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German Pages 399 [400] Year 1976
STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR
Herausgegeben von Wilfried Barner, Ridiard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler
Band 46
Klaus-Detlef Müller
Autobiographie und Roman Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1976
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereidis Neuphilologie der Universität Tübingen gedruKrise< des deutschen Romans im 18 .Jahrhundert
74
. . . .
74
6. Die Autobiographiefiktion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts 6.1 6.2 6.3 6.4
Voraussetzungen im europäischen Roman Schnabel (Insel Felsenburg) Geliert (Leben der sdiwedisdien Gräfin von G.) Wieland (Gesdiidite des Agathon)
85 85 87 93 99
. . . .
7. Roman und Autobiographie in der Romantheorie des 18. Jahrhunderts
107 V
7·ΐ Blankenburg: Das autobiographischeSchema< im Roman 7.2 Erzähltheoretische Probleme der Annäherung von Autobiographie und Roman (die >MischformenHenrich Stillings Jugend< Die Fortsetzungen der Autobiographie Die Rückkehr zur Zweckform
9. Moritz: Der psychologische Roman< als wissenschaftliches und ästhetisches Modell 9.1 9.2 9.3 9.4
Autobiographie und >Erfahrungsseelenkunde< Die Gattungsbezeichnung >psydiologischer Roman< . . . Subjektivität und Gegenständlichkeit Das Persönlichkeitsproblem und seine erzähltechnischen Konsequenzen 9.5 Symbolbereiche 9.6 Gattungsgeschiditliche Bedeutung des >Anton Reiser < . .
10. Bräker: Die Illusion des Lebens als Roman 10.1 Erzählmotivation und Selbstverständnis 10.2 Die Darstellung 1 1 . Laukhard: Zeitgeschichte als Lebensersatz 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5
127 130 133 137 145 145 147 152 156 1y8 167 169 169 175 183
Erzählmotivation und Gehalt Universitätssatire und Sozialkritik Erlebnisse während der Revolutionskriege in Frankreich Der Verlust der objektiven Gegenständlichkeit . . . . Darstellungsgrundsätze
183 189 193 198 198
12. Die Autobiographie als literarisches Medium der Unterschicht und ihrer Individualitätsproblematik
200
12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6
Die egalitäre Tendenz der literarischen Autobiographie Gleichheitsgrundsatz und Theodizee Problematisierung des Individualitätsprinzips . . . . Republikanisches Engagement (Seume) Realitätsanspruch >Literatur der Nicht-Autoren< - das DilettantismusProblem 12.7 Autobiographie als >Naturwerk< (Sachse)
VI
200 203 206 208 210 213 215
13. Bahrdt: Fiktion als Mittel der Selbstapologie 13.1 13.2 13.3 13.4 13.j
Das Erzählproblem Zur Wahrheitsfrage in der Autobiographie Variation der Gelehrten-Autobiographie Techniken der Apologie Autobiographie oder autobiographischer Roman?
221
. . .
221 225 227 229 240
14. Goethe, >Dichtung und Wahrheit*: Das >Grundwahre< des Lebens und die fiktionalen Mittel seiner Objektivierung . . . .
242
14.1 Goethes Weg zu einem historischen Selbstverständnis . . 14.2 Die Thematisierung des Autobiographischen bei der Redaktion der Werkausgaben 14.3 Der Zwang zur Autobiographie 14.4 Ansätze zu einem neuen Goethe-Bild 14.5 Die Selbstreflexion und die Krise des Individualitätsbewußtseins 14.6 Selbstentfremdung 14.7 Formale Variation im autobiographischen Gesamtwerk 14.8 Das Verhältnis von Autobiographie und Dichtung: der systematische Ort der Autobiographie in Goethes Gesamt werk 14.9 Historisch-referierende Darstellungsformen 14.10 Episdi-vergegenwärtigende Darstellungsformen . . . . a) Porträt des Vaters (3. Buch) b) Das Sesenheim-Erlebnis ( 9 . - 1 1 . Budi) c) Die Darstellung der Werther-Krise ( 1 2 . - 1 3 . Budi) . . d) Erlebte Geschichte: Die Kaiserkrönung ($. Buch) . . 1 4 . 1 1 Zur Leistung der Fiktion für die Autobiographie . . .
243 249 260 262 270 274 276
278 286 290 290 298 310 318 330
V Rückblick und Perspektiven
333
15. ι
Grundtendenzen in der Geschichte der literarischen Autobiographie von Jung-Stilling bis Goethe 15.2 Die Aufhebung der Autobiographie zur Dichtung . . . a) Das Leben als Roman b) Autobiographie und Bildungsroman c) Kellers >Grüner Heinrich< 15.3 Eine überlebte Gattung? - Zur Geschichte der Autobiographie im 19. und 20. Jahrhundert
333 342 342 344 346 352
Literaturverzeichnis
362
Register
388 VII
Vorbemerkung zur Zitierweise
Um die Anmerkungen von rein bibliographischen Angaben zu entlasten, sind die im Literaturverzeichnis aufgeführten Titel abgekürzt zitiert. Das Literaturverzeichnis ist durchnumeriert. Auf diese Numerierung beziehen sich die in den Anmerkungen mit dem Zusatz >L< angegebenen Ziffern. Wenn in einem Kapitel fortlaufend aus der gleichen Quelle zitiert ist, wird in der Regel nur beim ersten Zitat auf das Literaturverzeichnis verwiesen und hier die im folgenden verwendete Abkürzung eingeführt.
I Problemstellung - methodische Grundlagen Forschungsstand
ι.
Einleitung
Z u den eigenartigsten Phänomenen der neueren Literaturgeschichte gehört die Erweiterung des jeweils gültigen literarischen Formenkanons durch Einbeziehung von Zweckformen, die zuvor nicht den Produktions- und Rezeptionsbedingungen des zeitgenössischen Dichtungsverständnisses unterstanden hatten und deshalb nicht primär und durchgängig ästhetisch organisiert waren. Das bekannteste und gewissermaßen klassische Muster einer solchen literarisierten Zweckform ist die Reisebeschreibung, die von Sternes E m p findsamer Reise< bis zu Heines >Reisebildern< zu einem bevorzugten dichterischen Darstellungsmittel wurde und auch für die Erzählstruktur des Romans entscheidende Bedeutung gewann. 1 Weitere Beispiele sind die Entdeckung von Brief und Tagebuch als Erzählmuster im 18. Jahrhundert, das literarische Feuilleton im 19. und frühen 20. Jahrhundert, bestimmte Phasen in der Gattungsgeschichte der verschiedenen Formen der Lebensbeschreibung (besonders die französische Memoirenliteratur des 17. Jahrhunderts, die Kunstformen der Biographie in England von Boswell bis Strachey und die deutsche Autobiographie von Jung-Stilling bis Goethe) sowie neuerdings verschiedene Formen der Dokumentarliteratur (etwa Reportage und Interview). Es handelt sich dabei um Zweckformen, die ursprünglich von ihrem Gegenstand her definiert waren - im Unterschied zu jenen Zweckformen, die v o n ihrer Funktion bestimmt und schon von vornherein literarisch waren, wie die Formen der Lehrdichtung. Ihre Literarisierung hängt zunächst mit der jeweiligen Aktualität ihrer Gegenstände zusammen. Dabei zeigt sich die Tendenz zu einer allmählichen Aufhebung des ursprünglichen Sachbezugs zugunsten der Ausbildung zu spezifischen Formen der Vermittlung, d. h. zu ästhetischer Emanzipation in Verbindung mit der Entdeckung ihrer Eignung für neue Formen einer ursprünglich nicht implizierten Gegenständlichkeit. 1
V g l . hierzu Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 181 j—1848. Bd. II : D i e Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 238-277.
ι
Art und Ausmaß der Literarisierung bestimmen sich dabei offenbar nach den Möglichkeiten einer Wechselwirkung mit ästhetischen Formen. Es ist sicher kein Zufall, daß ein großer Teil der erwähnten Zweckformen in Verbindung mit dem Roman literarisch wurde, der sich seinerseits erst im 18. Jahrhundert von seiner >Vorgeschichte< als Zweckform zu lösen und sidi als dichterische Form zu behaupten begann. Dabei zeigte sich eine eigentümliche historische Dialektik: einerseits war die humanistisch-klassizistische Tradition der Poetik nicht länger in der Lage, am Kriterium der gebundenen Rede als Voraussetzung ihres Dichtungsverständnisses festzuhalten und mußte - wenngleich zögernd — die Prosaform des Epischen akzeptieren und integrieren; andererseits war aber diese ästhetische Anerkennung des Romans zugleich ein Zeichen dafür, daß das überlieferte System der Poetik zweifelhaft wurde und sich zu überleben begann. Der Roman fungiert hier sowohl als Indiz als auch als Katalysator. Seine poetische Neuorientierung war zugleich die Grundlage für die Literarisierung der Zweckformen. Daß ihm dabei eine vermittelnde Funktion zukam, insofern er Reisebeschreibung, Biographie und Autobiographie, Brief und Tagebuch zu Medien seiner Wirklichkeitsgestaltung zu madien vermochte, hängt damit zusammen, daß er mit seiner eigentlichen Genese als Form der Dichtung neue Gegenstandsbereiche und neue Erzählweisen zu entdecken begann, die in den Zweckformen schon vorgebildet waren, was sich umgekehrt produktiv für die Erweiterung von deren Darstellungsmöglichkeiten auswirkte. Dieser von der Literaturwissenschaft bisher kaum beachtete oder nur beiläufig behandelte Prozeß ist hier am Beispiel der literarischen Autobiographie, wie sie sich in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete und in Goethes >Dichtung und Wahrheit< ihre komplexeste Gestalt gewann, darzustellen. Von der Literarisierung einer Zweckform kann prinzipiell nur dann die Rede sein, wenn es sich nicht um Einzelwerke handelt, die sich - obwohl als reine Zweckform konzipiert - nachträglich als audi ästhetisch rezipierbar erweisen, nachdem man gelernt hat, sie als Kunstwerke zu lesen, sondern wenn sich zusammenhängende Formtraditionen ausbilden, die sich im Bereich der gültigen ästhetischen Normen orientieren und sich an ein literarisches Publikum richten. In diesem Sinn liegt in der Gattungsgesdiichte der Autobiographie in Deutschland um das Jahr 1800 der Sonderfall vor, daß die bedeutendsten Werke zugleich zu den repräsentativen Werken der Dichtungsgeschichte dieses Zeitraums gehören, während die Autobiographie im allgemeinen nur in einem Randbereich der >hohen< Literatur angesiedelt ist. Als Bezugs- und Orientierungsrahmen für die neu entstehende Form der literarischen Autobiographie fungiert aus den angedeuteten Gründen 2
der Roman. Es wird im einzelnen nachzuweisen sein, weshalb und in welcher Weise das Autobiographische den Erfordernissen und Bedürfnissen des zeitgenössischen Romans entgegenkam und inwiefern umgekehrt die epischen Darstellungstechniken geeignet waren, der Autobiographie neue Erzählmöglichkeiten, die mit der Entdeckung neuer Formen einer gattungsspezifischen Gegenständlichkeit zusammenhingen, zu eröffnen. Das ist jedoch nicht nur ein formgeschichtliches und erzählsystematisches Problem, denn die wechselseitige Annäherung von Autobiographie und Roman im Untersuchungszeitraum stellt zugleich eine literaturgeschichtliche Sonderentwiddung dar, deren Analyse einerseits zusätzliche Einsichten in die historischen Voraussetzungen für den Aufstieg des Romans zur repräsentativen Literaturgattung des bürgerlichen Zeitalters eröffnet, andererseits aber auch Aufschlüsse für das schwierige Problem einer Poetik der Autobiographie verspricht, wobei der Blickwinkel der jeweilig korrespondierenden Form eine Erweiterung der Erkenntnismöglichkeiten bedeutet. Der methodische Ansatz der folgenden Untersuchung beruht deshalb auf einer Kombination literaturgeschichtlicher und genreästhetischer Fragestellungen, die sich wechselseitig ergänzen. Dabei wird vorausgesetzt, daß eine Poetik der Autobiographie nur eine Poetik der Zweckform sein kann. Da aber die literarischen Formtypen den Spielraum von deren Darstellungsmöglichkeiten grundlegend verändert haben, werden erst durch sie - insbesondere in der Abgrenzung gegen die Fiktion - die Gattungsgesetzlichkeiten klar erkennbar, indem zu begründen ist, inwiefern die komplexeren Strukturen der Form gemäß sind und wo deren Geltungsbereich verlassen ist. Alle Unterscheidungen beruhen freilich auf der hier im historischen Ergebnis objektivierten Erfahrung, daß die Grenzen zwischen Gebrauchsliteratur und hoher Literatur fließend sind und daß der Ubergang zur Fiktion im autobiographischen Erzählen prinzipiell angelegt ist. Die Literarisierung der Autobiographie, d. h. insbesondere die Übernahme epischer Erzählformen, ist also danach zu beurteilen, was sie für die Erweiterung der Darstellungsmöglichkeiten der Selbstdarstellung leistet und wo sie anfängt, deren Formgesetze zu sprengen. So verstanden ist die Poetik der Autobiographie nicht die Bestimmung eines integrierten Formtypus, sondern die Beschreibung der sich aus der Sachlogik des Gegenstandes ergebenden Erzählformen und Erzählgrundsätze. Das auf diese Weise zu gewinnende Modell autobiographischen Erzählens hat nur heuristischen Wert, den es bei der Analyse der historischen Einzelwerke bewähren muß. Hier ist die praktische Verifikation der zunächst abstrakt aus einem Vorwissen um den Ausdruckswillen, die Sachlogik des Gegenstandes, seine erzähltheoretischen Implikationen und Dar3
stellungszwänge sowie aus einem Überblick über die Gattungsgeschichte gewonnenen Formbestimmungen zu leisten. Dieser Grundsatz wird in einer systematischen, wenngleich unterschiedlich akzentuierten Einzelanalyse und Interpretation ausgewählter repräsentativer Beispiele durchgeführt, weil die Einzelwerke im Rahmen eines relativ kohärenten Grundansatzes sehr unterschiedlich strukturiert sind und eher den Charakter von Typen als von Variationen haben, was die Vielschichtigkeit eines weitgehend identischen Problemansatzes in einer geschichtlichen Gleichzeitigkeit verdeutlicht. Eine rein systematische Analyse, die von der Gattungsproblematik ausginge und die Texte nur zur Exemplifikation und Verifikation heranzöge - was grundsätzlich möglich wäre - müßte die theoretische Stringenz auf Kosten der historischen Einsicht erzwingen. Es ginge die Erfahrung verloren, daß die Gattungsgesetzlichkeit der Autobiographie nicht eine überhistorische ideale Norm ist, sondern die geschichtliche Gestalt eines literarisch objektivierten Zeitproblems. Da der Gegenstand der Autobiographie zudem ein unmittelbar historischer ist, wird hier die Einsicht besonders deutlich, daß der jeweilige Stellenwert einer Form im Gefüge der literarischen Gattungen nicht nur ein zentrales Moment der Gattungsgeschichte selbst ist, sondern zugleich die Poetik historisch relativiert. Wenn man inzwischen auch voraussetzen kann, daß Veränderungen im Gattungsgefüge keine rein innerliterarischen Vorgänge sind, so ist doch die Konkretisierung dieser Einsicht im einzelnen vielfach erst nodi zu leisten: so auch hier. Die Verdeutlichung und Differenzierung poetologischer Erkenntnisse in detaillierten Einzelwerkanalysen ermöglicht also einerseits eine Historisierung der Gattungspoetik; umgekehrt ist aber durch die Orientierung an poetologischen Fragen und die dadurch begründete Auswahl repräsentativer Beispiele das übliche Dilemma der rein gattungsgeschichtlichen Darstellungen zur Autobiographie zu vermeiden: das Ertrinken im Stoff und im bloßen Referat von Erzählinhalten, das sich aus der für die Zweckform spezifischen Priorität der Gegenständlichkeit vor ihrer zunächst unproblematisch erscheinenden Wiedergabe herleitet und das um so unvermeidlicher ist, je mehr man sich um eine vollständige Erfassung der vorliegenden Zeugnisse bemüht, die sich - will man ihnen insgesamt gerecht werden am ehesten nach inhaltlichen Kriterien systematisieren lassen, wenn man sie nicht - noch einfacher - als individuelle Hervorbringung je für sich beschreiben will. Dabei ist aber zu betonen, daß die systematisierende Auswahl der Beispiele nicht eine Preisgabe des historischen Erkenntnisinteresses bedeutet, sondern dessen Erweiterung ins Grundsätzliche. In diesem Sinne ist auch die Beschränkung auf die Nationalliteratur zu verstehen, die bei einer primär gattungspoetischen Fragestellung zweifelhaft wäre: sie igno4
riert nicht die Tatsache, daß die Autobiographie eine europäische Literaturgattung ist, und sie übersieht auch nidit, daß etwa die Selbstdarstellungen Rousseaus, Alfieris oder Chateaubriands literarisch bedeutsamer sind als die meisten deutschen Autobiographien des gleichen Zeitraums; sie beruht vielmehr auf der Hypothese, daß die spezifische Art und Weise, wie die Zweckform in Deutschland literarisiert wurde, auf einer identischen geschichtlichen und sozialgeschichtlichen Konstellation beruht, die in anderen Ländern nicht in gleicher Weise gegeben war, die es aber andererseits als solche erst erlaubt, von einer zusammenhängenden Tradition innerhalb der Gattungsentwicklung zu sprechen. Im übrigen ist zu betonen, daß die literarische Bedeutsamkeit eines Textes nicht das erste oder alleinige Kriterium für seine Beurteilung sein kann, daß das Literarische also als Typus- und nicht als Wertbegriff verstanden wird. Die wissenschaftliche Erforschung der Autobiographie hat vergleichsweise spät eingesetzt und erst in neuester Zeit zu grundsätzlicheren Ergebnissen geführt. Das hängt vor allem mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Tatbestand zusammen, auf den unlängst Friedrich Sengle mit Nachdruck hingewiesen h a t : 2 mit der Vernachlässigung der literarischen Zweckformen, die eine auf die Gattungstrias der humanistischen Poetik und ihrer klassizistischen Tradition fixierte Dichtungswissenschaft kaum zur Kenntnis nahm. Das bedeutete eine folgenreiche Verkürzung des Literaturbegriffs, weil die Rhetorik, in deren Ressort die Zwedkformen traditionsgemäß fielen3 und die insofern die notwendige Ergänzung der humanistischen Poetik bildete, mit der Durchsetzung der ungebundenen Rede als Darstellungsmittel der >hohen< Dichtung zur Stilistik schrumpfte 4 und damit die Korrelation jener beiden Disziplinen aufgegeben wurde, die eine Erfassung des gesamten Schrifttums gewährleistet hatte. Damit entstand die einigermaßen paradoxe Situation, daß die klassizistische Dichtungstheorie mit ihrer Lehre von der Gattungstrias sich zu dem Zeitpunkt als absolut zu behaupten begann, als sie inhaltlich durch die Durchsetzung des Romans als dichterische Gattung eigentlich in Frage gestellt war, denn hier lag ja - wie angedeutet - die Einbruchsstelle für die Zweckformen in den ihnen bisher verschlossenen Bereich der hohen Dichtung. Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft war somit auf den der klassizistischen Poetik eingeengt: für die Zweckformen fehlten die systematischen Kriterien und Kategorien. Das gilt insbesondere für die Formen, die erst in der Neuzeit 2
3 4
Friedrich Sengle, Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre. Stuttgart 2 ΐ909· Vgl. hierzu audi Wilfried Barner, Barockthetorik. Tübingen 1970, S. 78fr. S. hierzu Sengle, a.a.O., S. 9, 29.
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entstanden oder literarisch wurden wie Essay, Tagebuch oder Autobiographie: 5 hier war, anders als für die traditionellen Zweckformen (etwa Brief, Rede oder Predigt), auch durch einen Rückgriff auf die Rhetorik kein gesicherter Ausgangspunkt zu gewinnen. Eine kontinuierliche Forschungstradition konnte sich deshalb nicht bilden. Es kennzeichnet vielmehr die Situation, daß sich jeder bisherige Ansatz zur Erforschung der Autobiographie als Pionierleistung in wissenschaftlichem Neuland versteht. Das hat zur Folge, daß vor allem die deskriptiv zu gewinnenden Kategorien der allgemeinsten Formbestimmung immer wieder neu formuliert wurden, ohne den Charakter von Prolegomena zu einer systematischen Analyse zu verlieren und ohne sich zu einem grundsätzlich schon möglichen Konsensus über gesicherte Voraussetzungen zusammenzuschließen. Erst in jüngster Zeit sind einige vielversprechende Ansätze zu einer Theorie der Autobiographie zu verzeichnen, in denen das Anfangsstadium der wissenschaftlichen Analyse, das durch eine Vielzahl paralleler Ansätze gekennzeichnet war, verlassen wird. Diesem Forschungsstand ist in der nachfolgenden Untersuchung Rechnung zu tragen. Die Ergebnisse der einzelnen Forschungsbeiträge, die erheblich zahlreicher sind, als es manche Arbeiten glauben machen,6 werden in einem knappen Forschungsabriß zusammengefaßt, der allerdings, um Wiederholungen zu vermeiden, nur die wichtigsten Positionen verzeichnet. Auf diese Weise ist es möglich, den Arbeitsansatz von vornherein jenseits der Verständigung über die elementaren Grundsätze einer Gattungsdefinition zu gewinnen. Es sind einerseits die gesicherten Voraussetzungen und Ergebnisse zu vergegenwärtigen, auf denen die Untersuchung aufbauen kann, ohne sie ihrerseits erneut herleiten zu müssen, andererseits aber auch methodisch wichtige Fragestellungen zu verzeichnen, selbst wenn ihre Ergebnisse im einzelnen nicht standhalten, wenn aber im Widerspruch neue Positionen zu gewinnen sind. Insofern ist die Vergegenwärtigung des Forschungsstandes schon der erste Teil der systematischen poetologischen Reflexion, von der die skizzierte literaturgeschichtliche Fragestellung auszugehen hat (Abschnitt I). Sie wird durch eine Analyse der erzähltheoretischen Grundlagen der Autobiographie als Zweckform und deren historische Konkretisierung an den Typen des 18. Jahrhunderts ergänzt (Abschnitt II). Damit ergibt sich der systematische Horizont für die Literarisierung der 5
Vgl. hierzu Walter Müller-Seidel, Autobiographie als Dichtung in der neueren Prosa (L 70), S. 29. • S. hierzu die im ersten Abschnitt des Literaturverzeichnisses genannten Arbeiten, die keineswegs die gesamte Literatur zur Autobiographie darstellen. Sie vollständig erfassen zu wollen, ist wegen der Banalität vieler Beiträge sinnlos.
