert eine übertragene Näheerfahrung unter geweiteten Umständen, in denen die lebensgeschichtlichen Frühstimmungen im „Wiegengesang“ (LjW 16) der Homer-Lektüre als kulturgeschichtliche anklingen. Die Reise in die Fremde beginnt also nicht als Initiation in die väterlich codierte Symbolordnung (Motive: Reichkammergericht, Amtmann, Gesandtschaft, Schloss, Adel, Gesellschaftsmoral, Ehe, Sitte), in der alles Vertraute entzogen ist, sondern – eben in Wahlheim – als bewahrende Einübung in die mütterlich codierte Übertragungsliebe. Diese findet im kosmo-erotischen Naturverhältnis (Frühling) und im symbiotisch robusten Verliebtsein ihre Fortbildungen (Lotte), bis ihre 86 Siehe zur theoretischen Erörterung von Rhythmus, die in der neueren Kulturwissenschaft über die rhetorische Analytik hinausgeht, Naumann 2005; mit Bezug zur Stimmung Previsic 2013. 87 In Dichtung und Wahrheit spricht Goethe mit Rückblick auf Hamann, Herder und die hermeneutische Schulung an der Bibelauslegung über seine poetologische „Grundmeinung“. Dabei fällt nicht das Wort Stimmung, wie es dann in eben solchen Zusammenhängen bei Dilthey der Fall ist; wohl aber ist die Rede von einer ihr verwandten Art von ästhetischer Basisphänomenalität, die zwischen Innen und Außen, Seele und Körper sowie zwischen Text und Leser schwebt: „bei allem was [...] überliefert werde, komme es auf den Grund, auf das Innere, den Sinn, die Richtung des Werks an; hier liege das Ursprüngliche, Göttliche, Wirksame, Unantastbare, Unverwüstliche, und keine Zeit, keine äußere Einwirkung noch Bedingung könne diesem innern Urwesen etwas anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Körpers einer wohlgebildeten Seele. So sei nun Sprache, Dialekt, Eigentümlichkeit, Stil und zuletzt die Schrift als Körper eines jeden geistigen Werks anzusehn“. (HA IX 554f.) 88 Siehe die vorangehende Fußnote das Zitat aus Dichtung und Wahrheit (HA IX 554f.).

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imaginären Anteile durch das Prinzip des symbolischen Dritten (Albert, Gesandter) aufgedeckt werden. Schließlich treibt sie den Initiationsverweigerer zur uterochristologischen Heimkehr in die Himmels-Imago der Mutter Gottes (und Lottes) und damit in einen holistisch befeuerten Freitod. Dieser muss dem klinischen Blick als zwangsneurotisch fixiert erscheinen, zumal die Erotik zwar hochgestimmt und todesbewusst ist, nicht aber zwischenleiblich abgestimmt und sexuell durchverhandelt wird. Wie die meisten psychologisch argumentierenden Wertherdeutungen kann auch diese Verlaufsskizze ebenso stimmig wirken wie nicht überzeugend. 89 Nicht nur bliebe die vom Text auf den Leser ausstrahlende Faszination unter klinischem Aspekt unerklärt, auch die tödliche Konsequenz des Hauptcharakters ist kaum mit psychopathologischer Diagnostik vereinbar. Unsere vom ästhetisch Phänomenalen ausgehende Deutung plädiert deshalb für eine Erweiterung der Sicht auf die Hauptfigur durch Einbezug ihrer rhetorischen Gestaltung als Hyperboliker. Die knappe Handlung und ihr umso rasanterer Verlauf zum leidenschaftlich verklärten Selbstmord werden dadurch als ein von rhetorischer Bildpraxis gestaltetes, hyperbolisches Stimmungsgeschehen erkennbar.90 Werthers anfänglicher „Umgang“91 mit der Natur als luxurierend nährendes und immersionstaugliches Milieu, als ‚umfangend umfangene‘ Gegend oder als landschaftliche Konfiguration panerotischer Schwebezustände, ist psychogenetisch gesehen der Fortgang des Vertrautesten noch in der Fremde. Er weist als offenstehender Eingang in die Welt, die den existenzialen Ort bildet, an dem die Reihen raumpoetischer Stimmungsfiguren beginnen, da sind und wieder konvergieren. Das diesen Gemeinsame aber ist für die folgenden kursorischen Stellenanalysen im Auge zu behalten: nämlich das ästhetisch-phänomenale Grundbild eines im Draußen schwebenden Inneren, eines Da, das Hier bedeutet. Nach dessen Entwurf in den ersten beiden Briefen wird es im dritten noch um eine szenisch-imaginative Komponente ergänzt. Sie erweitert das emphatische Gefühl des Im-Raum-seins („alles rings umher so paradisisch“) um surreale Dimensionen („ob so täuschende Geister um diese Gegend schweben“, LjW 16). Nicht aber um damit auf phantastisch „Schauerliches“ (ebd.) wie in der Gothic Novel einzustimmen, sondern um die allzu gewöhnlichen Vorstellungen vom Raum aufzuheben. Namentlich als einem Behälter, in dem alle möglichen Dinge abständig und mit Schwerkraft vorhanden sein, andere Menschen vor89 Siehe etwa die u.a. von Melanie Klein ausgehende Studie von Auer 1999; vgl. ferner zum gemeinsamen Problem psychologischer Ansätze die Einleitung in Schmiedt 1989. 90 Trotz des dadurch von der Stimmung her bewirkten Selbstmords kann bei Werther noch nicht die Rede sein von einem „Stimmungsnihilismus, dessen Zentrum der Selbstmordgedanke ist“, wie dies Bohrer (2003a, S. 31) zurecht hinsichtlich Leopardis tut. 91 Am 17. Mai ist mit Rückblick auf die verlorene „Freundin meiner Jugend“ emphatisch die Rede von einem ‚Umgang‘ mit Liebe als dyadischem Zusammenspiel zweier Herzen und der gefährlichen Nähe zum Imaginären: „Ich würde zu mir sagen: du bist ein Thor! du suchst, was hienieden nicht zu finden ist. Aber ich hab sie gehabt, ich habe das Herz gefühlt, die große Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr zu seyn als ich war, weil ich alles war was ich seyn konnte. [...] Konnt’ ich nicht vor ihr all das wunderbare Gefühl entwickeln, mit dem mein Herz die Natur umfaßt, war unser Umgang nicht ein ewiges Weben von feinster Empfindung [...]?“ (LjW 20)

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kommen und sich entfernen können, in den man gelegentlich eintritt, dem gegenüber man aber ebenso gut außen vor bleiben kann.92 Anstelle dieses seit Newton epistemisch etablierten und kulturell habitualisierten Behälterraums 93 ohne leibliche Resonanzen eröffnen Werthers anfängliche Stimmungsbeschreibungen eine wahrnehmungsästhetische Räumlichkeit. Diese vergegenwärtigt Erfahrungsqualitäten eines allseitigen Umspanntseins, von leiblich gespürtem Getragen- und Fortgetragenwerdens, von Selbstnähe im Weltoffenen. Solche von den Sinnen bewegte und Sinn zeitigende Räumlichkeit ist die schwebende Basis des Stimmungsphänomens. Gewissermaßen aus den ortlos befindlichen Zwischenräumen von Wahrnehmung und Reflexion, Körper und Geist, Natur und Seele heraus lenken Stimmungen die Aufmerksamkeit auf eine mögliche Erfahrung von transgressiver Einheit. So unzumutbar eine solche Erfahrungsmöglichkeit der neuzeitlich eingeübten Vernunftpraxis erscheint, so selbstverständlich bleibt sie der Kunstpraxis erhalten. Ermöglicht und geleistet durch eben diese zwischenräumlich befindliche Stimmung, die einerseits in der psychophysiologischen Wahrnehmung, andererseits im buchstäblich-semantischen Sprachmaterial fundiert ist. Zwischen Sôma und Sêma 94 oszillierend durchzieht die Stimmung im Werther das Handlungsgeschehen, spannt den Leser als Gefühlssubjekt ein und hält den Textraum kompositorisch zusammen. Es soll nach den offensichtlich raumsemantischen Motiven (Garten, Gegend, Landschaft, Schweben, Schwelle) auf weitere Motivkomplexe und einzelne Motive (Bekanntschaft, Idyllik, Nacht, Transzendenz) zumindest aufmerksam gemacht werden, an denen sich das Anheben des Stimmungsphänomens aus seiner sprachästhetischen Fundierung zu seiner Verbreitung im Text beobachten lässt und teils von Wer92 Vgl. hierzu §§ 22-24 von SuZ, insbesondere aber §§ 12 und 13, darin die folgende Ausführung zur existenzialen Räumlichkeit von In-Sein: „Den Ausdruck ergänzen wir zunächst zu In-Sein ‚in der Welt‘ und sind geneigt, dieses In-Sein zu verstehen als ‚Sein in... ‘. Mit diesem Terminus wird die Seinsart eines Seienden genannt, das ‚in‘ einem anderen ist wie das Wasser ‚im‘ Glas, das Kleid ‚im‘ Schrank. Wir meinen mit dem ‚in‘ das Seinsverhältnis zweier ‚im‘ Raum ausgedehnter Seienden zueinander in bezug auf ihren Ort in diesem Raum. [...] In-Sein dagegen meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Körperdinges (Menschenleib) ‚in‘ einem vorhandenen Seienden.“ (S. 53-54) Heideggers In-Sein erklärt die phänomenologische Unterscheidung von Positions- und Situationsräumlichkeit (Merlau-Ponty) und bildet noch für Sloterdijks in Sphären-Band Globen den raumtheoretischen Ausgangspunkt. Vgl. Sloterdijk 1999, S. 396-403. 93 Vgl. zur Schachtel- oder Container-Vorstellung vom Raum, ihrer Infragestellung durch Einsteins Relativitätstheorie und der Transformation des Raumdenkens seit dem spatial turn zur Topologie die Einleitung des Herausgebers Günzel, in: ders. 2007, S. 13-29, hier 16f. 94 Waldenfels (2000, S. 17) verweist auf „dieses von den Pythagoräern überlieferte Wortspiel: σϖμα – σημα“ im Zusammenhang der platonisch tradierten Abwertung des Körperlichen (Sôma). Denn Sêma heißt nicht nur Zeichen, sondern auch Grabmal. Ohne diese Negativkonnotation, aber mit systematischem Anspruch erkundet Hörisch (2008) den somatischsemantischen Grenzbereich.

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ther selbst – etwa in der Form der „Idylle“ (LdW 33 B) – poetologisch reflektiert wird. Dabei konzentrieren wir uns auf den raumästhetischen Aspekt, bevor im nächsten Kapitel die in Stimmungsräumen sich zugleich ausbildenden zeitlichen Bezugsmomente hinzutreten. Da unsere Beobachtungsperspektive in ihrer Verfugung von räumlichen und zeitlichen Dimensionen denjenigen von Bachtin und teilweise auch Bohrer verwandt ist, sind Nähe und Abstand zu deren Konzepten des Chronotopos bzw. des absoluten Präsens kenntlich zu machen. Zudem haben zumindest Seitenblicke auf das raum- und leibphänomenologische Denken von Hermann Schmitz und Bernhard Waldenfels zu erfolgen. Von diesen theoretischen Positionen im literaturwissenschaftlichen und philosophischen Feld können ästhetische Stimmungsanalysen nur profitieren, solange insbesondere zu den beiden erstgenannten die Unterschiede nicht aus dem Blick geraten. In den seit 2008 wieder aufgelegten „Untersuchungen zur historischen Poetik“ – so der Untertitel – schlägt Bachtin einen weiten Bogen vom griechischen Roman der Antike über den schwerpunktmäßig behandelten Rabelais bis hin zu den Hauptlinien der europäischen Romangeschichte vom 18. und 19. Jahrhundert. (Bachtin 2008) Die theoretische Leitschnur bilden „Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman“, wie auch der Haupttitel lautet. Vorangestellt sind einleitende Bemerkungen u.a. mit folgender Definition: „Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (‚Raumzeit‘ müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen.“ (S. 7) Seinen Begriff von „Raumzeit“ will Bachtin von Einsteins Relativitätstheorie her verstanden wissen, also als eine Übertragung, deren theoretischer Anspruch indes seine Uneigentlichkeit hinter sich zu lassen sucht.95 (S. 7) Es geht um eine Verdichtung von „Zeit als vierte Dimension des Raumes“, um literarisch künstlerische Sichtbarmachung eines „sinnvollen und konkreten Ganzen“ (ebd.). Dadurch gewinne der Raum „Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen“ (ebd.). An anderer Stelle spricht Bachtin von „emotional-wertmäßige[r] Intensität“ (ebd. 180) des Chronotopos, was ebenfalls den entsprechenden Auffassungen Bohrers geradezu entgegengesetzt erscheint. Für diesen entsteht Intensität in Dichtungen nicht durch deren realhistorische Sättigung oder Themenfülle und sie sei auch kein Gefühl.96 Denn bei Bohrer ist die ästhetisch verräumlichte Zeit nicht der Ort für Zeitgeschichtliches, historische Referenzen und Ideenschilderung. Vielmehr ist das plötzliche Aufscheinen von absoluter Präsens das ästhetische Zeichen für eine Ablösung von allem Außerliterarischen, gewissermaßen ein versuchter Ausbruch aus dem Geschichtsraum. (Bohrer 1981) Für Bohrer ist die Intensität verräumlichter Zeit also weder sujethaft einzuordnen noch historisch entzifferbar, während für Bachtin der Raum „von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“ (2008, S. 7) erscheint. Boh95 Neben der neuesten Entwicklung in der damaligen Leitwissenschaft Physik sieht Bachtin (2008) seinen Begriff vom Chronotopos von der Biologie, der kommenden Leitwissenschaft, beeinflusst. Erwähnt wird ein Vortrag von A. A. Uchtomski, in dem der biologische Chronotopos mit ästhetischen Fragen verbunden worden sei. (S. 7) 96 Bohrer 1989, S. 87-97. Siehe ausführlicher, unter historischem und kulturpoetischem Aspekt die systematische Studie zum Thema ‚Intensität‘ von Kleinschmidt 2004.

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rers Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die „Semantik ästhetischer Zeit“ – so der Untertitel bei ihm – und damit auf das Reflexivwerden von Erfahrung im kontemplativ oder epiphanisch gesteigerten Augenblick. Dieses als Zeitdimension aufgefasste absolute Präsens scheint auf eine implosive Räumlichkeit im symbolischen Prozess zu setzen und die Phänomenexpansionen von Raum in leiblicher und geschichtlicher Erfahrung ästhetisch auszugrenzen. Demgegenüber setzt Bachtins als vierte Raumdimension entworfener Chronotopos inklusiv an, und er tendiert auf ein „Verschmelzen“ von so unterschiedlichen Kategorien wie Zeit-, Geschichts- oder Wirklichkeitsbezug und transzendentale Erkenntinsformen (Kant), Genre und Form-Inhalt, Sujet (Tomaševskij/Šklovskij) und Motiv. (Bachtin 2008, S. 8) Diese extreme Weitung des Begriffes erfordert dann wiederum dessen Zurückschneidung auf ein methodisch praktikables Format, was aber nicht theoretisch reflektiert geschieht. Dies führt dazu, dass Bachtin seinen Chronotopos auf dem Parcours durch die Romane beinahe synonym mit ‚Motiv‘ verwendet. Dadurch soll er für typologische Differenzierungen sowie historische Klassifikationen brauchbar gemacht werden, zugleich aber eine integrale Reflexionsperspektive auf die europäische Geschichte der Romanpoetik ermöglichen. Dabei bleiben freilich die poetischen Aspekte von Raumzeit als Phänomen ästhetischer Wahrnehmung, Konfiguration und Rezeption weitestgehend ausgeblendet. Während wir im theoretischen Dialog mit Bohrers Präsens-Konzept die Semantik des ästhetischen Raums einschließlich außerliterarischer Referenzen stärker zur Geltung bringen wollen, so ist es hinsichtlich Bachtins die ästhetische Phänomenalität chronotopischer Beziehungen insgesamt. Gegenüber beiden – Bachtin und Bohrer – akzentuiert unser Stimmungskonzept die ästhetische Räumlichkeit, insofern diese wahrnehmungsphänomenologisch fundiert, nicht aber determiniert ist. Ohne ein phänomenologisches Denken des Raumes bleibt dessen Verfugung mit Zeit aber zu abstrakt. Es lassen sich nicht nur ästhetische Stimmungsräume nicht erschließen – poetischer Raumsemantik überhaupt lässt sich kaum gerecht werden. Das scheint Bachtin auch gewusst zu haben, indem er in der Ästhetik des Wortes eine Übertragung von „ursprünglich räumlichen Bedeutungen auf zeitliche Beziehungen“ am Werk sieht, zur Erklärung dieses Vorgang aber auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen verweist.97 Das absolute Präsens wiederum bleibt vom Einwand eines Mangels an raumphänomenologischer Reflexion weitgehend unberührt. Ist Bohrer doch beinahe ausschließlich darauf aus, das ästhetische Phänomen des Literarischen in der zeitlichen Dimension selbst zu verorten und noch das dabei sinnfälligerweise unver-

97 Bachtin 2008, S. 188f. Im Nachwort wird das „entsprechende“ Kapitel identifiziert mit Cassirer 1994a, S. 149-83. In diesem Verweis auf Cassirer wollen Michael C. Frank und Kirsten Mahlke einen massiver nicht vorstellbaren „Appell“ Bachtins an die Literaturwissenschaft erkennen, den Raum in die Romanbetrachtung einzubeziehen. Dabei verkennen sie aus ihrer vom gegenwärtigen spatial turn geprägten Blick, dass es aber auch bei einem Appell eben geblieben ist und das Chronotopos-Konzept selbst weiterhin an einem raumphänomenologischen Mangel leidet, vgl. Bachtin 2008, S. 227. Bachtin selbst hält daran fest, dass „in der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos ist“ (S. 8).

II. RAUM UND K ONFIGURATION

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meidliche Sprechen in Raummetaphern (z.B. Dimension, verorten) der Bildbewegung innerhalb poetischer Zeitstrukturen zuzurechnen.

8. E XISTENZIALES E INWOHNEN IN W AHLHEIM UND B ACHTINS K ONZEPT DES C HRONOTOPOS Diese Bezüge zu den Ansätzen Bachtins und Bohrers sind nicht einfach darauf aus, unseren Ansatz mit ihnen abzugleichen oder von ihnen abzugrenzen, sondern sie – wo es möglich ist – stimmungs-analytisch produktiv zu machen. Im Vergleich mit Bachtins Chronotopos der Begegnung lässt sich im Werther etwa der Motivkomplex des ‚Bekanntschaft-machens‘ in dessen Bedeutung für die narrative Organisation des Geschehens beleuchten. Bevor die von Bachtin schon im griechisch antiken Roman beobachteten „Liebesmotive (erste Begegnung, jähe Leidenschaft, Sehnsucht)“ (2008, S. 11) erzählerisch zum Zug kommen, berichtet Werther – wie oben besprochen – von seiner Begegnung mit der Natur, die ihn auf seine radikal exklusive „Bekanntschaft“ (LjW 18) mit absoluter Liebe einstimmt. Ungeachtet des mit antiker Semantik aufgeladenen Wortes „Schicksal“ verwendet Werther dasselbe ohne damit den sujethaft vorgezeichneten Ablauf eines Liebesabenteuers anzukündigen. Stattdessen deutet seine generalisierende Feststellung, „[m]isverstanden zu werden, ist das Schicksal von unser einem“ (LjW 20), auf verdeckte Weise auf einen fatalen Handlungsverlauf. Denn bevor das schicksalhafte Missverstehen im folgenden auf eine vergangene Liebe („war unser Umgang nicht ein ewiges Weben von feinster Empfindung“, LjW 20) bezogen wird, ist es als soziales, grundsätzlich kommunikatives Problem, ja als anthropologische Verallgemeinerung („O Bestimmung des Menschen“, LjW 20) eingeführt. Das Bekanntschaftmachen des Helden erscheint nicht von den anderen her („Freundschafts-bezeigungen“), eher von ihm selbst eingeschränkt, da er sich von allen Bildungsbeflissenen fern und von „verzerrte[n] Originale[n]“ angeekelt fühlt. (LjW 22) Inmitten dieser negativen Bestands-aufnahme wird über „den fürstlichen Amtmann“ beiläufig auf das baldige Kennenlernen auch von „seiner ältsten Tochter“ hingewiesen. (LjW 22) Mit dem Motiv des Bekanntschaftmachens wird vor Beginn der eigentlichen Liebesbegegnung eine Reflexion über sozial- und individualpsychologische, gesellschaftliche und kulturanthropologische Voraussetzungen von „Entfernung“, „Annäherung“ und In-Berührung-kommen mit anderen in Gang gesetzt. (Briefe 15.,17., 22., 26. Mai) Zur szenischen Auflockerung und zugleich stimmungssemantischen Aufladung werden dabei teils seit der „Antike“ (LjW 22) bekannte chronotopische Motive wie „des Brunnens Kühle“, „unterste Treppe“ (LjW 18), „Paradiese“ und „Gärtchen“ (LjW 24), „Hügel“ und „Gewölbe“, „Marmorfelsen“ und die „hohen Bäume“, homerischer „Wiegengesang“ und „süße Melancholie“ (LjW 16), „Kerker“ und „Freyheit“ (LjW 24), wie auch Stadt und Land, Dorf und Linde verwendet. Imaginative topoi wie auch Umwertungen konventioneller Motive (u.a. negativ: „Pöbel“ zu positiv: „geringen Leute des Orts“, LjW 18) tragen somit zur narrativen Vorbereitung der Bekanntschaft mit Lotte bei. Dazu gehört auch der von Goethe ebenfalls im Faust gestaltete Wechsel von systolischen und diastolischen Szenen.

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Berichtet der Brief vom 17. Mai über konkrete Bekanntschaften, Gespräche, Beobachtungen im offenen Feld des Sozialen, so eröffnet der folgende Brief vom 22. Mai mit dem poetischen Philosophem, dass das „Leben des Menschen nur ein Traum sey“. (LjW 22) Indem „dieses Gefühl immer“ mit Werther „herum[zieht]“, bildet es eine – wie Dilthey sagen würde – Lebensstimmung, die ihr Subjekt mit einem „ich fühle“ (anstelle des transzendentalen ich denke) bei allem, was es tut, begleitet. Nicht nur wird die Aufmerksamkeit des Lesers mit Werthers Soliloquium nach Innen gelenkt.98 Es macht auch die „Einschränkung“ anstelle der Entfaltung der „Kräfte des Menschen“, den Vorrang der „Befriedigung von Bedürfnissen“ gegenüber höherem Streben zu Gegenständen seiner melancholischen Reflexion. (LjW 22) Wenn Werther seinen erhellten Blick auf „unsere arme Existenz“ schließlich als „träumende Resignation“ empfindet, dann entspricht dem die Melancholie, wie sie u.a. Lepenies für die mentale Lage des deutschen Bürgertums der Zeit geltend gemacht hat.99 (LjW 22) Dabei ist Melancholie von Carl Gustav Carus über Karl Hillebrand bis Lepenies die Resignationsfigur einer bürgerlichen Mentalität und revolutionären Utopie, die im ‚eskapistischen‘ Fall Werthers durch dessen empfindsamen, übersensiblen bis verweichlichten Züge hervortreten. 100 Auch noch Werthers beredte Mitteilung an Wilhelm, dass ihn „das alles“ stumm mache, lässt sich als saturnalisches Stimmungssymptom auffassen. Daraus folgert Lepenies, dass Melancholie eine Art sozialpsychologischer Stimmungsreaktion sei, die den Einzelnen in seiner Innerlichkeit und in der Natur gleichermaßen Fluchtorte aufsuchen lässt. Dies aber verengt die Auffassungen von Natur und Innerlichkeit tendenziell auf Abstand zur Gesellschaft und Welt überhaupt. Werthers einsetzende Einkehr nach Innen vollzieht sich indes nicht wahrnehmungslos und trägt im Gegensatz zur Melancholie eigene konstruktive, Welt erschließende Züge. Einkehr kann zudem weder psychologisch als Regression noch geistphilosophisch als Reflexion substantieller Innerlichkeit überzeugend erklärt werden.101 Denn nicht stößt sie in der Tiefe auf ein absolutes oder auch nur gestimmtes Ich. Stattdessen erweist sich der Selbstbezug als Vollzug einer existenzialen Öffnung zur „Welt“; einer die Innen/Außen-Schwelle produktiv aufhebenden Bewegung also. Diese tendiert gerade nicht auf melancholische Fixierung, sondern auf eigendynamische Verflüssigung: „Ich kehre in mich selbst zurük, und finde eine Welt! Wieder mehr in Ahndung und dunkler Begier, als in Darstellung und lebendiger Kraft.“ (LjW 22f.) 98

Zu einer differenzierten Betrachtung der literarischen Funktion des Soliloquiums in der Geschichte der Literatur bis zu Werthers Vorgänger Rousseau siehe Butzer 2008. 99 Lepenies 1972; siehe unter differenzierterem Phänomenaspekt H. Böhme 1988b; außerdem Völker 1978; von einem interdisziplinärem Ansatz her Schwarz 1996. 100 Vgl. Carus 1949 und Hillebrand 1885, S. 106ff. Seinem Melancholiekonzept entsprechend sieht Lepenies in Werther vor allem einen Gesellschaftsflüchtling und „déserteur du monde“. (1972, S. 97, vgl. 109) 101 Meyer-Kalkus erklärt indes psychoanalytisch Werthers Melancholie über deren „symptomatische Aufspaltung in eine kritische und eine kritisierte Instanz.“ In dieser „phantasmiert Werther die rettende Tendenz“, sie treibe ihn auf die „Suche nach einem abwesenden Dritten“ und bedeute „die Sehnsucht nach dem toten, symbolischen Vater“. (1977, S. 126f.)

II. RAUM UND K ONFIGURATION

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Anstelle des wahren Selbst findet Werther die stimmende Welt. An ihr wird das raumzeitliche Momentum gefühlt, das konstitutiv für ein Selbst ist, das noch keine Gegen-Wart im Raum („Darstellung“) und auch noch kein autonomes Handeln („lebendiger Kraft“) kennt. Stattdessen spürt es sich bloß – damit das Phänomen Stimmung entdeckend – als verfließende Grenze zwischen Wahrnehmung und Vorbewusstem („in Ahndung und dunkler Begier“): „Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich lächle dann so träumend weiter in die Welt.“ (LjW 24) Werthers als verlängerte Außen-Wahrnehmung erfahrene Introspektion etabliert sich auf dem Weg zurück ins Innen der Welt als das schwimmende Etwas, das wenig später in der Romantik Stimmung heißen wird. Und wie in der Romantik die Kindheit zum Motiv für eine ursprünglichere Weltbeziehung entwickelt werden wird, so erklärt Werther seine Stimmung avant la lettre aus seinem Verständnis des kindlichen Daseins und darüber hinaus zum anthropologischen Existenzmodus: „Daß aber auch Erwachsene, gleich Kindern, auf diesem Erdboden herumtaumeln, gleichwie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, [...] das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man kann’s mit Händen greifen.“ (LjW 24)

Der kindliche Zustand befinde sich in einer Art selbstgewiss verspieltem NichtWissen, das aus seiner Bezugslosigkeit zu kausalen Gründen und „wahren Zwecken“ ein bewusstloses Glücklichsein zu erhalten weiß. Erst mit dem Reflexivwerden dieser naiven Spielstimmung („Wer aber in seiner Demuth erkennt“) wird aus dem „glükliche[n] Geschöpfe“ das subiectum des „Unglükliche[n]“, das aus dem existenzialen Vorlaufen in den Tod „das süsse Gefühl von Freyheit“ bezieht. (LjW 24) Nach diesem reflektierenden Brief, der das einsame Bekanntschaftmachen mit der condition humaine behandelt, folgt dem Rhythmus von phänomenhafter Engung und Weitung gemäß der nächste Schritt der unterschwelligen Stimmungsbildung. Dieser erfolgt mit Blick auf das Motiv Bekanntschaft-machen als Aufbau einer Erwartungsspannung, die gewissermaßen noch gar nicht weiß, was oder dass überhaupt etwas erwartet wird. An diesem 26. Mai erinnert Werther seinen Freund daran, dass Bekanntschaftmachen das Eintreten zweier in eine von nun an geteilte Räumlichkeit bedeutet. Voraussetzung genuin räumlich strukturierter Beziehungen, wie es mehr oder weniger intime Bekanntschaften sind, ist das Vertrautsein mit Stimmungen des In-Seins. Ähnlich der Heideggerschen Explikation des existenzial-ontologischen Modus von In-der-Welt-Sein102 verwendet Werther die hier durchaus nicht gewöhnli102 Siehe zur nicht-containerartigen Räumlichkeit wiederum SuZ §§ 12, 13, 22-24, hier die folgende Ausführung zum In-Sein: „In-Sein [...] meint eine Seinsverfassung des Daseins und ist ein Existenzial. Dann kann damit aber nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Körperdinges (Menschenleib) ‚in‘ einem vorhandenen Seienden. Das In-Sein meint so wenig ein räumliches ‚Ineinander‘ Vorhandener, als ‚in‘ ursprünglich gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet; ‚in‘ stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten; ‚an‘ bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im Sinne von habito und diligo. Dieses Seiende, dem das Insein in dieser Bedeutung zugehört, kennzeichneten wir als das Seiende, das ich je selbst bin. Der Ausdruck ‚bin‘ hängt zusammen mit ‚bei‘; ‚ich bin‘ besagt wiederum: ich woh-

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che Metaphorik des An- und Aufbauens, des Wohnens und Vertraut-sein-mit zur Beschreibung seiner Eigenart der (Selbst-)Kultivierung bestimmter „Plätzchen“: „Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, irgend mir an einem vertraulichen Orte ein Hüttchen aufzuschlagen, und da mit aller Einschränkung zu herbergen.“ (LjW 26) Wie der Hinweis „von alters“ sich über den individualgeschichtlichen Aspekt hinaus auf eine psychogenetische Wurzel hin deuten lässt, so sich lässt das agrikulturelle Anbauen in reflexiver Form in eine Richtung deuten, die über das vegetative Wurzelnschlagen in der Mutter-Erde hinaus auf die humane Einnistung in den Uterus weist. Hält man sich an die phänomenologische Begrifflichkeit, so kommt Werther in der Fremde erst wieder zu sich im „Hüttchen“ des Seins, wenn sich das Da nicht mehr ins nomadische Dort entzieht, sondern zu einem Hier „an einem vertraulichen Orte“ aufsprießt. Schließlich Werthers scheinbar idiosynkratische „Art“ sich draußen einen Innenraum wie ein Welt-Zelt „aufzuschlagen“ („Hüttchen“-Metapher) und „da“ „zu herbergen“, verweist meta-phorisch wie psychologisch auf die Übertragbarkeit resonanzräumlicher Gestimmtheiten zwischen lebens- und insbesondere auch liebesgeschichtlichen Zeitphasen. In der als individuelle Eigenart empfundenen Selbstbeherbergung in der lebensund kulturgeschichtlich („von Alters her“) sich fortlaufend wandelnden Welt kommt die anthropologische Weise des Daseins zum Ausdruck, die erst wieder in Heideggers räumlicher Existenzialanalytik philosophisch geltend gemacht wird. Deren phänomenologische „Pointe“, die dort mit dem „Hinweis auf das altdeutsche Verbum innan“103 gesetzt wird, fasst Sloterdijk wie folgt zusammen: „Was [Heidegger] das In-der-Welt-sein nennt, bedeutet nichts anderes als die Welt ‚innen‘ in einem verbal-transitiven Sinn: ihr einwohnen im Genuss ihrer Erschlossenheit durch vorgeleistete Einstimmungen und Ausgriffe. Weil Dasein eine immer schon vollzogene Wohn-Tat ist – Ergebnis eines Ur-Sprungs ins Einwohnen –, gehört Räumlichkeit der Existenz unabtrennlich zu.“104

Die Werthersche Stimmung dreht sich immer auch um diesen existenzialen Punkt samt seiner eigen- und welträumlichen Ausdehnungs- und Erschließungsbewegung: vom euphorischen In-der-Natur-sein des Anfangs, über das Hineinwohnen in die ne, halte mich auf bei … der Welt, als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des ‚ich bin‘, d.h. als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei…, vertraut sein mit… InSein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat.“ (S. 54, Hvh. i.O.) 103 Siehe die eben zitierte Textstelle in SuZ 54. 104 Das Zitat fährt aufschlussreich auch für Werthers Hüttchen- und Herbergsmetaphorik fort: „Die Rede vom Einwohnen in der Welt heißt nicht den Existierenden einfachhin Häuslichkeit im Riesenhaften unterstellen: Denn gerade das Zuhause-Sein-Können in der Welt ist das Fragliche, und von ihm wie einer Gegebenheit auszugehen, wäre schon der Rückfall in die Behälter-Physik, die hier überwunden werden soll – der Denkfehler übrigens, der in allen holistischen Weltbildern und Mutterleibsimmanenzlehren begangen wird und zu frommem Halbdenken verfestigt vorliegt.“ (Sloterdijk 1999, S. 397)

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provinzielle Häuslichkeit der Welt Lottes samt ihres familiären Beziehungsspektrums, bis hin zum Heraustreten aus dem Haus des Seins durch den suizidal offenstehenden Exitus. Im zitierten Anfang des Briefes vom 26. Mai lässt sich die ansonsten kaum verständliche Formulierung „und da mit aller Einschränkung zu herbergen“ als Hinweis auf existenziale Vollzüge des Einwohnens in die Welt verstehen. Denn die Extension des Bildes vom Hüttchen zu den mit nomadischem Dasein verbundenen Einschränkungen als metaphorischen Zierrat oder als materielle Bedürfnislosigkeit etwa im Sinne von bloßer Bescheidenheit aufzufassen, würde zumal die kompositorische Stellung dieses Passus verkennen. Vielmehr vergegenwärtigt die bildliche Rede von Einschränkung hier die konstruktiv asketische Beschränkung auf das Wesentliche des hermetischen Rückzugs in selbstgebaute Resonanzräume. Nämlich ungewohnten Umgebungen das in diesen sich entziehende Da-sein durch Aufbau eines eigenen Weltverhältnisses abzugewinnen und sie so zu „einem vertraulichen Orte“ umzustimmen. Diese analytische Lesart des Briefanfangs erlaubt schließlich dessen Bedeutung innerhalb der Narratio Rechnung zu tragen. Werthers Erinnerung an sein habitualisiertes Welt-Innen durch Hüttchen-Aufschlagen an ausgewählten „Pläzchen“ bildet das Modell für seine Entdeckung „Wahlheims“. Dabei ist diesem Namen – selbstverständlich – die autogene Übertragungsstruktur des Selber-Wählens desjenigen Ortes eingebildet, wo man da-heim sein mag und wohin man nicht zufällig ‚geworfen‘ ist. Den der einheitlichen Sinneswahrnehmung abgelesenen Sinn eines Weltganzheit („Thal“) erschließenden Einwohnens und „angezogen“ Werdens bildet Werthers topographische Beschreibung ab: „Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant, und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht, übersieht man mit Einem das ganze Thal.“ (LjW 26) Weiter beschrieben wird nun ein dorfbauliches Ensemble, das mithilfe von mutteridyllischen Motiven (u.a. „gute Wirthin“, Getränkeausschank, „zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten Ästen den kleinen Platz vor der Kirche bedecken“) und konstellativen Elementen („ringsum“, „eingeschlossen“) von einer räumlich bergenden Stimmung überwölbt erscheint: „So vertraulich, so heimlich hab ich nicht leicht ein Pläzchen gefunden“. (LjW 26) Das diesen semi-panoramatischen („mit Einem das ganze Thal“) Stimmungsblick gewährende Belvedere-Pläzchen in der Landschaft ist zugleich die mediale Stelle, die für die Lektüre im Freien auserlesen ist und selber zum Topos werden wird. 105 An bzw. in ihr tritt der „Wiegengesang“ (LjW 16) Homers in eine wechselseitige Über105 Ohne Bezug gerade auf diese Stelle im Werther reflektiert Geulens „Stellen-Lese“ theoretische Implikationen literarischer Topoi und den historischen Wandel ihrer Bedeutung. Sie nimmt dabei Bezug auf E. R. Curtius’ neubegründete Topos-Forschung. Diese „datiert den Prestigeverlust der literarischen Topoi präzise auf das Auftauchen des Wortes Gemeinplatz. Um 1770 bürgere sich das dem englischen common place nachgebildete Gemeinplatz ein und löse das Lessing und Kant noch vertraute Gemeinörter ab. An der gleichzeitigen Proliferation nicht nur von schönen Stellen, sondern der Rede von schönen Stellen und also eines eigenen Diskurses über die Stelle, kann kein Zweifel sein. Es ist schließlich die Zeit der Lektüre: Anton Reiser, Werther, und andere lesen im Freien, an schönen Stellen, schöne Stellen.“ (2001, S. 478)

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tragung mit der landschaftsräumlich geweiteten Hochstimmung. Der Durchbruch („Das erstemal“) zu einem psychoakustisch verstärkten Resonanzraum geschieht signifikanterweise an der unbesetzt gefundenen Aussichtsstelle („fand ich das Plätzchen so einsam“) und wird als Inversion chronotopischer Beziehungen erlebt („als ich durch einen Zufall an einem schönen Nachmittage unter die Linden kam“): „Es war alles im Felde.“ (LjW 26) Einsam das schöne Pläzchen als struktural leere Stelle entdeckend öffnet sich der Blick weiter für Konfigurationen (früh)kindlicher Erfahrungen („Brust“, mutterleiblicher „Sessel“), wie sie Werther in der „brüderliche[n] Stellung“ der vier- und halbjährigen Kinder sieht und als Idealstimmung – „Munterkeit“ bei motorischer Ruhe – genau beschreibt. Dass und wie eben diese Art Stimmungen, die psychogenetisch grundierte Bilder mit solchen der raumzeitlich aktuellen Aisthesis und Kinästhese konfigurieren, den bevorzugten Gegenstand von Kunst bilden – darauf macht Werther selbst aufmerksam. Denn von diesem „Anblik“ vergnügt, zeichnet er das urszenische Verfugtsein der kindlichen Körper, indem er sie in eine räumliche Konfiguration einer Landidylle einbettet („den nächsten Zaun“, „Tennenthor“, „gebrochne Wagenräder“). (LjW 26) Ungeachtet dieser gestalterisch „wohlgeordnete[n]“ Objektergänzungen meint er sich mit seiner genrehaften Stimmungs-„Zeichnung“ nachher ganz an die unendlich reiche „Natur“ als alleinige Lehrerin des „großen Künstler[s]“ gehalten zu haben. (LjW 28) Die damit anhebende Kunstreflexion über den von Regeln entbundenen „Strom des Genies“ („das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruk derselben“) leitet den Dilettanten über zu einem „Gleichniß [...] mit der Liebe“, das seine bedingungslose Hingabe an Lotte an antizipiert. (LjW 28) Bevor er drei Wochen später mit Lotte Bekanntschaft macht, berichtet ein weiterer Brief vom Kennenlernen der Mutter der beiden Knaben. Werthers „malerische Empfindung“ wird dadurch explizit mit dem Topos „aller mütterlichen Liebe“ korreliert, die zuvor der psychostrukturalen Tiefenschicht des Stimmungsbildes nur implizit war.106 (LjW 30) Darüber hinaus wird der Chronotopos Bekanntschaft mit zeitlichen („Abend“, „Sonntags“, „nach der Betstunde“) und idyllischen Motiven der Versorgung der Kinder mit einfacher Nahrung („weis Brod“, „ein irden Breypfännchen“, „Süppchen“, „Wek“), ihrem Zutraulichwerden gegenüber dem Fremden („sie kriegen Zukker [...] und theilen das Butterbrod und die saure Milch mit mir“) und dessen Freude an ihnen angereichert. (LjW 30f.) Dieser sorgfältig aufbereitete Motivkomplex des Bekanntschaftmachens mit einer von Kindern umwimmelten „junge[n] Frau“ auf dem Lande erscheint in der brieflichen Mitteilung in Form konventioneller Stimmungsbilder, die dann in der Bekanntschaft mit Lotte nur noch aufgerufen und dadurch intensiviert werden. Dieses reflektierende Moment kommt aber auch schon während der Einstimmung auf das Bekanntwerden mit Lotte zum Zug, wenn deren an der Mutterrolle haftende Anzie106 Psychoanalytische Deutungsperspektiven sehen Werther etwas zu einseitig an einer Restitution der verlorenen oder verdrängten Liebe zur Mutter, wodurch ihr schließlich die Mittel zur Analyse und Deutung ästhetischer Darstellungszusammenhänge entgleiten. Vgl. z.B. die Beiträge in Schmiedt 1989, insbes. aber Meyer-Kalkus (1977), der sozialgeschichtliche Zusammenhänge der kulturell gewachsenen Bedeutung der Mutter-Imago einbezieht.

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hungskraft hier typologisch an „des Schulmeisters Tochter“ (LjW 30) entwickelt und von Werther – fast schon „hingerissen“ (LjW 33 B) – kommentiert wird. Dabei greift er wieder das zentrierende Räumlichkeitsmotiv der Einschränkung auf und verwendet es in einer Goethe von Herders Reisejournal vertrauten Kreis-Formel für existenztopologische Alltäglichkeit: „Es ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu machen [...], wenn meine Sinne gar nicht mehr halten wollen, so linderts der Anblik eines solchen Geschöpfs, das in der glüklichen Gelassenheit so den engen Kreis seines Daseyns ausgeht, von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blätter abfallen sieht, und nichts dabey denkt, als daß der Winter kömmt.“ (LjW 30)

9. G LÜCKLICHE G ELASSENHEIT Zur kompositorischen Bedeutung der Chronotopoi

Ein solches näheräumlich intaktes Dasein, wie es im zuletzt zitierten Passus aufscheint, bezieht seine „glükliche Gelassenheit“ auch aus der Synchronisation von Lebens- und Naturzeit, die im zyklischen Stimmungswechsel der Jahreszeiten erfahren werden kann. Diese aus räumlichen und zeitlichen Beziehungen gewobenen Stimmungsbilder werden im Vorfeld der Begegnung mit Lotte zur textuellen Organisation der Bedingungen verwendet, die eine Totalisierung von Liebe ermöglichen. In der zweiten Fassung schaltete Goethe hier nun den zusätzlichen Brief vom 30. May ein, der den vorbereitenden Stimmungscharakter der bisherigen Briefe nur noch verstärkt. Die Nicht-Hinterschreitbarkeit psychoanalytischer Einsichten in nur scheinbare „Seltenheiten“ gibt zu verstehen, dass die Liebesgeschichte des „Bauernbursch[en]“ mit der signifikant älteren „Witwe“ („nicht mehr jung“) und Herrin die ödipalen, allgemeiner: imaginären Elemente in der Struktur von Liebe hervorhebt. (LjW 35 B) Zumal Werther im Eindruck und Anschluss der Erzählung sich das dadurch entstandene „schöne Bild“ nicht durch den Augenschein des Realen „verderben“ lassen will. (LjW 37 B) Unsere auf die Darstellung von Stimmung achtende Lektüre ist dazu geeignet, diese auf psychoanalytisch rekonstruierbare Strukturmuster eingestellte Deutung vor puristischen und zumal pathognostischen Vereinseitigungen zu bewahren. Sie vernimmt Werthers von der wilden Bauernehe berichtende Rede von „Reinheit“ (kumulativ), „Unschuld“, „Wahrheit“ und „Treue“ (kumulativ) nicht als sentimentalische Verstiegenheiten und auch nicht als Symptom neurotischer Mutterbindung.107 Sondern als Hinweis auf ein anthropologisch ausgewogenes Verständnis von Übertragungsliebe, insofern Werther diese als „Naturerscheinung“, gewissermaßen als natürliche Stimmungsmatrix von Liebe überhaupt zu verstehen versucht. (LjW 35 B) Erstmals in seinem „Leben“ sieht Werther in reiner „Begierde“ auch wahrnehmungssinnliche „Reinheit“, in der sexuellen „Wahrheit“ des vollen Begehrens den Ausdruck des ‚ganzen Menschen‘, wie ihn das 18. Jahrhundert bislang „nicht gedacht 107 Dies ist der nachvollziehbare, aber limitierte Fokus psychologischer Deutungen, wie etwa bei Faber 1973. Vgl. den Überblick zu psychologischen Ansätzen und deren Kommentierung in Duncan 2005a, S. 59.

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und geträumt“ hat. (LjW 35 B) Werthers physiognomisch (anstelle von psychologisch) eingestellte Bauernbeobachtung achtet genau auf den „Ausdruck seiner Geberden, die Harmonie seiner Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke“, bevor er seiner eigenen Empathie den freien Lauf ins Imaginative gestattet. 108 Wenn Werther abschließend vom Angestecktwerden („wie selbst davon entzündet“) durch diese mehr sinnlich reine als rein sinnliche Liebesstimmung spricht, dann geschieht dies im narrativen Modus des Wiedererzählens von Erzähltem. (LjW 37 B) Was sich darin hochschaukelt, ist ästhetisch mehr und anderes als bloßes Sympathisieren eines narzisstisch Gestörten mit einem anderen. Über die heute besser als zur Wertherzeit sichtbaren individual- und sozialpsychologischen Pathologien hinaus lässt sich das vom Pathischen her geleitete Stimmungsphänomen beobachten, das Goethe seinen Werther selbst schon an sich, an anderen und um sich herum beobachten lässt. Nach dem Abnabeln von Eleonore – und der Mutter ent-fernt dahinter – hat sich Werther über „eine junge Mutter“ (Schulmeistertochter) und in der 2. Fassung noch dazu durch die Erzählung von der Witwe in ein reflektiertes Verhältnis wie auch in eine leiblich gespürte Disposition („lechze und schmachte“) zur Liebe und deren Übertragungsmöglichkeiten versetzt. (LjW 37 B) Gewährt ersteres hinreichend Beobachtungsdistanz, um das offene Feld des Nichtbesetzten im Blick zu behalten, so sorgt das zweite durch Schärfung des Blickes für die Einstimmung auf erotische Begegnungen. Sechs Wochen nach seiner Ankunft, in denen dieselbe als Schwellenerfahrung Stimmungen hervorgebracht und deren Wirklichkeit bewusst gemacht hat, hat Werther „Charlotten S.“ (LjW 38) kennen gelernt. Schwankend zwischen ‚Wohlbefinden‘ und Jubel einerseits – ‚Nichtwissen‘ und Verstummen andererseits, hält Werthers Stimmung ab jetzt das kompositorische Zentrum besetzt. 109 Im extrovertiert-intensiven Modus des Verliebtseins wird sie zudem ebenso sprachlich wie bewusstseinsmäßig dominant: „Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weis nicht. [...] Ich bin vergnügt und glüklich [...] doch bin ich nicht im Stande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist, genug, sie hat all meinen Sinn gefangen genommen.“ (LjW 36)

Was hier mit „sie“ bezeichnet wird – gemeint scheint natürlich Lotte – lässt sich pronominal auch auf die Verliebtheit als extraordinärer Zustand oder eben die Stimmung 108 Siehe zur gegenwärtigen Diskussion über das Konzept der Empathie Breithaupt 2009. Der Begriff der Empathie wird vom Autor als „Mittel der Kommunikation“ (S. 16) entwickelt. Zudem verwendet er in einem Abschnitt einen Begriff von Stimmungen synonym mit Emotionen und im Sinne von „inneren Gegebenheiten“ (S. 88), die in Verbindung mit früheren Ereignissen stehen. 109 Bezeichnend für Werthers „Charakter“ sei das „Schwanken zwischen Selbstbehauptung und -entäußerung“ und daraus erkläre sich „das andauernde Schwanken seiner Grundhaltung und Gemütsstimmung, das Nachgeben gegenüber seinen Stimmungen, den Mangel einer festen Lebensführung, das für ihn so bezeichnend ist.“ Diese Verwendung des Stimmungsbegriffes entspricht seiner in der Einleitung diskutierten Selbstverständlichkeit in der Germanistik bis in die 1970er Jahre, hier bei Reiss 1963, S. 65f.

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beziehen. Prälogisch ansetzend teilt die Stimmung mit der Liebe ihre ebenso bestürzende wie erhebende Grundlosigkeit. Nicht aber wollen wir der psychologischen Binsenweisheit folgen, dass Werther mehr in die Liebe selbst als in Lotte verliebt ist und dafür die analytisch bekannte Idealisierung der Objektbesetzung anführen. Dass bereits wiederholt herausgearbeitete, die Subjekt-Objekt-Spaltung hinterschreitende Moment der Stimmung deutet selbstverständlich in diese Richtung einer präpersonal umfassenden Struktur von Werthers Liebe. Diese mag somit in der Verliebtheitsstimmung den sich entziehenden Grund für ihre Vollkommenheit haben. Die textnahen Analysen der Stimmung samt deren kontemplativen Expansionen in einen Naturinnenraum am Romananfang, ließen sich auch am und nach Beginn der durch sie stimmungsmäßig vorbereiteten Bekanntschaft mit Lotte fortführen. In dieser raumpoetischen Untersuchungsperspektive auf den Werther konturiert sich immer wieder die Überschreitungsfigur eines binnenräumlich erschlossenen Außen, das dadurch jenseits psychologischer Zustandsinnerlichkeit die raumzeitliche Phänomenkomplexität von Stimmung sichtbar werden lässt. Wir werden im folgenden auf solche Stellen, wie sie etwa im Verbund mit Immersionsmotiven wie Nacht, Gewitter, Blick, Tanz auftauchen u.a., nur noch kurz aufmerksam machen und Besonderheiten anzeigen. Die bis hierher mehrfach herausgehobene Räumlichkeit des Stimmungsphänomens hat indes auch schon gezeigt, dass sie mehr ist als ein ästhetisches Dispositiv für Zeitlosigkeit, worauf sie Bohrer meistens zu reduzieren scheint. Er zeigt an Tiecks Der blonde Eckbert überzeugend, wie dort eine „imaginäre Stimmung“ das Eintreten in eine „Zeitaufhebung“ bedeutet und in der zeitlosen Waldeinsamkeit die reale und insbesondere die historische Zeit völlig zurücktritt. 110 In Goethes mehr leidenschaftlichem als empfindsamem Vorspiel zum Beginn literarischer Romantik 111 hingegen ist die Stimmung von wechselseitig intensiviertem Erleben von Zeit und Raum gezeichnet. Noch Werthers zu einer Nähewelt eingezogene Einsamkeit – im Unterschied zur unheimlichen Einsamkeit von Eckberts Weltabkehr – verharrt nahe am phänomenalen Unruheherd und ist vornehmlich keine eskapistische Stimmung. Dass seine Stimmung ihn nicht nur trägt, sondern auch in den Selbstmord treibt, weist auf die emotionale Kraft und deren ‚romantischen‘ Gefahrenpotenziale hin, unterscheidet sich aber noch deutlich vom unheimlichen Irrewerden und der Raserei Tieckscher und Hoffmannscher Figuren.112 Die enge Wirklichkeitsbindung der Stimmung bei Goethe zeigt sich etwa auch beim Kennenlernensball, wenn der Tanz durch die „Blizze“ unterbrochen wird und der „Donner die Musik überstimmte“. (LjW 50) Die schlagartig im Saal ausbrechende „Unordnung“ und um sich greifende Furcht ist trotz der „wunderbaren Grimassen“ keine vom Unbewussten aufsteigende Angst. (LjW 50) Ihre psychologische und phänomengerechte Vermittlung mit dem Realen des Gewitters einerseits und die wegen des hochgestimmten „Vergnügen[s]“ erhöhte Empfänglichkeit für „etwas 110 Siehe Bohrer, „Denn Gedanken stehn zu fern? Moderne aus dem Geist der Musik,“ in: ders. 1998, S. 37-57. 111 Zur Vorbereiterfunktion Goethes für die Romantik siehe Wellbery 1996; mit Blick auf den Werther Buck 1987, S. 75-91. 112 Siehe exemplarisch zum Drama Der Abschied im Kapitel zu Tieck B-II.

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schrökliches“ andererseits, wird sogar zum Gegenstand von Werthers Reflexion. Im Unterschied zum romantischen Phantastischen, auf dessen Unterscheidung durch Todorov in „Wunderbar-Phantastisches“ (Novalis) und „Unheimlich-Phantastisches“ (Tieck) Bohrer an anderer Stelle Bezug nimmt 113, ist die im Werther als umgeschlagene Feststimmung arrangierte Angst konkret bestimmt: raumphänomenologisch über das lebhafte Empfinden „stärkere[r] Eindrükke“ und zeitphänomenologisch durch die „Sinne“ in ihrer der „Fühlbarkeit geöffnet[en]“ Aktualität. (LjW 50) Dies gilt pars pro toto für Goethes literarische Erfindung der Stimmung insgesamt, insbesondere für das Umschlagen von Werthers Hochstimmung des Frühlings und des Verliebtseins in diejenige des Herbstes und des Sterbensollens. Unsere Goethes Rückkopplung der Stimmung an die Realität wahrnehmungssinnlicher Phänomene entsprechende Konzeptualisierung macht den weiter oben eingeführten Unterschied zu Bachtins Konzept des Chronotopos aus. Zwar zielt Bachtin programmatisch auf die räumlichen und zeitlichen Beziehungen in der Literatur und macht sie in einer Reihe von Chronotopoi auch namhaft. Diese bleiben jedoch im interpretierenden Zugriff auf die Romane ästhetisch-phänomenal unbeleuchtet und regredieren zunehmend auf ihre Motivfunktion, wo sie der typologischen Klassifizierung der verschiedenen Genres und Sujets dienen.114 Interpretationen am Leitfaden von Stimmung können Chronotopoi dennoch mit Gewinn verwenden, indem sie diesen gerade durch die Perspektivierung des Stimmungsphänomens analytische Tiefenschärfe verleihen, wie oben die Spezifizierung von ‚Begegnung‘ als Bekanntschaftmachen gezeigt hat. Gewissermaßen umgekehrt kann Bachtins Chronotopos dabei helfen, die Stimmung hinsichtlich ihres kompositorischen Bedeutungsaspekts auszuleuchten. Hierzu werden deren Phänomene der räumlichen Resonanz und zeitlichen Verflechtung in ihrem Zusammenspiel mit konventionellen Motiven beobachtet und damit als textuelle Strukturierungsprinzipien erkennbar. So setzt Goethe – wie wir gesehen haben – bei der Vorbereitung der Einführungssituation zwar auf eine rhetorische Inszenierung von Stimmung, um die Einzigartigkeit der individuellen Erfahrung von Natur und Begegnung mit Menschen zu zeigen. Dadurch wirkt die anschließende Bekanntschaft mit Lotte schon nicht mehr nur als die sujethafte, „erste Begegnung des Helden mit der Heldin“, wie Bachtin sie etwa für den griechischen Roman als „das jähe Aufflammen ihrer gegenseitigen Liebe“ ansetzt. (Bachtin 2008, S. 12) Jedoch arbeitet Goethes Stimmungsrhetorik von Beginn an auch mit idyllischen Motiven, deren beruhigende Herkömmlichkeit dem zeitgenössischen Leser das Neuartige des Stimmungsexzesses ebenso verdeckt hält wie annehmbar macht – somit gewissermaßen unterjubelt. Dazu ist ein Blick auf Bachtins drei Besonderheiten des idyllischen Chronotopos nützlich, insofern sie in der Stimmung untergeordneten Formen auch im Werther durchschimmern. Da ist zum einen die Einheit des Ortes. Sie ist mit Wahlheim gegeben, insofern dort neben allen „Seltenheiten“ und unter alten Linden auch die „Einheit des Lebens der Generationen“ (Bachtin 2008, S. 160) ins Bild rückt: wie mit Lottes angenom113 Siehe hierzu Bohrer, „Das Romantisch-Phantastische als dezentriertes Bewußtsein. Zum Problem seiner Repräsentanz,“ in: ders. 1998, S. 9-36, hier 15. 114 Siehe zur Verschleifung von Motiv und Chronotopos anhand der ‚Begegnung‘ Bachtin 2008, S. 20-23.

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mener Mutterrolle in der Herkunftsfamilie, wobei wiederum das Kreis-Motiv115 die Beschränkung aufs Einfache anzeigt; oder beim Besuch des Dorfpfarrers unter den immer selben Nussbäumen. Über sie wird Werthers Blick – zweitens – an die idyllentypische Beschränkung „auf einige wenige grundlegende Realitäten des Lebens“ herangeführt, die Bachtin mit „Liebe, Geburt, Tod, Ehe, Arbeit, Essen und Trinken, Altersstufen“ benennt. (S. 161) In dieser „gedrängten Mikrowelt der Idylle [...] findet die Sexualsphäre [...] fast immer in sublimierter Form Eingang.” (S. 161) Die wieder an die erste anschließende dritte Bachtinsche Besonderheit der Idylle ist diejenige, die Werthers neue Stimmungssprache gleich in den ersten Briefen wie vertraut klingen lässt: „die Verquickung des menschlichen Lebens mit dem Leben der Natur, der einheitliche Rhythmus beider sowie die gemeinsame Sprache für die Naturerscheinungen und die Ereignisse des menschlichen Lebens.“ (S. 161) Erst über ihre spielerisch gehaltene Verbindung mit solchen Strukturmerkmalen des idyllischen Chronotopos kann die Stimmung im Werther ihre ästhetische Gestaltungskraft und rhetorische Tragfähigkeit entfalten. Diese Stilmischung aus idyllischen Motiven, die an der Konvention hängen, einerseits – und Innovation durch poetische Stimmung andererseits, durchzieht den gesamten Briefroman. Sie ist es auch, welche die berühmte Erstbegegnung mit Lotte bestimmt, indem die bereits angespielten Elemente der Familienidylle und Liebesidylle sich nun zu einer Struktur verbinden, deren poetische Sentimentalität vorläufig noch und nur oberflächlich die bereits moderne Konfliktdramatik überdeckt. Da sind zunächst die seit Freud nicht mehr verdrängbaren Einsichten in psychosexuelle Entwicklungsmuster und pathogene Beziehungskonstellationen, wie sie in der Wertherforschung des 20. Jahrhunderts aufgearbeitet wurden. 116 Unter sozialpsychologischen, psycho- und diskursanalytischen Aspekten haben die Arbeiten von Friedrich Kittler entscheidend dazu beigetragen, die kulturhistorischen Zusammenhänge der Herausbildung der Kernfamilie und dem mediengeschichtlichen Aufstieg des Literarischen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts besser zu verstehen. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass die Stimmung in ihrem medialen Überfließen von inner- und außerpsychischen Grenzen zum Aufzeichnen und Initiieren von kulturell Neuem ebenso geeignet ist wie zur Bewahrung von Traditionellem und zur Verschiebung von Konflikthaftem in die Latenz. Somit verweist das Aufkommen der Stimmung im Werther durchaus symptomatologisch auf psychokulturelle Bedarfsverhältnisse, insofern sie ästhetisch erweiterte Reflexionsmöglichkeiten bietet und machtpolitisch (sensu Foucault) nicht kontrollierbare Resonanzräume erschließt. Dies zeigt sich beispielsweise an Werthers sozialem Handeln und moralischem Gefühl, seinem ebenso selbstbewussten wie empfindlichen Verhalten gegenüber dem Adel und seinen gegenüber Beruf und Karriere alternativen Vorlieben für Natur, Kunst und einfaches Leben.

115 „Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben muntern Kinder ihrer acht Geschwister zu sehen!“ (LjW 38) 116 Den traditionell psychobiographisch orientierten Studien (z. B. Eissler 1963) folgend siehe Faber 1973. Sich von dieser Richtung absetzend Meyer-Kalkus 1977; vgl. Schmiedt 1989.

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10. D IE IDYLLISCHE I NITIATION UND EIN POETISCHES S CHIBBOLETH Die Stimmung wird zum ästhetisch-medialen Gestaltungsprinzip

Damit wollen wir wieder an die stilistische und poetologische Dimension anschließen, in der die Fiktion naturnaher Einfachheit des Landlebens zum idyllischen Chronotopos zählt. Vermittelt über die entscheidende Station des Werks von Rousseau kommt es im Werther über die Integration von Familien- und Liebesidyllik auch zu Verbindungen mit den weiteren idyllentypischen Motiven: z.B. das Abendbrot oder auch dem Motiv von „Essen und Kindern“, das Bachtin mit Werther als prominentes Beispiel erwähnt. (Bachtin 2008, S. 163) Dabei übergeht er freilich die vorbreitenden Szenen mit der Schulmeistertochter und ihren Kindern, wenn er allein auf die berühmte Szene verweist, in der Lotte ihren „Kleinen rings herum“ beim Eintreten Werthers die frischgeschnittenen Scheiben Brot ebenso genau wie liebevoll zuteilt. (LjW 40) In dieser Szene werden – der traditionsstarken Bedeutung des Idyllischen im 18. Jahrhundert gemäß – aus ihrer metaphysischen Bindung gelöste, nun anthropologische Lebenselemente wie Sexualität, Geburt, Wachstum, Tod zu einer symbolischen Bildstruktur gefügt. Diese stellt sich im Blick Werthers – und vermittelt: des Lesers – als eine schlagartig überfallende Stimmung ein. Diese Stimmung auf den ersten Blick schießt aus dem erzählerisch dargestellten Wahrnehmungsraum als plötzliche Reflexion in der Zeit hervor. Sie bringt die Zeit für die Augenblicke ihrer räumlichen Gefühlskonfiguration zum Stillstand. Ästhetisch organisiert wird dies „reizendste Schauspiel“ mithilfe von sprachlichen Raumund Bewegungsindikatoren, die das Be- und Übertreten von Schwellen zeigen: wie das Aussteigen aus der Kutsche am „Thor“, Werthers Gehen „durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause“, sein Treppensteigen, In-die-„Thüre“-Treten, das Kinderwimmeln im „Vorsaale“, Lottes Entfernen in die „Stube“, ihre „im Gehen“ erteilten Anweisungen. (LjW 40) Unmittelbar vorbereitet ist diese Stimmungsinitiation ins Sichverlieben durch tageszeitliche und meteorologische Beobachtungen (Abend, Gewitterluft), die im Anschluss an eine Reihe von Chronotopoi folgen: „Einsiedeley“, „Königreich“, „stille Gegend“, „Ball auf dem Lande“, Fahrt mit der „Kutsche“, „Wald“, „Gebürge“, „Horizont“. (LjW 38) Fasst man etwa die Kutschfahrt im Bachtinschen Sinne des Chronotopos auf, wird die Funktion motivischer Elemente für die Erzählstruktur insgesamt deutlicher, insofern sie Held und Heldin auf für eine begrenzte Zeit auf engem Raum zusammenführt und so deren ‚Begegnung‘ auch im Hinblick auf eine weitere Entwicklung erzählbar macht. Nimmt man den Aspekt der Stimmung auf dieser gemeinsamen Bewegung durch den Raum hinzu, erschließt sich zusätzlich die Rückbindung der chronotopisch organsierten Erzählstruktur an die Phänomenstruktur wahrnehmungsräumlicher Resonanzen. Während des Gesprächs über Lottes stimmungsidentifikatorisches Lesen von Büchern und insbesondere Romanen („im Ganzen eine Quelle unsäglicher Glükseligkeit“, LjW 44), das unter kulturhistorischen, poetologischen und intertextuellen Aspekten von der Forschung wiederholt analysiert wurde, gibt der seinerseits erfahrene Leser Werther sich einer physiognomischen

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Lektüre hin. Erst die Auslegung ihrer Worte als expressive „Reize“ von „Charakter“, ihres Mienenspiels als „Strahlen des Geistes“, lässt Werther ein komplizitäres Gefühl erspüren, das sich zwischen ihm und Lottes „Gesichtszügen“ entfaltet. (LjW 44) Dieses sich auf physiognomischen Anhieb Verstehen („daß ich sie verstund“) ergibt sich aus emotionalen „Bewegungen“, wechselseitigen Blicken, Worten und Lauten in einem zwischenleiblich geteilten und speziell interfazial strukturierten Raum. (LjW 44)117 Das zuerst wahrnehmungsphänomenal ausgebildete Stimmungsverhältnis etabliert sich als topologisch-erotisches Medium und lässt sich im weiteren narrativ als Grundlage für den Einsatz weiterer Motive im Sinne von Chronotopoi verwenden: „Das Gespräch fiel auf das Vergnügen am Tanze.“ (LjW 44) Gegenüber ihrem „verstimmten Klaviere“, das sich als Motiv über den jungen Tieck in die Romantik tradiert118, ist Lottes „Leidenschaft“ für das „Tanzen“ das stärkere Motiv, so dass sich trotz ihrer häuslichen und an den Verlobten gebundenen Verhältnisse ein sie mit Werther verbindendes „Vergnügen“ Bahn brechen kann. Es verlängert und intensiviert die im Büchergespräch aufgekeimte Intimität in erotische Bewegung, indem es das erste In-Stimmung-sein aus der Kutsche bis in den Ballsaal kontinuiert. Damit öffnet sich die leiblich befangene Enge des gemeinsamen Kutschiertwerdens in die aktive Weite des miteinander Tanzens. Die während der Gesprächssituation auf die „schwarzen Augen“, „lebendigen Lippen“ und die „frischen, muntern Wangen“ fixierte Wahrnehmung löst sich tanzend auf in eine leiblich-ganzheitliche „Harmonie“. (LjW 44f.) Diese ist von der durch die „Musik“ vermittelte, rhythmische Eigenbewegung einer zu zweit hochgestimmten Leiblichkeitseinheit getragen, wenn es zum deutschen, körperlich engen Tanz als einem Vorläufer des Walzers kommt .119 Wie die „mannchfaltigen Schlingungen der Arme“ beim „Englischen“ das sich ausbildende Beziehungsgeflecht verkörpern, so bilden „die Sphären umeinander“ beim deutschen „Walzen“ die zweieinheitliche Stimmung des Begehrens aus. (LjW 46f.) Deren 117 Analysen von Lottes Blick als organisatorischem Zentrum von Werthers Lieben und Leiden haben in der Forschung eine narzissmustheoretische Lesart etabliert, die die raumsemiotische Offenheit des Blickes auf die reflektorische Position des Imaginären verengt. Ihre Argumentation folgt in ihren wesentlichen Schritten Lacans psychogenetischem Theo-riemodell des Spiegelstadiums. Damit werden die etwa von Sartres Blickanalyse her entwickelbaren Möglichkeiten verspielt, die strukturelle Wechselseitigkeit jeden Blickgeschehens auch im Werther zu beobachten. Unsere Deutung von Stimmungsmomenten als szenische Raumwerdung spürt hingegen der Realität von Resonanzphänomenen noch dort nach, wo diese von Effekten des Imaginären durchschossen oder vom ursprünglich Projektiven eingeholt, nicht aber konstituiert werden. Siehe hingegen die von Lacan her gedachten Beiträge von Meyer-Kalkus 1977, S. 90-97; von Lacan und Foucault her denkend Davis 1994, S. 107-112; Kuzniar 1989. Hingegen zum philosophischen Begriff der Interfazialität und seiner historischen Rückführung auf kulturanthropologische Grundannahmen siehe Sloterdijk 1998, S. 141-210. 118 Z.B. in Tiecks vorromantischem Stimmungsdrama Der Abschied; siehe unten das Kapitel zu Tieck B-II. 119 Siehe zum historischen Aufkommen des Walzertanzens und der diskursanalytischen Bedeutung der mit ihm inszenierten Sexualität Kittler 1980, S. 147; Wellbery 1994, S. 182ff.; Luserke 1995, S. 245-60; Dotzler 1999, S. 447.

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erotische Dynamik wird von Werther prompt sexuell ausphantasiert, wie er Wilhelm zu verstehen gibt, wenn er „mit ihr herum zu fliegen wie Wetter“ es „mit wie viel Wonne“ genießt, so „daß alles rings umher vergieng“. (LjW 48) Wellbery sieht in diesem Tanz eine nicht etwa repräsentationslogische oder metaphorische Darstellung von Sexualität, sondern die direkte Sprachwerdung eines „transfinite body“, dessen also, was er einen „morphism of the absolute body“ nennt. (1994, S. 184) Nach gemeinsamem Verschnaufen, verzehrten Erfrischungen (Zitronen/Orangen mit Zucker) und einigen „Touren“ durch den Saal, tanzen Lotte und Werther beim „dritten Englischen“ als das „zweyte Paar“. (LjW 48) Hierbei zeigt sich vorausweisend auf das gesamte Handlungsgeschehen, wie leicht der von angehender Verliebtheit aufgespannte Stimmungsraum von anderen und Anderem durchkreuzt und das Regime seiner Gefühle erschüttert werden kann. Als wären es bloße Störgeräusche brechen die zweifach wiederholten Lautfolgen „Albert“, „Albert“ in die dyadische Ordnung ein. Sie werden zum Zeichen einer symbolischen Ordnung, deren Macht nicht vor dem Ballsaal Halt macht und der Werther sich auch durch hochgestimmte Transgressionen nur vorübergehend entziehen kann. Mit einem Mal an der Stelle eines anderen sich als Lottes Partner vorstellen müssend („das unrechte Paar“), verliert die dyadische Stimmung ihre raumordnende Kraft und kollabiert in einer kinetisch manifesten Irritation. Werther „verwirrte [...], vergaß“ sich für den Moment einschlagender Signifikanz, so dass „alles drunter und drüber gieng“ und erst Lottes leiblich sich fühlbar machende „ganze Gegenwart“ die Lage wieder vorläufig stabilisiert. (LjW 50) Aus der Reihe der symbolischen Ordnung tanzend, die im Namen des Vaters das Prinzip des Dritten durchsetzt, wird Werther von nun an mit plötzlichen Stimmungsschwankungen zu rechnen haben. Dieser die erste Begegnung erotisierende und zugleich prüfende Tanz lässt sich als der Chronotopos verstehen, der den weiteren Verlauf der Liebesgeschichte vorstrukturiert. Präkonfiguriert der Tanz doch die tertiäre Struktur des Lotte-Albert-Werther-Dramas und dekonfiguriert dasselbe bereits in seiner Störung, die auf den finalen Pistolenschuss vorausweist. Narrativ aber setzt an dieser Stelle das Gewitter ein, das die psychologische Stimmungsstörung gleichsam meteorologisch fortsetzt und mit dem von ihm ausgelösten Chaos im Ballsaal auf die soziale Bedeutung des Bestands der Symbolordnung verweist. Zumindest dessen politisch-sozial unmittelbarem Zugriff sich zu entziehen, schien seit Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts das Lesen von Romanen zu versprechen. Entsprechend wurde die neue kulturelle Bedeutungspraxis als Lesewut oder Lesefieber beargwöhnt. Noch wo das Ausscheren in fiktionale Welten zu eskapistischen Sentimentalismen führte, stellte es die Möglichkeit der künstlerischen Literatur dar, einen Gegenort zur alternativlos erscheinenden Wirklichkeit zu markieren. Konkret utopisch, d.h. nicht länger abstrakt idyllisch oder bloß illusionär, sondern imaginierbar, wird ein solcher Gegenort im Ästhetischen durch die Gestaltung von Stimmung. Dass Literatur vornehmlich nicht mehr moralisch belehrend oder religiös erbauend, sondern wie sie als Stimmung rezipiert wurde, das zeigt die enorme Wertherwirkung (Jäger 1994), aber auch schon die metaliterarische Reflexion im Roman selbst. Die Erstbegegnung mit Lotte gipfelt am Ende des Balls in der berühmten Fensterszene, in der sie im Eindruck des abklingenden Gewitters nur „Klopstock!“ sagt und damit literarisch vermittelte Stimmung zum Medium der Mitteilung aktuell empfundener Stimmung macht. Dabei kann im Sinne Winkos die Namensnennung als Ko-

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dierung der Stimmung angesehen werden. Die literarische Kodierungsmöglichkeit beruht darauf, dass Lotte und Werther wie auch Goethe und seinen Lesern das Wissen gemeinsam ist, wie Emotionen situativ entstehen, sich entwickeln und auszudrücken sind. (Winko 2003) Die Wertherforschung hat indes den Wechselblick der Sichverliebenden hinsichtlich der „imaginären Präsenz [Klopstocks] zwischen den zwei Augenspiegeln“120 analysiert. Zusammen mit der erotisierenden wurde die intertextuelle Dimension dieser Szene genau ausgeleuchtet, sodass die bloße Nennung des Dichternamens als esoterische bis intime Kommunikationsform verständlich wird.121 Literatur und zumal Lyrik als Medium der Verständigung aber ist selbst noch einmal in einer Medialität fundiert, die in dem zur Darstellung gekommenen Wahrnehmen, Fühlen oder Empfinden als einem phänomenologischen Zusammenhang besteht. 122 So wird mit der „Loosung“ ‚Klopstock‘ zugleich die kommunikative Funktion der Stimmung aufgerufen, die von deren konstitutiver Medialität ausgeht. Diese aber ist als ein Geschehen im Raum nachzuvollziehen. Denn Lottes Stimmungsbekenntnis folgt zwar der Mode des 18. Jahrhunderts, wenn es das Übergreifen der Atmosphäre nach einem Gewitter auf das Subjektivitätsempfinden einen Namen gibt. Aber nicht die Feststellung der Lotte und Werther gemeinsamen Kenntnis der Frühlingsfeier ist bedeutsam. Vielmehr ist es die Kommunion von Sichverliebenden, die sich durch die Inversion der atmosphärischen Außenwahrnehmung in die poetische Imagination vollzieht. Topologisch erreicht die Stimmung ihr ekstatisches Maximum an dem Punkt („Klopstock!“), wo Innen und Außen in Eins fallen, geteilte Welt und un(mit)teilbares Selbst konfundieren. Der mit einem Dichternamen benannte Konsens wechselseitigen (Sich-)Verstehens ist nur das konventionstaugliche Geschehen, dem seinerseits das Ereignis des Anderen in der räumlich gespürten Stimmung zugrunde liegt. Das die Räumlichkeit überhaupt erst generierende Moment der Stimmung ist der epiphane Augenblick einer reinen 120 Kittler 1980, S. 145. Hierin ist präformiert, was Wellbery als den ‚specular moment‘ in Goethes Lyrik auch rhetorisch untersucht. Zuvor lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Spekularen vor allem G. Kaiser, Wandrer und Idylle. Studien zur Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller, Göttingen 1977: „Der Wechselblick ist das zentrale Liebessymbol Goethes, da in ihm der Blick nur den Blick sieht, und nicht die Gestalt des anderen. Der Wechselblick ist vollkommene Begegnung, während in der Betrachtung der Blick das Gegenüber zum Gegenstand machen kann, weil er nicht dem Gegenblick begegnet.“ (S. 56); zit. n. Kittler 1980, S. 167. 121 Dazu siehe weiterhin Alewyn 1979; mit Rückbezug auf Dante und diskursanalytische Aspekte Kittler 1980, S. 145; ausgehend von der zeitgenössischen ‚Lesesucht‘ und „fear of female sexuality“ sowie von der Anonymität der Diskurse Recht und Liebe zu dieser Szene Gutbroth 1995, S. 607ff.; zur hinsichtlich von Lotte kontroversen Diskussion dieser Szene Duncans Aufsatz „Lotte, Sex, and Werther,“ in: ders. 2005, S. 139ff.; außerdem Davis 2001, S. 110ff. 122 Siehe dazu unter medientheoretischen und -historischen Aspekten ausführlich Koschorke 1999, insbes. S. 393-430. K.s Medienbegriff ist seinerseits so ‚flüssig‘ oder ‚weit‘ angesetzt, dass er am Ende dieses Kapitels („Lesesucht und Zeichendiät“) schlussfolgern kann, die Antwort der „etablierten Schriftkultur der Goethezeit“ auf die „Kritik an der Naturvergessenheit der Schrift“ laute: „Das Medium ist die Natur.“ (S. 430, Hvh. i.O.)

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Beziehung („Klopstock!“), wie sie systemisch auch den Eigennamen aus den Referenzzusammenhängen der Sprache heraushebt.123 Zunächst indes steht der Name Klopstock für eine neuartig gefühlsgesättigte Lyrik, die von dem, was wir im Frühwerk Goethes als erste Stimmungsliteratur bezeichnen, nur dadurch getrennt ist, dass sie sich noch nicht entscheidend von ihrer religiösen Referenz freimacht. Diese Entbindung von einer metaphysischen Rahmung vollzieht erst der junge Goethe124, indem er religiöse als nurmehr sprachliche Bezüge herzustellen weiß und das Transzendente synkretistisch in rhetorische Praxis hinabführt. Dieses poetische Verfahren, bislang metaphysisch-ontologische Vorstellungen durch zitative Verwendungen an Gefühle zu binden, die individuell, leibnah oder persönlich bestimmt sind, kommt im Werther erstmals und später im Faust voll zum Tragen. Auch dieses Zitative zeigt sich hier am Aufrufen von Klopstock als Repräsentanten noch erbaulicher, empfindsamer und schon geniehafter Lyrik. Der Eigenname bildet jedoch auch eine Leerstelle im Bedeutungssystem. Erst diese der Konvention aufgepfropfte signifikante Unbestimmtheit erlaubt es Werther, „in dem Strome von Empfindungen“ zu versinken, die ganz subjektiv erscheinen und doch schon in einem Werk objektiviert erschienen sind. Nicht werden mit „Klopstock“ der textuell verbindlich gemachte Sinn seines religiös gebundenen Weltbildes und die mit dem Namen verbundenen Empfindungen bloß nachempfunden. Dies entspräche den Interpretationen, die vor allem am Dilettantismusbegriff orientiert sind und Werthers Verhalten mimetisch und gewissermaßen als sekundärliterarisch bestimmt auslegen. Vielmehr dient das poetische Schibboleth dem Übertreten der Grenze zu dem/den Eigenen. So ermöglicht es den literarisch Eingeweihten sich als Individuum und Dividuum zugleich zu erfahren: die als innerliche Un(mit)teilbarkeit empfundene Einzelheit vollzieht sich äußerlich als (Mit-)Teilbarkeit von Empfindungen. Die ästhetisch induzierte Auflösung des Subjekts im Strom von Empfindungen, Tränen und Küssen findet in der „Vergötterung“ des Ästhetischen ihren Gegenhalt. Das bei Klopstock selbst noch poetisch intakte Religiöse wird bei Goethe zum bloßen Mittel ästhetischer Darstellung von intimer wie auch von unmöglicher Kommunikation. Solche Kommunikation ist medial grundiert durch eine Figur des Anderen, wie sie in der Natur, durch die Heterogenität des Gefühls oder als Gestalt der Geliebten erscheint. Ihrerseits sind diese in Werthers brieflichen Darstellungen konstituiert durch die Inkommensurabilität von Stimmung, die Vergänglichkeit alles Befindlichen, schließlich durch die Endlichkeit von Bedeutung. Auf diesem ersten zu zweit und zusammen gestimmten Höhepunkt ist es Lotte, die Literatur als Medium von Stimmung namhaft macht und damit das Vorspiel in der Kutsche wieder aufnimmt, das als Indiz für die „Übereinstimmung ihrer Gemüther“ (LjW 229 B) erinnert werden wird. Währenddessen scheint Werther auf die 123 Siehe zur Thematisierung des Eigennamens ‚Werther‘, seinen semantischen Implikationen (Komparativ zu ‚wert‘) und seiner Fetischisierung Gutbroth 1995, S. 579-602, hier 583f. 124 Die Rede vom ‚jungen Goethe‘, die sich mit der biographisch und geistesgeschichtlich orientierten Germanistik etabliert hat, hat sich über Staiger, Zimmermann bis heute gehalten, zuletzt sogar wieder als Buchtitel bei Wiethölter 2001.

II. RAUM UND K ONFIGURATION

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stimmungsmedialen Phänomenqualitäten seiner Wahrnehmung zu setzen. Zunächst registriert er die sinnlichen Eindrücke des Gewitters an einem warmen Sommerabend, indem er sie räumlich vertikal, horizontal und nahe bestimmt: „es donnerte abseitswärts“, „der herrliche Regen säuselte auf das Land“, „erquikkendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf.“ (LjW 52, Hvh. St.H.). Dabei spricht er nicht zu Lotte. Er beobachtet sie dabei, wie sie die Nachgewitterstimmung beobachtet und beobachtet sich so, als nähme er durch ihre Sinne wahr. Im Anschluss an die Leiberfahrung des Tanzens konstatiert Werther vor allem die Haltung und Position von Lottes Körper im Raum. Im wortlosen Anblick ihres Körpers, ihn imaginativ penetrierend, „durchdrang“ Werther in ihrem „Blik“ die Gegend, den Abendhimmel und sah gleichsam durch ihre Augen dann auf sich selbst: „Sie stand auf ihrem Ellenbogen gestützt und ihr Blik durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte [nicht Werther!, sondern:] – Klopstock!“. (LjW 52)

Hätte Lotte hier „Werther“ statt Klopstock gesagt, so wäre es der Beginn nicht eines Romans der Stimmungssensibilität, sondern eines herkömmlichen Liebesromans. Gemäß dem Bachtinschen Chronotopos der ersten, vor allem zeitlich bestimmten Begegnung von Heldin und Held würde hier nicht der Name eines anderen als subtiles Verbindungsglied ausgerufen, sondern die Vornamen der Liebenden oder es würde ein Du gestammelt. In Lottes tränenvollem Auge spiegelte sich auch nicht ein noch so verklärter Dritter („Edler!“), sondern der Geliebte als Stimmungs-Imago des Anderen selbst. Das „thränenvoll“ synchronisierte Ausweichen in den empfindsamen Diskurs über Möglichkeiten intimer Mitteilung bewahrt Werther indes nicht vor einer Sturzgeburt seiner Liebe im Augenblick des gemeinsamen Erreichens eines Stimmungsgipfels. Dass dieser teilweise aus zweiter Hand mit herbeigeführt ist, stört nicht nur nicht, sondern beweist erst die je erst zu stimmende Einheit des Gefühls in der Zweiheit seiner Stimmen. Bezieht man dies zurück auf die subtile Darstellung des Erotischen über das Walzertanzen zurück bis in die Kutschfahrt sich kreuzender Blicke, dann wird die Stimmung hier deutlich als ein Sexualmedium. Denn sie leitet nicht nur das Begehren zweier Subjekte aufeinander, wobei der jeweils andere die Objektposition besetzt. Vielmehr ist Stimmung erotologisch der Träger eines Begehrens, das aus sich selbst die beiden Begehrenden erst hervortreten lässt; nämlich dann als einzige, komplementäre Gestalt, wie sie der alte Mythos erotisch sich suchender Hälften narrativiert. Anstelle zweier Subjekte als Inhaber und Ausrichter von Begehren, die dann auch noch geeignete Partner für ihre Befriedung finden, tritt die Stimmung als relational einheitliches Sexualgeschehen. Dieses vollzieht die Bewegung der Intersubjektivität eines Begehrens, wie es seit Platons Symposion mit den Eroskräften des AussichHervorgehens, Zeugens und Gebärens verbunden ist.125 Freigesetzt aber wird diese erotische Stimmung der Gewitterszene aus dem Zusammenfließen der vorangehenden Tanzbewegung und der Blicke, der im äußeren 125 Siehe hierzu die phänomenologische Reflexion des „erotisch-sexuellen Begehrens“ in Waldenfels 2000, S. 315-28.

286 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

und inneren Raum ergossenen Gefühle126, des Sommerregens mit den Tränen und des Atmosphärischen127 mit dem Poetischen. Die Empfindsamkeit nutzt die literarische Medialität zur Authentifizierung von Gefühlen, die ansonsten inkommensurabel und bloß individuell, also auch unmitteilbar blieben. Hier knüpft Werther an und macht das Gefühl gewissermaßen scharf.128 Er führt dessen Individualität aus der stummen Latenz heraus, entzieht die Leidenschaft ihrer gesellig-diskursiven Kontrolle, indem er mit der Stimmung ein Ausdrucksmedium schafft, dessen ästhetische Reichweite diejenige der thematischen Diskurse (Empfindsamkeit, Naturerfahrung, Dilettantismus, Gesellschaftskritik) 129 überschreitet. Die vom jungen Werther hinterlassenen Briefe lassen sich als schriftlich formulierte Stimmungen lesen. Sie geben der von Hamann geforderten Schreibart der Leidenschaft eine literarische Textform. In sie ist die Körperlichkeit eines Ich gekleidet, das ganz Stimmung ist, insofern es seine Selbst- und Weltbeziehung ins Sprachliche extrovertiert. Gleichwohl sind es im Werther nicht der direkte Zugang, die unmittelbare Berührung oder gar die sexuelle Begegnung, die schriftlich erfasst und als Erlebnis brieflich mitgeteilt werden. Darüber dürfen das expressive Pathos des Gefühls, des Herzens oder des Leidens wie auch die Epiphanien empfindsam gesteigerter Augenblicke („Klopstock!“) nicht hinwegtäuschen. Denn dass diese selbst eine Medialität, nämlich die der relationellen Stimmung, zu ihrer Ermöglichungsbedingung haben ist es, worauf Werthers Briefe durchgängig aufmerksam machen. In der prima vista vor allem konventionell anmutenden Szene am Fenster wird dies plötzlich deutlich, indem das Gegenwartserleben die Erinnerung an ein Gedicht evozierte. In solchermaßen poetischer Stimmung fühlen sie sich als miteinander dasselbe Fühlende.

126 Zur „These, daß Gefühle nicht private Zustände seelischer Innenwelten, sondern räumlich ausgedehnte Atmosphären sind und das Fühlen im Sinne affektiven Betroffenseins von Gefühlen in leiblich spürbarem Hineingeraten in den Bann solcher Atmosphären besteht,“ siehe Schmitz 1994, S. 33; ders. 1969 das Kapitel System der Philosophie. Bd. III ‚Der Raum‘, 2. Teil: Der Gefühlsraum; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 292-310. 127 Über Schmitz hinausgehend zu einer philosophischen Ästhetik des Atmosphärischen siehe G. Böhme 1995, S. 21-98 (zu Schmitz 28-31); ebenso ders. 1998. 128 Vgl. zu dieser Ausdrucksweise Goethes in Dichtung und Wahrheit: „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer [...], weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch die Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete [...].“ (HA IX 589) 129 Thematisch basierte Analysen teilen deshalb mit identifikatorischen Lektüren etwa der jüngeren Generation bei Erscheinen des Romans ein Verkennen der ästhetischen Innovativität des Werther, indem sie aus zu wenig reflektierter Nähe gewissermaßen mit dem Protagonisten darauf hereinfallen, was die Erschaffung der Werther-Figur durch Goethe hinter sich lässt. Dies ist zumindest die Gefahr auch bei Vagets Thematisierung des Dilettantismus und gilt etwa sogar für Davis’ Ansatz, der herkömmliche Interpretationen, die an subjektiver Authentizität und Autonomie orientiert sind, hinter sich lassen möchte, indem er Werthers Körper als „site of the production of identity“ (1994, S. 107) thematisiert.

II. RAUM UND K ONFIGURATION

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Die Stimmung wird zum ästhetisch-medialen Gestaltungsprinzip anstelle des genrehaften Ensembles von Figuren, Plot und Setting gerade und erst durch die Privilegierung des Indirekten, Mittelbaren, Sublimierten, allenfalls Erotischen. Damit aber schiebt sich auch im Romanverlauf an die narrative Stelle einer sinnlich gesättigten Gegenwart des Raums (Garten, Landschaft, Natur, Gegend, Kutsche, Ballsaal) zunehmend die flüchtige Gegenwart der Zeit. Damit verbunden sind zum einen die mitunter verzweifelte Vergegenwärtigung von Vergangenheit, wie wir sie an Werthers Vergänglichkeitsmelancholie vom 18. August sehen werden; zum anderen einige Ahndungen, die das Jetzt des Erlebens überspringen und räumlich-zeitliche Bedingungen sprengen. Ahndungen also, die Werthers Stimmung – jenseits psycho(patho-)logischer Begründungen – ins Imaginativ-Imaginäre entgrenzen.

III. Ästhetische Verfugungen von Raum und Zeit

1. D AS K ONTINUUM

UND DER

K ONTRAST

VON

S TIMMUNG

Die Ereignishaftigkeit vertikaler Zeit und ihre Öffnung des Raums

Werthers im Brief vom 18. August sich in der Erinnerungszeit zurückträumende „Ach damals“ einer komplexen Stimmungsevokation wird von Werther selbst als ein Vergänglichkeitsgefühl erklärt, aus dem anstelle von gestimmter Kohärenz das Bewusstsein von sukzessiver Zeitordnung hervorgeht. Letzteres hat Franz Brentano etwa einhundert Jahre später theoretisch über den Begriff der Proterästhese modelliert.1 Was mit Proterästhese gemeint ist, fasst Manfred Frank bei seinem Vergleich mit einem Zeitdiagramm des Brentanoschülers Husserl so zusammen: „Die Figur veranschaulicht das im Jetztbewußtsein Mitgehabtsein der vergangenheitlich modifizierten jüngstverflossenen und kontinuierlich gereihten Vorstellungen, die alle (in gefächerten Zeitmodi) dasselbe Intentionalobjekt thematisieren.“2 Mithilfe dieses vorphänomenologischen Modells der Proterästhese lässt sich Werthers plötzlich einsetzender Stimmungsumschwung auch zeittheoretisch verstehen. Zunächst aber, wie Werther „nur“ über die „Erinnerung jener Stunden“ im Mai erneut in die damalige, ihn glücklich exzentrierende Stimmung eintaucht. (LjW 106) Diese ohnehin schon die Distinktionsleistungen der Wahrnehmung und zumal die Artikulationsmöglichkeiten der Sprache überfordernde Hochstimmung wird dadurch sogar noch zu steigern vermocht. In einem gewissermaßen quantitativen Sinne lässt die Erinnerung Werther seine aktuell ganz anders gefärbte Stimmung „doppelt empfinden“ (LjW 106) – und übersteigert sie damit ins Unerträgliche. In einem gewissermaßen qualitativen Sinne bereitet die Erinnerung des Mai-Erlebnisses ihm den Schmerz der Zerrissenheit zwischen Stimmungsextremen. Dies zeigt sich in seiner „Anstrengung, jene unsäglichen Gefühle zurück zu rufen, wieder auszusprechen“ (LjW 106, Hvh. St.H.). Denn so werden nicht nur diese Gefühle im Jetztbewusstsein vergegenwärtigt, sondern auch das über den Unsagbarkeitstopos eingespielte Problem ihrer Artikulierbarkeit (vgl. Vollmer 2003), das hier auf poetologisch selbstreflexive Weise als movens von Goethes Frühwerk erscheint. Das Zurückrufen und Wiederaussprechen ‚unsäglicher‘ Gefühle ist außerdem beglei1 2

Brentano 2008; siehe dazu Borsato 2009. Hierzu mit problem- und philosophiegeschichtlicher Übersicht Frank 1990b, insbes. S. 2766, hier 32; vgl. mit detaillierten Textlektüren ders. 1990a.

