Bekennen - Erzählen - Berichten: Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie 9783110912036, 9783484180987


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German Pages 297 [300] Year 1988

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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
1. EINLEITENDER TEIL
2. GATTUNGSTHEORETISCHER TEIL
3. Autobiographie als Akt der Kommunikation — Versuch einer Gattungsbestimmung unter literaturpragmatischem Aspekt
4. Typen der Autobiographie — Ansätze zu einer Gattungsdifferenzierung
5. Die bekennende Autobiographie im 18. Jahrhundert
6. Die erzählende Autobiographie im 19. Jahrhundert
7. Die berichtende Autobiographie im 19. Jahrhundert
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Bekennen - Erzählen - Berichten: Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie
 9783110912036, 9783484180987

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 98

Jürgen Lehmann

Bekennen - Erzählen Berichten Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Historisch-Philologische Wissenschaften der Universität Göttingen gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Lehmann,

Jürgen:

Bekennen, erzählen, berichten : Studien zu Theorie u. Geschichte d. Autobiographie / Jürgen Lehmann. — Tübingen : Niemeyer, 1988 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 98) N E : GT ISBN 3-484-18098-6

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Computer Staiger G m b H , Ammerbuch-Pfäffingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten/Allgäu Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

EINLEITENDER T E I L

1.1. 1.2.

Vorbemerkung: Zum Stand der Forschung Exposition der Hypothese an >G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst.« Leipzig 1893, S. X I - X V I

GATTUNGSTHEORETISCHER

2.1.

1 7

TEIL

Sprechen und Schreiben als Handlung

13

2.1.1. Sprachphilosophische und linguistische Verfahren zur Beschreibung und Analyse von sprachlichen Handlungen 2.1.2. Text- und literaturtheoretische Ansätze zur Bestimmung von Handlungsindikatoren in schriftlichen Texten . . . .

20

3. Autobiographie als Akt der Kommunikation — Versuch einer Gattungsbestimmung unter literaturpragmatischem Aspekt . . .

35

4. Typen der Autobiographie — Ansätze zu einer Gattungsdifferenzierung

54

4.1. 4.2. 4.3.

Methodische Reflexion Bekennen — Erzählen — Berichten. Zur sprachpragmatischen Bestimmung von drei Sprechhandlungen . . . Drei Typen autobiographischen Schreibens in sprechakttheoretischer Perspektive

4.3.1. Der Typus >Bekennende Autobiographie«: Nikolaj V. Gogols >Avtorskaja ispoved'< (Autorenbeichte) 4.3.2. Der Typus >Erzählende Autobiographie«: Maksim Gor'kijs >Detstvo< (Kindheit) 4.3.3. Der Typus >Berichtende Autobiographie«: Sergej A. Esenins >Avtobiografija< (Autobiographie) . . . 4.4.

Typologie und Gattungsgeschichte

13

54 57 62

62 71 81 87 V

GATTUNGSGESCHICHTLICHER

TEIL

Die Geschichte der deutschen Autobiographie vom frühen 18. bis zum späten 19. Jahrhundert

89

5. Die bekennende Autobiographie im 18. Jahrhundert

89

5.1. 5.2.

5.3.

Selbstentblößung als Dialogbereitschaft. Die >Leibes- und Gemütsplagen< des Adam Bernd . . . . Rede und Gegenrede. Die bekennende Autobiographie als Organon und Dokument polemischer Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert Selbstdarstellung statt Selbstbehauptung. Der Dominanzwechsel von der bekennenden zur erzählenden Autobiographie im späten 18. Jahrhundert .

6. Die erzählende Autobiographie im 19. Jahrhundert 6.1.

6.2.

6.3.

6.4.

6.5.

Erzählen als Interpretation und Synthese. Die ideale Schreibsituation als Voraussetzung für das Schreiben einer >grundwahren< Lebensgeschichte: Goethes >Dichtung und Wahrheit< >Dichtung und Wahrheit< oder >Wahrheit statt Dichtung«. Die Rezeption von Goethes Autobiographie im frühen 19. Jahrhundert Das Spiel mit der Erzählerfigur. Die Problematisierung autobiographischen Erzählens in Jean Pauls >Selberlebensbeschreibung< Geschichten statt Geschichte. Die erzählende Autobiographie zwischen 1820 und 1840 Zerfallserscheinungen des erzählenden Typus um die Mitte des 19. Jahrhunderts

6.5.1. Das Schwanken zwischen szenischem Erzählen und berichtender Historiographie: Karl Immermanns >Memorabilien< 6.5.2. Die Apotheose der Kindheit und der Bruch zwischen Schreibsituation und Vergangenheit: Bogumil Goltz' »Buch der Kindheit« 7. Die berichtende Autobiographie im 19. Jahrhundert 7.1.

VI

Der Dominanzwechsel von der erzählenden zur berichtenden Autobiographie ab 1840

89

110

119 138

138

161

166

184 200

200

215 227 227

7.2.

D i e Neutralität des Autobiographen. O b j e k t i v i e r u n g s t e n d e n z e n in d e r b e r i c h t e n d e n Autobiographie u m 1860:

7.3.

>G. G . G e r v i n u s L e b e n . V o n i h m selbst
Autobiographie< unentbehrlich, da diese determinierenden Faktoren lange Zeit von der Forschungsliteratur zum Bereich Autobiographie nicht hinreichend beachtet worden sind. Autobiographien galten bis vor kurzem als Abbildung eines Lebens oder Lebensabschnittes und damit als geistesgeschichtliche und kulturhistorische Dokumente. So versteht Georg Misch die in seiner voluminösen b e schichte der Autobiographie< behandelten Selbstdarstellungen vor allem als »Zeugnisse des Persönlichkeitsbewußtseins der abendländischen Menschheit«; 1 nach Werner Mahrholz hat die »Selbstbiographie, grundsätzlich, die Absicht, den Lebensstoff des Schreibers ohne Umsetzung in Gebilde der Phantasie als reine Wirklichkeit . . . zur Mitteilung zu bringen«; 2 für Bernd ' M i s c h , G e o r g : Geschichte der Autobiographie. Bd. I—IV. Frankfurt a. M. 1 9 4 9 - 1 9 6 9 , Bd. I, S . 2 f f . 2 Mahrholz, Werner: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus. Berlin 1919, S. 11. Die damit verbundene Wertung autobiographischer Texte als kulturhistorische Zeugnisse ist vor allem auch in den Arbeiten von Beyer-Fröhlich, Klaiber und Ulrich erkennbar: Beyer-Fröhlich, Marianne: Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse. Leipzig 1930. Klaiber, Theodor: Die deutsche Selbstbiographie. Stuttgart 1921. Ulrich, Hermann: Die Entwicklung der deutschen Selbstbiographie. In: Westphal, M. (Hrsg.): Die besten deutschen Memoiren. Lebenserinnerungen und Selbstbiographien aus 7 Jahrhunderten. Leipzig 1923. Rep. Nachdruck München — Berlin 1971, S. 7 - 7 5 .

1

N e u m a n n sind autobiographische T e x t e »nach Brief und Tagebuch die direkteste U m s e t z u n g von Leben in Literatur«, 3 D o k u m e n t e einer » G e schichte der menschlichen Individuation«, 4 die unter sozialgeschichtlichen und sozialpsychologischen Fragestellungen 5 zu untersuchen ist; und Peter Sloterdijk begreift Autobiographien als besondere, herausragende F o r m e n der »Organisation von lebensgeschichtlicher E r f a h r u n g « , 6 die es ermöglichen, aus ihnen die »Spuren der lebendigen Vorgänge abzulesen, in denen sich das Bewußtsein seiner Erlebnisse bemächtigt«. 7 Erst die nach dem zweiten Weltkrieg vor allem in Frankreich ( G . Gusdorf, 8

Ph. Lejeune 9 ) und im angelsächsischen Sprachraum

W . Shumaker ) 11

verstärkt

einsetzende

Beschäftigung

mit

(R.Pascal,10 der

Gattung

>Autobiographie< hat unter anderen gattungstheoretischen Fragestellungen auch den Aspekt der sprachlichen Vermitteltheit der durch die A u t o b i o graphie vorgestellten Wirklichkeit stärker berücksichtigt. Zunehmende B e achtung findet dieser Gesichtspunkt in jüngster Zeit auch in deutschsprachigen Arbeiten — z. B . bei I. Aichinger, K. D . Müller, G . Niggl, die sich z. T. sehr eingehend um die Erarbeitung der für die Autobiographie spezifischen Erzählstrukturen bemühen.

Neumann, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt a. M. 1970, S. 1. 4 Neumann: Identität . . . S. 6. 5 Diese Aspekte bestimmen auch die Untersuchungen von Petra Frerichs, die sich auf Arbeiten zur Persönlichkeitstheorie von Lucien Sève stützt, und Marianne Vogt: Frerichs, Petra: Bürgerliche Autobiographie und proletarische Selbstdarstellung. Eine vergleichende Darstellung unter besonderer Berücksichtigung persönlichkeitstheoretischer und literaturwissenschaftlich-didaktischer Fragestellungen. Frankfurt a. M. 1980. Vogt, Marianne: Autobiographik bürgerlicher Frauen. Zur Geschichte weiblicher Selbstbewußtwerdung. Würzburg 1981. ' Sloterdijk, Peter: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München 1978, S. 8. 7 Sloterdijk: Literatur . . . S. 8. Anders als Neumann oder Frerichs hat allerdings Sloterdijk auf den Handlungscharakter autobiographischer Texte verwiesen, ohne freilich diesen Aspekt bei seinen Textuntersuchungen ausreichend zu berücksichtigen. 8 Gusdorf, Georges: La découverte de soi. Paris 1948. Gusdorf: Mémoire et personne. Paris 1951. 9 Lejeune, Philippe: L'autobiographie en France. Paris 1971. Lejeune: Le pacte autobiographique. In: Poétique 4, 1973, S. 137—162. Lejeune: Exercises d'ambiguité. Lectures de »Si le grain ne meurt«. Paris 1974. 10 Pascal, Roy: Design and Truth in Autobiography. London 1960. (dt. Die Autobiographie. Stuttgart 1965). Pascal: Autobiography as an Art Form. In: Böckmann, Paul (Hrsg.): Stil- und Formprobleme in der Literatur. Heidelberg 1959, S. 1 1 4 - 1 1 9 . " Shumaker, Wayne: English Autobiography. Its Emergence, Materials, and Form. Berkeley 1954. 3

2

Dabei hat Ingrid Aichinger 1 2 als erste das Fehlen solcher erzähltheoretischen Fragestellungen in der deutschsprachigen Forschungsliteratur zur Autobiographie angesprochen und auf entsprechende Ansätze im französischen (Gusdorf) und angelsächsischen Bereich (Shumaker) verwiesen. Diese Bestandsaufnahme der bisherigen Forschungsansätze ist mit dem Versuch verbunden, die Autobiographie als eigenständige Gattung gegenüber autobiographischem Roman, Tagebuch, Brief etc. abzugrenzen. Ihrem eigentlichen Thema — Autobiographie als Sprachkunstwerk — wird Aichinger allerdings kaum gerecht, da sie bei diesem Versuch mehr mit hermeneutischen und bewußtseinsphilosophischen als erzähltheoretischen Kategorien arbeitet (z. B. in den Ausführungen über die »Vorgangsweise des Autors« 1 3 ). Günter Niggl, der mit seiner Arbeit eine »Gattungsgeschichte als Formengeschichte« vorzustellen verspricht, 1 4 entzieht sich einer generellen Gattungsbestimmung, indem er vor allem auf die Vielfalt von Typen der Autobiographie im 18. Jahrhundert aufmerksam macht. Dabei wird jedoch nicht deutlich genug, auf Grund welcher methodologischen Vorüberlegungen so verschiedene Typen wie religiöse Bekehrungsgeschichte, psychologische Autobiographie, praktische Lebensgeschichte oder abenteuerliche Lebensgeschichte gebildet werden und durch welche Merkmale sie sich im einzelnen voneinander unterscheiden. 1 5 Dieses Defizit im Bereich der Methodologie und Gattungstheorie hat Folgen für die gattungsgeschichtlich orientierte Ausarbeitung. In Niggls sehr kenntnisreicher Darstellung der Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert ist die Entwicklung der einzelnen Typen und ihr Verhältnis zueinander nicht immer deutlich und übersichtlich genug wiedergegeben, zentrale Phasen der Gattungsgeschichte wie z. B. die Annäherung an den Roman hätten deutlicher konturiert werden können. Besser gelingt dies Klaus-Detlef Müller, 1 6 der in seiner Studie zur Autobiographie der Goethezeit davon ausgeht, daß die Autobiographie innerhalb dieses begrenzten Zeitraumes eine Entwicklung von der Zweckform zur literarischen F o r m durchläuft, als deren Höhepunkt Goethes >Dichtung und Wahrheit< erscheint. Müller analysiert ein relativ kleines Textcorpus, kommt jedoch auf systematischer und historischer Ebene zu vorzüglichen Beobachtungen in Bezug auf Bestand und Entwicklung autobiographischer 12

13 14

15 16

Aichinger, Ingrid: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Österreich in Geschichte und Literatur 14, S. 1970, S. 4 1 8 - 4 3 4 . Aichinger: Probleme . . . S. 424/425. Niggl, Günter: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung. Stuttgart 1977, S. X I V . N i g g l : Geschichte . . . S. 9 4 f f . Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976.

3

Erzählweisen; das betrifft besonders das Verhältnis zwischen Autobiographie und Roman und die sich aus der Annäherung beider Gattungen ergebende Erweiterung autobiographischer Darstellungsmöglichkeiten. Die für die Gattung als Zweckform so wichtige Kommunikationsstruktur autobiographischer Texte wird von Müller jedoch nicht näher behandelt, was insofern etwas verwundert, als er selbst davon ausgeht, daß die Autobiographie als Werk der Erzählkunst eher einen Sonderfall darstellt. 17 Gerade dies soll in der vorliegenden Arbeit geschehen, die die historisch orientierte Autobiographie-Forschung mit der Erprobung eines neuen theoretischen Ansatzes miteinander verbindet. Dieser berücksichtigt die sprachliche Vermitteltheit der durch die Autobiographie vorgestellten individuellen und kollektiven Erfahrungen, ist aber im Gegensatz zu den Beiträgen von Pascal, Lejeune, Aichinger, Niggl und Müller von Gesichtspunkten der literaturwissenschaftlichen Pragmatik geleitet, ohne dabei jedoch die Ergebnisse traditioneller Erzählforschung 18 zu vernachlässigen. Begründet ist dieser theoretische Ansatz durch die mit autobiographischem Textmaterial ausgiebig belegbare These, daß die Autobiographie — vor allem in ihrer bekennenden Form — nicht nur eine schriftliche Fixierung von Erfahrungen, sondern in hohem Maße auch ein Dokument sprachlichen Handelns ist, das zeigt, wie ein Autor mit diesen Erfahrungen kommunizierend umgeht und auf welche Weise er sich durch ihre sprachliche Präsentation in ein Verhältnis zu einem literarischen oder sozialen Umfeld setzt. Autobiographisches Schreiben wird in dieser Arbeit auch als bestimmte Form sozialen Handelns verstanden und nicht allein unter psychologischen, bewußtseinsphilosophischen oder geistesgeschichtlichen Aspekten gesehen. Daraus ergibt sich die Einteilung der Untersuchung in einen gattungs- und erzähltheoretisch orientierten und in einen gattungsgeschichtlich ausgerichteten Teil. Der theoretische Teil fragt zunächst nach Möglichkeiten, den spezifischen Handlungscharakter von autobiographischen Texten festzustellen.

17

18

4

Müller: Autobiographie . . . S. 28. Da einige der jüngsten Schriften, z. B. diejenigen von Aichinger, Müller und Frerichs die Forschungsentwicklung zur Gattung >Autobiographie< z. T. sehr ausführlich darstellen und erörtern, kann hier auf einen generellen Forschungsbericht verzichtet werden. Vielmehr sollen die einzelnen Forschungsbeiträge im folgenden stets genau dann berücksichtigt werden, wenn sie für die Behandlung spezifischer Themen und Fragestellungen relevant sind. Z. B. Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 3 1968. Stanzet, Franz: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979.

Sein erstes Kapitel befaßt sich mit den dafür relevanten Forschungsergebnissen der linguistischen Pragmatik. Deren Ansätze reichen jedoch nicht aus, um den Handlungscharakter von umfangreicheren Texten zu bestimmen. Trotz intensiver Bemühungen in den Bereichen Sprachwissenschaft (Dieter Wunderlich, Hugo Steger u. a.), Texttheorie (Teun van Dijk u. a.) und Literaturwissenschaft (Karl-Heinz Stierle u. a.) fehlt es bisher an arbeitsfähigen Methoden, Textzusammenhänge unter pragmatischen Gesichtspunkten zu analysieren. Viele der theoretisch oft sehr anspruchsvollen Beiträge zur Literaturpragmatik gelangen zu nur recht vagen Ergebnissen, da sie bei ihren Versuchen, den Handlungscharakter von Texten zu bestimmen, zu wenig zwischen einzelnen Textsorten unterscheiden und, wie z. B. van Dijk, ein empirisch unergiebiges Begriffsinstrumentarium verwenden. Zudem wird häufig übersehen, daß in Bezug auf schriftlich fixierte Texte nur bedingt von Äußerungen im Sinn des sprechakttheoretischen Begriffs >utterance< gesprochen werden kann. Schließlich vollzieht sich hier sprachliches Handeln nicht im Rahmen einer Sprech- bzw. Schreibsituation, innerhalb derer Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser unmittelbar anwesend sind. U m die Besonderheiten sprachlichen Handelns mittels autobiographischer Texte bestimmen zu können, geht das zweite Kapitel des theoretischen Teils bewußt von einer themenspezifisch eingeschränkten Fragestellung aus: es fragt nämlich nur nach den jeweiligen sprachlichen Indikatoren, die gerade Autobiographien als Dokument und Organon sprachlichen Handelns ausweisen. Gerade dies erfordert ein Eingehen auf Ergebnisse der Erzählforschung, soweit diese sich mit kommunikativen Strukturen in Erzähltexten befaßt hat. Hilfreich sind u. a. die Untersuchungen des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin zur »Dialogizität« von Prosatexten, die von der Frage geleitet sind, inwieweit die Konstitution solcher Texte durch ein Reagieren auf andere Texte oder ein Antizipieren von schriftlichen Äußerungen der Kommunikationspartner bedingt ist. Bachtins vor allem an fiktionaler Literatur gewonnene Forschungsergebnisse sind partiell auch auf autobiographische Texte anwendbar, das gilt insbesondere für die Untersuchung von bekennenden Autobiographien. Neben Arbeiten Bachtins sind in diesem Kapitel auch solche der Strukturalistenschule von Tartu sowie Untersuchungen polnischer und deutscher Erzähltheoretiker zum Thema >Kommunikationsstruktur narrativer Texte« eingearbeitet (Bartoszynski, Slawinski, Okopieri-Sfawinska, Gülich, Anderegg u.a.). Bereits diese einschränkende Betrachtung der Gattung >Autobiographie< ergibt die Notwendigkeit einer sprachpragmatischen Differenzierung; Kapitel 3 des theoretischen Teils versucht deshalb eine Typologisierung wichtiger autobiographischer Redehandlungen. Da die pragmatisch orientierte Untersuchung des Textcorpus (ca. 300 Texte) ergeben hat, daß die schrift5

liehe Darstellung persönlicher Vergangenheit vornehmlich an den Sprechhandlungsformen des Bekennens, des Erzählens oder des Berichtens orientiert ist, stellt dieses Kapitel drei Typen von Autobiographien vor. Mit Hilfe dieser Typologie ist es möglich, die Fülle autobiographischer Texte einem ordnenden Prinzip zu unterwerfen, ohne dabei die innere Differenziertheit der Einzeltexte zu übersehen. Jeder der drei Typen, die als gedankliche Konstruktionen im Sinne von Max Webers Idealtypen zu verstehen sind, wird im Rahmen einer exemplarischen Analyse russischer Autobiographien vorgestellt werden, die die genannten Typen besonders gut repräsentieren. Dieser komparatistische Ausgriff soll verdeutlichen, daß diese Typologie eine generell anwendbare Differenzierungsmöglichkeit ist, die nicht nur für einen spezifischen historischen Zeitraum innerhalb einer bestimmten Nationalliteratur Geltung besitzt. Vor diesem literatur- und gattungstheoretischen Hintergrund wird im dritten, dem gattungsgeschichtlich orientierten Teil der Arbeit anhand von Einzelinterpretationen ein Abschnitt der historischen Entwicklung der deutschen Autobiographie untersucht, der durch eine besonders intensive Wechselwirkung und, verglichen mit der Gattungsentwicklung seit Augustinus, eine auffällig rasche Abfolge der genannten Typen gekennzeichnet ist. Dabei wird sich zeigen, daß die von mir erarbeitete Typologie geeignet ist, bestimmte Abschnitte der Gattungsgeschichte klarer zu strukturieren. Der historisch ausgerichtete Teil meiner Untersuchung behandelt den Zeitraum zwischen 1730 und 1870, innerhalb dessen es im Spektrum von bekennender, erzählender und berichtender Autobiographie zu interessanten Akzentverschiebungen kommt. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die (oft mit der Übernahme fiktionaler Darstellungstechniken verbundene) Entfaltung der erzählenden Autobiographie, in deren Entwicklung nach 1800 natürlich Goethes >Dichtung und Wahrheit< eine zentrale Rolle spielt. Die intensive Orientierung an diesem Text führt zu einem sehr differenzierten Bestand an deutschen Autobiographien im 19. Jahrhundert, wobei diese Differenziertheit nicht allein im gleichzeitigen Vorkommen der genannten Typen zu sehen ist. Vielmehr resümieren die Einzelwerke sehr oft die Gattungsentwicklung seit 1770 in der Weise, daß sie alle drei Sprechhandlungen für die Darstellung einer Lebensgeschichte fruchtbar machen. Um diese bislang weitgehend verkannte Vielfalt der deutschen Autobiographik des 19. Jahrhunderts gebührend herauszustellen, wird vor allem der die Zeit von 1815—1870 umgreifende Abschnitt der Gattungsgeschichte im historisch orientierten Teil meiner Arbeit besondere Berücksichtigung finden. Zugleich soll damit eine Lücke im Bereich der Forschungsliteratur zur Gattungsgeschichte der Autobiographie geschlossen werden, da die genannten Arbeiten von Niggl, Frerichs, Sloterdijk und Müller diesen Zeitraum gar 6

nicht, o d e r wie N e u m a n n u n d eine weitere A r b e i t v o n A i c h i n g e r 1 9 n u r s p o radisch behandeln.20 Dieser Teil der U n t e r s u c h u n g wird außerdem

Hin-

w e i s e e n t h a l t e n , w i e die l i t e r a r h i s t o r i s c h e A b f o l g e d e r g e n a n n t e n T y p e n m i t Hilfe einiger E r k l ä r u n g s a n s ä t z e

— etwa der formalistischen

Evolutions-

theorie — zu begründen wäre.

1.2. Exposition der Hypothese an >G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst. < Seiner i m J a h r e 1 8 6 0 verfaßten A u t o b i o g r a p h i e hat G e o r g G o t t f r i e d G e r vinus eine nicht n u r hinsichtlich der eigenen L e b e n s b e s c h r e i b u n g

bedeut-

s a m e V o r r e d e v o r a n g e s t e l l t , in d e r es u. a. h e i ß t : D i e Aufgabe jeder Biographie ist, den Menschen in seinem Verhältnisse zu der Zeitgeschichte darzustellen, in dem Einklang und Misklang, in dem er sich zu ihr fühlt, in den hemmenden und fördernden M o m e n t e n , die sie zu seiner E n t w i c k lung steuerte. In der Betrachtung dieses Verhältnisses behält die Eigenliebe nur wenigen R a u m : das Einzelwesen schrumpft gar so sehr zusammen, wenn es an Zeit und Volk und Menschheit Alles abgegeben hat, was ihnen gehörte. Ein A u t o biograph könnte aus Eitelkeit versucht sein, von dem großen Weltleben der Zeitgeschichte mehr, als gerechtfertigt ist, zu seinem Einzelleben heranzuziehen, um ihm dadurch einen tieferen Hintergrund zu geben; da ich die Geschichte des 19. Jahrhunderts in abgetrennter Behandlung zu bearbeiten beschäftigt bin, so fällt auch diese Gefahr für mich weg. Meine Erzählung braucht auf keine Episoden abzuschweifen, als auf die Schilderung einzelner Persönlichkeiten, die einen vorwiegenden Einfluß auf meine Bildung und Schicksale gehabt haben, und auf einzelne Gegenstände, die für die M u ß e meines häuslichen Lebens von besonderer Bedeutung waren. U n d wenn nun dies die Betrachtung wieder ausschließlicher auf meine Person zurückschränkte, so hoffe ich doch den T o n der Bescheidenheit schon durch den bloßen Ernst und den graden historischen Zweck der Erzählung nicht zu verfehlen. Ich weiß an mir nichts so Schönes, das mich zum Selbstbeäugeln verlocken möchte, und nichts so Häßliches, das mich zu der Eitelkeit der Confessionenschreiber verführen könnte, mit der Wahrhaftigkeit einer Beichte zu prunken. Meine Lebensbeschreibung wird keine Bekenntnißschrift und kein R o m a n , und nicht Dichtung und Wahrheit sein, sondern plane, einfache Geschichte. 2 1

" Aichinger, Ingrid: Künstlerische Selbstdarstellung. Goethes >Dichtung und Wahrheit« und die Autobiographie der Folgezeit. Bern / Frankfurt a. M . / Las Vegas 1977. 20

Die das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts einbeziehende Habilitationsschrift von Volker H o f f m a n n »Studien zur Autobiographie 1 8 9 0 - 1 9 2 3 « (Phil. Habil. Schrift München 1979) ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht im D r u c k erschienen.

21

G . G . Gervinus Leben. Von ihm selbst. Leipzig 1893, S . X I V / X V . 7

In Bezug auf die durch sie angekündigte Autobiographie bezeichnen diese Formulierungen sehr Verschiedenes: als Selbstcharakterisierung des Autobiographien sollen sie Bescheidenheit dokumentieren, als Bestimmung der Darstellungsprinzipien versprechen sie eine einfache, klare sprachliche Diktion, und hinsichtlich Gegenstand und Zweck kündigen sie eine enge Bindung dieser Autobiographie an die Historiographie an. Hier soll kein exemplarisches Leben dargestellt werden wie in Rousseaus >ConfessionsDichtung und Wahrheit< getan hat. Vielmehr bestimmt die Einbindung der Lebensgeschichte eines einzelnen Individuums in weltgeschichtliche Zusammenhänge diese Autobiographie, ohne daß damit diese Lebensgeschichte zum Paradigma solcher Zusammenhänge bzw. ihrer Veränderungen stilisiert werden soll. Bedeutsam sind die zitierten Aussagen nun freilich nicht nur deshalb, weil sie den Leser von Gervinus' Autobiographie auf das Wesentliche an deren Form, Inhalt und Zweck vorbereiten sollen. Vielmehr artikulieren sie in sehr anschaulicher Weise historische und systematische Aspekte der Gattung >Autobiographie< und erscheinen von daher besonders geeignet, Fragen und Probleme vorzustellen, die sich aus einer erzähltheoretisch und gattungsgeschichtlich orientierten Behandlung der deutschen Autobiographik im 18. und 19. Jahrhundert ergeben. Solche Fragen gelten zunächst dem Gegenstand dieser Autobiographie. Es muß erstaunen, daß Gervinus im Zusammenhang mit der negativen Bewertung der »Confessionenschreiber« bestrebt ist, das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte nicht durch ein besonderes Interesse an der eigenen Person zu begründen. Dem Autobiographen geht es nach diesen und auch nach anderen Ausführungen im Vorwort weniger um die Beschreibung von Zuständen und Eigenschaften des eigenen Ich als vielmehr um die Darstellung und Erklärung von dessen Entwicklung und Veränderungen in der Begegnung mit der äußeren Welt. Die wenigen Angaben zur inneren Welt und zum Privatleben geschehen nach Gervinus' Äußerungen nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Grund eines von der Öffentlichkeit ausgehenden Komplettierungszwanges. Als eine >an die Öffentlichkeit gezogene Person< — also auch hier die Betonung eines passiven Verhaltens — will er »lieber ganz als halb gekannt sein« (S. XV). Die zitierten Ausführungen zu Gegenstand und Aufgabe der Selbstdarstellung decken sich nicht — trotz aller Nähe zu Goethes berühmter Formulierung in >Dichtung und WahrheitDichtung u n d W a h r h e i t c » D e n n dieses scheint die

8

zeption, auch wenn das darzustellende Ich in beiden Autobiographien als sich historisch wandelndes Individuum vorgestellt wird. Geht es Goethe darum, den Menschen, das Individuum, in auf ihn hin gedeuteten Zeitverhältnissen darzustellen, so ist Gervinus* Bemühen von der Intention geprägt, die Zeitverhältnisse über die Geschichte des Individuums »plan« wiederzugeben, d. h. diese Verhältnisse ohne den Einsatz fiktiver Darstellungstechniken zu typisieren und zu objektivieren. Die zitierten Äußerungen markieren somit einen gravierenden Wandel, der sich in Bezug auf den Gegenstandsbereich autobiographischen Schreibens in der Zeit zwischen dem letzten Drittel des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. Die Reihung von Negationen — »Meine Lebensbeschreibung wird keine Bekenntnißschrift und kein Roman, und nicht Dichtung und Wahrheit sein, . . . « (S. XV) — verdeutlicht die Abfolge dominanter Erscheinungsformen autobiographischer Literatur innerhalb dieses Zeitraums, eine Abfolge, die freilich nicht allein an einer Veränderung des Gegenstandsbereiches autobiographischer Literatur erkennbar ist. Denn die konstatierte Reduzierung des Ich zugunsten der äußeren Welt betrifft ja offensichtlich nicht allein das dargestellte Ich, sondern markiert auch sehr deutlich eine Verminderung des Anspruchs, den das seine Autobiographie schreibende Ich gegenüber dieser äußeren Welt erhebt. Will der Autobiograph der von Gervinus formulierten »Aufgabe jeder Biographie . . . , den Menschen in seinem Verhältnisse zu der Zeitgeschichte darzustellen« (S. XIV) gerecht werden, muß er in Kauf nehmen, daß >die Forderungen von Zeit, Volk und Menschheit das Ich schrumpfen lassenConfessions< Rousseaus —, so erscheint sie in den hier zitierten Sätzen von Gervinus als besonders adäquates Darstellungsmedium historischer Abläufe und sozialer Strukturen. Hatte der besonders von Rousseau vertretene Typus autobiographischen Schrifttums gerade durch eine möglichst rücksichtslose Veröffentlichung vorher nicht sagbarer Sachverhalte aus der Privatsphäre die Öffentlichkeit zu positiver oder negativer Stellungnahme bezüglich der eigenen Person herauszufordern versucht, so unterstreicht Gervinus unter bewußter Reduzierung dieses Aspekts den medialen Charakter seiner Autobio-

Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wie fern ihm das G a n z e widerstrebt, in wie fern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. « Goethe's Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. W e i m a r 1 8 8 7 - 1 9 1 9 . l . A b t . Bd. 2 6 , S. 7.

9

graphie; Autobiographie nicht als Provokation, sondern als Informationsträger für eine historiographisch interessierte Öffentlichkeit. Neben dem Gegenstand ist es die Art der sprachlichen Handlung, die für die besondere Autobiographie-Konzeption von Gervinus verantwortlich ist. Wenn dieser ausdrücklich darauf verzichtet, »mit der Wahrhaftigkeit einer Beichte zu prunken« (S. XV), dann negiert er eine bestimmte Möglichkeit, mit Hilfe eines autobiographischen Textes der Öffentlichkeit handelnd gegenüberzutreten. Die in dieser Vorrede thematisierte Beziehung zur Öffentlichkeit kennzeichnet nicht nur die für die Gattung >Autobiographie< generell bedeutsame Dialektik von Verhüllen und Enthüllen, sondern den für diese Gattung ebenso bedeutsamen funktionalen Aspekt. Der Verzicht auf die >prunkende Beichte< zugunsten einer einfachen planen Geschichte< verweist auf verschiedene Möglichkeiten sprachlicher Präsentation ein und desselben Sachverhalts: der Autobiograph kann sein Leben bekennen, und er kann es in der Form einer Geschichti erzählen. Der Stoff der Lebensgeschichte wird so auf verschiedene Formen sprachlichen Handelns bezogen, welche, wie noch im Einzelfall zu zeigen sein wird, ihrerseits die sprachliche Konstitution und Präsentation der Lebensgeschichte sehr wesentlich prägen. So zeigen die in Gervinus' Vorrede zu seiner Autobiographie geäußerten Befürchtungen hinsichtlich einer falschen oder unverständigen Aufnahme seines Textes durch die Öffentlichkeit, daß er die Rezeption seiner Autobiographie antizipiert und reflektiert und daß diese Antizipation die Erzählstruktur beeinflussen wird (S. XV). 23 Der Zweck dieser sprachlichen Handlung ist für Gervinus ein >historischerBerichtenBekennenErzählensemantisch< charakterisiert,15 geht davon aus, daß nicht nur das Verstehen des zu übermittelnden Inhalts (des propositionalen Gehalts), sondern auch dasjenige der Illokution durch das Verstehen der Bedeutung des geäußerten Satzes garantiert ist. 16 Er begründet dies mit der als »Ausdrückbarkeitsprinzip« bekannt gewordenen Prämisse, nach der die »Regeln für den Vollzug von Sprechakten mit Regeln für die Äußerung bestimmter sprachlicher Elemente gleichzusetzen« sind.17 Diese Prämisse ist so sicher nicht haltbar und auch mit Recht in Frage gestellt worden.18 Gleichwohl — und allein das interessiert im Zusammenhang dieser Arbeit — gibt es sprachliche Mittel, durch welche der Sprecher den Handlungscharakter einer Äußerung, ja sogar die von ihm intendierte Art und Weise ihrer Verwendung verdeutlichen kann. Das sind zum einen Grammatik und Intonation, wobei besonders relevant in diesem Zusammenhang die grammatischen Modi Interrogativ und Imperativ sind.19 Zum anderen sind es die von Austin besonders untersuchten performativen Ausdrücke.20 Die Äußerung »Hiermit taufe ich das Schiff auf den Namen >HamburgTaufenErnennen< u. a. Nach Auffassung Austins ist die Verwendung explizit performativer Ausdrücke ein Mittel, situative Kontexte zu verbalisieren, 22 also die Handlungs- bzw. Kommunikationsintention des Sprechers weitgehend unabhängig von räumlichen und zeitlichen Faktoren sowie von zuwiderlaufenden Intentionen bei sich und anderen zu stabilisieren. Das bedeutet freilich nicht, daß ein solches Verbalisieren situativer Kontexte in allen Fällen möglich ist. Das liegt einerseits daran, daß nicht für jede Sprechhandlung ein performatives Verb existiert, und andererseits daran, daß eine Verbalisierung die intendierte kommunikative Funktion verhindern könnte (z. B. einschmeicheln, umstimmen u.a.). Sie kann weiterhin unterbleiben, wenn der Sprecher auf Grund sprachlicher oder sozialer Hinderungen nicht fähig oder nicht bereit ist, eine solche Explizierung vorzunehmen, etwa weil er sich noch nicht festzulegen wagt. Zu beachten ist weiterhin, daß eine völlig eindeutige Festlegung des Handlungscharakters einer Äußerung durch die Verwendung explizit performativer Ausdrücke nicht möglich ist. Auch die oft und gern als Beispiel herangezogene explizit performative Formulierung »Ich verspreche Dir, daß ich morgen kommen werde« 23 kann innerhalb eines bestimmten situativen Kontextes z. B. als Drohung wirken bzw. die Bedeutung einer Drohung haben. Bei solchen »indirekten Sprechakten« 24 stimmt also die sprachliche Anzeige mit der vom Sprecher intendierten Illokution nicht überein. Die Verwendung explizit performativer Ausdrücke ist somit ein Signal, das dem Hörer das Handlungsverstehen erleichtern kann, die Bedeutung der betreffenden sprachlichen Handlung jedoch keineswegs eindeutig fest21 22 23 24

18

Vgl. dazu: Strawson: Intention und Konvention . . . S. 81 ff. Austin: H o w to do . . . S. 57/58. Zur Analyse des Sprechakts >Versprechen< siehe: Searle: Speech Acts. . . . S. 5 4 f f . Vgl. dazu: Franck, Dorothea: Zur Analyse indirekter Sprechakte. In: Ehrich, Veronika / Finke, Peter (Hrsg.): Beiträge zur Grammatik und Pragmatik. Kronberg,/ Ts. 1975. S. 2 1 9 - 2 3 1 . Searle, John R . : Indirect Speech Acts. In.-Cole, P. / Morgan, Jerry L. (Hrsg.): Syntax and Semantics. Bd. 3: Speech Acts. New Y o r k etc. 1975. S. 5 6 - 8 2 .

legt. Z w a r wird ein H ö r e r mit H i l f e eines solchen Signals die ihm begegnende Sprechhandlung sowie die sie begründende Sprechintention über das v o m Sprecher benannte Performativ zu identifizieren suchen, jedoch wird er zugleich überprüfen müssen, o b dieses Performativ in diesem konkreten Falle wirklich diejenige H a n d l u n g repräsentiert, welche, intersubjektiv anerkannt, mit diesem Performativ gemeinhin bezeichnet wird. E r wird also einen Vergleich anstellen zwischen seinem Wissen u m das, was z. B . intersubjektiv anerkannt als Versprechen bezeichnet und verstanden wird, und der ihm unter spezifischen situativen Bedingungen begegnenden, mit dem Performativ bezeichneten, konkreten und individuellen Sprechhandlung. Eine sprachliche H a n d l u n g kann nur dann gelingen, wenn sie in ein System reziproker Verhaltenserwartungen eingebettet ist; der Sprecher muß bei der Artikulation seiner Sprechhandlung die D e u t u n g dieses Aktes durch den H ö r e r antizipieren. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang sind die Präsuppositionen, 2 5 also die notwendigen Voraussetzungen für die sinnvolle Äußerung eines sprachlichen A u s d r u c k s . D a b e i soll hier weniger auf die logischen und auch nicht auf die von Searle 2 6 besonders berücksichtigten, von Kiefer 2 7 als existenzielle Präsuppositionen bezeichneten Voraussetzungen für den Referenzakt verwiesen werden, sondern auf die sogenannten pragmatischen Präsuppositionen. 2 8 D i e s sind Urteile und A n nahmen des Sprechers über das Wissen, die Bedürfnisse und die Fähigkeiten des H ö r e r s , die die Formulierung einer sprachlichen Mitteilung mitbestimmen. D e r Sprecher setzt bei der von ihm zu vollziehenden sprachlichen H a n d l u n g bestimmte Gegenstände und Sachverhalte als unbestreitbar gegeben und als dem H ö r e r bekannt voraus, was f ü r die Konstitution und Interpretation dieser Sprechhandlung von großer Bedeutung ist. 2 9

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29

Zu dieser Thematik vgl.: Petöfi, Janos S. / Franck, Dorothea (Hrsg.): Präsuppositionen in Philosophie und Linguistik. Frankfurt a. M. 1973. Searle: Speech Acts. . . . S. 82: »1. There must exist one and only one object to which the speaker's utterance of the expression applies (a reformulation of the axiom of existence) and 2. The hearer must be given sufficient means to identify the object from the speaker's utterance of the expression (a reformulation of the axiom of identification).« Kiefer, Ferenc: Uber Präsuppositionen. In: Kiefer, Ferenc (Hrsg.): Semantik und generative Grammatik II. Frankfurt a. M. 1972, S. 276ff. Searle: Speech Acts. . . . S. 58ff. behandelt dies im Rahmen der oben erwähnten semantischen Regeln. S. J. Schmidt nennt sie »Situationspräsuppositionen«. In: Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation. München 1973, S. 105. Ebert, Karen: Präsuppositionen im Sprechakt. In: Petöfi / Franck (Hrsg.): Präsuppositionen . . . S.423. 19

2 . 1 . 2 . T e x t - und literaturtheoretische Ansätze zur Bestimmung von Handlungsindikatoren in schriftlichen Texten Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung, welche die pragmatische D i mension autobiographischer Texte besonders zu berücksichtigen gedenkt, setzt zunächst voraus, daß sprechaktbezogene Analysen über die Satzgrenze hinaus geführt werden können. E b e n s o wie eine einzelne K ö r p e r b e wegung durchaus nicht immer als eine Handlung aufzufassen ist, 3 0 m u ß die Äußerung eines Satzes nicht stets als genau eine Sprechhandlung verstanden werden. Vielmehr kann eine solche Äußerung lediglich Teil einer umfassenderen Sprechhandlung sein. Dabei verlagert sich die handlungsanzeigende Illokution von der Satzebene auf »satzübergreifende Ganzheiten«, 3 1 die den Handlungscharakter

der Einzelsätze

absorbieren. 3 2

Zudem

hat

bereits

Austin am Beispiel des auch für die Konstitution autobiographischer Texte relevanten >Sich Verteidigen* gezeigt, daß bestimmte sprachliche H a n d lungen nur mit Hilfe solcher »satzübergreifenden Ganzheiten« vollzogen werden können, 3 3 eine Beobachtung, die in besonderem Maße auch auf die für die Typologisierung autobiographischer Texte wichtigen Sprechhandlungen >ErzählenBerichten< und >Bekennen< 34 zutrifft. Im Gegensatz zu Searle soll deshalb hier davon ausgegangen werden, daß der Vollzug von sprachlichen Handlungen nicht an die Artikulation

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33

34

20

Siehe dazu: Danto, Arthur: Basishandlungen. In: Meggle, Georg (Hrsg.): Analytische Handlungstheorie Bd. I, S. 89—110 (Handlungsbeschreibungen). Frankfurt a. M. 1977. Slawinski, Janusz: Literatur als System und Prozeß. Strukturalistische Aufsätze zur semantischen, kommunikativen, sozialen und historischen Dimension der Literatur. Ausgewählt, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von Rolf Fieguth. München 1975, S. 94/95. Vgl. dazu auch: Stempel, Wolf-Dieter: Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs. In: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik V). München 1973, S. 327. Austin: Wort und Bedeutung, Philosophische Aufsätze. Aus d. Engl. u. mit einem Nachwort versehen von Joachim Schulte. München 1975, S. 179. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß auch die linguistische Pragmatik bereits seit einigen Jahren Texte im Sinne von Satzsequenzen als sprachliche Handlungen zu bestimmen versucht. Das geschieht einerseits synthetisierend durch Konstitutionsversuche, z. B. durch Etablierung von Sprechaktsequenzen bei Wunderlich, andererseits analysierend, indem z. B. in der Gesprächsanalyse bestimmte Äußerungskomplexe auf die ihre Einheit bedingenden Faktoren hin untersucht werden. Dies ist in jüngster Zeit vor allem in Bezug auf das >Erzählen< herausgearbeitet worden, vgl. dazu z. B . : »Die Illokution >Erzählen< kann aber nur durch Texte realisiert werden«. Gülich, Elisabeth: Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse (am Beispiel mündlicher und schriftlicher Erzähltexte). In: Haubrichs, Wolfgang (Hrsg.): Erzählforschung I. Theorien, Modelle und Me-

von Einzelsätzen gebunden sein muß, sondern auch durch die Äußerung von Texten gewährleistet sein kann. Ein Text, sofern er nicht aus einem Satz besteht,35 kann z. B. als Abfolge von behauptenden Sprechakten, aber auch als eine sprachliche Handlung verstanden werden, deren Einheit u. a. durch die von der Textlinguistik analysierten Mittel der Kohärenz, der pronominalen Verkettung36 und durch bestimmte Regelapparate auf syntaktischer und semantischer Ebene garantiert sein kann. 37 Die diese Einheit in besonders hohem Maß verbürgenden pragmatischen Faktoren sind bei schriftlich fixierten Texten freilich nur bedingt gegeben. Denn diese werden nur in Ansätzen diejenigen Handlungskontexte verbalisieren können, die sie als bestimmte, identifizierbare Handlungen wie Versprechen, Warnen etc. erscheinen lassen. Ein Gleichsetzen der Relation Sprecher — Hörer mit derjenigen von Autor — Leser wird nur dann möglich sein, wenn das ein Gelingen der mündlichen Kommunikation garantierende Regelsystem in die Konstruktion des schriftlichen Textes eingeht. Daß dies möglich ist, zeigt sich an den einfachen Zweckformen wie Reklametext, Heiratsanzeige, 38 Gebrauchsanweisung oder Brief, 39 die vor allem deshalb eine weitgehend problemlose Kommunikation ermöglichen, weil sie unter Beachtung eines Autor und Leser bekannten und normativ akzeptierten40 Regelsystems produziert und rezipiert werden. Briefe z. B. artikulieren sehr ausgeprägt Komponenten der Kommunikationsstruktur eines Textes wie Sprecher — Hörer — Relation, Sprechsituation, Adressat u. a. Auch schriftliche Texte sind also zunächst Konkretisationen von Regelapparaten, von »akzeptierten Prozeduren« und »Konventionen« 41 oder thoden der Narrativik. Göttingen 1976, S. 231. Ähnlich auch Stempel: »Erzählende Rede setzt als Minimalbasis zwei zusammenhängende und als narrative Sequenz interpretierbare Sätze voraus.« Stempel: Linguistik und Narrativivät. In: Geschichte — Ereignis und Erzählung, S. 525. Vgl. dazu: Landwehr, Jürgen: Text und Fiktion. München 1977, S. 77ff. " Vgl. dazu: Harweg, Roland: Pronomina und Textkonstitution. München 1968, bes. S. 20f. Beaugrande, Robert-Alain de / Dressler, Wolfgang: Textlinguistik. Tübingen 1981. 35

Zu Versuchen der Textgrammatik (u. a. Hendricks, Petöfi), solche Regelapparate aufzustellen, vgl.: Landwehr: Text und Fiktion, S . 9 3 f . 38 Vgl. dazu: Waldmann, Günter: Kommunikationsästhetik I. München 1976, S. 67 ff. 3 ' Vgl. dazu: Sandig, Barbara: Zur Differenzierung gebrauchsprachlicher Textsorten im Deutschen ( + Diskussion). In: Gülich, Elisabeth / Raible, Wolfgang (Hrsg.): Textsorten. Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. Frankfurt a. M. 1972, S. 1 1 3 - 1 2 4 . 37

40

Vgl. dazu: Fricke, Harald: N o r m und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981, S. 80ff.

41

Austin: H o w to do . . . S. 118.

21

»Stereotypen« 42 und nicht primär Ergebnisse eines individuellen Schöpfungsaktes. 43 Diese Regelgebundenheit betrifft nicht nur die Konstitution solcher Texte, sondern auch letztlich deren Wirkung, die somit »nicht primär durch das Werk und die in ihm gesetzten Bedeutungen definiert (ist), innerhalb derer sich die Verständigung ereignet oder vollzieht, sondern durch ein an sich wertfreies, nicht mehr zu hinterfragendes System der Verständigung, das durch solche Werke partiell stabilisiert, erweitert oder auch regeneriert werden kann.« 44 Textproduzenten sind von daher im Sinne strukturalistischer Konzepte wie z. B. desjenigen von Alexandra OkopieriSiawinska als »Regeldisponenten« zu verstehen, die »diese Regeln aus dem Repertoire von Konstruktionsmöglichkeiten ausgewählt und in (ihrer) Rede aktualisiert« haben. 45 Nun gehört es wesentlich zum Gelingen einer Sprechhandlung mittels schriftlich fixierter Texte, daß ein solcher »Regeldisponent« die Bedingungen für den Vollzug der betreffenden sprachlichen Handlung durch den Text selbst zu erkennen gibt. 46 Komponenten, die im Rahmen einer mündlichen Kommunikation implizit gegeben sind, müssen hier sprachlich artikuliert werden, um ein Gelingen der sprachlichen Handlung sicherzustellen. Befragt man also einen schriftlichen nichtfiktionalen Text nach seinem Status als sprachlicher Handlung, so müssen vor allem solche Indikatoren beachtet werden, die 1. auf den propositionalen Gehalt der Textäußerung verweisen (im Falle von Autobiographien auf in der Vergangenheit vom Autor vollzogene bzw. ihn betreffende Handlungen und Ereignisse), 2. auf die für die Entstehung des Textes relevante Schreibsituation und den Interaktionsrahmen deuten,

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22

Bartoszynski, Kasimierz: Das Problem der literarischen Kommunikation in narrativen Werken. In: STZ 1973, H.47, S. 203ff. Vgl. dazu auch: Mukarovsky, Jan: Die Persönlichkeit in der Kunst. In: Mukarovsky, Jan: Studien zur strukturalistischen Ästhetik und Poetik. München 1974, S. 77 ff. Türk, Horst: Wirkungsästhetik. Theorie und Interpretation der literarischen Wirkung. München 1976, S. 25. Okopien-SIawinska, Alexandra: Die personalen Relationen in der literarischen Kommunikation. In: Fieguth, Rolf (Hrsg.): Literarische Kommunikation. Kronberg/Ts. 1975, S. 140. Vgl. dazu: Türk, Horst: Pragmatismus und Pragmatik. Zur handlungstheoretischen Interpretation einer dramatischen Szene. In: Säße, Günter / Türk, Horst (Hrsg.): Handeln, Sprechen und Erkennen. Zur Theorie und Praxis der Pragmatik. Göttingen 1978, S. 152 ff.

3. im Zusammenhang damit Intentionen, Erwartungen und Erwartungserwartungen47 artikulieren, 4. dabei das Verhältnis zwischen Autor und intendierten und antizipierten Rezipienten anzeigen, 5. auf Autor und intendierten Rezipienten gemeinsame Wissenshorizonte deuten, 6. dabei im Besonderen die Orientierung dieser »Texthandlung« an bestimmten Systemen wie Literatur, Historiographie oder Theologie erkennen lassen, 7. die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der mit der betreffenden Textäußerung vollzogenen Handlung unterstreichen und erkennen lassen, daß der Text einem Wahrheitsanspruch gerecht wird.48 Geschieht der Verweis auf den proportionalen Gehalt der Textäußerung mit Hilfe von Referenz- und Prädikationsakten,4' so werden wesentliche Komponenten der Schreibsituation50 durch performative Verben, nicht performativ zu verwendende intentionale Verben, Modaladverbien, Anredeformen u. a.51 markiert. Besonders relevant in diesem Zusammenhang sind die im Rahmen der Kontextsemantik immer wieder diskutierten indexikalischen Ausdrücke, also Pronomina wie >ichduhierdortdieserjenerdamalsheuteBehaupten< hält. Gabriel, Gottfried: Was sind Behauptungen? Ein Beitrag zur Argumentationslehre. In: D U 28, 1976, H . 4 , S. 7.

49

Searle: Speech Acts. . . . S. 22/23. Nicht zu verwechseln mit Stanzeis >Erzählsituationforce< eines Textes durch ein performatives Verb expliziert werden könnte. 5 5 Vor allem ist die autobiographischen Texten eigene Kommunikationsstruktur nicht derart beschaffen, daß sie ohne weiteres eine den Intentionen des Autors adäquate 56 Rezeption garantieren würde. Vielmehr ist der schriftlich fixierte Text über die genannten Regeln und Indikatoren so strukturiert, daß er einen pragmatischen Kontext anbietet, der vom Leser im Rahmen des Rezeptionsaktes realisiert werden kann. Der Grad der Akzeptanz oder Verpflichtung, die angebotene Äußerung als die vom Autor intendierte Handlung zu realisieren, hängt dann von der Quantität und der Strukturierung der erwähnten Indikatoren ab. Sowohl die explizite Formulierung der Intentionen, denen der Text seine Entstehung verdankt, als auch mögliche Hinweise auf Funktionen, die er nach Ansicht des Autors innerhalb bestimmter Handlungskontexte haben soll, sind für den Rezipienten solch umfangreicher und komplizierter Texte nicht mehr als Indizien, daß diese sprachliche Äußerung als ein soziales Handeln im Sinne Max Webers zu verstehen ist, »welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist«. 57 Besonders bedeutsam als Indikator einer solchen >Bezogenheit< ist ein Phänomen, das von Repräsentanten des russischen Prästrukturalismus im

54 55 56

57

24

van Dijk: Textwissenschaft. S. 87. Landwehr: Text und Fiktion. S. 140/141. Siehe dazu stellvertretend für eine Vielzahl von Ausführungen: Gumbrecht, Hans Ulrich: Konsequenzen der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationssoziologie. In: Poetica 7, 1975, H . 3 / 4 , S. 388—413. Weber, Max: Methodologische Schriften. Frankfurt a. M. 1968, S. 280. (Hervorhebungen im Original).

Rahmen ihrer »Metalinguistik« die »innere Dialogizität des W o r t e s « 5 8 genannt w o r d e n ist. D e r A u s d r u c k bezeichnet eine sich in der besonderen stilistischen Prägung manifestierende Beziehung einer mündlichen 5 9

oder

schriftlichen Ä u ß e r u n g 6 0 zu einer ihnen vorangegangenen b z w . v o m Sprecher antizipierten sprachlichen Handlung. 6 1 Diese Orientierung einer Ä u ßerung — auch der schriftlich fixierten — an ihrem pragmatischen Kontext, ihre Eigenschaft, »untrennbares Element sprachlicher Kommunikation« zu sein, 62 m u ß nach Auffassung solcher Linguisten und

Literaturwissen-

schaftler wie Bachtin, Volosinov und Medvedev 6 3 als Bestandteil ihrer s y n taktischen und semantischen Struktur verstanden werden. So hat sich eine Bezeichnungshandlung häufig mit anderen, auf das gleiche

Denotat

bezogenen

sprachlichen

Handlungen

auseinanderzu-

setzen. 6 4 Die Bezeichnungsrelation zwischen W o r t und Gegenstand, also das, was die analytische Sprachtheorie Referenz oder Denotation nennt, ist nicht abstrakt, nicht ohne Berücksichtigung der Sprech- b z w . Schreibsituation festzulegen. >Dialogizität einer Äußerung< bedeutet demnach Orientierung an einer >fremden RedeVolosinov< und >Medvedev< als Autoren gekennzeichneten Arbeiten von Bachtin stammen. Vgl. dazu: Grübel, Rainer in: Bachtin: Die Ästhetik . . . S. 12/13. Dies wird im einzelnen besonders am Beispiel der bekennenden Autobiographien zu zeigen sein, die ja häufig als Antwort auf Fremdbiographien konzipiert sind. Vgl. dazu vor allem S. 114 ff. dieser Arbeit. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs (dt. v. A. Schramm). München 1971, S. 206.

25

sich mit dritten; und all das kann das W o r t wesentlich formen, sich in allen seinen Bedeutungsschichten ablagern, seine Expression komplizieren, auf das gesamte stilistische Erscheinungsbild einwirken.' 6 I m B e r e i c h s c h r i f t l i c h f i x i e r t e r Ä u ß e r u n g e n ist n u n freilich diese D i a l o g i z i t ä t n i c h t a n allen T e x t e n a u f z e i g b a r . B a c h t i n u n t e r s c h e i d e t v i e l m e h r z w i s c h e n m o n o l o g i s i e r e n d e n u n d d i a l o g i s i e r e n d e n T e x t e n , w o b e i er v o r a l l e m der L y r i k eine m o n o l o g i s i e r e n d e u n d g e m ä ß seiner A u f f a s s u n g d a m i t vereinheitlichende F u n k t i o n z u e r k e n n t . 6 7 D a s b e d e u t e t n i c h t , d a ß T e x t e n aus d e m B e r e i c h d e r L y r i k Handlungscharakter

abzusprechen wäre,

jeglicher

sind d o c h n a c h B a c h t i n

gerade

solche T e x t e v o n d e m Willen ihrer A u t o r e n geprägt, Ideologien z u vermitteln u n d d a m i t b e e i n f l u s s e n d z u w i r k e n . W a s i h n e n n a c h B a c h t i n fehlt, ist die P r ä g u n g i h r e r s y n t a k t i s c h e n u n d s e m a n t i s c h e n S t r u k t u r e n d u r c h a n d e r e , i h n e n v o r a u s g e g a n g e n e Ä u ß e r u n g e n , d u r c h einen I n t e r a k t i o n s r a h m e n ,

der

derjenige einer eingegrenzten G e s p r ä c h s s i t u a t i o n , aber a u c h derjenige einer g a n z e n K u l t u r sein k a n n . 6 8 G e r a d e d i e s e P r ä g u n g lassen n u n n a c h A u f f a s s u n g B a c h t i n s in b e s o n derem Maße Prosatexte erkennen: D e r Prosaschriftsteller reinigt die W ö r t e r nicht von den ihm fremden Intentionen und T ö n e n , löscht die von ihnen angelegten Keime der sozialen Redevielfalt nicht aus, verfremdet die sprachlichen Gesichter und Redeweisen (die potentiellen E r zählergestalten) nicht, die hinter den Wörtern und F o r m e n der Sprache aufscheinen,

..."

A u f diese W e i s e e r k l i n g t z . B . n a c h A u f f a s s u n g B a c h t i n s i m R o m a n

eine

Vielfalt v o n >Stimmen< u n d d a m i t z u g l e i c h eine F ü l l e v e r s c h i e d e n e r > W e l t -

66

Bachtin: Die Ästhetik . . . S. 169/170.

67

Bachtin: D i e Ästhetik . . . S. 177ff. Ähnliche Eigenschaften schreibt Bachtin in der Literatur dem D r a m a und im Bereich der Literaturwissenschaft formalistischen und strukturalistischen Ansätzen zu. Während die Äußerungen zum D r a m a eher marginal sind, geraten die Ausführungen zur formalistischen und strukturalistischen Sprach- und Literaturtheorie bisweilen zur polemischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf er vor allem bestimmte >Herrschaftsansprüche< der genannten R i c h tungen kritisiert. Vgl. dazu: Bachtin: D i e Ästhetik . . . S. 285. Vgl. dazu V f . : A m bivalenz und Dialogizität. Zur Theorie der Rede bei Michail Bachtin. I n : Kittler, Friedrich A . / T ü r k , H o r s t (Hrsg.): Urszenen — Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a. M . 1977, S. 368.

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Wie wenig haltbar diese Position Bachtins ist, hat erst jüngst Renate Lachmann in ihren Arbeiten über die Lyrik des russischen Akmeismus (Anna Achmatova, Ossip Mandel'stam) gezeigt. Lachmann, Renate: Bachtins Dialogizität und die akmeistische Mythopoetik als Paradigma dialogisierter Lyrik. I n : Stierle, K a r l h e i n z / W a r ning, Rainer ( H r s g . ) : Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik X I ) . München 1984, S. 4 8 9 - 5 1 5 .

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26

Bachtin: Die Ästhetik . . . S. 190.

sichteneindringengiftigen Bemerkungen« in der Alltagssprache gehören dazu. A b e r auch jede unterwürfige, geschraubte Rede, jede Rede, die von vornherein sich selbst widerruft, jede Rede mit tausend V o r b e halten, Konzessionen,

Hintertürchen u. ä. gehört hierher. Eine solche

Rede

krümmt sich förmlich in Anwesenheit oder im Vorgefühl eines fremden Wortes, einer Antwort oder eines Einwands. 7 5

Dieses »Sich-Krümmen« der Autorrede ist an stilistischen Merkmalen aufzeigbar, z. B. am Aufbrechen und Unterbrechen einer monologischen Rede durch Häufung von Interjektionen, durch explizite Formulierung erwarteter Rezipientenreaktionen, in der Akzentveränderung bestimmter Äußerungen durch Wiederholung und Wortvariationen anderer Art, die einen bestimmten Sachverhalt sowohl aus der Perspektive des Autors als auch aus der eines antizipierten Rezipienten oder früheren Dialogpartners erscheinen lassen. Dabei sind für die Artikulation der Adressatenerwartung v o r allem Retardierungen,

Konzedierungen

sowie

Zurück-

nahmen und Relativierungen des eigenen Sprechens signifikant, eine Eigenschaft, die nach Bachtin die Rede der meisten Helden von D o s t o evskij-Romanen auszeichnet, 7 6 ist doch »das W o r t des Helden über sich

75 76

Bachtin: Probleme . . . S. 219. Bachtin verdeutlicht dies u. a. an Passagen aus Dostoevskijs Erstling >Bednye ljudi< (Arme Leute). Besonders die (briefliche) Rede des Haupthelden Makar Devuskin ist von den genannten Stilmerkmalen geprägt: »Ich w o h n e in der Küche, oder richtiger gesagt: hier neben der Küche gibt es noch ein Zimmer (unsere K ü c h e ist, das muß ich Ihnen sagen, sauber, hell und sehr anständig), ein ganz kleines Zimmerchen, so ein bescheidenes Winkelchen . . . oder noch richtiger wäre es so: die Küche ist groß und hat drei Fenster, und bei mir ist jetzt parallel zur Querwand eine Scheidewand gezogen, so daß es sozusagen noch ein Zimmerchen gibt, eine N u m m e r >über den Etatim Licht der schon über es geäußerten fremden Wörterdringt in dieses Milieu fremder Wörter ein, verschmilzt mit ihnen oder stößt sich von ihnen abThe Prelude< oder die Memoiren der polnischen Adligen Anna Stanisiawska aus dem Jahre 1685. Vgl. dazu: Hernas, Czeslaw: Polnische barocke Memoirenliteratur, S. 16; auf Grund der fehlenden Narration, gehören weder sie noch so berühmte Selbstdarstellungen wie Montaignes >Essays< zu dem, was hier unter >Autobiographie< verstanden werden soll.

37

Ereignisse. A m Beispiel erzählender Autobiographien wie >Dichtung und Wahrheit< kann demonstriert werden, daß eine solche Schreibsituation auch dann für die gesamte Textstruktur verantwortlich ist, wenn der betreffende Text während eines längeren Zeitraums verfaßt worden ist. 11 Diese Standortmarkierung ist vor allem eine Funktion der zur Gattung >Autobiographie< fast selbstverständlich gehörenden Vorreden; sie geschieht aber auch immer wieder mittels entsprechender Aussagen innerhalb des Textes. Während die Bestimmung des räumlichen Standortes für viele Autobiographien bedeutungslos ist, wird der Zeitpunkt der Entstehung eines solchen Textes, die temporale Komponente der Schreibsituation, von vielen Autobiographen recht genau formuliert. 1 2 Dieser Zeitpunkt muß übrigens nicht immer mit einer späteren Lebensphase verbunden sein — schreiben doch so bekannte Autoren wie Immermann, Gutzkow, Meysenbug, Rosegger oder Gor'kij Autobiographien in der Mitte oder wie L. N . Tolstoj sogar zu Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Auch die Situierung am Lebensende entspringt nicht immer einer durch Distanz des Schreibenden zu seiner U m w e l t und Vergangenheit gekennzeichneten Schreibsituation; nicht allein das >Sich historisch werden< des alten Goethe läßt autobiographische Texte entstehen, nicht allein die späte »Besinnung eines Menschen über sich selbst bleibt Richtpunkt und Grundlage« 1 3 der Selbstdarstellung; vielmehr bestimmen häufig von außen kommende Faktoren und Anlässe wie Gelehrtenstreit, Bewerbungen, Geburtstage oder Jubiläen diese Situierung am Lebensende. 1 4 Bedeutsamer für die sprachliche Gestaltung der Autobiographie sind freilich weniger diese äußeren Faktoren als vielmehr Zeitpunkte, die mit einer Wende in der seelischen und geistigen Entwicklung des betreffenden 11 12

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Vgl. dazu Kap. 6.1. dieser Arbeit. Zu den berühmtesten dieser Formulierungen gehören diejenigen aus dem ersten Buch der »Vita« des Benvenuto Cellini: »Alle Menschen, von welchem Stande sie auch seien, die etwas Tugendsames oder Tugendähnliches vollbracht haben, sollten, wenn sie sich wahrhaft guter Absichten bewußt sind, eigenhändig ihr Leben aufsetzen, jedoch nicht eher zu einer so schönen Unternehmung schreiten, als bis sie das Alter von vierzig Jahren erreicht haben. Dieser Gedanke beschäftigt mich gegenwärtig, da ich im achtundfunfzigsten stehe und mich hier in Florenz mancher vergangenen Widerwärtigkeiten wohl erinnern mag, da mich nicht, wie sonst, böse Schicksale verfolgen und ich zugleich eine bessere Gesundheit und größere Heiterkeit des Geistes als in meinem ganzen übrigen Leben genieße.« Leben des Benvenuto Cellini von ihm selbst geschrieben. Übersetzt von J . W . Goethe. Berlin 1924, S.9. Wilhelm Diltheys Gesammelte Schriften, VII. Band. Berlin 1927, S.204. In Bezug auf Geburtstage gilt das z. B. für die Autobiographien des Literaturkritikers Saphir und des Göttinger Mediziners v. Hase.