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Zweckform, die ihrerseits an die Erzählmöglichkeiten der dichterischen Prosa und die Strukturgesetze des Romans als nächstverwandter epischer Form gebunden war: die Berührungspunkte zwischen Autobiographie und Roman in der Vorgeschichte des modernen Romans sind daher ebenso zu klären wie die Korrespondenzen zwischen beiden Formen, wie sie sich an der zeitgenössischen Romantheorie ablesen lassen (Abschnitt III). Es folgen die nach verschiedenen systematischen Gesichtspunkten unterschiedlich akzentuierten Interpretationen jener autobiographischen Werke, die für die Literarisierung der Autobiographie repräsentativ sind, wobei im einzelnen zu begründen versucht wird, weshalb sich die reine Zweckform f ü r die Erzählintention jeweils als zu eng erwies (Abschnitt IV). Da der literarische Rang bzw. der Grad der Literarisierung bei den einzelnen Werken unterschiedlich ist, läßt sich die Auswahl bis zu einem gewissen Grade diskutieren: ein gravierender Einwand ergäbe sich aber erst dann, wenn ein für die Würdigung des Gesamtvorgangs wesentlicher Typus übersehen wäre. Abschließend wird der Versuch unternommen, die Literarisierung der Autobiographie als literaturgeschichtlichen Vorgang im Zusammenhang zu deuten und die Konsequenzen für die Gattungsgeschichte der Autobiographie im ip. und 20. Jahrhundert zu skizzieren (Abschnitt V). Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zu den verschiedenen, bisher meist getrennt behandelten, jedoch nur in systematischen Fragestellungen isolierbaren Problemkomplexen des autobiographischen Schrifttums. Sie geht der bislang meist unbefriedigend beantworteten Frage nach einer spezifischen Gattungsbestimmung der Autobiographie nach, indem sie die erzähltheoretischen Implikationen des besonderen Gegenstandes und seiner Vermittlung analysiert und deutlich macht, daß eine Poetik dieser Form noch stärker als bei den rein ästhetischen Gattungen historisch relativ ist, so daß eine allgemeine Definition - sei es als ideale Norm oder als >innere Form< der vorhandenen Werke - nicht möglich ist, wohl aber die Darstellung einer Bezugsebene für gattungsspezifische Veränderungen. Die Formfragen der Autobiographie ergeben sich deshalb nur in dem weiteren Rahmen historischer Erzählprobleme, so daß im Untersuchungszeitraum sowohl wichtige Aspekte der Romangeschichte als auch - bedingt durch die Literarisierung der Zweckform - Fragen des historisch-pragmatischen im Verhältnis zum fiktiven Erzählen zu klären sind. Und schließlich ist die Untersuchung auch der Versuch einer neuartigen Grundlegung der Gattungsgeschichte der Autobiographie, indem sie sich bemüht, den normativen Charakter der im engeren Sinne literarischen Formtypen dadurch aufzuheben, daß sie ihn aus einer geschichtlichen Sonderentwicklung herleitet, die die Zweckformen wieder ins Recht setzt, ja erst als Teil der Geschichte der
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Zweckform angemessen zu würdigen vermag. Die Totalität der Gattungsgeschichte kommt notwendig ins Spiel, wenn man davon ausgeht, daß die Literarisierung der Zweckform dadurch bedingt ist, daß die Autobiographie vorübergehend zu einer im umfassenden Sinne zeitgemäßen Form wurde. Das Manuskript der vorliegenden Untersuchung wurde im Wintersemester 1974/7 j vom Fachbereich Neuphilologie der Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Zu besonderem Dank bin ich meinem Lehrer Prof. Dr. Klaus Ziegler verpflichtet, der die Arbeit durch ständigen Rat und geduldige Teilnahme gefördert hat. Für energische und tatkräftige Unterstützung und wichtige Hinweise danke ich Prof. Dr. Richard Brinkmann, für nützliche Anregungen Prof. Dr. Jürgen Schröder und Prof. Dr. Ernst-Walter Zeeden sowie den Tübinger Kollegen und Freunden. Ohne ein großzügiges zweijähriges Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte idi die Arbeit nicht schreiben können, auch nicht ohne die Geduld und das Verständnis meiner Frau. Die vorliegende Fassung wurde im Sommer 1975 im Manuskript abgeschlossen.
2. Die Autobiographie in der Forschung: Ergebnisse und Probleme
Die Anfänge der wissenschaftlichen Erforschung der Autobiographie sind in Deutschland um 1900 zu verzeichnen.1 Angesichts der Abstinenz der Literaturwissenschaft gegenüber den Zweckformen nimmt es nicht wunder, daß sie im Bereich historischer und philosophischer Fragestellungen lagen. Die frühesten Untersuchungen beschäftigten sich mit dem geschichtlichen Quellenwert des autobiographischen Sdirifttums 2 und führten bereits zu 1
2
In England w a r die ebenfalls um 1900 einsetzende Forschung zeitweise intensiver (vor allem im Zusammenhang mit den Untersuchungen zur Biographie). Die Ergebnisse sind allerdings insgesamt kaum ergiebiger als in Deutschland. In Frankreich konnte Philippe Lejeune (L'autobiographie en France ( L 53)) sogar noch 1 9 7 1 davon ausgehen, daß er mit seiner Untersuchung absolutes Neuland betrat (s. S. j). Friedrich v . Bezold, Über die A n f ä n g e der Selbstbiographie und ihre Entwicklung im Mittelalter (1894) ( L 8); H a n s Glagau, die moderne Selbstbiographie als historische Quelle (1903) ( L 2 9 ) . Diese Arbeiten stehen im Rahmen einer übergreifenden geschichtswissenschaftlichen Fragestellung, die parallel hierzu auch f ü r die Memoirenliteratur durchgeführt wurde.
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ersten - freilich wenig beachteten 3 - Einsichten in die Erzählstruktur der Form. Folgenreicher war die philosophische Theorie der Autobiographie, die Wilhelm Dilthey in seiner Grundlegung des Systems der Geisteswissenschaften und ihrer Hermeneutik entwickelte.4 Für Dilthey liegt die elementarste Einheit des Bewußtseins im einzelnen Erlebnis, in dem das Ich sich selbst erfährt und das deshalb als kleinste Einheit in der geistigen Welt anzusehen ist.5 Die einzelnen Bewußtseinsinhalte erweitern sich zum Selbstbewußtsein, indem in den verschiedenen Erlebnissen ein identisches Selbst erfahren wird, das sie als seine Erlebnisse realisiert. Damit erweist sich das Leben als der ursprünglichste, natürliche Zusammenhang geistiger Vorgänge, so wie umgekehrt die Kategorie des Zusammenhangs aus dem Leben selbst hervorgeht und vermöge der Einheit des Bewußtseins aufgefaßt wird. Die erste kategoriale Bestimmung, die im Leben selbst enthalten ist und allen anderen Beziehungen zugrunde liegt, ist die Zeitlichkeit, die als Ordnungsprinzip die einzelnen Erlebnisse in eine gegliederte Folge bringt, so daß das Leben in der Reflexion als strukturierter Zusammenhang erfahren wird, in dem jedes Einzelmoment einen auf das Ganze bezogenen Stellenwert hat. Das Verstehen als die eigentliche Form der geisteswissenschaftlichen Synthesis begnügt sich freilich nicht mit dem vorgegebenen zeitlichen Zusammenhang der im Einzelleben zusammengefaßten Erlebnisse, wie sie in der Erinnerung miteinander verbunden sind. Es erschließt das Ganze von der Kategorie der Bedeutung her, durch die es erst im eigentlichen Sinne eine Struktur erhält. Es handelt sich um ein Sinnverstehen, das vom vorausgesetzten Sinn des Ganzen die Bedeutung der Teile bestimmt und aus dieser Bestimmung den präzisen Gesamtsinn inhaltlich gewinnt, d. h. um die Erkenntnisform des hermeneutisdien Zirkels, dessen Grundmuster und Urbild das Verständnis des eigenen Lebens ist. Entsprechend hoch schätzt Dilthey die Autobiographie als die literarische Objektivation der Selbstbewußtwerdung ein: »Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des 3 4
5
V g l . hierzu W u l f Segebredit, Autobiographie und Diditung (L 9 1 ) , S. 29. Wilhelm Dilthey, D e r A u f b a u der geschichtlichen W e l t in den Geisteswissenschaften. I n : Dilthey, Ges. Schriften Bd. 7 (L 19). Zitiert als Dilthey 7. - Zur W ü r d i g u n g und Kritik s. besonders: H a n s - G e o r g Gadamer, Wahrheit und Methode. Tübingen 2 1 9 6 5 , S. 2 1 3 Î Î , und Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. F r a n k f u r t a. M . 1 9 6 8 , S. 1 9 0 - 1 9 8 . Beide Untersuchungen sind hier zu nennen, weil sie sich mit der Bedeutung der Autobiographie in Diltheys System auseinandersetzen. Z u m folgenden s. Dilthey 7 , i 9 2 f f .
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Menschen über seinen Lebenslauf«,® als solche aber »die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt«. 7 Als ein Sinnverstehen ist das Selbstverstehen schon in der unbewußten Vorentscheidung der Erinnerung und auf höherer Stufe in der deutenden Synthese auf ein Sinnganzes ausgerichtet. Damit wird in der Reflexion über den eigenen Lebensverlauf das Verstehen als Erkenntnisform ausgebildet. 8 Die im Selbstverständnis entwickelte Form der Synthesis ermöglicht aufgrund der Identität der menschlichen Natur (des »Zusammenhangs des Allgemeinmensdilichen mit der Individuation« 9 ) zunächst das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen 10 und schließlich die Ausbildung der höheren Formen des Verstehens, deren Gegenstand die objektiven Gebilde des Geistes und letzten Endes der universalhistorische Zusammenhang sind. Aber die Autobiographie ist für Dilthey nicht nur das Paradigma des geisteswissenschaftlichen Verstehens, nicht nur Erkenntnisvorgang, sondern auch selbst eine Objektivation des Geisteslebens und als solche der unmittelbarste und zuverlässigste Zugang zur geschichtlichen Totalität: »Der Lebensverlauf eines Individuums in dem Milieu, von dem es Einwirkungen empfängt und auf das es zurückwirkt (ist) die Urzelle der Geschichte. « u In der Biographik sieht Dilthey deshalb das Grundprinzip aller Geschichtsschreibung.12 Die Autobiographie wird somit zugleich als hermeneutisdies Modell und als geschichtliches Dokument verstanden. 13 Im Prinzip ist für Dilthey historisches Verstehen eine Erweiterung des autobiographischen Selbstverständnisses und in diesem schon angelegt. Aufgrund dieser systemati8 • Dilthey 7 , 199. 1 Ebd. S. Dilthey 7, 2 3 6 . 10 s » Dilthey 7 . 2 1 3 · · Dilthey 7, 2 0 5 f f . Ähnlich 1 1 8 , 1 4 1 . 11 Dilthey 7, 246. 12 D a ß in dieser Konstruktion eine Unterschätzung der Geschichtlichkeit der geschichtlichen E r f a h r u n g im Banne eines »erkenntnistheoretischen Cartesianismus« vorliegt, hat Gadamer nachgewiesen (Wahrheit und Methode, a.a.O. S . 288). 13 A u f den zweiten Aspekt ist gegen Habermas hinzuweisen, der davon ausgeht, daß die Autobiographie für Dilthey nur ein methodologisches Modell ohne systematische Bedeutung sei (Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 190). V g l . d a gegen Gadamers Deutung (a.a.O., S . 2 1 1 ) : wegen des ungeklärten Übergangs von der psychologischen zur hermeneutisdien Grundlegung der Geisteswissenschaften »behält in dem ausgeführten Teil des >Aufbaus< die Autobiographie und die Biographie - zwei Sonderfälle geschichtlicher E r f a h r u n g und Erkenntnis - ein nicht ganz begründetes Ubergewicht«. S. a. Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der Diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl. Leipzig/Berlin 2 i 9 3 i , S. 1 0 8 f f .
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sehen Zusammenhänge ist die Untersuchung die erste umfassende Theorie der Autobiographie, die zwar nicht an der Form als solcher interessiert ist (deshalb auch auf Einzelanalysen historischer Beispiele verzichtet), aber aus der Analyse ihrer philosophisch-erkenntnistheoretischen Implikationen audi wichtige formale Einsichten gewinnt, etwa hinsichtlich der besonderen Zeitstruktur, der sich verändernden Totalität des Erzählten, der sinngebenden und von einem vorgängigen Sinnverständnis geprägten Mechanismen der Erinnerung, der Orientierung an ästhetischen Mustern und deren Weiterentwicklung aus den >Naturformen< des Lebensverständnisses. Soweit sie die Struktur der Autobiographie bestimmen, sind diese Einsichten audi unabhängig von ihrem lebensphilosophischen Kontext von grundlegender Bedeutung geblieben. Das zukunftweisende Moment der Diltheysdien Darstellung liegt allerdings weniger in ihren Ansätzen zur Formanalyse und zur theoretischen Grundlegung als in der prinzipiellen Anerkennung der Autobiographie als selbständiger literarischer Form und insbesondere ihrer Würdigung als wesentliches Zeugnis des historischen Bewußtseins und unmittelbares Dokument geistesgesdiichtlicher Vorgänge. In diesem Sinne versteht audi Georg Misch sie. Als Sdiüler und Gesprächspartner Diltheys war er wesentlich daran beteiligt, daß die Autobiographie ihren zentralen Stellenwert in dessen geisteswissenschaftlicher Systematik erhielt. 14 Umgekehrt folgt er in seiner monumentalen b e schichte der Autobiographie^ 5 dem Diltheysdien Ansatz, indem er zwar die Geschichte einer Literaturgattung zu schreiben unternimmt, deren einzelne Zeugnisse jedoch als >LebensäußerungenBiographie< verstanden, 23 zugleich aber in der Weise verfuhren, daß »die ganze Lebensbeschreibung mit Recht als Autobiographie angesehen werden kann«. 24 Das letztere ist eher ein A k t der Pietät gegenüber dem Autor, bei dem sich die Herausgeber der Zustimmung des Publikums sicher zu sein glaubten, als eine Rücksichtnahme auf die Konzeption des Werks. Es entsteht im Gegenteil ein eher zwiespältiger Eindruck, denn Weißes Aufzeichnungen sind deutlich biographisch strukturiert, was sich vor allem in der Verwendung der Er-Form statt der Ich-Form zeigt. Dieser objektivierende Charakter entspricht dem angegebenen Zweck: durch in der antiken F o r m der Biographie, die im Zeitalter des Humanismus erneuert wurde und in der F o r m von Biographien-Sammlungen weite Verbreitung fand. Die Verfasser solcher Sammlungen gingen seit dem 16. Jahrhundert die Berühmtheiten um Mitteilung biographischen Materials an. In solchen Materialsammlungen, die sdiematisch an den Schriften des Autors orientiert waren, sieht Misdi den Ursprung der Gelehrten-Autobiographie, die im Prinzip bis ins 19. Jahrhundert fortwirkte. 20
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Zit. nach Marianne Beyer-Fröhlich (Hg.), Deutsche Selbstzeugnisse ( D L E W ) B d . 7 . Pietismus und Rationalismus. Darmstadt 2 1 9 7 0 . A u s : D . Johann J a c o b Reiskes von ihm selbst aufgesetzter Lebensbeschreibung. S. 2 4 8 . Hervorhebung von mir. Christian Felix Weißens Selbstbiographie ( L 268). Im folgenden zitiert als: Weiße. 2 24 Weiße, S. I I I . » Weiße, S. I V . Weiße, S . V I . 33
authentische Angaben zu verhindern, daß »falsche Erzählungen, insbesondere, von seinem litterärischen Leben« entstehen.25 Das Schwanken der Formbestimmung zwischen Autobiographie und Biographie unterstreicht den Charakter der Zweckform, der sich auch aus der Darstellungsintention ergibt. Denn es geht nicht um die Schilderung der eigenen Person und des eigenen Lebens, sondern um eine Art Rechenschaft über ein Autorleben, 28 auf die das Publikum Anspruch hat, weil das Werk außerordentlich erfolgreich war. Die Lebensgeschichte wird auf diese Weise mit der literarischen Tätigkeit identisch. In der Schilderung wird die streng objektivierende Berichtform durchgehalten. So wird keiner der zahlreichen berühmten Freunde Weißes als Person lebendig, die Mitteilungen beschränken sich konsequent auf die >offiziellen< Beziehungen. Die Veräußerlichung der Darstellung setzt einen bestimmten Publikumsbezug voraus: angesprochen ist eine Leserschaft, für deren präzises Vorwissen Anspielungen genügen, im Extremfall die bloße Namensnennung. Das ist der Grenzfall der reinen Wirklichkeitsaussage, die ihren Bezugsrahmen nicht selbst zu schaffen braucht, sondern im Leserbewußtsein voraussetzen kann. Damit entfallen auch die für die Autobiographie in der Position des rückblickenden Ich-Erzählers gegebenen legitimen Möglichkeiten der Selbstdarstellung. 27 Das ist möglich, weil Weiße kaum Veranlassung hatte, sich zu rechtfertigen oder seine Wirkungsgeschichte zu korrigieren: er war im Grunde mit seinem Erfolg und mit der gefundenen Anerkennung einverstanden. Trotz solcher Kürze und strengen Objektivität ist der Zweck der eigenen Lebensbeschreibung erreicht: es zeigt sich, wie wenig die Zweckform grundsätzlich auf die Vergegenwärtigung der Lebensvorgänge angewiesen war, wenn sie sich in überzeugender Weise auf die historische Faktizität beziehen konnte. Mit dem annalistischen Erzählverfahren erhält die Rechenschaft über das Autorleben gleichsam von selbst biographischen Cha25 Weiße, S. I V . 2β Neumann zitiert Weißes Autobiographie zu Recht als ein typisches Beispiel f ü r >Rollenzwang< in der Autobiographie, allerdings w i r d der extreme Charakter des Werks im Rahmen der Gattungsgeschichte so wenig deutlich wie die Besonderheiten seiner Entstehung (s. B. Neumann (L 7 3 ) , S . i o j f . ) . 27
Einen gewissen E r s a t z hierfür bieten nur einige eingefügte Dokumente, v o r allem Briefe v o n Freunden ( E k h o f , S. 29fr., im A n h a n g ein sehr wichtiger Brief von G a r v e , S. 2 8 5 ^ ) und die zusammenfassende Würdigung des Sdiwiegersohnes ( 2 7 j f f . ) , die im Persönlichen sehr viel anschaulicher und konkreter ist als die Autobiographie selbst. D a ß das kein Unvermögen, sondern bewußter Stilwille ist, belegt ein ebenfalls im A n h a n g abgedrudcter Brief Weißes an G a r v e (S. 27off.), der eine sehr präzise und detaillierte Selbstdarstellung enthält, der im T e x t der Autobiographie nichts auch nur annähernd Vergleichbares entspricht.
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rakter, wobei die Mitteilungen zur Person, da sie im Horizont der Tätigkeit und des Werks stehen, ihrerseits systematisch objektiviert werden. Das Private wird konsequent nur als Moment der Schriftstellerbiographie eingeführt. Kennzeichnend hierfür sind insbesondere die Mitteilungen über Ehe und Familie. Von Weißes Ehefrau ist zweimal beiläufig die Rede, bevor Werbung und Heirat selbst zur Sprache kommen: zuerst bei der Schilderung seines Verhältnisses zu Geliert, 28 dann in einer Anekdote (eine überaus seltene Erzählform in diesem Werk!) anläßlich der Erwähnung seiner Tragödie >Richard III«,29 beide Male also im Hinblick auf das Autorleben, in dem der private Bereich aufgeht. Die Ehe selbst wird erst bei der Schilderung der Bedingungen der poetisch-kritischen Tätigkeit eingeführt: als erste dieser Bedingungen wird die Muße genannt, die das Amt eines Kreissteuereinnehmers verschaffte, als weitere dann der Bräutigams- und Ehestand, dessen Wertung in einer charakteristischen Anmerkung erfolgt: »Aber die Götter, Amor und Hymen, waren mit den Musen in freundschaftlichem Vernehmen.« 30 Zur Bekräftigung folgt ein Verzeichnis der zahlreichen Arbeiten, die er in den ersten Ehejahren fertiggestellt hat: die »Schilderung ehelicher und häuslicher Freuden« ist durch einige »durch sie veranlaßte litterärische Arbeiten« gerechtfertigt. 31 Auch das Familienleben, das im Schlußteil zusammenhängend geschildert wird, 32 erscheint nur abstrahierend als Bedingung der literarischen Tätigkeit. Dabei konnte Weiße gerade hier auf ein spezielles Publikumsinteresse rechnen, da allgemein die Schilderungen seines >Kinderfreundes< (eines nach dem Vorbild des >Spectator< konzipierten außerordentlich erfolgreichen Familienjournals) als Porträt seiner Familie galten. Er nutzt jedoch auch die hier sich bietende Möglichkeit zu epischer Anschaulichkeit nicht und begnügt sich mit sehr allgemeinen Angaben, die lediglich deutlich machen, daß der >Kinderfreund< ein »Roman für die Jugend« 33 und keine autobiographische Schilderung seiner häuslichen Verhältnisse ist, ihm im Gegenteil »manche traurige Vorfälle seines häuslichen Lebens versüßt« hat. 34 Literatur und Leben werden streng getrennt, und dieser Grundsatz bestimmt die Form der Autobiographie. Das Mißverständnis des Publikums ist lediglich die objektive Rechtfertigung dafür, daß der private Bereich wenigstens skizziert wird. Auch seine Reisen bieten Weiße keinen Erzählstoff. Er begnügt sich jeweils mit der Angabe des Reiseziels und der Personen, die er besucht hat. Hier wird der Anspielungscharakter des Erzählens vollends deutlich: der Name (von Orten und Personen) steht für die Realität; die persönlichen 28 Weiße, S. 23. 2 » Weiße, S. 89. 32 Weiße, S. 198 if.
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» Weiße, S. 100. Weiße, S. 194.
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» Weiße, S. 109. Weiße, S. 198.