290 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

tet von seither mit ihnen verknüpften Vorstellungen von bis dato Unvorstellbarem; ferner von mit diesen Vorstellungen und neuen Wahrnehmungsakten wiederum hinzugekommenen Gefühlen, welche sich zu Stimmungen verdichteten, die auf die MaiStimmung folgten, diese abwandelten und sie doch als diskret erinnerbare bewahrten. Dank des Stimmungskontinuums braucht die ursprüngliche Stimmung nicht als eine in der Vergangenheit versunkene neu rekonstruiert werden, da sie im kumulativen Prozess des Fortdauerns des Vergangenen im je Gegenwärtigen perpetuiert wird. Werthers Erinnerungsanstrengung ist umso erfolgreicher, aber auch schmerzlicher, als er das Stimmungserleben bereits ursprungsnah zu verbalisieren versucht hat, nämlich im Brief vom 10. Mai. Die einmal auf Bewusstseinsniveau – im gegenwärtigen Diskursjargon gesprochen: neuronal – verschalteten, namentlich verschriftlichten Gefühle waren schon damals nicht buchstäblich „unsägliche“. Vielmehr stellte sich Werther schon damals und erst recht jetzt im Ein- und Überdruck seiner veränderten (Ver-)Stimmungslage der Herausforderung, das ‚unsägliche‘ Wahrnehmungsvolumen konkret situativer Erfahrungen ins sagbar Begrenzte des symbolischen Prozesses zu gießen. Die einmal in ihrer Situativität versprachlichte – d.h. hinsichtlich ihres ursprünglich ausufernden Wahrnehmungsgehaltes eingehegte – Stimmung vom Mai lässt sich über eben diese symbolische Brückenoperation auch in ihrer ganzheitlich umgebenden Gefühlsekstase erinnern. Nun versetzt die Reformulierung jener scheinbar einmaligen Situations- oder Umgebungsgefühle den Briefschreiber in die Stimmung von „damals“, die damit nicht Vergangenheit, sondern als gewesene Stimmung weiterhin Gegenwart ist. Die aktuell erinnernde Artikulation im Medium der Schrift erzeugt eine Stimmung, die als gegenwärtige nicht mehr ist und doch noch gegenwärtig ist. Einerseits ist die Stimmung, wie die Phänomenbeschreibungen in Werthers Briefen vom 10. Mai und 18. August zeigen, weitgehend dieselbe geblieben. Ihr Gefühl – jetzt mit Brentano protophänomenologisch gedacht – thematisiert dasselbe Intentionalobjekt und bewirkt die gleiche psychische Reaktion, die eigenleiblich als bewegte Räumlichkeit gespürt wird: „hebt meine Seele über sich selbst“ (LjW 106). Andererseits ist der Gehalt der Stimmung, der ursprünglich aus wahrnehmungssinnlichen Eindrücken von einem ganzen Ensemble an Naturobjekten bestand, entgegenwärtigt; d.h. als nicht gegenwärtig seiender ‚ist‘ der Stimmungsgehalt ein nicht-seiender. Dies aber trifft nur für die aus ihrer zeitlich fließenden Subliminalität herausgehobene Stimmung zu, wenn oder als Werther sie zum Gegenstand seiner Reflexion macht. Denn dabei wird der Bewusstseinsanteil an der Stimmung aktiviert, wie es sich aus dem Kontrast zwischen der vergangenen, durch verbalisierte Erinnerung verstärkten Hochstimmung und dem aktuellen Stimmungstief ergibt: „das Bange des Zustandes [...], der mich jezt umgiebt“ (LjW 106). Die Vergangenheit bildet hier den Hintergrund, vor dem sich die Figur der Gegenwart wahrnehmbar abhebt. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 43) Erst dieses sich mit dem Absturz von der Stimmungshöhe – die mit dem Gewesenen in die Gegenwart hineinragt – schockartig einstellende Bewusstsein macht jene zeitphänomenologische und ontologische Problematik deutlich, nämlich etwas als Gegenstand sich – dem Subjekt – vorzustellen, was nie gegenwärtig und eigentlich gar nicht ist: „Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabs. Kannst du sagen:

III. Ä STHETISCHE V ERFUGUNGEN VON RAUM UND ZEIT

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Das ist! da alles vorüber geht? da alles mit der Wetterschnelle vorüber rollt, so selten die ganze Kraft seines Daseyns ausdauert, ach in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird“. (LjW 106, Hvh. nur B-Fassung)

Zunächst hat die seit Alberts Wiederkehr sich zunehmend auffällig verändernde Stimmungslage dazu geführt, dass über die vergleichende Erinnerung die paradiesische Mai-Stimmung noch einmal intensiviert und so auch im Augenblick artikulierter Vergegenwärtigung empfunden wurde. Jetzt aber tritt das kontrastive Stimmungsmoment, das diese letzte Steigerung mit ermöglicht hat, in den Vordergrund („Vorhang weggezogen“). Es treibt eine desillusionierte Reflexion hervor, welche die nach oben hin entgrenzte Stimmungslage („Schauplatz des unendlichen Lebens“) in eine katastrophische Bewusstseinslage „verwandelt“ („Abgrund des ewig offnen Grabs“). Zugleich wird damit die Funktion jener Retentionsleistung außer Kraft gesetzt, welche die Stimmung durch ihr fortwährendes Bezogensein auf ihr vorangehende Stimmungsverläufe und ohne Kontrollleistungen des Bewusstseins erbringt. Die Folge ist, dass die bislang von der Stimmung gestiftete Kohärenz von Zeitgefühl sich auflöst. Namentlich in einem Zeitbewusstsein, in welchem die Sukzession von Augenblicken nicht nur deren Vergänglichkeit festschreibt, sondern zugleich diejenige ihres Bezugsganzen perspektivisch antizipiert. Letzteres kann der abgeschlossene Lebenslaufs des Individuums (Grab-Metapher), wie auch der Lauf der Dinge sein, an deren Ende „alles vorüber“ gegangen sein wird. Erst mit diesem antizipatorischen Aspekt von Zeitbewusstsein, den wir im nächsten Abschnitt näher beleuchten wollen, wird die Peripetie erreicht, von der aus Werthers Leiden ihren tragischen Verlauf nehmen können. Es ist hier seine reflexiv gewordene Stimmung, welche dem Liebenden diese existenzielle Dimension von Zeitlichkeit erschließt. Dies aber erfolgt nicht in einem mäeutisch kontrollierten Verstehensduktus. Vielmehr überkommt ihn die antizipatorische Stimmung und lässt die Einsicht in die Endlichkeit plötzlich und zugleich als Nahsicht auf Räumlichkeit geschehen. Anstelle der vorsichtig entfalteten Leben-Tod-Dialektik in mythologischen und philosophischen Narrativen, ereignet sich hier ein Wissen um die Endlichkeit als poetische Sturzgeburt. Auf, mit oder phänomengerechter: inmitten seiner Stimmung fällt Werther aus dem Olymp ontischer Sichtbarkeit („Schauplatz des unendlichen Lebens“) in den Orkus ontologischer Abgründigkeit („alles vorüber“). Fortwährendes Werden stellt sich mit einem Mal als unausgesetztes Vergehen dar – alles Leben entpuppt sich als Vor-Tod. Bei aller existenzdramatischen Subjektivierung dieses instantanen Durchbruchs nach unten entgeht ihm nicht die indifferente, umfassende Ereignishaftigkeit der Zeit selbst. Gegenüber der in Stimmungseinheiten und -differenzen prozessierenden, mithin endlichen Zeit des menschlichen Selbst bleibt die Zeit eines suprematischen Seins gleichgültig, d.h. für Werther auch strukturell unvergänglich: sei es als die imaginär-horizontale Zeit eines „unendlichen Lebens“, sei es als die irreal-vertikale Zeit eines „ewigoffenen Grabes“. Solcher temporal- und spatialontologischen Transzendenz nähert sich Werthers Empfindsamkeit nicht trotz, sondern aufgrund der Reflexion seines Gefühls in Bildern des Dynamisch-Erhabenen und UnausweichlichSchrecklichen („Wetterschnelle vorüber rollt [...] ganze Kraft seines Daseyns ausdauert, ach! in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird“). In solchen Stimmungsbildern findet das dunkel-metaphysische Seinsganze („Das ist! da alles“) seine ontisch-partikulare Erhellung im menschlichen „Daseyn“;

292 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

wie umgekehrt dieses Dasein seine ontologisch-partizipatorische Grundierung im „webenden“ (LjW 108) Kräftespiel der Natur erhält. Dies verweist auf Goethes Naturdenken insgesamt. Sucht es doch der abstrakten Sinntranszendenz klassischer Metaphysik ebenso zu entkommen wie es den neuzeitlichen Verlust einer Stimmung substanziellen Umfangenseins auszugleichen sucht. Namentlich indem das entglittene Ordnungsvertrauen, das mit dem antiken Kosmosbegriff fest verbunden war, durch ein erfahrungsästhetisches Teilhabegefühl nachbesetzt wird, wie es Goethes Begriff von Natur kennt und die Erforschung und Darstellung derselben anleitet. In seinem wissenschaftlichen wie literarischen Oeuvre wird Goethe durch sein ebenso zeit- wie raumphänomenologisches Naturkonzept der eigendynamischen Konstitutionsbewegung von Systolé und Diastolé die Engung und die Weitung von Selbst und Welt, von Leib und Seele sowie die Konzentration und Exzentrierung von Materie und Geist, von Zeichen und Bedeutung wechselseitig aufeinander beziehen. Ähnlich versteht Werther bereits durch seine Stimmung und den ihr inhärenten Phänomenwandel jedes Zusichkommen auch als Vernichtung von anderem, so wie allen raumzeitlichen Gang der Welt als Selbstverlust. Jedes Ereignis von Sein kommt zwangsläufig als Moment der Zerstörung zur Geltung und alles individuierende Sammeln („um dich her“) bildet den Auftakt einer generellen Verstreuung: „Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblik, da du nicht ein Zerstörer bist, seyn mußt. Der harmloseste Spaziergang kostet tausend tausend armen Würmgen das Leben, es zerrüttet ein Fustritt die mühseligen Gebäude der Ameisen, und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab.“ (LjW 108)

Ausgehend von der existenziellen Augenblickserfahrung, die zwischen Einatmen und Ausatmen Leben und Tod voneinander so scheidet wie die Natur Anreicherung und Verzehrung strukturell zusammen bindet, spürt Werther, wie mit den Perspektivierungen seiner Wahrnehmung die Erscheinungsformen sich ändern. Dadurch wird hier der Gestaltwandel von Stimmung als allgemeine Gesetzlichkeit in der Natur dargestellt – und nicht etwa im Gemüt, dem dann die Natur auch noch entsprechen mag. Nicht nur das eigene Dasein, auch das der anderen untersteht wie alles Seiende den Gesetzen von Zeitlichkeit und Kinese. Unausgesetzt werden die gegenwarts- und sinnstiftenden Raumbeziehungen des Sichbewegens und Bildens („Spaziergang“, „Gebäude“) ‚verzehrt‘. Jeder dem Wechselspiel von Nähe und Distanz („die Deinigen um dich her“) entspringende Augenblick von Selbst- und Weltbezüglichkeit, insbesondere der Augenblick der Liebe, ist auch einer der Zerstörung. Wie jeder Akt der Besinnung ist jeder Schritt durchs persönliche oder menschliche Leben auch ein ‚Tritt‘ hin zum letztlich unpersönlichen („offnen Grab“) oder kreatürlichen („Würmgen“, „Ameisen“) Tod. Zumal der auf der kulturgeschichtlichen Höhe ethischer Vernunft wandelnde Zeitgenosse der Aufklärung – so könnte Werther seinem Freund Wilhelm zu verstehen geben wollen – entgeht nicht den naturgeschichtlichen Gesetzmäßigkeiten. Und anders als der erfolgreich an der rationalen Auflösung überkommener Weltbestände sowie gegebener Tatsachen arbeitende Verstand des 18. Jahrhunderts hat die in diesem ästhetisch reüssierende Stimmung es gerade nicht damit zu tun, einen erst objektivierend geschaffenen Abstand zu den Dingen epistemologisch wieder zu schließen. Vielmehr agiert die Stimmung im topochronologischen und neuzeitlich epistemolo-

III. Ä STHETISCHE V ERFUGUNGEN VON RAUM UND ZEIT

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gisch abgehängten Ursprungsmilieu der sinnlich affizierenden Dinge selbst. D.h. sie bewegt sich mit ihnen gewissermaßen auf phänomenologischer Augenhöhe oder wird von ihnen bewegt, wenn sie aus dem Mangel an epistemischem Abstand den Vorteil ästhetischer Gleichzeitigkeit zieht. So gibt Werthers Stimmungsblick – scheinbar kulturell unverstellt – mit den Erscheinungen der Natur zugleich deren Wesen zu erkennen. Die von kalter Einsicht gestimmte Nähe (topologisch) zum heißen Kern der Schöpfung lässt ihn die ereignishafte Zugkraft zum Vergehen (chronologisch) alles Entstandenen bereits mitspüren, wie das folgende Finale des Briefes vom 18. August zeigt. Auch dort geht es wie beim Spaziergang mit Blicken auf die ‚kleine Welt‘ (Ameisen, Würmchen) zugleich ums große Ganze – oder metaphysisch unverdächtiger und aktueller gesagt: ums autopoietisch Regelhafte. Zugleich bleibt deutlich, dass Stimmung hier nicht idealistisch ins Kosmische hinausschießt, wo ihre Resonanzgrenze in die harmonia mundi übergeht. Vielmehr regeneriert sie sich am topologisch freien Ausgangspunkt des Spazierengehens3, dem eigenen Leib samt seiner mikrophysischen Wahrnehmung der spatiellen Zwischenräumlichkeit. Seine Stimmung bleibt aisthetisch geerdet noch dort, wo Werther die Natur als einen Bedeutungszusammenhang (Dilthey) oder Verweisungszusammenhang (Heidegger) auffasst, der einen metaphysischen Weltbezug herstellt. In Werthers Naturstimmung klingt kulturgeschichtlich die antike Korrespondenz zwischen kosmischer Sphärenharmonie und leibfundierter Selbstwahrnehmung nach.4

2. D IE N ATUR UND

DAS

U NGEHEUER

Kinetik und Ekstatik onto-topologischer Strukturen

In der topochronologischen Figuration von Werthers Wahrnehmungsdenken zeigt sich ein Analysepotenzial ästhetischer Stimmung, das unter den schismatisch eingeschleiften Dualen der Neuzeit (Subjekt/Objekt, Ich/Welt u.a.) auch dasjenige von Natur/Kultur auf diesen beiden gemeinsame genetische Phänomenstrukturen zurückführen kann. Denn dass es dem von der Stimmung her geleitetem Gespür um mehr geht als um empfindsam kultivierte Subjektivität und um anderes als säkularisierte Mitleidsmoral der pietistischen Schöpfungsfrömmigkeit spricht Werthers affektgeladener Erklärungsversuch aus:

3

4

Das deutsche ‚spazieren‘ kommt „vom lateinischen spatium (offene Lauf- oder Kampfbahn, aber auch ein bestimmter Zeitraum)“. Daher ist mit ihm ein „Raum für freie Bewegung“ wie auch „ein zeitliches Intervall“ konnotiert; Günzel 2007, S. 10. Während so der junge Goethe mit poetischer Stimmung noch einmal emphatisch auf die Sinne als Quellpunkt der Weltbeziehung einschließlich des Erkennens vertraut, setzt sich die „neuzeitliche Wissenschaft [...] von vormoderner“ durch ihr „Mißtrauen gegen die Sinne“ ab. Dies zeigt in Böhmes wissenschafts- bzw. kulturhistorischen Argumentationszusammenhang ein Blick „auf die Newtonsche Zeichnung zur Refraktion des Lichts oder auf die hochentwickelten Teleskope Casgrains von 1772 oder William Herschels von 1784“ (1988a, S. 151)

294 | POETOLOGIE DER STIMMUNG „Ha! nicht die große seltne Noth der Welt, die Fluthen, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich. Mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte.“ (LjW 108)

Anlass zu ethisch-ästhetischer Rührung sieht Werther nicht im schrecklich-erhabenen Schauspiel wiederkehrender Naturkatastrophen, deren inkommensurable Gewalt alle menschlichen Maßstäbe suspendiert, wie es später von Kant als mathematischer Aspekt des Erhabenen benannt wird. Anders auch als bei Kants vermögenstheoretischer Analytik des Erhabenen ist es hier schließlich nicht die Vernunft samt deren Ideenkapazität, die der Mensch im Eindruck des Inkommensurablen (z.B. Sternenhimmel, Ozean) oder Dynamischen (z.B. Sturm, Fluten) in sich entdeckt und damit ein erhabenes Gegengewicht im Subjekt identifiziert. Hingegen ist es für Werther eine generell wirkende „Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt“. Und kraft der Intensität seiner Stimmung fällt Werther hier die Rolle des Pythagoras in Ovids Metamorphosen zu, wo es heißt: „was die Natur den menschlichen Blicken verbarg, er sahs mit den Augen des Herzens.“5 Diese Kraft des Natur-Alls könnte menschlichem Ermessen geradezu als Unvernunft erscheinen, insofern sie gleichermaßen schöpferisch wie verzehrend, schaffend wie zerstörend ist. In die philosophische Sprache späterer Diskurse übersetzt: eine solche de-konstruktive (Un-)Vernunft, wie sie der Empfindsame dem Naturspiel ontologischer Differenzen objektiv innewohnen sieht, wird im partizipatorischen Modus der Herzensstimmung als Dissoziation des Selbst subjektiviert. Anstelle des Spektakulären von Natur-Katastrophen („große seltne Noth der Welt“) ist Werthers Wahrnehmung auf das Unsichtbare einer Kultur-Katastrophe gerichtet, die in Form des neuzeitlichen Optoprimats alles sinnlich bloß Spürbare ausblendet und als etwas dem aufgeklärten Bewusstsein gegenüber Unzumutbares marginalisiert. Nicht der ideosynkratische Subjektivismus eines „[V]erstimmt[en]“ (LjW 108) ‚sieht‘ die „verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt“. Dieses Subversive gegenüber der Definitionsmacht einer aufgeklärten Weltsicht ‚rührt‘ nur den vom „Gefühl an der Natur“ (LjW 108), also von außen Durchstimmten, dessen ekstatischer Objektivismus ihn noch das selbstverzehrend Individuelle der Stimmung als „dem All der Natur“ zugehörige „Kraft“ entdecken lässt. Hier geht es also gerade nicht um eine Harmonia-naturae-Stimmung, welche die alteuropäische Harmonia-mundi-Stimmung ideell restituieren soll. Nach diesem idyllischen Topos wollten die antiken Kosmologien und noch die neuzeitlichen Holismen den Einzelnen als pansophisch geborgen imaginieren oder von einer Uterus-Natur immer schon und noch immer glücklich geborgen wissen. Von ihrer ekstatischen Außenseite zeigt sich Werthers Natur-Stimmung hingegen ebenso von archaischer Bedrohlichkeit imprägniert wie von existenzialistischer Nichtigkeit erfasst. Darin ist sie eine Nachfolgefigur der seit der kopernikanischen Wende durchdringenden Gefühle der Ungeborgenheit, der Ausgesetztheit in ein lebensfeindliches Weltall und nähert sich den 5

Ovid, Metamorphosen, Liber XV, V. 63/64; vgl. den Ovidbezug bei Sloterdijk, „Aletheia oder die Lunte der Wahrheit. Zum Konzept einer Entbergungsgeschichte,“ in: ders. 1999, S. 275-301, hier 284.

III. Ä STHETISCHE V ERFUGUNGEN VON RAUM UND ZEIT

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Stimmungen des In-der-Welt-seins, die Heidegger mit Geworfenheit oder Hineingehaltensein benennen wird. Die vom Spaziergänger-„Zerstörer“ dem empfindsam Persönlichen, ja allem Menschlichen gegenüber als indifferent entdeckte Naturkraft unterstützt keine den Kopf zur Vernunft erhebende, das Subjekt derselben konsolidierende, sondern eine das ‚Herz untergrabende‘ Bewegung. Die subkordiale Erhabenheit solcher bewegenden Naturkraft liegt gerade in der jedes Einzelne in sich aufhebenden, menschliche Proportionen neutralisierenden „All“-Wirksamkeit. Damit bildet die im „All der Natur“ verborgene Kraft das ontologische Andere gegenüber dem im 18. Jahrhundert entdeckten Ganzen der Kultur in anthropologischer Absicht. Entspricht letzterem die aufklärende Kultur des Wissens, so entwickelt sich aus ersterem – der panontologischen Naturkraft – eine Ästhetik der Dichtung, die erst auf Einbildungskraft, dann auf Genie und schließlich auf Stimmung setzt. Poetische Stimmung hält das Außen, aus dem die Phantasie ihre in-formative Kraft bezieht, ebenso gegenwärtig wie die Natur, in der das Genie sein symbiotisches Gegenspiel hat. Angesichts der Disposition von Werthers Stimmungslabilität zu weltanschaulicher Negativität erscheint der auf das intellektuelle Deutschland seit Lessing fallende Verdacht eines dem Spinozismus inhärenten Atheismus einmal mehr nicht abwegig. Denn der vorgeführte Stimmungswandel zwischen Geborgenheit oder aktivem Enthaltensein (10. Mai) einerseits und Geworfenheit oder passivem Verlorengehen (18. August) andererseits erfolgt in einer doppelten Natur, der natura naturata et naturans. Er konnte als ein prinzipiell jederzeit mögliches Umschlagen der pantheistischen – und als solcher kaum mehr theonomen – Seinsbewegung in ihre nihilistische Kehrseite aufgefasst werden. Wo der Schöpfer ganz in seiner Schöpfung aufgeht, dort drohen negative Erfahrungen mit oder in letzterer wieder gnostische Zweifel an der Bonität des ersteren aufkommen zu lassen, die kulturgeschichtlich lange Zeit marginalisiert werden konnten. Jene nahöstlich-frühchristliche Skepsis der Gnosis (Jonas 1954) gegenüber einer allmächtigen Einheit von Schöpfertum und Güte konnte von der spätantiken Theologie auf katholisch-römische Art beseitigt werden: d.h. zunächst in diskursstrategischer Koalition mit dem griechischen Seinsoptimismus platonischer Provenienz, im Mittelalter durch den demiurgisch-satanischen Kompromiss der Zwei-bis-dreiWelten-Erlösungslehre zwischen Himmel, Fegefeuer und Hölle. Hingegen ist aus dem Theodizeediskurs des 18. Jahrhunderts eine labile Verbindung von Schöpfungsmacht und Schöpfungsqualität hervorgegangen. Mit Leibniz’ defensivtaktischer Grundthese von der prästabilierten Harmonie einer optimalen Welt konnte geschickt, aber nur notdürftig, das Schöpfungsmonopol Gottes bewahrt werden. Schon ein künstlerisch dilettierender Naturbetrachter wie Werther vermag die Leibnizsche Linie der philosophischen Verteidigung der besten aller möglichen Welten eigensinnig zu durchkreuzen. Er spricht dem „harmloseste[n] Spaziergang“ (LjW 108) die Beweiskraft für die potenzielle Umkehrbarkeit des positiven Vorzeichens des göttlichen Schöpfungsoptimums in das negative Vorzeichen eines demiurgischen Verzehrungsmaximums zu. Werther tut dies weder aus einem dezidiert philosophischen, schon gar nicht neognostischem, noch aus einem religiösen, ethischen oder rein willkürlichen Selbstverständnis. Vielmehr aus seiner in den Ekstasen übermächtigen Verliebtseins erfahrenen Weltfühligkeit, die ihn die Macht seiner Stimmungen spüren lässt. Wie aber

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greift diese Macht auf die Welt der Erscheinungen über? Oder wird die Macht der Stimmungen umgekehrt von der Erscheinungswelt ausgeübt? In seiner zunehmenden Verzweiflung spürt Werther, dass die Macht von Stimmung jedenfalls nicht diejenige eines starken Subjekts ist, das aus säkularisiertem Selbstschöpfertum („Ha!“) zugleich demiurgisch die Welt um sich her aufgehen oder – je nach Stimmung – sich abschatten lässt. Es handelt sich hier auch nicht um Launen einer Macht von Stimmungen, die ein Ich projektiv über seine Welt ausübt oder durch sie deren Realität verstellt. Werthers Spaziergang-Vergleich zielt auf die übergängige Stimmung im (Zwischen-)Raum, eine Bewegung zwischen schreitendem Fußgänger und zerstampften Erdreich („Gebäude der Ameisen“). Er konfiguriert ein wechselseitiges Durchdrungensein von Ich und Welt, von „Himmel und Erde“ im Medium einer onto-topologischen Stimmung. Diese ist hier nichts aus Mentalem Hervorgetriebenes, nichts Emotionales oder Innerpsychisches eines unnötig ‚Beängsteten‘ oder gar etwas Psychotisches (LjW 108).6 Stimmung wird exogen dargestellt, als das topologische Phänomen des Näheraums, nämlich „um mich her“ empfunden und ist als Sein einer Natur verborgen, das dem Gestimmten über „all die webenden Kräfte“ zugänglich ist. (LjW 108) Nicht normative Affektbestände und Moralgaranten oder gar das personale Sein eines Gottes werden durch Werthers Naturgefühl pantheistischer Allverbundenheit vermittelt. Sondern die näheräumliche Stimmung eines transsubjektiv konkreten Daseins, das mit dem gewöhnlich ‚verborgenen‘ Natur-sein durch dessen hyperobjektive Abstraktheit im Empfinden der „webenden Kräfte“ verbunden ist. Erst für dieses Stimmungserleben sind Schöpfung und Zerstörung, Leben und Tod gleichwertige Aggregatzustände der Natur und ihrer selbstragenden Prozessdynamik. Zu dem weder onto-theologisch oder theo-kosmologisch, noch harmonie-holistisch informierten Sein der Natur erhält Werther Zugang durch die Stimmung, die zwischen menschlichem Dasein und welthaftem Natursein vermittelnd wirksam ist. Sie ist sprachlich z.B. markiert durch die Präposition ‚an‘. Damals im Mai bildet das „warme Gefühl meines Herzens an der lebendigen Natur“ eine symbiotische Dyade in kongenialer „Paradies“-Stimmung, deren korrelative Struktur sie als reine Bezogenheit („Wonne überströmte“) ausweist. (LjW 104, Hvh. St.H.) Jetzt Ende August, als die dyadische Beziehung zwischen Herz und Natur oder Ich und Welt nicht mehr intakt oder eben „verstimmt“ ist, da ist auch „kein Gefühl an der Natur“ mehr. (LjW 108) Werther macht die subjektive Bedingung der Möglichkeit von Stimmung als erwidertem Gefühl in jener Herz-Natur-Korrespondenz mit „Vorstellungskraft“ 6

So gesehen nehmen Werthers Leiden die mitunter sehr polemische Distanzierung vom Psychologischen vorweg, wie sie Heidegger wiederholt vornimmt, wenn er von der wesenhaften Angst spricht: „lösen wir die Angst als die von jener Stimme [des Seins, St.H.] gestimmte Stimmung aus dem Bezug zum Nichts heraus, dann bleibt uns die Angst als vereinzeltes ‚Gefühl‘ übrig, das wir im bekannten Sortiment der psychologisch begafften Seelenzustände gegen andere Gefühle unterscheiden und zergliedern können. Am Leitfaden des billigen Unterschieds zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ lassen sich dann die ‚Stimmungen‘ in die Klassen der erhebenden und der niederziehenden verrechnen. Der eifrigen Jagd auf ‚Typen‘ und ‚Gegentypen‘ der ‚Gefühle‘, auf Abarten und Unterarten dieser ‚Typen‘ wird die Beute nie ausgehen.“ Heidegger 1978, S. 304f. [102f.]

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namhaft. (LjW 108) Ohne diese tut sich – in etymologischer Anspielung auf die Lücke im G-lücke7 – keine Lücke mehr auf zwischen „Seele“ und „Welt“, aus der jene „überfließende Fülle“ an Korrelationen quellen könnte, welche die Stimmung „zu einem Paradiese“ machte (LjW 104): „Es ist ein Unglük, Wilhelm! all meine thätigen Kräfte sind zu einer unruhigen Lässigkeit verstimmt [...] Ich hab keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur und die Bücher speien mich alle an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.“ (LjW 108)

Werthers feinsinnig negative Bemerkung formuliert den stimmungslogischen Sachverhalt, dass durch den Mangel an Selbstgefühl eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der Konstituierung von Welt im ontologischen Sinne entfällt. Ohne ein Selbst mit partizipatorischer Offenheit zur Welt kann das Spiel der Beziehungen, das einmal ein Stimmungs-„Paradies“ und einmal ein Stimmungs„Ungeheur“ (LjW 108) gebiert, freilich nicht beginnen. Stattdessen reicht es nur zum existenzialen (oder: vulgär-existenzialistischen) Stumpf einer ‚Ekel‘-Stimmung, deren Ausfall an Beziehungsdynamik die „thätigen Kräfte zu einer unruhigen Lässigkeit verstimmt“.8 In seinen Briefen gegen Ende August macht sich die niederdrückende Kehrseite von Werthers euphorischen Stimmungen geltend. Wenn er an seinem Geburtstag, der mit dem Goethes auf den 28. August fällt, von seiner „Krankheit“ spricht, legt er dem Leser die Diagnose einer manisch-depressiven Symptomatik nahe. Gegen diese Diagnose spricht indes der erkennbar externe Anteil an seinen Stimmungsschwankungen, den Werther auch prompt mit dem Einfluss „diese[r] Menschen“ (LjW 110) benennt. Lotte und Albert können ihn indes nicht nur nicht „heilen“; sie sind dazu offenbar denkbar ungeeignet, wenn sie seinen „Wünschen“ nachkommen, indem sie ihm ein „Päckgen“ mit den „fatalen Requisiten“9, den fleischfarbenen Fetischen (die „blaßrothen Schleifen“, die Lotte am Tag des Kennenlernens trug) senden. (LjW 110f.) Psychologisch ist das Paar als Helferduo kontra-indiziert, wenn man die auf Dauer pathogene Konkurrenz der Verhältnisse und die ödipalen Strukturen im Beziehungsdreieck sich deutlich macht. Werthers nicht ausbleibende, aber auffällig seltene Verstimmungen spielen indes eher eine beiläufige und untergeordnete Rolle, namentlich als kontrastives Stimmungsbild. Das Depressive ist für Werthers Leiden eigentlich nicht charakteristisch. Denn diese erscheinen mehr als Symptom emotionaler Verausgabung, also als Leiden an den Exaltationen von Stimmung überhaupt, als Erfahrung der Unerfüllbarkeit von Begehren und sind also selbst noch einem euphorischem Regime unterstellt. Eigentlich erst kraft seiner Stimmungspassion wird Werther in die existenzialontologisch exzentrischen Positionen der Liebe, des Leidens oder des Leidens an der Liebe befördert. Im liebenden sowie leidenden Außer-sich-sein erfährt Werther ein 7 8 9

Vgl. die oben angeführten Erläuterungen von Hörisch 1983. In der B-Fassung heißt es nicht die Bücher „speien mich alle an“, sondern „eckeln mich an“. (LjW 109 B) Mit Bezügen der germanistischen Forschung zur romantischen Schicksalstragödie vgl. Benjamin 1974, S. 311.

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Maß an ethisch-ästhetischer Sensibilisierung, das ihn seine Subjektivität (wie auch die jedes „Nachbar[n]“) als ebenso durchlässig erfahren lässt wie die Objektivität der Dinge, Pflanzen, Tiere und „Deinigen um dich her“. Als gefühls- und raumoffene Stimmungsbewegung ist dieses fließende „All der Natur“ also durchaus nicht zu verwechseln mit den vorschnell holistisch geschlossenen Weltbildern samt einer Idealnatur in ihren selig gefühlten Mitten. Denn wie die Stimmung den passionierten Pathetiker in die Verschmelzungsseligkeit seiner Extroversionen, in die Frühlingslandschaft oder in die Seele der Geliebten versetzen kann, so vermag sie ihn auch der existenziellen Angst seiner Haltlosigkeit in einer ‚All-Natur‘ des Grauens – postkopernikanisch: einem Welt-All der Kälte auszusetzen. In diesem implodiertem Kosmos-Gefüge macht sich tendenziell panisches Entsetzen breit – die Besinnung des Spaziergängers entgleitet in die Bewegung der „Erde“ und wird vom Weben einer universalen Sinnleere absorbiert: „Und so taumele ich beängstet! Himmel und Erde und all die webenden Kräfte um mich her! Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheur.“ (LjW 108)

Mit der Stimmung ist das Naturverständnis vom Keimenden, Blühenden und Tragenden ins Triebhafte, Zerstörerische und Bedrohliche umgekippt. Das Erfreuliche der Harmonie wird zum Ungeheuren des Indifferenten. Diese in klinischer Sicht mehr paranoide als depressive Vision kann in den darüber hinaus gehenden ästhetischen Kategorien als grauenhaft-erhabene oder expressionistisch-verzerrte Stimmungsmetapher bezeichnet werden. Sie kann in kulturgeschichtlicher Perspektive auch – wie angedeutet – als die metaphysische Erbschaft verstanden werden, die den frühneuzeitlichen horror vacui eines vom Äther 10 entleerten Universums in den Leerlauf monströser Naturkräfte übersetzt. An der Stelle des pantheistischen Fluchtpunktes einer auf das Unendliche eingestellten Perspektive von Naturgeschichte erscheint bereits das moderne „Ungeheuer“ einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Anders als dann für den Werteumwerter Nietzsche ist solches nihilistische Gegenspiel einer im Subjekt konzentrierten Zeit der Sinnerfüllung für Werther noch nicht mit affirmativem Gestus parierbar. Es verarbeitet indes die mechanizistischen Weltbildkomponenten (l’homme machine) französischer Aufklärer (Turgot, Condillac, d’Holbach, LaMettrie) und weist auf die poetische Reflexion derselben in der ‚schwarzen‘ Romantik voraus.

3. G EFÜHLSERINNERUNG

UND

U MGEBUNGSZUSTAND

Vom Heben der ‚Seele über sich selbst‘

In philosophischer Perspektive kann der oft angeführte Schlusssatz des Briefes vom 18. August im phänomenologischen Sinne einer Erhellung des ‚ungeheuer‘ gestimmten Raums und dessen temporaler Strukturbewegung gelesen werden. Folgte die von Erinnerung und Besinnung getragene Bewegung des ‚Spaziergangs‘ noch der reten10 Siehe aber zur in die Moderne fortgesetzten Medialität des Äthers Kümmel-Schnur und Schröter 2008.

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tionalen Bahnung des Stimmungsumschwungs, so agiert das Taumeln den Verlust der Kontinuität von Vergangenheit und Gegenwart aus. Werthers Taumeln zeigt sich als die kinetische Mimesis seiner somatisierten Angst. Deren existenzielle Durchschlagskraft realisiert die Welt als den Ort des Entsetzens, dem nicht zu entkommen ist. In-der-Welt-sein heißt mit einem Mal nicht mehr inmitten der „lebendigen Natur“ (LjW 104) sich befinden, sondern von einem exzentrischen Wirbel erfasst und hineingesogen werden ins Ungeheure einer sinnfreien Seinsbewegung. Die kosmoontologische Balance von Werden und Vergehen, wie sie in der metaphysischen Weltbildstatik traditionell hergestellt wird, verliert sich in Werthers ‚beängstigtem‘ Blick.11 An ihrer Stelle kommt eine ontologisch nicht mehr oder eben negativ ausgezeichnete Kinetik zum Vorschein, die nach orphischer Mythologie das vorweltliche Chaos und den aus diesem hervorgehenden Chronos konfiguriert. Der Homerleser Werther ‚sieht nichts als‘ das prä-ontologische Momentum von Chronos’ Weltschöpfung, wie es die Naturmetapher des „ewig verschlingende[n], ewig wiederkäuende[n] Ungeheurs“ als animalischen Fress- und Verdauungsprozess figuriert. Solche hier über mythologische Anspielungen hinaus auf phänomenologische und onto-topologische Zusammenhänge abzielende Deutungen werden durch unseren poetologisch reflektierten Begriff der Stimmung ermöglicht. Lenkt er doch die Aufmerksamkeit der Lektüre solcher scheinbar überinterpretierten Textstellen auf sprachliche Bestimmungen der Verhältnisse zwischen Welt und Ich, Natur und Herz oder Kulturellem und Mentalem. Es sind neben Metaphern oft so unscheinbar wirkende Elemente wie Präpositionen, welche über die Gewichtung von Phänomenkomponenten in der Darstellung komplexer Stimmungen entscheiden. Oben sahen wir bereits, wie die Wahl der Präposition im Ausdruck „Gefühl an der Natur“ (Hvh. St.H.), der in den Briefen vom 18. und 22. August die Stimmungen kontrastiert, die objektive Außenseite von Werthers (Natur-)Gefühl akzentuiert und damit gängige Interpretamente von Werthers Gefühlsinnerlichkeit oder Subjektivismus oder des Herzens als unsachgemäße Vereinseitigungen erscheinen lässt. Wie das ontologisch bedeutsame Weltverhältnis von Innen und Außen über eher kleine Sprachelemente wie Präpositionen bis in seine Übergängigkeit hinein bestimmt und verschoben wird, zeigt sich einmal mehr an dem mittleren Absatz im Brief vom 18. August. Er vollzieht die Um-Stimmung, welche die Passagen der Erinnerung an das verlorene Stimmungsparadies von dem Horror der zu erwartenden Stimmungsabgründe zugleich trennt und verbindet. Dies geschieht durch Werthers Reflexion auf die Wirkung, welche „diese Anstrengung, jene unsäglichen Gefühle zurück zu rufen, wieder auszusprechen“, auf ihn ausübt. (LjW 106) Die Wirkung dieser Anstrengung bestehe darin, so Werthers eigenartige Formulierung, dass sie seine „Seele über sich selbst“ hebt. (LjW 106) Diese nur aufgrund der retentionalen Kontinuität von Stimmungen, die noch deren Kontraste einschließt, überhaupt mögliche Erinnerung flutet durch ihren Vollzug jenen Graben mit Gefühl, der zwischen dem damaligen und jetzigen Zustand sich aufgetan hat. Somit vollzieht sich – was hier 11 So gesehen erinnert Werther hier nicht nur ein individualgeschichtlich verlorenes Gefühl (Mai 1771), sondern auch ein kultur- und naturgeschichtliches. Letzteres thematisiert unter dem Aspekt der „Kraft vergegenwärtigender Erinnerung“ und mit Bezug auf eine Textstelle in Goethes Schrift über Winckelmann von 1805 (HA XXII 98) Böhme 1988a, S. 147f.

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durch die Metapher des Grabenflutens angezeigt werden soll – die Rückbindung der (beredten) Reflexion ans (unsägliche) Gefühl phänomenologisch als Neuverfugung von Raum und Zeit. Namentlich indem der chronologische Abstand (seit Mai) topologisch geschlossen (Graben) wird durch das Einlassen von Gefühlen. Wo leerer Abstand war, wird spürbare Verbindung. Werthers Gefühlserinnerung, die sich als Einräumung von Vergangenheit und also als Raumwerdung von Zeit vollzieht, wird durch die poetisch-expressive Sprachfindung des Näheren als ein erhebender Moment seelenräumlicher Verschiebung gezeigt. Das Er-, Ab- oder Anheben der „Seele über sich selbst“ kann hinsichtlich sprach- und geistesgeschichtlicher Genealogien auf die Mystik und den Pietismus (vgl. Lange 1994) oder auch auf die Verwandtschaft von Erleuchtung und Aufklärung bezogen werden. Auch sachliche Bezüge zur weisheitsphilosophischen Sorge um sich, zur transzendentalphilosophischen Selbstbegleitung des Denkens, zur reflexionsphilosophischen Ich-Autonomie wie auch zu existenzial-ontologischen Denkfiguren ließen sich ausgehend von dieser Formulierung erörtern. Unter dem ästhetischphänomenalen Aspekt der Stimmung indes gilt unser Interesse vornehmlich der Beobachtung, dass Werthers „Seele“ offenbar nicht einfach ein raumschematisches Gegenüber – etwa der Welt, dem Leib oder Gott gegenüber bezeichnet. Vielmehr scheint ‚Seele‘ etwas raumdynamisch Komplexes zu sein, dass sich in der Zeit verschiebt und mit ihr transformiert, aber sich auch durch eine ereignishafte Art von erneutem In-die-Zeit-Eingelassenwerden transzendieren kann. Zudem ist der Selbstbezug der Seele nicht spekulativ reflektierend – etwa über Spiegelmetaphern – organisiert und damit auf Identität mit sich gerichtet. Vielmehr ist er erinnernd reflektierend, raumphänomenologisch dimensioniert und dadurch auf Ekstatik im wörtlichen Sinne eines aus sich herausstehenden Zustands gerichtet. Liest man also die Präpositionalphrase „über sich selbst“ als Nominalergänzung zur sich ohnehin hebenden Seele, dann scheint es dabei um mehr als eine eigenwillige Beschreibung von mit einem Mal gehobener Stimmung zu gehen. Zunächst kann damit eine verzwiespältigte Bewusstseinslage gemeint sein, in der aus dem erinnerten Hochgefühl auf die aktuelle Misere herabgeschaut wird. Diese selbstreflexive Seelenverdopplung wird durch den zweiten Teil des Satzes angezeigt, wo es von der weiteren Wirkung der Erinnerungsanstrengung heißt: „und läßt mir dann das Bange des Zustands doppelt empfinden, der mich jetzt umgiebt.“ (LjW 106) Der Kontrast von Stimmungen hat das Kontinuum von Stimmung überhaupt zur Grundlage und macht dieses als ein seelenraum-dynamisches Kontinuum aus Diskontinuen und Kontinuen12 bewusst. Des weiteren lässt sich die Ekstatikformel der durch das Erinnern über sich selbst gehobenen Seele vom Gegenstand der Erinnerung her auflösen. Dieser ist die in weiten Blicken über das „fruchtbare Thal“ und die „lebendige Natur“ visualisierte MaiStimmung. (LjW 104) Diese „rings umher“ sofort auch wieder leiblich gespürte „weite Welt“ bildet nun auch in Werthers Erinnerung ein „Paradies“. (LjW 104) Na12 Vgl. die Formel „ein Kontinuum aus Kontinuen und Diskontinuen“ hingegen als Explikation von „Zur-Welt-Kommen“ bei Sloterdijk, der damit Heideggers In-der-Welt-Sein anthro-pologisch dynamisiert und in eine gattungsgeschichtliche Perspektive überführt. Sloterdijk 2006, S. 199f.

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mentlich gegen-über einem Ich, das sich im Wahrnehmungsvollzug durchlässig für jenes Strömen der Bäche, jenes Spiegeln der Wolken, jenes Wiegen des Abendhimmels oder Erklingen der Wälder und Berge erlebte. Die gegenwendige Inversionserfahrung von Natur- und Seelenraum verbalisiert Werther in den religiösen Sprachformen, welche in Fortschreibung der unio mystica die Seele in die Welt und deren „überfließende Fülle“ ins „volle, warme Gefühl meines Herzens“ überführen. (LjW 104) Dass Werther sich dadurch „wie vergöttert“ fühlte, ist nur schlecht als noch einmal erinnerte Größen-Ich-Phantasie eines im Imaginären seine Zerstückelung kompensierenden Subjekts zu verstehen. Besser als nach den Modellen eines ichinflationären Narzissmus13, absoluten Gefühlssubjektivismus oder weltlosen Projektionismus14 lässt sich Werthers zur Selbsterfahrung gewendete Sakralität als Folge der medialen Wirkung von Stimmung verstehen. Stimmung freilich nicht als jugendlicher Gemütszustand verstanden, der ‚damals‘ im Mai in einem Enthusiasmus luxurierte, der auf seine gesamte Umgebung abfärbte. Stimmung muss zunächst als Umgebungszustand aufgefasst werden, wenn man Werthers Erinnerung trauen mag. Sie spricht mit signifikanten Präpositionen von der Welt „rings umher“ und „um mich her“ sowie von der Natur „vor mir“ und „unter mir“; ausführlich konkretisiert sie die Wahrnehmungsqualitäten, die den Begeisterten „umgaben“. (LjW 104) Solche wahrnehmend objektivierte Welt ist indes keine objektivistisch distanzierte, die als physische Außenwelt einer psychischen Innenwelt blank gegenüberstünde. Als gestimmt wahrgenommene Welt ist sie selbst schon ein Innenraum im Außen. Dessen Stimmung ist es, von der Werther dann auch ‚subjektiv‘ erfasst wird und deren mediale Zwischenräumlichkeit ihm „das innere, glühende, heilige Leben der Natur eröfnete“. (LjW 106) Dieses in der Stimmungserinnerung von außen eröffnete Innenleben der Natur bildet für Werther durchaus das Strukturmodell des Innenlebens des Ich, das seinerseits von außen als Bezogensein auf anderes induziert und zum Mitgestimmtsein unter Lebendigem disponiert wird. Dies ist zumindest der raumphänomenologische Sinn, der sich seiner Rede vom doppelten Empfinden des „Bange[n] des Zustands“ geben lässt, der ihn „jetzt umgiebt“ – im Gegensatz zum Erhebenden des Zustandes, der ihn damals umgab. Geradezu paradiesisch war im Mai die äußere Gegend als der Stimmungsraum eines von Resonanzen getragenen In-der-Welt-seins und konnte dadurch das Korrelat der inneren Gegend psychischen Gewordenseins bilden. Hin13 Zur Deutungen, die am Narzissmus orientiert sind, siehe Meyer-Kalkus 1977, S. 90ff.; von „narzißhafte[r] Selbstbespiegelung“ spricht Pütz 1983, S. 56. Ein Strukturprinzip sieht im wiederholten Spiegeln C. Wellbery 1986, S. 239; zugleich klingt eine emotionale Stimmungsqualität an, wenn sie sagt: „Goethe’s novel emphasizes the undefined, resonant quality of the emotions rather than attributing them to a specific moral meaning.“ (S. 231f.) Ebenfalls auf den Narzissmus im Sinne einer objektpsychologischen Insuffizienz bezogen ist Auer 1999; außerdem Kowalik 1999, S. 126ff. Eine von Deleuze/Guattari inspirierte Wendung gegen den Narzissmus als kapitalistisches Psychoregime nimmt Scholz 1988; anknüpfend an Barthes (1978) wird anstelle von Lottes Begehren dasjenige Werthers als eines des ‚eigenen Begehrens‘ gedeutet bei Gutbroth 1995, S. 589, 611. 14 Insbesondere Werthers Verhältnis zu Lotte wird als Selbstprojektion problematisiert etwa bei Dye 1988, S. 504.

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gegen ist der ihn im August umgebende Zustand in dem Maße ungeheuer, wie er die Seele in sich selbst befangen sein und nicht mehr „über sich selbst hinaus“ in die Welt samt ihrer relationalen Stimmungsverhältnisse heben lässt. So kann die äußere Welt auch nicht mehr als Innenraum einer lebendigen Natur bezogen werden. Damit aber ist das von Werther mit der Ausführlichkeit der Empfindsamkeit artikulierte, symbiotische Zusammenspiel von Natur und Herz abgebrochen. Die kommunionale Semantik der Wärme, des Heiligen, des Gehaltenen und Lebendigen wird von einer Semantik der Zerrüttung, des Bedroh-lichen, des Entsetzens und des Verschlingenden verdrängt. Der in der ekstatischen Heiterkeit des Frühlings entdeckte Außenweltinnenraum hat seine bergenden Qualitäten verloren und wird zum Ort, der allseits entsetzt und an dem man sich verlieren muss. Werthers glückliches Alleinsein als dyadisches Zusammensein mit der ‚lebendigen All-Natur‘ des Keimens15 hat sich in die unglückliche Ein-samkeit verwandelt, die er als existenzielles Bezogensein auf eine ‚ungeheure Nichts-Natur‘ des Wiederkäuens subjektiviert. 16 Seine Stimmung des Enthaltenseins in der Machtsphäre einer geburtlichen Naturmatrix kippt in die Stimmung des Ausgesetztseins in der Machtsphäre einer verschlingenden Naturmaschine um. Wenn die Stimmung nicht mehr das Ereignis als ein aktuelles Werden in Bezügen spüren lässt, dann verfällt sie dem, was Heidegger Gestell nennen wird – einem Sein in Zwängen. Was Werthers Stimmungswandel zwischen Mai und August ausmacht, lässt sich demnach auch als ein Wechsel von einer ontologisch gelichteten zu einer nihilistisch verdüsterten Weltanschauung auffassen. Mit diesem Begriff ist in stimmungspoetologischer Hinsicht indes nur dann etwas anzufangen, wenn er mit Betonung auf Weltanschauung vom klassisch metaphysischen Weltbild ebenso abgesetzt ist wie vom wissenschaftlich positivistischen Weltbild. Weder das passivische Überwölbtsein des Menschen von einer für ontologisch stabil gehaltenen Schöpfungsordnung, noch die aktivische Selbstexklusion des Erkennenden gegenüber einer als ontisch real gesetzten Objektnatur sind mit Werthers Art von gestimmter Weltanschauung vereinbar. Deren phänomenale Basis verweigert sich der Positionsalternative der Subjekt-Objekt-Aufteilung der Wirklichkeit; zugleich insistiert sie gegenüber dem 15 Philosophiegeschichtlich lässt sich Werthers Wahrnehmungsdenken von Natur hinter Spinoza zurück bis zu den Vorsokratikern reflektieren. Dem Keimen kommt dabei auch begriffsgeschichtlich eine zentrale Rolle zu: „Das Wort physis weist etymologisch (phy-) auf die Vorstellung des Keimens, Gebärens und Wachsens zurück und ist seiner Bildung nach (-sis) als nomen actionis einzuschätzen, d.h. als Bezeichnung des Vorganges selbst.“ Graeser 1989, S. 13, zit. n. Ries 2007, S. 299. 16 Siehe zum Thema der Einsamkeit Schings, insbes. das Kapitel über „Johann Georg Zimmermanns ‚Einsamkeit‘“ (S. 217-25), das das Hauptwerk des „philosophischen Arztes“ (hier S. 218) beleuchtet, in dem er Einsamkeit als Ursache und Symptomatik von Melancholie in Engführung mit Schwärmerei sowie in ihrer psycho-physischen Grundlage seit der ägyptischen Antike erklärt. Dabei verfolgt Schings die These, dass historisch die „Melancholie der Genies […] in einem deutlichen Ablöseverhältnis zur Melancholie der Schwärmer [stehe]. Sie erbt deren Außenseiterrolle, erbt aber auch die Möglichkeit zur Neubewertung, zu neuer Dignität.“ (1977, S. 225); siehe dazu ebenfalls die gesellschaftskritische Sicht auf die Einsamkeit bei Lepenies 1972, S. 85ff.

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All-Inklusionsschema alt- und neumetaphysischer Holismen auf einer wahrnehmungssinnlichen Rückbindung alles Spekulativen. 17 Denn unter raumphänomenologischen Aspekten haben wir die Werther-Stimmung in einem dynamischen Bezugsfeld gefunden, das topographisch undefiniert und als kinetische Offenheit dargestellt ist. Dieser in und um sich bewegte Stimmungsraum bildet gewissermaßen die tropische Zone zwischen dem ästhetischen Subjekt- und Objektpol. Das Bild, das aus Werthers nicht-statischer Weltanschauung entsteht, ist ein bewegtes. Es zeigt die aktive Grundierung seines prozessual offenen Entstehens aus imago-topologischen Vollzügen. Dies macht die „Geschichtlichkeit“ von Werthers Lebensstimmung in Diltheys und Heideggers Sinn von Weltanschauung aus. (Vgl. Heidegger, Einleitung in die Philosophie, S. 356f.) Unter zeitphänomenologischen Aspekten haben wir Werthers Stimmungen als eine extensional dynamische Strukturbewegung nachvollzogen. Diese ist chronologisch aufgebrochen und als die ereignishafte Gegenwart dargestellt, welche das Momentum zur Raumwerdung aus einem Kontinuum von Diskontinuen (ekstatische Augenblicke) und Retentionen (Bezugskontinuen der Stimmungsphasen untereinander) bezieht. Wir haben Präsenzformen von Stimmung im Text analysiert, deren ästhetische Räumlichkeit in Verbindung mit sinnlich medialer Zeitlichkeit dargestellt ist. Wir sprachen von retentionalen Stimmungen, um deren Funktionen der Vergegenwärtigung und des Erinnerns für die Kontrastierung und Kontinuierung von Stimmungen herauszuarbeiten. Zum Abschluss zeitphänomenologischer Betrachtungen untersuchen wir auch die Zukunft als Extension jener relationalen Strukturbewegung der Stimmung.

4. E IN NEUES V ERSTEHEN

VON

L IEBE

Das gelichtete Lieblingsplätzchen am Ort des Anderen

Zwar werden Werthers Leiden – wie im Brief vom 21. August – immer wieder an das bangende Siechtum eines Tag und Nacht von der Stillung seines Begehrens Träumenden zurückgebunden, der aus empfindsamer Konvention in seinem „Strom von Thränen [...] trostlos einer finstern Zukunft entgegen[weint].“ (LjW 108) Jedoch kommt gerade durch die nur scheinbar unvermittelte, poetisch verdichtete Alternierung von Liebesnot und Weltschmerz als Ursache der Leiden Werthers etwas zur Darstellung, das die historische Zeit-Stimmung repräsentiert, dieselbe aber durch ästhetische Artikulierung zugleich in neuer Weise erschafft: es ist die aus der sozialgeschichtlichen Entwicklung des 18. Jahrhunderts emergierende, in den Diskursen der Empfindsamkeit aufgespürte und in ihren geselligen Praktiken nobilitierte Liebe, die Werther über seinen Selbstentwurf zum Wert erhebt und die seine Zukunftserwartung ihm zu verstehen oder durchzustehen aufgibt. Die der Liebe in dem bürgerlich neuformierten Kernfamiliensystem zugewachsenen Qualitäten haben sich in der Fol17 Dass „empfundener Leib und Sinne“ nicht nur für Werther als Kunstfigur des poetischen Jugendwerks, sondern auch für den reifen Goethe das „Fundament der Forschung“ bilden, zeigt die wissenschaftsgeschichtliche Verortung des Goetheschen Naturdenkens von Böhme 1988a, S. 160.

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ge zu Vorstellungen von individueller Freiheit und persönlicher Befreiung, zu existenzieller Tiefe und allgemeiner Stimmungsemphatik oder vermeintlich einfach zur Romantik der Liebe tradiert und trivialisiert. 18 Diese Entwicklungstendenz bildet das bürgerliche Gegenspiel zum aristokratischen Don-Juanismus. Konnte die Liebe zwischen Mann und Frau im überkommenen Gefühlsregime, etwa noch in Choderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses, einem strategischen Spiel von Macht, Verführung und Erotik eingeordnet werden, so wird ihr im Werther fast alles, jedenfalls Sexualität, Moral und das Leben selbst untergeordnet. 19 In Zusammenhang mit den gut erforschten sozialgeschichtlichen und familienpsychologischen Voraussetzungen des Aufstiegs von Bürgertum und Autorschaft 20 muss Werthers Verabsolutierung der Liebe auch dann noch oder gerade dann gesehen werden, wenn sie – insbesondere wegen ihrer konsequenten Todesbereitschaft – für moralische Empörung, literarische Gegenentwürfe oder begründeten Spott gesorgt hat. 21 Quer zum bürgerlich empfindsamen Emanzipationsdiskurs über Moral und Maß von Leidenschaft, Affekt und Gefühl steht indes die Radikalität der Individualisierung und Komprehensivität von Werthers Liebesanspruch.22 Sie weist jede vernunftgesteuerte Erwägung gesellschaftlicher, ökonomischer oder institutioneller Aspekte ab. Damit verspielt zumal der bürgerliche Tugendbegriff seine Widerstands- und Schutzfunktion gegen die fürstliche Verfügungsgewalt und die polemische Stoßkraft gegen adlige ‚Verkommenheiten‘. Nimmt doch Werthers eigenartig existenziale Auslegung von Lessings Emilia Galotti – die Lektüre der letzten Nacht – dem freien Entschluss zum eigenen Tod die kritische Spitze gegen feudale Rollenzumutungen und wendet sie unfreiwillig gegen seine eigensinnige Innerlichkeit. 23 Die zusammen mit dem Liebesindividualismus sich ausbildende Innerlichkeit des Bürgerlichen, die den mentalitätsgeschichtlichen Gegenzug zur repräsentativen Äu-

18 Siehe hierzu Luhmann 1982; an diesen anknüpfend Werber 2003; Kohl 2010. 19 Siehe zu Laclos’ Roman und seiner Bedeutung für die deutsche Literatur Vedder 2002, S. 29-220. 20 Vgl. Kittler 1991, zu Goethe S. 103-148, zu Werthers ‚Muttersprache‘ des Begehrens S. 107-109; vgl. ders. 1980, S. 142-73. Mit bis heute die Forschungsdiskussion beschäftigendem Bezug zum Werther siehe Meyer-Kalkus 1977. 21 Neben den oft dokumentierten moralischen und literarischen Reaktionen der Zeitgenossen steht der weniger oft gewürdigte Spott im intelligenten Sinn, wie er sich etwa in Georg Lichtenbergs ebenso treffender wie schnöder Bemerkung ausspricht: „Die schönste Stelle im ‚Werther‘ ist die, wo er den Hasenfuß erschießt.“ (Hvh. St.H.) Zit. n. Mandelkow 1975, S. 89f. 22 Darin bereitet sich das Ideal der Einheit von Liebe, Sexualität und Ehe vor, wie es sich mit der Romantik etabliert. Zusammen mit dem Model der romantischen Liebe oder gar als deren Medium etabliert sich die romantische Stimmung. Vgl. den sozialgeschichtlichen Kontext dieser Entwicklung bei Trepp 1994, S. 137-39. 23 Meyer-Kalkus sieht Lessings zweites Trauerspiel und den Werther als „komplementäre Gestalten einer strukturell gleichen Problematik: in beiden Fällen wird das Todesverlangen eines Adoleszenten durch den Wunsch und die Hilfeleistung anderer sanktioniert.“ (1977, S. 136)

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ßerlichkeit des Adels durchführt, verselbständigt sich im Fall Werthers. 24 Durch diese Verselbständigung unterscheidet sich die daraus auftauchende Stimmung zumal von der Melancholie, wie sie Lepenies (1972) als symptomatologisch für die politische Ohnmacht des Bürgertums im sozialhistorischen Zusammenhang des 18. Jahrhunderts bestimmt hat. Die Stimmung schließt diese gesellschaftliche und politische Spielart von Melancholie mit ein, ist aber phänomenstrukturell, historisch und ästhetisch der weitere Begriff. Erschlossen als eine zugleich autonome wie fremdgestimmte Sphäre eröffnet Innerlichkeit der Stimmung neue Dimensionen der Selbstpräsenz und Weltstiftung gleichermaßen, so dass deren ontologische Reichweite das Außen des Erlebens mit einschließt. Im Werther zeigt solche gestimmte Berührung des Innerlichen mit dem Äußerlichen sich auch in dem Austausch von Schattenrissen zwischen den Geliebten und Freunden. Entsprechend der Mode der Zeit wird darin das Intime des Gefühls für oder von jemandem gleichsam ins Physiognomisch-Abstrakte der Sichtbarkeit projiziert. Werthers Umgang mit Lottes Silhouette aber wird zum Spiel mit objektivierter Ahndung, indem er den Schattenriss zum Fetisch formgewordener Identität des geliebten Anderen in einer Art anwesenden Abwesenheit erhebt. 25 Dadurch soll womöglich die Gefahr des Überhangs vom Projektiven des Eigenen an der Liebe abgewehrt werden. (Vgl. Gutbrodt 2004, S. 398) In geistesgeschichtlichen Allgemeinbegriffen gesprochen, findet diese äußerlichinnerliche Stimmung in der idealisierten Natur des Pantheismus, dann in der verabsolutierten Liebe und vor allem in der sakralisierten Kunst der Romantik ihre historischen Manifestations- und Übertreibungsformen. In ihnen kommt eine vom Sozialen emanzipierte, ästhetisch individualisierte Stimmung zur Erscheinung, die jene bürgerliche Innerlichkeit transzendiert, die ihrerseits zuvor die adlige Äußerlichkeit subvertierte. In subkutaner Verbindung mit pantheistisch durchströmtem Naturerleben ist es die enthusiastisch hebende Liebesstimmung, die in Goethes Romandebut bis in ihre existenziellen Aporien hinein den neuen Gegenstand poetischer Darstellung bildet. 26 Dies setzt sich übrigens in signifikanten Abwandlungen und überwundener 24 Siehe zum Thema Innerlichkeit grundlegend von Graevenitz 1975; mit Bezug zum Werther Graham 1973, S. 115-36. 25 Ausführlich zum Schattenriss als Fetisch, der das Unbewusste semantisiert, siehe Philippe Forget 1989. Daran anknüpfend sieht Gratzke im Fetisch Werthers verpasste „Chance“, den „Konflikt in seiner Naturerfahrung“ (2000, S. 263) auszuhalten. Dabei bezieht er sich auf Derridas Heidegger-Deutung, nach der die zugleich ent- und verbergende „Bewegung der Wahrheit über die Möglichkeit der Fetischisierung“ verläuft; diese hätte Werther aus den „vereinseitigenden Positionen des Entweder-Oder“ heraushelfen und vor dem Scheitern bewahren können. (S. 268f) Vgl. dazu Derrida 1992, S. 301-442, hier die Stelle mit der Seitenangabe 328, 340 nicht aufgefunden. Siehe grundlegend zur literatur- und kulturwissenschaftlichen Bedeutung von Fetischismuskonzepten H. Böhme 2008; ders. 2006, darin auch zur Stimmung S. 77. 26 Neu freilich nur im relativen Sinn der historischen Konstellation, in der Natur und Liebe zusammen mit der Stimmung als ästhetischem Phänomen auftauchen. Dadurch wird die Bedeutung der literarhistorischen Tradition nicht geschmälert, wie sie sich von der Antike, der petrarkistischen Liebeslyrik, der Dichter der Pléiade, Pierre de Ronsard, dann Rousseau herschreibt. Motivische Konstanten ließen sich etwa an Einführungssituationen mit dem

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Einseitigkeit im Faust und in Wilhelm Meisters Lehrjahre fort, wo dann bereits auch wörtlich die „feinste Stimmung der Liebe“ (HA VII 72, Hvh. St.H.) anstelle von Werthers „feinster Empfindung“ auftaucht.27 Das historische Auftauchen des Phänomens Stimmung in der Literatur geht einher mit der kultu-rellen Neuerkundung von Liebe. Gemeinsam ist ihnen ihr spektakulärer Auftritt im Erscheinen des Werther. Dessen ebenso skandalträchtige wie weitreichende Rezeption in Deutschland und Europa hat eine bis weit in die Moderne nachwirkende Umstimmung der Konzeption von Liebe auf den Weg gebracht. „Dabei ist es nicht so,“ – schreibt Gerhard Neumann in seinen Lektüren der Liebe – „als würde Werther in diesem Roman seine Liebe erfinden; er orientiert sich vielmehr an einem Repertoire von Blicken, die gesellschaftlich vorgegeben sind [...]; er baut sich Kulissen aus literarischen Zitaten auf, sucht seine Stelle als Liebender zwischen der Homerischen Idylle [...] und der Passionsgeschichte Christi [...]; er baut sich eine Bühne aus literarischen Reminiszenzen, die von den zeitgenössischen Liebesromanen über die kosmische Liebe in Klopstocks Gedichten bis zu Ossians nordischer Todesmelancholie reichen“. (Neumann 2010, S. 9)

Goethes literarische Innovation von Liebe, die mit der poetologischen Innovation narrativ erzeugter Stimmung korreliert ist, verarbeitet eine heterogene Reihe von Liebesmodellen, auf die Neumann hier aufmerksam und deren historische Variationen er in einem weitgespannten Parcours bis in die kulturelle Gegenwart anschaulich macht. Zudem verweist er auf vier Aufsätze Herders, die wenige Jahre nach dem Werther erschienen sind.28 Sie behandeln das „brisante Thema der Liebe“ in einem Reflexionsraum zwischen Antike und Moderne, Orient und Okzident sowie unter kulturan-thropologischen, ästhetischen und epistemologischen Aspekten. Herders sowie Goethes entschlossene Neuthematisierung von Liebe lässt sich als historisches Indiz dafür deuten, dass in den 1770er Jahren nicht länger religiös gebundene, nun kulturell und existenziell freigesetzte Energien allgemein – wie Heinz Schlaffer es darlegt (Schlaffer 2002) – in den Aufschwung deutscher Literatur einfließen, insbesondere aber in deren Behandlung der Liebe. 29 Dass es sich dabei nicht allein um weltanschaulich ansetzende, eine ideengeschichtliche Umstimmung befeuernde, sondern um den Einzelnen auch entsetzende Energien handeln kann – das zeigt Werthers lebensgeschichtlicher Stimmungswandel auf den Spuren zum Selbstmord. Zuvor wird Lotte zur Totalität möglicher Weltbeziehung überhöht und potenziell zugleich

ersten Blick, an Ambivalenzen des Gefühls, den Antithesen von Vernunft und Gefühl, Verstand und Leidenschaft, Sinnlichkeit und Tugend oder Formeln wie dem Trinken eines Giftbechers beobachten. Vgl. Fechner 1982. 27 Siehe zum Thema Liebe im Wilhelm Meister vor allem Neumann 1984 und 1987. 28 Es handelt sich um die 1778 erschienenen Aufsätze zur Plastik, Denkmal Johann Winkelmanns, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele sowie Lieder der Liebe. Die ältesten und schönsten aus dem Morgenlande. Nebst vier und vierzig alten Minneliedern. Vgl. dazu Neumann 2010, S. 10-15. 29 Siehe dazu generell Werber 2003 und mit Bezug auf Goethe Neumann 1987.

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zum Symbol unmöglicher Erfahrung erniedrigt.30 Indem durch die Totalstimmung – um einmal Diltheys Begriff aufzugreifen – eines zunehmend verzweifelten Liebenden eine Sakralisierung Lottes („du Heilige“, LjW 261) betrieben, ja bis zu einer metaphorisch kaum verschlüsselten Christologie erotischer Ersatzvereinigung im Jenseits getrieben wird, zeigt sich ein im 18. Jahrhundert auf unsere Moderne vorausweisender Grundzug von aufklärenden Kulturen: Schübe an Säkularisierung in den hegemonialen Diskursen einer Zeit sind begleitet von Erhabenheitsfiguren an ihren Rändern, von Fetischisierungen („blaßrothe Schleifen“, „Schattenbild“, LjW 110, 261) im Disparaten oder im Allzu-Offensichtlichen; sie sind nicht erst dialektisch gefolgt vom Wiederauftauchen numinoser Gestalten.31 Weitgehend dem von Luhmann aus einem weiteren historischen Kontext rekonstruierten Typus der enthusiastischen Liebe entsprechend32 berichten Werthers Briefe von der Totalität einer Liebe, deren Objekt zunächst alle Züge des Besonderen vereint, deren Subjekt sich dennoch in der Begeisterung für eben diesen allgemeinen Zug der Liebe aufzulösen beginnt. Wie die psychologische Idealisierung Lottes zur Sakralisierung übertrieben wird, so wird die leidenschaftliche Hingabe an ein Seinkönnen mit der Geliebten zum obsessiven Leiden für dieselbe und zur Passion einer Selbstaufgabe übersteigert. Diese hyperbolische Dynamik entfaltet sich indes erst seit der Erfahrung des Umkippens der Stimmung am 18. August, das sich seit Alberts Rückkehr am 30. Juli 1771 vorbereitet hatte. Nachdem die Stimmung im Spätsommer durch erinnernde Wiederholung der Maibegeisterung intensiviert und zugleich in ihrer Zeitlichkeit insgesamt vergegenwärtigt worden ist, lässt sie Werther mit einem Mal seine Gegenwart nicht mehr im emphatischen Modus der Begeisterung erfahren. Der Kontiguität von gewesener Hoch- und gegenwärtiger Tiefstimmung bringt Werther zurück auf eine „verstimmt[e]“ Bewusstseinslage. (LjW 108) Diese äußert sich einerseits im „Unglük“ des Versiegens aller „thätigen Kräfte“, anderseits im Überziehen der Lotte-Verehrung bereits ins klinisch Verdächtige. (LjW 108) Ließ das Überschäumen seiner verliebten Stimmung ins Surreale Werther in der zuvor ihrerseits hochgeheiligten Natur das „wiederkäuende Ungeheur“ eines permanenten Verfallens entdecken, so zeigte sich darin auch der zwangsernüchterte Realismus des Anerkennens von Vergänglichkeit. Mit der sich bezeichnenderweise Ende August33 einstellenden Einsicht in die Zeitlichkeitsstruktur von Stimmung als einem vom Gewesenen hochgehaltenen Gegenwartsgefühl, welches nun aber von sich aus nichts 30 Dem ist die psychoanalytische Deutung Lottes als Selbstobjekt im Sinne von Heinz Kohut verwandt; vgl. Kaempfer 1994, S. 285ff. 31 Zur dieser Figur der Dialektik siehe Horkheimer und Adorno 1971. Siehe ausführlich zur ‚Säkularisierung‘ unter wissens- und auch hermeneutikgeschichtlichen Aspekten Danneberg 2002, S. 19-66. 32 Vgl. hierzu mit Bezug auf Luhmanns Typologie, auf Goethes Faust und den Aspekt der Sakralisierung Eibl 2000, S. 45. Zu Werther ausgehend von Luhmann siehe Fairfax 2003. 33 Eine stimmungskonstitutive Wechselseitigkeit der Verbindung von Jahreszeit und Lebensgefühl macht Werther selbst erst in der B-Fassung explizit, wo er am 4. September 1772 nicht völlig ironisch konstatiert: „Ja, es ist so. Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen.“ (LjW 161 B)

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mehr verheißen will, verschließt sich alles mögliche Künftige. Werther vermisst die „Aussicht auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben.“ (LjW 110) Mit der eigentlichen Stimmungserkenntnis der Unwiederbringlichkeit des Vergangenen stellt sich ein Zeitbewusstsein ein, das Werther die Gegenwart als existenzialen Modus eines „Verfallens in die Verlorenheit“ empfinden lässt, aber im Sinne Heideggers auch „das geworfene Sein zum Tode ermöglicht.“ (SuZ 348) Werthers berufsbezogene Befürchtung vom 22. August, „zu Schanden geritten“ zu werden, die ihn mit der erinnerten „Fabel“ vom edlen Pferde überkommt, sein primordiales „Sehnen“ nach „Veränderung des Zustands“ und seine „innre unbehagliche Ungedult“ vermitteln etwas von solcher Endlichkeitsstimmung. (LjW 110) Am 28. August, seinem und Goethes Geburtstag, spricht Werther erstmals eindeutiger von seiner „Krankheit“. Er knüpft damit an das Streitgespräch mit Albert an, in dem sie die Symptomatik einer Selbstverzehrung aus Leidenschaft als „Krankheit zum Todte“ diskutierten. (LjW 98) Noch einmal vergegenwärtigt Werther nun mit leiblichen Gebärden und durch Fetischisierung („küsse diese Schleife tausendmal, und mit jedem Atemzuge schlürfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten“) das Vergangene als Gewesenes und lässt sich von Endlichkeitsmelancholie überkommen („jene wenige, glückliche unwiederbringliche Tage“). (LjW 110) Mit dem spätsommerlichen Genießen einer elegischen Grundstimmung setzen die Überhöhung der Liebe zu etwas Transzendentem („habe kein Gebet mehr, als an sie“, „himmlischen Ausdruk ihrer Worte“), die Entwicklung der „Leidenschaft“ zur malignen Passion und der Wandel vom Pathetischen zum Pathologischen ein. (LjW 112) Es treten indes zur gleichen Zeit diejenigen Stimmungen in den Vordergrund, die über ihren Zukunftsbezug die Gegenwart samt deren Ekstase in die Vergangenheit erschließen. 34 Goethe spricht von Wehmut, Einsamkeit und Ahndung. Werther ist zunehmend endlichkeitsdramatisch gestimmt. Darauf verweisen sein „Ausweinen“ von „Beklemmung“ auf Lottes Hand, das er realistisch als „elenden Trost“ bezeichnet, die Vergleiche mit asketisch-perversen bis selbstquälerischen Praktiken oder Wendungen wie „kein Ende als das Grab“. (LjW 112f.) Die den eigenen Tod antizipierende Stimmung füllt sich indes mit einer Bedeutsamkeit, die zwar die Aussichtslosigkeit der Gefühlslage festschreibt, aber auch ein besseres Verstehen derselben ermöglicht. Im zeitlichen – primär zukünftigen – Sinn von Heideggers „Verstehen“ als „ein fundamentales Existenzial“ richtet sich Werthers ‚Sorge um sich‘35 erstmals auf ein „Vorlaufen“. (SuZ 336) Allein noch der „wankende Entschluß [...], sie zu verlassen“, vermag ein zukünftiges Seinkönnen zu sichern: „ich muß fort“. (LjW 114) Denn in Lottes Gegenwart steigert sich seine „tobende endlose Leidenschaft“ zu völliger „Verwirrung“, das zweifelnde Gefühl, „ob ich auf der Welt bin“, versetzt ihn zunehmend in Handlungsunfähigkeit. (LjW 114) „[M]anchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond über mir steht, im einsamen Walde“ (LjW 114) – da beginnt Werther etwas zu schwanen: nämlich dass sein Erleben der Stimmung einen Teil der Wirklichkeit verdrängen, die Exuberanz seiner Gefühle Lottes reale Gefühlsresonanz überlagern und sein Zustand von Verliebtheit schon die Möglichkeit sexuel34 Siehe zum an Heidegger anschließenden Begriff der zeitlichen Ekstase und seiner ereignisphilosophischen Reflexion Kamper 1995, S. 665–675. 35 Diesen Begriff bzw. den der Selbstsorge übernehme ich von Foucault 1989.

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ler Eroberung – oder in zeitgemäßen Worten: die Möglichkeit ‚ihres Besitzes‘ verhindern könnte, oder gar: verhindern soll.36 Denn inmitten der Überschwänglich-keit des Verliebtseins lauerte etwas Fremdes, eine „Unruhe“, das Begehren („meine Seele schmachtet“): „es war ein ängstlicher Zustand.“ (LjW 114f.) In ihm aber findet Werther die Kraft, seinen Entschluss zum Fortgehen durchzuführen. Die Stimmung der Angst, in der er sich beim vermeintlich letzten Gespräch am 10. September befindet, hält ihm durch existenziale Entschlossenheit eine Zukunft offen: „Das war eine Nacht! Wilhelm, nun übersteh ich alles.“ (LjW 114) An diesem ‚letzten‘ Abend wird erneut die poetische Räumlichkeit erzählerisch inszeniert, und zwar nach allen ungeschriebenen Regeln der Stimmungskunst, wie wir sie oben anhand des Romanbeginns erörtert haben. Kaum vollständiger könnte das Ensemble stimmungsräumlicher Konstruktionskomponenten sein, das hier die Entschlossenheit zum Abschied (Zukunft) und das Sichbefinden im Augenblick (Gegenwart) so konfiguriert, dass sie beide vom Gewesenen her gestimmt (Vergangenheit) sind: „Garten“, „Terrasse unter hohen Castanienbäumen“, Sonnenuntergang „über dem lieblichen Thale, über dem sanften Flusse“, „die weite Aussicht“, Mondaufgang „hinter dem büschigen Hügel“, „Allee“. (LjW 114) Die Sogwirkung der durch diese räumliche Konfiguration hervorgebrachten Stimmung wird verstärkt durch die erzählerische Reflexion ihres Entstehens. Es handelt sich nämlich um einen jener Lieblingsplätzchen, an denen Werther die Verankerung seines inneren Da in einem äußeren Hier kultiviert. Werthers persönlichster Ort im Raum von WeltSelbst-Beziehungen fungiert indes als solcher auch als derjenige Lottes und wird so zum Topos intimer Begegnung („wechselseitige“!): „wie freuten wir uns, als im Anfange unserer Bekanntschaft wir die wechselseitige Neigung zu dem Pläzgen entdekten, das wahrhaftig eins der romantischten ist, die ich von der Kunst habe hervorgebracht gesehen.“ (LjW 116)

Dadurch dass offen gelassen wird, ob mit Kunst etwa Gartenbau gemeint ist, spielt sich die Vorstellung eines selbstreflexiven Bezuges zur poetologischen Stimmungskunst ein, wie sie Goethes Roman von Werthers Briefen erproben lässt. Anders als bei den besonderen Plätzchen, die seit der folgenden Romantik zusammen etwa mit Waldeinsamkeit und Liebesschmerz zum Klischee verkommen sind, wird von Goethe die psychodynamische Wirksamkeit solcher Raumästhetik narrativ genau nachgestellt und damit als literarisches Stimmungsphänomen erst „hervorgebracht“. Wie zuvor bereits ein „geheimer sympathetischer Zug“ die Herkunft der „Einsamkeit“ aus 36 Nochmals Lotte, wie sie die Unstimmigkeit in Werthers Objektwahl spürt: „seyn Sie ein Mann, wenn Sie diese traurige Anhänglichkeit von einem Geschöpfe, das nichts thun kann als Sie bedauren. [...] Fühlen Sie nicht, daß Sie sich betrügen, sich mit Willen zu Grunde richten? Warum denn mich! Werther! Just mich! das Eigenthum eines andern. Just das! Ich fürchte, ich fürchte, es ist nur die Unmöglichkeit, mich zu besizzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht.“ (LjW 220) Diese Stelle zeigt die aus heutiger Sicht eigentümliche Lage des Problems der Liebeswahl zwischen der vorromantischen Verwerfung der ‚vernünftigen Liebe‘ der Aufklärung von Mitte 18. Jahrhunderts (z.B. bei Gellert) und Freuds ‚unglücklicher Objektwahl‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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stimmungssphärischer Zweisamkeit andeutete – und damit auf Zukunft umstellte –, so wird nun der raumästhetisch arrangierte Selbstbezug als ein Sichereignen in, beziehungsweise aus dem Verhältnis zu Anderem konzipiert. Dabei sind der räumlichen Konfiguration neben dem Tempusgebrauch Gefühlsindikatoren für die drei Zeitekstasen (Vergangenheit: „ich erinnere mich“; Gegenwart: z.B. „an einem hohen Mittage“, Zukunft: „ich ahndete ganz leise“) und ebenso für zeitästhetische Momente wie Sukzession (u.a. „erst“, „endlich“, „zuletzt“, „noch“) und Prozesshaftigkeit (z.B. präsentisch-aktives Partizip: „daran stoßendes“) eingearbeitet: „Erst hast du zwischen den Castanienbäumen die weite Aussicht – – Ach ich erinnere mich, ich habe dir, denk ich, schon viel geschrieben davon, wie hohe Buchenwände einen endlich einschliessen und durch ein daran stoßendes Bosquet die Allee immer düstrer wird, bis zuletzt alles sich in ein geschlossenes Pläzgen endigt, das alle Schauer der Einsamkeit umschweben. Ich fühl es noch wie heimlich mir’s ward, als ich zum erstenmal an einem hohen Mittage hinein trat, ich ahndete ganz leise, was das noch für ein Schauplatz werden sollte von Seligkeit und Schmerz.“ (LjW 116)

Die rhetorische Rezeptions- und Stimmungssteuerung 37 der Leserimagination in Richtung von ästhetisch wirksamen Auslassungen beginnt mit der Du-Anrede, den beiden Gedankengestrichen und der Aposiopese. Sie führt durch das Vermutende über das Schon-viel-davon-geschrieben-haben, was sich nun die ‚Lesererinnerung‘ vorzustellen hat, zum Inkommensurablen, auf das der weitere Beschreibungsversuch abzielt. Das in der so initiierten Imagination Werthers und seiner Leser – einschließlich sich selbst als sein eigener Leser 38 – entstehende Imaginäre wird nun einmal mehr als der innere Ort eines Außens beschrieben, der das Räumlichkeitsphänomen von literarischer Stimmung ausmacht. Das Einschließende, Geschlossene, Düstre, Umschwebende bilden eine topologisch-kinetische Struktur, deren Subjektivierung („Schauer“) die Lichtung einer objektiven Stimmung („Einsamkeit“) am Ort des Anderen39 zeitigt. Auch ohne eine metaphorische Deutung des Ganges durch die dunkle Allee mit ihren Buchenwänden, etwa als Zur-Welt-kommen durch den Geburtskanal, erschließt sich dem Leser die existenziale Bilddimension. Dafür sorgen bereits die Kontraste (Düstre/Mittag; weite Aussicht/geschlossenes Plätzchen) samt der damit verquickten sukzessiven Bewegung des durch etwas Hindurchgehens und Sicheröffnens („Schauplatz“). Der existenzielle Charakter des In-seins in diesem Stimmungsraum zeigt sich sodann in dem Gespräch mit Lotte und Albert, das sich um die Frage eines möglichen Wiedersehens nach dem Tod dreht. Einleitend dazu werden noch 37 Dass für Leser in der sg. Empfindsamkeit Lesen und Stimmungserleben zusammen gehören und sich beim Lesen im Freien von Landschaften in „Stimmung“ bringen lassen oder selber für eine „Einstimmung“ aufs Lesen sorgen, zeigt sich bei Schön 1987, S. 165, vgl. 148f. 38 Siehe zu Werther als Leser seines eigenen Schreibens unter Heranziehung der Belegbriefe vom 27.5. und 16.6.1771 Dotzler 1999, S. 449. 39 Der Ort des Anderen ist ein Ausdruck Lacans für das Unbewusste und soll hier übernommen werden, da er die Gefühlsqualitäten des Unheimlichen und Dunklen raumsymbolisch und nicht etwa innerpsychisch zu denken erlaubt.

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einmal die gartenarchitektonischen Details der „Buchenwände“, der vom Mondschein „erleuchtete[n]“ „Terrasse“ und des „düstern Cabinette“ angeführt, um die intim gestimmte Räumlichkeit als Innenraumdimension in der Welt zu kennzeichnen. (LjW 116) Auch braucht dieser „Schauplatz“ nicht existenzial-ontologisch als lichtendes Dasein ausgelegt zu werden, um die evozierte Stimmung hier als ein Phänomen zu erkennen, das gegenüber statisch vorgestellter Innerlichkeit (Gemütszustand) den dynamischen Gefühlscharakter von ergreifender Objektivität aufweist: „wie heimlich mir’s ward“. Und in dem Moment, mit dem Werthers Beschreiben der räumlichen Phänomenbewegung zum Stillstand kommt, öffnet sich die Struktur der Zeitlichkeit der Stimmung an dem gelichteten Plätzchen. Die von Gewesenem „heimlich“ gestimmte Befindlichkeit in einer räumlich „geschlossenen“ und zugleich „weiten“ Gegenwart entfaltet für einen Augenblick ihr Verstehenspotenzial hin auf Zukünftiges. Werther fasst diesen Erschließungscharakter des Gestimmtseins auf Kommendes mit dem Ausdruck „ich ahndete ganz leise“.

5. U RSTIMMUNG UND T ODESAHNDUNG Narrative Hyperbolik diesseits und jenseits des Begehrens

Dieses ganz leise Ahnden ist in dem das Erste Buch abschließenden Brief ein im Rückblick verortetes Vorlaufen auf das, was letzte Nacht geschah und Gegenstand der folgenden Mitteilung ist. Es handelt sich um das Zusammentreffen mit Lotte und Albert, bei dem Gedanken, Gefühle und gewissermaßen Tränen ausgetauscht werden. Denn das von Lotte begonnene Gespräch ist zentriert auf den Zusammenhang des „Gefühl[s] von Tod, von Zukunft“, das immer „über“ sie „käme“, wenn sie im Mondschein an ihre verstorbene Mutter denkt. (LjW 116f.) Während ein Sein nach dem Tode außer Frage steht – positiv entschieden –, will Lotte von Werther geklärt haben, ob „wir uns wieder finden [sollen]? und wieder erkennen? Was ahnden Sie [...]?“ (LjW 118) Werthers ganz auf den Abschied von Lotte eingestellte Stimmung war zuvor bereits in ihrem antizipierenden Erschließungscharakter („ich ahndete ganz leise“) deutlich geworden. Die den Tod als ontologisches Schwellenphänomen ‚ahndende‘ Stimmung wird nun durch die Thematik des Gesprächs selbstbezüglich. Diese selbstbezügliche Stimmung wird aber unter dem Aspekt des aufs Zukünftige ausgerichteten Verstehens nicht nur in kognitiver Funktion transparenter. Sie gibt auch die psychogenetische Tiefenstruktur der Liebe zu erkennen, deren Übertragungsmedium sie für Werther ist. Insofern die Stimmung das Verstehen nur bis in die Sozialisationsspiele der bürgerlichen Kernfamilie zurückbringt, erschließt sie deren pathogenen Effekte in Form der Befangenheit des Begehrens in den dyadischen Spiegelungen einer vaterlosen Mutter-Sohn-Symbiose. Dies hat u.a. Meyer-Kalkus mit psychoanalytischen und soziologisch-historischen Mitteln rekonstruieren und plausibel machen können, so dass die „matriarchale Codierung des Begehrens“ als Ätiologie von Werthers „Krankheit zum Tode“ entzifferbar wird.40 Dies erklärt freilich nur die katastrophale Stimmung im Sinne einer endogenen Melancholie über40 Meyer-Kalkus 1977, S. 135. Siehe außerdem Auer 1999; Schmiedt 1979, 1989.

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zeugend, ihre Wendungen in die Todessehnsucht und Selbstzerstörung. 41 In ihr wirken die Phantasmen einer finalen Restitution funktional kompletter Familienstrukturen im postmortalen Himmel „ewige[r] Umarmungen [...] vor dem Angesichte des Unendlichen“. (LjW 250)42 Letzterer aber war als Vater im realen Endlichen nicht nur abwesend, sondern zugleich im Unbewussten als väterliches Gesetz (Lacans nom du père/non du père) permanent anwesend. Diese symbolische Vaterpräsenz im Modus realer Abwesenheit bildet das psychoanalytische Dispositiv für die fatale Ambivalenz von Werthers Stimmung. (Vgl. Graber 1958) Einerseits lässt sie die WeiteEuphorien des ozeanischen Gefühls (Freud) empfinden43 und drängt auf eine Neuauflage von ursprünglicher Einheit; andererseits verbietet sie gerade diese der MutterKind-Symbiose nachmodellierte absolute Liebe und bestraft die Negation von deren Verlust mit (Selbst-)Vernichtung. Denn allerdings reicht die Genese von Stimmung mit ihrem freien Spiel der Gefühlsreflexion hinter die kernfamilialen Prägungen des Begehrens zurück. Sie konvergiert mit Herders spekulativer Perspektivierung des Unvordenklichen in einer tonalen Art Ursprung des Ursprungs.44 Dieser initiale Ton einer Ur-Stimmung liegt den Urszenen des Imaginären mit ihren narzisstischen Verwerfungen des Anderen nicht nur zugrunde und voraus, sondern er klingt auch im späteren Leben noch über dieselben hinweg nach. Die symbollogisch initiierenden und familienpsychologisch gesetzten Impulse des Begehrens formieren zwar Werthers Stimmung mit und deformieren sie in der Pathologie ihrer Ekstasen. Jedoch greifen sie dabei auf ein psychisches Material zurück, das bereits vorliegt und die archäologisch tiefere Schicht dessen bildet, was Meyer-Kalkus (1977, S. 104) im Anschluss an Jacques Lacan ‚Hominisation‘ nennt. Es ist die von Befindlichkeitsresonanzen – Herders ersten Tönen – durchstimmte Mutter-Kind-Symbiose samt ihren intrauterinen Anbahnungen, welche die Basis für Gefühlsmatrizes überhaupt bildet. 45 Diese humanogene Primärstim41 Vgl. Tellenbach 1960 und 1977; ebenso Jenkins 1992; dazu Duncan 2005a, S. 43f. 42 Meyer-Kalkus weist indes auch auf das dieser Versöhnungsphantasie vorausgehende Gespräch über die Reorganisation der Familie nach dem Tod von Lottes Mutter hin. (S. 118) Darin wurde zum einen Lotte als Mutter ihrer Geschwister, nicht aber als inzestuöse Frau des Familienvaters bestimmt. Die sterbende Mutter bestimmte Albert zum Ehemann für Lotte. Danach bleibt für Werther allenfalls die Rolle eines adoptierten Sohnes, der Lotte als Mutter ehrt und sich mit Albert mehr identifiziert als mit ihm konkurriert, wenn er nicht in ödipalen Schlingen hängen bleiben soll. Allgemeiner zum Thema Familie Bengt Algot Sorensen 1987; Schmiedt 1979; Strack 1984; mit Blick auf Lotte Dumiche 1995. 43 Vgl. zur ‚ozeanischen‘ Naturerfahrung Mog 1976, S. 123ff. 44 Vgl. die psychogenetisch ‚tonale‘ Ur-Stimmung als frühester „Eindruck der Kindheit“ in der „Abhandlung über den Ursprung der Sprache,“ in Herder 1985, S. 695-810, hier 744; und als „der erste Ton, die erste Stimmung der Seele“ in JmR, S. 103. 45 Ein von psychoanalytischen Theorieannahmen ausgehender Beitrag zur Goetheforschung jüngeren Datums schätzt die Bedeutung früher Erfahrungen, in Goethes Fall etwa auch seine schwierige Geburt, in grundsätzlich ähnlicher Weise ein. Sie klingen im Erwachsenenleben in „Stimmungen und Phantasien“ nach. Holm-Hadulla 2008, S. 24; vgl. zuvor bereits Graber (1958) und später Wellbery (1994), die ihrerseits von der Annahme pränataler Prägungen ausgehen. Letzterer konzentriert sich zehn Jahre vor seinem Artikel über die Stim-

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mung ermöglicht die spätere Transfiguration kindlicher Bedürfnisse ins sexuelle Begehren ebenso wie auch Werthers Kontinuation exklusiver Symbiosewünsche in ödipalen Projekten. Sie treibt die hypertrophen Sekundärstimmungen insgesamt hervor, also auch die missglückten Übertragungen ins empfindsam-erotische Fiasko mit Lotte. Die pathetischen Idealisierungen der Mutter oder gar die pathologischen Fixierungen auf deren Imago, wie sie im Werther beobachtet und analysiert wurden, sind dann als kulturell bestimmte Ausprägungen des sozialgeschichtlichen Transformationsprozesses lesbar, wie sie Meyer-Kalkus seiner Lacanschen Interpretation des Werther fruchtbar zugrunde legt. Durch die psycho- und diskursanalytischen Folien hindurch soll jedoch jene protostrukturale Stimmung der präsymbolischen und pränatalen Früherfahrungen im Hintergrund im Auge behalten werden, da sie es ist, die auch die ästhetische Stimmung mitbedingt.46 Deren rhetorische Erzeugung und bildliche Gestaltung im Werther erfolgt freilich in engstem Verbund mit Motiven von Mütterlichkeit und Imagines der Mutter, und das nicht nur im direkten Bezug auf die Hauptfigur.47 Auch Lotte bezieht etwa den Fragekomplex von Tod, Wiedererkennen und erinnernder „Liebe“ der „Verstorbenen“ in der emotional Abschiedsszene im Park auf ihre Mutter, deren „Gestalt“ immer um sie „schwebt“. (LjW 118) Trotz und wegen den sie offenbar auch überfordernden Konsequenzen des vorzeitigen Todes der Mutter, nämlich die transgenerationelle Zumutung, deren Stelle in ihrer eigenen mung freilich nicht auf diese, sondern auf eine „imagined corporeality“, die „aspects of the ontogenesis of bodily experience during early childhood“ reaktiviere. (S. 182) In einem jüngeren Überblicksartikel spricht Wellbery von der „logic of an image repertoire, the roots of which reach back to the threshold of infancy“ (2004, S. 386-93, hier 389). 46 Diese Annahme stützt sich auf die anschauliche Ausarbeitung von psychoanalytischen und psychoakustischen Erkennisperspektiven bei Sloterdijk 1999, Sphären I., die anschließen an Tomatis 1987; Janus 1993; Grof 1978; Demause 1989, darin „Die fötalen Ursprünge der Geschichte“ (S. 230-349) und die Kritk der Psychoanalyse, die erst nach der Geburt ansetzt (S. 233 ff.). Siehe außerdem die Wertherdeutung von Graber 1958, den aber im Gegensatz zu uns die pathologischen Fortbildungen interessieren; ferner Balint 1950. 47 Dieser Befund stimmt mit demjenigen Wellberys im Teil II (the sexualisation of specularity) seiner Studie The Specular Moment (Stanford 1996) überein, wo die Subjektwerdung als ursprüngliche Gabe der Mutter konzipiert ist. Dadurch wird der den Titel des Buches führende Teil I gewissermaßen psychologisch begründet ohne die Defizite der traditionell an Persönlichkeitsstrukturen (der Figuren oder ihrer Autoren) haftenden Psychoanalysen im literarischen Feld zu teilen. Auch in diesem strukturalen Blick auf das Geschichtliche in der Literatur besteht eine Nähe zu unserer analytischen Verortung der Stimmung und ihrer Auffassung als kulturelle Emergenz innerhalb einer historischen Konstellation. Allerdings wird noch in der eingangs angekündigten Folgestudie zu prüfen sein, ob unsere ästhetisch und psychoanalytisch grundierte Poetologie – durch die Hintertür des Geschichtlichen – nicht doch wieder dem ähnelt, was schon das Erkenntnisinteresse der Geistesgeschichte war, gewissermaßen nur dekonstruktiv ernüchtert. Hingegen scheint sich Wellbery mit der Akzentuierung des Rhetorischen, des Körpers und des Diskurses sicherer zu sein, die hermeneutischen Gestalten des Geistes, der Ideen, der Erfahrung zugunsten anonymer Epochenstrukturen tatsächlich hinter sich zu lassen.

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Herkunftsfamilie zu übernehmen, ist Lotte selbst identifiziert mit deren sorgender Rolle und „warme[n] Liebe“. (LjW 118)48 Die liebende Mutter aber wird in diesem Gespräch nicht nur von Lotte als „liebe Heilige“ verehrt, sondern auch von Werther gewissermaßen stellvertretend in Lotte. (LjW 118) Mehr der über Lotte ruhende „Geist“ (LjW 120) ihrer Mutter als der neben ihr sitzende Verlobte stellen für Werther die Hindernisse und Voraussetzungen seiner Liebe zugleich dar. Erst diese Drei-plus-eins-Konstellation – als Folge der den Vater ausschließenden oder verwerfenden Zwei-minus-ein-Symbiose – bildet die Tiefenstruktur des Beziehungsfeldes, von dem Werther am Ende des Ersten Buches Abschied zu nehmen versucht. Ist Werther als Dritter doch überflüssig und kann allenfalls über den Ausgriff auf die imaginäre Mutter Lotte(s) sich dem Paar als Freund oder immerhin als adoptierten Sohn zuordnen. (Vgl. Meyer-Kalkus 1977, S. 118) Denn nachdem Albert die Adoleszenzreise zu seinem kürzlich verstorbenen Vater abgeschlossen und seine Position an der Seite von Lotte wieder eingenommen hat, ist es mit Werthers urständischem Dyadenglück in ‚seinem‘ Wahlheim vorbei. Dasselbe ist durchaus dreist zu nennen, da er wie ein homerischer „Freier der Penelope“ einfach die Abwesenheit Alberts substitutiv für sich nutzte. Die Analyse des Spiels von Positionen und deren Substitutionsdynamik im Werther kann psychologische Begründungen, zumal diese ohne spekulative Dimension kaum auskommen, sogar weitgehend überflüssig machen. Dies konnte Dotzler aufzeigen, in dem er mit Bezug auf Roland Barthes und vor allem auf die Rezeptionstheorie Isers die „(äußere) Struktur der Figurenanordnung“ (1999, S. 464f.) als eine Art systemisches Füllen von Lücken, Unbestimmtheiten, Absencen oder Leerstellen analysiert. Aber auch die formale Struktur von Beziehungsfeldern dürfte zumindest teilweise psychogenetische Gründe haben. Diese können zwar an literarischen Texten nicht theoriefrei analysiert oder gar bewiesen werden. Wohl aber sollten sie unter dem Stimmungsaspekt mithilfe vertretbarer Spekulationen in die Richtung des tiefen- oder paläopsychologischen und speziell prä- und perinatalen Wissens angedacht werden. Wie letzteres Slotderdijks kulturhistorischer Darstellung der anthropogenen Blase sowie dessen Denken der Sphären insgesamt zugrunde liegt, so auch unserer Ausschau nach einer Anknüpfung der Poetologie der Stimmung an deren mögliche Psychogenese. Zunächst jedoch geht psychologisch und darstellungslogisch aus der Figurenkonstellation – Werther/Albert/Lotte+Mutter, sei es Lottes oder Werthers Mutter – eben jene vorausgeahnte Stimmungslage aus „Seligkeit und Schmerz“ erst hervor. In ihr ist die Wunde des Abschieds von der Resonanztotalität einer dyadischen Symbiose noch ungeschlossen, wie auch das Begehren noch von Angst gebannt ist – sei diese psychoanalytisch über symbolische Kastration oder als Angst vor Dissoziation des Selbst, sei sie existenzphilosophisch als Angst vor Unheimlichkeit der Welt gefasst. Die räumlichen und zeitlichen Strukturen dieser selig-schmerzlichen Stimmung weiß Werthers Einleitung des Briefes – wie wir gesehen haben – phänomengerecht als solche eines Selbstverhältnisses in einem topologisch konfigurierten Außen zu beschreiben. So hat die existenziale Subjektivierung von Liebe, wie sie auch sozialpsy48 Die psychonalytische Sicht auf Lottes Problem, die Mutter ersetzen zu sollen und zu wollen, wie sie, aber sie doch nicht sein zu können, erörtert Dumiche 1995, 281f. Vgl. den Kommentar bei Duncan 2005b, S. 140.

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chologisch und mentalitätsgeschichtlich nachvollziehbar ist, in der ästhetischen Objektivierung von Stimmung ihr Gegenstück. Auf diese Weise erfindet der Autor Goethe die poetisch objektivierbare Stimmung als Medium einer psychokulturellunterschwellig kompliziert gewordenen Liebe und deren Darstellung. Umgekehrt – unter psychoanalytischem Aspekt – lässt er die mütterlich übertragene und als solche übertragbare Liebe als Medium ästhetischer Stimmung immer wieder und gleichsam palimzestuös durch den Textfluss hindurchschimmern. Diese zwischen ‚Willkommen und Abschied‘, ganymedischer Seligkeit und prometheischem Schmerz oszillierenden Stimmungsmatrizes der ‚Mütterlichkeit‘ bzw. Vaterlosigkeit ziehen sich vom Beginn des Romans (Fluchtmotiv aus der Stadt mit Mutterbezug; der Mutter des brüderlichen Idylls; Abendbrot verteilende Lotte, abwesende Vaterfiguren usw.) bis zu seinem Ende durch, wo Lotte mit ihrer Mutter identifiziert wird, Werther seiner eigenen Mutter gedenkt und bei einem alliebenden Vater Versöhnung imaginiert. (LjW 250, 258) Nicht erst am Ende des Faust, bereits am Ende von Werther ist somit das Motiv Mutter mit dem der Erlösung beim Vater verknüpft. Vorbereitet wird diese Motivbindung durch ein bei dem Leidenden aufkommendes Gefühl von „Schuld“, mit der ihm übertragenen Liebe nicht verantwortlich umzugehen und diese „Quelle aller Seligkeiten“ zur „Quelle alles Elendes“ verkommen zu lassen. (LjW 176) Mit Mutter Natur, Gott Vater sowie dem interkordial („mit ganzem, innig dankbarem Herzen“) unterhaltenen Stimmungsverhältnis zu denselben wird auf die Herkunft der empfindsamen Begabung zu Liebe und Tränen, zu Wonne und Seligkeit, aber auch zu dieser oder jener Stimmungsekstase verwiesen. (LjW 178) Die einmal erkannte Geschichtlichkeit dessen, was Dilthey und Heidegger Lebens- bzw. Grundstimmung nennen, lässt Werther auch an seiner Schuldfähigkeit zweifeln. Die Forschung vor einhundert Jahren – Gundolf etwa – sah Werthers Leiden deshalb weniger durch den Verlauf einer unglücklichen Liebesgeschichte bedingt, sondern in einer existenziell tragischen Haltung verankert und sprach nietzscheanisch vom „Menschenschiksal“ (LjW 180), das man ist und nicht nur erduldet.49 Wie Goethe erkennt auch Werther seine innere Situation in der Mehrzahl ihrer Möglichkeiten und also der Kontingenz dessen, was davon Wirklichkeit wird. Doch während Goethe durch Schaffung von Kunstfiguren – wie Werther zumal – bedrohliche Varianten seiner möglichen Wirklichkeit in fiktionalen Welten ausagieren lässt, vermag er prekäre Bewusstseinslagen immer wieder zu entschärfen. Dem Nicht-Künstler Werther hingegen bleibt es nur sich darüber zu wundern, dass in seiner eigenen Person ein Potenzial an Grundstimmung lagert, das zur Schaffung von Liebesparadiesen um in her ebenso befähigt wie zur Auslöschung alles Lebendigen in ihm. Die Lebensstimmung, die ihn „ehemals in aller Fülle der Empfindung herumschweb[en]“ ließ und mit dem großen „Herz“ einer Natur-Mutter „eine ganze Welt liebevoll zu umfassen“ ermöglichte, sie „ist jezo todt“. (LjW 178) Aus dieser Todesstimmung fließen „keine Entzükkungen mehr“, auch keine „erquikkenden Thränen“: „die heilige belebende Kraft, mit der ich Welten um mich schuf. Sie ist dahin.“ (LjW 178) Bei aller „Müdseligkeit“ und persönlicher Anlage weiß der Leidende aber doch auf die andere, die äußere, jene ebenso konstitutive Weltseite der scheinbar nur 49 Gundolf 1967, S. 164. Siehe den Bezug zur Hegelschen Figur des Unglücklichseins bei Mayer 1986.

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von innen her um sich greifenden Stimmung zu verweisen. (LjW 180) Hierzu versammelt Werthers erklärender Blick aus dem nur vermeintlich solipsistischen „Fenster“ einmal mehr das landschaftliche Ensemble naturräumlich konfigurierter Stimmung: die „fernen Hügel“, die „Morgensonne“, „den stillen Wiesengrund“, den „sanfte[n] Fluß“. (LjW 178) Eine ähnliche Funktion, die Stimmung als räumlich ausgebreitetes, subjektive wie objektive Bindungen transzendierendes Phänomen darzustellen, kommt dem Klavier zu, mit dem einige Male erotische, persönliche oder bürgerlich moralische Verlegenheiten überspielt und dadurch umso deutlicher werden (sollen). 50 Lottes „Zuflucht zum Claviere“ (LjW 184) inszeniert aber vor allem das musikalisch greifbare Gegenspiel zum psychologisch Ungreiflichen der Stimmung. Indem es zugleich die sexuelle Realisation des erotisch verdeckten Spiels zwischen Lotte und Werther zu sublimieren hat, sind die „himmelsüsse[n] Melodie[n]“ der sinnliche „Ausdruck“ der Übereinstimmung ihrer Seelen sowie der auf den selben Ton gestimmten Körper von Liebenden. Dies zeigt sich vor allem im ersten Teil an Werthers unterdrückter „Begier“ und frühen Selbstmordphantasie, während Lotte am Klavier mit „Gesang“ und musikalischer „Zauberkraft“ ihr „Leiblied“ spielt. (LjW 78) Metaphorische Gelegenheiten, „Lottens Clavier zu stimmen“, lässt Werther bezeichnenderweise ungenutzt, indem er sich ihrer Mutterrolle entsprechend von den Kindern als Brotausteiler, Vaterersatz und Märchenonkel engagieren lässt. (LjW 102) Die begriffsgeschichtlich aus der musikinstrumentalen Praxis stammende Stimmung bildet für Werther unter ästhetisch rezeptivem Vorzeichen des Zuhörens bei Lottes Klavierspiel aber nicht nur den wegen seiner Insuffizienz schmerzlichen Ersatz für eine sexuelle Beziehung mit ihr. In der letzten Szene mit Lotte – kurz vor Eingreifen des Herausgebers – treibt die von ihrem Spielen auf dem Klavier melodisch aufgeladene Stimmung Werther „auf einmal“ über die Grenze des Erträglichen hinaus. (LjW 192) Er herrscht sie an, damit aufzuhören, „so auf einmal“ und gerade in dem Moment der vollen Entfaltung der räumlich-zeitlichen Phänomenstruktur. (LjW 192) Noch einmal zeigt sich, wie die Stimmung zum emotionalen Brandbeschleuniger wird oder von Beginn an eine Art existenzieller Explosivstoff ist. Scharfgemacht über die „Erinnerung all des Vergangenen, all der Zeiten, da ich das Lied gehört“, kommt die Stimmung im Zukunftsbezug „der fehlgeschlagenen Hoffnungen“ schließlich zur Zündung; und zwar vermittelt über das akustische Medium „all der düstern Zwischenräume des Verdrusses“. (LjW 192) Die imaginativ – und in dem nicht wohlgeformten Satz auch syntaktisch – nicht mehr beherrschbare Stimmung drängt nun von selbst auf ihre narrative Hyperbel, die Werther als Charakter der Literatur im Unterschied zur Wirklichkeit ausmacht.51 Realisiert wird die finale Hyperbel zum einen darstellungstechnisch durch das ästhetisch intensivierende Eingreifen des editorischen Erzählers und zum anderen poetisch durch die neutestamentliche Verklärung des „Muth[s] zu sterben“ aus „heiligste[r], reinste[r], brüderliche[r] Liebe“. (LjW 196) 50 Siehe zum Motiv des Klaviers Huff 1984. 51 Dieser für unsere Deutungsgrundlage entscheidende Unterschied – einschließlich seiner narratologischen Einebnungsstrategien – muss immer wieder betont werden und wird es auch, etwa bei Lange 1971, S. 154ff.

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Bis dahin wird die hyperbolische Stimmung schubweise verdichtet, vom individuellen Begehren abgelöst und greift von Werther auch auf andere über. Auf den zunehmend verdrießlichen, schließlich gereizt reagierenden Albert und auf Lotte, die „zulezt selbst mit angestekt wurde, und in eine Art von Schwermuth verfiel“. (LjW 200) Im Fall von Lotte ist die Ansteckung durch Werthers Stimmung zunächst als Folge der von Anfang an „schön“ sichtbaren „Übereinstimmung ihrer Gemüther“ nachvollziehbar, wie es die B-Fassung formuliert. In der A-Fassung ist ein „geheimer Zug“ dafür verantwortlich, der „ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntschaft theuer gemacht“ hat und sie nun durch sympathetische Konkordanz „in eine stille Melancholie“ versinken lässt. (LjW 228) Die letzte Steigerung der Übertragungsdynamik der Stimmung zwischen Lotte und Werther erfolgt über den Rückgriff auf das Medium, das schon vor und auf dem Ball das eigene Selbstgefühl mit demjenigen des jeweils anderen verschränkte – die Literatur.