Autobiographen verbunden sind. Solchen bedeutsamen Zäsuren innerhalb des Lebens ihrer Autoren verdankt sich die Entstehung vornehmlich bekennender Autobiographien, z. B. gilt dies für die >Ipsoved'< (Das Bekenntnis) L. N. Tolstojs, Karl Mays »Meine Beichte* oder Andrej Belyjs >Na rubeze dvuch stoletij< (Auf der Grenze zweier Epochen). 15 Häufig sind es Krisensituationen, die Autoren wie z. B. L. N. Tolstoj dazu nötigen, der Öffentlichkeit durch eine autobiographische Darstellung eine veränderte bzw. sich verändernde Einstellung zu Personen und Institutionen mitzuteilen und zu rechtfertigen. Zur Bestimmung der Sprech- bzw. Schreibsituation gehört natürlich zunächst die Selbstkennzeichnung des Autobiographen mittels deskriptiver Angaben von Kennzeichnung, Eigennamen und Deixis, 16 oft verbunden mit Angaben über die physische, psychische und intellektuelle Verfassung des Autors zur Zeit der Textproduktion. Letzteres ist sicher nicht so banal wie es zunächst klingen mag, sind doch diese Angaben wesentliche sprachliche Indikatoren für die Art und Weise, in der die betreffende Autobiographie persönliche Vergangenheit zu präsentieren gedenkt. Sie verweisen vor allem auf die Intentionen des Schreibenden sowie auf dessen reflexive und emotionale Beziehung zu seiner Vergangenheit. Zudem demonstrieren sie Selbstund Identitätsbewußtsein des Autobiographen, sein Verständnis von einer bestimmten sozialen Rolle, die er während seiner >Schreibhandlung< einzunehmen gedenkt. Eine Form der impliziten Selbstkennzeichnung ist natürlich auch darin zu sehen, wie der Autobiograph vergangene Handlungen begründet, wertet, rechtfertigt und zu einem die eigene Identität verbürgenden Lebenszusammenhang verbindet. Ein Autor, der wie z. B. Adam Bernd 17 diese Handlungen durch Krankheit oder durch eine göttliche Instanz determiniert sieht, wird sich seinen Adressaten als ein anderer präsentieren als jemand, der ihren Vollzug der eigenen Freiheit und Verantwortung zuschreibt. Die Selbstkennzeichnung wird in vielen Autobiographien übrigens ikonisch 18 durch Portraits ihrer Verfasser ergänzt. Verkompliziert wird diese Selbstanzeige immer dann, wenn die Position 15

Vgl. dazu auch die Ausführungen zum Typus der bekennenden Autobiographie in

16

Titelbeispiel in Bezug auf die Referenz personaler Deixis: Mein Leben wie ich J o -

Kap. 4 . 3 . 1 . dieser Arbeit. hann Georg Scheffner es selbst beschrieben. Titelbeispiel für die Spezifizierung von Eigennamen durch Kennzeichnung:

»Struwwelpeter

— Hoffmann«

(Heinrich

Hoffmann) erzählt aus seinem Leben. 17

Siehe dazu Kap. 5.1. dieser Arbeit.

18

Der Begriff wird hier im Sinne der Ausführungen Ecos über Semiotik der visuellen Codes verwendet. Vgl. dazu: E c o , U m b e r t o : Einführung in die Semiotik. Autor, dt. Ausg. v. Jürgen Trabant. München 1972, S. 205 ff.

39

des Autors innerhalb des Textes durch eine konstruierte Erzählerfigur besetzt ist, z. B. in Jean Pauls >Selberlebensbeschreibung< oder Sergej Aksakovs >Semejnaja chronika« (Familienchronik). 19 Bisweilen lassen solche Erzählerfiguren >auktoriale Allüren< daran erkennen, daß sie, scheinbar unmotiviert, mittels Verben der inneren Vorgänge und anderer sprachlicher Mittel von Sachverhalten berichten, die sie gar nicht wahrgenommen haben können. 20 Bedeutsam ist diese Selbstanzeige des schreibenden Autobiographen auch deshalb, weil sie häufig bereits Angaben darüber enthält, ob sich dieser mit seiner Vergangenheit identifiziert oder sich von ihr distanziert. Das Verhältnis des Schreibenden zu seinem Gegenstand, dessen Besonderheit in autobiographischen Texten darin besteht, daß der Autor eigene Handlungen bzw. ihn persönlich betreffende Sachverhalte aus der Vergangenheit sprachlich artikuliert, reflektiert und bewertet, ist von der Forschungsliteratur schon seit langem als grundlegend für die Strukturierung autobiographischer Texte anerkannt worden. 21 Kaum beachtet wurde dabei jedoch, daß damit auch bestimmte handlungsrelevante Eigenschaften der Gattung >Autobiographie< angezeigt werden. Distanz oder Identifikation — markiert durch Fern- oder Nahdeiktika, performative Verben, Erzählform und andere sprachliche Indikatoren — können z. B. Erkenntnisse darüber vermitteln, inwiefern und mit welcher Intensität der Autor einer Autobiographie auf Handlungen und Erkenntnisse aus seiner Vergangenheit reagiert, also inwieweit er sie ergänzen, berichtigen, rechtfertigen oder verurteilen will. 22 Dabei ist die Erzählform nicht der wichtige Indikator dieses Verhältnisses, als der er zuweilen hingestellt wird. Die Er-Erzählform begegnet innerhalb dieser Gattung selten, vornehmlich dann, wenn der Autor sich 19

Vgl. dazu: Masinskij, S.: O memuarno-avtobiograficeskom zanre (Über das memoirenhaft-autobiographische Genre). In: Voprosy literatury (Fragen der Literatur) 1960, 6, S. 1 4 0 / 1 4 1 .

20

Näheres dazu bei: Atarova, K. N . / Lesskis, G . A . : Semantika i struktura povestvovanija ot pervogo lica v chudozestvennoj proze (Semantik und Struktur des E r zählens in der ersten Person in der Kunstprosa). In: Izvestija akademij nauk SSSR (Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR) 1974, H . 1, S. 354.

21 22

Pascal: Die Autobiographie . . . S. 12ff. Müller: Autobiographie . . . S. 66ff. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, daß sich die Relation schreibendes — beschriebenes Ich< innerhalb des Textes nicht nur kontinuierlich, sondern sehr sprunghaft ändern kann. Der A u t o r kann auf einzelne Phasen der erzählten Lebensgeschichte sehr verschieden reagieren, wie z. B. sehr deutlich in Goethes >Dichtung und Wahrheit< zu beobachten ist. E r kann sich von ihnen sehr affiziert zeigen oder ihnen distanziert gegenüberstehen, er kann sich mit einer Phase seiner persönlichen Entwicklung identifizieren oder sie total negieren.

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nicht explizit als Urheber bestimmter Handlungen vorstellen oder wenn er sich bewußt von ihnen distanzieren will. 23 Umgekehrt kann eine solche Veränderung auch Indiz dafür sein, daß die Wiedergabe vergangenen Geschehens beim Autor während des Schreibens einen Prozeß der Selbstreflexion ausgelöst hat, der das zu Beginn des Schreibens vertretene Verständnis der eigenen Person und ihrer Beziehungen zur Umwelt mehr oder minder nachhaltig in Frage gestellt hat. 24 Nicht selten dient freilich dieser Wechsel der Erzählform innerhalb e i n e s autobiographischen Textes nur als ein erzähltechnischer Kunstgriff, um die in solchen Texten besonders häufig anzutreffende sprachliche Monotonie zu durchbrechen. 25 Bisweilen geschieht er sogar völlig unmotiviert. So ändert der Danziger Historiker und Archäologe Wilhelm Dorow die Erzählform innerhalb eines einzigen Satzes, was hier wohl weniger auf bestimmte Distanzierungen in Bezug auf die persönliche Vergangenheit als vielmehr auf darstellerisches Unvermögen schließen läßt.26 Die Wahl der Ich-Erzählform ist nun allerdings durchaus kein sicheres Indiz für die von vielen Beiträgen zum Thema >Autobiographie< als gattungsspezifisch behauptete >Identität von erlebendem und erzählendem, erinnerndem und erinnertem IchConfessiones< des Augustinus begegnet es z. B. immer wieder, daß die durch vergangene Handlungen und Erfahrungen verbürgte personale Existenz durch ein religiöses Erlebnis in Frage gestellt und dieser Sachverhalt mittels der Autobiographie formuliert wird. Sprachlich zeigt sich das u. a. daran, daß der Autor des Textes und die Person, über die er spricht, verschiedene Prädikatszuweisungen erfahren. 23

24

25 26 17

Zum bewußt eingesetzten Gestaltungsprinzip kann der Wechsel von der Ich- zur Er-Erzählform in fiktionaler Dichtung werden, wenn es dem Ich-Erzähler darum geht, auf fehlende Identifizierungsmöglichkeiten mit bestimmten Phasen der eigenen Vergangenheit zu verweisen. Ein überzeugendes Beispiel dafür ist in der neueren deutschen Literatur Christa Wolfs Roman >KindheitsmusterDurchbruchs< bei den Pietisten), das die Schreibsituation in diesen autobiographischen Texten auch dann in hohem Maße prägt, wenn es bereits einige Jahre zurückliegt, führt dazu, die Ebene des Dargestellten mit den Prädikaten des Mangels, der Unvollkommenheit und des Minderwertigen zu belegen. Hier besteht also nicht nur eine temporale, sondern auch eine qualitative Differenz zwischen beiden Ebenen. Probleme hinsichtlich der erwähnten Identitätsbehauptung dürfte es auch mit solchen Autobiographien geben, in denen die Autoren sich zu ihrer Vergangenheit in der Art der »peripheren Ich-Erzähler« 28 verhalten oder in denen sich, wie in Jean Pauls >SelberlebensbeschreibungverbergenAvtorskaja ispoved'< (Autorenbeichte) Nikolaj Gogol's, der Apologie des Sokrates oder der Antidosis des Isokrates. Zu letzterem vgl.: Fuhrmann, Manfred: Rechtfertigung durch Identität. U b e r eine Wurzel des Autobiographischen. In: Poetik und Hermeneutik VIII, S. 6 8 5 - 6 9 1 .

31

Vgl. dazu: Winter, Helmut: Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile. Heidelberg 1985, S. 43 ff.

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weise — die Autobiographie oft gerade dazu dient, diese Glaubwürdigkeit überhaupt erst wieder herzustellen. Kaum eine Gattung ist derart von Versicherungen ihrer Autoren geprägt, daß sie von der Wahrheit des von ihnen Ausgesagten überzeugt sind, kaum eine Gattung bietet immer wieder so viele Verifikationsmöglichkeiten an. 32 Ein gutes Beispiel dafür sind die vielfältigen Zitierungspraktiken; man zitiert »Erinnerungsbücher« wie z. B. der Arzt Carl Gustav Carus, eine Vielzahl von Briefen wie der Literat Heinrich Stieglitz oder eine vielfältige Sammlung von Briefen, Tagebüchern und historischen Dokumenten wie der bereits mehrfach erwähnte Heinrich Zschokke. 33 Diese Zitierungen sollen jedoch nicht allein die Glaubwürdigkeit des Schreibenden belegen, sind sie doch auch eine der vielfältigen sprachlichen Manifestationen, welche die Verifizierbarkeit des mittels der autobiographischen Aussage Behaupteten erweisen soll. Besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang ist der für die Gattung konstitutive Verweis auf die Erinnerung.34 Die Geschichte der Autobiographie belegt in eindrucksvoller Weise, daß eine Erörterung dieser Problematik von den Autobiographen immer wieder als notwendig erachtet worden ist. Das gilt für die berühmten Reflexionen des Augustinus im 10. Buch der >Confessiones< über die >memoria< und ihr Verhältnis zur >oblivio< ebenso wie — in Bezug auf den autobiographischen Roman — für die der »Erfahrungsseelenkunde« verpflichteten Passagen über die Erinnerung in K. Ph. Moritz' >Anton Reisen. Dabei ist zu beachten, daß Erinnerung nicht allein als ein Lebensdaten und Fakten sammelndes und reproduzierendes Vermögen verstanden wird; 35 ebensowenig dient sie vornehmlich der »Herstellung einer Konti32

In diesem Z u s a m m e n h a n g soll freilich nicht unterschlagen werden, daß dem A u f fassungen einiger Literaten gegenüberstehen, die wie z. B. A n d r é G i d e dem autobiographischen R o m a n entschieden m e h r >Wahrheit< zubilligen als der A u t o b i o graphie. Vgl. dazu: Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique, S. 158/159.

33

D e r Versuch, die Aufrichtigkeitsregel zu befolgen, geht häufig einher mit einer expliziten Kritik an Autobiographien, die das eigene Leben zu bestimmten Modellen stilisieren. Bekannt ist in diesem Z u s a m m e n h a n g C a r d a n o s Kritik an der antiken Autobiographie.

34

Diese Thematik ist natürlich auch in den bisher erschienenen Arbeiten zur A u t o biographie z. T . sehr eingehend behandelt w o r d e n , so daß ihre ausführliche E r ö r terung hier unterbleiben kann. Vgl. dazu vor allem G u s d o r f , Georges: Memoire et personne. Paris 1951, S.217. Aichinger, Ingrid: Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: Osterreich in Geschichte u n d Literatur 14, 1970, S. 423. Aichinger, Ingrid: Künstlerische Selbstdarstellung. . . . S. 18, 219.

35

Diese Aussage gilt nicht f ü r die Auffassung von >memoria< in den >Confessiones< des Augustinus. Vgl. dazu: Weinrich, H a r a l d : M e t a p h o r a memoriae. I n : Weinrich, H a r a l d : Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 221/222. 43

nuität, die z u r G e g e n w a r t h i n f ü h r t « . 3 6 Sie kann vielmehr auch als eine Instanz aufgefaßt w e r d e n , die Möglichkeiten eines anderen Handelns in V e r gangenheit u n d Z u k u n f t aufzeigt. 3 7 Erinnerung ist v o n daher nicht n u r G a rant personaler Identität, sondern auch G a r a n t der Einheit der b z w . einer Geschichte, ja der E r f a h r u n g v o n Geschichtlichkeit. Sie ist, zumindest gemäß der philosophischen Interpretation Hegels, das verschiedene geschichtliche Manifestationen des Geistes v e r b i n d e n d e Element und erste V o r a u s s e t z u n g u n d Indiz geschichtlicher E r f a h r u n g u n d historischen Bewußtseins.38 Das Herausheben v o n Erfahrungen zu Erlebnissen, zu innerhalb des Lebensganzen bedeutsamen u n d v o n daher dieses Leben strukturierenden P u n k t e n ist nach A u f f a s s u n g vieler A u t o b i o g r a p h e n Leistung der Erinnerung. A l s sich erneuernde innere W a h r n e h m u n g eines schon einmal E r f a h renen v e r m a g die Erinnerung diesem eine neue Qualität zu verleihen. Erinnerung ist nach solchen Aussagen nicht einfache W i e d e r h o l u n g eines bereits schon einmal Erfahrenen o d e r Gehandelten, sondern auch R e p r o d u k t i o n , Synthese 3 9 und

36 37

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39

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Verdrängung. V o r n e h m l i c h in Bezug auf letztere ist die

Müller: Autobiographie . . . S. 71. Diese einheitsstiftende Funktion hat neben Dilthey und Bergson vor allem Bloch betont, wobei dieses Vermögen nach Auffassung des letzteren bekanntlich nicht allein Gegenwart und Vergangenheit, sondern im denkenden Subjekt Vergangenheit und Zukunft verbindet. Bloch hat dies sowohl in >Das Prinzip H o f f n u n g s als auch in seinem Hegelbuch ausgeführt: Bloch, Ernst: Subjekt — Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Frankfurt a . M . 1972, S. 477 ff. »Denn solange der Mensch im Kreislauf der Natur eingebettet bleibt, ist Erinnerung für ihn nicht konstitutiv und kann Geschichte als Form gar nicht konstituiert werden . . . Geschichtsschreibung ist in Erinnerung begründet, die selbst nur zur Signatur des Geistes wird, wenn die Verhaftung an die zeremonielle Wiederholung im mythischen Umkreis aufgehoben ist.« Taubes, Jacob: Geschichtsphilosophie und Historik. Bemerkungen zu Kosellecks Konzept einer neuen Historik. In: Geschichte — Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik V), S. 490. Vgl. dazu Friedrich Georg Jünger, stellvertretend für eine Vielzahl entsprechender Äußerungen: »Einige der Erwägungen, die mir bei der Aufzeichnung dieser Erinnerungen durch den Kopf gingen, möchte ich vorausschicken. Eine davon ist, daß jede Darstellung etwas Hinzukommendes ist und daß dieses Hinzukommen die Bedingung jeder Darstellung ist. Erinnerungen machen uns das besonders deutlich, denn sie sind nicht unsere Erfindung. Deutlich aber werden sie, weil sie wiederkehren und in der Wiederkehr eine Verbindung eingehen und Zusammenhang erhalten. Erinnerung ist, im Unterschied zum Gedächtnis, etwas Gereiftes, und in dem Maße, in dem sie ausreift, darstellbar. Das bloß Faktische, das zusammenhanglos ist, kann keine Wahrheit begründen, und der Mensch, der daran haften bleibt, wird, so stark immer sein Gedächtnis ist, wenig erinnern.« Friedrich Georg Jünger: Grüne Zweige. Ein Erinnerungsbuch. Stuttgart 1978, S . 5 .

Erinnerung durch ein hohes M a ß an >Tendenzhaftigkeit< geprägt. >Tendenzhaftigkeit< meint dabei die v o r allem v o n Freud untersuchten Mechanismen, mit deren Hilfe die menschliche Psyche versucht, die die Selbstsicherheit und das Selbstbewußtsein gefährdenden Gedächtnisinhalte v o m Subjekt fernzuhalten. 4 0 Freilich zwingt das Wissen um die >Tendenzhaftigkeit des Erinnerns< eine Vielzahl v o n Verfassern autobiographischer Texte dazu, diesen Begriff nicht allein als ein Vermögen des individuellen Bewußtseins zur Sprache zu bringen. V o n daher spielt die Berücksichtigung der v o n Soziologen wie D ü r k h e i m und v o r allem Halbwachs, 4 1 aber auch von Literaturwissenschaftlern wie Jan M u k a r o v s k y 4 2 untersuchten »conscience sociale« b z w . »memoire collective«, also die der Vermittlung v o n Vergangenem mittels der Orientierung an sozial eingespielten und anerkannten Erfahrungsmustern eine wichtige Rolle. Dies geschieht vornehmlich in denjenigen A u t o biographien, deren A u t o r e n sich als Historiographen verstehen. Das gilt nicht nur f ü r die Memoirenliteratur des 17. Jahrhunderts, die sich im Rahmen einer ungewöhnlich starken Personalisierung der Historiographie besonders gut entfalten konnte, 4 3 sondern auch f ü r viele autobiographische Texte des 19. und 20. Jahrhunderts. 4 4 Diese A u t o r e n verstehen sich als »ursprüngliche Geschichtsschreiber« im Sinne Hegels, 4 5 die Geschichte unter

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Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Frankfurt a. M. 1975, S. 45. Die Tendenzhaftigkeit des Erinnerns, ebenso wie die Tatsache, daß es lückenhaft ist, verwischt nach Auffassung einiger Autobiographen die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeitsaussage. So ist z. B. für Uja Erenburg das Erinnern derjenige Bereich, der dem Eindringen fiktionaler Darstellungsweisen innerhalb autobiographischer Werke besonders Vorschub leistet. Vgl. dazu: Erenburg in: Ljudi, gody, zizn' (Menschen, Jahre, Leben). In: Novyj mir (Neue Welt) 1960, Nr. 8, S.26. Näheres zum Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeitsaussage bei: Müller, Klaus-Detlef: Autobiographie . . . S. 57ff., sowie in den typologischen und historischen Ausführungen zur erzählenden Autobiographie in dieser Arbeit.

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Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Übers, a. d. Franz. Berlin 1966. Mukarovsky geht es dabei vor allem um die Verankerung literarischer Strukturen im Kollektivbewußtsein, ohne die literarische Kommunikation nicht möglich ist. Vgl. dazu: Pojem celku v teorii umeni (Der Begriff des Ganzen in der Kunsttheorie). In: Mukarovsky, Jan: Cestami poetika a estetiky (Auf den Wegen der Poetik und Ästhetik). Praha 1971, S.92ff. Misch: Geschichte . . . Bd. IV, S. 763. »Kleine Züge aus einer Zeit, die der Geschichte angehört, zu retten, ist die Aufgabe des Memoirenschreibers.« Erinnerungen von Willibald Alexis. Berlin 1900, S. 51. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt a. M. 1970. Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 543/544.

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bewußter Vernachlässigung der eigenen Person, aber aus der Perspektive des unmittelbar an ihr Beteiligten darstellen und analysieren. Persönliche Erfahrungen, z. B. aus Jugend und Kindheit, werden zugunsten von Kollektiverfahrungen sprachlich artikuliert; ein wichtiger sprachlicher Indikator dafür ist in solchen Texten oder Textpassagen der Dominanzwechsel von der l.Pers. Singular zur l.Pers. Plural. 46 In diesem Zusammenhang muß noch einmal auf das oben erwähnte Phänomen der »Intertextualität« verwiesen werden. Die Erinnerung des Autobiographen gilt ja nicht nur Handlungen und Ereignissen, sondern auch Texten der Vergangenheit, die von ähnlich gearteten propositionalen Gehalten geprägt sind. Wenn Goethe in >Dichtung und Wahrheit< die Stunde seiner Geburt im Rahmen einer astrologisch interessanten Konstellation wiedergibt, dann erweist er sich in gleicher Weise als (sich erinnernder) Leser autobiographischer Texte (in diesem Falle von Cardanos Autobiographie), wie sich ein halbes Jahrhundert später Eichendorff oder Stieglitz auf Grund der Gestaltung ihrer Geburtsstunde als Leser von >Dichtung und Wahrheit< zu erkennen geben werden. Und selbst dort, wo diese erinnerten Texte nicht so bewußt in die eigene Autobiographie integriert werden, enthalten gerade autobiographische Texte »Spuren« 47 der Aneignung fremder autobiographischer Texte, fremder Rede. 48 Die Berufungen auf die Erinnerung dienen nun nicht allein dem Nachweis der Aufrichtigkeit des Schreibenden und der Wahrheit des von diesem Behaupteten, sondern auch dem Verweis auf eine im Text ausgearbeitete Relation Autor — Rezipient. Sie sind von den Autoren nämlich auch als Rechtfertigungsmittel gegenüber möglichen Rezipienten hinsichtlich Auswahl und Strukturierung vergangener Sachverhalte, Ereignisse und Handlungen gedacht. Sehr viele Autoren autobiographischer Texte fürchten den Vorwurf, die präsentierten Fakten falsch ausgewählt und subjektiv, zu einseitig interpretiert zu haben. Beides ist allerdings nicht nur ein Problem autobiographischer Darstellung, sondern jeder Form von Geschichtsschreibung. Spätestens seit Droysens Kritik an der historistischen Geschichtsschreibung und vornehmlich ihrem Bemühen, mit Hilfe fiktionalisierender Darstellungsprinzipien die Existenz in sich abgeschlossener und eigenwer-

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Näheres dazu im Kapitel über die berichtende deutsche Autobiographie im 19. Jahrhundert. Zu diesem Begriff vgl.: Derrida, Jaques: D e la grammatologie. Paris 1967, S. 68. Der Aspekt >Intertextualität< verdiente eine gesonderte Behandlung, die jedoch den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Zum Problem eines >Dialogs der Texte< vgl. u . a . : Schmid, W. / Stempel, W. D . (Hrsg.): Dialog der Texte: Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 11. Wien 1983.

t i g e r E p o c h e n z u d o k u m e n t i e r e n , ist u n b e s t r i t t e n , d a ß a u c h i m B e r e i c h d e s historischen E r z ä h l e n s und der H i s t o r i o g r a p h i e nicht v o n einer reinen A b bildung v o n Vergangenem gesprochen werden kann. Rankes

vielzitierter

A n s p r u c h , als H i s t o r i o g r a p h G e s c h e h e n e s s o z u v e r m i t t e l n , >wie es e i g e n t lich g e w e s e n < , 4 9 ist s c h o n l a n g e als u n d u r c h f ü h r b a r e s A n s i n n e n

erkannt

w o r d e n . J e d e W i e d e r g a b e v o n G e s c h e h e n e m ist d e s h a l b s c h o n s t r u k t u r i e r t , besitzt »eine d e n Ereignissen unterlegte S t r u k t u r . . . « ,

wie A . C . D a n t o

sagt, » d i e einige v o n i h n e n m i t a n d e r e n g r u p p i e r t , einige a n d e r e w i e d e r u m a u s s o n d e r t , w e i l es i h n e n an R e l e v a n z m a n g e l t . « 5 0 D i e P r i n z i p i e n d i e s e r S t r u k t u r i e r u n g h a t D a n t o in v i e r » S i g n i f i k a n z e n « 5 1 z u s a m m e n g e s t e l l t ,

um

darauf

be-

zu

verweisen,

daß

ein H i s t o r i k e r ,

ob

er n u n

erzählt

oder

s c h r e i b t , 5 2 i m m e r m e h r u n d a n d e r e s als das e i g e n t l i c h e G e s c h e h e n a u s s a g t . 5 3 E r g e h t freilich d a b e i n i c h t s o w e i t , diese P r i n z i p i e n a u c h v o n p r a g m a t i s c h e n F a k t o r e n h e r z u d e f i n i e r e n ; 5 4 ein M a n g e l , d e n a u c h die e m p i r i s c h e 5 5

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Ranke,

Leopold v . :

Geschichte

der lateinischen

und germanischen

Nationen

von 1494—1514. Zum Ideal der rein objektiven Darstellung in der Historiographie des Historismus vgl. auch Rankes briefliche Äußerung vom 26. 1 1 . 1 8 5 9 , gemäß der das schreibende Subjekt »als Organ des O b j e k t s « anzusehen ist. In: Ranke, L e o pold v.: Das Briefwerk. Eingel. u. hrsg. v. Walter Peter Fuchs. Hamburg 1949, S. 432. 50

D a n t o , A r t h u r C . : Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt a. M . 1974, S. 215.

51

D a n t o : Analytische Philosophie . . . S . 2 1 1 ff.

52

D a n t o : Analytische Philosophie . . . S. 2 3 0 f f .

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V o n einem anderen Ansatz, nämlich dem des Strukturalismus französischer Provenienz, k o m m t Tzvetan T o d o r o v zu einer ähnlich klingenden Formulierung: »Man verbalisiert nicht ungestraft; die Dinge nennen heißt, sie verändern«. T o d o r o v , Tzvetan: Poetik der Prosa. Frankfurt a. M. 1972, S. 102.

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Eine von D a n t o nicht sehr weit entfernte Position hinsichtlich dieses Verhältnisses von Geschehenem und seiner sprachlichen Präsentation vertritt R . Koselleck, der darauf aufmerksam gemacht hat, daß für die Darstellung historischer Strukturen ein Instrumentarium historischer Begriffe erforderlich ist, mittels dessen »typische A b läufe« von Ereignissen und Handlungen erst darstellbar und begreifbar werden. Koselleck, Reinhart: Ereignis und Struktur. In: Geschichte — Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik V), S. 568.

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I m Gegensatz zu strukturalistischen Arbeiten (Propp, T o d o r o v u . a . ) berühren solche wichtigen Beiträge wie die von Labov / Waletzky und Labov / Fanshel die pragmatische Dimension wenigstens insofern, als sie bei ihren Analysen mündlichen Erzählens nicht nur dessen referentielle, sondern auch dessen evaluative Funktion berücksichtigen. Vgl. dazu: Labov, William / Waletzky, J o s h u a : Erzählanalyse. Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung. In: Ihwe, J e n s ( H r s g . ) : Literaturwissenschaft und Linguistik. Frankfurt a. M . 1973. Bd. 2, S. 78 —126. Labov, William / Fanshel, David: Therapeutic D I S C O U R S E , Psychotherapy as conversation. N e w Y o r k 1977.

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und strukturalistische Erzählforschung russischer 56 und vor allem französischer Provenienz 57 erkennen läßt. Gerade nun die Gattung >Autobiographie< ist ein überzeugendes Beispiel dafür, daß pragmatische Faktoren außerordentlich relevant für die Auswahl und Strukturierung vergangener Sachverhalte, Ereignisse und Handlungen sind und deshalb bei Erzählanalysen berücksichtigt werden müssen. Autobiographien lassen in vielfältiger Weise erkennen, daß die Autoren mit ihrer Hilfe auf frühere Handlungen anderer Personen und Institutionen reagieren oder deren zukünftige Handlungen und die dazu erforderlichen kognitiven, emotionalen und sozialen Voraussetzungen zu antizipieren suchen. Ein äußerliches Zeichen für diese die Textstruktur prägende dialogische Orientierung ist die häufig begegnende Adressatenbezeichnung. Die Skala der Adressaten reicht dabei von der Einzelperson — z. B. Ehefrau (Gervinus) oder Sohn (Thomas Platter) — über die gesellschaftliche Kleingruppe wie die Familie (Carl A. Kortum), bestimmte gesellschaftliche Verbände wie religiöse Gemeinschaft oder Berufsstand (Johann Ph. Hagen) bis zur politischen (Daniel Huber) oder literarischen Öffentlichkeit (Johann Wolfgang Goethe), ja — wie in den >Confessions< Rousseaus — bis zur gesamten Menschheit. In vielen Fällen werden dabei die Adressaten der Texte als deren Initiatoren vorgestellt, beispielsweise gilt das für die Autobiographie Grillparzers. Uber die Art der kommunikativen Handlung sagt die explizite Benennung des Adressaten freilich nur wenig aus, da diese in den seltensten Fällen echte Dialogpartner für den Autobiographen sind. Wesentlich relevanter für den Handlungscharakter des Textes und damit für die Textstruktur ist das Verhältnis Autor — Leser dann, wenn dem Autor nicht nur eine konkrete Lesergestalt, sondern eine abstrakte Leserinstanz gegenübergestellt wird. >Abstrakt< hier nicht verstanden als »impli56

57

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Ausgangspunkt für die strukturalistischen Bemühungen um die Gewinnung und Beschreibung grundlegender Erzählstrukturen sind bekanntlich die Arbeiten Vladimir Propps, insbesondre die frühe Studie zur Morphologie des Märchens. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. München 1972. Diese ohne Propps Vorarbeiten nicht denkbaren Beiträge von Todorov, Barthes, Bremond u. a. (Zur Unterscheidung: Vgl. Gülich, Elisabeth / Raible, Wolfgang: Linguistische Textmodelle, S. 1 9 5 - 2 5 0 ) erarbeiteten von einem deduktiv orientierten methodologischen Ansatz her Beschreibungsmodelle, die auf der Hypothese gründen, daß in narrativen Texten eine bestimmte Anzahl invarianter Elemente nach bestimmten Regeln zur erzählten Handlung formiert wird. Diese Modelle und Analyseverfahren sind trotz gegenteiliger Behauptung ihrer Urheber (Bremond will sie z. B. auf alles Erzählte anwenden) nur auf Kurz- oder Teiltexte anwendbar und für Strukturbeschreibungen größerer Texte wie z. B. Autobiographien gänzlich ungeeignet.

ziter Leser« im Sinne des in den Text eingezeichneten Leseaktes (Iser), sondern im Sinne einer vom Autor antizipierten und explizit formulierten Leserrolle (der geneigte Leser, der sich erbauende, der sich unterhaltende Leser u.a.), die übrigens oft in Anlehnung an Gepflogenheiten innerhalb der literarischen Reihe formuliert wird (z.B. im 18.Jahrhundert häufig in Anlehnung an den Roman). Mit dem Entwurf eines solchen Rollenverhaltens artikuliert der Autor nicht allein die mit seinem Schreiben verbundenen Intentionen. 58 Vielmehr definiert er mit Hilfe der entworfenen Leserinstanz seine eigene Rolle als erbauender Autor, als unterhaltender Autor etc. Er bringt (angebliche) Bedürfnisse, Erwartungen und Interessen eines bestimmten Publikums zur Sprache und rechtfertigt auf diese Weise Umfang und Art seines autobiographischen Sprechens. Besonders häufig begegnet diese Argumentation in erzählenden Autobiographien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dieses Schreiben in Rücksicht auf den Leser entlastet den Autobiographen außerdem hinsichtlich antizipierter Vorwürfe der Eitelkeit, Selbstsucht und Falschaussage. Von solchen Rechtfertigungsstrategien war schon bei der Erörterung der Erinnerungsproblematik gesprochen worden; 59 sie belegen einmal mehr, daß die Selbstdefinition der Autobiographen in hohem Maße vom Urteil potentieller Kommunikationspartner abhängig sein kann. Antizipiert werden häufig negative Folgehandlungen der Leser. Zur Gattung >Autobiographie< gehört offensichtlich die Antizipation einer negativen Reaktion des bzw. der Rezipienten einem solchen Text gegenüber, dem Goethe sicher nicht zuletzt aus diesem Grunde bescheinigte, daß

s8

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Sie entsprechen damit demjenigen, was H a b e r m a s z u m dramaturgischen Handeln rechnet: »Der Begriff des dramaturgischen H a n d e l n s bezieht sich primär weder auf den einsamen A k t o r noch auf das Mitglied einer sozialen G r u p p e , sondern auf Interaktionsteilnehmer, die füreinander ein Publikum bilden, vor dessen Augen sie sich darstellen. D e r A k t o r r u f t in seinem Publikum ein bestimmtes Bild, einen Eindruck von sich selbst hervor, indem er seine Subjektivität mehr oder weniger gezielt enthüllt. Jeder H a n d e l n d e kann den öffentlichen Zugang zur Sphäre seiner eigenen Absichten, Gedanken, Einstellungen, Wünsche, G e f ü h l e usw., zu der n u r er einen privilegierten Zugang hat, kontrollieren . . . D e r zentrale Begriff der Selbstrepräsentation bedeutet deshalb nicht ein spontanes Ausdrucksverhalten, sondern die z u schauerbezogene Stilisierung des Ausdrucks eigener Erlebnisse.« ( H e r v o r h e b u n g e n im Original). H a b e r m a s : Theorie des kommunikativen H a n d e l n , Bd. 1: H a n d lungsrationalität u n d gesellschaftliche Rationalisierung. F r a n k f u r t a. M. 1981, S. 128. In Bezug auf das Problem der Falschaussage geht es dabei vor allem um Strategien des Autors, beim Leser glaubwürdig zu erscheinen, ein P h ä n o m e n , das seit geraumer Zeit auch die Erzähltheorie beschäftigt (z. B. in den Passagen über »reliable« und »unreliable narrators« bei W a y n e C . B o o t h : The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961, S. 158 ff.).

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er >in besondrem Maße einer Vorrede bedarfAutobiographie< als auch den in ihr präsentierten Handlungen aus der Vergangenheit des Autors. Das bedeutet, daß die Rechtfertigung des Autobiographen auch beide Handlungsbereiche betrifft. Eine solche Leserrolle entwerfen auch diejenigen Textpassagen, in denen sich der Autobiograph explizit und sehr nachdrücklich negativen Wertungen unterwirft bzw. solche Wertungen erstmals in Bezug auf die eigene Person formuliert. 61 Dies begegnet nicht nur in religiösen Bekenntnisautobiographien älteren Datums, sondern auch in neuzeitlichen Autobiographien; Rousseaus >Confessions< sind das bekannteste Beispiel dafür. Die schon hyperbolisch zu nennende negative Prädikation des eigenen Ich soll den intendierten Leser nicht zur Zustimmung, sondern zu einer Gegenreaktion provozieren, zu einer positivierenden Richtigstellung. Diese Aussageform und das sie begründende Kommunikationsverhältnis stellt eine säkularisierende Übernahme des religiöse Bekenntnisse prägenden GottMensch-Verhältnisses dar. So wie sich der religiös Bekennende vor Gott rückhaltlos offenbart, um von diesem angenommen zu werden, so versucht der solche Aussageformen verwendende Autobiograph seine Absolution vom potentiellen Rezipienten zu erzwingen. Somit sind die selbstanklägerischen Passagen in Autobiographien durchaus nicht immer als besonders deutliche Merkmale der Aufrichtigkeit des Autors zu interpretieren, sondern als gezielter Einsatz sprachlicher Mittel zur Beeinflussung des Lesers. Die Geschichte der Gattung läßt übrigens erkennen, daß dies den Rezipienten der von solchen Intentionen geprägten Autobiographien durchaus bewußt war. Die negative Rezeption der >Confessions< von Rousseau gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland gründet z. B. in der oft expliziten Weigerung der Leser, sich einer solchen Strategie zu unterwerfen. Aussagekräftig in Bezug auf den Handlungscharakter autobiographischer Texte sind explizite Angaben zu Adressat und Rezipient freilich erst in Verbindung mit impliziten Indikatoren, welche die erwähnte pragmati-

60

G o e t h e s W e r k e . H r s g . im A u f t r a g e der G r o ß h e r z o g i n S o p h i e v o n Sachsen. W e i m a r

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H i e r v o n z u unterscheiden ist die als T o p o s v e r w e n d e t e negative P r ä d i k a t i o n des ge-

1 8 8 7 - 1 9 1 9 , 1. A b t . B d . 26, S. 3. samten L e b e n s , die in m a n c h e n mittelalterlichen A u t o b i o g r a p h i e n b e g e g n e t : » N u n c de vana et stulta vita m e a v o b i s scribere c u p i o , ac de e x o r d i o transitur mei m u n d a n i , ut cedere v o b i s valeant in e x e m p l u m ( N u n will ich euch v o n m e i n e m nichtigen u n d eitlen L e b e n schreiben und v o m B e g i n n meines irdischen D a s e i n s , damit es E u c h als Beispiel diene.)« Vita C a r o l i Q u a r t i ( D i e A u t o b i o g r a p h i e K a r l s IV). E i n f ü h r u n g , U b e r s e t z u n g u n d K o m m e n t a r v. E u g e n H i l l e b r a n d . M ü n c h e n 1979, S. 80/81.

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sehe Präsupponierung, also die Urteile und Annahmen des Autors über das Wissen und die Interessen dieser Adressaten bzw. Rezipienten, betreffen. Einer dieser Indikatoren ist bekanntermaßen Art und Ausmaß der dargestellten Handlungen und Ereignisse aus der Vergangenheit des Autors. So kann eine Fülle von Leerstellen, 6 2 Zeitraffungen oder Andeutungen nicht nur, wie bislang meist geschehen, auf ein mangelndes Erinnerungsvermögen des Autobiographen zurückgeführt, sondern als Indiz dafür gewertet werden, daß der Autor von einem umfassenden Wissen oder aber von mangelndem Interesse des Lesers in Bezug auf die Lebensgeschichte ausgeht; die ausführliche Behandlung von Nebensächlichkeiten und >Merkwürdigem< entspringt vielleicht der Antizipation bestimmter Unterhaltungsbedürfnisse seitens des Lesers; schließlich dürfen stets dann bestimmte soziale oder literarische Gruppierungen als speziell anvisierte Rezipienten vermutet werden, wenn die autobiographische Darstellung auffällig intensiv auf einzelne Lebensphasen, thematisch oder zeitlich eingegrenzte Gegenstandsbereiche konzentriert ist. Beispielhaft dafür sind die von einem starken sozialpolitischen Interesse geprägten >Kindheitsautobiographien< seit dem Erscheinen des >Anton Reiser< oder der B o o m der Künstlerautobiographien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In diesen Fällen verweist die Art der Faktenauswahl und die Art der u. a. daraus resultierenden Textstruktur sowohl auf bestimmte Interessen seitens des Autors 6 3 als auch auf bestimmte Erwartungen seitens der antizipierten Leserschaft. Auswahl, Strukturierung und Wertung sind somit nicht allein dem Interpretationsvermögen des Autors zuzurechnen, 6 4 sondern auch Rücksichten gegenüber seinem Publikum, gegenüber Institutionen wie der Zensur 6 5 und, was besonders wichtig ist, gegenüber gewissen Personen. Es gibt im Bereich autobiographischer Literatur eine Vielzahl von Beispielen dafür, daß Autoren aus solchen Gründen wesentliche Phasen ihres vergangenen Lebens verkürzt oder überhaupt nicht dargestellt haben; in einigen 62

Leerstellen freilich nicht im Sinne der Definition Isers als Unbestimmtheitssignale, die eine aktive schöpferische Rezeption erst ermöglichen und zugleich vorschnelle und zu eindeutige Sinnzuweisungen verhindern, sondern als Markierungspunkte einer weitgehenden Ubereinstimmung zwischen Autor und intendiertem Leser.

63

In autobiographischen Texten zeigt sich das u. a. in der Ausrichtung der Zeit-Deixis des dargestellten Ich auf gewichtige historische Ereignisse. So korreliert J . Chr. Weiße den Zeitpunkt der eigenen Geburt mit der Friedrichs II. von Preußen und der Frankfurter Revolutionär und Abenteurer Joh. K . Friedrich läßt sein bewegtes Leben auf die Stunde genau mit dem Zeitpunkt beginnen, an dem in Paris mit der Erstürmung der Bastille die Französische Revolution begann.

64

Vgl. dazu: Müller: Autobiographie . . . S. 62/63. So sind während der Stalinära in der Sowjetunion bemerkenswert wenige Autobiographien erschienen.

65

51

Fällen waren sie für eine erhebliche Verzögerung der Textproduktion verantwortlich. Bekanntlich sind solche Rücksichten auf Lili v. Ketteier geb. Schönemann einer von mehreren Gründen, die Goethe dazu bewogen haben, den vierten Teil von >Dichtung und Wahrheit< fast 20 Jahre nach Erscheinen des dritten zu schreiben und herauszugeben. Ahnlich indirekt zeigt sich diese Berücksichtigung der Leserinstanz in der Rede des Autors auch an demjenigen sprachlichen Phänomen, das im Rahmen der Bachtin-Erörterung in Kapitel 2.1.2. als das »aktive zweistimmige Wort« vorgestellt worden war. 66 Bachtin meint damit ein Sprechen, das durch das Antizipieren möglicher Hörerreaktionen oder durch die partielle Reproduktion der vergangenen Rede eines Interaktionspartners mitbestimmt und z. B. polemisch >gefärbt< ist. Auch dieses Angestecktsein durch die Rede anderer begegnet freilich nicht in allen Autobiographien, sondern vor allem in solchen, die offentsichtlich auf bestimmte, eingegrenzte Rezipientengruppen bezogen sind — etwa in denen von Schubart, Edelmann oder Gogol'. Ebenso wie die Markierung der Schreibsituation oder die Formulierung der Wahrheits- bzw. Aufrichtigkeitsbeteuerung läßt also auch die in autobiographische Texte »eingeschriebene« 67 Beziehung des Autors zu einem möglichen Rezipienten graduelle Unterschiede erkennen. Das >Handeln mit Hilfe der eigenen Vergangenheit kann offensichtlich auf recht verschiedene Weise geschehen. Dieser verschiedenartigen Handlungsbezogenheit autobiographischer Texte korrespondiert die am Beispiel der Gervinus-Vorrede gezeigte Praxis der Handlungsbenennung innerhalb solcher Texte. Wenn Gervinus davon spricht, daß er >nicht mit einer Beichte prunken, sondern plan erzählen wollekonstativen< Sprechsituation geprägt ist. Klaus W. Hempfer: Zur pragmatischen Fundierung der Texttypologie. In: Hinck: Textsortenlehre — Gattungsgeschichte. S. 14ff. 53

4.

Typen der Autobiographie — Ansätze zu einer Gattungsdifferenzierung

4.1. Methodische Reflexion Die im folgenden vorzustellende Typologie differenziert den Bereich autobiographischer Texte in Bezug auf ihnen zugrundeliegende sprachliche Handlungen. Das erfordert eine kurze Reflexion über die methodologische Funktion und den logischen Status von Typenbegriffen, die für einen solchen Typologisierungsversuch relevant sein können. 1 Besonders wichtig in diesem Zusammenhang sind zwei Ordnungsverfahren, die, in Wissenschaftstheorie und in Einzelwissenschaften nicht immer hinreichend auseinandergehalten, 2 als »klassifikatorisch« und »ordnend« 3 bekannt geworden sind. Die klassifikatorische Methode teilt die Menge der zu untersuchenden Objekte in zwei disjunkte Teilmengen: zur einen gehören die Gegenstände, die eine relevante Eigenschaft besitzen, zur anderen diejenigen, die sie nicht besitzen. 4 Eine solche Einteilung in disjunkte Klassen im Sinne eines >entweder — oder< ist jedoch im Rahmen des hier vorzunehmenden Differenzierungsverfahrens nicht durchführbar. Schon die einfachen klassifikatorischen Grup1

Zum Problem der erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Fundierung von Typologisierungsverfahren kann im Rahmen dieser Arbeit nicht Stellung genommen werden. Vgl. dazu: Gutenberg, N o r b e r t : Formen des Sprechens. Gegenstandskonstitution und Methodologie von Gesprächs- und Redetypologie in Sprach- und Sprechwissenschaft. Göppingen 1981. Bes. Kap. III, 2 und 3.

2

Vgl. dazu: Best, Karl-Heinz: Rezension zu: Greenberg, J o s e p h : Language T y p o logy: A historical and analytic overview. Den H a a g — Paris 1974. In: Historiographia linguistica 1976, S. 2 3 5 - 2 4 7 . Hempel, Carl / Oppenheim, Paul: Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik. Leiden 1936. Hempel, Carl: Typologische Methoden in den Sozialwissenschaften. Ubers, v. J . Strötgen. In: Topitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften. Köln 1971, S. 8 5 - 1 0 3 . Stegmüller, Wolfgang: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Bd. II: Theorie und Erfahrung. Berlin / Heidelberg / N e w York 1970. S. 19 ff. Pawlowski, Tadeusz: Methodologische Probleme in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Aus d. Polnischen übersetzt v. G . G r z y b . Warszawa 1975, S. 14.

3

4

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pierungen von Sprechakten bei Austin, 5 Habermas 6 u. a. sind insofern problematisch, als sie dem komplexen Charakter sprachlicher Handlungen nicht gerecht werden; Ballmer hat dies am Beispiel der Searleschen Klassifikation sehr deutlich zeigen können. 7 Darüber hinaus jedoch sind klassifikatorische Verfahren im Rahmen des hier versuchten Gruppierungsversuches komplexer Texte deshalb nicht anwendbar, weil es sich um Untersuchungsgegenstände handelt, deren für eine Gruppierung relevante Eigenschaften eine simple klassifikatorische Einteilung nicht zulassen. Selbst wenn man Ballmers Skepsis gegenüber Sprechaktklassifikationen nicht teilt, kann man autobiographische Texte nicht als ganze bestimmten Klassen von Sprechhandlungen im Sinne eines >entweder — oder< strikt zuordnen. Dazu ist ihre kommunikative Struktur zu komplex. Deshalb ist es angemessener, für ihre Einteilung sogenannte typologische Ordnungsverfahren und Ordnungsbegriffe zu verwenden. Diese besitzen insofern eine andere logische Struktur und eine andere methodologische Funktion, als sie den Gegenstandsbereich der Typologisierung nicht in disjunkte Klassen, sondern komparativ von einer bestimmten Rangordnung her einzuteilen erlauben; nicht das >entweder — odermehr oder minder< bestimmt hier die Einteilung. Ein solches Verfahren erlaubt Vergleiche verschiedener Gegenstände hinsichtlich des Intensitätsgrades einer ihnen zukommenden Eigenschaft ebenso wie die Untersuchung ihrer Veränderung, 8 was z . B . für den historisch wie systematisch orientierten Vergleich erzählender Autobiographien sehr wichtig ist. Der für dieses Ordnungsverfahren zentrale Typologiebegriff ist der des »extremen« oder des »reinen« Typus, der »in der konkreten Realität nur selten, wenn überhaupt, anzutreffen« ist. 9 Das mittels solcher Extremtypen betriebene Gruppierungsverfahren arbeitet mit zwei Extremtypen als »Polen«, »zwischen denen alle in der Wirklichkeit vorkommenden Phänomene in einer Reihe eingeordnet werden können«. 1 0 Die Einzelphänomene werden durch den Grad der Annäherung an den einen oder den anderen >Pol< typologisiert, so wie z. B. die Härte eines Minerals innerhalb einer Skala bestimmt wird. Eine besonders bekannte Variante dieses Typologiebegriffes ist der »Idealtypus« Max Webers. Als eine gedankliche Konstruktion, die »durch 5 6 7

8 9 10

Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 166—179. Habermas: Vorbereitende Bemerkungen . . . S. 109—114. Ballmer, Th. T . : Probleme der Klassifikation von Sprechakten. In: Grewendorf, Günther, (Hrsg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt a. M. 1979, S. 2 4 7 - 2 7 4 . Hempel: Typologische Methoden . . . S. 87ff. Hempel: Typologische Methoden . . . S. 87. Hempel: Typologische Methoden . . . S. 87.

55

einseitige Steigerung

eines oder einiger

Gesichtspunkte und durch Z u s a m -

menschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen £¿«ze/erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenb\\át«u

gewonnen wird, ähnelt der Idealtypus dem E x t r e m -

typus Hempelscher Prägung in Bezug auf die A r t der Begriffsbildung, 1 2 den logischen Status und die methodologische Funktion. Ahnlich dem Hempelschen E x t r e m t y p u s ist auch der Idealtypus ein Grenzbegriff, mit dem konkrete Phänomene näherungsweise verglichen werden können, um ihre wichtigsten Merkmale herauszuarbeiten. I m G e gensatz z u m E x t r e m t y p u s fehlt ihm jedoch die Aufspaltung in zwei extrem voneinander entfernte Pole, von denen der eine durch das minimale und der andere durch das maximale Vorhandensein der berücksichtigten Eigenschaften ausgezeichnet ist. 1 3 11

12

13

56

Weber: Methodologische Schriften, S. 43 (Hervorhebungen im Original). Dieser Begriff ist zum Gegenstand umfangreicher Untersuchungen und eingehender wissenschaftstheoretischer Diskussionen geworden. Vgl. dazu: Henrich, Dieter: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers. Tübingen 1952. Oppenheimer, Paul: Die Logik der soziologischen Begriffsbildung mit besonderer Berücksichtigung von Max Weber. Tübingen 1925. Janoska-Bendl, J . : Methodologische Aspekte des Idealtypus. Max Weber und die Soziologie der Geschichte. Berlin 1965. Auch zum Problem der Begriffsverwendung und Begriffsbildung müssen hier nur wenige Hinweise genügen. Der Begriff >Typus< wird immer wieder viel zu wenig von dem Begriff >Klasse< unterschieden (vgl. Best: Rezension . . . S. 236ff.). Besonders ungenau wird er im Bereich der linguistischen Pragmatik verwendet, wo er u. a. mit >Handlungsnorm< oder >Handlungsschema< äquivok verwendet wird (z. B. Sandig, Barbara: Sprachnorm spontan gesprochener Sprachen. In: Lotzmann, G. [Hrsg.]: Das Gespräch in Erziehung und Behandlung. Heidelberg 1973, S. 23.). Hinsichtlich der Begriffsbildung ist vor allem auf zwei Möglichkeiten zu verweisen: Wissenschaftstheoretische Konstruktionen oder dem >Alltagswissen< (Schütz, A.: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Frankfurt a. M. 1974) entzogene Abstraktion. Zu diesem Verhältnis von heuristisch und substantiell begründeter Typenbildung siehe auch: Gutenberg: Formen des Sprechens, S. 237ff. Die hier betriebene Typologisierung geht davon aus, daß sich der Autobiograph beim Schreiben mehr oder minder bewußt an Sprechhandlungen orientiert (siehe Gervinus' Autobiographie). Mit Hilfe der Sprechakttheorie werden die für diese Orientierung relevanten Kriterien genauer bestimmt; das >Alltagswissen< wird also auf einen theoretischen Bezugsrahmen ausgerichtet. Zum weiteren Verlauf der Bildung des >Idealtypus« siehe S. 57. Zu verweisen in diesem Zusammenhang ist auf Ausführungen Hempfers in seiner >Gattungstheorie. Information und SyntheseGedankenbildes< geschieht hier nämlich in der Weise, daß mit Hilfe der aus beiden Bereichen gewonnenen Kriterien die wesentlichen Merkmale der zu gewinnenden Typen bestimmt werden. U m diese Merkmale besonders zu akzentuieren, wird dabei von in der Realität immer vorhandenen unpassenden oder gar gegenläufigen Tendenzen bewußt abgesehen (in der Terminologie von Watkins, der die zwei nacheinander entstandenen Konzeptionen Webers zum Idealtypus genauer analysiert hat, nicht ein >individualistischerholistischer< Idealtypus.). 1 5 Durch die Steigerung der wesentlichen und durch Selektion der weniger relevanten Eigenschaften« werden die Idealtypen der bekennenden, erzählenden und berichtenden Autobiographie erstellt. Die einzelnen konkreten autobiographischen Texte aus der Zeit zwischen 1700 und 1870 werden dann im Hinblick auf den Grad der Annäherung an diese >reine Form< untersucht. Von daher sei abschließend nochmals hervorgehoben, daß hier nicht klassifikatorisches und ordnendes Typologisierungsverfahren vermischt werden: Die Typen der bekennenden, erzählenden und berichtenden Autobiographie sind >Ordnungstypenentweder — oder< zugeordnet — dazu wäre die Basis der Sprechakttheorie, wie sie sich bislang präsentiert, auch viel zu klein —, sondern durch den Grad der Annäherung an sie bestimmt und geordnet. Nicht Subsumption, sondern Zuordnung ist das hier relevante methodische Verfahren.

4.2. Bekennen — Erzählen — Berichten. Zur sprachpragmatischen Bestimmung von drei Sprechhandlungen Die für die vorzunehmende Typologisierung autobiographischer Texte relevanten Sprechhandlungen >BekennenErzählen< und >Berichten< können 14

Hempel spricht allerdings dem Idealtypus auf Grund dieser und anderer Verschiedenheiten eine andere methodologische Funktion zu, nämlich die der Erklärung sozialer und historischer Phänomene: die typologisierende Funktion dieses Begriffes wird dabei in den Hintergrund gedrängt, weil sie schwächer bewertet wird (Hempel: Typologische Methoden . . . S. 90ff.).

15

Watkins, J . W. N . : Idealtypen und historische Erklärung. In: Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften. Hrsg. v. Hans Albert. Tübingen 2 1972, S. 332 ff.

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im Hinblick auf zwei Gemeinsamkeiten zunächst als eine Teilklasse von Sprechhandlungen angesehen werden: 1. formulieren alle drei genannten Sprechhandlungen Sachverhalte in Aussagesätzen, 2. gelten für sie — wenn auch graduell verschieden — Kriterien, die für eine Bestimmung der Sprechhandlung >Behaupten< unerläßlich sind. 1 6 Wenn ein Sachverhalt >erzähltberichtet< oder >bekannt< wird, so schließt dies jedenfalls auch immer ein, daß das Bestehen des Sachverhaltes behauptet wird. Deshalb ist es sinnvoll, eine erste Bestimmung der genannten Sprechhandlungen im Rahmen einer Beschreibung der Sprechhandlung >Be~ haupten< vorzunehmen. Von besonderer Relevanz für diese Beschreibung ist dabei offensichtlich die Berücksichtigung des Wahrheitsanspruches. Für das Gelingen der Sprechhandlung >Behaupten< ist es grundlegend wichtig, daß das in der Proposition Ausgesagte vom Sprecher für wahr gehalten wird. Behaupten ist nicht allein ein Akt der Informationsübermittlung, sondern auch ein Akt der Anerkennung der Wahrheit des übermittelten Sachverhalts. 1 7 Der Anspruch auf Wahrheit ist somit ein wesentliches Merkmal dieser Sprechhandlung und unterscheidet sie von solchen des Fragens, Versprechens etc. 1 8 Der Behauptende muß bereit sein, das von ihm Behauptete auf Verlangen der Kommunikationspartner zu verteidigen, und deshalb auch bereit sein, einer Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der von ihm aufgestellten Behauptung zuzustimmen. 1 9 Nach Auffassung Kambartels gehört dabei zur Verteidigungspflicht auch die »Worterläuterungspflicht«, 2 0 d. h. die Pflicht, gegebenenfalls die verwendeten Wort- und Satzzeichen bzw. die Art ihrer Verwendung zu erläutern. Verbunden mit der Verteidigungspflicht ist der Anspruch der Kommunikationspartner an den Sprecher, die sich aus der be" Weder Austin noch Searle haben den Behauptungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Grund für diese Vernachlässigung ist sicher darin zu suchen, daß dieser Sprechakt den Handlungscharakter nicht so deutlich zu erkennen gibt wie die von Austin, Searle und anderen Sprechakttheoretikern so häufig bemühten Akte des Warnens, Versprechens, Fragens, Aufforderns etc. Zur sprachwissenschaftlichen Diskussion dieses Defizits vgl. Maas / Wunderlich: Pragmatik und sprachliches Handeln, S. 224 und (als Antwort auf deren Ausführungen zum Verhältnis von Behauptung und Frage): Huth, Lutz: Behauptungen als Sprechhandlungen? In: Ehrich / Finke: Beiträge . . . S. 206. Huth hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf verwiesen, daß von einer solchen, auf den Handlungszusammenhang bezogenen Bestimmung keine eindeutige Definition der Sprechhandlung >Behaupten< möglich ist. 17 Searle: Speech Acts. . . . S. 29. 18 Gabriel, Gottfried: Was sind Behauptungen? Ein Beitrag zur Argumentationslehre. In: D U 28, 1976, H . 4, S. 6. 19 Kambartel, Friedrich: Was ist und soll Philosophie? Konstanz 1968, S. 9. 2 0 Kambartel: Was ist und soll Philosophie? S. 10/11.

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haupteten Sprechhandlung ergebenden Konsequenzen zu tragen. In Bezug auf das von Kambartel so betonte Kriterium der Uberprüfbarkeit des Wahrheitsgehaltes einer Äußerung muß freilich — gerade im Blick auf autobiographische Texte — eine gewichtige Einschränkung gemacht werden. Autobiographische Aussagen, die Sachverhalte vermitteln, welche häufig nur dem Autor bekannt sind, allein dessen Denken und Erleben betreffen, können schwerlich von Kommunikationspartnern auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden; schließlich werden ihnen diese Sachverhalte erst durch den Autobiographen bekannt gemacht. Diese Merkmale behauptenden genannten drei Sprechhandlungen dies jedoch in jeweils verschieden ihnen ergeben sich vor allem dann, terien miteinander vergleicht:

Sprechens gelten prinzipiell auch für die >BekennenErzählen< und >BerichtenErzählen< und »Bekennen« metasprachlich, als wissenschaftliche Termini für die Bezeichnung von Sprechhandlungen im Deutschen im Rahmen dieses typologischen Ansatzes verwendet werden. Deshalb kann für die hier angestrebte Definition der Sprechhandlung >Bekennen< auf eine begriffsgeschichtliche Ausweitung verzichtet werden. D a s betrifft vor allem Identifikations- und Initiationshandlungen im religiösen, aber auch im politischen Bereich, die vielfach bevorzugt als »Bekennen« gelten und auf die hier wenigstens kurz verwiesen sein soll, weil sie die Verwendung dieses Ausdrucks besonders nachhaltig geprägt haben. Als Bezugspol, auf den solche Handlungen ausgerichtet sind, erscheint dann eine dem Bekennenden übergeordnete Instanz (Gott, Glaubensgemeinschaft, politische Gruppierung). Den die Gruppenidentität verbürgenden Integrationspunkt bildet ein ideelles Substrat (z. B. ein politisches Programm oder ein Glaubensbekenntnis), das in einem Text schriftlich fixiert ist. Durch das Bekennen als dessen mündliche Artikulation wird dieses ideelle Substrat lebendig erhalten und die Gruppenidentität immer wieder erneuert und bekräftigt. Hierbei ist die Tatsache des Aussagens von

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einflußte bezeichnen. Sie ist nämlich durch eine besonders starke Profilierung der Sprechergestalt und von daher durch eine enge Perspektivierung der in Aussagesätzen formulierten Sachverhalte definiert: diese erscheinen explizit allein aus der subjektiven Sicht des Sprechers. Im Gegensatz zum Berichtenden oder Erzählenden spricht der Bekennende deshalb ausschließlich in der 1. Person Singular. Nur er kann bekennen, nicht andere für ihn, denn schließlich sind die zu übermittelnden Sachverhalte nur ihm allein vollständig bekannt. Bekennen präsupponiert also mindestens partielle Unbekanntheit der zu bekennenden Sachverhalte für den Hörer; des weiteren geht der bekennende Sprecher davon aus, daß diese Sachverhalte für den Hörer umstritten, ja brisant sind. Er antizipiert also einen Hörer, der bestimmten sprachlichen 22 und moralischen Normen verpflichtet ist. Für das Bekennen gelten uneingeschränkt die Bedingungen der Verteidigungspflicht sowie der Aufrichtigkeit, vor allem aber die der Konsequenz. Mit der Veröffentlichung intimer und somit bislang unbekannter Sachverhalte übernimmt der Bekennende nämlich bewußt die möglichen negativen Folgen seines sprachlichen Handelns, z. B. gesellschaftliche Achtung. 2 3 Berichten Im Gegensatz zum Bekennen wird beim Berichten auf eine Profilierung der Sprechergestalt und ihrer Situation zur Zeit des Sprechens verzichtet. Die entscheidender Bedeutung, während das Ausgesagte häufig zu einer Formel erstarrt ist. Dabei ist zu beachten, daß dies ideelle Substrat häufig bewußt in sprachlich verbindlicher F o r m präsentiert wird, um seinen Gehungsanspruch über größere räumliche und zeitliche Distanzen hinweg zu erhalten. D a ß dieser Geltungsanspruch verbindlich formulierter Texte umstritten war, beweist exemplarisch der immer wieder aufflackernde Streit der protestantischen Kirchen über die Geltung der aus dem 16.Jahrhundert stammenden Glaubensbekenntnisse. (Vgl. dazu: Karowski, Walter: Das Bekenntnis und seine Wertung. Berlin 1939, S. 2 7 3 f f .

Gollwitzer,

H e l m u t : D i e Bedeutung des Bekenntnisses für die Kirche. In: H ö r e n und Handeln. Festschrift für Ernst W o l f zum 60. Geburtstag. München 1960, S. 171). 22

Hier verstanden als »nachweisbar wiederkehrend befolgte Richtlinie verständigungsrelevanten sprachlichen Verhaltens, deren Nichterfüllung in wiederkehrender Weise von der Sprachgemeinschaft so durch Sanktionen geahndet wird, daß diese Sanktionen von den Betroffenen selbst überwiegend akzeptiert werden«. F r i c k e : N o r m und Abweichung. S. 83.