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Erfahrungen scheinen in diesem Zusammenhang entbehrlich. Typisch ist die folgende Bemerkung über seinen Aufenthalt in Paris: E r [Weiße] lernte unter Anleitung seiner Freunde die Schönheiten der N a t u r und Kunst in Paris kennen; kam in die Bekanntschaft großer, ihm höchst interessanter Männer; ward täglich mehr von den Annehmlichkeiten des Umgangs angezogen [ . . . ] · 3 5
Im Rahmen dieses Parisaufenthaltes, der insgesamt wie alle anderen Reiseschilderungen nur stichwortartig skizziert ist, steht eine der ganz seltenen ausführlichen und inhaltlich konkreten Passagen dieser Autobiographie: der Besuch bei Rousseau in Montmorency. 86 Er wird in seinem genauen Ablauf geschildert, und das Gespräch mit Rousseau wird exakt referiert, jedoch in der Weise, daß die eigenen Dialogteile in indirekter Rede wiedergegeben werden, während Rousseaus Äußerungen, denen die ganze Aufmerksamkeit gilt, immer wieder auf zugespitzte Aussagen in direkter Rede hingeführt werden, die durch die Wiedergabe in französischer Sprache besonders herausgehoben sind. Das ergibt ein ansonsten ganz ungewohntes Maß an Vergegenwärtigung, die - nicht zuletzt durch die Fremdsprache den Charakter der Reportage hat. Der Sinn dieser Abweichung vom durchgängigen Darstellungsprinzip liegt in der ausdrücklich festgehaltenen Tatsache, daß »Rousseaus Gespräche, oder vielmehr die Sentenzen, die er hinwarf, immer das eigne Gepräge von seinem Genie und von seiner Sonderbarkeit hatten«. 37 Die Wiedergabe des Gesprächs führt zu diesen >Sentenzen< hin. Die Ausführlichkeit und Anschaulichkeit aber dürfte in dem großen Interesse des Publikums an der Persönlichkeit (der Sonderbarkeit) Rousseaus liegen, das dieser Begegnung ihren hervorragenden Wert gibt und die exakte Schilderung zur Pflicht macht: 38 in diesem besonderen Falle genügt der Hinweis auf die Wirklichkeit allein nicht, denn die Fakten sind nur im Gedächtnis bewahrt. Das objektivistische Verfahren, das sich durch die Wahl des Stoffes (innerhalb der Möglichkeiten, die die Lebensgeschichte dafür bietet) und durch den Erzählstandpunkt ergibt, wird zusätzlich durch die Verwendung der Er-Form statt der Ich-Form unterstrichen. Tendenziell wird damit die Autobiographie in die Biographie aufgehoben, indem die Artikulation 3« Weiße, S. 70-75. 3 7 Weiße, S. 74Í. « Weiße, S. 6γ{. 3 8 Wie sehr Weiße damit einem zeitgemäßen Mitteilungszwang folgt, ergibt sich etwa aus Goethes Bemerkung im 13. Buch von >Dichtung und Wahrheit< (Hamburger Ausg. Bd. 9 (L 380), S. 558), daß in Rousseaus Namen »eine stille G e meinde weit und breit ausgesäet« war, die jedes auf ihn bezügliche Zeugnis (hier die Briefe Julie Bondelis) mit Andacht verehrte: »Wer mit diesem außerordentlichen Manne nur irgend in Verhältnis gestanden hatte, genoß Teil an der Glorie, die von ihm ausging.«
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des Schreibzeitpunkts und die damit eingestandene Standortgebundenheit des Erzählens verschleiert wird. So entfällt die wechselnde Distanz zu den Ereignissen, die allein schon durch den unterschiedlichen Zeitabstand gegeben ist: der Er-Erzähler befindet sich im wesentlichen stets im gleichen Abstand zum Erzählten. Dennoch kann man nicht sagen, daß der intendierte Übergang zur Biographie die Autobiographie tatsächlich als Formprinzip aufgehoben hätte, denn letztlich scheint die Ich-Form doch durch die Er-Form durch. Das wird um so deutlicher, je mehr sich die Darstellung der Schreibgegenwart nähert und je mehr die Aussagen gegenwärtige Probleme berühren. Die Form behindert die an sich notwendige direkte Kontaktaufnahme mit dem Publikum oder erschwert sie mindestens. Eine Aussage wie die folgende, die für viele andere steht, macht deutlich, wie durchscheinend die an sich beabsichtigte Biographiefiktion ist: Wer eine Kritik seiner theatralischen Arbeiten liefern will, den bittet er, diese Vorreden [zu den letzten Auflagen seiner Lust- und Trauerspiele, K D M ] nicht unbeachtet zu lassen, damit er nicht zu streng urtheile. Hier werde ihm nur die Bemerkung noch verstattet, daß wenn gleich seine Neigung zu theatralischen Arbeiten durch äußere Veranlassung entwickelt worden ist, er sich doch für überzeugt hält, nadi einem innern Berufe fürs Theater gedichtet zu haben. 39
Eine Biographie kann Angaben über Willensäußerungen und Ansichten kaum ohne Angabe von Quellen machen, da der Bereich der Innerlichkeit, um den es sich hier ganz spezifisch handelt, in historischen Texten nur der Introspektion zugänglich ist und also schon vermittelt sein muß, wenn ein Dritter darüber aussagen will. Hinzu kommt, daß dieser Typus von Aussagen wirklidikeitsorientiert ist und deshalb das Subjekt als historisch setzt. Und schließlich ist das Präsens im referierenden Bericht nicht möglich, da es in der hier vorliegenden Verwendung Schreibzeitpunkt und Lebenszeitpunkt identisch setzt, also durch den Bezug auf Innerlichkeit kein historisches Präsens sein kann und somit die autobiographische Erzählsituation verdeutlicht. Die nicht relativierten Meinungen, Urteile und Wünsche, die in präsentischer Form einen Wirklichkeitsanspruch geltend machen, sprengen die Er-Form. In ihrer transparenten Verwendung ist sie aber keineswegs prinzipiell mit der Autobiographie unvereinbar. Im Bereich der Zweckform kann sie vielmehr den objektivierenden Anspruch der streng historisierenden Sicht unterstreichen, die allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist: vor allem an ein relativ großes Vorwissen des Publikums und an ein weitgehendes Einverständnis des Autors mit dem ihn betreffenden Vorurteil. Unter diesen Prämissen ist Weißes Autobiographie keineswegs kunstlos. 3» Weiße, S. I 6 J ; Hervorhebung von mir.
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Sie bezeichnet vielmehr die grundsätzlich immer vorhandene Tendenz der Autobiographie, ihre als objektiv verstandenen Aussagen durch die A b lösung vom erzählenden Ich ins Biographische zu stilisieren. Das nimmt ihr aber die Möglichkeiten zu ästhetischer Emanzipation, die in der Zweckform als unrealisierte Ansätze gegeben sind und schränkt sie zugleich auf einen streng historischen Wahrheitsbegriff ein. Das ist gleichwohl ein Rahmen, in dem sich die Zweckform erfüllen kann, und insofern ist ein mögliches Unbehagen an fehlender Anschaulichkeit und mangelndem Detail nur bedingt sachgerecht. Immerhin kann man aber bei einem Vergleich mit Weiße ermessen, wie weit der Weg von der reinen Zweckform zu Goethes >Dichtung und Wahrheit< ist, w o ebenfalls ein Autorleben autobiographisch gewürdigt wird.
3.4 Die religiöse (pietistische) Autobiographie Einem ganz anderen Typus der Autobiographie als Zweckform folgen Christian Friedrich Daniel Schubarts >Leben und GesinnungenWiedergeborenen< bildeten nach dem Vorbild August Hermann Franckes 41 seit dem Ende des 17. Jahrhunderts rasch ein Darstellungsschema aus, das sich an den von Francke definierten Stationen einer vorbildlichen ' Bekehrung ausrichtete. Im Herrnhuter Archiv sind allein 20 000 solcher Lebensläufe aufbewahrt. 4 2 Eine repräsentative Sammlung wurde sdion zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Johann Heinrich Reitz' berühmter Sammlung >Historie der Wiedergeborenen* publiziert und hat das Leserbewußtsein ebenso bestimmt wie die autobiographische Produktion. 43 Für die moderne, auf Individualität und Subjektivität orientierte Autobiographie ist die zum System erstarrte schematisierende Bekehrungs40
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Schubart's Leben und Gesinnungen. V o n ihm selbst im Kerker aufgesetzt. 2 Teile, 1791 und 1793 (L 269). (Im folgenden zitiert als: Schubart Bd. 1 und Sdiubart Bd. 2.) V g l . zum Folgenden Günter N i g g l , Zur Säkularisation der pietistischen A u t o biographie im 18. Jahrhundert (L 76). Hier audi Angaben zur Literatur über die pietistische Autobiographie. Georg Misch. Geschichte der Autobiographie (L 66), Bd. IV/2, S. 810. Wenn N i g g l (L 66, S. 157) die Reitzsche Sammlung als eine Sackgasse betrachtet, die durch eine starke Uniformität der Beispiele »eine formale Erstarrung des dafür beanspruchten literarischen Typus bewirken« mußte, so trifft
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geschickte in ihrer eigentlichen Form freilich ein wenig geeignetes Muster. 44 Denn wenn der Pietismus auch auf einer strengen Individualisierung des Glaubens beruhte, so hatte das doch eine Mediatisierung des wirklichen Subjekts zum theologischen Subjekt zur Folge, d. h. seine radikale Objektivierung im Glaubenszusammenhang. Was unter dieser Voraussetzung schon in Franckes Bekehrungsgeschichte aufgezeichnet wurde, waren nicht so sehr individuelle Erfahrungen wie theologische Probleme der Zeit und Stellungnahmen zu ihnen. Audi die ganz persönlichen religiösen Erfahrungen sind im Horizont einer Glaubensauffassung, die das Subjekt zur bestimmenden religiösen Instanz erhebt, von vornherein intersubjektiv: das Individuum ist der reale Ort der göttlichen Gnade. Der Subjektivismus dieser Glaubensform ist also paradoxerweise zugleich eine Form der Entsubjektivierung, 45 was freilich eine allmähliche Ausbildung tatsächlicher Subjektivität nicht ausschließt. Die pietistische Autobiographie im ursprünglichen Sinne muß deshalb gleichsam als eine dieser religiösen Richtung angemessene Form des theologischen Traktats angesehen werden. Die strenge Ablehnung des autonomen Subjekts und die Weltfeindlichkeit machen sie im eigentlich autobiographischen Sinne weitgehend ungegenständlich. Andererseits liegt in der Konzeption der Bekehrungsgeschichte strukturell schon der Ansatz zu einer Säkularisation, insofern >Durchbrudi< und >Wiedergeburt< die Aufhebung einer verneinten Form weltlichen Daseins beinhalten. Erst auf dem Hintergrund des sündhaften Daseins kann die religiöse Umkehr Gestalt gewinnen. Auf diese Einbruchstelle für eine das für die Gattungsgeschichte der Autobiographie als solche zu. Andererseits ist aber der Maßstab der literarischen Innovation, der dieses implizit wertende Urteil begründet, in bezug auf die Zeugnisse sicher falsch. Gerade die pietistische Autobiographie ist ja als (erbauliche) Z w e c k f o r m nicht an irgendeiner A r t formaler Originalität interessiert, so daß der strenge Schematismus der Darstellungsintention in hohem M a ß e entgegenkam und geradezu als Qualität empfunden werden konnte. 44
Neuerdings hat Gerhart v . Graevenitz nachgewiesen ( L 489), daß die These von der Ausbildung einer Kultur der Innerlichkeit in der pietistisdien A u t o biographie durchaus fraglich ist, insofern die Darstellungs- und Archivierungsgrundsätze der pietistischen Gemeinschaften, w i e auch die Prinzipien der G e meindehierarchie, sich sehr weitgehend an den Formen der repräsentativen Öffentlichkeit ausrichteten und diese zu imitieren versuchten. Man sollte indes nicht übersehen, daß die bürgerlich-pietistische wie auch die bürgerlichgelehrte >Ostentation< die höfische Repräsentation nur im Bereich neuer Inhalte zu imitieren vermochte.
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Misch (L 66, B d . I/2, S. 6 4 j f . ) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß die Autobiographie im 1 8 . Jahrhundert - wie schon bei Augustin - nidit aus dem G e f ü h l der Individualität entstanden sei, sondern aus einem übergreifenden Lebensverständnis ihren Gehalt beziehe und dadurch philosophischen C h a rakter< erhalte.
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»typologisdie Überlagerung der religiösen Bekenntnisschrift« zugunsten einer stärkeren Betonung der individuellen Erfahrungen und einer Schilderung von Welt hat neuerdings Günter Niggl mit Nachdruck hingewiesen: 4 · die religiöse Konfession werde durch die Tradition der Berufsautobiographie erweitert und erfahre eine typologisdie Säkularisation, die zur Ausbildung neuer Typen führe, insofern etwa die Missionstätigkeit im Sinne der Brüdergemeinde geschildert werde (Spangenberg) oder die theologisdie Position gegen Anfeindungen verteidigt werde, so daß sich das geläufige Schuldbekenntnis in ein Unsdiuldsbekenntnis umkehre (J. W. Petersen).47 Man sollte das Ausmaß dieser Säkularisation jedoch nicht überschätzen, denn immerhin gehört die Schilderung des sündhaften Lebens schon seit Augustin zur Tradition der religiösen Bekenntnisse. Das Leben des bekehrten Sünders ist inhaltlose und ungeschichtliche Zuständlichkeit in Gebet und Lobpreis Gottes. Autobiographisch ist deshalb schon bei Augustin nur die Vorgeschichte der Bekehrung, die sündhafte Weltverfallenheit: nur im Bereich des Weltlichen hat das Individuum persönliche Geschichte und kann es deshalb subjektives Profil gewinnen. Dieses Darstellungsmuster bleibt audi für die späteren pietistischen Zeugnisse verbindlich. Hamanns >Gedanken über meinen Lebenslauf« (1758) etwa, die der 28jährige unter dem frischen Eindruck des Bekehrungserlebnisses verfaßte, gehen noch davon aus, daß mit dem Durchbruch der göttlichen Gnade »das Ende (meines ganzen Lebens) erreicht (ist)«.48 Fortan fallen Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis zusammen,48 so daß das weitere Leben nur als ein gesdiichtsloses Lauschen auf Gottes Stimme vorstellbar ist. Der Lebenslauf, d. h. die Autobiographie, gilt mit dem Durchbruchserlebnis notwendig als abgeschlossen. Aber selbst im Hinblick auf diese >Vorgesdiichte< kann man von einem »Detailrealismus sowohl des äußeren Berichts wie der inneren Analyse« 50 allenfalls in einem sehr relativen Sinne sprechen, weil die mitgeteilten Details immer schon auf das Bekehrungserlebnis zugeordnet sind und Kontur nur im Maße ihrer Funktionalität gewinnen. 51 4
« N i g g l ( L 76), S . 1 5 8 . Beide T y p e n waren sdion in den Journalen der Quäker verbreitet (s. E m m a Danielowski, D i e Journale der frühen Q u ä k e r (L 126), S. iojff.). 48 H a m a n n , Gedanken über meinen Lebenslauf. I n : Johann G e o r g H a m a n n , Sämtliche Werke, 2. B d . Wien 1 9 5 0 , S . 1 1 - 5 5 ; hier S . 4 i f . 49 H a m a n n , S. 2 5 . so N i g g l ( L 76), S . 160. äi W u t h e n o w s Deutung ( L 107, S. 45ff.) verzichtet auf die Darstellung des pietistisdien Schemas in Hamanns Autobiographie. Es ist aber wohl zu wenig, wenn man nur annimmt, daß das Werk »mit den pietistisdien Lebensläufen etwas Entscheidendes gemeinsam« habe (46), denn dadurch erscheint die Darstellung origineller, als sie es tatsächlich ist. 47
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Das gilt für die meisten streng pietistisdien Autobiographien, etwa auch (um ein anderes Beispiel Niggls zu erwähnen) für Spangenberg, für den zwar »der Durchbrudi nicht mehr Ziel-, sondern Ausgangspunkt des Lebenslaufs (ist)«,52 so daß die Bekehrungsgeschichte in die Berufsautobiographie (des Missionars) übergeht, dessen Autobiographie aber nichtsdestoweniger nur in einem äußerst eingeschränkten Sinne welthaltig ist. Von den abenteuerlichen Überfahrten nach Amerika erfährt der Leser so wenig wie von den Zuständen und Lebensbedingungen auf dem anderen Kontinent. Ebenso ist der ganze private Bereich ausgespart: von seiner Heirat und Ehe etwa spricht Spangenberg nur in einem einzigen Halbsatz. Die typologische Säkularisation der Bekehrungsgeschidite hebt also die Wirkung der genuin pietistischen Weltfeindschaft nidit prinzipiell auf, sondern bewahrt sie in einer modifizierten Weltlosigkeit: eine enge, vom Sündenbewußtsein belastete Wirklichkeitssicht, die zudem durch die Erlebnismuster des Bekehrungsschemas noch zusätzlich präformiert ist, die unbedingte Vorherrschaft des inneren Lebens vor der äußeren Erfahrung, 53 das Aufgehen des Konkreten in der abstrakten Typisierung, die Randstellung der mitmenschlichen Beziehungen usw. 54 gelten auch nodi für die unter dem Einfluß der Berufsautobiographie typologisch veränderte religiöse Konfession. Von wirklicher Säkularisation kann man erst sprechen, wo der Typus der Gelehrten-Autobiographie gegenüber der Bekehrungsgeschichte dominierend wird (also etwa bei Bernd, Dippel, Edelmann, Moser, Oetinger). Immerhin sind aber die Übergänge fließend, und die Tendenz zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie ist in deren (negativ gesehenem) Gehalt an Welt schon beschlossen.
3.5 Schubart Als Zweckform ist die pietistische Autobiographie durch das Überwiegen des religiös erbaulichen über das eigentlich autobiographische Element gekennzeichnet. Welt und Ich (soweit es sich nicht um religiöse Erfahrungen handelt) erscheinen tendenziell immer nur im Zeichen der Negation, die 52 N i g g l (76), S. 160. 53
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D i e mit der Sdiilderung des inneren Mensdien sidi herausbildende Fälligkeit zu psychologisierender Selbstbeobachtung erfolgt, w i e N i g g l dargelegt hat ( L 76, S. 168), nicht im Bereich der religiösen Konfession, sondern w i r d durdi das pietistisdie Tagebudi vermittelt. Z u r Wirklidikeitssdiilderung in der pietistisdien Autobiographie s. besonders Ingo Bertolino, Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus ( L 6), S . 385fr.
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nicht einmal explizit formuliert sein muß, sondern auch - und das ist weit bedeutsamer - in Auswahl und Verschweigen wirksam wird. Die Säkularisation kann deshalb schon in der Verschiebung der Akzente von der religiösen Erfahrung zu größerer Welthaltigkeit liegen, selbst wenn das Weltliche weiterhin negativ gesehen wird. Das ist der Fall bei Schubart, dessen Lebensgeschichte zwar keine pietistische Autobiographie ist, aber das pietistische Muster in der Zweckform bewahrt. Das ist in der vorliegenden Gestalt nicht sofort erkennbar, denn die für Charakter und Intention der Autobiographie fundamental wichtige und entscheidende Vorrede wurde sehr viel später geschrieben als das Werk selbst und überbrückt die biographisch begründete Differenz der weltanschaulichen Standorte nur formal, allerdings auf eine redit aufschlußreiche Weise. Schubart bezieht sich hier auf das für das Zeitbewußtsein wohl wichtigste Muster autobiographischen Schrifttums, auf Rousseaus >ConfessionsConfessions< (1782) in den ersten Jahren von Schubarts Gefangenschaft geschrieben worden (zwischen 1778 und 1781). Die Vorrede, 1791 verfaßt, erfüllt die Funktion einer Vermittlung der Realität des spätestmöglichen Lebenszeitpunkts mit dem Publikum, überbrückt aber auch in der Auseinandersetzung mit dem späteren, für die Aufzeichnungen selbst nicht maßgeblichen Formtyp nicht den Abstand zur Darstellung selbst.58 Der Herausgeber des zweiten Teils, Schubarts Sohn Ludwig, beklagt in seinem Nachtrag 59 den »unmännlichen geistlosen Pietismus«,60 dem sein Vater unter dem psychischen Druck der Gefangenschaft vorübergehend verfallen war. In der Tat ist die Autobiographie - wie die Schilderung der Kerkerzeit zeigt - aus pietistischem Geist geschrieben, wenn Schubart auch im strengen Sinne niemals Pietist war.® 1 Seine von den Zeitgenossen vielfach als befremdlich empfundene Bekehrung, die aus dem kraftstrotzenden >Patrioten< einen »wimmernden Betbruder« machte,62 war offenbar ein Akt der Selbstbewahrung, der zwar den eigenen Gesetzen der psychologischen Konstel57
Sdiubart, Bd. i , S . 8.
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D e r Abstand zwischen Schreibzeitpunkt und Publikation muß Schubart audi als ein weltanschaulicher Abstand bewußt gewesen sein, denn er hat sein W e r k offenbar als ein historisches Dokument behandelt: er hat es nicht nodi einmal endgültig bearbeitet, sondern Korrekturen und Ergänzungen in der F o r m von Fußnoten hinzugefügt. A u d i hat er die angekündigte Fortsetzung nicht geschrieben.
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Schubarts K a r a k t e r von seinem Sohne L u d w i g Sdiubart. 1 7 9 8 . (Oder dritter und letzter Theil von »Leben und Gesinnungen.«). In: Schubart, Bd. 2, S . 1 2 3 f r . «» Sdiubart, Bd. 2, S. 1 8 4 . 61
Z u r Bedeutung v o n Sdiubarts pietistisdier Phase s. D a v i d Friedrich Strauß (Hg.), Christian Friedrich Daniel Sdiubart's Leben in seinen Briefen ( L 2 7 0 ) . H i e r besonders Bd. 1, S. V l f f . , und B d . 2, S. iff. β2 D . F . Strauß (L 2 7 0 ) , Bd. 2, S. 2.