6. D ER L ESEAKT

UND SEIN

V ERSTEHENSVOLLZUG

Figuren der Stimmung und ihre ästhetische Matrix

Waren es damals die idyllischen Narrative eines Goldsmith und das lyrische Frühlingspathos von Klopstock, die für eine poetische Kommunion der lesenden Herzen sorgte, so sind es bei ihrer letzten Begegnung Ossians (alias James Macpherson) todesmelancholischen Gesänge. Die gemeinsame Lektüre von deren von Werther offenbar eigens für Lotte angefertigten Übersetzung vom Englischen ins Deutsche nimmt die erotische Steigerung der Intimitätsstimmung wieder auf, die beim Tanzen mit der Übersetzung vom englischen Tanzschritt zum deutschen Walzer geschah. Bevor Lotte es wagt, sich zu dem gegen ihre Absprache erschienenen Werther aufs Canapee zu setzen, versucht sie ein sexuelles Übergreifen der Stimmung noch einmal vergeblich durch deren Objektivierung im Klavierspielen zu neutralisieren. Wie zuvor die Musik nur Werther aus der Fassung gebracht hatte, so bewirkt sie nun bei ihr selbst „die Verwirrung ihres Herzens“. (LjW 230) Diese wird von der durch das Vorlesen zelebrierten Konkordanz mit Werthers innerem Zustand in ein die beiden dramatisch umfangendes Pathos verstärkt.52 Denn in seinem „Herzen“ hatte „Ossian“ längst „den Homer verdrängt“, so dass dessen epischer Lyrismus den Ton des Umgangs miteinander auf dem Canapee vorgibt. Es ist ein elegischer Ton, den die nordisch wilde Vergänglichkeitsstimmung zum Klingen bringt, indem sie ein bestimmtes, die Imagination der 1770er Jahre beflügelndes Ensemble von Motiven zusammenfügt. Zum einen solche, die Natur als mythologischen Raum vorstellbar machen: finstre Heide, Stürme in dem Gipfel der Eichen, Brausen des Windes, Wetterleuchten, Donner, Sonne nach dem Gewitter, Nebel, dämmerndes Licht des Mondes, Gebirge, Waldstrom, moosbedeckte grasbewachsene Steine, Stern des Abends (Venus), das rollende Meer, Wolken, Hügel, Tal, 52 Wie sich unabhängig von Werther das Pathos als Ausgangspunkt poetologischer und kulturwissenschaftlicher Reflexion fruchtbar machen lässt, zeigen nach dem Vorläufer Aby Warburg eine Reihe neuerer Untersuchungen Busch und Därmann 2007; Dachselt 2003; Dönike 2005; Herding und Stumpfhaus 2004; Port 2005.

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Höhe, Erde, rauschende Wellen, lispelndes Gras, Regen, Fels, Baum, der düstere Wald, ferne Gestade, See, Ufer, Winde des Herbst und immer wieder Nacht. Zum anderen Motive, die Kultur als Geschichtlichkeit heroischer Vorzeiten imaginierbar machen: Geister der toten Väter und Wehklagen eines Mädchens um ihren Geliebten, tapfere Helden und der wandelnde Barde, Gräber und Grabsteine, Gefahren und Tod, Kummer und Freuden, edle Waffenträger und Fürsten, Schiffe und Boote, Halbgott und Seele, Leben als Traum, Jagd und Jammer, Blut und Verräter, aber auch hier Mutter und Liebe (LjW 170f.; 230-44). Die imaginäre Bewegung durch die Ossiansche Stimmungslandschaft findet ihren Höhepunkt in der wechselseitigen Übertragung der Stimmungen des Gelesenen und des eigenen Erlebens, der Vermittlung von Lesen und Leben im Wiedererkennen der eigenen Lage (hierzu Bahr 2004). Was Lotte spätestens jetzt in Form von Ahndungen überkommt, steht für Werther während dieser letzten Begegnung längst fest. Schon zuvor hat ihm sein entschlossenes Vorlaufen53 in den Tod die Verstehensdimension der ihn seit längerem überkommenden Ahndungen erschlossen. Damit kann die Stimmung ihre letzte Zündungsstufe erreichen. Stand sie anfangs bei diesem unerwünschten Erscheinen vor Weihnachten wie zähflüssige Zeit im erstarrten Raum zwischen ihnen, so löst sie sich durch die Ossianlektüre in einer „fürchterlichen Bewegung“, die beide ergriff, bevor sie sich umgreifen und mit zitternden Lippen endlich küssen. (LjW 244) Die im gemeinsamen und die Liebenden vereinigenden „Strohm von Thränen“ (LjW 244) gipfelnde Liebesgeschichte wird dadurch aber nicht auf einen Weg zurück ins Leben geleitet, sondern zu dem Ende, das Werther nicht überlebt.54 Vaget hat das „Ans-Licht-Kommen der Liebe“ auf dem Canapee unter dem literarisch-medialen Aspekt des Ersatzes eines „wirklichen Liebesakt[es]“ durch den gemeinsamen Leseakt sehr genau interpretiert und in den für ihn zentralen Zusammenhang von Werthers Dilettantismus eingefügt. Dabei wirft er neben anderen die Frage auf, was Werther da auf der „Erde“ vor dem Canapee tut, als er der sich aus seiner verzweifelten Umarmung befreiten, ins Nebenzimmer geflohenen Lotte „über eine halbe Stunde“ (LjW 244) lang nachstarrt: „Befindet er sich in einem Zustand der völligen emotionalen Erschöpfung? Lähmt ihn der innere Jubel über die unmißverständliche Liebesbezeugung Lottes? Oder genießt er den stillen Triumph darüber, daß diese Lektüre ihm endlich einmal ganz das gegeben hat, was die geheime Bestimmung aller seiner Leseakte war: die Inbesitznahme der Geliebten?“55

Entgegen Vagets Antwort, die Werther ein weiteres Mal zum „Opfer der gleichen dilettantischen Selbsttäuschung, die alle seine Unternehmungen kennzeichnet“ (ebd. 55f.) macht, wollen wir eine alternative Antwort erwägen. Mit dem genannten Erreichen des Höhepunkts der Stimmung beim Lesen und der Liebe in der Umarmung 53 Siehe zum phänomenologischen Zukunftsbezug des Verstehens in Verbindung mit Heideggers Begriff des Vorlaufens: „Das Erwarten ist ein im Gewärtigen fundierter Modus der Zukunft, die sich eigentlich zeitigt als Vorlaufen.“ (SuZ 337) 54 Hingegen zu Werthers Ende aus psychologischem Blickwinkel siehe Schmiedt 1979. 55 Hans Vaget 1985, S. 55; vgl. ders. 1971.

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setzt sich nicht einfach etwas fort – etwa eine Reihe von Selbsttäuschungen; das würde die einschneidende Konsequenz des Selbstmordes eher unverständlich oder doch erklärungsbedürftig erscheinen lassen. Vielmehr setzt etwas Neues ein, ein Verstehen, das die Hemmung seines Begehrens und das eigene Dilettantismussyndrom zu erfassen sucht. Hatte sich doch gerade im gesteigerten Augenblick, als ihnen bereits „die Welt vergieng“, die Insuffizienz seines sexuellen Handelns gezeigt, indem nur der kleinste Widerstand ihrerseits („drükte mit schwacher Hand seine Brust von der ihrigen!“) ihn zur Aufgabe veranlasste. Statt zupackend zu bleiben, „widerstund“ er seinerseits nicht, „lies sie aus seinen Armen, und warf sich unsinnig vor sie hin.“ (LjW 246) Und solche ‚Unsinnigkeit‘ nach der langen Vorgeschichte, der soeben erzielten Liebesgewissheit und vor allem der ohnehin bestehenden Todesbereitschaft?56 Werther ist zwar ohnehin eine Gegenfigur zum Don Juan, aber trotz seiner Lektüre von Emilia Galotti nicht etwa mit tugendmoralischem Anspruch. Eher aus seinem Liebesverständnis heraus, das ganz auf ganymedisch verschmelzendes Identitätsgefühl anstelle von sexueller Differenzwahrnehmung setzt. Im Nachklang der Umarmungsszene beginnt Werther zu verstehen, dass es sich weder um den erfüllten Augenblick der Wahrheit noch einfach um eine weitere verpasste Gelegenheit handelte. Dass vielmehr etwas mit seiner Liebe oder der an sie geknüpften Erwartung nicht stimmt, dass womöglich sein Blick auf Lotte weniger zusammenstimmt mit deren „vollste[m] Blik der Liebe“ (LjW 246) als bislang angenommen. Während der halben Stunde, in der er dem stimmungsdramatischen Liebes- bzw. Leseakt nachsinnt, denkt er offenbar nicht über Möglichkeiten einer endgültigen Eroberung nach, sondern wohl eher darüber, warum dies so ist.57 Macht er doch bloß zaghafte Versuche, ins Cabinet einzudringen und will ausgerechnet kurz vor dem erstmals real erscheinenden Ziel seiner Wünsche „nur noch ein Wort, ein Lebe wohl“ sagen – ohne damit etwa eine Strategie der Verführung zu verfolgen. (LjW 246) Auch wenn der recht verstehende Blick von außen auf das Verhalten der Hauptfigur erst dem Autor vergönnt ist, so lassen sich doch bei Werther selbst Ansätze zu 56 Hier ist die psychoanalytische Deutung, wie sie Meyer-Kalkus mit seiner These von der matriarchalen Codierung des Begehrens entfaltet, die am meisten überzeugende. Sie verlängert Werthers Jubel über den Austausch von Küssen „als erotische Erfüllung seiner Wünsche“ und dessen Deutung im Sinne eines Liebesbeweises hin auf die Verwandlung Lottes vom „Liebesobjekt“ zur „Todesbotin“. (S. 133) Mit der Darstellung der Frau als Todesbotin liege zudem ein „geschichtliches Novum“: „Das ‚glühende Leben‘ und ‚heilige Feuer‘, das Werther auf Lottes Lippen genossen hat, schließlich ihre Hilfeleistung bei seinem Sterben entbinden eine ekstatische Todeserotik, die auf Erfahrungen der deutschen Romantik vorausweist, auf Novalis und auf die Gestalt von Wagners Tristan“. (S. 134) Von Alfred Adler ausgehend wäre die ‚Unsinnigkeit‘ Werthers hier zu erklären als Vorwurf an Lotte und zugleich als Selbstbestrafung durch den folgenden Selbstmord; siehe dazu die psychoanalytische Deutung Werthers im Sinne einer realen Persönlichkeit und anschließend dessen Verhältnis zu seinem Autor von Ernst Feise, „Goethes Werther als nervöser Charakter,“ Germanic Review 1 (1926): 185-253, hier 220; vgl. den Kommentar zu dieser ersten psychoanalytischen Wertherstudie bei Duncan 2005a, S. 56f. 57 Vgl. die psychoanalytische Sicht auf Werthers Mangel an Männlichkeit bei Graber 1957, S. 178-81; außerdem ders. 1958.

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selbstbezüglichen Einsichten erkennen. Die nach dem überschrittenen Stimmungsgipfelpunkt explizit gemachte Zeitdehnung („über eine halbe Stunde“) kann von katatonischer Stimmungsleere oder aber anhebender Besinnung gefüllt sein. Dem bibelsicheren Werther könnte dabei etwa einfallen, dass das ‚Erkennen‘ von Mann und Frau durch seinen mutterherzlich codierten und von „wütenden Küssen“ unterschwellig infantilisierten Gefühlsüberschwang eher behindert als gefördert wird; dass seine Verliebtheit nicht nur sehend, sondern eben auch blind machen kann – zumal für die sexuelle Liebe. Ein auf absolute All-Einheit fixiertes Begehren, wie es für Goethes Idee von Stimmung von Rousseau her vertraut sein dürfte (vgl. von Arburg/Rickenbacher 2012, S. 7), verweist Werthers Liebe auf ihren Verlust vor jeder auch nur möglichen Erfüllung.58 So wird zuletzt noch im Suizid durch – nicht aus – Stimmung das Harmonie-Ideal in Erwartung von „ewigen Umarmungen“ (LjW 250) im dissonanzfreien Raum des Himmels hochgehalten. Inmitten von dessen idealen Bewohnern (Vater, Mutter) wird schließlich jene Erfüllung des Begehrens antizipiert, die auf Erden unmöglich scheint und deren Aufschub die Stimmung mit erotischer Imagination auflädt. Der nach dem halbstündigen Nachsinnen eintretende Wandel der Grundstimmung hin zu suizidaler Gelassenheit – Benjamin spricht in ähnlicher Weise von der „pythagoreischen Stimmung des ‚Phaidon‘“ als Entbindung des Sterbens vom Tragischen (Trauerspiel, S. 293) – deutet zudem auf eine zumindest zweifache Einsicht. Zum einen können die sein Lieben befeuernden Enthusiasmen keine reine Liebe im Sinne einer selbstragenden Wechselbeziehung herstellen, da diese sich nur von selbst einstellen kann. Tut sie dies nicht oder lässt sich von äußeren Umständen zurückhalten, kann ihr durch Zuspruch vom Imaginären eine Weile nachgeholfen werden, bis eines Tages der von Wilhelm geforderte Abbruch ansteht. Andererseits beharrt Werther auf dem Anspruch, ganz aus sowie in seiner Stimmung zu leben und zu lieben, d.h. notfalls auch durch sie zu sterben, wenn die Alternative ein Leben ohne Liebe ist. Während die künstlerische Gestaltung der Wertherstimmung Goethe die Bewältigung seiner Adoleszenzkrise mitermöglichte, entdeckt Werther nur ansatzweise die Stimmung als Medium eines Verstehens, das (seine) Gefühle nicht nur nicht ausschließt, sondern sie selbst zum Gegenstand der Erkenntnis macht. Die mit literarischer Unterstützung durch Stimmungen erreichte Gewissheit (in) der Liebe wird erst um die Einsicht in die strukturelle Unerfüllbarkeit von Begehren und schließlich um die Erkenntnis des Gefühls ergänzt, das sich vom antizipierten Ende des Lebens her als dessen Ganzheit darstellt. Einmal mehr mit Erwähnung der meteorologischen Entsprechung („trüber neblichter Tag“) spricht der „Sohn“ und „Geliebte“ der Mutter „Natur“ in seinem Abschiedsbrief an Lotte vom „Gefühl ohne gleichen [...] sich zu sagen: das ist der lezte Morgen. Der lezte! Lotte, ich habe keinen Sinn vor das Wort, der lezte!“ (LjW 248) Werthers anthropologisch gewendete Reflexion über die Leben-Tod-Dialektik geht von der Beobachtung aus, dass „wir träumen, wenn wir vom Tode reden“ (LjW 248). Wie Ahndung eine kommende Wirklichkeit ist, die wir gegenwärtig als Stimmung spüren, so stiftet die Vorstellung vom Sterben zwar keinen Sinn des Lebens, 58 Vgl. Kaiser 1976, S. 208: „Im Geheimsten seines Innern will Werther die Unmöglichkeit der Erfüllung.“ Zit. n. Kittler 1980, S. 167f.

III. Ä STHETISCHE V ERFUGUNGEN VON RAUM UND ZEIT

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sie eröffnet dem Menschen aber doch die Frage nach dem Sinn von seines „Daseyns Anfang und Ende“ (LjW 248). Zusammen mit dieser Frage öffnet sich Werther der Raum eines Verstehens, das die Worte „Vergehen“, „Sterben“, „Todt“ und „Grab“ aber nicht semantisch („leerer Schall“), allenfalls ästhetisch verstehen kann. Ihr Sinn kann nicht anders als in Resonanzformen von Stimmung („Ergriffen erschüttert geängstet zerissen“) aufgespürt werden, die in der konkreten Situation des Todes anderer und nur dadurch zur Erfahrung gelangen. 59 Er selbst und seine Lotte können nicht vergehen, solange sie sich in der ersten und zweiten Person begegnen: „Nein, Lotte, nein – Wie kann ich vergehen, wie kannst du vergehen, wir sind ja! –“ (LjW 248) Werthers ontologische Reflexion negiert die Zeitlichkeit im Augenblick ihrer Gegenwärtigung, sein Handeln antizipiert die Endlichkeit. Positiv zeigt sich darin ein Verstehen der Zeitlichkeit von Stimmung, insofern sie deren von der Vergangenheit eingenommene Gegenwart auf eine Zukunft bezieht, deren Werden allein vom Entwurfscharakter des ekstatischen Augenblicks abhängt. So dient die Stimmung bis zu allerletzt der Ausrichtung seines Lebens, in dem sie dessen in Ruhe und voll Bewusstsein herbeigeführte Beendigung das Momentum zur Transzendierung abgewinnt. Dabei verschmilzt Werthers antizipatorische Stimmung der Ahndung mit der Liebe als dem Leben selbst. Einstimmend auf eine gemeinsame Zukunft als „absolute Familie“60 im Himmel wird die Stimmung so zum Medium der Einlösung einer in der Gegenwart unmöglichen Liebe. Deshalb hätte idealerweise „der lezte Augenblik meines Lebens“ derjenige ihrer leiblich vergegenwärtigten Möglichkeit „seyn sollen“, bevor das Vergehen dieses Augenblicks die Illusion unvergänglichen Geliebtwerdens hervortreibt. (LjW 248) Dass mit dem euphorisch gestimmten Dementi der Vergänglichkeit, wie es sich im Versuch der Fixierung vom „glühende[n] Leben“ einer Liebe in alle „Ewigkeit“ ausspricht, eine Überschreitung des Imaginativen hin aufs Imaginäre verbunden ist, muss Werther nicht vorgehalten oder nachgewiesen werden. Es müsste ihm, der sich als Künstler verstehen möchte, bewusst, zumindest spürbar sein, ist es doch der erste und letzte entschlossene Schritt vom Dilettantischen hin zum Ästhetischen.61 In Werthers imaginärem Einholen der Zukunft eines erfüllten Lebens („All! All! so sind all die Wünsche und Hoffnungen meines Lebens erfüllt!“) in den ekstatischen Augenblick („den Taumel des Todes trinken“) des Selbstmords invertiert die Ahndung zur Gewissheit: „Ich träume nicht, ich wähne nicht! nah am Grabe ward mir’s heller“. (LjW 250, 262) Komplementär zum Wiederholen wirklichen Glücks aus der Erinnerung ergänzt das Ausgreifen auf mögliche Seligkeit im Kommenden die zeitliche Struktur gestimmter Gegenwart. So lassen Erinnerung und Ahndung Werther gegenwärtig spüren, was abwesend ist: Vergangenes als Gewesenes und Künftiges als schon in die Gegenwart Hineinreichendes. Es ist diese vollständige Entfaltung von Zeitlichkeit, die Werthers Erleben des anstehenden Sterbens die Stimmung existenzieller Ganzheit ermöglicht. Die narrative Kontiguität der Zeiteks59 Zum Problem unmöglicher Todeserfahrung siehe Macho 1987. 60 Meyer-Kalkus setzt – damit einen Hinweis von Kittler aufnehmend – diesen romantischen Begriff (Fr. Schlegel mit Bezug auf „Hardenbergs Geist“) in seine psychoanalytische Erklärung von Werthers finaler Todesbegeisterung ein. (1977, S. 132-135) 61 Siehe dazu Kurz 1982; Vaget 1985, S. 56ff.

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tasen in gesteigerten Augenblicken erreicht mit der Stimmungsexplosion im Selbstmord freilich nur ihren lange vorbereiteten hyperbolischen Schlusspunkt. Vom erzählerischen Beginn an bilden wiederholte Präsenzerfahrungen sowie wiederholende Erinnerungsakte die zeitphänomenologische Matrix von Werthers Stimmung. Indes erreicht deren Intensität mit der ästhetischen Einblendung des für Werthers Selbstverstehen entscheidenden Zukunftsbezugs erstmals einen auch existenziell reflektierten Höhepunkt. Dessen ontologisches Pathos steht demjenigen des Heideggers ‚vom Ereignis‘ kaum nach62, als Werther in sokratischen und christologischen Bildern sich selbst „Mut“63 zur Angst vor dem Tod macht: „Und warum sollte ich mich schämen, in dem schröklichen Augenblikke, da mein ganzes Wesen zwischen Seyn und Nichtseyn zittert, da die Vergangenheit wie ein Bliz über dem finstern Abgrunde der Zukunft leuchtet, und alles um mich her versinkt, und mit mir die Welt untergeht.“ (LjW 180)

Neben dem leiblich spürbaren Zittern und der dadurch („zwischen“-)räumlich wirkenden Phänomenalität des ontologischen Unterschieds kommt als weiteres Bildfeld einmal mehr das Gewitter für die Semantisierung von Stimmung zum Tragen. So kommt die für „schreckliche Augenblicke“ konstitutive Beziehungsdynamik zwischen den Zeitekstasen ebenso zur poetischen Darstellung wie die Verschränkung von Zeit und Raum. Die poetische Räumlichkeit taucht gleichsam mit dem Versinken „um mich her“ und damit als transpsychologisches In-einer-Welt-sein auf. Es ist also nicht etwa vorzugsweise die Ahndung als Stimmungsfigur des Verstehens oder vor allem die Erinnerung als melancholische Präsenzform des Gewesenen, welche die ästhetische Matrix der Stimmung im Werther bilden. Vielmehr oder allgemeiner ist es die erzählerisch durchgängige Verdichtung von Stimmung mit verschiedenen Phänomenkomponenten von Räumlichkeit und Zeitlichkeit.

62 Siehe im Abschnitt über Grundstimmungen folgende Stelle bei Heidegger: „Die Stimmung ist die Versprühung der Erzitterung des Seyns als Ereignis im Da-sein. Versprühung: nicht als ein bloßes Verschwinden und Verlöschen, sondern umgekehrt: als Bewahrung des Funkens im Sinn der Lichtung des Da gemäß der vollen Zerklüftung des Seyns.“ (1991, S. 21) 63 Vgl. Werthers Bewusstsein von seinem „Mut zu sterben“ (LjW 215 B).

IV. Fazit – Raumästhetik, Übertragungsdynamik und Weltbeziehungen Noch der alte Goethe blickte bekanntlich nur mit einem stolzen Unbehagen auf seinen Romanerstling und besonders dessen Wirkung zurück. 1 Schien dessen Publikumserfolg doch auch mit der fragwürdigen Rezeption von Werthers Hang zusammenzuhängen, seinen empfindsamen Möglichkeitssinn auf Kosten des Wirklichkeitssinns (Musil) zu kultivieren. Zudem ist in Werthers Lebensstimmung die Leidenschaft in der Liebe von der Fähigkeit zu deren Gestaltung und künstlerischer Darstellung überhaupt abgekoppelt, wie die Unfähigkeit zeigt, Lotte zu portraitieren und das Aufgeben des Zeichnens insgesamt. Was Goethe im Laufe seines Lebens nicht zuletzt durch sein künstlerisches Schaffen gelingen wollte, sollte – er selbst dachte: musste – der Figur letztlich vorenthalten bleiben. (Vgl. HA IX 587-89)2 Im Gegensatz zu seinem Autor nämlich gelingt Werther es auf Dauer nicht, Transfigurationen der psychologischen Stimmungsmatrix in eine ästhetische Stimmungsmatrix – und entsprechend des infantilen Bedürfnisses ins erotische Begehren – hinreichend zu konsolidieren. In dem Maße wie die Ablösung vom primärsymbiotischen Ursprung und seinem ich-inflationären Milieu misslingt und also die Stimmungsüberschüsse (aus ‚Übertragungsliebe‘) nicht beflügeln können, da stockt auch die produktive ‚Einlösung‘ in den symbolischen Prozess mit seinen ästhetisch autonomen Stimmungen.3

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Vgl. HA IX 583, 589-93; dazu Eckermann 1884, S. 28f. An diesem 2. Januar 1824 sagt Goethe auch, „das Geschöpf“ (Werther) sei „mit dem Blut meines eigenen Herzens gefüttert“; und er habe das Buch seit seinem Erscheinen „nur ein einziges Mal wieder gelesen und mich gehütet, es abermals zu tun. Es sind lauter Brandraketen! – Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte, den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging.“ Meinungen zur Goethe-Werther-Differenz finden sich wohl in der Mehrzahl aller Publikationen zu Werther; zur Forschungsdiskussion von Hillebrand 1885, über Mann 1960 [1939], Graham 1974, Pütz 1982, Kurz 1982, Boyle 1991 bis Davis 1994 siehe Duncan 2005a, S. 116ff. Eine solche, freilich anders begründete Absetzung des Autors von seiner Figur hat eine lange Tradition, die schon von Goethe selbst nahegelegt wurde und schon bei Carus (Goethe, S. 75f., 81-85, 175) eine über unbewusste Strukturen hinausgehende, quasineurologische Erklärung erhält. Vgl. die Diskussion der psychologischen Deutungsansätze zu Werther in Duncans 2005a, S. 39-71, hier 41, 45.

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Die in phänomenologischer Wahrnehmung grundierte, zu imaginativem Enthusiasmus abhebende Frühlingsstimmung ließ Werther nicht ganz zu unrecht an ein Künstlersein auch ohne Werkschöpfung denken – ja von einem wie von selbst ZurNatur-werden des Daseins träumen. Aber die folgenden, intersubjektiven Stimmungserfahrungen der Liebe mit ihrem Mangel an Symbolinitiation erweisen die Insuffizienz an Symbolisierung auch als einen Mangel an Sein und induzieren dadurch der „menschliche[n] Natur [...] eine Krankheit zum Todte“. (LjW 98) Da Werthers Zeichnen offenbar nicht über die an drei Stellen erwähnten Versuche hinauskommt, er keinen Roman, sondern allenfalls wenig adressatenbezogene Briefe schreibt, und er vor allem nur Leser und nicht auch Dichter ist, so fehlt es ihm an jenen selbsttherapeutischen Möglichkeiten der Kunst, wie sie Goethes Selbsteinschätzung bezeugt (vgl. HA IX 537-44, 582-90f.). Indem Goethe den Briefroman schreibt und dabei in hohem Maße künstlerisch als „Mitstimmen ins Ganze“ (HA IX 541) gestaltet, ist er nicht kongruent mit der Figur, die aus seiner Selbsterfahrung hervorgetreten ist. So sehr kein geringer Teil des Lesepublikums auf identifikatorische Zuordnungen im Realen aus war und mitunter noch ist – auch Goethe selbst vom Einhauchen der „Glut“ spricht, „welche keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zuläßt“ (HA IX 587) –, so offensichtlich beging der Autor weder Selbstmord, noch blieb er im Dilettantismus stecken.4 Die Forschung und konkret z.B. Vagets Thematisierung des Dilettantismusproblems haben plausibel gemacht, dass über die oft angeführten biographischen Hintergründe hinaus – Goethe lange vor dem Sommer 1772 in Wetzlar mit Plänen am Werther beschäftigt war. Vagets Argumentation zielt indes darauf ab, dass „der Dilettantismus keineswegs einen Differenzpunkt zwischen dem jungen Werther und seinem Autor“ bezeichne.5 Vielmehr gehöre der Dilettantismus „zu den am intensivsten er-

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Über das Verhältnis zum Tod hingegen ergibt sich wiederum eine Nähe des Autors mit seinem Helden, wie Matala de Mazza mit Bezug auf Blumenbergs Auseinandersetzung mit Goethe zeigt. Im Anschluss an eine Analyse der Unterredung Goethes mit Napoleon spricht sie davon, dass Goethe „unversehends in die Nähe seines Sturm und Drang-Helden Werther [rückt], der sich für Blumenberg ebenfalls als verhinderter Held darstellt: ein Nicht-Heiland, der das Gefühl der Gottverlassenheit am eigenen Leib verspürt hat.“ (2001, S. 170). Zuvor wird mit Bezug auf „ein düsteres Landschaftsgemälde“ in einem Gespräch mit Friedrich Förster eine Stelle angeführt, wo der ältere Goethe wörtlich von „wohltuend rührende[r] Stimmung“ spricht. (S. 154f.) Vgl. Vaget 1985, S. 62f. Die angeführte Verweisstelle in Form eines Briefes an Herder scheint mit dem Nachweis (HA VI 525) freilich nicht korrekt zu sein. Aufschlussreich ist Vagets These, dass „wir diesem ‚Büchlein‘ erst dann gerecht werden, wenn wir es als die Summe der Reflexion des jungen Goethe über seine Künstlerschaft im ganzen betrachten.“ Anschließend führt er das für unseren Zusammenhang an dieser Stelle einschlägige Zitat von Thomas Mann zur Charakterisierung des Verhältnisses von Autor und seinem Helden an: „Es ist der junge Goethe selbst, minus der schöpferischen Gabe, die diesem Natur verliehen.“ (Mann 1960, S. 688) Als wichtigster Beleg gilt ohnedies der Brief an Behrisch vom 10. November 1767, den Vaget auf folgender Seite anführt und dazu mit Hass (1957) und Schöne (1967) die einschlägige Forschungsliteratur dort in Fußnote 49 anführt.

IV. F AZIT - R AUMÄSTHETIK , Ü BERTRAGUNGSDYNAMIK UND W ELTBEZIEHUNGEN

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lebten Leiden des jungen Goethe“ (ebd.).6 Vaget wendet die These sogar dahingehend, dass „Goethe gerade dort seiner Kunstfigur am nächsten ist und gerade dort am authentischsten vernehmbar wird, wo Werther an seiner Schöpferkraft verzweifelt“ (ebd. 63). Zur Erhellung seiner These dekonstruiert Vaget die mythische Überhöhung des jungen Goethe zum genialen Götterliebling, indem er die Kehrseite des Bildes vom begnadeten Dichterjüngling aufdeckt und dort einen verunsicherten Dilettanten erscheinen lässt. Für das den jungen Goethe peinigende Problem seines möglichen Dilettantismus führt Vaget zahlreiche Belege seit Goethes Leipziger Zeichenunterricht bei Oeser und aus seinem lyrischen und dramatischen Frühwerk an. 7 Vor allem aber manifestiere es sich in seiner Darstellung im Werther, dessen „Komposition“ und Publikation der alte Goethe als Rettung „aus einem stürmischen Elemente“ und zugleich dort auch als „Stimmung“ bezeichnet . (HA IX 588) Vagets Darstellung ist überzeugend, soweit sie den Dilettantismus als wichtiges, auch sozialgeschichtlich erklärbares Thema im Werther und diesen deshalb als das repräsentative Werk des jungen Goethe bezeichnet. Die Überzeugungskraft seiner Argumentation lässt indes nach, wo sie psychoanalytische Erklärungen wie die von Meyer-Kalkus zu meiden scheint.8 Stattdessen wird auf eine unterschwellig fortbestehende Furcht vor Dilettantismus noch für eine Zeit verwiesen, als Goethe längst ein beträchtliches Maß an Anerkennung, Publikumserfolg und Selbstsicherheit genoss. Ohnedies erklärt ein wie auch immer latentes Fortbestehen des Dilettantismusproblems beim mittleren und älteren Goethe nicht ohne weiteres dessen manifestes Bestehen beim jungen Goethe. Hier haben psychoanalytische Rekonstruktionsversuche historischer Persönlichkeiten trotz ihrer methodologischen Fragwürdigkeit ihre Vorzüge. So ließe sich mit Eisslers Psychobiographie Goethes das Dilettantismusproblem als Teil einer Symptomatik erkennen, in deren Entwicklung es zusammen mit emotionalen Ungelöstheiten, sexueller Befangenheit und verzögerter Identitätsbildung hervortritt. (Vgl. Eissler 1963) Durch analytische Reintegration seit dem ersten Weimarer Jahrzehnt und im weiteren Gesamtverlauf konnte Eissler zufolge Goethes Hemmungssymptomatik schließlich geheilt werden. Unser poetologisches Konzept der Stimmung erlaubt eine noch weitergehende Integration, die ganzheitlichere Perspektiven der psycho- und diskursanalytischen Ansätze sowie deren Gegenstück, die an ästhetisch autonomen Strukturen von Kunstwerken orientierten Ansätze einzuschließen vermag. Ausgehend vom Phänomen der Stimmung, wie es literaturhistorisch bei Goethe innovativ zur poetischen Darstellung kommt, lässt die Rekonstruktion seiner Zeitstrukturen und Raumkonfigurationen interpretatorische Rückschlüsse auf die aisthetischen Resonanzverhältnisse der frühesten, noch intrauterinen Ontogenese zu. Der Einbezug eines solchen spekulativen Momentes lässt sich vom biographischen Inte6 7 8

Siehe hingegen Werthers Scheitern am Dilettantischen als Unfähigkeit, Erfahrung in Kunst umzuarbeiten und den damit zum Autor Goethe gegebenen Unterschied bei Wergin 1994. Siehe den Verweis auf die Belege in seiner früheren Abhandlung Vaget 1971. Gleichwohl Arbeiten angeführt werden, die psychoanalytische Erklärungen für Versagens-, Kastrations- und Verstümmelungsängste liefern oder in ihren Argumentationszusammenhang integrieren: Graham 1977 und 1973; Zimmermann 1979; Meyer-Kalkus 1977, S. 9097.

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resse des Sturm und Drang an den Geburts- und Zeugungsmomenten (vgl. MeyerKalkus, S. 113) sowie von Herders Theorem vom ‚ersten Ton‘ her historisch rechtfertigen. Er ermöglicht ein psychogenetisch-anthropologisches und ein ästhetischpoetologisches Funktionsverständnis von Stimmung gleichermaßen, das deren grundlegender Bedeutung im existenzial-ontologischen Denken an (Gleich-)Ursprünglichkeit nicht nachsteht. Unbeirrt von Heideggers Aversion gegen alles Psychologische und Anthropologische ist auf die Anschlussfähigkeit von dessen Stimmungsmoment der Offenheit zu existenzial-räumlichem In-sein zu bestehen. Dabei kommt die Priorität gerade nicht dem Ontologischen in dieser Auffassung von Stimmung zu, sondern dem Phänomenologischen. Das von existenzialer Räumlichkeit her konzipierte Phänomen gestimmten In-der-Welt-seins nämlich bildet – unserer hier dargestellten Auffassung nach – das theoretische Verbindungsstück zwischen der dyadischen Stimmung in psychogenetischen Frühstadien und der konfigurativen Stimmung in ästhetischen Werken. Noch einmal zurückbezogen auf die Goethe-Werther-Differenz und auf Vagets Darstellung des Dilettantismusproblems lässt sich von unserem Stimmungsansatz Folgendes verstehen. Vagets Diagnose, dass der Darstellung des Dilettantismus an der Wertherfigur ein Problem auch des jungen Goethe korrespondiere, kann übereinstimmend die Exuberanz von Stimmung im psychologischen Sinne einer ‚hysterischen‘ Gefühlsseligkeit oder zeitgenössisch: die schwärmerische Überschwänglichkeit (Kant) zugeordnet werden. Darüber hinaus – und Vagets Thesen widersprechend – emanzipiert sich der Dichter von seiner Figur gerade durch die nicht bloß subjektzentrierte, vielmehr räumlich-zeitlich sich erstreckende Darstellung der die Figur gleichsam von außen leitenden Stimmungen. Die Konzentration von Stimmungen in der Liebe und die Konzeption der Liebe aus der Mutter-Kind-Dyadik in ihrer symbollogischen Bedrohtheit ermöglichen dem Dichter – und mit ihm dem Leser – ein Verstehen in zweifacher Perspektive. Da ist zum einen die narzissmustheoretisch negative – die Geschlossenheitsperspektive bei Werther: gehemmte, verweigerte oder unzureichende Übertragung der Stimmung aus der ursprünglichen Übertragungserfahrung auf andere Formen. Hierfür sind die zahlreichen und einseitigen Bezüge auf Mütterlichkeit und Dilettantismus untrügliche Indizien, ist die sterbensmelancholische Fixierung der OssianBegeisterung die Folge, und ist der Selbstmord schließlich die autodestruktive Konsequenz. Diese Perspektive fokussiert Werther als psychologischen Roman, wie es etwa von Vietor bis Wellbery der Fall ist. 9 Daneben ist zum anderen die narzissmustheoretisch positive – die Öffnungsperspektive bei Goethe und in dessen Kunstschaffen: gewagte Ablösungen, versuchte Neuspiegelungen, insgesamt die gelingende Übertragung der aus der ursprünglichen Übertragungserfahrung erwirtschafteten Stimmungsüberschüsse auf andere, namentlich Beziehungs- und Symbolisierungsformen. Dies zeigen Werthers Beziehungen zu Natur, Malerei, Literatur, Tanzen, 9

Vgl. „Werther ist unter den europäischen Romanen der erste, in dem ein inneres Leben, ein seelischer Prozeß, und nichts als dies, dargestellt wird, der erste psychologische Roman also (wenn auch, das versteht sich, nicht der erste, in dem inneres Leben überhaupt wichtig genommen ist). [...] Die Seele des Helden ist der Schauplatz.“ Viëtor 1949, S. 41f.; vgl. Wellbery 1994 und 2004.

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Liebe oder den Kindern. Hierfür sprechen aber auch die bekannten biographischen Hinweise, die ‚klassische‘ Werkentwicklung und vor allem Goethes Fähigkeit zur ästhetischen Darstellung von Stimmung als einem reinen Beziehungsphänomen, das jedes Subjekt-Objekt-Verhältnis übergreift und es kategorial obsolet macht. Dass der Jungautor – bezeichnenderweise unausgesprochen – mit der Stimmung die von ihm selbst wiederholt betonte „poetische Einheit“ in seinem Erstlingsroman schuf, lässt ihn gerade wegen dieser Lösung des Dilettantismusproblems wiederum als Dichtergenie erscheinen: buchstäblich genius-psychologisch als jene „geprägte Form“, die im ahndungsvollen Zusammenspiel mit seinem Stimmungsdaimon „lebend sich entwickelt“. (HA I 359) Denn ausgerechnet das scheinbar so flüchtige Phänomen, das sich psychologisch in der permanenten Wandelbarkeit des Gefühlten per definitionem entzieht, wird im Werther poetologisch zur Einheit gefügt. Indem es übertragen aus der primordialen Zweiheit seines Ursprungs zur Vielheit der ästhetischen Stimmung entfaltet wird, gelingt Goethe ein „Mitstimmen ins Ganze“ (HA IX 541). Mit dieser der psychoanalytischen Metaphorik entlehnten Übertragungsdynamik aber verlässt die ästhetische Stimmung den psychologisch erklärbaren Bereich. Ihre Objektivierung in symbolischen Formprozessen der Literatur als Kunst entzieht sie dem diskursiv eingespielten Zugriff rationaler Begründung. In diesem auf die Moderne vorausweisenden Sinne einer Tendenz zum protostrukturalen Entzug des Poetischen ist die Stimmung des und beim jungen Goethe eine Figur der Schwelle zwischen Episteme und Ästhetik wie auch zwischen Leben und Kunst. Sie erweitert die Möglichkeiten des Erkennens, in dem es ihm vom Poetischen her neue Grenzen zieht, an denen es sich reflexiv brechen und auf die Einbeziehung des ihm Entzogenen verstehen kann. Bezogen auf die Schwelle zwischen Leben und Kunst arbeitet das Stimmungspoetische nicht an deren avantgardistischer Aufhebung – eher an ihrer wechselseitig distinkten Bespiegelung. Es bewirkt zunächst eine Entlastung des Lebens von ontologischen Selbstbegründungszumutungen, wie sie mit der in der Aufklärung theologisch unverbindlich gewordenen Metaphysik den empfindsamen Einzelnen trafen. Denn das Stimmungspoetische feiert weder mehr einen Fürsten, den einen Gott, noch die Schöpfung in ihrem Bestehen, wie es in der Dichtung bis einschließlich Klopstock überwog und so der Welt eine Sinngarantie unterschob. Vielmehr artikuliert es das noch unsichere Wissen um das Vergehen selbst, um die Verzeitlichung noch des Vergänglichen und um die Geschichtlichkeit des ‚ganzen Menschen‘. Diese mit Goethe eher ‚Ahndung‘ im Sinne einer Erfahrung von Bedeutsamkeit zu nennende Stimmung ist es, die im Werther ästhetisch zum Ausdruck und einen Raum in textualer Form gefunden hat, in dem sie alles bloß Subjektive im Objektiven der Darstellung aufhebt. Mit der Artikulation einer solchermaßen wissenden oder ahnenden Stimmung aber handelt es sich um mehr als Ausdruck von Gefühl, Bewusstseinsinhalt oder rational (noch) ungeklärten Gedanken. Wo die an den Werther anschließende Einfühlungsästhetik von einem Inneren auszugehen können glaubt, das über seinen Ausdruck erschließbar oder eben nachfühlbar sei, verstellt sie den hermeneutischen Zugang zum Außen der Phänomene, deren Wahrnehmung der Innerlichkeit vorausliegt. Der einfühlungsästhetisch gebrauchte Begriff von Ausdruck tendiert auf eine Vereinfachung hin zu einem expressiven Mechanismus, der offenbar wie eine Art psychologischer Spannungslöser funktioniert. Jedenfalls kann dieser Eindruck entstehen, wo

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die Forschung bis weit ins 20. Jahrhundert leichtfertig vom Titanismus des Gefühlsausdrucks beim jungen Goethe und weniger von dessen Textästhetik oder Figurengestaltung spricht.10 Dem entspricht das stimmungstheoretisch irrführende Begriffsfeld von subjektiv bzw. Subjekt. Die bei Goethe aufkommende Stimmung ist als eine Wende zu Subjektivismus nicht richtig erfasst, da ihre die Subjektivität theoretisch eher entlastende Stiftung von Weltbeziehungen buchstäblich außen vor bleibt. Von diesem phänomenologischen Außen her jedoch, durch das somit zugleich eingeräumte mediale Zwischen hindurch sowie der Entdeckung von deren räumlichen Konfigurationen mittels der ästhetischen Darstellung von Stimmung sind das Gefühl und sein Ausdruck geleitet. Von diesem phänomenologischen und zugleich onto-mediologischen Aspekt her lässt sich auch die Differenz besser verstehen, die den jungen Goethe vom jungen Werther trennt. 11 Dabei ist es nicht so, dass Werther die naive Art oder subjektivistische Einfachheit des Gefühlsausdrucks zukäme und Goethe dessen ästhetische Raffinesse in objektivierter Form. Wie wir insbesondere an den Stimmungsanalysen der berühmten Briefe vom 10. Mai und 18. August 12 , aber auch an anderen Stellen gesehen haben, ist bereits Werthers „wahre Empfindung“, sein „Gefühl an der Natur“ und den Menschen von wahrnehmungsphänomenalen Strukturen mindestens ebenso bestimmt wie von seiner Affektdisposition und emotionalen Impulsen. Jedoch kommt Werthers Schreiben der Briefe nicht die produktionsästhetische Funktion und lebensökonomische Bedeutung zu wie Goethes Schreiben des Briefromans. Während der künstlerische Dilettant sich durch das schriftliche Mitteilen seiner Gefühle von denselben noch zusätzlich einnehmen lässt, gewinnt der durch Herders Aufmerksamkeitsschulung orientierte Künstler (vgl. Matussek 1998b, S. 27) einen zum Verstehen und Gestalten notwendigen Abstand zu ihnen und beginnt so auch den Selbstverdacht des Dilettantismus zu zerstreuen. 13 Die zu ästhetischer Stimmung gestalteten Gefühle überwältigen nicht mehr ihr Subjekt, sondern entlasten es in mittelbarer Distanz zu denselben. Sie werden verständlicher in ihrer objektiven Bindung und ihrem Stimmungszusammenhang. Werther entdeckt zwar sein Inneres auch als spiegelnden Eindruck von Äußerem. Aber er macht mit der Aufklärungsidee vom ‚ganzen Menschen‘ auf persönliche Weise ernst, indem er sich dem Gefühl in der Unmittelbarkeit seiner Erfahrung als demjenigen verschreibt, das das „Mitstimmen ins Ganze“ (HA IX 541) aus jenem Inneren und Äußeren, von Selbst und Welt für ihn repräsentiert.

10 Dies sieht bereits Staiger ähnlich, indem er – wohl in Abgrenzung etwa von Korff – den Kunstwerkcharakter von Goethes Texten betont. Vgl. Staiger 1952-1959, S. 154ff. 11 Zu deren Verhältnis vgl. Kuzniar 1989. 12 Dies sind nicht zufällig die seit Karl Philipp Moritz’ früher Bewunderung am meisten komentierten Briefe. Schon Moritz’ Konzeption der Autonomie von Kunst fokussiert Strukturen der Räumlichkeit und Zeitlichkeit „in dem Werke selbst“ (SzÄ 122). Siehe dazu Schreiber 2007. 13 In einer Publikation jüngeren Datums akzentuiert auch Vaget mehr die für Goethe mit dem Werther verbundene Erfahrung von „creativity“ als die Sorge um Dilettantismus. (2004, S. 28)

IV. F AZIT - R AUMÄSTHETIK , Ü BERTRAGUNGSDYNAMIK UND W ELTBEZIEHUNGEN

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Damit aber gerät er in den Sog einer Stimmung zum Absoluten, der die Unerfüllbarkeit des Begehrens zur Expansion seines Inneren ins Imaginäre treibt und die Liebespassion zur Todesobsession macht. Hier vielleicht ist in Werthers Subjektivität – als eine Art ästhetische Kippfigur derselben – eine hyperbolische Dezentrierung des Subjekts mit angelegt. Sie weist auf eine Moderne voraus, in der das Ekstatische des Daseins sowie das Surreale der Form ans Sein bzw. den ästhetischen Augenblick heranführen. Erst in solcher ‚ahndenden‘ Perspektivierung wirft Werther das Psychopathologische doch noch ab. Er entpuppt sich dann als Vorläufer jener tragischen Kunstfigur, die ihr „Innerinnerstes“ in äußerste Vergeudung, ihre Individualität durch Selbstdissoziation oder ihre Identität in der Auslöschung derselben zur Erfahrung bringt und damit über deren Existenzmöglichkeit ins Delirierende hinaustreibt. Die schließlich bei Heidegger als existenzialer Modus des Ekstatischen fungierende Stimmung, die dadurch das Dasein hin aufs Ereignis des Seins transzendiert, wird von Werther eingeübt, indem die Stimmung vom modus viviendi in einen modus moriendi übertrieben wird. In diesen nietzscheanischen und heideggerschen Perspektiven avant la lettre stellen sich indes folgende Fragen an oder mit dem leidenden Dilettanten: ‚wozu noch Kunst? hast du nicht genug an deiner Stimmung? wofür benötigst du ein Darstellungsmedium, wo du doch Natur, Welt und Liebe in Unmittelbarkeit erfährst!?‘ Unsere Textanalysen haben mögliche Antworten auch auf solche hypothetischen Fragen gegeben. Zum einen ist das unmittelbare Erleben selbst noch einmal vermittelt, nämlich durch die Stimmung als Medium im Verbund mit den Medien der Wahrnehmungssinne, der Emotionen, der Reflexion. Zum anderen zeigt die Tatsache, dass Werthers Briefe und erst recht Goethes Roman geschrieben worden sind, sowie auch die Intensität der Rezeption, wie die zum poetischen Gestaltungsprinzip erhobene Stimmung einen Gegenstand der Kunst vermittelt, der als ‚Unmittelbarkeit‘ erfahren wird. Anders als für Werther wird mit der ästhetischen Stimmung das Gefühl für Goethe zum eminenten Ausdrucksphänomen von Literatur als Kunst. Als solches aber ist Gefühl durchaus etwas anderes als transformierte Subjektinnerlichkeit, sprachlich formalisiertes Bewusstsein oder objektiviertes Psychisches. Es wurde durch unsere poetologische Erweiterung von Heideggers gestimmter Befindlichkeit durchschaubar als ein Welt-Inneres, das jedes Selbst noch vor dessen Vertrautsein-mit-sich als InBeziehung-sein mit anderem erscheinen lässt. Dieses als äußeres Hier konfigurierte Gefühl aber ist aufgrund seiner zeitlich und räumlich erstreckten Komplexität phänomengerechter mit dem Begriff der Stimmung zu erfassen. Denn in der Stimmung öffnet sich das Gefühl zu einem relational offenen Raum, in dem die zeitliche Bewegung als reine Beziehung spürbar wird und mit deren Eigendynamik die Welt selbst mit einem Mal wirklich da ist. Die solcherart differenzielle Stimmung erinnert gleichsam unausgesetzt daran, dass es ein in sich ruhendes Sein, eine ursprüngliche Einheit und auch einen feststehenden Sinn von Sein – nicht gibt. In diesem phänomenästhetischen Sinn entscheidend über ein emotionales Selbstverhältnis hinaus geht solche Stimmung – und wird dadurch zum poetischen Gestaltungsprinzip – erstmals in Goethes Werther. Nämlich immer dann, wenn ein Moment der Welterschließung aus einer situativ konkreten Befindlichkeit hervorgeht und die Stimmung Ereignischarakter annimmt. Solche gestimmte Befindlichkeit wird für den

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Leser als die existenziale Räumlichkeit eines textuell organisierten Ortes des inneren Dort sichtbar, an dem die Zeit sich als ein literarisches Phänomen ereignet.

H ARTKNOPFS Ü BERSCHREITUNG EMPFINDSAMER S TIMMUNGEN : M USIKÄSTHETIK UND A LLEGORISIERUNG VON S ELBST -W ELT -H ARMONIE

I. Empfindsame Konstellationen

1. E INLEITUNG – VON DER PSYCHOLOGISCHEN F ALLGESCHICHTE ZUM ALLEGORISCHEN S TIMMUNGSROMAN Karl Philipp Moritz gehörte zu den enthusiastischen wie auch existenziell betroffenen Lesern der Leiden des jungen Werther, die durchaus unter dem in Dichtung und Wahrheit kolportierten Eindruck standen, dieser Roman sei gewissermaßen ‚für sie‘ geschrieben. Auch wenn Moritz den Werther „zeitlebens als sein dichterisches Vorbild bewunderte“ und er angeblich „von diesem Moment an buchstäblich auf Goethe ‚zulebte‘“ (Schrimpf 1980, S. 14f.), werden wir weitgehend unabhängig von diesem biographischen Nexus die Frage nach der Stimmung an Moritz’ Texte herantragen. Seine pädagogischen, psychologischen und sprachtheoretischen Schriften bleiben weitestgehend ausgeblendet, um – unter Berücksichtigung der kunsttheoretischen Schriften – an die vom Eigensinn des Literarischen getragenen Stimmungen in den Romanen heranzukommen. Dabei konzentrieren wir uns auf Andreas Hartknopf (1785/90) und schicken einleitende Bemerkungen zum gleichzeitig entstandenen Anton Reiser (1785/90) voraus, auf den später allenfalls noch mit sporadischen Seitenblicken Bezug genommen wird. Beide Romane kommen gleichsam von sich aus unserem Thema entgegen, da in beiden Stimmungen als Stoff und Form neuartig organisiert sind. Dies geschieht auf unterschiedliche, gewissermaßen entgegengesetzte Weise. Das autobiographische Erzählen im Anton Reiser thematisiert Stimmungen psychologisch1. Das fiktionale Erzählen im Andreas Hartknopf organisiert Stimmun-

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Insofern der Begriff ‚psychologisch‘ sich im 18. Jahrhundert erst herausbildet und seither ausdifferenziert hat, ist er problematisch, aber für seine pragmatische Unterscheidung von ‚poetologisch‘ und im Kontext autobiographischen Erzählens hinreichend deutlich. Unabhängig vom Fokus auf Stimmungen wird in der Forschung der Spannung zwischen autobiographischem und psychopathographischem Erzählen genau nachgegangen von Esselborn 1995.

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gen poetologisch. 2 Während Reiser im Wandel seiner Lebensgeschichte dieselben Stimmungen innerhalb des melancholischen Schemas 3 nur oder zwanghaft wiederholt, zielt Hartknopf auf eine ästhetische Differenzierung von Stimmungen, indem er sie vom metaphysischen Schema der Sphärenharmonie ableitet und in philosophische, musikalische, poetische und therapeutische Praktiken überträgt. Das werkgeschichtlich teils parallele, teils aufeinander folgende Entstehen der beiden Romane lässt vermuten, dass die autobiographisch-selbstanalytische Beschäftigung mit Stimmungen die Entdeckung von deren ästhetischem Potenzial wenn nicht bewirkt so doch begünstigt hat. Zugespitzt formuliert: die Psychologisierung von Stimmungen in einer narrativen Form des Wissens (Anton Reiser) hat im Fall Moritz um 1785 zu einem Umschalten auf eine poetologische Gestaltung von Stimmung(en) geführt, die die in deren Begriff angelegte Bedeutungsvielfalt produktiv macht. Im Anton Reiser ist das Schwanken der Stimmungen zwischen Hochgefühl und Depression die nur scheinbar paradoxe Grundlage einer gleichsam nicht-psychiatrischen Pathographie, die sozial-, familien- und individualpsychologische, zeit-, milieu- und lebensgeschichtliche, kulturelle und anthropologische Perspektiven ineinander blendet. Dies geschieht auf eine mehr sachbezogene als poetische Weise, die an konstativen Objektivierungen von (Selbst-)Beobachtungen weit mehr interessiert ist als an ihrer sprachlichen und narrativen Darstellung. 4 Der ‚psychologische Ro-

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Hingegen betont die ältere Forschung mit ihrem Fokus auf das Autobiographische eine „engste“ Zusammengehörigkeit der Romane noch dort, wo sie selbst die formalen Differenzen erkennt. Nach Minder bilden die Hartknopf-Romane die „symbolische Fortsetzung und das mystische Gegenstück zum psychologisch-realistischen Roman“; sie „sind nicht unreife Skizzen zur Autobiographie – sondern eine Parallelgeschichte zu ihr.“ (Minder 1974, S. 219f.) Er verweist zur Stützung seiner autobiographischen Kontinuitätsthese auf die sowohl im 4. Teil des Reiser als auch im 1. Teil des Hartknopf auftauchenden, gleichen Orte wie das Karthäuserkloster, Erfurt und wie sich hinzufügen ließe, der Steigerwald. Demgegenüber werden wir mit unseren Fokus auf Stimmungen die Orte wie eben den Steigerwald nur hinsichtlich ihres atmosphärischen Wertes und ihrer raumästhetischen Bedeutungen untersuchen. Minder verweist zudem darauf, dass „Reiser IV und Hartknopf I nicht den einzigen Fall eines ‚doppelten Schlusses‘ im Schaffen von Moritz dar[stellen]. Das gleiche wiederholte sich, nur offensichtlicher, in den beiden gleichzeitig veröffentlichten Fassungen des Dramas ‚Blunt oder der Gast‘“. (Ebd. 284, Fußnote 62) Dabei geht es psychologisch gesehen um eine Gefühlsambivalenz im Vater-Sohn-Verhältnis. Einmal ermordet der Vater seinen heimkehrenden Sohn, einmal träumt dies der Sohn nur und sie versöhnen sich nach Erwachen. Zuletzt zu Blunt mit einer aktualisierenden Sicht, die eine „Gegenüberstellung einer Verbrechensdarstellung und deren phantastische Umdeutung aus Sicht und Wunschdenken des Delinquenten“ erkennt, siehe Kosenina 2007, S. 568-70. Damit ist einerseits die pathologische Fixierung gemeint, die die Stimmung zwar in einem manisch-depressiven Spektrum wandelbar, aber anderseits die Melancholie vor dem sozialund kulturgeschichtlichen Hintergrund des 18. Jahrhunderts als einheitliches Symptom erscheinen lässt. Vgl. Pfotenhauer 1987; Schings 1977; ferner unter soziologischen und marxistischen Aspekten Lepenies 1972. Diese Sicht wird überzeugend ausgearbeitet von Heinz 1996.

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man‘, wie der Untertitel den Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde ankündigt5, bildet zwar den Anfang einer literarischen Gattungstradition, wird heute aber selbst als psychopathologische Fallgeschichte von historisch exemplarischen Wert angesehen. 6 In dieser ausführlich diskutierten Hinsicht hat Lothar Müllers philologisch und historiographisch genau rekonstruierendes Buch Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis in der Forschung der letzten Dekaden nachhaltig für Klarheit gesorgt und die Pathologie als wissensgeschichtliche Dimension des Textes ausgeleuchtet. 7 Mit ihrem Beitrag zur jüngsten Moritz-Forschung wirft Christiane Frey indes die Frage nach dem texttheoretischen Status dieser Fallgeschichte auf. Dabei zeigen ihre gattungshistorischen und funktionsgeschichtlichen Überlegungen, „inwiefern sich der erste psychologische Roman aus der medizinischen Fallgeschichte entwickelt.“ (Frey 2011, S. 21) Frey zeigt mithilfe des Begriffspaars Paradigma und Syntagma, inwiefern Anton Reiser gerade „als Fallgeschichte zum Roman wird.“8 Vereinfachend zusammengefasst heißt dies: weil das Leben Reisers aus einem erfahrungswissenschaftlichen Selbstverständnis heraus als Fallgeschichte erzählt wird, entwickelt die selbstanalytische Psychologisierung 9 eine Perspektive, die sich in der Gattungsform des Romans konsolidiert.10 Der psychologische Roman ginge danach aus dem Versuch 5

Zunächst wurde der Roman – zumindest teilweise – in einem sich wissenschaftlich verstehenden Organ publiziert, siehe Moritz 1978 [1783-1793]; unter wissenschaftshistorischen Aspekten Zelle 2001; Eckhardt 2001. 6 Die ältere Forschung wie etwa Eybisch 1909, auch noch Minder 1974 [1936], betonte neben den geistesgeschichtlichen vor allem den autobiographischen Aspekt. Sie konnte den Nachweis führen, dass Moritz seinen programmatischen Anspruch, eine wahre Lebensgeschichte literarisch zu erzählen, ja Faktisches in fiktionaler Form überhaupt erst darstellbar zu machen, durchaus eingelöst hat. Nachdem die auf Moritz’ Leben zentrierte Forschung zu einer Einebnung der Differenzen zwischen Autor, Erzähler und Helden geführt hatte, unterschied die nachfolgende Forschung, vor allem die der vergangenen Jahrzehnte, die narratologischen Instanzen genauer und bezog Analysen von Form und Inhalt wechselseitig aufeinander. Siehe indes ein neueres Buch über Moritz aus biographischem Blickwinkel, worin etwa die Stimmung der „Todessehnsucht“ unterstrichen wird, Winkler 2006, S. 47. 7 Ausgehend von der „erkenntnisstiftenden Differenz zwischen Erzähler und Held“ ergibt sich das zweifache Bild vom Selbstverständnis Anton Reisers „als Melancholiker“ einerseits, und andererseits vom Erzähler als moralischem Arzt, der „ihn als Hypochondristen diagnostiziert.“ (1987, S. 90) Siehe auch zuletzt Müller 2006, wo er neben der zentralen Bedeutung der Sprache für ein Verstehen von Moritz Werk die sein Leben prägende Schriftkultur des 18. Jahrhunderts betont. (S. 8) 8 Das Zitat fährt fort: „Was bislang als Spannung von Anspruch und Verwirklichung, psychologischem Roman versus Fallgeschichte, gesehen wurde, kann auf diese Weise als gegenseitige Bedingung verstanden werden.“ (Frey 2011, S. 40) Die strukturalistische Herkunft der Unterscheidung von paradigmatisch/syntagmatisch bezieht Frey von Juri M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972. 9 Siehe zum Selbstanalytischen in Kontexten der Psychoanalyse Raguse 1991. 10 Freys Ansatz hält damit an einer Zusammenschau von Erfahrungswissenschaft und literarischem Schaffen bei Moritz fest, eine Herangehensweise, die in der Forschung fest veran-

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hervor, einen (autobiographisch) bestimmten Fall ohne nosologischen oder diagnostischen Referenzhintergrund so zur Sprache zu bringen, dass er einen ‚induktiven‘ Einzelfall und zugleich schon ein Besonderes darstellt, das auf ein noch unbestimmtes Allgemeines verweist. Daran wollen wir anschließen, indem wir das individuelle Erleben von Stimmungen als die paradigmatische Ebene im Anton Reiser auffassen. Demgegenüber bilden die chronologisch erzählten Ereignisse und biographischen Erfahrungen die syntagmatische Ebene, auf der sie aber austauschbar, sozialgeschichtlich typologisch und im Grunde stets nur Anlässe darstellen, in die Reihe einer melancholischen Kasuistik eingegliedert zu werden. ‚Im Grunde‘ soll hier heißen: zwar sind auch Reisers lebensgeschichtliche Begebenheiten, Vorfälle sowie Zufälle einzigartig; dennoch sind nicht deren Folgen für die Handlung, ihr Erzähltwerden oder dessen Art und Weise entscheidend, sondern ihre Rückkopplung an Stimmungen. Ausgerechnet Stimmungen, die in ihrer vermeintlichen Flüchtigkeit und subjektiven Ungreifbarkeit für eine romanhafte Vervielfältigung entlang der syntagmatischen Achse wie gemacht erscheinen, begründen die paradigmatische Ebene des damit psychologischen Romans; d.h. auch: nicht etwa Entwicklungsschemata wie Kindheit – Jugend – Erwachsenenalter oder Familie – Schule – Universitätsstudium oder Heimat – Initiationsreise – Liebe o.ä.. Denn diese strukturieren allenfalls äußerlich die Form des Erzählens, indem sie eine Kette aus Kontingentem bilden. Dessen gleichsam ‚lockere Verkettung‘ geschieht im Wahrnehmungs- und Reflexionsmedium der Gefühle, Empfindungen und Stimmungen. Die Darstellung folgt dabei der Bedeutung, die diese emotionalen Phänomene für Reisers Entwicklung von Selbst-Kohärenz einschließlich der Störungen derselben durch Dissoziationsphantasien haben. Dadurch ist die Einheit der Narration die Geschichte einer Psyche, die im Modus von Stimmungen erzählt wird. Von seiner quietistisch-pietistisch geprägten Kindheit an ist Reisers Leben als ein Kontinuum an dunkel-repressiver, „trauriger Stimmung“ (RH 93) und zugleich an einer „Stimmung“ „tragisch[er]“ (RH 180) Selbstanklage literarisiert, deren Nuancierung folgende Bedeutungen einschließt oder zumindest berührt: „Melancholie“ (RH 84, 231, 408) „Wehmut“ (RH 25, 30, 84, 113, 218, 238, 251, 304f.), „Seelenlähmung“ (RH 146, 318), „Scham“ und Lächerlichkeit (RH 148f.), „Selbstverachtung“ und „tiefe Schwermut“ (RH 180, 187), Selbsterniedrigung und „Mangel an Selbstgefühl“ (RH 319). Dieses Stimmungskontinuum integriert Kontinua, z.B. einsame Stimmung, Ablehnung, Missachtung, Demütigungen, und Diskontinua: das Auf und Ab hochfliegender und niedergeschlagener Stimmungen, Wechsel von Verspottung und Bestätigung, Größenphantasien und Selbstverkleinerung, Überhöhung des Ich und dessen Zerknirschung, Idealisierung und Verachtung des Eigenen, Hoffnung und Enttäuschung, Aussichten und Zurücksetzungen, sehr schlechter und „sehr gu-

kert ist. So spricht etwa Barbara Thums von der „Gleichursprünglichkeit von empirischer Wissenschaft und Ästhetik“ bei Moritz und betont, dass er nicht nur „Pädagoge und Erfahrungsseelenkundler, sondern auch Ästhetiker und Romanautor“ ist und sieht wie Frey bereits die Übergängigkeit der „Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Gesundheit und Krankheit“. (2008, S. 219) Vgl. auch diese integrative Perspektive vom Ansatz her bei Heinz 2013, S. 60, 75.

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te[r] Stimmung“ (RH 308).11 Ähnliches gilt für die Jugendzeit der Hutmacherlehre mit ihrem Horror an Ohnmachtserfahrungen und Machtgunst, Vereinsamung und Beschämung, Anerkennungsverlangen und Demütigungen u.a. Hier ist zudem der „Überdruß an dem Einförmigen“ des Handwerkeralltags etwas, dessen Empfundenwerden damit begründet wird, dass „Antons Seele durch seine romanhaften Ideen einmal zu diesem Takt verstimmt“ war. (RH 55) Es ist stets die Aufmerksamkeit auf Reisers Stimmungserleben, was den Text zum Handlungsgeschehen organisiert und nicht die in diesem erzählten Vorkommnisse. Es sind emotionale Reaktionen, die auf symptomatische Weise Geringfügigkeiten zu Grundzügen seiner weiteren Erfahrung verarbeiten. Dies wird in der Vorbemerkung des Erzählers damit gerechtfertigt, dass es „der Lauf der menschlichen Dinge“ sei, dass „dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien“. (RH 9) Dies beginnt bereits mit der Erfahrung von Unrecht, die in „eingebildetes Unrecht“ übergeht und zur „Süßigkeit des Unrechtleidens“ weitergestimmt wird; auch die Verarbeitung der Trauer der Mutter um Antons mit zwei Jahren verstorbene, jüngere Schwester wird zur „Seligkeit der Einschränkung“ kontinuiert. (RH 32, 35f.) Die vom Vater erlernten, meditativen Praktiken und Gebetsheucheleien über das Hören der göttlichen Stimme bewirken, dass „eingebildete innere Gefühle immer eine süße Nahrung seiner Eitelkeit“ bleiben werden. (RH 58, vgl. 24) Es sollen noch weitere Beispiele für die Suprematie der psychologischen Gefühlsperspektivierung von Vorkommnissen über deren Erzähltwerden als Handlungsfolge angesprochen werden, weil dadurch die Bedeutung von Stimmung für die formale Organisation des Roman abschließend erkennbar wird. (1.) Da ist einmal der „entehrende Verdacht“, Anton habe vom Weihnachtsbaum naschen wollen und diesen dabei umgestürzt, obwohl er ihn nur vor dem Umfallen bewahren wollte. Dabei wurde er aber in genau dem Augenblick ‚erwischt‘, als es ganz aussichtslos war, die Situation wahrheitsgemäß klären zu können. Nicht der Verdacht der anderen allein erniedrigte ihn, es „erniedrigte ihn bei sich selber“ und vernichtete Anton nicht nur im Augenblick, sondern bringt eine Art der „Seelenlähmung“ hervor, „welche nicht so leicht wieder gehoben werden kann.“ (RH 146) In Zukunft wird er sich gewissermaßen wider besseres Wissen – dabei errötend – immer selbst verdächtigen, wenn etwas gesucht oder als „weggenommen“ (ebd.) vermutet wird. Psychologisch wird der Roman dadurch, dass solche weiteren Fälle gar nicht vorkommen, sondern dieser erste Fall in seiner urszenischen Langzeitwirkung einer wiederkehrenden „Verwirrung“ und „Beschämung“ prognostiziert und als dauerhafte Beschädigung von Antons Selbstvertrauen bewertet wird. (RH 146f.)

11 Schrimpf (1980) sieht im melancholisch-hypochondrischen Hin und Her der Stimmungslagen die Ursache für den „eintönigen Rhythmus des Romans“; er sieht darin einen Antagonismus am Werk, „der sich in fortgesetzten jähen Übergängen zwischen Selbstüberschätzung und Egotismus auf der einen, Selbstverachtung und Selbstverneinung auf der anderen Seite geltend macht“. (S. 52)

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(2.) Für die „Beschämung“ wird nun eine zweite Situation erzählt, die sie als eine der „peinigsten“ Empfindungen überhaupt, ja als das „größte Unglück, was einem widerfahren kann“, kennzeichnet. (RH 147f.) Es geht bei ihr immer um Augenblicke, „wo er gleichsam vor sich selber vernichtet wurde“ (ebd.), wobei in den Augen anderer davon nichts oder jedenfalls nichts nachhaltig Beschämendes bleibt. Sie entstehen durch Missverständnisse, situative Fehldeutungen, „wenn er z.B. eine Begrüßung, ein Lob, eine Einladung, oder dergleichen auf sich gedeutet hatte, womit er nicht gemeinet war“ (ebd.). Erzählerisch geht es dennoch nicht um solche Situationen, etwa als Stationen eines Lebenslaufes, sondern um „ein ganz besonderes Gefühl dabei, wenn man aus Mißverstand sich eine Höflichkeit zurechnet, die einem andern zugedacht ist“ (ebd.). Bevor die biographisch relevante Szene erzählt wird, werden für das Entstehen des ‚schrecklichen‘ Gefühls und dessen Wirkung auf „sein innerstes Wesen, sein eigentliches Selbst“ (ebd.) psychologische Erklärungen gegeben. Dazu gehören die Sichtbarwerdung möglicher Selbsteingenommenheit und das Sichentblöstglauben in seinem Wunsch nach Anerkennung, der aufgrund des Mangels an derselben nur umso stärker und dadurch in „lächerliche[m] Licht“ (ebd.) erscheint. Obwohl es bei dem „Kaufmann in H...“ so war, dass dieser beim Reden „gemeiniglich“ eine andere Person ansah, und es also beinahe unvermeidlich zu Komplikationen kommen musste, wenn er jemanden zum Essen einlud, so fühlte sich Reiser dennoch vernichtet, als er nach seiner höflichen Ablehnung „dies ich mein Ihn ja nicht! mit der trocknen Miene“ vernahm. (RH 148) Die Wirkung dieser Peinlichkeit reicht nun bis in körperliche Dissoziationsgefühle und verfolgte Reiser fortan, machte im Gespräch mit „Vornehmern [...] seine Stimme gebrochen und zitternd“ und „sein Stolz konnte dies nie wieder ganz verwinden“ (ebd.). Ähnliche Gespräche aber sind im weiteren kein Thema des Romans. Mit seinem Fokus auf psychologische Wirkungen von Ereignissen, der diese jenen formal und inhaltlich nachordnet, wird deutlich, wie Moritz’ Seelenkunde auf der Basis eines Jahrzehnte abdeckenden Erfahrungsmaterials ihr Textformat im psychologischen Roman findet, der als Genre so zugleich erst entsteht. Die ausführlichen Reflexionen und Auslegungen von Reisers Erfahrungen durch den Erzähler passen indes nicht zum Genre der Fallgeschichte, wo sie ihren Ort im „‚paratextuellen Apparat‘ des Kasus“ hätten, wie Freys (2011, S. 37) Form- und Funktionsanalyse der Textsorten zeigt. (3.) Frey (2011, S. 41) spricht bereits davon, dass „das Hin und Her von Antons Seelenstimmungen“ formprägend ist und nicht etwa eine Abfolge von Geschehnissen, die die Handlung des Romans als Fortschreiten bestimmen würden. Sie sieht darin eine „Tendenz zur Paradigmatisierung des Erzählten“ am Werk, die den Anton Reiser epistemologisch und strukturell in einen Gegensatz „zu den medizinischen Fallgeschichten schulphilosophischer Provenienz“ bringe, da diese sich auf die „Nennung von ‚Zufällen‘“ (ebd.) beschränke, aus denen der Krankheitsverlauf bestimmt werde. Zwei Textbeispiele, das sie für die psychologische Strukturbildung auf paradigmatischer Ebene bei gleichzeitiger Beliebigkeit auf der syntagmatischen Achse anführt, sind Antons Balgen auf der Straße mit anderen Jungen und sein unkontrolliertes Umschlagen einer Seite aus dem Cicero. So belanglos beide Vorkommnisse erscheinen, so folgenlos bleiben sie für den Handlungsverlauf und entsprechend insignifikant in

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syntagmatischer Perspektive. Zugleich aber bildet gerade ihre Kontingenz den Ausgangspunkt für die Thematisierung der mit ihnen verbunden Gefühle und emotionalen Langzeitwirkungen. So wird die Dominanz von Stimmungen in Reisers Leben durch die Austauschbarkeit der sie auslösenden Erfahrungsmomente auf redundante Weise bestätigt und hebt sie damit auf die paradigmatische Ebene. Alle angeführten Passagen zeigen eine narrative Rekurrenz auf das Stimmungserleben, die den Text in zweifacher Hinsicht formalisiert erscheinen lässt. Zum einen verweist die Stimmungsrekurrenz auf einen – paradoxerweise impliziten – wissenschaftlichen Paratext, die Anton Reiser zur Fallgeschichte macht; zum anderen macht sie Anton Reiser – paradoxerweise zugleich – zum gattungspoetischen Paradigma des psychologischen Romans. Dies scheint zu gelten, obwohl der Roman Fragment geblieben ist – und lässt sich doch auch umgekehrt vorstellen: er ist Fragment geblieben, weil mit dem Paradigmatischwerden von Stimmungen unter psychologischem Aspekt der Roman keine genuin poetische Form finden konnte. Bedenkt man, dass Moritz noch während des Schreibens am Anton Reiser mit einem anderen Roman begann, so ließe sich vermuten, dass dies auch damit zu tun hatte, dass er beim Schreiben die Grenzen spürte, die sich mit der psychologischen Fokussierung verfestigten. Wenn alle Ereignisse nur auf Affektreaktionen und ihre Empfindungswerte hin dargestellt werden, solange alles Handlungsgeschehen auf das Entstehen von Gefühlen und deren Reflexion zusammenläuft, und das Erzählen selbst zum Nachspüren des emotionalen Prozesses sich verengt, dann kann die daraus entstehende Verdichtung einer individuellen Lebensstimmung als ‚offene‘ Fallgeschichte endlos fortgeschrieben – oder aber als Romanfragment abgebrochen werden.12 Stattdessen beschreitet Moritz mit Andreas Hartknopf einen alternativen Weg des Erzählens. Stimmungen werden nicht mehr als emotionales, sondern als ästhetisches Phänomen fokussiert. Die Form des Romans wird nicht mehr von einem psychologischen, sondern poetologischen Paradigma regiert, insofern Eine Allegorie im Untertitel einen gattungspoetologischen Gestaltungsversuch ankündigt. 13 Ob dieser Versuch als formal gelungen anzusehen ist, zumal bei einem wiederum Fragment gebliebe12 Schrimpf (1980) spricht von einer endlosen „Progression des Widerspruchs, die das ganze Werk in seiner entlarvenden Monotonie des Leidens charakterisiert“; zugleich sieht er in der oft „als unkünstlerisch beanstandete[n] monotonen Wiederkehr des Gleichen [die] Stärke“ des Romans. Dies begründet er aber nicht romanpoetologisch, sondern er meint den „Wert als experimentalpsychologisch strukturiertes und soziologisches Dokument“. Den Wert als Roman sieht er hingegen in seiner Unversöhnlichkeit und „produktivnegativ[en]“ Rolle, die er für die Gattung des Bildungsromans spielt: „er ist ein negativer Bildungsroman, ein Anti-Bildungsroman, ja man kann sagen ein sozialpsychologisch demaskierter ‚Verbildungsroman‘.“ (S. 54) 13 Damit zieht die These der älteren Forschung wieder Aufmerksamkeit auf sich, nach der – so Minder – Moritz zweiter Roman die „symbolische Fortsetzung und das mystische Gegenstück zum psychologisch-realistischen Roman“ (1974, S. 219f.) darstellt. Demgegenüber sehen wir – abgesehen davon, dass wir den autobiographischen Aspekt weitestgehend ausblenden – keine Fortsetzung, sondern ein Abbrechen und Neuansetzen bei der Umstellung vom psychologischen zum allegorischen Roman bei Moritz am Werk.

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nem Text, bleibt zweifelhaft und dies auch noch nach unserem Interpretationsdurchgang sowie den Überlegungen zu den Predigerjahren. Diese Romanfortsetzung von 1790 handelt von den jungen Jahren des Mannes, von einer Zeit also, die vor derjenigen liegt, die in im ersten Roman Thema ist. Hier werden wir die autonomie- und werkästhetische Idee des in sich Vollendeten anhand von Hartknopfs teils ironisch gebrochener teils klassizistisch objektivierter Auffassung von einer Predigt als Kunstwerk diskutieren. Unzweifelhaft hingegen lässt unsere Untersuchung von Moritz ‚anderem‘ Roman ein Ausbrechen aus Formzwängen und Themen erkennen, die sich aus biographischer Chronologie – das Erzählen beginnt gewissermaßen mit dem Ende des zu erzählenden Lebens – und dem empfindsamen Briefroman ergeben können. Wir werden sehen, wie Moritz mit Stimmungsszenen ansetzt, die den Konventionen der Empfindsamkeit entsprechen, um mit musik- und tonästhetischen Reflexionen in Richtung Romantik zu gehen und wie er von Stimmungen in ihrer transsubjektiven Bedeutungsdimension erzählt. Die aus der Verhältnisbestimmung von Musik- als Naturtönen einerseits und von Sprache und Empfindungen anderseits entwickelten Ganzheitsperspektiven gehen über den empfindsamen, auf Gefühl zentrierten Begriff von Stimmung hinaus zu einem ästhetischen Begriff von Stimmung, der an den metaphysischen Gehalt der antiken Sphärenharmonie anknüpft, diesen aber in eine sinnliche Vollzugsform transfiguriert. Mit seinem Hartknopf gerät Moritz so in eine historische Zwischenstellung, die ihren Halt im Emotionalen der Empfindsamkeit aufgegeben, aber noch keinen Gegenhalt im Imaginären der Romantik gefunden hat. Die in der Forschung auch als Widersprüchlichkeit zwischen Moritz’ autonomieästhetischen Schriften und seinen Romanen erörterte Position lässt sich mit der quer zu Epochengrenzen stehenden Kategorie der Stimmung besser nachvollziehen. Zunächst wollen wir unter dem Aspekt der Stimmung diesen pädagogischen, schwärmerischen und satirischen Roman, der Andreas Hartknopf auch ist14, in seinem ersten Teil deutlicher als eine Allegorie lesbar machen. Nicht allein direktes Darstellen von Stimmungen macht hier eine Seelengeschichte erzählbar, sondern ein teils humoristisch, teils didaktisch, teils melancholisch getöntes Erzählen verweist darüber hinaus auf eine harmonisch prästabilierte Weltstimmung, auf die hin Hartknopfs Denken, Handeln und gesamte Existenz entworfen sind. Erzählt wird bis hinein in den zweiten Teil der Predigerjahre vom Suchen nach stabilen Weltbeziehungen, vom Sich-Öffnen und Sich-Schließen intersubjektiver sowie landschaftlicher Stimmungsräume, von lebensgeschichtlichen Reflexionen und Brüchen, von tagesund jahreszeitlich metaphorisierter Vergänglichkeit, Sterblichkeit oder Endlichkeit samt den daraus hervorgehenden Bedeutungen. Was im Romantext dargestellt wird, erhält seine Bedeutungen auf einem biographisch begrenzten und zerstückelten Tableau von Stimmungen, deren Bedeutung ihrerseits von einem allegorisch entgrenzten Feld bezogen werden. 14 Siehe zum Typus des Romans und seiner Verarbeitung von zeitgeschichtlichen Themen, Motiven, Vorbildern sowie „modischen Gattungen“ Schrimpf: „Er ist ein Freimaurerroman, ein Pastorenroman, ein Schwärmer- und ein Ketzerroman; er ist aber dazu ein pädagogischer, ein empfindsamer, ein satirischer und ein humoristischer Roman, ja er ist – nimmt man die ‚Predigerjahre‘ für sich – auch ein Eheroman.“ (1980, S. 57)

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2. D ER E RZÄHLER ALS EMPFINDSAMER F REUND . D AS L EBENSGANZE DES H ELDEN . E RINNERUNGEN AN G ESPRÄCHSSITUATIONEN . D IE F UNKTIONEN DES S ATIRISCHEN UND DER S TIMMUNG Wie Anton Reiser ist auch der Held des zweiten Romans keine Figur, die sich auf einem steinigen, schließlich aber glücklich sich findenden Bildungsweg befindet, dessen Sozialisationsspiele und Initiationsriten die unausweichlichen Stufen eines Entwicklungsganges hin zum gelingenden Leben darstellten. Bereits der Nachname ‚Hartknopf‘ weist auf eine gewisse Melancholie der Härte hin, die seinen Träger zeichenhaft in einen „Rock mit den steifen Schößen von oben bis unten zugeknöpft“ (RH 435) hüllt. Zugeknöpft hält sich zunächst auch der Erzähler mit genaueren Informationen über seine mehr empathisch betrachtete als biographisch gezeichnete Hauptfigur und deren Lebensweg. Es ist gleich am Romananfang und später an weiteren Stellen diese erzählerische Reduktion ein literarisches Darstellungsmittel, das Stimmung erzeugt. Es wird zur indirekten Beschreibung von Personen, vor allem aber Situationen eingesetzt, in denen der Bedarf an Worten hinter ein divinatorisches Gefühl von Verstehen zurücktritt. Zugleich sind es die durch poetische Verknappung atmosphärisch verdichteten Momente, die philosophische Reflexionen auslösen. So gerät der empfindsame Roman, der die Wahrheit des Gefühls veranschaulichen will, zu einer Allegorie der Darstellung von Gedanken und beherzigt auf gleichermaßen satirische wie poetologische Weise sein Motto: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ (RH 434) Auf den „VORBERICHT“ – bestehend aus diesem einzigen Satz – setzt der Text mit einem Ausruf ein, der die Aufmerksamkeit der Hauptfigur, des Erzählers und des Lesers zusammenzieht und gleichsam auf ihren konzertierten Einsatz fokussiert: „Hier will ich still stehen – –“. (RH 435) Dieser Satz wird auf der folgenden Seite ein zweites, drittes und viertes (kursiv) Mal wiederholt und dient so als hinausgezögerter Auftakt zum Erzählen aus der Perspektive auf das „still“ gestellte Leben des Freundes. An diesem Beginn des ersten Teils des Romans, der 1785 erschien (Druckjahreszahl 1786), befindet sich der vom Erzähler mit „mein lieber Andreas Hartknopf“ und „Du guter Andreas Hartknopf“ gewissermaßen mitfühlsam angesprochene Held auf einem weit fortgeschrittenen Abschnitt seiner unglücklichen „Wanderschaft“ (ebd.) durchs Leben. Er „hat“ zum Erzählzeitpunkt, ohne dass gesagt würde wieso, bereits „ausgewandert“ (ebd.). Zwar wird der „schon stark in die Vierziger“ Gehende als Freimaurer („die ganze Welt aus alkalischem Salz geschaffen“) und Ketzer gekennzeichnet15, der eine Erweiterung der Trinität („Viereinigkeit“) um das Wort predigt. (RH 458, 435) Jedoch stehen die ethische Hochschätzung, menschliche Sympathie und ein humoristisches Mitgefühl des Erzählers im Vordergrund, der mit sanfter Ironie einen Vergleich des noch unerzählten Lebens der „gute[n] Seele“ mit der passio christi („den Edelsten unter sich“, „Dornenpfade seines Lebens“, „dein Gedächtnis nach deinem Tode“) aufscheinen lässt. (RH 435f.) Seine offenbar intime Kenntnis

15 Siehe zu dem zeitgenössischen Modethema der Geheimbünde Voges 1987.

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von Hartknopfs fatalem Lebensverlauf erlaubt dem auktorialen Erzähler einen bilanzierenden Blick aufs Ganze, der dem verleumdeten Verstorbenen so nicht möglich ist und diesem nun im Zwiegespräch post mortem mitgeteilt wird: „Ach, es war dir auch nicht bei der Wiege gesungen, wie es dir in der Welt ergehen sollte – daß du verstoßen, verjagt, von aller Welt verlassen, umherirren, irgendwo ein freundliches Obdach suchen und es nicht finden solltest“ (ebd.). Zur Einstimmung des Lesers auf die narrativ-reflexive Doppelgestalt des folgenden Textes wird also ein stimmungspoetischer Kunstgriff angewendet, der zwei Aspekte zusammenzieht. Zum Einen wird nur soviel über den traurigen Helden gesagt, dass umrisshaft die Gestalt eines lieben, guten und angesichts seines schweren Loses tapferen Menschen erscheint. Das kurze Andeuten von äußeren Einzelheiten („dickes schwarzbraunes Haar“), gefolgt vom Aussparen weiterer Beschreibungen und erklärender Einführungsworte sowie dem Vermeiden begründeter Aussagen über Hartknopf, erzeugen eine gewisse Erwartung beim Leser. Sie richtet sich auf die Schließung des Abstands zwischen dem Allwissen des Erzählers und dem Noch-nichtWissen des Lesers. Diese vorläufig bestehende Lücke wird – räumlich-ästhetisch verstanden – vom gespannten Gefühl einer Erwartung gefüllt. Zum Zweiten nun baut sich dieses Erwartungsgefühl zur Stimmung auf, insofern mit der eröffneten Teilhabe am Blickwinkel des Erzählers das abgeschlossene Lebensganze des Helden auch für den Leser in den Blick rückt. So wird mit dem Romananfang durchaus eine ästhetische Perspektive auf lebensphilosophische Bedeutsamkeit avant la lettre eröffnet, die bei Dilthey als Lebenskategorie psychologisch und poetologisch, bei Heidegger dann anthropologisch, oder in dessen Terminologie: ‚existenzialontologisch‘ gefasst wird. Was Andreas Hartknopf – wie jedem Menschen – thanatologisch verwehrt oder nur durch ‚Vorlaufen in den Tod‘ zugänglich ist, nämlich die Bedeutung des Lebens im (Rück-)Blick auf dessen Rundung zum Ganzen zu erschließen, wird stellvertretend vom Erzähler als seinem empfindsamen Freund geleistet. In literarischer Darstellungsform wird diese Stellvertretung zu einer doppelten: für den verstorbenen Freund als Lebenssinnstiftung post mortem sowie für den – noch lebenden – Leser als Eröffnung der Frage nach dem Sinn von Lebenszeit. Seine ‚bedeutende‘ Rolle als kommunikativer Doppelagent macht der Erzähler auf der zweiten Seite explizit. Erst enthüllt er sein Verhältnis zum direkt angesprochenen Helden durch eine Erinnerung an gemeinsame „Gespräche von Zukunft und Vergangenheit“. (RH 436) Dann folgt eine Leseransprache, in der die zweifache Adressierung eigens thematisiert wird, indem von der Umstellung und Umstimmung („wie der Abschied“) vom persönlichen Gespräch („mit dir“) auf literarisches Erzählen („von dir reden“) die Rede ist: „– das wird mir schwer – o habt Geduld mit mir meine Leser! es ist mir schwer geworden, mich von meinem Freunde zu trennen – ich sprach mit ihm, da ich mit euch sprechen sollte – denn ich wollte euch doch seine Geschichte erzählen“ (ebd.). Indem diese poetologische Selbstreflexion auf die Erinnerung an die intime Gesprächsatmosphäre folgt, die die empfindsame Freundschaft zwischen dem Erzähler und seinem Helden zu dessen Lebzeiten charakterisierte, wird auch der Leser in diese Atmosphäre hineingezogen. Überdies organisiert der Text an dieser Stelle charakteristische Momente der Stimmungserzeugung, die im Folgenden am Zitat aufgewiesen werden sollen:

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„Oft unterhält sich meine Seele in einsamen Stunden mit dir in Gesprächen; ich sehe dich in meine kleine Kammer treten; wir sehen uns und sehen den Himmel aus dem eröffneten Fenster an – und ob wir gleich nur gegen ein altes Gemäuer blicken, so erhebt sich doch unser Herz, wenn die Sonne darauf scheint, und unsre Seelen ergießen sich gegeneinander in Liebe und Wärme, in süßen Gesprächen von Zukunft und Vergangenheit“. (Ebd.)

Zunächst wird hier die intime Geselligkeit oder gesellige Intimität im Freundschaftskult der Empfindsamkeit in Szene gesetzt; und zwar als Modell für die Grundierung von kommunikativer Praxis in geteilter, sich mitteilender Stimmung. Die zu Lebzeiten gepflegte Gesprächsbeziehung in zweisamer Geselligkeit wird über den Tod des einen Partners hinaus fortgesetzt und ins Seelen-Exerzitium eines wiederholten Soliloquiums „in einsamen Stunden“ transfiguriert („Oft unterhält sich meine Seele...“). Dabei wird die wechselseitige Aufmerksamkeit für den anderen im emphatisch persönlichen („süßen“) Gespräch samt der darin erfahrenen Resonanz des Eigenen in eine duale Beziehungsstruktur des Selbstgesprächs überführt, das so gesehen als kontinuierter Dialog über gesteigerte Aufmerksamkeit geführt wird. Dass es der Erinnerung mehr um die Reanimation der zwei-einigen Stimmung im emotional erlebten Zusammensein geht als um eine memoriale Simulation des Austauschs von Informationen oder Gedanken, zeigt die szenische Vergegenwärtigung vergangener Gespräche. Sie gibt der Situation des empfindsamen Gesprächs den Vorrang, nicht dessen Gegenstand. Die Stimmung wird von außenräumlichen Umständen her generiert und stimuliert die seelische Innerlichkeit zum Sich-Ergießen in dieses Äußere. Das Eintreten des Freundes in die private Sphäre des anderen wird als ein intimer Akt willkommener Grenzübertretung (wieder-)gesehen, wenn die „kleine Kammer“ raummetaphorisch den Kernbereich der Persönlichkeit konnotiert. Nur von einem weiteren Semikolon getrennt, erfolgt die wortlose – jedenfalls nicht als sprachliche erinnerte – Begrüßung. Sie vollzieht bereits ein komplementäres Beziehungsverhältnis auf der Schwelle zu einer Auflösung der personalen Abgrenzung von Du und Ich. Denn nicht blickt erst einer den anderen und dann umgekehrt an, sondern „wir sehen uns“ an. Dass es sich bei dieser reflexiven ersten Person Plural nicht um ein Liebespaar handelt, deren zärtliche Begegnung beschrieben wird, sondern um die Konfiguration einer Stimmung, zeigt sich an der Verbindung des Einanderansehens mit dem gemeinsamen Ansehen des Himmels. Sprachlich ist dies realisiert durch die syntaktische Verklammerung mittels des trennbaren Verbs ansehen: „wir sehen uns und sehen den Himmel aus dem eröffneten Fenster an –“ (ebd.). Diese Öffnung des Blickgeschehens zu einem Außerhalb der Dyade, das zudem kein personaler Dritter, sondern die universale Sphäre des Himmels ist, markiert einen Unterschied zum erotischen Wechselblick.16 Dadurch gewinnt die Darstellung – und gewissermaßen die Erregung – den Raum, der Stimmungen als Konfigurationen von Außen- und Innenbezügen auszeichnet und zugleich von der Bilateralität der Erotik absetzt. Die Spiegelung ‚nur‘ empfindsamer Seelen, die sich in einer Leere 16 Nicht erst seit der Romantik und bis heute ist der wechselseitige Blick ein poetisches Motiv, dass die initiativen und eigendynamischen Momente im Zwischen-Raum von Intersubjektivität, Interpersonalität und speziell von erotischer Wahrnehmung einspielt. Ein Beispiel aus der Gegenwartsliteratur wäre das Gedicht Blickwechsel in Ostermaier 2014.

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reflexiver Innerlichkeit verlieren könnte, sucht Halt außerhalb ihrer ‚kleine[n] Kammer“ und findet ihn im maximalen Außen des Himmels. Zugleich spiegelt der Himmel als Chiffre des Unendlichen seinerseits die Seelenspiegelung und stellt so die semantische Verbindung von Stimmung als psychischem Verhältnis zur Stimmung als kosmischer Ordnung her. Diese sphärenharmonische Perspektive wird durch den gemeinsam geweiteten Blick aus dem Fenster „eröffnet“, dessen Rahmen gewissermaßen den mikro-makrokosmischen Grenzverkehr regelt. Der Blick aus dem Fenster, der den Raum phänomenologisch als Öffnung des Innen zum Außen organsiert, wird dann bei Tieck, Hoffmann und Eichendorff zu einer romantischen Grundfigur der Stimmungsinszenierung. Senkt sich der empfindsam-romantische Blick aus dem Fenster von der Vertikalen zur Horizontalen und trifft „nur gegen ein altes Gemäuer [...], so erhebt sich doch unser Herz“ im Gegenspiel zu dieser Blickverkürzung und -senkung. Bevor es zum Seelenerguss der Gleichgestimmten kommt, ermöglicht das aisthetische Setting erst einen gemeinsamen Fluchtpunkt des Wahrnehmens im Außenbezug (Himmel) und die dadurch ausgelöste Levitation des Herzens. Dieses schlägt dabei bereits als „unser Herz“ im Singular, nachdem es gleichsam erleuchtet wurde vom Reflex der antiken Kosmos-Idee („altes Gemäuer“) samt heliozentrischer Ordnungsphantasie („wenn die Sonne darauf scheint“). Aus dieser symbiotischen Herzens-Konstellation heraus „ergießen sich“ die beiden Seelen „gegeneinander“. Sie sind zugleich miteinander in der Stimmung von „Liebe und Wärme“ geborgen, die sie selber mithervorbringen, indem sie sich in sie ergießen. Im Unterschied zu geistig-emotionalen Erlebnissen im Zeichen von Konfluenz oder Ekstase, Inversion oder Meditation, Erotik oder Mystik ist die Stimmung hier also durch den konkret wahrgenommenen Außenhalt des Eingebettetseins gekennzeichnet, der das Situative anstelle des Psychischen betont und dieses dadurch materialisiert. Hinzu kommt bei Andreas Hartknopf nun aber noch der Umstand, dass die Herzen oder Seelen sich in „Gesprächen“ ergießen und die Stimmung dadurch ans Wort geknüpft wird. Offenbar kommt das verbindende Gefühl im geteilten Raum auch im diskursiven Hin und Her eines Gesprächs nicht zum Stocken oder gerät erst recht ins Fließen, wie die Oralität im Medium der Schrift des Autors. Das seit Platons Dialogen prominente und tradierte Phänomen einer Stimmung des Gesprächs, das von Disharmonie über Sympathie bis Erotik reichen kann, wird in diesem Fall nicht nur mit der poetologischen Reflexion auf das Erzählen („Ich soll von dir reden, mein Guter! und rede mit dir“, ebd.) verknüpft. Es wird an dieser Stelle deutlich genug vom argumentativen Diskurs unterschieden, dessen rationale Logik die poetische Logik zu überlagern droht, wo in der Dichtung Reflexion Beschreibung, Gedanken Gefühle oder analytische Differenzierung synthetische Anschaulichkeit verdrängen. Denn in der Erinnerung des Erzählers sind es „süße Gespräche von Zukunft und Vergangenheit“, in denen sich ihre Seelen ergießen. Während das in Verbindung mit Gesprächen wenig gebräuchliche Adjektiv ‚süß‘ an die strukturelle Verwandtschaft der Stimmung mit der dyadischen Kommunion der Mutter-Kind-Symbiose erinnern mag, markiert das Substantiv ‚Gespräch‘ die Differenz. Bei aller akustischen Qualität früher und frühester Stimmungserfahrung – vom Herzschlag über Verdauungstraktgeräusche bis zum Stimmklang der Mutter –, ein Gespräch kann das infans (im buchstäblichen Sinne) nicht führen – auch oder erst recht kein „süßes“. Denn dazu gehört nicht nur Sprechfähigkeit, sondern auch noch

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Sinn für den rechten Ton und also Gefühl für eine fein austarierte Balance in der persönlich distinkten Wechselrede zwischen diskursiv-informativen und emotionalmitteilsamen Gesprächsanteilen. Aber nicht nur die empfindsame, kultivierte Art und Weise des Gesprächs wird hier in die Komponenten der Stimmung eingereiht, sondern auch sein Gegenstand. In der erzählten Erinnerung ist die Zeit samt ihrer Ekstasen – um Heideggers Terminologie zu verwenden – und trotz der thematischen Vagheit nicht irgendein Gegenstand, über den gesprochen wurde. Dass die „Seelen“ sich in „süßen Gesprächen“ ergießen und nicht etwa zwei philosophische Köpfe räsonieren, weist vielmehr darauf hin, dass ihr im Genitiv abstrakt gehaltenes Thema („von Zukunft und Vergangenheit – –“) im Zusammenhang mit „Liebe und Wärme“ behandelt wurde. Dabei lassen sich die beiden Gedankenstriche als Zeichen wortloser Verständigung sowie der im Gedankenaustausch berührten existenziellen Gefühle deuten. Wie schon im Werther so lässt sich auch im Hartknopf beobachten, dass Stimmungen aus dem Erzählfluss im Verbund mit Erinnerungen auftauchen, und dass deren Darstellung Reflexionen über Zeitlichkeit einschließen kann und letztere in die existenzielle Dimension der Endlichkeit wendet. Auffällig ist, dass diese Stimmungsszenen von der satirischen Darstellungsweise weitgehend ausgenommen erscheinen; als müsse ihr Pathos vor jedem Spott geschützt werden, um die Stimmung bewirken und halten zu können. Das satirische Übertreiben setzt erst ein mit dem Erzählen „von“ Hartknopfs „Geschichte“, als der „Wandrer“ nach langem Marschweg durch „Wald“, „Regen“ und „Nacht“ mit „immer schärfer“ gewordenem „Wind“ im Gesicht seiner aktuellen Hilflosigkeit – metonymisch für die „Ohnmacht der menschlichen Natur selbst“ – mit standfester Willenskraft entgegenhält: „Hier will ich stehen, sagte er noch einmal – weil ich nicht weiter kann – und das will sagte er mit einem gewissen Trotz, aber auch zugleich mit einer Erhabenheit der Seele, womit er dem Regen und dem Sturmwinde zu befehlen und über die Elemente zu herrschen schien.“ (RH 436)

An dieser Stelle auf der zweiten Seite wird die Redundanz des ersten Satzes „Hier will ich stehen“, der die Titelfigur eingangs und insgesamt charakterisieren soll, bereits humoristisch gewendet. Scheint es doch mit einem Mal möglich, dass Hartknopf gleich über sich selbst zu lachen beginnt. Ins Satirische gesteigert wird der Satz sogleich durch seine Generalisierung zu einer formalethischen Formel, deren willensmetaphysisches Schicksalspathos auf Schopenhauer und Nietzsche vorauszuweisen scheint: „Ich will was ich muß, war sein Wahlspruch bis an den letzten Hauch seines Lebens – Es war seine höchste Weisheit, der er bis zum Tode getreu blieb – die ihn über die Dornenpfade seines Lebens sicher hinleitete, die am Rande des Grabes noch einmal ihre freundschaftliche Rechte bot.“ (Ebd.)

Das Satirische lässt sich hier und im Folgenden schon daran festmachen, dass persönlichste Angelegenheiten des Helden – von seinem Selbstentwurf über die innere Führung und geistige Orientierung seiner Existenz bis hin zum Lebensgefühl in unterschiedlichen Lagen – explizit gemacht werden. Nicht erst wie, sondern bereits dass

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so etwas wie innere Existenz dargestellt wird, scheint der Darstellung eine satirische Neigung zu geben. Umgekehrt scheint Moritz aber auch in der satirischen Schreibweise die Ermöglichungsbedingung dafür gesehen zu haben, ein solches bis zur Unhandhabbarkeit großes, vielleicht auch nur genuin literarisches Thema überhaupt anzugehen. Für ein solches Gestaltungsproblembewusstsein spricht auch der im Untertitel geführte Zusatz „Eine Allegorie“, insofern damit über die gattungspoetisch gezogene Grenze des Romans hinaus auf ein intendiertes Mehr an Bedeutungsmöglichkeiten gewiesen wird. Während das Allegorische durch Reflexionen angebahnt wird, die vom beschreibenden Erzählen von Hartknopfs Lebenslage abstrahieren, dient das Satirische dazu, die Innenperspektive des Helden im Handeln, Fühlen und Denken zu konkretisieren. Sofern nicht andere Personen (z.B. der Weltreformator und Küster namens Küster; der Jakob-Böhme-Leser und Schuster Hagebuck), Geschehnisse (z.B. „Direktionslinie nach Osten“, RH 442; Pudeltotschlag) oder Orte (z.B. ‚Golgatha‘-Hügel im Geburtsort Gellenhausen, Gasthof ‚Paradies‘) vom satirischen Ton betroffen sind, bleibt derselbe eher liebevoll moderat und lässt einen schmerzlichen Unterton mitklingen. Denn die zum Erzählen und erst recht satirischen Erzählen nötige Distanznahme fällt dem Erzähler ja, wie er eingangs anhand des Redens „mit“ und Redens „von“ Hartknopf reflektiert hat, durchaus „schwer“ (ebd.). Schließlich fühlt er sich seinem Freund weiterhin nah und loyal verbunden, so dass ein satirisch distanzierendes Erzählen von ihm legitimiert und im Erzählprozess selbst gegengesteuert werden muss. Hierzu dient die Stimmung – zunächst in empfindsamer und später in reflexiver Form.