23

An dieser Stelle sei ein kurzer Hinweis auf den historischen Hintergrund dieses mit so außerordentlich verschiedenen Bedeutungen belasteten Begriffs erlaubt: Die B e dingung der Konsequenz definiert besonders stark den confessio-Begriff des F r ü h christentums. Hier bezeichnet confessio ganz konkret das von Christus im Gegensatz zum G o t t des Alten Testaments geforderte >Kenntlich-Machen< Gottes vor dem Richter angesichts Martyrium und Todesstrafe (vgl. dazu: Fries, Heinrich ( H r s g . ) : Handbuch theologischer Grundbegriffe. München 1962/63. Bd. 1, S. 157.

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Sprecherposition ist neutral, also nahezu beliebig austauschbar, eine spezifische Perspektivierung ist nicht erkennbar. Der zu übermittelnde Sachverhalt ist qualitativ nicht begrenzt: allerdings artikuliert der Berichtende bei der Wiedergabe vergangener Sachverhalte weniger die Details als vielmehr die Resultate bestimmter prozessualer Abläufe. 2 4 Berichtendes Sprechen ist geprägt durch eine starke implizite Präsupponierung: die Aktivitäten des Sprechers richten sich an einen bestimmten Hörer bzw. Hörerkreis und sind auf dessen genau begrenzbares Informationsbedürfnis ausgerichtet. Es gelten uneingeschränkt die Bedingungen der Aufrichtigkeit, der Ernsthaftigkeit und der Konsequenz: das Berichtete muß einer Kontrolle seines Wahrheitsanspruches in jeder F o r m standhalten.

Erzählen Erzählen 2 5 ist eine perspektivierende Wiedergabe der Abfolge von vergangenen Sachverhalten, also geprägt durch eine starke Profilierung der Sprecherposition. Der Gegenstand des Erzählens ist weder qualitativ noch quantitativ begrenzt. Im Gegensatz zum Berichten ist das Erzählen nicht durch einen explizit geäußerten spezifischen Hörerbezug oder eine auf diesen verweisende implizite Präsupponierung definiert; es richtet sich an ein heterogenes Publikum und geht somit nicht von spezifischen Wissensvoraussetzungen eines Hörers aus. Es gelten uneingeschränkt die Bedin24

Vornehmlich darin unterscheidet sich diese Sprechhandlung vom Erzählen, eine Eigenschaft, die merkwürdigerweise auch von neueren Arbeiten zum T h e m a >Berichten< kaum zur Kenntnis genommen wird. Untersuchungen wie die von KlausPeter Klein sowie diejenige von O t t o Ludwig und Gerhart W o l f f betonen m. E . noch immer zu stark die umgangssprachlich übliche synonyme Verwendung beider Sprechaktbezeichnungen. Vgl. Klein, Klaus-Peter: Handlungstheoretische Aspekte des »Erzählens« und »Berichtens«. In: Vandeweghe, Willy / Van de Velde, Marc ( H r s g . ) : Bedeutung, Sprechakte und Texte. Akten des 13. Linguistischen Kolloquiums G e n t 1978. Tübingen 1979. Bd. 2, S. 2 2 9 - 2 4 0 . Ludwig, O t t o / Wolff, G e r hart: Berichten im Alltag - Berichten in der Schule. In: Praxis Deutsch 28, 1978, S. 16—24. Hierbei soll freilich nicht vergessen werden, daß diese Gleichsetzung von Erzählen und Berichten nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch im Bereich der Literatur und Poetik immer wieder begegnet. Beispielhaft dafür sind Äußerungen Döblins in: Aufsätze zur Literatur. Ö l t e n / Freiburg 1963, S. 103 ff.

25

Es ist hier nicht der O r t , die — vor allem in den letzten Jahren — zahlreich erschienenen Bemühungen um eine Definition im einzelnen vorzustellen oder nur zu erwähnen. Besonders relevant sind davon für den hier vertretenen Ansatz: Stempel, W o l f - D i e t e r : Erzählung, Beschreibung und der historische Diskurs. In: Geschichte — Ereignis

und

Erzählung

(Poetik

und

Hermeneutik

V).

München

1975,

S. 325—346. Gülich, Elisabeth: Ansätze zu einer kommunikationsorientierten E r zähltextanalyse. In: Haubrich, Wolfgang ( H r s g . ) : Erzählforschung I. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Mit einer Auswahlbibliographie zur E r zählforschung. Göttingen 1976, (Beiheft Lili 4), S. 2 3 4 - 2 5 6 .

61

gungen der Aufrichtigkeit und der Ernsthaftigkeit, aber nur eingeschränkt die der Konsequenz: wer erzählt, muß zwar Einwände gegen die Wahrheit des Gesagten ausräumen, aber er braucht nicht für die sich aus dem Erzählen ergebenden Folgen einzustehen. Die folgende Beschreibung von drei russischen Autobiographien unter handlungstheoretisch relevanten Gesichtspunkten geschieht im wesentlichen zu Demonstrationszwecken. Ihre Wahl ist damit zu begründen, daß sie den Idealtypen der berichtenden, erzählenden und bekennenden Autobiographie besonders nahekommen, und nicht dadurch, daß sie in der Geschichte der russischen Autobiographie einen besonders hohen Stellenwert besitzen. Außerdem darf dieser komparatistische Ausgriff als Hinweis darauf verstanden werden, daß die hier vorgestellte Typologie Möglichkeiten eröffnet, auch andere als die im gattungsgeschichtlichen Teil dieser Arbeit untersuchten Textcorpora unter literaturpragmatischen Gesichtspunkten zu analysieren und zu beschreiben.

4.3.

Drei Typen autobiographischen Schreibens in literaturpragmatischer Perspektive

4.3.1. Der Typus >Bekennende Autobiographiec Nikolaj V. Gogol's >Avtorskaja ispoved'< (Autorenbeichte) Zu den bemerkenswertesten, wenn auch nicht zu den bekanntesten Selbstdarstellungen des 19. Jahrhunderts gehört die >Avtorskaja ispoved'< des russischen Schriftstellers Nikolaj V. Gogol'. 26 Dieser im Jahre 1847, also fünf Jahre vor Gogol's Tod, verfaßte Text ist Gogol's unbekannten Schriften zuzurechnen; dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil er erst einige Jahre nach dem Tod seines Verfassers veröffentlicht worden ist. 27 Die >Avtorskaja ispoved'< ist Gogol's Antwort auf die Reaktion der russischen Öffentlichkeit nach dem Erscheinen der >Vybrannye mesta iz perepiski s druz'jami< (Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit 26

Zitiert im folgenden nach: Gogol', Nikolaj Vasilevic: Polnoe sobranie socinenij (Vollständige Sammlung der Werke). Band VIII 1952, Izdatel'stvo akademii nauk SSSR (Verlag der Akademie der Wissenschaften der UdSSR). S. 4 3 2 - 4 6 7 .

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Gogol' hat diesen Text wahrscheinlich in der Zeit von Mai bis September 1847 verfaßt. In Briefen nannte er das Werk zunächst »Povest' moego avtorstva« (Geschichte meiner Autorschaft). Unter dem vorliegenden Titel wurde das Werk erstmals in der von Sevyrev herausgegebenen Gogol'-Ausgabe von 1855 der breiten Ö f fentlichkeit zugänglich gemacht. Siehe dazu: Gogol': Polnoe sobranie . . . Bd. VIII, S. 803.

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Freunden). 2 8 In diesem Werk hatte sich ein ganz anderer als der bisher bekannte G o g o l ' seinem Publikum präsentiert. Nicht der vermeintliche Satiriker und Sozialkritiker, 2 9 als der er nach dem Erscheinen des >Revizor< oder solcher Novellen wie >§inel'< (Der Mantel) 3 0 begrüßt worden war, nicht der Begründer einer literarischen Schule (der natural'naja skola) hatte sich zu Wort gemeldet, sondern ein eifernder Propagandist einer am Christentum orthodoxer Prägung orientierten Ethik und Soziallehre, die G o g o l ' als sein eigentliches Vermächtnis an Rußland betrachtete. Die >Vybrannye mesta< enthalten vor allem Aussagen zu sozialpolitischen und moralphilosophischen Problemen, denen sich G o g o l ' von einer Position her nähert, die man nicht anders als rückwärts gewandte Utopie bezeichnen kann. Im Bemühen, Gegensätze zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Klassen abzubauen, den Einzelnen zu sittlicher Selbstvervollkommnung anzuhalten und die Geltung des rechtgläubigen Rußland in Europa zu stärken, rechtfertigt G o g o l ' in diesem höchst merkwürdigen Werk die Leibeigenschaft ebenso wie die zaristische Administration, propagiert orthodox-christliche Glaubensregeln als Grundlage sozialen Friedens und polemisiert gegen Einflüsse westlicher Zivilisation. Diese Inhalte und der stark moralisierende T o n des Werkes ließen kaum erahnen, daß sein Verfasser mit dem des >Revizor< oder der >Mertvye dusi< (Die toten Seelen) identisch sein sollte. Literaturkritik und übrige Leserschaft waren bis auf wenige Ausnahmen empört oder entsetzt, selbst eher konservative Kritiker wie Guber oder Pavlov reagierten ablehnend. 3 1 Die in der Verunglimpfung Gogol's als »Prediger der Knute«, »Apostel der Unbildung«, »Kämpfer für Obskurantismus und Dunkelmännertum« gipfelnde Kritik des bekannten russischen Literaturkritikers Belinskij, vormals einer der großen Bewunderer und Propagandisten der G o -

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Im folgenden abgekürzt: Vybrannye mesta. Diese schon von den Zeitgenossen Gogol's (Belinskij z. B.) vertretene und bis in die Gegenwart reichende Interpretation des Gogol'schen Gesamtwerkes ist übrigens nicht erst durch formalistische Arbeiten (B. Ejchenbaum), sondern bereits durch Literaturkritiker wie Apollon Grigor'ev um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt worden. Vgl. dazu: Vf.: Der Einfluß der Philosophie des Deutschen Idealismus in der russischen Literaturkritik des 19. Jahrhunderts. Die >organische Kritik< Apollon Grigor'evs. Heidelberg 1975. Als Beispiel für die von der sowjetischen Literaturwissenschaft häufig wiederholte sozialkritische Interpretation des Gogol'schen Werkes sei hier die >SinePVybrannye mesta< dokumentierten Diskurswechseis war für G o g o l ' eine Konfliktsituation entstanden, die er mit Hilfe der >Avtorskaja ispoved'< zu bewältigen suchte. Die >Avtorskaja ispoved'< ist, wie bereits ihr Titel signalisiert, Selbstdarstellung. Ihr Autor präsentiert mit Hilfe dieses Textes geistige und seelische Zustände seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens sowie die diese Zustände bedingenden Handlungen und Ereignisse. Diese Präsentation geschieht in einer komplizierten Verflechtung und Relativierung von Gegenwarts- und Vergangenheitsdarstellung. Dabei ist letztere vor allem auf zwei Bereiche zentriert: zum einen auf die Entwicklung Gogol's zum Schriftsteller und zum anderen auf die der Situation des Schreibens unmittelbar vorangehende und diese tangierende Auseinandersetzung um die >Vybrannye mestaVybrannye mesta< deren Genese; und er stellt die Lebensgeschichte Gogol's bis zur Veröffentlichung der >Vybrannye mesta< vor, um damit die die Schreibsituation bestimmenden Konflikte einer L ö s u n g näher zu bringen. Die funktionale Relativierung der Textebenen hat für die Textstruktur nachhaltige Folgen. So wird besonderes Gewicht auf die Darstellung der Schreibsituation und der ihr unmittelbar vorangehenden Vergangenheit ge-

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Belinskij, Vissarion V. : Polnoe sobranie socinenij (Vollständige Sammlung der Werke). Izdatel'stvo akademii nauk SSSR (Verlag der Akademie der Wissenschaften der U d S S R ) 1956. Bd. X , S. 214. Dieser Brief gehört zu den wichtigsten D o k u menten russischer Literaturkritik im 19. Jahrhundert, weil Belinskij in ihm die emanzipatorische, gesellschaftskritische Funktion von Literatur — frei von Rücksichten auf die zaristische Zensur — noch einmal nachhaltig betont (der Brief ist in Salzbrunn, kurz vor Belinskijs T o d geschrieben worden). Er hatte eine immense Wirkung, kursierte sehr bald nach seiner Entstehung in unzähligen Abschriften innerhalb der russischen Literaturszene und wurde auch in Sozialrevolutionären Zirkeln intensiv diskutiert. Bekanntlich ist das Verlesen dieses Briefes 1849 im Kreise Petrasevskijs einer der wesentlichen Gründe dafür gewesen, daß F. M. Dostoevskij verhaftet, zum T o d e verurteilt und schließlich begnadigt nach Sibirien verbannt wurde. Zur Rezeption des Briefes vgl. auch: Bogaevskaja, K . P. : Pis'mo Belinskogo k Gogolju (Der Brief Belinskijs an Gogol'). In: Literaturnoe nasledstvo (Literarisches Erbe) Bd. 56. Moskva 1950, S. 5 1 3 - 5 6 9 .

legt, während Handlungen und Ereignisse vor der Publikation der >Vybrannye mesta< stark reduziert dargestellt werden. Betrachtet man die Art dieser Reduzierung genauer, so fällt auf, daß sie nicht allein die zeitliche Ebene betrifft. G o g o l ' spart nicht nur ganze Phasen seiner persönlichen Entwicklung aus (z. B. Kindheit und Jugend), sondern beschränkt sich auch auf einen bestimmten Bereich von Zuständen und Handlungen, nämlich den seiner geistigen und seelischen Entwicklung zum Schriftsteller. Aber auch diese »Istorija moego avtorstva« (Geschichte meiner Autorschaft) ist ihrerseits eine reduzierte Wiedergabe vergangenen Geschehens, weil G o g o l ' sich weitgehend auf die Reproduktion eigener Sprechhandlungen und die Versprachlichung innerer Vorgänge beschränkt. Er vernachlässigt fast völlig die für seine Entwicklung zum Schriftsteller so wichtigen Begegnungen und Auseinandersetzungen mit der literarischen Öffentlichkeit (einzige Ausnahme ist Puskin), verschweigt die für sein Gesamtwerk grundlegende Beschäftigung mit der europäischen, insbesondere deutschen Romantik (E. T. A. Hoffmann) sowie der ukrainischen Volksdichtung, und übergeht, abgesehen vom >Revizor< und von den >Mertvye dusiMertvye dusi< gipfeln. 3 6 Diese Enthüllungen im Rahmen der »Istorija moego avtorstva« sind insofern wichtig, als dieser Teil der >Avtorskaja ispoved'< wesentliche Aussagen der >Vybrannye mesta< ergänzt und bestätigt. So unterstreicht G o g o l ' noch einmal die Geltung orthodox-christlicher Handlungsmaximen für einen Großteil seines literarischen Schaffens, 3 7 so relativiert er die Bedeutung dieses literarischen Handelns, und so insistiert er auf der Kontinuität und Identität seines bisherigen Denkens und Handelns. 3 8 Bedeutsam sind solche Ergänzungen deshalb, weil sie dazu beitragen, die »Istorija 33

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Als Beispiele in diesem Zusammehang wären für das 20. Jahrhundert André Gides >Si le grain ne meurt< oder Klaus Manns >Wendepunkt< zu nennen, Texte, in denen das Problem der eigenen Homosexualität mehr (Gide) oder weniger (Mann) offen angesprochen wird. Siehe dazu u. a. : Ivanov, Vjaceslav: Gogol' und Aristophanes. In: Das Alte Wahre. Essays. Berlin — Frankfurt a. M. o . J . (Bibliothek Suhrkamp Band X X I V ) , S. 1 0 7 - 1 2 4 . G o g o l ' : Avtorskaja ispoved'. S. 438/439. Vgl. dazu auch Gogol's Äußerungen zur Wirkung seiner Werke in den Nachworten zum >Revizor< und zu den Briefen zu den >Mertvye dusiVybrannye mestaVybrannye mesta< voraussetzen konnte. So vermochten z. B. sicher viele von ihnen, Bestandteile des Belinskij-Briefes vom 15. 7. 1847 in folgender Textpassage zu identifizieren: Man kann Bemerkungen zu einzelnen Kapiteln, zu diesem und jenem machen, man kann Meinungen äußern und Ratschläge erteilen; aber, gestützt auf diese Meinungen, Schlüsse auf den ganzen Menschen zu ziehen, ihn für eindeutig geistesgestört, für wahnsinnig erklären, ihn Lügner und Betrüger nennen, . . . das ist eine Art von Beschuldigungen, die ich nicht einmal einem entlarvten Schurken gegenüber vorzubringen in der Lage wäre (S. 466). 4 2

Auf Grund der Konturlosigkeit der Interaktionspartner erfährt die Position Gogol's eine deutlich stärkere Gewichtung. D e m Leser ist die Möglichkeit genommen, die sprachlichen Reaktionen der Literaturkritik und des breiten Publikums auf die Veröffentlichung der >Vybrannye mesta< selbst zu bewerten. Soweit er allein Kenntnis von ihnen durch die >Avtorskaja ispoved'< erhält, ist er gezwungen, sie aus der Perspektive G o g o l ' s zu betrachten. Von außerordentlicher Bedeutung für die Verzahnung von Lebensgeschichte und Schreibsituation einerseits und für die Charakterisierung der Gogol'schen Position zur Zeit des Schreibens an der >Avtorskaja ispoved'< andererseits ist die Tatsache, daß G o g o l ' bei der Wiedergabe der fremden Rede und ihrer Charakterisierung häufiger Ausdrücke verwendet, die den perlokutionären, also den wirkungsbezogenen Aspekt sprachlicher Handlungen 43 betonen (z. B. traurig machen, Verwunderung auslösen, verblüffen u. a.). Er kennzeichnet so nicht allein die sprachlichen Handlungen anderer, sondern beschreibt zugleich deren Wirkung auf ihn. Damit bringt er sie in unmittelbare Beziehung zu seiner Schreibsituation. Dies Betonen des perlokutionären Aspekts hat außerdem zur Folge, daß G o g o l ' in der Darstellung 42

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Vgl. dazu folgende Passagen aus dem erwähnten Belinskij-Brief: »man darf nicht schweigen, wenn unter der Decke der Religion und unter dem Schutz der Knute Lüge und Amoralität als Wahrheit und Tugend verkündet werden«. (Belinskij: Polnoe sobranie . . . Bd. X , S. 212); »Einige haben sich schon mit dem Gedanken abgefunden, daß Ihr Buch die Frucht einer geistigen Verwirrung ist, die dem Wahnsinn benachbart ist.« (S. 216/217) Austin: H o w to do . . . S. 101.

der Auseinandersetzung um die >Vybrannye mesta< weniger als Agierender denn als Betroffener und Leidender erscheint. Ja, Gogol' steigert die Darstellung der Wirkung bis zur Behauptung einer Gefährdung der eigenen Person, indem er die sprachlichen Handlungen seiner Gegner teilweise mit Hilfe von >VerurteilungsverbenVybrannye mesta< für den Autor der >Avtorskaja ispoved'< mehr als ein Endund Höhepunkt einer mißlungenen Kommunikation zwischen Autor und literarischer Öffentlichkeit ist. Die Zerstückelungsmetaphorik läßt erkennen, daß Gogol' seine personale Integrität durch die sprachlichen Handlungen anderer Personen in existenzbedrohendem Maße tangiert, ja in Frage gestellt sieht. 45 Seine Antwort auf diese »Anatomie«, auf die zerstückelnden Reden seiner Kritiker ist die Gestaltung der Lebensgeschichte als Einheit. Als solche ist diese Antwort zugleich ein Akt der Restitution personaler Integrität. Indem Gogol' so auf verschiedenen Ebenen die Einheit und Kontinuität seines bisherigen Handelns und Denkens unterstreicht, antwortet er freilich nicht nur seinen Kritikern, sondern fordert auch neue Antworten heraus. Denn mit dem Schreiben der >Avtorskaja ispoved'< vollzieht er noch einmal, begleitet von einem weit höheren Grad an Bewußtsein, den Diskurswechsel, den er mittels der Publikation der >Vybrannye mesta< schon einmal vollzogen hatte. Er destruiert damit bewußt noch einmal das beim russi44

Siehe dazu: Pitcher, G e o r g : Handlung und Verantwortung bei Hart. I n : Meggle:

45

Vgl. dazu noch einmal Belinskij: »Entweder Sie sind krank und dann muß man Sie

Analytische Handlungstheorie Bd. 1: Handlungsbeschreibungen, S. 251. so schnell wie möglich heilen, oder - ich wage es nicht, meinen Gedanken zu Ende zu denken.« Belinskij: Polnoe sobranie . . . Bd. X , S . 2 1 4 .

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sehen Publikum vorhandene Bild des Autors Gogol' als Sozialkritiker und provoziert damit erneute bis in die Gegenwart reichende »Rettungsversuche«46 bei Lesern und Kritikern. Denn die Brisanz dieser Gogol'schen Haltung besteht ja nicht nur darin, daß sie das bislang geltende Bild des Autors Gogol' in Frage stellt, sondern auch, daß sie das in der russischen literarischen Öffentlichkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts dominierende Verständnis von der Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft in radikaler Weise verändern will. 47 So paßt z. B. der von Gogol' hier in das Zentrum schriftstellerischer Tätigkeit gerückte christliche Dienstgedanke russischorthodoxer Prägung nicht im geringsten in das handlungsleitende Normensystem, das zu dieser Zeit in Rußland für schriftstellerisches Handeln gilt. All dies verleiht dem Text eine polemische Orientierung, die ihn geeignet erscheinen läßt, zum Ausgangspunkt neuer Auseinandersetzungen zu werden. Dazu ist es freilich nicht mehr gekommen; sicher nicht zuletzt deshalb, weil die >Avtorskaja ispoved'< zu Lebzeiten Gogol's nicht mehr veröffentlicht worden ist. Die Leser der 1855 von dem Philosophen und Literaturkritiker S. P. Sevyrev besorgten Gogol'-Ausgabe, innerhalb derer die >Avtorskaja ispoved'< erstmals in gedruckter Form erschien, haben diesen Text auch nicht mehr als Instrument und Dokument einer ganz bestimmten sprachlichen Interaktion verstanden, sondern als exemplarische Form der Selbstoffenbarung. Beispielhaft dafür ist die Äußerung des russischen Publizisten und Literaturkritikers P. N. Polevoj: Wir kennen in keiner Literatur eine solche aufrichtige und vollständige Darstellung eines persönlichen Schaffens, wie wir sie in der >Avtorskaja ispoved'« G o g o l ' s sehen. 4 8

Die >Avtorskaja ispoved'< repräsentiert in besonders markanter Weise denjenigen Typus von Autobiographien, der am deutlichsten erkennen läßt, wie intensiv diese Gattung in Handlungszusammenhänge eingebettet sein kann. Dieser Typus soll hier der bekennende genannt werden. Er ist abweichend vom üblichen Sprachgebrauch nicht allein dadurch definiert, daß er vornehmlich Gegenstandsbereiche zur Sprache bringt, deren Veröffentlichung mit bestimmten Risiken verbunden sein kann, sondern vor allem dadurch, daß er den Text prägende kommunikative Strukturen besonders be46

Vgl. A n m . 30.

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Spätestens seit dem Erlöschen der russischen Romantik und dem Entstehen der »Natural'naja skola« (Die natürliche Schule), die den Ubergang zum Realismus in der russischen Literatur markiert, bestimmt das Bild vom A u t o r als Sozialkritiker und Sozialreformer weite Teile der russischen literarischen Öffentlichkeit.

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Zitiert nach Senrok, V . I . : Materialy dlja biografii G o g o l j a (Materialien zur Biographie Gogol's). Moskva 1897. Bd. 4, S. 666.

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tont. Von den drei genannten Typen ist also die bekennende Autobiographie am offenkundigsten pragmatisch geprägt. Besonders profiliert sind bei diesem Typus die reale Schreibsituation und die Gestalt des realen Autors. Die darzustellenden Sachverhalte erscheinen allein in der subjektiven Perspektive des Autors und betreffen vornehmlich dessen persönlichen intimen Lebensbereich: nur er kann sie sprachlich artikulieren, nicht eine andere Person für ihn. Der bekennende Autobiograph antizipiert bei seinen Rezipienten ein Wissen um die Unbekanntheit, das Provozierende und die Brisanz des Dargestellten. Damit verbunden ist ein hohes Maß an Dialogizität, erkennbar u. a. an den die Texte prägenden Sprechaktsequenzen wie >fragen — antworten< oder »beschuldigen — rechtfertigen*; die bekennende Autobiographie ist von daher Ausgangspunkt weiterer Auseinandersetzungen zwischen dem Autor und dem von ihm antizipierten Publikum. Dies begegnet besonders dann, wenn bekennende Autobiographien als Mittel zur Befreiung von institutionellen Zwängen eingesetzt werden, wenn regelverletzendes Handeln aus der persönlichen Vergangenheit öffentlich bekannt gemacht wird, um es als Alternative einem durch Normen und Verbote eingeengten Handeln gegenüberzustellen. Der Verteidigungspflicht in Bezug auf das von ihm Ausgesagte kommt der bekennende Autobiograph nach, indem er die Aufrichtigkeit seines sprachlichen Handelns betont und erkennen läßt, daß er die sich aus diesem Handeln ergebenden Konsequenzen zu tragen bereit ist.

4.3.2. Der Typus »Erzählende Autobiographie*: Maksim Gor'kijs >Detstvo< (Kindheit) >Detstvo< behandelt die frühe Kindheit Maksim Gor'kijs bis zur Vollendung des 10. Lebensjahres und ist der erste Teil einer autobiographischen Trilogie, der neben diesem Text noch >V ljudjach* (Unter Menschen) sowie >Moi universitety< (Meine Universitäten) angehören. Die Autobiographie ist 1913 während Gor'kijs Erholungsaufenthalt auf Capri entstanden, der ihn nach eigenen Worten dazu angeregt hatte, verstärkt über sein vergangenes Leben und über die autobiographischen Bestandteile seines bisherigen dichterischen Werkes nachzudenken. Pläne zu einem solchen Vorhaben bestanden schon seit 1906. Veröffentlicht wurde >Detstvo< in der Moskauer Zeitung >Russkoe slovo< (Das russische Wort) von August 1913 bis Januar 1914. Das Werk wurde von Leserschaft und Literaturkritik freundlich aufgenommen, besonders gelobt wurde die gelungene Mischung aus Dokumentation und künstlerischer Gestaltung. 49 49

Vgl. dazu: G o r ' k i j , Maksim: Polnoe sobranie socinenij (Vollständige Sammlung der Werke). Moskva 1972. Bd. 15, S. 5 7 4 f f . >Detstvo< wird zitiert nach der ebenfalls

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Mit >Detstvo< stellt Gor'kij nicht nur die Phasen seiner kindlichen Entwicklung zwischen dem dritten und zehnten Lebensjahr dar, sondern auch einen bestimmten Abschnitt russischer Geschichte, russischer kleinbürgerlicher Lebenswelt und russischer Folklore 5 0 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. >Detstvo< artikuliert also nicht allein die zeitliche Abfolge einzelner Lebensphasen und damit die Stufen der geistigen und seelischen Entwicklung des kleinen Maksim Peskov, sondern leuchtet zugleich den diese Phasen prägenden Lebensraum in seiner ganzen Breite und Tiefe aus; >Detstvo< ist eine derjenigen Autobiographien, die neben der temporalen auch die räumliche Dimension besonders akzentuieren, eine Eigenschaft, die von einem großen Teil der sowjetischen Forschungsliteratur zu >Detstvo< ideologisch als bewußter Verzicht des Autors auf bloße Darstellung der eigenen Individualität interpretiert worden ist. 51 Uberraschend ist dabei der hohe Anteil an negativen Aussagen; weder der u. a. durch solche Negationen bekannt gewordene >Anton Reiser< von Karl Philipp Moritz noch die »Proletarischen Lebensläufe« der Bebel, 5 2 Propp oder Rehbein 5 3 schildern solch niederdrückende soziale Verhältnisse, derart abstoßende Verhaltensformen unter Verwandten wie diese erste abgeschlossene 5 4 Autobiographie Gor'kijs. Von den Eltern aufgegeben — die

von der Akademie der Wissenschaften hrsg. Gesamtausgabe: Gor'kij, Maksim (Eigentlicher Familienname: Alexej Maksimovic Peskov): >DetstvoDetstvo< M . Gor'kijs — das ist ein künstlerisches Gemälde, auf dem nicht die Seelengeschichte eines einzelnen Kindes dargelegt, sondern das ganze russische Leben während einer bestimmten Epoche aufgezeigt i s t . . . Die Erklärung für diese Besonderheit von >Detstvo< M. Gor'kijs liegt natürlich nicht in irgendeiner individuellen Besonderheit seines künstlerischen Talents als G a b e der Natur, die ihm einen Vorrang vor Aksakov, L. Tolstoj gibt . . . Nein, der Grund ist in der sozialen Orientiertheit des Schaffens von M. Gor'kij zu suchen, in seinen spezifischen Eigenschaften als Schaffen eines proletarischen Künstlers.« Desnickij, V . : A . M . Gor'kij. Ocerki zizni i tvorcestva (Skizzen des Lebens und Schaffens). Moskva 1959, S. 332/ 333. Vgl. dazu auch: T a g e r , E . B . : Tvorcestvo G o r ' k o g o sovetskoj epochi (Das Schaffen Gor'kijs während der sowjetischen Epoche). Moskva 1964, S. 43 ff. Emmerich: Proletarische Lebensläufe. Bd. 1, S. 95 ff. Frerichs: Bürgerliche Autobiographie . . . S. 513—623. Zu früheren autobiographischen Versuchen Gor'kijs siehe: Desnickij, V. A . : K voprosu ob avtobiograficeskich povestjach M. G o r ' k o g o >Detstvo< i >V ljudjach< (Zur Frage über die autobiographischen Kurzromane M. Gor'kijs >Detstvo< und >V ljudjachDetstvo< durchaus die Darstellung eines kindlichen Reifeprozesses, aber eines Reifeprozesses, der in einer außerordentlich frühen Emanzipation des Kindes von seiner U m w e l t besteht. J e d e Erfahrung von D e m ü t i g u n g und Gewalt bewirkt eine Veränderung in der Psyche des K i n d e s : bereiten ihm die häufigen Brutalitäten des Großvaters und der O n k e l zunächst physischen Schmerz, so bewirken sie zunehmend ein tiefgreifendes N a c h d e n k e n M a k s i m s und letztlich eine radikale Distanzierung von dieser U m w e l t , die schließlich sogar die Großmutter miteinbezieht. Dieser Prozeß der Distanzierung wird somit am Schluß nur scheinbar von 55

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Die z. T. sehr detaillierte Darstellung dieser Familienverhältnisse ist von der Literaturkritik bei Erscheinen von >Detstvo< auch recht kritisch vermerkt worden. Desnickij: A. M. Gor'kij . . . S. 44 ff. Vergleichbar in den slavischen Literaturen ist diese Gestalt wohl nur mit derjenigen der >Babicka< in Bozena Nemcoväs berühmtem gleichnamigen Roman aus dem 19. Jahrhundert. Uber das lieblose, ja rücksichtslose Verhalten der Mutter dem Kind gegenüber und die daraus resultierenden negativen Folgen für dessen psychische Entwicklung berichtet Gor'kij in einem seiner früheren autobiographischen Entwürfe, dem >Izlozenie faktov i dum, ot vzaimodejstvija kotorych otsochli lucsie kuski moego serdca< (Darlegung der Fakten und Gedanken, von deren Wechselwirkung die besten Stücke meines Herzens verdorrten). In: Gor'kij: Sobranie . . . Bd. 1 (1949), S. 61-77. 73

außen zu seinem Höhepunkt und Ende geführt, wenn der Großvater den zehnjährigen Jungen nach dem T o d von dessen Mutter mit den Worten aus dem H a u s jagt: N u n , Alexej, du bist keine Medaille, die ich mir um den Hals hängen könnte — ich habe keinen Platz mehr für dich, du mußt zu fremden Menschen (S. 202).

Eine genauere Betrachtung der sprachlichen Präsentation dieser kindlichen Entwicklung belehrt nun allerdings den Leser, daß sich deren bei ihm immer wieder Betroffenheit auslösende Wiedergabe nicht allein dieser vergangenen Wirklichkeit, sondern auch der Art ihrer sprachlichen Rekonstruktion verdankt. Bereits die Weise der zeitlichen Akzentuierung läßt den Gestaltungswillen eines souveränen Erzählers erkennen; es gibt nur wenige Autobiographien in der europäischen Literatur, die von der vor allem in berichtenden Autobiographien üblichen gleichmäßigen chronologischen Sukzession so stark abweichen und eine derart verschiedene Raffungsintensität erkennen lassen wie >DetstvoDetstvo< verschoben, so betonen doch beide genannte Eigenschaften andererseits bereits hier zu Beginn dieser Autobiographie die Anwesenheit eines souverän gestaltenden Erzählers, der besonders mit Hilfe der genannten »Optimierungen« von Anfang an die Aufmerksamkeit eines potentiellen Lesers zu aktivieren versteht, ja ihn betroffen macht, die Distanz zwischen dargestelltem Sachverhalt und dem Publikum mit Hilfe bestimmter künstlerischer Erzählverfahren abbaut. Zugleich wird dieses Interesse der Leser auf Grund der genannten Erzählstrategien nicht nur auf die erzählten Sachverhalte, sondern auch auf die Person des Autobiographen gelenkt, ist doch auch dieses kunstvolle Erzählen ein Stück Selbstdarstellung des Dichters Gor'kij. 6 0 Auch die für autobiographische Texte ungewöhnliche Sorgfalt bei der Komposition (Beginn mit dem Tod des Vaters — Beschluß mit dem Tode der Mutter, die sorgfältige Motivierung einzelner Erzählabschnitte z. B. durch vielfältige Vorausdeutungen, Leitmotiv- und Kontrastierungstechniken61 u. a.) machen immer wieder deutlich, daß diese Autobiographie ihre Entstehung nicht allein dem Vermögen subjektiver Erinnerung, sondern auch der Gestaltungsintention eines Erzählers verdankt. Einem solchen sprachlichen Umgang mit der eigenen Vergangenheit korrespondiert die explizit62 formulierte Distanzierung des Erzählers ihr ge60

Das erklärt u. a. auch den Verzicht auf die Analyse seelischer Vorgänge und korrespondiert skeptischen bis abwertenden Äußerungen über die Präsentation von Subjektivität in Rousseaus >Confessionseinst — jetztdamals — heute< u. a. so gezielt einsetzen, daß ihr Einsatz fast leitmotivisch die Textstruktur prägt. Nicht nur der gezielte Einsatz literarischer Verfahren, sondern vor allem auch jeglicher Verzicht auf seine Legitimierung innerhalb eines autobiographischen Textes muß erstaunen. Schließlich vermeidet Gor'kij damit auch die für Autobiographien typische Aufrichtigkeits- und Wahrheitstopik, die in weit weniger literarisch geprägten Autobiographien so häufig begegnet, ohne damit allerdings die Relevanz der Aufrichtigkeits- und Wahrhaftigkeitsbedingung für dieses sein sprachliches Handeln explizit zu negieren. Gor'kij unterliegt offensichtlich weder Rechtfertigungszwängen hinsichtlich seines Tuns in der Vergangenheit noch hinsichtlich seines mit dem Schreiben von >Detstvo< verbundenen sprachlichen Handelns. 63 Die ausgiebige Verwendung literarischer Verfahren verweist vielmehr darauf, daß er zur Zeit der Textherstellung genug an >lebensweltlichem Freiraurru und damit Distanz seinen Interaktionspartnern gegenüber besitzt, um mit der eigenen Vergangenheit so souverän umzugehen. Dem entspricht auch, daß in >Detstvo< weder ein konkreter Adressat noch ein Interaktionspartner zu identifizieren ist, auf den diese Autobiographie im Sinne Bachtins als direkte Antwort zu beziehen wäre. Der Verzicht auf ausdrückliche Verifikationsangebote erlaubt jedoch ebensowenig einen Hinweis auf Fiktionalisierung wie der erwähnte Einsatz literarischer Verfahren, wenn man unter Fiktionalisierung mit Gabriel »eine nichtbehauptende Rede« versteht, »die keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfüllbarkeit« erhebt. 64 Denn in >Detstvo< besitzen sowohl Eigennamen, singuläre und plurale Beschreibungen als auch Pronomina und Deiktika eindeutige Entsprechungen in der vom Erzähler erlebten Vergangenheit; Prädikatoren und Kennzeichnungen sind auf existierende Gegenstände beziehbar. Bestimmte Autor und Leser gemeinsame Wirklichkeitsbereiche werden also eindeutig identifiziert, konkrete Bestandteile aus ihnen mittels der »Optimierungen« besonders akzentuiert und bisweilen verallgemeinert.65 chen, gut erzählt von einem gütigen, aber zugleich qualvoll aufrichtigen Genius. J e t z t , da ich die Vergangenheit wieder heraufbeschwöre, möchte ich zuweilen selbst kaum daran glauben, daß sich alles so zugetragen hat, wie es sich zutrug, . . . « G o r ' k i j : Detstvo. S. 19. 63

Gerade dies unterscheidet >Detstvo< von bekennenden Autobiographien.

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Gabriel, Gottfried: Fiktion und Wahrheit. S. 21.

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So heißt es resümierend über einen der vielen häßlichen Familienzwiste: »Irgendwie war es kaum glaubhaft, daß ihnen das alles ernst gewesen war und daß es für sie

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Wenn also in dieser Autobiographie persönliche Vergangenheit verifizierbar reproduziert, diese bzw. Teile von ihr zum Zweck einer verstärkten Erkennbarkeit bzw. Wiedererkennbarkeit »optimierend« gestaltet und schließlich mittels abstrahierender Behauptungen als repräsentativ für bestimmte historische und soziale Sachverhalte vorgestellt wird, dann sind dies nicht getrennte, verschiedene Redeweisen über diese eigene Vergangenheit, sondern in Verbindung mit einer mehrfach 66 formulierten Handlungsintention einander funktional zugeordnete Bestandteile e i n e r Aussage, die sich an den Gesetzmäßigkeiten und Regeln erzählenden Handelns orientiert. Zugleich ist >Detstvo< weit mehr als Reminiszenz, nämlich Beitrag zu einer vom Autor langfristig betriebenen Veränderung der von ihm in dieser Autobiographie dargestellten Lebenswelt, ein Beitrag allerdings, der — anders als in der bekennenden Autobiographie — seine Entstehung nicht den Zwängen einer bestimmten, z. B. die Person des Autors vehement tangierenden Schreibsituation verdankt: Wenn ich an diese bleiern lastenden Scheußlichkeiten des kulturlosen russischen Lebens zurückdenke, frage ich mich zuweilen, ob es sich auch lohnt, von diesen Dingen zu reden, und ich antworte mir, stets von neuem überzeugt — es lohnt sich, denn es ist noch immer furchtbare, zählebige Wahrheit, sie gilt bis auf den heutigen Tag. Dies ist jene Wahrheit, die man bis in ihre Wurzeln hinein kennenlernen muß, um sie mit der Wurzel aus dem Bewußtsein, aus der Seele des Menschen, aus unserem gesamten qualvollen, schmachvollen Leben herauszureißen. U n d noch einen zweiten, positiven Grund habe ich, diese Scheußlichkeiten zu schildern: wenn sie auch noch so widerwärtig sind, noch so schwer auf uns lasten, noch so viele edle Seelen vernichten und zermalmen, so ist doch der Russe so urgesund und so jung von Herzen, daß er sie wohl überwindet und weiter überwinden wird. Nicht allein das ist an unserem Leben so erstaunlich, daß in ihm die Schicht des Rohen, tierisch Gemeinen noch so feist und dick ist; sondern auch das, daß durch diese Schicht, so dick sie auch sein mag, das menschlich Gute, Gesunde, Schöpferische — das Humanitäre siegreich hindurch wächst und die unerschütterliche

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überhaupt mit Schwierigkeiten verbunden war, zu weinen. Ihre Tränen, ihr Geschrei, ihre fortwährenden gegenseitigen Quälereien, die rasch ausbrachen und meist ein ebenso rasches Ende nahmen, wurden für mich nach und nach zu etwas Alltäglichem, und ihr Eindruck auf mein Gemüt wurde immer schwächer, rührte immer weniger mein H e r z an. Viel später erst wurde mir klar, daß die russischen Menschen, um sich einen Ersatz für die Armseligkeit und Inhaltslosigkeit ihres Lebens zu schaffen, es überhaupt lieben, sich am Schmerz zu ergötzen, mit ihm wie die Kinder spielen, und daß sie sich nur selten ihres Unglücks schämen. In der grenzenlosen Langeweile des Alltags ist ihnen auch der Schmerz eine Abwechslung und die Feuersbrunst ein Vergnügen; einem leeren Gesicht gereicht auch eine Schramme zur Zierde.« Gor'kij: Detstvo, S. 145. Die im folgenden zitierte Passage erscheint auch im zweiten Teil der autobiographischen Trilogie >V ljudjachDetstvo< gerät die Darstellung der Kindheit durch solche Perspektivierung auch in Elias Canettis >Die gerettete Zunge< ( z . B . S. 4 0 / 4 1 , München 1977) oder in Sergej Aksakovs >Detskie gody< (Kinderjahre).

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Extremfälle solch kindgemäßer Perspektivierung finden sich auch in der Romanliteratur des 20. Jahrhunderts, z. B . in Ivan Bunins >Arsenevs Leben« oder besonders intensiv in Andrej Belyjs >Kotik LetaevBerichtende Autobiographiec Sergej A. Esenins >Avtobiografija< (Autobiographie) Sergej Esenin, einer der bedeutendsten russischen Lyriker dieses Jahrhunderts, hat mehrere autobiographische Schriften verfaßt, die sich alle durch knappe und gedrängte Darstellung auszeichnen. 76 Die >AvtobiografijaAvtobiografija< (1924); > 0 sebe« (1925) ( Ü b e r mich).

77

Esenin, Sergej: Sobranie socinenij v pjati tomach (Gesammelte W e r k e in fünf Bänden). Moskva 1962. Bd. 5, S. 1 1 - 1 4 .

78

Esenin: Sobranie socinenij . . . Bd. 5, S. 268 ff.

81

Esenin komprimiert die 28 Jahre seines bisherigen Lebens in ganze vier Druckseiten und beginnt folgendermaßen: Geboren 1895, 4. Oktober. Sohn eines Bauern aus dem Rjasaner Gouvernement, Kreis Rjazan', Dorf Konstantinovo. Die Kindheit verging inmitten von Feldern und Steppen. Wuchs auf unter Aufsicht von Großmutter und Großvater (S. 11).

Besonders interessant in Bezug auf die Typologisierung autobiographischer Texte ist der letzte Satz des Zitats, dokumentiert er doch, daß dieselben Sachverhalte — hier das Aufwachsen eines Kindes bei den Großeltern — in Autobiographien auf völlig verschiedene Art und Weise artikuliert werden können. Während die erzählende Autobiographie Maksim Gor'kijs diesen Sachverhalt über 200 Seiten hinweg detailliert und kunstvoll gestaltet, begnügt sich Sergej Esenin mit einem lapidaren Satz, der — auf Grund des fehlenden Personalpronomens 1. Pers. Sing. — nicht einmal eindeutig die Position des schreibenden Subjekts anzeigt. Von daher erscheint diese Position fast auswechselbar, es ist kein eindeutig markiertes >Ich0 sebeAvtobiografija< thematisiert an keiner Stelle die Voraussetzungen und Bedingungen ihres Entstehens. Ebenso fehlt eine explizite Bestimmung des für die kommunikative Struktur eines Textes so wichtigen Autor-Leser-Verhältnisses. Dem entspricht auch der Verzicht Esenins, die Darstellung der eigenen Lebensgeschichte zum Bestandteil leserbezogener Sprechhandlungen wie Rechtfertigungen oder Erklärungen zu machen. Stilistische Merkmale, die auf eine »Dialogizität« im Sinne Bachtins verweisen könnten, 88 entbehrt der Text ebenso wie Konditional- oder Adversativsätze o. ä. als Kennzeichen persuasiver Handlungen. 89 Ein weiteres Indiz für die schwach artikulierte AutorLeser-Beziehung in der >Avtobiografija< ist die nur wenig ausgearbeitete Argumentationsstruktur. So gipfelt die weitgehend reihende Anordnung von Behauptungen nicht in einer »Konklusion oder ursprünglichen Behauptung«, 90 was darauf schließen läßt, daß diese Autobiographie als Textganzes von ihrem Autor nicht als wichtige Stufe bzw. Phase innerhalb eines übergeordneten Interaktionszusammenhangs verstanden worden ist. All dies sowie die lakonische, bisweilen nachlässige Sprechweise lassen ebenso wie Angaben Borisovs über Esenins Umgang mit diesem Text" vermuten, daß diesem die Leser seiner Autobiographie nicht so wichtig waren wie die seiner Verse. Andererseits läßt die >Avtobiografija< trotz fehlender expliziter Hinweise auf erwartete Lesereinstellungen und Leserreaktionen durchaus erkennen, daß ihr Autor von bestimmten Wissensvoraussetzungen potentieller Rezipienten ausgeht und somit sein Publikum für diesen Text doch nicht ganz aus den Augen verloren hat. Eine vergleichsweise starke implizite Präsupponierung lassen u. a. die bereits zitierten Textpassagen erkennen, die sich auf die literarische Tätigkeit Esenins beziehen; so z . B . das bereits erwähnte: »Schaute bei Blok vorbei, Blok brachte mich mit Gorodeckij, und Gorodeckij brachte mich mit Kljuev zusammen.« 92 Keine der hier namentlich vorgestellten Personen wird — etwa durch Kennzeichnungen oder Prädikatoren — näher charakterisiert. Esenin setzt offensichtlich voraus, daß sie den potentiellen Lesern seiner Autobiographie bekannt sind und daß diese auf Grund ihres Wissens den hohen Stellenwert 88

Siehe dazu S. 24 ff. dieser Arbeit.

89

Sandig: Stilistik. . . . S. 134.

90

T o u l m i n , S . : D e r Gebrauch von Argumenten.

Kronberg/Taunus

1975, S. 89.

Sandig: Stilistik. . . . S. 163. 91

Als die geplante Veröffentlichung von Gedichten und damit auch die der >Avtobiografija< scheiterte, verlangte Esenin zwar seine Gedichte, aber nicht die A u t o b i o graphie zurück. Vgl. dazu: Belousov, V . : Sergej Esenin. Literaturnaja chronika (Literarische Chronik). Moskva 1970, S. 85/86.

92

Esenin: Avtobiografija. S. 12.

85

der Begegnung innerhalb seiner künstlerischen Entwicklung ermessen können. So ist u. a. die Aussage »Meine Verse machten großen Eindruck« in ihrer vollen Bedeutung nur dem verständlich, der weiß, daß Esenin hier berühmten und einflußreichen Literaten begegnete, deren Urteil innerhalb der literarischen Szene Petersburgs vor dem ersten Weltkrieg viel galt. Eine ähnlich starke Präsupponierung zeichnet auch die Passage über die Revolutionsjahre und Esenins Tätigkeit im Kreise der Imaginisten aus.93 All dies verweist darauf, daß Esenin für diese Autobiographie einen Rezipientenkreis antizipiert, der, bekannt mit dem literarischen Werk, lediglich an bestimmten, ergänzenden Informationen zur Biographie interessiert ist. Art und Umfang dieser Autobiographie charakterisieren diesen Text als begleitende Information zu einem dichterischen Gesamtwerk, als Bericht, und nicht als umfassend erzählende oder dialogisch bekennende Präsentation der Person Esenins und ihrer Vergangenheit. Sergej Esenins >Avtobiografija< darf als Paradigma einer berichtenden Autobiographie gelten. Zusammenfassend soll von daher diesem Typus folgende Kombination von Merkmalen zugesprochen werden: Die berichtende Autobiographie ist vornehmlich eine Handlung der Informationsübermittlung, deren Gegenstand allein der Lebenslauf eines bestimmten Individuums ist. Die Dominanz der zu übermittelnden Fakten verhindert eine starke interpretierende Bearbeitung: die Person des Autobiographien und die Situation zur Zeit der Textproduktion bleiben im Hintergrund. Folglich läßt die berichtende Autobiographie eine bestimmte enge Perspektivierung nicht erkennen. Die dargestellten Sachverhalte werden weniger durch den Autobiographen als vielmehr durch auch im Text angebotene Verifikationsmöglichkeiten beglaubigt (z. B. durch Briefe, Tagebucheintragungen u. a.). Von daher bedarf weder das Dargestellte noch die Art der Darstellung einer eingehenden Erläuterung oder gar Rechtfertigung. Dieser Verzicht auf Rechtfertigung oder Erläuterung dokumentiert zugleich die im Vergleich mit den bekennenden Autobiographien starke Unabhängigkeit der berichtenden Autobiographien von kommunikativen Kontexten. Die vom Autor antizipierten Informationsbedürfnisse potentieller Rezipienten werden selten explizit formuliert, sondern zeigen sich vornehmlich in der Weise der Textstrukturierung; die berichtende Autobiographie ist geprägt durch eine starke implizite Präsupponierung. Der entschiedenen Orientierung am Ziel einer möglichst objektiven, verifizierbaren sprachlichen Darstellung vergangener Sachverhalte korrespondiert ein weitgehender Verzicht auf Inanspruchnahme künstlerischer Darstellungsverfahren (Vorausdeutung, Motivverknüpfung, Symbolisierung u. a.).

93

86

Esenin: Avtobiografija. S. 13.

4.4. Typologie und Gattungsgeschichte Die im vorigen Kapitel herangezogenen russischen Texte wurden vor allem zu Demonstrationszwecken eingebracht; auf eine erschöpfende Behandlung des betreffenden biographischen und literarhistorischen Umfeldes konnte deshalb verzichtet werden. Dieses Umfeld wird nun aber im folgenden Abschnitt meiner Arbeit eine stärkere Berücksichtigung erfahren. In ihm soll die Typologie für gattungsgeschichtliche Untersuchungen fruchtbar gemacht werden — gründend auf der Hypothese, daß sie Differenzierungen nicht nur auf der synchronen, sondern auch auf der diachronen Ebene ermöglicht. Um dies zu überprüfen, wird im folgenden die Geschichte der deutschen Autobiographie zwischen 1730 und 1870 daraufhin befragt werden, ob innerhalb dieses Zeitraums eine bestimmte Abfolge in Bezug auf die Dominanz dieser Typen festzustellen ist. Dabei werden nicht nur Texte berücksichtigt werden, die die genannten Typen mehr oder minder deutlich repräsentieren. Vielmehr werden u. a. mit >Schubart's Leben und Gesinnungen«, Immermanns >Memorabilien< und Goltz' >Buch der Kindheit« auch Texte zur Diskussion stehen, die als Ubergangs- bzw. Grenzfälle zwischen bekennender und erzählender sowie erzählender und berichtender Autobiographie zu verstehen sind. Das bedeutet zugleich, daß die Darstellung der Gattungsentwicklung innerhalb des genannten Zeitraumes unter besonderer Berücksichtigung literaturpragmatischer Aspekte erfolgt; geistesgeschichtliche Entwicklungen, die von der bisherigen Forschung zur Autobiographie ohnehin ausgiebig behandelt worden sind, bleiben im Hintergrund.

87

GATTUNGSGESCHICHTLICHER TEIL D I E G E S C H I C H T E DER DEUTSCHEN A U T O B I O G R A P H I E VOM FRÜHEN 1 8 . BIS ZUM SPÄTEN 1 9 . J A H R H U N D E R T

5.

D i e bekennende A u t o b i o g r a p h i e im 18. Jahrhundert

5.1. Selbstentblößung als Dialogbereitschaft: Die >Leibes- und Gemütsplagen< des Adam Bernd I m J a h r e 1797 läßt d e r B e r l i n e r S p r a c h w i s s e n s c h a f t l e r , L i t e r a t u r t h e o r e t i k e r u n d K r i t i k e r D a n i e l J e n i s c h 1 ein kleines W e r k unter d e m Titel >Der allez e i t = f e r t i g e Schriftsteller< 2 e r s c h e i n e n , in d e m er in recht b i s s i g e r M a n i e r die literarischen E r r u n g e n s c h a f t e n u n d B e s o n d e r h e i t e n

des sich

seinem

E n d e z u n e i g e n d e n 18. J a h r h u n d e r t s R e v u e p a s s i e r e n läßt. Z u d e n G e g e n s t ä n d e n dieses k r i t i s c h e n U b e r b l i c k s g e h ö r e n a u c h die . . . A u t o b i o g r a p h i e n , oder B e s c h r e i b u n g e n u n s e r e s n ä r r i s c h e n S e l b s t , als eine jener vielen erstaunenswürdigen Erfindungen, mit welchen das laufende achtzehnte Jahrhundert alle seine Vorgänger und Nachfolger so glorreich überstrahlet. 3 O f f e n s i c h t l i c h in B e z u g auf d e n n a m e n t l i c h nicht g e n a n n t e n J . J . R o u s s e a u u n d d e s s e n > C o n f e s s i o n s < versteht J e n i s c h u n t e r d i e s e m

>Erstaunenswür-

digen« v o r allem die u n g e b r e m s t e s p r a c h l i c h e A r t i k u l a t i o n p h y s i s c h e r u n d p s y c h i s c h e r A b n o r m i t ä t e n , mittels derer d i e z e i t g e n ö s s i s c h e n A u t o b i o g r a -

2

Jenisch, Daniel: Philosophisch-kritische Vergleichung und verhältnismäß. Würdigung v. vierzehn alten und neuen europ. Sprachen. Berlin 1798. Jenisch, Daniel: Theorie der Lebensbeschreibung. Berlin 1802. Jenisch, Daniel: Über die hervorstechendsten Eigentümlichkeiten von Wilhelm Meisters Lehrjahren od. über das Wodurch dieser Roman ein Werk von Göthe's Hand ist. Berlin 1797. Jenisch, Daniel: Der allezeit=fertige Schriftsteller. Oder kurze, doch gründliche Anweisung, wie man mit dem möglich=kleinsten Aufwände von Genie und Wissenschaft ein großer und fruchtbarer Schriftsteller werden könne: erläutert durch die ausgesuchtesten Beyspiele aus den aller=neuesten teutschen Schriftsteller=werken: Zu N u z und Frommen des schreibenden, urtheilenden und lesenden Publikums teutscher Nazion ans Licht gestellt. Berlin 1797.

3

Jenisch: Der allezeit=fertige Schriftsteller. S. 118/119.

1

89

phen die Aufmerksamkeit einer sich ständig vermehrenden Leserschaft zu fesseln suchen. Denn Jenisch fährt fort: Ein wahrer Bliz=blick des Genies . . . war der Gedanke in dem großen Geist, der zuerst den kühnen, und von keinem s c h l i c h t = v e r n ü n f t i g e n Menschen nach ihm auszuführenden, Entschluss faßte, bey Leibes Leben, und ohne den entferntesten Gedanken an Testament, T o d und Grab, sein eigenes Leben zu beschreiben, und dem kurzweiligen Publikum, mit seinen Thorheiten, Geniesstreichen, Bocksprüngen, Liebeleyen und Rasereyen, in puris naturalibus zur Schau darzubieten. 4

Die Kritik von Jenisch gilt freilich nicht allein dieser Enthüllungspraxis; lediglich das Sprechen über psychische und physische Krankheiten z. B. kann ihn, der immerhin zu den Autoren des von K. Ph. Moritz herausgegebenen >Magazin(s) zur Erfahrungsseelenkunde< 5 gehört, nicht so in Rage gebracht haben. Es ist vielmehr das >Sich zur Schau stellenAutobiographie< für ihn zu einem Gruselkabinett herabgesunken, in dem persönlichste und intimste Sachverhalte häufig genug zum Abnormen hin stilisiert werden, um die Kauflust eines sensationsdurstigen Publikums anzureizen und durch vermehrte Produktion solcher Elaborate auch zu befriedigen. Der von den meisten Autoren intendierte Rezipient ist nicht mehr wie so oft im 18. Jahrhundert Partner oder Gegner im Rahmen einer konkreten Auseinandersetzung, sondern ein >VorübergehenderAutobiographie< hält Jenisch auch noch zu Beginn des 19. Jahr4 5

6

90

Jenisch: Der allezeit=fertige Schriftsteller. S. 119. Moritz, Carl Philipp, C . F. Pockels u. Salomon Maimon: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde herausgegeben von Carl Philipp Moritz. 10 Bde. Berlin 1783-1793. Jenisch: Der allezeit=fertige Schriftsteller. S. 128.

hunderts für so bedenklich, daß er in seiner 1802 erschienenen >Theorie der Lebensbeschreibung< dafür plädiert, den Autobiographien »eine p r ü f e n d e B e y l a g e von der H a n d eines tiefforschenden Menschenkenners« beizulegen, worin gründlich untersucht würde, in wie fern und wo sich diese Herren Selbstbeschreiber in ihrer eigenen Ansicht getäuscht? wo sie sich aus Eitelkeit verschönert? und wo sie sich, bloß um das Interesse des Lesers zu verstärken, oder auch bloß um als desto größere Originale die Aufmerksamkeit der Welt anzuziehen, verhäßlichet?7 A u c h wenn die Ausführungen von Jenisch zum T h e m a >Autobiographie< überspitzt klingen, sind sie doch in mehrfacher Hinsicht von Belang, wenn es darum geht, den Standort auszuloten, den die Gattung >Autobiographie< gegen E n d e des 18. Jahrhunderts innerhalb der literarischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit 8 einnimmt: sie gehören zu den frühesten A u s sagen, die den Gattungsbegriff >Autobiographie< verwenden; 9 sie betonen, wenn auch ironisch, den hohen Stellenwert, den diese Gattung im Verlauf des 18. Jahrhunderts erlangt hat; 1 0 und sie dokumentieren als eines der E r -

Jenisch: Theorie der Lebensbeschreibung. S. 170/171. Siehe dazu: Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied und Berlin 5 1971, S. 69 ff. ' D i e in diesem Zusammenhang von Misch: Geschichte . . . Bd. I, S. 7 ff. und in seinem Gefolge von Neumann: Identität . . . S. 9 zitierten Sammlungen der 90er Jahre verwenden die Gattungsbezeichnung »Selbstbiographie«. 10 Zu den Ausgangspunkten dieser Entwicklung dürfte übrigens neben dem pietistischen Bekenntnis und der Gelehrtenvita auch das in den Leichabdankungen enthaltene curriculum vitae gehören. Aus dem beigefügten Text wird ersichtlich, daß bereits im 17. Jahrhundert viele dieser curricula der Feder des Verstorbenen entstammen und daß ihre sprachliche Gestaltung abhängig von bestimmten Schreibsituationen war: »Nach dem nun / Christlichem Brauch nach / auf unsers seeligen Herrn Doctors wohlbekand-rühmlich geführt = und hochgebrachten Lebens=Lauff zu schreiben; so könnte Ihme zu wohlverdienten Ehren derselbe weitläufftig vorgestellet werden. Weil aber der seelige Doctor des theuren Manns Mosis Gebeht: Herr / lehre uns bedencken / daß wir sterben müssen / auf daß wir klug werden / wohl offt gebehtet haben mag / und von G O T T dieser seeligen Klugheit gewehret worden; So hat Er solchen seinen Lebens=Lauff schon vorlängst selber kürtzlich entworffen / nach Gelegenheit der Zeit auch etwas verändert«. Geistliches Amulett, Befindlichen in den Worten des H E R R N Messiae Psal. X X X I , 16 Herr / meine Zeit stehet in deinen Händen; Welches im Leben und Tod vor höchst=bewährt und heilsam wahrgenommen Der weyland Wohl=Edle / Groß=Achtbare / Hochgelehrte und Hocherfahrne Herr Johann Dammenhan / Der Artzneyen fürnehmer Doctor, und Hoch - Gräflicher Reuß=Plauischer wohlbestalter Leib= und H o f = wie auch Stadt=Medicus, ingleichen bey dem Hoch= Gräflichen Reuß=Plauischen Gymnasio Physices Prof. Publ. allhier in Gera / so 7 8

91

gebnisse der rasanten Gattungsentwicklung eine negative Rezeptionshaltung, der diese Gattung zunehmend begegnet. Die Ausführungen von Jenisch zur Gattungsentwicklung werden durch die Publikationspraxis im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts weitgehend bestätigt. So wird z. B. das nachhaltige Interesse, das dieser Gattung in der Gunst eines breiten Publikums entgegengebracht wird, durch ihre auffällige quantitative Ausweitung bestätigt. Ein Blick auf die Messkataloge zwischen 1770 und 1797 (dem Erscheinungsjahr der Schrift von Jenisch) läßt erkennen, daß sich der Anteil autobiographischer Schriften an der für diese Zeit konstatierbaren Vermehrung der Editionen überdurchschnittlich erhöht; die Veröffentlichung solcher Texte erfährt während dieses Zeitraumes eine Steigerung von ca. 400 Prozent. Von dieser quantitativen Vermehrung zeugen besonders die immer häufiger

edierten

Sammlungen

von

Autobiographien

wie

z. B.

Schillers

1790—1795 herausgegebene >Allgemeine Sammlung Historischer Memoires vom zwölften Jahrhundert bis auf die neuesten Zeiten . . .merkwürdigsonderbar< oder >berühmtGeschichte eines Onaniten, zur Belehrung und Warnung für jedermann^ 1 7 >Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibung berühmter Schwarzkünstler, Zeichen- oder Liniendeuter, Goldmacher, Teufelsbanner, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer U n h o l d e s 1 8 >Biographie berlinischer FreudenmächenBiographien der KindermörderConfessions< besonders intensiv betriebene Enthüllungspraxis gegen Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb eines kommunikativen Rahmens geschieht, der zunehmend von den Regeln bestimmt ist, die für einen erfolgreichen Vollzug der Sprechhandlung >erzählen< gelten. Es ist das Besondere an dieser Phase der Gattungsgeschichte, daß die Gattung ihre Orientierung an der in besonders starkem Maße durch Dialogizität geprägten Sprechhandlung >bekennen< gerade zu einem Zeitpunkt aufgibt, an dem sie verstärkt zum Erzählen von Sachverhalten neigt, die einige Jahrzehnte zuvor bestenfalls in Extremsituationen geäußert worden sind. Die für eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen stehende Rezeption des Daniel Jenisch oder auch die beginnende Parodierung solcher erzählender Enthüllungen 21 lassen erkennen, daß gegen Ende des 18. Jahrhunderts diese Art autobiographischen Schreibens von einem Teil des Publikums als unangemessen empfunden wird. Die Rezipienten orientieren sich offensichtlich noch an einer Gattungstradition, welche die gelungene Verbindung von Enthüllen und bekennender Sprechhandlung betont, eine Verbindung, die Z. B . : Sammlung merkwürdig. Lebensbeschreibungen berühmter Leute größtent e i l s aus der brittanischen Biographie genommen. Halle 1770. 16 Siehe dazu die Titelangaben in den Anm. 12—15. 17 Deutschland 1794. 18 Leipzig 1794. " 2 Th. Berlin 1795. 2 0 Biographie der Kindermörder vom Verf. der Biographie der Selbstmörder. Leipzig 1795. 21 Z. B . : Denkwürdigkeiten des ehemaligen Nachtwächters Robert zu Swäzen, derzeitigen Satrapen im Lande Caramania. Schneeberg 1795. Barthel M o s t : oder Leben und Abenteuer eines Pädagogen neuerer Zeit; von ihm selbst aufgesetzt. Magdeburg 1796. 15

93

im Deutschland des 18. J a h r h u n d e r t s für die Entfaltung bürgerlichen Selbstbewußtseins so außerordentlich wichtig gewesen ist. Eines der frühesten und signifikantesten Beispiele für die genannte V e r b i n dung ist die >Eigene Lebensbeschreibung« 2 2 des Leipziger Predigers u n d T h e o l o g e n Adam

Bernd.