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lation und der individuellen Lage folgte, im Augenblick der Aufzeichnung aber in das später zum Bewußtsein gelangte Bekehrungsschema des Pietismus eingeordnet werden konnte, das damit zum Formmuster der Darstellung wurde. Massiven Einfluß auf Sdiubarts >Bekehrung< nahm der aus einer pietistischen Theologenfamilie stammende Festungskommandant Rieger, 63 dessen Bibliothek, die Schubart benutzen durfte, vornehmlich altpietistisdie Schriften enthielt. 84 Sdiubart las zunächst Arnd, Böhme, Bengel und Hollatz, 85 später auch Hahn, 88 den er durch Vermittlung Riegers persönlich kennenlernte und der ihn in Oetingers Schriften einführte. 87 Durch die systematische Einwirkung Riegers und Hahns wurde ihm der Pietismus zumindest vorübergehend zum persönlichen Glaubenssystem, das es ihm gestattete, seine religiösen Erfahrungen zu objektivieren und zu bekennen. Hinzu kommt die für unseren Zusammenhang entscheidende Tatsache, daß er auch Reitz' >Historie der Wiedergebornen< kannte und schätzte,88 also mit der Praxis der pietistischen Autobiographie vertraut war. Auf diesem Hintergrund muß man die Struktur seiner Lebensbeschreibung sehen.89 Sie unterlegt dem Leben das Schema eines sündhaften Verfallenseins an die Welt, das durch die erzwungene Kerkerhaft beendet wird und hier aus der religiösen Selbstbesinnung zum Durchbruchserlebnis der göttlichen Gnade hinführt. Die politisch motivierte Haft kann als Strafe für das sündhafte Dasein verinnerlidit und bejaht werden, 70 weil sie der Anlaß zur inneren Läuterung ist. Sie wird zum göttlichen Gnadenakt metaphysiziert: N i e m a n d hat jemals unschuldig gelitten; J e s u s litt f ü r alle; und die heiligsten M ä r t y r e r trugen die Last ihrer eignen Schuld. 7 1 83 64
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V g l . hierzu F . J . Wiener, Sdiubart's Conversion ( L 2 7 7 ) . L u d w i g Sdiubart beklagt in einer Herausgeberanmerkung, daß »die Bibliothek des General Rieger's um ein halbes Jahrhundert zurück ( w a r ) ; und dieser Z u fall hatte einen Haupteinfluß auf die nachfolgende Geistesriditung meines sei. Vaters.« (Sdiubart, B d . 2, S. 2 1 ) . S . Sdiubart, Bd. 2, S. 1 4 , 2 1 . Sdiubart, Bd. 2, S. 7 7 f f . Sdiubart, Bd. 2, S. 9 9 g . S . Sdiubart, Bd. 2, S. 1 0 3 . Z u r Gesamtwürdigung Sdiubarts (und teilweise auch zur Korrektur seiner Autobiographie) s. D . F . S t r a u ß ( L 2 7 0 ) ; U . Wertheim und H . B ö h m , E i n führung z u : Sdiubarts Werke in einem Band ( L 2 7 6 ) ; P. Härtling, V o r w o r t z u : Christian Friedrich Daniel Sdiubart, Gedichte ( L 2 7 1 ) ; G . Storz, C . F . D . Sdiubart, E i n Porträt im Umriß ( L 2 7 5 ) ; P . Lahnstein, Sdiubarts Leben ( L 2 7 2 ) . S . Sdiubart, Bd. 2, S. 1 9 . Sdiubart, Bd. 2, S. 49. Es ist nidit auszuschließen, daß in solchen Bekenntnissen audi ein Moment des Opportunismus steckt. A b e r diese Frage ist sekundär gegenüber den Strukturproblemen, die sidi aus der Übernahme des pietistischen Formmusters ergeben.
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Die Bekehrung ist nicht ein >Durdibruch< im pietistischen Sinne, sondern ein langsamer, psychologisch durchmotivierter Vorgang, der von religiöser Verzweiflung, Selbstmordplänen 72 und Gewissensqualen zur Genese eines subjektiven Glaubenssystems führt. Schubart sieht in der »Umschaffung des toten Sünders« eine Analogie zur Weltschöpfung und zu Christi Auferstehung, die aber ganz individuell bleibt: Jede Bekehrung (ist) eine innere und äußere Umgestaltung unsers ganzen W e sens, dodi so, daß die individuellen Merkmale unsrer Ichheit bleiben. 7 3
In dieser Verlagerung des Interesses von der Wirkung der göttlichen Gnade zur Erfahrung der Individualität im religiösen Vorgang liegt eine Säkularisierung des pietistischen Musters, die auch in der expliziten Negation des >DurdibrudisWiedergeburt< abgeschlossen oder ganz in den Dienst des Glaubens und der Lehre gestellt. Der religiöse und der weltliche Bereich existieren weiterhin nebeneinander, wobei das gegenwärtige Dasein durch das Verlangen nach der Befreiung aus der Kerkerexistenz ausdrücklich einen nur vorläufigen Charakter hat. Die Bindung der Glaubenserfahrungen an die relativ detailliert geschilderte Gefangenschaft macht ihre kompensatorische Funktion deutlich. Hierin, wie auch in der Psychologisierung und Individualisierung zeigt sich, daß 72
" 74 75 76
S. etwa Sdiubart, B d . 2, S. 1 1 , 1 8 , 2 0 u. passim. Sdiubart, B d . 2, S . 29. Sdiubart, B d . 2 , S . 30. Hervorhebungen im Original. Sdiubart, B d . 2 , S. $0. S. hierzu Sdiubart, Bd. 2, S. j o f . 45
die pietistische Autobiographie erst in einer weitgehend säkularisierten Form für Schubart brauchbar war. Diese Säkularisierung war zugleich die Bedingung dafür, daß die religiöse Zweckform als autobiographische Zweckform Verwendung finden konnte. Die Darstellung der Lebensgeschichte bis zur Inhaftierung ( 1 7 3 9 - 1 7 7 7 ) umfaßt etwa drei Viertel der vorliegenden Autobiographie. Sie ist bestimmt durch zwei gegenläufige Tendenzen: den Willen zu schonungsloser Offenheit und die Verzweiflung über ein weitgehend durch eigenes Versdiulden verpfuschtes Leben. Die Selbstobjektivierung erfolgt innerhalb der Darstellungskonventionen der Berufsautobiographie, die eigentlich in den privaten Bereich hinein erweitert werden müßten, weil hier die den Lebensweg bestimmenden Verfehlungen zu verzeichnen sind. Das geschieht jedoch nur in sehr bescheidenem Maße, weil die moralisierend wertende Negation des eigenen Verhaltens auf dessen Vergegenwärtigung durchschlägt. Im Prinzip - und hierin wird die Erzählhaltung der pietistischen Autobiographie wirksam - ist der erzählerische Impuls dem Werturteil über die Erzählgegenstände gegenüber sekundär. Auf diese Weise bleibt der Bericht über ein außerordentlich bewegtes Leben seltsam unanschaulich. Im gattungsgeschiditlichen Kontext zeigt sich, daß der spezifisch autobiographische Antrieb nicht stark genug war, um die vorgegebenen traditionellen Darstellungsmuster zugunsten einer der Individualität gemäßen Form zu überwinden, obwohl die Intention darauf durchaus schon vorhanden war. Das Werk ist insofern ein gutes Beispiel für die historischen Grenzen der Zweckform. Schubart erzählt in einem objektivierenden Berichtstil, der erstaunlich faktenarm ist. Alles subjektive Detail ist sofort symbolisch, wenn es nicht selbst schon in der Wertung aufgeht. Dem Typus des objektiven Lebenslaufs entsprechend werden immer nur Ergebnisse, niemals die Vorgänge selbst berichtet. Typisch sind die zugleich generalisierenden und unbestimmten Zeitadverbien (oft, immer wieder, meist, immer, nie etc.), die allen Aussagen eine nur sehr vage Konkretheit verleihen. Der Beicht- und Bekenntnischarakter wird weitgehend eingeschränkt, indem der Leser weniger Zeuge und kompetenter Richter über die Vorgänge selbst, als Adressat einer maßlosen Selbstverurteilung ist. Schubarts Sohn hat den Eindruck, der sich beim Lesen ergibt, folgendermaßen gekennzeichnet: M a n sollte [ . . . ] nicht anders denken, als hätte der V e r f a s s e r irgend einen moralischen Todtschlag zu beichten, oder schon gebeichtet, so barbarisch geht er oft mit sich selbst um! 7 7
Tatsächlich fehlt aber gerade eine solche Beichte, so daß sich ein recht zwie77
Schubart, Bd. 2, S. 180.
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spältiger Eindruck ergibt. Denn angesidits der Verschwiegenheit über die eigentlichen Gründe des fast schon hysterischen Sündenbewußtseins 78 läßt sich die Autobiographie nur durch eine thematische Überfremdung retten. Sie ergibt sich durch die außerordentliche Fülle von kulturgeschichtlichem Detail, das Schubart über die Stätten seines Wirkens mitteilt, wobei bereits die Form der Darstellung eine objektivierende Tendenz verrät, insofern sie stets mit Würdigung verbunden ist. Das gilt für die Lebens- und Schulverhältnisse in den württembergischen Kleinstädten ebenso wie für das Musikleben an den südwestdeutschen Höfen und Residenzen und für die Arbeitsbedingungen eines kritischen und freigeistigen Journalisten in den Freien Reichsstädten Augsburg und Ulm. Dabei kann man allerdings davon ausgehen, daß Schubart die Musik als die ihm gemäßeste Form der Selbstobjektivierung verstand. 79 Gerade die Souveränität und Sachkompetenz, mit der derartige Sachinformationen mitgeteilt werden, ist aber für die Autobiographie problematisch, denn Lebensgeschichte und Darstellung treten deutlich auseinander. Die kulturgeschichtlichen Beobachtungen und Betrachtungen vermitteln nämlich den Eindruck eines besonnenen Gelehrten, wo Schubart sich als verkommenen Menschen verstanden wissen will. Möglicherweise ist der Primat des Objektiven, als das sich die kulturgeschichtlichen Anmerkungen ja fassen lassen, ein Vorgang der Verdrängung, zugleich ist diese Diskrepanz aber in der Erzählweise begründet. Daß dieses höchst problematische Leben 80 differenzierter war als seine Darstellung, zeigt sich an der Art und Weise, wie der Mangel an Information zugleich mit dem Bedürfnis nach ihr deutlich wird. Schon bei der Schilderung der Kindheit wird das Verschweigen zum Prinzip. Schubart ist sich wohl bewußt, daß die frühesten Eindrücke lebensentscheidend sind,81 begnügt sich aber mit dieser Feststellung, ohne ihr zu entsprechen und benötigt deshalb für die Schilderung der ersten vierzehn Lebensjahre ganze zehn Seiten. Durchgängig werden individuelle Erfahrungen zu ab78
Möglicherweise ist das Übermaß der Selbsterniedrigung als A l i b i d a f ü r zu verstehen, daß die peinlichen Sachverhalte selbst ausgespart werden.
79
S. Sdiubart, Bd. i, S . i 8 : »Sonderlich äußerte sich in mir ein so glückliches musikalisches Genie, daß idi einer der größesten Musiker geworden wäre, wenn idi diesem Naturhange allein gefolgt hätte.« Entsprechend ist das Interesse am Musikleben eine A r t Naturtrieb, der sich ständig äußert; s. etwa Sdiubart, Bd. ι , S. 1 5 5 : »Ich trage den V e r f a l l der Kirchenmusik so schwer auf dem Herzen, daß ich im V e r f o l g e meiner Pilgerreise durch eine kleine Strecke W e l t noch manches davon reden werde.« D a ß er aber dennoch diese Anmerkungen selbst als thematische Überfremdung der Autobiographie empfand, ergibt sich aus der anschließenden Bemerkung: »Doch ich sehe wohl, ich müßte ein dickes Buch schreiben, wenn ich alle meine so häufig gemachten musikalischen Bemerkungen sammeln wollte.« (1 j j f . ) . so V g l . hierzu P . Härtling ( L 2 7 1 ) . « S. Schubart, B d . 1, S. 16.
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strakten und deshalb nichtssagenden Katalogen zusammengefaßt. 82 Worin der Verfasser die Verfehlungen seines Lebens sieht, kann der Leser bestenfalls ahnen, denn der private Bereich, aus dem das Schuldbewußtsein vor allem erwächst, ist weitgehend ausgespart. Das geht so weit, daß er seine Ehe, die sein persönliches Versagen in besonderer Weise offenbar macht, erst erwähnt, als es sich gar nicht mehr umgehen läßt (der Bericht ist diesem nachgetragenen Faktum um vier Jahre voraus) : Adi, ich versdiob es zu sagen - denn dieser Artikel ist der zärtlichste in meinem ganzen Leben, den idi nidit berühren darf, ohne daß meine ganze Seele dröhnt - daß idi schon 1764, kaum als idi in Geißlingen warm wurde, mich mit Helene, einer Tochter des dasigen Oberzoller Bühlers, verheirathete. 83 Lebensbedeutsamkeit und Darstellung stehen also in einem bewußten Mißverhältnis, das die Erzählung insgesamt geradezu entwertet. 84 Das setzt sich insofern fort, als er von der Ehefrau nur ein nichtssagend abstraktes moralisdies Porträt entwirft, durch das sie als Person in keiner Weise deutlich wird, und seine Kinder nur der Zahl nach erwähnt, obwohl er sich als z w a r nachlässigen, aber zärtlichen Vater versteht: Mein Weib erfreute mich mit Söhnen und Töchtern, wovon ich einen Sohn und eine Tochter der Welt hinterlassen muß, zwei Söhne und eine Tochter aber hoffe idi bald bei Gott zu finden.85 Genauso unanschaulich bleiben die Zeitgenossen, denen er begegnet ist oder die in seinem Leben etwas bedeuteten. 86 Die Sdiilderung von Personen gelangt überhaupt allenfalls bis zum Charakterporträt, 87 keinesfalls zur Anschauung von Individualität. 82
83 84
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87
Solche generalisierenden Kataloge finden sich allenthalben. Besonders typisch ist der folgende, der die Studienzeit in Erlangen zusammenfaßt: »Frei, ungebunden, durchstreift' idi tobender Wildfang, Hörsäle, Wirthshäuser, Konzertsäle, Saufgelage - studirte, rumorte, ritt, tanzte, liebte und schlug mich herum.« (Sdiubart, B. 1, S. 40). Sdiubart, Bd. i , S . 78f. Aufschlußreiche Informationen über Sthubarts Geißlinger Zeit gibt: Eugen Nägele, Aus Schubarts Leben und Wirken (L 273). Sdiubart, Bd. 1, S. 80. Es liegt auf der gleichen Ebene, daß er erst nachträglich und hödist beiläufig erwähnt, daß er seinen Sohn Ludwig während seines A u f enthaltes in Augsburg längere Zeit bei sidi hatte (s. Schubart, Bd. I, S. 259). Die sehr pauschale Schilderung eines ihm nahestehenden Jugendfreundes glaubt er als einen »Auswuchs in meiner Lebensbeschreibung« entschuldigen zu müssen (s. Schubart, Bd. 1, S. 75). Ein gutes Beispiel hierfür ist die Schilderung Johann Martin Millers, die ausdrüddidi davon ausgeht, daß der Eindruck der Schriften durch die Person verstärkt und übertroffen werde, diesen Eindruck aber durchaus nicht vermittelt (s. Schubart, Bd. 1, S. 264fr.). 48
Lebensentsdieidende Einzelheiten werden nur angedeutet: so erwähnt Schubart etwa, daß die erhoffte Anstellung in Mannheim scheiterte, weil er durch ein »kühnes Urtheil« über die Akademie beim Kurfürsten in Ungnade gefallen w a r 8 8 - das Urteil selbst wird aber nicht wiedergegeben. Ebenso bleiben die sexuellen Verfehlungen und die Schuld gegenüber der Familie im Bereidi vager Andeutungen. 89 Der rückblickende Ich-Erzähler begnügt sich mit der Verneinung seiner Vergangenheit, die deren Vergegenwärtigung überspringt. Der Akt der Reue liegt schon jenseits der Lebensvorgänge und hebt sie auf, insofern die Identität gestört ist. Über dem Vergangenen liegt so bei allem Bemühen um Aufrichtigkeit ein diditer Schleier des Vergessenwollens. Dabei verwandelt die generalisierende Erzählweise die eigene Erfahrung durch die Sentenz ins Exemplarische. 90 Die eigentliche Ich-Erzählung beginnt erst mit der Kerkerzeit, d. h. mit der inneren Wandlung. Wie sehr diese Haltung das Erzählen selbst bestimmt, ergibt sich aus der Relation von Raum- und Zeitschilderung. Durch das fehlende Detail wird der Zeitverlauf für den Leser nur durch die Zeitangaben erfahrbar, nicht durch die Abfolge der Vorgänge, d. h. die Zeit ist keine Erlebnisform, die durch den inneren Zusammenhang der Erzählvorgänge gestiftet wird. Die Entfernung von der Individualität als Gegenstand der Autobiographie zeigt sich nirgends deutlicher als im Überspielen der eigenen Geschichte als Prinzip der Erzählintegration: dadurch verliert sich die natürliche« Zeitordnung. An ihre Stelle tritt der Raum. 9 1 Die Lebensvorgänge hängen zusammen, insofern sie sich auf einem identisdien Schauplatz abspielen, und in der Abfolge der Schauplätze entsteht auch eine Art zeitliche Gliederung. Dabei hat der jeweilige Schauplatz aber nur den Charakter einer Phase, 88
Schubart, Bd. i , S. 1 6 3 . 89 Noch die E r w ä h n u n g selbst ist eine F o r m des Verschweigens. D i e Andeutung über eine Geschlechtskrankheit wird mitten im S a t z abgebrochen: »Schändliche Krankheiten, die idi mir - und - falle Decke der N a d i t und verbirg meine Greuel und meine Schande!!« (Schubart, B d . 1 , S. n j ) . 90
H i e r liegt audi die Rechtfertigung d a f ü r , daß er überhaupt erzählt: »Ist es nicht Unverschämtheit, daß idi ein Leben wiederhole und dem Leser v o r zeichne, das man lieber, w o möglich, in dicke Schatten hüllen sollte? D a s dachte ich anfangs auch, aber der Gedanke hieß mich fortfahren: Wenn mein Beispiel einen einzigen Jüngling der Unordnung und Irre entreißt, und einen andern ermuntert, meine gemachten Fehler zu vermeiden, so habe idi ein gutes W e r k gethan.« (Schubart, B d . 1, S . 90). D a s Erzählen ist ein K o m p r o m i ß aus V e r schweigen und Wiedergabe. D e r Verzicht auf Vergegenwärtigung nimmt dem Übel die Spitze.
91
Die Bedeutung des R a u m s im Erzählen ist neuerdings gründlidier untersucht worden. V g l . besonders Bruno Hillebrand, Mensch und R a u m im R o m a n . Studien zu Keller, Stifter, Fontane ( L 1 5 6 ) und Eberhard Mannack, R a u m -
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die nicht dem Gesetz der Sukzession als Binnengliederung folgt, sondern aus dem Nebeneinander der in ihr enthaltenen Elemente ihre Wirklichkeit bezieht. Die relative Länge der einzelnen Phasen ist aus dem Erzählverlauf so wenig zu entnehmen wie die zeitliche Ordnung der sie konstituierenden Elemente. Hinzu kommt außerdem, daß Schubart sich nicht auf Selbsterlebtes beschränkt, sondern auch Geschichtliches und Kulturgeschichtliches berichtet und Dinge einbezieht, die sich erst ereigneten, als er selbst nicht mehr anwesend war. Die erwähnte thematische Überfremdung wirkt durch die (relative) Objektivität der Sachverhalte der Zeitwahrnehmung entgegen. So entsteht eine quasi überzeitliche Gegenwart des Zuständlichen. Das entspricht in gewisser Weise der Realität von Schubarts Leben, das im allgemeinsten Sinne dadurch gekennzeichnet war, daß immer ein Ortswechsel erfolgte, sobald ein Zustand unerträglich oder unhaltbar wurde. So fallen auch in der Gesamtanlage der Autobiographie Lebens- und Erzähleinschnitte mit Raumveränderungen zusammen: der i. Teil sdiildert das unstete Leben bis zum Ende der Münchner Zeit, das pauschal der nachträglichen Selbstverurteilung verfällt; die erste Hälfte des 2. Teils beschreibt das Dasein in Augsburg und Ulm, wo er ein Leben führte, das auch im Rückblick bereits relativ positiv erscheint;92 die zweite Hälfte des 2. Teils ist schließlich den Anfängen der Kerkerzeit auf dem Hohenasperg und der inneren Umkehr gewidmet. Diese relativ sinnvolle Stilisierung der Lebensphasen zu räumlicher Ordnung ändert aber nichts daran, daß der Erzählvorgang durch die in die Raumgliederung aufgehobene Zeitordnung die eigene Geschichte tendenziell negiert. Mit dem Verzicht auf die Zeit als
darstellung und Realitätsbezug in Goethe epischer Diditung (L 1 9 5 ) . H i l l e brand gibt eine ausführliche Bibliographie zum
>Raum
in der
Diditung
Autobiograph< in einem Text aus den frühen 80er Jahren des 18. Jahrhunderts. In der Forschung geht man bisher davon aus, daß der Begriff >Autobiographie< am Ende des 18. Jahrhunderts zuerst in Deutschland (belegt allerdings nur in der Form >Selbstbiographie< seit 1796), dann in England erscheint. Als frühesten Beleg nennt Misch (Geschichte der Autobiographie (L 66), Bd. I/i, S, γ f.), dem sich Neumann (L 73, S. 9f.) in allen Punkten anschließt, eine englische Quelle von 1809. Demgegenüber darf daran erinnert werden, daß audi schon die Herausgeber von Weißes >Selbstbiographie< den Terminus >Autobiographie< verwendet hatten (1806) s.Weiße (L 268), S. V I .
94
D . F. Strauß (L 270, Bd. 1 , S. V) lobte noch »den gewiditvollen Stoff und die ergreifende Wahrheit und Lebendigkeit der Darstellung«, ein Urteil, das in ähnlicher Version öfter wiederholt wurde, das aber im letztgenannten Punkt kaum standhält. Ji
damit nicht überbewertet ist, wie man angesichts des evidenten Widerspruchs zur Darstellungspraxis vermuten könnte, ergibt sich aus einer Reihe paralleler Äußerungen, die alle darauf hinauslaufen, den Unterschied zwischen Literatur und Leben oder konkret zwischen Roman und Wirklichkeit aufzuheben. So heißt es angesichts der Erfahrungen, die Schubart als Pfarrgehilfe mit verschiedenen Landgeistlichen macht: Bei dieser Gelegenheit fand idi, daß w i r Deutsche so gut als die Britten, unsre A d a m s und Wackefield'sdie Landprediger haben; es fehlt uns nur an Fieldings, Smollets, Goldsmiths, die sie kopiren. 9 5
Die »Klage unserer Schriftsteller über den Mangel origineller Karaktere unter den Deutschen« hält er nur teilweise für berechtigt: W i r haben ihrer nicht so viel, wie die Engländer, aber doch keinen Mangel daran. M a n habe nur Augen zu sehen, Verstand, zu prüfen, Scharfsinn, einzudringen, Geist, zu schreiben, und Genie, wie Fielding, Smollet - darzustellen. 9 8
Zwischen Dichtung und Wirklichkeit besteht also kein kategorialer Unterschied,97 so daß die Realität prinzipiell zum Roman zu gestalten ist. Das gilt nicht nur in dem Sinne einer >Kopie< von Realität im Roman, sondern durchaus auch umgekehrt für romanhafte Vorgänge im Leben. Die Grenze ist nach beiden Richtungen aufgehoben. Über ein Romanprojekt, das er wegen seiner Verhaftung nicht mehr verwirklichen konnte, schreibt Schubart: Mein fester Vorsatz w a r , e i n e n R o m a n a u s m i r h e r a u s z u s c h r e i b e n , den ich schon Jahre lang mit mir herumtrug. [ . . .] aber eben als ich H a n d anlegen und das W e r k beginnen wollte, da sollte ich selbst v o r den Augen meines Vaterlandes der H e l d e i n e s s e h r t r a g i s c h e n R o m a n s w e r d e n . 9 8
Wenn damit das Leben selbst als eine Art Roman verstanden wird, so impliziert das die Forderung, daß ein so geartetes Leben nur mit den Mitteln der Romankunst angemessen wiederzugeben ist, da die Ausdrucksmöglichkeiten der traditionellen Typen der Zweckform dem nicht mehr gerecht zu werden vermögen, was die »Selbstheit« des Autors ausmacht. Schubarts Einsicht reichte bis an die Schwelle dieser Notwendigkeit, blieb 95
Schubart, B d . i, S . J 7 . Im gleichen Sinne bezeichnet er seinen Schwiegervater als einen »weisen, abgekühlten Albert, G o t t und der W e l t weit nützlicher, als zehen wilde Werther« (ebd., S . 82). Sich selbst vergleicht er mit »Thomas Jones, als er seines Vaters H a u s und Junker Westerns Burg verließ« (ebd., S. 2 1 7 ) . oe Sdiubart, B d . 1, S. 1 7 9 . 97
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V g l . hierzu auch Schubart, Bd. 1, S. 67, w o Schubart Geislingen einen »romantischen« Schauplatz nennt, der als Szene f ü r ein »Ariost-Wielandisches G e dicht« durchaus geeignet wäre. Sdiubart, Bd. 1, S. 2 8 9 ^ Hervorhebung von mir.