3. V ON AUFSCHWÜNGEN INS G EFÜHLSPATHOS ZUR SATIRISCHEN H YPERBEL . ATMOSPHÄRISCHE S TIMMUNGSAGENTEN . S ILENT C ONVERSATION VON G LEICHGESTIMMTEN Die oben analysierte Erinnerung an empfindsame Gesprächssituationen mit dem Freund rechtfertigt den exklusiven Anspruch des Erzählers, genau zu wissen, was im Innersten seines Helden vorgeht und davon berichten zu können: „Weil ich das nun alles weiß, und ich mich fast eben so in seine Seele hineindenken kann, als in meine eigne Seele – so genau waren wir miteinander verwebt – so kann ich nun auch alles von ihm erzählen, was gewiß sonst niemand leicht von ihm würde erzählen können: wie seine ganze Seele dabei arbeitete, als er die Worte sagte – hier will ich still stehen bleiben!“ (RH 436f.)

Auf die bis an die Schwelle zur Identität suggerierte Vertrautheit mit Hartknopf folgt die detaillierte Beschreibung von dessen Selbstgefühl, wie es sich im sinnlich konkreten Verhältnis zur Welt und im situativen Widerstand gegen sie ausbildet: „Er fühlte dabei einen unwiderstehlichen Mut, womit er der Kälte, dem Regen, dem Winde, der Dunkelheit der Nacht, und der Ohnmacht der menschlichen Natur selbst Trotz bot – er zog sich in sich selbst zurück, wie der Igel in seine Stacheln, wie die Schildkröte in ihr felsenfestes

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Haus; seine Brust war mit ehernem Mute gestählt, sein Körper zum Leiden abgehärtet – die rauhen Elemente noch immer seine Freunde, denn sie behandelten ihn gütiger, wie die Menschen.“ (RH 437)

Bedient diese Darstellung sich bis zum Gedankenstrich des Stimmungstopos des Erhabenen, um Hartknopfs Standhalten in misslicher Lage zu heroisieren –, so geht sie im Gebrauch der Tierkörpermetaphorik in einen satirisch lancierten Humor über, wie ihn der begeisterte Moritzleser Jean Paul (1990, § 32) zwanzig Jahre später als „das romantische Komische“ erklärte. Insofern es sprichwörtlich vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein kleiner Schritt ist, hilft Richters Definition des Humors zu verstehen, wie Moritz’ Darstellungsweise die Balance zwischen Gefühlspathos und Satire zu halten versucht. Nachdem die Erinnerung an gemeinsame Stimmungen zur Grundlage des Erzählens gemacht worden ist, kann die intime Kenntnis des Helden zu glaubwürdigem Erzählen vom „Urquell seines Daseins“ (RH 460) aus der Binnenperspektive genutzt werden. Dadurch kann der hohe Ton existenzieller Entschlossenheit (Ich will was ich muss) angeschlagen und sogleich ins Komische einer reflexiven Außensicht auf eine Innenwelt verlängert werden, ohne den Freund als Allegorie des ganzen Menschen der Lächerlichkeit preiszugeben. Wo die Aufschwünge ins Pathetische, Hochgestimmte oder Philosophische der Gefahr des Absturzes ins Imaginäre, Schwärmerische oder Allzutheoretische so sehr ausgesetzt sind, dass dagegen nur noch ein spöttischer Satireton anzuschlagen wäre, dort kommt es stattdessen zu einem Umschalten auf Reflexion. Thematisch drehen sich die Gespräche und Selbstgespräche sowie die teils darin, teils abgelöst entwickelten Reflexionen um Leben und Tod, Zeitlichkeit und Endlichkeit, Sinn und Bedeutung. Im Fall der Hauptfigur ist diese existenzielle Thematik auch äußerlich motiviert durch seine Heim- oder Wiederkehr in die Vaterstadt, die beim erneuten Gehen der Wege der „Kindheit“ heraufschießenden Erinnerungsbilder, die alle mit dem „Galgen“ auf dem Hügel verbunden sind und zugleich mit der dadurch assoziierten „reizenden Gegend“ (ebd.) rings umher. Seit den Galgen und Landschaft kombinierenden Eindrücken der Kindheit gilt für Hartknopf auch umgekehrt, dass sich, „so oft er eine reizende Gegend sahe, das Bild eines Galgens aufdrängte“ (ebd.). Anthropologische Themen wie Geburt (vgl. ebd.), Leben und Tod werden mit erinnerten Wahrnehmungsbildern von der Natur konkretisiert, insoweit Natur als „reizende Gegend“ die Umgebung sinnlicher Kindheitserfahrungen bildet. Die Metaphorik vegetativer Zyklik macht Hartknopfs „unaussprechliche Wehmut“, die Stimmung vergänglich erinnerten Lebens, doch noch zwischen Gedankenstrichen artikulierbar: „– was damals blühte, fing nun schon an zu welken – was damals welkte, war nicht mehr –“ (ebd.). Die Betonung des Verwelkens der Blüte anstelle ihrer zyklischen Wiederkehr semantisiert Vergänglichkeit als die Stimmung, in der die ansonsten mit Vergänglichkeit korrelierte Bedeutsamkeit suspendiert wird. Der scheinbar nebenbei miterzählte Landschafts- und Naturbezug ist hier – wie so oft – konstitutiver Teil jener narrativen Ensembles, die Stimmungen zur Darstellung bringen. Zu solchen Hauptdarstellern in Nebenrollen gehören außerdem die zyklischen Abfolgen der Tages- und Jahreszeiten sowie die Wiederkehr zu Orten samt

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der an diesen befindlichen Dingen.17 Diese atmosphärischen Stimmungsagenten werden sowohl beim Erzählen der Handlung konstatierend („Es war noch früh am Tage“, ebd.) eingesetzt als auch metaphorisch in den Reflexionen der Hauptfigur. Einmal wandert Hartknopf „in der kühlen Morgenluft dem geliebten Hügel zu“ während er einen „Ziehbrunnen nicht weit von der ehemaligen Wohnung seiner Eltern“ bemerkt, dessen Anblick „ihm sonderbar zu Mute“ (ebd.) werden lässt. Daraus entwickelt sich eine Phänomenologie der Erinnerung und „Vergessenheit“, in der die Stimmung in Verbindung mit Dingen und Wörtern ein subliminales Kontinuum von Empfindungen seit der „allerfrühesten Kindheit“ (RH 461) bildet. Diese Erinnerungsphänomenologie beschreibt zunächst die Plötzlichkeit, mit „der irgend ein vergangnes Dasein von seinem gegenwärtigen Dasein“ nicht mehr getrennt empfunden wird: „Er erinnerte sich an einen Zustand, der diesem ganz gleich war, und wußte doch diese Erinnerung nicht an Ort und Zeit zu knüpfen.“ (RH 460) Die durch das Ding („Ziehbrunnen“) an bestimmtem Ort (Wohnungsnähe) ausgelöste Erinnerung ist erst nur eine Erinnerung an eine Stimmung („Zustand“). Die Gewissheit der Stimmung („ganz gleich war“) macht sie zum Medium, in dem sich die Unbestimmtheit der Erinnerung auflösen kann: „Endlich fiel ihm ein, daß seine Mutter in seiner frühesten Kindheit, ihm, wenn er die Frage tat, woher er gekommen sei, immer den Brunnen nicht weit vom Hause, als den Urquell seines Daseins genannt habe. –“ (Ebd.)

Während der „Faden“ der Erinnerung „unser gegenwärtiges Dasein an irgend ein vergangnes knüpfte“, ist die Erinnerung selbst in Stimmungen gebunden, die das Dasein in der Welt mit bestimmten anderen und mit bestimmten Dingen an seinen „Ursprung“ zurückbinden. (RH 461) Ihrerseits können Stimmungen, darin den literarischen Stimmungen verwandt, von Wörtern übertragen werden: „So oft er nun die Wörter Brunn oder Brunnquell hörte, entstand jene sonderbare Empfindung in seiner Seele, die man immer zu haben pflegt, wenn man sich an etwas aus den Jahren seiner allerfrühesten Kindheit erinnert.“ (Ebd.)

Bis hierher ist das Nachdenken über den Vorgang des Erinnerns und die ihn tragenden Stimmungen in das Handlungsgeschehen eingebunden. Die an dieser Stelle weiterführende Reflexion, deren erweiterter Geltungsanspruch schon sprachlich am anthropologisch-phänomenologischen Plural (wir, unser, man) erkennbar ist, wird vom Erzähler in Anführungszeichen gesetzt. Es handelt sich um offenbar schriftlich niedergelegte Gedanken über Erinnerung in ihrem Zusammenspiel mit Vergessenheit. Hartknopf vertritt – avant la lettre – eine Art tiefenpsychologische Auffassung von der „allerfrüheste[n] Kindheit“ als „Lethefluß“ (ebd.) und zugleich von der Möglich17 Der Erzähler spricht von der Übereinstimmung seiner Auffassung mit derjenigen Hartknopfs hinsichtlich der Bedeutung von dinglichen Gegenständen, „bei deren Anblick wir eine dunkle Übersicht unsers ganzen Lebens, und vielleicht unsers ganzen Daseins erhalten. – Diese Gegenstände mögen freilich immer bei einem jeden wieder andre sein.“ (RH 462)

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keit, ins Unbewusste verdrängte Erlebnisse und Persönlichkeitsanteile wiederzuentdecken.18 Der Erzähler versucht schließlich Hartknopfs ins Allgemeine ausgreifende „Meinung“ zu sedimentierten Erinnerungsmaterialien, die wie entferntere Sterne zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit „am gestirnten Himmel“ flackern, zusammenzufassen, um zur erzählten Handlungssequenz beim „Wiedersehen dieses Ziehbrunnens“ (ebd.) zurückzukehren. Zentral sind dabei die Einsicht in die Ungreifbarkeit der psychischen Gegenstände, die dem entsprechende Instabilität von Selbsterkenntnis und die aus dieser Einsicht sich über das Leben ausbreitende Stimmung: „So zählte Hartknopf viele Augenblicke in seinem Leben, wo ihm über gewisse Dinge ein plötzliches Licht aufging, aber es war auch eben so schnell wieder verschwunden – allein er wußte denn doch, daß er dieses Licht gehabt hatte – und wenn es gleich verschwand, so ließ es doch immer einen sanften Schimmer, ein in der Ferne dämmerndes Abendrot zurück, welches über jede Stunde seines Lebens einen stillen Reiz verbreitete, der ihn in süße Ahndungen und Träume einwiegte“. (Ebd.)

Neben der Zeit- und Lichtmetaphorik plötzlich erleuchtender Augenblicke ist unter Stimmungsaspekten zu bemerken, dass die aus der chronometrischen Reihe springenden Erkenntnismomente ihr Vergehen zwar nicht vermeiden können. Jedoch hinterlassen sie eine zum Wissen um ihr Gewesensein führende Spur, die die Erinnerung an Bewusstseinsbestände in latenter Form wachhält. Diese im Lebensvollzug perpetuierte Erinnerung von Latentem aber manifestiert sich im Medium der Stimmung („so ließ es doch immer einen sanften Schimmer“). Die sanfte Stimmung scheint nicht eingefaltet ins Diesseits der Schwelle zwischen Selbst und Welt zu sein, sondern deren Jenseits als die Sphäre ihrer Herkunft mit zu umschließen. Diese stimmungssemantische Schwellenhaftigkeit wird von einer doppelten Metaphorik des Lichts und des Raums zur Sprache gebracht. Der „sanfte Schimmer“ lässt an den Widerschein des Sonnenlichts am Himmel in der ‚heure bleu‘ nach dem Untergang der Sonne hinter dem Horizont denken. Der Horizont bildet dabei die Schwelle, die das räumliche Jenseits vom Diesseits trennt und sie zugleich über die durch den Horizont ermöglichte indirekte Beleuchtung verbindet. Der tageszeitliche Stimmungstopos „dämmerndes Abendrot“ markiert mit der Distanzbestimmung „in der Ferne“ den Gegenpol der Welt zum psychischen Nähepol des Leibselbst. Damit wird der Stimmung ihr Ort in der maximal entgrenzten Weite eingeräumt, die im Nähegefühl die Welt bedeutet. Dies erklärt auch die lebensökonomische Bedeutung („über jede Stunde seines Lebens einen stillen Reiz verbreitete“), die der Abendrot-Stimmung als geweitetem Selbst- und Weltbezug zukommt. Die abstrakte Transzendenz von Hartknopfs religiösen Vorstellungen erhält so in der konkreten Deszendenz in die psychische Abgründigkeit ihr Gegengewicht. Die auf diese Weise erdende Stimmung bildet dabei das Erinnerungsmedium, in dem die Vorgängigkeit der Existenz gegenüber dem individuellem Subjektbewusstsein vergegenwärtigt wird. Hartknopfs Existenz- oder Lebensstimmung bringt nicht nur eine heroische Entschlossenheit zum autonomen 18 Das Motiv der Lethe und des Trinkens daraus findet sich wiederholt auch in Anton Reiser, wo es depressive und selbsttherapeutische Züge miteinander verbindet; z.B. RH 426.

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So-sein in der Welt mit sich (Ich will was ich muss), sondern auch die demutbereite Einsicht in sein heteronomes Dass-sein auf der Welt. Die Abkünftigkeit des Selbstseins von anderem Sein wird von Hartknopf keineswegs als kontingente Geworfenheit empfunden, sondern eher als eine kosmopsychische Getragenheit, die „ihn in süße Ahndungen und Träume einwiegte“ (ebd.). An dieser Textstelle lässt sich bei einem mit antiker Mythologie und Literatur so vertrauten Autor wie Moritz auch an den möglichen Bezug zur kosmogonischen Umarmung von Gaya und Uranos denken, die dem Licht-, Farb- und Raumzauber des „in der Ferne dämmernde[n] Abendrot[s]“ eine kulturgeschichtliche Tönung geben. Denn die Entstehung der Welt aus einer sexuellen Urszene zwischen Göttern vorzustellen, würde als makrokosmisches Pendent zu dem mikrokosmischen „Urquell seines Daseins“ die Antwort auf die Frage des kleinen Andreas bilden, „woher er gekommen sei“. (RH 460) Und auf diese Frage kommt der Erzähler im Anschluss an seine Deutung von Hartknopfs Erinnerungstheorie als Stimmungspraxis zurück. Der zweijährige Andreas wird von seiner Mutter aus der Todesgefahr gerettet, die ihm auf dem Rand des „Ziehbrunnens“ drohte, der sich ihm später als der „heilige Brunnen“ des Lebens zu dem Bild verdichtete, in dem immer wieder „alle die folgenden unzähligen Bilder seiner Seele zusammenströmten“. (RH 461) Ausgehend von dieser erinnerungs- und stimmungsästhetischen Bildfunktion löst sich nun die Erzählperspektive von den „Grillen“ der Hauptfigur und entfaltet eine essayistische Reflexion über den „sonderbaren schwer zu erklärenden Effekt“, den ein „Ziehbrunnen in einer Landschaft“ macht. (RH 462) Zur Verallgemeinerung von dessen persönlichen Bedeutung für Hartknopf wird indes nicht nur die Landschaft als ästhetische Umgebung einbezogen. Um die ‚rührende‘ Wirkung eines körperlichen Gegenstands von Stimmungen (z.B. Ziehbrunnen, Zugbrücke) aus assoziierten Situationsqualitäten zu erklären, werden weitere literarische Topoi des 18. Jahrhunderts (u.a. bei Goldsmith, Rousseau, Hermes, Hippel, Thümmel, Schummel, Goethe, Nicolai, Voss) herangezogen: das „Ländliche“, das „Altertum“ und die „simple Natur“. Obwohl diese Aspekte im Zusammenhang mit der Genieästhetik als Chiffren von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit zur wirkungsästhetischen Opposition gegen die rhetorischen Topoi der klassizistischen Poetik gehörten, begannen sie zur Entstehungszeit von Moritz Romanen bereits ihrerseits klischeeartige Züge anzunehmen. Dies gilt ebenfalls für das feierliche Pathos, mit dem der Erzähler nun wieder die empfindsame Kommunikationsform preist, die ihn mit seinem Helden bei Lebzeiten verband und bis in die Erzählgegenwart ein Muster an Stimmung für ihn bildet. Ihre Übereinstimmung hinsichtlich der ästhetischen Wirkung bestimmter Gegenstände im Zusammenspiel mit ihrem Environment, die das Ergebnis der essayistischen Digression war, wird zum Beweis und auch Modell für das wortlose Verstehen der Gleichgestimmten. Wie der bildhafte Gegenstand seinen „schwer zu erklärenden Effekt“ nur im memorialen (Brunnen) oder assoziativen (Brücke) „Ganzen“ einer Stimmung entfaltet, so lockern sich die im „Innersten unsrer Seelen“ (ebd.) verankerten Subjektpositionen in dem Maße, wie sie zum Ausgangspunkt und Organ eines gestimmten Sprechens werden. Mit gestimmtem Sprechen ist hier die von beiden Sprechern geteilte Erfahrung gemeint, dass das zum Sprechen mit dem jeweils anderen anhebende Ich nicht länger Herr der eigenen Rede bleibt und sich stattdessen im gemeinsamen Gespräch aufgehoben fühlt. In diesem auf Hölderlins Vers „seit ein Gespräch wir sind“ vorausdeutenden Sachverhalt eines (selbst) sprechenden

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„[M]iteinander[s]“ werden die Iche austauschbar: „so war es eine Zeitlang, als ob wir unsre Ichheit miteinander vertauscht hätten, wir fühlten uns ineinander –“. (Ebd.) Die Auflösung von Dualen (Innen/Außen, Subjekt/Objekt, Sender/Empfänger, Sprecher/Zuhörer u.a.) zu einer zweieinigen Beziehungsbewegung – hier der Wechselseitigkeit der Gesprächspartner zu einem Miteinander und Ineinander – ist ein zentrales Strukturmerkmal von Stimmung, wie wir sie in der Literatur seit den 1770er Jahren beobachten und im obigen Theorieteil entsprechend definiert haben. Wichtig ist es, im Blick zu behalten, dass es dabei gerade nicht um eine Harmonisierung von Gefühlsinnerlichkeit zu idealer Einheit geht; etwa um psychosoziale Kohäsionsverluste zu kompensieren oder angesichts funktionaler Ausdifferenzierung von Rationalität im kulturellen Feld irrationale Urstände zu feiern. Vielmehr geht es bei literarischen Darstellungen von Stimmung um Erfahrungen wie die eben analysierte, in denen die andere und eigene Subjektivität als eine medial verfasste empfunden und somit als etwas erkannt wird, das nicht an den Grenzen des Bewusstseins, der Vernunft und der Sprache endet oder bei deren Überschreitung kollabiert. Durch und in Stimmungen wird noch die Dezentrierung von Subjektivität hinter sich gelassen oder positiv: wird die Entdeckung von ihr vorgängigen Strukturen gemacht, deren Substanz gewissermaßen Bewegung ist, d.h. die Elemente der Strukturen in und aus ihrem Aufeinanderbezogensein bestehen. Entdeckt und dargestellt wird dies mit dem erstaunten Abheben („so war es eine Zeitlang“) von Beziehungen in deren Selbstdynamisierung, d.h. dem Aufgehen der Relate in dem sie mit einem Mal tragenden Zwischen ihrer (Inter-)Relation. Zumeist handelt es sich um Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Dingen, zwischen Zeichen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen Dingen und Zeichen, zwischen Menschen, Dingen und Zeichen. Von 1770 bis 1800 ist es auch oft die Natur in kultureller Gestalt der Landschaft, die sich als Gegend gegenüber dem Ich (vgl. RH 464, 472f.) – oder wie hier als Umgebung eines Gegenstandes (Ziehbrunnen) – in der Beziehung zu und mit diesem auflöst zu einem Ganzen, das die Stimmung darstellt. An eben zitierter Stelle im Hartknopf ist es indes die Beziehung zwischen dem eigenen und dem anderen Ich, die sich zu einem Miteinander verselbständigt, das die „Ichheit“ von ihren Trägern ablöst und im Zwischen-Raum des wechselseitigen Austauschs verflüssigt. Der im rhetorischen Modus des Als-ob-Vergleichs begonnene Satz geht vom irrealen Konjunktiv („vertauscht hätten“) über in die den Indikativ („wir fühlten uns ineinander“), um die mit der Interpenetration der Gesprächsbeziehung emergierende Stimmung als eine objektive Realität anzuzeigen. Im langen Augenblick der Stimmung („eine Zeitlang“) wird mit einem Mal das im dualen Modus zweier Iche Unmögliche möglich, nämlich das jeweils andere Ich aus dessen Innenperspektive zu erschließen: „die innerste Folge der Gedanken des einen war für den andern nicht mehr verschlossen. –“ (Ebd.) Dass es sich hier um das Phänomen der Stimmung als Wahrnehmungs-, Verständigung- sowie Beziehungsmedium und nicht allein um ein besonders lebendiges Gespräch voll Empfindsamkeit handelt, scheint der Erzähler nun dadurch klarstellen zu wollen, dass er die Sprache als Medium des Gesprächs der Freunde negiert. Sprache wird ohne satirische Nebenpointe, die vielmehr auf das Gegenteil – das Vermeiden von Schweigen – bezogen ist, durch das „heilige Stillschweigen“ in der kommunikativen Zwischen-Funktion ersetzt:

350 | POETOLOGIE DER STIMMUNG „Auf diese Weise unterhielten wir uns ohne Sprache – Es herrschte zwischen uns ein bedeutendes geistvolles Stillschweigen, das der Engländer a Silent Conversation nennt – und welches man aus unsern faden Gesellschaftszirkeln immer mit Gewalt zu verscheuchen sucht – indem man dieses heilige Stillschweigen für eine Beleidigung des Wohlstandes hält. –“ (Ebd.)

Wie schon die oben auf ihre poetologische Bedeutung hin analysierte Passage am Anfang des Romans, die ebenfalls die intime Gesprächssituation der Freunde als wortlose Stimmung beschrieb, ist auch diese reflektierende Passage frei von humoristischer Selbstrelativierung. Diese setzt erst wieder mit der folgenden Erzähleransprache an seine Hauptfigur ein, die zur Wiederaufnahme des Handlungsfadens überleitet. Darin wird der empfindsame Duktus der Rede vom Erzähler selbst in die reflexive Komik einer quasi-religiösen Überhöhung der eben beschriebenen Gesprächsintimität übertrieben. Vom pathetischen Anruf („O mein Hartknopf“) über den Topos vom Leben als Traum (vgl. auch RH 467), der die phänomenale Differenz von Sein und Schein suspendiert, bis hin zum schon im Werther verwendeten Motiv der einstigen Wiederumarmung im Himmel – was zuvor auf eine Phänomenbeschreibung von Stimmung hinauslief, wird jetzt zu einer satirischen Hyperbel des empfindsamen Gefühls. Mit der spekulativen Antizipation eines Daseins nach dem Tod werden die „heilig[en]“ Stimmungserfahrungen, dass die Freunde sich minutenlang „einst ohne Sprache verstanden, da selbst [ihre] Augen verschlossen waren“ und ihre „Gedanken“ sich selbständig „miteinander unterrede[te]n“ mit der Möglichkeit ihres Gegenteils konfrontiert: „eine[r] ewige[n] melancholische[n] Einsamkeit – –“. (RH 463)

II. Das Welt-Ideal der Sphärenharmonie und seine Übertragung in Stimmungen

1. E INSAMKEIT , ABSCHIED UND V ERGÄNGLICHKEIT . S PEKULATIONEN ÜBER U NSTERBLICHKEIT . D IE E INFÜHRUNG VON M USIK UND S PHÄRENHARMONIE In einer „stillen Einsamkeit“, „sein Gesicht“ beim Gebet im „Tempel“ der „Natur“ zum „Erhalter des Weltalls“ gegen „Osten gekehrt“, befindet sich auch Hartknopf, zu dessen Lebensgeschichte der Erzähler nach seinen Reflexionen immer wieder zurückkehrt, indem er sie im Fluchtpunkt des Todes verdichtet. (RH 464)1 So steht das Kapitel „HARTKNOPFS UNTERREDUNG MIT SEINEM ALTEN LEHRER UNTER DEM GALGEN VON GELLENHAUSEN“ im Zeichen einer Stimmung des Abschieds, die sich zunächst auf den „Abschied“ von Lehrer und Schüler vor einundzwanzig Jahren bezieht. (RH 465) Der vergänglichkeitsmelancholische Rückblick im gemeinsamen Gespräch auf dem Galgenhügel fokussiert dann jedoch thematisch den Abschied vom Leben. Dessen Endlichkeit war schon das Thema der Gespräche von damals, deren Faden der Emeritus nun wieder aufnimmt, indem er eine „alte messingne Studierlampe“ (ebd.) ins Zentrum der philosophischen Reflexion stellt. Dass der „hinfällige Körper“ und womöglich auch die von „Wahrheit“ erleuchtete „Seele“ des Menschen von einem solchen Ding wie der Lampe „überlebt“ (ebd.) wird, wird zum skandalösen Motiv des Gedankens der Unsterblichkeit entfaltet. Platonischer Metaphysik gemäß wird aus einer dualen Denkgebärde („Hülle“, „Staub“, „Körper“ einerseits, andererseits „Licht“, „Wahrheit“, „Seele“) die Notwendigkeit eines ursprünglichen, transzendenten Ganzen suggeriert, dem in verhüllt ontologischer Weise auch „unser ganzes Ich“ (ebd.) korrespondiert.

1

Diese Thematik ist in der europäischen Empfindsamkeit früh etabliert vor allem von Engländern wie Edward Young (Night Thoughts on Life, Death, and Immortality, 1742-45), Thomas Gray (An Elegy written in a Country Churchyard, 1750) und Oliver Goldsmith (Deserted Village, 1770).

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Dieser platonisch und mehr noch der neu-platonischen Traditionsbildung 2 verdankt die im Begriff der Stimmung historisch wirkungsmächtige Semantik ihre vielleicht wichtigsten Impulse. Ein von spekulativen Intuitionen geleitetes Denken und ontologisch zupackendes Empfinden hält die metaphysische Bedeutungsschicht von Stimmung seit dem Aufkommen des Begriffs in der Goethezeit intakt. Die Pantheismen dieser Zeit, die sich über die Romantik bis zur Neuromantik und Fin-de-siécleJahrhundertwende mit ihren Panpsychismen 3 fortsetzen, schreiben den metaphysischen Gehalt von Stimmung bis ins 20. Jahrhundert fort. Dem empirischen Selbstverständnis des Psychologen Moritz gemäß will dessen Figur des Emeritus nun aber sich nicht allein auf antike Geist-Metaphysik mit ihrem auf Stimmungserkenntnissen basierten Kosmos-Optimismus verlassen. Er kündigt ein schon bald anstehendes Experiment an, das an seinem sterbenden Leibe durchgeführt werden und das Entkommen der lebendigen Seele dabei beweisen soll. Hartknopf soll „in dem Augenblick“ des Ablebens auf dem „Todbette“ an einem „Druck mit der Hand“ des Emeritus beobachten können, dass etwas vom Körper sich Ablösendes überlebt und von der Unsterblichkeit der Seele zeugt. (466) Gleichsam das Resultat dieses Versuchs präjudizierend wird der entscheidende „Händedruck“ schon jetzt eingeübt. Es zeigt sich prompt das Erwartete in der Präsenzform einer Stimmung, die „etwas Erhabenes, Nerven- und Seelenerschütterndes, und eine überzeugende Kraft [hatte], die mehr als der bündigste Syllogismus wirkte“ (ebd.). Wie schon in vorangegangenen Unterredungen so ist es auch hier die gestimmte Rede, namentlich einschließlich ihrer rhetorischen Aussparungen des Sprechens und paralinguistischer Zeichen (z.B. Händedruck, Aufleuchten der Augen, Verklärung des Antlitzes), welche Stimmungen in kommunikativer Funktion hervorbringt. Damit tritt die Rede selbst in den Hintergrund. Erzählerisch wird die solchermaßen selbstreferenziell thematisierte Beziehung von Sprache und Stimmung mit einer Semantik inszeniert, die ästhetische Qualitäten der Raum- und Naturerfahrung aufbereitet.4 Dazu dienen Bilder wie „Ziehbrunnen in einer Landschaft“, „Galgenberg“ vor dem ikonographischen Traditionshintergrund Golgathas, Galgen auf dem Hügel sei ein „Schmuck“ wie das „Kreuz auf dem „Altar“; in Verbindung damit „diese Hügel und diese Täler“ als Schneelandschaft, das „Bild einer reizenden Gegend“ oder die Metapher: „die ganze Natur sein Tempel“. (RH 460, 462, 464f. et passim) Hinzukommt immer wieder die situative Rahmung der Stimmungsgespräche durch – teilweise mit Freimaurersymbolik korrelierten („Es ist hoch Mittag!“) – Angaben zur Tages- oder Jahreszeit, wobei die raum- und lichtsemantischen Aspekte am Stand von Sonne, Mond und auch Sternen festgemacht werden (RH 454f., 459ff., 463ff. et passim): „Die Sonne war untergesunken, das Gespräch lenkte sich auf Tod und Unsterblichkeit, Hartknopf sagte ein paar Worte darüber, die der einfältigste Bauer auch hätte sagen können, so kunstlos und ungelehrt waren sie – und doch ward eine allgemeine Stille, da er gesprochen hat2

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Darunter vor allem wohl das plotinische Systemdenken, siehe dazu z.B. in Hartknopfs Gespräch mit dem Emeritus das Motiv der „Stufenfolge“. (RH 467) Ferner im Anton Reiser der Bezug auf das „Emanationssystem“. (RH 181) Siehe hierzu mit großer historischer und systematischer Umsicht Riedel 1996. Im Anschluss an Saine 1971 vgl. Schneider 1998.

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te, und es getraute sich eine Weile niemand weiter zu reden. – So groß war die Herrschaft über die Gemüter, die Hartknopfen angeboren zu sein schien.“ (RH 457)

Im Zusammenhang von Gesprächen wird die Stimmung durch die persönliche Art und Weise sowohl des Redens als auch des Nicht-Redens produziert. Ihre Wirksamkeit hängt im Fall von Hartknopf nicht von der ‚gelehrten‘ Wahl oder ‚kunstvollen‘ Originalität der Worte ab, sondern wird der originellen Aura ihres charismatischen Sprechers zugeschrieben. Überdies bleibt die Stimmung auch in Gesprächspausen und rhetorischen Unterbrechungen wirksam oder entwickelt erst – wie weiter oben besprochen – im „Stillschweigen“ die volle Kraft wortloser Verständigung. Nicht nur wie dort im Zwiegespräch empfindsamer Freunde entfaltet die Stimmung ihre integrierende Kraft zu einem Ganzen, sondern auch wie hier im weiteren Gesprächskreis laufen durch sie die (mit)geteilten Empfindungen in einem imaginären Zentrum zusammen, das alle Teilnehmer verbindet. Auch diese satirisch durchsetzte „Picknick“Szene beim Gastwirt Knapp ist zuvor durch stimmungsgenerative Raumbestimmungen („ein artig besetzter Tisch unter einem der Lindenbäume“), Bühnenmetaphern („Kulissen“, „Erleuchtung [...] der Mond“, „Parterre und Theater floß nun in eins zusammen; [...] Zuschauer [...] Personen mit im Spiele“) und Bibelgleichnissen („Jesus brach das Brot und dankte“, „die beiden Jünger von Emmaus“) narrativ eingeführt. (RH 456) Der nicht zufällig literarisch-intertextuell, nämlich über Klopstocks „Messiade“ (ebd.), arrangierte Bezug zur Eucharistie relegiert die mediale Funktion der Stimmung zwischen sprachlichem Sinn und wahrnehmenden Sinnen überdies an die christliche Kommunion.5 Aufgefasst als kulturgeschichtliches Ursprungsmedium der Konversion von etwas in etwas anderes, der Transsubstantiation von Brot in Fleisch, von Wein in Blut und nicht zuletzt von Worten in Geist erinnert sie an das paulinische Motto, das dem Allegorie-Roman vorangestellt ist: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.6 Wie die Stimmung an den Gesprächssituationen sich als ein Phänomen beobachten lässt, das die Szenen von Beginn an, durch Unterbrechungen der Reden und Sprechpausen hinweg bis zum wortlosen Ende durchgreift, so wird sie im Gespräch mit dem Emeritus spekulativ zu einer metaphysischen Figur der Ganzheit verlängert. Im Anschluss an die Stimmung, die durch die Ankündigung des Unsterblichkeitsexperiment etabliert wurde, wird dieselbe als eine Art Evidenzbasis für das Gleichnis vom Lebensschlaf und Todeserwachen genutzt. Stimmung wird zum tragenden Etwas der ontologischen Unentscheidbarkeit von Illusion und Wirklichkeit, sie ist das umgreifende Ganze der partikularen Phänomendifferenzen von Träumen und Wachen, Sein und Schein, Leben und Tod. Der von Stimmungen ‚orientierte‘ Ganzheitssinn, der im Fall von Hartknopfs Gebet ‚gegen Osten“ überdies freimaurerisch5

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Zur Eucharistie im literaturgeschichtlichen Zusammenhang und im literaturtheoretischen Verständnis siehe Neumann 1986; zur paradigmatischen Bedeutung der Eucharistie im mediengeschichtlichen Zusammenhang Hörisch 1992; ferner zum medientheoretischen Komplex von Sinn und Sinnen ders. 2004a. Siehe zu diesem Motto und der inkonsistenten Verwendung von ‚Allegorie‘ bei Moritz und zum historischen Problemfeld zwischen Allegorie und Symbol im 18. Jahrhundert Geisenhanslüke 2003.

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orientalisch7 inspiriert ist, wird vom Emeritus zur Suggestion von systemischer Integriertheit genutzt. Er ist offenbar auf die spekulative „Wahrheit“ der plotinischen „Stufenfolge“ als einer kosmischen „Ordnung“ gerichtet, deren Unendlichkeit in Korrespondenz zum „unsterbliche[n] Geist“ auf der schwankenden Basis einer ontologischen Unbeweisbarkeit des Gegenteils emergieren soll. (RH 467f.) Indem dieses „tiefe Gespräch“ über Lebensweisheit und Unsterblichkeitsspekulation hinaus zu einer Ontologie systemischer Ganzheit durchdringt, wird seine Stimmung somatisiert; ihrer beider Antlitz verklärt sich, währenddessen das Wunschgefühl von leiblicher Erdung (mit biblischem Bezug: Matth. 17,4; Mark. 9,5; Luk. 9,33; RH 865) sich einstellt: „hier ist gut sein, hier lasset uns Hütten bauen [...] und der unsterbliche Geist durchbrach hier seine Hülle, und strahlte aus Auge und Stirn hervor –“. (RH 468) Gemäß dem Motto von Paulus (2. Korinther 3,6; vgl. 3,3; Joh. 6,63; Römer 7,6; RH 841) zeigt der Geist hier seine Lebendigkeit. Sie überschreitet wortlos („schwieg“) die Körperschranke der sterblichen „Hülle“ und benötigt doch dieselbe in Form von „Auge und Stirn“ als Medium seiner Ausstrahlung. So stellt sich der Dualismus von Geist-Körper auf der somatischen Schwelle zwischen Innen und Außen doch wieder als eine dynamische Einheit von Körper und Geist, Tod und Leben dar, „denn das Verwesliche war hier im Begriff anzuziehen das Unverwesliche“ (ebd.; vgl. 865, 1. Korinther 15,33). In diesem zuletzt schweigend hochstimmten Augenblick beginnt Hartknopf zu singen. Sein Morgenlied mit gnostischem Unterton im Libretto („dieses Lebens Kummer“) handelt seinerseits von der Leben-Tod-Dialektik und einem Lebenslauf, der in der Auferstehung vom Tod sein Telos findet. Der Erzähler bezeichnet es als „die Musik zu dem großen Text, den der Emeritus so eben abgehandelt hatte“; ob hier Plotins Enneaden, die Bibel oder aber die Natur des Menschen mit dem „großen Text“ (Gottes) gemeint sind, muss offen bleiben. (RH 468) Indes wird an dieser Stelle die Musik als ein literarisches Motiv eingeführt, das auf ein metaphysisches Gefühl im Geist des Ganzen verweist. Musik erreicht nicht nur als begleitende Vertonung des Textes dessen Signifikation, sondern vermag sie unbuchstäblich-buchstäblich zu ‚ergänzen‘. Musik liege „außer[halb] der Grenzen der Sprache“ und sei doch zugleich „Sprache der Empfindungen“. (RH 469) Im Gegensatz zur buchstabenabhängigen Sprache ist sie dazu geeignet, den logisch nicht erschließbaren Zusammenhang aller Dinge (Motiv: Stufenfolge bzw. catena aurea) zu artikulieren. Damit aber hebt Hartknopfs Morgenlied nicht vor allem meditativ als Ausdruck von Innerlichkeit an, sondern als „gedämpfte Stimme“ (ebd.) einer Stimmung des Ganzen, das die äußere Welt im kosmischen Ordnungsgefüge miteinschließt. Folgt man jedoch Spitzers historischer Typologie der „Stimmung des Einzelnen“, so lässt sich Hartknopfs Morgenlied als ein Ausdruck von meditativer Innerlichkeit verstehen, der seinerseits das Medium der allegorisierten Weltharmonie ist. 8 7

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Schrimpf erklärt in dieser Hinsicht das Titelkupfer, das am Beginn des Roman eine liegende Sphinx darstellt, die ins aufgehende Licht im Osten blickt, zusammen mit dem Schriftzug „Non fumum ex fulgore Sed ex fumo dare lucem“ wie folgt. Sie weisen „auf die orientalische (und aufklärerische) Tendenz der Freimaurerei: ‚ex oriente lux‘, besonders auf die im damaligen europäischen Maurertum beliebte ägyptische Symbolik.“ (1980, S. 57) Siehe hierzu Spitzers Synopse II: ‚Stimmung als Raum- und Zeitkonzept‘ in Jacobs 2013, S. 91.

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Der Bezug zur Antike wird an dieser Stelle einmal mehr vom Text selbst hergestellt, indem die „erhabne Melodie zu diesem Gesang“ mit dem „Feuer des Prometheus“ verglichen wird, somit aus „einer andern höhern Sphäre“ (ebd.) stammt. Gemäß der pietistisch-protestantischen Tradition findet solche kosmisch-göttliche Melodie Resonanz in der psychischen Innerlichkeit, wo sie Empfindungen auslöst, die „das Herz zerschmelzen“ (ebd.). So bildet sie in der Seele des Einzelnen eine graduelle Tönung von Stimmungen aus, deren sphärische Herkunft samt Schwingungskapazitäten im folgenden Zitat an die plotinischen Stufen des Seins zu erinnern scheint. Diese Stufen, deren Melodie im Morgenlied durch einen vierhebigen Trochäus formalisiert sind, werden vom Erzähler als ein räumliches Aufschwingen und Weiten des Ich beschrieben: „Erst hebt sie sich sanft und stufenweise, bis sie sich bald in höheren Regionen zu verlieren scheint, aus denen sie nun wieder beruhigt, gestärkt, und getröstet mit festem Tritt wieder herabsteigt, um sich aufs neue im höhern Fluge mit Jauchzen emporzuschwingen – sanft hinwegzugleiten über diese niedre Welt – mit Lächeln herabzuschauen auf die Sorgen und mühevollen Arbeiten der Bewohner dieser Erde – und dann in einem einzigen großen Gefühl der erweiterten Ichheit allen Kummer des Lebens mit einemmal zu versenken. [...] O es liegt ein großes Geheimnis in dem Fall dieser melodischen Töne, die, so wie sie auf und absteigen, die Sprache der Empfindungen reden, welche Worte nicht auszudrücken vermögen –“ (Ebd.)

Dieses bis heute bestehende „Geheimnis“ wenn nicht zu lüften, so doch in der poetischen Form einer Allegorie darzustellen, ist das ideelle Programm des Romans. Einmal mehr macht im Hartknopf die Erzählerrede poetologisch explizit, was textintern als Desiderat neuer Entdeckungen formuliert wird. Diese sollen den „bisher noch leeren unbeschriebenen Raum auf der großen Karte der menschlichen Kenntnisse“ füllen, indem sie das Verhältnis von Tönen und Empfindungen klären und so der Musik eine Grammatik verschaffen als wäre sie eine Sprache. Diese Idee wird zu einem literarischen Topos, der im 19. Jahrhundert fortlebt und wird zusammen mit der Vorstellung vom Menschen als Harfe in der Stimmungsforschung von Apel (2013) ab der Romantik diskutiert. Der Versuch, den der Roman Hartknopf in dieser Richtung darstellt, besteht darin, eine Lebensgeschichte in Form einer Reihe von Gesprächen zu erzählen, die über ihre existenziellen Themen und zeitlich-räumlichen Settings als Stimmungsszenen arrangiert sind. Diese Stimmungen aber werden nicht allein als lebensgeschichtlich, sozioökonomisch und individuell bedingte dargestellt. Vielmehr werden sie durch religions- und kulturgeschichtliche Allegorisierung an ontologische Einheitsvorstellungen der Antike zurückgebunden, zu denen die Sphärenmusik als makrokosmisches Korrelat der mikrokosmischen Seelenstimmung gehört. Musik wird als „Sprache der Empfindungen“ also dadurch erklärbar oder allegorisch auslegbar, dass sie ontologisch zur Ordnung des Kosmos gehört, d.h. göttlichen Ursprungs ist. Allerdings ist die Roman-Allegorie insgesamt durch metaphysische Ideen vom Ganzen bestimmt. Sie manifestieren sich neben und mit Stimmungen in Imaginationen des Ineinanderfließens von christlicher Menschen- und platonischer Weltseele, der Transzendierung des Materiell-„Verwesliche[n]“ ins Geistig-„Unverwesliche“ und der Umschließung von mikro- und makrokosmischen Räumen. Auch diese Ganzheitsideen zeichnen sich durch strukturelle Nähe zum pythagoreisch-spirituellen

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Modell der Sphärenharmonie aus. Spitzers Studien und deren ebenso konzise wie kritische Explikation in der aktuellen Forschung bei Jakobs zeigen 9, wie dieses Harmoniemodell die historische Semantik des deutschsprachigen Begriffs der Stimmung geprägt hat. Dies gilt mit seinen religionsgeschichtlichen Variationen der Sphärenoder Weltmusik bzw. Weltharmonie bis hinein in die Zeit des Aufkommens der literarischen Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts. Auf die nuancenreichen Transformationen der Stimmung in Kunst und Literatur dieser Zeit richten sich Spitzers Beobachtungen allerdings nicht. Er konstatiert hingegen die Verflüchtigung des metaphysischen Gehalts von Stimmung, die historisch mit dem Auftauchen ihres philosophischen Begriffes Ende des 18. Jahrhunderts einhergehe. (1.) Einerseits könnten die Stimmungsgespräche im Hartknopf als eine literarische Veranschaulichung von Spitzers bedeutungsgeschichtlicher These einer Verankerung von ‚Stimmung‘ in der antiken Sphärenharmonie und deren metaphysischen Deszendenz seit der Neuzeit gelesen werden. Dies scheint überdies die Gattungsbezeichnung Allegorie im Romanuntertitel nahezulegen. (2.) ‚Scheint‘ nahezulegen deshalb, weil andererseits gerade dieser allegorische Roman doch die ‚andere‘ Bedeutungsebene einer metaphysischen Stimmungsharmonie mitrealisiert und also in literarischer Transformation gerade fortschreibt, was Spitzer um 1800 an ein kulturhistorisches Ende gekommen sieht. (ad 1.) Zum einen lässt sich im Hartknopf eine Bestätigung von Spitzers materialreichen Untersuchung der kulturhistorischen Tiefensemantik von Stimmung am Leitfaden der Idee der Weltharmonie erkennen. Denn die erzählerisch als Stimmungsszenen mit wechselndem Personal arrangierten Gespräche über Erinnerung und Tod, Unsterblichkeit und Musik erschöpfen sich keineswegs in einer satirischen Überzeichnung ihrer Empfindsamkeit und Bezügen zu Schwärmerei, Freimaurerei, Pastoralidyllik, Pietismus, Ketzertum, Pädagogik und Psychologie. Vielmehr werden sie über diese diskurshistorisch rekonstruierbaren Kontexte der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hinaus und durch Neuzeit und Mittelalter hindurch auf kosmo-spirituelle Raum- und Harmonievorstellungen der griechischen Antike und den ihr folgenden Transformationen zurückbezogen. Wie wir gesehen haben, geschieht dies einerseits motivisch durch die in den Gesprächen mitbehandelten Themen: Erinnerung und Vergessenheit (Lethestrom), Traum und Leben, Tod und Unsterblichkeit, Freundschaft und Sympathie und – wie wir noch sehen werden – Sprache und Musik. Andererseits wird der Rückbezug auf die bei Spitzer für die Stimmungssemantik zentralen Harmoniekonzepte von Moritz formal anvisiert, insofern der Roman als Allegorie gelesen sein will. Demnach wäre das Erzählen von Hartknopfs gescheitertem Leben in Form von Gesprächen mit den eben benannten Themen als Versuch einer Allegorisierung dessen zu verstehen, was in diesem Leben angestrebt, aber unerreicht ge-

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Jakobs (2013, S. 54-102) bezieht in ihre historische Rekonstruktion der systematischen Beziehungen zwischen dem Stimmungsbegriff und Raumkonzepten auch Spitzers (1948) gegenüber den Ideas of World Harmony früher entstandene Schrift Milieu and Ambiance [1942] mit ein.

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blieben und auch in den dieses Leben reflektierenden Gesprächen nur andeutungsweise darstellbar ist. Hierin liegt aber eine Art gattungspoetische Widersprüchlichkeit und vielleicht ein Grund für die schwache Rezeption des Romans. Wenn nämlich die Erzähler- und Figurenrede bereits dasjenige thematisiert, was doch erst per allegoriam auf anderer Bedeutungsebene aufscheinen soll, dann durchkreuzt das Erzählen die eigene Darstellungsform. Dies gilt selbst noch dann, wenn man in Rechnung stellt, dass die sympathetischen Gespräche nur annähernd an das Rätselhafte bis Mystische der Allegorie herankommen, deren ‚andere‘ Bedeutung also nur in Andeutungen erreichen. Denn es sind ja gerade die in den erzählten Gesprächen unternommenen Versuche, sich über das Leben der Sterblichen hinaus zu höherem Sinn von Sein aufzuschwingen, welche durch einen satirischen Tonfall gewissermaßen dementiert werden. Wo aber das Satirische zurückgehalten ist, nämlich bei den essayistischen Reflexionen des Erzählers, da wird eben nichts beschreibend dargestellt, was vom Leser allegorisch ausgelegt zu werden bräuchte oder auch nur könnte. Eine ‚wohlwollendere‘ Lesart könnte anstelle eines solcherart poetologisch-performativen Widerspruches die Erzählerreflexionen im Hartknopf geradezu als ‚moderne‘ Selbstbezüglichkeit eines Romans auffassen, der seinen gattungspoetischen Anspruch im Titel bereits in seiner eigenen Darstellungsform als Allegorie des Schreibens einlöst. Indes hielte auch diese Lesart hinsichtlich Spitzers „These vom Verlust des WeltharmonieKonzepts und der fatalen ‚Entmusikalisierung‘ des westlichen Denkens um 1800“, die Jakobs zurecht kritisiert10, weiterhin zwei Deutungsmöglichkeiten offen: Einerseits kann die Allegorese im Hartknopf die Darstellung eines Verlusts (von metaphysischer Musikalität, von ganzheitlicher Ontologie, von harmonischer Kosmologie usw.) erkennen. Andererseits kann diese Darstellung selbst als Kontinuierung des vermeintlich Verlorenen verstanden werden, indem sie poetologisch einen performativen Widerspruch inszeniert. Danach stellte die Roman-Allegorie Hartknopf das Fortleben metaphysischer Harmonie-Ideen in ästhetischer Transformation dar. (ad 2.) Zum anderen kann Moritz’ Hartknopf als ein exemplarischer Beweis dafür gelesen und angeführt werden, dass es entgegen Spitzers Annahme einer Auflösung der weltharmonischen Kernbedeutung von Stimmung um 1800 zu deren ästhetischer Neuformatierung kommt. Die seit der Antike metaphysisch diskursivierten Ordnungskonzepte der Sphärenharmonie und Weltmusik mögen zwar ihren ontologischen Kredit und Rahmen zu dieser Zeit verloren haben, gewinnen jedoch an philosophischer Beweglichkeit (Kant, Schiller, Fichte, Hegel) und poetologischer Relevanz (Goethe, Moritz, Tieck, Novalis). Was aus Spitzers Blickwinkel im Zeichen der Säkularisierung im 18. Jahrhundert verschwindet, wird gegenwärtig von der Stim10 Jacobs (2013, S. 93) erkennt bei Spitzer (1963, S. 76, 138, 192) einen Mangel an „Vermittlung von Begriffen und Konzepten mit dem (literarischen) Kontext“ und verweist dabei auf von Arburg 2010b. Die Ausblendung literarischer Kontexte aber verleite – Jacobs zufolge – zu „Fehlinterpretationen zugunsten ‚essentieller‘ Konzepte und bruchloser Entwicklungslinien“. Dies zeige sich z.B. am „Versuch, die Kontinuität des musikalischen Weltharmonie-Konzepts auch im Mittelalter nachzuweisen“. (S. 93)

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mungsforschung in seinen funktionalen Umstimmungen und umgeschriebenen Weisen in den Diskursen und Künsten samt deren Dynamisierung untersucht. Dabei kam den philosophisch-ästhetischen Wendungen der Stimmungssemantik ins Subjektive, Psychologische und Anthropologische zunächst mehr Aufmerksamkeit zu als den künstlerisch-ästhetischen Gestaltungen in fragmentierten, temporalisierten und transfigurativen Formen, die nun zunehmend in den Fokus geraten. 11 Dadurch entsteht freilich die Gefahr, dass der Blick auf die künstlerischen Formen mit ihrem jeweiligen Eigensinn durch die systematisch eingestellten Perspektiven der ersteren (z.B. Fakultätenlehre, Erkenntnistheorie, Moralphilosophie) verstellt wird. Denn die synchronische Betrachtung legt es nahe, die begriffsgeschichtliche Entwicklung von Stimmung in der Philosophie als den Bedingungskontext aufzufassen, in dem die Kunstwerke entstanden sind. Während diese jedoch zugleich nach der diskursiven Maßgabe dieses Kontextes betrachtet werden – namentlich Subjektivierung bzw. Anthropologisierung von Stimmung –, kann es leicht zu Fehldeutungen kommen, indem Texte, Bilder oder Lieder etwa auf ihre emotionale Ausdruckqualität oder auf subjektzentrische Denkfiguren hin vereinseitigt werden. Deshalb haben wir für unsere Definition der Stimmung den theoretischen Kontext historisch entgrenzt, um so auch die objektlastigen Darstellungsformen in den Blick zu bekommen. Seit und mit der phänomenologisch umgestellten Theorieperspektive des 20. Jahrhunderts lässt es sich besser vermeiden, beschriebene, konfigurierte oder formalisierte Stimmungen von Situationen, Räumen oder Landschaften hin auf Bedeutungen wie Erweiterung des Ich, Spiegelung der Seele oder Emotionsausdruck zu reduzieren.

2. E XISTENZIALER R AUM STATT PSYCHOLOGISCHE S UBJEKTIVIERUNG . AUF DER S CHWELLE ZWISCHEN D ISPOSITION UND B ERÜHRUNG . V ERBINDUNGSGLIED ZWISCHEN W IRKUNGSÄSTHETIK UND AUTONOMIEÄSTHETIK Hartknopfs Morgenlied lässt erkennen, dass nicht die „Ichheit“ als substanzielles Bewusstsein oder Selbstgefühl expandiert, sondern sie vor allem ein „erweiterte[s]“ (ebd.) Raumgefühl ist, das sich im trochäischen Rhythmus hebt und senkt. Der vom Erzähler benannte, „noch leere und unbeschriebene Raum“ des Wissens ist auch phänomenologisch aufzufassen als die den Raum erst bildende Bewegung „dieser melodischen Töne“ (ebd.). Ihr Auf- und Absteigen zeigt die Objektseite der „Empfindungen“ an, deren Sprache somit – im Gegensatz zur Sprache der „Worte“ (ebd.) – nicht Ausdrucksmedium ästhetischer Subjektivität ist. Nicht psychologische Subjektivierung von Stimmung anstelle metaphysischer Weltharmonie prägt Hartknopfs Lebensgefühl, sondern ein demütiges Zurücknehmen der Subjektseite zugunsten 11 Siehe hierzu die Sammelbände der Stimmungskonferenzen herausgegeben von MeyerSickendiek/Reents 2013, Gisbertz 2012, von Arburg/Rickenbacher 2012, ferner Thomas 2010b und 2012.

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„neue[r] Entdeckungen“ (ebd.) eines existenzialen Raums. Dieser scheint zwar mit dem antiken Kosmosdenken und zumal dem neuzeitlichen Dualismus untergegangen zu sein. Indes taucht er im 18. Jahrhundert aus der Ästhetik des Erhabenen und im Zusammenhang mit poetischen Deismen und Pantheismen (z.B. Brockes, Haller, Kleist, Klopstock) wieder auf, ontologisch weniger anspruchsvoll, aber nichtsdestoweniger metaphysisch phantasieanregend. Bezeichnend hierfür ist der zentrale und hochgelegene Ort der Handlung im Hartknopf – der Hügel. Den „Zöglingen“ der aufklärerischen „Weltreformatoren“ soll mit pädagogischer Absicht „von dieser Höhe alle Herrlichkeit der Welt“ und insbesondere das „erhabne Schauspiel des Aufgangs der Sonne“ gezeigt werden. (RH 470) Das dazu aufgesagte Gedicht in Hexametern soll regelrecht die erhabne „Empfindung“ lehren, was als Satire auf die antikisierende Gebärde des Klassizismus zu lesen ist. Wo die Erzählerrede hingegen auf Hartknopf selbst und seinen gleichgestimmten Emeritus zurückkommt, wird auch bezüglich des erhabenen Raums der satirische Ton wieder aufgelöst, der Nebel verzieht sich „und die Sonne glänzte wieder in aller Klarheit“ (RH 472). Die mehr kosmosfrömmige als pietistische Zeichnung dieser beiden Figuren zeigt an dieser Stelle, dass von einer generellen, vor allem die psychische Innerlichkeit ausstattenden Subjektivierung der Stimmung in der Literatur entweder nicht oder nur unter der Bedingung die Rede sein kann, dass ihr zumeist eine Objektivierung vorangestellt oder konstitutiv beigeordnet ist. Die Erzählerreflexion entwirft sogar eine Art Stimmungstypologie der Innen-Außen-Verhältnisse. Der auf selbstbezügliche Abgeschlossenheit tendierenden Menschenseele wird „Disharmonie mit der sie umgebenden Natur“ zugeschrieben; „Harmonie“ hingegen derjenigen, die für „alle äußere Veränderungen in der Natur“ strukturell offen ist und sie zugleich als innere Umgestaltung „seines Ichs“ (ebd.) erfährt. Der erstere Typus einer vom Autonomieanspruch beherrschten Subjektkonstitution ist durch eine „ewige Dissonanz aller äußern Umstände mit seinen innern Wünschen und Bestrebungen“ (ebd.) gekennzeichnet. Der zweite Typus einer vom „eingreifen[den]“ Anderen gestimmten Subjektkonstitution ist durch seine „harmonisch“ (ebd.) gefügte Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen gekennzeichnet. Hier erscheinen die Welt und das Ich nicht in ihrer neuzeitlich dichotomischem Verdopplung von Dasein, sondern als ein Stimmungsphänomen auf der Schwelle zwischen Disposition und Berührung. Die Erzählerrede verwendet hier die mechanizistische L’homme-maschine-Metaphorik französischer Provenienz, wenn sie Hartknopfs Seele mit einer „richtig gestellte[n] Uhr“ (ebd.) vergleicht. Ihr Lauf ist „mit dem Lauf der Sonne, mit Abend und Morgen, mit der Abwechslung der Jahreszeiten, mit Sturm und Regen sowohl, als mit dem Säuseln des Westwindes“ (ebd.) synchronisiert. Wandel und Vielfalt der meteorologischen Phänomene sowie die Zyklik der tages- und jahreszeitlichen Vorgänge haben ihre genauen Stimmungskorrespondenzen in seelischen Phänomenen und Vorgängen. Innere und äußere Bewegungen treffen bei den neuzeitlichen Agenten der antiken Sphärenharmonie passgenau in einem „Punkt zusammen“ (ebd.). Für das Zusammenspiel von Disposition und Berührung verwendet der Erzähler die musikalische Metaphorik des richtigen Gestimmtseins von Instrumenten und des Anschlagens des richtigen Tons: „sie gaben wie nicht zu schlaff und nicht zu stark gespannte Saiten in dem großen Konzert der Schöpfung immer den rechten Ton an – [...] sie waren in dem großen Zusammenhang der Dinge, und in sich selbst gesichert“ (ebd.). Anders als die optische Metaphorik der Spiegelung, die allenfalls ins Imaginä-

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re einer spekularen Gegenspiegelung ausweichen kann, schließt die akustische Metaphorik des Ein- und Zusammenstimmens die sich verselbständigende Wechselbeziehung der Relate schon ein. Ausgeschlossen bleibt so die Möglichkeit der projektiven Selbstbespiegelung im anderen, deren Preis nicht nur die Verkennung des Anderen selbst ist, sondern auch ein Abgleiten des Selbst in eine Identifikation des Immersich-gleichen. Bewahrt vor solcher relationalen Immanenz, die hier satirisch an der Figur Hagebuck durch den diesem die Sonne verdeckenden Nebel metaphorisiert ist, kann nur bleiben, wer sich als Glied in der ‚goldenen Kette der Wesen‘12 als Effekt der Verbundenheit mit allen anderen Gliedern erfährt. Gemäß dem sphärenharmonischen Resonanzmodell ist die Identität des Ich nur dann und wirklich „gesichert“, wenn sie sich aus der metonymischen Differenz von Teil und Ganzem erfährt. Sich als Teil eines Ganzen erfahren hat seine epistemologische Entsprechung in der Erkenntnis von Einzelnem gegenüber Allgemeinem und erfolgt wie diese nicht erst aus dem Zusammenspiel mit Verstand und Einbildungskraft, sondern eigenständig über die sinnliche Wahrnehmung. Demgegenüber wird das „große Ganze“ (RH 478) – sei es als großer Zusammenhang der Dinge, als große Natur oder als kosmische Sphärenharmonie, sei es als gestaltpsychologischer Hintergrund zur Figur oder als gestaltungsästhetische Bezugsgröße – über Momente der Vernunft, der Imagination bzw. der Abstraktion hergestellt. Dies zeigt sich vorzugsweise in den Reflexionen des Erzählers über Kunstwerke oder „die großen Begriffe von Welt, Gott, Leben, Dasein, usw.“, wie es im Anton Reiser heißt, aber auch in denen von Hartknopf und dem Emeritus. (RH 258; 478 et passim) Letztere werden an dieser Stelle als kongeniale Lieblinge „der großen Natur“ präsentiert. Sie nehmen sich als mikrokosmische Teile über ihre Stimmung wahr, während das makrokosmische Ganze als der Weltzusammenhang vorgestellt wird, in dem sie dann auch als Selbst „gesichert“ sind. Das Primat der Natur als kosmo-anthropologische Matrix des Ganzen wird schließlich durch den schon bei Herder gängigen Vergleich mit der terrestrisch-intrauterinen Früherfahrung von Geborgenheit konkretisiert, indem das Verhältnis von spürbarer Seelenstimmung und vorgestellter Sphärenharmonie ins Bild eines seligen ‚Schlummerns‘ gefasst wird, das sich interpunktiv zu Gedanken(strichen) verlängert: „so sicher auf dem Schoß und in dem Schoß der Erde, wie das Kind im Schoß der Mutter – –“. (RH 472) Gegenüber dieser integralen Konsonanz von Selbstgefühl und Welterfahrung, die mit seit der Antike tradierten Topoi (catena aurea, Äolsharfe, „Schoß der Erde“) dargestellt wird, ist die „gänzliche Dissonanz“ im humoristischen Gegenspiel um die Hagebuck-Figur mit dem Rationalitätstypus gewaltsamer Naturbeherrschung („Herr“ der „Natur“ sein, Pudel tot treten) in der Neuzeit verbunden. (RH 472f.) Das metaphysische Pathos der Erhabenheit des Ganzen, wie es auf dem Hügel und in den Gesprächen auf ihm immer wieder empfunden und besprochen wird, ist indes nicht auf das ästhetische Gefühl des Raums beschränkt. Wie dieses selbst ist es mit Erfahrungen von „Zeit“ verbunden, von Dauer und Vergänglichkeit, mit dem Einspielen von tages- und jahreszeitlichen Rhythmen sowie mit dadurch erst ermög12 Die antike Metapher für den bei Moritz immer wieder genannten „großen Zusammenhang der Dinge“, der als Topos im 18. Jahrhundert vor allem durch die Philosophie von Leibniz und Wolff tradiert worden ist.

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lichten emotionalen Bindungen: „wodurch wächst einem denn eine Sache ans Herz, als durch die Zeit?“ (RH 474) Die Zeiterfahrung selbst, d.h. die durch sie bewirkte Subjektivierung von Existenz, verweist auf die Vorgängigkeit eines Ganzen, das nicht nur (gestaltpsychologisch) mehr ist als die Summe seiner Teile, sondern auch (existenzialontologisch) früher als diese. Gemäß der metonymischen Figur des pars pro toto (Synekdoche) verweist in der existenzialen Pädagogik des ParadiesGastwirts Knapp jeder „Augenblick“ auf das Gesamt der Lebenszeit. Dadurch wird er zum Quellpunkt von Bedeutsamkeit überhaupt und die Antizipation der Ganzheit des Lebens von seinem imaginierten Ende her avanciert zur Figur existenzieller Sinnstiftung. Wem die Empfindung der „Kürze des Lebens“ habituell geworden ist, dem wird „jeder Tag, jede Stunde, ein Ganzes“. (RH 483f.) Zwar ist die dieses Kapitel einer pädagogisch empfohlenen Lehre einer „Lebenskunst“ (ebd.) aus dem dialektischen Geiste des Todes nicht ohne Komik und humoristische Anklänge. Jedoch sind diese beim Gastwirt Knapp wie auch bei Hartknopf und dem Erzähler selbst in eine Art Aufklärungsmelancholie soweit zurückgenommen, dass sich keine satirischen Spitzen durch die Textoberfläche drücken. Knapps konsequente Erziehung zum Tode ist freilich nicht von materialistischen, nihilistischen oder depressiven Zügen bestimmt, wie sie die ‚schwarze‘ Melancholie im 18. Jahrhundert und insbesondere auch die (Selbst-)Diagnose „Seelenlähmung“ im Sinne der acedia im Anton Reiser prägen (RH 318, vgl. „Art von wirklicher Melancholie“ 308, auch 235f., 238, 279, 310 312f., 317 et passim). Hingegen zielt sie als Erziehung zum „Tode in der ganzen Natur“ über die Schärfung der Wahrnehmung von Vergänglichkeitssignalen („verwelkten Grashalm“, „verdorrten Eichbaum“, „zertretenen Wurm“, menschliche Knochen) darauf ab, ein pantheistisch inspiriertes Kohäsionsbewusstsein mit einem transzendenten Sinn für Zeitlichkeit im Heranwachsenden zu erzeugen. (RH 483, vgl. 485) So lernt Knapps Sohn in dem „seiner Seele fest eingeprägten Bilde des Todes“ den Sinn von Zeit als ontologischen Ursprung von jeglicher Bedeutsamkeit seines Lebens zu entziffern. Der thanatologischen „Lehre“ seines Vaters „verdankt er den sichern und ruhigen Genuß, aller der Freuden seines Lebens – dies ist es allein, was ihn standhaft in Gefahren, mutig und unerschrocken [...] gemacht hat [...], warum er auch nie eine Viertelstunde lang den quälenden Überdruß der Langeweile schmeckte – Wie kann ein Mensch Langeweile haben, dem der Tod zur Seite steht?“ (Ebd.)

Aus heutiger Perspektive, die sich von Heideggers Analytik der Langeweile als Ausgangspunkt für die philosophische Auffassung von „Stimmung als Grundweise des Daseins“ (GdM 99, 111-260) einstellt, erscheint Moritz Einbezug der Langeweile in die Erzählerreflexionen über die Leben-Tod-Dialektik bemerkenswert modern. Zugleich ist zu bemerken, dass diese existenziale Langeweile auch bei Moritz nicht ästhetisch konfiguriert oder gar erzählerisch entfaltet wird. Sie ist nicht Gegenstand genuin poetischer Darstellung, sondern Gegenstand einer dem Essayistischen nahe kommenden Reflexion, freilich auch gerade darin wiederum ‚modern‘. Sieht man von – das philosophische Seinsdenken des 20. Jahrhunderts mehr begleitenden als es prägenden – Momenten der ‚Existenzfreude‘ ab, so fällt demgegenüber bei Moritz literarischer Thematisierung der Zeitlichkeit und Endlichkeit menschlichen Lebens die ihnen inhärente Produktivität heller bis heiterer Affekte auf. Nicht „Mangel an

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Selbstgefühl“, von dem Anton Reisers Lebensproblem immer wieder eingeholt wird (RH 319), sondern eine sich aus dem „wollustreiche[n] Gedankens des Aufhörens“ selbst generierende „Fülle“ des Lebens steht im Zentrum von Hartknopfs PädagogikUtopie. (RH 483) Im übrigen gibt es auch im insgesamt ‚dunkleren‘ Anton Reiser immer wieder Ansatzpunkte zu Produktivität in der „tiefe[n] Schwermut“ selbst (RH 187, vgl. 231: „selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen höhern Schwung“). Gegen die alle Gefühlsempfindung und Stimmungshebung annihilierende Langeweile immunisiert der „feste Gedanke an den Tod“, insofern damit die Gewissheit „diese[r] einzige[n] große[n] Veränderung“ gegenwärtig gehalten wird. (RH 483) An der Stelle der in Sinnleere versinkenden Zeitempfindung samt Empfindung von Empfindungslosigkeit (Langeweile) erhebt sich die Bedeutungsfülle eines sich grenzenlos weitenden Zeitgefühls, das „den Genuß jeder Freude verdoppelte, und jeden Kummer [...] versüßte“ (ebd.). Vom nüchternen Ernst, mit dem der Daseinsanalytiker die existenziale Bewegung des Vorlaufens in den Tod an den Sinn von Sein zurückbindet, unterscheidet sich hier die euphorische Heiterkeit eines aufklärerischen Erziehungsidealisten. Dessen sich auch in der Stimmungslage vom Barock herleitendes Motto „memento mori“ betont anstelle der existenzialen Vertiefung die Steigerungsmöglichkeiten des Lebens, die sich aus der permanenten Verdichtung der „ganze[n] Lebenskraft [...] in den gegenwärtigen Augenblick“ ergeben. (RH 483f., vgl. 503) Mit solcher dem habitualisierten Todesgedanken entlockten „Wonne des Lebens“ kennt Knapps Sohn auch keine Angst vor dem „Verlust der Zeit“ (ebd.). Das von Augenblick zu Augenblick stabil gehaltene Bewusstsein der Vergänglichkeit und Endlichkeit hemmt nicht etwa seinen „Lebensstrom“ oder seine Freude auf diesem hinunterzutreiben. (RH 484) Vielmehr stimuliert das zeitbewusste Vergehen der Tage, Wochen und Jahre eine Grundstimmung, in der der „Reiz des Lebens“ frisch bleibt und „alles in unaufhörlicher Bewegung“ (ebd.) schwingt. Dieses teilweise als Aufruf zu besserer Erziehung im Namen eines augenblicksbewussten Lebens stilisierte Kapitel („O pflanzet den Gedanken an den Tod fest in die jungen Seelen, ihr Pädagogen unsrer Zeiten...“) schwingt sich schließlich seinerseits auf eine poetologische Meta-Ebene, indem es sein eigenes Thema gleichnishaft zum Gestaltungsprinzip des Hartknopf-Romans erhebt. Hierzu wird in einer Art philosophisch-poetischem Resümee zunächst der Todesgedanke in einem doppelten Schritt zur Lebensstimmung umgewandelt: „So wie ohne Tod kein Leben ist, so ist ohne wahres Gefühl des Todes auch kein wahres Gefühl des Lebens – aus der dunkeln Mitternacht bricht das Morgenrot hervor – und aus dem Schatten der Nacht bildet sich der schöne Tag –“ (ebd.). Erst wird hier die voraussetzungslogische Denkfigur (ohne Tod kein Leben) auf eine wahrheitsfähige Ebene von Existenzgefühl übergesetzt. Von dieser hebt dann in einem weiteren Schritt der Versinnlichung – zwischen drei Gedankenstrichen – eine Gleichnisrede an, die mithilfe von konventioneller Metaphorik (dunkel/hell, Nacht/Tag, Schatten/Licht) sowie den spirituellen Topoi „Mitternacht“ und „Morgenrot“ aus wahren Gefühlen poetische Stimmungen macht. In diesen ist das spekulative Potenzial der Todesmetapher13 einschließlich der Sub13 Siehe zur kulturwissenschaftlichen Entfaltung der metaphorischen Bedeutungsvielfalt von „Tod“ Macho 1987. Die dort philosophisch explizit gemachte Dimension des ‚sozialen To-

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jektivierung von dynamischer Komplementarität zu Wahrnehmungsphänomenen objektiviert, deren Bewegung ihren Ausgang in der zyklischen Zeit der Außenwelt hat. Das pädagogische „Werk“ eines perpetuierten Augenblicksbewusstseins wird vom Erzähler nun in Analogie zu einem „Werk der Kunst“ (ebd.) gesetzt. Ein im Zeichen von Sterblichkeit stets aktuell gelingendes Leben könne im Unterschied zu sporadisch gelungenen Tagen kein „Werk des Zufalls“ sein: „Die Lebenskunst muß durch alle Stunden und Minuten durchgehen, wie die Regel durch das Werk.“ (Ebd.) „Lebenskunst“ ist zuvor als die Praxis einer durchzuhaltenden Grundstimmung entworfen worden, deren Sequenzstruktur kontemplativ verdichteter Augenblicke auf todesökonomischer Reflexion beruht. Implizit wird also das Kunstwerk seinerseits von einer Grundstimmung durchzogen vorgestellt. Der Erzähler spricht von „Regel“, die indes analog zur Vergegenwärtigungsfunktion des memento-mori in der ars viviendi wie ein Strukturierungsprinzip des Kunstwerks fungiert, von dem dasselbe generiert und zusammengehalten wird. Hier deutet sich in der teils reflexiven teils figurativen Zwittergestalt des allegorischen Romans eine Nähe von poetologisch fundierter Stimmung und Moritz ästhetiktheoretischen Schriften an. Denn die Stimmung bietet unserer Lesart gemäß jene integrale Perspektive, die dort unter dem methodischen Begriff Gesichtspunkt kunstwerkinterne und -externe Aspekte zusammenschaut. Nach der Bestimmung des Zwecks einer Theorie der schönen Kunst soll doch „jedes schöne Kunstwerk, als ein für sich bestehendes Ganze zu betrachten [sein. Dafür] ist es nöthig, in dem Werke selbst den Gesichtspunkt aufzufinden, wodurch alles Einzelne sich erst in seiner nothwendigen Beziehung auf das Ganze darstellt, und wodurch es uns erst einleuchtet, daß in dem Werke weder etwas überflüssig sey, noch etwas mangle.“ (SzÄ 122)

Auch wenn letzteres, eine Art proportionsökonomische Perfektion, wohl nicht auf den Hartknopf-Roman zutrifft, so wird bei dessen Lektüre am Leitfaden der Stimmung doch das theoretisch idealisierte Verhältnis von Einzelnem und Ganzem darin besser nachvollziehbar. Zum einen finden die inhaltlichen Aspekte, sowohl die beschriebenen der Figurenperspektive als auch die thematisierten der Erzählerperspektive, einen gemeinsamen Fluchtpunkt in der Stimmung als einem Phänomen, das metaphysische und emotionale, objektive und subjektive, außenweltliche und innerpsychische Momente vereint. Zum anderen bildet eben diese Konvergenz von Stimmungsmomenten die formale Basis der Erzählkonstruktion wie wir sie oben besprochen haben. Danach wird die Erzählperspektive eingangs als eine solche geklärt, deren Einstellung dem Blick des Helden selbst zurück auf den abgeschlossenen Lebensverlauf ähnelt, also vom imaginären Standpunkt seines antizipierten Todes erfolgt. Dies ist ein Effekt der Beschreibung der empfindsamen Intimität zwischen Erzähler und Held, die auf den ersten Seiten bis zur Suggestion der Identität der beiden heranreicht. Diese narrativ inszenierte Erinnerung des Lebens als Ganzes nun ist die Stimmung als formaler Gesichtspunkt, der den Roman seinerseits als das Ganze und damit des‘ findet in Moritz Anton Reiser ihre literarische Präfiguration, die aber ihrerseits die Darstellung des sozialen Todes durch psychologische Einsichten diskursiv flankiert. (Vgl. RH 333ff.)

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poetologisch in den Blick rückt, zu dem „alles Einzelne“ an inhaltlicher Stimmungsdarstellung und -reflexion in einer gewissermaßen „nothwendigen Beziehung“ steht. Obendrein wird das „vollendete Ganze“ (RH 496) auch noch poetologisch reflektiert, indem es erzählerisch zum inhaltlichen Gegenstand dieses „Einzelnen“ gemacht wird. In den erzählten Gesprächen und Erinnerungen an sie oszilliert die Gestalt des Ganzen zwischen metaphysischen (Sphärenharmonie, „unendliches Weltgebäude“, „Lichtmeer“, RH 494, auch: Himmel, catena aurea) und psychologischen Ansichten, zwischen „den innersten Gedanken in unsrer Seele“ und dem sicheren, festen Gefühl von „Dasein [...] in dieser großen Kette“. (RH 496) Nicht nur poetologisch, auch thematisch also wird das Lebensganze sowohl in seiner inneren Differenziertheit als auch in seinem äußeren Zusammenhang durch Stimmung erfasst. Ihr Thema wird am Romanende im ‚Lied an die Weisheit‘ im persönlichen Leben gefunden, das seine Ordnung und sein Maß in „Des simplen Ganzen der Natur“ (RH 512) hat. Dieses Verstehen des Lebens in Entsprechung zum Naturganzen erfolgt indes durch das klangästhetische Medium des Saitenspiels, das der historischen Stimmungssemantik seit der Sphärenharmonie zugrunde liegt. Bei Moritz aber, in Literatur also, ist es die poetische Vertextung dieser metaphysischen Musikidee in lyrischer Form, die in das Romanexperiment des Hartknopf integriert wird. Die mittlere Strophe des 7strophigen Liedes summiert die Weisheit, die das Leben als Stimmung präsentiert: „Mein Leben sei ein steter sanfter Friede / Und Wohlklang, wie das Saitenspiel! / Nie meine Hand zum Bau des Tempels müde / Vollendung meiner Arbeit Ziel!“ (Ebd.) Stimmung wird hier wie ein Jahrhundert später bei Dilthey zum Medium eines Verstehens, das über die lebensphilosophische Figur des Lebensganzen auf einen Typus von Bedeutung zielt, der nicht semantisch allein an Sprache gebunden ist (engl. meaning), sondern strukturell vom Konnex zwischem subjektivem und objektivem Geist abhängt (engl. relevance, significance).14 Darüber hinaus rückt im Hartknopf die Stimmung implizit in die historische Position eines Verbindungsgliedes zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik. Sie ist auf der (Inhalts-)Ebene des Dargestellten der phänomenale Grundton der um psychokosmische Ganzheit kreisenden Gespräche über Leben und Tod sowie Ausdruckmedium der dabei hervortretenden Gefühle, deren Mit- oder Nachvollzug dem Leser angeboten und erzählerisch nahegelegt wird. Zum einen steht Stimmung also im Zentrum einer Ästhetik, in der das Naturkonzept vom ‚ganzen Menschen‘ einschließlich dessen metaphysische Raumphantasien mit der psychologischen Wirkung von Darstellungen empfindsamer Sympathie und von Gefühlausdruck verbunden ist. Zum anderen wird diese Verbindung einer anthropologischen mit einer ästhetischen Vorstellung in eine Form literarischer Darstellung gebracht, in der die Erzählerreflexion die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Kunst als Modell eines besseren Lebens lenkt, das namentlich eingedenk des Todes sich seiner ursprunghaften Zeitlichkeit bewusst bleibt. Nicht von außen gesetzte oder traditionsgemäß verbindliche „Regeln“, sondern die innere Gesetzmäßigkeit und ihre vom Genie garantierte Originalität qualifizieren die Kunst zur Steigerung des Lebens und zur Vergegenwärtigung jener anthropologisch-ästhe14 Siehe zur Bedeutungsganzheit des Lebens in Verbindung mit Tod und Zeitlichkeit in Diltheys Schriften teils mit, teils ohne Bezug zur Dichtung GS VII 73, 140, 325, 233, 238, VI 313ff., EuD 126f. et passim.

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tischen Ideenverbindung. Wie oben angesprochen bildet hierbei die Stimmung den hermeneutischen Gesichtspunkt, der auch nach Moritz weniger die richtige Rezeptions- oder Produktionshaltung meint. Vielmehr meint sie den Vereinigungspunkt im Kunstwerk, in dem dessen Darstellungsperspektiven zusammenlaufen wie sich Teile eines Ganzen zueinander notwendig in Beziehung setzen und so den ästhetischen Begriff eines „in sich selbst Vollendeten“ begründen.15 Danach ist auch das literarische Kunstwerk nicht allein der vollendete Ausdruck von genialer Individualität. Zur Objektivierung letzterer kommt die objektive Struktur von Kunst hinzu, die aus dem freien Spiel von stofflichen und formalen Elementen sich bildet.

3. V ON DER K UNSTWERK -L EBEN -ANALOGIE ZUR S ATIRE ÜBER EMPFINDSAME S TIMMUNGSARRANGEMENTS Aus dem Autonomiekonzept von Moritz’ theoretischer Ästhetik ist Kontingenz aus dem schöpferischen Prozess, in dem die Kunst an die Natur und der Künstler an Gott zurückgebunden sind, ebenso ausgeschlossen wie aus dem in sich vollendeten Kunstwerk. Entsprechendes gilt für die Auffassung vom Leben, wie sie der Erzähler von seinem Intimfreund während dessen letzten zwei Lebensjahren durch die „eigentliche Bekanntschaft [ihrer] Seelen“ (RH 491) gelernt hat. In den letzten beiden Kapiteln des Romans – Hartknopfs Gesellenjahre und Meine Zusammenkunft mit Hartknopfen in einem Kartäuserkloster – rückt die Zeit der persönlichen Bekanntschaft des Erzählers mit seinem Helden und dessen existenziell bedeutsame Wirkung auch auf ihn selbst in die Blickpunkt. Die Reflexion von Zeitlichkeit vollzieht sich in Szenen, in denen die Stimmung das Modell für ästhetische Autonomie abgibt. Im Ephemeren zeigt sich hingegen ihr Charakter des ‚wie von selbst‘. Dahinter tritt das Gemachte und Machbare an Stimmungen zurück. Das Poietische der Poetik und mit ihm die Verbindlichkeit tradierter Gattungsformen verlieren ihre definitorische Bedeutung für die Kunst. Diese wird stattdessen vom Aisthetischen der Ästhetik und mit ihm von der Prozesshaftigkeit eines poetologisch Formierenden bestimmt. Wir wollen im Folgenden zeigen, wie die Stimmungsszenen, von denen der Erzähler nun ebenso biographisch wie autobiographisch berichtet, ästhetische Autonomie modellieren und dadurch sowohl für die textuelle Organisation bis zum Ende des Romans als auch für dessen thematische Entwicklung entscheidend bleiben. Dies ist mit Blick auf die bisherige Aufteilung in das von Satire freigehaltene Reflexionsund Beziehungsfeld Hartknopf/Erzähler einerseits, und dem von Satire durchsetzten Darstellungs- und Themenbereich Hartknopf/weitere Figuren interessant. Denn nun fallen diese beiden Erzählfelder ineins, das sympathetische Verhältnis Hartknopf/ Erzähler wird zum erzählerischen Gegenstand, die Erzählerreflexion selbstbezüglich und das thematische Leben des anderen wird von der Darstellung von dessen Einfluss auf das eigene Leben überlagert. Das zuvor auf andere Figuren („die Hage-

15 Wir werden weiter unten noch auf Moritz zeitgleich mit seinen Romanen entstandene Schrift Über den Begriff des in sich selbst Vollendeten (1785) zurückkommen.

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bucks“, RH 507) verteilte Satirische wandelt sich zu einem teilweise humoristischen Blick des Erzählers auf sich selbst, während es beim Held zur offenen Kritik an dessen künstlichen Arrangements von Stimmungen umschlägt. Wo diese nicht von selbst entstehen, sondern als Form verallgemeinerter Empfindsamkeit subjektiviert sind, haben sie ihren ästhetischen Eigensinn verloren. Zu den empfindsamen Stimmungsarrangements innerhalb der Ich-Erzählerrede gehören die konventionellen Komponenten Hügel bzw. „Anhöhe“ mit entsprechend panoramatischem oder doch weitem Blick („schönen Prospekt“), Wald, Land-StadtDifferenz, „Gärten“, die Erwartung des Sonnenunter- oder -aufgangs, oder aber die heiligen Schauer einer Vollmondnacht. (RH 492f.) Hinzu kommt als Stimmungsmotiv dieser Zeit die sozial- und mediengeschichtlich aufschlussreiche Unverzichtbarkeit des Lesens im Freien. Es knüpft – wie auch die Idolisierung des Alttestamentlich-Patriarchalischen – explizit an Werther an, auf den immer wieder als (noch) authentischen Stimmungsagenten Bezug genommen wird. (Vgl. auch im Reiser RH 423, 427 et passim) Implizit auf Werther verweisen bei der nun zu analysierenden Szene überdies, dass die Lektüre „in Klopstocks Messiade“ besteht, der Ich-Erzähler sich wie in Werthers Maitagen „im Grase hingestreckt“ erinnert und an Hartknopfs „Sonntagsrock“ (ebd.) die Farben Blau und Gelb – die Farben der Werther-Mode – bemerkt werden. Während Werthers Stimmungen in der Natur samt ihren enthusiastischen Aufschwüngen zum anderen von Sorgen über seinen Kunstdilettantismus und von der Materialität ästhetischer Ausdrucksmedien (z.B. das Papier im Brief vom 10. Mai) allenfalls arretiert werden, so wird im Hartknopf die epigonale Stimmungsszene vom Helden schließlich selbst dekonstruiert. Die empfindsame Überfülle an Affekten, mit der die Stimmungssituationen rhetorisch arrangiert werden, lässt Moritz von seinem Protagonisten als eine Deckfigur melancholischer Leere enthüllen, wie sie im Zentrum der Diskussion um Allegorie von Benjamin bis de Man und Kristeva steht. Sobald der Ich-Erzähler bei Sonnenuntergang mit dem in seiner Hand drapierten Klopstock von Hartknopfs auratischer „Gegenwart“ erreicht wird, spürt er die mediale Inszeniertheit seiner Lage als etwas Beschämendes: „Und ich machte schnell mein Buch zu, und wollte es einstecken, denn es war mir, als ob ich mich ich weiß nicht aus was vor Ursachen, vor ihm schämte. – Ich fühlte mich auf einmal so klein, so schwach in seiner Gegenwart – da ich mir noch kurz vorher gar nicht so vorgekommen war – sein Blick durchdrang mein Innerstes, und schlug mich nieder.“ (RH 493)

Das unter dem Blick des Freundes mit einem Mal als Kulissenzauber empfundene Stimmungserleben wird ausgehend von seinen Requisiten (Buch) bis hinein in seine psychologischen Mechanismen durchschaut, insofern die Erfahrung räumlicher Weite von Größenselbstphantasien überformt wurde. Was zuvor in Form der Erzählerreflexionen eine narrative Metaebene bildete, erscheint nun auf der Ebene der Darstellung als deren Gegenstand. Erzählt wird die Reflexion selbst, insofern sie nämlich aus dem Gedanken- und Gefühlsaustausch mit Hartknopf resultiert. Dabei geht es nicht um satirische Verzerrung, humoristische Ridikülisierung oder zynisches Zerstören von sentimentaler Stimmung, sondern um deren psychologische ‚Entschlackung‘ zugunsten der phänomenologischen Freilegung ihrer naturästhetischen Grundsituation:

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„Aber heilig soll mir dieser Abend sein, so lang ich lebe – Das Gespräch lenkte sich von der Schönheit des Abends, bald auf die Schönheit und Aufrichtigkeit der Seele, die einen solchen Abend nur allein empfinden kann, wenn sie von allden Schlacken der Eitelkeit und Selbsttäuschung gesäubert, die schöne Natur wie ein reiner und heller Spiegel in sich darstellt.“ (Ebd.)

Auch wenn hier mit der Natur-Spiegel-Metaphorik noch einmal intertextuell auf den Brief vom 10. Mai im Werther angespielt wird, geht Moritz über die Selbstreflexivität bei Goethe weit hinaus. Denn die restlichen Seiten des Romans präsentieren in nuce eine Art ‚Kritik der reinen Stimmung‘, indem sie gewissermaßen die ästhetischen Bedingungen des Gelingens von Stimmung aus Hartknopfs Versuch herleiten, „die Musik zur eigentlichen Sprache der Empfindungen zu machen“. (RH 498) Vorbereitet wird dies durch die auf das obige Zitat folgende Analyse des Gemachten von poetischen Stimmungen und dem Verwerfen alles Affektierten, Gekünstelten oder Verfälschten an ihnen. Diese sozialisierten Subjektivierungsformen hatte Moritz im Unterschied zum Werther an den so genannten Wertheriaden kennengelernt und mit Anton Reiser autobiographisch und psychologisch durchleuchtet. Hier nun wird die objektive Stimmung, nämlich dass es „ja wohl recht schön am Steiger [war] die Sonne untergehen zu sehen“ als psychologische Deckfigur einer subjektiven, bewusst erzielten Stimmung analysiert. Das Wissen um empfindsame Arrangements von Gefühlen in der Landschaft ist bereits konventionell geworden, so dass es dem Empfinden selbst narzisstisch im Wege stehen kann. Statt die „Szene“ authentisch genießen zu können, musste sie „gleichsam herbeigezwungen werden, bloß um denn nachher, auch nur zu sich selber, sagen zu können: ich habe am Steiger die Sonne untergehen sehen, und Klopstocks Messiade dabei gelesen“. (RH 493) Der mediengeschichtlich vom massenhaften Bücherlesen ermöglichte Reflexionsfortschritt wird an dieser Stelle bereits als virtuelle Regression durchschaut. Damit legt Hartknopf das im Werther-Fieber manifeste, aber zu einem großen Teil noch unkritisch rezipierte Potenzial zu affektiver Selbstbespiegelung offen und versucht doch zwischen dem Manierierten und Authentischen zu unterscheiden. Während letzteres Hartknopf repräsentiert so Ersteres der Ich-Erzähler, der von jenem lernt, sich selbst als stimmungsästhetischen Rollenspieler zu entlarven: „O unbegreifliche Eitelkeit! nicht genug daß du andre durch falschen Schimmer zu täuschen suchst, willst du vor dir selbst mit Zwang eine dir nicht angemessene Rolle spielen – Die Sonne mit dem Buche in der Hand untergehen zu sehen, ist dir Arbeit nicht Genuß – Du machst die Szene, sie fügt sich nicht von selbst; deine Seele ist nicht aufrichtig, deine Empfindungen sind gekünstelt, der Abdruck der schönen Natur in dir ist verfälscht!“. (RH 493).

Der hier kritisch vollzogene Übergang von Darstellung zur Reflexion von literarischer Stimmungsinszenierung dient im Folgenden zur Wiederaufnahme der Darstellung einer nunmehr selbstgeläuterten Stimmung. Denn die moralische Kritik am Stimmungs-‚Selfie‘ geht über in eine Beschreibung des zeitgleich mit der Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts zur bürgerlichen Mode werdenden Spaziergangs. Hält der Spaziergänger doch die für ästhetische Empfindungsreflexion nötige Distanz („angenehm“), während er sich so der ‚landschaftlich‘ gezähmten Natur aussetzt. Diese erscheint nun wieder in einer begehbaren Form zwischen sich ergießen-

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den „Bächen“, „Gärten und Gebüschen“ und bereitet das folgende Treffen bei „Vollmond“ zur „Mitternacht“ (ebd.) vor. Dabei nun wird deutlicher, inwiefern Hartknopf Stimmung auf authentische Weise figuriert, dies also nicht nur kraft seines Verwerfens der zwanghaft drapierten Stimmungsszenen von „empfindsamen Nachtwandler[n]“ kann. Ihm wird vom Erzähler-Freund naturhafte Ursprünglichkeit in den Verbindungen von Gefühl und Gedanke, Wissen und Mitteilung, Empfinden und Sprechen zugeschrieben. Möglich aber ist dies nur als Improvisation, nicht als Lehre. Die vom Allgemeinen getragenen Formen des Sprechens, Fühlens und Handelns müssen durchbrochen und zugunsten des Offen-Prozeduralen individueller Vollzüge hinter sich gelassen werden. Erst diese weniger an „Youngs Nachtgedanken“ und mehr an Herders ‚dunkle Kraft‘ erinnernde Ursprünglichkeit qualifiziert Hartknopf zum Agenten einer echten, natürlichen und als solcher vorsubjektiv integrierten Stimmung. Er ist kein Subjekt von Stimmung, insofern Subjektivität Bewusstseinskontrolle und Handlungsreflexion einschließen. Worin diese ursprüngliche oder echte Stimmung ihrerseits besteht, wird zunächst durch semantische Anleihen beim antiken Kosmosdenken gezeigt. In der Charakterisierung der Hauptfigur wird die aufklärerische Vorstellung vom deistischen Schöpfergott mit der pythagoreisch-musikalischen von der Harmonie der Sphären verschmolzen. Hartknopf habe nicht etwa eine unwissenschaftliche Ganzheitsidee im Sinne eines Amalgams aus neuplatonischem Geist und kosmischer Allnatur, sondern „sich wirklich astronomische Kenntnisse erworben“ (RH 494). Seine „Astronomie“ war als „ein mächtiges Eingreifen der Gedanken in den großen Weltplan“ eine spekulative Extension „von unsern Sinnen“ (ebd.). Indessen wird das Erhabenheitspathos von Hartknopfs panpsychistischem Gedankengut bei seiner charismatisch-bescheidenen Art zu sprechen durch „demütige Zweifel“ gegengesteuert, so dass sein Zuhörer schließlich „in jener Nacht [...] fest und unerschütterlich von der Fortdauer [s]eines Geistes überzeugt“ war. (RH 495) Denn in Hartknopfs Anti-Lehre von der Stimmung eines eigendynamisch „vollendete[n] Ganze[n]“ mussten „Tod und Leben“ wie alle gegenläufigen Differenzen (Nacht/Tag, Finsternis/Licht, Ruhe/Bewegung) „in sanfter Mischung sich ineinander verschwimmen“ (ebd.). Nicht nur gedanklich in Richtung eines dialektischen Einen, auch wahrnehmend („Blick“) „in schöne Harmonie“ sind kosmo-ontologische (Himmel/Erde) sowie raum- und zeitphänomenologische (Dort/Hier, Gegenwart/ Zukunft) Gegensätze „miteinander zu vereinen. –“ (RH 495f.) Das mathematischmusikalische Ideal der pythagoreischen Sphärenharmonie wird um wahrnehmungssinnliche Momente von Stimmung ergänzt, wie es im griechischen Wort für Stimmung, der tönenden Harmonia mitklingt. Somit wird ein metaphysisches Kosmogoniekonzept von Hartknopf zu einer Idee und Praxis von Kunst entfaltet, die den Leib und die Musik, das Gefühl und die Sprache umfasst. Darin lässt sich mit Krause eine Modernität im Sinne einer „ästhetische[n] Anthropodizee der Aufklärung“ erkennen, die „das Ästhetische zu einer Autorität der Bewahrung innerweltlicher Ansprüche aufwertet, deren Legitimität reflexiv uneinholbar ist.“ (Krause 2002, S. 22) Konkret auf Hartknopfs Praktiken bezogen stellt bereits Schrimpf (1968, S. 67) fest, dass der ihnen „zugrunde liegende Kunstbegriff von dem traditionalen Gedanken der Sphärenharmonie abhängig“ ist. Moritz weise darauf hin, „indem er durch seinen Helden Musik und Astronomie in enge Verbindung bringt“ (ebd.). Wozu aber lässt der ästhe-

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tiktheoretisch avancierte Moritz seinen Helden an diesen ‚traditionalen Gedanken der Sphärenharmonie‘ anschließen?

4. K RITIK AN DER AUFKLÄRUNG UND R ÜCKGRIFF AUF DIE ANTIKE Die Idee einer Remusikalisierung der Weltbeziehung

Nimmt man zur Moritzforschung die ideen- und begriffsgeschichtlichen Arbeiten zur Bedeutungsentwicklung von Musik und Stimmung hinzu (Spitzer 1963; Hollander 1961; Wolf 1998, 1999), dann erscheint die freimaurerische Physiognomie der Hartknopf-Figur auf ihre alteuropäischen Züge hin vertieft. Ihre Grundierung im griechischen Denken zeigt sich an der Idee von universeller Musikalität bzw. der Stimmung des kosmo-sphärischen Ganzen. In der Musikalität gehen seit der antiken Sphärenharmonie über die mittelalterliche Weltharmonie die Figuren des Einzelnen (Mensch, Individuum, Ton, Saite) mit solchen des Ganzen (Kosmos, Gesellschaft, Tonfolge, Saiteninstrument) eine analogische, ursprünglich ontologisch gedachte Gesamtverbindung ein. In ihrer Rekonstruktion der historischen Hauptlinien von Spitzers kulturgeschichtlichen Studien zu den französischen Begriffen milieu und ambiance (1942) sowie dem deutschen Begriff Stimmung (1945) arbeitet Jacobs (2013) die strukturellen und semantischen Zusammenhänge mit antiken und mittelalterlichen Konzepten etwa von Raum, Atmosphäre, Sphären- bzw. Weltharmonie, Klima, Himmel, Äther und Luft heraus. Dabei treten auch die in diesen historisch sich wandelnden Konzepten enthaltenden medialen Qualitäten hervor, die zwischen metaphysischen Ganzheitsvorstellungen und innerpsychischen Kohärenzbedürfnissen wirksam sind. In Platons Timaios z.B. garantiert das Naturmedium Luft die atmosphärologische Einheit von Weltseele und Weltkörper und stellt damit das Modell für die entsprechende anthropologische Einheit bereit, die ihrerseits ins Ganze der Sphaera vermittelt ist. Als reines Wahrnehmungsmedium stellt die Luft sich dann bei Cicero dar, wo sie sympathetisch zwischen Mensch und Kosmos, Mikro- und Makrokosmos vermittelt. (Vgl. Jacobs, S. 55ff.) Wie bereits bezeichnend für das aisthetische Denken von Aristoteles16 so ist auch bei Cicero das dem Wahrnehmungsvollzug eigentümliche Erkennen ein der epistemischen Trennung in Subjekt und Objekt vorgängiges Geschehen: „Luft ist nicht das, was wir sehen, sondern das, was ‚mit uns sieht‘, ein geheimnisvolles Fluidum der Erkenntnis.“ (Jacobs 2013, S. 57) Eine solche Erkenntnisweise, die angemessen nur aus einer Transdifferenz des Wahrnehmens verstanden wird, haben wir in unsere mediologische Definition von Stimmung (Kap. A-III.8) aufgenommen. Dadurch lassen sich literarische Darstellungen von Stimmung auch als Verwirklichung einer potenziellen Identitätsdimension von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem miterfassen. Dies ist der Fall vor allem auf den letzten Seiten des deswegen mitunter als mystisch oder freimaurerisch bezeichneten Andreas Hartknopf, wohingegen Moritz Mystisches und das „Freimaurerische“ nur als modische „Einkleidung“ verkannter „Wahrheiten“ aufgefasst wissen wollte. (RH 836) 16 Dazu ausführlich und die über Jahrhunderte der Rezeption entstellten Bedeutungsverhältnisse in Aristoteles’ Werk rekonstruierend und für die Gegenwartsphilosophie zurückgewinnend Welsch 1987.

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Historische Korrespondenzen unserer mediologischen Ausrichtung von Stimmung auf die Literatur stammen aus der griechischen Antike und deren Nachlängen bis in die Gegenwart. Sie finden sich ursprünglich in aisthetischen und sympathetischen An- oder Durchsichten des Raums als Medium (Platons Luft als Weltseele, Aristoteles Welt- und Lichtäther, Klima, Pneuma, Atmosphäre), der als solches nicht nur der den Menschen umgebende Raum ist, sondern zugleich dessen Welt, in und mit der er unausgesetzt interagiert. Bereits im aristotelischen peri-ekhein, das Jacobs (2013, S. 55) mit Spitzer als „die abendländische ‚Uridee‘ der menschlichen Geborgenheit im Kosmos“ bezeichnet, ist die Verzeitlichung anthropologisch-räumlicher Befindlichkeit angelegt. Sie entfaltet sich in der Spiritualisierung des Welterkennens in Antike und Mittelalter über die Öffnung des Universums ins Unendliche und über die Perspektivierung von Geschichtlichkeit und Episteme seit der Neuzeit und wird im ‚In-der-Welt-Sein‘ von Sein und Zeit sowie in Rilkes ‚Weltinnenraum‘ an die existenzial-objektive Raumerfahrung zurückgebunden. Die historische Ausdifferenzierung der psychokulturell ursprünglichen ‚Geborgenheit im Kosmos‘ in unterschiedlich davon abrückende sowie fortträumende Stimmungen, die in kulturgeschichtlicher Perspektive Wandel und Kontinuen der abendländischen Mentalitäten grundieren, braucht hier nicht noch einmal nachgegangen werden. Sie bildet das ideelle Zentrum der ideen- und geistesgeschichtlichen sowie wort- und bedeutungsgeschichtlichen Studien Spitzers zur Kulturanthropologie des Raums (Milieu and Ambiance 1942) und der Stimmung (Classical and Cristian Ideas of World Harmony 1944-45/1963). Diese material- und gedankenreichen Begriffsstudien sind in ihren Grundzügen für die aktuelle Stimmungsforschung von Jacobs (2013, S. 51-95) konzis nachgezeichnet, neu diskutiert und damit substanziell aktualisiert worden. Daran anschließend lässt sich Moritz’ poetischer Rückgriff auf den Sphärenharmoniegedanken, der großenteils von freimaurerischen, biblischen oder schwärmerischen Diskursrequisiten verdeckt ist, besser verstehen – namentlich unter drei Aspekten. Zum Einen historisch als Kritik an der Aufklärung; dann kunsttheoretisch als ästhetische Universalisierung von Musik; schließlich ansatzweise philosophisch als Spinozismus17, aber auch mit Hinweisen auf einen ‚empfindsamen‘ Materialismus (vgl. das Motiv des memento mori, RH 503; die Anspielungen auf Epikur, Lukrez, Bruno, RH 508ff.). Auf die ersten beiden Aspekte werden wir etwas näher eingehen. Zunächst ist die oben besprochene Satire auf die „Kosmopolitenbande“ um die beiden „Weltreformatoren“ Küster und Hagebuck und deren „philanthropinische Art“ (RH 439, 447) einer Kritik an der Aufklärung zuzuordnen, die deren protestantischen Moralismus als pervertierte Tugend aufs Korn nimmt. In der Nachfolge „Luthers“ und unter der reformpädagogischen Ägide von Johann Bernhard Basedows (17241790) „Elementarwerk“ erscheint Küsters „Herr und Meister“ Hagebuck schließlich als „Unmensch“ und damit als satirische Kontrastfigur zu dem seelenrettenden und pädagogisch an „Pestalozzi“ orientierten „Gastwirt Knapp“. (RH 445, 449, 471,

17 Mit dem Spinozismus teilt die Sphärenharmonie die Vorstellung, dass Mensch und Kosmos durch einen nicht-transzendenten Gott verbunden sind, der als Weltseele oder Weltgeist eine alleinheitliche Stimmung erzeugt. Zum spinozistischem Gedankengut bei Moritz siehe Meier 1993.