B e r n d , geboren 1 6 7 6 in Breslau, gestorben 1 7 4 8 in

Leipzig, w a r seinen Zeitgenossen d u r c h eine Vielzahl theologischer T r a k tate und P r e d i g t s a m m l u n g e n 2 3 bekannt geworden. Besonderes Aufsehen hatte er im J a h r e 1 7 2 8 d u r c h einen unter d e m P s e u d o n y m Christian M e l o dius veröffentlichten T r a k t a t über den >Einfluß D e r Göttlichen W a h r h e i t e n in den Willen / und in das gantze L e b e n des Menschen« 2 4 erregt, der als gravierender Angriff auf wesentliche Positionen der lutherischen O r t h o d o x i e aufgefaßt w u r d e . I m Verlauf dieser Auseinandersetzungen u m den » M e l o dianismus« w a r B e r n d schließlich v o r ein Kirchengericht gestellt, z u m W i derruf seiner Häresien g e z w u n g e n und auf eigenen A n t r a g v o m P r e d i g e r a m t suspendiert w o r d e n . D a ihm v o n daher die Möglichkeit g e n o m m e n war, sich in der Öffentlichkeit mündlich zu artikulieren, w i d m e t e er sich verstärkt der schriftstellerischen Tätigkeit, zu deren wichtigsten P r o d u k t e n die im J a h r e 1 7 3 8 erschienene >Eigene Lebensbeschreibung« z u zählen ist.

22

23

24

94

M. Adam Bernds, Evangel. Pred. Eigene Lebens=Beschreibung Samt einer Aufrichtigen Entdeckung, und deutlichen Beschreibung einer der grösten, obwol großen Theils noch unbekannten Leibes = und Gemüths=Plage, Welche G O t t zuweilen über die Welt=Kinder, und auch wohl über seine eigene Kinder verhänget; Den Unwissenden zum Unterricht, Den Gelehrten zu weiterm Nachdencken, Den Sündern zum Schrecken, und Den Betrübten, und Angefochtenen zum Tröste. Leipzig, 1738. Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Mit einem Nachwort, Anmerkungen, Namen- und Sachregister hrsg. v. Volker Hoffmann. München 1973. (Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert). Z. B. Bernd, Adam: Einleitung Zur Christlichen Sitten-Lehre, und Anleitung Zur Wahren Gottseeligkeit, Zum Nutzen derer, So die Morale studiren wollen, Und von der Gottseeligkeit sowohl eines deutlichen Unterrichts, Als einer wohlmeynenden Aufmunterung . . . vonnöthen haben . . . Leipzig, 1733. Weitere Angaben zu den Schriften siehe Hoffmann: Adam Bernd. S. 453—55. Jöchers Allgemeines Gelehrten-Lexicon< von 1750 (1019/20) gibt eine ausführliche Auflistung von Bernds Schriften. Bezeichnend für die Einschätzung der Gattung »Autobiographie« um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist dabei, daß die >Eigene Lebensbeschreibung« nicht zu den »Schriften« gerechnet, sondern lediglich beiläufig, am Schluß erwähnt wird. Christianus Melodius: Einfluß Der Göttlichen Wahrheiten in den Willen / und in das gantze Leben des Menschen . . . ; Helmstädt und Leipzig 1728. Zu Einzelheiten des >Melodius-Streites< siehe: Walch, Johann Georg: Historische und theologische Einleitung in die Religions=Streitigkeiten Der Evangelisch-Lutherischen Kirchen, Von der Reformation bis auf jetzige Zeiten, 2. Aufl., 5 Tie. Jena 1733—1739, Bd. III (1734), S. 5 3 4 - 8 4 8 .

Bernd präsentiert auf den knapp 600 Seiten seiner Autobiographie den Ablauf seines Lebens von der Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift. Der Text ist äußerlich sowohl nach temporalen als auch nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert. Bernd reiht chronikalisch einen mit Jahreszahlen gekennzeichneten Jahresbericht an den anderen, vernachlässigt jedoch diese annalistisch orientierte zuweilen zugunsten einer thematisch ausgerichteten Unterteilung. Diese an Chroniken gemahnende Textstruktur kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es hier um ganz anderes als die reihende, berichtende Wiedergabe historischer Fakten geht. Vielmehr ist diese Autobiographie vor allem um die sprachliche Gestaltung und Bewältigung sehr persönlicher und intimer Zustände und Handlungen ihres Verfassers bemüht. Bernd stellt diese Intention schon in der Vorrede sehr nachdrücklich heraus: Um dir Anfangs, geliebter Leser,25 einen generalen Begriff, und summarischen Abriß von meinem miserablen und Jammer-vollen Leben zu machen, so findest du hier ein Exempel eines Menschen, bei dem Gottes gewöhnliches und großes Haupt-Werk vom zwölften Jahre an bis ins Alter, und schier bis diese Stunde gewesen, ihn zu töten, und wieder lebendig zu machen: ihn in die Hölle, und wieder heraus zu führen [1. Sam. 2,6]. Oder die Sache noch mit mehrern Worten auszudrücken, so liesest du das Leben eines Mannes, der wegen der schrecklichen Verderbnisse, so in seiner Seelen zu finden gewesen, und gegen welche er sich nicht eifrig genug gesetzet, noch männlich genug wider solche gestritten, sich durch eigene Schuld und Saumseligkeit, und Mangel der geistlichen Wachsamkeit bald sich selbst, so zu reden, getötet, bald aber durch Gottes große und unaussprechliche Gnade wieder lebendig gemacht: sich bald in die Hölle schwerer Anfechtungen selbst hineingeführet, bald durch Gottes Erbarmen wieder heraus geführet worden: . . . der in dem Ofen des Elendes unter seltsamen Leibes- und GemütsPlagen, ja unter den schrecklichsten Versuchungen, die nur jemals einem Menschen begegnet, oder in Büchern aufgeschrieben zu finden, bei nahe Geist und Blut ausgeschwitzet (S. 16).

Gegenstand dieser >Lebensbeschreibung< sind großenteils eben diese »Leibes- und Gemüts-Plagen«, Krankheiten verschiedenster Art, die sich in den mannigfaltigsten Symptomen äußern. Diese betreffen gleichermaßen physische und psychische Bereiche: Bernd berichtet von ständigen Leibschmerzen, Durchfällen, Verstopfungen, Zwangsvorstellungen und schweren Depressionen. Die Schilderung geschieht zuweilen mit einer zwanghaft wirkenden Ausführlichkeit und Detailliertheit, 26 so daß dieser 25 26

Hervorhebungen im Original. »Ich war 1) verstopft im Leibe, 2) hatte keinen Appetit zum Essen und Trinken, 3) stieß es mir den ganzen Tag auf, 4) der Ober-Teil des Magens war geschwollen, 5) es drückte mich auf der rechten Brust, und fieng mich es auch an zuweilen auf derselben zu stechen, so gar, daß ich des Nachts nicht auf der rechten Seite liegen kunte, 6) wenn ich mich kaum des Abends ins Bette gelegt hatte, so brach der

95

Text bisweilen mehr als medizinische Fallstudie und nicht so sehr als autobiographische Schrift erscheint. Nun ist eine solche Darstellung von Kranheitszuständen im 18. Jahrhundert nichts umwälzend Neues. Die so detailliert geschilderten Zustände, Affekte und Handlungen der oben genannten Art sind Symptome einer Krankheit, die für das 18. Jahrhundert charakteristisch ist wie kaum ein anderes Leiden, nämlich die Melancholie. Hans-Jürgen Schings umfassende Arbeit über >Melancholie und AufklärungEigene Lebensbeschreibung< präsentiert ihren Autor Bernd als einen Melancholiker par excellence. Das zeigt sich nicht allein an der Art der dargestellten Krankheitssymptome, sondern auch an der Beobachtungsgabe, mit der diese Symptome konstatiert, dargestellt und kommentiert werden. Das Unverwechselbare an der Behandlung dieser Thematik durch Bernd besteht zunächst einmal darin, daß die >Eigene Lebensbeschreibung< in einer bis dahin nicht gekannten Ausführlichkeit und Offenheit von solchen Krankheitszuständen spricht, daß hier z. B. Symptome sprachlich artikuliert werden, die den in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch weitge-

27

96

Schweiß Haufen-Weise heraus, und währte bis an Morgen. 7) Ich kunte vor Schwindel auf der Gasse nicht mehr gehen, 8) öfters spürte ich starkes HerzKlopfen, 9) das Fleisch fiel zusehende vom Leibe, und kamen alle Adern hervor, 10) in vola und in der Fläche der Hände und der Füßte hatte ich solche Hitze, daß, w o ich nur einen Stuhl, Tisch, oder nur was Kühlendes antraf, ich die flache Hand drauf legte, um die Hitze nicht so sehr zu empfinden, 11) nach der Mahlzeit war der rechte Backe, und das rechte Ohr-Läpgen Feuer-rot, und die linke Seite hingegen blaß, so daß die, so um mich waren, sich recht darüber verwunderten; andere Dinge zu geschweigen, die mir jetzt nicht mehr alle einfallen.« Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 260. Wie wenig eine so ausführliche Darstellung eigener Krankheiten und Leiden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts innerhalb der Gattung A u t o biographie« üblich war, auch wenn sie das Leben des betreffenden Autobiographen stark tangierten, zeigt eine Reihe anderer Autobiographien, z. B. diejenige des Naumburger Theologen Johann Martin Schamelius, der auf diese Thematik ganze zwei Sätze verwendet. Johann Martin Schamelius: Historie und Führung des Lebens Johann Martin Schamelii, weyland Oberpfarrers in Naumburg, und der Rathsschule Inspectoris, welche er zum Gedächtnis selbst aufgezeichnet, nebst einigen hinzugefügten Nachrichten von dessen Tode und Schriften, und einer Vorrede von unschuldigen Bemühungen, sein Gedächtnis zu erhalten. Leipzig 1743, S.42/43. Von einer genaueren Darstellung der Berndschen Melancholie und Melancholieauffassung und ihrer Quellen soll deshalb hier abgesehen werden. Schings, HansJürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 97—126.

hend tabuisierten Bereichen des Sexuellen und Skatologischen angehören, 2 8 (z. B . Impotenz, ständiger H a r n - D r a n g , Durchfall). Als besondere » G e mütsplage« erscheint ein immer wieder auftretender Zwang,

solcherart

Sachverhalte zu imaginieren, wobei das Geständnis, diese Imaginationen in nicht näher spezifizierter Weise auf religiöse Inhalte bezogen zu haben, die Zeitgenossen besonders provoziert haben m u ß : Ich meinte, mein Jammer, Trübsal und Elend würde nun bald kommen zu einem seligen End. Denn ich bekam gegen die [Leipziger] Messe einen höchst dünnen Leib, so daß ich Anfangs gänzlich meinte, ich würde am Durchfall sterben müssen, und aller Plagen auf einmal los werden. Allein diese Krankheit war wider alles Vermuten eine Gelegenheit zu einer neuen Anfechtung. Denn auf die selbstmörderischen Gedanken, oder auch zu denselben, kamen nun auch die abscheulichsten, und unflätigsten Gedanken, so von natürlichen Dingen und Excrementis hergenommen, und, welches erschrecklich zu sagen, auf göttliche Dinge im Gemüte schnelle appliciret [bezogen] wurden. Ich mag sie nicht specificiren, um keines Menschen Imagination dadurch zu vergiften, und etwan anzustecken (S.133). Eine weitere Besonderheit dieses Textes besteht darin, daß Bernd mit ihm eine sprachliche Handlung vollzieht, deren Intention nicht allein auf stellung,

sondern auch auf die Lösung

Dar-

von Problemen gerichtet ist. Bernd

antwortet mit diesem Text auf in der Vergangenheit liegende Auseinandersetzungen, vor allem natürlich auf den Melodius-Streit, und versucht diese mittels der >Eigene(n) Lebensbeschreibung« weiterzuführen. Welcher Verfahren er sich dabei bedient, wird im folgenden zu zeigen sein. Das Wiederaufnehmen vergangener Auseinandersetzungen begegnet in Bernds Autobiographie recht häufig, z. B. wenn es um die Beurteilung seiner Melancholieanfälle durch Vorgesetzte und Ärzte geht: Und doch war der Mann (der Arzt, J. L.) so dreiste, daß er mich bereden wollte, ich bildete mir bloß ein, daß ich krank wäre. Er schwur einst so gar leichtsinnig darzu: Der T . . . hole mich, sprach er, dem Herrn Magister fehlt nichts, sondern es ist die pure Einbildung. Er hatte dazumal, so oft ich wegen meiner Krankheit zu ihm kam, einen Menschen um sich, den er wegen seines lustigen und aufgereimten Humeurs [Charakters] überaus wohl leiden kunte, und der auch in meiner Gegenwart mit ihm manchmal zu scherzen pflegte. O b dieser den Herrn Doctor, oder ob D. Drechsler ihn beredet, daß ich mir nur krank zu sein einbildete, weiß ich nicht; so viel weiß ich, daß alle beide in dieser Meinung stunden, und auch andere Leute damit einnahmen, mich folgentlich bei denselben ridicül machten, und vor einen malade imaginaire ausgaben. Mit diesem irrigen Wahn hatten sie so viel andere Leute eingenommen, daß auch nach der Zeit, als ich schon im Predigt-Amt war, und öfters mit allerhand Krankheiten incommodiret, und überhaupt krank und schwächlich war, (weil ich, wie oben gesaget, von derselben Zeit an, niemals in meinem Leben zur völligen Gesundheit wiederum gelanget), einige so gar von 28

Vgl. dazu: Möller, Helmut: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur. Berlin 1969, S. 282 ff. 97

meinen Patronis es gleichsam als eine gewisse Wahrheit ansahen, daß ich mir nur einbildete, als ob ich krank wäre. Ich wollte mich einstens gegen H e r r Superintend Dornfeld mit meiner Maladie und Schwachheit entschuldigen, er berufte sich aber gleich darauf, daß eine gemeine Rede sei, und die Leute sprächen, der Prediger in der Peters-Kirchen bilde sich ein, er sei krank; und dies sagte er mir noch dazu auf eine solche Weise, daß er selbst darüber mußte lachen, ja daß ich schließen kunte, daß er mich selbst im H e r z e n , als einen Narren, auslachte, und von solchen Leuten mit diesem Wahn mußte sein eingenommen worden, die es ihm cum sale [mit Salz, Witz], und auf eine lächerliche Manier beigebracht: ganz so, wie nach der Zeit ein gewisser D o c t o r , der mich curiren sollte, mich immer gleichfalls bei diesem, und jenem Umstand, den ich ihm erzählte, lächlende bereden wollte: es sei wohl nur meine Einbildung, und wäre schon vor vielen Jahren mit dieser Einbildung eingenommen gewesen, und daß ihn solches der obgedachte Mensch in einer C o m pagnie versichert hätte: da ich denn ebenfalls aus seiner Erzählung, weil er sich dabei eines höhnischen und verächtlichen Lachens nicht enthalten kunte, urteilen mußte, daß ihm dieser W a h n gleichfalls etwan in einer Gesellschaft von demselben lächerlich, und cum acumine [mit W i t z ] müsse sein beigebracht worden. So ein geringer Fehler es zu sein scheinet, daß einige Menschen sich angewöhnet, niemals ernsthaftig zu sein, sondern, gleich dem Comoedianten Plauto, im Umgange mit dem Nächsten alles in Scherz verwandeln, und überall Possen machen wollen: so hat es doch öfters übele Würkungen . . . sie tun auch dem Nächsten öfters dadurch einen unverantwortlichen Schaden. In so gutem Credit derselbe etwan noch stehet bei andern Leuten, wegen seiner Erudition und andern G a b e n , so ihm die Natur verliehen, so muß er um eines solchen lustigen Menschen willen vor der ganzen Welt, und vor allen ehrlichen Leuten zum Narren werden, und die Zeit seines Lebens ein närrisch Beispiel anderer Leute sein (S. 2 5 8 / 2 5 9 ) . D i e s e s d i r e k t e u n d i n d i r e k t e R e p r o d u z i e r e n > f r e m d e r R e d e < , 2 9 die B e r n d s M e l a n c h o l i e a n f ä l l e als S y m p t o m e e i n e r e r h i t z t e n P h a n t a s i e o d e r g a r e i n e s Simulantentums

erklärt,

vermittelt dem

L e s e r freilich m e h r

als n u r

die

Kenntnis vergangener Auseinandersetzungen. E s dokumentiert, daß Bernd sich v o n den N a c h w i r k u n g e n

solcher Kommunikationssituationen

noch

n i c h t frei g e m a c h t h a t 3 0 u n d die > E i g e n e L e b e n s b e s c h r e i b u n g < als I n s t r u m e n t v e r s t e h t , d a s E r g e b n i s d i e s e r A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n j e t z t n o c h in f ü r ihn positiver W e i s e zu verändern. D i e enge Verbindung zwischen der G e g e n w a r t des S c h r e i b e n d e n u n d s e i n e r V e r g a n g e n h e i t b e z e u g t d a b e i v o r a l l e m die b e r e i t s bei G o g o l ' k o n s t a t i e r t e V e r w e n d u n g p e r l o k u t i o n ä r e r A u s d r ü c k e

29

Vgl. dazu die Ausführungen über Bachtin S. 24 ff.

30

V o n daher erscheint es auch unverständlich, wie Bertolini davon sprechen kann, daß Bernd »wie ein unbeteiligter Beobachter« von seiner Vergangenheit spricht. Bertolini, I n g o : Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus. Phil. Diss. Wien 1968, S. 169. Diese Distanzlosigkeit ist bereits im 18. Jahrhundert, u. a. von Herder und Hamann, vermerkt worden: Herder, Johann Gottfried: Sämtliche Werke. Hrsg. von B . Suphan. Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 . Bd. 8, S. 182. Hamann, J o h a n n G e o r g : Briefwechsel. Hrsg. v. Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955. Bd. 1, S. 4 3 3 / 4 3 4 .

98

bei der Wiedergabe und Charakterisierung dieser >fremden Rederidicül machenandere Leute mit irrigem Wahn einn e h m e n , >dem Nächsten Schaden tun< bezeichnen nicht allein die sprachlichen Handlungen der Widersacher, sondern deren Wirkungen und Folgen, die nicht nur die personale Integrität des Predigers Bernd, sondern — noch zehn Jahre nach dessen Entlassung aus diesem Amte — diejenige des Autors der >Lebensbeschreibung< in Frage stellen und Antworten im Rahmen des autobiographischen Schreibens verlangen: Ich will nicht gedenken, wie eines solchen Mannes Amt, insonderheit wenn er ein Prediger ist, und wie alle seine Erbauung geschwächet werde, wenn seine Zuhörer mit diesem Vorurteil wider ihn eingenommen, und ihn vor einen närrischen Kerl ansehen müssen, daß er sich einbildet, er sei krank, da er es doch nicht ist. N u n die bisher erzählten Zufälle [Krankheit], und weitere Fortsetzung meines Lebens, und viele andere Leibes- und Gemüts-Krankheiten, die mir zugestoßen, werdens verständigern Lesern weisen, ob ich ein solcher Narr gewesen; oder ob vielmehr diejenigen unweislich und unverantwortlich an mir gehandelt, die mich zuerst vor einen solchen Tor ausgeschrien, als ob ich mir krank zu sein nur einbildete, es mögen dieselben nun gewesen sein, wer sie wollen (S. 259).

Die Verzahnung von gegenwärtigem und vergangenem sprachlichen Handeln versucht Bernd auch dort zu erreichen, wo er erklärterweise seine Rolle als Prediger mit dem Schreiben der Autobiographie weiterzuführen gedenkt: Ich kann noch nicht vergessen, daß ich ein Prediger gewesen, oder auch noch bin; und, da ein jeder Christ, als ein geistlicher Priester [vgl. 1. Petr. 2,5—9], verbunden, nicht nur seinen Nächsten zu unterrichten, und zu trösten, sondern auch wohl brüderlich zu bestrafen [3. Mos. 19,17; Matth. 18,15], so hab ich gemeinet, es würde vielmehr auch mir noch erlaubet sein, Hohe, und Niedrige, wenn schon nicht verdammlicher Sünden zu zeihen, doch ihnen einen, und den andern Fehler und Versehen, und was etwan noch besser hätte eingerichtet werden können, in Liebe zu zeigen (S. 14).

Es ist sicher nicht zufällig, daß sich Bernd in diesem und einer Vielzahl anderer Zitate 31 als Prediger in Erinnerung ruft, ist doch der zweite wesentliche Gegenstandsbereich seiner Lebensbeschreibung« seine Tätigkeit als Prediger und Theologe. Er berichtet nicht allein sehr ausführlich von seiner theologischen Ausbildung und seinen Auseinandersetzungen mit anderen Theologen vor dem Melodius-Streit, sondern auch mit großem Stolz von seinen Erfolgen als Prediger. Die seitenlangen Ausführungen zu diesem Thema lassen sowohl die Vielfalt dieser Tätigkeiten in der Öffentlichkeit als auch die Gründe für ihren Erfolg erkennen. Für diese Erfolge sind nach Auffassung Bernds seine rhetorischen Fähigkeiten und die Themen seiner Predigten verantwortlich, und zwar deshalb, weil es solche sind, " Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 279 ff.

99

die zwar von unserer Kirchen niemals geleugnet worden, die aber eben nicht gar zu oft im Predigen berühret, und eingeschärfet werden, . . . (S. 282).

Bernd ergreift die mit dem Schreiben der Autobiographie verbundene Möglichkeit, seine Predigterfolge zu begründen und Bestandteile dieser Predigten sogar zu wiederholen, indem er die von der Amtskirche und ihren Repräsentanten auf der Kanzel sicher nicht umsonst 3 2 vernachlässigten »Wahrheiten und Lehr-Sätze« 3 3 in den Text der >Eigene(n) Lebensbeschreibung« einbringt. Er umgeht damit zumindest partiell das ihm auferlegte Lehr- und Predigtverbot, zumal er sich von den Inhalten dieser Predigten nicht distanziert, sondern sie ausdrücklich als für die Gegenwart gültig erklärt. 3 4 Ein solches Verzahnen der Schreibsituation mit sprachlichem Handeln in der Vergangenheit ließe sich an einer Vielzahl anderer Beispiele zeigen. Bernds »Eigene Lebensbeschreibung« ist hinsichtlich ihrer kommunikativen Struktur so beschaffen, daß die dargestellten Begebenheiten als Anlaß und Rechtfertigung des autobiographischen Sprechens angesehen werden können. Die sprachliche Reproduktion vergangener Handlungen, Sprechhandlungen und historischer Ereignisse ist somit nicht allein ein Akt der reinen Informationsvermittlung, sondern eine Aktualisierung und Weiterführung von in der Vergangenheit begonnenen Interaktionen. N u n manifestiert sich die enge Bezogenheit dieses Textes auf andere schriftliche und mündliche Äußerungen — seine im Sinne Bachtins zu verstehende >Dialogizität< — nicht allein in der intensiven Aufnahme vergangener, sondern auch in der Antizipation zukünftiger sprachlicher Interaktion. Das belegen zum einen die häufig anzutreffenden Leseranreden sowie zum anderen die ausführlichen und expliziten Äußerungen, durch die intendierte bzw. erwartete Reaktionen der Rezipienten artikuliert werden, z. B. der Schluß der umfänglichen Titelangabe: Den Unwissenden zum Unterricht, Den Gelehrten zu weiterm Nachdencken, Den Sündern zum Schrecken, und Den Betrübten, und Angefochtenen zum Tröste. (Titelblatt)

Diese Titelformulierung umreißt sowohl die von Bernd anvisierten Adressatenbereiche als auch die von ihm intendierten Wirkungen der Autobio32

33 34

In seinem psychoanalytisch orientierten Interpretationsansatz verweist Volker H o f f m a n n darauf, daß die Predigertätigkeit Bernd willkommene Möglichkeit bot, angestaute Aggressionen abzureagieren, und daß von daher tabuisierte Inhalte auch in die Predigten eingingen. Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 412/413. Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 282. Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S.284.

100

graphie. Indem er mit dieser Formulierung mehr den perlokutionären (also den wirkungsbezogenen) Aspekt seiner autobiographischen Schrift unterstreicht, verstärkt er den ja schon explizit formulierten Adressatenbezug noch erheblich. Die Art der Benennung der Adressaten und die explizit formulierten perlokutionären Aspekte des Textes verweisen in der Titelangabe darauf, daß Bernd explizit zunächst einen umfassenden Rezipientenkreis anvisiert, den er dann allerdings implizit, in der Art der Darstellung und der Kommentierung der eigenen Krankheitsgeschichte, zunehmend einschränkt. Deren sprachliche Gestalt läßt zunächst erkennen, daß sowohl der religiös-theologische als auch der medizinisch-naturwissenschaftliche Diskurs für Darstellung und Interpretation besonders relevant ist; die Bezeichnung »Anfechtung« und »Leibes- und Gemüts-Plagen« für den gleichen Sachverhalt sind ein erstes, gewichtiges Indiz dafür. Ahnlich werden Angstzustände, Depressivität und Zwangsvorstellungen einerseits als »Anfälle des Satans« 35 bezeichnet und andererseits als Symptome einer »kranke(n) Milz« 3 6 diagnostiziert, zu ihrer Heilung werden sowohl eine strenge Diät als auch das Gebet empfohlen. Diese Orientierung an Medizin und Theologie bestimmt vor allem die längeren Passagen zum Thema >SelbstmordImaginationLebensbeschreibung< beanspruchender »Discours von der Autochirie« 37 versucht, in einer schon rationalistisch anmutenden Analyse die Verbindung von Melancholie und solchen zum Selbstmord führenden Zwangsvorstellungen nachzuweisen. 38 Die Genauigkeit und Intensität dieser Analyse sucht trotz ihrer von Schings nachgewiesenen Anleihen bei Locke und Malebranche 39 nicht nur in der autobiographischen, sondern auch in der naturwissenschaftlichen Literatur der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihresgleichen. Nicht umsonst haben sich eine Generation später die Herausgeber des >Magazin(s) zur Erfahrungsseelenkunde< besonders intensiv mit diesem Text beschäftigt. 40

35 36 37

38 39 40

Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 335. Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 379. In diesem Abschnitt tendiert die >Eigene Lebensbeschreibung< zum T y p der berichtenden Autobiographie und unterscheidet sich dadurch u. a. vom Text Gogol's. Siehe dazu: Schings: Melancholie . . . S. 113ff. Schings: Melancholie . . . S. 116ff. Besonders im Band V, 1, S. 1 0 3 - 1 2 7 , 2, S. 1 7 - 3 9 . 101

Andererseits kann Bernd auch bei der Erörterung dieser ihn immer wieder bedrängenden Zwangsvorstellungen auf deren religiös-theologische Deutungsmuster nicht völlig verzichten, besonders dann, wenn es nicht nur um deren Erklärung, sondern auch um die Befreiung von ihnen geht: Je mehr ich vor diesem Selbst-mörderischen Bilde erschrak: je tiefer imprimirte es sich [drückte es sich ein], und je öfterer mußte es mir hernach natürlicher Weise wieder einfallen. Doch es blieb nicht bloß bei dieser Gattung und Specie; sondern ich wurde eben so stark hernach mit den Idéen von Stürzen, Ersäufen und Hängen gemartert, worbei ich im Leibe abzehrte, und ganz zu verdorren anfieng. Wann dergleichen Zufälle bloß vom Leibe herkommen, und die Melancholie nur ihren Grund in verstopften Gefäßen, und verbrannten Geblüte hat, so kann ich nicht anders, ich muß der Ärzte ihren Rat billigen, nach welchem sie in solchen Fällen das Aderlassen vorschlagen, sintemaln sie die Erfahrung gelehret, daß dieses die Patienten oft von solchem Übel befreiet. Wenn aber bei solcher Schwermut und Melancholie, und dergleichen betrübten Einfällen ein Gewissens-Kummer, und eine Angst wegen begangener Sünden zu finden, so hat mich die Erfahrung in meinem Amte gelehret, daß alsdenn das Aderlassen die Krankheit nicht hebe, ja daß, weil durch Aderlassen die Kräfte des Menschen noch mehr geschwächet werden, das Übel nur desto ärger werde, wenn das Gewissen durch Gottes Wort nicht zuvor geheilet, und beruhiget worden; sintemal die große Gewissens-Angst hernach desto leichter die durch das Aderlassen geschwächte Lebens-Geister verwirren, und den Menschen seines Verstandes berauben kann, so daß derselbe hernach ohne Verstand nach dem erschrecklichen Bilde würket, was in seinem Haupte entstanden, und selbst Hand an sich leget (S. 128/129).

Bernd läßt also nicht nur zwei Erklärungsmodalitäten hinsichtlich der Entstehung der genannten Zwangsvorstellungen zu, sondern er empfiehlt in Bezug auf die Therapie eine Ergänzung der medizinischen Behandlung durch die von Religion und Theologie angebotenen Hilfsmittel. Der Prediger und Seelenarzt Bernd kann sich offenbar nicht ganz damit abfinden, daß »dergleichen Zufälle bloß vom Leibe herkommen« und medizinische Eingriffe die einzige therapeutische Maßnahme sein sollen. Vornehmlich die Präsupponierung ist nun bereits ein Indiz dafür, daß Bernds Autobiographie doch mehr als die von Schings so betonte informierende Handlung über die Melancholie ist. Wenn nämlich in vielen ihrer Passagen bestimmte Kenntnisse beim Leser vorausgesetzt werden, dann gilt dies vor allem in Bezug auf Predigten und Schriften, besonders aber hinsichtlich der für Bernd so verhängnisvollen Ereignisse aus dem Jahre 1728. Seiner Bedeutung entsprechend ist dieser die Melodius-Affäre behandelnde Textteil recht umfangreich. Gleichwohl informiert er nur lückenhaft über die Abfolge dieser Ereignisse. Deshalb ist zu vermuten, daß Bernd ihre Kenntnis bei dem von ihm anvisierten Publikum voraussetzt. Aussparungsund Anspielungstechnik deuten auf ein vornehmlich aus Theologen und theologisch interessierten Laien bestehendes Publikum. Wenn nun aber diese Art der Präsupponierung erkennen läßt, daß 102

B e r n d einen engeren Rezipientenkreis intendiert, bleibt d o c h die Frage, warum die Darstellung der eigenen Vergangenheit und ihre von B e r n d in der >Eigene(n) Lebensbeschreibung* versuchte Interpretation s o w o h l auf religiös-theologische als auch auf medizinisch-naturwissenschaftliche tungsmuster ausgerichtet sind. O f f e n s i c h t l i c h

Deu-

stehen beide Bereiche in

einem Bedingungs- b z w . Abhängigkeitsverhältnis, das erst durch eine genaue U n t e r s u c h u n g der Situation zu klären ist, in der sich B e r n d z. Z. der E n t s t e h u n g der >Eigene(n) Lebensbeschreibung* befand. D i e s e Situation charakterisiert B e r n d gleich zu Beginn seiner A u t o b i o graphie f o l g e n d e r m a ß e n : Auf meiner Seiten scheinet die Sache von solcher Wichtigkeit, und, wo nicht von absoluter Notwendigkeit, doch von solchem ersprießlichen Nutzen zu sein, daß ich nach aller Schmach, und Schande nichts frage, so ich dadurch meinem Namen in größerm Maße, als jemals geschehen, ohnfehlbar zuziehen werde. Niemand ist geschickter, Ehre, und alles zu verleugnen, und in Wind zu schlagen, als der nichts mehr in der Welt suchet, und der wenig zu verlieren hat. Nun bin ich, nach vieler Urteil, einmal schon vor der Welt zu Schanden worden, und also werde ich nicht viel darnach fragen, ob jetzt meine Schmach noch eine höhere Staffel erreichen sollte (S. 5). D a s Zitat läßt die o b e n angesprochene Präsupponierung recht deutlich erkennen. F ü r jeden eingeweihten Leser kann kein Zweifel darüber bestehen, daß B e r n d mit diesen Ä u ß e r u n g e n auf die M e l o d i u s - A f f ä r e und ihre für ihn so nachteiligen F o l g e n anspielt; B e r n d weiß, daß er seitdem z u m A u ß e n seiter geworden ist, und spricht es hier offen aus. E r befindet sich in einer Situation, die durch eine weitere Einengung der bereits v o r dieser Affäre nur spärlich vorhandenen sozialen Beziehungen, durch den Verlust der früher durch Predigt und L e h r e gegebenen K o m m u n i k a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n und, nach dem Schreiben und Veröffentlichen der A u t o b i o g r a p h i e , sogar durch die ständige E r w a r t u n g sozialer Diskriminierung gekennzeichnet ist: Nun, Leser, siehe, diese Gemüts- und Leibes-Mängel habe ich alle von mir zu erzählen kein Bedenken getragen: ich habe mich als das furchtsamste Tier [Lebewesen] auf Erden beschreiben müssen, und bin es auch gewesen; sage, ob wohl leicht jemand, so bald derselbe mein Leben gelesen, ins künftige auf der Gasse vor mir vorbei gehen werde, ohne heimlich im Herzen zu lachen, oder doch einen verächtlichen und eckelhaftigen Affect gegen mich bei sich zu spüren (S. 11). J a , er provoziert anscheinend den von ihm antizipierten »verächtlichen und eckelhaftigen A f f e c t « , die verspottende und verachtende R e a k t i o n seiner sozialen U m w e l t geradezu, wenn er z. B . seine Ängste vor und während der Predigten in folgender W e i s e artikuliert: Sonntags nach Tische meditirte ich noch ein wenig auf die Predigt, wie gewöhnlich, bis um 2 Uhr, da der Gottesdienst angehet. Ich weiß nicht mehr, ob ich zu Hause, ehe ich ausgieng, vergessen, noch einmal auf den Pot de Chambre zu 103

gehen, oder ob bei dem langen Liede: Ist Gott für mich, so trete etc. sich schon so viel Wasser wiederum gesammlet; gewiß ist es, daß ich nicht durch unmäßiges Essen und Trinken daran Ursache gewesen, weil ich mein ordentliches Maß hatte, so oft ich predigte. Ich hatte kaum das Kapitel zu erklären angefangen, so konnte ich mich auf etwas, das ich sagen wollte, nicht bald besinnen; und indem ich mich stark anstrenge, und das Gedächtnis forcire, so merke ich, daß das Wasser unten fort will; und dies mit solchem starken Nisu und Treiben, daß ich den Augenblick in die größte Furcht gesetzet wurde. Und je mehr ich fürchtete, daß es geschehen möchte, das ich besorgte: je mehr wuchs die Not, und je mehr plagte mich der Urin. Ich kunte nicht länger auf der Kanzel stehen, sondern suchte mir durch Niedersetzen zu helfen; aber auch dieses half nicht, sondern es incommodirte mich dieser unvermutete Zufall so unmäßig, daß ich mit dem Kapitel Hals über Kopf eilete, die wichtigsten Dinge nur flüchtig, und obenhin berührte, . . . Jedermann wollte wissen, was mir zugestoßen wäre: Ich sagte aber niemanden das geringste davon, zwang mich auch nach der Predigt zu halten, so viel ich kunte, und stund unsägliche Angst bei dem Segensprechen aus, in der gänzlichen Meinung, es würde mir vor dem Altar noch begegnen, was ich auf der Kanzel gefürchtet hatte . . . Ein andermal gieng ich in die Bet-Stunde in die Niclas-Kirche Nachmittage. Unter der Stunde hatte sich so viel bei mir gesammlet, daß ich nicht wußte, wie ich nach Hause kommen sollte, und mußte im Heimwege auf dem alten Neumarkt in Mangolts Hinter-Hause in den Hof gehen, und das Wasser abschlagen, so wenig auch dessen vorhanden war. Ich steckte Gläser zu mir bei solchen Fällen, in welche ich mich im Falle der Not zu evacuiren suchte; ja ich fieng mir an einen Schwamm um den Unter-Leib zu binden, damit ich nur der Furcht vor der Prostitution [Bloßstellung] wehren, und steuren möchte (S. 333—335). Solch offenes Sprechen über den eigenen Intimbereich scheint die oben zitierte Aussage Bernds zu bestätigen, nach der er sich nicht scheut, >die h ö here Staffel der Schmach zu erreichen«, also vollends z u m gesellschaftlichen Außenseiter zu werden. Seine weitere Argumentation zeigt allerdings, daß er damit ganz andere Erwartungen verbindet, Erwartungen, die gerade nicht der Erniedrigung, sondern der Stärkung seiner Position in der Gesellschaft gelten. Denn mit einer auf Rousseau vorausweisenden H y p e r t r o p h i e propagiert er immer wieder die quantitative und qualitative Besonderheit seiner Krankheiten und Leiden, seiner Erniedrigungen und Verfolgungen. Einen ihrer H ö h e p u n k t e erreicht diese Darstellung im Rahmen der Ausführungen über die psychische und physische Verfassung Bernds während der Melodius-Affäre von 1728, die in ihrer rhetorisch überzogenen, mit H y p e r beln gesättigten Argumentation schon wie Hybris wirkt: ... und wenn ich alle wunderbare Erhaltungen zusammen nehme, so ehemals in der Welt geschehen, so kann ich solche kaum mit dem vergleichen, daß ich hei solchen Troublen, so ich mir zugezogen, und worinnen vielleicht ein starkes Gemüte nur seine Lust suchen würde, bei aller meiner vielen Furcht, Sorge, Angst, schlaflosen Nächten, Raten und Widerraten, Drohungen, und Aufrichtungen der Leute, und unsäglichem Streit und Kampf im Gemüte, der vom 13.Julii an bis bei nahe zu Ende des Jahres gewähret, nicht meines Verstandes beraubet worden, . . . (S. 349).

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Es sind freilich nicht allein diese Vorfälle und Sachverhalte, sondern m e h r n o c h die A k t e ihrer sprachlichen R e p r o d u k t i o n in der A u t o b i o graphie, die A d a m B e r n d den N i m b u s des A u ß e r g e w ö h n l i c h e n verleihen sollen. Entscheidend für die mit der Preisgabe des Intimbereiches verfolgte H a n d l u n g ist nämlich, daß B e r n d jetzt seine A n f e c h t u n g e n « nicht m e h r verdeckt als Prediger gegenüber einer begrenzten Zuhörerschaft, sondern als A u t o r gegenüber der Ö f f e n t l i c h k e i t artikuliert. E r geht also ü b e r die auf S. 9 9 zitierte A n k ü n d i g u n g , mit der A u t o b i o g r a p h i e die Tätigkeit des Predigers fortsetzen zu wollen, weit hinaus. B e r n d weiß sehr genau, daß die im R a h m e n seiner L e b e n s b e s c h r e i b u n g « v o r g e n o m m e n e Veröffentlichung bislang weitgehend tabuisierter Inhalte die Ö f f e n t l i c h k e i t in h o h e m M a ß e p r o vozieren, damit aber zugleich auf seine P e r s o n aufmerksam m a c h e n wird. D e r V o l l z u g einer solchen H a n d l u n g t r o t z der damit verbundenen Risiken m u ß ihn als mutigen und zudem altruistischen M e n s c h e n erscheinen lassen, der nicht so sehr zu seinem, sondern vor allem z u m N u t z e n anderer sprachlich handelt: Und ich halte, daß dergleichen Leute mehr in der Welt gewesen sein, und auch noch sein mögen, auch so gar unter Lehrern und Predigern, so daß bei denselben die Schwachheit des Leibes mit der Schwachheit des Gemüts, des Geistes, und des Glaubens zuweiln verknüpft ist; Und die man endlich wohl noch in dem gemeinem [Gemein-] Wesen, und vielleicht auch so gar in der Kirchen zu vieler Nutzen würde brauchen können, daferne man sie nur recht kennte, und sie nicht vor gefährlicher hielte, als sie sind, sondern klüglich und vernünftig mit ihnen uragienge. Denn so lange die Welt stehet, hat durch Gottes weise Regierung der furchtsame, traurige, und melancholische Teil des menschlichen Geschlechts den größten Nutzen schaffen, und den cholerischen, und sanguinischen Teil desselben, oder den Zorn und Wut der Hochmütigen, und die Ausschweifungen der Wollüstigen im Zaum halten, und einschränken müssen (S. 398). Zunächst scheint B e r n d mit diesen Äußerungen seinen o b e n zitierten A n spruch einzuschränken, Einzigartiges, von keinem anderen M e n s c h e n E r fahrenes in der Vergangenheit erlebt zu haben, gesteht er doch solche B e gegnungen einem, allerdings begrenzten, Kreis anderer Personen ebenfalls zu. D a solche G e m e i n s a m k e i t j e d o c h nur in der A n der K r a n k h e i t , nicht aber in der Intensität ihrer E r f a h r u n g besteht, kann wirklich nur von einer E i n s c h r ä n k u n g gesprochen werden, die durch den zu Beginn seiner Schrift explizit formulierten 4 1 A n s p r u c h , als Sprecher dieser G r u p p e aufzutreten,

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»Soll ein jeder Christ seinem Nächsten dienen mit der Gabe, die er empfangen [1. Petr. 4,10], so halte ich, daß er auch verbunden sei, von solchen Leibes- und Seelen-Anliegen, und solchen wunderbaren Plagen, zu deren Erkenntnis er durch eigene Erfahrung gelanget, dem Nächsten Nachricht zu geben; insonderheit wenn dieselben noch nicht völlig bekannt, sondern noch mit Finsternis, und tiefer Nacht umhüllet sind. Gemeine Leute, so nicht studiret, wenn sie in solche betrübte Um105

zudem mehr als wettgemacht wird. Mit dem Anspruch auf Übernahme dieser Sprecherrolle verstärkt Bernd noch weiter die Profilierung der eigenen Person, aber auch das damit verbundene Bestreben auf Anerkennung seitens anderer. Denn sein Schreiben erscheint jetzt nicht mehr allein aus der persönlichen Situation zur Zeit der Entstehung seiner autobiographischen Schrift gerechtfertigt, sondern aus Erfordernissen der ihn umgebenden Gesellschaft. Die Schreibsituation ermöglicht also auch eine außergewöhnlich umfassende Information über die Melancholie, durch welche eine bestimmte Schicht der Gesellschaft, nämlich eben die Melancholiker, von einem aus Unkenntnis über diese Krankheit resultierenden sozialen Druck entlastet wird. Damit aber macht Bernd seine private Leidensgeschichte zu einer öffentlichen Angelegenheit. Diese Art der Argumentation ist insofern von besonderem Interesse, als sie das Bestreben Bernds verdeutlicht, nicht nur seine soziale Stellung als outcast zu demonstrieren, sondern auch aus und mittels dieser Außenseiterposition eine geachtete Stellung in der Gesellschaft zurückzuerlangen. Dem von ihm mehrfach geäußerten Hinweis, die seine outcast-Rolle möglicherweise noch verstärkenden Enthüllungen zum Nutzen anderer zu betreiben, entspricht eine die ganze >Eigene Lebensbeschreibung< durchziehende Tendenz, die in der Titelangabe ausdrücklich betonte aufklärerische Intention mit dem Versuch einer Reintegration in die Gesellschaft zu verbinden; mit wachsender Konkretisierung der anvisierten Kommunikationsbereiche wird auch das Aufklären zunehmend zu einem funktionalen Bestandteil einer Rechtfertigungshandlung. Die oben zitierte Äußerung, nach der eine angemessene Aufklärung der Öffentlichkeit Institutionen wie Staat und Kirche vom Zwang befreien würde, Melancholiker von ihren Ämtern zu suspendieren, darf ja auch als ein wichtiger Beleg dafür gelten, in welch starkem Maße das Aufklären auf den Melodius-Streit und seine nachträgliche Bewältigung ausgerichtet ist. Denn in Bezug auf die Melodius-Affäre wird nun auch erkennbar, in welcher Weise das an der Medizin orientierte Informieren über die Melancholie mit der Rechtfertigung vor einem Rezipientenkreis verbunden ist, der vornehmlich aus Theologen bestehen soll: mit dem Aufklären ist eine Selbstprofilierung als Mediziner verbunden, um sich potentiellen theologischen Gesprächspartnern als in medizinischen Fragen kompetent zu erstände geraten, kennen sich selbst nicht, und sind selten fähig, ihre Krankheiten, und Zustand denen mit Worten recht zu entdecken, von welchen sie Hülfe erwarten: U n d die Gelehrten hingegen, oder die sonst hohe Ehren-Stellen bekleiden, wagen eher alles, und lassen es wohl gar auf die erschrecklichste Todes-Art ankommen, als daß sie ihre Ehre vor der Welt in die Schanze schlagen, und ein einziges Wort davon jemanden entdecken sollten.« Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 5. (Hervorhebungen im Original).

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weisen, weil vor allem die medizinische Erklärung theologisches Fehlverhalten entschuldbar machen soll. Das ist insofern von entscheidender Bedeutung, als Bernd die Ursachen der Traktatveröffentlichung im Jahre 1728 fast ausschließlich auf medizinisch relevante Ursachen zurückführt. Nichts ist bezeichnender dafür als sein Versuch, die Traktatveröffentlichung auf einen von ihm nicht mehr zu kontrollierenden inneren Zwang zurückzuführen. Trotz einer längeren Phase gesundheitlichen Wohlbefindens sei er 1728 »malade en Religion« gewesen, weil er >wichtige Wahrheiten der Welt nicht communiciretwegen natürlicher Furcht aller Unruhe und der Übel, die er sich dadurch hätte zuziehen können, zurückgehalten habeEigene Lebensbeschreibung< ja nun nachhaltig genug dokumentiert hat. Ergänzt wird diese Argumentation durch recht massive Klagen über die Prozeßführung, die ihm eine gründliche Erklärung und damit Verteidigung der inkriminierten Schrift unmöglich gemacht habe. Bernd rügt Mißverstehen, mangelnde Vorurteilslosigkeit und Unterstellungen seitens seiner Richter und läßt seine Anklagen im Vorwurf der Täuschung gipfeln. 4 3 Mit diesen Vorwürfen und Anklagen holt Bernd im Rahmen seiner Autobiographie das Handeln nach, das er während der Melodius-Affäre unterlassen hatte. Er setzt also eine zehn Jahre zurückliegende Auseinandersetzung fort, ohne freilich die anvisierten Gesprächspartner aus dem Kreis der Theologen zu neuen Sanktionen zu provozieren. Bernd treibt weder die erwähnte Selbststilisierung noch die genannten Vorwürfe so weit, daß er eine erneute Auseinandersetzung und Konfrontation mit der Amtskirche befürchten müßte. Die Art der Präsupponierung des Textes läßt sehr gut erkennen, daß Bernd den kommunikativen Rahmen, innerhalb dessen er sich bei der Publikation der >Eigene(n) Lebensbeschreibung< bewegt, genau einzuschätzen weiß. Dieses Wissen betrifft nicht allein den Rezipientenkreis, sondern auch den Grad von dessen Belastbarkeit durch nicht normgerechtes Sprechverhalten. Als Beleg dafür mag u. a. gelten, daß Bernd Tabuisierungen im Bereich des religiös-theologischen Diskurses sehr genau beachtet, 4 4 während er ja in Bezug auf andere Themen das Schamgefühl seiner Leser recht stark strapaziert. So wagt er es z. B. nicht, den Inhalt seiner gotteslästerlichen Gedanken zur Sprache zu 43 44

Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 360. Bernd: Eigene Lebensbeschreibung. S. 139/140.

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bringen. Kontrolliert und oft >entschärft< werden viele Enthüllungen überdies durch die oben erwähnte Kommentierung, die für Bernd eines der Mittel ist, erwartbaren Reaktionen der Rezipienten zu begegnen. Das geschieht u. a. in der Weise, daß er solche Folgehandlungen explizit benennt und ausdrücklich billigt und anerkennt. Somit ist die >Eigene Lebensbeschreibung< des Adam Bernd vor allem ein Versuch, das Verständnis und die Anerkennung seiner Umwelt zurückzugewinnen. Der Weg dahin verläuft in zwei Stufen: die erstrebte Anerkennung der eigenen Person als kompetenter Gesprächspartner soll zunächst über die detaillierte medizinisch-naturwissenschaftliche Behandlung der Melancholie erfolgen, wobei die damit verbundene Selbstentblößung insofern über die medizinische Fallstudie hinausgeht, als sie, an die Adresse der Theologen gerichtet, auch Selbsterniedrigung im Sinne einer rückhaltlosen Buße sein kann. Dies und die medizinisch-naturwissenschaftliche Erklärung des theologischen Fehlverhaltens während der Melodius-Affäre sind für Bernd aber zugleich Instrumente, das seit mehr als zehn Jahren so erstrebte Verständnis der Theologen zu gewinnen. Die Veröffentlichung der Intimsphäre ist also nicht nur Information, auch nicht nur Repräsentation, 4 5 sondern als Bekenntnis ein darüberhinausgehender Versuch der Reintegration in ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld. Bernds >Eigene Lebensbeschreibung« ist eines der signifikantesten und frühesten Beispiele für eine sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts verstärkende Tendenz, mit Hilfe der publizierten Intimsphäre öffentlich wirksam zu werden. 4 6 Durch die Veröffentlichung seiner Privatsphäre entlastet Bernd zum einen die Melancholiker als gesellschaftliche Gruppierung von einem sozialen Druck in Form von Nichtachtung, ja Diskriminierung und erklärt und entschuldigt zum anderen mit dem damit verbundenen Hinweis auf die eigene Kreatürlichkeit theologisches Fehlverhalten. Die weitgehend rückhaltlose Enthüllungspraxis vor allem ist es, die dabei die Wahrheit des Ausgesagten verbürgen soll, besonders dann, wenn sie wie im vorliegenden Text mit der Versicherung gekoppelt wird, für die Folgen dieser Enthüllungen einzustehen. Die damit so intensiv angestrebte Anerkennung als Dialogpartner hat Bernd, wenn überhaupt, in indirekter Form, durch Hamann, Herder, Pockels u. a. erst ein Lebensalter später erreicht, deren positive Äußerungen freilich auch weit mehr dem Mediziner als dem Theologen gelten. Die >Erlösung< aus der Außenseiterposition oder gar die Wie-

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46

Graevenitz, Gerhart v . : Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher »bürgerlicher« Literatur im frühen 18.Jahrhundert. In: DVjs 49, 1975, Sonderheft >18. Jahrhundert«, S. 50. Vgl. dazu: Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. S. 6 0 f f .

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dereinsetzung als Prediger haben auch die zwei Fortsetzungen dieses autobiographischen Schreibens nicht erreichen können. 4 7

5.2. Rede und Gegenrede. Die bekennende Autobiographie als Organon und Dokument polemischer Auseinandersetzung im 18. Jahrhundert Bernds >Eigene Lebensbeschreibung< nimmt auf Grund der rückhaltlosen Veröffentlichung des Intimbereiches sicher eine Sonderstellung innerhalb der autobiographischen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts ein. Bekennende Autobiographien, welche die eigene Person derart der Öffentlichkeit aussetzen, werden erst ein halbes Jahrhundert später wieder erscheinen (Rousseau). Bernds Text ist jedoch kein Einzelfall in Bezug auf die für ihn ebenfalls charakteristische starke Eingebundenheit in einen konkreten Interaktionszusammenhang, da der größere Teil der deutschen Autobiographien seit Beginn des 18. Jahrhunderts Organon und Dokument intensiv geführter Auseinandersetzungen ist. Das gilt nicht allein für Autobiographien, die dem pietistischen Bekenntnis verpflichtet sind, 4 8 sondern auch für die große Zahl der Selbstdarstellungen von Gelehrten und Angehörigen anderer Berufsgruppen (z. B. der des Soldaten Freiherrn v. d. Trenck). Wesentlich für die autobiographische Literatur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist dabei, daß sie nicht allein in zunehmendem Maße Medium einer sich öffentlich präsentierenden Innerlichkeit ist, 4 9 sondern auch ein Bereich sprachlicher Handlungen, mittels derer sich vor allem bis dahin 47

48

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M. Adam Bernds Fortsetzung seiner eigenen Lebens-Beschreibung. Ursachen, warum der Autor seine bisher herausgegebene Lebens-Beschreibung nicht fortzusetzen gesonnen. Beispielhaft dafür ist neben solch bekannten Texten wie denen von Petersen und Edelmann (dazu S. 114ff.) die Autobiographie Joachim Langens, der die Darstellung seines Lebenslaufes in starkem Maße an der Erweckungs- und Vorsehungsthematik des pietistischen Bekenntnisses orientiert, diese Darstellung aber immer wieder in religiöse und theologische Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern einbindet. Langens L e b e n s l a u f s vor allem die Passagen über seine Lehrtätigkeit, ist zudem ein Beleg dafür, daß auch in der pietistischen Tradition stehende Autobiographen die Praxis der Selbststilisierung recht intensiv betreiben, und dies trotz ausgiebiger Verwendung von Bescheidenheitstopoi. D . Joachim Langens, Der Theologischen Facultaet zu Halle Senioris, und des Semin. Theolog. Direct. Lebenslauf, zur Erweckung seiner in der Evangelischen Kirche stehenden, und ehemal gehabten vielen und wehrtesten Zuhörer, Von ihm selbst verfaßet, und mit einigen Erläuterungen, auch eingeschalteten Materien, ausgefertiget. Halle und Leipzig 1744. Siehe dazu auch Anm. 72. v. Graevenitz: Innerlichkeit . . . S. 52.

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unterprivilegierte Gesellschaftsschichten innerhalb einer sich neu formierenden sozialen Ordnung ihren Platz erkämpfen oder ihn innerhalb eines spezifischen Sektors der Gesellschaft behaupten wollen. 50 Letzteres läßt sich besonders gut im Bereich der sogenannten Gelehrtenautobiographie verfolgen, die recht häufig für den wissenschaftlichen Disput genutzt wird. Als Angehörige des Standes der gelehrten Theologen, Juristen, Philologen und Philosophen sind Autobiographen wie Reimmann, Schamelius u. a. 51 genötigt, mit Hilfe von Selbstdarstellungen die eigene Position innerhalb des Standes zu begründen und zu verteidigen. Das erweist sich vor allem dann als notwendig, wenn die Autoren glauben, in einem der vielen Gelehrtenlexika, 52 Sammel- oder Einzelbiographien eine unzutreffende Darstellung erfahren zu haben. Es ist erstaunlich, wie viele Autobiographien noch im späten 18. Jahrhundert als Antworten auf falsche bzw. vermeintlich falsche biographische Nachrichten entstehen. Ein guter Beleg dafür ist die Autobiographie des Königlich-Dänischen Etatsrates Johann Jacob Moser, die innerhalb kurzer Zeit die beachtliche Zahl von drei Auflagen erlebte. 53 In der letzten Auflage verwendet Moser einen beträchtlichen Teil seiner Schrift, um sich mit allen möglichen Personen und Instanzen auseinanderzusetzen, die seine Person und ihre Geschichte zum Gegenstand schriftlicher und mündlicher Mitteilungen gemacht haben. Das betrifft zunächst zehn namentlich genannte Biographen, danach die Herausgeber der fehlerhaft und außerdem unrechtmäßig publizierten ersten Auflage der Autobiographie und schließlich deren Rezensenten. Die eminent starke Einbindung dieser autobiographischen Schrift in eine vor den Augen der Öffentlichkeit geführte Auseinandersetzung zeigt schließlich der vier Jahre später erschienene vierte Band der Autobiographie, der als Reaktion auf die recht intensive Rezeption Berichtigungen, Ergänzungen und Rechtfertigungen enthält. Bekennende Autobiographien sind diese und andere Texte nicht als Enthüllungen intimer Sachverhalte, sondern als Bekräftigung und Verteidigung eigener wissenschaftlicher Leistungen. Autobiographen 50

A u f diesen Aspekt hat bereits Niggl bei der Charakterisierung der Autobiographie von Petersen aufmerksam gemacht. E r ist dabei jedoch nicht der Frage nachgegangen, inwieweit der Charakter dieser und anderer Autobiographien als P r o p a ganda- und Schutzschrift< auch an der dialogischen Struktur solcher Texte manifest wird. Niggl: Die deutsche Autobiographie . . . S. 10ff.

51

J a c o b Friedrich Reimmanns, . . . Eigene Lebens-Beschreibung . . .

Braunschweig

1745. Schamelius: Historie und Führung des Lebens. 52

Z. B . in Jöchers »Allgemeinem Gelehrten-Lexiconganzen M e n s c h e n < i m R a h m e n einer s o l c h e n A u t o b i o g r a p h i e n o c h nicht n o t w e n d i g . W e n n z. B . Schamelius w o r t r e i c h a u c h n u r d i e k l e i n s t e n e r z ä h l e n d e n A b s c h w e i f u n g e n in s e i n e r

Autobio-

g r a p h i e e n t s c h u l d i g t , d a n n ist d a s ein B e l e g d a f ü r , w i e s t a r k d e r Z w a n g z u r F u n k t i o n a l i s i e r u n g d e r L e b e n s g e s c h i c h t e i m R a h m e n einer s o l c h e n I n t e r a k t i o n in d e r M i t t e d e s 18. J a h r h u n d e r t s i s t . 5 6

54

D a s heißt nun freilich nicht, daß alle Gelehrtenautobiographien so dialogisch geprägt sind. Texte wie Gottscheds f o r t g e s e t z t e Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre< sind berichtend, zumal wenn sie aus den so häufig publizierten Schriftenverzeichnissen hervorgegangen sind, die, wie Graevenitz gezeigt hat, im 18. Jahrhundert ein wichtiges Mittel der Selbstdarstellung sind. Diese meist chronologisch aufgebauten Verzeichnisse markieren die Gelehrtenvita, vornehmlich dann, wenn Anlaß und Wirkung der besprochenen Schriften mit in die Aufstellung eingehen. Ein solcher Übergang von der Auflistung zur Lebensdarstellung begegnet z. B. in den Schriftenverzeichnissen von Leßer und Klemm (die »Lebensbeschreibung und nachgelassene Schriften* des Theologen W. Wünscher sind übrigens ein Beleg dafür, daß diese Praxis bis weit ins 19. Jahrhundert üblich war). Als Mittel der Selbstdarstellung, aber auch als ein solches der Rechtfertigung und Berichtigung sind diese Schriftenverzeichnisse Bestandteil vieler Autobiographien; zuweilen beanspruchen sie mehr Platz als die Darstellung der Lebensgeschichte (z. B. in den Autobiographien der Theologen Reimmann und Lackmann). Friedrich Christian Leßer: Eigene Nachricht von Seinen grössern und kleinern Schriften. Nordhausen 1751. Klemm, Johann Christian: Anzeige der Schriften. Tübingen 1751. D . Wilhelm Wünschers Lebensbeschreibung und nachgelassene Schriften. Frankfurt a. M . 1817. Reimmann: siehe Anm. 51. »Hinlänglicher Bericht von dem Leben und herausgegebenen Schriften des am verwichenen 17. Aug. 1753 seelig verstorbenen S. T. H E R R N Adam Heinrich LackmannsSelbstbiographie< zu einer wichtigen kultur- und religionsgeschichtlichen Quelle gemacht, ihre enge Einbindung in bestimmte Auseinandersetzungen dabei aber allzu leicht übersehen wurde. 6 7 Veranlaßt wurde die >SelbstbiographieHistorische(n) Nachrichten von J . Chr. Edelmanns, eines berüchtigten Religionsspötters Leben . . .Nachhero hat er (der Edelmann) sich zu Hachenburg in Neuwied in der Wetterau aufgehalten, und A n n o 1745 Mense Septembr. sein Glaubensbekenntniß von sich gegebene § 8. E s bedient sich hier mein Evangelist einer sehr dunklen und verworrenen L ä n d e r = B e s c h r e i b u n g , bey welcher ich mich aber nicht aufhalten will. Man siehet wohl, daß ihm ein h. Geist gefehlet, der Ihm in alle Wahrheit hätte leiten können. Ich werde dessen Stelle vertreten, und den Leser etwas umständlicher von meinen zu Hackenburg und Neuwid erlebten Schicksalen zu unterrichten suchen (S. 3 9 4 / 395). M i t s e i n e r R e p l i k g e h t E d e l m a n n in e i n e r f ü r die g a n z e A u t o b i o g r a p h i e c h a rakteristischen

W e i s e ü b e r eine Richtigstellung

bzw.

E r g ä n z u n g in

der

W e i s e h i n a u s , d a ß er m i t d e r B e z e i c h n u n g » E v a n g e l i s t « f ü r s e i n e n B i o g r a p h e n z u m einen diesen verspottet u n d z u m

anderen,

f ü r seine

Gegner

d u r c h a u s e r k e n n b a r , indirekt auf Bestandteile seiner Bibelkritik verweist, die ja P r o p h e t e n u n d E v a n g e l i s t e n als m e h r o d e r m i n d e r g r o ß e L ü g n e r h i n s t e l l t . 7 0 N o c h d e u t l i c h e r w i r d diese V e r b i n d u n g v o n p e r s ö n l i c h e r

Verun-

g l i m p f u n g u n d r a d i k a l e r B i b e l k r i t i k in E d e l m a n n s A u s f ü h r u n g e n ü b e r die » V e r r ü c k u n g e n « (Inspirationen) des » P r o p h e t e n « F . F . R o c k , des Leiters der W e t t e r a u e r Separatistengemeinde: § 109. Ich ließ mich hierauf in ein Gespräch mit dem Propheten ein, und wolte von dem Anfange und dem Ursprünge der Inspiration in Deutschland unterrichtet seyn. E h e ich michs aber versähe, flöhe dem Mann Gottes die Mütze vom Kopfe, der K o p f schüttelte sich hin und her, wie eine W e t t e r = F a h n e , wenn Gewitter k o m m e n , die Haare, die zu allem Glück nach dem Melckefaße verschnitten waren, bemüheten sich umsonst, den heiligen M u n d zu bedecken, der wie ein G e n s d'armen Gaul sprudelte; die Augen sahen einem in letzten Zügen liegenden Kalbe nicht ungleich; die Hände schlugen auf die Knie, wie einer der H u n d e lockt; die Füße schienen das in meinem Vaterlande bekannte Papiermacher=Spiel vorstellen zu wollen, und der heilige Podex hatte von Glück zu sagen, daß er nicht von Glase war, sonst würde es gewiß Scherbel gegeben, und dem Glaser ein Einsehen verursachet haben . . . § 110. Es war der Prophet nicht so bald in diese Verrückung gerathen, als sich seine Brüder, die noch so viel Verstand übrig hatten, daß sie schreiben konnten, an den Tisch setzten, sich zum schreiben rüsteten, und mit größter Begierde warteten, was der Geist demselben auszusprechen geben würde. Sobald E r merckte, daß alles in gehöriger Positur war, zwischen welcher Zeit, wie durch die ganze Aussprache, E r nach obiger Beschreibung in beständiger Bewegung blieb, und nicht anders kröchzete, als einer der zu brechen eingenommen hatte, erfolgte endlich die Aussprache B r o c k e n = W e i s e , eben wie ein Schulmeister was dictiret, und mir wurden allerhand weitschichtige Verheißungen gethan, jedoch mit der Bedin-

70

Vgl. dazu u. a. die radikale Entwertung der Bücher des Alten und des Neuen Testaments im >Moses mit aufgedeckten Angesichter I n : J o h a n n Christian Edelmann: Sämtliche Schriften in Einzelausgaben. Hrsg. v. W . Grossmann. Cannstatt, Bd. V I I , 1, 1972, S. 53 ff.

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Stuttgart-Bad

gung, daß ich den Rock, den ich nun an hätte, würde ausziehen müssen, wenn ich mit den Kleidern des Heils würde angethan seyn wollen (S. 264).