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aber in der Praxis mit einer gewissen Konsequenz hinter der Forderung zurück. Daraus erklärt sich das Widersprüchliche dieser Autobiographie, die in mancher Beziehung auch ästhetisch schon ihre eigene Kritik ist. Gattungsgeschichtlich ist sie interessant, weil sie deutlich macht, daß die Literarisierung der Zweckform, d. h. die Übernahme von Darstellungstechniken des Romans, objektiv notwendig wurde, weil der Wirklichkeitsbegriff der überlieferten Typen der Zweckform hinter den inzwischen erreichten Maßstäben der Erfahrung von Individualität zurückblieb. Weder konnte Schubart sein Leben - wie noch lange nach ihm Weiße - mit seinem Dasein als Autor (oder Künstler) identifizieren," noch war der pietistisdie Einfluß stark genug, um eine >schulgerechte< Bekehrung zu bewirken. Die Orientierung am Roman war also nicht in erster Linie darauf angelegt, das Leben literarisch zu stilisieren, sondern entsprach der Einsicht, daß der Roman die konsequentesten und modernsten Formen wirklichkeitsgerechter Darstellung ausgebildet hatte. 100 So gesehen bedeutet die Ausrichtung der Autobiographie an der Romanform nicht die Preisgabe der Zweckform, sondern im Gegenteil die konsequenteste Behauptung ihres Anspruchs.
4. Erzähltheoretische Voraussetzungen der Autobiographie als Zweckform und Prämissen ihrer Literarisierung
Die Annäherung von Autobiographie und Roman, die in der Schubartschen Argumentation deutlich wird, ist als literaturgeschichtliches Phänomen zugleich ein erzähltechnisches Problem, denn es ist zu klären, in welcher Weise und in welchem Umfang sich die Autobiographie als Wirklichkeitsaussage Erzähltechniken der Fiktion aneignen kann, ohne selbst zur Fiktion zu werden. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, systematisch festzuhalten, durch welche Bestimmungen die Autobiographie als Zweckform definiert ist. Dabei kann es sich nicht darum handeln, eine Bauform oder ein Strukturschema zu ermitteln, denn die Autobiographie ist primär von 98
Dabei ist es nicht unwichtig, daß Weiße ein zweitrangiger und - v o r allem im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts - auch ein epigonaler A u t o r w a r . D a s moderne Individualitätsbewußtsein, das gerade die Schriftsteller auszubilden und zu artikulieren begannen, w a r ihm fremd. 100 Nicht zufällig beruft sidi Schubart auf die wichtigsten Autoren des realistischen englischen Romans, die in der programmatischen Schilderung v o n A l l t a g s wirklichkeit am fortgeschrittensten w a r e n : Richardson, Fielding, Smollett, Goldsmith.
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ihrem historischen Gegenstand her organisiert. Als Prinzipien der Zweckform sind deshalb die objektiven Bedingungen des autobiographischen Erzählens zu beschreiben, die natürlich auch für die Autobiographie als Kunstform verbindlich bleiben, so weit der Anspruch der Selbstdarstellung und die Verpflichtung gegenüber der historischen Gegenständlichkeit durchgehalten sind. 1 Diese Beschreibung umfaßt die Kategorien, die in den bisherigen Definitionsversuchen2 vorgelegt wurden, sie verzichtet aber darauf, sie zu einem integrierten Formtypus zusammenzufassen, denn es erscheint sinnvoll, davon auszugehen, daß eine derartige Typologie nur im Rahmen historischer Konventionen möglich ist, wie sie etwa für die pietistische und die Gelehrtenautobiographie des 18. Jahrhunderts gegeben waren. Die systematischen Bestimmungen des autobiographischen Erzählens sind demgegenüber notwendig umfassender als jede historische Realisierung, die vom historischen Standard der Erzählkunst, von der jeweiligen Grenzziehung zwischen Wirklichkeitsaussage und Fiktion, von der zeitspezifischen Hierarchie der biographischen Fakten und von der jeweiligen Erzählintention abhängt. Allerdings ist der Spielraum der Realisierungsmöglichkeiten nicht so groß, daß - wie Misch meinte — keinerlei Formbestimmung möglich wäre und nahezu jede literarische Form sich für die Autobiographie eignete.
4.1 Selbstobjektivierung und Zeitstruktur Im allgemeinsten Sinne ist die Autobiographie die »Beschreibung des Lebens eines Einzelnen durch diesen selbst«.® Ihr Erzählgegenstand ist mithin authentisch und des weiteren historisch, so daß sie als eine Form von Wirk1
Wie schwierig es grundsätzlich ist, eine Poetik historischer Gebrauchsformen oder im weiteren Sinne ein narratives Modell der Gesdiichtserzählung zu entwickeln, belegen neuerdings die Arbeitsergebnisse der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik: s. Reinhard Koselleck und W o l f - D i e t e r Stempel (Hg.), Poetik und Hermeneutik Bd. 5 : Geschichte - Ereignis und Erzählung. München 1 9 7 3 ; darin besonders die Beiträge von Stempel ( L 2 4 4 ) und Stierle ( L 2 4 6 ) sowie das Resume von Weinrich (L 2 J 7 ) .
S. e t w a Pascal ( L 83), S. 21; Sdiüz ( L 89), S . 4; Shumaker ( L 93), S . 103,106; Lejeune ( L 5 3 ) , S. 1 2 ; Lejeune, Le pacte autobiographique (L 54), S . 1 3 8 ; Bruce Mazlish, Autobiographie und Psychoanalyse. Zwischen Wahrheit und Selbsttäuschung ( L 6 2 ) , S. 2 6 6 . Die Autoren sind sich mehr oder weniger über den nur heuristischen W e r t eines solchen Beginnens im klaren. Grundsätzlich v e r zichtet v o r allem Ingrid Aichinger auf Definition zugunsten von Deskription (Aichinger, Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk ( L 1 ) , S. 4 1 9 0 . ) . s Misch ( L 66) Bd. I / i , S. 7. 2
$4
lidikeitsaussage und als ein Medium der Welterfassung zu kennzeichnen ist. In bezug auf ihren Gegenstand, aber damit zusammenhängend auch im Hinblick auf dessen Auffassung und Darstellung, ist sie eine individuell subjektive Form der Geschichtsschreibung. Da das Einzelleben die Wahrnehmungs- und Integrationsform dessen ist, was hier als Wirklichkeit erscheint, kann Gegenständlichkeit nur als erlebte objektiviert werden : sie ist das Medium der Objektivierung des Subjekts. Das ist insofern wichtig, als die Subjekt-Objekt-Relation nicht - wie bei den meisten anderen Zweckformen - nur Voraussetzung der Wirklichkeitsschilderung ist, sondern audi ihr Gegenstand, was zugleich eine Thematisierung der intendierten Objektivität beinhaltet. Ich und Welt kommen immer nur zugleich zur Darstellung, wobei das Spektrum von extremer Subjektivität bis zu völliger Entäußerung des Subjekts an die Gegenständlichkeit reichen kann, ohne daß das Prinzip der Objektivierung des Ichs an der historischen Realität einerseits und die Mediatisierung der dargestellten Wirklichkeit durch die subjektive Erlebnisperspektive andererseits in Frage gestellt werden dürften. In ihrer Zeitstruktur ist die Autobiographie dadurch gekennzeichnet, daß sie ein Kontinuum der Realität zur Schreibgegenwart hin voraussetzen kann, d. h. vom wirklichen Ende der Erzählung ausgeht. Es ist kein historischer Abstand zu überspringen, sondern die Erzählgegenstände sind von vornherein existentiell mit der Aufzeichnung vermittelt. Die Zeitstruktur der Autobiographie ist deshalb grundsätzlich zweidimensional: jede horizontal geschilderte Phase steht zugleich vertikal in einem zusammenhängenden Verlauf, der zur Gegenwart hinführt und in ihr verbürgt ist.4 Der Lebenszusammenhang der autobiographischen Elemente ist in ihrer chronologischen Folge vorgegeben, so daß die Autobiographie als Zweckform Zusammenhänge aus der Chronologie herleiten muß, wobei vom Ende her auf das Ende hin erzählt wird. Damit ergibt sich zwangsläufig eine gewisse Phasengliederung im Hinblick auf die entscheidenden Lebenseinschnitte; audi werden in der Regel detaillierte und raffende Schilderung abwechseln, jedoch muß die vorgegebene Ordnung der Sukzession als authentische Ordnung des Lebens im Prinzip auch im Sinne einer vollständigen Chronologie gewahrt bleiben. Das schließt gelegentliche Umstellungen nach thematischen Gesichtspunkten nicht aus, wo die innere Ordnung der Lebenszusammenhänge im Widerspruch zur zeitlichen Abfolge besser darzustellen ist, jedodi werden solche Abweichungen im all4
Darin unterscheidet sich die Autobiographie grundsätzlich von der verwandeten Form des Tagebudis. Zur Abgrenzung zwischen Tagebudi und Autobiographie gibt es zahlreiche Literatur. S. etwa Lejeune (L $3), S. 3 4 f f . ; Pascal (L 83), S. 7 3 ; Gusdorf, Le découverte de soi (L 35), S. 38fr.; sowie besonders Aichinger (L 1), S. 43of.
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gemeinen artikuliert und begründet, und in der Regel wird audi die Chronologie nachträglich wiederhergestellt. Die innere Form der Autobiographie ist also gleichsam zirkelhaft: vom sichtbar gemachten Erzählzeitpunkt, der zugleich das (vorläufige) Ende des Lebens bezeichnet, wird erinnernd auf die Anfänge des eigenen Daseins zurückgegriffen und dann fortlaufend zu dem im existentiellen und erzähltechnischen Sinne vorgegebenen Ende hin erzählt, wobei sich im Erzählvorgang, der eine kontinuierliche Reduktion des Zeitabstandes bedeutet, fortlaufend die Identität von erzählendem und erzähltem Ich herstellt, indem sie aus den Inhalten des Lebens gewonnen wird. Dieser Intention entspricht nur die vollständige Lebensbeschreibung; jede bewußt ausschnitthafte Schilderung kann auch bei konsequenter IdiPerspektive die Vermittlung zwischen dem erzählenden und dem erzählten Ich nur ansatzweise leisten und tendiert zur epischen Emanzipation der geschilderten Vorgänge. Als Zweckform kann hier nur das echte Fragment gelten, d. h. die Darstellungsintention muß auf das ganze Leben gerichtet sein. Wo das nicht der Fall ist, fehlt der spezifisch autobiographische Anspruch, und es entstehen Zweckformen des >Erlebtenquasi-autobiographischen Charakter< der Ich-Form begründet wird. 5 Es »gehört zum Wesen jeder Ich-Erzählung, daß sie sich selbst als Nidit-Fiktion, nämlich als historisches Dokument setzt«.6 Aus diesem Grund sieht Hamburger den Ich-Roman als »Fremdling im epischen Bereiche« an.7 Die Grenze zwischen Wirklichkeitsaussage und Fiktion wird in dieser dichtungslogischen Wesensbestimmung des Erzählens also nicht im Bereich der Erzählgegenstände gesucht, sondern in der Aussagestruktur, d. h. sie liegt im Bereich des Erzählens selbst. Daß diese scharfsinnige Ausgrenzung des Ich-Romans aus dem Bereidi der Fiktion letztlich nicht haltbar ist, wurde inzwischen vielfach nachgewiesen.8 Dennoch scheint es sinnvoll, die auf die Autobiographie bezüglichen Implikationen der Hamburgerschen Theorie zusammenfassend darzustellen, weil es kaum einen besseren Ausgangspunkt für die erzähltheoretischen Probleme des autobiographischen Schrifttums gibt. Höchst aufschlußreich und bedeutsam ist es, daß Käte Hamburger nicht nach den Erzählgegenständen, sondern nach der Darstellungsweise systematisiert. Demgemäß reicht das Spektrum der Ich-Erzählung von der »>editen< autobiographischen Aussage« bis zur »fingierten Wirklidikeitsaussage«,9 wobei für diesen gesamten Bereidi gilt, daß das Ich als ein 5
β 7 8
9
Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung (L i j i). Zum folgenden S. 24$ff. Vgl. a. dies., Zum Strukturproblem der episdien und dramatischen Dichtung (L 148). Hamburger, Logik, S. 246. Hamburger, Logik, S. 250. S. hierzu vor allem F. K . Stanzel, Episdies Präteritum, erlebte Rede, historisches Präsens (L 2 4 1 ) ; Wolfdietrich Rasch, Zur Frage des episdien Präteritums ( L 2 1 8 ) ; Karl August Ott, Über eine logische Interpretation der Dichtung ( L 2 1 0 ) ; Friedrich Wilhelm Zimmermann, Episches Präteritum, episdies Idi und episdie Normalform (L 267). Außerdem Ulrich Busch, Erzählen, Behaupten, Dichten. - W W 12/1962, S. 2 1 7 - 2 2 3 ; vgl. a. die Entgegnung Hamburgers: Noch einmal: Vom Erzählen. Versuch einer Antwort und Klärung. (L 1 $2), sowie Klaus Weimar, Kritische Bemerkungen zur >Logik der Diditung< (L 2$$). Hamburger, Logik, S. 247. 57
»edites Aussagesubjekt« aufzufassen ist. Im Bereich der Ich-Erzählung ist also die Unterscheidung von authentisch und erfunden 1 0 dichtungslogisdi zweitrangig gegenüber der fundamentalen Tatsache einer »unüberbrückbaren Kluft«, 11 die das fiktionale Erzählen als »Mimesis der Wirklichkeit« 12 von der Wirklichkeitsaussage (zu der auch die fingierte Ich-Erzählung als »Mimesis der Wirklichkeitsaussage«18 gehört) trennt: »Es ist die Form der Ich-Aussage, die auch der extremsten Unwirklichkeitsaussage noch den Charakter der Wirklichkeitsaussage beläßt«. 14 Innerhalb der Ich-Erzählung besteht also kein kategorialer Unterschied zwischen der Aussage über historische und über erfundene Gegenstände. Es ist klar, daß vom Gesichtspunkt der Autobiographie als Zweckform, insofern diese durch den authentischen Stoff definiert ist, die Einbeziehung von NichtWirklichkeit eine Grenzüberschreitung bedeutet: wichtig ist aber, daß eine solche Grenzüberschreitung erzähltheoretisch möglich ist, ohne daß sich der Charakter der Aussage ändert, daß also im Bereich der Form Dichtung und Wirklichkeit schon vorgängig vermittelt sind.16 Für die Erfindung im Bereich der Ich-Erzählung verwendet Käte Hamburger den Begriff des >Fingiertenechte< Autobiographie ein brauchbares Kriterium, denn es macht deutlich, auf welche Weise Erfundenes in den Zusammenhang des authen10
11 12 18 14 15
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Ich vermeide den Terminus >fiktivfingiert< sprechen würde; zu dieser Unterscheidung s.u. Hamburger, Logik, S. 268. Hamburger, Logik, S. 260. Ebd. Hamburger, Logik, S. 259. Vgl. hierzu Janik, Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks ( L 166), der zu dem (ausdrücklich als Widerlegung Hamburgers verstandenen) Ergebnis kommt: »Die literarische Erzählrede ist in gleicher Weise konstituiert wie die kommunikative Erzählrede, allerdings mit dem Unterschied, daß die Kommunikationssituation, in der sie entsteht, fingiert ist.« (S. 73). Im internen Kommunikationsgefüge des Erzählwerks gälten deshalb alle logischen Gesetze der kommunikativen Rede überhaupt. - Es ist einleuchtend, daß der Schluß von einer ontologischen auf eine logische Differenz nicht zulässig ist, ohne daß die Vermittlung selbst in Frage gestellt würde. S. hierzu Hamburger, Logik, S. 53fr. und 247fr. Zur Kritik vgl. Gerhart v. Graevenitz, Die Setzung des Subjekts. Untersuchungen zur Romantheorie (L 1 4 3 ) , S. 4 j f f . Hamburger, Logik, S. 247.
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tisdien Wirklichkeitsstoffes als ihres eigentlichen Gegenstandes einbezogen werden kann. Die Unterscheidung von fingiert und fiktiv ist aber nur so lange sinnvoll, wie die fingierte Wirklichkeit tatsächlidi in einem echten autobiographischen Zusammenhang steht, d. h. solange die Erfindungen einem historischen Subjekt als seine Realität zugeschrieben werden. Wenn hingegen dieses Ich selbst fiktiv ist, dann ist nicht einzusehen, warum die Ich-Erzählung als ganze nicht als Fiktion zu gelten hat, ist doch das Fingierte im Extremfall der reinen Erfindung nur ein Sonderfall der Fiktion, wobei die Unterscheidung allenfalls im Hinblick auf die Vermittlung überhaupt noch sinnvoll ist.18 Käte Hamburger hat dieses Problem gesehen, aber unbefriedigend gelöst, indem sie lediglich eingeräumt hat, daß »das Fingiertsein [ . . . ] der Gradierung fähig ist«,18 daß es also eine »Skala von Fingiertheitsgraden« 20 gibt, die einerseits durch die echte Autobiographie (Fingiertheitsgrad = null), andererseits durch den Roman, die rein erfundene Erzählung (Fingiertheitsgrad = unendlich), begrenzt ist.21 Sie hält aber daran fest, daß »Erfundensein nicht dasselbe (ist) wie Fiktivsein«. 22 Diese Unterscheidung läßt sich nicht mehr ontologisch begründen und liegt deshalb methodisch außerhalb des unsprünglichen Begründungszusammenhangs der Theorie. Als Hilfskategorie wird das >Leseerlebnis< eingeführt, um von der Rezeption her einen Unterschied der Sprachstruktur als ontologische Differenz auszuweisen.23 Das ist im Grunde bereits ein Rückzug, zudem (mindestens für die Ich-Erzählung) ein erfolgloser, da Käte Hamburger selbst einräumen muß, daß »die Masse der Ich-Erzählungen sich für unser Leseerlebnis nicht sonderlich von dem einer Er-Erzählung, einer Fiktion abhebt«. 24 Wenn das mit dem reichlichen Gebrauch fiktionalisierender Mittel in den betreffenden Ich-Erzählungen begründet wird, so zeigt sich gerade daran, daß die Grenze zwischen Ich-Erzählung und Er-Erzählung denn dodi nicht unüberbrückbar ist.25 Diese Konsequenz, die gegenüber Hamburger zunächst einmal den traditionellen Forschungsstand wiederherstellt, hat Franz K. Stanzel mit « V g l . a. O t t ( L 2 1 0 ) . 19 Hamburger, Logik, S . 2 6 5 . 20 Hamburger, Logik, S. 248. 21 Hamburger, Logik, S. 2 6 1 . 22 Hamburger, Logik, S. 2 6 $ . 23 Z u m methodisdien Problem des Übergangs von Diditungslogik zu Lesererfahrung s. Stanzel, Episches Präteritum (L 2 4 1 ) , S. 1 0 - 1 2 . 24 Hamburger, Logik, S. 2 6 1 . 25
S . hierzu Zimmermann ( L 267), der nachweist, daß die Lösung des Erzählten aus dem A u t o r - B e z u g für den I d i - R o m a n ebenso eine Fiktionalisierung bedeutet, wie die in der V e r w e n d u n g des Präteritums geleistete Lösung des E r zählten aus dem Zeitbezug. 59
Nachdruck gezogen,26 indem er den Idi-Roman als eine >typische Form« des Romans beschrieben und seine Erzähltechnik im Hinblick auf die grundlegenden Möglichkeiten epischen Erzählens analysiert hat. 27 Bei Stanzel ist die ontologische Frage der Unterscheidung von Wirklichkeit und Fiktion ausgeklammert, 28 da der Gegenstand von vornherein auf die Dichtung eingeschränkt ist.29 Unter dieser Prämisse ist die Ich-Erzählung eine der drei möglichen Erzählformen des Romans, die sich systematisch auf einen Typenkreis anordnen lassen, so daß jede der drei Formen bruchlos in die andere übergehen kann, 30 während zugleich alle überhaupt nur möglichen Erzählformen ihren Ort auf dem Kreis finden. Ohne Stanzeis System in allen Einzelheiten zuzustimmen, 81 wird man doch festhalten können, daß systematische Unterscheidungen im Bereich des Epischen vornehmlich heuristischen Wert haben, daß jedodi eine kategoriale Unterscheidung, wie sie Hamburger nach der Aussagestruktur vornimmt, kaum verifizierbar ist. Für die Autobiographie bedeutet das, daß, wenn - wie wir mit Hamburger annehmen - im Bereich der Ich-Erzählung ein kontinuierlicher Übergang von echter zu fingierter Wirklichkeitsaussage möglich ist, zugleich - gegen Hamburger - die Grenze zur Fiktion hin durchlässig wird. Die Zweckform der Autobiographie läßt sich also in den epischen Raum hinein erweitern und verändern : das ist die erzähltheoretische Voraussetzung für ihre Literarisierung, die im einzelnen nur durch eine Analyse der Erzählpraxis in den Werken, also historisch, nachzuweisen ist. Käte Hamburger übersieht im übrigen, daß die Unterscheidung zwi28
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A u d i Romberg ( L 2 2 1 ) , S. 3 1 , lehnt die Ausgrenzung der Idi-Erzählung aus dem Bereich der Fiktion strikt ab. F r a n z K . Stanzet, Typische Formen des Romans ( L 2 4 3 ) . Diese Frage greift audi Wilhelm Füger ( Z u r Tiefenstruktur des N a r r a t i v e n ( L 140), S. 268ff.) wieder auf, ohne indes für ihre Beantwortung neue Gesichtspunkte anzubieten: denn daß (historischer) Beridit und Erzählung sich durch die A r t der Vermittlung (Mittelbarkeit des Erzählens) unterscheiden, w a r wie Füger einräumt - längst bekannt. Eine strenge Systematisierung der V e r mittlungsformen berührt das ontologische Problem nur am Rande und löst es nicht - ebensowenig erklären die vorgeschlagenen Prolegomena zu einer generativen >Grammatik< des Erzählens die Grundlagen der Fiktion - sie können allenfalls einer Deskription erzählerischer Verfahrensweisen dienen. - E i n leuchtender ist Janiks Modell des Erzählens als einer situationsunabhängigen Kommunikation ( L 1 6 6 ) , (s. A n m . 1 5 ) , das aber die ontologische Frage auch nicht löst. S. Stanzel, Typische Formen des Romans ( L 2 4 3 ) , S. 5. S . hierzu Stanzel, Typische Formen des Romans ( L 2 4 3 ) , S. j î f f . Z u r Kritik s. besonders Walter F . Greiner, Studien zur Entstehung der englischen Romantheorie an der Wende zum 1 8 . Jahrhundert (L 1 4 5 ) , S . 6 6 f f . ; Leibfried, Kritische Wissenschaft v o m T e x t ( L 1 8 9 ) , S. 243ÎÏ., und Füger, Z u r Tiefenstruktur des Narrativen ( L 1 4 0 ) .