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478)18 Dieser altruistische Gastwirt und autodidaktische Therapeut Knapp wird als ein „Pädagoge“ gefeiert, dessen Erfolg auf „gewisse Geheimnisse in der Erziehungskunst“ zurückgeht. (RH 482) Gemessen daran seien die „dicke[n] Bände von Erziehungstheorien“ (ebd.) überflüssig, aus denen die Weltreformatoren Wissen, Praktiken und Normen ableiten aber auch ihre Unmenschlichkeit beziehen. Der gelehrte Diskurs über ethisch und gesellschaftspolitisch anspruchsvolle Pädagogik wird stellvertretend für das ‚tintenklecksende Säkulum‘ wenn nicht verworfen, so doch satirisch zurückgesetzt; namentlich gegenüber „Knapps Pädagogik“, die durch ihre Perpetuierung des „memento mori“ auf eine in jedem Augenblick verdichtete Lebensstimmung setzt. (RH 484) Die solcher Erziehung zur ‚Lebenskunst‘ zugrunde liegende Aufklärungsskepsis aber wird von Knapps Vetter Hartknopf in noch verstärktem Maße geteilt. Denn in ihm findet die sphärenharmonische Denktradition ihre Fortsetzung unter den neuzeitlichen Bedingungen der rationalen Auflösung von alleinheitlichen Weltverhältnissen. Überdies gemeinsam ist den Vettern der Lehrer und Freund, der unter dem Namen „Emeritus“ für eben diese Tradition einer kosmogonisch-sympathetischen „Weisheit“ und Stimmungsontologie steht. Wie unsere Analyse der Unterredung zwischen Hartknopf und seinem „alten Lehrer“ (RH 465ff.) gezeigt hat, vertraut letzterer doch im Tod und über diesen hinaus auf das Kontinuum der Lebensbewegung in ihrer kosmischen Extension. Im nicht nur freimaurerisch zu begreifenden „Bund“ (RH 465) mit dem Emeritus figuriert Hartknopf das Fortleben dieser antiken Sphären- und mittelalterlichen Weltharmonie, deren „Niedergang [Spitzer] im Wesentlichen mit der Aufklärung abgeschlossen sieht“ (Jacobs 2013, S. 63). Für diese „allgemeine Verlustgeschichte“ und im besonderen „für das Aussterben des musikalischen Stimmungskonzepts“ verantwortlich zeichnet nach Spitzer – erläutert Jacobs (ebd. 63f.) – „der in der naturwissenschaftlichen Renaissance beginnende und im 18. Jahrhundert kulminierende Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozess.“ Während Spitzer „die Rolle des Protestantismus“ (ebd.) dabei herunterspiele, scheint Moritz diese durchaus mit im Blick zu haben, indem er sie auf die Gegenspieler Hartknopfs verteilt, die für dessen Märtyrertod und finale Resignation nicht nur satirisch verantwortlich sind. Zu diesen Gegnern zählt neben Hagebuck und Küster der „empfindsame und aufgeklärte Prediger“ (RH 485). Mit dem protestantischen Typus des Predigers vor Augen vervollständigt sich Hartknopfs Aufklärungskritik, die nicht nur wie etwa im Göttinger Hainbund auf Vereinseitigungen des Rationalismus gerichtet ist, sondern ebenso auf schwärmerische und melancholische Auswüchse der Empfindsamkeit. (Vgl. RH 392, 408) Wie oben ausgeführt dient die Satire auf die Empfindsamkeit auch der Distinktion einer wahrheitsfähigen Gefühlbeziehung zur Natur und Welt. Diese gleichsam rundum gelingende Weltbeziehung wird durch Hartknopfs Auffassung von Musik als eine Art kosmo-psychisches Regulativ zwischen der Sphärenharmonie und der Seelenstimmung veranschaulicht. Demgegenüber verfällt die Empfindsamkeit einer gewissermaßen selbstaufklärerischen Kritik, indem an ihr das Imaginäre, Überspannte bis Attitüdenhafte kritisiert und sie insgesamt als eine von ‚Affektation‘ verstellte Beziehung zu anderen und anderem ge18 Siehe zur Kritik an dem, was er nach Jonathan Israel „Moderate Enlightenment“ nennt, Niekerk 2013, S. 197.

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kennzeichnet wird. Dies gilt ebenso für Anton Reiser, der gar durch eine zeitkritische „Ausarbeitung über die Empfindsamkeit [...] als Schriftsteller“ (RH 404) reüssieren will. Und dies obwohl er selbst sich vom modischen „Strom hinreißen“ lässt, die angesagten „einsamen Spaziergänge“ mit seinem schwärmerischen Freund unternimmt und wie der Erzähler im Hartknopf in der „Natur“ seinerseits jene „Szene veranstaltet“, wo sie „am Abhange des Steigerwaldes [...] etwa bei Sonnenuntergang die Jünger von Emmaus aus dem Klopstock lasen“. (RH 406f.) Zudem werden im Reiser „gegen das Lächerliche einer affektierten Empfindsamkeit“ Bücher kritisiert, die wie die empfindsamen Reisebeschreibungen oder rührseligen Klostergeschichten jüngst auf dem Buchmarkt Erfolge beim aufgeklärten Bürgertum feierten. 19 Festzuhalten bleibt für Hartknopfs Aufklärungskritik im Zeichen der musikalischen Sphärenharmonie neben dem märtyrerhaften Hochhalten eines zeitgenössisch bereits antiquierten Alleinheitskonzepts also sein Durchschauen und Verwerfen einer „falschen Empfindsamkeit“. (RH 408) Im Unterschied zu Reiser aber erschöpft Hartknopf sich nicht in einer mit sich selber ringenden Ablehnung konventionell arrangierter Naturszenen, in denen die empfindsame Stimmung zum drapierten Setting erstarrt. Er soll als esoterischer Parallelroman zum exoterischen Anton Reiser zeigen, wie die unverfälschte Lebensstimmung eines Individuums aussehen, anfühlen und sich mitteilen könnte, indem sie ihre Souveränität aus dem Gegenhalt in der musikalischen Sphärenharmonie des Kosmos bezieht. Der hierzu notwendig scheinende Rückgriff auf die Antike samt deren ideellen, ästhetischen und subkulturellen Postfigurationen macht den Andreas Hartknopf zum kulturgeschichtlich-imaginativen Gegenstück zum autobiographisch-psychologisch erzählten Roman. Wie darin der Kritik an der ‚falschen‘ das Bild einer ‚echten‘ Empfindsamkeit an die Seite gestellt wird, so wird anstelle der neuzeitlichen Verlustgeschichte, d.h. hier der rationalen Auflösung einer kosmo-kulturellen Kohärenz, der potenzielle Gewinnzug einer Remusikalisierung durch ästhetisches Stimmungserleben aufgezeigt. Die Aufklärungskritik erhält dadurch einen konstruktiven Charakter. Zugleich bewahrt sie ihre Schärfe, insofern das Erzählen von Hartknopfs Leben und Tod im Stile einer imitatio et passio christi auf die Notwendigkeit einer kulturhistorischen Zeitenwende mit einer fundamentalen Umstimmung der Weltbeziehung anspielt.

19 Mehr oder weniger der Satire ausgesetzt werden hier und im Zusammenhang der Lesesucht (RH 174ff.) außer Johann Martin Miller, Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776) u.a.: Klopstock, Der Messias (1748/9-1773), Justus Friedrich Wilhelm Zacharias, Die Schöpfung der Hölle. Nebst einigen anderen Gedichten (1760); Laurence Sterne, A Sentimental Journey Through France and Italy. By Mr. Yorick (1768); Johann Gottlieb Schummel, Empfindsame Reisen durch Deutschland (1770-72) Positiv oder wertneutral erwähnt werden außer Goethes Werther Oliver Goldsmith, The Vicar of Wakefield. A tale. Supposed to be written by himself (1766); Jean-Babtiste Du Haldes Beschreibung von China deutsch u.d.T. Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der großen Tartarei. Aus dem Französischen mit Fleiß übersetzt (5 Bde., 1747-1756); die Dramen Shakespeares, Lessings, aber auch die Sturm-und-Drang-Tragödie Ugolino (1768) von Heinrich Wilhelm Gerstenberg.

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5. R ESONANZERFAHRUNG UND K OMMUNIKATIONSMEDIUM . D URCH ‚ WOHLTÄTIGE S TIMMUNG ‘ ZU ‚ NEUER S CHÖPFUNG ‘. D IE I NTEGRATION DER G ENIEÄSTHETIK IN DIE AUTONOMIEÄSTHETIK Mit diesem Blick vom Ende des Romans bzw. von Hartknopfs Leben her wird Moritz Rückgriff auf die kosmisch-musikalische Vorstellung von Weltharmonie auch unter kunsttheoretischem Aspekt besser nachvollziehbar. Die subtextuelle Analogie zur christlichen Heilsbotschaft, nach der Gottes Sohn sich zur Rettung des Menschen für diesen geopfert habe, mischt sich mit der platonisch-pythagoreischen Sphärenharmonie, die als universale Ganzheitsvorstellung durch die Kombination von Astronomie und Musik eingespielt wird. Aus dieser in Hartknopf verkörperten Ideenverbindung von religiösem Heilsgeschehen und metaphysischer Wissenspraxis öffnet sich eine kulturkritische Perspektive, in der Hartknopfs Ansatz zu einer Re-harmonisierung der Welt-Selbst-Verhältnisse als eine Art neumythologisches Geschichtskorrektiv erscheint. Es besteht im Kern aus einer Ganzheitsidee, die ästhetische Autonomievorstellungen und eine ontologische Mensch-Universum-Sympathie integriert. Mit Hartknopfs (äußerer) Ausrichtung auf Weltharmonie und seiner (inneren) Einstellung auf „Wohltemperiertheit“ 20 gestaltet Moritz Bedeutungsaspekte des Stimmungsbegriffs zu einer Figur, die die ästhetische Idee vom „vollendente[n] Ganze[n]“ (RH 496) auf die neuzeitlich zunehmend dualisierten Verhältnisse von Ich und Welt sowie von leiblichem und seelischem Selbst überträgt. Hierzu dienen im Roman das Wahrnehmen der Natur und das Ausüben von Musik als verbliebenen Formen einer Resonanzerfahrung, die sich ansonsten aus den Räumen des Sozialen, Kulturellen und des Weltalls verflüchtigt hat.21 Der Text konkretisiert Hartknopfs Denken indes deutlicher auf einer individuellen Ebene, auf der wir nun beobachten wollen, wie Seelenstimmung und Weltharmonie über eine bestimmte Auffassung von Musik zusammengedacht werden. Der Erzähler berichtet zunächst von einer therapeutischen Wirkung der gemeinsamen Gespräche mit Hartknopf, die ein unter modernem Dissoziationsstress leidendes Selbst konsolidiert, indem es erleuchtet wird:

20 Vgl. Jacobs zu Spitzers Studien: „Ideas of World Harmony restauriert das Resonanzmodell der ‚kosmischen Musik‘ [...] in vier eigenständigen semantikgeschichtlichen Teiluntersuchungen. [...] (1) allgemeine Belege zur antiken Auffassung von Sympathie, Kosmos und Weltharmonie, (2) Belege zum Trivium und zur Musikalisierung der Künste im Mittelalter, (3) Belege zu fundierenden Konzepten des Stimmungsbegriffs, besonders zur (4) pythagoreischen Vierzahl (tetraktys) und ihren Verbindungen zu ‚Weltharmonie‘ und ‚Wohltemperiertheit‘.“ (2013, S. 64) 21 Diese Auflösung „weltharmonische[r] Stimmungsräume“ wird von Jacobs an Spitzers „These der fatalen Trennung von physikalischem und spirituellem Raum aus Milieu und Ambiance“ für die Stimmungsstudie nachvollzogen. (2013, S. 64)

374 | POETOLOGIE DER STIMMUNG „Ich fühlte mein Dasein zum erstenmale; fühlte mich in dieser großen Kette eingezwängt; sicher, fest, und unerschütterlich – / Ich ward zum ersten Mal auf den rechten Lebensfleck geführt – / Ich lernte die große Weisheit: / Des Alles im Moment. / Ich ward zum neuen geistigen Leben geboren. / Von dem Augenblick an war es ruhig in meiner Seele – Die tobenden Stürme des Ehrgeizes legten sich – die Furcht verschwand, die Hoffnung ward Zuversicht. / Die Stille der Seele hatte einen wohltätigen Einfluß auf meinen Körper; mein Pulsschlag war wieder sanft und regelmäßig – leicht und ungehindert strömte das Blut in frohen Kreisen fort – / Mein kränklicher Körper ward durch die Seele geheilt; ich fühlte mich an Leib und Geist neugeboren. / Diese Nacht war es, wo ich Hartknopfen dem Geiste nach kennen lernte.“ (RH 496)

Diese Passage kombiniert eine prominente Reihe von leiblich-spirituellen Ganzheitstopoi, wie sie in fernöstlichen Kulturen selbstverständlich und in westlichen Kulturen heute allmählich aus den Randzonen der Esoterik, Psychotherapie und Humaniora in den Mainstream zurückkehren: gesteigertes Selbstgefühl, der besondere Augenblick, die große Kette des Seins22, die emanative Stufe („zum ersten Mal“), das zu sich kommende Leben, ein pansophisches nunc stans, das Neugeburtliche, ataraxia, Psychosomatik, leibseelische Selbstheilung („an Leib und Geist“), Aufmerksamkeit und schließlich: jemanden „dem Geiste nach kennen“ lernen heiße, ihn menschlich als Ganzes kennen zu lernen. Diese seit der Antike über das Mittelalter bis in Moritz’ Gegenwart über subkulturelle Strömungen der Orphik, des Neuplatonismus, der Kabbala, der christlichen Mystik, der Hermetik, der Rosenkreutzer und des Freimaurertums transportierten Diskurselemente bilden die geistige Infrastruktur einer Stimmung, deren Empfindsamkeit soeben von der falschen abgesetzt worden ist. Trotz und dank der Kritik kann das probate Stimmungssetting indes beibehalten werden, wobei die syntaktisch fragwürdigen Gedankenstriche das Klischeehafte anzeigen und zugleich eskamotieren: „O wie ich damals an seinen Lippen hing – es war eine warme Sommernacht – wir saßen auf einem Rasenhügel – zu unsern Füßen rauscht ein Bach, über uns hing ein grünes Gesträuch – in der Ferne sah man das Kartäuserkloster – Der Himmel umschloß uns von oben –“. (RH 496)

Während hier der gemeinsam („uns“) erlebte Stimmungsraum die emotionale Qualität des Umhegtseins aus der Weite einer kosmischen Resonanz imaginieren lässt, so ist es oben die Enge der ontologischen Zusammengehörigkeit, die über das ‚Eingezwängtsein‘ in der großen Kette der Wesen als emotional beschützend empfunden wird. In beiden Fällen wird der „rechte Lebensfleck“ nicht durch meditative Einkehr nach innen, sondern kontemplative Öffnung nach außen gefunden. Erst die Inversion des Außenraums (zum Weltinnenraum) erschließt die Augenblicksstimmung als ein objektives Geschehen. Das Stimmungserleben findet an dieser Stelle erst in der es umgebenden Stimmung statt, wofür der Begriff der Atmosphäre steht. 23 In solcher ‚atmosphärischen‘ Stimmung verdichtet sich „Alles“ Extensionale zu einem („im“) 22 Siehe dazu die berühmte Studie The Great Chain of Being von Spitzers Kollegen Arthur O. Lovejoy (1936). 23 Zur philosophischen und ästhetischen Reichweite dieses Begriffes für die Stimmungsforschung siehe G. Böhme 1995, 1998, 2013.

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Punkt, der als räumliches und zeitliches Bewegungskontinuum („Moment“) erfahren wird. Das Hier und Jetzt wird zum Augenblick, in dem Psychisches und Sinnliches ineins fallen. Was die Stimmung zum Medium von Wahrnehmung macht, ist sie selbst als Phänomen – das Wahrgenommene. Das Erlebnis von Stimmung und das Ereignis von Sein koinzidieren. („Der Himmel umschloß uns von oben“) Moritz Poetologie der Stimmung unterscheidet sich im Hartknopf von der Goethes im Werther vor allem dadurch, dass sie sich nicht mehr vorwiegend auf das konfigurative Arrangement von Natur- und Liebesszenen mit ihren sprachlich zum Teil innovativen, motivisch aber konventionellen Versatzstücken verlässt. Zur benannten Metareflexion der ‚falschen Empfindsamkeit‘ tritt die stimmungsmetonymisch „wohlabgestimmte“ 24 Mischanleihe bei Diskursen über das darzustellende Phänomen: der griechischen Metaphysik des großen Einen („große Kette“, „große Weisheit“, „ewiger Zusammenhang, worin mein ganzes Dasein gegründet ist“), der Metempsychose (geistige Wieder- oder Neugeburt), der christlichen Ethik („Hoffnung ward Zuversicht“), Stoa (Ruhe oder „Stille der Seele“), die aisthetische, spirituelle bis psychosomatische Identitätsannahme von Körper und Seele oder „Leib und Geist“ u.a. Dabei macht sich der Text die eklektizistische Beliebigkeit für eine poetische Darstellung der mediologischen Transdifferenz von Stimmung zunutze, indem diese von natürlichen Subjekten und Objekten abgelöst und in eine eigenständige Zwischenräumlichkeit eingelassen wird: „sein Geist war mir nun gesichert, er mochte abwesend oder gegenwärtig, tot oder lebend sein –“ (ebd.). Zwar ist hier von Geist, subtextuell gar vom heiligen Geist die Rede; dessen mediale Qualität jedoch geht wie diejenige der Stimmung auf vorangegangenes Wahrnehmen zurück, wie umgekehrt die physiologische Stimmung („Pulsschlag war wieder sanft“, „Blut in frohen Kreisen“) unter dem „wohltätigen Einfluß“ der Seele steht: „Ich blickte durch den Geist in seine Augen, so wie ich vorher durch das Auge in seinen Geist geblickt hatte.“ (Ebd.) Dass es sich bei dem Medium dieses einander sich als Erkennende erkennenden Wechselblickes auch um Stimmung handelt, wird zunächst durch die anschließende Semantik des „[F]ügen[s]“ und „[G]efügt“-Habens, des Auschließens von „Zufall“ und der „notwendige[n] Glückseligkeit“ wahrscheinlicher; vorausgesetzt, man folgt der Herleitung der Bedeutung von ‚Stimmung‘ aus der antiken Sphärenharmonie. Denn der griechische Harmoniebegriff – erklärt Jacobs mit Bezug auf Spitzer (1963, S. 143f.) – geht auf harmottein (passen, zusammenfügen) zurück und „wird vom handwerklichen Zusammenfügen der Teile auf die akustische Sphäre übertragen“ (2013, S. 67). Ein Passend-Machen von Teilen, Saitenlängen, Tonhöhen, Zahlenverhältnissen ist schließlich semantikgeschichtlich dem deutschen Begriff der Stimmung eingeschrieben und organisiert – nach Spitzer – bereits denjenigen der Sphärenharmonie. In seiner frühen Prägung durch Pythagoras von Samos (580-496 v. Chr.) und seine Nachfolger begründet darin die „Sympathie zwischen Kosmos und Mensch [den] Entwurf eines musikalisch-mathematisch strukturierten Weltbildes“ (ebd., S. 65). 24 Nach Jacobs (mit Spitzer) stellt die „wohlabgestimmte Mischung“ neben der „harmonischen Konsonanz“ einen der zwei antiken Stränge dar, aus denen sich die traditionelle Bedeutung von „Stimmung“ herleitet: „Beide verschmelzen zur ‚Uridee‘ der Weltharmonie“. (2013, S. 65)

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Die seit Klopstock auch poetologisch etablierte Sympathie wird indes – bevor Moritz’ Roman Hartknopfs musikalisch-ästhetische Stimmungspraxis als ein Einüben in tragfähige Weltbeziehungen entfaltet – in der noch heute eher geläufigen Konstellation von zwei Personen situiert. Sie grundiert dabei ein Menschenbild, das ein wechselseitiges und tiefgreifendes Verstehen zwischen Ähnlichgesinnten unter bestimmten Bedingungen nicht ausschließt. Zu solchen Bedingungen der Möglichkeit und des Gelingens von Kommunikation zählt neben den bestimmten Umständen eine bestimmte psychische Disposition beider. Diese wird nun erstmals wörtlich als Stimmung namhaft gemacht. Damit sich eine „Seele“ der anderen „aufschl[ießen]“ und es so zur „Mitteilung“ des „Geistes“ des anderen kommen kann, muss eine Art Reinheit der Beziehung garantiert sein. (RH 497) Zur zwischenmenschlichen Aufnahme einer reinen Beziehung zum anderen fähig aber sei nur derjenige, der zum anderen als Ganzes, zur Welt, sich als uneingeschränkt beziehungsfähig erwiesen hat. Der Text spricht von der Fähigkeit, „einem lockenden Ruf“ der „Natur“ zu folgen, in die „Nacht“ herauszugehen, sein „Herz sich willig eröffne[n]“ zu lassen, „um den reinen Lichtstrom aus ihr aufzunehmen“ (ebd.). Zugetraut wird dies dem empfindsamen Erzählerfreund aber erst nachdem die „Lektion am Steigerwald bei [ihm] angeschlagen“ (ebd.) hat. Erst wer frei von jeglicher ‚Affektation‘, „törichte[r] Verstellung“ und befreit von dem „törichte[m] Zwang“ ist, „gleichsam eine feierliche Szene zu veranstalten“, kann jene „wohltätige Stimmung“ zwischen sich und der „Natur“ (ebd.) erleben. Solchermaßen „aufrichtig“ genug wird die Stimmung als etwas erfahren, was keineswegs vom Können eines Subjekts hervorgebracht wird. Sie wird nicht als der modisch und als solcher allgemein gewordene Fall von Empfindsamkeit in dazu geeignetem Gelände nur wiederholt. Stimmung kann nur unter Aufgabe des Regimes der Vermögen als das erfahren werden, was sie ist, eine Kraft 25, die von selbst entsteht, wenn ihr der Raum zu ihrer Entfaltung nicht ‚verstellt‘ wird. Nur unter Auflösung der allgemeinen Form, die Stimmungen in der empfindsamen ‚Szene‘ bereits angenommen haben, können sie als schöpferisches Selbsttätigsein verwirklicht werden. Erst infolge der Preisgabe der ich-stabilisierenden Instanzen von Subjektivität (Intention, Handeln, Bewusstseinskontrolle) zugunsten rückhaltloser Erfahrungsoffenheit kann diese Art Stimmung aufkommen: „Ich war so gestimmt, daß ich mich an der Figur eines Blattes auf den Wipfeln der Bäume ergötzen konnte, und alles aus meinen Gedanken verbannt war, was diese schöne Ordnung der Natur, die sich jetzt unverfälscht in mir abdrückte, hätte stören können.“ (RH 497)

‚So gestimmt‘ sein heißt: über die Sinnlichkeit den Dingen („Blattes auf den Wipfeln der Bäume“) den Vorrang lassen; ästhetisch genießen („ergötzen“); das bereits mit dem Wahrnehmen („Figur“) verbundene Erkennen nicht durch Begriffsbildung („alles aus [...] Gedanken“) vorzeitig zu konsolidieren versucht sein; dadurch die kosmische Ordnung der Welt – wofür metonymisch diese „schöne Ordnung der Natur“ und für diese wiederum die Autonomie des Kunstwerks steht – sich von selbst zeigen las25 Siehe zum Terminus Kraft im Gegensatz zum Vermögen die erhellenden subjekt-und kunsttheoretischen Ausführen von Menke 2013, S. 12ff.

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sen; den so idealerweise weder subjektiv noch objektiv kategorisierten („unverfälscht“) Wahrnehmungseindruck als einen Vorgang („in mir abdrückte“) realisieren, der nicht nur wie von selbst, sondern als Welt stattfindet. Ihre originäre Stätte oder Statt findet die Stimmung in der Literatur, wenn und wo sie als ein Geschehen dargestellt ist, das seinen Ort im Augenblick seines Vollzugs („jetzt“) selbst hervorbringt. Der schöpferische Charakter kommt hier nicht einem Subjekt zu, weder Hartknopf noch dem Erzähler, sondern der Stimmung, deren Agenten die Freunde sind. Die Stimmung fungiert als Medium ihrer Kommunikation, in der allerdings vornehmlich nicht Informationen, sondern die Kraft „neue[r] Schöpfung“ übertragen wird: „Diese wohltätige Stimmung bemerkte Hartknopf sogleich, und nutzte sie mit solcher Macht, daß er, ehe ich es noch selbst wußte, eine neue Schöpfung in mir hervorgebracht hatte“ (ebd.). Solcher literarischen Darstellung von Stimmung als weltstiftende Raumwerdung ist mit Kategorien wie pietistischer Innerlichkeit, barocker Affektlogik oder empfindsamem Gefühlsausdruck nicht (mehr) beizukommen. Literaturgeschichtlich deutet sich hier ein Übergang zur Romantik an, wenn man darunter die Verbindung ästhetischer und metaphysischer Konzepte versteht.26 Hierbei kommt der Analytik von Stimmungen eine wichtige Rolle zu. Denn Stimmungen in der Literatur um 1800 verknüpfen nicht nur ästhetische Empfindsamkeit mit abendländischer Metaphysik über Motive wie Weltharmonie, das schöne Ganze, das Unendliche oder die große Kette der Wesen. Vielmehr lässt sich an ihnen auch eine Ästhetisierung von bislang Metaphysischem ablesen, wie dies etwa am Wandel der literarischen Raumsemantik sichtbar wird. Die Darstellung von Stimmung als wahrnehmungsästhetischem Raum lässt subjektzentrisch verengte Raumkonzepte wie z.B. ‚Seelenlandschaft‘ ebenso hinter sich wie objektivistisch entleerte wie z.B. ‚Weltall‘. Diese mit der neuzeitlichen Episteme sich etablierende Alternative wird samt ihrer Begründungen, dem psychologischen Projektionsmechanismus (Subjekt) bzw. der physikalischen ‚Behälter‘-Logik (Objekt), auf einen dritten Raum hin überschritten, der mediologisch begründet ist. Dadurch, dass ein SichZeigen von Phänomenen statthat und mit dem Wahrgenommenwerden derselben vermittelt ist („Figur eines Blattes auf den Wipfeln der Bäume“), wird Raum. Als Medium wurde er seit der Antike u.a. über Theorien der Luft, des Äthers oder Pneumas erschlossen und neuerdings – wie u.a. in Sloterdijks Sphärologie27 – auch wieder in seinen kulturanthropologischen Grundbedeutungen ausgeleuchtet. Moritz impliziter Rückgriff auf die antike Sphärenharmonie konzipiert den Raum nun in materialer Hinsicht weder als Luft-Äther, noch als Luft-Leere, sondern als Sphäre von Tonschwingungen. Der dadurch auch zur Sphäre von Klängen gewölbte Raum wird zum Medium von Resonanzen. In metaphysischer Hinsicht wird zunächst zwar an den kosmischen Ordnungsgedanken angeknüpft („Chaos [...] ordnete sich 26 Siehe zu diesem historischen Aspekt aus musikästhetischem Blickwinkel ohne Bezug zum Stimmungsthema, aber mit Bezug zum Hartknopf Dahlhaus 1978b, S. 280-82 und 1988b. 27 In dem raumphilosophischen Dreiteiler Sphären arbeitet vor allem der 3. Band Schäume (2004) die medialen Bedeutungszusammenhänge von Luft und Raum in historischer und gegenwartsdiagnostischer Hinsicht heraus. Siehe zur jüngsten kulturwissenschaftlich breit entfalteten Forschung zum Raum unter phänomenologischen, künstlerischen, urbanistischen, schrifttheoretischen und literarischen Aspekten den Sammelband Lehnert 2011.

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plötzlich zu einem schönen Ganzen“), jedoch wird das Chaos nicht kosmogonisch, sondern vorsubjektiv, nicht nur als Welt-, sondern auch als Selbstwerdung aufgefasst. Dabei handelt es sich noch nicht um eine Subjektivierung der Stimmung, insofern die schöpferischen Kräfte nicht in einer Instanz der Selbstkontrolle, des Selbstbewusstseins oder Selbstgefühls zusammenlaufen, die Träger eines Willens oder von Handlungsoptionen wäre. Hingegen dienen die allegorischen Anspielungen auf taxonomisches Wissen („seinen angewiesenen Platz“), einen demiurgischen „Plan“ und die Genesis („Fluten [...] Reich Gottes“) dem Entwurf eines Bildes vom Menschen, dem das Sein der Welt und seiner selbst ins Unverfügbare entzogen ist. Menschliches Selbstsein gründet nicht in einer konstitutiven Form von Subjektivität, sondern darin, sich der Welt als einem Spiel von Kräften auszusetzen und dieses zugleich formierend mitzuvollziehen. Diese Doppelbewegung eines Zurücknehmens von Subjektivität bei gleichzeitigem Mitvollziehen der „Bildungskraft“ der natura naturans bestimmt auch Moritz ästhetisches Denken auf dem Weg zur klassizistischen Autonomie des Kunstwerks, das als schönes Ganzes ein (menschliches) Abbild des (göttlich) vollendeten und kosmisch gedachten Naturganzen darstellt. In der Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) wird das Kunstwerk aus wirkungsästhetischen und nützlichkeitstheoretischen, also auch sozialen und kulturellen Kontexten herausgelöst. So wird es zu einem zweckfreien ästhetischen Gebilde, das „nothwendig ein für sich bestehendes Ganze seyn müsse, und also mit dem Begriff des Schönen der Begriff von einem für sich bestehenden Ganzen unzertrennlich verknüpft ist.“ (SzÄ 71)28 Mit der im Hartknopf über den Begriff Stimmung vermittelten Übertragung des weltharmonischen Naturganzen in ein gedanklich-seelisches „vollendetes Ganze“ (RH 496) wird literarisch vorformuliert, was programmatisch dann in der klassischen Autonomieästhetik ausformiert wird. Was sich in Hartknopfs ‚gestimmten‘ Freund anscheinend bloß „unverfälscht“ empfindsam „abdrückte“ (RH 497), nämlich die „schöne Ordnung der Natur“ als harmonischer Weltzusammenhang, ist im Theorietraktat der Garant für die klassische Autonomie des Kunstwerks. Denn dieses erreicht seine solchermaßen ‚relative‘ Autonomie nur als „Abdruck des höchsten Schönen im Ganzen der Natur“, während es zugleich in ästhetischer Form die formierenden Kräfte dieser metaphysisch überhöhten Natur mimetisch nachvollzieht: „Denn dieser große Zusammenhang der Dinge ist doch eigentlich das einzige, wahre Ganze; jedes einzelne Ganze in ihm, ist, wegen der unauflößlichen Verkettung der Dinge, nur eingebildet – aber auch selbst dies Eingebildete muß sich dennoch, als Ganzes betrachtet, jenem großen Ganzen in unsrer Vorstellung ähnlich, und nach eben den ewigen, festen Regeln bilden, nach welchen dieses sich von allen Seiten auf seinen Mittelpunkt stützt, und auf seinem eigenen Daseyn ruht.“ (SzÄ 73)

Lag der pythagoreisch-platonischen Sphärenharmonie noch das metaphysische Staunen des philosophischen Denkens des Ganzen in Form der von ‚allen Seiten auf

28 Siehe hierzu mit Fokussierung des Verhältnisses Teil/Ganzes Costazza 1999.

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[ihren] Mittelpunkt‘ gestützen Kugel 29 nahe, so verwirklicht die autonomieästhetische Stimmung die einst im Kosmos waltende energeia als innere Formierungskräfte des Kunstwerks. Das metaphysische Natur-Ganze wird zum ästhetischen StrukturGanzen. Die ehernen Naturgesetze des großen Weltenbaus werden zu „ewigen, festen Regeln“ des Kunstwerks. Die Transformation der kosmogonischen Sphärenharmonie in die kunstwerkbildende Stimmung vollzieht sich aber nicht so reibungslos wie die metaphorische Rede von festen Regeln, vom In-sich-selbst-Ruhen und vom Abstützen aller Seiten auf einen „Mittelpunkt“ es darstellt. Die noch in der tradierten Homologie von Mikrokosmos und Makrokosmos suggerierte Möglichkeit einer prästabilierten Wiederholung des „einzige[n], wahre[n] Ganze[n]“ durch ein „einzelne[s] Ganze[s] in ihm“ erweist sich eben auch als etwas „Eingebildete[s]“ (ebd.). Was daran indes der Einbildung im Sinne des Imaginären anheimfällt, ist die „Vorstellung“ von absoluter Identität des menschlich-kunstwerklichen Mikrokosmos mit dem demiurgisch-baumeisterlichen Makrokosmos. Nur bei letzterem ist die Ganzheit von ontologischer Dignität und umfasst noch das Reale als das es sich zeigt („doch eigentlich das einzige, wahre Ganze“). Gegenüber dem Original kann alles Mikrokosmische nur Abbild, dessen partikulare Ganzheiten nur Sinnbilder sein. Sie entstehen auf der Ebene des Symbolischen aus dem Bezug auf anderes und verweisen auf ihre Abkünftigkeit außer sich. Moritz’ Menschen und die von Menschen gemachte Kunst sind noch und gerade da, wo sie am ursprünglichsten sind, eben- bzw. abbildlich. Denn der ‚Mittelpunkt ihres Daseins‘ ist (nur) eine Allegorie des ‚Mittelpunkts‘ des Seins als Ganzem. Ihr ontologischer Status ist eigentlich Bewegung: Werden – nicht Sein, Vergehen – nicht Ruhen. „[A]lles andere“ ist – heißt es im Hartknopf mit Blick auf den „Moment“ – „Chimäre und Einbildung.“ (RH 498) Mit diesem scheinbar Abgewerteten, Abhängigen und Nachgeordneten der anthropologischen und ästhetischen Autonomie gegenüber der theologischen und ontologischen Autonomie zeigt sich indes nicht nur das Sekundäre des ästhetischen Scheins, sondern es kommt auch die Gestaltungskraft des ästhetischen Schaffens zum Vorschein. Das ‚Eingebildete‘ bewirkt nicht nur Illusion, Fiktion und Entstellung des Realen ins Imaginäre, sondern trägt auch den Keim zum ausformenden Bilden, künstlerisch Fiktionalen und der Herstellung von Realem durch das Symbolische in sich. Darauf verweist schon die im Titel der ästhetischen Abhandlung stehende Formel der bildenden Nachahmung des Schönen. Denn darin wird der genieästhetische Impuls sichtbar, nicht die Natur in ihrer Ordnung (natura naturata) nachzumachen, nicht ihr Sein zu imitieren; sondern der Natur in ihrem Hervorbringen (natura naturans) nachzueifern, ihr Werden zu agieren: „Wem also von der Natur selbst, der Sinn für ihre Schöpfungskraft in sein ganzes Wesen, und das Maaß des Schönen in Aug’ und Seele gedrückt ward, der begnügt sich nicht, sie anzuschauen; er muß ihr nachahmen, ihr nachstreben, in ihrer geheimen Werkstatt sie belauschen, und mit der lodernden Flamm’ im Busen bilden und schaffen, so wie sie.“ (SzÄ 73)

29 Hierzu philosophisch und historisch das Denken in explizit werdenden Formen auf Ästhetiken des Raumes beziehend Sloterdijk (1998-2004), hier besonders Globen (Sphären II).

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Beinahe wie in Goethes nachträglich als Fanal des Sturm und Drang historisierter Hymne Prometheus klingt hier im künstlerischen Schaffensdrang etwas aus Eifer zu weit Gehendes, Grenzüberschreitendes, ja Verbotenes mit („belauschen“); nur dass psycho-theologisch nicht die emanzipatorische Identifikation mit dem Vater-Zeus, sondern die Überschüsse aus der symbiotischen Übertragungsliebe mit der MutterNatur tonangebend sind. Nur indem die selbsttätige ‚Bildungskraft‘ des Genies dem Schöpferischen der göttlichen Natur nacheifert, gelingt ihm auch die Übertragung von dessen zentrierter Struktur ins Kunstwerk. Der Abdruck der makrokosmischen Ganzheit in der mikrokosmischen vollzieht sich nicht mehr per analogiam, und auch nicht passiv wie in der quietistischen unio mystica –, sondern aktiv qua aemulatio. Die Autonomie der klassizistischen Kunst wird bei Moritz über die Integration der Genieästhetik erreicht. Damit aber öffnet sich in der Kunst jene in einem „Mittelpunkt“ ontologisch geschlossene Ordnung des Ganzen der Natur zu einer Bewegung des Ganzen, die von den klassizistischen Idealen des In-sich-Ruhens und in seinen Proportionen Stimmigen nur notdürftig stillgehalten werden kann. Die Statik des metaphysischen Weltbildes samt der dessen Kitt bildenden Sphärenharmonie wird im Zuge der Ästhetisierung des Ordnungsgedankens von einer Dynamik erfasst, in der die Stimmung zum Gestaltungsprinzip von Kunst wird. Denn die bildende Nachahmung des Schönen, die nach Moritz bildende Kunst, Dichtung und Musik ausmacht, transformiert die sphärenharmonische Vertikalität in gestalterische, integrierende und kompositorische Perspektiven von Stimmung: „Der Horizont der thätigen Kraft aber muß bei dem bildenden Genie so weit, wie die Natur selber, seyn: das heißt, die Organisation muß so fein gewebt seyn, und so viele Berührungspunkte der allumströmenden Natur darbieten, daß gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen der Natur im Großen, hier im Kleinen sich nebeneinander stellend, Raum [...] haben.“ (SzÄ 76)

Die gleichsam vom Natur-Himmel auf die Kunstebene herunter geholte Stimmung bildet in der auf das Werk und dessen Autonomie konzentrierten Ästhetik der endachtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts einen theoretischen Unruheherd, insofern mit ihr geniepoetische Kräfte nachglühen. Zugleich aber vermittelt Stimmung – während sie bei Kant zur Koordination von Erkenntnisvermögen eingesetzt wird – zwischen der in Kunst ‚abgedrückten‘ Weltharmonie der Natur und den traditionell als ‚niedrig‘ eingestuften Erkenntniskräften der Sinne, insofern diese in bildender Kunst, Musik und Dichtung am Werk sind. Denn Stimmung ermöglicht die ästhetische Teilhabe am metaphysischen Sinnganzen, indem sie jenes „höchste Schöne [...] dem Auge sichtbar, dem Ohre hörbar“ und der „Einbildungskraft faßbar“ macht. (SzÄ 75f.) Dass diese Vermittlungsleistung von der Stimmung erbracht wird, ist in Moritz theoretischen Schriften weniger deutlich als in den literarischen. Wohl klingt in ersteren die pythagoreische Sphärenharmonie an, wenn vom „höchsten Schönen in dem harmonischen Bau des Ganzen“ die Rede ist. (SzÄ 74) Deutlicher hingegen wird dies durch die im Hartknopf entfaltete Idee einer „[g]öttlichen Kunst“, deren Synästhesie zwischen „jener unnachahmlichen Sprache durch gemalte Töne“ und der „Musik“ als „Sprache der Empfindungen“ oszilliert. (RH 498)

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6. D IE AKTUALISIERUNG VON S PHÄRENHARMONIE UND DIE F UNKTION DER M USIK . G EDANKEN ALS S TIMMUNGEN ATMEN . Z WISCHEN U MGEBUNGSQUALITÄTEN UND G EFÜHLSDISPOSITION In Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) bringt der implizite Rückbezug auf die Welt- oder Sphärenharmonie eine Aktualisierung derselben als produktions- und autonomieästhetische Stimmung mit sich und setzt damit die kosmo-ontologische Weltbildstatik den Impulsen einer kunstpraxisbasierten Dynamisierung aus. Die vielfältige Semantisierung des Raums, die seit der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit von historischen Abwandlungen der Weltharmonie ausging, wird Ende des 18. Jahrhunderts mit Strukturen von Zeitlichkeit überzogen. Im Roman wird die eingangs mit Blicken in die „Ferne“ und zum „Himmel“ (RH 496) räumlich eröffnete Stimmungsszene am Steigerwald zum Augenblick zeitlicher Verdichtung gesteigert: „Wer nicht den ganzen Nutzen von dem, was er gelernt, getan, gedacht, gelebt hat, in einen Moment zusammen ziehen kann, bei dem ist die neue Schöpfung noch nicht vorgegangen“. (RH 498) Die Kontemplation des Raums wird über eine Rekapitulation des bisherigen Lebens in eine Kondensation der Zeit überführt. Die existenziell verdichtete Stimmung macht den Moment zur gleichsam synekdochisch erlebten Zeitlichkeit und entlockt ihr so den Seinsfunken einer „neuen Schöpfung“: „Der Moment ist und bleibt der letzte Punkt, wohin alle Weisheit der Sterblichen streben kann und muß“. (Ebd.) Die kleinste erfahrbare Zeiteinheit wird zum Stimmungsmodus der größtmöglichen Erkenntnis. Wie in Moritz’ theoretischen Schriften die Musik eine nachgeordnete, jedenfalls geringe Rolle spielt, so unvorbereitet, und umso prägnanter kommt sie am Ende des Andreas Hartknopf. Eine Allegorie zum Tragen. Wurde bislang in den als Stimmungsszenen erzählten Zusammenkünften des Erzählers mit Hartknopf dessen Sprechweise, Gedanken- und Gesprächsführung bewundert, so wird durch die der Musik zugeschriebenen Funktion klarer, warum dies so ist: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. / Hartknopf nahm seine Flöte aus der Tasche, und begleitete das herrliche Rezitativ seiner Lehren, mit angemeßnen Akkorden – er übersetzte, indem er phantasierte, die Sprache des Verstandes in die Sprache der Empfindungen: denn dazu diente ihm / die Musik. / Oft, wenn er den Vorsatz gesprochen hatte, so blies er den Nachsatz mit seiner Flöte dazu. / Er atmete die Gedanken, so wie er sie in die Töne der Flöte hauchte, aus dem Verstande ins Herz hinein.“ (Ebd.)

Mit der Wiederanführung des Bibelzitats und der folgenden Reflexion über Musik wird nun die freimaurerische Losung und bislang vor allem esoterisch klingende Rede von der „neuen Schöpfung“ besser verständlich. Moritz selbst hat in der Großen Loge eine freimaurerische Kontextualisierung des Lebendigwerdens durch den Geist

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als eine Selbst- oder Wiedergeburt des Menschen vorgenommen. 30 An ebenzitierter Stelle im Hartknopf hingegen geht es mehr um eine positive Abgrenzung des Ästhetischen von der Buchstaben-Schrift als Medium des Begriffsvermögens samt dessen Verfahren der argumentativen Diskursivität. Nicht das Spirituelle allein macht hier lebendig, sondern dass der Geist ‚unbuchstäblich‘ in die Glieder fährt und er selbst erst vom Leib her auch ganzheitlich verständlich wird. Die Funktion der Musik wird explizit benannt: sie diene der Übersetzung von der Sprache des Verstandes in die der Empfindung. Wozu aber bedarf es einer solchen Übersetzung aus einem Vermögen ins andere überhaupt? Was bringt die musikalische Begleitung zu Hartknopfs doch offenbar klug vorgetragenen „Lehren“ hinzu? Dass die Übersetzungsmusik ein ‚Phantasieren‘ ist, scheint im Zusammenhang der zeitgenössisch diskutierten Fakultätenlehre auf eine Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit durch die Einbildungskraft hinzudeuten. Eine solche vermögenstheoretische Deutung wird jedoch dadurch unterlaufen, dass Phantasieren eine Kraftentfaltung in der elusiven Form des spontanen Umformens des sich in einem offenen Prozess Formierenden ist. Anders als ein poietisches Vermögen ist musikalisches Phantasieren kein bewusstes Hervorbringen, kontrolliertes Tun oder gelungene Anwendung einer allgemeinen Regel. Es stellt kein Ausüben erworbener Fertigkeiten dar, sondern prozessiert vielmehr als ästhetische Kraft regel- und formlos deren eigene Bewegung. Noch in dieser offenen Vollzugsbewegung und eben dadurch realisiert Hartknopfs Phantasieren ein Prinzip, das gerade darin besteht, die allgemeine Form erlernbaren Musizierens im individuellen Formierungsprozess aufzulösen. Das Verwirklichen dieses ästhetischen Prinzips macht im Hartknopf die Stimmung aus. Denn das Improvisieren auf der Flöte ist schließlich nur metaphorisch ein Übersetzen von Sprache zu Sprache. Buchstäblich metaphorisch überträgt es Bedeutungen nicht nur wie ein Vehikel, sondern verwandelt sie zugleich qua Übertragung. Den ersten Teilsatz zu sprechen, um ihn im „Nachsatz“ flötend zu ergänzen, macht aus sprachlich allgemein Verfügbarem etwas, das nur im Augenblick des Vollzugs sich erschließt. Vor dem oben besprochenen Referenzhintergrund der antiken Sphärenharmonie wird hier der ästhetische Sinn ihrer zeitgemäßen Aktualisierung als Stimmung klarer. Was im metaphysischen Ordnungssystem der gedanklichen Durchdringung allgemein und jederzeit zugänglich war, kann nurmehr individuell und situativ im Vollzug ästhetischer Praktiken erschlossen werden. Im Unterschied zu mystischreligiösen oder den Moritz vertrauten pietistisch-quietistischen Vorgängen erfolgt dieser ästhetische Vorgang weder theozentrisch noch passiv und auch nicht in erleuchteter Innerlichkeit. Vielmehr bleibt von der sphärenharmonischen Raumsemantik die Elementerfahrung von Luft erhalten, indem Hartknopf ‚die Gedanken atmete‘. Sie sind nicht nur im Kopf, während draußen bloß die Luft ist. Trotz ihrer Verstandesherkunft sind die Gedanken in einer Art geistig-sinnlichem Stoffwechselprozess zwischen Leib und Luft fließende Gestalten. Als solche werden sie von Umgebungsqualitäten ebenso mitgeformt wie von der Gefühlsdisposition des Atmenden. 30 Vgl. in Kirsten Erwentrauts Anmerkung (zu 2. Korinther 3,6; auch Joh. 6,63; 2. Korinther 3,3 und Römer 7,6) den Hinweis auf den freimaurerischen Kontext in ‚Die Feier der Geburt des Lichts‘ in Die große Loge oder der Freimaurer mit Waage und Senkblei (1793) und Launen und Phantasien, hrsg. v. Klischnig (1796). (RH 841)

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Diese ‚gedanklichen‘ Atemzüge nehmen ihrerseits eine inspirative Gestaltungskraft an, wenn Hartknopf die Gedanken „in die Töne der Flöte hauchte“ und sie schließlich vom intellektualen Bereich der Erkenntnisvermögen („Verstande“) in den emotionalen („Herz“) transponiert. Durch Einhauchung ins Blasinstrument und Vertonung wird aus Geistig-Begrifflichem etwas Sinnlich-Sonantes. Beim autodidaktisch erlernten Klavierspielen führt solche audiomediale Unterstützung des Vernunftgebrauchs dazu, dass Hartknopf sich „manche verworrene Idee [...] ins klare gebracht“ (RH 498) hat. „Bewaffnetes Auge, bewaffneter Mund, bewaffnete Hand, pflegte er wohl zu sagen“ und spricht damit den „Tubus, die Flöte, und de[n] Hammer“ (ebd.) wie prothetische Extensionen von kulturanthropologisch zentralen Sinnesorganen und Körperteilen an. (McLuhan) Das astronomische Fernglas (Tubus) verlängert die Reich-weite des Sehsinns in zuvor nur metaphysischer Spekulation erreichbare Sphären und verweist so bereits auf Hartknopfs ästhetische Vermittlung von Sinn und Sinnen durch die Stimmung. Die Forschung hat die freimaurerische Symbolik des Hammers, etwa im Sinne menschlicher Selbstbearbeitung, zusammen mit Hartknopfs biblischem Ahnherr Thubalkain herausgestellt, dem „zuweilen auch die Erfindung der Musik zugeschrieben“ wird. (Vgl. ebd.; dazu Anm. 873f.) Ebenso gilt Letzteres nach der Bibel sowie den freimaurerischen Bauhüttengeschichten für Thubalkains Halbbruder Jubal (Lennhoff und Posner 1992, S. 1600f.; vgl. RH 875), dem die zu Hartknopfs Arsenal zählende Flöte zugehört. Die „arkadisch-melancholische Flöte“ erkennt Dahlhaus (1988a, S. 30) als das typisch empfindsame Instrument aus Sternes einflussreichem Roman wieder, wo mit „dessen klagend gehauchten Tönen die wahnsinnige Maria dem reisenden Tristam Shandy“ ihre traurige Geschichte erzählt. 31 Die Sprache der Empfindsamkeit, mit der Sterne wie auch Moritz über Musik sprechen und diese konzeptualisieren, ist der Ausgangspunkt für Dahlhaus’ (1978a, 1978b, 1988a, 1988b) historische Rekonstruktion der klassischen und romantischen Musikästhetik aus dem Geiste der Literatur. Der Sprache der Empfindsamkeit entspreche eine Musikästhetik, die Musik als Naturlaute verstanden wissen will. Diese das Herz rührende Naturmusik zeichne sich durch „Simplizität und Kunstlosigkeit der Melodien“ aus. (Dahlhaus 1978b, S. 279) Die Ästhetik einer solchen als Werk der Natur und nicht etwa der Kunst gedachten Musik wird von Dahlhaus einerseits von der Affektenlehre des Barock, andererseits von der Kunstphilosophie der Klassik und Romantik unterschieden. (ebd.) Diese Differenzierung nach Epochen dient zunächst der Markierung einer historischen Spanne, an dessen Endpunkt die musikästhetischen Charakteristika der Empfindsamkeit hervortreten. Daraus wird eine systematische Spannung zur Musikästhetik von Klassik und Romantik aufgebaut, die dann als konzeptioneller Widerspruch bei Moritz identifiziert wird. Diesen „Widerspruch“ sieht Dahlhaus in einem biographisch-historischen Nebeneinander im Jahr 1785 und nicht etwa werkgeschichtlichen Nacheinander: einerseits die empfindsame Musikästhetik kombiniert mit romantischer Musikmetaphysik im Hartknopf-Roman – anderseits die klassizistische Autonomie- und Musikästhetik in den theoretischen Schrif31 Dahlhaus zitiert zu der im Hartknopf analog klingenden Stelle aus Laurence Sterne, Tristram Shandy, Buch IX, Kapitel 24: „In diesem Augenblick ergriff sie ihre Flöte und erzählte mir damit eine [...] Schmerzensgeschichte“ (1978b, S. 280).

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ten. Erklärt wird dieser Widerspruch letztlich „psychologisch-biographisch“ (ebd. 290), was nicht zu seiner Auflösung führe, während eine historische Begründung ausstehe. Wir wollen in Auseinandersetzung mit Dahlhaus’ Argumenten eine solche historische Begründung anbieten, die wir aus einer Analyse der einschlägigen Passagen am Ende des Hartknopf-Romans am Leitfaden der Stimmung gewinnen. Auch neuere Arbeiten zum Entstehen der Musikästhetik aus der Literatur der Romantik knüpfen an Dahlhaus an. Valk (2008) hat jüngst die Wirkungen der metaphysischen Überhöhung und folgenden Theoretisierung insbesondere von Instrumentalmusik auf der Linie Wackenroder, Tieck bis E.T.A. Hoffmann, Hanslick bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu Thomas Mann ausgedehnt. Neben dem Musikwissenschaftler Dahlhaus hat die Literaturwissenschaftlerin Naumann den Zusammenhang von Musik und Literatur in der Romantik untersucht und Schlegels Gattungspoetik ebenso wie Novalis Idee von „Musikalischer Mathematik“ einbezogen.32 Wirkungsmächtig geworden ist die semiotische Faszination der Romantiker an Musik als einem die referentiellen Bindungen im Semantischen gewissermaßen offen lassenden Notations- bzw. Tonsystem, so dass der transzendentalpoetische Gedanke mit einen sprachtheoretischen verknüpft werden konnte. Auf der Basis des oben dargestellten Ästhetischwerdens der Sphärenharmonie in Hartknopfs musikalischer Improvisationspraxis ist zu verfolgen, wie die daraus hervortretende Stimmung zunächst den von Dahlhaus behaupteten Widerspruch bei Moritz relativiert. Denn die aus der Destruktion falscher Empfindsamkeit als reine Beziehung regenerierte Stimmung stellte sich als ein Drittes zwischen den Dualen dar, die im platonisch-pythagoreischen Sphärenmodell harmonisch und symphonisch vierfach zusammenstimmten (Körper/Seele, Polis/Individuum, Saiten/Töne, Welt/ Sphären). Dieses transrelate Zwischen tritt an die Stelle der von Dahlhaus noch bei Moritz für weiterhin zentral gehaltenen Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos; es dynamisiert – wie wir zuletzt gesagt haben – den ontologisch vorgestellten Welt-Raum zum bewegungs- und zeitphänomenologischen Moment. Die durch solche Prozesshaftigkeit des Wahrnehmungsvollzugs charakterisierte Stimmung bildet den ästhetischen Fluchtpunkt der Reflexionen über Musik im Hartknopf. Damit aber lässt sich – wie wir nun wieder näher am Text zeigen wollen – erstens die von Dahlhaus’ konstatierte Ratlosigkeit der Forschung angesichts der Verquickung von „empfindsame[r] Psychologie im Andreas Hartknopf mit einer romantischen Metaphysik der Musik“ (1978b, S. 287) beheben. Zweitens lässt die zwischen Perspektiven der Psychologie, Metaphysik und Ästhetik vermittelnde Stimmung den von Dahlhaus aus der Epochensequenz von Empfindsamkeit, Klassik und Romantik konstruierten Gegensatz der Musikkonzepte allzu schematisch erscheinen. Auch hier kann die in der Literatur des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts nicht nur musikästhetisch gewordene Stimmung vermitteln. Denn aus ihrer historischen Semantik und poetologischen Verwendung lässt sich die ahistorisch wirkende Konfusion von emp-

32 Naumann 1990. Siehe ferner dies. 1994. Den diskursgeschichtlichen Vorlauf in der Aufklärung zum literarischen Mythos der Musik bezieht hingegen Lubkoll mit ein (1995, S. 27117).

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findsamem Gefühl und romantischer Metaphysik im Hartknopf ästhetisch als Konsonanz erklären.

7. ÄSTHETIK

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T ÖNE

Die emotionell-ideelle Übergängigkeit von ‚Stimmung‘ und ihre literaturgeschichtliche Analysedimension

Im Anschluss an die zuletzt zitierte Stelle, an der Hartknopfs Flöte- und Klavierspielen nicht nur Ausdrucksmedium seiner Gedanken war, sondern deren Verklanglichung auch ihre Klärung bewirkte, soll Musik nun für die Gefühlsartikulation nutzbar gemacht werden. Sie steht hier unter dem Vorzeichen des Nützlichen, das „seinen Zweck nicht in sich, sondern außer sich in etwas anderm hat, dessen Vollkommenheit dadurch vermehrt werden soll“, wie es Moritz in einer seiner theoretischen Schriften33 im Zusammenhang mit dem Vergnügen und in Abgrenzung vom Schönen bestimmt: „Sein Studium aber ging darauf, die Musik zur eigentlichen Sprache der Empfindungen zu machen, wozu sich die artikulierten Töne nicht so wohl schicken, als die unartikulierten, die das Ganze nicht erst zerstücken, um es dann wieder zusammenzufassen, sondern die es gleich, so wie es ist, ganz und in seiner Fülle lassen.“ (RH 498f.)

Hartknopfs Musik ist durchaus nicht nur Naturlaut und als solcher wie das Gefühl und die Natur selbst einfach gegeben – wie Dahlhaus im Sinne der Empfindsamkeit meint –, sondern soll zum Sprachlaut als einem emotionalen Ganzen kultiviert werden. Musik ist nicht nur das Medium eines natürlichen Gefühlsausdrucks, dessen Verständlichkeit im Freundeskreis dank empfindsamer Sympathie garantiert wäre. Vielmehr ist Musik der Gegenstand eines Studiums, das durch ihre Auffassung und Entwicklung als Sprache darauf abzielt, Empfindungen nicht länger bloß auszudrücken, sondern sie verständlich, idealerweise buchstabierbar („Alphabet der Empfindungssprache“) und so ihrerseits zum Medium von methodischem Verstehen zu machen. Schließlich gebraucht Hartknopf die Flöte und mehr noch das Klavier als Mittel seines Lehrens von „Wissenschaften, [...] Lebensweisheit und Moral“ (RH 500). Hierzu aber hat Hartknopf „der Natur auf die Spur zu kommen“, um sie „in Kunst zu verwandeln“, er muss erst das wahrnehmungssinnliche Einzelne begreifen, damit sich dann durch sie das metaphysische Ganze verstehen lässt. (RH 499) Dieses wird nun nicht durch idealistische Philosopheme herbeizitiert oder durch eine „Metaphysik ohne Physik“ als „ein Etwas [imaginiert], das über einem Abrunde schwebt und gaukelt“, wie Moritz in Über Mystik formuliert. (SzÄ 124) Hingegen wird von den einzelnen Tönen und deren Wirkungen ausgegangen. So rückt erstens das Ganze als musiktheoretische Gestalt in den Blick, wobei implizit die integralistischen Bedeutungsanklänge von Stimmung zum Tragen kommen, die bei Spitzer begriffsge33 Ersichtlich und ausdrücklich an Moses Mendelssohn gerichtet unter dem Titel ‚Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten‘. (SzÄ 3-11, hier 4)

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schichtlich mit symphonia und concertare verbunden sind; und zweitens die Stimmung als psychodynamische Kohärenz, die begriffsgeschichtlich mit der ‚Wohltemperiertheit‘ in Medizin, Synästhesie und Temperamentenlehre verbunden ist. (Vgl. Jacobs 2013, S. 64) An eben zitierter Stelle erzeugen erst die unartikulierten Töne in der Musik Klangeinheiten, die als ein ästhetisches Ganzes hörbar werden, das mehr und anderes ist als die Summe artikulierter Töne. Dass eine solche Ästhetik des Tons die Musik zu einer Sprache machen soll, scheint einen vom Primat der Klanglichkeit bestimmten Sprachbegriff vorauszusetzen. Vor dem Hintergrund von Herders kulturhistorischen und anthropologischen Aufwertungen von Oralität und Hörsinn rückt damit eine semantische Gegenwendigkeit der Begriffe von Sprache und Musik in den Blick, die umgekehrt die Sprache über Klangmuster und zumal die Poesie über die Metrik an die Musik anschließen. Dies ist zudem vor dem Hintergrund von Herders Musikkonzept zu denken, wie es Previsic (2013, S. 143f.) aus dessen Kritik an Rameaus Traité de l’Harmonie (1722) nachvollzieht und im Sinne einer „Umwertung“ der Harmonik „in die ‚Sympathetik‘“ deduziert. Denn Herder schon ist nicht an einer systemischen Tonalität, sondern am einzelnen Ton orientiert. Indes kann Hartknopfs Idee von Musik als eigentlicher Sprache der Empfindungen als Hinweis darauf gelesen werden, dass Sprache hier nicht als konventionelle oder gar ornamentale Metapher verwendet wird. Musik soll nicht im poietischen Sinn einer uneigentlichen Redeweise zu einer ‚Sprache gemacht‘ werden, sondern im aisthetischen Sinn eines audiomedialen Zeichensystems, sodass Hartknopf in Morgners semiotischer Deutung als Figuration des logos erscheinen kann. (Morgner 2002, S. 148; vgl. Heinz 2013, S. 76) Dass solcherart die Musik als Sprache der Empfindungen durchaus wie ein Kunsthandwerk erlernbar würde, zeigt Hartknopfs psychotherapeutische Anwendung: „Er verstand die Kunst, durch die Musik auf die Leidenschaften zu wirken – darum trug er immer seine Flöte bei sich in der Tasche – und durch unablässige Übung hatte er es so weit darin gebracht, daß er oft durch ein paar Griffe, die er, wie von ohngefähr tat, aufgebrachte Gemüter besänftigen, Bekümmerte aufrichten, und den Verzagten neue Hoffnung einflößen konnte.“ (RH 499)

Um die Musik als Kunst der Zähmung von Leidenschaften, Besänftigung der Gemüter oder Aufhellung von Stimmungen auszuüben, muss außer dem Instrument allerdings eine Sprache der Empfindungen beherrschen lernen. Nur dann kann sichergestellt werden, dass „der gewählte Ton grade eingreifen mußte, wo er sollte“ (ebd.). Eine solche audiomediale Regulierung von Stimmungen im interpersonalen Raum einschließlich psychischer Spannungszustände anderer geht über die Grenzen hinaus, die die empfindsamen Stimmungsszenen mit ihren gesellig eingespielten und konventionell verstärkten Sympathien einhegen. Es müssen nicht mehr empfindsam kultivierte Freunde wie Hartknopf und der Erzähler sein, die gemeinsam Stimmungen als den Raum erleben, der sich zwischen ihnen als eine Sphäre öffnet, die zugleich wie die Figur eines Dritten sie beide umschließt. Der musiksprachlich begabte Stimmungstherapeut müsse nur „den schon etwas kennen, auf welchen seine Töne dergleichen Wirkung hervorbringen sollten – aber er lernte auch wieder durch die Wirkung, welche diese Töne machten, allmählich das Herz dessen besser kennen, mit

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dem er umging“ (ebd.). Die sich so erst nach und nach in einer Art sono-psychoanalytischen Übertragung und Gegenübertragung einspielende Sympathie stellt also das Ergebnis einer musiktherapeutischen Praxis dar und wird nicht mehr analogisch vorausgesetzt wie die kosmo-psychologische Sympathie zwischen der Welt und dem Ich. Welche Töne aber bringen „die wunderbare Wirkung“ von zwischenmenschlicher Sympathie und psychischer Harmonie hervor und warum gerade sie? Der Erzähler nennt hier „eine sehr simple Kadenz, oder Tonfall“, wodurch die Wunderwirkung nicht einem bestimmten Ton, sondern der Abschlussbewegung einer Tonfolge zufällt. Dann aber verschiebt sich der Fokus der beobachteten Komplexität. Dieser lag bislang auf den Beziehungen zwischen Tönen (Kadenz), denen eine Empfindung oder ein nicht näher bestimmter Gemütszustand entspricht. Nun gilt die Aufmerksamkeit der Komplexität des psychischen Vorgangs, der durch einen einzigen Ton ausgelöst werden kann. Einem durch seine Unbedeutendheit bedeutender Ton korrespondiert eine durch ihre Ungewissheit gewisse Stimmung als psychischer Disposition: Ferne wird zur Nähe, die Inversion des Raum lässt die Stimmung expandieren: „Ein jeder wird einigemale wenigstens in seinem Leben die Bemerkung an sich gemacht haben, daß irgend ein sonst ganz unbedeutender Ton, den einer etwa in der Ferne hört, bei einer gewissen Stimmung der Seele, einen ganz wunderbaren Effekt auf die Seele tut; es ist als ob auf einmal tausend Erinnerungen, tausend dunkle Vorstellungen mit diesem Tone erwachten, die das Herz in eine unbeschreibliche Wehmut versetzen. –“ (Ebd.)

An dieser und der oben zitierten Passage beobachtet Dahlhaus, dass Hartknopfs „empfindsame Stimmung aber unmerklich in eine romantische über[geht], sobald [...] ein Ton, der unerwartet ins Innerste trifft, im Gemüt die Ahnung eines fernen Geisterreiches weckt, dem die Seele mit ‚unendlicher Sehnsucht‘ entgegenstrebt.“ (1978b, S. 280) Zwar forciert Dahlhaus seine Deutung durch die Verwendung von romantischen Konzepten wie Ahnung, Sehnsucht und Geisterreich, von denen an dieser Textstelle nicht die Rede ist. Immerhin fällt der romantisch anklingende Ausdruck ‚unbeschreibliche Wehmut‘. Dennoch ist der unter musikästhetischem Aspekt erläuterten Epochenzuschreibung, die systematisch überzeugend entwickelt und in weiteren Kontexten materialreich belegt wird (Dahlhaus 1988b), auch mit Bezug auf Hartknopf durchaus zuzustimmen. Nur erklärt die Erklärung von dessen musikästhetischem Exkurs zu einem „ideengeschichtlichen Dokument“ nicht den „Übergang von empfindsamer zu romantischer Reflexion“. (1978b, S. 280) Erklären lässt sich die hier als Übergang, an anderer Stelle als Widerspruch bezeichnete Gleichzeitigkeit von empfindsamer und romantischer Reflexion sowie Stimmung indes durch das in der Stimmung selbst und ihrem Begriff liegende Analysepotenzial. In der Stimmung materialisiert sich der benannte „Übergang“ im Ästhetischen, der in der Perspektive literaturhistorischer Periodisierung behelfsmäßig konstruiert oder als Widerspruch ebenso behelfsmäßig biographisch erklärt werden muss. So lassen sich die Szenen, in denen die Freunde von Herz zu Herz sprechen ebenso als literarische Darstellung von Stimmungen im Stil der Empfindsamkeit analysieren wie jetzt die ästhetischen Reflexionen über Musik als Sprache der Empfindungen. Zum einen also ermöglicht die Perspektivierung durch Stimmung Einsichten in die psychologische Struktur der schwärmerischen Sympathie und in den empfindsamkeitsäs-

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thetischen Mechanismus des „Ausdruck[s] der Empfindung“. (RH 499f.) Dem ist das „Blasinstrument“ zugeordnet, während „das Saiteninstrument schon zum Teil den Ideen geweiht“ (ebd.) ist. Zum anderen erschließt sich die Assoziation von Saiteninstrument und Ideen über die begriffsgeschichtliche Stimmungssemantik der Sphärenharmonie. Deren vor allem platonisch wirksame Ideentradition prägte die abendländisch-allseelischen Weltbildkonstruktionen bis zu den ersten mechanistischen Einbrüchen der frühen Neuzeit, überlebte in subkulturellen Wissensströmen von Pansophismen und Neoplatonismen bis zu Leibniz, Shaftesbury und Herder, um in der Folge ihrer ästhetischen Umstimmung der 1770er und -80er Jahre in der literarischen Romantik sowie der idealistischen Natur- und Kunstphilosophie (Schelling) neu aufzublühen.34 Die emotionell-ideelle Übergängigkeit der Bedeutungsschichten von Stimmung erklärt, wie die musikästhetische Reflexion im Hartknopf einen historischen Übergang darstellen kann, namentlich denjenigen zwischen ästhetisch-expressiver Empfindsamkeit und kosmospoetischer Romantik. Indem die von einem einzelnen Ton animierte Wahrnehmung als ästhetische Raumwerdung der eigenen Seele beschrieben wird, öffnet sich wie von selbst (wieder) jene platonistisch-harmonische Ideensphäre, die von griechischer Kosmotheologie, über die christliche Schöpfungsfrömmigkeit bis zum spinozistischen Pantheismus der Zeit von Lessing, Goethe, Mendelssohn und Moritz reicht. Weil die Stimmung bei Goethe und Moritz als raum- und zeitphänomenologischer Wahrnehmungsvollzug literarisch reflektiert wird, kann die solchermaßen ästhetisch neuerschlossene Sphäre panpsychistischen Denkens auch in Form metaphysischer Stimmungsmotive sich entfalten und in der Romantik transzendentalpoetische Urstände feiern. Der Übergang zwischen empfindsamer und romantischer Stimmung, von dem Dahlhaus bei Moritz spricht, erscheint als unerklärliche Vorläuferschaft nur solange er zwischen zwei Epochenschemata eingeklemmt ist. Im Text wird er bereits von einem musikalisch vorgestimmtem Denken ins Auge gefasst, insofern Hartknopf „ein großer Musiker gewesen“ wäre, „wenn er gleich nie hätte die Flöte blasen, und das Klavier spielen lernen.“ (RH 499)35 Seine zweifache Übungspraxis aber reflektiert gleichsam theoriebewusst jenen musik- und literaturgeschichtlichen Übergang, der im Begriff der Stimmung angelegt und mit deren Ästhetischwerden sich vollzieht: „– durch das Saiteninstrument entwickelte sich Hartknopf, was er durch Blasinstrumente im Ganzen empfunden hatte. / Die Blasinstrumente sind dem Herzen näher. – / Die Violine ahmet 34 Ihre Fortsetzung findet diese sphärenharmonisch-platonische Linie in den naturwissenschaftlich-positivistischen Populärphilosophien des 19. Jahrhundert und vervielfältigt sich um 1900 zu einem weiteren literatur- und kulturhistorischen Höhepunkt an panpsychistischer und panorganizistischer Zeit- und Raum-Stimmung. 35 Im Beitrag ‚Die Wirkungen der äußern Sinne in psychologischer Rücksicht. Über das musikalische Gehör‘ entwickelt das musikalische Denken aus dem „Verhältnis der Töne“ die Stimmungsformel, die die makrokosmische Natur im mikrokosmischen Organismus resonieren lässt. Den Takt des Naturganzen in sich zu spüren zeichne den großen Musikus aus: „Er ist eigentlich das Instrument, welches gespielt wird.“ (Moritz 1978, S. 103) Vgl. die Anmerkungen RH 882.

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durch die geschleiften Töne die Blasinstrumente nach, und macht den Übergang zwischen ihnen, und den mit immer wiederholten Unterbrechungen vibrierenden Saiteninstrumenten.“ (RH 500)

Deutlich macht diese Reflexion von musikalischer Praxis, dass auch die MusikSprache der Empfindsamkeit nicht schon dadurch von Herz zu Herz sprechen kann, dass ein bereits innerpsychisch konsolidiertes Gefühl zum Ausdruck gebracht und durch Sympathie übertragen wird. Vielmehr wird erst im Hervorbringen der oben diskutierten Gestalt-Töne durch das Flötespielen auch die Empfindung erst zu einem Ganzen, bevor dieses sich durch Sympathie im interkordialen Raum zur Stimmung verselbständigt. In der Reflexion des Einzelnen aber wird das durch Blasinstrumente gerundete Empfindungsganze zur ästhetischen Matrix für jene metaphysikfähigen Ideen, die beim Spielen des Saiteninstruments entwickelt werden können. Die Übergangsfunktion der Violine deutet auf die mit den Saiteninstrumenten einsetzende Abstraktion („wiederholten Unterbrechungen“) vom unmittelbar ganzen Empfindungsausdruck. Sie leitet damit über zur Vorstellung von Musik als einer Sprache, in der Empfindungen zu Ideen entwickelt und Gefühle als Gedanken artikuliert werden können. Als sprachlich und metaphysisch begabte dient Musik dann aber nicht mehr der empfindsamen Geselligkeit. Sie führt auf den Weg in romantische Einsamkeit und idealistische Spekulation, auf den sich zusammen mit Hartknopf der Wahlverwandte Emeritus und der Vetter Knapp gemacht haben. (Vgl. RH 477) Das noch idyllisch mitgeprägte Kleinformat empfindsamer Stimmungen wird am Ende von Hartknopf aufgegeben zugunsten einer mikro-makrokosmischen Maximierung von Stimmungsreflexion, die wenig später romantische Motive wie die des Unendlichen, aber auch Unheimlichen, des Abgründigen sowie der Sehnsucht animiert.

8. H ISTORISCHE ABFOLGEN UND K ONTINUITÄTEN Zwischen Herders „allgemeiner Musikalischer Ästhetik“ und Moritz’ literarischem Exkurs zur Musikästhetik

Dass sich mit der Stimmung unter analytischem Aspekt Kontinuitäten über Epochengrenzen hinweg beobachten lassen, zeigt sich hier auch unter Einbezug des Sturm und Drang, insofern er vom jungen Herder mit angestoßen wurde. In oben zitierter Passage mit dem Ton-Hören in der Ferne und der „gewissen Stimmung der Seele“ etwa kann die ästhetische Bedeutung, die dem einzelnen Ton zugemessen wird, bereits 1769 bei Herder gefunden werden. (Vgl. Previsic 2013) Daraus leitet Dahlhaus (1978b, S. 280) einen Bruch zwischen der Avantciertheit des Frühwerks und der 1800 erschienenen Kalligone ab. In dieser Schrift sei die romantische Rede von „Andacht“ und „unendlicher Sehnsucht“, die durch Musikhören ausgelöst wird, historisch verspätet gegenüber den metaphysischen Überhöhungen von Kunst und Musik bei Moritz, Jean Paul und Wackenroder. Dahlhaus’ (ebd.; vgl. 1988b, S. 31) musikgeschichtliche Deutung der angeführten Belegstelle aus dem Vierten Kritischen Wäldchen ist von der Absicht geleitet, Moritz’ Rede von dem „wunderbaren Effekt“ eines einzigen Tons ästhetikgeschichtlich einzuordnen. Hierzu wird einerseits Herders Musikreflexion von 1769 zur Stützung von Moritz vereinfacht, um diesem an-

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schließend seinen Rang als Vorläufer der romantischen Musikmetaphysik zu bestätigen. Liest man die in Frage stehenden Stellen bei Herder unter dem Leitaspekt der Stimmung nach, so fällt zunächst auf, dass der zitierte Satz mit einem Fragezeichen versehen ist.36 D.h. es wird „die ursprüngliche einfache Macht einer einzelnen unmittelbaren Sensation“ als ein musikalisches Grundelement ‚Ton‘ nicht gegen die Strukturen von Akkorden, Melodien oder Kompositen unkritisch ausgespielt. Der Ton wird auch unter physikalischem Aspekt als Schall bedacht, der als „Stoß der Luftwelle“ ins „Ohr, als Ohr“ kein „Verhältnis“ darzustellen scheint. Zumindest aber wird nach einem „Verhältnis“ zunächst gefragt, dessen Komplexität sich bei Moritz dann aus der Resonanz eines Einzeltons in einer „gewissen Stimmung der Seele“ entfaltet. (Herder 1993, S. 339) Nicht nur obwohl, auch weil Herder sich kritisch gegenüber mathematischen Erklärungen der „Verhältnisse der Töne unter sich in der Harmonie und Harmonischen Melodie“ äußert, so fragt er gleichsam nach der Differenzierung nach innen: „was aber ist in diesem einfachen Moment der Empfindung für Verhältnis?“. Im Unterschied zum mit „glückliche[r] Fühllosigkeit“ begabten „Mathematiker“ oder „Physiker“, die „den Ton bloß als Verhältnis denk[en]“, versucht der ‚Phänomenologe‘ Herder (ebd. 338, 340) außerdem zu verstehen, „wie Ton als Ton auf uns würkt“. Richtig ist also, wenn Dahlhaus en passent bemerkt, dass Herder sich hier gegen die pythagoreische Lehre der Begründung von Musik in mathematischen Proportionen wendet. Dies bedeutet indes nicht, dass Herder die damit verknüpften kosmotheistischen Harmonievorstellungen verwirft.37 Allerdings hat er auch keine „Metaphysische Hypothese im Vorrat [...], um durch sie die Physik zernichten zu wollen“ (Herder 1993, S. 342). Vielmehr interessiert sich die frühere Ästhetik durchaus für eine physiologische Perspektivierung des Musikalischen, die an die „Schwelle der Erklärung“ (ebd. 348ff.) von dessen akustischen Grundlagen führe. Dies kehrt im Hartknopf in der auch physiologisch heilsamen Wirkung von Musik wieder, deren Wirkung auf die „Leidenschaften“ über die „verschiedenen Veränderungen des Pulsschlages“ (RH 500) reguliert ist. Einer physikalischen Sicht auf Musik entsprechend sind wiederum für Herder (1993, S. 358) auch „das Aggregat harmonischer Töne noch Schall [und] alle Harmonien von Akkorden nur Schälle“. Anders als Moritz sieht er nicht Blasinstrumente, sondern das „Ohr der Seele am nächsten – eben weil es inneres Gefühl ist“ (ebd. 355). Von hier aus geht es dann in kulturhistorischer Perspektive um die „poetische Einkleidung [...] der Innigkeit der Musik überhaupt“, während die „Ästhetische Musik“ auf „Ton- nicht Schalllehre, Melodie und nicht Harmonie“ (ebd. 357, 360) zentriert bleibt. Als Gegenstück zu solcher Ästhetischen Musik interessiert sich der junge Herder für eine „allgemeine Musikalische Ästhetik“. 36 „Und doch kann ein solcher Ton, ohne Verbindung und Folge uns so tief erschüttern, so innig rühren, so gewaltsam bewegen, daß dies Eine Erste Moment der Empfindung, dieser einfache Akzent der Musik an innerer Masse mehr ist als das Produkt aller Empfindungen aus allen Verhältnissen, allen Harmonien eines großen, langen Stücks?“ Herder, „Die Kritischen Wälder zur Ästhetik,“ in: ders. 1993, S. 9-443, hier 339. 37 Vgl. etwa in der Kaligone: „Das erhabenste Selbstgefühl ist nur das Gefühl der Harmonie mit sich und der Regel des Weltalls, mithin das höchste Schöne.“ (Herder 1998, S. 873)

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Den großen Vorhof zu deren Pforte, wie Herder sich ausdrückt, bildet gemäß seiner Sicht auf „Poesie und Musik [als] unzertrennliche Schwestern“ die „Musikalische Poesie“. (ebd. 364, 366) Noch heute teilen die interdisziplinäre Forschung zu Emotionen, zu kognitiven sowie literarischen, insbesondere auch musikalischen Ästhetiken (vgl. z.B. Röller 2012) zur Stimmung – dem Desideratum der Sache nach – Herders Ausrichtung auf eine allgemeine Grundlagenreflexion: „Da ist der Weg zur Pathetik aller einfachen Musikalischen Akzente, wie mit gewissen Tönen, und mit gewissen Erregungen des Gehirns auch gewisse Empfindungen der Seele wiederkommen: wie es also gewisse Schälle für gewisse Zustände des Gemüts, und überhaupt eine Materielle Seele gebe, deren äußeres Gewebe von Berührungspunkten nicht ganz der Nachforschung verschwände. Welche Aussichten von hieraus in die mancherlei Grenzen und Angrenzungen der Leidenschaften, wie der Schälle und Töne! [...] Wenn die Natur keinen nähern Weg an die Menschliche Seele wußte, als durchs Ohr vermittelst der Sprache, und keinen nähern Weg an die Leidenschaft, als durchs Ohr mittelst der Schälle, der Töne, der Akzente – Muse der Tonkunst, welche Eingebungen sind in deiner Hand, um die Physiologie der Menschlichen Seele zu enträtseln.“ (Ebd. 351)

Wie die frühe Ästhetik der Kritischen Wälder im Zusammenhang von Ton- und Literaturästhetik durchaus nach akustischen und seelischen Verhältnisbestimmungen sucht und diese sich unter dem Aspekt der Stimmung zusammenschauen lassen, so hält noch die spätere Ästhetik an dieser physikalisch-psychologischen Doppelperspektive fest. Auch in Kalligone bleibt das Akustische als Erklärungsbasis dem Ästhetischen erhalten und begründet die kommunikative Funktion von Stimmungen, wenn wir diese als audiomediale Kraftübertragungen auffassen: „Schall, und feiner erregt, Klang; Klang, der jede ähnliche Organisation in gleiche Schwingung versetzt, und bei empfindenden Wesen eine analoge Empfindung wirket.“ (Herder 1998, S. 641-964, hier 811) Gemäß potenzieller Übertragungsdynamiken wirkte indes auch schon der sympathetisch angeschlagene Ton der Empfindsamkeit, ebenso das raumbildende und kraftübertragende Pathos des Sturm und Drang. So haben wir im Reisejournal beobachtet (Kap. A-IV.3), wie Herders Gefühl in die Weite des Meeres ebenso ausschwingt wie seine theoretische Spekulation in psychoakustische Tiefen des „erste[n] Ton[s], die erste Stimmung der Seele“ vordringt. (JmR 103) Im Vierten Kritischen Wäldchen spricht Herder von der „singenden Sprache“ als „Quelle der Musik“ und von dieser „Zauber-musik“ als Ausdruck von „Leidenschaft, Empfindung“ und „Modulationen jedes Affekts“. (Herder 1993, S. 363) Da die ästhetische Stimmung den künstlerischen Ausdruck und die Rezeptivität emotionaler Befindlichkeiten ebenso einschließt wie proportionierte Gestalt- und Materialstrukturen in Kunstwerken samt deren formalästhetische Resonanzspektren, lassen sich in ihrer Perspektive systematische Unterschiede (Wirkungsästhetik/ Genieästhetik/Autonomieästhetik) ebenso zusammendenken wie historische Abfolgen (Empfindsamkeit/Sturm-und-Drang/Klassik) – ohne Differenzen einzuebnen. Dadurch lassen sich auch in werkgeschichtlicher Hinsicht – wie gesehen bei Herder und mehr noch bei Moritz – vermeintliche Umorientierungen als Neuausrichtung auf (nur) weiter entfalteter Basis verstehen. Durch das Stimmungsparadigma löst sich die von Dahlhaus (1978b, S. 284) an Moritz konstatierte „Widersprüchlichkeit“ zwischen empfindsamer und klassizistischer Ästhetik gewissermaßen kehrseitig als Ex-

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troversion kultivierter Innerlichkeit. Das „echte Schöne“ in der Kunst „außer uns“ kann als die autonomieästhetische Explikationsform desjenigen verstanden werden, was in der Wirkungsästhetik als innere Natur „unserer Vorstellungsart“ erfahren wird. (RH 61) Außersystematische Erklärungen können durch Einflussfaktoren wie mangelnde „Sachkenntnis“ (Dahlhaus 1978b, S. 284) Biographie oder Zeitgeist etwas weiter zurückgestellt werden. Im epochalen Zusammenhang der geistesgeschichtlichen Rehabilitation des Sinnlichen und des Aufstiegs von Ästhetik zur philosophischen Disziplin werden die Steigerung der ästhetisch-ethischen Sensibilität, die Reflexion der sinnlichen und emotionalen Wahrnehmungsvorgänge durch literarische Darstellungen von Stimmung explizit. Die in den Kontexten der Empfindsamkeit kultivierten Emotionen überschreiten mit ihrer Darstellung im Werther die Schwelle zu atmosphärischen Umgebungsqualitäten, wie sie Moritz (1792) im Werther wahrgenommen 38 und phänomenologische Ansätze auch in der gegenwärtigen Stimmungsforschung akzentuieren (Böhme 2013, Meyer-Sickendiek 2011, 2013)39. Goethes Literarisierung einer phänomenologischen Wahrnehmung von Stimmungen geht nicht nur bereits über die empfindsame Herz-zu-Herz-Kommunikation hinaus, sondern befreit so die in der Stimmung sedimentierte Metaphysik von ihrer ontologischen Schwere und kosmotheologischen Antiquiertheit. Genau hier knüpft Moritz, der seinen Hartknopf dem verehrten Werther-Autor zur Lektüre anempfohlen hat, poetologisch an.40

9. W OHLABGESTIMMTHEIT UND W OHLTEMPERIERTHEIT . M USIK UND P OESIE IN W IELANDS M USARION . ÄSTHETISCHE E NTFALTUNG EINES I DEENPOTENZIALS UND DIE K RAFT DER Ü BERTRAGUNG Nachdem der Held und unter dessen Führung der Erzählerfreund sich der emotionalen Sogkraft der schwärmerischen Empfindsamkeit soweit entzogen haben, dass sich ihnen die raum- und zeitphänomenalen Qualitäten der gemeinsamen Stimmung als vor- und transsubjektive Leiberfahrungen mitteilen (wie „neugeboren“), entfaltet der Text das der Stimmung bedeutungsgeschichtlich einlagernde Ideenpotenzial (SelbstWelt-Harmonie). Hierzu dienen die poetologisch ansonsten funktionslosen Reflexionen über Musik. Dabei wird wiederum zunächst der sinnliche Wahrnehmungscharakter des Flötespielens als ästhetisch erweiterte Leibpraxis (Atmen, Einhauchen) dargestellt. Dadurch wird bereits die empfindsame Psychologie des musikalischen Ge-

38 Dazu die im ästhetischen Stimmungsparadigma keineswegs widersprüchliche Feier von Werther als „neuere Dichtkunst“, die im klassizistischen Sinne „der griechischen Einfalt, Würd’ und Wahrheit am nächsten komme“ (RH 691). 39 Zur Einbeziehung auch des Physiognomischen und Lieblichen im Zusammenhang des Atmosphärischen siehe G. Böhme 2013. 40 Eine Korrektur der Sicht auf Moritz’ adulatorisches Verhältnis zu Goethe wird im Anschluss an die Biographien von Boulby und Boyle mit der ästhetischen Frage nach der „Ungehörigkeit“ verbunden bei S. Richter 2011, S. 231.

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fühlsausdrucks relativiert und phänomenologisch ergänzt. Dann erst folgt die Einstreuung und ansatzweise Entwicklung von wissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Ideen auf eklektizistische Weise durch Anleihen bei der Pädagogik, Sprachtheorie, Freimaurerei, Theologie, Astronomie, Theorie der Atome (Lukrez, vgl. RH 494), Physiologie, Psychologie, Dichtung und schließlich Musik. Der hier in autodidaktischer Übungspraxis und aisthetischer Leiberfahrung verwurzelten Musik aber kommt die Doppelfunktion der Grundlegung und Vermittlung der Ideen zu. 41 Musik dient dem Flüssighalten von deren ontologischem Kernbestand und der Verlebendigung alles Begrifflich-Theoretischen. Gemäß ihrer mythologisch-mystisch vielfältigen Herkunft aus orphischen, pythagoreischen und platonischen Traditionen 42 praktiziert Hartknopf Musik als eine audiomediale Universalisierung des Harmonischen, der objektive und subjektive Stimmungen im Selbstverhältnis entsprechen. Zwar ist die Anspielung auf die mathematische Grundlegung der pythagoreischen Musiklehre eindeutig, wenn der Erzähler sagt, dass „Musik und Astronomie Hartknopfen nahe miteinander verknüpft“ waren. (RH 500) Jedoch bleibt die Art dieser Verknüpfung ebenso unklar wie die Anknüpfung an altgriechische Musiktheorien und deren mythologische Referenzen (vgl. Neubecker 1977) mehrdeutig ist. (RH 500) Zu denken ist etwa an die von Cicero überlieferte Auffassung, dass den regelmäßigen Laufbahnen der Himmelskörper, deren Höhe proportional zur Geschwindigkeit ist, jeweils bestimmte Töne entsprechen 43 , wenn es von Hartknopf heißt: „Er lehrte mich in einer Nacht einen Teil der Astronomie bloß durch die unnachahmlichen Töne seiner Flöte“. (RH 500) Dass dies „eigentlich“ aber nur geschah, „weil er das Klavier nicht zur Hand hatte“ (ebd.), zeigt das Bewusstsein der Abweichung vom pythagoreischen Mythos, insofern darin anstelle der Flöte die siebensaitige Laute mit ihrer mathematisch richtigen Stimmung für Harmonien wie die zwischen Mensch und Welt, den Wissenschaften und der Natur, der Seele und dem Körper sorgt. Denn es ist die genau mit der Länge der Saiten abgestimmte Höhe der Töne und also ein Saiteninstrument, das die Ganzheit garantierende, Heil stiftende und im umfassenden Sinne weltharmonische Musik macht. Dem Mythos gemäß ist aber die Sphärenmusik für Menschenohren nicht hörbar. Der tonale Kitt, der die ‚Welt im Innersten zusammenhält‘ ist nicht erst dem neuzeitlichen Faust entzogen und also Gegenstand des wissenschaftlichen Begehrens. Wer 41 Bei Platon geht die Grundlegungsfunktion der Musik für die Wissenschaften des Quadriviums (Musik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie) auf die physikalisch-mathematischen Gesetze der pythagoreischen Tradition zurück. (Vgl. Jacobs 2013, S. 65) Die Politeia (617b) übermittelt dazu das „berühmte mythische Bild der acht Sirenen, die, jede auf einer Planetenbahn sitzend, ihren eigenen Ton singen und die kosmische Harmonie der Sphären produzieren“ (ebd.). 42 Ein guter Überblick hierzu bei Jacobs 2013, S. 65-68; zur Bedeutung der älteren Traditionen für Platon und die unterschiedliche Integration von Musik in seinen Werken Politeia, Kratylos, Timaios und Nomoi wird verwiesen auf Fögen 2007; Ziermann 2004; G. Böhme 1974. 43 Vgl. Jacobs mit folgendem Zusatz: „Der harmonische Akkord ist dabei als Ordnung stiftende mathematische Proportion gedacht, nicht als akustischer Simultanklang, der dem monodischen Musikdenken der Griechen fremd ist.“ (2013, S. 65)

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aber auch in der Antike schon außer den Göttern über die musikalische Weisheit verfügte, den das Weltgebäude wie in einem Schlussstein zusammenhaltenden Klang nachzumachen, waren nur wenige Auserwählte. 44 Dem entspricht die charismatische Charakterisierung Hartknopfs, deren Überzeichnung ins Auratische das heilig-ernste Zentrum im Kontrast zu den satirischen Heiterkeiten der narrativen Peripherie bildet. Indes nimmt Hartknopf keineswegs die Herrschaftsattitüde eines esoterischen Weisen ein. Er orientiert sich an „einer pedantisch rationalen Musikpsychologie, wie man sie eher bei Johann Mattheson oder Johann Nikolaus Forkel“ vermuten würde. (Dahlhaus 1978b, S. 284; zu Forkel Welsh 2003) Gemäß einer solchen Psychologie, „in der bestimmte rhythmische Figuren als ‚Zeichen‘ für fest umrissene, benennbare Affekte erscheinen“ (ebd.), scheint Hartknopf nach einem tonalen Notations- oder Transskriptionssystem für eine Typologie von Emotionen zu suchen. So fände die für diese Umstimmungsphase der Aufklärung bezeichnende Idee von ‚Musik als Sprache der Empfindungen‘, die noch über die Romantik hinaus weiterwirkt (vgl. Apel 2013, S. 172ff.), in der Verschriftlichung dieser Sprache eine Rückbindung der desideraten Klangästhetik an das Schriftmonopol des 18. Jahrhunderts. (Vgl. Kittler 1985) Hartknopf scheinen aber auch die damit verbundenen Herausforderungen bewusst zu sein, müsste doch die Erfindung eines musikalischen „Alphabet[s] der Empfindungssprache“ anstelle der Arbitrarität von „Zeichen“ deren ontologische Fundierung im Ästhetischen leisten: „Daß durch gleiche Taktteile Ernst und Würde – durch ungleiche lebhafte Empfindungen – durch drei oder vier kurze Töne zwischen zwei längern, Fröhlichkeit – durch einen oder zwei kurze Töne vor einem langen Wildheit, Ungestüm – durch ♪♫ das Schwerfällige ausgedrückt wird – wie geht das zu? Worin liegt hier die Ähnlichkeit zwischen den Zeichen und der bezeichneten Sache?“ (RH 500)

Wonach Hartknopfs musikalische Wissenspraxis letztlich strebt, ist eine psychosemiologische Korrespondenztheorie, die ein sono-mediales Stimmungsspektrum abbildet, in dem die Nuancen des Pathischen ihre genaue Entsprechung im Tonsystem erhalten und jedem Gefühlswechsel ein Klangfarbenwechsel entsprechen würde. Unter dem Aspekt des hier sonischen45 Stimmungsphänomens wird zudem deutlicher, dass nicht nur emotionale in konsonale und akustisch-physische in klanglichsymbolische Phänomene übertragen und Musik als Sprache verständlich werden, sondern auch mediologisch umgekehrt die Sprache als Musik. Denn wie von der Musik macht Hartknopf von der mit dieser eng verbundenen Dichtkunst psychotherapeutischen Gebrauch in jenem performativen Sinne einer angewandten Aisthetik. Wenn „er kranke Seelen heilte [...,] dann flossen die Worte im metrischen Silbenfall, wie Balsam von seinen Lippen –“ (RH 500). Synästhetisch assoziiert ist mit dem me44 Jacobs (2013, S. 65) mit Bezug auf Spitzer (1963, S. 8, 115) merkt zu dieser Version an, dass sie „auf den Angaben des Anonymus Pythagoreans“ fußt, demgegenüber einer anderen Variante zufolge „sich die Töne aus den Distanzen zwischen den Sphären“ ergeben und nur in der Stille hörbar sind. 45 Siehe zu dieser Begriffsprägung Ernst 2008; zum ästhetisch, historisch und epistemologisch gewendeten Begriff der Sonalität Wilke und Moebus 2011.

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taphorischen Balsamvergleich eine pflegende Taktilität von gesprochenen und erhörten Worten. Die oral-audio-mediale Matrix der poetischen Sprache enthält hier mit den Semantiken von Labialität und Weichheit zudem phonetische, entwicklungspsychologische und erotische (Stimmungs-)Implikationen. Die über ihre Metrik mit Musik verwandte Sprache der Dichtkunst ist für Hartknopf weder genieästhetische Sprachschöpfung („Wunderdichter“) noch autonomieästhetischer Selbstzweck des Schönen. Sie ist auch nicht sekundär als Vergnügen nützlich, sondern primär als „heilsame Seelenarznei“ und aisthetisches Mittel „zur Veredelung und Erhebung des Geistes, zur Beruhigung der Leidenschaften“. (RH 501) Hierzu besonders geeignet ist offenbar Poesie (Horaz) mit einem wohlabgestimmten Metrum („abgemeßnem, reizendem Silbenfall“), das den wohltemperierten Takt menschlichen Daseins („rechten Takt des Lebens“) „lehrt“ (ebd.) und eigentlich wiedergibt. Hier sind mit Wohlabgestimmtheit auf der Objektseite und Wohltemperiertheit auf der Subjektseite zwei begriffsgeschichtlich zentrale Bedeutungsaspekte von Stimmung integriert, während diese Integriertheit selbst noch einmal zur Stimmungssemantik gehört. Bei der zweiten Dichtung ist es nicht das „reizende“ Metrum, was sie zum Stimmungsmedium qualifiziert, sondern es ist die „reizende Philosophie“ darin.46 Die Philosophie der Grazien lautet denn auch der Untertitel von Wielands Musarion von 1767. Dass dieser Text nicht nur Hartknopfs, sondern auch Moritz „Lieblingsgedicht unter den Neuern war“ (RH 501), scheint prima vista ebenso nebensächlich wie die Identifikation von Musarions ‚Stimmung‘ mit derjenigen Wielands wie dem Brief an Weisse (15.03.1769) zu entnehmen ist. (Wieland 1965, S. 319-324) Dass es im Musarion indes um eine moderne Verkörperung des Geistes der antiken Welt geht, lenkt auf unsere These der Ästhetisierung von Stimmung und der anschließend neu entfalteten Ideen von Weltharmonie im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zurück. Im Allgemeinen soll Musarion selbst der „vollkommene Ausdruck“ jener wohltemperierten Daseinsstimmung sein und damit ein „Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit“ (ebd. 320) darstellen. Schon damit eignet sich der Text auch für Hartknopfs stimmungsphilosophische Heilpraxis. Im Besonderen aber werden eben jene metaphysischen Ideen aus dem platonischen Umkreis der Sphärenharmonie im Text diskutiert47, die zumindest ansatzweise vom Text durch Verwendung gereimter Verse und klassischer Versmaße formalisiert werden. Wer darin „Von Eins und Zwei, von musikalischen Sphären, / Vom Tod der Sinnlichkeit und von Vergöttrung spricht“, könnte auch Hartknopf mit seinen einfachen Melodien sein: „Auch die Musik, so roh und mangelhaft Sie unterm Monde bleibt – denn, ihrer Zauberkraft Sich recht vollkommen zu belehren, Muß man, wie Scipio, die Sphären (Zum wenigsten im Traume) singen hören – Auch die Musik bezähmt die wilde Leidenschaft, 46 Wieland 1965, darin Musarion S. 319-365. 47 Ebd. 359, 361: „Zahl“, „Sternenplan“, „Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn“, S. 327; „geheimnisvollen Zahlen“, „dein Pythagoras“, „die Sphären singen hören“.

396 | POETOLOGIE DER STIMMUNG Verfeinert das Gefühl, und schwellt die Seelenflügel; Sie stillt den Kummer, heilt die Milzsucht aus dem Grund, Und wirkt (zumal aus einem schönen Mund) Mehr Wunderding als Salomonis Siegel.“ (Ebd. 351)

Die weltharmonisch fundierte Stimmung ist hier über die Motive der Musik, deren gründliche Heilkraft gegen schwarze Melancholie und wundersame Wirkung „aus schönem Mund“ in ähnlicher Weise wie im Hartknopf präsent. Der darin gepriesene Wieland setzte zwei Jahrzehnte zuvor mit der Figur Musarion eine Versinnlichung der mathematisch-musikalisch Abstraktion der pythagoreisch-platonischen Sphärenharmonie in Szene. Dadurch wird die über Mondscheinszenarien („nach aller Schwärmer Art“, ebd. 361) ebenfalls präsente Empfindsamkeit bereits auf eine ästhetische Explikation von Stimmung hin zu überschreiten begonnen. Diese setzt mit einer performativen Vertextung musikphilosophischer Ideen ein, bevor Vertonungen literarischer Texte ab 1800 hinzukommen (z.B. J. F. Reichardt: Goethe-Vertonungen; J. Brahms: Alt-Rhapsodie nach Goethes ‚Harzreise im Winter‘). Im Anschluss an die intertextuellen Bezüge zu Wieland und Horaz, darüber hinaus zu Rousseau, Young, Mendelssohn, Lessing sowie den Sturm-und-DrangFavoriten Homer, Milton und Ossian, wird mit „der Deklamation“ eine letzte Komponente im historischen Prozess der Stimmungsexplikation angeführt. 48 Sie sei Hartknopfs „größte Stärke“, vor allem im Vergleich zum eigenen Versemachen. Zunächst bedeutet ihm die Deklamation eine vokale Praxis der individuellen Bemächtigung „des Fremden“; sodann aber versteht er sie auch als ein soziales Medium der Aneignung von kulturellem Wissen als „ein gemeinschaftliches Gut“. (RH 501) Diese im Text über das Bild der „Strahlen des Geistes“ erhellte Dimension einer kollektiven Teilhabe macht Hartknopfs Deklamation als ein mediales Phänomen der Aufklärung deutbar, das die Hegemonie der Medien Schrift, Buch, Literatur im 18. Jahrhundert ebenso durchbricht wie bestätigt. Letzteres insofern die Deklamation normalerweise auf schriftlich Fixiertes zurückgreift, das sie als Poesie publikumswirksam rezitiert, als Heilige Schrift in öffentlicher Predigt rhetorisiert oder als aufgeführten Dramentext bzw. Libretto vokalisiert. Zugleich aber stellt Hartknopfs Vorliebe für Deklamation (statt für das Schreiben eigener Verse) die textmediale Konstitution „der großen Geisterrepublik“ der Aufklärung in Frage. Denn diese wird zumindest virtuell durch die deklamatorische Performanz audiomedial verflüssigt und die schriftbasierte Öffentlichkeit um eine sonale Dimension erweitert. Damit reicht Hartknopfs Repertoire an ästhetischen Stimmungspraktiken – intimes Gespräch, Vertonung von Gedanken, Musikalisierung von Empfindungen, Versprachlichung von Musik, Musik- und Dichtungstherapie – einmal mehr über die geselligkeitszentrierten Kommunikationsmus-

48 Auch das Thema der Deklamation ist von Herder mit vorgegeben, wo er von der „Geschichte der Musik und Poesie“, der sie verbindenden „Rhythmik, Metrik, Poetik, Harmonik“ und „Prosodie“ spricht. (Herder 1993, S. 364) Herders Vorbehalte gegen Moritz Schriften („Wir sind weiter“, vgl. RH 722) lassen sich aus dem Umstand erklären, dass sich viele Themen, auch das der Prosodie, vor allem das ästhetische Zusammendenken von Musik und Sprache zuvor bei ihm selbst anzutreffen sind.