Mochten diese Äußerungen zunächst wegen der bösartigen Vergleiche nur pietistische Glaubensbrüder betroffen machen, so mußten die von Edelmann im Zusammenhang mit dieser Beschreibung vollzogenen Schlußfolgerungen sowohl Pietisten als auch Orthodoxe zur Weißglut reizen und seinen Ruf als Ketzer einmal mehr bestätigen: § 112. Es geben uns diese neuen Propheten=Comödien ein unvergleichlich Licht, was es mit den alten Propheten, deren Speichel wir lange vor Gottes W o r t aufgeleckt, vor eine Beschaffenheit gehabt haben müße. A u f s wenigste ist aus der bisherigen Beschreibung (die ein jeder, der diese Leute kennt, vor mehr erkennen muß) deutlich die Ursache zu erkennen warum man die Propheten schon vor etlichen 1000 Jahren, mitten unter dem Volke, das sie vor Boten Gottes erkante, rasende und unsinnige zu nennen gewohnt gewesen, und warum weißagen und unsinnig, damisch, abgeschmackt und verworren Zeug unter einander reden, mit einem Worte, im Kopfe verrückt, und seines gesunden Verstandes nicht mächtig seyn, einerley den Juden hieß (S. 266).

Die mit solchem Sarkasmus verbundene Polemik erreicht spätestens dann ihren Höhepunkt, wenn Edelmann seine abschätzige Beurteilung der in der Heiligen Schrift formulierten Wahrheiten mit einer ihm von Gott verliehenen, auf den Prinzipien der Vernunft gründenden Erkenntnis rechtfertigt und in diesem Zusammenhang darauf verweist, daß es allein Gott gewesen ist, der ihn vor den Nachstellungen seiner vielen Feinde bewahrt und damit sein ketzerisches sprachliches Handeln sanktioniert hat. 71 Der im Rahmen der Argumentation bemühte Vergleich der eigenen Person mit Luther dürfte seinen orthodoxen Gegnern besonders aufgestoßen sein. Ein sehr wichtiges Verfahren sprachlicher Polemik in Edelmanns Autobiographie ist die semantische Veränderung pietistischer Wortschöpfungen wie z. B. >Durchbruch< oder > Wiedergeburt^ 7 2 So bezeichnet er die aus der Erkenntnis der Identität von Gott und Vernunft resultierende endgültige Befreiung von separatistischen Neigungen als »einen Kräftichen Durchbruch einer neuen Geburth«, 7 3 benutzt also die genannten Begriffe zur Darstellung eines Sachverhalts, der pietistischer Glaubenserfahrung geradezu entgegengesetzt ist. Solcherart Orientierung an der pietistischen Praxis der Lebensbeschreibung ist also nicht einfach Indiz für die Übernahme eines bestimmten Gattungsschemas, 7 4 sondern dessen bewußtes Infragestellen, ist 71 72

73 74

Edelmann: Selbstbiographie. S. 391 ff. Vgl. dazu: Langen, August: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 2 1968, S. 2 4 0 f . , 149. Edelmann: Selbstbiographie. S. 276. So bei Niggl: Die deutsche Autobiographie . . . S. 13, 142. Dies scheint allerdings nicht für die Verwendung des Wortes >Vorsehung< zu gelten. Hier ist wohl Neu-

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doch der »Durchbruch« hier nicht mit einer Negation der vor ihn zu datierenden Lebensabschnitte verbunden. Für die Struktur der Edelmannschen Autobiographie ist dies insofern relevant, als dadurch seine für die deutsche Autobiographie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts so ungewöhnlich positive Bewertung der Natur und detaillierte Darstellung der sozialen U m welt ermöglicht wird. 7 5 Vor Edelmann gibt es in Deutschland keine Autobiographie, die derart eindeutig jegliche Art >Weltflucht< negiert. 7 6

75

76

mann zuzustimmen, der davon ausgeht, daß Edelmann trotz aller Religions- und Bibelkritik seinen Lebensweg durchaus von der göttlichen Vorsehung geleitet sieht (Bernd Neumann im Nachwort zur hier benutzten Ausgabe S. 558). Auch in den dieser Thematik gewidmeten Passagen ist ein polemischer, deutlich sozialkritischer T o n unüberhörbar. So sucht die im folgenden zitierte Rede über die materielle N o t der Bauern in der Grafschaft Berleburg in der deutschen Autobiographik um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihresgleichen, und man muß die Unerschrockenheit bewundern, mit der Edelmann durch solche Äußerungen sowohl kirchliche als auch staatliche Institutionen herausforderte: »Wir kamen eben dahin, wie die armen Leutchen ihr Frühstück einnahmen, und da sähe ich, daß sie mit ungleich mehrerer Warheit, als David sagen konten: Ich eße Asche wie Brodt. Denn ihr Brod war nicht anders anzusehen, als eine zusammengeklümperte Asche; es hielt nicht zusammen, wie ander Brod, sondern sie mußten es Stückweise, auf Tellern auftragen, und ich bin versichert, daß es in meinem Lande kein H u n d gefreßen hätte. Ich hatte meine sonderl. Betrachtungen darüber, daß diese armen Leute, die das Feld selber mit sauren Schweiß und unsäglicher Arbeit bauen mussten, daß sie nur einen guten Bißen Brod hätten zu genießen gehabt. Denn ich versuchte etwas davon zu eßen, aber es war mir nicht möglich, es hinunter zu würgen, es war eben, als ob ich K r a t z = B ü r s t e n fräße, so sehr stachen mich die Speltzen davon in den Hals. Mein Gott, dachte ich, da alle Dinge in der neu erfundenen besten Welt ihren zureichenden Grund haben sollen, so erkenne ich zwar überhaupt auch, daß die ungleichen Schicksahle der Menschen, nicht ohne hinlängliche Ursachen über sie verhänget werden können. Ich gestehe aber offenhertzig, daß ich die, von tausend andern Dingen, oft hinlänglich genug angegebenen Ursachen, gerne entbehren, und mein Lebtage ein Ignorante in demselben bleiben wolte, wenn mir einer nur auf eine deutliche und überzeugende Art, den Grund von den gar zu ungleichen Schiksalen der Menschen zeigen könnte . . . § 268. Die Christi. Religion, die die naseweiseste unter allen ist, und den Geist der Warheit, wo nicht gepachtet, doch geerbet zu haben vorgiebet, läßt uns in dieser wichtigen Sache, nicht allein in völliger Unwißenheit indem sie nicht die geringste hinlängliche Ursache anzugeben weiß, warum ein Theil der sogenannten A d a m s = K i n d e r zu Speltzen=Brodte verdammt worden, derweile daß dem andern kaum Raspel=Semmeln gut genug sind; sondern sie bestehet auch offenbar mit Lügen, wenn sie behauptet, daß sich ein jedes A d a m s = K i n d , mit Kummer von dem Acker nähren, und im Schweiß seines Angesichts seyn Brod eßen müße. Denn das Gegentheil liegt jedermann vor Augen.« Edelmann: Selbstbiographie. S. 381/382. Deshalb ist Bertolinis Äußerung, nach der Edelmann die Lebensabschnitte vor dem »Durchbruch« in Analogie zur pietistischen Autobiographie vornehmlich als »dunklen Irrgarten« beschreibt, kaum haltbar. Bertolini: Studien . . . S. 209.

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Es gehört nun zu den Besonderheiten dieser Autobiographie, daß das erwähnte Infragestellen des pietistischen Bußkampfschemas, d. h. daß die >Gattungspolemik< die polemische Orientierung des Autobiographen Edelmann an seinem Biographen Pratje bisweilen in den Hintergrund drängt. 7 7 D a Edelmann die dem »Durchbruch« vorausgegangenen >weltlichen Verrichtungen wie die Jagd oder das Trinken von guten Weinen durchaus nicht negativ bewertet, stellt er sie häufig genug sehr ausführlich dar, >vergißt< aber darüber seinen Dialogpartner Pratje, deutlich erkennbar im Kapitel VI des ersten Teils, wo einer 6V2 Zeilen langen Zitierung Pratjes eine fast 150 Seiten lange >weltbejahende< Wiedergabe der sechsjährigen Tätigkeit als Hofmeister in Osterreich und in Dresden folgt. Dabei läßt Edelmanns Autobiographie bereits insofern eine Tendenz zum erzählenden T y p u s erkennen, als die Darstellung dieser Sachverhalte von einem souveränen U m gang eines Erzählers mit dem Stoff zeugt, eines Erzählers, der einzelne Lebensphasen nicht mehr berichtend aneinanderreiht, diese vielmehr mit Hilfe bestimmter Erzählverfahren wie Vorausdeutung, Topoiverwendung etc. zu einem kohärenten Ganzen zu verbinden sucht. Andererseits ist es bezeichnend für das Dominieren des bekennenden Typus, daß solcherart Ansätze zum Erzählen noch ausdrücklich gerechtfertigt werden müssen. 7 8

5.3. Selbstdarstellung statt Selbstbehauptung. D e r Dominanzwechsel von der bekennenden zur erzählenden Autobiographie im späten 18. Jahrhundert Die Dominanz des bekennenden T y p u s schwächt sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts spürbar ab, der Dominanzwechsel von der bekennenden zur erzählenden Autobiographie kündigt sich immer nachhaltiger an. Die Zahl der bekennenden Autobiographien wird geringer, die in den Text ein-

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D a s übersieht z. B. Neumann bei seinen Ausführungen über die Struktur dieser Autobiographie. Neumann: Identität . . . S. 54. Der Neigung zum Erzählen entspricht auch das zu Beginn geäußerte Bedauern darüber, sich zu sehr an der Fremdbiographie orientieren zu müssen: »Es würde diese Arbeit zwar freilich in einer ganz andern Gestalt erschienen seyn, wenn ich mit derselben nach meiner eigenen Einrichtung hätte verfahren können: da ich mir aber, um die Unrichtigkeit oben erwähnter Schrift desto besser widerlegen zu können, den Plan zum Muster sezen müssen, den der Verfasser derselben beliebet, so wird man vorlieb nehmen, wenn ich sie so gut liefere, als sie nach obiger Vorschrift hat gerathen wollen.« Edelmann: Selbstbiographie. S. 4.

78

Edelmann: Selbstbiographie. S. 122.

119

geschriebenen Kommunikationsstrukturen verändern sich, da der äußere Interaktionsrahmen, in den diese Texte eingebunden sind, ein anderer wird. Es ist nicht mehr so stark die gelehrte, sondern die politische Öffentlichkeit, 79 vor der sich Autobiographen wie v. d. Trenck, Kausch oder Huber präsentieren 80 . Anlaß dieses autobiographischen Sprechens sind Konflikte mit absolutistischen Landesherrn: im Falle v. d. Trenck ist es neben Joseph I. von Osterreich vor allem Friedrich II. von Preußen, bei dem schlesischen Arzt Kausch dessen Nachfolger und bei den württembergischen Juristen Huber und Moser Herzog Karl Eugen von Württemberg. Hauptanliegen dieser Autobiographien ist das Einklagen nicht nur verlorener materieller Güter, sondern auch bürgerlicher Rechte. Sehr deutlich formuliert dies Kausch in der Vorrede zu seiner Autobiographie: Ich habe meine Integrität, zwar nicht meine sittliche — doch zum Theil meine physische — eigentlich aber meine staatsbürgerliche verloren . . . Die Wiederherstellung derselben ist eine meiner vorzüglichsten Absichten bei dieser Schrift. 8 1

Bemerkenswert im Hinblick auf den Wechsel von der bekennenden zur erzählenden Autobiographie ist dabei, daß Kausch zu diesem Zweck »nicht etwa hier nur ein Gemähide meiner Unschuld, sondern meines ganzen Ichs aufzustellen« 82 gewillt ist. Die für die in der Vorrede angekündigte Auseinandersetzung benötigte Lebensdarstellung wird nun ausgeweitet und sprengt schließlich den sie ursprünglich bedingenden Kommunikationsrahmen, die Orientierung am in der Vorrede angesprochenen Adressaten geht im Verlauf der Darstellung verloren. Diese Berücksichtigung des gesamten Lebens im Rahmen einer intensiven kommunikativen Auseinandersetzung verweist vor allem auf die >Confessions< Rousseaus, ohne daß Kausch dies ausdrücklich anmerkt. Bekanntlich radikalisiert Rousseau in seiner 1782 postum erschienenen Autobiographie den Anspruch des Einzelnen auf Individualität, der vor allem 79

80

81 82

Das ist insofern nicht selbstverständlich, als die Dimension des Politischen und Historischen bis zum Beginn des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts in der deutschen Autobiographik eine untergeordnete Rolle spielt. So mutet es merkwürdig an, daß der fast ganz Deutschland tangierende Siebenjährige Krieg bis zu Bräkers >Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg< (1788/ 89) kaum einer eingehenden Behandlung gewürdigt wird. Des Friedrichs Freyherrn von der Trenck merkwürdige Lebensgeschichte. Von ihm selbst als ein Lehrbuch für Menschen geschrieben, die wirklich unglücklich sind, oder noch guter Vorbilder f ü r alle Fälle, zur Nachfolge bedürfen. Bd. 1 + 2 . Leipzig 1787. Bd. 3 Berlin 1787. Bd. 4 Altona 1792. Huber, Daniel: Etwas von meinem Lebenslauf und etwas von meiner Muse auf der Vestung. Stuttgart 1798. Kausch's Schicksale. Leipzig 1797. Kausch's Schicksale. S. III. Kausch's Schicksale. S. V.

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mit dem Vermögen der Selbstbeurteilung und der rückhaltlosen Selbstenthüllung im sprachlichen Akt des Bekennens geltend gemacht werden kann. 83 Für Rousseau ist all das, >was er geschaffen, gedacht und gewesen istGeschichtsbuch< ist. Es thematisiert die Veränderlichkeit des schreibenden Subjekts, 85 und ist von daher in viel stärkerem Maße auf das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte ausgerichtet. Diese Veränderungen sind hier dargestellt als im Subjekt selbst angelegt, sie sind nicht mehr gesehen als bedingt durch einen göttlichen Heilsplan oder andere dem Subjekt äußerliche Ordnungen. Diese den Autobiographen betreffenden Veränderungen, seine Erfahrungen und seine Leiden können nach Rousseau allein durch das Subjekt selbst erkannt und manifest gemacht werden, ist es sich doch seiner selbst durch diesen Akt der literarischen Erzeugung erst völlig gewiß. 86 Er stellt damit bewußt den göttlichen Anspruch auf Erkenntnis und Beurteilung menschlicher Existenz in Frage. Die nicht zu übersehende und vielfach erörterte 87 negative Orientierung der >Confessions< an den >Confessiones< des Augustinus verleiht dieser Ablösung von theologischen Deutungsmustern zusätzliche Evidenz. Während Augustinus sein Wissen von sich und sein Reden darüber auf einem göttlichen Gnadenakt gegründet sieht, 88 erhebt Rousseau den Anspruch, sich selbst besser zu wissen und beurteilen zu können als jede andere Instanz. Der Autobiograph führt hier das für seine Kenntnis und Beurteilung erforderliche (Schuld-) Buch selbst und nimmt auch das Beurteilungsverfahren in die eigene Hand. 89 Die Einzigartigkeit der sich präsentierenden Person beruht somit nicht allein auf Erfahrung und Charaktereigenschaften, z. B. Schwäche oder Leidensfähigkeit, sondern vor allem auf der Einzigartigkeit der autobio83

Siehe dazu: H o r s t T u r k / F r i e d r i c h A. Kittler: Diskursanalyse oder Diskurskritik. Das Problem der literarischen Legitimation. In: Urszenen. . . . S. 9 ff.

84

Rousseau, Jean J . : Bekenntnisse. Ubertragen von Ernst Hardt. Einführungen und Anmerkungen von Werner Krauss. Frankfurt a. M. 1971, S. 37.

85 86

Rousseau: Bekenntnisse. S. 260. Hier wäre zu fragen, inwieweit Rousseau damit der Legitimation des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffes verpflichtet ist, so wie sie z. B . von H o b b e s formuliert wird, der davon ausgeht, daß >die sichersten Kenntnisse, die wir besitzen, diejenigen vom selbst hergestellten Produkt sind, weil wir den W e g und die Geschichte seiner E n t stehung genau kennenConfessions< dann auch als »Unternehmen ohne Vorbild« 9 0 hingestellt wird. Die Autobiographie setzt die Maßstäbe des Urteilens und bestreitet die Erkenntnisansprüche anderer in Bezug auf die Person des Autobiographen. Das t r a n s zendente Gottesgericht* wird zum »literarischen Selbstgericht«, 91 die A b hängigkeit von den Instanzen literarischer und politischer Öffentlichkeit wird vom Text deutlich schwächer als bei Bernd artikuliert. Rousseaus >Confessions< sind also — so merkwürdig das zunächst auch klingen mag — für die Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert insofern wichtig, als sie, in Verbindung mit der rasch anwachsenden Romanproduktion, Autoren wie Kausch dazu anregen, ihr ganzes Leben

in seiner Entwicklung

darstellen zu wollen, ohne daß diese

freilich schon die einzelnen Phasen so erzählend aufeinander beziehen können, daß die Autobiographie als in sich abgeschlossener epischer, die Außenbezüge nur marginal thematisierender Text erscheinen würde: die Orientierung am Bekennen wird noch nicht völlig aufgegeben. Beispielhaft zeigt dieses Schwanken die Selbstdarstellung des Arztes Johann

Peter

Frank, 9 2 in der eine bisweilen empfindsam gefärbte Erzählung der Kindheit und Jugend, die eindeutig ein unterhaltungsbedürftiges Publikum antizipiert, mit bekenntnishaften, die Berufsgenossen ansprechenden Passagen wechselt. 9 3

90

Rousseau: Bekenntnisse. S. 37.

91

Blumenberg: Die Legitimität . . . S. 67.

92

Biographie des Johann Peter Frank, von ihm selbst geschrieben. Wien 1802.

93

Diese Berücksichtigung des ganzen Lebens im Rahmen autobiographischer Darstellung gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist natürlich auch in hohem Maße den E r kenntnisbemühungen

der Anthropologie

im

18.Jahrhundert verpflichtet,

die,

orientiert an Gattungsfragen, die »Natur des Menschen« zu ergründen sucht (z. B . in Arbeiten von Buffon und Linné bis Herder und Kant). Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das Bemühen, die durch die Cartesianische Philosophie inaugurierte Teilung des Menschen in einen denkenden und einen materiellen B e standteil durch die Betrachtung des Menschen als Ganzheit zu ersetzen (vgl. dazu u. a. : Marquard, O d o : D e r angeklagte und entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. I n : Studien zum 18. Jahrhundert. Bd. 2 / 3 , München 1980. S. 194). Das führt u. a. dazu, auch scheinbar nebensächliche Eigenschaften bei der Selbstdarstellung zu berücksichtigen, vor allem wenn man sich einer bislang nicht gekannten Aufmerksamkeit eines anthropologisch interessierten Publikums für solche Einzelheiten sicher sein kann. Zur Relevanz der Gattung >Autobiographie< für die naturwissenschaftlich-psychologische Forschung vgl. Ausführungen von Karl Philipp M o r i t z im von ihm und C . F . Pockels herausgegebenen >Magazin zur Erfahrungsseelenkunde< Bd. 5, 3. Stück, S. 111. Z u m Stellenwert von R o m a n und R o mantheorie siehe vor allem S. 136 dieser Arbeit.

122

Zu den Autobiographien, die recht früh den Übergang vom bekennenden zum erzählenden Typus markieren, gehört auch diejenige des Dichters, Musikers und Journalisten Christian Friedrich Daniel Schubart, 94 der durch seine von Karl Eugen verfügte zehnjährige Kerkerhaft auf dem Hohen Asperg zum bekanntesten Opfer absolutistischer Willkür in Deutschland geworden ist. Schubart hat seine Autobiographie während dieser Haft in den Jahren zwischen 1778 und 1781 geschrieben; die die Herausgabe rechtfertigende Vorrede ist 1791 verfaßt worden. Die Darstellung der eigenen Vergangenheit ist hier durch zwei thematische Schwerpunkte gekennzeichnet: der größere Teil der Autobiographie behandelt neben Kindheit und Jugend vor allem die durch vielerlei Ortswechsel geprägte berufliche Tätigkeit Schubarts (ca. 7 5 % ) , während das letzte Viertel den ersten zwei Jahren des Aufenthaltes auf dem Hohen Asperg gewidmet ist. Beide Teile sind thematisch in der Weise aufeinander bezogen, daß die Kerkerhaft als notwendiger Endpunkt einer von der göttlichen Vorsehung gelenkten Entwicklung vom sündenbeladenen Weltkind zum reuigen Gotteskind vorgestellt wird. Diese Gestaltung geschieht in bewußter Analogie zur pietistischen Autobiographie, die Schubart während seiner Haft u. a. in der Sammlung von Reitz kennengelernt hat. Die Schreibsituation wird, als Stufe des Bekehrtseins, einem durch Ausschweifungen, Blasphemien, Verantwortungslosigkeit gegenüber der eigenen Familie etc. gekennzeichneten Leben gegenübergestellt. Dabei wird das Erzählen dieser weitgehend negativ bewerteten persönlichen Vergangenheit außerordentlich häufig durch Reflexionen, sentimental gefärbte Lyrik, Gebete etc. unterbrochen, mit deren Hilfe der Gegensatz zwischen einst und jetzt noch besonders betont wird. Durch diese Art der Darstellung erscheint die Haft zunächst nicht so sehr als Folge absolutistischer Willkür, sondern als von der Vorsehung bestimmtes Stadium der Läuterung und folgerichtiges Ergebnis eines verfehlten Lebens. Es ist bezeichnend für die gleichzeitige Nähe und Distanz zur pietistischen Autobiographie, daß Schubarts Argumentation sowohl psychologisch als auch religiös-theologisch geprägt ist: Ausschweifungen und auch berufliche Fehlschläge werden zum einen durch das Walten der Vorsehung und zum anderen durch die Anlage des Charakters erklärt. Betrachtet man freilich die Darstellung der eigenen Vergangenheit bis zum Beginn der Haft genauer, dann fällt auf, daß bei der Gestaltung und Bewertung der betreffenden Lebensphase deutlich zwischen privatem und öffentlichem Bereich unterschieden wird: denn wenn sich Schubart auch bei 94

Schubart's Leben und Gesinnungen. Von ihm selbst im Kerker aufgesetzt. 2 Teile 1791 und 1793. In: C . F. D . Schubart's, des Patrioten, gesammelte Schriften und Schicksale, Stuttgart 1839, 2 Bde.

123

der vorwiegend negativ gefärbten Wiedergabe seines Handelns im privaten Bereich einem bereits von seinem Sohn Ludwig beanstandeten »unmännlichen Pietismus« 9 5 ergibt, so präsentiert er sich andererseits bei der sprachlichen Artikulation seiner Berufserfahrungen doch recht selbstbewußt als ein Künstler und Kunstsachverständiger, dessen Arbeit und Urteil von der Adels- und Gelehrtenwelt gleichermaßen geschätzt wurde. D e m Versager im privaten Bereich wird also der öffentlich akzeptierte, ja gefeierte Künstler gegenübergestellt, die zunächst so eindeutig formulierte Negation dieser Lebensphase also wesentlich abgeschwächt. Dem korrespondiert auch, daß Schubart dem Erzählen der privaten Verfehlungen weit weniger Raum gibt als demjenigen des beruflichen Werdegangs. Sittliche Ausschweifungen vor der Ehe, Ehebruch, Vernachlässigung der eigenen Kinder, Trunksucht etc., deren Darstellung nach vielen Selbstbeschuldigungen zu erwarten wäre, sind nur angedeutet oder bestenfalls kurz erwähnt. Dagegen verwendet er große Sorgfalt auf die Wiedergabe seiner pädagogischen, dichterischen, musikalischen und journalistischen Tätigkeit in Geißlingen, Ludwigsburg, Heidelberg, Mannheim, München, Augsburg und Ulm. Diese Stationen des Berufsweges werden allerdings nicht wie in Gelehrtenautobiographien des frühen 18. Jahrhunderts nur aufgelistet. Vielmehr sucht Schubart mit Hilfe topographischer, demographischer, ökonomischer und historiographischer Angaben seinen Lesern ein umfassendes Bild der jeweiligen Orte zu vermitteln. Dies Bemühen um umfassende Information geht so weit, daß er den Zustand der betreffenden Orte während seines früheren Aufenthaltes zum Teil mit demjenigen zur Zeit der Schreibsituation in Beziehung setzt. So konstatiert er in einem vergleichenden Nachtrag gravierende ökonomische und demographische Veränderungen in Geißlingen, der ersten Station seiner beruflichen Tätigkeit, und begründet sie mit politischen und verfassungsrechtlichen Mängeln. Recht ausführlich befaßt sich Schubart in diesen Passagen mit dem Entwicklungsstand von Kunst und Wissenschaft in den betreffenden Städten. Er erzählt hier nicht nur von eigenen künstlerischen Aktivitäten, insbesondere als Musikvirtuose, sondern urteilt ausgiebig und souverän über die künstlerischen Qualitäten berühmter Zeitgenossen, Kollegen, Fürsten und Freunde. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist vor allem das Eintreten für J . S. Bach und die neuere deutsche Literatur, z. B. in der Gestalt Klopstocks. N u n will Schubart mit solcherart Ausführungen offensichtlich mehr als nur Informationen vermitteln, ist doch die am Beispiel des Kapitels über Geißlingen erkennbare Artikulation einer gesellschaftskritischen Haltung in 95

Schubart's Leben . . . Bd. 2, S. 184.

124

dieser Autobiographie kein Einzelfall. 9 6 So schreibt er auch viele seiner Schwierigkeiten den unerträglichen gesellschaftlichen Bedingungen zur Zeit des ausgehenden Absolutismus zu: Kein Gewerb konnte für einen Menschen, wie ich war, zu einer Zeit, wo die Pries t e r und Fürstengewalt gegen jedes Freiheitsgefühl anbrauste, und in einer Stadt, die unter allen deutschen Städten einen so feurigen Kopf, wie der meinige war, am wenigsten dulden konnte, gefährlicher seyn, als das Gewerb eines Zeitungsschreibers. Vor Fürsten, auch wenn sie Bösewichter sind, den Fuchsschwanz streichen, kühle Galatäge, Jagden, Musterungen, jedes gnädige Kopfnicken und matte Zeichen des Menschengefühls mit einer Doppelzunge austrompeten, jedem Hofhunde einen Bückling machen, den Parteigeist desjenigen Orts, wo man schreibt, nie beleidigen, den Kaffeehäusern was zum lachen, und dem Pöbel was zu räsonniren geben; — auf der andern Seite die Partheien des Parnassus genau kennen, und da entweder im trägen Gleichgewicht bleiben oder muthig mitkämpfen; — das waren Gesetze, die für mich zu hoch und rund waren und für die ich weder Geduld noch Klugheit hatte. Ich stieß daher tausendmal gegen sie an. Daher hat auch die Chronik mir und dem Verleger unermeßbaren Verdruß und endlich mir selber das harte Gefängniß zugezogen, in dem ich so manches Jahr reiche Gelegenheit hatte, meine Thorheiten zu beweinen (Bd. 1, S. 222/223). Bemerkenswert an diesem Zitat ist neben seiner gesellschaftskritischen Tendenz die politische Begründung der Haft. W e n n Schubart hier seine Einkerkerung so deutlich auf seine journalistische Tätigkeit zurückführt, dann relativiert er ihre v o n ihm an anderer Stelle selbst formulierte moralische und theologisch-religiöse Begründung, was als ein weiterer Beleg dafür gelten darf, daß der die H a f t als A k t der Vorsehung und gerechte Strafe preisende »unmännliche Pietismus« in dieser Autobiographie nur die Funktion besitzt, die während der Haft erfahrene religiöse Läuterung glaubwürdig erscheinen zu lassen. Deshalb sind die privaten Verfehlungen nur insoweit in den Text eingebracht w o r d e n , als sie die mit dieser Läuterung verbundene Wandlung, den Gegensatz zwischen Schreibgegenwart und persönlicher Vergangenheit, besonders akzentuieren sollen. Das wird nun auch dort erkennbar, w o diese Wandlung bevorzugter Gegenstand der Autobiographie ist, nämlich in ihrem letzten Teil, der die ersten zwei Jahre des Aufenthaltes auf dem Hohen Asperg behandelt. Dieser ist ja nicht allein die v o m Verfasser angekündigte erbauliche Darstellung einer von der Vorsehung gelenkten Bekehrung, 9 7 sondern auch an96

97

Das hat Niggl (Die deutsche Autobiographie . . . S. 90) zu Recht betont, während Müller (Autobiographie . . . S. 41—53) diese Komponente kaum berücksichtigt. Daran ändert auch die an pietistischer Selbstbeobachtung geschulte, genaue Auflistung der einzelnen Bekehrungsphasen nichts (Schubart's Leben . . . Bd. 3, S. 31). Sowohl Niggl (Die deutsche Autobiographie . . . S. 91) als auch Müller (Autobiographie . . . S. 45) haben übrigens mit Recht darauf verwiesen, daß diese Bekehrung, anders als in pietistischen Autobiographien, nicht als plötzlicher »Durchbruch«, 125

schauliche Vermittlung der bedrückenden physischen und psychischen Situation, in der sich Schubart nach seiner Verhaftung befand. Sorgen um die Familie, erzwungene sexuelle Abstinenz, extreme Isoliertheit von Mitgefangenen während der ersten Haftzeit sowie Schreibverbot, 98 hatten ihn nach eigenen Angaben mehrfach an den Rand des Wahnsinns gebracht, dem er allein durch intensive Beschäftigung mit der christlichen Religion und Theologie entgangen war. Daher ist die religiöse Wandlung letztlich doch ein Ergebnis absolutistischer Willkür und weniger Bestandteil eines göttlichen Heilsplans. Der nachdrückliche Hinweis auf diesen Tatbestand ist insofern wichtig, als er, trotz aller Selbstanklagen, religiös geprägter Digressionen und Gebete in der Autobiographie, die Orientierung Schubarts an einem Publikum erkennen läßt, das ihn auch nach seiner religiösen Wandlung noch in seiner Rolle als Künstler, Pfaffenverächter und von absolutistischer Willkür bedrängten Freiheitshelden und Patrioten erkennen sollte. Somit enthält dieser Text nicht die eine Leserrolle; vielmehr wird der explizit angebotenen >erbaulichen< Rezeption implizit eine emanzipatorisch-kritische unterlegt." Dem korrespondieren neben der erwähnten Bevorzugung der öffentlichen Tätigkeit bei der Wiedergabe persönlicher Vergangenheit die abschätzige Beurteilung französischer Sitten an deutschen Höfen, die damit verbundene freundliche Zeichnung >biderben BürgersinnsRoman< sichergestellt werden soll: Ist es nicht Unverschämtheit, daß ich ein Leben wiederhole und dem Leser vorzeichne, das man lieber, wo möglich, in dicke Schatten hüllen sollte? Das dachte ich anfangs auch, aber der Gedanke hieß mich fortfahren: W e n n mein Beispiel einen einzigen Jüngling der Unordnung und Irre entreißt, und einen andern ermuntert, meine gemachten Fehler zu vermeiden, so habe ich ein gutes W e r k gethan, und ich achte nicht die Herzstöße, und selbst die Schmach, die mir die W i e derholung meiner Lebensauftritte schon gegenwärtig zuzieht und noch nach meinem T o d e zuziehen könnte. Wirkliche Beispiele müssen doch mehr wirken, als die Zeichnungen in Romanen, von welchen alle Welt weiß, daß sie Fiction sind. Es ist in der That ein Urtheil, das uns wenig Ehre macht, wenn wir gewisse Anekdoten in Lebensbeschreibungen klein und unwichtig nennen, die wir doch in R o manen so gerne lesen. Man macht daher die Biographen, sonderlich die Autobiographen so furchtsam, daß sie oft diejenigen Umstände unterdrücken, die den Helden just am meisten heben und ihm so zu sagen seine Selbstheit geben würden (Bd. 1, S. 90).

Diese Zeilen stellen den Autobiographen zunächst noch einmal in der P o sition des bekennenden Sünders vor, der sich auf Grund von Verfehlungen in einer gesellschaftlichen Außenseiterposition befindet, von daher aber auch bislang tabuisierte Sachverhalte zur Sprache bringen kann — bezeichnenderweise finden sich im Zitat fast wörtliche Ubereinstimmungen mit Äußerungen Adam Bernds. Ähnlich wie Bernd betont Schubart neben seiner

Außenseiterposition

auch

das

Exemplarische

seiner

Lebensge-

schichte, sieht deren Wirkung auf den Leser jedoch durch das Fehlen derjenigen erzählerischen Gestaltungsmöglichkeiten gefährdet, deren Einsatz die Gattung >Roman< so erfolgreich gemacht hat. Diese Orientierung am romanhaften Erzählen verlangt für die Autobiographie einen Erzähler, der sich über die bislang geltenden Gattungsregeln der bekennenden Autobiographie hinwegzusetzen vermag und dessen erzählerische Kompetenz der

102

In der Vorrede. Schubart's Leben . . . Bd. 1, S. 7/8.

127

eines Romanautors in nichts nachsteht. 103 Nicht zufällig spricht Schubart in seiner Autobiographie von einem Plan, »einen Roman aus mir heraus zu schreiben, den ich schon Jahre lang mit mir herumtrug«. 104 Eine solche Kompetenz zeigt sich nach Schubarts Worten vor allem in der Berücksichtigung des Details, der »Anekdote« und noch nicht in der Fähigkeit, diese Details zu einem in sich zusammenhängenden Ganzen zu verschmelzen, ihre Bezogenheit aufeinander im Text und nicht so sehr auf einen Kontext zu akzeptieren. Gleichwohl markiert an dieser Stelle seine Argumentation recht deutlich den Ubergang von der bekennenden zur erzählenden Autobiographie. Denn wenn Schubart davon ausgeht, daß eine solche Berücksichtigung gerade dasjenige zur Sprache brächte, was den Autobiographen >heben und ihm Selbstheit geben würdeConfessions< geprägt ist. Gelten dabei die Bedenken von Autoren wie Huber 106 oder Theoretikern wie Je-

103

104 105

106

Vgl. dazu auch Müller (Autobiographie . . . S. 51 ff.), für den Schubarts Autobiographie allerdings vor allem ein Beleg dafür ist, daß die pietistische Zweckform nicht mehr in der Lage ist, Erfahrung von Individualität sprachlich adäquat zu artikulieren. Schubart's Leben . . . Bd. 1, S. 289/290. Wie stark sich Schubart diesem Anspruch unterworfen fühlte, belegt eine Passage am Schluß der Autobiographie, mit der er sich vor seinen Lesern für die fehlende Lebendigkeit der Darstellung entschuldigt. Schubart's Leben . . . Bd. 2, S. 119. »Doch, ich halte nichts auf die sogenanten Konfessionen. Sie sind nichts als Stolz und Frömmelei. Der junge Leser soll dies nicht gelehrt werden, daß man grobe Fehler begehen, und dennoch ein angesehener Mann in der Welt sein kann . . . Das Bekenntnis jenes so berühmten französischen Natur-Menschen: daß er in seiner J u -

128

nisch 1 0 7 entweder allein der Wirkung dieses Textes oder der in seinem G e folge

aufkommenden

Sensationsliteratur,

so

liefert Johann

Gottfried

Herder mit einer Reihe von Briefen, die der Schweizer Johann Georg Müller der von ihm besorgten Sammlung Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst< 108 als Einleitung vorangestellt hat, sowohl eine weitaus differenziertere Analyse der >Confessionen< als auch Hinweise zu ihrer Weiterentwicklung in Richtung erzählende Autobiographien Ausgehend von der >Sensation, die Rousseau's Confessionen in unsrer Zeit erregt haben*, 109 sucht Herder in diesen Briefen die Frage zu beantworten: wie fern kann und darf und soll ein Mensch Geständnisse von sich dem Publikum machen? und welche Hauptidee, welch ein Compaß muß ihn bei dieser gefährlichen Schiffahrt

leiten? (S. 359/360). 110

Im Verlauf seiner Beantwortung dieser Fragen unterscheidet Herder zwischen >andächtigen oder religiösen Confessionen< l n und den >menschlichen philosophischen^ 1 1 2 An den religiösen Confessionen bemängelt er, daß die sie bestimmende extreme Distanz zwischen bekennendem Autor und angesprochener göttlicher Instanz diesen Texten eine resignative Tendenz verleihe, die sich dem Rezipienten mitteile und ihn schwach und mutlos mache. Die religiöse Beichte sei nicht für die Öffentlichkeit bestimmt; und wer dennoch »den geheimen Unrath seines Herzens für solch ein Heiligthum hält, daß er ihn nicht ablegen mag, ohne ihn zugleich einer Heerde gläubiger und frommer Schaafe als Arznei zu verkaufen«, der ist für Herder »ein selbstsüchtiger Heuchler« und » s p o t t e t . . . Gottes und der Menschen«. In diesen und den folgenden Ausführungen ähnelt Herders Argumentation gend eine Dieberei begangen, und diese schändliche That auf ein unschuldiges Mädchen gewälzet, in das er sterblich verliebt war, empört jeden Menschen von Gefühl wider den Beichtenden, ohne der Moralität etwas zu nützen.« Huber: Etwas von meinem Lebenslauf . . . S. 18/19. Ahnlich äußern sich u. a.: Fest, Johann Samuel: Biographische Nachrichten und Bemerkungen über sich selbst. Leipzig 1797, S. 5ff., oder: Biographie des Doktors M. A. Weikard von ihm selbst herausgegeben. Berlin und Stettin 1784, S. 46, auch: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. (1781 — 85) Basel 1945. Bd. 1, S. 293. 107 108

109 110 111 112

Vgl. dazu S. 89 ff. dieser Arbeit. Siehe Anm. 12 und: Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18 (1883). Vgl. dazu Niggl, der auch die Phasen der Herderschen Auseinandersetzung mit der Gattung >Autobiographie< vor 1790 behandelt, auf das von Herder in den Briefen angesprochene Verhältnis von bekennen und erzählen jedoch nicht eingeht (Niggl: Die deutsche Autobiographie . . . S. 4 7 - 5 1 , 5 3 - 5 6 ) . Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18, S. 359. Kursives im Original gesperrt. Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18, S. 366. Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18, S.371.

129

in verblüffender Weise derjenigen zu Beginn dieses Abschnitts in Teilen zitierten von Jenisch. 113 Kritik gilt auch der pietistischen und der u. a. von ihr beeinflußten medizinisch-naturwissenschaftlichen Praxis der Selbstbeobachtung. 114 Die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse nützt nach Herder vor allem deshalb niemandem, weil sie meist einer krankhaften Stimmung entspringen, die es den sich selbst Analysierenden verwehrt, ihr Leben als ein Ganzes zu überblicken und einzelne Momente daraus objektiv zu bewerten und darzustellen. Im Verlauf seiner Argumentation geht Herder sogar soweit, die Möglichkeit einer umfassenden Selbsterkenntnis generell in Frage zu stellen: Selten täuschen wir andre mit uns so sehr, als wir uns selbst mit uns täuschen: denn F r e m d e haben eigene Augen uns anzusehen u n d zu p r ü f e n ; wir aber, w e n n wir gegen u n d in uns selbst den Blick kehren, sollen auf einmal der Sehende, das Auge und das Gesehene werden. Wie also vor Gericht das Zeugniß dessen, der f ü r oder gegen sich selbst zeugt, mancherlei Einschränkungen u n d eine genaue Behutsamkeit fordert, so verdienen gewiß auch dergleichen ans Licht gestellte Confessionen bald einen billigen Vertheidiger, der für sie, bald einen A d v o k a t u m Diaboli, der gegen sie auftrete u n d zeuge. So schlechthin gilt ihr Urtheil nicht. Erzählen kann man von sich; aber nicht über sich urtheilen, noch weniger entscheiden (S. 369).

In ähnlicher Weise wie in diesen Äußerungen, die ja die Tendenz zum Wechsel vom bekennenden zum erzählenden Typus noch einmal akzentuieren, argumentiert Herder auch bei seiner Ablehnung der Rousseauschen >ConfessionsConfessionsIch und Jahrhundert* voraus. Anders als in bekennenden Autobiographien meint »practische Rechenschaft« nicht Rechtfertigung vor einem bestimmten Adressaten, sondern den Hinweis auf den Zusammenhang der dargestellten Handlungen und Ereignisse, das bei Bernd noch nicht relevante erzählende Aufzeigen von »triftigen«118 Zusammen-

115 116

118

Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18, S. 372 ff. Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18, S. 375. Kursives im Original gesperrt. Hier verstanden als >narrativ triftig« im Sinne der von Jörn Rüsen formulierten Definition: »Narrativ triftig sind Geschichten, wenn die in ihnen behaupteten Tatsachen

131

hängen. Sie erwächst nicht aus den Zwängen einer intensiv geführten sprachlichen Interaktion und ist auch nicht mehr das Mittel, solche Situationen zu entschärfen (>Freunde und Feinde vergaß der Verfasser*), sondern erscheint vornehmlich als ein Akt der Tradierung (>Ein Hinterlassen eines Erbtheils an seinem Leben< 1 1 9 ), vollzogen durch einen Sprecher, der aus der zeitlichen Distanz eines >Hingeschiedenen< Ich und Welt sowie beider Zusammenwirken objektiv wiederzugeben vermag. Hier nähert Herder die Autobiographie der Historiographie an und es verwundert nicht, daß er solche »Lebensbeschreibungen« am Schluß seiner Ausführungen als einen vortrefflichen Beitrag zur Geschichte der Menschheit* versteht: Sie wissen, m. F r . , daß wir unter mehrern Völkern schöne Denkwürdigkeiten dieser Art haben; und es wäre gut, wenn die unbekannteren ans Licht gebracht, das Zerstreute gesammelt, und das Fremde zu uns hinüber geschaft würde. Es würde dies eine kleine Bibliothek der Schriftsteller über sich selbst, und damit gewiß ein vortreflicher Beitrag zur Geschichte

der Menschheit.

D a nun unläugbar

der edlere Theil des Publikums auf diese immer aufmerksamer wird, indem unser Geschlecht es von Tage zu Tage inniger fühlt, daß es sich selbst das Nächste sei, und sich selbst bearbeiten müße, um aus und durch sich zu machen, was noch auf Erden geschehen soll: so dürfte der, der sich einem solchen Werk unterzöge, wohl gewiß auf den Beifall der Edelsten seiner Nation rechnen dörfen. N u r allerdings gehörte dazu auch, daß er diese Porträte und Büsten nicht als ein Lohndiener voll Unrath oder in wilder Verwirrung hinstellte . . . (S. 3 7 5 / 3 7 6 ) .

N a c h diesen Aussagen ist die Lebensbeschreibung* allerdings mehr als eine Wiedergabe individueller Handlungen und historischer Ereignisse. Sie wird zur Physiognomie und zum Repräsentanten des sie tragenden Volkes. Ihre Sammlung ergibt ein Bild von der Menschheit und deren Geschichte. Herder belegt damit die Gattung mit einem Anspruch, den in der Folgezeit allein Goethe einzulösen vermochte. Sowohl die autobiographische als auch die biographische Literatur nämlich zeigt selbst dort Unsicherheiten, wo sie das Herdersche Programm, bewußt oder unbewußt, zu ihrem eigenen gemacht hat. Ein sehr schöner Beleg für diese Beobachtung im Bereich der Biographik ist die von Friedrich Leopold Brunn verfaßte vita des Berliner Pädagogen Johann Meierotto. In seiner ausführlichen Vorrede fordert Brunn von den Autoren nachdrücklich die Berücksichtigung topographischer, sozialer und politischer Faktoren,

und Bedeutungen zur Einheit eines zeitlich erstreckten Sinnzusammenhangs vermittelt werden und wenn dieser Sinnzusammenhang durch den common sense der lebensweltlichen Orientierung von Handlungssubjekten in der Zeit gesichert ist«. Rüsen, J ö r n : Geschichte und N o r m -

Wahrheitskriterien der historischen E r -

kenntnis. In: Oelmüller, Willi (Hrsg.): N o r m e n und Geschichte. Paderborn / München / Wien / Zürich 1979, S. 124. 119

Herder: Sämtliche Werke. Bd. 18, S. 375.

132

b e t o n t aber d a b e i n o c h s t ä r k e r als H e r d e r die e r z ä h l s p e z i f i s c h e K o m p o nente >EntwicklungTheorie der Lebensbeschreibung< von Daniel Jenisch, die in Bezug auf das Verhältnis von Biographie und Historiographie von gegenseitiger Begründung und Erleuchtung< spricht. Leben und Thaten Jakob Paul Freiherrn von Gründling. Berlin 1795. Lebensbeschreibung Johann Ossianders. Tübingen 1795. Jenisch: Theorie der Lebensbeschreibung. S.3 —5. Von Interesse in diesem Zusammenhang ist, daß sich zunehmend Frauen dieser 133

Eins das Andre veranlaßt und hervorgebracht hat« legitimiert dann nicht die organische Entwicklung des Individuums, sondern die über diesem wachende Vorsehung. 1 2 3 Die von Theoretikern geforderte Darstellung historischer, topographischer und sozialer Faktoren zeigt sich bei vielen Autobiographien zunächst in einer deutlich stärkeren Berücksichtigung der Kindheit und Jugend — eine Tendenz, die sich im 19. Jahrhundert nicht nur fortsetzen, sondern eminent verstärken wird. Die Mehrzahl der die Kindheitsphase detailliert wiedergebenden Texte läßt die z. B. an Jung-Stillings autobiographischem Roman >Henrich Stillings Jugend« (1777) beobachtbare epische Geschlossenheit freilich vermissen, auch wenn einzelne Autoren wie der bereits genannte Kausch eine nicht näher spezifizierte »ästhetische Gestaltung« für die autobiographische Darstellung geltend machen. Von Jung-Stillings autobiographischem Roman unterscheiden sich diese frühen erzählenden Autobiographien vor allem dadurch, daß sie textintern deutlich die Person des Schreibenden mit derjenigen des dargestellten Ich identifizieren und daß sie — ebenfalls textintern — genügend Eigennamen und Kennzeichnungen enthalten, die eine Verifizierung der dargestellten Sachverhalte und eine Identifizierung der erwähnten Personen ermöglichen. Eine N ä h e zum Roman ergibt sich vornehmlich aus dem deutlich artikulierten Bestreben, dem Unterhaltungsbedürfnis eines breiten Publikums nachzukommen. Sehr klar formuliert diesen Anspruch z. B. der ehemalige Benediktinermönch Franz Xaver Bronner, wenn er in seiner Lebensbeschreibung behauptet, >daß diese nicht nur nach seinem eigenen Urteil genau so viel Unterhaltung gewähre als ein Roman vom gewöhnlichen Schlage«. 124 Diesem Unterhaltungsbedürfnis kommt Bronner ausgiebig nach; seine dreibändige Autobiographie gehört neben denen von Laukhard, Bahrdt und Büsching zu den umfangreichsten der Jahrhundertwende. Bronner behandelt nicht nur sehr ausführlich seine Kindheit und Jugend, sondern auch die Ereignisse, die zu seiner Konversion geführt haben. Gerade hier zeigt sich im Vergleich mit der beken-

T h e m a t i k annehmen und sie, wie z. B . F r i d e r i k a Baldinger, die F r a u eines G ö t tinger G e l e h r t e n , einer kritischen B e t r a c h t u n g unterziehen. B a l d i n g e r , F r i d e r i k a : L e b e n s b e s c h r e i b u n g , v o n ihr selbst verfaßt. H e r a u s g e g e b e n u n d mit einer V o r r e d e begleitet v o n Sophie, W i t t w e v o n la R o c h e . O f f e n b a c h 1791. 123

Völlig verschwindet diese O r i e n t i e r u n g am V o r s e h u n g s s c h e m a der pietistischen A u t o b i o g r a p h i e natürlich auch im 19. J a h r h u n d e r t nicht; ein Beispiel d a f ü r ist die A u t o b i o g r a p h i e des Orientalisten J o h a n n A r n o l d K a n n e : A u s m e i n e m L e b e n (geschrieben 1816; hrsg. v. C a r l S c h m i t t - D o r o t i c , Berlin 1919).

124

F r a n z X a v e r B r o n n e r s L e b e n , v o n ihm selbst beschrieben. Zürich 1795—97. B d . I, S. V I .

134

nenden Autobiographie des konvertierten Benediktiners Rothfischer, wie dem Autobiographen sein Gegenstand auf Grund des fehlenden engen kommunikativen Rahmens entgleitet. Besonders die Darstellung der Kindheit besteht aus einer Aneinanderreihung von Genrebildern; eine in sich geschlossene kleine Geschichte reiht sich an die andere, und sie alle vermitteln in ihrer Gesamtheit weniger die Entwicklung eines bestimmten Individuums als vielmehr ein der Empfindsamkeit verpflichtetes Bild eines Zustands. Bezeichnend für Bronners Orientierung am bereits von den Zeitgenossen beklagten 1 2 5 unersättlichen Unterhaltungsbedürfnis breiter Leserschichten ist Bronners Angebot am Schluß seiner Ausführungen: sein Leben enthalte genug an »rührenden Idyllszenen«, um diesen ohnehin schon umfangreichen Text noch weiter auszuweiten. 1 2 6 D e r dialogische Bezug zu einem konkreten kommunikativen Kontext ist erst ansatzweise durch die Ausgestaltung einer textimmanenten Erzählsituation ersetzt, welche die Verbindung der einzelnen >Idyllszenen< zu einem kohärenten Ganzen gewährleisten würde. Das gilt selbst noch für einen Text wie Ulrich Bräkers >Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im T o k kenburgDichtung und Wahrheit< am Beispiel des >Vicar of Wakefield< etwas von der Faszination zu vermitteln, die diese Gegenstände auf die Leser in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausüben. D e r R o m a n wird literarisches Medium für die Artikulation solch bürgerlicher Tugenden wie Redlichkeit, Häuslichkeit, Mitleidsfähigkeit, ökonomischer Verstand etc. 1 3 2 Das hat — und auch darauf hat Voßkamp im einzelnen verwiesen — gravierende Auswirkungen auf die Romanstruktur, die nun nicht mehr durch die chronikalische Aneinanderreihung von Begebenheiten, sondern durch »lückenlose Kausalmotivation« 1 3 3 gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang darf freilich nicht übersehen werden, daß Blanckenburg mit seinen Ausführungen über die Notwendigkeit kausalpsychologischer Verknüpfung im Roman zwar die Abhängigkeit des Dargestellten von einer bestimmten Erzählsituation betont, die Erzählergestalt jedoch aus dem Romantext verbannt. 1 3 4 Das bedeutet, daß dieser romantheoretische Entwurf für die weitere Entwicklung der deutschen Autobio131

Vgl. dazu noch einmal: Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Koselleck, Reinhard: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a . M . 1973.

132

Voßkamp, Wilhelm: Romantheorie in Deutschland. Von Martin O p i t z bis Friedrich von Blanckenburg. Stuttgart 1973, S. 184.

133

V o ß k a m p : Romantheorie . . . S. 187.

134

Vgl. dazu: T ü r k , H o r s t : Dialektischer Dialog. Göttingen 1975, S. 125f.

136

graphie an Einfluß verliert. Denn während der autobiographische Roman dieser Konzeption durchaus noch verpflichtet bleibt — zu nennen ist hier vor allem Karl Philipp Moritz' >Anton Reiser« —, neigt die deutsche Autobiographie spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dazu, den Autor als Erzählergestalt im Text zu profilieren, als Erzählergestalt, die neben der eigenen Vergangenheit auch zunehmend das Sprechen darüber zum Bestandteil autobiographischer Texte macht und der Gestalt eines fiktiven Lesers verstärkt Kontur verleiht. Goethes >Dichtung und Wahrheit« sowie Jean Pauls >Selberlebensbeschreibung< lassen diese Entwicklung besonders deutlich erkennen.

137

6.

Die erzählende Autobiographie im 19. Jahrhundert

6.1. Erzählen als Interpretation und Synthese. Die ideale Schreibsituation als Voraussetzung für das Schreiben einer >grundwahren< Lebensgeschichte: Goethes >Dichtung und Wahrheit< Es gibt zweierlei Arten die Geschichte zu schreiben, eine für die Wissenden, die andere für die Nichtwissenden. Bei der ersten setzt man voraus, daß dem Leser das Einzelne bis zum Überdruß bekannt sei. Man denkt nur darauf, ihn auf eine geistreiche Weise, durch Zusammenstellungen und Andeutungen an das zu erinnern, was er weiß, und ihm für das zerstreut Bekannte eine große Einheit der Ansicht zu überliefern oder einzuprägen. Die andere Art ist die, w o wir, selbst bei der A b sicht eine große Einheit darzustellen, auch das Einzelne unnachläßlich zu überliefern verpflichtet sind. 1

Diese einer Rezension in der >Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung« vom 26. Februar 1806 entstammende Äußerung Goethes bezieht sich auf eine Sammlung von Autobiographien, die der Berliner Verleger S. M. Lowe im Jahre 1806 unter dem Titel >Bildnisse jetzt lebender Berliner Gelehrten, mit ihren Selbstbiographien« herausgegeben hat, und ist nur ein Beleg unter vielen für das nachhaltige Interesse, das Goethe vor allem seit Beginn des neuen Jahrhunderts historiographischen Fragestellungen entgegenbringt. Weitere literarische Konkretisationen dieses Interesses sind — neben den >Materialien zur Geschichte der Farbenlehre«2 und den >Schriften zur Morphologie«3 — biographische Arbeiten wie die über Cellini, Winckelmann 1

Zitate nach: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1 8 8 7 - 1 9 1 9 . 1. A b t . : W e r k e , 63 Bde. 1 8 8 7 - 1 9 1 8 . 2. A b t . : N a t u r wissenschaftliche Schriften, 14 Bde. 1 8 9 0 - 1 9 0 4 . 3. A b t . : Tagebücher, 15 Bde. 1 8 8 7 - 1 9 1 9 . 4. A b t . : Briefe, 50 B d e . 1 8 8 7 - 1 9 1 2 . ( W A ) . W A 1. A b t . , Bd. 40, S . 3 6 1 .

2

Siehe dazu: Pohle, Klaus Rüdiger: >Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« oder D i e Wiederholung des Lebens. Studien zur Altersperspektive der Geschichte der Jugend omnis vivam. Phil. Diss. Freiburg i. B r . 1972.

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Das hat vor allem D o r o t h e a Kuhn herausgearbeitet. Kuhn, D o r o t h e a : Das Prinzip der autobiographischen F o r m in Goethes Schriftenreihe >Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie«. In: N e u e Hefte zur Morphologie 4, 1962, S. 1 2 9 - 1 4 9 .

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und Diderot 4 sowie eine Fülle von autobiographischen Versuchen, Bemerkungen und Reflexionen. Für letztere gibt es eine Reihe von Vorstufen, bezeugen doch autobiographische Zeugnisse wie der bekannte >Stille(r) Rückblick aufs Leben< vom 7. August 1779,5 in dem der Dreißigjährige sein Leben bis zum Beginn der Tätigkeit in Weimar skeptisch bilanziert, oder entsprechende Briefe an die Mutter (z.B. vom 9.8. 1781), 6 daß Goethe schon recht früh einzelne Phasen seines Lebens kritischer Reflexion unterzieht. Die seelische Erschütterung durch Schillers Tod 7 und die Goethe immer wieder bedrängende Skepsis hinsichtlich des bislang Geleisteten 8 verstärken jedoch die Tendenz, jenes in den >Materialien zur Geschichte der Farbenlehre* angekündigte >größere Bekenntnis*9 endlich abzulegen, autobiographische und dichterische Werke in eine große Einheit zu integrieren. Intensive Lektüre autobiographischer Schriften (Cardano, Alfieri, Montaigne, Rousseau, Götz von Berlichingen u. a.), die Förderung anderer autobiographischer Vorhaben (Jung-Stilling, Sachse, Hackert u. a.), Gespräche (vor allem mit Riemer), Rezensionen, briefliche Mitteilungen, Tagebucheintragungen, Entwürfe, Schemata vervollständigen schließlich die ungemein sorgfältig und planvoll betriebene Vorbereitung der eigenen Autobiographie, 10 deren erster Teil dann am 26. Oktober 1811 gedruckt vorliegt. Nun ist die zitierte Formulierung aus der Lowe-Rezension mit ihrem Hinweis auf das bei der Abfassung historiographischer Schriften zu berück4

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9 10

Vgl. dazu: u. a. Fuchs, Albert: Stichwort: Dichtung und Wahrheit. In: Zastrau, A . (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Goethe, seine Welt und Zeit in Werk und Wirkung. Bd. 1, Stuttgart 2 1961, Sp. 1 8 1 4 - 1 8 4 0 . Schuler, Reinhard: Das Exemplarische bei Goethe. Die biographische Skizze zwischen 1803 und 1809. München 1973. V o r nehmlich die von Goethe besorgte Ubersetzung und Edition von Cellinis Autobiographie hat in der autobiographischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt, insbesondere im Rahmen der Erörterung der für das Schreiben einer Autobiographie günstigsten Lebensphase (z. B. in den Autobiographien von Carus und Gervinus). W A 3. Abt. Bd. 1, S. 93. W A 4. Abt. Bd. 4, S. 50. »Seit der großen Lücke, die durch Schillers Tod in mein Dasein gefallen ist, bin ich lebhafter auf das Andenken der Vergangenheit hingewiesen, und empfinde gewissermaßen leidenschaftlich, welche Pflicht es ist, das was für ewig verschwunden scheint, in der Erinnerung aufzubewahren.« (Brief an Hackert v. 4 . 4 . 1806). Goethe: Hamburger Ausgabe der Briefe. Hamburg 1965. Bd. 3, S. 20. Vgl. dazu: Beutler, Ernst: Essays um Goethe. Zürich und München 7 1980, S. 635 ff. sowie: Müller: Autobiographie . . . S. 2 4 9 f f . W A 2. Abt. Bd. 4, S. 285. Vgl. dazu: Alt, Carl: Studien zur Entstehungsgeschichte von Goethes Dichtung und Wahrheit. München 1898. Jahn, Kurt: Goethes Dichtung und Wahrheit. Vorg e s c h i c h t e - E n t s t e h u n g — K r i t i k - A n a l y s e . Halle 1908.

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sichtigende > Wissen« allerdings mehr als nur ein Indiz für das Interesse, das Goethe zu Beginn des 19. Jahrhunderts historischen und autobiographischen Fragestellungen entgegenbringt. In Verbindung mit ihr unmittelbar folgenden Äußerungen belegt sie vielmehr, daß Goethe lange vor Beginn der Niederschrift von >Dichtung und Wahrheit< wesentliche Gestaltungsprinzipien autobiographischer Texte formuliert hat, Gestaltungsprinzipien, die sowohl den Gegenstand als auch die pragmatischen Gegebenheiten seiner sprachlichen Artikulation betreffen. Die Rezension formuliert dabei nicht allein wichtige Merkmale dessen, was in Kap. 2.1.1. dieser Arbeit »pragmatische Präsupponierung« genannt worden ist, reflektiert also nicht allein die von den Autoren solcher Texte zu antizipierenden Wissensvoraussetzungen potentieller Rezipienten, sondern bindet die Gestaltung dieser Texte auch eng an Prinzipien, die (im Rahmen der in Kapitel 4 erarbeiteten Typologie) charakteristisch für den Typus der erzählenden Autobiographie sind: Sollten zu unserer Zeit Männer, die über vierzig oder fünfzig Jahre im Leben stehen und wirken, ihre Biographie schreiben, so würden wir ihnen rathen, die letzte A r t in's Auge zu fassen. Denn außerdem daß man sich gerade um das Nächstvorhergehende am wenigsten bekümmert, so ist unsere Zeit so reich an Thaten, so entschieden an besonderem Streben, daß die Jugend und das mittlere Alter, für die man denn doch eigentlich schreibt, kaum einen Begriff hat von dem, was vor dreißig oder vierzig Jahren eigentlich da gewesen ist. Alles was sich also in eines Menschen Leben dorther schreibt oder dorthin bezieht, muß auf's neue gegeben werden . . . Aber wir ersuchen sämmtliche Theilnehmer, eine doppelte Pflicht stets vor Augen zu haben: nicht zu verschweigen was von außen, es sei nun als Person oder Begebenheit, auf sie gewirkt, aber auch nicht in Schatten zu stellen, was sie selbst geleistet, von ihren Arbeiten, von deren Gelingen und Einfluß mit Behaglichkeit zu sprechen, die dadurch gewonnenen schönsten Stunden ihres Lebens zu bezeichnen, und ihre Leser gleichfalls in eine fröhliche Stimmung zu versetzen ( W A 1. Abt. Bd. 40, S. 361/362, 364/365).

Verweist der Beginn dieses Zitats auf die bereits in der Cellini-Ubersetzung angesprochene — und später, 1823, in dem in >Kunst und Altertum« veröffentlichten Aufsatz >Selbstbiographie< erneut erörterte — Frage, zu welchem Zeitpunkt ein Autobiograph seine Tätigkeit beginnen soll, so artikulieren die ihm folgenden Passagen für die erzählende Autobiographie charakteristische Merkmale wie distanzierte Einfühlung in die eigene Vergangenheit (>von ihren Arbeiten . . . mit Behaglichkeit sprechen«), Bemühen um Unterhaltung und Herstellen eines entspannten Autor — Leser — Verhältnisses (>ihre Leser gleichfalls in eine fröhliche Stimmung versetzen«) oder Detailliertheit bei der Wiedergabe persönlicher Vergangenheit. Diese Merkmale werden in der Lowe-Rezension natürlich nicht zufällig angesprochen, kann doch ohne ihre Berücksichtigung der oben zitierten »doppelte(n) Pflicht«, nämlich dem Einbeziehen subjektiver und objektiver 140

Faktoren in eine autobiographische Darstellung nicht nachgekommen werden. Das gilt nach Goethes eigener Aussage vor allem dann, wenn es sich um die Darstellung der Entwicklung eines Individuums in Kindheit und Jugend handelt, also einer Lebensphase, die durch eine ständige Veränderung des in der Rezension genannten Verhältnisses von Ich und Welt gekennzeichnet ist. Dieser doppelten Pflicht< ist nun Goethe mit >Dichtung und Wahrheit« in einer Intensität und Differenziertheit nachgekommen, die in der Geschichte der deutschen Autobiographie einmalig ist. Die in der Lowe-Rezension nur angeschnittene Frage nach dem in der Autobiographie zu behandelnden Verhältnis von Ich und Welt, Ich und Jahrhundert, wird hier zur bestimmenden Thematik, einer Thematik, die bereits in der berühmten Passage im Vorwort zu >Dichtung und Wahrheit< über die »Hauptaufgabe der Biographie« nachdrücklich formuliert ist: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine W e l t = und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein ( W A 1. A b t . Bd. 26, S. 7/8).

Diese Ausführungen erinnern zunächst an die oben erörterten Bemerkungen Herders über die Notwendigkeit einer Orientierung autobiographischer Texte an der Historiographie. Sie unterscheiden sich von diesen allerdings dadurch, daß sie das genannte Verhältnis verstärkt als ein Wechselverhältnis zu begreifen suchen. Nach Goethes Konzeption soll die Autobiographie nicht allein Rechenschaft über die Auswirkungen der Lebensumstände auf das Individuum ablegen, sondern auch darüber, wie das dargestellte Individuum diese Einwirkungen »wieder nach außen abgespiegelt« hat, ein >kaum erreichbares« Vorhaben, das nach Goethes Worten offenbar noch nicht geplant, geschweige denn verwirklicht worden ist und wohl nicht zuletzt deshalb eines Vorwortes bedarf." Die Darstellung des Menschen in seinen Zeitverhältnissen hat Goethe bekanntlich sowohl in Bezug auf die temporale als auch die räumliche Dimension außerordentlich umfassend vollzogen. Es gibt nur wenige Autobiographien, welche historischen (Kaiserkrönung im 5. Buch), literarhistorischen (Literaturgeschichte im 7. Buch) oder geographischen Gegeben" W A 1. A b t . Bd. 26, S . 3 .