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sehen Wirklidikeitsaussage und Fiktion im Bereich der Ich-Erzählung nidit nur ein systematisches, sondern mindestens ebensosehr ein historisches Problem ist. Es taudit im Grunde erst auf, seitdem im 18. Jahrhundert im Zeichen des realistischen Erzählens die Grenze zwischen Realitätsaussage und Fiktion verwischt wurde, indem der Roman sich sowohl hinsichtlich seiner Gegenstände als audi formal der >echten< Wirklidikeitsaussage anzugleichen bemühte und aus diesem Grunde auch die Zweckformen als Darstellungsmuster aufgriff. Als Problem der systematischen Erzähltheorie existiert die Opposition zwischen echter und fingierter Wirklidikeitsaussage also erst im Zusammenhang mit dem realistischen Erzählen. Wenn Käte Hamburger das Leserbewußtsein als geeignete Instanz einführt, um zwischen Fiktion und Wirklidikeitsaussage, vor allem aber zwischen der fingierten und echten Idi-Aussage zu unterscheiden, so ist das nur im Hinblick auf realistische Erzählformen überhaupt sinnvoll, denn nur hier ist eine soldie Unterscheidung notwendig. Erst mit der Wendung der Fiktion zur Realität, d. h. mit der Ausbildung des modernen Romans, ist das Fiktionsbewußtseins zu einem bedeutsamen Moment der ästhetischen Reflexion geworden. Zugleich ergeben sich erst in diesem Zusammenhang die spezifischen Probleme der modernen Autobiographie, der mit den erzähltechnischen Möglichkeiten der realistischen Fiktion eine unendliche Differenzierung ihrer Darstellungsformen zugewachsen ist. Sie kann damit den zuvor verbindlichen Formenkanon verlassen, die Traditionen der Zweckform überwinden. Zielrichtung und Grenzen der Veränderungen sind freilich durch die vorgegebenen Zwänge der Zweckform festgelegt. Angesichts der prinzipiellen Offenheit der Autobiographie zur Fiktion hin kommt dem authentischen Stoff und der Verpflichtung auf die historische Wahrheit allerdings eine besondere Bedeutung für die Wesensbestimmung der Zweckform zu. Die Erzählmöglichkeiten sind grundsätzlich durch die Struktur der vorgegebenen Wirklichkeit eingeschränkt: als Zweckform ist die Autobiographie Wirklidikeitsaussage, nicht Mimesis der Wirklidikeitsaussage, d.h. ästhetische Gesichtspunkte können nur so weit ins Spiel kommen, wie sie der historischen Aussageintention entsprechen. Umgekehrt ist der Gattungsanspruch der Zweckform schon bei rein stofflicher Behandlung befriedigt.
4.3 Bedeutung und Totalität Die individuelle Vergangenheit des schreibenden Subjekts ist als historischer Zusammenhang an sich nicht funktional strukturiert. Diese Strukturierung, ohne die ein Erzählen nicht möglich ist, muß vom Schreibenden 61
nach objektiven Kriterien geleistet werden. Dabei gehört es zum immanenten Sadizwang, daß für das historische Erzählen der Stoff sehr viel vielschichtiger ist als für das ästhetische, das von vornherein nach der Kategorie der Bedeutung auswählen kann, während der Anspruch historischer Objektivität ein wesentlich breiteres Informationsspektrum voraussetzt. 32 Allerdings ist der Autobiograph frei, darüber zu entscheiden, in welchem Umfang er den Stoff vergegenwärtigt oder nur zitiert, denn angesichts des Kontinuums der Realität, in dem das eigene Leben steht, ist der Realitätscharakter der Aussage nicht allein durch das Ausmaß des Dargestellten verbürgt, sondern durch die Realität selbst, die im Erzählen in ihrer Totalität gegenwärtig ist, wenn die Darstellung sich als Realitätsschilderung ausweist. Die dargestellte Wirklichkeit hat also prinzipiell Verweisungscharakter im Rahmen eines objektivierbaren Gesamtzusammenhangs, der seinerseits ein Darstellungszwang ist, insofern dieses komplizierte Gefüge aufgehoben wird, wenn im erzählten Bereich der Wahrheitsanspruch verletzt ist. Auf diese Weise ist Sinngebung und Setzung von Bedeutung möglich, indem Schilderung und Vergegenwärtigung sich zu Ungeschildertem, aber gleichwohl als real Vorausgesetztem verhält. Auch der Roman und insbesondere der realistische Roman bezieht sich auf eine vorausgesetzte Totalität als Horizont seiner Vergegenwärtigung, aber diese Totalität bleibt notwendig allgemein und abstrakt, indem das Prinzip der Aussage Wahrscheinlichkeit ist. Das Verifikationsschema liefe auf Tautologie hinaus, da das Wirkliche zugleich das Vergegenwärtigte ist, während die Aussagen der Autobiographie historisch nachprüfbar sind. Der Autor eines autobiographischen Textes ist selbst Teil der dargestellten Gegenständlichkeit, die er zwar, indem er sie als erlebte darstellt, auf sich beziehen kann, jedoch nur in dem Sinne, daß seine Subjektivität als solche deutlich wird, nidit als Verfügenkönnen über eine vom Subjekt gesetzte Gegenständlichkeit im Bereich der Darstellungsintention. 33 D.h. in der autobiographischen Erzählung kann der Autor den vorgegebenen Sachverhalten nur interpretierend gegenübertreten, während der Romancier über die Sachverhalte selbst 32
Auch die historische Darstellung kann natürlich niemals den Anspruch einer Wiedergabe der Totalität ihres Gegenstandes einlösen: jede Vermittlung beruht schon auf einem Geschichtsmodell. Im Unterschied zur Fiktion ist aber, wie W o l f - D i e t e r Stempel gezeigt hat ( L 2 4 4 , S. 3 3 8 f f . ) , die Z a h l deskriptiver Details prinzipiell unbegrenzt, während die Fiktion unter dem Z w a n g zu f u n k tionaler Bedeutsamkeit steht. Das gilt natürlich auch in der Umkehrung, d . h . die historischen Formen, zu denen auch die Autobiographie gehört, können sich nicht auf funktionell bedeutende Fakten beschränken, ohne ihren W i r k lichkeitsanspruch aufzugeben.
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Im Sinne Roman Ingardens handelt es sidi beim Roman um »rein intentionale Gegenständlichkeit« (d. h. um eine nur durch den Bewußtseinsakt und nur in
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entscheidet.34 Der Roman ist Sinnstiftung und Faktensetzung, die Autobiographie dagegen Sinnfindung im vorgegebenen Faktischen. 85 Der Autobiograph verhält sich also gleichsam seinem Leben gegenüber wie der Leser zu einem Roman: interpretierend, d.h. auf der Suche nach Bedeutung, die erst der uferlosen Fülle der bloßen Lebensfakten gegenüber die Möglichkeiten des Erzählens schafft, indem die Erzählinhalte ausgewählt und damit zugleich der funktionale Zusammenhang eines Ganzen für die Wiedergabe hergestellt wird. 36 Für den Romancier gibt es eine solche Auswahl nur im übertragenen Sinne, insofern seine Möglichkeiten, da er nicht durch eine vorgegebene historische Faktizität gebunden ist, praktisch unbegrenzt sind. M i t dem Erzählen tritt im Roman jedes Einzelelement unmittelbar in eine Totalität ein, von der es seinen Sinn erhält. Vereinfacht ausgedrückt erzählt der Roman auf ein Ende hin, das er möglicherweise nicht erreicht, weil es keine befriedigende Lösung gibt oder weil sie nicht darstellbar ist. Dagegen erzählt die Autobiographie von einem vorgegebenen Ende her, das z w a r ebenfalls unbefriedigend sein kann, insofern es nicht den Lebenserwartungen des Subjekts entspricht, das aber real und allenfalls insofern relativ ist, als das Leben noch unabgeschlossen ist und damit die Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung noch nicht erschöpft sind.37
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diesem existierende), bzw., sofern sie im T e x t vorliegt, um »abgeleitet rein intentionale Gegenständlichkeit« im Unterschied zur »seinsautonomen Gegenständlichkeit« der Realität selbst (R. Ingarden, D a s literarische Kunstwerk (L 1 6 1 , hier: S. I 2 i f f . ) . - Idi verwende hier und im folgenden Ingardens phänomenologische Kategorien, soweit sie als deskriptive verifizierbar sind, ohne dem ontologisdien Ansatz der Theorie zuzustimmen. - Janik (L 1 6 6 , S. 66) weist darauf hin, daß sich der Erzähler, d. h. auch der Romancier, »prinzipiell und nach eigenem Verständnis im Horizont verifikabler Aussagen (bewegt)« [ . . . ] , daß aber der »Verifikationsrahmen [ . . . ] nur der Kontext der restlichen Erzählaussagen (ist)«. Für die Autobiographie als grundsätzlich historisch verifizierbare Aussage liegen die Verhältnisse wesentlich anders. - Zum P r o blem der Fiktion als Kommunikation vgl. a. Siegfried J. Schmidt, Ist >Fiktionalität< eine linguistische oder eine texttheoretische Kategorie? (L 227) und Johannes Anderegg, Fiktion und Kommunikation (L 110). S. Shumaker (L 93), S. 111 : »Whereas the novelist within limits, may >create< persons and situations, the autobiographer can only re-create.« In der Freiheit der Sinngebung sieht Monika Sdiüz (L 89) auch bei Selbsterlebtem den V o r z u g des Romans gegenüber der Autobiographie (S. 4). S. hierzu audi Iser (L 48), S. 42. Z u r strukturellen Offenheit der Autobiographie s. besonders Pascal (L 83), S. 191, und Mendelssohn (L 63), S. 80.
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4-4 Vergegenwärtigung und Anspielung Für die Aussage selbst haben die unterschiedlichen Seinsqualitäten der jeweiligen Erzählinhalte bedeutsame Konsequenzen. Wenn nämlich für den Roman die Totalität im Erzählten selbst liegt, dann ist seine Realität mit der Darstellung erschöpft. Es gibt zwar im Prinzip Andeutungen, die über die erzählte Gegenständlichkeit hinausverweisen (insbesondere dann, wenn Historisdies im Spiele ist), aber diese Andeutungen müssen im Bereich der Fiktion selbst auflösbar sein. Dagegen gibt es in der Autobiographie die Möglichkeit des Verschweigens oder der Unwahrheit, die darin gründet, daß die Totalität des Erzählten in der objektiven Wirklichkeit liegt und im Erzählen - sei es aus Mangel an Einsicht oder aus fehlender Aufrichtigkeit - verfehlt werden kann. Der Leser realisiert die Autobiographie mit dem Wissen, daß es sich um eine subjektive Sicht handelt, die mehr oder weniger gelungen sein kann und die sidi der tatsächlichen Wahrheit, die er voraussetzen kann, nur graduell annähert. Er kann sich die Frage stellen: wie war es wirklich? — und er kann annehmen, daß sich diese Frage beantworten läßt. Er kann weiter davon ausgehen, daß die Wahrheit der Sachverhalte von vornherein jenseits aller Darstellbarkeit liegt. Daher muß er grundsätzlich damit rechnen, daß die Autobiographie einzelne Unwahrheiten enthält, während der Roman nur Unklarheiten oder Unwahrscheinlichkeiten aufweisen kann, sofern er nicht als Ganzes unwahr, d. h. mit der Wirklichkeit nicht vereinbar ist. Mängel des Romans liegen im Bereich der Darstellung, während die Autobiographie die Wirklichkeit als solche, die ihre Legitimationsbasis ist, verfehlen kann. Der Romanautor ist gezwungen, alles zu vergegenwärtigen, was er als wirklich setzen will, während der Autobiograph hier von vornherein in einer aussichtslosen Lage ist. Jede Vergegenwärtigung ist prinzipiell immer nur Anspielung. Das führt dazu, daß Vergegenwärtigung in der Autobiographie als Zweckform ein weitgehend rhetorisches Verfahren ist, das Akzente setzt, während die Darstellung insgesamt mit der raffenden Berichtform auskommt. In dem Maße freilich, in dem audi die Geschichtsschreibung >pragmatisch< verfährt, d. h. Handlungsabläufe anschaulich wiedergibt, 38 um den Leser durch >eigene< Erfahrung zu belehren, kann man auch für die Autobiographie veränderte Darstellungsmöglichkeiten voraussetzen. Allerdings bleibt selbst das anschaulichste Erzählen angesichts der Unerschöpflichkeit des realen Gegenstandes 38 letztlich Anspielung und Zitat. s» S. hierzu H a h l (L 1 4 7 ) , S. 4 j f f . 39
Die >Unerschöpflichkeit< ist keine Aussage über den Gegenstand selbst, der vielmehr an sich eindeutig bestimmt ist - sie bezieht sich vielmehr auf seine Erkenntnis und Darstellbarkeit (Näheres bei Ingarden (L 1 6 1 ) , S . 261t., und Stempel ( L 268), S. 338fr.). V g l . a. A n m . 3 2 zu diesem Kapitel.
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Das zeigt sich besonders deutlich bei der Raumdarstellung: im Roman ist der Raum immer szenischer Raum, in sich geschlossen und nur in dem Maße wirklich, wie er (direkt oder indirekt) geschildert ist, was wiederum bedingt, daß die Raumschilderung so vollständig sein muß, daß beim Leser die zum Verständnis benötigte Anschauung ausgebildet wird. Ein Kontinuum des Raumes entsteht auf diese Weise nicht und ist auch überflüssig.40 Dagegen bezieht sich die Autobiographie immer auf realen Raum, dessen Vergegenwärtigung angesichts seiner tatsächlichen Unendlichkeit (bzw. unendlichen Bestimmtheit) schlechterdings unmöglich ist. Der Autobiograph wird deshalb die geschilderten Raumbeziehungen notwendig in der Form von Verweisen geben, die den realen Raum voraussetzen. Am einfachsten geschieht das in der Namensnennung, die der abstrakteste Fall eines Verfahrens ist, das der Sache nach immer vorliegt, auch wenn eine große Zahl von Informationen über den Schauplatz gegeben wird: die Vergegenwärtigung bleibt immer vorläufig und unvollständig. Aus diesem Grunde neigt die Autobiographie hier zur Verknappung, zum bloßen Hinweis, der den Raum in seiner Ganzheit voraussetzt. Das ist nicht zuletzt deswegen möglich, weil Raumerlebnis und Zeiterfahrung verbunden sind, so daß ein raum-zeitliches Kontinuum entsteht, das objektiv verifizierbar ist, insofern der Standort des Erzählers in Raum und Zeit mit dem jeweils erzählten Standort kontinuierlich verbunden ist.41 Grundsätzlich läßt sich sagen, daß Anschaulichkeit und Vergegenwärtigung in der Autobiographie wegen der Seinsautonomie der dargestellten Gegenstände von vornherein relativ sind. Insofern sich Autor und Leser über den Gattungscharakter im klaren sind, bleibt auch bewußt, daß immer nur Aspekte, Teilbereiche, Einzeldimensionen der Wirklichkeit sichtbar werden. Für den Autor bedarf es einer zusätzlichen Motivation, um den Bericht zu romanhafter Anschaulichkeit zu erweitern, während die Ansprüche des Lesers an das Erzählte unterschiedlich sind, je nachdem es sich als authentische Wirklidikeitsaussage (mit durchgängigen Verweisen auf ihren realen Gegenstand) oder als Fiktion (in der auch Verweise auf einen angeblichen Gegenstand nur so weit möglich sind, wie er durch das Erzählen vorstellbar wird) 4 2 gibt. 40
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Ingarden spricht von einem »eigenen Raum, der zu der dargestellten Welt wesensmäßig gehört«, mit dem realen Raum aber nie zur Deckung und zur Einheit gebracht werden kann (L 161, S. 235 - s. a. die Ausführungen ebd., S. 235ÍÍ.), sowie Hillebrand (L 155)). Das meint Ingarden, wenn er davon spricht, daß es unmöglich sei, aus dem dargestellten Raum »in den realen sozusagen hineinzuspazieren und umgekehrt« (L 1 6 1 , S. 236). Ingrid Aichinger hat hervorgehoben, daß Hinweise auf außersprachliche Wirklichkeit für den Roman irrelevant sind, insofern sie die ästhetische Wirklichkeit
4-5 Distanz Das Historische ist für die Autobiographie als Zweckform nur Verifikationsschema, nicht Prinzip der Wahrheit. Die Struktur der Wahrheit ist vielmehr dadurch bestimmt, daß das Subjekt sich selbst zum Gegenstand wird, d. h. daß die geschilderte Realität als erlebte Realität objektiviert wird und zugleich die Objektivation des Ichs leistet. Das bedeutet eine durchgängig perspektivische Darstellung, die um so deutlicher wird, je problematischer das Verhältnis von Ich und Welt einerseits und das Verhältnis des Ichs zu seiner eigenen Vergangenheit andererseits ist. Kritische Distanz in diesem Sinne ist allerdings nicht selbstverständlich: wo sie fehlt - wie weithin in der Gelehrten-Autobiographie des 18. Jahrhunderts - tendiert die Autobiographie dazu, das formkonstitutive Moment ihrer Genese, die Schilderung des Lebens von seinem Ende her, aufzuheben. Es entsteht dann ein Typus, der sich weitgehend der Biographie annähert, der die eigene Leistung aus einem virtuell immer gleichen Abstand und mit dem Bemühen um objektive Würdigung schildert. Es wird in der Richtung der historischen Zeit erzählt, nicht mit der für die Autobiographie spezifischen Endlastigkeit, die eine durchgängige Perspektivierung zur Folge hat. Der Erzähler wird zum eigenen Geschichtsschreiber, das Erzähler-Ich schrumpft zur neutralen Erzählfunktion. Das Problem der Individualität interessiert noch nicht als solches, so daß die dargestellten Gegenstände um ihrer selbst willen thematisiert werden, nicht in der Funktion einer Vermittlung von Subjektivität. Die Erzählstruktur der Autobiographie wird demgegenüber dann wirklich zum Formgesetz des Einzelwerks, wenn das Subjekt sich problematisch wird. Das älteste Muster hierfür ist die religiöse Autobiographie nach dem Bekehrungsschema : der Antrieb zur Selbstdarstellung liegt im Bewußtsein einer qualitativen Verschiedenheit des erzählenden Ich vom erzählten Ich, der zum Prinzip der Selbstdarstellung wird. Aus der Perspektive des erzählenden Ich ist das erzählte Ich eine gleichsam fremde Figur in der dargestellten Welt, aber das Identitätsverhältnis bleibt dennoch bewußt und ist der Grund dafür, daß das erzählende Ich über die bloße Erzählfunktion hinaus Kontur gewinnt, obwohl es in der Regel statisch und vielfach weltlos ist: es kann sich nur an seiner eigenen Vergangenheit als dem Anderssein des Selbst objektivieren, weil seine Geschichte zu ungegenständlicher Innerlichkeit geworden ist. Grundmuster dieses Typus sind Augustins >Confesnicht beeinflussen, während das für die Autobiographie sehr wohl der Fall ist ( L ι , S. 4 2 8 ) . D a s ist richtig; es fragt sich allerdings, ob die E r w a r t u n g ästhetischer W i r k u n g nicht bereits einen Sonderfall der Autobiographie voraussetzt.
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sioness die sowohl im Bereidi der religiösen Bekenntnisse stilbildend gewirkt haben, als auch über das Moment des Erbaulichen schon relativ früh eine weltlidi-säkularisierte fiktive Entsprechung fanden: zur Fiktion voll ausgebildet liegt das Schema in Grimmelshausens >Simplicissimus< und Defoes >Moll Flanders< vor. 43 Die erzählerischen Reize der Idi-Doppelung kann erst die Fiktion wirklich ausnutzen, während die autobiographische Zweckform an dem Zwang zur Objektivierung des verneinten Andersseins in der Regel eher leidet und - so vor allem die pietistisdie Autobiographie in Gefahr steht, den nicht bejahten Gehalt an Welt auch darstellerisch bis zur Formel zu verkürzen. Darin wird deutlich, daß die Fruchtbarkeit des Ich-Ich-Schemas für den Roman in der Ablösung der existentiellen durch eine ästhetische Organisation besteht, daß also im Gegensatz zur vorgegebenen fiktiven Unmittelbarkeit dodi ein Erzähler vorhanden ist. Weniger radikal und existentiell zugespitzt als im religiösen Bekehrungsschema ergibt sich die autobiographische Situation auch im Bereich der neuzeitlichen Subjekt-Objekt-Problematik, die ja auch für die Entstehung des Romans bestimmend wurde. 44 Die Spannung von Ich und Welt führt dazu, daß jedes konkrete Moment des Lebens als bedingt erfahren wird, d. h., daß immer Alternativen denkbar sind, insofern das Leben nur bestimmte Möglichkeiten des Ichs realisiert hat. Das rückblickende Ich identifiziert sich mit seinem Leben, insofern es faktisch ist, die Fakten selbst unterliegen aber einer Beurteilung und Wertung. Das gilt besonders dann, wenn der Eindruck besteht, daß das Leben um seine eigentlichen Möglichkeiten verkürzt wurde. Diese Sicht des Lebens findet sich besonders bei Autoren, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft benachteiligt waren oder aufgrund ihrer Ansichten verfolgt wurden: ein Personenkreis, dessen Beitrag zur Autobiographie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bestimmend wurde. Hier ist die Ich-Idi-Spannung nicht in der Distanzierung von früheren Phasen des eigenen Selbst begründet, sondern in der expliziten oder impliziten Artikulation eines Anspruchs, den die Umstände verweigert haben, wobei das eine Distanzierung vom Erzähler-Ich einschließen kann, das im Unterschied zur religiösen Autobiographie vielfach audi mit seinem gegenwärtigen Status nicht einverstanden ist. Gerade diese Form ist in besonderer Weise auf die Darstellung historischer Kausalität (in bezug auf das Subjekt) angewiesen, da nur unter dieser Voraussetzung der kritische Anspruch begründet und der aufklärerische Impetus durchgehalten werden kann. 45 43
S. Stanzel, Typische Formen des Romans ( L 2 4 3 ) , S. 3 1 f.
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S. Georg Lukàcs, Die Theorie des Romans. E i n geschichtsphilosophischer V e r such über die Formen der großen E p i k (L 1 9 3 ) . D a s Problem der sidi an den historischen Gegebenheiten ausbildenden Subjektivität und des Selbstbewußtseins hat W o l f g a n g Iser f ü r den R o m a n ein-
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Erst durch den Erzählvorgang wird das Faktum der Lebensgeschichte zur Funktion im Bedeutungsganzen des Lebens: die Vermittlung ist eine erzähltedinische Leistung. Zugleich verändert sich die objektive historische Bedeutung der erzählten Gegenständlichkeit. Das macht die Autobiographie zu einer so zweifelhaften historischen Quelle: 46 es bedarf der quellenkritischen Aufhebung der subjektiven Vermittlung, um zum geschichtlichen Wahrheitsgehalt zu gelangen. Umgekehrt wird auch verständlich, warum die Autobiographie relativ selten auf Dokumente unmittelbar zurückgreift: sie sind noch zu objektiv und deshalb im autobiographischen Sinne noch nicht >wahrHenry Esmond< w i r d deutlich, daß die Erinnerung eine gesteigerte Form des Selbstbewußtseins produziert, indem sie sowohl die Determination durch die historischen Umstände als audi die dadurch eingeschränkten Möglichkeiten des Subjekts realisiert. 48
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S . hierzu H a n s G l a g a u , Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle ( L 2 9 ) ; weniger ergiebig: Hans W . Gruhle, Die Selbstbiographie als Quelle historischer Erkenntnis ( L 32). S . hierzu Iser ( L 4 8 ) , S . 4 5 1 : Erinnerung ist ein schöpferischer Prozeß, denn »Gegenwärtiges setzt Vergangenes in Bewegung und muß es zwangsläufig ein wenig anders erscheinen lassen, als es w a r , denn es ist nun durch etwas erweckt, das es damals nicht gab.« S. Shumaker ( L 9 3 ) , S. 112ÎÏ., der die Zweizeitigkeit der Autobiographie (das Ineinander von Erzählzeit und erzählter Zeit) als impliziten Kommentar deutet. S. Aichinger (L 1), S. 4 2 8 ; Peter de Mendelssohn, Grenzlinien mit Wegweisern. Biographie und Autobiographie (L 63), S. 9.