II. DAS W ELT -I DEAL

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ter der Empfindsamkeit mit ihren emotionalen bis schwärmerischen Formen des Sprechens und Hörens hinaus. Die auf der Inhaltsebene versammelte Vielfalt an Themen, Motiven und Philosophemen treibt immer wieder im Zeichen einer universalistischen Stimmungsästhetik über die zeitgenössischen Diskurse über Pädagogik, Philanthropie, (Kreuzes-)Theologie, Mystik, Musik, Psychologie oder Poetik hinaus. Dem entspricht auf der Formebene des Hartknopf – im Gegensatz zum Anton Reiser – die Entflechtung eines geradlinigen Erzählfadens zugunsten eines rhapsodischen Wechsels von Szenen, Sprachstilen, metaphorischen Bildfeldern sowie Ton- und Gefühlslagen der poetischen Rede. Die narrative und stilistische Fragmentierung weist auf die Romantik voraus und ist mit dem ebenfalls in der Romantik aufblühenden Motiv der platonischen Weltenharmonie unter modernisierten Bedingungen verbunden. Denn die Fragmentierung hat ihren poetologischen Grund in Moritz’ Versuch, über das empfindsame Gefühls- und Ausdrucksvertrauen hinausgehend das kosmosfrömmige Ganzheitsdenken der Antike (Sphärenharmonie) in den polysonalen Formen der Stimmung als ästhetischem Medium zwischen Herz/Herz, Leib/Seele, Individuum/Gesellschaft, Ich/Natur, Empfindung/Sprache zu aktualisieren. Dies aber bedeutet – wie schon die Distinktion von echter und affektierter Empfindsamkeit im Reiser und Hartknopf zeigt – jede Harmonisierung zu vermeiden, wo Harmonie sich nicht von selbst einstellt. Das Aufkommen ästhetischer Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht keine Restauration metaphysischer Harmonieideale, was wiederum bloß zur ‚falschen‘ Romantik führte. Es bezieht indes vom Welt-Ideal der Sphärenharmonie die Kraft der Übertragung, die bei Platon Übertragung der Kraft der Begeisterung ist.49 Diese kulturhistorisch wie psychogenetisch aus Kraftübertragungen (Enthusiasmus, Geist, Resonanz, Liebe) hervorgehende Übertragungskraft wird künstlerisch zu neuen Stimmungsformen verarbeitet, die von Ironisierungen des ‚Ganzen‘ bis zu Verkehrungen ins Dissonante reichen.

49 Zum Begriff der Kraft im Zusammenhang mit Begeisterung und Übertragung siehe Menke 2008, Kapitel IV; zu Platons Dialog (Ion, 533d-534e) zwischen Sokrates und dem Redner Ion im Zusammenhang von Kunst und Kraftübertragung ausführlich ders. 2013, S. 11f., 23, 34.

III. Ästhetische Transfiguration der Harmonie. Von der Stimmung der Seele zum Roman als Allegorie

1. Z WISCHEN E MPFINDSAMKEIT

UND

K LASSIK

Stimmung als Drehscheibe zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik

Insofern die thematisierte Interaktion zwischen Gefühl, Musik und Sprache an eine empfindsame Doppelästhetik der Affekte und Effekte zurückgebunden bleibt, ist die Zersplitterung der Erzählform in Andreas Hartknopf. Eine Allegorie nur konsequent. In der lockeren Handlungsfolge entsprechen dann manche Stimmungsszenen den Konventionen der Empfindsamkeit, andere bilden Antizipationen der frühromantischen Herzensergießungen Joseph Berglingers (Wackenroder). 1 In beiden Fällen fielen letztlich die Gefühle von ihren Objekten – dem anderen Herzen, Menschen bzw. von der Kunst oder Musik – zurück auf sich selbst. Die narrative Aktualisierung – und freimaurerische oder mystische Verschleierungen – von platonistischen Ganzheitsvorstellungen (Weltseele, Mensch-Natur-Sympathie, psychokosmische Symphonie) scheint so im Roman allenfalls die Form zu finden, in der das symphonische Integrationspotenzial der Stimmung sich darin erschöpft, eine Allegorie auf die Welt ohne Sphärenharmonie zu sein. Liest man Hartknopf hingegen nicht nur als Roman der Empfindsamkeit oder als Satire auf dieselbe, sondern parallel dazu unter dem Aspekt des klassizistischen Formgedankens von Moritz’ Ästhetik des In-sichVollendeten, so lässt sich die Stimmung als zentrales Gestaltungsprinzip erkennen, das Auseinanderstrebendes zusammenhält (concordia discors). Gegen eine solche Lektüre spricht freilich die literaturgeschichtliche Zuordnung, die in Hartknopf den Vorläufer der Romantik sieht, ihn aber auch als Nachhut der Empfindsamkeit zurechnet. (Vgl. Ulrich 1971) Danach wären die Stimmungsszenen eben doch ungebrochen schwärmerisch, das Thema ganzheitlicher Harmonie verklärend behandelt und poetologisch die Wirkungsästhetik samt „unmittelbare[m] Aus-

1

Zur Bedeutung von Wackenroders Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger für die Reflexion des theoretischen Paradigmenwechsel in der Literatur von Malerei zur Musik siehe Lubkoll 1995, S. 125-159.

400 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

druck von Innerlichkeit“ 2 grundlegend. So wendet sich Dahlhaus (1978b, S. 285) gegen Schrimpfs Relativierung, dass die Musik als Sprache der Empfindungen nicht allein empfindsamer Emotionsausdruck, sondern auch Suche nach einer „höhere[n] Sprache des Schönen“ (SzÄ 246) und der Phantasie sei. Allerdings muss er zugestehen, dass doch darin der Übergang von Empfindsamkeit zu romantischer Metaphysik besteht, den er selber zurecht behauptet – aber als Widerspruch verstanden wissen will. Diese „höhere Sprache“, die in Kategorien objektiv-symphonischer Stimmung, nicht aber subjektiv-expressiver Emotion erfassbar ist, kehrt schließlich in der Musikästhetik E.T.A. Hoffmanns unter dem Namen ‚Sanskritta‘ wieder. Stattdessen betont Dahlhaus (1978b, S. 285f.) die Dominanz eines an Daniel Schubert erinnernden Tons in Hartknopfs Flötenspiel, d.h. eine emphatische Auffassung von Musik als Empfindungssprache. Setzt man hingegen den Akzent auf die Musik als Sprache der Empfindungen, dann geht es nicht mehr allein um den geselligen Gefühlskult, um die Wirkung der Herzensrührung und um die Feier der Seelensympathie. Vielmehr rückt vor die kommunikative Funktion der ästhetischen Wirkung auf andere die mediale Reflexion der Interaktion von Musik und Sprache, wie dann im Text die unmittelbar anschließende Thematisierung von deren metrischen, klangästhetischen und deklamatorischen Zusammenhängen in der Poesie zeigt. Dadurch wird der wirkungsästhetisch interpretierbare Aspekt von Hartknopfs musik- und poesietherapeutischer Praxis von einer intermedialen Betrachtungsweise überlagert, die die musikästhetischen Ideen nicht länger isoliert erscheinen lässt. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Lesers aus dem thematischen Fokus einer ethisch-ästhetischen Harmonie – personifiziert von der Hauptfigur 3 – zurück auf ihre sprachliche Realisierung in Romanform. Diese kann durchaus – anders als die in Dahlhaus’ (1978b, S. 286) Gegenargumentation angeführten Flötentöne – in die werk- und autonomieästhetische Perspektive eines „in sich selbst Vollendete[n]“ (SzÄ 3) gestellt werden. Für eine solche Lektüre, die vergleichende Theorieperspektiven einbezieht, spricht schon das zeitgleiche Entstehen von Moritz’ ästhetischen Schriften und der beiden Romane. Die jeweils ersten Teile von Anton Reiser und Andreas Hartknopf erschienen wie die bereits erwähnte Schrift Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich Vollendeten im Jahr 1785. Ihr jeweils letzter Teil, der vierte von Anton Reiser (2., 3. Teil 1786) und Andreas Hartknopfs Predigerjahre im Jahr 1790. Die kunsttheoretische Hauptschrift Über die bildende Nachahmung des Schönen erscheint 1788. Deren klassizistische Kunstautonomie muss nicht auf biographische Einflüsse wie die Begegnungen mit Goethe und Herder in Rom in den Jahren zuvor zurückgeführt werden. Denn diese lag ja in nuce schon mit der ästhetischen Idee des in sich Vollendeten 1785 vor. Die Hauptschrift von 1788 schließt trotz ihres Titels an den Versuch auch insofern an, als dass alle Künste gemeint sind, also auch Musik und Dichtung. Wer nun Moritz’ Romane der 2 3

Siehe Moritz 1968, S. 66*, wo der Herausgeber sich zurecht gegen eine Vereinseitigung auf schwärmerische Empfindsamkeit wendet. Diesem Personifikationscharakter entspricht die – neben der semiotischen und ästhetischen – anthropologische Lesart bei Morgner (2002, S. 125), die im Helden selbst eine allegorischen Figur erkennt. Vgl. Heinz 2013, S. 76.

III. Ä STHETISCHE TRANSFIGURATION DER HARMONIE | 401

Empfindsamkeit und der Wirkungsästhetik einerseits und seine Kunsttheorie der Klassik und Autonomieästhetik anderseits zurechnet und daraus – wie Dahlhaus – einen unlösbaren Widerspruch ableitet, weist ungewollt auf ein generelles Problem von Interpretationen auf der Basis literaturgeschichtlicher Epochalisierungen. Es besteht im Übersehen, Missdeuten oder Verdecken sachlicher und entstehungszeitlicher Zusammenhänge durch klassifikatorische Schemata, insofern diese Erwartungen an Homogenität und Chronologie befördern, wo poetologische Heterogenität und die historische Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem walten. Das spezielle Problem bei Moritz mag dann darin gesehen werden, dass hier derselbe Autor im Denken über und Schreiben von Literatur sich widerspricht und das auch noch werkgeschichtlich gleichzeitig. Mit der Kategorie der Stimmung lässt sich die schwerlich zu leugnende Bruchstelle zwischen Empfindsamkeit und Klassik als eine Art Drehscheibe zwischen Wirkungsästhetik und Autonomieästhetik erkennen und für Interpretationen von Werken und Werkzusammenhängen produktiv machen. Denn zum einen ist die Stimmung als eine die Vielheit von Empfindungen in der Einheit des Gefühls organisierendes Dispositiv zur Kategorisierung innerhalb des Paradigmas der Ausdrucks- und Wirkungsästhetik geeignet. Hier umfassen das emotionale Stimmungsphänomen den produktions- und rezeptionsästhetisch konstituierten Gegenstand, während der Stimmungsbegriff (concordia/sympatheia) die kommunionale Rührung der Herzen sowie die sympathetisch temperierte Konfluenz von Mensch und Sein, Seele und Welt, Kunst und Natur erfasst. Zum Anderen ist die Stimmung als nicht nur ‚inneres‘ – dem Sprachgebrauch der Zeit folgend – sondern auch ‚äußeres‘ Gefühl zur Kategorisierung innerhalb des Paradigmas der Autonomieund Werkästhetik geeignet. Hier kann sie von ihrer kulturhistorischen Semantik her die in der ästhetischen Erfahrung identifizierten Phänomene soweit objektivieren, dass die Grundzüge struktureller Integration und wohltemperierte Proportion (harmonia/symphonia; temperantia/consonantia) als ganzheitliche Formaspekte des autonomen Kunstwerks zur Erscheinung kommen. Im Fall von Moritz lässt sich mit der – erstens – (vor-)subjektive Beziehungsverhältnisse flektierenden Stimmung sein empfindsamer Enthusiasmus und das Herauslösen aus schwärmerischer Befangenheit nachvollziehen, auch ohne von der hier sicherlich ergiebigen Lebens-, Zeit- oder Familiengeschichte (u.a. Quietismus/Pietismus)4 argumentativ Gebrauch zu machen. Zugleich lässt sich anhand der – zweitens – auch (nach-)objektive Beziehungsverhältnisse flektierenden Stimmung die zeitgleiche Entwicklung seiner klassizistischen Auffassung von Kunst begreifen, die 1785 mit der Vorstellung vom in sich Vollendeten einsetzt. Hier hat der ästhetische Gegenstand als ein „Ganzes oder Vollendetes“ seinen Ort schon nicht mehr in einer Innerlichkeit von Stimmung, wohl aber seinen Konstitutionsgrund, insofern der Zweck des Gegenstandes „in mir vollendet wird.“ (SzÄ 3) Dann „aber wälze ich den Zweck aus mir in den Gegenstand selbst zurück: ich betrachte ihn, als etwas, nicht in mir, sondern in sich selbst Vollendetes, das also in sich ein Ganzes ausmacht, und

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Siehe hierzu Minder 1974, S. 50-181.

402 | POETOLOGIE DER STIMMUNG mir um sein selbst willen Vergnügen gewährt; indem ich dem schönen Gegenstande nicht sowohl eine Beziehung auf mich, als vielmehr eine Beziehung auf ihn gebe.“ (SzÄ 3)5

Das „zurück“ der ersten Zeile erinnert an die dingliche Herkunft des Schönen auch schon in der Wirkungsästhetik (‚äußeres Gefühl‘), das „wälze“ jedoch markiert das Umschlagsmoment in die Werkästhetik. Was hier noch als Extroversion subjektiver in objektive Beziehungsverhältnisse nachvollziehbar ist, nämlich wie Vollendetes ins Werk gelangt und dieses zum Selbstzweck wird, verselbständigt sich fortan zur Autonomie von Kunst auf struktureller und materieller Basis. Diesen Prozess, der historisch die Ablösung des wirkungsästhetischen durch das autonomieästhetische Paradigma ausmacht, verstehen wir als ästhetische Explikation von Stimmung als Harmonie der Seele (sympatheia/concordia) in die Harmonie des Kunstwerks (symphonia/consonantia). Er lässt sich werkgeschichtlich bei Moritz ab 1785 ablesen und erklärt das Nebeneinander unterschiedlicher ästhetikgeschichtlicher Positionen (Empfindsamkeit, Klassik) in den Romanen und der Theoriebildung: dieses ‚widersprüchliche‘ Zusammenstehen unvereinbarer Ästhetiken ist das bedeutungsgeschichtlich begründete Ineinander von systematischen Dimensionen der Stimmung, die sich seit deren nachmetaphysischer Entdeckung bei Herder und Goethe erst nach und nach auseinander legen – bevor in der Romantik auch die älteren metaphysischen Implikationen neu entfaltet werden. Letzteres beginnt mit Werthers Überhöhungen der Natur zum Weltganzen, der Liebesnot auf Erden zur Familienharmonie im Himmel und des Sinnlichen ins Geistige, wobei aber alle Begeisterung aus der vorangehenden Versinnlichung von Harmonie in Form des Stimmungserlebens hervorkommt. Im Hartknopf werden zunächst die empfindsamen Sympathien zwischen Freunden sowie zwischen Mensch und Natur zu Seinserfahrungen aufgewertet, die eine teils religiös-mystische6, teils gefühlsästhetische Grundierung erhalten. Wie im Anton Reiser, so erfolgt auch im Hartknopf, wie wir gesehen haben, eine satirisch-kritische Absetzung von der ‚falschen‘ Empfindsamkeit. Diese teils polemisch zugespitzte Parodie fällt bei Moritz’ Romanhelden umso schärfer aus, als dass sie eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Neigung mit einschließt. Damit aber werden die Rührung des Herzens, die Innerlichkeit des Gefühls sowie die emphatischen Stimmungen und deren natürlicher Ausdruck auch als tragende Strukturelemente der Empfindsamkeitsästhetik diskreditiert und hinterlassen ein theoretisches Vakuum. Dieses wird bereits in den Romanen durch das Einfügen kunstbezogener Reflexionen zu füllen versucht, und im Fall von Hartknopfs musik- und poetiktheoretischem Exkurs durch eine ek-

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Landgraf erkennt diese Stelle als Definition der ästhetischen Autonomie und bezieht sich auf Todorov und Woodmansee, die den Ursprung der Entwicklung hin zur Autonomieästhetik in einer Transformation von Theologie sehen. Er perspektiviert unter Luhmanns systemtheoretischem Aspekt diese Verschiebung der Autonomie hin zum Ästhetischen als einen Grundzug der Veränderung der Konzeption von Welt im 18. Jahrhundert. Insofern die Natur der Kunst als Modell des Ganzen dient, kommt es zu einer „paradoxical reentry of the whole into the whole“. (2011, S. 213) Siehe hierzu wiederum Minder 1974, S. 182-245.

III. Ä STHETISCHE TRANSFIGURATION DER HARMONIE | 403

lektizistische, aber klangmedial zentrierte Stimmungsästhetik – gleichsam probeweise – neu besetzt. Moritz’ ‚ästhetische‘ Sinnesänderung, die eine Abkehr von empfindsamer ‚SymPathetik‘ nach sich zieht, muss also nicht als Widerspruch zwischen Kunsttheorie und Schreibpraxis fixiert werden. Sie kommt erstens schon im Roman selbst zum Tragen und zweitens als Öffnung hin zu einer Transformation der Wirkungsästhetik in eine Werkästhetik zur Geltung. Dies vollzieht sich nicht abrupt, sondern übergänglich, indem die emotional vereinseitigten Stimmungen der Empfindsamkeit sich über atmosphärisch erweiterte Stimmungen in kompositorisch manifeste Stimmungen transfigurieren. Die ‚inneres und äußeres Gefühl‘ vermittelnde Stimmung kann im Gegensatz zu bloß innerpsychischem Gefühl oder Emotion beides: Phänomene der Wirkungsästhetik und der Autonomieästhetik erfassen und sie zugleich unterscheidbar halten. Statt eine sympathetische Konfusion von Welt und Selbst im mit sich selbst okkupierten Gefühl zu kultivieren, leiten Stimmungen kraft ihres Gegenhalts in der dinglichen Außenwelt über zur Objektivierung in Kunstwerken. In diesen erkennt Moritz schließlich nicht den Ausdruck von Gefühl als Chaos, sondern idealisiert den ‚Abdruck‘ von Stimmung als Kosmos: „Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im grossen Ganzen der Natur; welche das noch mittelbar durch die bildende Hand des Künstlers nacherschafft, was unmittelbar nicht in ihren grossen Plan gehörte.“ (SzÄ 73)

Während wir an den Stimmungsszenen in einem empfindsamen Setting gesehen haben, wie die Natur Hartknopf und seine Freunde zur Kontemplation eines SelbstWelt-Ganzen animierte, so wird die Natur hier in der Theorie zur Matrix einer Kunst erklärt, deren Autonomie als zweite Natur von der ersten Natur garantiert wird. Noch das künstlerische der Natur Nacheifern, das Moritz im Folgenden wie im Geniegedanken des Sturm-und-Drang geltend macht, ist die schöpferische Natur selbst. Zugleich aber verschiebt sich mit der klassizistischen „Betrachtung der Natur und Kunst, als eines einzigen grossen Ganzen“ (SzÄ 86) der theoretische Schwerpunkt von der ästhetischen Subjektivität in ein autonomes Kunstwerk. Vor die Bedeutung von Kants ‚proportionierter Stimmung‘ der Vermögen Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand (Schönes) bzw. Vernunft (Erhabenes) schiebt sich diejenige der proportionierten Stimmung der Teile des Kunstwerks (Stimmigkeit). Denn das an die antike Sphärenharmonie erinnernde klassische Natur-Kunst-Ganze hinterlässt – „in allen seinen Theilen sich in sich selber spiegelnd“ – „den reinsten Abdruck [im] ächten Kunstwerke, das [...] in sich selbst vollendet, den Endzweck und die Absicht seines Daseyns in sich selber hat. –“ (SzÄ 86)

404 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

2. Ü BER DIE ALLEGORIE UND DAS F RAGMENTARISCHE . Z UR F ORM VON A NDREAS H ARTKNOPF . E INE A LLEGORIE Im Romantext haben wir oben beobachtet, wie die ästhetischen Theoreme des in sich Vollendeten oder des von seinen Teilen durchstimmten Ganzen als diskursive Versatzstücke in den Gesprächen der Freunde auftauchen. Vom empfindsam Sympathetischen, über atmosphärische Raumbildungen und lebensgeschichtliche Zeitempfindungen bis zu den intermedialen Reflexionen über Musik und Poesie werden unterschiedliche Stimmungsaspekte entfaltet, die aber immer wieder in die ideelle Harmonie zwischen Körper und Geist, Welt und Selbst und zuletzt auch zwischen „Individuum“ und Gesellschaft („Geisterrepublik“) münden. Dieser Thematisierung des Harmonisch-Gestimmten entspricht dessen rhetorische Realisierung durch einen streckenweise empfindsamen Sprachduktus, auch den Einsatz von Gedankenstrichen als Kadenz am Satzende, Naturmetaphorik und einem gefühlsträchtigen Vokabular aus einer ganzen Reihe von Diskursen – von der Freimaurerei und Mystik über Theologie und Philanthropie bis Schwärmerei und Musikphilosophie. Diese Korrelation von Inhalt und Form ist aber weit davon entfernt, dem klassizistischen Ideal eines in sich vollendeten Kunstwerks zu entsprechen, das bei Moritz durchaus auch für Dichtung gilt. In dieser Hinsicht hat er Goethes Werther geschätzt, den er nicht nur auf den Emotionsausdruck hin oder als Roman der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang gelesen hat. Ein daran orientierter Anspruch auf stilistische Romangestaltung ist allerdings dem Hartknopf trotz seiner angeblich beiläufigen Entstehung ohne Gesamtentwurf und mit nur flüchtiger Kapitelplanung anzumerken. Dies fällt vor allem mit Blick auf den parallel geschriebenen Anton Reiser auf. Der psychologische Roman bahnt dem emotionalen Schwanken zwischen den Extremen der Niedergeschlagenheit und Hochstimmung durch seine lineare Erzählweise einen leicht nachvollziehbaren Handlungsgang. Der analytischen Perspektive auf Empfindungsweisen und Stimmungsveränderungen samt deren destruktiven aber auch konstruktiven Wirkungen entspricht der nüchterne Erzählton, dem sozialpsychologischen Realismus eine sachlich berichtende Sprache, der biographischen Chronologie die narrative Abfolge. Der allegorische Roman hingegen setzt mit dem Blick auf einen Mann im mittleren Alter an, dessen Leben bereits mit einem rätselhaft ketzerischen Märtyrertod abgeschlossen ist, der in der Forschung auch als Parodie auf die christliche Passionsgeschichte gedeutet wurde. (Vgl. Heinz 2013, S. 67) Zur Erzählzeit mäandert der Held in einer Jugend assoziierenden Offenheit und im zweiten Teil wird eine Lebensphase erzählt, die vor dem Beginn des ersten Teils liegt. Anstelle eines Erzählfadens zerstiebt der Fluss der Darstellung in eine Reihe von Begegnungen und wenigen Begebnissen, deren Abfolge kaum motiviert erscheint. Die Vielzahl von Situationen, Gesprächen und Reflexionen lässt sich nicht ohne weiteres auf ihren Sinn für das Ganze hin entziffern. Zitate aus den theoretischen Werken (zur Pädagogik, Sprach- und Kunsttheorie) sind ebenso in den Erzähltext eingeflochten wie biographische und motivische Referenzen, die identisch schon im Anton Reiser zu finden sind (z.B. Steigerwald, Empfindsamkeitsschelte, Karthäuserkloster). Die Heterogenität der thematischen sowie historischen Anspielungen bei Intransparenz ihres Zusammenhangs, kombiniert mit der Kakophonie empfind-

III. Ä STHETISCHE TRANSFIGURATION DER HARMONIE | 405

samer und satirischer Tonlagen, dazu die eingestreuten Lieder und im zweiten Teil auch Aphorismen erzeugen eine bizarre Form, die sich wenig später im romantischen Romankonzept wiederfindet. Dennoch stellt sich ein vages Lesegefühl von Kohärenz ein. Zu deren näherer Bestimmung im Einklang mit der Romanstruktur ist – etwa anstelle der visuellen Metapher des Kaleidoskopischen –die auditive Metapher der Stimmung treffend; zumal deren historische Bildtradition (discors concordia) gerade die klangmediale Zusammenstimmung des Heterogenen bereithält. Hier zeigt sich die semantische Versatilität von ‚Stimmung‘ als der Vorzug einer Kategorie, die quer zur klassifikatorischen Einteilung von Empfindsamkeit/Sturm und Drang, Klassik, Romantik operiert und Strukturmerkmale an einem Text bezeichnen kann, deren Elemente verschiedenen Epochen zuzugehören scheinen und deshalb den eingespielten Lektüreschemata entsprechend aussortiert werden. Zugleich hält die Lektüre am Leitfaden der Stimmung die Möglichkeit bereit, die Epocheneinteilung weiterhin für das historische und systematische Verständnis von Texten zu nutzen. Bezogen auf die formale Struktur des Hartknopf bleiben etwa die Stimmungsszenen als von der Empfindsamkeit geprägte Konfigurationen ebenso identifizierbar wie die textuelle Organisation mystischer Augenblicke samt metaphysischer Expansion ins Kosmotheistische als Präfigurationen der Romantik. Unterschiedliche Stilaspekte lassen sich indes mit dem poetologisch gewendeten Stimmungskonzept zusammenschauen ohne ihre Differenzen abzuschleifen oder daraus Widersprüche zu konstruieren. So bleibt etwa auch deutlich, dass das klassizistische Stilideal des in sich Vollendeten im Hartknopf nicht erreicht wird. Würde es dies, wäre der Stimmungsaspekt der consonantia applizierbar. Im Gegensatz zur discors concordia setzt Konsonanz gleichsam ex positivo die von vornherein zu einander passende Teile in Beziehung, die bereits das Ganze en miniature in sich tragen, das sie zusammen als Gestalt bilden. Von der Einlösung eines solchen bei Moritz theoretisch formulierten Formideals kann in seinen Romanen nicht die Rede sein, wohl aber von einem paradoxen Versuch. Dieser besteht darin, formale Vollendung gewissermaßen durch das Vermeiden kompositorischer Gestaltung zu erreichen.7 Ein Versuch also, der nur von selbst gelingen kann, indem er unterlassen wird. Denn die Figur des Hartknopf ist dem zweckformalen Vollendungsideal entsprechend auf jene „reinste Glückseligkeit“ angelegt, die weder im Leben noch in der Kunst „erjagt“, bestenfalls „mitgenommen“ werden kann, wie es im Versuch heißt. (SzÄ 8) So sehr Hartknopf von einem pädagogisch-philosophisch und musikalisch-ästhetisch bestimmten Ethos geleitet ist – Thum (2008, S. 288) spricht von „Lebenskunstlehre“ und „ästhetischer Selbstbildung“–, so unglücklich verläuft seine Lebenswanderung ‚gen Osten‘: „Die Glückseligkeitslinie läuft mit der Vollkommenheitslinie nur parallel; sobald jene zum Ziele gemacht wird, muß die Vollkommenheitslinie lauter schiefe Richtungen bekommen.“ (SzÄ 8) In Übereinstimmung mit dieser klassischen Idee ist Hartknopfs Suche keine nach Glück, sondern ist spirituell orientiert an einem in sich Vollendeten, das er in

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Siehe zu dieser Paradoxalität der Autonomieästhetik bei Moritz Campe 2002, S. 231. Vgl. auch Landgraf 2011, S. 221f.

406 | POETOLOGIE DER STIMMUNG

einer kontemplativ temperierten Weltstimmung seiner Seele findet und zum Gegenstand seiner Lehre macht.8 Dies meint am Ende des Romans und von Hartknopfs Leben die unerschütterliche „Weisheit“. (RH 512) Sie wird im ‚Lied an die Weisheit‘ als eine Grundstimmung im persönlichen Leben gefunden, das seine Ordnung und sein Maß in „Des simplen Ganzen der Natur“ hat. (RH 512) Dieses Verstehen des Lebens in Entsprechung zum Naturganzen erfolgt indes durch das klangästhetische Medium des Saitenspiels, das der historischen Stimmungssemantik seit der Sphärenharmonie zugrunde liegt. Bei Moritz aber, in Literatur also, ist es die poetische Vertextung dieser metaphysischen Musikidee in lyrischer Form, die in das Romanexperiment des Hartknopf integriert wird. Die mittlere Strophe des 7-strophigen Liedes summiert die Weisheit, die das Leben als Stimmung präsentiert: „Mein Leben sei ein steter sanfter Friede / Und Wohlklang, wie das Saitenspiel! / Nie meine Hand zum Bau des Tempels müde / Vollendung meiner Arbeit Ziel!“. (RH 512) Die besungene Weisheit realisiert indes nicht nur die klangexpansive Sphäre der Stimmung, sondern auch deren spirituelle Wende nach Innen, die Hartknopf „Resignation“ nennt. (RH 512) Dieser Sicht entspricht Heinz’ Deutung von Hartknopfs Lebensmaxime der Resignation als „a prerequisite for the free development of the individual: only he who recognizes death as ‚ultima linea rerum‘, as the last line of the first part of the novel significantly states, can lead his life free of fear and therefore wisely and cognizantly.“ 9 Die Stimmung produktiver Resignation ermöglicht es, dass „Vollkommenheitslinie“ des „harmonische[n] Ganze[n]“ innerlich bis in den ‚Märtyrertod‘ durchgezogen werden kann, gerade auch wenn und da das Schicksal die „Glückseligkeitslinie“ von äußeren Umständen her durchkreuzt. (SzÄ 8) In dieses ‚innere‘ Handlungsgeschehen wird indes sehr wohl von außen eingegriffen: die Folge von empfindsamen Stimmungsszenen wird von parodistischen Personenzeichnungen flankiert, ins Schwärmerische ausschweifende Idyllik von satirisch bis grotesk überzeichneten Begebenheiten gerahmt und so eine Balance zwischen ‚neoantiker‘ Kosmosfrömmigkeit und neuzeitlicher Weltrealität hergestellt. Die scheinbar chaotische Narration folgt einem poetologischen Kalkül, nämlich Vollkommenheit durch die Fiktion einer fabulösen Eigendynamik zu erreichen. Durch diesen Kunstgriff – so könnte man meinen – soll der „Brennpunkt oder Vollendungspunkt des Schönen“, der durch die intendierte „Wirkung“ gerade verpasst zu werden droht, doch noch im „Werk“ gehalten werden. (SzÄ 80) Indes muss auch dieser Versuch, dem empfindsam angesetzten Roman durch die verhohlene Gestaltungsabsicht eine vollendete Form zu geben („Eine Allegorie“), an seiner inneren Paradoxie scheitern: „die Strahlen gehen auseinander; das Werk kann sich nicht ründen.“ (SzÄ 80) Der Eindruck eines gescheiterten Versuchs der Romangestaltung entsteht allerdings nur in der Optik von Moritz’ Autonomieästhetik. Blickt man auf ihn von der ersten ‚Moderne‘ der Romantik zurück, erscheint er zumindest unter dem Aspekt des Fragments als unvollendete Form des in sich 8 9

Letzteres entspricht der anthropologischen Lesart bei Morgner 2002, S. 125. Vgl. die nächste Fußnote Heinz, S. 76. Heinz 2013, S. 64. Heinz liest den Roman auch im Sinne einer Symbolik als literarisches Ausdrucksmittel, die neben dem in der theoretischen Schrift der Götterlehre entfalteten Symbolkonzept nicht übersehen werden dürfe.

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Vollendeten geradezu avanciert. Heinz hingegen sieht in Moritz Fokussierung auf die allegorisch schillernde Hauptfigur als Mittelpunkt „not just the transition from didactic late Enligtenment to classical, autonomous aesthetics and symbolism“. 10 Hartknopfs musikästhetische Entfaltung kosmo-ontologischer Ideen durch Karikaturen von aufklärerischen Charakteren (Küster, Hagebuck, Ehrenpreiß) gegenzusteuern, weist auf die romantische Ironie der metareflexiven Darstellung voraus. Gerade weil der Roman dem klassizistischen Ideal des harmonisch gerundeten Ganzen nicht zu entsprechen vermag, so scheint es, ist von seinem imaginären ‚Mittelpunkt‘ der Rhythmus der Selbst-Welt-Stimmung spürbar, den seine Hauptfigur verkörpern soll. Dass Hartknopf dies soll, lässt sich von der gewählten Gattungsbezeichnung „Eine Allegorie“ her verstehen, wobei Moritz Verwendung Allegorie kaum mit der rhetorischen Tradition vereinbar ist. 11 In der Abhandlung Über die Allegorie wird ganz im Sinn der klassizistischen Auffassung allgemein über das Schöne in der Kunst gesprochen und also wiederum die Dichtung mitgemeint. Im Unterschied zum „bloßen Symbol“, das ein Kunstwerk auf „etwas außer sich selbst“ zeigen lasse und ihm damit jede „eigentliche Schönheit“ nimmt, versteht Moritz die Allegorie als die Figur, die einem Kunstwerk das „wahre Schöne“ erhalte und erst zu geben vermag. (SzÄ 113) Sie mache die Kunst „sprechend“ und „bedeutend“ dadurch, dass sie von nichts „außer ihr“, sondern „nur von sich selber, von ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen“ und dadurch „ein in sich vollendetes Ganze“ sein lässt. (SzÄ 112f.)12 Bezogen auf den Hartknopf lässt sich die gebrochene Form der Darstellung des auf innere Selbstvollendung angelegten Lebens als die „äußere Oberfläche“ begreifen, durch deren Risse hindurch der Roman von der weltharmonischen Stimmung als seinem „innern Wesen“ spricht. Dennoch könnte es mit Blick auf die von Lande zuletzt diskutierten Implikationen von Moritz’ Allegoriebegriff (vgl. Lande 2011), zu denen die Verwerfung diskursiver Referenzen bei der Konstituierung des Schönen gehört, erstaunlich erscheinen, dass er den autonomen Formbezug von seinem Roman durch das Allegorische fraglich erscheinen lässt. Hierin jedoch zeigt sich Moritz’ „Bewußtsein der Differenz von Bild- und Zeichenmedium“ – wie Brecht (1990, S. 631) zurecht betont –, so dass „er den Homogenisierungstendenzen, die in seiner Kunsttheorie angelegt sind, in der eigenen poetischen Praxis nicht nachgibt.“ Hierin erkennt Brechts allegorische Lektüre der „semiotische[n] Experimentalromane“ auch Moritz’ „literarische[n] Rang“ (ebd. 631f.). Durch die gattungspoetologische Rahmung als Allegorie, so will Moritz den Untertitel womöglich verstanden wissen, soll vor allem nur nicht symbolisch auf 10 Das Zitat fährt mit seiner literaturgeschichtlichen Einordnung fort: „it becomes at the same time a model for kindred authors like Jean Paul, who develops his own concept of ‚humour‘. It is also a forerunner of the Roamantic project of a ‚new mythology‘.“ (2013, S. 73) 11 Siehe zur Allegorie seit dem 17. Jahrhundert und ihrer Rückbindung an die Rhetorik der Antike Alt 1995. Moritz begriffliche Unterscheidung von Allegorie und Symbol erscheint zudem wenig profiliert. 12 Heinz hingegen spricht mit Blick auf Über die Allegorie davon, „that allegory draws the beholder’s attention away from the inner coherence of the artwork; for it points to external, conventional meanings of signs that are not inherent to the work of art itself.“ (2013, S. 71)

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die Ideensphäre der pythagoreisch-platonischen Tradition als etwas bloß Äußerem verwiesen werden. Vielmehr soll die Idee der Sphärenharmonie in ihrer ästhetischen Figuration als das ‚nichts als das Werk selbst‘ „Bedeutende“ erscheinen, das ihm poetologisch vielfältig eingeschrieben ist und es dadurch als „ein in sich vollendetes Ganze“ erscheinen lässt. (SzÄ 112f.) Ähnlich sieht Morgner (2002) in der Allegorie die semantisch-perspektivische Vervielfältigung angelegt, die den Sinn des Textes nur in einer pluralen Lektüre einholen kann. Unsere vorwiegend formbezogene Deutung der Bezeichnung des Romans als Allegorie erlaubt es, eine inhaltsbezogene Allegorese zurückzustellen und nur Möglichkeiten der Interpretation in Frageform anzuzeigen: (1.) Ließe sich die erzählte Geschichte auch als Allegorie im Sinne von aenigma auflösen, etwa als das Rätsel eines gescheiterten Lebens in der Neuzeit, dessen dunkle Bedeutung sich nur im Rückgang zu den pythagoreisch-orphischen Mysterien erhellen ließe? (2.) Oder wäre das mit Hartknopfs frühem Tod abgebrochene Leben selbst allegorisch als fortgesetzte Metapher (metaphora coninuata) für den Verlust der ganzheitsmetaphysischen Sphärenharmonie aufzufassen? (3.) Schließlich: ist die Musikalisierung von Hartknopfs ‚Stimmung der Seele‘ als die allegorische Personifikation des Abstraktums Sphärenharmonie so zu lesen, dass sich Paulus’ Losung besser verstehen lässt, die dem Roman vorangestellt ist? Wenn der Buchstabe alles Leben tötet und der Geist alle Bedeutung erhält, wird die Allegorie zum mysterium: hinter dem menschlichen Wortsinn des endlichen Lebens als Roman läge das göttliche Geheimnis des ewigen Lebens als Geist? Wäre Hartknopfs Leben dann eine pietistisch nachgelebte passio christi, also ein den Menschen/Lesern fragmentarisch geoffenbartes Göttliches? Das Erzählen eines solchen Lebens aber wäre die Fortschreibung von Evangelien in Zeiten des stimmungsmetaphysischen Niedergangs?

3. D AS UNGESTIMMTE K IRCHENSCHIFF . D IE P REDIGT ALS AUTONOMES K UNSTWERK . E INE INTERMEDIALE K ONFIGURATION IM DRITTEN R AUM . Zu Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790)

Zu dieser letzten Deutungsspekulation würde der zweite Teil des Romans passen, insofern schon im Titel eine dem Leben Jesu nachempfundene Geschichte anklingt: Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790). Erschienen zwei Jahre nach der kunsttheoretischen Hauptschrift setzt die Fortsetzung des allegorischen Romans den hohen Anspruch der klassizistischen Werkautonomie mit ‚Hartknopfs Antrittspredigt‘ in Szene und gibt ihm eine Wendung ins Komische. Beim Besteigen der Kanzel stößt er mit der Stirn aus Versehen und „zum Schrecken der ganzen Gemeine“ die hölzerne Taube von der Kanzeldecke, die den „heiligen“ Geist darstellt. (RH 519) Ohne sich weiter um den „schwebende[n]“ Geist und den kollektiven Affekt zu kümmern, beginnt er „mit der größten Kaltblütigkeit seine Predigt“ und ignoriert das Ausbleiben der Wirkung seiner Worte. (RH 519ff.) In deutlichem Gegensatz zur oben besprochenen musikalisch-poetischen Heilwirkung schien nun „eine unbekannte Macht die Worte von seinen Lippen zu verwehen, daß sie den Weg zum Herzen nicht fanden.“ (RH 521) Damit misslingt gerade das, was ihm – lebensgeschichtlich später – in in-

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dividuellen Gesprächen durch den Einsatz seiner Stimme, des Flötenspiels und der Deklamation von Poesie gleichsam durch magische Modulation von Stimmungen und doch wie von selbst gelingt. Zwar führt der Text – ein Motiv, das auch im Anton Reiser wiederholt auftaucht – „die komische Larve des mächtigen Zufalls“ als folgenreichen Grund für die verpatzte Premiere an: „Denn dieser erste Eindruck blieb in der Folge seines Lehramts unauslöschlich –“. (RH 521) Jedoch werden neben dem Lampenfieber („den ganzen Druck empfunden“), der Furcht vor großem Publikum („unförmliche Masse“) zu sprechen, auch objektive Gründe erzählerisch angeführt: (1.) das Nicht-zustanden-Kommen von Stimmung im Raum der öffentlichen Rede; und (2.) in kausaler oder konsekutiver Verbindung damit die Fixierung auf die Predigt als autonomes Kunstwerk. (ad 1.) Trotz der in Kirchen traditionell guten bühnentechnischen Voraussetzungen für die rhetorischen Wirkungen und die klangmediale Performanz des Redners kommt es zu keiner Berührung mit dem Publikum, die sich zu einer Stimmungskommunion ausbreitet. Stattdessen verenden die „tönende[n] Worte“ des Predigers im akustischen Klang oder Geräusch, wobei die Komik darin besteht, dass sie inhaltlich eben dieses Problem eines ‚geistigen Stromausfalls‘ benennen: „Er stellte das nackte Wort, als den leeren Hauch der Luft, als das tönende Erz und die klingende Schelle dar, wenn Liebe es nicht beseelet. – [E]r wollte den Buchstaben des Worts erst töten, damit der Geist lebendig mache. –“ (RH 520)

Schließlich kommt die Rede auf das die Dreieinigkeit erweiternde und „allesverknüpfende Wort“ und die „rollenden Sphären“ des Weltganzen, aber die audiomediale Zündung einer Gruppenstimmung im Kirchenschiff bleibt aus. Die später in Hartknopfs musikalisch-poetischen Therapiegesprächen so heilsamen sonalen Effekte verpuffen hier in der von Zufall und „einem bösen Dämon“ gestörten Atmosphäre, die vom „Küster Ehrenpreiß mit der richterlichen Miene“ in der Gemeinde auch noch feindselig und „polemisch“ verbreitet wird. (RH 521-23) Daran ändern in der Folge auch die Reflexionen über Stimmungen nichts, die das Zusammengehören von „gröbsten und dunkelsten Vibrationen der Saiten“ mit den „feinsten und hellsten“ zu einem „vollstimmigen Konzert“ behaupten. (RH 526) Vielmehr zeigt das Kapitel „Die Wiederholung“ wie Hartknopfs Predigt auch dann kollektiv wirkungslos bleibt („Die übrigen Gesichter waren mehr oder weniger durch Brutalität entstellt“), wenn die eigene, inzwischen „ruhige Stimmung seiner Seele“ sich in „diesen beiden Ovalen“ ihm freundlich gesonnener Gesichter spiegelt. (RH 527) Was die musikalisch oder poetisch begleitete Rede im Realen bewirkt, wird von der Kanzel zur bloßen Imagination der Übertragung seiner Stimmung, die „den harmonischen Kreislauf der Dinge, den heitern Himmel, die lachenden Fluren, und jeden Reiz dieser schönen Umgebung“ durchklingt. (RH 527) Die realen werden zu imaginären Naturstimmungen, indem „das Leben in der ganzen Natur, der Wechsel der Jahreszeiten“ ebenso wie „jeder Pulsschlag, jeder Atemzug“ über die Zyklik der „immerwährende[n] Wiederholung ihrer selbst“ zur klassizistischen Figur erklärt werden. (RH 528, vgl. 549f.)

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(ad 2.) Aus dem gescheiterten Zustandekommen einer wirkungsästhetisch induzierten Stimmung heraus entwickelt sich die Vorstellung von Hartknopfs Predigt als einem Kunstwerk zur fixen Idee. Wie wir oben an Moritz’ Allegoriebegriff gesehen haben, so hat nun das „Bezeichnende und Bedeutende“ (ebd.) aus dem Werk selbst, aus dem in sich Vollendeten der Predigt zu kommen. Anstelle der vokal-und-klangästhetischen Tonschwingungen nach außen geht es jetzt um die innere Komposition „in schönerer Ordnung“ (ebd.). Die „von seinen Lippen verwehet[e]“ (ebd.) Leere des desillusionierten Stimmungsraums (Kirchenschiff) wird durch die substanzlogisch vorgestellte Stimmigkeit seiner Antrittspredigt illusionär kompensiert. Die in der Oralität verflüchtigte Wirkung von sonaler Stimmung wird nun qua symbolischer Transkription in Noten zu fixieren versucht: „Denn die Höhe und Tiefe war einmal durch feste Punkte auf horizontalen Linien, und jeder Takt durch einen senkrechten Strich bezeichnet. / Das Ganze wiederholte sich daher, wie eine wohlgesetzte Musik, welche des Aufwands von Kunst und Mühe nicht wert wäre, wenn sie nur einmal tönen, und dann in die Luft verweht sein sollte. –“ (Ebd.)

Im autonomieästhetischen Zeichen der „Wiederholung des Schönen“ wird also nicht nur der Stimmungsrhythmus der Jahreszeiten und Naturlebendigkeit beruhigt (vgl. ebd., 549f.), sondern auch die Bewegung der Töne in die Form der Transkription überführt. Erst die auf Notenlinien „wohlgesetzte Musik“ entgeht dem Verschwinden im Vollzug ihrer Aufführung. Das ästhetische Ideal bilden nicht mehr eine gesprochene Sprache von Empfindungen (Musik) oder die Performance einer musikalisierten Sprache (Poesie), mit der sich Stimmungen kommunizieren lassen. Nun ist es die Schrift, und zwar nicht als empfindsame Stimmungskonserve, sondern als ein im „Druck“ erscheinendes „Ganzes [...], welches gleich dem belebenden Atemzuge, in jeder Zeile, mit jedem Gedanken, nur sich selbst wiederholet.“ (RH 529) Wie die Bibel erst im Gutenbergzeitalter ihre Macht als Schrift vielseitig entfalten konnte, so prophezeit der Text Hartknopfs Predigten ihre künftige Wertschätzung als autonomieästhetische Reliquien. Erst ihre Verschriftlichung macht aus jeder von ihnen „ein vollendetes unvergängliches Werk, das in sich selber seinen Wert hatte, den kein Zufall ihm rauben konnte“ (ebd.). Dass die Aufwertung von Literalität und klassizistische Autonomie miteinander korreliert sind und letztere sich als Alternative zur Wirkungsästhetik samt ihrer Abhängigkeit von der Rezeption zu verstehen sei, zeigt folgendes Resümee: „Und obgleich die Gemeinde [...] sich daran ärgerte, so erreichte [Hartknopfs Antrittspredigt] dennoch ihren Zweck, der in ihr selbst, in ihrem schönen Bau, und dem wohlabgemessenen Verhältnis ihrer Teile lag – wodurch das Ganze eine Kraft erhielt, alles Mangelhafte aufzudecken, und es in seiner Blöße darzustellen; wodurch die Bauren in Ribbeckenau in ihrer Brutalität sich zeigen, und das schadenfrohe Lachen auf ihren verzogenen Lippen erscheinen mußte.“ (Ebd.)

Der klassizistische Zug zur Werkautonomie entzieht die Predigt nicht allein den Unwägbarkeiten der Kritik und Missgunst und rettet ihren Autor in eine asoziale Distanz, sondern umgekehrt wirkt sie durch ihre in stimmiger Komposition begründeten

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ästhetischen Souveränität aufklärend auf das Soziale zurück und entlarvt es in seiner Unmoral. Als wenn Moritz Missverständnisse vermeiden wollte, lässt er auf die Suprematisierung von Literalität – Barry spricht von der Predigt „as a pure medium“ 13 – ein Plädoyer für Oralität folgen. Es erweitert Oralität wieder um jene mediale Dimension der Sonalität, die Hartknopfs Musiksprache und Sprachmusik im ersten Teil zu einer ästhetischen Praxis der harmonischen Weltstimmung machte. Das kurze Kapitel „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (RH 529f.) zielt in einer dithyrambisch rhythmisierten Sprache auf eine ästhetische Sensibilisierung als Grundlage für eine dann auch wieder metaphysikfähige Wahrnehmung: „Ist es die Fassungskraft nicht selbst, die sich erweitern muß, um das Edle aufzufassen?“ Mit neutestamentlichen Anspielungen auf das Wort Gottes und dessen Verkörperung im Menschensohn wird der Stimme und ihrem Vernommenwerden eine grundlegend kulturbildende Kraft zugeschrieben, die das Mythische an die Ethik und Sinnlichkeit des Physiognomischen und Somatischen zurückbindet: „Wo die Stimme vernommen wird, da tönet sie mächtig wieder; es zeichnet sich in Blick und Handlung ihre Spur.“ (RH 530) Dieser gleichsam anthropologisch überhöhten Rezeptivität und dem vokalen Gestimmtwerden korrespondiert eine kosmologisch ausklingende Expressivität, deren Wirkungsmedium die (Atem-)Luft ist: „Die angespannte in sich gedrängte Kraft wirkt durch den Luftraum in die Ferne. – Sie wohnet in der atmenden Brust des Menschen, und reicht bis an des Himmels Wölbung, und des Ozeans ungemeßne Ufer. –“ (Ebd.)

Der wie ein Instrument gestimmte Körperinnenraum (Brust des Menschen) bildet hier mit der geologischen Atmosphäre einen einzigen Raum von Stimmungsresonanzen. Die Vorstellung vom Menschenkörper als Instrument erinnert an ein Motiv der emblematischen und ikonologischen Tradition der Weltharmonie, das Jesus „analog zur Laute als Saite auf dem göttlichen Instrument des Kreuzes betrachtet, die mit Nägeln befestigt ist. Da sein Tod aus Liebe zu den Menschen geschieht, sühnt er deren Schuld; analog dazu wirkt das Sakrament der Eucharistie verwandelnd und reinigend.“ (Jacobs 2013, S. 97, 99) Es sind auch im Folgenden mehr oder weniger verborgene Hinweise auf Bibelstellen, die Moritz mehr assoziativ als erzählerisch mit Stimmungsmotiven und deren medientheoretischen Implikationen verbindet.14 Abschließend soll in dieser Hinsicht noch einmal der Bezug zur Eucharistie angezeigt werden, der im Kapitel „Das Liebesmahl“ mit dem Milch-und-Brot-Motiv einsetzt. Hartknopf teilt mit seinen beiden einzigen ‚Jüngern‘ Milch, die nach der Bibel göttliche Naturnahrung, und Brot, das menschliche Kulturnahrung verkörpert; zugleich materialisiert das Brot als „Him13 Barry (2011, hier S. 313) reflektiert die Predigt im historischen Zusammenhang des literarischen Diskurses des späten 18. Jahrhunderts und bezieht sich dabei auf Riedl 1997. 14 Siehe zur Bedeutung der Bezüge zur Bibel, die hier als „Sprache der Phantasie“ aufgefasst werde, sowie zum Mystizismus und Freimaurerei als „Allegorical Systems of Imagery“ Heinz 2013, S. 66-69.

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melsspeise“ im Abendmahl das Medium der Erlösung durch die communio mit Christus. (Vgl. Anmerkung RH 896) Bei dem Pächter Heil und seiner Schwester Sophie handelt es sich um jene beiden Hörer seiner Antrittspredigt, von deren Gesichtern „ein sanftes Echo“ zum Prediger zurücktönte. (RH 531) Die Beschreibung des Liebesmahls, in dem die Liebe empfindsam und zugleich mythisch gesteigerte Sympathie ist, enthält eine ganze Reihe weiterer Wörter, die wie einstimmen, tönen, Ohren und Saiten anklingen eine sonale Sphäre als den Raum der Kommunikation semantisieren. An dessen Inneneinrichtung interessieren unter dem Aspekt der Stimmung weniger deren Verweise auf freimaurerische Symbolik, wozu auch der Spiegel gehört. Er fungiert hier nämlich ästhetisch eher durch seine Reflexion eines virtuellen Raums, in dem sich die Drei zur einer Figuration von intermedial komponierter Stimmung versammeln: „Denn der Spiegel verdoppelte die schöne Szene, und stellte sie wie in dem Hintergrunde eines Gemäldes dar, das drei vorzüglich charakteristische Köpfe in sich faßte, die durch ihre Stufenfolge einen Akkord bildeten, dem nur ein fast unmerkliches Etwas zur völligen Harmonie und Reinheit fehlte.“ (Ebd.)

Die intermediale Metaphorik projiziert die Transkription eines Akkords von einem Notenblatt auf ein imaginäres Gemälde, deren figurale Dreiköpfigkeit zahllose ikonologische Assoziationen von der heiligen Trinität bis zu Maria, Joseph und Kind auf der Flucht nach Ägypten anspielt. Der die Drei des Liebesmahls meta-ästhetisch figurierende Spiegel eröffnet zugleich einen dritten Raum zwischen ihnen, der ebenso jenseits wie diesseits der subjekt- und spiegellogischen Dichotomie von Innen und Außen sich allein aus Resonanzen bildet. Dass diesem spekularen Beziehungs- als Resonanzraum „ein fast unmerkliches Etwas zur völligen Harmonie und Reinheit“ abgeht – eben das macht ihn zur Stimmung. Denn der musikalischen Theoriebildung nach, die seit der frühen Neuzeit das pythagoreische System reiner Quinten erweitert, entsteht die wohltemperierte Stimmung gerade durch einen unmerklichen Mangel an „Reinheit“. Die Weiterentwicklung der Kunst des Stimmens von Instrumenten (temperamentum) seit Arnolt Schlicks Spiegel der Orgelmacher (1511) und dann bei J.S. Bachs Wohltemperiertem Klavier (1722) erfolgt durch ein Ausgleichen der „Schwebungsdifferenzen der Intervalle durch gezielte Verunreinigung“. 15 Dass in dieser Szene im Hartknopf das verunreinigende „Etwas“ von der Liebe – die emotionale Form reiner Beziehung – „verdeckt“ (ebd.) wird, zeigt, wie konfigurativen Stimmungen in der Literatur das musikalische Stimmungsmodell zugrunde liegen kann. Zudem wird mit den Predigerjahren deutlich, dass Moritz’ gleichsam ahistorisches Schwanken zwischen Empfindsamkeit und Klassizismus auch um 1790 noch anhält, dies aber weniger einen Widerspruch als den Versuch darstellt, die Übertragungskraft des sympathetischen Gefühls (Liebe) mit der Gestaltautonomie des Kunstwerks ästhetisch zusammenzuführen. Das poetologische Stimmungskonzept macht dies als einen Grundzug in Moritz literarischem Werk nachvollziehbar.

15 Jacobs (2013, S. 78) verweist auf Spitzer (1963, S. 83f.).

IV. Exkurs – Weitere Beispiele ästhetischer Stimmungen in Textpassagen aus deutscher Erzählprosa bis 1800

1. J EAN P AULS H ESPERUS ‚ FREIE S TIMMUNG ‘

UND

S CHILLERS

In Moritz’ poetologischem Schwanken zwischen der emotional ausschweifenden (Musik-)Sprache der Empfindungen, des Herzens oder der Sympathie einerseits, und der kompositionell disziplinierten Form der Proportion, Wohltemperiertheit und Harmonie anderseits, artikuliert sich ein ästhetischer Problembestand der 1790er Jahre. Bei Schiller etwa zeigt sich dies in der Reserviertheit gegenüber der Musik, ihren mitreißenden Kräften, die eine Gefahr für die ethische Souveränität des Menschen wie für die ästhetische Form von Kunst darstelle. Wie die Humanität sich in Form der inneren Freiheit zu bewahren habe, so das Kunstwerk in Form seiner ästhetischen Autonomie. Dieses klassische Ideal, wie es Schiller in der Theorie auch für die Musik vorformuliert, rückt für die Praxis der Musik mit der Gattung Symphonie in erreichbare Nähe, wie sich bei Haydn und Mozart zeitgenössisch zeigt, ohne dass Theoretiker und Komponisten einander bemerkt hätten. (Vgl. Dahlhaus 1978b, S. 292) In theoretischer Reflexion wird die klassische Musik erst mit ihrer Konzeption als Instrumentalmusik erfasst, wie es zwanzig Jahre später bei E.T.A. Hoffmann 1 und weitere vierzig Jahre später bei Hanslick der Fall sein wird. 2 (vgl. Dahlhaus 1978b, S. 291f.) Jedoch versucht Schiller ähnlich wie Moritz die gleichsam musikalische Verwurzelung des Ästhetischen in den Sinnen mit dem Spiel seiner freien Reflexion wie auch mit seiner Gestaltwerdung in der klassizistischen Form zu versöhnen. 1

2

Hoffmann 1963 [1810], S. 34: „Wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hülfe, jede Beimischung einer andern Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht“. (Zit. n. Dahlhaus 1978b, S. 291) Hanslick 1965 [1854], S. 20: „Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es; denn nur sie ist reine, absolute Tonkunst“. (Zit. n. Dahlhaus 1978b, S. 291) Siehe aber Naumann (1994, S. 253f.) zu Tiecks Voraussicht auf die eigenständige Entwicklung der Instrumentalmusik im Abschnitt ‚Symphonien‘ der Phantasien.

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Das damit verbundene Problem verdichtet sich bei der Musik in dem Mangel der Ausbildung eines Formprinzips. In Über die ästhetische Erziehung des Menschen heißt es entsprechend: „Auch die geistreichste Musik [steht] durch ihre Materie noch immer in einer größern Affinität zu den Sinnen, als die wahre ästhetische Freiheit duldet“. (Schiller 1962, S. 638) Während Moritz’ Hartknopf die ‚wilde‘ Affinität von Musik und Empfindungen durch deren Systematisierung in der Sprache zähmen und letztlich sogar im Medium der Schrift objektivieren will (Predigt als Kunstwerk), entwickelt Schiller den Begriff der Form weiter zu einem ästhetischen Prinzip, das die Expressivität der Musik in der koordinierten Stimmung des klassischen Kunstwerks reguliert: „Die Musik in ihrer höchsten Veredlung muß Gestalt werden und mit der ruhigen Macht der Antike auf uns wirken“. (Ebd.) Dadurch schließlich versetzte sie uns in jenen mentalen Zustand, der in Schillers Weiterentwicklung des Begriffs als „ästhetische Stimmung des Gemüts“ (ebd.) benannt wird. Ähnlich wie Hartknopfs „Stimmung der Seele“ die ermöglichende Disposition für die Entfaltung der ästhetischen Kräfte eines einzelnen Tons war, so wird bei Schiller die Stimmung aus ihrer objektiven Bindung an die Erkenntniskräfte bei Kant freigesetzt – und wird eben dadurch selbst die Disposition zur ästhetischen Freiheit: „Das Gemüth geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben, und durch die Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüth weder physisch noch moralisch genöthigt, und dort auf beyde Art thätig ist, verdient vorzugsweise eine freye Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen, den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.“3

Die in Schillers begrifflicher Klarheit hier zum ästhetischen Zustand schlechthin verallgemeinerte Stimmung wird durch die neue Freiheit zugleich aus ihrem traditionellen Kontext des Musikalischen mit seinen einerseits technisch-instrumentalen, anderseits emotional-empfindsamen Implikationen etwas weiter herausgelöst. Wie in der Literatur die Stimmung aus ihrer größeren konzeptuellen Freiheit-von eine ästhetische Freiheit-zu darstellt, zeigt z.B. Jean Pauls Roman Hesperus, der im selben Jahr wie Schillers Ästhetik-Briefe 1795 erschienen ist. Im Abschnitt ‚Elende Extra-Silbe über die Kirchenmusik‘ (19. Hundposttag) wird zwar gegen das „leise herrnhutische Tönen“ der „Instrumentalmusik“ polemisiert, aber zunächst nur um Viktors aus einer „Traum-Nacht“ verlängerte Stimmung („Er konnte die guten Seelen um ihn nur mit liebenden schimmernden Augen anblicken“) zunächst als Disposition zu einer ekstatisch gesteigerten Empfindsamkeit zu ironisieren: „Über seinem Herzen und über allen seinen Noten stand tremolando.“ (Jean Paul 1960, S. 771-73) Der kleinste tonästhetische Anlass („ein sinnloser Wiegengesang, ein Flötenkonzert“) kann ihn in diesen Zustand in „Tränen“ (ebd. 773) ausbrechen lassen („wie ein ge3

Siehe zu dieser von Wellbery (2003, S. 710f.) als zentral identifizierten Stelle bei Schiller seine begriffsgeschichtlichen Ausführungen, die hier einen Schritt hin zur Subjektivierung erkennen sowie den Aspekt der Potenzialität betonen.

IV. E XKURS – W EITERE B EISPIELE

ÄSTHETISCHER

S TIMMUNGEN | 415

ringer Laut die wankende Lawine“). Mit diesem „zum Resonanzboden der Musik geschaffne[n] Herz“ besucht der Held nun ein Konzert von Carl Stamitz. „Die Ouvertüre bestand aus jenem musikalischen Gekritzel und Geschnörkel – aus jener harmonischen Phraseologie – aus jenem Feuerwerkgeprassel widereinander tönender Stellen“ (ebd. 775), aus einer Art von Notation also, von der sich Hartknopf – ungeachtet seiner einfacheren Melodien – eine Alphabetisierung der Empfindungen erhoffte. In komplexerer, wenn auch noch konventioneller Weise zielt Stamitz mit seinem „dramatischen Plan“ (ebd.) wie Hartknopf, der es ohne Plan versuchte, auf die Rührung der Seele. Denn auch die professionelle Bahnung der Musik auf dem „Tränenwege“ (ebd.) erfolgt über den akustischen Kanal („den Ohren“) zum ästhetischen Ziel („in das Herz“). Der „große Komponist“ lässt auf Allegros, Adagios folgen, und so geht es „in immer engern Kreisen um die Brust, in der ein Herz ist, bis er sie endlich erreicht und unter Entzückungen umschlingt“ (ebd.). Bis hierhin folgt die Darstellung bei aller Ironie noch der empfindsamen Produktion von Stimmung, insofern diese weiterhin teils musikalisch, teils emotional komponiert ist. Nun aber, nachdem die „Töne“ es geschafft haben, „die drückenden Tränen von der vollen Seele los[zulösen]“ (ebd. 776), löst sich auch die Stimmung aus ihrem empfindsamen Setting, lockert den musikalischen Konnex und hebt zu einer freieren Assoziation von Bedeutungen ab. Die Erzähleransprache an seinen Helden wirkt wie eine Aufforderung zur Revision seiner Existenz im Zeichen einer nun ‚freien Stimmung‘. Diese ist nicht länger in die physischen und logisch-moralischen Zustandsformen (Schiller) eingepasst ist, sondern bringt den ‚ganzen Menschen’ zu sich und zugleich zur Welt: „Teurer Viktor! im Menschen ist ein großer Wunsch, der nie erfüllt wurde: er hat keinen Namen, er sucht seinen Gegenstand, aber alles, was du ihm nennest, und alle Freuden sind es nicht; allein er kömmt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach Norden siehst oder nach fernen Gebirgen, oder wenn Mondlicht auf der Erde ist, oder der Himmel gestirnt, oder wenn du sehr glücklich bist. Dieser große ungeheure Wunsch hebt unsern Geist empor, aber mit Schmerzen: ach! wir werden hienieden liegend in die Höhe geworfen gleich Fallsüchtigen. Aber diesen Wunsch, dem nichts einen Namen geben kann, nennen unsre Saiten und Töne dem Menschengeiste – der sehnsüchtige Geist weint dann stärker und kann sich nicht mehr fassen und ruft in jammerndem Entzücken zwischen die Töne hinein: ja alles, was ihr nennt, das fehlet mir.... Der rätselhafte Sterbliche hat auch eine namenlose ungeheure Furcht, die keinen Gegenstand hat, die bei gehörten Geistererscheinungen erwacht, und die man zuweilen fühlt, wenn man nur von ihr spricht....“. (Ebd. 776)

In belehrendem Ton wird an dieser berühmten Stelle dem weinenden Helden eine philosophisch-anthropologische Grundlagenreflexion zugemutet, die zwischen Wunsch und Furcht eine Art mangelökonomische Befindlichkeit des Daseins entwirft. Die spekulativen Implikationen reichen u.a. von Parusieerwartungen und negativer Theologie, adamitischer Sprachtheorie und poetischer Sprachmagie, über die Ästhetiken des Erhabenen, des Komischen und des Tons, die Gefühls- und Musikpsychologie, die Topoi des Namenlosen und der Sphärenharmonie, die Geist- und

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Lebensphilosophie bis zur dionysischen Ekstatik, zur Psychoanalyse, Existenzphilosophie und der Poetik des Unsagbaren. 4 Aus der Perspektive poetologischer Stimmungen ist hervorzuheben, dass der Erzähler betont, dass es nicht die Freuden seien, um die es geht und nicht einmal die Erfüllung von Wunsch, Begehren, Sehnsucht oder gar bürgerlichen Glückserwartungen. Es scheint, als müsse erst alles humanistisch, christlich und aufklärerisch Vertraute beiseite geschoben und von psychologischen Mechanismen abgesehen werden, um an das heranzukommen, was die neue, ‚freie‘ Stimmung mehr ist als die empfindsame. Denn zur ihrer Darstellung werden dann vertraute Versatzstücke wie Sommernacht, Blick in die Weite, Mondlicht, Sternenhimmel und tiefes Glück angeführt, die nun aber das Fundament einer Umstimmung von religiöser hin zu anthropogener Transzendenz bilden. Das macht den „Wunsch“ zu einem ungeheuren. Die teils negativen (nie, aber, nicht) teils konventionellen Bestimmungen des in Frage stehenden Phänomens erzeugen ein ideelles Vakuum, aus dem heraus es dann zur Wendung eines neo-gnostischen (hienieden) ‚Umsturzes nach innen‘ (Macho) hin zu einer platonischen Art ‚Sturzgeburt nach oben‘ kommt, deren „Schmerzen“ sie vielleicht von herkömmlichen Platonismen absetzen soll: „ach! wir werden hienieden liegend in die Höhe geworfen gleich Fallsüchtigen.“ Dieser im Original kursiv gesetzte Satz vollzieht eine Übertragungsdynamik zwischen Gefühlen und Ideen, die literaturgeschichtlich den Übergang von Empfindsamkeit/Sturm-und-Drang zur Romantik gewissermaßen abschließt. Das Abheben des Geistes von der noch als empfindsam wiedererkennbaren Basis in eine vertikal entgrenzte Sehnsucht kann als eine Urszene romantischer Stimmung angesehen werden. Dass bei diesem Geworfenwerden nicht nur lustig oder auch nur religiös getragen zugehen kann, sondern auch schmerzlich und obsessiv (Fallsüchtigen), zeigt die existenzielle Fall-„Höhe“ an, die von namenloser Transzendenz über Fassungslosigkeit („kann sich nicht mehr fassen“) bis zum strukturellen Mangel an innerer Harmonie („fehlet mir“) reicht. Die äußere Harmonie, die die „Saiten und Töne“ erklingen lassen, dient auch oder vor allem dieser schmerzlichen Bewusstwerdung und ist dadurch von physiko-theologischen bis pantheistischen Motiven der vorangegangenen Dekaden unterschieden. Noch die von Hartknopf zehn Jahre zuvor über Vorstellungen von musikästhetischer Performativität reaktualisierte Sphärenharmonie ist hier demnach eher der phantasmatische „Gegenstand“, dessen Imagination sich als elegische Stimmung niederschlägt. (Vgl. „einen höhern Sphärenton“; „Alle Töne schienen die überirdischen Echo seines Traumes zu sein“; „Sphären-Akkorde“, ebd. 546; 776f.) Schließlich ist im Unterschied zum Gespräch zwischen Hartknopf und dem Emeritus an zitierter Stelle auch die bedeutungsgenerierende Kraft der Sterblichkeit weniger tröstlich ausgelegt, und begründet eher eine existenziell fundamentale Angst 4

Den „Unsagbarkeits-Topos“ sieht Dahlhaus (1978b, S. 281) an dieser Stelle als Ursprung der romantischen Musikästhetik: „Musik drückt aus, was Worte nicht einmal zu stammeln vermögen.“ Nicht berücksichtigt wird dabei, dass die Suche nach der poetischen Sprache vom Sagenwollen des Unsagbaren angetrieben wird und die poetologische Innovation sich durch Vertextung von Klängen im Medium der Schrift und nicht von gesprochenen „Worten“ vollzieht. Ausführlich zum Unsagbaren in hermeneutikgeschichtlichen Zusammenhängen Frank 1989a.

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(„namenlose ungeheure Furcht, die keinen Gegenstand hat“), als dass sie eine solche zerstreut oder in Zuversicht auf ein Leben nach dem Tod wendet. Dem Wandel des Sterblichkeitsbewusstseins entsprechend nuanciert sich die Stimmung von beseelt bis getragen zu gespenstisch bis abgründig.

2. N UANCIERUNGEN DURCH ATMOSPHÄRISCHE UND INTERMEDIALE M ETAPHORIK IN J EAN P AULS T ITAN (1800) Die umgekehrte Bewegung von Stimmungsnuancierungen ist an einer ganzen Reihe in einem anderen Roman von Jean Paul, dem Titan (1800-03) zu beobachten. ‚In der Hütte des Einsiedlers auf dem Vesuv‘, der „erhabnen Hölle“, löst die existenzielle und zugleich ontologische Reflexion ebenso ein vertikales Gefühl aus, aber es beflügelt die Stimmungsdifferenzierung zu einer „griechische[n] Verschmelzung des Ungeheuern mit dem Heitern, der Natur mit den Menschen, der Ewigkeit mit der Minute.“ (Jean Paul III, 1960, S. 645) Bezeichnenderweise ist zuvor das Adjektiv ungeheuer nicht wie bei der Stelle im Hesperus dem Wunsch und der Furcht zugeschrieben, sondern der Welt: „Wie erhebt es den Geist, daß er ist und daß er die ungeheuere Welt denkt und sich! –“ (Ebd. 645) Auch an anderen Stellen mit erst rührenden, dann erhabenen Stimmungskomponenten fällt das Primat des Außen auf, das mit der Projektion von Subjektqualitäten auf Dinge, Natur oder die Welt als Ganzes einhergeht. Hierzu werden u.a. Personifikationen der Natur eingesetzt: „Das stolze Weltall hatte seine große Brust schmerzlich ausgedehnt und dann selig überfüllt; [...] und aus der reinen blassen Sonne sah ich seine Mutter an, und im Feuer und Rauch der Erde stand sein Vater und sein Leben eingehüllt. –“ (Ebd. 22f.) Viele weitere Passagen im Titan („lispelnden Zitterpappel“, ebd. 209) können die Zuschreibung stimmungsaktiver Eigenschaften an atmosphärische, „irdische“ Phänomene belegen, wobei mitunter noch das Verleihen einer „Stimme“ (Prosopopeia) hinzukommt:5 „Und als die Morgenluft mich wie ein Flügel anflatterte und hob und als ich mich tiefer in den blauen Himmel tauchte, so sagt’ ich: nun bist du in Elysium. – Da war mir, als sage eine Stimme: das ist das irdische, und du bist noch nicht geheiligt für das andre.“ (Ebd. 211) Einige Zeilen zuvor wird ganz im Gegensatz zum Hesperus-Zitat auch die Freude keineswegs existenziell abgewertet: „Ich stieg den grün-schattigen Berg hinan, aber mit Mühe; die Freude entkräftet mich so sehr; – denk an mich, Elisa, ich werde einmal an einer großen sterben, oder an einem großen, allzugroßen Weh.“ (Ebd. 210) Immer wieder werden dem „Schmerz“, die „Freude“ hinzugesetzt und positive Stimmungen wie „eine unbefangene beglückende Heiterkeit“ (ebd. 212f.) anstelle von negativen dargestellt, wobei der ironische Erzählton das scheinbar Oberflächliche mit dem Existenziellen vermittelt.

5

Vgl. neben weiteren Stellen auch in Form der Prosopopeia: „Spricht nicht die Landschaft, der Berg, die Küste gleich einem Echo desto mehr Silben zur Seele, je ferner sie sind? Wie jung fühlt’ ich die Welt und mich, und der ganze Morgen meines Lebens war in diesen gedrängt!“ (Ebd. 615)

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Wie im Hesperus und Hartknopf wird auch im Titan die stimmungsmusikalische Metaphorik der Saiten und Töne häufig verwendet; etwa zur Charakterisierung der „Menschennatur“, in der „Saite[n]“ zu „stimmen“ (ebd. 19) sind, und zum Anstimmen eines heiteren Tones im Umgang mit den Themen Sterblichkeit bzw. Unsterblichkeit. Wie die Menschennatur so ist auch die Natur im Titan oft als eine der Töne, Klänge und Geräusche charakterisiert, die im Zusammenspiel mit visuellen und taktilen Wahrnehmungen eine erzählte Welt der Stimmungen bilden. In diese den Menschen einschließende Natur einer Stimmungswelt ist dann auch die Kultur nur eine weitere Variante derselben, wie vor allem die Darstellung der Stadt Neapel samt dem Golf zeigt. Bereits die Nacht ist beinahe unnatürlich hell erleuchtet von Mond und Sternen, in der Albano sich der „Prachtstadt“ auf einer „mit Weinblüten durchflochtene[n] Allee“ nähert, die ihre Parallele in der silbernen „Milchstraße“ findet: „Überall hörte man Menschen, bald nahes Reden, bald fernes Singen. Aus schwarzen Kastanienwäldern auf mondhellen Hügeln riefen die Nachtigallen einander zu“ (ebd. 613). Töne „dringen bis in den Traum hinab“ und werden im Halbschlaf nachgesungen, ja der Traum wird selbst „ein unaufhörliches Lied, das sich selber sang“ (ebd. 613-19) und wird von der mittelmeerischen Weltstimmung ununterscheidbar. Die Ästhetik der Töne und Klänge wird als Wirklichkeit der vor- und halbbewussten Sphäre dargestellt, der diejenige eines entspannten Sozialen entspricht: „die Balkons warfen sich Gesänge zu“ (ebd. 613f.). Die mit reichlich synästhetischer „Paradies“-Metaphorik 6 ausgestattete Nachtstimmung bei und in Neapel steigert sich nach der Überfahrt nach Ischia zu einem Spektakel für die Sinne, wobei das Hören von Stimmen oder Tönen ganz in Herders Sinn weiterhin die Orientierung gibt. Mit Blick auf den Mond über dem etwas Feuer speienden Vesuv und der dazwischen gelagerten Insel Procida fühlt der Held Albano sich „von einem Gott erschüttert und von einem Wunder geblendet“, das sich dann als die Schönheit Linda de Romeiro entpuppt, zugleich aber die ebenso elementare wie spielerische Integrationskraft vergegenwärtigt, die intensiv empfundene Stimmungen ausmacht: „Als wollte die Zeit die glänzende Erscheinung würdig umgeben, so schön spielten Himmel und Erde mit allen Strahlen des Lebens ineinander – liebesdurstig flogen Sterne wie Himmelsschmetterlinge ins Meer – der Mond war über die ungestüme Erdflamme des Vesuvs weggezogen und bedeckte mit seinem zarten Licht die frohe Welt, das Meer und die Ufer – der Epomeo schwebte mit seinen versilberten Wäldern und mit der Einsiedelei seines Gipfels hoch im Nacht-Blau – darneben lebten die singenden, tanzenden Menschen mit ihren Gebeten und ihren Fest-Raketen, die sie in die Höhe warfen. – –“ (Ebd. 621)

Einmal mehr der Tradition der Sphärenharmonie entsprechend (vgl. „die unisonen Äolssaiten dieser vieltönigen Seele“, ebd. 634) spielen die Bewegungen der Him6

Blumenkelche/Liebestrank der süßen Luft, Horen-Glöckchen, der Mond schien zu wärmen, der „Adam im Paradies [...] hörte fernes süßes Tönen – unbekannte Blütendüfte durchschwammen die Luft – er sah hinaus – der dunkle Himmel war mit goldenen Sternen mit feurigen Blüten bestreuet“ usw. (ebd. 613-18); vgl. „die fernen Töne und die milden Strahlen woben sich ineinander“ (ebd. 830).

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melskörper, der Menschen samt ihrem Leib-Seele-Verhältnis und die Beziehung des Einzelnen (Einsiedelei) zur (Fest-)Gesellschaft hier „ineinander“. So bleibt Albanos glücklich-einsame Stimmung („Seligkeit“) „träumend, schwebend“ einerseits mit dem „Himmels-Gewölbe“ verbunden, anderseits mit Deutschland, „wo Liane lebt“ (ebd. 626). Räumliche und zeitliche Distanzen werden in gesteigerter Stimmung leicht überbrückbar, während die räumlich-zeitlichen Imaginationen selbst zu der atmosphärischen Stimmung beitragen, die sie hervortreibt. Nicht nur bei den Stimmungsszenen in Süditalien, sondern auch bei denjenigen im Norden Italiens rund um die Isola Bella spielen Beschreibungen oder Benennungen von Jahres- und Tageszeiten innerhalb von Beschreibungen eine wichtige Rolle. Sie ergänzen das stimmungsszenische Ensemble von Sonne, Mond und Sterne, Lavaströme, Meer und Berge, Wald und immer wieder „Pappeln“ und werden zudem mit genannten Musikmetaphern kombiniert, wie z.B. „melodische Dämmerung“ (ebd. 637). Hervorzuheben ist die Darstellung des Sonnenuntergangs wiederum in Neapel mit Blicken auf die „Ponzischen Inseln“, Capri und die amalfitanische Küstenlandschaft, wenn Sonne und Meer, Nacht und Tag, Äther und Blitz, Glut und Wellen, Schatten und Farben sich vermischen („vergoldete das Blau“, „dämmerndes Gold“) und die Welt zu einem integrierten Hör- und Schauspiel wird: „die Erde rollte mit ihrer Achse wie mit einer Spielwelle nahe an der Sonne und schlug aus ihr Strahlen und Töne“ (ebd. 638f.). Ab dem Moment wo die „Sonne ihr Meer“ berührt, wird der Sonnenuntergang dem Gaya-Uranos-Mythos gemäß als Liebesspiel („liebesbrünstig, liebeglühend“) metaphorisiert; der Moment des (ekstatischen) Verschwindens schlägt um in den Höhepunkt der Stimmung, auf den ein kosmoerotischer Rhythmuswechsel folgt: „Da warf es [das Meer], als sie vergehen wollte, die Decke eines unendlichen Glanzes über die erblassende Göttin – – Dann wurd’ es still auf der Welt – eine bewegliche Abendröte überfloß mit Rosen-Öl alle Wogen – die heiligen Untergangsinseln standen verklärt – die fernsten Küsten traten heran und zeigten ihr Rot der Entzückung – auf allen Höhen hingen Rosenkränze – der Epomeo glühte bis zum Äther hinauf, und auf dem ewigen Wolkenbaum, der aus dem hohlen Vesuv aufwächset, verglomm im Gipfel der letzte dünne Glanz. Sprachlos wandten sich die Menschen von dem Westen nach dem Ufer um.“ (Ebd. 639)

Mit dem Betreten des Ufers nach der Überfahrt „zittert“ ihnen die Erde unter den Füßen nach und zwar „als ein Sangboden der seligen Stunde“ (ebd. 639). Auch der anstehende Abschied Albanos, auf den der Sonnenuntergang seinerseits metaphorisch vorausweist, wird musikmetaphorisch angestimmt: „Das Scheiden und das Ende eines harmonischen Tages wurde schwer, worin der Ton jeder einzelnen Minute wieder ein Dreiklang gewesen.“ (Ebd. 639) Die Stimmungsakkordanz wird auch über das Verbinden von Metaphern der Tageszeiten mit Farben und Naturphänomenen erzielt und auf erotisches Handeln bezogen: „wie Morgenröten zweier Wellen schmolzen ihre Lippen zusammen“ (ebd. 640f.). Ein letzter Aspekt, der trotz seiner Konventionalität für die Prägnanz von Stimmungen bei Jean Paul zu erwähnen ist, ergibt sich daraus, dass innerhalb der kosmologisch erweiterten Landschaftsbeschreibungen es tages- und jahreszeitliche Metaphern sind, die auch für eine atmosphärische Semantisierung von persönlicher Lebenszeit verwendet werden. Ein Beispiel ist die Rückkehr nach Isola Bella, bei der veränderte Stimmungen auf die unterschiedli-

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chen Jahreszeiten (Frühling, Sommer) zurückgeführt werden und vom „Kindheitsgarten“, „Kindheitsland“ sowie „einer tiefen nachmitternächtlichen Lebens-Frühe“ die Rede ist, bevor die Nostalgie für die unwiederbringlichen „Tage in Ischia“ und „Stunden auf dem Vesuv“ (ebd. 667) kommt. Gegenüber dem Hesperus und erst recht dem Hartknopf sind die Stimmungen im Titan an zahlreichen Stellen weiter von musiktechnischen und psychologischen Bedeutungsschichten des Begriffs abgelöst. Dies gilt insbesondere dort, wo die weiterhin häufigen Musikmetaphern (Töne, Saiten) mit nur noch loser Bindung an das sphärenharmonische Konzept gebraucht und verstärkt gemischt werden mit atmosphärischen Außenbezügen (Italien, Landschaft, Wetter, Tages- und Jahreszeit). So wird insgesamt eine über Schillers Sinn noch hinausgehende, nunmehr metaphorisch ‚freiere‘ Stimmung literarisiert.

3. E RZÄHLEN VON E ROTIK UND D ISKURSE ÜBER K UNST Stimmungsszenen in Wilhelm Heinses Ardinghello oder die glückseligen Inseln (1785)

Bereits fünfzehn Jahre zuvor wurde der bestehende und durch seine literarischen Verwendungen fortgeschriebene ‚Mythos‘ Italien in Heinses Ardinghello zur raumsemantischen, historisch phantasierenden (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) und erotisch expliziten Darstellung von Stimmungen genutzt. Dabei ist Heinses Sprache weniger dicht in ihren Beschreibungen, aber auch weniger ätherisch verspielt als in den besprochenen Szenen bei Jean Paul. Ihr ästhetisches Selbstverständnis scheint im Gespräch über Kunst poetologisch reflektiert, wenn es heißt: „Jeder Sinn hat sein eignes Element, worin der Ausdruck nur schwimmt. Die Poesie arbeitet zwar für alle [Sinne], aber doch ist auch die Sprache und Harmonie derselben für das Ohr ihr Grundstoff.“ (Heinse o.J., S. 162) Heinses Sprache folgt einem beherzten Erzählduktus, der sich auf die Ausdruckskraft der Bilder und Handlungsdarstellung verlässt, auch wenn er an eben zitierter Stelle diejenigen Dichter kritisiert, die meinen, „sie hätten genug getan, wenn sie nur eine rührende interessante Geschichte mit ihren Wechselbälgen ausstaffieren und ein schmachtend Auge hineinbringen“ (ebd. 162). Poetologisch markant indes ist am Ardinghello, dass über ein Jahrhundert vor Dilthey die Individualität, vor allem diejenige des Helden, aber auch anderer männlicher (z.B. Florio, ebd. 124, Mark Anton, Diagoras) und vor allem weiblicher Personen (z.B. Cäcilia, Lucinde, Fulvia, Isabella, Bianca) in Stimmungsfiguren variiert, in denen objektiv benennbare Eigenschaften mit einem subjektiv getönten „Temperament“ (ebd. 99) organisiert sind.7 Wie in den Gesprächen über Kunst erklärt wird, dass zur „Schönheit selbst der Charakter“ (ebd. 165) gehöre, werden Körperliche und geistige Vorzüge wie nebenbei als einander harmonisch ergänzend gedacht, die individuelle Liebes- und Lebensgeschichte aus der Familiengeschichte wird schlaglichtartig erhellt 7

Z.B. „Eine gewisse Heiterkeit und Frühlingsrosenröte ging in ihrem himmlischen Antlitz auf, das sonst ein innrer Gram mit einer melancholischen Lilienblässe überzog [...] welcher hoher Reiz enthüllte sich in jeder Bewegung ihres schlanken Körpers! wie heiß die Augen in mich sonnten, und sich doch so selbst überlassen! wie süß die zarten Lippen [...] Wo ich den Blick hinrichtete, entstanden neue Zaubereien“. (Ebd. 101f.)

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(z.B. Lucinde) und, was neu war und frivol wirkte, die meisten Frauen und Männer sind auf eine Art erotischen Stimmungswert hin entworfen. Dies wird von Heinse – dem zeitgenössischen Diskurszusammenhang entsprechend – im Kunstdiskurs mit dem Begriff des Physiognomischen verbunden 8 , den auch Böhme (2013) in die gegenwärtige Stimmungsdebatte im Zusammenhang von Margaretes atmosphärischer Wahrnehmung im Faust eingeführt hat. Die Darstellung physiognomischer Stimmungsverhältnisse bleibt jedoch anthropologisch, psychologisch und soziologisch durchaus oberflächlich, und wird im Erzählzusammenhang oft einfach durch Benennung von Eigenschaften erzielt oder erst durch tages- oder jahreszeitliche Situationsmetaphorik sinnlich konkret. 9 Die die Handlung mitsteuernde Erotik tendiert dahin, selbst vor allem Stimmung zu sein und sich in meteorologisch, landschaftlich und historisch konturierten Szenen von Harmonien zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft sowie zwischen physischen und kosmischen „Sphären“ 10 zu differenzieren. Die Sphären des Weltalls und die ‚Musik der Natur‘ (ebd. 96) bilden nur die weiteren Raumexpansionen des Wahrnehmens und Ausübens von Kunst und Erotik. Alle Sphären, vom Menschen bis ins Weltganze, von den einzelnen Künsten bis zum Schönen selbst sowie vom Individuellen bis ins Politische werden als Formen einer organologisch entfalteten Kraft freilich mehr gedacht als dargestellt. 11 Die Idee des „lebendigen Dinge[s]“ dient auch dazu, die anthropologischen, naturrechtlichen, historischen, staats- und gesellschaftspolitischen Reflexionen, die der Held seinem Erzählerfreund in einem seiner Briefe vorführt, auf die Form und das „Wohl des Ganzen“ (ebd. 136ff.) als das gesetzlich vorbestimmte Ziel zu lenken. Wie die historische Persönlichkeit („Karl der Fünfte“) in Kategorien des Sturm und Drang („Mann von natürlichem Gefühl“, „Sturm von Leben“, „Herz in wärmere Wallung gebracht“) konturiert wird, so wird die politische Machtwirkung auf ein halbes Jahrhundert mithilfe der musikalischen Stimmungsmetapher bestimmt: „alles mußte gewissermaßen sich in seinen Ton stimmen“ (ebd. 141f.).12 Die genuin metaphysische Vorstellung 8

Siehe dazu die Rede vom „physiognomischen Sinn“ und von „Wahrheit, physiognomische mit Leib und Leben wie Wirklichkeit“ (ebd. 171f.) im Gespräch über die Grenzen und Übergänge der unterschiedlichen Künste. 9 An Homer wird eben dies kritisiert, dass er zu wenig die „Gegend von Troja“ und die „Jahrszeit“ der Handlung beschrieben habe, wodurch er seine Ilias „sinnlicher gemacht hätte“ (ebd. 161). 10 Z.B.: „Wir machten den letzten Strich in unvergleichlicher Nacht, wo der Mond, beinahe voll, immer mit uns ging und uns durch die schönen Ulmen begleitete, die ihre Kränze von dichtbelaubten Weinranken lieblich zusammenpaarten; und Blitze von fernen Gewitter flammten herüber in die heitre Luft. Mond und Abendstern und Sirius und Orion schienen wie Schutzgeister unsrer Sphäre näherzuschweben.“ (Ebd. 31) 11 Zur Bedeutung des Organologischen für die diskursgeschichtliche Entwicklung von Stimmung siehe Welsh 2006. 12 Die Verwendung des transitiven Verbs stimmen taucht in unterschiedlichen Kontexten auf; außer im politischen auch im kulturhistorischen: „jede Gegend stimmt mit der Zeit die Seelen der Einwohner nach sich“; und im Eindruck der römischen Sankt-Paul-Kirche mit seinen Marmorsäulen im raumästhetischen Kontext: „die ganze Seele stimmt sich daran rund und geschmeidig“; „Seele zur Empfänglichkeit stimmen“ (ebd. 148, 154, 192 et passim).

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von einem harmonisch integrierten Ganzen (der Sphären, der Individuen, der Künste, der Gattungen) wird trotz der ausgedehnten Diskurse über Kunst und Politik, über die Einheit von Liebe und Geist (ebd. 117) nicht nur durch Reflexionen, sondern auch – deutlicher als im Hartknopf – durch das Handlungsgeschehen darzustellen versucht. Das klassizistisches Ideal eines in sich selbst Vollendeten, das verkürzt als das klassische Ganze im Kunstgespräch am Ende des Ersten Buches auftaucht 13, mag auch schon leitend für Heinses Roman gewesen sein, insofern darunter Form-InhaltKorrespondenzen, eine poetische Sprachökonomie, die Koordination der Kapitel bzw. Briefe und die Gestalt des Romans insgesamt gemeint sind. Bei Heinses narrativem Schwung, der inhaltlich die Darstellung von Lebendigkeit entspricht, und der Serie von Begebenheiten und Bekanntschaften wird jedoch Vollendetes allenfalls in Darstellungen eines Stimmungsganzen gefunden und dieses jeweils in den einzelnen Episoden der erotischen Begegnungen des Götter- und Frauenlieblings angeordnet. Die ausufernden Reflexionen über Kunst sprengen allerdings die Idealform des in sich selbst Vollendeten. Waren es für Hartknopf die Musikimprovisation, die Kontemplation und das Predigen, in denen die abstrakte Vorstellung von Sphärenharmonie in ästhetische Vollzüge eingelassen und dadurch reanimiert wurde, so sind es für Ardinghello die individuell akzentuierten Erfahrungen in den Feldern der Kunst und Natur, der „mechanische[n] Gesellschaft“ (ebd. 106) und der freien Erotik. Letztere wird nicht wie im angeführten Beispiel aus dem Titan mythologisch und naturmetaphorisch verhüllt dargestellt, sondern als sinnliche Konkretion in den Formen körperlich-seelischer Schönheit und sexuellen Handelns. Dies gilt vor allem, aber keineswegs nur für den männlichen Helden. So wird die sexuell am meisten explizite Szene von Fulvia, die Zurückhaltung ihrer Freundin Lucindes ausnutzend, geschickt als libertäre Verwechslungsgeschichte initiiert und als Verführung erfolgreich „zum entzückendsten Ziel“ (ebd. 98) geführt. Ardinghello ist ein stürmischer ‚Kernmensch‘ und draufgängerischer Kraftkerl, für dessen „freien Sinn“ die „Ehe“ der „Tod bei lebendigem Leibe“ wäre; zugleich wird ihm eine gewisse Subtilität in der erotischen Wahrnehmung zugeschrieben: „Was dies weibliche Wesen für einen süßen Klang hat, ist unaussprechlich.“ (Ebd. 97) Dabei wird die erotisierte Klangästhetik mit metaphysisch-mythologischen Ideenzusammenhängen konnotiert: „Und ihre Ahndungen und Gefühle von unsichtbaren Welten, so fremd und sonderbar [...] sie mir auch vorkommen, ergötzen mich doch wie Homerische und Platonische Dichtungen.“ (Ebd. 97) Ardinghello meint unter Berufung auf den „göttliche[n] Plato“ mit seinen „Ausschweifungen in der Liebe“ nur dem „edelsten Trieb unseres Geistes“ nach Vereinigung mit dem „Schönen“ (ebd. 100, 143) bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu folgen. Die imaginative und agierte Identifikation von Geist und Liebe (vgl. ebd. 117) entfaltet eine Kraft der Übertragung, die Ardinghellos Enthusiasmus, aber auch das Phänomen der Stim13 „Alle Kunst ist Darstellung eines Ganzen für die Einbildungskraft. [...] Ein neues Ganzes [...] oder ein altes neu auf die wahrste und lebendigste Weise den Menschen in die Seele bringen ist Kunst.“ (Ebd. 160f.; 170) Im folgenden wird erst implizit dann explizit mit Bezug auf Lessings Laokoon-Schrift die Poesie als Zeitkunst und die bildende als Raumkunst diskutiert.