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heiten (Reise in die Schweiz im 17. und 18. Buch) trotz eines zeitlich so begrenzten Darstellungsgegenstands 12 so breiten Raum geben wie diese Autobiographie. Ahnliches gilt für die Berücksichtigung philosophischer (Spinoza im 14. und 16. Buch), theologischer und religiöser (Welt des Alten Testaments; natürliche und geoffenbarte Religion im 4. Buch) sowie ästhetischer Fragestellungen (Straßburger Münster im 9. Buch). Es gehört indessen zu den Charakteristika dieser Autobiographie, daß sie es nicht bei solchen »Berücksichtigungen« beläßt. Vielmehr gestaltet Goethe das im Vorwort angesprochene Verhältnis von Ich und Welt als Folge von Begegnungen, die wesentliche Stufen im Entwicklungsprozeß eines Individuums darstellen. 13 Dies entspricht seiner Auffassung, der gemäß Selbsterkenntnis nur im Verlauf einer tätigen Vermittlung von Subjekt und Umwelt möglich ist, eine Auffassung, die Goethe in seiner berühmten Formulierung über das »Erkenne dich selbst« nachdrücklich klargestellt hat: Hiebei bekenn' ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Thätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, in sofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf (WA 2. Abt. Bd. 11, S. 59).

Diese Begegnungen von Subjekt und Umwelt läßt Goethe nun ungewöhnlich häufig im Rahmen direkter sprachlicher Interaktion erfolgen, artikuliert in den vielfältigen Formen mimetischer Redewiedergabe besonders im dritten, neunten, zehnten und elften Buch. Bemerkenswert oft finden sich auch Erzählungen und Berichte Goethes über solche für seine Entwicklung wesentlichen Begegnungen mit Freunden oder berühmten Zeitgenossen, in deren Rahmen sich seine »Welt- und Menschensicht« gebildet hat. Dazu gehören die Gespräche mit Herder über die Naturpoesie, mit Lavater über die Physiognomik oder mit Susanna Katharina von Klettenberg 14 über religiöse Fragestellungen ebenso wie die Gespräche, die während der für die Sturmund-Drang-Periode so wichtigen Auseinandersetzung mit den Werken Shakespeares in Goethes Straßburger Freundeskreis geführt wurden: 12

13

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»Dichtung und Wahrheit« endet mit dem Entschluß des Siebenundzwanzigjährigen, sich in die Dienste Carl Augusts von Weimar zu begeben. Vgl. dazu auch: »Am allerfördersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vortheil haben, uns mit der Welt aus ihrem Standpunct zu vergleichen und daher nähere Kenntniß von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mögen.« Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort. WA 2. Abt. Bd. 11, S. 59. Zu dieser für Goethes persönliche Entwicklung und dichterisches Schaffen so wichtigen Begegnung (vgl. die »Bekenntnisse einer schönen Seele« in »Wilhelm Meisters Lehrjahre«) siehe: Funk, Heinrich (Hrsg.): Die schöne Seele. Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna Katharina von Klettenberg. Leipzig 2 1912.

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U n d so wirkte in unserer Straßburger Societät Shakespeare, übersetzt und im O r i ginal, stückweise und im Ganzen, stellen= und auszugsweise, dergestalt, daß wie man bibelfeste Männer hat, wir uns nach und nach in Shakespeare befestigten, die Tugenden und Mängel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in unseren Gesprächen nachbildeten, an seinen Quibbles die größte Freude hatten und durch Ubersetzung derselben, ja durch originalen Muthwillen mit ihm wetteiferten ( W A 1. Abt. Bd. 28, S. 7 4 / 7 5 ) . 1 5

Breite und Intensität solcher Weltkenntnis vermittelnden Begegnungen heben >Dichtung und Wahrheit< weit über das bis dahin in der deutschen Autobiographik übliche Aufzählen von Lernstationen hinaus. Wenn Goethe dabei bestimmte Gegenstandsbereiche wie z. B. den der Religion und Theologie mehrfach und in jeweils verschiedener Gestalt zur Sprache bringt, dann geschieht das vornehmlich, um den Prozeß der eigenen Erkenntnisentwicklung und nicht so sehr deren Resultate zur Sprache zu bringen. Dazu heißt es in einer der von Riemer aufgezeichneten Lesarten zum 3. Teil von >Dichtung und Wahrheitc D i e Biographie sollte sich einen großen Vorrang vor der Geschichte erwerben, indem sie das Individuum lebendig darstellt und zugleich das Jahrhundert wie auch dieses lebendig auf jenes einwirkt. Die Lebensbeschreibung soll das Leben darstellen, wie es an und für sich und um sein selbst willen da ist. D e m Geschichtsschreiber ist nicht zu verargen, daß er sich nach Resultaten umsieht; aber darüber geht die einzelne That sowie der einzelne Mensch verloren. Wollte man die H e r r lichkeit des Frühlings und seiner Blüten nach dem wenigen O b s t berechnen, das zuletzt noch von den Bäumen genommen wird, so würde man eine sehr unvollkommene Vorstellung jener lieblichen Jahreszeit haben ( W A

l.Abt.

Bd. 28,

S. 358).

Es sind vor allem die Gespräche, deren Wiedergabe eine Vorstellung von den »Blüten« vermittelt; diese Wiedergabe gestaltet nämlich den Prozeß jener »Einwirkung des Jahrhunderts< besonders intensiv, weil sie nicht nur eine besondere Art der Aneignung bislang unbekannter Sachverhalte, sondern auch die dadurch bewirkte Entfaltung von im Individuum angelegten Begabungen und Eigenschaften aufzeigt. Die außergewöhnliche Detailliertheit dieser autobiographischen Darstellung beruht u. a. darauf, daß Goethe sowohl den prozessualen Ablauf solcher Gespräche als auch deren Wirkung nachzuzeichnen bemüht ist. Viele dieser Gespräche sind in der Sicht des alten Goethe nicht allein deshalb bedeutsam für die eigene Entwicklung, weil sie die Vermehrung von Kenntnissen und Fertigkeiten in Kunst und Wissenschaften gefördert, sondern auch weil sie zu einer — letztlich produktiven — Verunsicherung bei15

Besonders wichtig waren dabei natürlich die Gespräche mit Herder. Siehe dazu: Kohlschmidt, W e r n e r : Die Begegnung Goethes mit Herder in Straßburg. In: Revue d'Allemagne 3 (1971), S. 1 5 4 - 1 6 4 .

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getragen haben. So führen bereits die Diskussionen zu Beginn des Leipziger Aufenthaltes zu einer »vielfachen Zerstreuung, ja Zerstückelung meines Wesens und meiner Studien«, 1 6 woraus sich immer wieder die Notwendigkeit ergibt, nach neuen Orientierungsmöglichkeiten Ausschau zu halten; das nach Behrischs Abreise verstärkte >Suchen nach Erfahrung< im Rahmen neuer Gespräche mag als Beleg dafür genügen. 1 7 Somit behandelt diese Autobiographie neben der im Vorwort genannten >Begünstigung Widerstreben*, ja es ist eines der erklärten Hauptanliegen Goethes, die in den oben erwähnten Rückblicken 1 8 bereits früh angesprochenen Leidenschaften und Verworrenheiten herauszuarbeiten, die eine kontinuierliche Entwicklung der eigenen Individualität immer wieder gestört haben: Es sind wenige Biographien, welche einen reinen, ruhigen, stäten Fortschritt des Individuums darstellen können. Unser Leben ist, wie das Ganze in dem wir enthalten sind, auf eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Nothwendigkeit zusammengesetzt. Unser Wollen ist ein Vorausverkünden dessen, was wir unter allen Umständen thun werden. Diese Umstände aber ergreifen uns auf ihre eigene Weise. Das Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab, nach dem Warum dürfen wir nicht fragen, und deßhalb verweis't man uns mit Recht auf's Q u i a (WA 1. Abt. Bd. 28, S. 50).

Deshalb ist >Dichtung und Wahrheit< auch nicht, wie zuweilen behauptet, 1 9 sprachliche Artikulation einer problemlos und konfliktfrei verlaufenen Entfaltung eines Individuums. Vielmehr stockt die Entwicklung des Individuums in der Darstellung Goethes immer wieder, verläuft über Umwege, ja kulminiert in krisenhaften Zuständen, 2 0 die sich nicht selten in schweren 16

W A 1. Abt. Bd. 27, S. 67. Vgl. dazu auch die Äußerung über die Nachwirkungen des ersten Dresdener Aufenthalts: » . . . denn die Wahrheit jenes alten Worts, Zuwachs an Kenntniß ist Zuwachs an Unruhe, hatte mich mit ganzer Gewalt getroffen, und je mehr ich mich anstrengte, dasjenige was ich gesehn, zu ordnen und mir zuzueignen, je weniger gelang es mir;« W A 1. Abt. Bd. 27, S. 177.

WA 1. Abt. Bd. 27, S. 146. Vgl. Anm. 3 und 4. " Hiebel, Friedrich: Goethe. Die Erhöhung des Menschen — Perspektiven einer morphologischen Lebensschau. Bern und München 1961, S. 9 f f . Vietor, Karl: Goethe. Dichtung - Wissenschaft - Weltbild. Bern 1949, S.224. 20 Vgl. dazu auch eine Passage aus dem Vorwort zum >Deutschen Gil Blas< (1821): »Das Leben des Menschen aber, treulich aufgezeichnet, stellt sich nie als ein Ganzes dar; den herrlichsten Anfängen folgen kühne Fortschritte; dann mischt sich der U n fall drein, der Mensch erholt sich, er beginnt, vielleicht auf einer höheren Stufe, sein altes Spiel, das ihm gemäß war, dann verschwindet er entweder frühzeitig oder schwindet nach und nach, ohne daß auf jeden geknüpften Knoten eine Auflösung erfolgte.« W A 1. Abt. Bd. 42a, S. 91. Zu dieser konflikthaften Entwicklung im einzelnen vgl. Müller: Autobiographie . . . S. 262ff. 17 18

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physischen und psychischen Erkrankungen, häufig genug aber auch in gesteigerter dichterischer Produktivität äußern. Das für Goethe entscheidende Mittel, »Unsicherheiten« und >Hemmnisse< zu überwinden, ist ihre Verarbeitung im Rahmen dichterischen Handelns, ein Prozeß, dessen Ergebnisse Goethe in seinem berühmten Uberblick über die >Leipziger Verunsicherungen< als »Bruchstücke einer großen Confession« bezeichnet hat: U n d so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußern Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deßhalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nöthiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Confession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist ( W A 1. A b t . Bd. 27, S. 109/110).

Als Bewältigung innerer Krisen sind Goethes Dichtungen nach dieser und anderen Aussagen in hohem Maße geprägt von Erlebnissen ihres Autors; als Manifestation ihrer Bewältigung reproduzieren sie jedoch keineswegs einfach die ihre Entstehung bedingenden Erlebnisgehalte. Nach den im Vorwort zu findenden Äußerungen über die »Hauptaufgabe der Biographie« sind die dichterischen Produktionen nämlich nicht allein Ergebnis und Dokument innerer Auseinandersetzungen und Erfahrungen, sondern auch »künstlerische Abspiegelungen der Auseinandersetzungen des betreffenden Individuums mit den >ZeitverhältnissenFaust INovellehalb poetischen, halb historischen Behandlung< verpflichtet, von der im Vorwort von >Dichtung und Wahrheit« die Rede ist. Diese erzählende Präsentation einer bestimmten, der Vergangenheit angehörenden Lebensphase innerhalb der Autobiographie leistet jene >der eigenen Beruhigung und der fremden Dinge Berichtigung« dienende Verwandlung in ein BildKünstlerautobiographieidealen LesersWissendenWertherAufeinanderverweisens< das diese »Symbole eines Menschenlebens« Verbindende zur Anschauung zu bringen, ein Verfahren, das dann allerdings das »Autorenleben< endgültig zu einem >Menschenleben< stilisiert. Verantwortlich dafür ist ein souveräner Erzähler, der es sich bisweilen sogar erlaubt, das Prinzip der chronologischen Sukzession zu vernachlässigen, wenn es darum geht, die für die Erkenntnis der genannten Einheit notwendige >sinnige Überschau« zu ermöglichen: Bei Behandlung einer mannichfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte, wie die ist, die wir zu u n t e r n e h m e n gewagt haben, k o m m e n wir, u m gewisse Ereignisse faßlich u n d lesbar zu machen, in den Fall, einiges was in der Zeit sich verschlingt, n o t h w e n d i g zu trennen, anderes was n u r durch eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammen zu ziehen u n d so das G a n z e in Theile zusammen zu stellen, die man sinnig überschauend beurtheilen u n d sich davon manches z u eignen mag ( W A 1. Abt. Bd. 29, S. 3).

Das Zusammenziehen des Ganzen in Teile darf freilich nicht dahingehend verstanden werden, daß sich auf diese Weise einzelne Themenkomplexe oder Lebensphasen verselbständigen; beispielsweise ist dies immer wieder im Hinblick auf die >novellistische< Gestaltung der Ereignisse in Sesenheim behauptet worden. Ebensowenig ist damit eine isolierte Rezeption von Einzelpassagen intendiert; diese wird vom Erzähler auch dort verhindert, wo sie sich scheinbar anbietet, z. B. bei den Wechseln von berichtender zu erzählender Darstellung (und umgekehrt). Denn gerade diese Ubergänge werden gleichsam als Ruhepunkte gestaltet, die für die genannte »sinnige Uberschau« Voraussetzung sind und zugleich den Gestus des »behaglichen Erzählens« noch einmal unterstreichen. 41 41

»Indem ich nun aber darauf sinne, was wohl zunächst weiter mitzutheilen wäre, so k o m m t mir d u r c h ein seltsames Spiel der E r i n n e r u n g das ehrwürdige Münstergebäude wieder in die G e d a n k e n , . . . « W A 1. A b t . Bd. 27, S. 269/270.

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Betonen also diese Eigenarten der Textstruktur einerseits nochmals die fingierte, intime Kommunikationssituation zwischen dem Erzähler Goethe und seinem >idealen Leser< — eine Kommunikationssituation, die deutlich den von Goethe als ungenügend empfundenen Kontakten mit der zeitgenössischen Leserschaft gegenübergestellt ist —, so artikulieren andererseits gerade diese Eigenarten eine immense Erweiterung des kommunikativen Rahmens. Denn vornehmlich an diesen >Nahtstellen< etabliert Goethe diskursive Aussagen, durch die objektsprachliche Aussagen über die eigene persönliche Vergangenheit auf die Gattung >Mensch< ausgeweitet werden. Diese auch an anderen Prosatexten der Spätzeit beobachtbare Verfahrensweise42 erleichtert die Aneignung von Vergangenem und unterstreicht zugleich den repräsentativen Charakter der Aussage. So rechtfertigt Goethe z. B. das Erzählen bestimmter Kindheitserfahrungen mit dessen Ausweitung ins Exemplarische: Ich will jedoch diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne noch einige Geschichten zu erzählen, wie mancherlei Unangenehmes mir von meinen Gespielen begegnet: denn das ist ja eben das Lehrreiche solcher sittlichen Mittheilungen, daß der Mensch erfahre, wie es andern ergangen, und was auch er vom Leben zu erwarten habe, und daß er, es mag sich ereignen was will, bedenke, dieses widerfahre ihm als Menschen und nicht als einem besonders Glücklichen oder Unglücklichen. N ü t z t ein solches Wissen nicht viel, um die Übel zu vermeiden, so ist es doch sehr dienlich, daß wir uns in die Zustände finden, sie ertragen, ja sie überwinden lernen ( W A 1. Abt. Bd. 26, S. 104).

Eine derartige Verbindung von Sentenz und Vergangenheitsdarstellung indiziert nicht allein die Interpretationsbedürftigkeit objektsprachlicher Aussagen über die eigene Vergangenheit, sondern stellt die mit solchen Aussagen bezeichneten Sachverhalte in größere Kontexte. Sie erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie die erwähnten »Symbole« der Dichtungen. In Ubereinstimmung mit Goethes Furcht vor der >Hydra der Empirie< wird der Gehalt an bloßer Faktizität zugunsten einer gesteigerten Darstellung von Wirklichkeit reduziert; 43 der Autobiograph ist bemüht, erfahrene Wirklichkeit auf die sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten hin durchsichtig zu machen. Die Segmente werden durch die diskursiven Äußerungen nicht nur zu 42

Vgl. dazu die bereits zitierte Passage aus dem Brief an Iken vom 2 3 . 9 . 1827 sowie folgende Formulierung aus einem Brief an Schelling vom 1 6 . 1 . 1815: »Je älter man wird, desto mehr verallgemeint sich alles . . . « W A 4. Abt. Bd. 25, S. 159. Bemerkbar ist diese Verfahrensweise beispielsweise auch am Aufsatz über den Dilettantismus. Vgl. dazu Baumann, Gerhard: Goethe: >Uber den DilettantismusDichtung und Wahrheit< einzuarbeiten, weil er fürchtete, daß »die gute Wirkung . . . durch eingestreute unzusammenhängende Wirklichkeiten notwendig gestört« würde. dazu: Trunz, H A Bd. 9, S. 615.

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Vgl.

einem Konstrukt verbunden, das auf paradigmatische Weise den Weg eines Individuums durch die Lebenswelt und seine Erfahrungen mit ihren Gesetzmäßigkeiten ausdrücklich und nachdrücklich zur Sprache bringt. 44 Sie lassen vielmehr auch die Distanz zur konkreten Schreibsituation noch größer erscheinen, weil sie auf Grund ihres hohen Allgemeinheitsgrades den kommunikativen Rahmen, auf den sie bezogen sind, erheblich über einen aktuell gegebenen Anlaß hinaus ausweiten. Ihre Geltung ist an keinen eingegrenzten temporalen und lokalen Bereich gebunden: der intendierte Rezipient ist die Menschheit. Diese Situationsabstraktheit hat dann auch den Zeitgenossen, selbst solchen Goethe-Bewunderern wie Varnhagen von Ense, den Zugang zu dieser Autobiographie erschwert; Klagen über die >Kühle< dieses Textes begegnet man sehr häufig in zeitgenössischen Reaktionen. Mit dieser Suspendierung von einem konkreten, die Entstehung des Textes unmittelbar bedingenden Kontext geht die Suspension der Verteidigungspflicht in Bezug auf die Wahrheit des Ausgesagten einher. Goethe kommt ihr nicht nach, sondern zuvor, indem er mit dem Anspruch auftritt, durch die Art des autobiographischen Erzählens Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten eines >Menschenlebens< für Autor und Leser gleichermaßen durchsichtig zu machen und so der eigenen Autobiographie die Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit einer unbefragt akzeptierten Geschichte zu verleihen. In Verbindung von Dominanz des Erzählens und Titelgebung stellt sich natürlich nochmals das Problem der Fiktionalität dieses Textes. Goethe hat diese Frage selbst oft genug gestellt, sei es durch entsprechende Äußerungen innerhalb des Textes, sei es durch briefliche und andere Kommentare zur Autobiographie. Die deutlichste Stellungnahme zu dieser Problematik findet sich in einem späten Brief vom 12. Januar 1830 an Ludwig I. von Bayern: Was den freylich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit u n d D i c h t u n g betrifft, so ward derselbige durch die E r f a h r u n g veranlaßt, daß das Publicum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiction, gewissermaßen o h n e N o t h , durch einen gewissen Widerspruchs-

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Vgl. dazu eine der vielzitierten Bemerkungen gegenüber E c k e r m a n n : »Es sind lauter Resultate meines Lebens . . . und die erzählten einzelnen Facta dienen bloß, u m eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen.« Goethes Gespräche. Hrsg. von W o l d e m a r Frhr. von Biedermann. Leipzig 1 8 8 9 - 1 8 9 6 . Bd. 8, 1890, S. 70. Zugleich korrespondiert diese Ausweitung ins Exemplarische dem vor allem in >Wilhelm Meisters Wanderjahre« bemerkbaren Bemühen des alternden Goethe, das Einzelfaktum verstärkt in seiner Eingebundenheit in gesellschaftliche Zusammenhänge darzustellen.

159

Geist getrieben, denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelnheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. Bringt ja selbst die gemeinste Chronik nothwendig etwas von dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben wurde . . . Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte: D i c h t u n g , begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußtwar, zu meinem Zweck bedienen zu können (WA 4. Abt. Bd. 50, S. 60/61). D a s Fiktionale entspringt nach diesen Ä u ß e r u n g e n also einem Z w a n g zur S y n t h e s e , d e m der A u t o b i o g r a p h unterliegt, w e n n er s e i n e n T e x t nicht als S u m m e v o n T a g e b u c h e i n t r a g u n g e n p r ä s e n t i e r e n will. G o e t h e b e t o n t m i t d i e s e m Z i t a t n o c h einmal die R e l e v a n z d e r S c h r e i b s i t u a t i o n f ü r ein s y n t h e tisierendes D a r s t e l l e n , die a u c h v o n e n t s c h e i d e n d e r B e d e u t u n g f ü r eine erz ä h l e n d e A u t o b i o g r a p h i e ist, s e l b s t w e n n sie zeitlich u n d r ä u m l i c h nicht e i n d e u t i g fixiert o d e r v o m L e s e r f i x i e r b a r i s t . 4 5 N u r in B e z u g auf sie ist die e r z ä h l e n d e A u t o b i o g r a p h i e u n d d a m i t d a s d u r c h sie d a r z u s t e l l e n d e L e b e n als ein G a n z e s , als »in R e s u l t a t e n « 4 6 z u gestalten, u n d n u r s o k a n n d a s »Grundwahre«

als eine G e s e t z m ä ß i g k e i t

formuliert werden,

die

diese

L e b e n u n d D a r s t e l l u n g u m g r e i f e n d e G a n z h e i t garantiert u n d b e s t i m m t . D a s Insistieren auf diese » A r t F i c t i o n « , die v o n d a h e r nicht als E r d i c h t u n g z u v e r s t e h e n ist, m u ß z u g l e i c h als eine A t t a c k e g e g e n ein z u naives G a t t u n g s v e r s t ä n d n i s auf Seiten des P u b l i k u m s g e s e h e n w e r d e n , d a s — ü b r i g e n s nicht n u r z u B e g i n n des 19. J a h r h u n d e r t s — v o n d e m A n s p r u c h g e p r ä g t ist, W a h r heit m i t F a k t e n t r e u e z u i d e n t i f i z i e r e n , u n d die B e d e u t u n g des j e w e i l i g e n S t a n d o r t e s f ü r d a s S c h r e i b e n einer A u t o b i o g r a p h i e v ö l l i g v e r k e n n t .

45

46

Sehr deutlich zeigt dies ein letztlich nicht in die Autobiographie eingegangenes Vorwort zum dritten Teil, in dem es u. a. heißt: »Ehe ich diese nunmehr vorliegenden drey Bände zu schreiben anfing, dachte ich sie nach jenen Gesetzen zu bilden, wovon uns die Metamorphose der Pflanzen belehrt. In dem ersten sollte das Kind nach allen Seiten zarte Wurzeln treiben und nur wenig Keimblätter entwickeln. Im zweyten der Knabe mit lebhafterem Grün stufenweis mannigfaltiger gebildete Zweige treiben, und dieser belebte Stengel sollte nun im dritten Beete ähren = und rispenweis zur Blüte hineilen und den hoffnungsvollen Jüngling darstellen. Freylich ist es Gartenfreunden wohl bekannt, daß eine Pflanze nicht in jedem Boden, ja in demselben Boden nicht jeden Sommer gleich gedeiht, und die angewendete Mühe nicht immer reichlich belohnt; und so hätte denn auch diese Darstellung, mehrere Jahre früher, oder zu einer günstigem Zeit unternommen, eine frischere und frohere Gestalt gewinnen mögen.« WA 1. Abt. Bd. 28, S. 356/357. >Resultate< hier verstanden als Synthese und nicht als Ergebnis bzw. Endpunkt prozessualer Abläufe.

160

Somit ist die in diesem Kapitel vorgestellte Art erzählender Präsentation der eigenen Vergangenheit notwendige Voraussetzung dafür, daß »Dichtung und Wahrheit« nicht nur zur Ansammlung von Einzelheiten, sondern zur Synthese, zur »großen Confession« gerät. Als eine solche erfüllt dieser Text mehrere Aufgaben: er realisiert die Intention seines Verfassers, mit >Dichtung und Wahrheit« die >Lücken eines Autorlebens< auszufüllen; er präsentiert, im Zusammenhang damit, dem Autor und dem Publikum die Vielfalt der eigenen Arbeiten als eine historisch gewachsene Einheit; 4 7 und er gestaltet diese Einheit als repräsentativ für menschliches Erleben und Handeln schlechthin. Gerade dieses aber ist ohne erzählende Synthese im Rahmen der von Goethe selbst entworfenen Erzählsituation, ohne >DichtungDichtung< und >Wahrheit< sind also nicht, wie so oft mißverstanden, Gegensätze, sondern stehen zueinander in einem engen Bedingungsverhältnis: »Dichtung und Wahrheit« ist folglich für das von Goethe so lange vorbereite >Vorhaben< der adäquateste Titel.

6.2. >Dichtung und Wahrheit< oder >Wahrheit statt DichtungKunst und Altertum* veröffentlichten »Archiv des Dichters und Schriftstellers«: »Ubersah ich nun öfters die große Masse, die vor mir lag, gewahrte ich das Gedruckte, theils geordnet, theils ungeordnet, theils geschlossen, theils Abschluß erwartend, betrachtete ich wie es unmöglich sei, in späteren Jahren alle die Fäden wieder aufzunehmen, die man in früherer Zeit hatte fallen lassen, oder wohl gar solche wieder anzuknüpfen, von denen das Ende verschwunden war, so fühlte ich mich in wehmüthige Verworrenheit versetzt, aus der ich mich, einzelne Versuche nicht abschwörend, auf eine durchgreifende Weise zu retten unternahm.« W A l . A b t . Bd. 36, S . 2 9 1 .

161

D u t z e n d e v o n ä h n l i c h s t r u k t u r i e r t e n T e x t e n g e n a n n t s e i n . 4 8 T e x t e des b e richtenden T y p u s bleiben im H i n t e r g r u n d , 4 9 der bekennende T y p u s 5 0 dag e g e n b ü ß t seine d o m i n i e r e n d e P o s i t i o n i n n e r h a l b d e r G a t t u n g e n d g ü l t i g ein. D i e s e S t u f e i n n e r h a l b d e r g a t t u n g s g e s c h i c h t l i c h e n E n t w i c k l u n g ist a l s o b e s t i m m t d u r c h einen D o m i n a n z w e c h s e l i m S i n n e d e r f o r m a l i s t i s c h e n E v o l u t i o n s t h e o r i e , die ja l i t e r a r h i s t o r i s c h e V e r ä n d e r u n g e n n i c h t m i t e i n e r v ö l ligen A b l ö s u n g bislang d o m i n i e r e n d e r G a t t u n g e n o d e r T y p e n g l e i c h s e t z t , sondern behauptet, daß solche Gattungen zu einem bestimmten Zeitpunkt n u r in d e n H i n t e r g r u n d t r e t e n , 5 1 u m s i c h z . B . p o l e m i s c h a u f die d o m i n i e -

48

Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. Vgl. A n m . 65 in Kap. 6 . 3 . Eberhard, Wilhelmine: Fünfundvierzig Jahre aus meinem Leben. Eine biographische Skizze für Mütter und Töchter. Leipzig 1802. Kotzebue, August v.: Mein literärischer L e benslauf. In: A . v . K . : Die jüngsten Kinder meiner Laune. 5. Bändchen, Leipzig 1796. S. 123—243. Strauß, Friedrich: G l o c k e n t ö n e : Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen. 3 Bde. Elberfeld "1820 (Bd. 1),

2

1 8 2 0 (Bd. 2),

2

1821

(Bd. 3). Miltitz, C . v . : Kindheitserinnerungen. 1812. Eberhard A . G . : Uebersicht meiner Schriftstellerischen Laufbahn und Proben früherer Versuche. Halle 1830. Spindler, Carl: Mein Theaterlauf. In: Zeitspiegel, 1832, 1, N r . 76, S. 28—63. König, Carl B . : Wanderung durch Vaterhaus, Schule, Kriegslager, Akademie zur Kirche. Mittheilungen aus dem bewegten Leben eines evangelischen Geistlichen. Magdeburg 1832. 49

Sartorius, G e o r g Christian: Lebenserinnerungen (1823) Eisenach 1926. Nettelbeck, Joachim:

Eine

Lebensbeschreibung,

von

ihm

selbst

aufgezeichnet.

Leipzig

1821-23. 50

Als Beispiele sind u. a. die Autobiographien der Theologen C . F r . Ständlin, J . C . C . Nachtigal oder W . C . L . Ziegler zu nennen, die unter Verwendung des Vorsehungsschemas bewußt auf eine Bildungs- und Entwicklungsgeschichte verzichten und auf einen engen, durch theologisches Lehramt und Gemeinde geprägten Interaktionsrahmen ausgerichtet sind. Ahnlich bekennend ist die 1814 erschienene >Lebensbeschreibung< des Hamburger Arztes A. H . Reimarus, Sohn des Philosophen Samuel Reimarus. Albert Heinrich Reimarus Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt. H a m b u r g 1814. Zur Erinnerung an D . Carl Friedrich Ständlin . . . ; seine Selbstbiographie . . . hrsg. v. J . F . Hemsen. Göttingen 1826. Biographie des . . . J . C . C . Nachtigal von ihm selbst geschrieben. Halberstadt 1820. Kurze N o t i z e n aus dem Leben des verstorbenen Consistorialraths und Professors W . C . Ziegler von ihm selbst in den Jahren 1807/1808 entworfen. R o s t o c k und Schwerin 1811. In diesem Zusammenhang soll nur darauf verwiesen werden, daß es in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Autobiographien

gibt,

welche die eigene Vergangenheit als die sich aus dem Wechsel von individueller B e gabung und äußeren Einflüssen herleitende Entwicklung einer Person darstellen, zur Erläuterung dieser Entwicklung aber das Vorsehungsschema bemühen (z. B . in der Autobiographie des Bremer Arztes Wienholt). 51

Siehe dazu: Lauer: T y n j a n o v . S . 2 7 9 . Striedter, J u r i j : Zur formalistischen Theorie

162

rende Gattung bzw. den T y p zu beziehen; gerade die Rezeption von D i c h tung und Wahrheit« bietet hierfür eine Reihe überzeugender Beispiele an. 5 2 Es ist nun von besonderem gattungsgeschichtlichen Interesse, daß auch Texte des bekennenden und berichtenden Typus die Dominanz des erzählenden Typus bestätigen. Das geschieht vor allem dort, wo bekennende oder berichtende Autobiographien ihre Kommunikationsstruktur rechtfertigen und begründen, warum sie die persönliche Vergangenheit ihres Autors nicht erzählend präsentieren; das begegnet z. B. in der Selbstdarstellung des Pädagogen Johann Gottfried Lindner, deren Herausgeber Johann Christian Hellbach den Autobiographen Lindner nachdrücklich dafür entschuldigt, daß er seine Autobiographie nicht >erzählend in der Art des Herrn Göthe< abgefaßt habe. 5 3 Hellbachs Äußerungen, die meines Wissens zu den frühesten Reaktionen auf die ersten drei Bücher von >Dichtung und Wahrheit« gehören, zeigen deutlich, daß Goethes Autobiographie bereits kurze Zeit nach ihrem Erscheinen und lange vor den Rezensionen von August Varnhagen von Ense oder Johann Friedrich von Meyer so bekannt war, daß sie nach Hellbachs Auffassung den Erwartungshorizont der Leser von Autobiographien maßgeblich prägte. Das ist ein Indiz für eine rasch und intensiv einsetzende Rezeption der Autobiographie Goethes, die ja dann die Diskussion um die Gattung »Autobiographie« im 19. Jahrhundert stark beeinflussen wird. Rezensionen, Tagebuchaufzeichnungen

und autobiographische

Ent-

würfe lassen die Vielfalt dieser Rezeption erkennen, die keineswegs durch ausschließlich positive Reaktionen gekennzeichnet ist. Nicht so sehr bestimmte Sachverhalte als vielmehr die Art ihrer kunstvollen 5 4 Gestaltung durch Goethe bewegen Autobiographen wie Steffens, Kerner oder später Felix Dahn, sich auf »Dichtung und Wahrheit« zu beziehen. Goethes U m gehen mit dem biographischen Stoff und die damit verbundene Distanz seiner Autobiographie zu realen Kommunikationskontexten, die auch solchen Goethebewunderern wie Varnhagen nicht entgehen konnte,

ruft

immer wieder heftige, ja polemische Reaktionen hervor.

der Prosa und der literarischen Evolution. In: Striedter: Texte der russischen Formalisten. Bd. I, S. L X V . 52

U . a . Friederich, J o h a n n Konrad: Denkwürdigkeiten oder Vierzig Jahre aus dem Leben eines T o t e n , genannt auch »der deutsche Casanova«. 3 Bde. Leipzig und Weimar 1978.

53

M . J o h a n n Gottlieb Lindners Kurze Selbstbiographie mit Anmerkungen, einem Nachtrage und einigen Beylagen herausgegeben von J o h a n n Christian Hellbach. Arnstadt 1812, S . V I I / V I I I .

54

Dabei ist vor allem der Beginn von »Dichtung und Wahrheit« sowohl Gegenstand beflissener Nachahmung (Stieglitz) als auch parodierender Gegenentwürfe (Eichendorff; Friederich).

163

Vor allem der für Goethes Autobiographie so wichtige Zusammenhang von >Dichtung< und >Wahrheit< ist Gegenstand kritischer Äußerungen, weil >Dichtung< als >ErdichtungDichtung und Wahrheit< nach Auffassung der Wiener Schriftstellerin Caroline Pichler denn auch eine Beleidigung des Lesers: Ich halte es für Pflicht, bei einer Selbstbiographie ganz aufrichtig zu sein, insoweit es die Klugheit, welche zwar nie eine Lüge, aber Stillschweigen gebieten kann, oder die Schonung erlaubt, welche man noch lebenden Personen oder nahen Verwandten Verstorbener schuldig ist. Daher dünkte mich der Titel von Goethes Werke: Wahrheit und Dichtung aus meinem Leben, eine Art Beleidigung für den Leser, der sich nun weder eine psychologische Beobachtung noch eigentliche Belehrung versprechen kann, weil er bei keiner Beschreibung, keiner Begebenheit oder Gefühlsäußerung weiß, ob sie sich wirklich so in Goethes Geist oder Leben zugetragen hat oder bloß von ihm zur anziehenden Unterhaltung seiner Leser erfunden worden ist. 5 5

Solche Aussagen sind nicht nur Bestandteil einer bewußten Absage an Ambitionen, mit Hilfe literarischer Darstellungstechniken Selbsterlebtes zu einem Kunstgebilde zu gestalten, sondern korrespondieren auch der in Caroline Pichlers Autobiographie zu beobachtenden biedermeierlichen Pflege des Details. Wahrheitsanspruch und Detailpflege gehen dabei Verbindungen ein, die in biographischen Gegenentwürfen zu Goethes Autobiographie gipfeln. 56 Im Unterschied zu bekennenden Autobiographien wird freilich die kommunikative Struktur dieser erzählenden Texte von solchen Hinweisen auf >Dichtung und Wahrheit< kaum tangiert. Wenn Autobiographen — wie Kerner in seinem >Bilderbuch aus meiner Knabenzeit< — nachdrücklich betonen, daß sie, anders als Goethe, nicht Dichtung, sondern Wahrheit zu übermitteln gedenken, dann sind solche Äußerungen kaum mehr als ein Bestandteil der für die Gattung >Autobiographie< charakteristischen Wahrheits- und Aufrichtigkeitstopik. 57 Die zahlreichen positiven Bezugnahmen auf Goethes Autobiographie, die in der zweiten Jahrhunderthälfte häufiger sind als in der ersten, ver55

Pichler, Caroline: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. München 1914, Bd. I, S. 169/70.

56

Ludecus, W . : Aus Goethe's Leben. Wahrheit und keine Dichtung. Von einem Zeitgenossen. Leipzig 1849. Vgl. auch Kierkegaards Ablehnung von >Dichtung und Wahrheit< in >Entweder — Oder«.

57

»So licht im Gedächtnisse stehend, gab ich diese Bilder oder Erlebnisse meiner Knabenzeit auch in ihrer reinen Wahrheit o h n e e i n e p o e t i s c h e

Ausschmückung

und ich ließ mir letztere nur einmal auf e i n e m Blatte zu schulden kommen, was ich daselbst, um den Leser nicht zu irren, bemerkte. Man erwarte(te) also auf diesen Blättern keine Dichtungen (keine Dichtung und Wahrheit, keine Reiseschatten) sie enthalte ungeschmückte und wahre Erlebnisse, . . . « Kerner, Justinus: Das Leben

164

bleiben ebenfalls meist im Rahmen unreflektierter Behauptungen. 5 8 Eine intensive Auseinandersetzung mit Inhalt und Struktur des so bewunderten Vorbilds ist auch bei denjenigen Autobiographen bestenfalls in Ansätzen erkennbar, die wie Stieglitz oder Varnhagen von Ense in Bezug auf Kategorien wie Individualität, Bildung, Entwicklung, etc. Goethe besonders nahestehen. Das gilt letztlich auch für die zwischen 1846 und 1856 geschriebenen >Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten^ 9 des vor allem durch sein Werk >Psyche< bekannt gewordenen Arztes Carl Gustav Carus. Carus, der seine Autobiographie als direkte und positive Reaktion auf Goethes »unübertroffene Mittheilungen aus seinem Leben« 6 0 verstanden wissen will, bemüht insbesondre den Entelechiegedanken, wenn es darum geht, die eigene Vergangenheit und die Prinzipien ihrer Darstellung zu erläutern. Ausgangspunkt und letzte Ursache autobiographischen Schreibens ist hauptsächlich das Wahrnehmen oder doch deutlichere Ahnen jenes göttlichen Prinzips, jenes merkwürdigen, mit so tiefer Weisheit Schritt für Schritt vorbereitenden und leitenden unbewußten Wirkens, in dessen Folge dieses Leben nun gerade eine solche und keine andere Gestalt annehmen mußte . . , 6 1

Diesem Gedanken einer kontinuierlichen

Entwicklung,

die durch die

Wechselwirkung von hoher Begabung und mannigfaltigen äußeren Eindrücken bestimmt sein soll, versucht Carus, vor allem in den ersten Büchern, in z. T. ausdrücklicher Parallelisierung zu >Dichtung und Wahrheit< 62 des Justinus Kerner. Erzählt von ihm und seiner T o c h t e r Marie. München 1967. S. 12. Ahnlich auch Schwarz, J . L . : Denkwürdigkeiten aus dem Leben eines G e schäftsmannes, Dichters und Humoristen. Leipzig 1828, S. 14. 58

So feiert z . B . Spielhagen 1893 >Dichtung und Wahrheit< als »Musterexemplar der Species«, eine Einschätzung, die an einer Vielzahl anderer Texte aufzeigbar wäre. Spielhagen, Friedrich: Finder und Erfinder. Leipzig 1893, S. 185.

59

Leipzig 1865/66 Bde. 1 - 4 , Bd. V hrsg. v. R . Zaunick, Dresden 1931.

60

Carus: Lebenserinnerungen . . . Bd. I, S. V I I .

61

Carus: Lebenserinnerungen . . . Bd. I, S. X / X I .

62

So heißt es z. B . über das Verhältnis zu einem Zeichenlehrer namens D i e t z : »Es ist jedenfalls ein besonderes Glück für den sich entwickelnden Geist, wenn zeitig ihm ein anderer begegnet, welcher gewissermaßen ihm Widerpart haltend, und doch ihm mit Neigung (an)gethan, seine Kräfte übt und seinen Uberblick der Welt erweitert. Als ich in späteren Jahren las, in welchem Verhältniß Goethe während seiner frühen geistigen Entwicklung zu Merck gestanden habe, wurde ich oft an mein Verhältniß zu Dietz einigermaßen erinnert«. Carus: Lebenserinnerungen . . . Bd. I, S. 41. »Übrigens mußte ich mich ja nun doch immer mehr daran gewöhnen, eine Menge der verschiedenartigsten Verhältnisse und Persönlichkeiten wieder auf mich wirken zu lassen, und dabei nichtsdestoweniger immerfort den Ausbau der eigenen Individualität thatkräftig und schaffend fortzuführen«. Carus: Lebenserinnerungen

...

Bd. I, S. 311.

165

s p r a c h l i c h e G e s t a l t z u v e r l e i h e n , w a s i h m freilich b e s t e n f a l l s in A n s ä t z e n gelingt. D i e G e s t a l t u n g der genannten W e c h s e l w i r k u n g w i r k t e r z w u n g e n , auf G r u n d d e r eindeutigen F a v o r i s i e r u n g der E n t e l e c h i e k o n z e p t i o n bleibt die D i m e n s i o n d e s H i s t o r i s c h e n w e i t g e h e n d u n b e r ü c k s i c h t i g t . D i e vielfält i g e n V e r s u c h e , als s o u v e r ä n e r z ä h l e n d e r I n t e r p r e t d e r e i g e n e n V e r g a n g e n h e i t a u f z u t r e t e n , w e r d e n d u r c h das s t ä n d i g e Z i t i e r e n e i g e n e r b e d e u t e n d e r Worte«

aus V e r g a n g e n h e i t

und

Gegenwart

immer

wieder

zunichte

ge-

m a c h t . 6 3 V o r n e h m l i c h in d e n l e t z t e n z w e i B ä n d e n d e r > D e n k w ü r d i g k e i t e n < n i m m t die w ö r t l i c h e W i e d e r g a b e e i g e n e r B r i e f e u n d T a g e b u c h n o t i z e n ü b e r h a n d , ein V e r f a h r e n , das die v e r m i t t e l n d e u n d d e u t e n d e I n s t a n z e i n e r E r z ä h l e r f i g u r n a h e z u ü b e r f l ü s s i g m a c h t ; d i e A u s w a h l des Z i t i e r t e n v e r l e i h t d e m T e x t z u d e m einen T o n v o n Selbstgefälligkeit, der s c h o n v o n den Z e i t genossen kritisch v e r m e r k t w i r d . 6 4

6.3. Das Spiel mit der Erzählerfigur. Die Problematisierung autobiographischen Erzählens in Jean Pauls >Selberlebensbeschreibung< D a ich meiner Geschichte zu wenig Reiz zutrauete: so hab ich durch sie den A p o theker geschoben, um sie zu heben. Aber . . . wenn jene die Wahrheit aus G ö t h . Leben, und diese die Dichtung daraus enthält: so ist die Dichtung doch auch nur freiere Einkleidung der Wahrheit (S. 364). 6 5

63

Gerade dadurch markiert u. a. auch Carus' Autobiographie den Übergang von der erzählenden

zur berichtenden Autobiographie im

19. Jahrhundert.

Vgl.

dazu

Kap. 7.1. 64

So schreibt der durch seine fünf Jahre nach Carus' Autobiographie erschienenen >Lebenserinnerungen eines Alten Mannes< berühmt gewordene Wilhelm von K ü gelgen 1866 an seinen Bruder Gerhard: »Wir haben jetzt ein interessantes Buch gelesen, eine Selbstbiographie von Carus in Dresden, Mutters früherem Arzt. Man hört einen ungewöhnlich gebildeten Mann sprechen, dessen nach allen Lebensrichtungen hin laufende feine Bemerkungen vielfach neu und anregend sind . . . Falsch erscheint mir, daß Carus sich selbst gar zu sehr zum O b j e k t seiner Darstellung macht. Ein Selbstbiograph soll vor allem schildern, was er gesehen und erlebt hat; in diesem Rahmen wird er selbst schon hinlänglich anschaulich werden. Carus aber macht von Anfang an den Leser geflissentlich darauf aufmerksam, alle die einzelnen Umstände zu beachten, die dazu beigetragen haben, einen so großen Mann zustande zu bringen.« Wilhelm von Kügelgen: Lebenserinnerungen des Alten Mannes in Briefen an seinen Bruder Gerhard 1840—1867. Bearb. u. hrsg. v. Paul Siegwart v. Kügelgen und Johannes Werner. Leipzig 1923, S. 376 f.

65

Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften . . . Abt. I—III Weimar: Böhlau (Abt. I I I : Berlin: Akademie-Verlag) 1927—1956. (Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert: Selberlebensbeschreibung 2. Abt. Bd. 4, S. 6 9 - 1 3 2 ) Zitat: 2. A b t . Bd. 4, S. 364.

166

Diese zunächst etwas befremdlich klingenden Zeilen gehören zur Ankündigung und Kommentierung eines autobiographischen Vorhabens, mit dem sich sein Urheber fast drei Jahrzehnte beschäftigt hat, eines Vorhabens, das ihm mehr Kopfzerbrechen bereitet hat als die Mehrzahl seiner dichterischen Werke. Die Rede ist von der >Selberlebensbeschreibung< oder >Wahrheit aus Jean Pauls L e b e n s einer Schrift, die seit 1781 geplant, 1818 begonnen und doch nie vollendet worden ist. Jean Paul hat nur etwa ein Drittel von dem geschrieben, was er in den Vorarbeiten konzipiert hatte; auch dringende Mahnungen und Bitten von Freunden und Bekannten 6 6 haben ihn offensichtlich nicht dazu bewegen können, dieses autobiographische Vorhaben weiter zu verfolgen. Das muß bei einem Autor besonders verwundern, der sich im Rahmen seiner dichterischen Produktion immer wieder als Biograph 6 7 stilisiert und dessen Werke so viele autobiographische Bezüge enthalten; gerade bei ihm, von dem der Leser seiner Romane eine Autobiographie geradezu erwartet, türmen sich Schwierigkeiten und Vorbehalte in einem derartigen Maße auf, daß er schließlich das Schreiben der Autobiographie zugunsten der Arbeit an einem Roman wieder aufgeben wird. 6 8 Fragt man nach den Ursachen dieses Scheiterns, so bietet jenes merkwürdig klingende Zitat zwei Erklärungen an: es ist zum einen die >GeschichteDichtung und Wahrheit« aktuell gewordene Frage, ob erlebte Vergangenheit durch dichterische Werke oder durch autobiographische Berichte am besten reproduziert werden könne. Der Begriffsgebrauch von >Geschichte< im Zitat ist nicht eindeutig: er gilt offensichtlich sowohl dem Ganzen des vergangenen Lebens als auch dessen sprachlicher Artikulation; das läßt auch eine Vielzahl von Äußerungen erkennen, die Jean Paul dieser Problematik gewidmet hat. 6 9 66

67

68 69

Vgl. dazu die Einleitung zur >Selberlebensbeschreibung< von Eduard Berend: Jean Paul: Sämtliche Werke. 2. Abt. Bd. 4, S. X X X I f f . Leben des Q u i n t u s Fixlein, aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst einem Mustheil und einigen J u s de tablette. 1796. Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal. 1790. Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel. 1811. Der Komet, oder Nikolaus Marggraf ( 1 8 2 0 - 2 2 ) . »Es ist fatal, daß mir jedes Wort, jede Behauptung und Untersuchung — und wär' es die, ob es einen T e u f e l gibt - seit einigen Jahren unter den Händen zu einer G e s c h i c h t e wird.« Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin. Satirischer Appendix. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. 1. Abt. Bd. 5, S. 361. »Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grand monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken, blos weil ich die ru-

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Demnach kann die in den vorliegenden Zeilen geäußerte Skepsis zunächst der eigenen vita gelten: >Geschichte< wäre dann zu verstehen als Abfolge erlebter Handlungen und Ereignisse der Vergangenheit, ihr mangelnder Reiz wäre darin begründet, daß sie zuwenig Möglichkeiten anbietet, das Interesse des Publikums zu erregen und zu fesseln. Das würde auch Äußerungen Jean Pauls entsprechen, nach denen der autobiographische Charakter seiner dichterischen Werke beim Publikum Erwartungen erweckt habe, denen er mit einer >normalen< Autobiographie nicht genügen könne. 7 0 Ebenso wahrscheinlich ist freilich, daß diese negative Bezugnahme auf die >eigene Geschichte» in der hinlänglich bekannten Abneigung Jean Pauls gegenüber dem Erzählen im Sinne der Narration gründet, in jenem »Abscheu vor Erzählen«, 7 1 den er nicht nur gegenüber seinem Sohn Max in einem Brief vom 4. 9.1821, also drei Jahre nach Beginn der kontinuierlichen Arbeit an der Autobiographie, als Grund für deren Stagnation anführte, sondern schon im November 1818 gegenüber dem Freunde Heinrich Voß: »Meine Lebensbeschreibung«, heißt es da, »kommt spät; sie erfreuet mich wenig, weil ich darin nichts zu dichten habe und ich von jeher sogar in Romanen ungern bloße Geschichte — ohne die beiden Ufer des Scherzes und der Empfindung — fließen ließ und weil ich nach niemand weniger frage als nach mir«. 7 2 Der von der Gattung >Autobiographie< ausgehende Zwang zum einsträngigen, sukzessiven Erzählen sowie die von ihr geforderte Orientierung an der von der Wirklichkeit vorgegebenen Abfolge vergangener Handlungen und Ereignisse, der >schon fertige Stoff*, wie es in dem erwähnten Brief an den Sohn heißt, 7 3 gehören also zu denjenigen Faktoren, die es dem Romanautor Jean Paul so schwer machen, eine >ganz normale Autobiographie» zu schreiben. Es ist die Abneigung gegenüber einem Schreiben, das die Befugnisse des Autors zur scherzhaften bzw. ironischen Abschweifung oder zum empfindsamen Gespräch mit dem intendierten Leser zu stark einengt. >Erzählen< als ein Mittel des Informierens, der reinen Weitergabe von Nachrichten und Daten wird somit von Jean Paul gern in den Hintergrund gedrängt zugunsten einer spielerischen Erweiterung solcher Ubermittlungsakte, 7 4 einer Erweiterung, die nicht allein den Vorrang hige Geschichte des vergnügten Schulmeisterlein erzähle — . . . « Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria W u z in Auenthal. In: Jean Paul: Sämtliche Werke. 1. Abt. Bd. 2, S. 408. 70 71 72 73 74

Jean Paul: Sämtliche Werke. 2. Abt. Bd. 4, S. 361/362. Jean Paul: Sämtliche Werke. 3. Abt. Bd. 8, S. 135. Jean Paul: Sämtliche Werke. 3. Abt. Bd. 7, S. 238. Jean Paul: Sämtliche Werke. 3. Abt. Bd. 8, S. 135. Vgl. dazu u. a. folgende Passage aus >Komischer Anhang zum Titan. Ankündigung des nachstehenden Pestitzer R e a l b l a t t e sc

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des Sprechens zum Gegenstand metasprachlicher Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer macht, sondern auch in der Metaphorisierung dieses Sprechens vom Medium >Sprache< angebotene, aber bisher nicht wahrgenommene Bezeichnungs- und damit auch Erkenntnismöglichkeiten offenbart. 7 5 Daher muß es geradezu als Notwendigkeit erscheinen, daß der Autobiograph Jean Paul >den Apotheker durch die Geschichte schiebtgehobenApotheker< ist niemand anderes als Nikolaus Marggraf, der hier metonymisch für den großen humoristischen Roman >Der Komet< steht, dessen Hauptgestalt er ist. So wird mit dem Einschieben des Apothekers< eine von Jean Paul ernsthaft geplante Vermengung des Romans mit der >Selberlebensbeschreibung< angesprochen, auf die neben der hier zitierten und anderen Notizen aus den Vorarbeiten auch sehr deutlich einige »Titelproben« zur konzipierten Autobiographie verweisen. 7 7 Alternierend sollte jeweils ein Kapitel aus dem >Komet< mit einem Kapitel aus der Autobiographie wechseln. 7 8 Schließlich bestand noch ein Plan, beide mit einem dritten Werk, einer komischen Reise durch die Planetenwelt, zu verbinden. 7 9 Die überlieferte Textgestaltung der >Selberlebensbeschreibung< belegt, daß keines dieser Vorhaben ausgeführt worden ist. Die Vorbehalte gegenüber der >Geschichte< haben nicht mehr als drei »historische Vorlesungen« 8 0 entstehen lassen. Gemäß dem am Kapitelanfang zitierten Grundsatz, daß

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» U n d das werden nun die Honigmonate, wovon ich im Antrittsprogramm mit so vielem Frohlocken sagte, daß ich darin vom Armesünderstuhl des historischen Lehrstuhls aufspringen, das Härenhemd ausziehen und wegwerfen und luftig und leicht in meiner schönen Insel B a r a t a r i a 6,8 Bogen lang tanzen und regieren würde . . . man soll mich in meinem Dintenfaß ersäufen, wenn ich in einem Honigmonat ein Wort vorbringe, das rein=historisch genannt zu werden verdient.« Jean Paul: Sämtliche Werke. l . A b t . Bd. 8, S. 242/243. Oehlenschläger, Eckart: Närrische Phantasie. Zum metaphorischen Prozeß bei Jean Paul. Tübingen 1980, S. 11 ff. Jean Paul: Sämtliche Werke. 3. Abt. Bd. 3, S. 177. »(Aus) Wahrheit aus meinem Leben; (nebst) durchmischt von der Geschichte des Apothekers Marggraf.« Jean Paul: Sämtliche Werke. 2. Abt. Bd. 4, S. 378. Jean Paul: Sämtliche Werke. 2. Abt. Bd. 4, S. 377. Vgl. die Einleitung zur >Selberlebensbeschreibung< von Eduard Berend, in: Jean Paul: Sämtliche Werke. 2. Abt. Bd. 4, S. X X V I I I . Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 81.

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auch die Dichtung Wahrheit sei, hat Jean Paul die Arbeit am >Komet< derjenigen an der >Selberlebensbeschreibung< vorgezogen. Beide sind freilich auch Beweis genug, daß weder die Autobiographie allein die Wahrheit noch der Roman allein die Dichtung für sich reklamieren kann. Ebensowenig wie der >Komet< ohne seine autobiographischen Bezüge denkbar ist, kann in der >Selberlebensbeschreibung< die enge Verschmelzung von faktengetreuer Wiedergabe und schöpferischer Phantasie und Ironie übersehen werden. Auch wenn er die geplante Synthese zwischen >Komet< und >Selberlebensbeschreibung< nicht vollzogen hat, ist Jean Paul mittels jener Verschmelzung und anderer dichterischer Verfahren dem >Durchschieben des Apothekers durch die Geschichte< recht nahe gekommen. Von daher ist diese Autobiographie ein gutes Beispiel dafür, daß die Besonderheit Jean Paulscher Dichtung selbst dort sichtbar und wirksam wird, wo sie nach Meinung ihres Autors eigentlich am wenigsten zu erwarten wäre, nämlich in einer b e schichtet Diese Besonderheit betrifft nun gleichermaßen die dargestellte Vergangenheit, deren sprachliche Artikulation und den dieses Schreiben bedingenden kommunikativen Zusammenhang; erweist sich der Gegenstand der >Selberlebensbeschreibung< als nicht auf konkrete Handlungen und Ereignisse aus der persönlichen Vergangenheit Johann Paul Friedrich Richters beschränkt, sondern durch das Vermögen der Phantasie des Dichters Jean Paul ins >Unendliche< erweitert, so sprengt das metaphernreiche, von Digressionen durchsetzte Sprechen darüber immer wieder den Fluß der Narration, und schließlich wird der den Text bestimmende konkrete Kommunikationszusammenhang durch das Fingieren einer Interaktion, einer h i storischen Vorlesung< vollständig in den Hintergrund gedrängt. Ahnlich wie in der >KonjekturalbiographieSelberlebensbeschreibung< die des >Professors der Geschichte*, 81 der zunächst einem begrenzten (»Geneigteste Freunde und Freundinnen« 82 ) und dann einem breiteren Publikum (»Verehrteste Herren und Frauen«, 83 »meine Zuhörer« 84 ) sein Leben in Form einer Vorlesung zu präsentieren verspricht. Die Schreibsituation wird innerhalb des Textes zu einer Sprechsituation, der Autobiograph zum mündlich Vortragenden. Die Wiedergabe vergangener Sachverhalte betrifft freilich nur einen begrenzten Zeitraum. Im Rahmen der drei Vorlesungen werden im wesentli-

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Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 71.

82

Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 71.

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Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 81.

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Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 119,

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chen Kindheit und frühere Jugend behandelt; Endpunkt der dargestellten Lebensgeschichte ist die Konfirmation. Jede der Vorlesungen ist mit einer bestimmten Lebensphase befaßt, die jeweils mit der Aufenthaltsdauer der Familie Richter an einem Pfarrort identisch ist. So endet die erste Vorlesung mit der Ubersiedlung von Wunsiedel nach Joditz, während die dritte das Leben der Familie in Schwarzenbach an der Saale darzustellen versucht. Je nach Aufenhaltsdauer sind diese Vorlesungen von sehr verschiedenem Umfang: während die Zeit in Wunsiedel nur einige Seiten beansprucht, widmet der Sprecher den »Joditzer Reliquien und Erinnerungen« 85 den weitaus größten Teil seiner Sprechzeit. Die dritte Vorlesung blieb schon unvollendet und behandelt nur den Beginn des Aufenthaltes in Schwarzenbach. Sie enthält weder die beginnende Entfremdung von dem in der zweiten Vorlesung im Vordergrund stehenden Vater noch die für die spätere Entwicklung Jean Pauls zum Schriftsteller wichtige Begegnung mit dem Pfarrer Erhard Friedrich Vogel. So präsentiert dieser autobiographische Text auf den ersten Blick nicht sehr viel vom Leben seines 62jährigen Autors, erzählt aber dieses Wenige in Jean Paulscher Manier so intensiv, daß ihm eine nachhaltige Rezeption beschieden war. Ein wesentlicher Grund für die Intensität dieses Erzählens liegt darin, daß Jean Paul in der >Selberlebensbeschreibung< von Beginn an mit dem für die Gattung >Autobiographie< seiner Zeit charakteristischen Erzählen im Sinne einer sukzessiven, kontinuierlichen Wiedergabe vergangener Sachverhalte ein kompliziertes und variantenreiches Spiel betreibt. Das beginnt bereits mit dem einleitenden Absatz der ersten Vorlesung: Geneigteste Freunde und Freundinnen! Es war im Jahr 1763, w o der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; — und zwar in dem Monate, w o mit ihm noch die gelbe und graue Bachstelze, das Rothkelchen, der Kranich, der R o h r ammer und mehre Schnepfen und Sumpfvögel anlangten, nämlich im M ä r z ; — und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine Wiege zu streuen waren, gerade dazu das S c h a r b o c k = oder Löffelkraut und die Zitterpappel in Blüte traten, deßgleichen der Ackerehrenpreis oder Hühnerbißdarm, nämlich am 21ten März

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und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am Morgen um 1 Vi U h r ; was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes ( F r ü h l i n g s ) war (S. 71). 8 6 85 86

Jean Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 80. Dieser Anfang schon ist von den Zeitgenossen als Replik auf den Beginn des ersten Buches von >Dichtung und Wahrheit« verstanden worden, der hier zum Vergleich zitiert werden soll: »Am 2 8 t e n August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Constellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und culminirte für den T a g ; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Mercur nicht widerwärtig; Saturn und Mars ver-

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Jean Paul etabliert gleich zu Beginn den kommunikativen Rahmen einer historiographischen Vorlesung, läßt diesen Rahmen vom Sprecher, dem »gegenwärtigen Professor der Geschichte« jedoch zunächst nicht ausfüllen, weil die hier übermittelten Sachverhalte überwiegend nicht von nennenswerter historiographischer Relevanz sind. Während der erste Halbsatz dieses Vorlesungsbeginns den Erwartungen der Hörer einer solchen Vorlesung noch entsprechen dürfte, da er den Zeitpunkt der Geburt angibt und mit einem wichtigen historischen Ereignis in Beziehung setzt, gerät die Dimension des Historischen in den Folgesätzen zunehmend in den Hintergrund. Das Entscheidende an der Geburt ist für den >Geschichtsprofessor< nicht die Koinzidenz dieses Ereignisses mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges, sondern dessen Einbindung in immer wiederkehrende, ahistorische Erscheinungen des Naturkreislaufes, der Ubergang von der historia zur historia naturalis; es ist eine bestimmte Jahreszeit, nämlich der Frühling, durch den das Ereignis der Geburt nach Auffassung des Sprechers maßgeblich bestimmt wird. Ebensowenig scheint die Diktion dieses >Historikers< den Erfordernissen einer historiographischen Vorlesung zu entsprechen. Darauf verweist nicht allein das wuchernd abschweifende Reden, das reihende Aufzählen von Naturereignissen, durch das das einmalige Geschehen der eigenen Geburt und seine sukzessive Darstellung in den Hintergrund gedrängt wird, sondern auch das an die Kapitelüberschriften der >Flegeljahre< erinnernde Verfahren, für die Wiedergabe dieser historia naturalis vom Volksmund deskriptiv verwendete, nichtsdestoweniger aber besonders pittoresk klingende Gattungsnamen einzusetzen. 8 7 Auch die dem Redefluß über die Geburtsumstände folgende und ihn kommentierende Digression erinnert nur wenig an den Sprachgestus eines Historikers: Den letzten Einfall, daß ich ( P r o f e s s o r ) und der Frühling ( L e n z ) zugleich anfangen (mit einander geboren worden), hab' ich in Gesprächen wol schon hundert male vorgebracht; aber ich brenn' ihn hier absichtlich wie einen Ehrenkanonenschuss zum lOlten male ab, blos damit ich mich durch den Abdruck außer Stand setze, einen durch den Preßbengel schon an die ganze Welt herum ge-

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hielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.« Goethe: W A 1. Abt. Bd. 26, S. 11. Die Gestaltung der Jahreszeit zu Beginn der >Selberlebensbeschreibung< ist ebenso wie der Titel W a h r heit aus Jean Pauls Leben< auch von Goethe als ironische Reaktion auf >Dichtung und Wahrheit« verstanden und gegenüber Eckermann gekränkt kommentiert worden. Goethes Gespräche: Hrsg. v. Woldemar Freiherr von Biedermann. Leipzig 1890. Bd. 8, S. 71. Siehe dazu vor allem: Meyer, Herman: Jean Pauls >FlegeljahreSelberlebensbeschreibung< und anderen Werken Jean Pauls, Anlaß, Ausgangspunkt für ein ausschweifendes und abschweifendes Reden einer fingierten Sprecherfigur. Vielmehr bekennt an dieser Stelle der Autobiograph Jean Paul einen zentralen Moment seiner Bewußtseinsgeschichte, dessen Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit ein erzählendes Spiel nicht erlaubt. 9 4 50 91 92 93

94

D o r o w : Erlebtes. So z. B. in >Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal«. Kommereli, Max: Jean Paul. Frankfurt a. M. 2 1939, S. 286/287. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Erster Teil: Grundsätze der gesamten Wissenschaftslehre § 1 Erster, schlechthin unbedingter Grundsatz. Hamburg 2 1961, S. 11 ff. Vgl. auch: Kommereil: Jean Paul. S. 11.

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Weniger deutlich ist dort zwischen der >Stimme< des Autors und derjenigen des >Historikers< unterschieden, wo letzterer, sehr reflektiert und ironisch, sein autobiographisches Sprechen gleichsam als Vorstufe zu künftigen biographischen Arbeiten erklärt: Es sind dieß lauter autobiographische Züge, meine Herren, die ein künftiger Lebenbeschreiber desselben recht bequem zu einer Lebenbeschreibung verarbeitet und für welche er mir vielleicht dankt (S. 113).