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aufheben, was zugleich der Gegenwart einen transtemporalen Aspekt verleiht, so daß das Leben quasi als abgeschlossen und vergangen betrachtet werden kann. 50 Dann aber beinhaltet die Zweizeitigkeit des doppelten Ichs an sich schon ein Element des Kommentars, dessen einfachste Form die Artikulation der Schreibgegenwart ist, 61 der sich aber von hier aus zu durchgängiger Reflexion entfalten kann. Reflexion bedeutet nicht zuletzt die ständige Bewußtmachung des Realitätscharakters des Erzählten, der in seinem Vergangensein liegt, d. h. die Aufhebung aller sich aus der anschaulichen Wiedergabe herleitenden vergegenwärtigenden Tendenzen. 52 Zum Bereich der Reflexion gehört auch die Angabe der Erzählmotivation als Prinzip der Wahrheitsfindung. Die verschiedenen Motive (Belehrung, Erbauung, Rechtfertigung, Selbstdeutung, Befriedigung von Neugier, Aufklärung über Zusammenhänge, Unterhaltung usw.) sind stilbildend und entscheiden zugleich über den Aussagegehalt. Durch ihre Artikulation wird der allgemeinere Anspruch der Darstellung des Lebens mit den spezielleren Intentionen vermittelt, von denen sich die jeweilige Perspektive und Auswahl ergibt. Diese Vermittlung kann grundsätzlich nur theoretisch erfolgen, jedoch ist eine Reduzierung der Theorie durch epische Mittel möglich. Allerdings sind für die Zweckform Reflexion und Kommentar die sachgemäßesten Verfahrensweisen.
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S. hierzu audi Wilhelm Dilthey, Der A u f b a u der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (L 19) S. 237ÎÏ. S. hierzu Shumaker (L 93), S. 112ÍF.; W u l f Segebrecht, Autobiographie und Dichtung. Eine Studie zum W e r k E. T . A . Hoffmanns (L 91), S. 30. W o l f - D i e t e r Stempel hat gezeigt, daß die Darstellung geschichtlicher Entwicklung im historischen Diskurs dazu tendiert, dessen unvermeidlichen Fiktionscharakter z u verstärken, wenn sie sidi der Ereignisfolge anschließt. D e r »fiktive Charakter der progressiven Erzählung« läßt sich demgegenüber durch die »rückläufige Erzählung« einschränken, die vom bewußt gehaltenen Zeitpunkt des Erzählens explikativ eine Entwicklung verfolgt, deren Ergebnis vorgegeben ist. Noch wirksamer ist die A u f h e b u n g fiktiver Strukturen durch die reflektierende Rede des Historikers, die auf »metanarrativer Ebene« die erzählerische Konsistenzbildung in Frage stellt. Diese Probleme des historischen Diskurses gelten audi für die Autobiographie als einen seiner Sonderfälle, wobei die Ich-Ich-Struktur die explikativen Erzählformen ebenso begünstigt w i e die Erzählerreflexion. Beides sind Gegebenheiten der Erzählstruktur in der Zweck form. Stempels Analyse madit aber zugleich deutlich, daß der Ubergang zur Fiktion in der Konsistenzbildung des historischen Diskurses schon angelegt ist, so daß sich eine prinzipielle Scheidung verbietet: es ist jeweils im einzelnen zu klären, wie die nur systematisch, d. h. an idealen Modellen zu bestimmenden Grenzen zwischen nodi-historischen und sdion-fiktiven Formen der Erzählung verlaufen (s. Wolf-Dieter Stempel, Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs (L 244), S. 342ÎÏ.).
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4·7 Leserbezug Die Reflexion ist ein Vorgang der Kommunikation. 5 3 Die Autobiographie ist von ihrem Gegenstand her in besonderer Weise publikumsgeriditet und publikumsbezogen, da das Interesse am historischen Individuum nicht einfach als solches gegeben ist. Wo es - wie bei berühmten Zeitgenossen vorausgesetzt werden kann, tritt der Autor unmittelbar in einen Dialog mit seiner Mitwelt, indem er einem ausgesprochenen oder latent vorhandenen Bedürfnis nach Information entspricht. Die Struktur dieses Kommunikationsvorgangs ist dadurch bestimmt, daß sein Gegenstand objektiv ist, d. h. auch unabhängig von der Autobiographie (in welcher Form auch immer) vorliegt. 54 Audi unbekannte Zeitgenossen, die nicht davon ausgehen können, daß ein Interesse an ihrer Person hinreichende Legitimation für ihre Autobiographie ist, die aber ihr Schicksal für repräsentativ und interessant halten, beziehen sich auf den Wirklichkeitscharakter ihrer Erzählung, auf das Element der Aufklärung und auf das vorauszusetzende >menschliche< Interesse des verbürgten Stoffes. Der Publikumsbezug ergibt sich also vornehmlich im Hinblick auf den Realitätsgehalt der Aussage. Der Autor und der zunächst einmal angesprochene zeitgenössische Leser sind in einer gleichen historischen Wirklichkeit verbunden, die zugleich die Bezugsebene des Textes ist. Der Leser begegnet der Schilderung vielfach mit einem Vorwissen oder gar einem Vorurteil, das von vornherein mitreflektiert und in die Erzählstrategie einbezogen werden muß: die Autobiographie ist eine Sicht der Dinge, die einem Rechtfertigungszwang unterliegt. Das gilt audi noch im Hinblick auf ein späteres Publikum, das prinzipiell die Möglichkeit zu historischen Nachforschungen hat. Objektivität ist deshalb nur so weit möglich, wie der spezifische Standpunkt deutlich gemacht wird und für den Leser die Möglichkeit des Urteils gegeben ist. Insofern ist der Leserbezug für die strukturelle Zweigliedrigkeit von Erzählung (die sich als Information versteht) und Reflexion unentbehrlich. Permanente Reflexion begleitet auch den Erzählvorgang als solchen. 53
54
Z u r B e g r ü n d u n g des Erzählens als V o r g a n g der K o m m u n i k a t i o n s. neuerdings Dieter J a n i k , D i e Kommunikationsstruktur des Erzählens (L 166). D e m g e g e n über h a n d e l t es sich im folgenden um den S o n d e r f a l l des E r z ä h l e r - L e s e r K o n t a k t s parallel zur erzählerischen V e r m i t t l u n g der Sachverhalte. I m Unterschied hierzu ist der K o m m u n i k a t i o n s p r o z e ß im auktorialen und personalen R o m a n anders strukturiert, weil die G e g e n s t ä n d e erst mit der A u s s a g e gesetzt werden. Gegenstand des D i a l o g s sind also nicht eigentlich die Sachverhalte und ihre Wiedergabe, sondern die B e d i n g u n g ihrer Möglichkeit (Wahrscheinlichkeit und E r z ä h l f u n k t i o n ) . 70
Der Verfasser einer Autobiographie kann sich nicht darauf beschränken, Sachverhalte einfach mitzuteilen, er muß sein Wissen und seine Sicht der Dinge begründen. Der Grundsatz der Wahrscheinlichkeit setzt nicht — wie im Roman - bei den Aussageinhalten an, sondern schon bei den transzendentalen Voraussetzungen ihrer Mitteilbarkeit. Allgemein ist die Autobiographie durch die plausiblen Möglichkeiten des Gedächtnisses und durch das Vorhandensein von Zeugnissen und Dokumenten begrenzt. Das bestimmt die Darstellungsform, die als echt autobiographische Form (d. h. als Zweckform) nur summarisch berichten kann, wenn nicht sekundäre Quellen einen höheren Grad der Vergegenwärtigung ermöglichen: das ist dann aber zu begründen, d. h. der Erzählvorgang muß selbst reflektiert werden. Dazu gehört auch das Wissen um die Problematik der Erinnerung selbst.55 Denn es ist klar, daß der Erinnerungshorizont sidi von dem Erlebnishorizont sehr wesentlich unterscheidet: das sich erinnernde Ich kann nicht von seinem Vorwissen um das Gewordene abstrahieren, d. h. es kann den offenen Horizont der geschilderten Situation mit ihrer Zukunftsungewißheit nur aus dem geschlossenen Horizont der realisierten Möglichkeiten vergegenwärtigen. 56 Das beinhaltet eine qualitative Veränderung der Lebenstatsachen, die durch die Erinnerung in eine Kausalkette eintreten, während ihr Erlebnisgehalt in ihrer Unmittelbarkeit und Intensität bestand. Die Erinnerung ist insofern nicht einfach Reproduktion des Gewesenen, sondern wesentlich Herstellung einer Kontinuität, die zum Gegenwärtigen hinführt. Die Fakten werden deshalb - wie bereits ausgeführt — im Horizont ihrer Bedeutung für das Ganze vergegenwärtigt und unterliegen von vornherein der Abstraktion. Die damit verbundene Einseitigkeit kann nur aufgehoben werden, indem sie bewußt gemacht wird. Dabei zeigt sich, daß die Erinnerung nicht nur ein Vermögen der Reproduktion, sondern der Produktion ist, das eine Synthese aus historischer Wahrheit und Selbstproduktion des Ichs als Wahrheit der Autobiographie hervorbringt. 57 Zu diesem Vorgang gehört natürlich audi das Vergessen, das eine unausgesprochene Wertung des Geschehenen für das Ganze des Lebens bedeutet. 58 Die Spannung zwischen der Verpflichtung auf die historische Wahrheit einerseits und den ihr widerstrebenden Bedürfnissen der Selbstdarstellung andererseits geht zwar bereits in die Struktur der Autobiographie ein, for-
es S. hierzu Pascal (L 83), S. 15. S. Aichinger (L 1), S. 423; Georges Gusdorf, Conditions et limites de l'autobiographie (L 37), S. 1 1 7 . 57 S. hierzu Gusdorf, Memoire et personne (L 36), S. 2 1 7 , sowie ders., Conditions et limites de l'autobiographie (L 37), S. 226. Vgl. a. Pascal (L 83), S. 89. 58 S. hierzu besonders Gusdorf, Mémoire et personne (L 36), S. 22 iff., sowie Frank Thieß (L 100), S. 282. 56
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dert aber zusätzlich zu ausdrücklicher Artikulation heraus, damit der Anspruch der Wirklichkeitsaussage gewahrt bleibt. Das gilt insbesondere dann, wenn Aussagen in Gefahr stehen, für unwahrscheinlich gehalten zu werden, wenn etwa die Vergegenwärtigung über die Bedingungen der Redesituation hinausgeht. So liegt ein als Dialog vergegenwärtigtes Gespräch jenseits dessen, was als Gedächtnisleistung plausibel ist, genau beobachtete Details in einer Situation von großer Hektik müssen aus den Bedingungen der Erfahrung begründet werden, jedes Durchbrechen der subjektiven Erlebnisperspektive beinhaltet den Verlust an Glaubwürdigkeit und bedarf deshalb zusätzlicher Erklärung usw. Die Verpflichtung auf die historische Wirklichkeit, der implizite Wahrheitsanspruch, hat zur Folge, daß der Autobiograph mit einem äußerst kritischen und skeptischen Leser rechnen muß; dem wird durch eine Offenlegung und Reflexion der Erzählprobleme Rechnung getragen. Sie beziehen sich auf den doppelten Anspruch des wahren und des anschaulichen Erzählens: hier liegt eine wichtige Einbruchsstelle für die Fiktion, weil die Autobiographie vielfach nur anschaulidi werden kann, indem der Autobiograph seine Phantasie zu Hilfe nimmt: für die Zweckform kann das aber immer nur eine Hilfskonstruktion sein, die im Dienste der Wahrheitsfindung steht: ein explizites Durchbrechen der formgegebenen Erzählmöglichkeiten. Die Konvention der perfekten Erinnerung als Analogon des allwissenden Erzählers mag dem Ich-Roman noch zugestanden werden, da sie ein ästhetisches Bedürfnis befriedigt 59 - für die Autobiographie ergibt sich hier - bedingt durch eine andere Lesereinstellung - die kritische Frage der Wahrscheinlichkeit. Sie ist um so bedeutsamer, als die Erzählmöglichkeiten der Ich-Form durch die realistische Erzählsituation von vornherein eingeschränkt sind, so daß sie ohnehin nur das Interesse eines wirklichkeitsbewußten Lesers finden kann. Die poetologischen Prinzipien der Autobiographie ergeben sich also aus dem Erwartungshorizont der Leserschaft als Probleme der Kommunikation. Zweifellos kommt aber auch die als Zweckform konzipierte Autobiographie nicht ohne fiktive Elemente aus. Die reine Zweckform ist ein Grenzwert, dessen Bestimmung nur heuristische Bedeutung hat, denn die Übergänge zur Kunstform sind kontinuierlich und fließend, und sie lassen sich weiterverlängern bis zum autobiographischen Roman. 60 Die Übernahme ästhetischer Darstellungsformen, die in jedem einzelnen Falle als Prozeß darzustellen ist, bedeutet einen Zuwachs an Ausdrucksmöglidi58 80
S. hierzu Romberg (L 2 2 1 ) , S. 9 7 . Eine typologisdie Klassifizierung der autobiographischen Formen vom S a d i beridit bis zum autobiographischen Roman versucht Aichinger (L 1 ) , S. 4 2 6 .
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keiten, während zugleich die vorgegebenen Bedingungen des autobiographischen Erzählens zu ästhetischen Sonderstrukturen ausgebildet werden, die im epischen Bereich neue Erzählmöglichkeiten eröffnen und geläufige Erzählprinzipien grundlegend verändern. Die Fruchtbarkeit der Autobiographie für die Erzählkunst liegt in ihrer relativ geringen gattungsmäßigen Verfestigung, die immer wieder durch den Wirklichkeitsstoff und seine Bedürfnisse aufgebrochen werden kann. 61 Die Poetik der Form ergibt sich letztlich aus den Prämissen des realistischen Erzählens, das seinerseits von dem jeweiligen Standard der Erzählkunst abhängt. Das läßt sich im einzelnen nur danach bemessen, was in der Entstehungszeit erzähltechnisch möglich war.
81
Vgl. hierzu Segebrecht, Autobiographie und Diditung (L 91), S. 24fr.; ders., in: J . C. Sachse, Der deutsche Gil Blas (L 366), S. 246. 73
III Das Autobiographische in der Geschichte des modernen Romans
5.
Die >Krise< des deutschen Romans im 18. Jahrhundert
Die Literarisierung der Autobiographie am Ende des 18. Jahrhunderts ist nicht einseitig aus den Bedürfnissen einer differenzierteren Selbstdarstellung zu erklären; vielmehr machte erst die entsprechende und gleichzeitige Erneuerung des Romans im Zeichen eines verschärften Wirklichkeitsanspruchs eine Annäherung der Autobiographie an die Darstellungstechniken des zeitgenössischen literarischen Erzählens möglich. Die Literarisierung verlief parallel zu jenem Prozeß, dessen Ergebnis die ästhetische Emanzipation des Romans war; pointiert formuliert erfolgten also die Literarisierung des Romans und die Literarisierung der Autobiographie synchron und beeinflußten sich wechselseitig. Der >Anton Reiser< von Karl Philipp Moritz ist - wie nodi zu zeigen sein wird - gewissermaßen eine Engführung, in der sich die beiden Prozesse begegnen: Autobiographie und Roman zugleich. Für unsere Frage ist es höchst bedeutsam, daß sich die Autobiographie nicht an einer fest etablierten Form orientierte, sondern an einer in ihrer Gültigkeit noch angezweifelten, daher offenen und sich über das übliche Maß literarischer Innovation hinaus ständig verändernden, der insbesondere das zum Problem wurde, was die Autobiographie als Prämisse ihrer Realisation voraussetzen konnte: Wirklichkeit. Unter diesem Aspekt ist der Stand der romantheoretischen Reflexion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in seinen Grundtendenzen zu vergegenwärtigen. 1 Als allgemein bekannt darf vorausgesetzt werden, daß noch am Ende des 18. Jahrhunderts die Äußerungen der Romanautoren selbst wie auch der Kritiker über den Roman als Gattung formal auf dessen Negation 1
Gerade zu diesem Komplex ist die Forschung in jüngster Zeit äußerst produktiv und ergebnisreich gewesen, so daß hier mit vergleichsweise gesicherten Voraussetzungen zu rechnen ist, auf die idi dankbar zurückgreife. Unbefriedigend sind freilich immer noch die Kenntnisse über die sozialgeschichtlichen Hintergründe und Grundlagen, die zur Ausbildung der >bürgerlichen< Gattung des Romans geführt haben. Hier wird man sich vorerst nodi mit relativ globalen Thesen begnügen müssen.
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hinausliefen. 2 Der Terminus »wahre Geschidite< - die geläufigste der üblichen Umschreibungen 3 - war freilich zunächst noch weniger als eine Gattungsbezeichnung, muß vielmehr als Formtelos verstanden werden. Die Unsicherheit im Verlauf eines Prozesses, an dessen Ende die Durchsetzung des Romans als der für die Folgezeit repräsentativen literarischen Gattung überhaupt stehen wird, kennzeichnet die um 1770 vorauszusetzende Situation. Dabei ist auf den Prozeßcharakter der romantheoretischen Reflexionen des späten 18. Jahrhunderts in besonderer Weise hinzuweisen. Es wäre eine grobe Vereinfachung, wollte man - wie das vielfach geschieht - die Genese des modernen Romans einfach aus der Überwindung der kolportagehafttrivialen Elemente des vorangegangenen Abenteuer- und Liebesromans erklären. Überhaupt ist die Entgegensetzung einer alten und einer neuen Form, wie sie die Dokumente aus der >Entstehungskrise< des modernen Romans nahelegen, ein viel zu einfaches Modell. Im Prinzip hatten die Reformtendenzen ja zwei Zielrichtungen: es galt, das moralisch begründete Vorurteil gegen die Romanlektüre zu überwinden und gleichzeitig die Form aus dem poetologischen Niemandsland zu entfernen, um ihr durch die ästhetische Legitimation den Zugang zum gebildeten Publikum zu verschaffen. Dieses Bemühen wiederum beruhte auf der wachsenden Einsicht, daß die aus einem undifferenzierten Unterhaltungs- und Sensationsbedürfnis entstandene Gattung sich praktisch (d. h. zugleich in dem Maße, wie sie sich veränderte) als immer geeigneter erwies, die ideologischen Funktionen zu übernehmen, aus denen die Dichtung einen großen Teil ihrer zeitgenössischen Rechtfertigung bezog. Die Emanzipation des Romans betraf also zunächst die literarische Zweckform und erst im Zuge der Ausbildung der ästhetischen Kultur zur Ideologie des Bürgertums 4 audi deren ästhetische Legitimation als Form der >hohen< Dichtung. Historisch gesehen erfolgte sie - wie noch jüngst Wilhelm Voßkamp gezeigt hat 5 - nicht in der Form einer Krise, sondern gleichsam in einer permanenten Abfolge von Krisen und Erneuerungen. Walter Pabst hatte bereits festgestellt, daß Verneinung und Krise die bemerkenswerteste Konstante in der Geschichte des Romans überhaupt sei : 2
Ausführliche Belege hierfür u. a. bei G e o r g Jäger, Empfindsamkeit und R o m a n (L i i , ) .
3
V g l . hierzu besonders W o l f g a n g G . Deppe, History versus Romance ( L 1 2 7 ) .
4
S. hierzu H a n s Weil. Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips ( L J 0 4 ) , S. 2 3 6 ® .
5
Wilhelm V o ß k a m p , Romantheorie in Deutschland. V o n Martin O p i t z bis Friedrich von Blanckenburg (L 2 5 1 ) .