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mung auszeichnet. Dies zeigt sich in Situationen, wenn ästhetische Sensibilität und erotische Faszination sich wechselseitig hochschaukeln und plötzlich in den Raum eines Zwischen übertreten, in dem Innen und Außen, Du und Ich sich zu einem Schwebezustand aufheben: „Wir schwebten umeinander wie klare lichte Empfindung; sie schien zu fühlen, was ich fühlte, und zitterte auf die letzt vor Bangigkeit, so daß wir plötzlich aufhören mußten.“ (Ebd. 102)14 Wie beim Kennenlernen von Lotte und Werther auf dem Ball ist es hier der Tanz, wenn es auch historisch bedingt noch nicht der Walzer sein kann, sondern das Menuett, der die erotisch Verstrickten ins Surreale abheben und sie nur gewaltsam auf den (Tanz-)Boden des Realen zurückkehren lässt. Und ebenfalls wie im Werther, aber auch wie dann beim neapolitanischen Sonnenuntergang im Titan, müssen solche literarischen Stimmungshöhepunkte vorbereitet werden. Es werden psychologische, lebenssituative, dramaturgische u.a. Motive vorab soweit erzählerisch entwickelt, dass es bei erfundenem Anlass einer allgemeinen Feststimmung (Ball; Sonnenuntergang) überhaupt zur zwei-einigen Levitation kommen kann. Bei Ardinghello z.B. war die Leidenschaft schon länger entflammt, Lucinde hatte sich längere Zeit auf Distanz gehalten usw. So können beide gewissermaßen dispositiv oder verdeckt aktiv ihre feierliche (Wieder-)Begegnung zu solchen Momenten wechselseitiger Wahrnehmung steigern, deren transsubjektive Eigendynamik zum Phänomenbestand der Stimmung gehört (vgl. Kap. A-III). Die beiden nähern sich noch ein Mal einem solchen Schwebepunkt, nachdem Lucinde ihren Widerstand aufzugeben begonnen hatte; ohne dass sie schließlich Sex haben werden, was für die literarische Stimmungsinszenierung sicher nicht unbedeutend ist, wie schon die Lotte-Werther-Geschichte zeigte. An einem idealisch konfigurierten Stimmungsort (Frühling, Sonnenuntergang, Garten, Meerblick) wissen sie am unteren Garten die Gesellschaft nahe bei, ohne an ihr Teil zu nehmen, und spüren sich schon dadurch als intim lebendig und von Lebendigem umgeben: „und die See spielte in kleinen Wellen, um, wie zärtliches Leben, sich in die Lüfte zu verbreiten“ (ebd. 116). Zum in sich und um sie bewegten Naturraum kommen nun auch vom Musikalischen her Stimmungsfaktoren hinzu: „Ich zeigte Lucinden erst einige Griffe auf der Laute, alsdenn sangen wir zusammen, und unsre Herzen ergossen sich endlich ineinander durch Gespräch und Blicke.“ (Ebd.) Außer Tanz und Erotik können die Wechselbeziehung im Stimmungsmedium auch Gespräche und Blicke herstellen, zumal wenn sie zuvor durch Musik und Gesang zum Sichergießen von Gefühlen eingestimmt worden sind. Im übrigen wird die mit solchem gemeinsamen Erleben von Stimmungen einhergehende Ebenbürtigkeit und Gleichberechtigung im daran anschließenden Gespräch auch zum genderpolitischen Thema gemacht, indem gegen die unterdrückte Stellung der Frau und konventionelle Moral im sozialkritischen Ton des Sturm und Drang protestiert wird: „Pedanterei und Ziererei ohne Zweck und Nutzen!“ (Ebd. 116; vgl. 131) Zum emanzipatorischen Gegendiskurs schon der Vor14 Die ungewöhnliche Wendung „zitterte auf die letzt“ könnte man – zumal unter stimmungsästhetischem Aspekt – für einen performativen Ausdruck oder sprachlichen Fauxpas halten; er taucht aber auch an anderer Stelle auf und scheint wie Moritz’ ‚zu hause gehen‘ zu jener Zeit gängig gewesen zu sein. (Vgl. ebd. 173, 185)

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Romantik ist auch hier, wie schon im Werther, die mit der herrschenden Sexualmoral unverträgliche Idee einer Dreierbeziehung zu zählen. Eine solche wird in unterschiedlichen Konstellationen durchgespielt und dabei weniger als Lösung eines Problems und mehr als alternative Beziehungsform angedacht, in der sich die Natur in lebendiger Schönheit ästhetisch entfalten könne. (Ebd. 99, 119) Eine letzte Szene sei angeführt, die diesen stimmungsphänomenologischen Kern umkreist, bevor sie sich in eine sphärenharmonische Phantasie erweitert. Anders als Lucinde, ist Cäcilia zu einem genau kalkulierten Zeitpunkt eine auch sexuelle Beziehung mit Ardinghello eingegangen. Nach längerer Trennung antizipiert sie in einem glühenden Liebesbrief ihr erneutes Zusammensein in Form einer Hochstimmung. Sie beginnt in der Mitte des Briefes mit einer Anrede, in der sie die psychische Wirkung ihrer Liebe metaphernreich reflektiert; dann imaginiert sie die erotische Bewegung ihrer ‚Umwindung‘ und des gegenwendigen Austauschs eines Selbstseins im Anderen: „O Du mein alles, Licht und Leben und Heiterkeit meiner Seele, wenn werd ich mich wieder um dich winden? mich in Dich verwandeln, nur voll von Dir, nichts mehr, Dein unaussprechliches entzückendes Selbst sein?“ (Ebd. 144)

Nach einem Satz, der ihre Umarmung in ein pflanzenmetaphorisches Bild vom Dionysos oder Bacchus setzt, folgt ein längerer Absatz. Er scheint an die Empfindsamkeit anzuknüpfen, aber nur dessen Beginn könnte auch im Werther oder im Hartknopf stehen. Denn die sphärenharmonische Rückversicherung treibt bei Heinse eine kosmo-erotisch beflügelte Phantasie hervor, die dann den sexuellen Intimraum in die ekstatische Offenheit des Naturraums entgrenzt: „Hand in Hand wollen wir nun die Gestirne blinken und den Mond aufgehn sehen, im kühlen erquickenden Geflister der bewegten Zweige, ohne Furcht bei der Nacht; und uns laut küssen und unsre Wonne girren, zwischen Rosen gelagert unter dem hohen Ahorn, worin die muntern Philomelen seufzen und zwitschern und schlagen.“ (Ebd. 144)

Auch hier kommt nach dem visuellen Auftakt (blinken, sehen) und neben dem Taktilen (kühlen, küssen) sowie den kinetischen Phänomenen (bewegten, schlagen) dem Auditiven die Rolle des wahrnehmungsästhetischen Leitmediums zu (Naturlaute: Geflister, laut, girren, seufzen, zwitschern). Unter historischem Aspekt ist wie bei der vornehmlich raumästhetischen Darstellung (Werther) und musikästhetischen Reflexion (Hartknopf) von Stimmungen auch bei dieser literarischen Liebesszene die Leistung der Stimmung darin zu sehen, dass sie das im 18. Jahrhundert allzu abstrakt gewordene metaphysische Ganze (Sphärenharmonie, Monadologie, Pantheismus, Panentheismus) in ein konkret zu vollziehendes physisches Ganzes versinnlicht. Wie diese historische Perspektivierung auf die Entwicklung der Ästhetik und Gattungstheorie insgesamt im 18. Jahrhundert zu beziehen ist, so im Ardinghello insbesondere auf die Gespräche über die Künste einschließlich der Musik und Poesie. (Vgl. Ende 3. Teil, 1. Bd.) Allerdings verliert die Dimension der ästhetischen Versinnlichung im reflektierenden Diskurs gerade das, was sie in poetischer Darstellung ausmacht, nämlich ihren performativen Charakter, der die Sprache und die Lektüre miterfasst. Dies war schon im Hartknopf ein gewis-

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ses Manko, dass dort das Musikästhetische weitgehend in einen Exkurs ausgelagert wurde, dessen Bezüge zur Handlung und Form des Romans – wie oben geschehen – erst rekonstruiert werden müssen. Deshalb haben wir unsere Lektüre im Ardinghello auf die darin auch in die Handlung integrierten Stimmungsmomente konzentriert. Abschließend soll eine Handlungssequenz in den Blick genommen, in der wie bei Jean Paul deutlich wird, wie Stimmungen im Verbund mit Phänomenen der Kunst, hier Musik, Poesie und Malerei, einerseits und der Natur anderseits in Szene gesetzt werden. In der Nacht nach dem oben besprochenen Tanz soll an Lucinde eine „Verräterei“ zu ihrer Verführung begangen werden. Ardinghello wird von Fulvia im Schrank von Lucindes Schlafzimmer versteckt. Dort hört er sie dann nach dem Ball „hereinrauschen“ und „beim Auskleiden ein provenzalisch Lied“ singen, „mit einer Stimme, woraus die Töne so gefühlig und rein wie Perlen hervorkamen, die ich noch nie vernommen hatte“ (ebd. 102). Zunächst ist zu bemerken, dass die Musik hier in Form des für die Theoriebildung im 18. Jahrhundert neben der Oper zentralen Liedes eingespielt wird. Die sich dem Leser im Bewusstsein ihres vermeintlichen Alleinseins zeigende Lucinde bringt singend ihre komplizierte Gefühlslage wie beiläufig zum Ausdruck, wobei ihre Stimme und die Töne die Einzigartigkeit einer Liebe erklingen lassen, die übrigens gerade nicht dem Lauscher im Schrank gilt. Soweit ähnelt die Szene einer Mischung aus zwei Szenen im Faust, in denen Gretchen gleich nach dem heimlichen Besuch von Faust und Mephistopheles beim Ausziehen das Lied vom ‚König in Thule‘ singt und später ‚am Spinnrade‘ ihr Empfinden zwischen Bangen und Begehren ‚in so gefühligen Tönen‘ erklingt. Die Szene mit Lucinde aber wird dann nach ihrer stimm- und tonästhetischen Einstimmung durch das Liebeslied mit einem Bezug zur Malerei weitergeführt. Der wie gebannt vor der schlafenden Unschuld sitzende Ardinghello lässt seinen Blick – wieder die Parallele zu Faust, der sich in Gretchens ‚reinlichem Zimmer‘ umsieht – im Zimmer umherwandern und betrachtet ein Madonna-mit-Kind-Gemälde (Raffael) und ein Magdalena-Gemälde (Antonio Allegri). Die Beschreibung dieser Bilder samt deren Beleuchtung und den Blumenarrangements davor ersetzt gewissermaßen diejenige von Lucinde. Und doch ist es diese medienbasierte Ausweichbeschreibung, welche die Stimmung angesichts der mehr Bewunderten als Begehrten überhaupt erst erfasst. Dann folgt die nächste Stufe der Stimmungserzeugung über schriftmediale Referenzen. Ardinghello sieht auf dem Tisch „Gedichte des Petrarca; und Schreibzeug, Federn und Tinte und Papier und beschriebene Blätter“ (ebd. 104) liegen. Er schließt daraus, dass es sich bei dem provenzalischen Lied um eine kreative Nachdichtung Lucindes handelt. Diese Entdeckung, „daß sie ihre Gefühle in so schöne Form von Worten bringen konnte“, führt zu sich steigernden Wallungen von „Glut“ in seinem „Herzen“ (ebd. 104). Bemerkungen zur Lyrik Petrarcas, wodurch Lucindes Lied nun vorwiegend als poetische und nicht mehr musikalische Form fokussiert wird 15 , ersetzen wiederum direkte Bezugnahmen auf Lucinde, während die Stimmung im Raum mit der Schlafenden an ästhetischer Prägnanz gewinnt. 15 J. G. Sulzer hat in den 1770er Jahren unter dem poetischen Oberbegriff Gedicht, der Lyrik, Epik, Dramatik und Didaktik umfasste, als eine ‚Hauptgattung‘ das ‚lyrische Gedicht‘ ausgemacht. Dieses lässt sich wiederum in vier bis fünf ‚Hauptarten‘ differenzieren, worunter

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Und so geht es weiter mit einer Stickarbeit, welche die Rosen und Lilien vor den Gemälden verdoppelt und schließlich „überlief ein Schauder“ ihn, der – mit sakralen Metaphern (Tempel, Frevel) verstärkt – die Stimmung in und um den Helden als eine sinnlich ergreifende darstellt. Schließlich wandert der Blick aus „dem Fenster am Bette, und der volle Mond wich hinter die Seealpen, den Greuel nicht anzusehen; unten rauschte zürnend das Meer auf. Ich ward erschüttert, und es fehlte nicht viel, daß ich mich wieder in den Schrank verborgen hätte“. (Ebd. 104) Zuletzt mündet also die Stimmungsinszenierung durch Kunstreferenzen in der (Fenster-)Öffnung zum Raum einer Natur, die durch die rhetorische Figur der Prosopopeia vermenschlicht wird und den durchstimmten Innenraum mit einer emotionalen Rahmung umgibt. Die aufgebaute Stimmung löst sich dann während der körperlichen Annäherung auf, als die zärtliche Vorsicht doch in ungestüme Küsse und die Szene, wo sie die von Medienbezügen getragene Wahrnehmungsebene verlässt, prompt in einen Klamauk übergeht. Nicht in einem Klamauk aber in einem „echte[n] Bacchanal“ endet der 1. Band, nachdem das exkursive Gespräch mit dem Griechen Demetri über Kunst, Musik und Poesie ein „hohes edles Leben“ als „letzte[n] Endzweck“ der Kunst bestimmt hat (ebd. 177, 184). Das im Diskurs über Kunst zur ästhetischen Maxime erhobene „Leben“ kommt dann als lebendige Stimmung einer ungefähr 15-köpfigen Gruppe im geschlossenem Raum einer römischen Taverne zur Darstellung. Die zur Party nach Dienstschluss sich Versammelnden bilden eine „auserlesene Gesellschaft“ (ebd. 183) aus Künstlern, deren Freundinnen und Modelle, dazu die beiden Diskutanten. Hier sind es nun die darstellende Kunst und deren Beschreibung, welche die Stimmung als Party-Performance sowie als narrative Performanz zugleich generieren: „Sie machten sich selbst Musik und tanzten lauter Nationaltänze, wo wenig gezogener, gedehnter, französischer Schritt, sondern immer neuer Freudensprung ist. Ich ließ dabei wacker auftischen und einschenken und wurde selbst von dem Wirbel ergriffen [...]; das erhitzte Leben blieb nicht mehr in den gewohnten Schranken, und jedes tobte nach seinem Gefühl und seiner Regung.“ (Ebd. 184)

Es folgen ein „spartanischer Tanz“ und die von Handtrommel und Zither begleitete Entkleidung der „Jungfrauen“: „Sie schwebten in Kreisen, drückten einzeln ihre Empfindungen aus, und jede enthüllte in den süßesten Bewegungen ihre Reize, bis Paar und Paar wieder sich faßten und hoben und wie Sphären herumwälzten.“ (Ebd. 184) Vom Stichwort „Sphären“ aus bahnt sich die duale Stimmung der Paare über die der Partygesellschaft hinaus ins Historische und Mythologische der Dionysien. Nun ist es an den Jünglingen, sich zu entkleiden, wobei sie standesgemäß mit Efeukränzen, Weinranken und Thyrsusstäben ausgestattet werden. Die Stimmung auf dem „Götterfest“ ist von der zuvor theoretisch erörterten „Begeisterung“ getragen, die „Dichter, Tonkünstler, Tänzer“ aus ihrer „Seele“ ausschütten und „andre wieder schwänger[n]“ (ebd. 173). Die sinnlich-konkrete Beschreibung der Wirksamkeit dieneben Hymnus, Ode, Idylle und eventuell Elegie das Lied gezählt wurde. Vgl. Jorgensen u.a. 1990, S. 408f.

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ser Übertragungskraft und eigenen Stimmungsganzheit von „Begeisterung“ und „Leben“ aber folgt nun mit der von künstlerischen Darbietungen befeuerten Ekstase: „Es ging immer tiefer ins Leben, und das Fest wurde heiliger; die Augen glänzten von Freudentränen, die Lippen bebten, die Herzen wallten vor Wonne.“ (Ebd. 185) Bis zuletzt wird der emotionale Ausdruck in „himmlischen Gruppen“ gefunden und fortgesetzt, diese aber finden zueinander über die Aufführung von „allerlei Szenen [...] aus Fabel, komischen und tragischen Dichtern und Geschichte“ (ebd. 185). Heinses Denken von Leben und Kunst, von Seele und Musik sowie von Poesie und Natur wird poetologisch umgesetzt durch die Gestaltung solcher immer auch erotisierten Stimmungsszenen, die ihrerseits über Kunstbezüge dargestellt werden.

4. H EINSES F ORM

DER

D ARSTELLUNG ‚ HÖCHSTEN L EBENS ‘

Seitenblick auf Moritz’ Die neue Cecilia (1794)

Vergleichbares findet sich in dem Fragment Die neue Cecilia (1794), wo Moritz – seiner auch klassizistischen Lesart von Werther gemäß – an einer klaren Komposition als Briefroman bis zu seinem Tod arbeitete. Darin findet sich neben empfindsamen Inversionserfahrungen (Moritz 1962b, S. 52) an einer zentralen Stelle eine stimmungsästhetische Inszenierung der wiederholten Begegnung der künftig Liebenden, die sich beide als Künstler versuchen. Deren zarte Intimität und beidseitige „Verlegenheit“ wird dabei durch eine konventionelle Stimmung (Maler-inKulturlandschaft) dargestellt, die ihrerseits Gegenstand der Zeichnung Cecilias ist. Als sie – „schwärmerischer, melancholischer Zug ums Auge“ (ebd. 69) – daran arbeitet, blickt Mario ihr schließlich unbemerkt über die Schulter. In der „Mitte des Bildes“ erkennt er „eine männliche Figur“, die im Park der Villa Borghese einen Teich mit Tempel zeichnet, wie er es selbst zuvor tat, als er sie das erste Mal bemerkte, ehe sie verschwand. Die Erzählung bricht ab, bevor geklärt ist, ob Mario sich selbst in der Zeichnung wie im Leben als „dieser glückliche Sterbliche“ (ebd. 71) identifizieren wird, den Cäcilia ins Zentrum ihres Stimmungsbildes setzt. Für uns ist nur die schon bei Heinse beobachtete, intermediale Art von Spiegelung festzuhalten, mit der Stimmungen wie hier die Wechselerkennung von Liebenden indirekt, d.h. über ihre Verdopplung im Ästhetischen literarisiert werden. Überdies antizipiert Moritz letztes Werk die emphatische Überhöhung der Kunst zu einer Religion, wie es dann seit Wackenroder und Tieck zu einem romantischen Topos wird. 16 Denn die benannte Szene ist vorbereitet durch ein künstlerisch-religiöses Ritual, das „die Seele mit heiligen Schauer“ (ebd. 39) erfüllt. Es besteht im täglichen Besuch des Palazzo Borghese, „das Heiligthum der Kunst“, und des „immer grünende[n] Wald[es] von Eichen“ (ebd. 38) um ihn herum. Dort wird „mit religiöser Andacht den Werken des erhabensten Genius [...] Bewunderung“ (ebd. 38) gezollt. Zurück zu Heinse, dessen Ar-

16 Siehe zu den Herzensergießungen und Phantasien und dem Konzept von Musik als einer „universalen Form“, in der die „Natur die Sprache Gottes“ sowie als „autonomer Künstlerin“, die dann zur Kunst als einem sakralisierten Medium verallgemeinert wird Naumann 1994, S. 252-55, hier 252.

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dinghello das Genre des Künstlerromans ohne das rhetorische Pathos einer Kunstreligion mitbegründet. In seinem Fall ist über die intermediale Rahmung von Stimmungsszenen hinaus auch der Versuch einer poetologischen Gestaltung des Romans insgesamt erkennbar. Dies gilt für die Spiegelung der in den Gesprächen über bildende Kunst, Musik und Poesie dargelegten Gedanken in der Thematik und der Art und Weise der Darstellung. Die der Musik oder Poesie ‚der Natur‘ selbst abgelauschte Forderung nach lebendiger Ganzheit in der Kunst spiegelt sich in der Thematisierung von Kunst und deren idealisierter Bedeutung im Italien der Spätrenaissance sowie der Darstellung dieser vermeintlichen Zeitstimmung durch konfigurative Stimmungen, wie wir sie oben analysiert haben. Auch müssen diese nicht immer so etwas künstlerisch komplexes wie ein ‚bacchantisches Götterfest‘ zum Gegenstand haben. Dies kann schon ein „Oktober“ in Rom sein, wenn und wo mit einem Wetter wie „aus dem Paradiese, jeder Tag heiter und Fest schon an und für sich“ (ebd. 189) ist. Neben diesen ‚kleinen‘ Stimmungen durch meteorologische, jahreszeitliche und örtliche Lagebeschreibungen ist es die ‚große Stimmung‘, wie sie sich in der Gestaltung der Hauptfigur verdichtet. Als Künstler figuriert Ardinghello das Ganzheits- und Harmonieideal lebendiger „Vollkommenheit“ (ebd. 181), das sich in der Sinnlichkeit des ‚Kernmenschen‘ und der Körperlichkeit seiner Gestalt manifestiert. Mithilfe der wahrnehmungs- und kunstästhetisch differenzierten Stimmungskategorie lassen sich also Stimmungen im Ardinghello analysieren, die in erotischen Paar- und festlichen Gruppenbildungen samt äußeren Entstehungsbedingungen (Wetter, Jahres- und Tageszeit, Landschaft, Architektur, Raum- und Kunstbezüge) konfiguriert sind. Kunstästhetisch lassen sich diese situativ konfigurierten Stimmungen dann auch darauf hin beobachten, ob sie selber „bedeutende Teile und lebendige Formen“ in „vollstimmiger Einheit“ (ebd. 181) darstellen. Schließlich stellt sich die Frage nach der Zusammensetzung solcher Stimmungseinheiten zu einem poetologischen Textganzen. Mangels Stimmigkeit im formalen Aufbau, der Proportionierung von Reflexion und Beschreibung, von Briefen und Erzählung verfehlt Ardinghello den hohen Anspruch seines Autors auf eine „vollstimmige Einheit“ (ebd.) des Dargestellten. Obwohl Heinses Stil literaturgeschichtlich eher dem Sturm und Drang zugerechnet wird und die Gespräche über Kunst auf die Romantik vorausweisen, sind unter dem Stimmungsaspekt also auch werkästhetische Aspekte in Kategorien der Weimarer Klassik explizierbar. Im Ardinghello, der wie Moritz’ Hartknopf. Eine Allegorie 1785 erschien, lassen sich die integralen Perspektiven organologischer ‚Natur‘Ganzheit an den verschiedenen Künsten zusammenschauen. Da sind gleich zu Beginn die Tendenzen „zum Ganzen“ in der „Architektur“ und ihrer „Beleuchtung“, ihre „Schönheit“ in „Vollkommenheit“, „Harmonie, Ebenmaß, Übereinstimmung“, „Proportion“ (ebd. 18, 27, 29). Zugleich muss jede architektonische Schönheit „aus einem glücklichen geheimen Gefühl hervorkommen, das sich an der Harmonie der Teile des Menschen, des Großen in der Natur und überhaupt alles Lebendigen lange geweidet hat, und wieder mit einem solchen Sinn genossen werden.“ (Ebd. 28)

Dann ist das „Lebendige“ oder „Geistige“ in bildender Kunst zu nennen. Es ist im Ardinghello als ebenso naturhaft empfindsam wie kunstvoll temperiert in Gemälden dargestellt. In Malerei wie Bildhauerkunst schaut Heinse die entfesselte Sinnlichkeit

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der Natur mit klassizistischen Stimmungsqualitäten wie dem Heiteren, Reinen und Klaren zusammen. Während Goethe – so Erich Hock im Nachwort zum Ardinghello – bezüglich einer Leda im Antikensaal der Bibliothek in Venedig von einem „hohen sinnlichen Sinn“ spricht, so agiert Heinse den ‚sinnlichen Sinn‘ des PygmalionMythos, indem er ausruft: „Ach, da sitz ich so da, und verwandle mir den Marmor in Leben mit Geist und Fleisch und Blut!“. (Vgl. Nachwort ebd. 358) Solche erotische Imagination durch ästhetisches Stimmungserleben findet sich wiederholt im Ardinghello angesichts der Mediceischen und der Tizianischen Venus. (Vgl. ebd.) Schließlich sind es im Ardinghello die Sprache und ihre Kunst als Poesie selbst, die in Form des Griechischen das „vollkomm[enste] Ganze vom menschlichen Leben“ (Heinse o.J., S. 161ff.) darstelle und so noch Kultur als Ausdruckskraft der Natur auf ästhetische Vollendung bezogen wird. Ähnliches gilt bei Heinse wie schon bei Moritz und Herder für Poesie und vor allem für Musik als „reiner Klang und Ton“. Musik wird im Ardinghello vom Griechen Demetri vertreten, der sie als „erhabenste und körperloseste Seelensprache“ (vgl. Nachwort ebd. 361) versteht. Der oben an Moritz aufgezeigte Zusammenhang von Sphärenharmonie, Musik, Poesie und Stimmung wird ebenfalls bei Heinse deutlich, aber durch eine stärkere Versinnlichung entfaltet. Diese zielt auf eine Darstellung von „Leben“, das wie die „Natur“ selbst dem „Spiel von Werden und Auflösen“ folgt, „um immer in neuen Gefühlen selig fortzuschweben“ (Heinse o.J., S. 256). Diese Daseinsmöglichkeit zu „erkennen“ und zu ergreifen, darauf ist das im Titel mit den Inseln auftauchende Adjektiv „glückselig“ (ebd.) bezogen. Für den Griechen Demetri ist das Medium solcher Glückseligkeit die Musik, die Heinse zum Hauptthema in einem anderen Roman macht.17 „Die Musik überhaupt geht ganz aus der sichtbaren Welt hinaus und wirkt mit bloßen verschiednen Arten von Bewegung, die von der Materie nur den Punkt zu ihrem Aufflug nehmen, und durch ihre Proportionen Empfindungen erregen: und ich glaube schier nach dem Pythagoras, daß das eigentliche Element, worin die Geister existieren, reiner Klang und Ton ist. [...] Pythagoras hatte recht, die Welt ist eine Musik! Wo die Gewalt der Konsonanzen und Dissonanzen am verflochtensten ist, da ist ihr höchstes Leben.“ (Ebd. 175, 256)

Um die Darstellung solchen „höchsten Lebens“ (ebd. 175) im gleichsam natürlichen Zeichen von concordia discors geht es Heinse in seinem Roman. Insofern die Stimmungen darin nicht allein im psychischen Apparat der Figuren und zwischen Liebenden, sondern in der Welt als Ganzem zirkulieren („jedes Gefühl blitzt durch das ganze All“, ebd. 255), erschließt sich dessen Poetologie in der Perspektive ästhetischer Stimmungen.

17 Siehe Heinses Beitrag zur „Thematisierung des Musikalischen in der Literatur“ seit 1770 in Form des Romans Hildegard von Hohenthal und dazu Lubkoll 1995, S. 83-117, hier 83.

S TIMMUNGEN IM D RAMA UND DIE V ERSTIMMUNG IM A BSCHIED . D IE WEITERE E NTWICKLUNG BEI L UDWIG T IECK

I. Konflikte und Stimmungen. Die Tragödie, Lessing und die Dramen des Sturm und Drang

Sowohl im Werther als auch im Hartknopf gibt es eine Reihe von dunklen, beklommenen – allgemein: negativen Stimmungen, die gegenüber den hellen, enthusiastischen oder eben positiven Stimmungen eine gestalterische Kontrastfunktion, aber auch semantisch eigenständige Funktionen haben. Hinsichtlich des Anton Reiser haben wir gar von einem depressiven Kontinuum gesprochen, dem ein beständiger Wechsel von hyperbolischen Aufschwüngen der Stimmung und deren unverhältnismäßiges Absinken inhärent ist. Generell scheinen Darstellungen von erhebenden wie niederdrückenden Stimmungen in Literatur, Kunst und Musik zu berücksichtigen, dass es sich keineswegs ausschließlich um innerpsychische, sondern auch um außenräumliche Phänomene, sowie nicht in erster Linie um statische, sondern um dynamische Befindlichkeiten handelt. Mit unserem literarischen Fokus auf raumästhetische Stimmungsdarstellung (Werther) rückten zugleich zeitliche und kinetische Dimensionen mit ins Zentrum der Aufmerksamkeit, bevor diese um musik-, medien- und performanzästhetische Aspekte (Hartknopf) erweitert wurden. Dabei kamen zu den visuellen (u.a. hell/dunkel/grau; panoramatische Ausblicke, Landschaftsfigurationen u.a.) insbesondere auditive (Naturlaut, Geräusch, Ton, Klang, Stimme) Wahrnehmungsmomente und Metaphern hinzu, die auch in weiteren Texten derselben und folgenden Zeit (Musarion, Hesperus, Titan, Ardinghello, Cecilia) metaphorische Rückbindungen des Stimmungsphänomens an metaphysische Ganzheits- und Harmonievorstellungen zeigten. Wenn wir uns nach den untersuchten Prosatexten auf dissonante Stimmungen im Drama als einer weiteren Hauptgattung konzentrieren, dann werden auch diese Missoder Verstimmungen nicht für sich oder als das thematische Gegenstück zu harmonisch konsonanten Stimmungen, sondern als deren ästhetisch produktive Kehrseite beobachtet. Nicht nur, aber besonders in Tragödien kommen Verstimmungen in der kulturellen Selbstverständigung und vor allem im konfliktdramatischen Aufbau zum Tragen. Dies wäre in einem variantenreichen Spektrum herauszuarbeiten, das von der Antike (z.B. die Erinnyen in der Orestie), der passio christi im mittelalterlichen Mysterienspiel und Jesuitentheater, über die Melancholie Hamlets und Eifersucht Othel-

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los, die agierten Affekte und manipulierten Leidenschaften im barocken (Gryphius, Hallmann oder Lohenstein) und bürgerlichen (Lessing, von Brawe, Weisse, Schiller) Trauerspiel reichte; und darüber wäre die politisch, mythisch und sozial aufgeladene Dramatik des 19. Jahrhunderts, das szenische und epische Theater des 20. Jahrhunderts und schließlich das postdramatische Theater samt audiovisuellem Medieneinsatz der Gegenwart zu untersuchen. Dies aber würde nicht nur eine materiale, mediale, interkulturelle sondern auch systematische Erweiterung der Frage nach ästhetischen Stimmungen notwendig machen, die dann u.a. auch die schauspielerische, stimmliche und tänzerische Darstellung, die Ästhetiken der Theatralität und Performativität, Bühnenbildnerei und Theaterarchitektur, sowie Chor und Musik einbezieht.1 Aber auch schon in unserem schmalen Raum-Zeit-Segment, Deutschland von ca. 1770 bis 1800, sowie unter Aussparung von Aufführungspraktiken und ihrer Stimmungswirkungen (man denke an den Theaterskandal von Schillers Die Räuber) lassen sich (Ver-)Stimmungen hinsichtlich ihrer psychodramatischen und raumbildenden Aspekte in Texten selbst untersuchen. Denn nicht erst auf einer semiotisch gefluteten Bühne, in der theatralischen Bewegung und mit den Klängen von Stimmen sowie Geräuschkulissen werden Raum und Atmosphären erzeugt. Bereits im Text entstehen Stimmungsräume durch Figuren und deren Konstellationen mit Dingen, Interieurs, Landschaften und mit anderen Figuren. So entwickelt sich das Handeln jeder Figur einschließlich Denken und Fühlen, Rede und Reflexion in physisch, psychisch, interpersonal und imaginativ semantisierten Räumen, die ihrerseits – zusammen mit textuell aufgebauten Zeitstrukturen – Bedeutungen entfalten und so auf die Figuren und das Handlungsgeschehen zurückwirken. Um Stimmungen in Dramen des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und Romantik auch literaturgeschichtlich darstellen zu können, müsste man zumindest zur europäischen Empfindsamkeit, in Deutschland zum weinerlichen Lustspiel2 (Gellert, Hippel) einerseits und zum Anfang des bürgerlichen Trauerspiels (vgl. Guthke 1976) anderseits zurückgehen. Hier aber entsteht allenfalls eine empfindsame, d.h. noch vorwiegend von sozialen Faktoren bedingte Stimmung, die sich nach unserer Auffassung erst im Werther freier entfaltet und die später bei Moritz als etwas deutlich wird, von dessen Konventionalität sich eine dezidiert individuelle Stimmung erst noch befreien muss. Von Stimmung im historischen Sinne ihrer semantischen und phänomenalen Neuauffächerung kann im empfindsamen Drama noch nicht gesprochen werden. Dies zeigt sich in Lessings Miss Sara Sampson (1755) an der Gefühls- und Machtkonstellation Tochter-Vater. Die Emotionalität innerhalb der bürgerlichen (als solcher bei Lessing kaschierten) Kernfamilie war kulturgeschichtlich und sozialpsychologisch neu. Nach außen wird dieser emotionale Beziehungsraum zum emanzipatorischen Widerstandsbereich des Bürgertums gegenüber dem Adel ausgebaut. Dazu müssen 1

2

Weiter oben haben wir Streisands (2000) Arbeit zum Thema Stimmungen auf dem Theater am Beispiel Brecht aufgeführt, die die mit der Perspektive auf das Theater verbundenen Aspekte benennt. Unter englischen und französischen Einflüssen wird diese dramatische Gattungsform weit mehr als das bürgerliche Trauerspiel das Theater in Deutschland der folgenden Jahrzehnte bestimmen. Siehe hierzu Steinmetz 1978.

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die Töchter (wie dann ja auch Emilia Galotti) stellvertretend für die bürgerliche Ehre der Familie und – psychologisch gesehen – im Namen des Vaters sterben, d.h. für den Erhalt von dessen symbolischer Ordnungskraft. Nach innen kann sich dadurch innerhalb der Bürgerstube überhaupt erst eine tragödienfähige Spannung entwickeln, da nun die empfindsame Familieneinheit wechselseitiger Liebe zwar in ihrer sozialen Stabilität beglaubigt wird, sich jedoch durch das Erwachsenwerden der Kinder auch selbstbestimmt öffnen muss. Auf der einen Seite kann sich die Liebe des Vaters nicht zu einer Stimmung verselbständigen. Sie bleibt in ihrer Eigennützigkeit fremdbestimmt, insofern die kindliche Liebe für die symbolische Macht des Familienvaters als Kulturalisationsinstanz funktionalisiert ist. Auf der anderen Seite verselbständigt sich die Liebe der Tochter nicht zu einer individuellen Stimmung. Denn sie könnte sich vom Vater nur mit dessen Erlaubnis lösen und schließlich ins Begehren eines anderen Mannes transfigurieren. Aus dieser Verquickung von adoleszenter Liebesnot mit den Machtansprüchen des Vaters kommt es zu dessen Mitschuldigwerden am Tod Saras. Denn er muss deren Liebe zu Mellefont missbilligen, um mithilfe der bewahrten Tugend die Ehre der Familie und seine eigene Position in derselben zu schützen. Dieses Bedingungsstruktur bringt einen tragischen Konflikt hervor, verhindert aber ein Raumgreifen von Stimmung. Allenfalls wäre hinsichtlich der Sterbeszene zu überlegen, ob nicht das erzeugte Mitleiden bereits eine Stimmung hervorbringt, insofern sich darin die Gefühle Saras und des Vaters in wechselseitiger Wahrnehmung verbinden und so der Schmerz sich von seinem Subjekt löst und Raum wird. Dieser weitet sich noch etwas mehr, indem der Vater auch noch seine Mitschuld am Unglück seiner Tochter bekennt. Dass diese erst sterben musste, damit es zwischen Vater und Tochter zu einer versöhnlichen Stimmung kommen kann, macht die bürgerliche Tragödie in ihrer psychodramatischen Tiefenstruktur aus, schränkt aber zugleich die Stimmung in ihrer wirkungsästhetischen Bedeutung ein. Das wirkungsästhetische Prinzip („Die Tragödie soll Leidenschaften erregen“) bleibt bei Lessing – so im Brief über das Trauerspiel an Nicolai (13. November 1756) – an die moralische Didaxe („Das Trauerspiel soll [den Zuschauer] bessern“) der Aufklärungspoetik gebunden. Nicht mehr die Furcht vor einer moralischen Gefahr durch entfesselte Leidenschaften 3 sowie deren in der heroischen Tragödie idealisierte Mäßigung, sondern deren Erregung mit moralischer Besserung in Einklang bringen zu wollen, verunmöglicht in Lessings Tragödienkonzeption eine gattungspoetologische Entdeckung dramatischer Stimmungen. Mit diesen ist der moralische Anspruch aufklärerischer Literatur, den Lessing in der Maxime erfüllt sieht, dass der „mitleidigste Mensch [...] der beste Mensch“ sei, nicht vereinbar. Mit der Stimmungskategorie lässt sich aber bereits der ästhetische Anteil von Lessings Fazit erfassen: indem das Trauerspiel uns „mitleidig macht, macht [es] 3

Luserke stellt die Leidenschaften unter den Aspekten ihrer Bändigung und Disziplinierung in den Mittelpunkt seiner Arbeit über die Aufklärung und begreift den „Diskurs über die Emanzipation der Leidenschaften [als] das psychohistorische Äquivalent zur soziohistorischen Emanzipation im 18. Jahrhundert“. (1995, S. 151) In vergleichbarer Weise entwickeln sich die Stimmungen im Feld des Ästhetischen, nur dass sie dort nicht auf eine ‚Emanzipation‘ oder Disziplinierung hinauslaufen, sondern auf Sich-Entdecken im freien Spiel der Reflexion und ihrer Darstellungen.

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uns besser und tugendhafter“ (Lessing, 1972, S. 55). Die mit diesem Begriff des Mitleids erläuterte ästhetische Wirkung ist der Stimmung aber insofern verwandt, als dass das Leid nicht auf der Bühne nur betrachtet, sondern mit dem tragischen Helden geteilt wird, sich also im Theater- und schon im Textraum eine Gefühlsübertragung vollzieht. Die gefühlsästhetische Verbindung von Schmerz und Bewunderung 4 schließlich erwecke ein Mitleiden, das beim Sterben geliebter Menschen in der Stimmung „innerer Erhabenheit“ gipfelt. An Lessings kritische und auch polemische Auseinandersetzung mit der regelpoetischen Tradition schließt der Sturm und Drang an, dessen Dramenpoetik die von Gottsched noch einmal dogmatisierte aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung nicht mehr als verbindlich ansieht. Im Gegenzug zu Gottscheds Empfehlung des französischen Klassizismus als Vorbild für deutsche Dramenproduktion wird von Herder, Goethe, Lenz und vor allem von Gerstenberg (Gerstenberg 1971) Shakespeare als Genie der dramatischen Darstellung von menschlicher ‚Natur‘ gepriesen. Dabei steht nun nicht mehr eine den klassischen Tragödienheld auszeichnende Kontrolle der Leidenschaften und Affekte, ‚Sentiments‘ und Gefühle im Zentrum, sondern deren Verstärkung durch naturgemäße Dramatisierung.5 Diese zielt auf den von Goethe in seiner Rede Zum Schäkespears Tag als dramatischen Dreh- und Angelpunkt anvisierten, „geheimen Punkt, (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat) in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen“ (HA XII 226) in Konflikt gerät. Wir müssen diesen geheimen Punkt nicht zur dramatischen Grundverstimmung erklären, um auch nur die bekanntesten Sturm-und-Drang-Stücke von Gerstenberg (Ugolino), Goethe (Götz von Berlichingen), Leisewitz (Julius von Tarent), Klinger (Die Zwillinge) bis hin zu Schillers Nachzügler (Die Räuber) hinsichtlich ihrer Gefühlssteigerungen bis zum konfliktträchtigen Exzess zu verstehen. Es ist aber hier auf diese ins Unkontrollierbare driftende Affektdynamik des ‚Kraftkerls‘ hinzuweisen, allein schon weil ein verspätetes Exemplar dieses Typus mit der Figur ‚Waller‘ in Tiecks ‚Stimmungstragödie‘ Der Abschied auftritt, das unser Haupttext in diesem Kapitel ist. Die tragische Überzeichnung von Wallers Affektausdruck ins Groteske, Schauerliche und Monströse ist in Leisewitz ‚Guido‘, Klingers ‚Guelfo‘ und Schillers ‚Karl‘ und ‚Franz Moor‘ vorgebildet. Dies gilt gleichermaßen für die Problematisierung der völligen Enthemmung der Affekte, insofern dies sogar in affirmativer Verbindung mit der Selbstbehauptung von Individualität (Götz, Julius und Guido, Franz Moor) zu Tod und Verderben in den Familien führt. Wie schon in Lessings ‚bürgerlichen‘ Trauerspiel-Familien (Sampson und Galotti) die Liebe und mit ihr der dramatische Konflikt, so sind in den Dramen des Sturm und Drang außerdem negative Gefühle (Neid, Missgunst, Eifersucht, Hass u.a.) und der Affektrausch noch in seiner Entfesselungslust an die Familienbande und soziale Normen zurückbezogen. Insofern aber diese ex negativo fortbestehende Einfassung der Gefühle durch deren rücksichtslose Steigerung aufgesprengt wird, öffnet sich der dramatische Raum zur Leere eines pathologischen Selbstbezugs. Deshalb kann von 4 5

Zu dieser weit über Lessing hinaus wirkenden dramatischen Kategorie siehe Meier 1993b. Siehe hierzu in einem weiteren poetologischen und historischen Zusammenhang Kauffmann 2008.

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Stimmungen im poetologischen Sinne einer Verselbständigung von Gefühlen und Atmosphären in den Zwischenräumen der dramatischen Konfigurationen kaum gesprochen werden. Dies wäre schon eher mit Rückblick auf Klopstock als den Vorläufer der Dramatiker des Sturm und Drang möglich, dessen Dramen samt lyrischer Einlagen Kaiser zufolge auf die „Modulation, Steigerung und Kontrastierung von Stimmungen“ angelegt sind. (Kaiser 2007, S. 221) Letzteres ist – wie schon im bürgerlichen Trauerspiel – durch die Knüpfung des konfliktdramatischen Knotens über die Familienbande verhindert. Im Sturm und Drang sind es nicht mehr die Töchter, sondern die Söhne, die mit dem Vater sowie untereinander in tragische Konstellationen treten. Während das Motiv des Bruderzwists oder Brudermordes (Leisewitz, Klinger, Schiller) noch einmal die Familie zum Ausgangspunkt einer steilen Affektdramatik macht, erweitern Wagner (Die Kindermörderin, 1776) und Lenz das dramatische Konfliktfeld auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und spitzen damit die sozialkritische Dimension des bürgerlichen Trauerspiels weiter zu. Entsprechend wird der Held Läuffer, der nach traditionellen Maßstäben, mit denen Lenz in seinen Anmerkungen über’s Theater (1774) radikal bricht, keineswegs tragödienfähig ist, auch nicht von Schicksalsmächten oder durch eine überzogene Selbstbehauptung zugrunde gerichtet. Vielmehr sorgen dafür die allgemeine Misere des Erziehungs- und Universitätswesens, die sozialen Machtbeziehungen und die dadurch bedingte Disposition des Hofmeisters zu einer besonders autodestruktiven Art unglücklichen Selbstbewusstseins. Läuffers berufliche Frustration, sexuelle Antriebslosigkeit, Selbstkastration und unmotivierte Märchenhochzeit mit dem Dorfmädchen karikieren nicht nur ein kraftmeierisches Selbsthelfertum, sondern hinterlassen auch eine tragikomische Verstimmung im vervielfältigten Raum der sozialen und psychologischen Beziehungen. Um den unvollständigen Bogen über das Jahrzehnt der Dramen des Sturm und Drang vorläufig zu schließen, soll noch einmal Moritz’ Blunt oder der Gast von 1780 Erwähnung finden. Anders als die etablierte Forschung hat Luserke (1997) zuletzt dieses Drama dem Sturm und Drang als dessen „Abgesang“ zugeordnet, demgegenüber Schillers Die Räuber allenfalls ein Nachzügler sei. (Luserke 2010, S. 316) Mit Bezug auf die zwei binnen eines Jahres veröffentlichen Schlussvarianten – in der ersten Fassung ermordet der Vater den Sohn, in der zweiten erwacht letzterer aus einem bösen Traum zum Happy End – sieht Luserke ein Unterlaufen der „Mischgattung wie die der Tragikomödie“ (ebd.) am Werk, wie sie gerade auch von Lenz praktiziert wurde. Moritz’ Drama hingegen – so Luserke – sei „nicht Tragödie und Komödie zugleich, sondern innerhalb des Stücks wird von einer Gattung in die andere gewechselt“ (ebd.). Das schon bei Lenz und hier bei Moritz in eine Schwebe versetzte Verhältnis von Tragödie und Komödie wird dann bei Tieck (Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens), Arnim (Halle und Jerusalem) und Kleist (Amphitryon) zu einem gattungspoetischen Hybridkonzept weitergeführt (vgl. Kremer 2007, S. 210-28). Hinsichtlich Moritz’ Drama werden von Luserke neben den biographischen („dunkle Erinnerung“) inhaltliche Bezüge und äußere Merkmalsähnlichkeiten zu George Lillos The London Merchant (1731) hergestellt, wo erstmals ein Bürgerlicher zum tragischen Held avanciert. Die Namensgleichheit (Blunt) sei indes aufschlussreicher mit Blick auf Klingers Otto, womit der Anschluss an den Sturm und Drang belegt sei. Poetologisch ist dies erkennbar an der „Technik der Variation einzelner Szenen und der Durchbrechung einer formal geschlossenen Handlungsstringenz“, die sich

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bei Moritz in der „Wiederholung bereits gespielter bzw. gelesener Szenen“ (ebd. 321) fortsetze. Außerdem seien „in der häufigen Verwendung von Elisionen, Parenthesen und Anakoluthen formale und stilistische Übernahmen aus der Sturm-undDrang-Literatur“ (ebd.) zu sehen. Für unseren Zusammenhang ist daran interessant, dass die Wiederholung von Szenen die Aufmerksamkeit von der Handlung selbst auf die Situationen lenkt, in denen sich die Handlungsträger befinden. Vor allem in Fokussierungen auf eine in situativen Momenten stillgestellte Handlung nämlich können sich Stimmungen räumlich ausbreiten und das dramatische Geschehen einfärben. Weil solche atmosphärischen Wirkungen in der Gattung Drama aufgrund ihrer Handlungsdominanz schwierig zu gestalten sind, werden sie oft durch Regieanweisungen für die Bühnengestaltung angedeutet, wie es etwa auch vor Fausts Anfangsmonolog In einem hochgewöbten, engen gotischen Zimmer der Fall ist. Bei Moritz beginnt Blunt oder der Gast durch die angewiesene Szenenbeleuchtung in einem dunklen Stimmungsraum. Dieser stellt sich dar als eine – mit Luserkes Worten – „psychische und moralische Dunkelzone: ‚Mitternacht‘, ‚düstre Lampe‘, die Personen in Decken ‚gehüllt‘“ (ebd. 318).

II. Tragische Verstimmungen. Analyse von Ludwig Tiecks Tragödie Der Abschied

Beim jungen Tieck, der Moritz’ Vorlesungen in Berlin hörte (vgl. Boulby 1979, S. 207-23; Schrimpf 1980), wollen wir nun die Bedeutung von Stimmungen für den Aufbau und die Dramatisierung von Dialogsituationen näher beleuchten. Hierzu wählen wir einen wenig gelesenen, auch in Überblicken kaum erwähnten Text seiner frühesten Schaffenszeit, rekonstruieren die Handlungsstruktur des Dramas und analysieren die Funktion von Stimmungen darin.1 Zunächst mit Blick auf einzelne Situationen und ihre Bedeutung für die Handlungsentwicklung, sodann auf die poetologische Bedeutung von Stimmung für das Drama insgesamt, ist die Auswahl des Textes bestimmt: Tiecks Der Abschied von 1792 (Erstdruck 1798). Damit kann über den bislang betrachteten Zeitraum mit seinen Schwerpunkten auf den Romanen Werther (1774) und Hartknopf (1785/1790) eine weitere Entwicklung von ihrem Ansatz bei Tieck her perspektiviert werden, bevor es in der Romantik zur Hoch-Zeit von Stimmungen in Literatur, Malerei und Musik kommt. Literaturgeschichtlich verfolgen wir weiter die These, dass die Stimmungskategorie es ermöglicht, nicht nur die Grenzen von Epochen stellenweise zu überbrücken, sondern auch deren Überlappungen punktuell zu erkennen. Wie schon im Werther und Hartknopf so finden sich auch im Abschied Szenen im Stile der Empfindsamkeit, sind aber weder in eine Welthaltigkeit des Gefühls transformiert (Goethe), noch von Satire und Parodie kritisch flankiert (Moritz). Zugleich verbinden etwa mitteilsame bis enthusiastische wie auch verdrießliche bis schwermütige Stimmungen trotz und durch ihre konzeptuellen Veränderungen hindurch die Aufklärungsperioden Empfindsamkeit und Sturm und Drang mit der europäischen Romantik. Im Abschied ist von Beginn an die Stimmung das Medium des Aufeinanderbezogenseins von drei Figuren. Erst ist eine junge Frau in ihrer Ehe auf einen ehemals Geliebten mittels eines Bildes bezogen, wobei wie schon bei Moritz, Heinse und Jean Paul das Ästhetische zugleich Medium erotischer Imagination ist. Der Ehemann betrachtet seine auf dem Klavier spielende Gattin wie ein das bürgerliche Interieur bereicherndes Element, das gleichsam die Natur im kulturellen Raum des gemeinsam bewohnten Hauses materialisiert. So figuriert sie für den Ehemann gewissermaßen 1

Hierzu übernehme ich die Argumentation und Ausführungen von Hajduk 2011b.

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das Saiteninstrument, auf dem er die Töne anschlägt, die ihn erst zu vergänglichkeitsmelancholischen und elegischen, dann dissonanten und schließlich aggressiven (Ver-)Stimmungen bewegen. Der den Einbruch des Realen figurierende Dritte ist auf die Frau in einer vergleichbaren Weise als Instrument seiner Stimmungen bezogen, nur dass er auf ihr andere Töne anstimmt, die unter dem Vorzeichen des Abschieds nach Wehmut, Verletzlichkeit und Entsagung klingen. Die Frau ihrerseits ist in der verdeckten Dreiecksbeziehung nicht nur passiv, sondern spielt ihrerseits mit den beiden Männern zwei unterschiedliche Tonlagen durch, indem sie das Begehren des Empfindsamen ebenso anzustimmen weiß wie das des Gewaltsamen. Dieser atmosphärisch durchstrukturierte Zweiakter wurde, freilich ohne die in unserer Vorabskizze angespielten Medien- und Genderaspekte, bereits 1870 von Rudolf Haym als eine „Stimmungstragödie“ bezeichnet, womit eine positive Bewertung insgesamt intendiert war. (Haym 1977, S. 40; zit. n. Tieck 1991, S. 965) Leitend für die folgende Analyse ist die Beobachtung, dass die historisch gerade erst mit dem Interesse der Aufklärung für den ‚ganzen Menschen‘, die Aufwertung von Empfindungen, Gefühl und Sinnlichkeit insgesamt entwickelte Subjektivität hier um eine atmosphärische Dimension von intersubjektiver, medialer und räumlicher Stimmung erweitert und dadurch zugleich relativiert erscheint. Nach unseren Beobachtungen an Erzähltexten sehen wir nun auch am Drama, wie es im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zur Darstellung jener diffusen Totalität von intrinsisch verfugten Wahrnehmungsmomenten kommt, welche später unter dem Namen der Stimmung ihren prekären Status auf der Grenze zwischen Objekt und Subjekt erreichen wird. Solche Phänomenologie der Stimmung beginnt – wie wir gesehen haben – mit Goethes Werther deutlich zu werden, wörtlich wird Stimmung im Prolog zum Faust angekündigt und häuft sich in den Lehrjahren, während Novalis das „Wort Stimmung“ bereits in theoretischer Absicht „auf musicalische Seelenverhältnisse“ und deren „Harmonische – und Disharm[onische] Schwingungen“2 bezieht. In etwa zeitgleich mit dem Auftauchen des bei Kant noch objektiv ausgerichteten Begriffes der Stimmung innerhalb der philosophischen Ästhetik beginnt der junge Tieck auf der Klaviatur der Stimmungen in einer Weise zu spielen, welche die erst später auch am Begriff der Stimmung mitvollzogene diskursive Bedeutungsanreicherung auch in der Perspektive einer affektiven Subjektzentrierung antizipiert. 3 Hierbei geht es aber nicht um ein literarisches in Parallele zum philosophischen Hervortreten der Subjektivität als selbstreflexiver Konstitutionsgrund. Hingegen zeigt Tiecks frühe Stimmungsdramatik die Übergängigkeit zwischen idyllischer Intimität und emotionalen Abgründen, in die eine überlastete Subjektivität sich selbst entgleitet, wenn Ich und Du einander und beide sich selbst nicht vertrauen. 4 Das Besondere des Stückes

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Novalis 2005, S. 715. Siehe zu Novalis in der gegenwärtigen Stimmungsdebatte Jacobs 2006 und 2013, S. 127-64. Siehe zur theoretischen Diskursivierung von Stimmung im Verhältnis zu ihrem Aufstieg als ästhetischer Kategorie Welsh 2003, 2006; dazu von Arburg 2006. An Tiecks Trauerspiel Leben und Tod der heiligen Genoveva aus dem Jahr 1800 macht die in den 1950er Jahren im Umkreis Emil Staigers gängige Kategorie der Stimmung geltend Rübsam 1954. Sie spricht der Stimmung eine über Tiecks Werk hinausgehende, epochale

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Der Abschied besteht darin, dass es die in ihm dargestellte Stimmung aus eben jenen Phänomenbereichen sich entwickeln lässt, welche auch begriffsgeschichtlich der Stimmung zu ihrer metaphorischen Karriere verholfen haben: die Musik 5 und die Landschaft6, letztere zumal im jahres- und tageszeitlichen Wandel.7

1. D AS

VERSTIMMTE K LAVIER UND DIE L OGIK DER EHELICHEN K ONFLIKTVERMEIDUNG

Am Beginn dieses Zweiakters, der die klassische Einheit von Ort, Zeit und Handlung spielerisch einhält, steht ein verstimmtes Klavier als musikalisch-objektives Korrelat einer (inter-)subjektiven Stimmung. 8 Zusammen mit dem von Louise in der Eingangsszene verlegten Strickzeug gehört dieses Klavier nicht mehr länger zum „niedlich[en]“ Inventar der bürgerlichen Wohnstube, sondern es steht in diesem „klein[en]“ Zimmer des zunächst biederen Hausherrn Waller schon bald für die Verwerfung einer rokokohaften Affekttradition ein.9 Die mit disziplinierten Zierlichkeiten ausgestattete Bürgeridylle „in einer kleinen Landstadt“ verwandelt sich unter dem Vorzeichen eines verstimmten Musikinstruments binnen weniger Stunden zur dramatischen „Szene“ (TA 218) eines mehrfach figurierten „Abschieds“: dem von der Illu-

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Bedeutung zu: „Man kommt wohl dem Wesen romantischen Denkens und Empfindens durch nichts so nahe wie durch das Medium der Stimmung.“ (S. 3) So ist die aufkommende Poetik der Stimmung in Parallele zur poetologischen Neuentdeckung der Musik zu sehen. Zu letzterer und der musikalisch-literarischen Intermedialität seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland siehe Naumann 1990, 1994; Lubkoll 1995; Wolf 1999; zuletzt Gess 2006. Als zentrale Beschreibungskategorie dient ästhetische Stimmung mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass sie eigens weder reflektiert wird, noch in den Überschriften auftaucht in der Studie von Donat 1925. Siehe zur ästhetischen Natur im 18. Jahrhundert den Systematisierungsversuch von Christian Hirschfeld 1973: „Die Natur hat eine Menge von zufälligen Erscheinungen, womit sie in verschiedenen Jahreszeiten und in verschiedenen Tageszeiten ihre Landschaften verschönert“ (S. 207). Einführend zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Landschaftsästhetik siehe Ritter 1974, S. 141-163. Als einer der wenigen Interpreten lenkt Scherer (2003) sein Augenmerk ebenfalls auf die theatralischen Requisiten des von ihm vor allem „als Drama der Selbstverstrickung des Subjekts in die ‚unbekannte Gottheit‘ seiner psychopathologischen Innerlichkeit“ (S. 250) gelesenen Stückes. Nicht der Aspekt der Stimmung, sondern das Thema der Eifersucht ist für diese Lesart im Vordergrund des Stücks: „Denn es plausibilisiert rein innerdramatisch [...] die Psychomechanik in der Fetischisierung von Gegenständen der äußeren Welt, die aus der hypertrophen Projektion von Eifersuchts- und Konfliktlagen resultiert. Von Tieck bereits geradezu prä-freudianisch erfasst, werden die von sexuellen Subtexten symbolisch überformten Leitgegenstände – das Klavier, das Bild des Geliebten und der Apfel – selbst zu den eifersuchtsauslösenden Agenten der katastrophischen Handlung“. (S. 248) Zitate aus Tiecks Der Abschied werden im laufenden Text in Klammern mit Sigle und Seitenzahl nachgewiesen (TA Seitenzahl); und zwar nach der Ausgabe Tieck 1991, Bd. I.

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sion vernunftgesteuerter Affektkontrolle (Waller); dem von der (Über-) Lebensmöglichkeit eines heimlich kalkulierten Eheglücks (Louise); und dem Abschied vom noch fortwirkenden Geist der Empfindsamkeit, insofern mit ihm der Glauben an eine sinnstiftende und wirklichkeitserzeugende Mitteilungskraft des schwärmerischen Gefühlsausrucks verbunden war (Ramstein). Louise versucht die drohende Auflösung ihrer beiläufig erscheinenden Amnesie zu überspielen, indem sie „auf dem Klavier unwillkürlich einige Töne [greift]“, deren Dissonanz ihr jedoch die tiefere Bedeutung der scheinbar zufälligen Aussage „Nein, den wollt’ ich nicht“ im Stile einer Fehlleistung zuspielt. (TA 219) Die anfangs mit der erinnernden Betrachtung des „Bildnis[ses] eines jungen Mannes“ aufkommende Verstimmung wird projektiv dem Klavier angelastet, an welchem sie in entäußerlichter Form einmal mehr vom Ehemann behoben werden soll: „Das Klavier ist auch verstimmt; mein Karl wird sich schon die Mühe wieder geben müssen. – –“ (Ebd., Hvh. St.H.) Der doppelte – schon von Moritz her bekannte – Gedankenstrich indiziert hier auf der Ebene der Satzzeichen zum einen die auf der Ebene des Unbewussten extrovertierte Verschiebung der emotionalen zur instrumentalen Verstimmung; zum anderen die dem Ehemann auferlegte Bürde, in Surrogatfunktion ihrer unerfüllten Jugendliebe der Sysiphosarbeit nachzugehen, den „melancholisch“ (TA 220) gehegten Verlust Ferdinands zu kompensieren.10 Die Labilität dieser durch Geheimhaltung, Lügen und Stimmungsmanagement gesicherten Beziehungskonstruktion wird bereits im Eingangsmonolog deutlich, wenn Louise schrittweise dem inneren Druck nachgibt und sich vorübergehend ihr Liebesleid zwischen Schuldgefühlen und Glücksanspruch eingesteht. An dieser Stelle besagt eine der zahlreichen, naturalistisch avant la lettre eingefügten Bühnenanweisungen Tiecks, die den ersten Auftritt beschließt: „Sie hört den eintretenden Waller, läßt rasch den Blick fallen, und fängt ein rauschendes Allegro an.“ (Ebd.) Auch der Zweite Auftritt beginnt mit einer Entlastungsprojektion von Louises Innerem in das des Klaviers, wenn sie Wallers Fragen nach dem ihre Stimmung übertönenden „Eifer“ pariert, indem sie „zu spielen aufhört: Das Klavier ist schon wieder verstimmt, Lieber. / Waller: Nichts weiter? Ist keine Saite gesprungen? – Denn du warst wirklich in Begeisterung. / Louise: Nicht doch – – / Waller: Du hast dich aus dem Garten weggestohlen. / Louise: Ich hatte mir nur meine Arbeit geholt, ich wollte eben zurückkommen.“ (Ebd.)

10 Die in der Tieckforschung vorliegenden Ansätze zu einer psychoanalytisch an der Autorbiographie orientierten Deutung werden hier und im Folgenden nicht eigens diskutiert. Rank etwa geht in seiner Deutung Tieckscher Texte (Die Versöhnung, Peter Lebrecht, Eckbert, Lovell) von der inzestuösen Bindung Ludwigs an seine Schwester Sophie aus: „So wie die Schwester, infolge ihrer Zuneigung zum Bruder, in ihrer Ehe unglücklich sein mußte, so wird Tieck wohl schon frühzeitig im geheimen den Wunsch gehegt haben, seine Schwester möge – wenn sie schon heiraten müsse – einen ungeliebten Mann nehmen, damit ihre Liebe ihm erhalten bliebe. Diesen Wunsch stellt er im Abschied realisiert dar; dazu stimmt dann das Verhalten der an den ungeliebten Mann verheirateten Luise, die das Bild des als Bruder ausgegebenen Geliebten als Ersatz für die wirkliche Liebe nimmt.“ (Rank 1926; zit. n. Tieck 1991, Kommentar S. 964-65)

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An diesem „schöne[n] Herbstabend“ muss Waller sich nicht um eine gesprungene Saite kümmern; wohl aber um eine „liebe, mitleidige Seele“ (ebd.). Er besitzt zwar das Wissen, das zum Klavierstimmen benötigt wird; nicht jedoch das richtige Gespür für seine Frau, um deren verschleierten Stimmungswechsel von „melancholisch[er] Schwermut“ zu „rauschende[m] Allegro“ (TA 219) hinsichtlich seiner Motive zu durchschauen.11 Anfangs noch wackerer Ehegatte des 18. Jahrhunderts, ist seine eheliche Aufmerksamkeit vor allem von Sorge um Louises oberflächliche Befindlichkeit getragen. Zwar bemerkt er die „Melancholie“, von der Louise in heimlicher Betrachtung des Gemäldes über dem Klavier einmal mehr erfasst worden war. Statt jedoch nach den tieferen Ursachen ihrer wiederkehrenden Verstimmung angesichts des (vermeintlichen) Portraits des „verstorbenen Bruders“ zu forschen, möchte Waller es aus ihrer beider Blickfeld in eines der „Nebenzimmer“ verdrängt wissen. In diesem wird schon in der folgenden Nacht der leibhaftigen Wiederkehr des Verdrängten mit physischer Gewalt begegnet werden. Als Louise sich gegen die Entfernung des Portraits ausspricht, weil „eine gewisse Wehmut“ bei seiner Betrachtung ihr noch die „Melancholie“ „sehr angenehm“ macht und sie sich zu Lügen („meine Kinderjahre“) und sentimentalischer „Rührung“ hinreißen lässt, bekundet er sein „Mißfallen“; wenn schon nicht an ihrem Verhalten, so doch an den Gesichtszügen des von ihr bis heute betrauerten Bruders. (TA 221) Nach zaghaft misstrauischem Nachfragen ist Waller um Konfliktvermeidung bemüht. Der sichtbar gewordene Ansatz zu möglicher Konfrontation wird durch Floskeln überdeckt, welche die unterschwelligen Spannungen nur noch vergrößern. Gegenseitig versichern sich die Eheleute sie in empfindsamer Terminologie gegenseitig ihres ungetrübten Glücklichseins. Ihr Harmoniebedürfnis wird ins Groteske gesteigert und als ein zwanghaftes ausgewiesen, indem es rhetorisch verschmolzen wird mit der Stimmung, die von der Landschaft der sie umgebenden Weinberge aufgerufen wird. Der Lieblichkeitstopos südlicher, hier süddeutscher Regionen wird ebenso als metaphorische Ressource genutzt wie der des Gartens als kultivierte Natur12, wenn es darum geht, das bürgerlich verengte Eheleben zum Ideal einer paradiesischen Stimmung zu erheben. Die sozialpsychologischen Defizite der „ländlichen Einsamkeit“ werden durch die imaginäre Verinnerlichung „goldener Tage“ zur hochzeitlichen Stimmung einer das autarke Paar bergenden Zweisamkeit umstilisiert. So kann das konfliktträchtige „Ehe“-Dual als symbiotische Einheit imaginiert werden, in welcher „nichts zu wünschen übrig[bleibt]“ (ebd.). Das Problem beziehungsinterner Sprachlosigkeit äußert sich bei Waller in der Sorge, Louise könne „die große Welt vermissen“ (ebd.). Ihr zwecks Zerstreuung dieser Bedenken bekundeter, aber aus verschwiegenem Liebeskummer geborener „Lieblingswunsch, auf dem Lande, nur der schönen Natur und dir zu leben“, bezieht den 11 Im Anschluss an grundlegende Studien zur Melancholie (Klibansky/Panofsky/Saxl; Lepenies; Schings, Mattenklott) und innerhalb der Tieckforschung insbesondere an Hellge 1974, wird die prominente Stimmung der Melancholie im Frühwerk Tiecks ausführlich behandelt von Oswald 1992. 12 Der Garten war im 18. Jahrhundert ein bevorzugter Gegenstand des geschmacksästhetischen Diskurses, dessen Entwicklung sich beispielhaft nachvollziehen lässt in Hirschfeld 1973.

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provinziellen Charme intakter Intimität aus der Diffamierung der Stadt als „kleine große Welt, wo man sich ewig in einem Zirkel von Langeweile, Affektation und schalen Komplimenten herumdreht“ (ebd.). Die seit dem 18. Jahrhundert mit dem Entstehen einer bürgerlichen Öffentlichkeit sowie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ihrerseits zum Klischee gewordene Idealisierung des Lebens auf dem Lande ist hier organisiert über entgegengesetzte Befindlichkeiten: der faden Konversationsstimmung in städtischer Geselligkeit einerseits, der „glücklichen“ Echtheitsstimmung in „ländlicher Einsamkeit“ (ebd.) andererseits. Auf diesem Allgemeinplatz soll künftig ihr „ganzes Leben so reizend“ (ebd.) in „einsamer Häuslichkeit“ zu einem rundum „glücklichen“ Dasein emporwachsen, das „die Freuden der großen Stadt“ einst „ohne Reue“ unter sich zurückgelassen haben wird. (TA 223) Die Brüchigkeit des klischeehaften Fundaments dieses Lebensentwurfes wird indes nur umso absehbarer, je euphorischer im Fortgang des Gesprächs ihr gemeinsames Glück aus der Perspektive eines antizipierten Sich-Erinnerns konstruiert wird. Wallers gefühlvolles Sprechen über seine „so süß[en]“ (TA 221) Tagträume nähert sich zusehends der Grenze zur Persiflage, wenn sein empfindsamer Duktus durch eine Aneinanderreihung idyllischer Motive sich rhetorisch so weit steigert, dass er ins Satirische abzuheben droht. Denn im Anschluss an Louises Erklärung, sie sei mit ihrer gegenwärtigen Lage am Ziel ihrer Wünsche angekommen, lässt Waller sie zur Wiederherstellung harmonischer Stimmung an seinen Wunschvorstellungen teilhaben: „Den ganzen Tag über schon“ habe er sich das Glück ausgemalt, wie sie „hier nun den einen Tag so wie den andern, in einer schönen, ununterbrochenen Einförmigkeit“ mit sich vertraut und mit der sie bergenden „schönen Gegenden“ schließlich verschmelzen würden. (TA 222) Bevor die mit der Monotonie eines biederen Lebensrhythmus konnotierte Stimmung der Langeweile auch nur assoziiert werden kann, wird die „einsame Häuslichkeit“ um ihren „Garten“ und eine Traumlandschaft erweitert. Die dadurch evozierte Stimmung der Selbsterweiterung wird auf diese Weise mit der Enge des bürgerlichen Daseinsgefühls korreliert, während sie diese in ironischer Lesart schon konterkariert. Zugleich beflügelt sie Wallers Phantasie, ihr gemeinsames Glück entlang der Generationenkette („Kinder“, „Enkel“) über die individuelle Lebenspanne hinaus garantiert zu sehen: „Und leben in unsern Nachkommen weiter“ (TA 223). Die bis in physische Einzelheiten („mit Falten in der Stirn, vor Alter zitternd“) ausphantasierte Wunscherfüllung bestünde schließlich darin, mit dem für sie beide harmonischen Abschluss ihres Lebens noch einmal die Stationen des bürgerlichen Glücks Revue passieren zu lassen: „wir erzählen uns die Geschichte unseres Glücks, und durchleben in der Erinnerung noch einmal den freudenreichen Kreis.“ (TA 222) Von dieser finalen Erzählung „beim Sonnenuntergang“ werden sogleich einige Kostproben gegeben, wobei jeder Intimitätserfahrung landschaftliche oder gegenständliche Stimmungskomponenten zugeordnet sind: die „Linde hinter deinem Haus“ der Liebe auf den ersten Blick, eine „Hyazinthe“ dem „süßen Lächeln“, das „Klavier“ einem hinausgezögerten „Abschied“, eine „dämmernde Laube“ der erotischen Annäherung, „vertraulicher Schein des Abends“ dem ersten Kuss, ein bestimmter „Abend“ dem „Still“-sein, der „Morgen“ danach ihrem „Freundlich“-sein und alles zusammen dem „Glücklich[-]sein“ (ebd.). Durch diese kontinuierliche Verknüpfung emotionaler Erlebnisse mit situativen Umgebungsqualitäten werden die imaginierten Szenarien in eine Stimmung eingelassen, die ebenso innerlich wie äußerlich hervorgebracht ist.

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Dadurch erscheint das rein Subjektive des Erlebens zunächst wahrnehmungsästhetisch objektiviert; sodann bewirkt das Schematische der klischeehaften Verquickungen jedoch auch eine latente Fragwürdigkeit, als wenn die Authentizität der Liebesmomente ohne Ergänzung durch erinnerte Umstände nicht gesichert wäre. Die Gefahr der Trivialisierung, dass nämlich die Verwendung von stimmungsmäßigen Versatzstücken, die heute als romantische Klischees eher Widerwillen beim Leser erzeugen, mag Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht so empfunden worden sein. Wohl aber muss – auch damals schon – die forcierte Dramaturgie der Stimmungen bewirkt haben, dass Wallers Tagtraumfassade durchschaubar wird hinsichtlich seines motivationalen Hintergrundes; und dies in zumindest zweifacher Hinsicht. Zum Einen deutet der Zeitpunkt, an dem Wallers Beschwörung des Eheglückes anhebt, darauf hin, dass er damit einen drohenden Streit um jeden Preis vermeiden will – auch um den Preis der Diskreditierung der Wahrhaftigkeit dieses Glücklichseins. Denn gerade als Waller offenbar erstmals Louises von ihm als „Schwermut“ aufgefasste „Wehmut“ in Betrachtung des Bildes skeptisch kommentiert und dadurch mehr bei sich als bei ihr für Irritation sorgt, greift er ihr Beschwichtigungsangebot allzu bereitwillig auf, um seinen ohnehin als „bloße Grille“ abgetanen Verdacht gegen seine Frau und ihren verstorbenen Bruder zu verleugnen. Je stärker der Wunsch nach ungetrübter Harmonie – so scheint es –, desto höher die Bereitschaft, eine solche notfalls auch qua bloßer Suggestion zu stabilisieren. Hierzu dient die rhetorische Erzeugung harmonischer Stimmung mithilfe metaphorischer Anleihen bei der tradierten Semantik stimmungshafter Glücksmomente. In dem Maße wie eine glückliche Stimmung nicht hinreichend aus den konkreten Umständen der erinnerten Situation vergegenwärtigt werden kann, erhöht sich in Wallers Rede der Anteil an konventionellen Stimmungssignalen aus dem tages- und jahreszeitlichen sowie landschaftlichen Herkunftsbereich. Dieser Logik der Konfliktvermeidung, insofern sie als narzisstischer Selbstschutz zu verstehen ist, folgt das Überspringen von der einen, in ihrer Untergründigkeit bedrohlicheren Ursache für Missstimmung (Bild) zu einer anderen, in ihrer allgemeinen Bekanntheit leichter zu handhabenden Ursache (Landleben). Diese unter dem gemeinsamen Nenner möglicher Konfliktherde wie beiläufig vorgenommene Ersetzung der eigentlichen Ursache beidseitiger Verstimmung (Bild) durch eine solche für persönliche Unzufriedenheit ihrerseits, die überdies äußerlich ist und zuvor bereits hinlänglich ausgeräumt worden zu sein scheint, ebnet zudem den Übergang zum zweiten Motivationsgrund für die Tagtraumrede des „Schwärmers“. Zum Anderen war von Louise durchaus nicht zu erwarten, dass sie auf einmal ein Leben auf dem Land problematisch finden würde; sehr wohl aber, dass sie mit diesem konnotierte negative Stimmungen („ununterbrochene Einförmigkeit“, „ländliche Einsamkeit“) auf ihr hinter sich gelassenes Stadtleben zurückprojizieren würde („Langeweile“), wohin sie als solche verbannt bleiben sollen. So bietet sich Waller aus wieder hergestellter Übereinstimmung in einem – wenn auch nur scheinbar – strittigen Punkt die Gelegenheit, in die Lobpreisung des Landlebens („Lieblingswunsch“) einzustimmen und in sie zugleich ihr Eheleben „glücklich“ einzubeziehen. (TA 221) Entsprechend mit einander verbunden werden Ehe- und Landleben nicht nur schöngeredet, sondern wechselseitig mit Attributen idyllischer Schönheit versorgt:

444 | POETOLOGIE DER STIMMUNG „Wir wollen sie [die Freuden der großen Stadt] gern vermissen; hier in einer einsamen Häuslichkeit, leben wir mit unserm kleinen Vermögen froh und glücklich, pflanzen unsern kleinen Garten, und genießen jede Stunde; in deinen Armen erhole ich mich von meinen mühevollern Arbeiten, – so schwimmen wir den schönen, hellen Strom des Lebens hinab, bis unser Kahn nach und nach auseinanderzufallen droht, und dann Louise, das hoff’ ich zu Gott, landen wir an einer schönen Insel.“ (TA 223)

2. ANTIZIPATION DES L EBENSGANZEN UND DIE L ANDSCHAFTSIDYLLE ALS ERINNERTE S TIMMUNG Wallers sentimentale Phantasie eines erfüllten Lebens in harmonischer Zweisamkeit bezieht ihre semantische Strukturierung aus einer Jahrhunderte alten Bildtradition („Garten“, „Strom des Lebens“, „Kahn“, „Insel“). Eine solche das gesamte Leben überblickende Vision erfordert einen extrabiographischen Standpunkt, wie er durch das imaginative Voraus-„schwimmen“ des Lebens-„Stromes“ eingenommen wird. Die mit dem Lebensende assoziierte, düstere Stimmung wird indes aufgehoben durch die Natursymbolik vom „schönen, hellen Strom des Lebens“. (TA 223) Dieser ist als solcher nur von einem imaginär erhöhten Aussichtspunkt zu betrachten und zugleich ein Schauplatz erhabener Stimmung(en), wie er aus der inszenatorischen Topographie der Landschaftsmalerei bekannt ist, deren damaliges Entstehen Tieck vor allem an Caspar David Friedrich bewundert hat. An Tiecks weiterem Werk kann beobachtet werden, was Begemann im ausgehenden 18. Jahrhundert als einen psychohistorischen Umbruch erkennt, der sich von der Stimmung der Erhabenheit, in der Subjektivität sich rekonstituiert, zu der Stimmung der Sehnsucht vollzieht, in der Subjektivität sich in ihrer Auflösung spürt.13 Mit der Umstimmung vom düsteren Erhabenen zum hellen Sehnsüchtigen erweist sich Wallers Tagtraum, der durch die idealisierte Ehe aufs Lebensganze gerichtet ist, als eine Wunscherfüllungsphantasie, die den Ernst ihrer existenziellen Tiefenstruktur mittels naturmetaphorischer Stimmungserzeugung in Gelassenheit zu wenden weiß: „Wir gehen sanft unter, wie ein schöner Sommertag, und sehn dann noch einmal heiter auf unsre Bahn zurück“. (Ebd.) Mit dieser phantasmatischen Wunscherfüllung zum einen sowie der überkompensatorischen Konfliktverleugnung zum anderen sind die beiden psychodynamischen Funktionen benannt, die Wallers harmonischer Traumfassade zu Grunde liegen. 14 Dass sie auch als solche erkennbar werden, ist dem dramatischen Effekt zuzuschreiben, der von der dialogischen Inszenierung entgegengesetzter Stimmungen ausgeht. Diese wird nicht erst, aber besonders dann augenfällig, wenn nach Maßgabe des hintergründig wirksamen psychologischen Mechanismus Wallers idealisierende Rede sich Louises Zu-Stimmung zu versichern trachtet. Sie erhält diese auch allzu bereitwillig, jedoch um den Preis einer ungewollt ins Komische verzerrenden Spiegelung oder gar mimetischen Steigerung des enthusiastischen Duktus, welche denselben auf 13 Vgl. Begemann 1990; ferner ders. 1987. Unter dem Aspekt der Stimmung aktualisiert Jacobs (2013, S. 166-175) die Rezeption von Friedrichs Mönch am Meer. 14 In dieser Hinsicht wäre ein Vergleich mit der subtil konzipierten Eheproblematik in Goethes Wahlverwandtschaften samt deren produktiven Verstimmungen interessant.

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einen Gipfel treibt, von welchem die Rede ins Groteske abzustürzen droht. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es auch hier nur ein kleiner Schritt, da jenes seinen Aufschwung aus Vermeidung von Streit und Verleugnung von Leid („ohne Seufzer!“, TA 223) genommen hat und zu einer Stimmung funktionalisiert wird, die ein „Glücklich“-sein auf den Höhen des Imaginären vom Dasein auf den Niederungen des Realen abheben lassen soll: „Louise, nicht wahr, wir werden glücklich sein?“ / „Gewiß! gewiß! – Ach, ja, die Welt hat viele Freuden, sie wäre ein Paradies, wenn alle Menschen so dächten, so empfänden wie du!“ (TA 222) Mit dieser künstlich ins Paradiesische gehobenen Stimmung des Paares ist die tragische Fallhöhe erreicht, die den binnen kurzem folgenden Sturz in die gedrückte Stimmung einer ausweglosen Ehekrise ankündigt. Zunächst indes lebt die Dramatik des „Abschieds“ von einer schroffen Kontrastierung der Stimmungen, so lange die schwärmerischen Höhepunkte sich in ihrer rhetorischen Konstruiertheit selbst desavouieren. Dies geschieht durch doppelsinnige Sprachgesten der Vergewisserung und Beteuerung („nicht wahr?“, „gewiß, gewiß“) oder wird durch szenische Bühnenanweisungen unterstützt, wenn etwa die körpersprachliche Gebärde und die simulierten Naturlaute dem Gerede performativ widersprechen: „Waller: Auch ohne Seufzer! / Louise seufzend: Ohne Seufzer! – / Waller: Und doch seufztest du eben. Aber auch die Freude kann den Busen schwellen, und das Herz schwer machen. – / Louise: Ja wohl, Karl.“ (TA 223) Mit diesem kurzatmigen Wechselschritt zwischen besorgter und emphatischer Stimmungsrede ist der Dialog ins Komische abgeglitten. Darin zeigt sich bereits etwas von Tiecks differenzierender Auffassung von Komik und Witz, wie sie während der frühen 1790er Jahre in seiner Auseinandersetzung mit Shakespeare entwickelt wird. 15 Im Unterschied zum ebenso pointenhaften wie flüchtigen Witz entwickelt sich Komik von vornherein aus einem Spannungsverhältnis zu dem, was noch nicht, aber schon fast bewusst, was nicht mehr unbewusst und doch erst bewusst werdend ist. So enthält der eben zitierte Dialog zugleich den Hinweis darauf, warum das Aufkommen von Komik unvermeidlich gewesen ist, indem er alles bisher Gesagte nun durch die gestisch unterstützte Wiederkehr des rhetorisch Verdrängten revidiert: „Waller sich nach dem Bilde wendend: Dein Bruder war nicht so glücklich. – Nicht wahr, Louise, so hat er nie gelächelt, wie du itzt lächelst? – Es war ein kalter Mann?“ (Ebd.) Auch Louises Antworten erscheinen in der erneuten Betrachtung des Bildes doppeldeutig, insofern ihr Einstimmen in die nostalgische Verklärung nicht mehr auf ihre zukünftige und also gemeinsame Vergangenheit reduziert ist, sondern ebenso die gegenwärtige „Erinnerung“ an eine frühere Liebe „versüßen“ könnte. (TA 222) Dieser bereits am Ursprung von Wallers verdeckter Inquisition stehende Verdacht kann nach Louises nun erstmals versagter Zu-Stimmung nicht mehr niedergehalten werden und wird nun erst recht auffällig zwischen zwei Gedankenstrichen hervorgehoben: 15 Wie die Poetik des frühen Tieck von seinem Verhältnis zu Shakespeare zu begreifen ist, lässt sich zum einen seinem Aufsatz Shakespeares Behandlung des Wunderbaren von 1793 entnehmen; zum anderen aber auch dem Nachlassband Tieck 1920. Siehe hierzu und mit Bezug auf das romantische Konzept der Ironie Frank 1989b, S. 360-379, hier 372-79; zu Tiecks Rezeption ästhetischer und poetologischer Schriften seiner Zeit sowie solcher der Antike im Hinblick auf die Ausbildung seiner eigenen Position Hölter 1989, S. 253-261.

446 | POETOLOGIE DER STIMMUNG „Louise: Nein, gewiß nicht, – ach er war oft nur zu warm, zu gefühlvoll. – / Waller: So hatte der Maler desto weniger Gefühl. / Louise ihn anlächelnd: Mußt du denn immer wider auf dies Bild zurückkommen? / Waller: Verzeih. – Hast du kein Messer? / Louise scherzhaft: Du willst mich doch nicht gar des Bildes wegen erstechen? – Hier.“ (TA 223)

Mit der an dieser Stelle „scherzhaft“ eingeführten späteren Tatwaffe zerteilt Waller einen „Apfel [, der] der erste reife im ganzen Garten“ ist, und dessen „rote Hälfte“ er Louise als „Geschenk“ überreicht. (TA 224) Diese Geste der Versöhnung erscheint vor dem Hintergrund der gescheiterten Verständigung beinahe als ein Akt verzweifelter Verlegenheit, in die sich etwas Verführerisches und Bedrohliches mischt: „Sieh das schöne Rot, – wie vom Abendschein überflogen, oder wie deine Wangen. Indem er ihn teilt. Da hast du die rote Hälfte.“ (Ebd.) Die Signalfarbe Rot indiziert hier eine Mischung aus Gefahr, Affekt und Blut. Korreliert mit dem Erröten der Wangen, ist neben Verlegenheits- und Schamgefühlen auch sexuelle Erregung assoziiert. Der doppelte Vergleich bewirkt ein Oszillieren zwischen den semantischen Sphären der äußeren („Abendschein“) und der inneren (Erregung) Natur, zwischen Landschaftsfläche („überflogen“) und Gesichtsfläche („Wangen“). Diesem Oszillieren zwischen Subjekt- und Objektbereich korrespondiert die Wahrnehmungsstruktur der Stimmung, wie sie sich seit den 1770er auch literarisch ausdifferenziert. Louises rote Apfelhälfte – „indem sie sie auf das Klavier legt“ – absorbiert die (Ver-)Stimmung als technisch-instrumentale Verhältnisbestimmung und verwandelt diese herkömmliche Bedeutung in diejenige des ästhetischen Begriffes der affektiv-situativen Stimmung. Mit der Darbietung des durchschnittenen Apfels und des Aufschubs seines Verzehrs auf den späteren Abend ist zudem eine Reminiszenz an die biblische Ur-Verführung mit verkehrten Rollen symbolisch in Szene gesetzt. Die scheinbare Rollenverkehrung wird indes im fatalen Verlauf des Abends wieder aufgehoben, wenn Waller im Anschluss an die belauschte „Umarmung“ mit dem Fremden „ans Klavier [tritt] und die Hälfte des Apfels“ findet, die „ein Geschenk“ von ihm war, dem seine „Liebe einen so hohen Wert beilegte“ (TA 244). Denn alsdann scheint die Verführung zur Liebe von Louise auszugehen, freilich zu der sündigen eines „elende[n], gemeine[n] Weib[es]“ mit einem anderen Mann; dadurch fällt die mit dem Apfel symbolisierte Schuld zur roten Hälfte ihr, zur andern dem „schändliche[n]“ „Bösewicht“ (ebd.) zu. Bevor es zur Entdeckung ihres außer- und eigentlich vorehelichen Sündenfalls (Apfelsymbolik) kommt, wird noch einmal anlässlich von Wallers halbstündigem „Fortgehn“ die paradiesische Stimmung der Unzertrennlichen zu beschwören versucht, indem sie gemeinsam durch den Garten gehn: „sieh, wie schön die Sonne untergeht.“ (TA 224) Die Sonnenuntergangsstimmung wirft indes die langen Schatten des Unheimlichen, seiner „mißtrauische[n] Ahndung“ sowie ihrer wehmütigen Fügsamkeit voraus. Nach diesem kleinen Abschied des Ehemannes tritt erstmals der ehemalige Liebhaber auf, um sogleich diese alttestamentarisch-kleinbürgerliche Stimmung, die im Werther und schon bei Klopstock den Topos des Patriarchalischen bildet, im Blick von außen zu beglaubigen: „Mir ist wunderbar zu Mute. – Alles ist hier in den Straßen so häuslich, so ländlich, – wie ich von dem Berg herabfuhr, und mir die Glocken des kleinen Kirchturms entgegentönten, – wie

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ich über die Brücke rollte, – wie ich von der Anhöhe in die kleinen Straßen hineinsah, – der Rauch aus den Dächern stieg, – [...]. Alles hier so patriarchalisch, alles in einer glückseligen Eingeschränktheit, – so nachbarlich und zutraulich, – und ich komme hierher, dieses Glück zu stören? – Nein! nur noch einmal sehn will ich sie, ewig von ihr Abschied nehmen“. (TA 225)

Auch dieser große Abschied empfängt sein Pathos aus der ihn kulissenhaft umgebenden Abendstimmung. Deren andächtige („Gott!“) Beschreibung versammelt all jene figurativen Elemente, deren Verbindung zu einem malerischen Ambiente schon das Modell abgaben für Louises „Glück“ in Wallers „Armen“ (ebd.). Es sind die den Städtern „zu Mute“ steigenden Eindrücke bei einem Besuch in der Provinz, deren Komposition zu einem „wunderbaren“ (ebd.) Stimmungsbild also auf der Grundlage einer ästhetischen Distanz beruht. Diese wird von Ramstein noch einmal vergegenwärtigt, indem er bei Betreten ihres „Zimmers“ dessen Betrachtung sich imaginativ erweitern lässt um die es umgebende „Wohnung“, die Landstadt mit ihrer „Brücke“, dem „kleinen Kirchturm“, den „kleinen Straßen“ und „Dächern“ (ebd.). „Alles“ dies sieht er vom erhabenen Standpunkt einer „Anhöhe“ (ebd.), die es seiner Wahrnehmung erlaubt, als Totalität einer äußeren Stimmung erinnert und dadurch verinnerlicht zu werden. In diese im Stile der Landschaftsmalerei verfahrenden „Erinnerungen“ mischen sich in dem Augenblick, als er sein eigenes „Bildnis erblickt“, die an „jene holdseligen Tage, als [er] ihr gegenüber saß, und die Langsamkeit des Malers schalt, – wie sie immer noch etwas an dem Gemälde zu tadeln hatte, [...] – wie mein Blick sich in ihr Lächeln verwickelte“ (ebd.). Die durch Vergegenwärtigung einer landschaftsidyllischen Stimmung induzierte Erinnerung ist ihrerseits eine solche an eine Stimmung. Diese war als „holdselige“ wiederum Gegenstand des „Gemäldes“, insofern dasselbe nicht nur sein unter der kritischen Supervision der Geliebten erstelltes Porträt ist, sondern zugleich die gemalte Stimmung gegenwärtiger Intimität, wie sie sich im „Blick“ und im „Lächeln“ der Liebenden in ihrer wechselseitig „verwickelten“ Wahrnehmung intrinsisch konstituiert. Wie dieses merkwürdigerweise noch „in jenen holdseligen Tagen“ und also gleichsam seine Erinnerungsfunktion antizipierende Bild Louise wiederholt in eine traurig-heitere Erinnerungsmelancholie versetzte, so löst sein selbstreflexiver Anblick bei Ramstein eine Turbolenz der Gefühle aus: „ach es zerdrückt mir das Herz! – Warum kann ich es nicht vergessen?“ (Ebd.) Die Antwort, die Ramstein sich in der temporalisierenden Perspektive von Schicksalstragödien16 gibt, vermutet den Grund für seine Unfähigkeit, jenes ominöse „es“ zu vergessen, gleichsam umgekehrt in der von diesem „es“ ausströmenden Kraft, sein „Herz“ zu erweitern. Die genuine Erfahrung von geglückter Intimität hat ihm einen Raum erfüllender Selbsterfahrung eröffnet, dessen unvergessliche Stimmung über die Liebesdyade hinaus die sie bergende „Welt“ und sie tragende „Zeit“ miterfasst und als ästhetische Phänomene selber erst hervorbringt: „Es war eine schöne Zeit, – die Welt war mir damals doch ganz anders, – es war eine schöne Zeit.“ (Ebd.) 16 Zu dieser Gattungsform im historischen Kontext siehe Werner 1963. Tiecks Abschied gilt als ein Wegbereiter dieser Art des romantischen Dramas, das ab 1809 mit Zacharias Werners Der vierundzwanzigste Februar und Franz Grillparzers Die Ahnfrau auch auf dem Theater große Erfolge feiern wird.

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Diese zeitschöpferische und weltverwandelnde Erfahrungsdimension bereichert das Bedeutungsspektrum von Stimmung in einer Entwicklungsphase der Ästhetik, in der diese vom Primat der Subjektivität ausgehend sich anschickt, die herkömmlichen Grenzlinien zur Erkenntnistheorie und Ontologie zu verschieben, zu überschreiten oder aufzuheben. Wie dann in der Kunstphilosophie Schellings der Natur Subjektcharakter zugeschrieben wird, schlägt Tieck – wie oben am Hartknopf analysiert – einen sphärenharmonischen Ton an, der eine kongeniale Stimmung zwischen schöpferischem Subjekt und schöpferischer Natur zum Klingen bringt. Seit dem säkularisierten Pietismus, dessen Anteil an der heute mehr als europäisches Phänomen gesehenen Empfindsamkeit zuletzt stark relativiert wurde, verarbeitet Literatur neben der antiken Sphärenharmonie auch physikotheologisches und spinozistisches Gedankengut. Wie zuvor an prominenter Stelle Goethes Werther erst seine überquellende Lebendigkeit und später seine liebeskranke Sterblichkeit in der Natur und ihrem jahreszeitlichen Wechsel gespiegelt sieht, so erinnert nun Ramstein den Wandel seiner existenziellen Stimmung über sein Verhältnis zur Natur: „Was konnt’ ich nicht bei jeder Blume, bei jedem grünen Blatt empfinden! Welcher Sinn der Schönheit lag in jedem rauschenden Baum, – alles ist jetzt so ausgestorben.“ (Ebd.) Doch schon mit dem nächsten Gedankenstrich geht er von der ichbezogenen Naturmetaphorik über zu der des Klaviers, um denselben Stimmungswechsel in seiner schmerzlichen Abruptheit auf die intime Zweisamkeit zurückzubeziehen: „Er schlägt schwermütig einen Ton des Klaviers an. Es ist noch dasselbe Klavier, auf dem sie mir so oft etwas vorgespielt hat. – Wie sie mir so oft Lieder sang, und ich ihr so sorgfältig die Blätter umschlug, – wie sie mich dann beim Schluß anlächelte“. (TA 225f.)

3. D ISSENS UND D ISKORDANZ Theatralisches Sichtbarwerden von Gefühlen

Eine dem Religiösen entlehnte „Sprache des Herzens“ (TA 228) ist seit der Wiedergeburt der deutschen Literatur aus dem Geist des Pietismus – so Schlaffers überzogene These17 – das Idiom der emphatisch Liebenden, die dem Objekt ihrer Begierde einen idealisierten Status zuzumessen trachten. Der junge Tieck bedient sich hierbei der zum Ende des 18. Jahrhunderts längst etablierten Ausdrucksformen liebender Seligkeit in derart prononcierter Weise, dass die in ihnen gebundenen libidinösen Kräfte als solche erkennbar und thematisch werden. Sie werden auch nicht in ihrer „Wildheit“ (222) durch Verknüpfung mit moralischen oder politischen Diskursen aufs Neue domestiziert und relativiert: dies ist das Neue Anfang der 1790er Jahre, etwa auch gegenüber der Sturm-und-Drang-Dramatik und dem bürgerlichen Trauerspiel. Anstelle einer tugendmoralischen Emanzipation des bürgerlichen Selbstgefühls steht eine ideologisch indifferente Rehabilitation der Gefühle und in der Folge ‚freie‘ Stimmung im Zentrum der konfliktdramatischen Szene. 17 Da es uns hier primär nicht um ideen- und intern: wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge geht, übernehmen wir diese konzise These unter Vorbehalt von Schlaffer 2002, S. 54-112.

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Zunächst kommt die empfindsame Gestik und Sprache der „Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ noch erfolgreich zum Einsatz, namentlich um die „Entmutigungsschwelle“ überschreiten zu können, welche die ehemals Liebenden inzwischen trennt. (Luhmann 1982, S. 21) Anders als Luhmanns Interesse an der historischen Semantik und Kasuistik der Liebe sich auf den Bedarf an möglicher Kommunikation konzentriert, lenken wir die Aufmerksamkeit auf das Scheitern der Kommunikation von sich als Liebende vermeintlich Verstehenden. Denn Tiecks poetische Darstellung von deren (Miss-) Stimmungen als Medium fokussiert mehr die Wahrnehmung von Dissens und Diskordanz als das Erreichen von Konsens und Konkordanz. So dauert es im ersten Dialog (5. Auftritt des I. Aktes) zwischen Louise und Ferdinand eine für beide verwirrend lange Weile bis sich der Vorhang der Gefühle vor den gekränkten Seelen der ehemals Liebenden hebt und das „fürchterlich[e] Verhängnis“ (TA 230) zum Vorschein kommt. In einer zunächst aus Freude, Verlegenheit und Schmerz zusammengesetzten Stimmung kämpft Ferdinand um „die letzte, fernste Ahndung [s]einer verschwundenen Seligkeit“, während Louise sich und ihn fragt, warum und woher er gekommen ist. Er bleibt ihr noch „fremd“ als er sie der gestischen Bühnenanweisung entsprechend „mit festem Auge anblickt“ und sie „ihre Augen vor seinem Blick zu verbergen“ sucht. (TA 227) Schließlich versucht er sie zu erweichen, indem er auf das Bild zeigt mit dem „Mann, der einst Louisens Blicke auf sich zog“ (ebd.), mit der Folge, dass sie ihn in seiner als unpassend empfunden Sentimentalität sogar zurechtweist. Es entsteht eine Missstimmung, die sich in „Vorwürfen“ (TA 228) mit einer wechselseitigen Überbietung darin entlädt, wer mehr gelitten und wem was zugefügt wurde. Denn während er mit dem „wehmütigen Blick“ herzlicher Bescheidenheit anreiste, nachträglich „Abschied zu nehmen“, die ihm untreue Geliebte „noch einmal zu sehn“, um darin seine „letzte Seligkeit“ zu finden (TA 231), sieht sie sich als die damals Verlassene, deren „Liebe so grausam verschmäht“ wurde, dem „schadenfroh[en] Grausame[n]“ mit seinen respektlosen „Vorwürfen“ gegenüber. (TA 228f.) So erinnert sie ihn an ihren „zärtlichen Abschied“, das Auseinandergerissenwerden ihrer „Seelen“, seine „ersten Briefe [...] – so ganz die hingeströmte Empfindung“ und sein anschließendes rasches Vergessen. (TA 228) Mit „starrem Blick“ und erkalteter Stimmung erfährt er nun, dass sie nach einem halben Jahr ohne Briefe von ihm und auf das „Gerücht“ hin, er sei „in der Schweiz verheiratet“ mit „schwer verwundet[em] Herz“ allmählich dem „Bitten“ und „Flehn“ Wallers, seiner „so heißen, so inbrünstigen Liebe“ schließlich nachgegeben und ihn geheiratet habe. (228) Nachdem sie Ferdinands „Aufenthalt von einem Fremden erfahren“ hatte, ließ sie ihn dies ahnungslos mit einem „mehr“ als „kalt[en] Brief“ wissen. (TA 228f.) Umgekehrt erfährt sie vom „wehmütig lächelnd[en]“ Ferdinand nun, dass er weder „verheiratet“ noch „treulos“, sondern „krank“ und so „schwach“ war, dass er ihr vom „Sterbebette“ „nicht einmal schreiben konnte“. (TA 229) Bemerkenswert konstruiert klingt seine Erklärung, dass „ein Brief von einer fremden Hand [sie] nicht erschrecken sollte“ (ebd.) und er sie stattdessen ein halbes Jahr ohne jede Nachricht über seinen Verbleib gelassen hat. Als Grund für diese folgenschwere Entscheidung führt er seine „überkluge Zärtlichkeit“ an, welche sie indes postwendend vermisst, indem sie beklagt, dass er nicht jetzt geschwiegen, ihr die Wahrheit nicht erspart habe, denn „an diesem Irrtum hing mein Glück!“ (Ebd.) Louises doppelt verfehltes Glück, erst dasjenige mit

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Ferdinand und nun durch diesen auch das mit ihrer Ehe, sowie sein doppeltes Unglück, das des Erkrankens und sie Verlierens, und schließlich das durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zerstörte gemeinsame Glück, versetzen die beiden in eine Stimmung der „Bitterkeit“; aus dieser heraus beklagen sie verallgemeinernd „das Verhängnis [das] fürchterlich mit dem Glück der Menschen [spielt]“. (TA 230) Dieses gemeinsame Beklagen von Leid und Unglück wird durch Ferdinands insistente Ausführlichkeit in ihrer Vergegenwärtigung so weit forciert, dass es einmal mehr die männliche Sentimentalität ist, die übertrieben wirkt und nunmehr das Tragische ins Komische verzerrt. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch das Pathos des Todes, welchem er selbst gerade knapp entronnen ist, um ihn sogleich als einzig wahrscheinlichen Grund für ihre ausbleibende Antwort anzunehmen, er auf ihrem „Grabe sterben“ will, um angesichts der „Ungewißheit“ ihres Verbleibs und seiner „Furcht“ erneut aufs „Sterbebett“ zu sinken. (TA 229f.) Louises knappe Mitleidsbezeugungen („ich war es nicht wert, ich Elende, – o Gott! du hast viel um mich gelitten“, „O Himmel!“, TA 230) wirken hier beinahe ironisch, als wenn sie das von Ferdinand verfluchte „Schicksal“ gar nicht selber beträfe. Diese heute teils groteske teils kitschige Wirkung mag indes auch nur dem in über zweihundert Jahren gewandelten Geschmack geschuldet sein. Dramaturgisch indes folgt sie der expressiven Logik der Stimmungen, welche erst in ihrer Überzeichnung die in ihnen zusammengezogenen Elemente als metaphorische Struktur erkennbar werden lassen. Denn nichts deutet darauf hin, dass Ferdinand etwa an einer tödlichen Krankheit leidet oder Selbstmord begehen will und deshalb mit einem letzten Wiedersehen endgültig Abschied nehmen möchte. Vielmehr ist die unnachgiebige Rede über sein beinahe schon geschehenes, aber sicher baldiges Sterben metaphorischer Ausdruck der Nichtakzeptanz von Liebesverlust, der Verleugnung eines Beziehungstodes und noch des verzweifelten Drängens auf Wiedererlangung einstiger „Seligkeit“. (TA 231) Noch das pathetische Zurücknehmen seiner Kränkungen im Gestus der Ergebenheit gehört zur rhetorischen Wiederherstellung einer intimen Stimmung, die sich im Austausch von Blicken konstituiert: „Ich kränke dich? – Ferdinand Louisen? von deren Blicken er einst lebte, – o vergib, vergib mir! / Louise: Dein Tod liegt mir schwer auf meiner Seele, – Ferdinand, vergib du mir! –“ (Ebd.) Hier zeigt sich, dass Louise den Einsatz der Todesmetaphorik ebenso wie den der „Stimme“ und den von „Tränen“ (TA 231f.) als bloße Beweisstrategien absoluter Liebe sehr wohl versteht, ihnen entsprechend reagiert, um ihnen doch nur beiläufig zu erliegen: „Louise, ich gehe freudig aus dieser Welt, ich habe dich noch einmal gesehn, – du hast mich noch nicht vergessen, das ist mehr als ich erwartete: – ja, wir waren für einander geschaffen, – ein Ohngefähr, ein unglücklicher Mißverstand, – aber dort – Louise: Dort! Ja da ist alles anders als hier, Ferdinand. – Dort wollen wir uns freudiger wiedersehn. – Pause. Aber jetzt, – o verzeih mir, Lieber, verzeih dem ängstlichen Weibe, wenn ich dich jetzt bitte, – fortzugehn.“ (TA 231)

Dieses routiniert oder doch souveräne Umschalten vom sentimentalen Diskurs über ihre verhinderte Liebe zum pragmatischen der Vorbeugung einer Ehekrise lässt erkennbar werden, dass die intime Stimmung nicht nur der authentische Ausdruck einer sympathetischen Gefühlsbeziehung ist, sondern auch und zunächst über ihre

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kommunikative Funktion zu verstehen ist. Diese besteht darin, es den beiden zu ermöglichen, sich gleichzeitig auf ein ihnen Gemeinsames zu beziehen, die Erinnerung jener Zeit, die mit dieser wieder lebendig werdenden Gefühle und auf ein bestimmtes Liebesideal. Dieses wird aufgerufen durch den nostalgisch-platonischen Stimmungstopos des füreinander Geschaffenseins wie er bereits zuvor durch das suggestive Geschenk der roten Apfelhälfte konnotativ mit eingespielt wurde. Der für den späteren Abend aufgeschobene Verzehr hatte die Antwort auf die implizite Frage Karls offen gehalten, ob Louise ihn als ihre andere Hälfte (an)erkennen würde, um die schließlich auch der unerwartete Gast unter Berufung auf die frühere Liebe rivalisiert. Ferdinand erhöht seinen Anspruch auf die andere Hälfte nun noch dadurch, dass er über das Scheitern ihrer Liebe an einem kontingenten „Ohngefähr“ und „unglückliche[n] Mißverstand“ hinaus, die Erfüllung des Ganzheitstraumes vom kugelmenschlichen Einssein lediglich auf eine imaginäre Zukunft im Jenseits vertagt sehen möchte. Hier erscheint das Motiv des Wiedersehens im Himmel vollends konventionell, was sich schon durch seine Überzeichnung ins Rührselige im Werther ankündigte. Denn Louise bestätigt ihn nicht nur in dieser vertröstenden Jenseitserwartung, sondern verspricht ihm in himmlisch-ironischer Verantwortungslosigkeit ungleich bessere Glücksbedingungen bei „freudiger[er]“ Stimmung, wenn er nur hier und jetzt „fortzugehn“ sich bereit finden möchte und sie im irdischen Jammertal die rote Hälfte des anderen sein lässt. Solche geradezu stiefmütterliche Härte von Louises Seite scheint Ferdinand gewohnt zu sein, mit einem symbiotischen Mitleidsappell zu parieren, der Louise teils verlegen teils ärgerlich macht und sie doch vorübergehend zu erweichen im Stande sein wird: „Ach Gott, da siehst du mich nun wieder mit dem wehmütigen Blick an, den ich so fürchtete, – ach nicht diesen Blick, Ferdinand, nicht so, – ich bitte dich, – ich kann ihn nicht aushalten.“ (Ebd.) Die in der stummen Rede des wehmütigen Blicks artikulierte Stimmungszumutung scheint von Louise augenblicklich nicht weniger unangenehm zu sein als die „Ankunft“ Karls bedrohlich ist. Sie sucht die peinliche Lage zu meistern, indem sie den aufdringlich Wehmütigen mit einer Liebeszusicherung belohnt und „mit weinerlicher, gepreßter Stimme“ verabschiedet. (TA 232) Als auch das folgende Stimmungsmanöver ostentativer „Kälte“ an Louises Standhaftigkeit zu scheitern droht und sie sich seinem letzten, nun wieder „wehmütigen Blick“ zu entziehen weiß, bricht Ferdinand den Abschiedsversuch ab und offenbart nun vollends, dass ihm weniger am Abschied von ihr als an dessen Inszenierung für ihn liegt. Je erfolgreicher diese für ihn im unterschwelligen Kampf mit ihr verläuft, umso erträglicher wird jener sein; je höher ihr Verzweiflungsanteil, desto tiefer kann die Abschiedsstimmung genossen werden – scheint Ferdinands Devise zu sein: „Ach Louise! mit welchem schmerzlichen Vergnügen ich unsern Abschied verlängere, der Giftbecher ist so süß!“ (Ebd.) Nicht nur verweist die anhaltende Todesmetaphorik („mein Herz – es blutet“ ebd.; „blaß“, „stumm und tot“, TA 236f. et passim) auf das blutige Ende voraus, sondern Ferdinands unnachgiebiges Abschiedsgebaren lässt zunehmend suizidale Züge mit opfermythischem Pathos erkennen („Giftbecher“). Denn es ist diese letzte, in den Bereich einer Abschiedsverweigerung vorstoßende Verzögerungstaktik, die schließlich die Konfrontation mit dem Rivalen unausweichlich macht. Mit allen Requisiten des zeitgenössischen Liebeskultes, den seinerseits demonstrativ aufbewahrten („ein Heiligtum“), ihrerseits vorsorglich verbrannten Briefen, die „Rose“ und der „Schatten“ (-riss), die mit „Kuß“ und „Tränen“ zurück erstattet wer-

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den, sowie mit der kontrastiven Reminiszenz an einen „schöne[n] Abend“ wird die „ermattet[e]“ und „finster[e]“ Stimmung des endgültigen Abschieds aufgebaut, bis wirklich „Abend geworden“ und der „Tod schon vor Augen [schwebt]“. (TA 232f.) Als dieser dann mit der Person Wallers symbolisch hereingetreten ist, bleibt es einmal mehr dem Klavier vorbehalten, der Ausgangspunkt der sich dramatisch verdüsternden Stimmung zu sein. Von dem auf diesem platzierten „Licht“, welches das Gemälde erleuchtet, wird die unklare Identität des „so unvermut[en]“ Besuchers und schließlich Louises Ehegeheimnis erhellt. (TA 235) Da hilft es auch nicht, dass Louise „im Dunkeln“ auf dem Klavier „klimpert“ und noch weniger, dass die ehemals Verliebten Waller ihre gemeinsame Vergangenheit vorspielen, indem Ramstein wie damals die Seiten eines von ihm selbst komponierten Liedes umschlägt, während sie von „doch so wonnereich[em]“ Beisammensein in „Jünglingsjahren“ singt. (TA 235f.) Das dadurch ausgelöste Moment unzweideutigen Erkennens wird durch eine Naturmetaphorik begleitet, welche die „Musik“ ausdruckslos und Gefühle theatralisch sichtbar macht („ein kalter Schauder“, „ein bleicher Nebel um die Lichter“, „versteinert“, „Mondschein“, „Garten“, TA 236).