Distanziert sich hier der >Historiker< ironisch von seinem autobiographischen Sprechen, indem er es lediglich als >Material< für spätere Biographen deklariert, so zeigt er sich im folgenden plötzlich als ein solcher Biograph, der die autobiographischen Äußerungen des Autors Jean Paul zitiert, der ja der Gegenstand seiner >Vorlesung< ist: Gänge in tiefer Dämmerung und halber Macht berauschen und begeistern die Jugend. In ihr zog nun an den Markttagen die Janitscharenmusik durch die Hauptstrassen; und Volk= und Kindertroß zog betäubt und betäubend den Klängen nach, und der Dorfsohn hörte zum ersten male Trommeln und Queerpfeifchen und Janitscharenbecken. >In mir — dieß sind seine eignen Worte —, der ich unaufhörlich nach Tönen lechzete, entstand ordentlich ein Tonrausch und ich hörte, wie der Betrunkne sieht, die Welt doppelt und im Fliegen. A m meisten griff in mich die Queerpfeife durch einfen] melodischen Gang in der Höhe ein. Wie oft sucht' ich nicht diesen Gang vor dem Einschlafen, w o die Phantasie das Griffbret oder die Tastatur verklungner Töne am leichtesten handhaben kann ( i n die Hand bek o m m t ) , wieder zu hören und wie bin ich dann so seelig, wenn ich ihn wieder höre, so innig=seelig als ob die alte Kindheit wie ein Tithon unsterblich geworden blos mit dem Tone und damit spräche zu mir! — Ach leichte, dünne, unsichtbare Klänge beherbergen ( t r a g e n ) ganze Welten für das Herz und sie sind ja Seelen für die Seele. < — Vielleicht schnitten die Töne der höhern Oktave am tiefsten ein . . . So klang mir bei der russischen Feldmusik das hohe scharfe Dareinpfeifen der kleinen Pfeifchen fast fürchterlich als eine zum Schlachten rufende Bothmanns Pfeife, ja als ein grausames Früh=Tedeum für künftiges Blutlassen. — (S. 109/ 110).

Hier wird zunächst streng zwischen der Erzählform auf der Ebene des Dargestellten und derjenigen auf der Ebene des Darstellens unterschieden: der Er-Erzähler zitiert die Ich-Form (in einem autobiographischen Text!). Völlig unvermittelt dominiert dann aber am Schluß dieses Zitats die IchForm des Darstellers: der Er-Erzähler wird zum Ich-Erzähler. Ist gerade solch ein Spiel mit den Erzählformen geeignet, den Unterschied zwischen dem Autor und der von ihm eigens eingeführten Sprecherfigur erst aufzubauen, um ihn danach wieder zu verschleiern, so verrät die zweite Vorlesung andererseits auch Tendenzen des Autors, sich von dieser Sprecherfigur abzusetzen. Beispielsweise beginnt Jean Paul verstärkt, diesen >Historiker< zu ironisieren; er decouvriert ihn u. a. dadurch, daß er zwischen dessen eigenem Rollenverständnis und den darauf bezogenen sprach-

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liehen H a n d l u n g e n g r a v i e r e n d e D i f f e r e n z e n a u f s c h e i n e n läßt. S o v e r s u c h t sich dieser » P r o f e s s o r d e r S e i b e r g e s c h i c h t e « z. B . als » K a l t e r H i s t o r i k e r « z u p r o f i l i e r e n u n d steht d o c h — d a s z e i g e n die vielen s e n t i m e n t a l g e f ä r b t e n A u s s a g e n — seiner V e r g a n g e n h e i t alles a n d e r e als d i s t a n z i e r t g e g e n ü b e r . A h n l i c h ironisiert w i r k t diese G e s t a l t a u c h d a n n , w e n n sie die f ü r die G a t tung

>Autobiographie
dieß ist ja köstlich, daß der Mondwechsel der Pfarreien endlich ihm ein anderes schönes Wetter bringt; und wir sehen den jovialen Tonkünstler ordentlich früher als sonst von der Herrschaft (er unterhielte sie aus Dank gern länger) mit seiner Bullenbeißerin nach Hause laufen, blos um nur so früh wie möglich seine Selberentzückung unter die Seinigen, besonders an die arme Gattin auszutheilen, welche durch das bisherige Aehrenlesen ja Zehenden Sammeln auf den elterlichen Feldern wahrlich genug geduldet hat< (S. 117).

Dieser implizite Leser ist offensichtlich ein literarisch gebildeter Leser, gebildet insbesondre durch die Lektüre dichterischer Werke von Jean Paul. Das belegt nicht nur der Stil der zitierten Passage, sondern auch die Anspielungspraxis und die damit verbundene Präsupponierung dieses autobiographischen Textes. So rechtfertigt der >Historiker< z. B. die Auswahl der von ihm darzustellenden Sachverhalte aus der Vergangenheit mit einem Hinweis auf die Lektüreerfahrungen seiner Leser: Pauls Weihnachtsfest selber zu beschreiben, erlassen mir wol gern alle die Zuhörer, welchen in Pauls Werken Gemälde davon, die ich am wenigsten übertreffen kann, zu Händen gekommen. Bios zwei Zusätze dürften nachzuholen (in die Gemälde einzuschieben) sein (S. 114).

Die Verstärkung dieser spezifischen Sprecher — Hörer — Relation ist nun insofern wichtig, als durch sie die Abkehr vom kontinuierlichen historischen Erzählen zugunsten einer Gestaltung der Lebensgeschichte im Stil der dichterischen Werke Jean Pauls legitimiert wird. Da der >Historiker< nun mit einem Male den Lesern des Autors Jean Paul gegenüberzustehen glaubt, kommt er ihnen entgegen, indem er die darzustellende Lebensgeschichte in Anlehnung an die vita der W u z und Fibel gestaltet. Das zeigt sich u. a. daran, daß die zweite Vorlesung in ihren wesentlichen Teilen nicht einen historiographischen Abriß der zehnjährigen Joditzer Lebensphase präsentiert, sondern in den vier >Idyllenquatembern< typische, jährlich wiederkehrende Abläufe innerhalb dieser Lebensphase erzählt. Zugleich übernimmt der >Historiker< in diesen Passagen verstärkt eine Erzählerrolle, die derjenigen im >Wuz< und im >Fibel< sehr ähnlich ist. Auf diese Weise wird in der >Selberlebensbeschreibung< die Lebensgeschichte vollends aus ihrem historischen Umfeld herausgenommen, fast allen konkreten zeitlichen Bezugspunkten entrückt. Die dynamische, auf Veränderung angelegte >historiographische 178

Vorlesung« gerät zur statischen Idylle, zur Darstellung einzelner Kindheitserlebnisse

innerhalb

eines

abgeschlossenen,

einfachen

Lebensraumes.

Dieser Lebensraum ist vor allem derjenige des Pfarrhauses mit den sich regelmäßig wiederholenden Verrichtungen seiner Bewohner; er wird in kontrastierender Weise der weiteren Umgebung des Dorfes und der Landschaft als ein lebendiger, aber in sich abgeschlossener Mikrokosmos entgegengesetzt: Draußen deckte zwar der H i m m e l alles mit Stille zu, den Bach durch Eis, das D o r f mit Schnee; aber in der Wohnstube war Leben, unter dem O f e n ein Taubenstall, an den Fenstern Z e i s i g = und Stieglitzenhäuser, auf dem Boden die unbändige B u l lenbeißerin, unsere Bonne, der Nachtwächter des Pfarrhofs . . . und darneben die Gesindestube mit zwei Mägden; und weiter gegen das andere Ende des Pfarrhauses der Stall mit allem möglichen R i n d = , S c h w e i n = und Federvieh und dessen G e schrei; unsere auch vom Pfarrhofe umschloßne Drescher könnt' ich mit ihren Flegeln auch rechnen (S. 93).

Dieser Darstellung des Lebensraumes korrespondiert diejenige des harmonischen, friedlichen, archaisch anmutenden Verhaltens seiner Bewohner: In der langen Dämmerung ging der Vater auf und ab und die Kinder trabten unter seinem Schlafrock nach Vermögen an seinen Händen. U n t e r dem Gebetläuten stellten sich alle in einen Kreis und beteten das Lied einstimmig ab: >Die finstre Nacht bricht stark herein.« . . . N a c h dem süßen Warten auf den Mondaufgang des Talglichtes unter der Thüre des Gesindestübchens, wurde die weite Wohnstube zu gleicher Zeit erleuchtet und verschanzt; nämlich die Fensterladen wurden zugeschlossen und eingeriegelt und das Kind fühlte nun hinter diesen Fensterbasteien und Brustwehren sich traulich eingehegt und hinlänglich gedeckt gegen die verdammten Spitzbuben, . . . (S. 94).

Anders als autobiographische Idyllen im Stile von Jung-Stillings >Henrich Stillings Jugend« läßt jedoch in der >Selberlebensbeschreibung« eine Fülle von Sachverhalten auf der Ebene des Dargestellten und von Aussagen auf der Ebene des Erzählens die Brüchigkeit dieser Idylle erkennen. Bereits die dargestellte Vergangenheit, Handlungen und Erlebnisse des Kindes, vermittelt den Eindruck, daß hier ähnlich wie in >Leben und Sterben des vergnügten Schulmeisters W u z aus Auenthal« nur eine »Art Idylle««96 vorliegt, daß dieser eingegrenzte, einfache Lebensraum des Pfarrhauses schon in der Perspektive des Kindes als problematisch erfahren wird. D i e Eingrenzung wird nicht allein als Schutz, sondern auch als bedrückende Enge und Isolierung empfunden; immer wieder wird von väterlichen Geboten gesprochen, die das Kind von seiner sozialen Umwelt in D o r f und Schule trennen, so daß die Abwesenheit des Vaters zu einer der »unerkannten

Kindheit-

freuden« 9 7 wird. Als problematisch, ja als gefährdend wird diese kleine Welt 96

Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria W u z in Auenthal. Eine Art Idylle.

" J e a n Paul: Selberlebensbeschreibung. S. 103.

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dann erfahren, wenn durch eine innerliche Entgrenzung mit Hilfe der Phantasie oder väterliche Anweisungen98 das Kind bestimmten Imaginationen wie vor allem der Gespensterfurcht jeden Abend und oft tagsüber hilflos ausgeliefert ist. Denn die Folge der vom Vater verfügten Abgrenzung ist bei dem kleinen Hans Paul eine innerliche Entgrenzung: seine Flucht in Phantasiewelten, aberwitzige Beschäftigungen wie die an Wuz' >Selbschreiberei< erinnernde Erfindung eines Alphabets oder die durch die sinnlose Lehrmethode des Vaters verursachte mechanische Aneignung von Material aus den verschiedensten Wissensgebieten. Gefährdet wird das Kind durch diese Beschäftigung mit imaginären Gegenständen vornehmlich deshalb, weil die Phantasie die unsichtbare Welt nicht allein »sichtbar macht und gestaltet«,99 sondern deren »Tiefen und Größen« zu erkennen gibt, 100 was vom Kind als bedrohliche und beglückende Desorientierung erfahren wird. Der Erzähler nun — und dies ist bezeichnend für seine Nähe zum Autor Jean Paul — empfiehlt als Abwehr gegenüber einer solchen Gefährdung nicht die »Auflösungen des Ungeheuern ins Alltägliche«, sondern >die Bewaffnung der Phantasie gegen die Phantasien101 Das erinnert sowohl an das im >Leben des Quintus Fixlein< besprochene Verfahren, >Einbildung durch Einbildung zu kurierenGeschichte< als auch die Art der in die >Selberlebensbeschreibung< eingeschriebenen kommunikativen Relation Erzähler — intendierter Leser ein solches Verschmelzen, wobei besonders letztere diesen Text von seinen konkreten Entstehungsbedingungen entfernt. Nicht eine konkrete Schreibsituation bestimmt die Struktur dieses autobiographischen Textes, sondern der Autor allein entwirft den Rahmen, der für die sprachliche Gestaltung einer Lebensgeschichte relevant ist. Der Leser wird gezwungen, seine an der Gattungsgeschichte orientierten Erwartungen in Bezug auf die >Selberlebensbeschreibung< zu revidieren und sich auf ein Spiel des Autobiographen Jean Paul einzulassen, das darauf ausgeht, der Dichtung als »freiere Einkleidung der Wahrheit« 107 ihr Recht in der Autobiographie zuzuerkennen, ja dem Leser zu verdeutlichen, daß eigentlich erst dieses Sicheinlassen die Voraussetzung dafür ist, die »Wahrheit aus Jean Pauls Leben« zu erfahren. 108 Zugleich läßt die Erzählstruktur der >Selberlebensbeschreibung< freilich auch einen für die deutsche Autobiographik des 19. Jahrhunderts charakteristischen Rückzug der Autoren erkennen: entweder treten sie, wie in vielen berichtenden Autobiographien, zugunsten historiographischer oder soziologisch orientierter Darstellungsabsichten auch als Subjekte des Schreibens weitgehend in den Hintergrund wie z. B. Gervinus, oder sie verstecken sich wie Jean Paul hinter einer Erzählerfigur, durch die eine Schreibsituation fingiert, die darzustellende Lebensgeschichte aber nicht wesentlich auf eine Fiktion hin verändert wird. Auf diese Weise entziehen Autobiographen wie Jean Paul sich und ihre Vergangenheit einer eindeutigen Fixierung durch die Leser und damit einer Beanspruchung innerhalb konkreter sprachlicher Interaktionen, z. B. der Verpflichtung zur Verteidigung des Ausgesagten. So gewinnen sie selbst einen Spiel-Raum, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und auseinanderzusetzen, was sie in die Lage versetzt, diese Vergangenheit als beglückend und schmerzlich erfahrene Kindheit darzustellen.

107 108

Siehe Anm. 65. » D a nun eine Lebenbeschreibung von geschickten Händen leicht zu einem R o m a n zu veredeln ist, wie wir an Voltairens Karl und Peter und an den Selbstbiographien sehen: so übernehm' ich das biographische W e r k (>HesperusSelbsterlebensbeschreibungSelbsterlebensbeschreibung< das Erzählen im Sinne der in Kapitel 4.3.2. formulierten Definition zunächst betrieben und dann doch immer wieder in Frage gestellt wird. Die Mehrzahl der zu dieser Zeit die Gattung dominierenden Autobiographien zeigt vielmehr eine deutliche Orientierung am einfachen Erzählen von Sachverhalten, das auf eine mit deren Deutung verbundene, künstlerisch anspruchsvolle Darstellung weitgehend verzichtet. Die in diesen Texten entworfene Erzählsituation geht nicht mehr wie in >Dichtung und Wahrheit< oder der >Selberlebensbeschreibung< von einem engen Verhältnis zwischen dem Dichter als Autobiograph und >seinen Lesern< aus; vielmehr versucht eine Erzählergestalt, dem Unterhaltungsbedürfnis eines umfassenden, indifferenten Publikums durch ein detailliertes und distanziertes Erzählen von >Stoffen< gerecht zu werden. So verfährt auch Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, in ihrer unvollendet gebliebenen Autobiographie >Jugendleben und WanderbilderAutobiographie< charakteristisch sind. Da erscheint die Autorin als »heitre, anspruchslose alte Frau«, 109 die mit dieser Autobiographie dem »Erzählen! Des Alters liebste(r) Unterhaltung« 110 frönt, dabei den Lesern ein >mit leichten, aber sichern Zügen entworfenes Sittengemälde ihrer Zeit< nl in unterhaltsamer Form zu liefern verspricht, zugleich aber auch, ähnlich wie so viele Autobiographen dieser Zeit, über das >Bedenkliche eines solchen Unternehmens< räsonniert und schließlich den Zeitpunkt des Schreibens unter Verwendung des Topos >Lebensreise< als End- und Höhepunkt eines langen Lebens charakterisiert: Schon unzählige Male, in Versen wie in Prosa, ist bis zum Überdruß der Menschen Leben einer Reise verglichen worden; die zwischen beiden obwaltende Ähnlichkeit drängt sich unwiderstehlich jedem entgegen, und auch ich weiß dieses Ver-

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Schopenhauer, Johanna: Jugendleben und Wanderbilder. Velox Verlag o. J. S. 9. Schopenhauer: Jugendleben . . . S. 6. Schopenhauer: Jugendleben . . . S. 7.

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gleichs mich nicht zu erwehren, obgleich ich, eben seiner Vortrefflichkeit wegen, mich seiner schäme. D a stehe ich nun, zwar etwas reisemüde, aber übrigens doch mit frischem Sinn u n d voll innerer Lebenskraft auf der H ö h e der letzten Station vor d e m Ziele. Ich blicke noch einmal hinab auf den zurückgelegten langen Weg, auf die lieblichen Täler, die ich durchwandelte, auf die steilen dornigen Felsenpfade durch die ich mich winden m u ß t e ; zwar will ein w u n d e r b a r weiches, aus F r e u d e u n d Leid z u sammengesetztes G e f ü h l bei diesem Rückblicke sich meiner bemächtigen, doch bin ich im ganzen wohl zufrieden, so weit gelangt zu sein (S. 5).

Es ist bezeichnend für die Kraft der Regeln, die zur Entstehungszeit dieses Textes die erzählende Autobiographie bestimmen, daß sich ihnen selbst eine so routinierte und über ihre Schreibweise immer wieder reflektierende Schriftstellerin wie Johanna Schopenhauer nach eigenem Eingeständnis nicht entziehen kann und sich ihnen letztlich wohl auch nicht entziehen will. Sie kennt die Regeln erzählender Selbstdarstellung, und ihr Text, soweit er erhalten ist, läßt erkennen, daß sie sie, wenn auch bisweilen ironisierend, 112 wohl anzuwenden weiß. >Jugendleben und Wanderbilder< erzählt von der frühen Kindheit der Autorin bis zur Geburt des Sohnes Arthur und berücksichtigt dabei in hohem Maße die Topographie und die Geschichte der Geburtsstadt Danzig. Johanna Schopenhauer verbreitet sich über die Bauart der Danziger Bürgerhäuser mit den für sie typischen »Beischlägen«, über Eigenarten der die Stadt umgebenden Landschaft und spricht, oft genug mit ironischer Distanz, 113 von den um die Mitte des 18. Jahrhunderts geltenden Lebensformen und Gebräuchen ihrer Bewohner. Von den die Stadt tangierenden historischen Ereignissen sind es vor allem der Siebenjährige Krieg und die Erste Polnische Teilung, denen Johanna Schopenhauer ihre besondere Aufmerksamkeit widmet. All dies geschieht >skizzenartigSittengemälde< mit Passagen aus Ifflands Familiendramen. (Schopenhauer: Jugendleben . . . S. 16).

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Schopenhauer: Jugendleben . . . S. 58/59.

185

Im Wohnzimmer saß meine Mutter ganz erschöpft auf dem Kanapee, mit fliegender Brust, glühenden Wangen und Tränen des Zornes im Auge. Ich drückte mich ängstlich in eine Ecke, denn in so heftiger Bewegung hatte ich die liebe, sanfte Frau nie gesehen . . . Jetzt kam auch Jameson, und Onkel Lehmann, der Bruder meiner Mutter; auch Kandidat Kuschel, der aber heute mich kaum bemerkte, soviel ich mir Mühe gab, mich ihm bemerkbar zu machen. Alle drei versammelten sich um meine Mutter in angelegentlichst eifrigem Gespräch, mir aber wurde angedeutet, mich zu Kasche zu begeben, und ich mußte gehorchen, so sehr die Neugier mich plagte. Setzt euch ruhig hin, besorgt den Puppen ihr Frühstück und zieht sie ordentlich an, aber haltet euch still, daß niemand euch hört, ermahnte uns Kasche, indem sie mich und meine Schwester Lotte in das Eckchen, zwischen Fenster und Schrank führte, das uns zum Spielen eingeräumt worden, und das ich zum Wohnzimmer meiner Puppen recht nett aufgeputzt hatte. Kasche, liebe Kasche! bat ich, wir wollen mäuschenstille sein, aber sag' mir nur, was vorgegangen ist? ach, sage es mir nur, denn ich fürchte mich so! Freilich wohl ein Unglück, und ein großes! antwortete Kasche; aber ihr Kinder versteht doch nichts davon. Der Preuß ist über Nacht gekommen, — darum seid hübsch artig, setzte sie hinzu, und ging (S. 58/59). Dieses Erzählen erweckt Neugier und Interesse beim Rezipienten, weil das diese U n r u h e auslösende historische Ereignis zunächst nur aus der Erzählperspektive eines siebenjährigen Kindes eingeführt w i r d und sich die Erzählerin mit Erklärungen b e w u ß t zurückhält. Diese werden dann im zweiten Drittel des Kapitels nachgeliefert: die U n r u h e der Eltern und Freunde wird verständlich, w e n n man erfährt, daß durch diese Teilung Danzig v o n seinem Hinterland abgeschnitten und eines großen Teils seiner Handelsverbindungen mit Polen und Rußland beraubt wurde. Nach diesen mit einem kurzen historischen Bericht verbundenen Erläuterungen bringt sich die Autobiographin wieder stärker ins Spiel und erzählt nun etwas detaillierter v o n den negativen A u s w i r k u n g e n dieser Blockade auf die B e w o h n e r Danzigs. So vermittelt sie ein anschauliches Bild v o n der zunehmenden Erbitterung, indem sie ausführlich schildert, wie ein preußischer Zöllner v o m aufgebrachten M o b auf der Straße erschlagen wird. Schließlich kehrt sie am Ende dieses Kapitels noch einmal zu den Reaktionen der eigenen Familie zurück und spricht dabei u. a. v o n der B e t r o f f e n heit, welche die >konkreten< Erscheinungsformen preußischer Militärgerichtsbarkeit auslösten: Dicht neben dem mit Bäumen besetzten Grasplatz vor dem Hause, dem eigentlichen Tummelplatz unsrer Freuden, streckte der schwarz- und weißgestreifte Schlagbaum, den niemand gern sah, sich quer über den Weg; denn unser Haus war das letzte auf Danziger Grunde geblieben; schräg gegenüber war die Hauptwache errichtet, dicht daneben die verhaßte Accise. Auf dem nur durch eine niedrige Hecke von dem unsrigen getrennten Grasplatze sahen wir dicht neben uns unter Schimpfen, Fluchen und Prügeln, vom Morgen bis zum Abend Rekruten exerzieren, und vor der Hauptwache die Fuchtel blutjunger Offiziere über dem 186

Rücken alter Soldaten blitzen und niederfallen. Jene Zeit ist vorüber und kommt nie wieder, doch damals war das Prügelsystem an der Tagesordnung, so wollte es der gottlob jetzt gebannte Geist des ehemaligen preußischen Militärs . . . Was ist das für ein seltsames ängstliches Getrommel? fragte meine Mutter eines Morgens. Hochgeehrte Frau, antwortete der Gärtner, denn damals gab es bei uns noch keine Madams; hochgeehrte Frau, das ist der Spießrutenmarsch, auf dem Felde hinter unserm Garten; Gott erbarme sich des armen Menschen, er läuft dreimal auf Leben und T o d . Nächsten Freitag kommt sein Kamerad an die Reihe, dem wird's nicht besser ergehen, sie haben desertieren wollen. A m Abend des nämlichen Tages waren wir schon wieder in der Heiligengeistgasse unter dem Schutz der unser Dach hütenden Schildkröte, und verlangten nie wieder nach unserm Gartenhäuschen (S. 65).

Dieser kalkulierte Wechsel zwischen Bericht und Erzählung ist kein Einzelfall und unterstreicht den Willen zur Konstruktion, zur bewußten Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte ebenso wie die zusammenfassende bzw. abschließende Formulierung am Schluß eines jeden Kapitels. Indem J o hanna Schopenhauer jedem der 43 Kapitel ein Motto voranstellt, gibt sie dem Leser außerdem zu erkennen, daß sie diese auch inhaltlich als Einheiten versteht, deren Zusammenhang freilich durch die Narration immer gewahrt bleibt. Das recht behutsame Aufzeigen von Veränderungen des Kindes und seiner Umgebung 1 1 4 wird allerdings oft durch direkte Vergleiche zwischen der Schreibgegenwart und bestimmten Phasen der dargestellten Vergangenheit eher gestört als gefördert. Häufig genug unterbrechen zudem wertende Behauptungen die erzählende Rede, was die durch Deiktika (>damalsfrüherjene< etc.) artikulierte Distanz zwischen der Erzählerin und ihrer Vergangenheit immer wieder betont. Dieser Abstand wird sowohl durch einen dem Kind gegenüber weiteren Erlebnis- und Erfahrungshorizont des alternden Erwachsenen als auch durch den historischen Wandel bürgerlicher Lebensformen zwischen dem letzten Drittel des 18. und dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts explizit erklärt, 1 1 5 was die Präsenz der gestaltenden Erzählerin und die ihr Erzählen bedingende Schreibsituation nachhaltig unterstreicht. Die für die erzählende Autobiographie charakteristische Betonung der Schreibsituation mit der sie prägenden Gestalt eines unterhaltenden Erzäh-

1,5

So verdeutlicht die Erzählerin die Erweiterung des kindlichen Bildungshorizontes, indem sie sukzessiv die Lektüre der kleinen Johanna (von Weißes >Kinderfreund< über Lavaters >Physiognomische Fragmente< bis zu H o m e r und Shakespeare) vorstellt. Vgl. z. B. die Ausführungen über die Danziger Hochzeitsbräuche (Schopenhauer: Jugendleben . . . S. 152ff.).

187

lers bestimmt eine Vielzahl v o n Selbstdarstellungen der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts. Freilich ist in Bezug auf ihre Gestaltung spätestens gegen Ende der 20er Jahre eine zunehmende Automatisierung* zu bemerken; sie gerät zum Schema und unterscheidet sich kaum noch v o n einer Rahmentechnik, wie sie im Bereich der einfachen fiktionalen Erzählliteratur dieser Zeit üblich ist: ein leutseliger Erzähler unterhält ein Publikum mit einer Sammlung selbsterlebter Geschichten: In diesem m e i n e m Publikum nun suche ich die mir b e f r e u n d e t e n Seelen, welche sicher die Schilderung w i r k l i c h v o m A u t o r e r l e b t e r S c h i c k s a l e m i t n i c h t g e r i n g e r e r T h e i l n a h m e empfangen werden, als diese bei den unzähligen Dichtungen des Verfassers der Fall war. 116 Mit dieser Ankündigung artikuliert A d o l p h v o n Schaden z w a r eine an >Dichtung und Wahrheit* erinnernde Kommunikationssituation zwischen Erzähler und Leser, doch er nutzt dieses Einbeziehen >seiner Leser< im G e gensatz zu G o e t h e nicht zur Gestaltung einer >grundwahren Geschichte*. Das Entwerfen einer solchen Erzählsituation ist in diesem und in vielen anderen autobiographischen Texten lediglich ein Verfahren, mit dessen Hilfe A n e k d o t e n und kürzere Geschichten o f t nur notdürftig zusammengehalten w e r d e n . 1 1 7 Das Ereignis gewinnt nicht K o n t u r , weil es durch bewußte Rückschau aus einem fortlaufenden Ablauf v o n Tätigkeiten und Geschehnissen herausgehoben w i r d , sondern weil es das Unterhaltungsbedürfnis der Leserschaft nach Ansicht des A u t o r s besonders befriedigt. Die Gestalt des zusammenfassenden deutenden Erzählers gerät dabei in den Hintergrund: In fröhlichen Gesellschaften erzähle ich oft lustige, auch wohl ernsthafte Anekdoten, die mir selbst oder meinen Freunden vorgekommen sind. Ich wurde gebeten, sie zu sammeln und herauszugeben. Allein sie hangen so mit meinem ganzen Leben und Wirken zusammen, daß sie bloß in der Darstellung des Letzten ihren Platz finden konnten. 118

116

117

1,8

Schaden, Adolph v.: Sentimentale und humoristische Rückblicke auf mein viel bewegtes Leben. Leipzig 1838, S. VII. Dieser starken Betonung des unterhaltenden Moments in der Autobiographik korrespondiert übrigens im Bereich der fiktionalen Prosa eine vermehrte Legitimierung des Erzählens mit Hilfe der Autobiographiefiktion. Das in Roman oder Novelle Erzählte wird als etwas vom Erzähler selbst Erlebtes vorgestellt; als Beispiele dieses natürlich nicht neuen, aber immer beliebter werdenden Erzählens wären der seine Autobiographie schreibende Kater Murr bei E. T. A. Hoffmann oder auch Romane der im 19. Jahrhundert recht populären Gräfin Ida Hahn-Hahn zu nennen (z. B. Sybille. Eine Selbstbiographie. Berlin 1846). Dinter's Leben, von ihm selbst beschrieben; ein Lesebuch für Aeltern und Erzieher, für Pfarrer, Schul=Inspectoren und Schullehrer. Neustadt an der Orla 1829, S.V.

188

Ein solches Erzählen führt nicht nur im T e x t des hier zitierten Pädagogen Dinter zu einer ermüdenden Reihung von Einzelfakten und -geschichten. Die Detailaussage ist nicht mehr integraler, auf übergeordnete Zusammenhänge verweisender Bestandteil eines durchorganisierten Textes; 1 1 9 sie steht isoliert oder ist bestenfalls Teil jener von Dinter nicht zufällig angesprochenen anekdotischen Wiedergabe vergangener Sachverhalte. Dabei ist zu beobachten, daß die Anekdote in solchen Texten wie denen von Dinter oder von Holtei 1 2 0 nicht einmal mehr eine ihrer wichtigsten Funktionen besitzt, nämlich durch Zuspitzung und Pointierung bestimmte

Charaktereigen-

schaften des Autobiographen oder historische Konstellationen besonders herauszustellen. Ihre Verwendung ist vielmehr Ausdruck eines Bemühens um effektvolles Schreiben, der Leser soll im Verlauf seiner Lektüre in immer kürzeren Abständen zum Weiterlesen motiviert werden, was besonders dann verständlich erscheint, wenn die Autoren selbst den Verdacht äußern, daß sie mit ihrer Geschwätzigkeit die Leser langweilen könnten. 1 2 1 D i e >Optimierungen< mit Hilfe von in der fiktionalen Erzählprosa verwendeten Verfahren geschehen also z. B . weniger durch Vorausdeutung oder Symbolisierung als vielmehr durch mimetische Redewiedergabe, ausgiebige Verwendung von epitheta ornantia etc. Totalität und biographische F o r m , auf deren Affinität Hegel in seiner Ästhetik nachhaltig, aber auch kritisch verwiesen hat, 1 2 2 verbinden sich dagegen in der Romanform, insbesondre

" 9 Das geht so weit, daß man sich für alles, was die Autobiographie als Bildungsgeschichte erscheinen lassen könnte, entschuldigt: » N u r mit Mühe bezwinge ich meine Neigung, bei diesen verehrten Lehrern (aus dem Kollegium der Universität Jena, J . L . ) zu verweilen; ich wollte ja aber keine Bildungsgeschichte, sondern nur solche Mittheilungen geben, die in ihrer Abwechslung den Leser unterhalten.« König, Carl Bernhard: Wanderung durch Vaterhaus, Schule, Kriegslager, A k a demie zur Kirche. Mittheilungen aus dem bewegten Leben eines evangelischen Geistlichen. Magdeburg 1832, S. 135. Ahnlich auch: C r o m e , August Friedr. Wilhelm: Selbstbiographie. Stuttgart 1833. 120

Holtei, Karl v o n : Vierzig Jahre. Breslau 1 8 6 2 - 6 6 (geschrieben 1843 ff.).

121

H o l t e i : Vierzig Jahre. Bd. 2, S. 101. In Bezug auf diese gerade auch bei Holtei beobachtbare Effekthascherei mutet es geradezu grotesk an, wenn dieser, offensichtlich in Anlehnung an die Entelechie-Konzeption Goethes, auf die organisch bedingte Kohärenz seiner Autobiographie verweist: »Ich habe das Buch nicht künstlich m a c h e n wollen; ich hab' es aus mir entstehen lassen, wie die Pflanze wächst aus dem Keime.« H o l t e i : Vierzig Jahre. Bd. 1, S. V I I I .

122

Darauf ist im einzelnen in der Forschungsliteratur zur Geschichte der Philosophie und Literatur im Deutschland des 19. Jahrhunderts ausgiebig aufmerksam gemacht worden. Vgl. dazu u . a . : Preisendanz, Wolfgang: H u m o r als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München

2

1976,

S. 319 ff.

189

n a t ü r l i c h in d e r f ü r d a s 19. J a h r h u n d e r t s o b e d e u t s a m e n F o r m d e s B i l d u n g s romans.

123

S o l c h e m B e m ü h e n u m ein m ö g l i c h s t e f f e k t v o l l e s S c h r e i b e n k o r r e s p o n diert nicht selten die B e r ü c k s i c h t i g u n g v o n Sachverhalten, die mit der vita des betreffenden A u t o b i o g r a p h e n nur w e n i g o d e r sogar überhaupt nichts zu tun haben.'24 W e n n Dinter und andere A u t o b i o g r a p h e n auch A n e k d o t e n erzählen, die nicht nur die eigene Person, s o n d e r n F r e u n d e u n d andere Pers o n e n betreffen, dann gehört dies z u einer häufig z u b e o b a c h t e n d e n Strat e g i e , in g l e i c h s a m n e g a t i v e r W e i s e >die L ü c k e n eines A u t o r e n l e b e n s a u f z u füllen*, nämlich die eigene Lebensgeschichte durch die B e z u g n a h m e

auf

f r e m d e >Schicksale< i n t e r e s s a n t e r z u g e s t a l t e n . 1 2 5 D a z u g e h ö r t auch, d a ß sich die A u t o b i o g r a p h e n m i t b e r ü h m t e n P e r s ö n l i c h keiten » s c h m ü c k e n « . W e n n sie detailliert ü b e r ihre B e g e g n u n g e n m i t illustren Z e i t g e n o s s e n s p r e c h e n , d a n n g e n ü g e n sie z u m einen in vielen F ä l l e n e i n e m verbreiteten

kultur- und literarhistorischen

I n t e r e s s e ; s o z. B .

der

Arzt

F r i e d r i c h W i l h e l m v o n H o v e n , d e s s e n A u t o b i o g r a p h i e eine F ü l l e v o n E i n z e l heiten ü b e r Schillers A u f e n t h a l t in der K a r l s s c h u l e v e r m i t t e l t . 1 2 6 D a g e g e n m e r k t m a n z u m anderen autobiographischen Texten wie denen von Schubert,127

125

124

125

126

127

Siehe dazu: Jacobs, Jürgen: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, bes. S. 100—105. Dieser Betonung des Anekdotischen entspricht eine Tendenz zum Fragmentarischen: man wählt aus, was unterhaltend erscheint, und vernachlässigt bewußt die sukzessive Ordnung des Darzustellenden (von Schaden: Rückblicke . . . , A . Amalia Schoppe: Erinnerungen aus meinem Leben in kleinen Bildern. Altona 1838). Wie am Beispiel von Goltz' >Buch der Kindheit* noch zu zeigen sein wird, führt dies zu einer weitgehenden Auflösung der autobiographischen Form, so daß solche Texte nur noch sehr eingeschränkt als Autobiographie im Sinne der auf S. 36 formulierten Definition bezeichnet werden können. In Autobiographien von Pfarrern und Theologen werden solche Anekdoten häufig von unterhaltender und aufklärender Intention des Autors bestimmt. D a s gilt u. a. für die Autobiographie des katholischen Geistlichen und im 19. Jahrhundert sehr bekannten Jugendschriftstellers Christoph von Schmid, der seine persönliche Vergangenheit in der oben genannten Weise anekdotisch gestaltet, um auf diese Weise Naturgesetze zu erläutern, die göttliche Vorsehung zu beweisen oder Beispiele für unerschütterliche Festigung im Glauben zu geben. Schmid, Christoph v.: Erinnerung aus meinem Leben. 4 Bde. Augsburg 1835—1857. Biographie des Doctors Friedrich Wilhelm von Hoven. Königl. Baierischen O b e r Medicinalraths, . . . von ihm selbst geschrieben und wenige Tage vor seinem T o d e noch beendiget. Nürnberg 1840. Schubert, Gotthilf Heinrich von: Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartungen von einem zukünftigen Leben. Eine Selbstbiographie. 3 Bde. 1854—58. Schuberts Text enthält u. a. die Biographien seines Lehrers H . G . Werner, des Malers G . v. Kügelgen und des Pietisten J . M. Burger, deren Lebensläufe stark harmonisiert erscheinen.

190

C a r u s 1 2 8 o d e r F u n c k 1 2 9 d u r c h a u s an, d a ß d a s e r z ä h l e n d e V e r w e i l e n bei B e g e g n u n g e n mit G o e t h e o d e r C a s p a r D a v i d F r i e d r i c h h a u p t s ä c h l i c h

der

Selbststilisierung der betreffenden A u t o b i o g r a p h e n dient.130 Einer solchen das sukzessive Erzählen immer wieder unterbrechenden P r o f i l i e r u n g s s u c h t v e r d a n k t sich sicher a u c h d a s seit 1820 v e r s t ä r k t einsetzende Einbringen von Reiseerfahrungen131 oder regionaler Besonderheiten des G e b u r t s o r t e s .

Autoren wie Wendeborn oder Tischbein132

kommen

d a b e i i n s o f e r n d e m G e s c h m a c k eines breiten P u b l i k u m s e n t g e g e n , als d a s Interesse

an

nimmt133

und

Reiseliteratur auch von

seit B e g i n n

des

19. J a h r h u n d e r t s

der zeitgenössischen

Kritik lebhaft

stetig

zu-

diskutiert

w i r d . 1 3 4 W e n i g e s in dieser F ü l l e v o n R e i s e b e r i c h t e n 1 3 5 ist freilich s o qualitätvoll w i e H e i n e s >ReisebilderOrientalische Briefe< o d e r

P ü c k l e r - M u s k a u s >Semilasso in A f r i k a s E i n s o l c h e s A b g l e i t e n d e r A u t o b i o g r a p h i e in die

Reisebeschreibung

lassen b e s o n d e r s d i e D e n k w ü r d i g k e i t e n . . .< d e s K a r l s r u h e r A r c h i t e k t e n F r i e d r i c h W e i n b r e n n e r e r k e n n e n . 1 3 6 W e i n b r e n n e r — ein enger F r e u n d v o n J o h a n n Peter H e b e l — b e t o n t z w a r i m m e r w i e d e r , mit seiner A u t o b i o g r a p h i e >eine G e s c h i c h t e seiner Individualität< vermitteln z u w o l l e n , k o n z e n t r i e r t diese >Geschichte< j e d o c h auf einen s e c h s j ä h r i g e n I t a l i e n a u f e n t h a l t . D i e detaillierte S c h i l d e r u n g italienischer V e r h ä l t n i s s e b e s t e h t w e i t g e h e n d

128 129

150 131

132

133

134

135

136

Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Funck, Z . : Erinnerungen aus meinem Leben in biographischen Denksteinen und andern Mittheilungen. Bd. 1. Leipzig 1836. Das gilt vor allem für Carus. Das hat natürlich nichts mit dem Topos >Lebensreise< zu tun, der Autobiographien vor allem dann prägt, wenn deren Autoren nicht so sehr nach dem eigentlichen Verlauf ihres Lebens, sondern nach Herkunft und Ziel fragen; dies begegnet häufig in religiösen, von ihren Autoren als >Pilgerfahrt< betitelten Autobiographien (im 19.Jahrhundert z . B . : Klee, Christian Carl Ludwig: Pilgerschaft durch Land und Leben. Riga und Leipzig 1821). D. Gebh. Fr. Aug. Wendeborn's Erinnerungen aus seinem Leben. 2 Bde. Hamburg 1813. Tischbein, Wilhelm: Aus meinem Leben. Berlin 1922. Frühe Beispiele für eine solche Vermischung von Autobiographie und Reisebeschreibung sind Seumes »Mein Sommer 1805< sowie die Autobiographie des bereits erwähnten Carl Ludwig Klee, der sehr ausführlich über topographische und soziale Besonderheiten in Rußland und Estland um die Wende vom 18. zum ^ . J a h r h u n dert erzählt. So im Literaturblatt zum Morgenblatt, z. B. im Jahrgang 1827, S. 21, 103, 249 ff., 223 ff., Jahrgang 1832, S. 1 3 - 6 8 etc. Siehe dazu: Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Bd. II: Die Formwelt. Stuttgart 1972, S. 239 ff. Weinbrenner, Friedrich: Denkwürdigkeiten aus seinem Leben von ihm selbst geschrieben. Heidelberg 1829. 191

aus einer Aneinanderreihung von für die Kennzeichnung der eigenen künstlerischen Entwicklung eher belanglosen Anekdoten. D a s Dominieren des Anekdotischen, der Detailmalerei ist freilich auch darauf zurückzuführen, daß die Autoren Erwartungen der Literaturkritik bei der Gestaltung ihrer autobiographischen Texte berücksichtigen. Solche Erwartungen artikuliert z. B. das von G u t z k o w redigierte »Deutsche Literaturblatt« im Rahmen einer zwar nicht unfreundlichen, doch recht kritischen Betrachtung der »Erinnerungen aus dem äußeren Leben« von Ernst Moritz Arndt. So vermißt der Rezensent eine eingehende Darstellung der »Entwicklung unter Lehrern, Büchern und jungen Leuten seines Alters« 1 3 7 ebenso wie »die kleinen warmen Bezüge des Malers zu dem Gegenstande, welche die Memoiren-Gattung von der Geschichte unterscheiden«. 1 3 8 Besonders bezeichnend für die Dominanz des erzählenden T y p u s über den der bekennenden Autobiographie auch in Bezug auf den Erwartungshorizont von Publikum und Kritik um 1840 ist der von Rezensenten geforderte Verzicht auf »Rechfertigung (Arndts, J . L . ) gegen seine Richter« (während der Demagogenverfolgungen, die Arndt sein Lehramt an der Universität in Bonn gekostet hatten, J . L . ) zugunsten einer »Behaglichkeit und Lust der Kleinschilderung« 1 3 9 einzelner Lebensabschnitte. Dieser »Lust« verdanken vor allem diejenigen Autobiographien ihre Entstehung, die sich vorwiegend mit der eigenen Kindheit und Jugend befassen, wie z. B. die >Memoiren< Adolf Bäuerles oder noch im späten 19. Jahrhundert Fontanes >Meine Kinderjahre«; 140 in Goltz' >Buch der Kindheit« führt das dann schließlich zur Aufgabe der Sukzession und damit zum Verlust der die Gattung »Autobiographie« bestimmenden Struktur. Die Pflege des Anekdotischen innerhalb der erzählenden Autobiographie verbindet diesen Typus mit Bereichen fiktionaler Prosa, gestehen doch so einflußreiche Kritiker wie Wolfgang Menzel auch Novelle und Roman den Verzicht auf eine strenge Integration der einzelnen Teile innerhalb eines Erzählwerkes ausdrücklich zu: Wenn manches in der Poesie allerdings nur da bedeutend sein kann, wo es in einem strengen Zusammenhange mit der Idee des Ganzen steht, so giebt es doch wieder so vieles andre, das sich nur episodisch, zufällig sagen läßt. 141 137 138 139 140

141

B ö r s e n = H a l l e . Deutsches Literaturblatt 1840, N r . 9, 28. November, S. 33. B ö r s e n = H a l l e N r . 9, S. 34. B ö r s e n = H a l l e N r . 9, S. 33. Vgl. dazu: N i g g l : Fontanes M e i n e Kinderjahre« und die Gattungstradition. In: Sprache und Bekenntnis. (Sonderband des Literaturwiss. J b . Festschrift für Hermann Kunisch zum 70. Geburtstag) Berlin 1971, S. 2 5 7 - 2 7 9 . Literaturblatt zum Morgenblatt, 1828, S. 341. (Auf die N ä h e von Autobiographik und fiktionaler Erzählprosa in Bezug auf den Gegenstandsbereich hat auch Sengle verwiesen. Autobiographie, Roman und vor allem die Novelle erheben danach gleichermaßen Anspruch auf eine realistische Wiedergabe der Lebenswelt. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. II, S. 837).

192

Diesen Hang zum Episodischen, Bruchstückhaften bescheinigt die Kritik besonders dem Roman, der nicht nur als >objektive< geschlossene Form der Dichtung, sondern häufig als Sammlung von »Reflexionen und kleinen Sittengemälden« bezeichnet w i r d . 1 4 2 Die Orientierung am Unterhaltungsbedürfnis des Publikums, die übrigens neben der Literaturkritik auch die philosophische Ästhetik 1 4 3 vermerkt, hat zur Folge, daß häufig die Quantität des Erzählten v o r der Q u a lität rangiert. 1 4 4 Ahnlich wie in den bereits erwähnten erzählenden A u t o b i o graphien des späten 18. Jahrhunderts (Bronner) führen die oben skizzierte >Automatisierung< der fingierten Schreibsituation, die genannte Ausweitung des Gegenstandsbereiches sowie die >Lust am Detail< zu einem weitgehenden Verlust einer zielgerichteten, straffen Erzählweise und damit zu größerem U m f a n g der Texte; so erreichen Autobiographien wie die v o n Holtei, Schubert oder Steffens einen U m f a n g von 2 0 0 0 bis 3 0 0 0 Seiten. 1 4 5 Das tut ihrer Beliebtheit freilich keinen A b b r u c h ; z w a r wird die G e schwätzigkeit

solcher

Autoren

wie

Steffens v o n

der

Literaturkritik

durchaus konstatiert, doch ist die gleiche Kritik grundsätzlich nicht abgeneigt, sich von detaillierter Wiedergabe persönlicher Vergangenheit unterhalten zu lassen. 1 4 6

142

143

144

145

146

Hahl, Werner: Reflexion und Erzählung. Ein Problem der Romantheorie von der Spätaufklärung bis zum programmatischen Realismus. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1971, S. 144 ff. Bezeichnend für diese von Autoren und Verlegern beim Leser vorausgesetzte Freude an unterhaltsamer, abwechslungsreicher Detailwiedergabe sind die zu dieser Zeit häufig edierten Sammlungen von Kurzprosa, sogenannte Tutti frutti. Vgl. dazu: Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt a. M. 1970, S. 476. Z. B. bei Herbart, Johann Fr.: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Leipzig 1913, S. 84. »Das Publikum ist jetzt ein großer Herr geworden, es will nur Vergnügen und zahlt nur für Vergnügen; wirklichen Fleiß und Mühe kann es gar nicht ansehen, ohne die Seekrankheit davon zu kriegen«. Lang, K. H. Ritter von: Memoiren, Skizzen aus meinem Leben und Wirken. Braunschweig 1842. Bd. 2, S. 280/281. Das Anschwellen der Texte mag auch mit der in weiten Teilen des Deutschen Bundes geübten Zensurpraxis zu tun haben. Wenn nämlich eine bestimmte Druckbogenzahl überschritten wurde, entfiel die Vorzensur. »Das >aus der Erinnerung niedergeschriebene< Buch von Steffens: >Was ich erlebte< liegt nun in dem dritten und vierten Bande vor uns. Mit seiner breiten Geschwätzigkeit ist er bis zum Jahre 1799 gekommen; das Publikum hat also noch auf ein Halbdutzend Bände Aussicht. Wir lieben das Detail altdeutscher treuer Gemälde und Kupferstiche, wo man jede Spitze eines Grashalms und auf der Spitze noch ein kleines Insektlein deutlich sieht; wir ergötzen uns an alten, haarklein alle Vorfälle, auch die unbedeutendsten berichtenden Chroniken und an der naiven Ausführlichkeit älterer Reisenden, Selbstbiographien und Memoirenschreiber, und man wird sich vielleicht erinnern, daß wir den Wunsch ausgesprochen, das >Leben des armen 193

Die Autobiographie ist also weiterhin eine populäre Gattung, weil sie einem weit verbreiteten und von der Literaturkritik immer wieder auch sorgenvoll kommentierten 147 Bedürfnis des Publikums nach geschwätziger, leichter Erzählliteratur ä la Clauren, Heil oder Kind 148 entgegenkommt. Selbst Autoren, die dieser Mode kritisch gegenüberstehen, können sich ihr offensichtlich nicht entziehen, wie z. B. Saphir, der Kritik und Produktion dieser Gattung in einem Band miteinander verbindet. 149 Es spricht außerdem für die Beliebtheit der Gattung, daß sich ihr zunehmend jüngere Autoren zuwenden (Zober, Rohmer 150 ), daß Autobiographien immer öfter nach relativ kurzer Zeit Neuauflagen erleben (v. Bohlen, Krug, Uhlig, Strauß)151 und daß verstärkt fremdsprachige, vor allem französische Texte des erzählenden Typs übersetzt werden. 152 Ebenfalls ansteigend ist die Zahl der aufgelegten Exemplare. So enthält das Subskribentenverzeichnis in der Autobiographie des bereits erwähnten Pädagogen Dinter ca. 2000 Vorbestellungen, eine für die zwanziger Jahre des 19.Jahrhunderts erstaunlich hohe Zahl, wenn man bedenkt, daß z . B . von den zu dieser Zeit durchaus beliebten Gesprächen zwischen Goethe und Eckermann innerhalb eines Zeitraums von 32 Jahren ganze 3000 ExemMannes von Toggenburg< nicht bloß im Auszuge, sondern ausführlich, wie er's niederschrieb, zu lesen. U n d wenn nun gar das Genie eines Benvenuto Cellini, eines Götlie die Feder ergreift und Lebensdetails hinwirft, so wüßten wir nichts womit wir die Magie des dramatischen Eindrucks solcher Darstellungen vergleichen könnten. Aber unser Heinrich Steffens ist weder ein stiller, treuer, naiver Geist, noch ein waltendes Genie; er ist nur ein flüchtiger, geistreicher Passagier, dem man keinen festen, scharfen Blick der Beobachtung in und außer sich zutraut, kein allzuenges Gewissen und der ersichtlich zur Unterhaltung des großen Publikums und zur Vermehrung seiner Einnahmen ein Erzähltalent ausbeutete, das ihm bei mündlichem lebendigen in geselligen Kreisen ohne Zweifel sehr lohnsam war«. Börsen= H a l l e . Deutsches Literaturblatt. Redigiert von Dr. L. Wienbarg. 1841, N r . 50, Sonnabend, den 11. September. 147

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149 150

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152

Literaturblatt zum Morgenblatt 1832, S. 430/431, 1833, S. 433 ff. D a s gilt übrigens ähnlich auch für die Biographie. Vgl. dazu u. a. die umfangreiche Sammelrezension von G u t z k o w im Literaturblatt zum Morgenblatt 1832, S. 77—95. Vgl. dazu: H o r n , Franz: Umrisse zur Geschichte und Kritik der schönen Literatur Deutschlands während der Jahre 1 7 7 0 - 1 8 1 8 . Berlin 1821, S. 280. M. G . Saphir's Schriften. Brünn / Wien / Leipzig o . J . Bd. 23, S. 1 - 8 3 . Zober, Ernst: Vor zwanzig Jahren. Jugenderinnerungen. 1841 o. O . Rohmer, Friedrich Christian Ludwig Konrad: Für Freunde gedruckt. Zug / Zürich / N i d walden 1842. Peter von Bohlen: Autobiographie. Königsberg 1840. 2. Aufl. 1842. Krug's Lebensreise in sechs Stazionen von ihm selbst beschrieben. Leipzig 2 1842. Strauß, Friedrich: Glockentöne — Erinnerungen aus dem Leben eines jungen Geistlichen. 3 Bde. Elberfeld 1 8 1 5 - 1 8 1 9 . 7 . ( ! ) A u f l . 1840. Uhlich, Leberecht: Bekenntnisse. Leipzig 3 1845. Vgl. dazu die umfangreiche Sammelrezension im Literaturblatt 1832, S. 457 ff.

194

plare 1 5 3 oder von Goethes Iphigenie auf Tauris« sowie >Tasso< innerhalb v o n zehn Jahren ( 1 7 9 0 - 1 8 0 0 ) nur 3 0 0 bis 4 0 0 Exemplare verkauft w u r d e n . 1 5 4 So v e r w u n d e r t es nicht, daß sich auch der zu dieser Zeit weit verbreitete literarische Dilettantismus 1 5 5 noch intensiver dieser Gattung bemächtigt, als es seit dem späten 18. Jahrhundert ohnehin schon üblich w a r ; autobiographisches Schreiben dient nicht nur der Unterhaltung des Publikums, sondern auch der Zerstreuung der A u t o r e n . Vertreter aller Stände fühlen sich aufgerufen, Autobiographien zu schreiben, ein Phänomen, das Hauffs fingierten Erzähler in den M i t t e i l u n g e n aus den Memoiren des Satans< zu seiner berühmt gewordenen >Bemerkung< veranlaßt hat: Alle Welt schreibt oder liest in dieser Zeit Memoiren, in den Salons der großen und kleinen Residenzen, in den Ressourcen und Kasinos der Mittelstädte, in den Tabagien und Kneipen der kleinen spricht man von Memoiren, ja es könnte scheinen, es sei seit zwölf Jahren nichts Merkwürdiges mehr auf der Erde, als ihre Memoiren. Männer und Frauen ergreifen die Feder, um den Menschen schriftlich darzutun, daß auch sie in einer merkwürdigen Zeit gelebt, daß auch sie sich einst in einer Sonnennähe bewegt haben, die ihrer sonst vielleicht gehaltlosen Person einen Nimbus von Bedeutsamkeit verliehen. 156 Viele dieser dilettierenden Autobiographen benutzen die Beliebtheit der Gattung dazu, beim Publikum poetische Erzeugnisse verschiedenster Q u a lität anzubringen. Meist sind es Gedichte, die innerhalb des Textes verstreut sind oder ihn in F o r m einer Anthologie beschließen. Da sie höchst selten Substantielles über die Schreibsituation oder die Vergangenheit ihres A u t o r s aussagen — also nicht bewältigte Vergangenheit im Sinne der Goetheschen >Konfessionen< sind —, wirken sie meist isoliert und fünktionslos im Text; das gilt z. B. f ü r die Autobiographien v o n Schwarz, Eberhard und Zober. 1 5 7

153

154

155

156 157

Sagarra, Eda: Tradition und Revolution. Deutsche Literatur und Gesellschaft 1830-1890. München 1972, S.42f. Hiller, Helmut: Zur Sozialgeschichte von Buch und Buchhandel. Bonn 1966, S. 101. Sengle: Biedermeierzeit. Bd. II, S. 100. Vgl. dazu den für den Zeitraum zwischen 1813 — 1823 geltenden, weit über 1000 Namen umfassenden >Catalogus poetarum nunc germanicorum nec non germanicorum«, den H. F. Massmann als Anhang seiner Schrift >Das vergangene Jahrzehend in der deutschen Literatur«. München 1827 herausgegeben hatte. Hauff, Wilhelm: Sämtliche Werke in drei Bänden. München 1970. Bd. I, S.376. Schwarz,J. L.: Denkwürdigkeiten. Leipzig 1828. Zober, Ernst: Vor zwanzig Jahren. Jugenderinnerungen. Eberhard, A. G . : Uebersicht meiner schriftstellerischen Laufbahn und Proben früherer Versuche. Halle 1830. Eines der frühesten und kuriosesten Beispiele für ein solches Veröffentlichen von eigenen dichterischen Werken mit Hilfe eines autobiographischen Textes dürfte >Friedrich Gotthilf Jäsrichs Selbstbiographie, nebst einigen Geistesarbeiten desselben in Prosa und Versen< sein. Jäsrich, ein wegen Diebstahls und anderer Delikte in 195

Dies gilt besonders für die Autobiographie des Spätromantikers Friedrich de la Motte Fouque, die innerhalb solcher >poesiegetränkter< Autobiographien noch eine Sonderstellung einnimmt, weil in ihr die Sprache von Gedichten und romantischen Versepen gezielt für die Wiedergabe persönlicher Vergangenheit eingesetzt wird: In einer frischen Eichenwaldung war's, wo sich die elegante Gesellschaft aus Minden zu einem ländlichen Mittagsmahl versammelt hatte, in der N ä h e eines gewöhnlichen Gasthofes, dessen man jedoch völlig entbehren zu können vermeinte auf dem grünfesten Rasen, unter den hochgrünen Baumschatten, durch welche die Junius-Sonne nur eben so viel Glanz hereinstrahlte, als zur Vergoldung der Festesder Feste Muskau einsitzender Häftling, präsentiert am Schluß seiner bekennenden Autobiographie eine Sammlung sentimentaler Gedichte geistlichen und moralisierenden Inhalts sowie einige »Naturszenen« und Scherzgedichte, deren Veröffentlichung offensichtlich eine erfolgreich verlaufende Rehabilitation dokumentieren soll. Die im folgenden zitierten Auszüge aus einem 31 (!) Strophen langen Gedicht sind ein Beleg dafür, daß diese Elaborate ohne den stützenden Rahmen einer Autobiographie kaum der Öffentlichkeit zugänglich geworden wären: Der Pater und die N o n n e Eine Beichte Nonne.

Pater.

Nonne.

Pater.

Nonne.

Ach, mich foltert mein Gewissen, U n d mein H e r z ist ganz zerrissen; Darum, mit gebeugtem Knie, Mein Herr Pater such ich Sie. Ja, ich will von deinen Sünden, Schöne N o n n e , dich entbinden, Aber, Tochter, wahr und rein, Muß auch deine Beichte seyn! Ich will Ihnen nichts verhehlen, Sondern alles treu erzählen, Was ich, Sünderinn gethan, Hören Sie mich gütigst an: Als ich einst in meinem Garten, Meiner Blumen wollte warten, Kam ein junger Herr zu mir, Schwatzte mir von Liebe für! Das war freilich ein Verbrechen, Mit dem jungen Mann zu sprechen; D o c h geht deine Schuld noch an, Wenn du weiter nichts gethan! Leider ich empfand die Triebe Einer heißen, heißen Liebe, U n d den süßen Augenblick Wünscht' ich mir noch oft zurück . . .

Friedrich Gotthilf Jäsrichs Selbstbiographie, nebst einigen Geistesarbeiten desselben in Prosa und in Versen. Görlitz 1812, S. 182/183. 196

anstalten tauglich war, ohne die labende Haineskühle zu stören. A u c h unser O f fizier-Corps w a r dort eingeladen. N u r eigentlich, weil die A n d e r e n hinritten, ritt ich mit hin, aber schon fernher zog mich das G e w i m m e l der edelgeschmückten Gestalten unter dem laubigen G r ü n an: Frauen in weißen oder buntfarbigen Gewanden, von Gold o d e r Silber leuchtende U n i f o r m e n der Kriegsleute, deren edle Rosse und die glänzenden Wagen der D a m e n umher, — es trägt das Allzusammen so ein seltsam anmuthiges Gepräge an sich, märchenhaft an jene phantastische Idyllenwelt der romantischen Poesie mahnend, — Spanier und Italier sind vorzüglich reich daran, — w o Ritter und Schäfer, Prinzessinnen u n d Burgfrauen und H i r tinnen so gastlich vertraut mit einander umgehen, als seien sie ein C h o r u s voll harmonischer Einheit, . . . 1 5 8

Bei dieser Darstellung eines Festes in der Garnisonsstadt Minden im Jahre 1795 wird offenkundig ein Stück erlebter Vergangenheit unter V e r w e n d u n g von auch bereits in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts automatisierten epitheta ornantia (edelgeschmückt) und Elementen topischer Rede (labende Haineskühle) in bewußter A n l e h n u n g an literarische Vorbilder wie r o m a n tisches Ritterepos oder anakreontische Idylle >künstlerisch< gestaltet. Erstaunlich dabei ist nicht so sehr die Ü b e r n a h m e automatisierter dichterischer Verfahren u n d Vorlagen, sondern das Bemühen des Autobiographen F o u q u é , mit deren Hilfe vergangene Wirklichkeit als konfliktfrei und p r o blemlos hinzustellen. Schließlich >gemahnt< die dargestellte Vergangenheit Fouqués nur deshalb an die >Idyllenwelt< literarischer Vorlagen, weil die f ü r die sprachliche Konstitution solcher Vorlagen relevanten literarischen Verfahren bei ihrer erzählenden Wiedergabe verwendet w u r d e n . Solche sprachlichen Manipulationen wirken bei F o u q u é besonders dann fatal, w e n n mit ihrer Hilfe konkrete geschichtliche Konflikte wie z. B. kriegerische A u s einandersetzungen harmonisierend dargestellt und damit verharmlost werden. 1 5 9 Benutzen A u t o r e n wie F o u q u é die erzählende Autobiographie dazu, um erlebte Wirklichkeit zu verklären, so ist der f ü r die erzählende A u t o b i o graphie der Biedermeierzeit so bezeichnende R ü c k z u g der A u t o r e n hinter eine fingierte Schreibsituation und die damit verbundene Beschränkung auf die Darstellung des (scheinbar) U n b e d e u t e n d e n in einer Reihe von A u t o biographien durchaus auch als bewußte Reaktion auf die in weiten Teilen des Deutschen Bundes herrschenden politischen Verhältnisse und die sie stabilisierenden Institutionen zu verstehen. So rechnet selbst eine politisch sicher unverdächtige Schriftstellerin wie Caroline Pichler mit Eingriffen der überall und immer präsenten Zensur, 1 6 0 w e n n sie zu Beginn ihrer A u t o b i o -

158

159 160

Lebensgeschichte des Barons Friedrich de ia M o t t e Fouque. Aufgezeichnet durch ihn selbst. Halle 1846, S. 170/171. Lebensgeschichte des Barons de la M o t t e Fouque. S. 111 ff., S. 269. Vgl. dazu auch: Schenda: Volk o h n e Buch. S. 91 ff. H o u b e n , Heinrich H u b e r t : D e r

197

graphie v o n den Schwierigkeiten spricht, die ihr bei der Veröffentlichung einiger, drei bis vier Jahrzehnte zurückliegender »Zeitumstände« begegnen werden: Darum auch können diese Blätter nicht leicht durch den Druck bekannt gemacht werden, denn erstens würde die Lesewelt, welche Unterhaltung und Aufregung sucht, von der Einfachheit der Erzählung ermüdet werden, und zweitens ist es der eigentliche Zweck dieser Schrift, wahr zu sein und meinen nächsten Geliebten zu zeigen, wie ich das geworden, was ich war, durch welche Einwirkungen, Umgebungen, Belehrungen, Irrtümer und Hindernisse mein Geist und Gemüt die Richtung erhalten haben, die ihnen jetzt eigen ist. Bei diesen Auseinandersetzungen müssen Personen, Bücher, Zeitumstände und vor allem Zeitgeister geschildert und deutlich gemacht werden, von denen aufrichtig und nach gerechter Würdigung zu reden, jetzt nicht mehr erlaubt ist. Ein Büchelchen, das die Zeiten Kaiser Joseph II. und der Begriffe, welche in jenem merkwürdigen Dezennium in Osterreich gang und gäbe geworden sind, mit Wahrheit, wenn auch nicht mit durchgängiger Billigung erwähnen und die Wirkung schildern will, die jene Zeit auf ein junges, lebhaftes Gemüt ausübte, dessen geistige Entwicklung von 10 bis 20 Jahren genau in jene Periode fiel, ein solches Buch darf keine Hoffnung nähren, wie harmlos es übrigens sein möge, jetzt in Osterreich gedruckt zu werden. 161 Es ist bezeichnend f ü r die Kleinlichkeit der österreichischen Zensur, daß diese Passage in der ersten Ausgabe v o n 1844 fehlt und erst in der v o n Blümel mit großer Sorgfalt betreuten Ausgabe v o n 1 9 1 4 enthalten ist. Historische und politische Gegenstände meidet man besser; >GesellschaftlichesAsthetische(n) Feldzüge(n)ihr der Geist beständig auf der H ö h e der Zeit schweben m u ß und die neuesten Ansichten des Lebens und der K u n s t vorgebracht werden müssenVorsehung< oder >Schicksal< werden nicht nur von Theologen wie Wilhelm Pähl für die Deutung des eigenen Lebenswegs bemüht. 166 Das Schwelgen in Belanglosigkeiten findet freilich spätestens seit Mitte der 30er Jahre nicht nur Zustimmung; die Rezensionen verlangen vom Autobiographen zwar durchaus ein Erzählen der eigenen Lebensgeschichte, steigern aber ihre Ansprüche in Bezug auf den Gegenstandsbereich; so werden z. B. diejenigen Texte zunehmend freundlicher behandelt, die von historiographischen Intentionen geprägt sind und die Darstellung und Erörterung politischer und gesellschaftlicher Probleme nicht allein dem >Zeitroman< überlassen wollen. 167 Einer der profiliertesten Autoren, der diese Probleme sowohl im Roman (>EpigonenMünchhausenMemorabilien< nicht nur den Trend der deutschen Autobiographik zur Historiographie, sondern auch zu der bereits in Ansätzen angedeuteten Vermischung von verschiedenen Gegenstandsbereichen und der sie in verschiedener Weise artikulierenden Sprechweisen besonders deutlich erkennen lassen.