75
Die Geschichte »des« Romans ist eine Geschichte von Revolten gegen den jeweils vorgefundenen »Roman«, wenn man so will eine Geschichte von Krisen. 6 Diese These nimmt Voßkamp auf, indem er »die Geschichte des Romans und seiner theoretischen Reflexion als eine Kette immer neuer »Krisen« und Krisendiskussionen interpretiert«. 7 Konkret läßt sich das von den A n fängen der neuzeitlichen Romangeschidite bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in folgenden Oppositionen beschreiben: Der höfisch-historische Roman wendet sich gegen den mittelalterlichen Versroman, bzw. gegen den spätmittelalterlichen Prosaroman und die Volksbücher, die theologisch-erbauliche Variante des hohen Romans (Camus, Buchholtz) gegen den »Amadis«. Der >roman comique< begründet sich als Gegenentwurf zum heroisch-galanten Roman, der psychologische Kurzroman im Widerspruch zum barocken Großroman, der politische Roman< Weises in der Polemik gegen Grimmelshausens Simpliciaden; und schließlich sucht der bürgerliche Roman als Geschichte von Privatbegebenheiten (>inneren BegebenheitenäußererKonstante< damit zum quasi-iiberzeitlichen Gattungsgesetz erhebt.9 Das hieße aber, die die sehr unterschiedliche Qualität dieser Krisen und ihren historischen Stellenwert zu vernachlässigen. Uberblickt man nämlich die E r gebnisse der Voßkampschen Untersuchungen zur Romantheorie von Opitz bis Blankenburg im Zusammenhang mit den Erkenntnissen anderer neuerer Arbeiten zu diesem Gegenstand, so zeigt sich, daß die romantheoretische Reflexion insgesamt sehr wohl eine relativ kontinuierliche Richtung bezeichnet. Zunächst ist unverkennbar, daß sich der Roman von Anfang an - und z w a r ausdrücklich auch schon im Barock -
gegen das abenteuerlich-
unwirklich-phantastische Element seiner neuzeitlichen Genese aus dem mittelalterlichen Versepos, vor allem in der verbreitetsten 6
Form des
Walter Pabst, Literatur zur Theorie des Romans ( L 2 1 1 ) , S. 264. Vgl. a. Walter F. Greiner, Studien zur Entstehung der englischen Romantheorie an der Wende zum 18. Jahrhundert (L 145), S. 1 y£F-, der das Argument Pabsts aufnimmt und detailliert begründet. 7 Voßkamp ( L 2 5 1 ) , S. 1. » Ebd. 9 Pabst (L 2 1 1 ) sieht in der Krise des modernen Romans (d.h. hier des Romans im 20. Jahrhundert) denn auch keinen »Anlaß zur Beunruhigung«, sondern ein »Zeichen der Entwicklung« (S. 265): das zeigt, wie problematisch die unhistorische Formalisierung ist.
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>Amadisneuen< Romanform ist, im Zeichen der Forderung nach Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit. Diese Forderung wird jedoch nidit an sich erhoben, sondern in Verbindung mit der moralischdidaktischen Legitimation einer aus dem reinen Unterhaltungsbedürfnis entstandenen Form. Voßkamp hat mit Recht den Erfindungsbegriff (im Zusammenhang mit dem Nachahmungsprinzip) und den postulierten Endzweck (die Wirkungsabsicht) des Romans als Zentralkategorien für die systematische Erforschung der Romantheorie bis zu Blanckenburg herausgestellt.11 Beide Probleme hängen dialektisch zusammen und erweisen sich als geeignet, die Kontinuität in der äußerlich sehr heterogenen Diskussion deutlich zu machen. Die Verwerfung des Romans, d. h. der gesamten bisherigen Tradition, ist im Zeichen eines verschärften Wahrheitsanspruchs wohl eher als ein Topos zu werten, dem das Weiterbestehen einer anspruchslosen Unterhaltungsliteratur zum Vorwand dient, denn als Zeichen einer akuten Krise, wobei allerdings zu beachten ist, daß der Anspruch auf Wahrheit - in Verbindung mit den sehr einschneidenden Veränderungen des Wirklidikeitsbegrifïs - immer strenger wird und sich insofern auch qualitativ verändert. Das Streben nach größtmöglicher Annäherung an die Wirklichkeit darf als ein kontinuierliches Element der Romanentwicklung gelten, das sich auf jeder Stufe neu gegen das aus dem Unterhaltungsbedürfnis erwachsende und durch die Gattungstradition legitimierte Element der reinen Erfindung behaupten mußte, wobei die Antithesen sich jeweils krisenhaft zuspitzen, aufs Ganze gesehen aber im wesentlichen in der gleichen Zielrichtung erfolgten. Möglicherweise kann man sogar so weit gehen, schon in den Anfängen der Gattungsgeschichte einen realistischen Anspruch als geheimes Formgesetz der Gattung (bezogen auf ihre historische Entwicklung, die mit ihrem >volkstümlichen< Ursprung zusammenhängt) wirksam zu sehen.12
10
S. hierzu Walter Ernst Schäfer, H i n w e g nun A m a d i s und deinesgleichen G r i l len! Die Polemik gegen den R o m a n im 1 7 . Jahrhundert ( L 2 2 4 ) .
11
V o ß k a m p ( L 2 5 i ) , S . 3.
12
H a n s Blumenberg hat mit überzeugenden Argumenten die These aufgestellt, daß die >Möglichkeit des Romans< mit dem modernen Wirklichkeitsbegriff unmittelbar zusammenhängt, insofern er sich als Gattung erst durchzusetzen vermochte, als die Kunst nicht mehr einzelnes Wirkliches abzubilden, sondern den »Wirklichkeitswert der einen vorgegebenen Wirklichkeit als solchen nachzubilden« trachtete ( H B , Wirklidikeitsbegriff und Möglidikeit des Romans ( L 1 2 0 ) , S . 2 1 ) . D a s geschieht als Realisierung, d . h . als Verwirklichung eines Möglichen, dem durch die literarische Arbeit eine durchgängige Konsistenz in der Form eines »einstimmigen Sichdurchhaltens einer S y n t a x von Elementen« (ebd.) gegeben werden muß. Diese Konsistenzbildung madit den W i r k -
77
Andererseits darf die durchgängige Orientierung an der Wahrscheinlichkeitsforderung nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Romanentwicklung keineswegs kontinuierlich verlaufen ist. Eine solche Annahme verbietet sich schon deshalb, weil vom Roman als einheitlicher Gattung erst allenfalls in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Rede sein kann: das Barock rechnete noch mit mindestens zwei in ihrer Poetik und ihren Darstellungsprinzipien vollkommen getrennten (also nicht unter einem gemeinsamen Oberbegriff Roman subsumierbaren) Gattungen : dem >hohen< höfisch-historischen Roman (mit dem der etwas anders strukturierte Schäferroman verbunden war) und dem >niederen< Roman, der in den Spielarten des pikaresken Ich-Romans und des >komischen< Romans verbreitet war. 1 3 Für beide Arten konkretisierte sich die Wahrsdieinlichkeits- und Wahrheitsforderung in unterschiedlicher Weise: für den >hohen< Roman im Möglichen und Widerspruchsfreien, für den >niederen< hingegen im Alltäglichen. Für die Romangeschichte und damit speziell für unsere Fragestellung ist es wichtig, daß sich im 18. Jahrhundert der niedere Roman behauptete und damit die Schilderung von Alltagwirklichkeit zum Paradigma des Romanhaften überhaupt wurde. Marianne Spiegel hat nachgewiesen, 14 daß der galante Roman (als Nachfolger des höfisch-historischen Romans) seit etwa 1729 ständig an Boden verlor, während zunächst der Abenteuerroman und schließlich der >moralische TendenzromanVerbürgerlichung< zu Beginn des 18. Jahrhunderts 21 zum Medium der Selbstdarstellung des aufstrebenden Bürgertums und seiner Ideologie geworden war. Als »gesellschaftsunmittelbare Form< ließ er sich als Forum der Diskussion und Medium der Meinungskommunikation verwenden, 22 wobei der zunächst moraltheologische Ansatz der Didaktik sich mehr und mehr ins >Philosophische< veränderte. Das rhetorische Prinzip solcher Wirkungsintention 23 deckte auch die ästhetischen Mängel, soweit sie empfunden wurden oder entzog die Darstellung von vornherein ästhetischer Reflexion, 18
S. hierzu vor allem Spiegel (L 238). S. hierzu Schäfer (L 224) und Voßkamp (L 2 $ i ) , S. u f f . 18 Das ist ausgeführt bei Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert (L 225), S. 22ff, i02ff. S. außerdem Jäger (L 165), S. 6jff., und Voßkamp (L2Jl),S. J3ff. 1« Nachweise hierfür bei Voßkamp (L 2 j i ) . 20 Voßkamp (L 251), S. 4; Hervorhebung daselbst. 21 S. hierzu Arnold Hirsch, Bürgertum und Barock im deutschen Roman (L 157), und Max Götz, Der frühe bürgerliche Roman in Deutschland ( 1 7 2 0 - 1 7 4 0 ) (L142). 22 S. Jäger (L 165), S. 79. Zum Gesamtkomplex der Didaktik im Roman ebd., S. 65 ff. 23 Zur Praxis der Rhetorik im Roman s. besonders Michael von Poser, Der abschweifende Erzähler (L 213). 17
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da die Gattung von ihrer Vorgeschichte her einen Anspruch auf ästhetische Würdigung ohnehin erst geltend machen mußte und deshalb zunächst allenfalls in einen Randbereich der Poetik einzudringen vermochte. Schließlich legte es der mit der Form gegebene grundsätzliche Rechtfertigungszwang nahe, den Charakter der Zweckform zu unterstreichen und beizubehalten - in sehr viel stärkerem Maße als etwa in der analogen Form des bürgerlidien Trauerspiels. Das betrifft vor allem die Entwicklung in Deutschland, wo die romantheoretischen Reflexionen, die sich an der entwickelteren Praxis in England und Frankreich orientierten, lange Zeit der Romanproduktion vorausliefen. Wenn sich der Roman im Zeichen des dezidierten Wahrheitsanspruchs der Historie annäherte, so daß seine Erzählprobleme mit denen der >pragmatischen Geschiditsschreibung< identisch wurden, 24 so folgerte man dodi zugleich aus dem philosophischen Charakter der Fiktion ganz im Sinne der neoaristotelischen Tradition die Überlegenheit des Romanschriftstellers über den Historiographer 2 5 Von hier aus konnte der Fiktionsbegriff zum Ansatz der ästhetischen Emanzipation der Gattung werden, jedoch erst, nachdem die dichterische Phantasie den Gesetzen der Wirklichkeit unterstellt worden war, d. h. nach der philosophisch-didaktischen Inanspruchnahme für die »Ausbreitung und Erstarkung eines bürgerlichen Selbstbewußtseins«.26 Eberhard Lämmert hat betont, daß der Roman zuerst als ein »bedeutendes literarisches Bildungsorgan« anzusehen ist,27 als »Organ der Persönlichkeitsbildung und Selbstvergewisserung im bürgerlichen Zeitalter«, 28 daß er erst unter der Voraussetzung der Künstleremanzipation am Ende des 18. Jahrhunderts zur Kunstform wurde und daß weiterhin seine ästhetische Problematik von seiner Funktion als Bildungsorgan nicht zu trennen ist. Wenn man die zum Topos verfestigte Polemik gegen den Roman oder das Romanhafte in den Romanen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Lichte dieser neuen Erkenntnisse der Romanforsdiung sieht, dann erweist sie sich weniger als Moment einer Krise denn als Bestandteil einer positiven Selbstdarstellung, die allerdings mit der raschen Veränderung der Gattung ständig neu formuliert werden mußte. Ausgangspunkt für die 24
Zum Problem des Pragmatischen im Roman s. die grundlegenden Ausführungen bei Jäger (L 165), S. 114ÍÍ., und Werner Hahl, Reflexion und Erzählung (L 147), S. 48ff. Vor Jäger und Hahl hatte schon Sdierpe (L 225) das Problem grundsätzlich behandelt (S. ii4ff.). Vgl. a. Voßkamp (L 2 5 1 ) , S. i86ff. 25 Zur Zwischenstellung des Romans zwischen Dichtkunst und Geschichte s. besonders Jäger (L 165), S. iojff., und Hahl (L 147). S. 44fr. 26 Eberhard Lämmert, in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1 6 2 0 - 1 8 8 0 (L 187), S. X I X . 2 ' Ebd. 28 Lämmert, Romantheorie (L 187), S. X X .
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ästhetische Emanzipation des Romans war die wirklichkeitsgetreue und zugleidi >phiIosophisdie< Darstellung des bürgerlichen Lebens in der sich als Zweckform verstehenden Fiktion. Das sdieinbar Krisenhafte der permanenten Opposition von Romantheorie und -praxis gegen die gesamte vorangegangene Tradition ist in Wahrheit eher Indiz für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Form im Hinblick auf einen schließlich doch in gewissen Regeln zu fassenden Gattungscharakter, der freilich die kunstlosen Anfänge und ihr Weiterleben in den Trivialformen überwinden mußte: sie sind der eigentliche Zielpunkt der Kritik. Dabei ergab sich die Schwierigkeit, daß die Gattungstheorie seit der Renaissance - nicht erst seit Blanckenburg - die neue Form aus dem Epos herzuleiten versuchte,29 zugleich aber gegen die vulgarisierte stoffliche Anknüpfung an das Epische (in der Form des von seinem weltanschaulichen Hintergrund und seiner eigentlichen funktionalen Bedeutung abgelösten Wunderbaren und Phantastischen) angehen mußte. Die Überwindung des >Romanhaften< in diesem Sinne konnte naturgemäß erst gelingen, nachdem die geschichtlichen Veränderungen, die das im Epos gestaltete Weltbild historisch überholt hatten, ins Bewußtsein gedrungen waren und damit dem Roman einen eigenen Stoffbereich erschlossen hatten. So ist es nur folgerichtig, daß der höfisch-historische Roman des Barock, der die neue Wahrscheinlichkeitsforderung zwangsläufig nur bis zu einem gewissen Grade erfüllen konnte, als Typus unterging, nachdem er in dieser Beziehung die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht hatte: er war nicht so sehr' formal wie soziologisch überholt. Die Kontinuität, in deren Verlauf der Roman zur Kunstform aufstieg, setzte erst mit dem niederen Roman ein und ergab sich mit dessen Gegenstand: dem alltäglichen Leben. Hier lag seine Eignung als Medium der bürgerlichen Selbstdarstellung und der bürgerlichen Ideologie. Die Entwicklung des Romans zur repräsentativen literarischen Form fiel mit dem Aufstieg des Bürgertums zusammen, 30 wobei literarische Form hier zunächst noch als Zweckform zu verstehen ist. Der Übergang von der Zweckform zur Kunstform erscheint nur formal als Krise, er ist in Wahrheit der folgerichtige Abschluß eines langen Prozesses, der eine krisenhafte Veränderung der Gesellschaftsstruktur begleitete, ohne sie schon explizit zu reflektieren. Insofern ist das Modell der Romangeschichte als einer permanenten Abfolge von Krisen bedenklich, da es die historische Relativität der Gattung verschleiert. Sehr viel präziser ist Eberhard Lämmerts Deu28
Nähere Ausführungen hierzu s. bei Kurt Wölfel. Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (L 263), S. 4 1 ; Greiner (L 14$), S. 34ff.; Gerd Matthecka, Die Romantheorie Wielands und seiner Vorläufer (L 201), S. 2/f.; Georges May, L'histoire a-t-elle engendré le roman. (L 202). »0 Vgl. hierzu Jan Watt, The Rise of the Novel (L 254), S. }6ff. 81
tung, die »den Aufstieg und die Krisis des Romans als eines bedeutenden literarischen Bildungsorgans« verfolgt 8 1 und die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende »Krisis als Kunstform« in Relation zu ihr setzt. In dieser Bedeutung hat der Terminus >Krise< einen objektiven Sinn, während der ungenau übertragene Gebrauch eher verwirrend ist. Die Romanentwicklung ist in den einzelnen Ländern diskontinuierlich verlaufen, jedoch in der Weise, daß die Anerkennung als Kunstform und der Aufstieg zur repräsentativen Form der Literatur überhaupt jeweils mit der Durchsetzung des Bürgertums als kulturtragender Schicht verbunden war. In Deutschland erfolgte der Übergang von der Zweckform zur Kunstform später als in England und Frankreich, jedoch angesichts der als Folge der politischen Ohnmacht des Bürgertums sich ausbildenden ästhetischen K u l t u r 3 2 um so nachdrücklicher, wie es vor allem der romantische Universal-Roman und seine Theorie zeigt. Die auch in Deutschland seit etwa 1770 zu beobachtende Annäherung der Autobiographie an den Roman erfolgte zu einem Zeitpunkt, als dieser sidi in Gestalt der »wahren Geschichte< als Zweckform durdigesetzt, die Elemente des Abenteuerlichen und Phantastischen also grundsätzlich hinter sich gelassen hatte. Der Berührungspunkt war damit gegeben, daß die »wahre Geschichte< sich vielfach - wenn nicht gar überwiegend - in der Form der Lebensbeschreibung (häufig sogar der eigenen Lebensbeschreibung) darstellte. Das Individuum und seine Geschichte bildeten immer mehr das Zentrum und das Paradigma der Wirklichkeitserfahrung und -gestaltung im Roman, 33 der sich als »Geschichte von Privatbegebenheiten< entwickelte. 34 Dieses Programm geht in einer in ihren literaturgeschichtlichen Implikationen noch nicht im einzelnen geklärten, im Grundsätzlichen aber M Lämmert (L 1 8 7 ) , S. X I X . 3 2 S. H a n s Weil, D i e Entstehung des deutschen Bildungsprinzips (L J 0 4 ) , S. 2 5 6 Í Í . 3 3 Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Erich v. Kahlers Essay: Die Verinnerung des Erzählens (L 1 7 1 ) . V g l . außerdem Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im R o m a n (L 192). Lugowskis problemgesdiiditlidiem A n s a t z ist es durch die Geistesimmanenz der Fragestellung verwehrt, zu erkennen, daß der Roman nicht eine der Kunstformen ist, in denen man das Problem der Individualität analysieren kann, sondern daß zwischen Romanform und Individualitätsbewußtsein ein geschichtlicher Zusammenhang besteht, dessen Genese nur außerästhetisch begründet werden kann und der zugleich den Stellenwert des Romans im Bereich der literarischen Formen festlegt. Es ist ja nicht nur so, daß »der Einzelmensdi (sidi) als Träger der Identität in der Geschichte des deutschen Prosaromans (verändert)« (S. 1 8 ) , sondern zugleich verändert sich audi die repräsentative Bedeutung des Romans als eines literarischen Mediums. 3 4 S. hierzu sowie zurProblematisierung dieses Romankonzepts V o ß k a m p ( L 2 5 1 ) , S. 1 7 8 f r . 82
überschaubaren Weise auf die Privatisierung der bürgerlichen Produktionsund Verteilungsordnung zurück, die auf einer Vereinzelung des Mensdien in einer >freienöffentlichen< Begebenheiten in der Wirklichkeitsgestaltung in Wahrheit ideologischen Charakter hatte und diesen gerade aus der Ausrichtung auf das >Private< gewann. 3 * Individualismus und Subjektivismus waren die Persönlichkeitsideale einer auf freier Konkurrenz beruhenden Wirtschaftsordnung, die sich seit etwa 1770 endgültig durchzusetzen begann.40 Es wäre indes verfehlt, aus der strukturellen Homologie zwischen der sozialgeschichtlichen Konzeption der Individualität und der Gattungsgesetzlichkeit der Autobiographie folgern zu wollen, daß die Autobiographie als objektiv zeitgemäße Form sich audi historisch gleichsam selbstverständlich durchgesetzt hätte. Tatsächlich war ja das Prinzip der Privatisierung des ökonomischen Bereichs gesamtgesellschaftlich erst durchzusetzen; entsprechend mußte die Konzeption des Individuums erst mit 35
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Näheres bei Weil ( L 504), S . 2 3 6 ff. Z u m Zusammenhang des Individualitätsbegriffes mit den ökonomischen Bedürfnissen des freien Unternehmertums vgl. a. M a x Horkheimer, Autorität und Familie. I n : MH,· Traditionelle und kritische Theorie. F r a n k f u r t a. M . 1 9 7 0 , S. 1 6 2 - 2 3 0 , hier: S. i 8 8 f f . Reinhart Koselleck, Kritik und Krise ( L 4 9 5 ) , S. 4 1 .
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Koselleck (L 4 9 5 ) , S. 4 1 f r .
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Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (L 4 9 3 ) .
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S. dazu auch E r w i n Pracht, Probleme der Entstehung des Romans ( L 2 1 5 ) . E r beachtet allerdings zu wenig den historisch gesehen fortschrittlichen Charakter der bürgerlichen Ideologie. Eine entsprechende Bemerkung (S. 2 9 2 ) geht in der durchgängigen Polemik unter. Völlig undiskutabel ist dagegen W o l f g a n g K a y sers naiv-ideologisdie Beschreibung des Sachverhalts: »Denn diese Zeit [das 1 8 . Jahrhundert, K D M ] , die das Vermögen des Romans zur Darstellung individuellen Lebens voll entdeckt, entdeckt gleichzeitig die individuelle L e bensform als gottgewollte Ordnung des Seins.« ( W K , W e r erzählt den R o m a n ? L 1 7 4 ) , S . 202).
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Eine A n a l y s e dieser Zusammenhänge gibt L e o Balet (Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 1 8 . Jahrhundert ( L 4 8 2 ) ) . V g l . a. H a f e r k o r n ( L 4 9 1 ) , besonders S. i j 6 f f . , sowie Sauder ( L 2 2 3 ) , besonders S. j o f f .
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einem konkreten Inhalt erfüllt werden, so daß sie - wie noch zu zeigen ist — zunächst nur auf negative Weise erfahrbar war. Die Behauptung einer standesübergreifenden Bedeutsamkeit des einzelmenschlichen Daseins konnte das Leiden an den Privilegien der Aristokratie bzw. an der tatsächlichen Bedeutungslosigkeit des bürgerlichen Daseins kaum aufheben. Nicht umsonst waren die überlieferten Zweckformen der religiösen und der Gelehrten-Autobiographie in extremer Weise weltlos. Infolgedessen war die Fiktion wegen der ihr gegebenen Möglichkeit der Antizipation ungleich geeigneter, die aktuelle Problematik aufzugreifen, wenngleich selbst hier die negative Erfahrung des bürgerlichen Anspruchs auf individuelle Selbstverwirklichung dominierte, wie es etwa der >WertherHermann und Ulrike< oder der >Wilhelm Meisten belegen, die sich gegenüber dem Versuch einer positiven Selbstdarstellung, wie etwa in J. J. Engels >Herr Lorenz Starkniederen< Roman hervorgegangenen modernen, d. h. des realistischen (seiner Intention nach) und bürgerlichen (seiner Ideologie und seinem Publikum nach) Romans, so zeigt sich die bemerkenswerte, wenngleich in dieser Weise - soweit idi sehe noch unbeachtete Tatsache, daß drei der wichtigsten Erzähltraditionen sich der Ich-Erzählung bedienten. Das gilt zunächst für den spanischen Pikaro-Roman, auf dessen Beziehung zur Autobiographie schon Georg Misch hingewiesen hat 1 und dessen autobiographische Form auch von der literaturwissenschaftlichen Forschung intensiv diskutiert wurde. 2 Der französische Roman des 18. Jahrhunderts, der sich ebenfalls in zunehmendem Maße der Idi-Erzählung zuwandte,® griff auf Erzähl- und Darstellungspraktiken der Memoiren-Literatur zurück, die sich im 17. Jahrhundert in Frankreich und England zu einem eigenständigen Genre entwickelt hatte 4 und in romanhaften Pseudomemoiren, vor allem in der Modeform der >histoires secrètes