4. V ON DER V ERDICHTUNG VON S TIMMUNGEN ALS DRAMATISCHEM P RINZIP ZU EINER ART G ESAMTSTIMMUNG Der zweite Aufzug macht nach allen Regeln der schauerromantischen Kunst die Nacht zum Schauplatz des finalen Doppelmordes und damit das „still[e]“ Bürgerhaus zum „Totengewölbe“. (TA 239) Seine „sonderbar“ stille Mitternachtsstimmung („Es schlug so dumpf zwölf Uhr“, ebd.) setzt sich zunächst zusammen aus der Verzweiflung und „verbissene[n] Wut“ Wallers, „dem Ton des schmerzlichsten Bittens“ Louises und der „so fürchterlich schließend[en]“ „Sterbeglocke“ Ramsteins. (TA 238ff.) Letzterer fiebert „matt“ und „krank“, mit „starr[em] Auge“ und „trüben Blick“ im „bleiche[n] Gesicht“ gleichsam „wehmütig“ seinem existenziellen Abschied entgegen. (TA 240f.) In der Perspektive seiner fatalistischen Erwartung eines bei aller Liebesnot natürlichen Todes erhält Ramsteins Ermordung durch Waller eine stimmige Naturalisierung. Dieser Anschein eines naturgegebenen Schicksals wird hervorgerufen wiederum durch eine Überzeichnung des tragischen Konflikts ins Komische, beinahe Groteske. Das Gestaltungsmittel dieser Überzeichnung ist die Verdichtung von Stimmungen, die sich im Abschied zu einem dramatischen Prinzip verselbständigen, welches die tragische Verstrickung der Protagonisten überlagert. 18 Diese sind in ihrem Handeln zwar durchgängig psychologisch motiviert, entkommen darin jedoch

18 Ohne Bezug auf Der Abschied wird von Stimmung in Tiecks Dramen gesprochen bei Szafarz 1997. Sie schreibt „allegorischen Figuren“ (personifizierte Fortuna, Tiere, Naturerscheinungen) die „Aufgabe, eine besondere Stimmung hervorzurufen“ (S. 83) zu. An anderer Stelle spricht sie in implizitem Anschluss an Heidegger von der „Grundstimmung des Daseins“ bezüglich eines „Fatalismus“ (S. 67, vgl. 47), der aus einer Tieckschen Art von Kant-Krise stamme.

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nicht den zeitgenössischen Vorgaben einer noch aufklärerisch geprägten Vernunftmoral. Nach dieser kann Ferdinand ungeachtet der emotional noch weitgehend intakten Bindung mit Louise keinerlei Ansprüche auf dieselbe gegenüber Karl geltend machen. Zumal er – anders etwa als der bei Gellert unerwartet heimkehrende Ehemann der schwedischen Gräfin von G. – mit Louise nicht verheiratet war, bevor das Schicksal seine Spuren vorübergehend auslöschte. Das Tragische ist in traditioneller Doppelbödigkeit als schuldige Unschuld gegeben; das Versäumnis, den Briefkontakt mit Louise nicht aufrecht erhalten zu haben, macht ihn schuldig; der dafür vorliegende Grund seiner schweren Erkrankung erklärt, aber entschuldigt sein Verhalten nicht. Prompt erkennen die ehemals eben nur Verliebten dies auch an, wenn sie in der „Tugend“ den sittlichen „Fels“ anerkennen, der unverrückbar zwischen ihnen liegt. (TA 229) Auf Seiten Louises ist ein unverschuldetes Schuldiggewordensein von der als Schicksalsmacht unhinterfragten Gesellschaftsmoral dadurch festgeschrieben, dass sie den der Untreue verdächtigten, in Wahrheit auf dem „Sterbebette“ liegenden Geliebten „verwünschte“, dessen Wiederkehr ihr nicht etwa einen nachgeholten Abschied ermöglicht, sondern sie „zeitlebens unglücklich gemacht“ habe. (TA 229, 233) Sie sieht einer „Strafe der gebrochenen Treue“ gegenüber gleich beiden Männern noch in den „fürchterliche[n] Stunden“ dieses „schrecklichen Abend[s]“ mit suizidalem Einverständnis entgegen. (TA 237) Die Unausweichlichkeit des Abschieds und damit die dramatische Pointe in dieser frühen Schicksalstragödie19, welche sich als Genre erst ab 1810 etablieren sollte, ergibt sich noch aus der Unhintergehbarkeit der bürgerlichen Tugendmoral; nicht jedoch die simple Lösung des dramatischen Knotens in einem Abschied mit Todesfolge. Anders als etwa in Karl von Berneck ist der Doppelmord nicht in einem Aischylos’ Orestie verwandten Familienfluch oder sonstigen mythischen Tradition verwurzelt. Vielmehr geschieht er aus Affekt und muss allein aus der Konstellation dreier Charaktere motiviert werden. Hierbei dient die Stimmung der Aufstockung der psychologischen Motivation der Handlung bis hin zur Überdeckung eines Mangels an tragischer Notwendigkeit. Die Aufbietung starker Gefühle ist nicht – wie etwa im Sturm-und-Drang sozial-kritisch flankiert – dem Verstand entgegengesetzt, sondern dieser kollabiert schlicht unter dem Druck ihrer Steigerung ins Unerträgliche. Zunächst bewirkt die geradezu inflationäre Stimmungserzeugung eine Typologisierung der einzelnen Figuren, indem sie Louise tendenziell als melancholisch-naiv, Ferdinand als wehmütig-lebensmüde und Karl als manisch-cholerisch präsentiert. Jede Figur für sich betrachtet erscheint dadurch bereits zu emotionaler Exzessivität geneigt. Erst ihre topische Konstellation als Stimmungsträger indes lässt deren Verwicklung in einem konventionellen Ehekonflikt zu einer schwülstigen Tragödie eskalieren, deren Katastrophe mithin weniger von der Macht des Schicksals als von einer anderen, die Individuen ebenfalls überragenden und sie als solche einander ausliefernden Sphäre bestimmt ist. Es ist dies jene Stimmung des Schauerlichen und Grausigen, welche die Romantik später popularisieren wird und vom jungen Tieck bereits poetologisch eingesetzt 19 Hölter (1991, S. 953-66) sieht die Schicksalstragödie Tiecks, die für die Romantik von prägendem Einfluss ist, ihrerseits beeinflusst vom oben erwähnten Drama Blunt oder der Gast von Moritz.

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wird, um aus einem trivialen Zweiakter doch noch den Funken des Tragischen zu schlagen. Das Triviale der zu Grunde liegenden Fabel, das unerwartbare Auftauchen eines früheren Liebhabers in der bürgerlichen Eheidylle einer Provinzstadt, wird durch die Sentimentalität, die allen Figuren gleichermaßen anhaftet, eher noch gesteigert. Die Stimmungen, von denen bereits die einzelnen getrieben sind, steigern sich noch in deren Zusammentreffen. Zu Beginn sind es die beiden Eheleute, später die Gattin und der Liebhaber, sodann Gatte und Nebenbuhler, die sich gegenseitig affizieren, bevor die bis zum Ende des ersten Aktes unterschiedliche, insgesamt aber angestiegene Stimmung sich im zweiten Akt zu einer explosiven Mischung verdichtet, von der alle drei zusammen erfasst und gleichsam wechselseitig zerrissen werden. Erst in ihrem Zusammenwirken verbinden sich die Stimmungen der Beteiligten zu einer explosiven Gesamtheit, auf die ein jeder zwar in seiner Weise reagiert, der sie jedoch gemeinsam unterworfen sind. In ihr diffundieren die individuellen Gemütslagen ebenso wie diese rückwirkend von der dividuellen, also von allen geteilten Gesamtstimmung affiziert werden. So ist es kaum verwunderlich, dass Stimmung ansteckend ist, die Mitteilung, wie einem zu Mute ist, über die stimmungshafte Lesbarkeit der einander in der Wirklichkeit zugewandten Gesichter erfolgt: „Du bist sehr krank, – lieber Ferdinand, – und doch steckst du mich mit deiner Furcht an, – seh’ ich eben so blaß aus, wie du? Ramstein: Du bist sehr matt. [...] Wir sind krank, Louise, und in der Krankheit wird der Geist wieder zum Kinde. Louise: Du hast recht. – Ach, Ferdinand!“ (TA 240)

Die dem jeweils anderen ins Gesicht geschriebene Stimmung wird zum Medium der Selbstvergewisserung des eigenen Befindens, das als solches einfach blaß und matt ist. Die dadurch eröffnete intersubjektive Dimension der Stimmung hingegen („Wir“) qualifiziert diese zum Reflexionsmedium, das Einsicht in die Geschichtlichkeit ihres gegenwärtigen Zustandes gewährt. Dass dieser für sie beide gleichermaßen als eine Werthersche „Krankheit“ zum Tode – und zwar physisch und nicht nur geistig „wieder zum Kinde“ – diagnostiziert werden muss, daran lässt Louise jetzt keinen Zweifel mehr: „Wir sehn uns nicht wieder.“ (ebd.) Und beide stimmen überein in der Feststellung: „Diesseits nicht.“ (Ebd.) Diese zuvor noch vom Duktus der empfindsamen Rede in die Leere eines galanten Gemeinplatzes abgedriftete religiöse Trostvorstellung vom himmlischen Wiedersehen der bis über den Tod hinaus verzweifelt Liebenden verliert jedoch mit einem Mal an Überzeugungskraft: „Vielleicht auch nicht jenseits, – ich fange an, an allem zu zweifeln.“ (Ebd.) Im Augenblick der erfolgreich kommunizierten (Überein-)Stimmung kommt die der Sentimentalität latent zugrunde liegende Verzweiflung zum Durchbruch und entlockt dem geliebten Du nicht nur ein erwidertes Liebesbekenntnis, sondern ermöglicht ihm zugleich den authentischen Gefühlsausdruck im Ich-Bezug: „Ich habe es nie so gefühlt, als grade jetzt, was es heißt: dich nicht wieder zu sehn! – Ach Ferdinand, ich liebe dich noch, ich kann’s mir nicht verhehlen, du hast mich unglücklich gemacht. – Dich nicht wiedersehn, und unglücklich sein!“ (TA 241)

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Die reale Wiederkehr des ehemals – und vermeintlich noch immer – Geliebten vollendet den Verlust desselben. Seine exklusive Platzierung im Geheimnis ihres Herzens einerseits und im Bilderrahmen über dem Klavier andererseits ist unhaltbar geworden. Dieses memorial kultivierte Gemälde hat jenes Herzensgeheimnis gelüftet (TA 227) und dieses als Ehegeheimnis verraten (TA 236). Damit ist es nunmehr „dieses verwünschte Bild“ (TA 241), welches das Geständnis überdauerter Liebe erzwungen, den Ehekompromiss zunichte gemacht hat und damit zum fatalen Requisit wird. Konnte die Liebe zu dem für untreu gehaltenen Ferdinand unter der Bedingung von dessen Abwesenheit mnemotechnisch noch am Leben gehalten werden, so ist sie als die Liebe zu dem krank aussehenden Anwesenden dem Tode geweiht und mit ihr die beiden Liebenden. Deren Unglück, sich wiedergetroffen zu haben, ist in seiner tragischen Konsequenz als Abschied vom Leben keineswegs so unvermeidlich, wie es die „bleiche[n] Gesicht[er]“ und „trüben Blick[e]“ glaubhaft machen wollen (ebd.). Denn es wäre ja auch eine Klärung der Angelegenheit denkbar, wie sie Louise für einen kurzen Augenblick vor dem Zusammentreffen der beiden Männer auch erwogen, aber sogleich wieder verworfen hat. (TA 233) Unverzichtbar wäre hierfür freilich eine rückhaltlose Offenheit in der Mitteilung ebenso wie ein Vertrauen in die Aufklärungskraft der Vernunft. Ersteres ist Louise allzu unvertraut in ihrer Ehe, letzteres ist in Verbindung mit dem von Affekten beherrschten Waller für sie unmöglich. Ferdinands Vorschlag, ihm die „ganze Geschichte“ einfach zu erzählen, wird verworfen, denn er basiert auf der humanistischen Vorstellung von liebender Verständigung, die doch prinzipiell möglich sein müsse: „– er müßte ein Unmensch sein, wenn er dich nicht eben so wie vorher lieben sollte.“ (TA 242) Eine solche Lösung im Zeichen des Glaubens an die sittliche Vernunft ist für den jungen Tieck schon aus historischen Gründen und für Louise aus Erfahrung und „Opfer“-Bewusstsein nicht mehr möglich. Denn sie weiß, „er ist fürchterlich, wenn er zürnt. – Er wird sich vielleicht nie mit mir aussöhnen“ (ebd.). „Vielleicht“ aber würde er schon, wenn die von der „quälendsten Angst“ gepeinigte Louise nicht die kommunikative Leitfähigkeit verkennen würde, die noch im „fürchterlichen Blick“ (ebd.) Karls intakt sein kann, wie es in dessen stummem Gesprächsversuch mit Ferdinand der Fall ist: „es lag viel in diesem starren, bedeutungslosen Drehen des Auges, – so kalt, so durchbohrend, so wild, als wollt’ er durch mein Auge hindurch auf den Grund meiner Seele schauen.“ (Ebd.) Der gemeinsame Gartenspaziergang der Männer führt zu keiner Verständigung, da Karls durch Eifersucht verdüsterte Stimmung sich nicht mit der melancholisch vertieften Stimmung Ferdinands abgleichen lässt. Die zunächst an Sprachlosigkeit leidende Kommunikation verwandelt sich in eine aggressive Stimmung, als ihr Scheitern absehbar wurde; die Metaphorik des „durchbohrenden“ Blicks präludiert dem Todesstoß durch Erdolchen. Der weitere Verlauf des Geschehens zeichnet sich also frühzeitig in der intersubjektiven Dimension der Stimmungen ab. Deren jeweilige Unvereinbarkeit in den Kombinationen des wilden Waller mit dem wehmütigen Ferdinand respektive mit der verängstigten Louise weist ebenso auf den Doppelmord voraus wie deren unglückliche Vereinigung im „sonderbare[n] Entsetzen“ (TA 240) der beiden letztgenannten.

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5. D ER W IND

UND DAS

S CHAUERLICHE

Räume des Innen, Außen und Zwischen

Sobald die Entsetzten den eigenen matten Zustand in dem des anderen wieder erkannt haben, indem sie ihren blassen Gesichtsausdruck wechselseitig überprüfen, nimmt Louise die in Ferdinands Antwort auf die Frage nach dem Grund seiner akuten Todesahnung gegebene Diagnose der Außenweltsymptome wieder auf: „Horch! wie der Wind um die Ecke der Straße winselt, – es ist wirklich schauerlich. – Das Licht brennt so bleich und matt, – es macht durch die Dämmerung das kleine Zimmer wie einen großen, weiten Saal.“ (Ebd.) Damit bestätigt die von ihrem Verehrer Angesteckte, dass es vor allem der Wind sei, der die schauerliche Stimmung erzeugt. Als die atmosphärische Bewegung im (meteorologischen) Außen der Wirklichkeit scheint er der affektiven Bewegung im Innen der Menschen zu korrespondieren, so dass das Brennen des physikalischen Lichtes mit den gleichen Attributen belegt wird wie sie dem Ausdruck des seelischen Befindens zukamen: bleich und matt. Das für sonderbare Stimmungen wie diese charakteristische Ineinanderübergehen von objektivem Außen- und subjektivem Binnenraum wird durch den folgenden Vergleich zudem als eine Ent- oder Versetzung des Ich aus seiner vertrauten Position in der Welt in eine solche, in der diese unheimlich vergrößert erscheint („großen, weiten“) und dazu relativ das Ich entsprechend „klein“ sich fühlen muss. Diese durch die künstliche „Dämmerung“ bewirkte Verzerrung der natürlichen Größenverhältnisse korreliert das Schauerliche der erdrückenden Stimmung der beiden. Diese wird von ihnen wiederholt über die Analogiebeziehung zwischen Selbstund Weltempfindung beschrieben. Dabei werden bestimmte Komponenten wie „Mond“, „Weinlaub“, „Wind“, „Garten“, „Natur“ oder „Nacht“ zu einer Gesamtqualität integriert und immer wieder mit den Adverbien „wehmütig“, „ernst“, „schrecklich“, „krank“, „wunderbar“, „fürchterlich“ oder „sonderbar“ versehen. (TA 240f. et passim) Eine Besonderheit gegenüber den konventionellen Versatzstücken der Schauerromantik bildet die Metaphorisierung der menschlichen Spannungsverhältnisse mit den dinglichen eines Saiteninstrumentes. Das Klavierspiel intoniert die den Liebenden gemeinsame Stimmung, in den guten Tagen der Vergangenheit die freudig verliebte, im Horror der Gegenwart die furchtsam überspannte Stimmung: „Du glaubst nicht, mit welchem Herzen ich spielte, du mußt es gesehn haben, wie meine Finger zitterten, und kaum den Ton anzuschlagen wagten, und wie ich endlich in der quälendsten Angst fast die Saiten zersprengte.“ (TA 241) Gelingende ebenso wie gescheiterte Mitteilungen subjektiver Stimmung führen dazu, dass der intersubjektive Zwischenraum nicht länger unbesetzt bleibt und als leerer Abgrund zwischen den Subjekten diese zu phantasmatischen Aufschwüngen verleitet. So ergeht Waller sich angesichts des offensichtlich noch nicht verstorbenen Bruders und der damit ans Licht kommenden (Un-)Wahrheit nicht länger in Beschwörungen des gemeinsamen Eheglücks, die umso idealisierender ausfallen mussten, je mehr ihm sein Gefühl dessen Gefährdung nahe legten. Nunmehr erkennt er in dem fremden Gast einen früheren Geliebten seiner Frau und damit im Bildnis den wahren Grund ihrer Wehmut und seiner Ahndungen. Die manifest gewordene Missstimmung verbietet jede weitere Verklärung der Gegenwart in der eskapistischen Perspektive eines im antizipierten Rückblick abgerundeten Lebenslaufs. Jetzt kom-

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men bei Waller nurmehr authentisches Gefühl, Wut, Hass ebenso wie Selbsthass und Verachtung zum unmittelbaren Ausdruck. Die äußerste Verzweiflung bricht in die bürgerliche Idylle der Wallers ein und lässt diese endgültig als eine – wenn man so sagen kann – nach außen gewölbte Leidverleugnung erscheinen. Im Wirbel der Affekte fühlt Waller sich zunächst von einer „unbekannte[n] Gottheit“ (TA 245) zum Selbstmord gedrängt, bevor sie ihn in die „süß[e]“ Stimmung der Rache versetzt, als er sich aus seiner „fühllos[en]“ Erstarrung zu „Eis“ und „Stein“ (ebd.) zu lösen beginnt. Erst die unter dem Schock des begangenen Mordes einseitig aufgekündigte Selbstverklärung kühlt die bisher künstlich erwärmte Stimmung in seiner Beziehung zu Louise auf ein kommunikationsfähiges Niveau herunter. Auf diesem wagt Louise es schließlich doch noch, die Wahrheit zu sprechen. Als sie Karls Frage verneint, ob sie Ferdinand „noch“ immer liebe, stellt er sie „mit schrecklicher Kälte“ vor die vollendete Tatsache von dessen Tod, für den er sie ebenso verantwortlich macht wie für seine „Verzweiflung“. (TA 249) Als Louise sich entsetzt zeigt und dem „Mörder“ die ihm gebührende „mitleidige Verachtung“ und ihren „Haß“ zeigt, verfällt dieser erneut „in Verzweiflung“ und schließlich in die „verrückt[e]“ (ebd.) Stimmungsexplosion der Raserei, aus der heraus er sie ersticht. Ein letztes Mal möchte er sich mit ihrer Hilfe aus dem realen „Unglück“ in die Träume eines erlogenen Glücks retten, muss aber nun „bitter“ eingestehen, wozu er bislang zu schwach gewesen ist: „O alle meine Freuden sind nur ein Traum gewesen, erst seit heute bin ich erwacht!“ (TA 250) Sein abschließendes generelles Leidensbekenntnis einschließlich Selbstmitleid führt ihn zur Klage über das „Schicksal“ und „die bösen Geister [s]einer Ohnmacht“, die ihn in der „kalt[en]“ und „leer[en]“ Stimmung eines „Mörders“ zurücklassen, dem unter der Last der Schuld die „Bedeutung“ dieses „Wortes“ und des Todes selbst sich zu entziehen beginnt. (TA 251) Die gewaltsame Auflösung der tragischen Verwicklung in Mord und Verzweiflung ist weder neu noch dramaturgisch interessant, aber ihr szenischer Ausgangspunkt an einem verstimmten Klavier ist für uns bedeutsam. Die Gewalt, die von Musik ausgeht, hat Kleist zum Untertitel seiner heiligen Cäcilie und Gess (2006) zur Perspektive einer Analyse von Musik und Literatur um 1800 gemacht, worin das Gewaltige von Verführung und Lust über Bilderzeugung bis zum Gewaltsamen reicht. Im Abschied ist das musikalisch metaphorisierte Gewaltsame unter dem Aspekt der Stimmung als Ausgang eines Abends konfiguriert, der mit einer unterschwellig gereizten und oberflächlich zwangsberuhigten Stimmung eines Ehepaares beginnt, dessen labile Beziehungskonstruktion von einem ominösen Dritten leicht ins Wanken und binnen Stunden zum Einsturz gebracht wird. Denn dieser Dritte ist kein beliebiger Störfaktor, der eine ansonsten zu zweit gut ausbalancierte Stimmungsökonomie parasitär anzapft und von außen destabilisiert. 20 Vielmehr geschieht dies im Einklang mit der sich autonom generierenden Zeit dieses Dramas von innen her, insofern er seit je der Geheimagent der Missstimmung war, der aus seiner Deckung im Gemälde die Intimität des Paares parodiert. Mit falscher Identität von Louise in die idyllisch verengte Bürgerstube eingeschleust, hält zum einen sein Anblick im Medium des Bildes das Bewusstsein ihrer Komplizenschaft wach; zum anderen bewahrt sein Blick die Erinnerung an die Verbindlichkeit einer unerfüllt gebliebenen Liebe. 20 Zur Theorie des parasitären Dritten Serres 1981.

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Überhaupt möglich ist dieses durch eine emotionale Notlüge initiierte, sodann als chronische Wehmut praktizierte Ehegeheimnis nur aufgrund der Nichtanstößigkeit einer Gefühlsbindung an einen verstorbenen Bruder. Dieses allenfalls familienpsychologisch, nicht aber gesellschaftsmoralisch bedenkliche Dauerandenken ist indes nur die getarnte Version einer ganz anderen Präsenz von phantasmatisch intakter Vergangenheit, welche unerkannt die ehelichen Gegenwartsverhältnisse weitgehend mitbestimmt. Es sind Louises angesichts des Bildnisses wiederkehrenden melancholischen Verstimmungen, welche Karl zwar misstrauisch machen, ihn aber zu seiner überkompensatorischen Stimmungsmache in Sachen Eheglück animieren. So ist das unverhofft prekäre Auftreten des Ex-Liebhabers vor allem ein personifiziertes Auftauchen der verklärt verdrängten Vergangenheit in der Gegenwart der Wallers und als solches dazu geeignet, deren latente Verstimmtheit dramatisch in Szene zu setzen. Das Heraustreten der Wahrheit aus dem Bild überführt nicht nur Louise einer Ehelüge, was gleichsam nicht so tragisch wäre, sondern lässt die Ehe aus ihrer unterschwelligen Konflikthaftigkeit und in ihrer scheinharmonischen Stimmung insgesamt als Szenerie der Verlogenheit auffliegen. Diese die Undeutlichkeit von Stimmungen überwindende Wahrheit ist aber nur die der Wallers. Indes besteht das Verhältnis zwischen Louise und Ferdinand seinerseits nur aus Stimmungen, wenn auch erfolgreicher kommunizierten, hinter welche die Frage nach dessen Wahrheit wiederum zurücktritt. Wenn Louise sich nämlich der gebrochenen Treue auch gegenüber Ferdinand bezichtigt, verrät sie etwas von der Unstimmigkeit ihres Glaubens, in der Beziehung zu ihm die Verlassene gewesen zu sein und nur deshalb in die Ehe mit Waller eingewilligt zu haben. Ihr Schuldbewusstsein beiden Männern gegenüber ist Ausdruck ihres tatsächlichen Schwankens zwischen diesen, das sich je nach aktueller Stimmungslage zu dem einen oder anderen neigt. Denn auch in der scheinbar tiefer verwurzelten früheren Liebe ist nicht deren Erfahrung für ihre Protagonisten entscheidend. Vielmehr erscheint ihre Beziehung als bloßer Effekt einer rhetorisch erzeugten und medial bewahrten Stimmung, so dass diese nicht auch umgekehrt als authentischer Ausdruck der Beziehung gelten kann. Ausdrucksmedium abgründiger Gefühle ist die Stimmung allerdings insofern, als dass sie den Abgrund zwischen Du und Ich überbrückt, in welchem die Gefühle verschwinden. Die Stimmung tritt aber nicht nur an die Stelle der Gefühle, aus deren Innerlichkeit sie hervorgegangen ist, sondern vertritt auch die im raum-zeitlichen Außen herrschende Atmosphäre, aus deren Wahrnehmung sie ebenfalls hervorgegangen ist. Es ist diese zweiseitige Verselbständigung der Stimmung gegenüber den subjektiven Gefühlen und objektiven Situationen, aus welchen sie sich zusammengesetzt hat, um sie auf etwas Drittes hin zu überschreiten, was weder das eine noch das andere, sondern sie selbst ist: Wahrnehmungs- und Darstellungsmedium zugleich. Denn zum einen nimmt Subjektivität sich in ihrer Stimmung als medial verfasste wahr, insofern sie sich als konstitutiv abkünftig von objektiven Gegebenheiten erfährt. Diese sind ihrerseits vom Wahrgenommenwerden konstitutiv abhängig, insofern sie sich in der Stimmung als medial verfasste Realität präsentieren. Zum anderen ist es die Stimmung, mit welcher diese wechselseitige Konstituierung der jeweils medial verfassten Subjektivität und Realität als dynamische Wahrnehmungsbeziehung performativ dargestellt wird.

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In dieser poetologischen Perspektive einer eigendynamischen Stimmung ist auch die Eskalation des dramatischen Geschehens in Tiecks Abschied besser verständlich. Denn in ihm vollzieht sich auch der Abschied von der Vorstellung einer prinzipiell jederzeit – und das heißt auch unter den vertrackten Bedingungen fataler Zufälle noch – möglichen Verständigung der Subjekte untereinander. Der mit hypochondrisch suizidalen Zügen versehene Ferdinand Ramstein geht im narzisstischen Selbstgenuss seines Abschieds von Leben und Liebe ebenso auf, wie der sich um sein imaginiertes Glück betrogen fühlende Karl Waller in seiner affektgepeitschten Eifersucht. Indes geht es der zwischen beiden hin- und her gerissenen Louise mehr um die exaltierte Hingabe an die situativen Stimmungen als um eine für alle Beteiligten aufklärende Herbeiführung einer Entscheidung. Unter diesen Umständen einer unbewusst preisgegebenen Verständigung liegt die Tragik des Abschieds nicht mehr im fatalen Handlungsverlauf, sondern im eruptiven Stimmungsexzess. Da dieser seine Wucht ungehindert von moralischen Kontrollmechanismen diesseits wie jenseits der Vernunft entfalten kann, ist es durchaus konsequent, die unter dem Handlungsaspekt allein forciert wirkende Auflösung des tragischen Knotens in gewaltsamen Affekthandlungen enden zu lassen. Erst in einer solchen zwischenmenschlichen Katastrophe kommt die Wirkungsmacht der unkontrollierbaren Stimmung zum Vorschein und lässt das Triviale einer Ehekrise samt der durch Hinzutreten eines Dritten ausgelösten Turbulenzen bis hin zum Doppelmord aus Eifersucht in den Hintergrund treten. Der ästhetische Preis für die Fokussierung auf das dramatische Stimmungsmoment freilich ist das Schwülstige, das solcher schauerromantischen Verdichtung anhaftet. Durch sie jedoch wird die bis zur Kritik der Empfindsamkeit unverdächtig gebliebene Sentimentalität auf ihre (über-)kompensatorische Funktion hin durchschaubar (Leidverdrängung, Verleugnung von Unsicherheit usw.). Das Schwülstige treibt auch die Kehrseite der Sentimentalität hervor, welche in den prominenten Versionen des Unglücklichseins als Zerrissenheit, Einsamkeit, Wahnsinnigwerden bis hin zum romantischen Frühtod sich der mentalitätsgeschichtlichen Physiognomie der kommenden Epoche einschreiben wird. Unter dem hier poetologisch gefassten Aspekt der (Ver-) Stimmung wird erkennbar, dass der Abschied einen Schritt in Richtung ästhetischer Moderne bedeutet, insofern die Subjektivität der Figuren darin als ebenso ungesichert zur Darstellung kommt wie die intersubjektive Ordnung ihrer Realität. An die Stelle substanzieller Erfahrbarkeit von Subjektivität sowie rationaler Verständigung über Realität tritt deren prekäre Vermitteltheit durch Stimmungen. Diese lassen Dissens hinter vermeintlichem Konsens und Diskordanz unter dem Schein von Konkordanz spürbar werden. Die Dramatisierung dieser Medialität von Stimmungen zeigt deren ontologische Struktur als eine solche, die einen subliminalen Beziehungsraum zwischen dem Innen und Außen von Wahrnehmung organisiert. In diesem trägt sich der tragische Konflikt gleichsam von selbst aus, was auf die Affektdramatik Kleists vorausdeutet, in der die Subjekte hinter die Aktivität ihrer extremen Gefühle zurücktreten. Indem eine solche wahrnehmungsmediale Art von Stimmung im Abschied zum Gestaltungsprinzip erhoben wird, lässt sich ein ästhetischer Ausgangspunkt für Tiecks folgende Lyrik wie auch für seine Ironiepoetik erkennen, welche die Wirklichkeit als melancholisch heiteres Schweben über dem Abgrund des Nichts konzipiert. Damit

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deutet sich beim jungen Tieck eine aufschlussreiche Funktion von Stimmung für sein folgendes Oeuvre und die europäische Romantik21 insgesamt an.

21 Zur Bedeutung von bestimmten Stimmungen für die Romantik in komparatistischer Perspektive siehe Pfau 2005.

III. Die intermediale Anfangskonfiguration. Die weitere Entwicklung der Stimmung im Werk Tiecks. Seine Lyrik in der Frühromantik

Mit der Platzierung des verstimmten Klaviers im Zwischenraum der Figuren materialisiert sich im Abschied die Stimmung als dramatisches Medium und wird als solches selbstreflexiv. Die Musik erscheint als der Fluchtpunkt einer in Dialogform unmöglichen Sprachwerdung von Empfindungen, von der Hartknopf sich eine gelingende Kommunikation der Herzen (Konkordanz) versprach. Mit der in den Dialogen der untereinander Verstimmten verfehlten Konkordanz verliert die Rede am Beispiel der beiden Männer ebenso an Kredit wie die Stimme der Frau (mit ‚gepreßter Stimme‘) als Organ für die Herstellung von Harmonie. Es ist die Oralität von Sprache, die im Gegensatz zur Musik wie ein gebrochenes Versprechen zur Darstellung kommt. Die im Lesedrama schriftlich simulierte Oralität verliert insbesondere als Medium gegenüber der Stimmung an Bedeutung. Erst durch die Stimmungen wird im Abschied kommuniziert, was wirklich ist, aber auch dargestellt, wie die Rede zwischen den Personen anderes sagt als sie selber meint. Zu dem Befund der dramatischen Medialität von Stimmungen in Tiecks Abschied zählt aber auch, dass sie ihren Ausgang im Zusammenspiel zweier anderer Medien nimmt, dem klangästhetischen der Musik und dem visuellen der Malerei. Am Anfang war hier nicht das Wort einer oder mehrerer Figuren, sondern die falschen Töne des verstimmten Klaviers, das Louises und Wallers Rede auslöst. Und über diesem zu stimmenden Instrument hängt ein Gemälde, das die Verstimmung des Klaviers reflektiert und die emotionale Grundierung der Verstimmung zwischen dem Paar in der bürgerlichen Wohnstube abbildet. Diese intermediale Konfiguration von Musik, Malerei und Sprache ist also das literarische Mittel, mit dem die Anfangsszene als Stimmung dargestellt wird. Daraus entwickelt sich das folgende Geschehen als eine tragische Verkettung von Handlungen und Blicken, Erinnerungen und Worten, Befürchtungen und Hoffnungen und dynamisiert sich zu einem einzigen emotionalen Vorgang, an dem alle drei Personen Anteil haben ohne ihn steuern zu können. Somit ist die anfänglich konfigurative Stimmung nicht nur Auslöser der Stimmungen als emotionaler Vorgang in den Personen, sondern sie wird selbst zu dem performativen Vorgang, der den tragischen Verlauf bestimmt. Danach scheint die Stimmung ein besseres Erklärungsmodell für die Fatalität abzugeben, als das in der Forschung bis

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heute angeführte aber schon von Tieck für Der Abschied und Karl von Berneck bezweifelte Schicksal.1 Für diese beiden frühen Stücke hat erstmals Jacob Minor 1883 den zuvor für Tragödien von Aischylos eingeführten Begriff der Schicksalstragödie verwendet und Kremer (2007, S. 229f.) schließt sich dem an, indem er die drei von Werner aufgestellten Grundregeln anführt: „1. Das Schicksal vollzieht sich als Erfüllung einer Voraussage. 2. Die Schicksalsgebundenheit der Personen wird durch das ganze Stück hindurch betont. 3. Das Schicksal ist metaphysisch verknüpft mit ‚fatalen Sachen‘“. (Werner 1963, S. 15) Da Der Abschied diese Kriterien kaum erfüllt, sollte das Stück auch nicht als „Prototyp des romantischen Schicksalsdramas“ (Kremer 2007, S. 230) klassifiziert werden, um seinen starken Einfluss auf die Dramen der Romantik (Kleist, Grillparzer, Werner, Houwald, Müllner) zu begründen. Dass sich der Einfluss Tiecks durch die poetologische Bedeutung der Stimmung besser erklären lässt, liegt im übrigen durchaus auf der Linie von Kremers eigenen Ausführungen zu Tiecks einflussreichem Stück Leben und Tod der Heiligen Genoveva (1800) „als Pradigma des historisch-mythologischen Universaldramas der frühen Romantik“. (2007, S. 233-38) Zunächst ist zu bemerken, dass die mystischen, spirituellen bis „somnambulen“ sowie „fragilen“ und sinnlichen Grundzüge der Genova sie „als empfindsame, zur Schwermut neigende Persönlichkeit“ (ebd. 235) und damit psychologisch als eine stimmungsaffine Figur ausweisen. Wichtiger aber ist der Bezug zur Malerei, der im Abschied durch das Gemälde über dem Klavier erstmals für die dramatische Konfiguration von Stimmung eingesetzt wurde. Denn in der Genoveva wie zuvor in Franz Sternbalds Wanderungen und den mit Wackenroder ‚sympoetisch‘ geschriebenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders wird die Malerei zum zentralen ästhetischen Bezugspunkt, von dem aus Stimmungen dramatisch bzw. erzählerisch organisiert werden. Poetologisch subtiler im Vergleich zur oben im Ardinghello angesprochenen Verbindung von Malerei und Erotik führt Tieck seine spätere Dramenfigur bereits im Sternbald in Form eines Bildes ein, aber erst nachdem Franz „die Geschichte der heiligen Genoveva“2 gehört hatte. In diesem Bild überlagern sich die Züge der heiligen Maria mit denen der späteren Geliebten des Helden, der das Bild restaurieren soll. Kremer sieht in diesem Bild den „Ausgangspunkt einer umfassenden Erotisierung des Textes“ (2007, S. 236) und damit in einer ähnlichen poetologischen Position wie wir das Bild über dem Klavier im Abschied zum Ausgangspunkt einer durchgängigen Verstimmung erkannt haben. Wie hier die Stimmungen musik- und bildästhetisch eingeführt und selber zum Medium werden, so ist auch im Drama Genoveva die aus den Spannungen von Begehren und Keuschheit, Sinnlichkeit und Mystik hervortreibende Erotik wie auch das Religiöse als deren spirituelle Kehrseite bildästhetisch gebunden. Mit Blick auf die enge 1

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So merkt Kremer in diesem Punkt etwas unschlüssig an: „Tieck selbst hat die Bedeutung des Schicksals für diese beiden Stücke in der Vorrede zum elften Band der Schriften von 1829 zwar stark relativiert (vgl. Tieck 1829 XI, XXXVII; Thalmann 1919, 24; Hölter 1991, S. 958-966, 1039-1044), wie für romantische Prosaformen und die Komödie gehen die ersten entscheidenden Impulse für das romantische Schicksalsdrama jedoch tatsächlich von Tieck aus.“ (2007, S. 230) Ludwig Tieck, Frühe Erzählungen und Romane, hrsg. v. Marianne Thalmann, München 1963, S. 214.

III. D IE INTERMEDIALE A NFANGSKONFIGURATION

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Bindung von Bildlichkeit und Figurengestaltung der Genoveva empfiehlt Kremer – einmal abgesehen von aller „Psychologisierung“ – eine Lektüre „als literarisch ausgeführte Ikone [...], die merklich einem Bild entstammt und entsprechend schnell wieder bildliche Gestaltungen provoziert hat, wie die frühnazarenischen GenovevaIllustrationen der Brüder Riepenhauer aus dem Jahr 1805 dokumentieren (vgl. L. Stockinger 2000, 90).“ Neben der Spiegelung von Figur und Bild der Genoveva wird die verklärende Stimmung durch das Einfügen von Gedichten und Liedern erzielt, wobei das Musikalische noch durch Gesang verstärkt wird. Ausgehend von der Bedeutung der Stimmung und ihrer Darstellung durch plurimediale Referenzen im Abschied lässt sich die Weiterführung dieses poetologischen Konzepts nicht nur in den frühromantischen Dramen- und mehr noch den Prosatexten (William Lovell, Die Freunde, Sternbald; Herzensergießungen) Tiecks beobachten, sondern auch an seiner Lyrik. Diese war in den Jahren kurz vor und nach 1800 indes in die erzählenden und dramatischen Texte eingebunden und entsprach damit der universalpoetischen Idee der Auflockerung, Mischung und Hybridisierung der Gattungsformen.3 Poetologisch zentral ist in den Gedichten die Stimmung als ein der Musik abgelauschtes und gleichsam für Natur gehaltenes Moment ästhetischer Eigendynamik. Dieses überschreitet die semantisch hergestellten Beziehungen (u.a. zwischen lyrischem Ich und Landschaft, lyrischem Du und Liebe, Einheit und Vielheit, Musik und Sehnsucht, Leib und Wald) auf die reine Beziehung, d.h. den Raum zwischen den sich auflösenden Relaten hin. Ein Beispiel hierfür ist eine berühmte Gedichtstrophe, die erstmals im Drama des Kaiser Octavianus (1805) erschienen ist: „Mondbeglänzte Zaubernacht, Die den Sinn gefangen hält, Wundervolle Märchenwelt, Steig’ auf in der alten Pracht“. 4

Was hier mit dem umfassenden Reim und vierhebigen Metrum (Trochäus) formal so kompakt wirkt, ist inhaltlich umso weniger festgelegt. Stillgestellt (gefangen) ist im Eindruck des erhabenen Naturspektakels (Mondbeglänzte Zaubernacht) die Bewegung des Sinns als ebenso geistige wie sprachliche Bedeutungsgenese. Stattdessen scheint die Wahrnehmung durch die Sinne musikalisch verlebendigt, so dass sie in die immer noch sinnliche und doch schon phantastische Imagination übergeht (Wundervolle Märchenwelt). In dem Maße wie das Wundervolle sich vom SinnlichSituativen abzulösen beginnt, setzt die Vertikalbewegung einer Stimmung ein, die aus psychokulturell ‚altem‘ aber ästhetisch umso wertvollerem Material (alten Pracht) schöpfen kann. Der tiefenstrukturelle Take off der Stimmung ist im letzten 3

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Im Sternbald sind vor allem folgende Gedichte zu nennen: In die Ferne geht die Liebe (Tieck 1963, S. 752f.); Wohlauf es ruft der Sonnenschein... (ebd. 831); Erwacht ihr Melodien (ebd. 859); Holdes holdes Sehnsuchtsrufen... (ebd. 864f.); Lied von der Sehnsucht (ebd. 935f.); Lied von der Einsamkeit (ebd. 947f.); Die Phantasie (ebd. 951f.). Ludwig Tieck, Gedichte, in: Schriften. In 12 Bänden, hrsg. v. Hans P. Balmes, Manfred Frank [u.a.], hrsg. v. Ruprecht Wimmer, Bd. VII Frankfurt a.M. 1995, S. 154. Zitate im laufenden Text mit römischer Bandzahl und arabischer Seitenzahl.

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Vers formal noch dadurch angetrieben, dass der Versfuß gewissermaßen zwischen dem Trochäus aber nun ebenso möglichen Jambus am Zeilenanfang in die Schwebe gerät, da die normale Wortbetonung auf „auf“ und nicht auf „Steig‘“ fällt. Mit Bezug auf Ribbat (1978, S. 116f.) bemerkt Kremer, dass Tiecks Naturmetaphern wie hier „Zaubernacht“ oder „Waldeinsamkeit“, „blaue Blume“ sowie die Metaphorik der Liebe keine „mimetische Beziehung zur Natur“ unterhalten. (2007, S. 292) Vielmehr seien sie „allegorische Chiffren“ (ebd.), deren vagen Referenzwerte eine allenfalls schwebende Bedeutung generieren. Im Unterschied zur oben diskutierten Allegorie, die Moritz als experimentelle Gattungsbezeichnung für seinen Roman Hartknopf gewählt hat, wird die Bedeutungsschwebe bei Tieck viel stärker mit der lyrischen Form korreliert, im eben besprochenen Beispiel durch das umfassende, die semantische Levitation erleichternde Reimschema und das trochäische Versmaß. Damit verschiebt sich auch die poetologische Bedeutung von den inhaltlichen Stimmungsmomenten in den Beziehungen zur Natur oder Welt, in der Liebe oder Freundschaft hin zu formalen Stimmungsmomenten. Was im Hartknopf – einmal abgesehen von den situativ konfigurierten Stimmungsszenen – in die erzählten Gespräche und Gedanken verlagert wird, namentlich ein Augenblickserleben von Einheit mit dem anderen oder von Ganzheit der Welt, ist in Tiecks Lyrik der Ästhetik poetischer Sprache eingelagert. Was Hartknopfs Ideen der intimen Gesprächsführung, poetischen Deklamation und musikalischen Seelenheilung mit Tiecks lyrischer Imagination allerdings verbindet, ist die – hier performative dort diskursive – Betonung des ästhetischen Vollzugscharakters von Stimmungen. Während im Roman bei Moritz und in ähnlicher Weise bei Heinse, Jean Paul, Wackenroder und Tieck selbst über die ‚Musik als Sprache der Empfindungen‘ theoretisiert wird, versucht die Lyrik Tiecks und schon Goethes (Sesenheimer Lieder), dann Brentanos und Eichendorffs die ‚Musik als Sprache der Empfindungen‘ zu praktizieren, d.h. melodische und rhythmische bzw. klang- und tonästhetische Qualitäten sprachlich zu formalisieren. Dies gilt eben noch nicht für die schon bei Moritz eingefügten Lieder (z.B. Morgenlied; Lied der Weisheit). Tieck indes versucht die sprachliche Formalisierung von Empfindungen nach dem Modell der Musik bis zu einer Vertextung der komplexeren Stimmungen zu treiben, indem er deren musikalischen (consonantia, symphonia), emotionalen (sympatheia, concordia) und atmosphärischen (Harmonie der Sphären) Bedeutungsdimensionen ineinanderblendet. Dies zeigt sich zum Beispiel hinsichtlich der musikalischen und der emotionalen Bedeutung in der 6. Strophe des Gedichtes „Sanft umfangen...“ im Sternbald: „Geht die Liebe wohl auf deinem Klange Ist sie’s, die deine Töne rührt? Und dieses Herz mit strebendem Drange Auf deinen Melodien entführt?“ (Tieck 1963, S. 983f.)

Die drei Emotionssubstantive Liebe – mit pronominaler Wiederholung „sie“ – Herz und Drang einerseits, anderseits die drei Musiksubstantive Klang, Töne, Melodien sind alternierend auf die vier Zeilen verteilt. Dieser inhaltliche Wechsel wird formal durch den Kreuzreim reflektiert und noch durch die für das Reimschema unnötige Wahl des Dativ mit „e“ zugunsten eines weicheren Ausklangs in Zeile 1 und 3 gegenüber dem härteren Ausklang in den Zeilen 2 und 4 verstärkt. Das Zusammen-

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spiel aus Klang und Liebe wird schließlich durch das Verb rühren, das Saiten ebenso wie Seelen betreffen kann, und Verben der Bewegung (geht), Dynamik (streben, zumal mit Drang) und Dramatik (entführt) konnotierende Verben dirigiert. Durch solche formale Organisation einer Variabilität von außersprachlichen Referenzen auf dem kurzem Raum von vier Verszeilen geraten die Bedeutungen ins Schweben und es stellt sich beim Lesen das Gefühl eines zugleich emotionalen und performativen Vorgangs ein, den wir als Stimmung bezeichnen.5 Manfred Frank hat die sprach- und klangästhetischen Strukturen der Tieckschen Lyrik sehr genau untersucht und die Beziehungen zwischen den kleinsten Formelementen als einen differentiellen Prozess beschrieben, in dem die Bedeutungen unter der lyrischen Signifikantenkette ins Gleiten geraten (Lacan) und der Sinn eines Gedichts in einem ambivalenten Schwebezustand arretiert erscheint. (Frank 1972) Diese semantische Infixibilität sieht Frank bei Tieck mit einer Strukturbewegung der Zeit verbunden, die seine Lyrik durch eine musikalisierte Sprache formalisiert. Auf der Basis seiner poststrukturalen Lesart gelangt Frank zu subtilen Textdeutungen sowie einer semiologischen Erklärung der Tieckschen Ironie. Demgegenüber behauptet Kremer, nachdem er gerade erst eine „tendierte Auflösung der referentiellen Funktion der Sprache und ihre Musikalisierung in Tiecks Lyrik“ konzediert hat: „Sprache nimmt Maß bei der Musik, aber sie bleibt selbstverständlich im Rahmen semantischer Sinnkonstitution.“ (2007, S 292) Dieser Rahmen jedoch wird bei Frank durchaus durchbrochen und Tiecks Sprache in ihrer romantischen Analogie zur Musik als ein symbolischer Prozess beschrieben, in dem das Prozesshafte der Zeit die Symbolfunktion auf struktureller Ebene korrumpiert. Damit aber droht weder ein hermeneutischer Bankrott für den Interpreten von Tieck, noch verliert sich dessen Lyrik in ästhetizistischer Sinnleere, wie Kremer angesichts Franks Lesart zu befürchten scheint. Vielmehr ist in der Auflockerung des semantischen Konstitutionsgrunds zu einem strukturalen Feld flottierenden Sinns das poetologisch Innovative und eine Erklärungsmöglichkeit dafür zu sehen, dass mit dem ästhetischen Begriff der Stimmung Tiecks musikaffine Lyrik sinnvoll analysiert und am besten charakterisiert werden kann. Diesen Zusammenhang erkennt Kremer nicht oder lässt ihn nicht gelten, obwohl er Tiecks Lyrik vom „Moment der Stimmung“ gekennzeichnet sieht. Jedoch ist die Auflösung der Selbstverständlichkeit im Verhältnis von Zeichen und Bedeutung, Wort und Ding, Sprache und Empfindung gerade das, was mit Stimmung poetologisch erfasst werden kann, während es sich dem sinnzentrierten Zugriff entzieht. Franks zeitstrukturell ausgerichtete Gedichtanalysen arbeiten mit einem semiotischen Beschreibungsmodell, dessen poststrukturale Pointe darin gesehen werden kann, dass sie das lyrische Moment markiert, mit dem sich der Raum der Stimmung als die Formbewegung einer von seinen Relaten freigesetzten Beziehung öffnet und entsprechend analysieren lässt. Wie innovative Metaphorik konventionelle Bildfelder entgrenzt, formal gesprochen: wie die Begrenzung der Anzahl von Strukturelementen durch deren freie Kombinatorik aufgehoben wird, 5

Weitere für Stimmungslektüren geeignete von Tieck sind im Bd. VII seiner Schriften (Seitenzahl in Klammern) z.B.: Wahn und Rausch (17), Leben (19ff.), Trauer (21), Der neue Frühling (22), Nacht (25), Auf der Reise (26), Gefühl (37), Waldhornsmelodie, Andacht (41), Süße Ahnung (46), Der Wald (47), Gefühl der Liebe (82), Zuversicht (85).

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so bezieht die Stimmung ihren ästhetischen Reiz aus der Verflüssigung der Strukturbeziehungen (Innen/Außen, Ich/Welt, Leib/Seele, Subjekt/Objekt), aus denen sie hervorgeht. Nicht nur, aber besonders Stimmungen in der Lyrik figurieren keine feststehenden und als solche dekodierbaren Bedeutungen, sondern deren Fließen zwischen wechselnden Referenten. Stimmungen wissen nicht, was sie bedeuten, und zumeist nicht einmal welches Gefühl sie sind, wohl aber, dass sie Gefühl sind. Die musikalische Versprachlichung solchen Gefühls erfolgt bei Tieck durch eine virtuose Variierung im Gebrauch einer begrenzten Anzahl von Metaphern oder semiologisch verallgemeinert: von Signifikanten. (Vgl. Kremer 2007, S. 288; Wimmer 1995, S. 556) Im Anschluss an Hillmann (1971) spricht Kremer sogar von einer „stereotypenhafte[n] Verknappung“ des semantischen Bestandes. (2007, S. 292) Damit geht indes keineswegs eine Vervielfältigung der lyrischen Ichanteile einher, wie Gnügs6 Analyse des Gedichts Wie soll ich die Freude aus der Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von der Provence (Tieck VI, 247-305, darin 267f.) zeigt. Die oben für die Stimmung geltend gemachte Verflüssigung ihrer Referenzen und ins Schweben gebrachten Bedeutungen beobachtet Gnüg (1983, S. 104) an der Auflösung eines konstitutiven Subjekts im „tiefe[n] Strom der Zeit“ (Tieck VI, 268), dem formal „Assonanz, Vokalharmonie und Liquidhäufung“ entsprechen. (Vgl. Kremer 2007, S. 291) Stimmungspoetisch wird in diesem Gedicht gegenüber der Auflösung des subjektiven Innenraums eine Weitung des Außenraums realisiert: „Nein, der Strom wird immer breiter, / Himmel bleibt mir immer heiter“. (Tieck VI, 268) Dies gilt auch für das letzte Gedicht in der Schönen Magelone (Treue Liebe dauert lange..., Tieck VI, S. 299f.), an dem Gnüg das Zeitbewusstsein in seiner Spannung zwischen Vergänglichkeit und Transzendenz in der Liebe analysiert. Von der Liebe geht in der 3. Strophe eine atmosphärische Wirkung aus, die mit der gleichen Metapher wie in der ‚mondbeglänzten Zaubernacht‘ („Sinn gefangen“) die Enge des Bewusstseins zum Stimmungsraum der Welt öffnet: „Und wie Nebel stürzt zurücke Was den Sinn gefangen hält, Und dem heitern Frühlingsblicke Öffnet sich die weite Welt.“ (Tieck VI, 300)

Diese in der Lyrik Tiecks und später auch bei Brentano und Eichendorff zu beobachtende Öffnung des ‚Sinns‘ für die ‚Welt‘ als einem atmosphärischen Raum, der sich auf diese ästhetische Weise erst bildet, ist in den Forschungsperspektiven der Subjektivität, Zeitlichkeit und Musikalität zu wenig berücksichtigt worden. Entsprechend wurde auch die romantische Natur als ein phänomenologisches Ensemble von Lebendigem mitunter auf die Subjektseite verschoben, so dass die Stimmung dann im „Gemüt des Menschen“ (Kluge 1969) angesiedelt und als Spiegel der Natur aufgefasst wird. Dennoch hat sich für die Kennzeichnung der Lyrik Tiecks der Begriff der Stimmung auch im Sinne von dessen „Ideal einer rein musikalischen Zusammensetzung“7 erhalten. Entsprechend wurde zuletzt von Kremer der Stimmungsbegriff auch 6 7

Gnüg 1983, darin zur Stimmung S. 39ff. Tiecks Minnelieder zit. n. Kremer 2007, S. 289.

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wieder in einer differenzierten Weise verwendet, die einen „synästhetischen Abgleich von subjektiver und objektiver Sphäre“ bei Tieck beobachtet. (2007, S. 290) Insofern die „poetische Sprache selbst das Medium der Verschmelzung von Subjekt und Objekt“ ist, zielt sie auf „die Erzeugung einer ‚Stimmung‘ im Leser bzw. Hörer, die wesentlich durch die Balance von Empfindung und imaginativem Bild charakterisiert ist“ (ebd.). Dadurch sei der Sache nach eine Überschneidung mit Novalis’ Poesiekonzept der „Gemütherregungskunst“ gegeben, das zuletzt für die gegenwärtige Stimmungsforschung von Jacobs (2013, S. 127-165) untersucht wurde. In seinem Romantikbuch mit dem hier wiederholt angesprochenen Abschnitt „Das Moment der Stimmung in Tiecks Lyrik“ verweist Kremer schließlich auf die in der Tieckforschung sichtbar verankerte Verwendung des Stimmungsbegriffs. (2007, S. 288f.) Der genannte Kluge (1969, S. 340) spricht von „musikalische[r] Stimmungslyrik“ ähnlich wie Ribbat (1978, S. 112) und vor diesen Böckmann (1966), aber auch Bohrer (1998, S. 38ff.). Vor allem aber ist Gerhard Schulz zu nennen, der wiederholt von „Stimmungen, die den Sternbald durchwalten“, von „scheinbar nur auf einfachste Seelenstimmungen ausgehenden Gedichte[n]“ und von „Tiecks Stimmungsenthusiasmus“ (Schulz 2000, S. 620ff.) schlechthin spricht. Während Tiecks lyrischer ‚Stimmungsenthusiasmus‘ von Möglichkeiten der synästhetischen Vermittlung von innerer und äußerer Harmonie, von poetischer Rede und der ‚Stimme der Natur‘, ja von der Seele des Einzelnen und dem Weltganzen etwas ‚ahndet‘, verirrt sich in der Waldeinsamkeit der Sinn für solche Möglichkeiten poetischer Stimmung, und ‚geahndet‘ wird das Abgründige der Möglichkeit einer vollkommenen Verstimmung der Welt. In ihrer ersten, im Kunstmärchen Der Blonde Eckbert von einem Vogel gesungenen Variante, klingt die Waldeinsamkeit trotz anklingender Bangigkeit noch naturharmonisch genug, um ihren Aufstieg zum Emblem der folgenden Romantik nicht unbegreiflich zu finden: „Waldeinsamkeit / Die mich erfreut, /So morgen wie heut / In ewger Zeit, / O wie mich freut / Waldeinsamkeit.“ (Tieck VI, 132) Hier wird das Lied von Eckberts Frau Bertha als eine Kindheitsstimmung erinnert, die Teil der Binnenerzählung ist, von der aus die Gegenwart stillgestellt, aber auch einem analytischen Prozess unterzogen wird. Dem entspricht die Zeitstruktur der erinnerten Waldeinsamkeit, in der das Prozessuale sich zur Räumlichkeit der Stimmung aufhebt, Gegenwart und Zukunft in einen sinnfreien Zustand einschmelzen, in dem schiere weltlose Freude herrscht. Beim zweiten Mal scheint diese kindliche, fast beängstigend reine Stimmung von Zeit- und Geschichtlichkeit eingeholt worden zu sein.8 Das nun bei Nacht vernommene Lied mit seiner wunderbaren Freude ist von einer vagen Sorge durchstimmt: „Waldeinsamkeit / Wie liegst du weit! / O dich gereut / Einst mit der Zeit. – / Ach einzge Freud / Waldeinsamkeit!“ (Tieck VI, 139). Die herangewachsene Bertha wehrt den physisch gespürten Einbruch des Realen und Zeitlichen durch eine Art urszenischen Vogelmord zwar ab, führt ihn aber dadurch auch auf somnambule Weise selbst herbei. Dadurch wird sie in die Welt der anderen zurückgeworfen, deren Nähebeziehungen sie einst entfloh. In dieser symbolisch geordneten Wirklichkeit aber sind die Dimensionen der Zeit entfaltet, sie bilden emotional und reflexiv durch8

Vgl. hingegen Bohrers (1998, S. 41-49) Deutung unter dem Aspekt der „Zeit als Stillstand“, einer plötzlich einbrechenden Erfahrung von Präsenz.

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stimmte Zeiträume. In der Zurückgezogenheit des Ehelebens mit Eckbert aber geschieht erst wirklich etwas in der Gegenwart eines Freundes, dem von der lebensgeschichtlichen Vergangenheit der Waldeinsamkeit wie von einem Familiengeheimnis erzählt wird. Die dadurch bedrohlich-symbolisch in Bewegung geratende Symbiose der Eheleute wird durch das einzig nennenswerte Ereignis in der Erzählgegenwart, dem am Freund Walther gleichsam wiederholten Mord, zu stabilisieren versucht. Auf der Flucht in die Natur wird Eckbert vom Schrecken der Wahrheit eingeholt, indem er die letzte Version des Liedes mit seinen „wunderlichen Tönen“ hört: „Waldeinsamkeit / Mich wieder freut, / Mir geschieht kein Leid, / Hier wohnt kein Neid, / Von neuem mich freut / Waldeinsamkeit.“ (Tieck VI, 145) Während in Eckbert die aufbrechenden Einsichten in die Wirklichkeit von Inzest und Mord in seinem Leben zum Wahnsinn führen, trägt die Wiederkehr einer Freude mit Schrecken im Lied der Waldeinsamkeit der romantischen Stimmung einen melancholischen Zug ins Imaginäre ein.

Schluss

Die Untersuchungen der ausgewählten Texte, hauptsächlich von Goethe, Moritz und Tieck, gingen von einem Aufkommen des Phänomens der Stimmung um das Jahr 1770 aus, als in Herders Reisejournal (1769) auch das Wort Stimmung erstmals in einem anthropologischen Kontext auftaucht. Darin wird die musikalische Semantik des Stimmungsbegriffs nur noch metaphorisch gebraucht, namentlich für psychogenetische Früherfahrungen („erste Stimmung“, „erster Tod“) im Zusammenhang einer Reflexion über die kulturelle Prägung des Individuums. Noch bevor das Wort landläufig in Gebrauch kommt und auch bevor der Begriff Stimmung in der Philosophie verwendet und differenziert wird, setzt eine ästhetische Konturierung des Phänomens in der Literatur ein. Wo dies nicht mehr beiläufig der Fall ist, sondern erstmals poetologische Bedeutung annimmt, in Goethes Werther, setzen unsere Textanalysen ein. Im Werther gestaltet sich das, was später Stimmung genannt wird, in Formen der Wiederentdeckung des Gefühls in seiner Phänomenologie der Räumlichkeit und Medialität aus. Da werden implizit Einsichten von Aristoteles’ Wahrnehmungsdenken (aisthesis, metaxü) aufgefrischt, die in dessen Rezeptionsgeschichte verkümmert sind und schließlich von der dualistischen Episteme der Neuzeit überlagert wurden.1 Hingegen explizit knüpft Moritz an das antike Konzept der Sphärenharmonie an, wenn er seinen Andreas Hartknopf als einen autodidaktischen Praktiker in Astronomie und Musik, Platonismus und Rhetorik, Pädagogik und Freimaurerei darstellt, um in den Darstellungsformen ästhetiktheoretischer Exkurse samt ihrer Integration und allegorischer Bezüge das später Stimmung genannte Phänomen zu umkreisen. Bei Tieck schließlich setzt die poetologische Entwicklung der Stimmung in der Gattungsform der Tragödie ein, wo sie ausgehend von dem von Hartknopf und Werther her bekannten Musikmotiv (Klavierstimmen und -spielen) in Kombination mit einem Blick auf ein Gemälde sich zu einer Raum, Zeit und Handlung umschließenden Sphäre dynamisiert. Alle drei Formen verarbeiten Erfahrungen von Liminalität, bringen aber auch unterschiedliche ästhetische Valenzen von Stimmung zur Geltung, die in der historischen Semantik ihres Begriffs lagern oder aber auf dessen moderne Semantisierung vorausweisen: 1

Siehe zur Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte der Aristotelischen Wahrnehmungslehre und deren philosophischer Aktualisierung für das ästhetische Denken der Gegenwart Welsch 1987.

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(1.) Raumästhetik und Gefühlskommunikation im Genre Briefroman mit einer fast exklusiven Ich-Perspektive der Narration (Werther); (2.) Musikästhetik und Integralität im Roman mit der experimentellen Gattungsbezeichnung Eine Allegorie, mit personaler Erzählperspektive, Dialogen und Reflexionen (Hartknopf); (3.) Intermedialität und Performativität im Drama, Zweiakter, Dialoge mit einigen Szenenanweisungen (Abschied). Diese Befunde stellen hier die poetologischen Hauptmerkmale in Verbindung mit der Gattungsform griffig zusammen, während die textnah durchgeführten Interpretationen sehr wohl auch Annäherungen, Friktionen und Überlappungen zentraler Stimmungsaspekte ergeben haben. Insgesamt aber bestätigen die Befunde unsere These, dass es im literaturgeschichtlichen Vorlauf zur begriffssemantischen Entfaltung von Stimmung im theoretischen Diskurs zu poetischen Präfigurationen des Phänomens kommt. Zugleich aber zeigen diese eine signifikante Abweichung von den Theoriefiguren, insofern letztere in der Forschung ausgehend von Wellberys genauen Rekonstruktionen sich auf der begriffsgeschichtlichen Linie einer zunehmenden Subjektivierung von Stimmung bewegen. Zwar bedeutet Subjektivierung nicht ohne weiteres eine konzeptuelle Vereinseitigung auf die innerpsychische Sphäre, jedoch verlagert sich der semantische Schwerpunkt dorthin und weg von objekthaften Verhältnissen. Angefangen bei Kants Einsatz der Stimmung im Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen über Schillers Einbindung ins idealistisches Freiheitsethos bis zu Humboldts gattungspoetischer Stimmungsdifferenzierung verliert die Stimmung an eben jenen Bedeutungsaspekten, die sie über die Ästhetiken des Raums der Natur, des ‚äußeren‘ Gefühls, des Klangs und Naturtons sowie des dramatischen Zwischenraums bei Goethe, Moritz und Tieck gerade auszeichnete. Diese Abweichung unserer literarischen Textbefunde zeigt sich erst recht gegenüber der philosophischen Übernahme von Stimmung in Fichtes absolute Selbsttätigkeit des Subjekts wie gegenüber Hegels Auffassung der Stimmung als das lyrische Moment, das allein aus der inneren Bewegung der Subjektivität heraus wirksam ist. Letzteres steht zumal im Widerspruch zu Tiecks lyrischer Gestaltung von Stimmung in den Klängen und Rhythmen einer Sprache, die sich aus dem Vernehmen der ‚Stimme der Natur‘ her artikuliert und verstanden wissen will, wie unser abschließender Blick auf die in dramatische und erzählerische Texte eingefügten Gedichte zeigte. Da um 1800 der philosophische Diskurs über Stimmung keine verlässlichen Modelle zur phänomengerechten Beschreibung und Analyse von Stimmungen in der Literatur hervorbringt, kann deren Untersuchung auf einem synchronen Feld von Kontextualisierungen kaum fruchtbar sein. Deshalb haben wir unsere theoretische Grundlagenreflexion in Auseinandersetzung mit einem Konzept von Stimmung durchgeführt, das erst gut einhundert Jahre nach Hegels Vorlesungen über Ästhetik (1818) entstanden ist. Heidegger knüpft in Sein und Zeit (1927) zwar an die Weiterführung des philosophischen Stimmungsdiskurses bei Vischer, Kierkegaard, Nietzsche, Simmel und Dilthey an, bricht jedoch mit allen subjekttheoretischen Vorstrukturierungen, die noch in der Lebensphilosophie um 1900 der Einheit des Stimmungsphänomens eine Polarisierung nach innen und außen eintrugen. Dieses in Korrespondenz mit epistemologischen Dualen und psychologischen Grundannahmen verfestigte Raumschema (Innen/Außen) wird durch Heideggers Konzept von menschlichem Dasein als In-der-Welt-sein außer Kraft gesetzt und durch die Phänomenologie des

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existenzialen Raums ersetzt. Darin ist die Stimmung – anders als Affekt, Gefühl oder Emotion – der ontologische Modus der Beziehung zwischen Dasein und Welt, man könnte auch sagen: sie ist dieses Zwischen. Als Existenzial vermittelt die Stimmung das faktische ‚Da‘ des Daseins mit dem In-sein in der Welt, die dadurch in der Form eines Ganzen aufgeht. Heideggers exzentrische und zugleich fundamentale Positionierung der Stimmung macht sie für Fragen der Kunst interessant, insofern in dieser das Leben selbst sich erschließt, vor allem aber in verschiedenen Formen und Medien interpretierbar ist. Deshalb haben wir Heideggers existenzial-ontologische Stimmung eine hermeneutisch-poetologische Fassung gegeben, sie aus dem monothematischen Kontext des Seinsdenkens herausgelöst und sie mit unserer dreistufigen Definition auf literarische Texte in der Vielheit ihrer Formen beziehbar gemacht. Aus seiner seinsphilosophischen Herkunft erklärt sich die generelle Versatilität unseres hermeneutisch gewendeten Stimmungsbegriffes im Hinblick auf materiale Anwendungsbereiche. Da mit dem systematischen Milieuwechsel von der Philosophie zur Literatur zunächst ein Verlust an methodologischer Prägnanz des Stimmungsbegriffs einhergeht, musste über unsere funktional differenzierte Theorieskizze hinaus die historische Perspektivierung eingestellt und auf ein spezifisches Untersuchungsfeld bezogen werden. Dadurch wird eine ins analytisch Undifferenzierte gehende Verallgemeinerung von Deutungsperspektiven vermieden, und es gewinnt die Offenheit unseres poetologischen Stimmungsbegriffs unter historischem Aspekt an methodischem Zugriff. Im Kapitel (A-IV) haben wir eine solche historische Perspektivierung vorgenommen, aus der sich die Auswahl der Texte und das auf sie gerichtete Erkenntnisinteresse erklärt. Wie oben dargelegt ist unser Untersuchungszeitraum von ca. 17701800, mit Konzentration auf 1774 bis 1792, aufgrund des spezifischen Interesses an der Herausbildung von ästhetischer Stimmung im Feld der Literatur vor deren Diskursivierung begründet. Waren schon in der Empfindsamkeit Stimmungen im Austausch von Gefühlen, Ausdruck von Emotionen und im Erleben idyllischer Szenen bzw. dem Sprechen und Schreiben darüber präsent, so ist im Prozess der 1770er Jahre ein Umschalten vom konventionellen auf innovativen Gebrauch rhetorischer Arsenale zu beobachten. Vor allem beim jungen Goethe erscheint dies als erhöhter Bedarf an Individualisierung des sprachlichen Ausdrucks und greift mit dem Werther auf die kompositionelle Ebene des Textes über. Das ästhetische Explizitwerden von Stimmung fällt in die literaturgeschichtliche Phase, in der das poetologische Primat sich von der Mimesis zur Poiesis verschiebt. Der zunehmend auf sich selbst und ihre spezifischen Darstellungsmöglichkeiten achtenden Sprache, ein literaturgeschichtlicher Prozess, der in der romantischen Ironie und Stimmung einen Höhepunkt erreicht, entspricht eine im Aufkommen der Stimmung erwachende Selbstaufmerksamkeit in einer allgemeineren kulturhistorischen Hinsicht. Dies haben wir als poetische Stimmungsexplikation im gesamtkulturellen Sinne einer historischen Reaktionsbildung gegen Ende des Zeitalters der Aufklärung zur Debatte gestellt (Kap. A-IV.2). Diese Aufmerksamkeit ist dabei ihrerseits auf Stimmungen zurückbezogen, die aus ihrer welthaltigen Sprachwerdung ein raumbildendes Selbstgefühl generieren. Dieses wird in Fortschreibung der schon zeitgenössischen Rede von ‚innerem Gefühl‘ oder ‚innerer Erfahrung‘ etwas missverständlich mit Innerlichkeit bezeichnet. Zugleich schwindet die sprachliche Welthaltigkeit, wenn dann von ‚Ausdruck‘ – zumeist von Empfindungen, Gefühlen oder Erlebnissen die Rede ist, womit ebenfalls

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an eine seit Klopstock allmählich üblich gewordene Vorstellungs- und Redeweise angeknüpft wird.2 Literaturwissenschaftlich problematisch ist an der Rede von ‚Ausdruck‘ und – oder von – ‚Innerlichkeit‘ die damit sich oft unversehens einstellende Auffassung von Poiesis als einem (raum-)schematischen Vorgang, bei dem eine Innen-Außen-Achse die Übersetzung von Seelischem in Schrift, von ‚Herz‘ in Sprache oder eben Empfindung in Ausdruck leistet. Problematisch daran ist ferner, dass dieser ausdruckspoetische Schematismus das ästhetische Geschehen um den primären Außenbezug des Imaginativen verkürzt, indem er gleichsam zu spät, nämlich bei einem Gefühls- oder gar Bewusstseinsinhalt als etwas bereits Gegebenen psychologisch ansetzt. Dadurch wird das dem Gefühl vorausgehende Moment sinnlicher Wahrnehmung zumindest tendenziell eskamotiert, aus dem das Gefühl doch erst als ästhetisches hervorgeht. Indes war es gerade der konzeptuelle Gewinnzug des Ästhetikdiskurses seit den 1750er Jahren, die Aufmerksamkeit auf das Gefühl – unterstützt durch die Aufwertung der ‚Empfindung‘ – anstelle der Affekte und Leidenschaften oder dem, was wir heute Emotionen nennen, zu richten. Mit der gelegentlichen Unterscheidung – nicht nur bei Herder – zwischen ‚innerem‘ und ‚äußeren‘ Gefühl wird die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung eigens hervorgehoben. Zugleich aber wird sie durch die emphatische Betonung des Inneren als einer Sphäre überlagert, in der Empfinden, Fühlen, Wollen und Denken konfundieren. Die gewissermaßen in sich wie außer sich komplexe ästhetische Subjektivität wird vom Sturm und Drang zu einem nur scheinbar autonomen Subjektblock (‚Selbsthelfer‘) stilisiert, vornehmlich um den Geniegedanken für sich zu beanspruchen und zu einer poetologischen Position auszubauen, die ihre Freiheit gegenüber den herkömmlichen Regelzwängen behaupten kann, wie sie von Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) noch immer ausgingen. Ungeachtet dessen, dass die poetologische Aufwertung von Subjektivität im historischen Kontext der Genieästhetik auch diesem polemischen Interesse geschuldet war, hat die ältere Literaturgeschichtsschreibung den Sturm und Drang oft genug unter einem forcierten Begriff von Subjektivität rubriziert, der philosophische Substanzvorstellungen und eine irreführende Idee vom starken Individuum konnotierte. Die Forschung der letzten Dekaden (z.B. Luserke 1995, 2010; Karthaus 2000) hat dies korrigiert und demgegenüber weitaus differenziertere Darstellungsweisen gefunden. Indes bedarf es einer weiteren Verfeinerung der Kategorien, mit denen die poetologischen Eigentümlichkeiten der Literatur und ihrer Gattungsformen zwischen Empfindsamkeit und Romantik beschrieben werden. Hierzu schlägt vorliegende Untersuchung den neugefassten Begriff der Stimmung vor. Dessen Vorzüge gegenüber Begriffen wie Gefühl oder Emotion bestehen erstens in der Akzentuierung der Weltbeziehung anstelle des Selbstverhältnisses des Subjekts; zweitens in seiner literarhistorischen Anwendbarkeit quer zu den Epochen- und Gattungsgrenzen. Im beobachteten Zeitraum führen die hermeneutischen Schemata wie Emotion/ Ausdruck, Affekt/Objektivierung oder auch Kontemplation/Einfühlung nicht nah ge2

Siehe Klopstocks poetologisch reflektierende Schriften Von der Sprache der Poesie (1758), Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften (1758) und Gedanken über die Natur der Poesie (1759) in ders., 1962, S. 968-1054 (Sprachwissenschaftliche Schriften und Ästhetische Schriften).

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nug an ästhetische Schwellenphänomene heran. Hingegen hat die Analyse liminaler Phänomene mit unserem Stimmungsbegriff zu Ergebnissen geführt, die inzwischen unergiebig gewordene Klassifikationskriterien wie Subjektivismus, ‚Erlebnis‘ oder Innerlichkeit überflüssig machen oder, wo sie auf Stimmungen bezogen werden, als unsachgemäß zeigen. Stattdessen zeigte sich gattungsübergreifend an der Metaphorik von Tages- und Jahreszeiten samt meteorologischer Bezüge sowie von Ton und Klang, wie Evokationen von Atmosphärischem die Wahrnehmung von Raum und auch das Wahrnehmen selbst fokussieren. Dabei kamen das Zusammenspiel von Sehen und Hören, aber auch das Spüren des Raums durch expansive Leibimaginationen in gesteigerten Augenblicken zur Darstellung. Bei Tieck konnte beobachtet werden, dass die Entwicklung hin zur Romantik und der in ihr voll zur motivischen Blüte gelangenden Stimmung ihren Ausgang nicht etwa in seiner Lyrik genommen hat, sondern einige Jahre früher in der Gattung Drama. An Der Abschied identifizierten wir die tragische Initiation in der Eingangsszene als eine intermedial konfigurierte Stimmung bzw. Verstimmung, die im theatralischen Verlauf die Gefühlslagen der drei Figuren so ineinander schiebt, dass die Gewalt schließlich in einem Raum von Beziehungen ohne handlungsmächtige Subjekte eskaliert. Wie im Abschied (1792) der Musik und einem Portrait zentrale Rollen zukommen, so haben wir mit einem kurzen Blick auf Heinses Ardinghello (1785) beobachten können, wie zuvor in diesem oft als ersten Künstlerroman deutscher Sprache gewürdigten Werk die Malerei und die Musik als Hauptthemen behandelt werden. Stimmungen fungieren darin als Darstellungsmedium einer im italienischen Renaissance-Ideal kostümierten Sinnlichkeit, die Erfahrungen der Malerei mit solchen der Erotik integriert und sie durch Musikmetaphorik zur Sphäre des ‚Kernmenschen‘ heiligt. Aufgrund seiner Gestaltung über weite Strecken als erzählter Diskurs betrachteten wir den Text unter formalem Aspekt als nur an einzelnen Stellen gelungen, die aber auf den Gesamttext ausstrahlen. An einer von diesen beobachteten wir, wie die von Gemälden und dem Interieur geführte Blickregie den Binnenraum der Kultur mit dem Außenraum der Natur zu einer sommernächtlichen Stimmung mit drohender Gewalt konfiguriert. Die dabei zum Tragen kommende ästhetische Verdopplung des Dargestellten durch narrative Referenzen auf Bilder fanden wir auch in Moritz’ Die neue Cecilia (1794), deren religiös gestimmter Kunstenthusiasmus auf Wackenroder/ Tiecks Klosterbruder und Tiecks Sternbald vorausweisen. Bei Jean Pauls Romanen Titan und Hesperus lenkten wir die Aufmerksamkeit auf das reichhaltige Register an Metaphern, die zu narrativ weitschweifig vorbereiteten, mitunter ironisch eingefassten Konfigurationen von Stimmungen aufgeboten werden. Darunter kommt den Klängen und Saiten, ‚Sphären-Akkorden‘, Geräuschen und Tönen die wichtigste Funktion zu. Sie werden aber oft auch im Zusammenspiel mit visuellen und taktilen Wahrnehmungen zu synästhetischen Gebilden erweitert, die im Titan paradiesische Landschaftsensemble (Neapel mit Capri, Ischia und Procida; Isola Bella) bilden, wobei die jahres- und tageszeitlichen Metaphern auf lebensgeschichtliche Phasen verweisen können. Auch in Richters virtuosem Formenspiel mit seinem pluralisierendem Erzählen, das im Gegensatz zum monoperspektivischen Werther steht, treibt der narrative Metaphernfluss immer wieder jene Momente hervor, in denen die Stimmung als ästhetisches Schwellenphänomen sich vom Emotionsausdruck abhebt. Anders als im Hartknopf wird dies also nicht über diskursive Anspielungen (Musik, Mystik usw.), sondern aus dem narrativen Verfahren heraus

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geleistet. Die Reihe von kurz betrachteten Erzähltexten diente dazu, die weiterführende Tragfähigkeit des Konzepts konfigurativer Stimmungen zu erproben, insbesondere wo deren poetologische Prägnanz aus synästhetischen und intermedialen, multisensorischen und sphärenharmonischen Metaphoriken hervorgeht. In zwei weiteren Haupttexten unserer Untersuchung, Moritz’ Andreas Hartknopf. Eine Allegorie (1785) und den Predigerjahren (1790), konnten wir die poetologische Bedeutung von Stimmung an der Konzeption des Romans als einer Lebensgeschichte erkennen, die nicht chronologisch erzählt wird, sondern ihre narrative Kohärenz aus einer Serie von teils szenisch-atmosphärischen, teils mystisch-diskursiven Verdichtungen erhält. Dabei wird die hier auch wörtlich auftauchende ‚Stimmung der Seele‘ in ideelle Korrespondenzen mit der antiken Vorstellung der Sphärenharmonie gesetzt, die später in der Romantik etwa auch bei Tieck, Novalis und Eichendorff einen metaphysischen Referenzhintergrund bildet. Für die Hauptfigur bildet das mikromakrokosmische Modell die Grundlage, auf der sie ihre Auffassung von ‚Musik als Sprache der Empfindungen‘ mit universalen Resonanzen entwickelt. Wie bei Heinse geschieht dies in Form von Reflexionen, die hier aber ihre Ausrichtung auf eine Musikästhetik haben, die vom empfindsamen Konzept naturnaher Töne ausgeht. Des weiteren aber deutet Hartknopfs musiktheoretischer Diskurs klang-, ton- und kompositionsästhetische Aspekte an, die der historischen Semantik von Stimmung (u.a. harmonia, symphonia, consonantia, sympathia, concordia) entstammen und in der Musikgeschichte erst im 19. Jahrhundert etwa mit der Sinfonie theoretisiert werden. Indes praktiziert Hartknopf mit seinem Musizieren, Deklamieren und Lehren durch Gespräche gewissermaßen Übersetzungen von Pythagoreismen in ästhetische Vollzugsformen, in denen die Stimmung sich als nachmetaphysisch aktualisierte Sphärenharmonie manifestiert. Mit dem Übergang zu den Predigerjahren und mit Bezügen zu den theoretischen Schriften konnte in der Perspektive ästhetischer Stimmung Moritz Zwitterstellung zwischen Wirkungsästhetik und Werkästhetik als weniger widersprüchlich erkannt werden, als in der Forschung dargestellt. Überdies erwies sich die Stimmung hinsichtlich der Hartknopf-Romane als eine brauchbare Analysekategorie der brüchigen Übergänge von Empfindsamkeit zur Weimarer Klassik. Denn sie erfasst gefühlsästhetische Darstellungen von Sympathie der Seelen und Rührung der Herzen ebenso wie Reflexionen über autonomieästhetische Ideale des Formganzen und von kompositorischer Stimmigkeit. Unser vergleichender Blick auf Moritz’ parallel geschriebene Romane fokussierte deren poetologische Gegenwendigkeit unter dem Aspekt der Stimmung. Dadurch wurde der erste psychologische Roman, wie der Untertitel zum Anton Reiser lautet, unter gattungspoetischem Aspekt besser erkennbar als eine erzählerische Form, in der das Thema, die Geschichte einer Psyche, qua Darstellung von Stimmungen entfaltet wird. Ihr Auf und Ab ist der Rhythmusgeber eines inneren Erlebens, das den Roman zusammenhält und ein psychologisch organisiertes Kontinuum bildet, dem die Chronologie äußerer Ereignisse poetologisch nachgeordnet ist. Im Medium der Stimmungen reflektiert sich hier die Welt als der pathogene Raum einer persönlichen Leidensgeschichte. Besonderes Gewicht kam der Analyse des Briefromans Die Leiden des jungen Werther (1774) zu, da er nach unserer These den Einsatzpunkt der Herausbildung von Stimmung zu einem poetologischen Gestaltungprinzip markiert, das subjektive Dispositionen der Figur(en) unter wechselnden Umständen inszeniert. Seit diesem

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Publikumserfolg in der mediologischen Schriftkultur (Koschorke) des 18. Jahrhunderts kommt es in der Literatur zur Entfaltung eines Gefühls, das sich in seiner atmosphärischen Reichweite wiederentdeckt und dem entsprechend in ästhetischer Räumlichkeit darstellt. Unter phänomenologischem Aspekt wäre Goethes poetische Kunst als ein Sich-ins-Werk-Setzen der Stimmung zu denken. Wie bei Heideggers „Sichins-Werk-Setzen der Wahrheit“ (Heidegger 2003, S. 25) handelt es sich dabei weniger um den subjektiv schöpferischen Akt einer Objektivierung von Bewusstseinsinhalt in die Form der Sprache, sondern um einen Vorgang, der von sich aus etwas zeigt. Nur ist dies Etwas im Gegensatz zum späten Heidegger nicht immer wieder dasselbe Sein. Vielmehr ist es der geschichtliche Inhalt von Stimmung als einem Wahrnehmungsaggregat, in dem die im Fließen der Zeit sich verändernden Situationen und Dispositionen eine ephemere Gestalt annehmen. Nur mit solcher Abgrenzung lässt sich überhaupt an Heidegger anschließen und dessen zuletzt noch einmal von Previsic (2013, S. 152) kritisierte „Exklusivität“ vermeiden, „die jegliche kritische Distanzierung oder historische Verortung außen vor lässt.“ Mit unserer Transfiguration ins Poetologische aber wird die ontologische Statik, an die Heidegger die Stimmung koppelt, ‚außen vor‘ gelassen und ein ästhetisch mobilisiertes In-derWelt-sein für die „historisch-diskursive Verortung der Stimmungsdiskurse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (ebd.) produktiv gemacht. Um den symbolischen Taumel der Stimmung im Werther solchermaßen als ein künstlerisches Geschehen auffassen zu können, bedurfte es zuvor einer heuristischen Theoretisierung. Erst unsere Konzeption von Stimmung nicht als einem subjektiven oder aber objektiven Zustand, sondern als einer relationalen Strukturbewegung ermöglichte es, Goethes Sprache des Gefühls als einen ästhetischen Prozess auf phänomenaler und textueller Ebene nachzuvollziehen. Diese poetologisch aufzufassende Stimmung wird im Werther nicht nur nicht beim Namen genannt, wie dann erst in der Romantik, sondern ist auch nicht einfach anwesend, räumlich greifbar oder gar dinglich. Sie haftet aber der Gegenwart und den Dingen sowie den Menschen und Räumen an, die sie in phänomenologischer Darstellung ‚freigibt‘, als deren präsentativer Aufriss sie fungiert, mit deren Erscheinen sie selbst längst im Verschwinden begriffen ist. Im Medium der Sprache, den Zwischen-Räumen der Schrift, in Werthers geschriebenem Sprechen sich vollziehend – bahnt die jeweilige Stimmung dem Gefühl erst den Weg, auf dem es dann als ‚Ausdruck von‘, ‚Reaktion auf‘ oder einer empfindsam kommunikativen Bedeutung anzutreffen sein wird. Diese als Quellpunkt des Darstellbaren sich darstellende Stimmung ist es, was ihre poetologische Grundbedeutung ausmacht und beim jungen Goethe als ein Gestaltungsprinzip erkennbar wird. Dieses konnte über die in der Vergangenheit zumeist auf den Werther angewandten Kategorien des Ausdrucks von emotionaler Innerlichkeit, einer zum Gefühlsabsolutismus gesteigerten Empfindsamkeit oder eines titanischen Subjektivismus nicht richtig erfasst werden. Die Werthers Leiden und Lieben, Leben und Sterben, Glück und Einsamkeit tragende Stimmung hat in unseren Analysen ihre Verwurzelung in einem protostrukturalen Feld der Genese des Phänomenalen sichtbar werden lassen. Dort ist die Stimmung noch nicht einmal ein Gefühl, was eben schon spürbar wäre, oder etwas, das eine durch Empfindungen gebildete Vorstellungsstruktur hätte. Vielmehr ermöglicht sie erst solches Spüren, Empfinden oder Vorstellen. So hat sich in den an Erfahrungen von Raum und Zeit orientierten Kapiteln gezeigt, wie das

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Wahrnehmen, Fühlen und Sprechen, kurz: die Figur Werther aus einem poetischen Grundbild hervorgeht, das seinen Fluchtpunkt im Stimmungsphänomen einer reinen Welt-Selbst-Beziehung findet. Wie im theoretischen Teil (Kap. A-III.8) dargestellt, zeichnet sich etwas wie ‚reine Beziehung‘ dadurch aus, dass sie gleichsam noch affektfrei, der Deklination in lebensweltlich konkrete Fälle vorgängig ist und damit auch nicht Gruppen von Gefühlen psychologisch zuteilbar wäre, ohne als Phänomen verloren zu gehen. Das Aisthetisch-Pathische der Stimmung, wie es in Werthers Phänomenerleben so eindringlich gezeigt wird (vgl. Definitionsstufe I, Kap. A-III.2), geht aus der Stimmung als Konstitutionsgrund einer mediologischen Subjektivität hervor, wie sie durchgängig in Werthers reflektiertem Leiden und brieflichem Darstellen deutlich wird. Dieser ästhetisch-transzendentalen Stimmungsschicht kommt eine temporal- und topologisch begründende Initiativfunktion für die Wahrnehmungsbewegung überhaupt zu. Darin ist sie dem transzendentalen Schema der Räumlichkeit bei Kant verwandt wie auch der existenzial-ontologischen Struktur der Zeitlichkeit bei Heidegger. (Vgl. Kap. A-I,II und Heidegger 1951) In solchem interpretativen Zugriff auf die Stimmung in ihrer poetologischen Grundlegungsfunktion am Beispiel des Werther bewähren sich unsere Definitionsstufen II und III (Kap. A-III.4), die den methodischen Ausgangspunkt und mediologischen Reflexionshorizont markierten. Sie schlossen den Teil A unserer Theoriebildung vor ihrer historischen Ausrichtung ab. Unsere theoretische Reflexion des Stimmungsbegriffs setzte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beim Übergang von Dilthey zu Heidegger ein. Jener verwendete Stimmung als Kategorie philosophischer Grundlagenreflexion und zugleich als produktionsästhetischen Begriff. Dies beeinflusste seine luzide Umstimmung des Begriffs bei Heidegger einerseits, andererseits begünstigte es seinen opaken Einsatz in der Germanistik bis Staiger. Zwar verdankte die Stimmung Dilthey ihre ästhetische Prominenz, aber eben auch ihre literaturwissenschaftliche Unhaltbarkeit. Verantwortlich dafür war Diltheys psychologisches Grundlegungskonstrukt, in dem Erleben und Denken, Gefühl und Bedeutung ebenso konfundieren, wie dadurch die Stimmung der semantischen Auffüllung durch Substanzvorstellungen und Irrationalismen preisgegeben wird. Deshalb setzte unsere theoretische Revision ausgehend von Heideggers Denken der Stimmung auf deren mediologische Verortung als eine ästhetische Art ursprüngliches Einräumen, das allem Vorstellen und Wollen vorausgeht, aber auch dem Werden von Gefühlen und Gedanken im lebens- wie auch kulturgeschichtlichen Prozess erst Raum in der Wahrnehmung gibt. Im Zuge unserer anschließenden Reflexionsarbeit an Goethes Text haben wir gesehen, dass außer der Stimmungsbindung an das Gefühl und die Vorstellungskraft, an Phänomene der Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Medialität ein durchgehendes Motiv im Werther auch mit dem Psychotopos der Mütterlichkeit gegeben ist. 3 Ferner scheint dies ebenfalls für die Verselbständigung von Stimmung aus der Exuberanz 3

Das Motiv der Mutterbindung Werthers findet sich in beinahe jeder der vielen Arbeiten mit psychologischem Erkenntnisinteresse seit Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber den psychoanalytisch orientierten Studien. Nachdrücklich mit Deutungsperspektiven entfaltet bei Meyer-Kalkus 1977, S. 100ff.

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von Emotionen zu einem Quellpunkt für zumindest zeitweilig tragfähige Weltbeziehungen zu gelten, wie sie Werthers Wahrnehmung von Natur und Menschen auszeichnen. Diese poetische Motivverknüpfung von Mutter-Kind-Symbiotik einerseits mit konstruktiver Stimmungsdynamik andererseits lässt neben dem pathologisch Befangenen und narzisstischen Dilettanten einen anderen Werther erscheinen. Namentlich einen Menschen mit enormen Entwicklungspotenzialen, den die auf Psychopathologie fokussierte Forschung aus den Augen verliert. Dieser junge Werther bezieht – mit Herder und Goethe zu sprechen – seine Kraft aus der erfolgreichen Übertragung (früh-)kindlicher Stimmungserfahrungen – im symbiotisch produktiven Sinne von Übertragungsliebe – auf erwachsene Stimmungserfahrungen im existenziell produktiven Sinne von lebendigem Dasein in der Welt und mit anderen.4 Jede solchermaßen gelingende Übertragungssozialisation basiert auf einer Erfahrung von Realem und bleibt dies noch oder gerade dort, wo sie diese relativ stabile Erfahrungsbasis zu Exkursionen in die Transzendenz des Imaginären nutzt. Man könnte auch mit Goethes von Herder ermutigtem Geniedenken zugespitzt sagen: je stärker die primäre Übertragungsliebe in den Früherfahrungen (Herders ‚erste Stimmung‘ oder ‚erster Ton‘, die auch schon pränatal gedacht sind) und je verbindlicher deren Stimmungsnachhall im späteren Leben, – desto mehr ist die Fähigkeit zu sekundären Übertragungsstimmungen ausgeprägt, bleibt die Initiativkraft für weitere Übertragungen intakt und liegt eine Begabung zum ImaginativSchöpferischen vor. Dies gilt für das individuelle Leben wie für die kulturellen Kollektive und wird von Goethe mit Herder als Genie von Einzelnen oder von Völkern gedacht, so dass die ontogenetische Perspektive mit der phylogenetischen konvergiert. Mit Bezug auf die Lebens- und Leidensgeschichte Werthers bleibt freilich eine Reserve gegenüber dessen Einbildungskraft mit ihrer Tendenz zu „wunderbaren Ahndungen“ (LjW 152) vorherrschend. Sie manifestiert sich in der poetisch gestalteten Ambivalenz gegenüber einem Imaginativen mit einer Drift ins Imaginäre, die das Reale mehr negiert als transzendiert. Das Pathologische einer rückhaltlosen – oder weniger tautologisch: letalen Hingabe wird in seiner literarischen Gestaltung durch Stimmung zu etwas, das seine psychologische Begründung transzendiert. Nämlich zum Poetologischen eines ästhetischen Darstellens, das seine mediale Eigendynamik aus seinem Gegenstand selbst, der prekären Stimmung bezieht. Blicken wir summarisch zurück auf unseren Parcours durch Werthers Stimmungen, die diesen inhärente Selbst-Welt-Erfahrung samt seiner Lektüren einschließlich derjenigen des Buches der Natur, seine Berührung durch die Liebe als ekstatische Form der Daseinsbeglaubigung und seine pathisch gesättigte Entschlossenheit zum Tod – so bestätigt sich unsere These: Werther bildet den Beginn einer neuen Art von Literatur deutscher Sprache. In ihr fließen wahrnehmungs-, text-, produktions- und rezeptionsästhetische Momente synergetisch zusammen in das, was unsere im ersten Teil der Arbeit entworfene Theorie Stimmung nennt. Mit ihr haben wir die ästhetische Kohärenz von Goethes erstem Roman anders wiederentdecken und neu erklären können, die in der vorwiegend psychologisch argumentierenden Forschung nicht erfasst oder kaum erläutert wird. Auf das Pathologische konzentrierte Interpretations4

Umgekehrt betont – ohne poetologische Stimmungsaspekte – der Analytiker Graber (1958), seinerseits ausgehend von pränataler Erfahrung, die pathologische Dynamik.

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ansätze verlieren allzu leicht jenes Pathische aus dem Blick, das die anthropologische Grundschicht alles Ästhetischen bildet und im Werther poetologisch aufgefaltet wird. Wo die Forschung Werthers Mutterbindung als narzisstische Persönlichkeitsstörung zur bestimmenden Deutungsperspektive aufbaut, haben wir ergänzend die konstruktiven Züge von Übertragungsdynamik akzentuiert. Zwar kommt dieser psychoanalytischen Denkfigur keine Beweiskraft zu und sie lässt sich ohne Spekulation nicht aus dem Text entwickeln. Wohl aber lässt sich die imaginativ-übertragende Gestaltungskraft durch die Analyse der Stimmungsdarstellung am Text nachvollziehen. Durch unsere stimmungsanalytische Aufwertung der Begeisterungsfähigkeit soll Werther selbstverständlich nicht ‚gesundgeschrieben‘ werden. Vielmehr ist sie entscheidend für die balancierte Gestaltung der Figur als pathologisch und gefühlsbegabt, narzisstisch verblendet und liebesfähig. Darin zeigt sich das Kunsthafte der Figur ebenso wie die rezeptive Intelligenz herausgefordert wird. Vor allem aber zeigt sich in Werthers Zweiseitigkeit bereits die ästhetische Strategie der Spiegelung, die Goethes spätere Romane weiterentwickeln. Bekanntlich fungieren die narrative Parallelisierung durch die eingeflochtenen Geschichten vom ehemaligen Sekretär von Lottes Vater und in der B-Fassung noch die des Bauernburschen als das, was Goethe „Spiegelungen“ nannte. (Vgl. Vaget 1983, S. 10ff.) Hinzu kommt nun durch die Stimmungsanalytik die Einsicht in die spekulare Konstituierung des Hauptcharakters selbst. Nicht ist da erst ein Mensch, der dann auch noch gespiegelt wird, sich in anderen wiedererkennt und durch Parallelgeschichten zum Charakter rundet. Vielmehr wird er von Grund auf durch die Spiegelbeziehungen zu anderen, zur Natur oder Welt erst kreiert. Sein Hervortreten als relative Identität ist differenziell, seine Subjektivität medial und seine Stimmungen relational organisiert. Indem wir dem todbringenden Pathologischen das lebendige Pathische als gleichgewichtig für die Gestaltung von Werther an die Seite stellen, wird deren wechselseitige Spiegelung sichtbar. In ihr erkennen wir die mediale Beziehungsstruktur wieder, welche das Subjekt der Stimmung bei Goethe ausmacht. Schließlich konnten wir gegenüber dem psychologisch ‚selbstbefangenen‘ Imaginären, das ästhetisch welterschließende Imaginäre geltend machen, wie es Werther als Kunstfigur und die mit ihr hervortretende Poetologie der Stimmung auszeichnet, in der deren Gefühlsqualitäten je nach Situation und Disposition differieren. Diese poetologisch variable Stimmung rückt gewissermaßen an die Stelle der psychologischen Mutter, die die Wertherforschung dominiert. Stimmung aber ist die ästhetische Matrix, die Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Medialität im Text hervorbringt und poetologisch organisiert. Diese Poetologie der Stimmung versucht Ich und Welt, Innen und Außen, Subjekt und Natur, Selbst und Objekt in die imaginäre Einheit einer Literatur zu vermitteln, die mit dem Thema absoluter Liebe zugleich die schöpferische Natur der poetischen Sprache wie auch die magische Lektüre (Homers, Ossians) textuell inszeniert. Dass zur Imagination von Konsonanz und Ganzheit auch Erfahrungen von Dissonanz und Dissoziation gehören, das Sehnen nach Einheit und Liebe eigentlich Differenz und Dissens zur Voraussetzung haben, liegt in der Natur der Sache, die eine Kunst der Stimmung ist.

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Lettre Alexandra Millner, Katalin Teller (Hg.) Transdifferenz und Transkulturalität Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns Januar 2017, ca. 500 Seiten, kart., ca. 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3248-4

Raluca Radulescu, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Pluralität als Existenzmuster Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsliteratur September 2016, ca. 200 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3445-7

Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 September 2016, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Gustav Landgren Rauswühlen, rauskratzen aus einer Masse von Schutt Zum Verhältnis von Stadt und Erinnerung im Werk von Peter Weiss September 2016, ca. 400 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3618-5

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.) Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt September 2016, ca. 290 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-3266-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie September 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Lettre Svenja Frank, Julia Ilgner (Hg.) Ehrliche Erfindungen Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne

Csongor Lörincz Zeugnisgaben der Literatur Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse

August 2016, ca. 440 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3319-1

März 2016, 384 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3098-5

Thorsten Carstensen, Marcel Schmid (Hg.) Die Literatur der Lebensreform Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900

Torsten Voß Körper, Uniformen und Offiziere Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch

August 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3334-4

Metin Genç Ereigniszeit und Eigenzeit Zur literarischen Ästhetik operativer Zeitlichkeit August 2016, ca. 326 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3372-6

Anne Bertheau »Das Mädchen aus der Fremde«: Hannah Arendt und die Dichtung Rezeption – Reflexion – Produktion Juni 2016, 416 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3268-2

Nicola Mitterer Das Fremde in der Literatur Zur Grundlegung einer responsiven Literaturdidaktik Mai 2016, 298 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3422-8

Marcel Schmid Autopoiesis und Literatur Die kurze Geschichte eines endlosen Verfahrens

Februar 2016, 430 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3322-1

Robert Walter-Jochum Autobiografietheorie in der Postmoderne Subjektivität in Texten von Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Bernhard, Josef Winkler, Thomas Glavinic und Paul Auster Januar 2016, 362 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3339-9

Anja Utler »manchmal sehr mitreißend« Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte Januar 2016, 218 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3357-3

Jennifer Clare Protexte Interaktionen von literarischen Schreibprozessen und politischer Opposition um 1968 Januar 2016, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3283-5

April 2016, 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3442-6

Jenny Bauer Geschlechterdiskurse um 1900 Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion März 2016, 314 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3208-8

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Gesine Lenore Schiewer, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 6. Jahrgang, 2015, Heft 2

Dezember 2015, 204 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-3212-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-3212-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die ZiG - als print oder E-Journal - kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 27,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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