165

»Wenn jemand sein Leben für das Publikum schreibt, so pflegt dies große Handlungen des Verfassers, die der Weltgeschichte angehören, oder doch Abenteuer zur Unterhaltung für die Lesewelt darin zu erwarten. Das meinige enthält nichts von diesen, und doch glaube ich, daß es so erzählt, als ich mir vorgenommen habe, belehrend und unterhaltend sein wird.« Denkwürdigkeiten aus dem Leben eines G e schäftsmannes,

Dichters

und

Humoristen

herausgegeben

von

J . L . Schwarz,

Leipzig 1828, S . 3 . 166

Pähl, Wilhelm: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben und aus meiner Zeit. T ü bingen 1840.

167

»Endlich k o m m t doch das M e m o i r e n = S c h r e i b e n unter den Deutschen in die Mode, und die Blödigkeit und Angst vor dem Publikum, und die vornehm thuende G e heimnißkrämerei hört je mehr und mehr bei denen auf, die im Stande sind, über die Zeit zu schreiben, weil sie der Quelle der Ereignisse näher standen. Hätte das vorige Jahrhundert mehr solche ungenirte und kräftige Federn gehabt, wie sie der Freiherr von Pöllnitz zu Anfang desselben, oder wie sie um die Mitte desselben die geistreiche Markgräfin von Anspach, Friedrichs des G r o ß e n Schwester führte, so würde uns die innere Geschichte der deutschen Kabinette, H ö f e , Stände, kurz alles, was im vorigen Jahrhundert die eigentliche Geschichte ausmachte, bei weitem klarer seyn.« Literaturblatt zum Morgenblatt 1853, S. 297.

199

6.5.

6.5.1

Zerfallserscheinungen des erzählenden Typus um die Mitte des 19. Jahrhunderts Das Schwanken zwischen szenischem Erzählen und berichtender Historiographie: Karl Immermanns >Memorabilien
Bezüge, Zustände und Erinnerungen auch meinem Geschichts- und Sittenmärchen hier und da jemand zuhorchen! 1 6 8

D e r >ErzählerMemorabilienMemorabilien< hat Immermann nur vier geschrieben und eigentlich nur den ersten (>Die Jugend vor fünfundzwanzig JahrenMemorabilien< als ein gewaltiger T o r s o von über 400 Seiten, bestehend aus den (erwähnten) >Knabenerinnerungen< (>Die Jugend vor 25 JahrenMaskengespräch< (>Düsseldorfer AnfängeMemorabilien< vorgesehen und sind von daher mit Recht von den Herausgebern der

168

Immermann, Karl: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. B . v . W i e s e . Frankfurt a. M. 1973. Bd. 4, S. 357. Nach dieser Ausgabe (Bd. 4, S. 3 5 5 - 7 4 6 ) werden die >Memorabilien< im folgenden zitiert.

169

Die >Memorabilien< waren seit 1836 geplant (»Düsseldorfer StudienMemorabilien< sind bis in die Gegenwart hinein recht zurückhaltend aufgenommen worden. Dafür ist nicht zuletzt eine dem Text immer wieder zugeschriebene Orientierung an >Dichtung und Wahrheit< verantwortlich, 1 7 0 die Vergleiche mit Goethes Autobiographie herausforderte, Vergleiche, welche meist zuungunsten der wenig kohärenten und unvollendet gebliebenen >Memorabilien< ausgefallen sind. Diese Zuordnung und die aus ihr resultierende Wertung ist insofern verwunderlich, als Immermann, trotz seiner unbestrittenen Goetheverehrung 1 7 1 und der damit verbundenen hohen Einschätzung von dessen Autobiographie, mit der Produktion seines Textes erkennbar ganz andere Intentionen verband als sein von ihm bewundertes literarisches Vorbild; schließlich ist er bereits in seinen frühen Planungen der >Memorabilien< von verschiedenen Sprecherrollen ausgegangen, die ihm Distanz sowohl zur eigenen Vergangenheit als auch gegenüber der Schreibgegenwart ermöglichen sollten. 1 7 2 Wenn also die oben genannten Teile dieses Textes relativ unverbunden nebeneinanderstehen, dann ist das nicht nur, wie bislang von der Forschungsliteratur einmütig behauptet, 1 7 3 durch biographische Gründe oder darstellungstechnische Schwächen zu erklären. Vielmehr wird im folgenden zu zeigen sein, daß das Fragmentarische, also im Sinne der Romantik das >Arabeske< dieses Textes, 1 7 4 Ergebnis bewußt eingesetzter darstellerischer Verfahren ist, die ihrerseits von bestimmten Sprechhandlungstypen beeinflußt sind.

Dem

Wunsch der >Gegenwart< nach >Erzählung auf Erzählung< k o m m t Immermann nicht durch eine einheitlich organisierte narrative Gestaltung der eigenen Vergangenheit nach, sondern durch deren Vergegenwärtigung mittels eines komplizierten Geflechts verschiedener sprachlicher Handlungen. Diese Differenziertheit beruht u. a. darauf, daß sich der Autobiograph im Verlauf seines »Erzählens« innerhalb sehr verschiedener kommunikativer Ebenen bewegt. Jeder der drei genannten Teile besitzt eine besondere kom-

170

Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung. S. 52 ff. Wiese, B e n n o v . : Karl Immermann. Sein Leben und sein W e r k . Bad H o m b u r g v. d. H . / Berlin / Zürich 1969, S. 252. Windfuhr: Immermanns erzählerisches W e r k . S. 207, urteilt viel differenzierter.

171

U . a. erkennbar an der N ä h e des frühen Kurzromans >Die Papierfenster eines E r e miten« zum >Werther< und derjenigen der >Epigonen< zu >Wilhelm Meisters LehrjahreDie Papierfenster eines Eremiten*).

201

munikative Struktur, seine besondere Sprecherrolle, seine besondere Beziehung zum intendierten Leser, zum dargestellten Sachverhalt usw. Auch der Gegenstand dieser Vergangenheitsdarstellung ist jeweils ein anderer: Ist es in >Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren« eine besonders bedeutsame Epoche der nationalen Geschichte, so in den >Düsseldorfer Anfängen« vor allem eine bestimmte Phase aus der literarischen Tätigkeit Immermanns, während das Kapitel >Grabbe< die Begegnung mit und die Beziehung zu einer bestimmten Person thematisiert.

Ich werde in meine Schilderungen viel Individuelles verweben, werde mich sogar nicht scheuen, mit Knabenerinnerungen zu beginnen. — >Memoiren also!< — Nicht so ganz. Mein Leben erscheint mir nicht wichtig genug, um es mit allen seinen Einzelheiten auf den Markt zu bringen, auch habe ich noch nicht lange genug gelebt, um mir den rechten Uberblick zutrauen zu dürfen. Ich werde vielmehr nur erzählen, w o die Geschichte ihren Durchzug durch mich hielt (S. 374).

Diese Zeilen gehören zu den berühmt gewordenen und deshalb gern und häufig zitierten Passagen aus Immermanns Autobiographie. Sie werden besonders dann in Anspruch genommen, wenn es darum geht, die berichtende, die Person des Autobiographen vernachlässigende Diktion der >Memorabilien< zu unterstreichen. Freilich wird dabei zum einen meist übersehen, daß sie dem >Avisbrief< entstammen, also vornehmlich auf den ersten Teil der >Memorabilien< zu beziehen sind, und zum anderen nicht bemerkt, daß Immermann bereits in diesem ersten Teil, der J u g e n d vor fünfundzwanzig Jahren«, den mit ihnen so nachhaltig betonten Gestus der berichtenden Historiographie immer wieder bewußt vernachlässigt. Gegenstand dieses ersten Teils der >Memorabilien< ist gleichermaßen die Gegenwart und die Vergangenheit des Autobiographen. Dabei scheint die Darstellung der letzteren die oben angekündigte Zurücknahme der eigenen Person zunächst zu bestätigen, präsentiert doch der Autor die Phase der eigenen Jugend vor allem deshalb, weil sie mit für Deutschland höchst gravierenden historischen Ereignissen zusammenfällt, nämlich den Napoleonischen Kriegen: Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren! — Was heißt das? das soll die Jugend heißen und bedeuten, welche am vierzehnten Oktober 1806 mindestens zehn Jahre und höchstens sechzehn Jahre alt war, welche also am dritten Februar 1813 die siebzehnjährigen bis zu den dreiundzwanzigjährigen Menschen des Volks ausmachte (S. 361).

>Jugend< meint hier also neben der eigenen Jugend vor allem die Generation, der Immermann angehört, eine Generation, die durch die im Zitat genannten zwei Daten in hohem Maße geprägt worden ist: 202

Man sieht aus der Nennung jener Tage, daß hier die Jugend von Norddeutschland gemeint ist. D e n n am ersten wurde Norddeutschland umgeworfen und, soweit es den Fremden möglich war, in seinem Dasein zerstört, am zweiten aber begann der Wiederaufbau durch die Gesamtkraft der Nation in die Sichtbarkeit zu treten (S. 361).

Das die Autobiographie veranlassende Denkwürdige ist nicht allein das vergangene Erleben eines Individuums, sondern die Besonderheit einer bestimmten geschichtlichen Phase; die »individuellen Striche< dienen weniger der Kennzeichnung des Autobiographen als vielmehr der Individualisierung historischer Vorgänge. Die eigene vita ist dabei als Bestandteil übergeordneter historischer Entwicklungen gesehen, deren Phasen häufig mit bestimmten

Herrscherpersönlichkeiten

identifiziert werden,

z. B.

Gustav

Adolf von Schweden oder Friedrich II. von Preußen. Die Darstellung ist so angelegt, daß dem Knaben fast nur historisch Bedeutungsvolles begegnet, entscheidend sind hier natürlich die Ereignisse der Napoleonischen Kriege. D i e wenigen selbstanalytischen Passagen sind Bestandteile einer Legitimation des historiographischen Interesses und entspringen nicht einer anthropologisch begründeten Neugier an der eigenen Person. Immermann verbirgt hier die eigene Person hinter der Darstellung anderer Personen; auffallend ist in diesem Zusammenhang die Stilisierung der Vaterfigur. Es ist schon mehrfach darauf verwiesen worden, 1 7 5 daß Immermann in den >Memorabilien< kaum auf die einzelnen Stadien seiner Sozialisation in Familie und Schule eingeht, obwohl er der Familie innerhalb dieses ersten Teils seiner Autobiographie eine ausführliche theoretische Abhandlung widmet. D i e einzige Person, die als Vorbild und Erziehungsinstanz detailliert vorgestellt wird, ist der Vater. Erzieher ist dieser freilich keineswegs in der Weise, daß er den Knaben etwa wie Goethes Vater mit den verschiedensten Bereichen der Lebenswelt vertraut gemacht hätte, das scheint bei der Gestaltung dieser Figur auch nicht die Intention des Autobiographen Immermann gewesen zu sein. Vielmehr stilisiert dieser die Vatergestalt als Vermittlungsinstanz nationaler, insbesondere preußischer Geschichte. In seiner Gestalt manifestiert sich der Versuch, private und öffentliche Sphäre in einer Person beispielhaft zu verschmelzen, ein Verfahren, das in der berichtenden Autobiographie nach der Jahrhundertmitte entscheidende Bedeutung erlangen wird. Auch als Familienoberhaupt erscheint der Vater geprägt von seiner gesellschaftlichen Rolle als preußischer Offizier und Beamter. D e r Vater ist absolute Autorität; Anordnungen an das Kind gleichen Befehlen, ihr N i c h t beachten wird unnachsichtig bestraft ( z . B . die verbotene Lektüre eines Corneille-Dramas). Die Art der Porträtierung demonstriert, daß diese Vermittlung noch während des Schreibens der Autobiographie virulent ist,

175

Aichinger: Künstlerische Selbstdarstellung. S. 52.

203

deutlich erkennbar an der sprachlichen Wiedergabe der väterlichen Reaktion auf eine vom Knaben Karl Immermann im Verlauf eines Tischgesprächs gestellte Frage nach dem jetzigen Erzbischof von Magdeburg«: Hierauf sah mich mein Vater mit einem Blicke an, den ich nie habe vergessen können. Er hatte hellblaue Augen, die eines blitzenden Ausdrucks fähig waren. Diese blitzenden blauen Augen auf mich werfend und auf mir ruhen lassend, sagte er ganz ruhig und gehalten, aber so, daß mir der Ton durch Mark und Bein ging: >Das Erzstift ist lange aufgehoben und zum Herzogtum Magdeburg gemacht. Der König von Preußen ist Herzog von Magdeburg« — (S. 388).

Auf Grund der von tiefer Bewunderung geprägten Stilisierung kann auch keine Rede davon sein, daß sich Immermann hier an Goethes Zeichnung der Vaterfigur in >Dichtung und Wahrheit« orientiert hätte, dazu sind seine Charakterisierungen viel zu undifferenziert und zu unkritisch. Anders als der die Vatergestalt ironisierende, ihr distanziert gegenüberstehende Goethe bleibt der Vater für den Immermann der >Memorabilien< Autorität und Orientierungsinstanz auch für späteres Handeln. 176 Ein weiteres Indiz für die Zurücknahme der eigenen Person ist darin zu sehen, daß sich Immermann in der Darstellung der eigenen Vergangenheit selten als handelndes Subjekt präsentiert, sondern immer wieder als Objekt der Handlungen anderer. Das gilt in Bezug auf den Vater ebenso wie für das wiederholt angesprochene Betroffensein von den politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen während der Napoleonischen Kriege. Selbst dort, wo er sich als Handelnder profilieren könnte, z. B. in den Erzählungen über Onkel Yorick, >versteckt< er sich hinter seinen Altersgenossen. Sprachlicher Ausdruck dieses Verhaltens ist die Verwendung des Personalpronomens: nicht die erste Person Singular, sondern die erste Person Plural bestimmt die sprachliche Diktion. Das ist gerade in diesem Kapitel, das die historiographische Komponente in den Hintergrund drängt, besonders auffallend. Offensichtlich ist auch für den Autobiographen Immermann das Individuum nur dann einer sprachlichen Darstellung würdig, wenn es nicht in seiner Vereinzeltheit und reinen Subjektivität erscheint, sondern als Repräsentant eines durch soziale, sittliche, religiöse und nationale Bindungen verbundenen Ganzen. Nicht der viele Autobiographien und vor allem den Bildungsroman seit Beginn des 19. Jahrhunderts prägende Antagonismus von Ich und Welt sowie der Versuch seiner Uberwindung mittels sprachlichen und instrumentalen Handelns ist hier Gegenstand des autobiographischen Schreibens; vielmehr bestimmt eine schon immer bestehende Bindung des 176

Deshalb ist nicht ganz verständlich, worin Benno v. Wiese eine »Ähnlichkeit zwischen Goetheschem und Immermannschem Elternhaus und seinem Familienleben« erkennen kann (v.Wiese: Karl Immermann. S.252).

204

Individuums an Familie, V o l k und N a t i o n die Wiedergabe persönlicher Vergangenheit in den >KnabenerinnerungenKnabenerinnerungen< relevant. D i e s e R e d u k t i o n des Einzelsubjekts zugunsten von Kollektivsubjekten ( V o l k , S t a m m etc.) begegnet auch bei der Darstellung und Charakterisierung anderer Personen und deren H a n d l u n g e n ; z. B . ist nach I m m e r m a n n s Auffassung als Fichtes eigentliche Leistung nicht so sehr dessen Transzendentalphilosophie, sondern das politische Handeln in F o r m der >Reden an die deutsche Nation< anzusehen. Das Z u r ü c k n e h m e n der eigenen Person erreicht spätestens dann seinen H ö h e p u n k t , w e n n sich I m m e r m a n n in seiner A u t o b i o g r a p h i e dafür entschuldigt, daß dieser T e x t mit den >Knabenerinnerungen< beginnt und die eigene Person z u m Gegenstand der Darstellung m a c h t : Bei einem allgemeinen Sitten- und Charakterbilde, wie ich es zu geben versuchen werde, ist es nun sogar notwendig, von der Person des Zeichners auszugehen, wenn es die rechte Wahrheit erhalten soll. Der Held, der Kriegeszug, die Friedensunterhandlung ist durch Abhörung von Zeugen oder Einsicht der Urkunden noch allenfalls herzustellen. Dagegen lernt man die Sitte, Stimmung und Strömung einer Zeit nur dadurch kennen, daß man mit ihr lebt, und auf die Weise lernt man sie kennen, wie man mit ihr zu leben wußte. Sie ist wie die Harmonie von Blättergesäusel, Blumennicken, Lüfteziehen, Nachtigallenschlag und Getön fern arbeitender Menschen an einem Frühlingstage; oder von Meeres wogen, Möwenschrei und Vorüberfahren einsam gespannter Segel am Strande etwas Unendliches, Zerrinnendes, ewig sich Wandelndes, welches nur in den Organen des Beschauers Abschluß und Umrahmung erhält. Hier ist also die subjektive Darstellung die beste, weil sie die ehrlichste ist (S. 375). 177 D i e s e »subjektive Darstellung«, die ja häufig genug von der berichtenden D i k t i o n verdrängt wird, ist v o r allem in denjenigen Passagen b e m e r k b a r , welche die G e d a n k e n I m m e r m a n n s zu Familie, L e h r e , Literatur und D e s potismus zur Sprache bringen. I m R a h m e n dieser Reflexionen über >Erziehungsmitteh, die seiner Auffassung nach die J u g e n d vor fünfundzwanzig Jahren besonders geprägt haben, arbeitet er seine Position als A u t o b i o g r a p h p r o n o n c i e r t heraus und akzentuiert die subjektive Färbung seiner Argumentation nachhaltig durch Kontrastierungen: 177

Hervorhebungen im Original. 205

In der T a t , ich halte es f ü r eine der schwierigsten A u f g a b e n , unseren Familiengeist, diesen P r o t e u s , z u bannen, daß er R e d e steht. U n d d o c h ist er da, s o g a r weit m e h r da, als andererorten, denn die F a m i l i e bedeutete v o n jeher mehr bei u n s , als bei den übrigen V ö l k e r n . Polen u n d R u s s e n haben nur eine A r t v o n C o n t u b e r n i u m , Spanier u n d Italiener allenfalls den Instinkt, der sich der K i n d e r a n n i m m t . Bei den F r a n z o s e n herrscht d a g e g e n u m g e k e h r t eine e h r f u c h t s v o l l e Pflege des Alters, wie noch neuerdings A l l e t z in seinem W e r k e ü b e r die Sitten u n d die M a c h t der Mittelklassen in Frankreich b e z e u g t hat. T ö c h t e r i n s b e s o n d e r e , die ihre Väter leidenschaftlich verehren, sind d o r t nicht selten: die Staël war in dieser B e z i e h u n g kein P h ä n o m e n , s o n d e r n nur ein eminentes Beispiel. D a g e g e n ist die E h e , welche d o c h i m m e r der eigentliche Pulsschlag des H a u s e s bleibt, d o r t auch g a n z entzaubert, dürr u n d heruntergebracht. Grisetten und F r e u n d i n n e n befriedigen — nicht die W o l l u s t — s o n d e r n d a s H e r z . E i n e Liederlichkeit des H e r z e n s nennt Alletz den Z u s t a n d . E s gibt eine M e n g e derartiger V e r b i n d u n g e n , an welchen die Sinne k a u m einen Anteil haben, wenigstens keinen entscheidenden (S. 407/408).

Die chauvinistisch gefärbte Argumentation soll offensichtlich nicht nur die eigene konservative Position des Erzählers deutlich markieren, sondern auch Antworten provozieren, bringt somit diesen Text t e i l der >Memorabilien< — aber auch nur diesen — in die Nähe bekennender Rede. Dem korrespondiert, daß er in hohem Maße von dem bestimmt ist, was Bachtin den >aktiven Typus der zweistimmigen Rede< genannt hat: er ist durchsetzt von Wertungen, Antizipationen, rhetorischen Fragen, 178 Vorbehalten und >Krümmungen< anderer Art (>ich glaube, daß .. .ich fechte hier nicht mit Windmühlenman wende nicht ein< etc.). Im Rahmen dieser polemischen Rede kommt es allerdings auch zu deutlichen Kontrastierungen auf der Zeitebene, macht doch Immermann den für die berichtende Autobiographie charakteristischen Gegensatz zwischen Schreibgegenwart und dargestellter Vergangenheit für die Analyse dieser Gegenwart und eine damit verbundene Zeitkritik fruchtbar, wodurch die erwähnten Ansätze zum Bekennen sofort wieder zurückgenommen werden. Schreibsituation und dargestellte Vergangenheit stehen nicht so sehr als bestimmte Entwicklungsphasen eines Individuums in einem Folgeverhältnis — dazu ist die narrative Vermittlung zwischen beiden zu sporadisch —, sondern als Pole einander gegenüber, wobei das >einst< im Rahmen der zeitkritischen Analyse eine deutliche Privilegierung erfährt. Diese Zeitkritik entspringt einem tiefgreifenden Unbehagen an der Gegenwart und konstatiert hinsichtlich des Zustands der deutschen Familie um die Mitte des Jahrhunderts verschiedene Mangelerscheinungen wie das Fehlen ehelicher Liebe, mangelndes Zusammengehörigkeitsgefühl der Familienmitglieder und eine zu liberale Kindererziehung. 179 Der Zeitkritik steht ein Bericht über die als positiv gewerteten patriarchalischen Familienverhältnisse vor fünfundzwanzig Jahren gegenüber, 178

I m m e r m a n n : M e m o r a b i l i e n . S. 428.

179

I m m e r m a n n : M e m o r a b i l i e n . S. 4 3 0 f f .

206

i n n e r h a l b d e s s e n d e r R e s t d e r > K n a b e n e r i n n e r u n g e n < als F r a g m e n t einer b e r i c h t e n d e n A u t o b i o g r a p h i e P l a t z erhalten hat u n d hier lediglich eine k o n k r e t i s i e r e n d e F u n k t i o n b e s i t z t . I m m e r m a n n f o r m u l i e r t dies z u B e g i n n des z w e i t e n T e i l s d e r >Jugend v o r f ü n f u n d z w a n z i g Jahren< g a n z o f f e n : Ich für meine Person bin in der allerstrengsten Weise auferzogen worden, und da das, was ich erfahren, wie eine Spitze des alten Systems sich ausnimmt, so will ich einige Erinnerungen mitteilen (S. 442). I m m e r m a n n s A u s f ü h r u n g e n ü b e r die E r z i e h u n g w e r d e n d a b e i n o c h m a l s d u r c h einen B e r i c h t ü b e r d a s V e r h ä l t n i s z u m V a t e r k o n k r e t i s i e r t (die M u t t e r w i r d nicht einmal e r w ä h n t ) , ein V e r h ä l t n i s , d a s s e l b s t d e m S t u d e n t e n I m m e r m a n n n o c h a b s o l u t e n G e h o r s a m a b v e r l a n g t e , u n d d i e s s o g a r bei K o n stellationen, die ein U b e r t r e t e n väterlicher >Befehle< g e r a d e z u v e r l a n g t e n . 1 8 0 D e r B e r i c h t ü b e r F o r m e n väterlicher S t r e n g e — nicht u m s o n s t b e m ü h t I m m e r m a n n in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g die G e s t a l t des T i t u s M a n l i u s , der d e n eigenen S o h n w e g e n der N i c h t b e a c h t u n g eines

Zweikampfverbotes

hatte hinrichten l a s s e n 1 8 1 — v e r d e u t l i c h t nicht allein die als richtig u n d n ü t z lich e m p f u n d e n e n E r z i e h u n g s p r i n z i p i e n , 1 8 2

s o n d e r n s t ü t z t eine

Gesell-

s c h a f t s k r i t i k , d i e u. a. in der H i n w e n d u n g z u f a m i l i a l e n U m g a n g s f o r m e n der V e r g a n g e n h e i t einen A u s w e g aus g e s e l l s c h a f t l i c h e n U m g a n g s f o r m e n er180

181 182

So war Immermann im April 1813 von seinem Vater zum Jurastudium nach Halle beordert worden, mit der Auflage, ein Jahr lang zu Hause nicht zu erscheinen. Als Napoleon die Universität im Juli des gleichen Jahres aufgelöst hatte, sah Immermann keine andere Möglichkeit, als ins elterliche Haus nach Magdeburg zurückzukehren. Zu dieser letzten Begegnung zwischen Vater und Sohn (der Vater starb einige Monate später) Immermanns Bericht: »Sobald ich aber unser Haus betreten hatte, überfiel mich die Ahnung, daß ich auf gefährlichem Boden stehe. Beklommen erwartete ich die Rückkunft meines Vaters, der sich in seinen Geschäften auf der Präfektur befand. Als er kam, trat ich ihm begrüßend entgegen. Er maß mich mit seinen Augen, lehnte die Annäherung ab und sagte mit festem Akzent: >Ich habe dir verboten, während des ersten Jahres nach Hause zu kommen. Du wirst dich hier ausruhen, wenn das geschehen, aber zurückkehren, wohin du gehörst und für dich studieren, bis ich über dich anderweit bestimmt habe-. Dabei blieb es denn auch. Ich verweilte zwei Tage in Magdeburg, bestand vor meinem Vater ein juristisches Tentamen und kehrte dann in die Lücke zurück, welche eine Hochschule früher ausgefüllt hatte.« Immermann: Memorabilien. S.451. Immermann: Memorabilien. S. 452. »Strenge Erziehung ist daher ein Segen und eine Ausstattung für alle Tage. Der, dem sie wurde, erlebt in sich die Erziehung des Menschengeschlechts, in welcher das Geheiß, Isaak zu opfern, und der Gesetzesdonner vom Sinai auch frühere Stufen waren, als das sanfte Joch des Menschensohnes. Sie richtet ihm sein Lebensgebiet zu einem Gebirge mit festen Umrissen zu und macht ihn selbst zum Gebirgsmanne, während ein weiches und breiartiges Element leicht in die Ebene verlaufen macht, darin die stumpferen und langsameren Stämme wohnen.« Immermann: Memorabilien. S. 453. 207

blickt, die durch oberflächliche Bildung, hohles Gerede und hektische Betriebsamkeit gekennzeichnet sind. Ahnlich, allerdings unter noch geringerer Berücksichtigung der eigenen Vergangenheit, verfährt Immermann in Bezug auf Themen wie Erziehung, Literatur und Philosophie. 183 Dabei tritt die narrative Wiedergabe der eigenen Vergangenheit in diesem Teil der >Memorabilien< in den Hintergrund; die Autobiographie wird hier zum sozialpolitischen Traktat. Die berichtende Darstellung persönlicher Vergangenheit erscheint lediglich dann, wenn Immermann über die sprachliche Reproduktion konkreter Handlungen und Ereignisse aus dieser Vergangenheit potentiellen Lesern Identifikationsangebote macht, um die seiner Kritik an der Gegenwart dienenden Behauptungen plausibel und akzeptabel erscheinen zu lassen. Orientiert an der zu Beginn der >Memorabilien< skizzierten orientalischen Erzählsituation< verbleibt nun allerdings Immermann nicht in der Rolle des Zeitkritikers, sondern befaßt sich im Kapitel >Mein Oheim< detailliert, bewußt umständlich 184 und ohne zu enge Rücksicht auf genaue Verifizierbarkeit des Gesagten mit seinem »Onkel Yorick«, einem liebenswürdigen Kauz, »de(m) Puck, de(m) Prospero, de(m) Graf Hoditz unserer Jugend«. 185 Der Autobiograph vertauscht die >Feder< des Historiographen bewußt mit derjenigen des Erzählers und versucht dies zunächst mit dem Hinweis auf die Gegenstände autobiographischer Darstellung zu erklären: Ich habe die früheren Abschnitte mit Federn geschrieben, welche kurze Spalten hatten und vorn mehr breit als spitz abgekappt waren, gegenwärtig schnitt ich mir ein halbes Dutzend mit langen Spalten und nachgiebigen Spitzen. Einige darunter haben auch Zähne. >Wozu diese kleinliche Bemerkung?< Dazu, Herr Doktor, um Ihnen zu erklären, warum >Mein Oheim< anders geschrieben wird als der >Avisbrief< und auch anders als die >Knabenerinnerungen< und >Die FamilieMemorabilien< erörtert werden soll. Zudem ist B. v. Wiese in seiner Arbeit über Immermann ausführlich auf die Inhalte dieser Ausführungen eingegangen (v. Wiese: Karl Immermann. S. 2 5 8 f f . ) . »Ich will es machen, wie Tristram Shandy es mit seinem Onkel Toby machte, ich will ihn beschreiben, dadurch daß ich sein Steckenpferd beschreibe. Die A r t der Schilderung, welche darin besteht, daß man sagt, was ein Ding nicht sei, scheint mir eine ganz vortreffliche zu sein . . . Ich will deshalb, Herr Doktor, zuvörderst Ihr Vakuum erweitern, und Ihnen vertrauen, was meines Onkels Steckenpferd nicht war.« Immermann: Memorabilien. S. 457. Immermann: Memorabilien. S. 461.

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»Sie scheinen des trockenen Tones satt, und der großen Verheißungen in der Einleitung müde zu sein«. Nein, Herr Doktor. Aber der Weltgeist stimmt keinen trockenen Ton an, er schlägt zu gleicher Zeit alle Töne an, von dem Brummbaß der Kanonen bis zum Diskant der Pickelflöten hinauf, . . . er ist der moderne Tragiker, der auch in den ernstesten Katastrophen dem Gracioso seine Mission erteilt. Ein Mann, der im Begriff ist, de bonne foi an seinen Schreibtisch zu treten, setzt sich weiter gar nichts vor, als die Feder gerade so zu schneiden, daß sie den Ton ungefähr treffen kann, den der Weltgeist bei der und der Passage anschlug (S. 454/ 455).

Der erzählende >Ton< dieses Kapitels läßt die vom > Weltgeist« angeschlagenen hellen Töne dieser Kindheit und Jugend erklingen. Die Welt des Oheims ist die der Feste, der Spiele, der Phantasiebauten, der >Steckenpferde< mannigfaltigster Art, eine Welt, in die sich der junge Immermann nur zu gern hineinziehen ließ. Von daher ist die Gestalt des Oheims ein bewußt konstruiertes Gegenbild zur düsteren Vatergestalt, 186 ist die ironisierende Darstellung der Theateraufführung während des Geburtstags des Onkels ein fröhliches Präludieren der bei Immermann früh erkennbaren Neigung zu Literatur und Theater. Diese die >Memorabilien< prägende Polyphonie, die sie bestimmende Mischung von Raisonnement, Bericht und Erzählung ist nicht allein durch den mit Hegels > Weltgeist«187 motivierten Hinweis auf die Vielfalt der vom Historiographen zu bewältigenden Gegenstände zu rechtfertigen. Die Vielstimmigkeit dieses autobiographischen Textes gründet vielmehr in verschiedenen Schreibsituationen, durch deren Gestaltung Immermann seine Doppelexistenz als Künstler und preußischer Beamter nachhaltig unterstreicht. Besonders gut illustriert ist die Künstlerexistenz nun im zweiten Teil der >MemorabilienMemorabilien< und eigentlich nur über die in der Vorrede explizit vorgenommene Zuweisung als Teil dieser Autobiographie identifizierbar ist. 1 8 8 Ein schwarzer, ein roter und ein blauer D o m i n o diskutieren im ersten Abschnitt dieser »Gespräche« über die sich aus dem Anschluß der Rheinlande an Preußen ergebenden politischen und juristischen Probleme sowie über den Zustand der Rheinlande vor, während und nach der französischen Besetzung. Erst danach befaßt man sich mit den >Düsseldorfer Anfängen< des schwarzen Dominos, der hier, deutlicher als im ersten Abschnitt, über Kennzeichnungen und singuläre Ausdrücke als der Autor und Theaterintendant Immermann erkennbar gemacht wird; mittels gleicher Verfahren werden die zwei anderen Dominos als die Freunde Uchtritz und Schnaase >entlarvtMemorabilien< die Situation, aus der heraus von Vergangenem erzählt wird, recht stark akzentuiert ist, unterscheidet sich seine kommunikative Struktur von derjenigen der >Jugend vor fünfundzwanzig Jahren< in erheblichem Maße. Durch die dialogisch geprägte Sprechsituation werden die dargestellten Sachverhalte aus der Vergangenheit Immermanns mehrfach perspektivisch gebrochen. Vergangenheit wird nicht aus der Perspektive des schwarzen, sondern auch aus derjenigen des roten, blauen und eines nicht identifizierbaren grünen D o m i n o s präsentiert, umgedeutet, bewertet. Die autobiographische Rede des schwarzen D o m i n o s wird durch die der anderen immer wieder ergänzt, erweitert, aber auch korrigiert. Durch diese vielfältige mimetische Redewiedergabe erweist sich der Autobiograph Immermann als ein kunstvoller Erzähler, dessen >polyphones Sprechen< zu einer außerordentlich facettenrei188

»Ich stelle zuerst das Genrebild einer früheren stürmischen Generation aus, welche nur noch in sehr gemilderten Überbleibseln vorhanden ist. Anreihen werden sich >Düsseldorfer Anfängen d r a m a t u r g i s c h e Erinnerungen« und vielleicht einige Reisegeschichten.« Immermann: Memorabilien. S. 357.

189

Ausgehend von Auseinandersetzungen zwischen Heine und Platen war es 1829 zwischen letzterem und Immermann zu einer heftigen literarischen Fehde gekommen, die von Immermanns Seite vor allem mittels der Satire >Der im Irrgarten der Metrik umhertaumelnde Kavalier« geführt wurde.

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chen Darstellung vergangener Handlungen und Ereignisse führt. Dabei erklingen nicht nur die Stimmen der Gesprächspartner, sondern auch, neben den sporadischen Einwürfen anderer Festgäste, diejenigen der besprochenen Literaten, diejenigen von Rezensenten sowie die eigenen in Form von Zitierungen aus früheren Schriften. Als erzählender Autobiograph erweist sich Immermann hier also durch die szenische Gestaltung einer Sprechsituation, innerhalb derer er nicht als dominierender, die eigene Vergangenheit allein wiedergebender Erzähler, sondern als Dialogpartner erscheint. Das hat allerdings zur Folge, daß auf Grund der >Vielstimmigkeit< diese Vergangenheit für den Leser kaum noch erkennbar w i r d : so z. B. in der folgenden Passage über den erwähnten Streit zwischen Immermann und Platen: D i e Redenden schwiegen hierauf eine Zeitlang. Endlich sagte der r o t e D o m i n o : >Wir sind v o n Platen ganz abgekommen*. >Bleiben w i r , w o w i r sind*, versetzte der blaue. >Die Erinnerung an eine literarische Streitigkeit hat uns z u r Betrachtung eines großen Dichters geführt. Das ist ein gutes Ziel, v o n dem w i r nicht z u r ü c k g e h e n wollenIch will wenigstens noch einen ausgleichenden

Epilog haltenDer romantische Odipus< scheint in der E r f i n d u n g weit besser zu sein, als die >GabelNun, ich m u ß ein sonderbares Bekenntnis ablegen. Ich habe den >Odipus< nie gelesenNicht gelesen?* >Nein, so m ü ß t e ich a n t w o r t e n , und w e n n d u w i e O r s i n a ausriefest: >Nicht einmal gelesen !< Ich ließ m i r v o n einem Bekannten den Inhalt erzählen, und darauf schrieb ich meinen >Kavalierszenisches< Erzählen vermittelt werden soll, ist die Fähigkeit und Freude Immermanns am Sprechen, am Zusammenklingen verschiedenartiger >TöneDüsseldorfer Anfänge. Maskengespräche< vor allem, die der Malerei und Literatur zugewandte Seite seiner Persönlichkeit vorzustellen. Der letzte Teil der >MemorabilienGrabbe. Erzählung. Charakteristik, Briefe. Bruchstück dramaturgischer Erinnerungen* ist zugleich der am frühesten entstandene dieser merkwürdigen Autobiographie. Er besteht aus acht kurzen Kapiteln, wobei zwischen das siebente und achte eine Sammlung von 54 Briefen Grabbes an Immermann eingeschoben ist, die quantitativ mehr als die Hälfte dieses Teils in Anspruch nimmt. Immermann hatte Grabbe im Jahre 1834 kennengelernt. Grabbe, der sich zu dieser Zeit noch in Frankfurt aufhielt, hatte ihn von dort aus brieflich um materielle und literarische Unterstützung gebeten, da er selbst völlig mittellos war und noch keinen Verleger für seinen >Hannibal< gefunden hatte. Er kam im Dezember 1834 auf Einladung Immermanns nach Düsseldorf, wirkte dort dann vor allem als Rezensent, dessen scharfe Theaterkritiken Immermann jedoch bald verstimmten. Diese Kritiken und persönlichen Mißhelligkeiten führten schließlich 1836 zum Bruch zwischen beiden. Grabbe verließ Düsseldorf und verstarb noch im gleichen Jahr in seiner Heimatstadt Detmold. Der >Grabbe< ist im Jahre 1837, ein Jahr nach Grabbes T o d , geschrieben. Nicht nur die zeitliche Nähe läßt die Schrift als N e k r o l o g erscheinen. Immermann ist vielmehr offensichtlich bemüht, dieser schon zu Lebzeiten bewunderten und umstrittenen Literatengestalt ein objektives und trotz der Differenzen, die beide schließlich einander entfremdeten, freundliches Denkmal zu setzen. Somit ist dieser Teil der >Memorabilien< wieder eindeutig dem berichtenden T y p u s der Autobiographie zuzurechnen. Nicht der Autor Immermann, sondern Grabbe scheint im Vordergrund der Darstellung zu stehen, die Autobiographie nähert sich der Biographie an. Das Bemühen des Autobiographen, die eigene Person weitgehend im Hintergrund zu belassen, zeigt sich besonders auf der Ebene der dargestellten Vergangenheit, die hier in für Autobiographien ungewöhnlich starkem Maße durch eine Wiedergabe von Kommunikationsabläufen geprägt ist. Begründet ist das durch den Erzählgegenstand Grabbe, von dessen großem Mitteilungsbedürfnis Immermann mehrfach spricht (so nahm Grabbe zuweilen mehrmals täglich schriftlich Kontakt mit ihm auf, wenn sie sich einmal nicht persönlich begegnen konnten). Immermann betont diese Tendenz mit dem Wiederabdruck von Grabbes Briefen. Im Zitieren dieser Briefe läßt er Grabbe zu Wort kommen und tritt zugleich selbst in den Hintergrund, weil er als Briefpartner nicht erscheint. Dadurch verge212

genwärtigt Immermann das Sprechen Grabbes und die begründende Sprechsituation in der Vergangenheit; die gemeinsame Vergangenheit, die er mit Grabbe erlebte, wird also nicht allein in der Perspektive des Biographen wiedergegeben. Wenn Immermann hier auf die Publikation der eigenen Briefe verzichtet, dann ist dies zunächst ein weiterer Beleg für die bereits bei Carus, v. Schwerin, Zschokke u. a. beobachtbare Tendenz der Autobiographen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in ihren Selbstdarstellungen in der Weise als Autobiographen in den Hintergrund zu treten, daß sie ihre Vergangenheit zitieren, eine Tendenz, die als ein wichtiges Indiz für den Dominanzwechsel von der erzählenden zur berichtenden Autobiographie in diesem Jahrhundert zu werten ist. Bei genauerer Betrachtung erweist sich freilich Immermanns Versicherung, er habe Grabbe selbst zu Wort kommen lassen, weil er >seinen Farben und Strichen mißtrauteikonische Charakterbilds das Immermann mit Hilfe des letzten Teils seiner >Memorabilien< schaffen möchte, keineswegs nur Nekrolog, als der es erstmals 1837 veröffentlicht wurde, sondern im Zusammenhang der >Memorabilien< auch indirekte Selbstdarstellung. Immermann gedenkt, sich nicht allein als unbestechlicher und einfühlsamer Beobachter zu zeigen, sondern auch offensichtlich in eine öffentlich geführte Diskussion über sein Verhältnis zu Grabbe einzugreifen. Einige Textstellen 197 lassen erkennen, daß er damit bestimmten Vorwürfen, Grabbe schlecht behandelt oder gar ausgenutzt zu haben, begegnen wollte. Bestandteil der Autobiographie ist dieser Teil auch deshalb, weil Immermann in >Grabbe< noch einmal von der eigenen Tätigkeit als Dramatiker und Dramaturg sprechen kann. So handelt er im Rahmen der kritischen Erörterung seiner Hohenstaufen-Dramen u. a. von seinem >Friedrich IIkatholischen Tendenzen«. In diesen Ausführungen korrespondiert >Grabbe< mit entsprechenden Passagen aus >Düsseldorfer Anfänge«. Ein abschließender Blick auf die >Memorabilien< läßt erkennen, daß die von Immermann am Anfang dieses Textes geäußerte Absicht, >der Gegenwart Stoffe aller Art« zu vermitteln, nicht nur als einleitende Floskel, sondern als gezielter Hinweis auf Besonderheiten von Gegenstand und kommunikativer Struktur dieser Autobiographie zu verstehen ist. Die vielfältigen Gegenstände dieses autobiographischen Schreibens vermitteln auf der Ebene des Dargestellten ein Bild von der Vielfalt der Begegnungen des Autors mit der Lebenswelt, hinter der die Gestalt des Autors oft genug verschwindet, weil der Einzelne und seine Entwicklung als Beispiel und Repräsentant einer bestimmten sozialen Gruppe, einer bestimmten Generation oder eines bestimmten Volkes vorgestellt wird.

196 1,7

Grabbe: Werke und Briefe. Bd. VI, S. 138 (Brief vom 8. 7. 1835). Immermann: Memorabilien. S. 680.

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Das bedeutet, daß die mit dieser Autobiographie vorgenommene Artikulation gemeinsamer Erfahrungen und Erlebnisse als Identifikationsangebot an Angehörige der betreffenden Gruppierungen verstanden werden kann, Identifikationsangebote, die der oben beschriebenen Kritik an der Schreibgegenwart eine breitere Grundlage geben sollen. Vergangenheitsdarstellung im Rahmen der Autobiographie wird so zur Historiographie, die neben den berichtenden auch deutlich erzählende Züge zeigt. D i e Polyphonie des Sprechens verweist dabei auf eine Vielfalt von Begabungen und Neigungen dieses Autobiographen, zugleich aber auch auf jenen, von ihm gerade auch während des Schreibens der >Memorabilien< oft als quälend empfundenen Zwiespalt zwischen der Existenz des preußischen Beamten und der des Künstlers, ein Zwiespalt, der nicht zuletzt dafür verantwortlich sein dürfte, daß für Immermann eine einheitliche, eindeutig auf einen Punkt der Schreibgegenwart beziehbare Darstellung des eigenen Lebens nicht mehr möglich war und die >Stoffe aller Art< nur über >Sprechhandlungen mannigfaltiger Art< zu vermitteln waren.

6 . 5 . 2 . Die Apotheose der Kindheit und der Bruch zwischen Schreibsituation und Vergangenheit: Bogumil G o l t z ' >Buch der Kindheit< D e r in den 20er und 30er Jahren bei vielen Autobiographen beobachtbaren Tendenz zum Fragmentarischen, zur Auflösung des erzählenden Typus in eine beliebig variierbare Anzahl von Einzelgeschichten 1 9 8 ohne durchgehende narrative Verknüpfung entspricht die Neigung vieler Autoren um die Mitte des 19. Jahrhunderts, sich bei der Darstellung ihres Lebens auf einzelne oder gar nur eine Phase ihres Lebens zu beschränken. Bevorzugter Gegenstand autobiographischen Schreibens ist dabei die Kindheit, die als Objekt

eines unterhaltenden

Erzählens

besondere Wertschätzung

ge-

nießt. 1 9 9 Autoren wie Kerner, G u t z k o w , König, Bäuerle, R o h m e r u . a . konzentrieren sich bei ihren autobiographischen Produktionen zunehmend auf diese Entwicklungsphase, was bekanntlich Gottfried Keller zu seiner

198

Vgl. auch: Luden, Heinrich: Rückblicke in mein Leben. J e n a 1847.

199

Vgl. dazu Äußerungen Karl Geroks am Schluß seiner Autobiographie: »Das Tagewerk des Mannes ist kein Gegenstand der Unterhaltung. Die äußere Berufsarbeit ist zu einförmig, das innere Geistesleben zu ernst für das leichte Spiel der Feder. Zeiten, Personen, Verhältnisse, die in die Gegenwart hereinreichen, können nicht so harmlos besprochen werden wie das, was man um ein Menschenalter und länger hinter sich liegen hat. — Das Kind, den Knaben, den Jüngling konnte ich mir aus so weiter Zeitenferne als eine von mir losgelöste Persönlichkeit mit vollkommener Unbefangenheit schildern. D e r Mann steht mir noch zu nahe.« G e r o k , Karl: J u genderinnerungen. Leipzig 1875, S. 377.

215

unwirschen Äußerung über die Mode der »Knabengeschichten« veranlaßt hat, 200 die ja übrigens nicht nur die deutsche Autobiographie des 19. Jahrhunderts bestimmt. 201 Das Interesse an diesem Gegenstand kann zunächst kaum verwundern, ist doch die Kindheit spätestens seit Rousseau häufig genug Bestandteil nicht nur sozialpsychologischer und pädagogischer, sondern auch künstlerischer und kunsttheoretischer Schriften. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang für das späte 18. Jahrhundert die bereits genannten Texte von Karl Philipp Moritz und Jung-Stilling 202 sowie ästhetische Schriften Schillers. 203 Bevorzugt befaßt sich bekanntlich erst die deutsche Romantik mit dieser Thematik, sowohl unter erkenntnistheoretischen als auch geschichtsphilosophischen Fragestellungen. Die Werke solcher Autoren wie Tieck, Wakkenroder oder Novalis gestalten Kindheit nicht so sehr als bestimmte Entwicklungs- und Sozialisationsphase, sondern als Gegenwelt zum Bereich realer bürgerlicher Wirklichkeit. So sind z. B. Kinder als Göttergestalten den Determinationen von Raum und Zeit entzogen; als geschichtslose und geschlechtslose Wesen sind sie Repräsentanten des Goldenen Zeitalters bzw. des Paradieses 204 und führen eine durch keinerlei Regeln und Anforderungen eingeengte konfliktfreie Existenz, frei von Erwerbszwängen und Bedrohungen, im Einklang mit der Natur und allen Lebewesen. Die übrigens nicht nur für die deutsche Romantik so signifikante Reaktivierung des Topos >Paradies — KindheitPhilistertum< 200

201

202 203

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»In meinem Roman (>Der grüne Heinrich«, J. L.) kann ich mich rühmen, daß ich die Menge von Knabengeschichten, die in letzter Zeit erschienen und also an der Zeit zu liegen scheinen, antizipiert und, ohne etwas Besonderliches zu wollen, weit wesentlicher und objektiver aufgefaßt habe als alle die berühmten Herren, . . . « Keller, Gottfried: Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hrsg. v. Carl Helbling. Bern 1950. Bd. 1, S. 374/75. Vgl. z. B. in der russischen Literatur S. Aksakovs >Semejnaja chronika« (Familienchronik) oder L. N. Tolstojs >Detstvo< (Kindheit). Darauf ist in der Forschung zur Autobiographie mehrfach verwiesen worden, z.B. von: Pascal: Die Autobiographie. S. 104—118. Zak, L. : Putesestvie v stranu detstva (Reise in das Land der Kindheit). In: Zizn', iskusstvo, licnost' pisatelja (Leben, Kunst, Persönlichkeit des Schriftstellers). Moskva 1969. S. 1 9 5 - 2 2 5 . Vgl. dazu Kap. 5.3. dieser Arbeit. Wichtig in diesem Zusammenhang sind vor allem Schillers Ausführungen über das Naive zu Beginn der Schrift >Uber naive und sentimentalische Dichtung«. Z.B. bei Brentano — vgl. dazu: Schaub, Gerhard: Le génie enfant. Die Kategorie des Kindlichen bei Clemens Brentano. Berlin / New York 1973, S. 103 ff. Zu der unterschiedlichen Verwendung dieses Topos z. B. bei Fr. Schlegel, Novalis und E. T. A. Hoffmann siehe: Heiner, H.J.: >Das Goldene Zeitalter« in der deutschen Romantik. Zur sozialpsychologischen Funktion eines Topos. In: ZfdPh 91, 1972, S. 2 0 6 - 2 3 4 . Vgl. auch Anm. 23.

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bewirkt eine gerade auch für die deutsche Autobiographik des 19. Jahrhunderts folgenreiche Trennung der Kindes- von der Erwachsenenwelt. 206 Das betrifft in der Literatur der deutschen Romantik vor allem die Darstellungen der die bürgerliche Kleinfamilie prägenden Eltern-Kind-Beziehung, die z. B. im Thematisieren von institutionellen Zwängen und sexuellen Tabuisierungen 207 die Dissonanzen und Differenzen zwischen Kind und Erwachsenem besonders nachhaltig artikulieren. 208 In einer Reihe von erzählenden Autobiographien des 19. Jahrhunderts beruht diese Trennung und die damit verbundene Beschränkung auf die Wiedergabe der Kindheit vornehmlich auf einer stark negativen Akzentuierung der das Erzählen bedingenden Schreibsituation. Diese wird als Erwachsenen- oder Philisterwelt zugunsten eines harmonisierenden Erzählens der eigenen Kindheit abgewertet, eines Erzählens, das dazu häufig genug durch Behauptungen reflektierender Art zum Thema >Kindheit< unterbrochen und bisweilen dadurch völlig in den Hintergrund gedrängt wird. Nirgendwo wird dies deutlicher als in dem 1847 von Bogumil Goltz veröffentlichten >Buch der KindheitBuch der Kindheit< seiner >Knabenzeit< als Motto voran und Hettner berichtet Gottfried Keller in einem Brief aus dem Jahre 1853 von seinem >großen Entzücken bei der Lektüre dieses JugendidyllsKindheit< vor allem 206

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So auch in der w o h l am intensivsten rezipierten deutschen Autobiographie des 19. Jahrhunderts, Wilhelm von Kügelgens >Jugenderinnerungen eines alten Mannes«. H i e r wird die Autobiographie zur Darstellung des verlorenen Paradieses in der detaillierten Erzählung von Kindheitserlebnissen, Familienszenen etc. und endet bezeichnenderweise mit dem kurzen Bericht über die E r m o r d u n g des Vaters, einem Ereignis, das den achtzehnjährigen Wilhelm von Kügelgen unversehens z u m Erwachsenen machte. Vgl. dazu in Bezug auf E. T. A. H o f f m a n n s >Der Sandmann«: Kittler, Friedrich A . : »Das P h a n t o m unseres Ichs« u n d die Literaturpsychologie: E. T. A. H o f f m a n n — Freud — Lacan. In: Kittler / T ü r k : Urszenen. S. 139—166. Eischenbroich, D o n a t a : Kinder werden nicht geboren. Studien z u r Entstehung der Kindheit. F r a n k f u r t a. M. 1977, S . 9 6 f f . Keller, G o t t f r i e d : Gesammelte Briefe. Hrsg. v. Carl Helbling. Bern 1950. Bd. 1, S. 377. Vgl. dazu: Kuttenkeuler, T h e o d o r : Bogumil Goltz. Leben und Werke. Danzig 1913, S. 111 ff.

217

unter bildungspolitischem und pädagogischem Aspekt. In Bezug auf letzteren kritisiert G o l t z zunächst einmal vehement alle möglichen bürgerlichen Bildungsinstitutionen: Es gibt nur ein Lernen, ein Hören und Vernehmen, ein Wiederzeugen und Erschaffen, ein Illustriren und Illuminiren, ein Haben und Sein, ein Leben, Bilden, Dasein und Erleben; und das ist das L e b e n in der K i n d h e i t ! Was man später vernimmt, erlernt und zubildet, weiß und kann, hat und ist, das ist ein halbes Leben, ein mattes Epigonenthum, ein Kopfbrechen, ein Erdenschweiß und schlechter Spaß! (S. 102/103).211 Diese Äußerungen gelten nicht allein dem Gegensatz zwischen Kind und Erwachsenem; vielmehr negieren sie auch die diesen Gegensatz mildernden oder aufhebenden Vermittlungsinstanzen wie Lehre, Schule, K u n s t und Wissenschaft. A n d e r s als in vielen durch die Bildungskonzeption der deutschen Klassik (Goethe, W . v. Humboldt) geprägten Autobiographien des 19. Jahrhunderts 2 1 2 werden hier Selbstbeschränkung und Beschränkungen kindlicher Bestrebungen und W ü n s c h e durch die »Prosa der Wirklichkeit« als Negation v o n im Kind angelegten Möglichkeiten verstanden. Deshalb erscheint Bildung in den A u s f ü h r u n g e n v o n G o l t z auch nicht als ein der V e r v o l l k o m m n u n g des Individuums dienender Prozeß, sondern als Dressurakt, mit dessen Hilfe das K i n d auf die Ansprüche der v o m Verstand bestimmten Arbeitswelt der Erwachsenen abgerichtet w e r d e n soll, 2 1 3 eine Vorstellung, die übrigens ebenfalls unschwer bei einigen Literaten und Pädagogen der Romantik nachweisbar w ä r e . 2 1 4 Folgerichtig feiert G o l t z auch emphatisch das unmittelbare Erleben als Quelle echter Erfahrung: In dem Kinde ist Alles Unmittelbarkeit, Natur, Leben, Instinct und schöner Impuls, voller Herzpuls; bei dem geschulten und erwachsenen Menschen Alles eine endlose Vermittlung, ein Gewohnheits- und Gedächtnißkram, ein kalter, todter 211 212 213

2,4

Goltz, Bogumil: Buch der Kindheit. Frankfurt a. M. 1847. Das betrifft z. B. die bereits erwähnte Autobiographie von Carus. »Uns Erwachsenen will zuerst das Leben und zuletzt der Tod nicht zu Sinn, und was haben wir Alles zum L e b e n und zum S t e r b e n für A n s t a l t e n gemacht, was haben wir gelernt und getrieben! Wieviel Kunst und Wissenschaft, wieviel Güter und Ehren aufgeboten, wieviel Apparat von Tugend und Religion, und Alles so gut wie umsonst! In der K i n d h e i t sind wir dagegen ohne Wissenschaften und Künste, ohne Amt und Ehren, . . . und wie lustig dünkt uns das Leben, wie wunderschön die Welt, wie süß empfinden wir unser Dasein! Dagegen heißt es wohl »Jugend hat keine TugendBuch der Kindheit< derart bestimmt, daß die Gegenwart des Schreibenden negativ und die kindhafte Vergangenheit positiv bewertet werden. Das Neue an dieser Auffassung von Kindheit im 19. Jahrhundert zeigt ein Vergleich zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel einiger Äußerungen aus Jung-Stillings >LebensgeschichteKindheitBuch der Kindheit« immer wieder artikulierte Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter und erweist sich mit der vielfältigen Formulierung von Vollkommenheitsvorstellungen (Aufhebung der Zeit als Erfahrung von Veränderung, Aufhebung des Gegensatzes zwischen Mensch und Natur, soziale Harmonie u . a . ) als Bestandteil eines soziale, zeitliche und räumliche Begrenzungen überschreitenden Utopieentwurfs, der vom kindlichen Spiel und vom künstlerischen Handeln seine Konkretisierung erhofft; die sich im Spiel des Kindes äußernde »Alles verwandelnde und bezwingende vis poetica« 2 2 2 und das schöpferische Handeln des Künstlers 2 2 3 sind die positiven Alternativen zum >entweihendenBuch der Kindheit< prägenden Ausführungen zum Thema >Kindheit< lassen nun das Erzählen der eigenen Kindheit weitgehend in den Hintergrund treten, da G o l t z bei ihrer Gestaltung auf eine durchgängig narrative Verknüpfung von Handlungen und Ereignissen aus diesem Zeitraum im Sinne eines >und dann — und dann< verzichtet. Zwar werden manche von ihnen zu kleineren narrativen Einheiten verbunden (vor allem innerhalb der Kapitel »Historien aus Warschau« und »Allerlei Historien und K i n d e r = E r lebnißLust an der Digression< zurückgeführt, 224 eine Erklärung, die allerdings den Stellenwert erzählender Rede im »Buch der Kindheit< völlig falsch einschätzt. Denn von Digressionen kann wohl kaum noch in Bezug auf einen Text gesprochen werden, der zu zwei Dritteln aus Behauptungen besteht, deren propositionaler Gehalt nicht unmittelbar auf die eigene Kindheit bezogen ist und die nicht narrativ miteinander verbunden sind. Zudem ist für sie nicht ein Erzähler verantwortlich, der wie in der >Selberlebensbeschreibung< mit biographischem Material und dessen erzählerischer Gestaltung ein variantenreiches Spiel treibt und doch immer noch eine Geschichte erzählt. Weder diese Erzählergestalt noch der ihr zugeordnete implizite, vertraute Leser spielen in diesem Text eine Rolle; das Erzählen hat seine dominante Position eingebüßt. Die erwähnten kleinen narrativen Einheiten sind den generalisierenden Behauptungen zum Thema >Kindheit< als Illustration funktional zugeordnet. Aus dieser Zuordnung ergibt sich ein Zwang zur Positivierung und Harmonisierung der eigenen Kindheit und in Verbindung damit von Vergangenheit schlechthin. Besonders nachhaltig macht sich das bei der Darstellung der Familienverhältnisse bemerkbar, deren Gestaltung ein guter Beleg dafür ist, wie der oben genannte funktionale Bezug das autobiographische Profil dieses Textes verblassen und bestimmte Aspekte des Schreibsituation hervortreten läßt. So passen die Portraits von Vater und Mutter — zu nennen ist hier vor allem das liebevoll entworfene Vaterbild — so gar nicht zu einem Elternpaar, das den Sohn Bogumil bereits mit fünf Jahren »zum fremden Jungen im elterlichen Hause«225 macht, indem es ihn zu einem Landpfarrer nur deshalb in »Pension« gibt, weil er schwierig und eigensinnig ist, ihn also einem Akt des Aussetzens unterwirft, dessen Auswirkungen für die Textgestalt dieses »Buches der Kindheit< bestimmend gewesen sein dürften.226 Das Verklären der Kindheit ist also, psychoanalytisch 224

225 226

»Meine Digression mag mir etwas zu lang gerathen sein, aber offenherzig gestanden, so habe ich einmal einen großen degout vor solchen Erzählern, die immer auf schnurgeraden Wegen reisen, weil sie noch aus der Geometrie behalten haben, daß zwischen zweien Punkten die gerade Linie der kürzeste Weg ist. Mir sind in allem Handel und Wandel die geraden Wege wohl auch die liebsten, aber sonst ist mir's immer mehr um's Reisen, als um's anlangen, mehr ura's Erzählen, als um's Auserzählen zu thun.« Goltz: Buch der Kindheit. S. 69. Goltz: Buch der Kindheit. S . 2 2 1 . Die sprachliche Formulierung solcher und anderer elterlicher Erziehungspraktiken läßt den kompensatorischen Charakter der Verherrlichung von Kindheit im »Buch der Kindheit< besonders eindringlich hervortreten. So heißt es von der >Behandlung< kindlicher »Unarten und Originaleinfälle« durch die Eltern: »Es wuchs und w u cherte, es schlingkrautete, es rankte und kroch, es blühte und schoß in Samen, es duftete und betäubte in dieser Kinderfreiheit und in ziemlich geräumigen Zimmern, Gehöften und Nachbarschaften, so unziemlich ziemlich und so unbändig natürlich

222

g e s p r o c h e n , e h e r A u s d r u c k eines V e r l u s t e s v o n K i n d h e i t , d e r , als n e g a t i v e Kindheitserfahrung, nicht aufgearbeitet, sondern verdrängt wird. Harmonisierungstendenzen,

bewirkt d u r c h literarische Verfahren

wie

M e t a p h o r i s i e r u n g u n d Perspektivenwechsel227 sind auch innerhalb der w e n i g e n P a s s a g e n i m > B u c h d e r K i n d h e i t < f e s t s t e l l b a r , die a u f s o z i a l e Z u s t ä n d e , z . B . a u f das a r m s e l i g e L e b e n v o n U n t e r s c h i c h t k i n d e r n

eingehen:

W e n n der Schnee in ganzen Lämmerfließen herunterflockte, und große W o l k e n vor dem Winde getrieben wurden; genug an g e l i n d e n Tagen, wenn der knarrende und knurrende

Frost

Raison

annahm,

wenn

ihm die

jungfräuliche

S c h n e e u n s c h u l d ein menschliches Fühlen abgeschmeichelt hatte; dann war auch das Geheimniß vom werdenden Frühling den Menschenkindern und insbesondere unserer frommgläubigen Kinderneugier und den armen Leuten verrathen, die nach Sprock und Leseholz in den Wald zogen. Wenn nichts anders, so wußte das w o l l i g e B i r k e n m o o s davon zu erzählen, welches die armen Dorfkinder mit den Reisigbündeln aus dem Walde zuweilen für uns auf den Tauschhandel mitbrachten, denn sie selbst hatten wenig Zeit und Lust aus solchen Naturwundern und W i n terherrlichkeiten eine Kurzweil und Spiellust zu machen gleich uns. Ihnen war die N a t u r mehr eine zürnende und strenge Gottheit als ein himmlisches Spektakel und stehendes Metamorphosentheater, oder als ein Reich sich verwirklichender Träume, mit denen wir sorgsam gepflegte Kinder bemittelter Leute, wie von einer poetischen Lebensluft umfangen wurden (S. 99). I n d i e s e n A u s f ü h r u n g e n ü b e r die F r e u d e n des W i n t e r s w e r d e n A r m u t , s o ziale G e g e n s ä t z e u n d d e r d a m i t v e r b u n d e n e U n t e r s c h i e d in d e r E r f a h r u n g v o n U m w e l t d u r c h a u s a n g e s p r o c h e n , d a n n a b e r d u r c h die A l l e g o r i s i e r u n g

es eben wollte. Bis bei einer E x t r a = G e l e g e n h e i t eine flämische Gartenscheere in der sichern und kräftigen Hand des Vaters unbarmherzig und ohne sentimentale Skrupulosität all das über Spalier hinauswuchernde Unwesen und S c h m a r o z z e r = G e niste hinwegschnitt, und das gewöhnlich auf einen Ruck. Auch die Mutter war, wo es galt, eine entschiedene und energische Frau, und half dem Alten von Zeit zu Zeit so ehrlich mit roden und reuten, . . . « G o l t z : Buch der Kindheit. S. 2 1 8 / 2 1 9 . 227

Perspektivenwechsel vom Erwachsenen zum Kind wird von G o l t z häufig dann verwendet, wenn er auf die Blindheit der Erwachsenen in Bezug auf bestimmte Gegenstandsbereiche verweisen will. Das motiviert die bisweilen außerordentlich genaue, detaillierte Wiedergabe von scheinbar unwichtigen Gegenständen, Gegenständen, die allerdings aus der Sicht eines Kindes so unwichtig nicht sind. Freilich gelingt es dem A u t o r G o l t z nicht immer, solche Wechsel in die Perspektive des Kindes überzeugend durchzuhalten. Wenn z . B . die Betrachtungen des Kleinkindes über das Stroh als Symbol der Vergänglichkeit mit den Worten »Vixi ut vivis et tu morieris ut suum mortuus« sprachlich begleitet werden, dann gehört dieses Sprachvermögen wohl weder in die Sprachkompetenz des kleinen G o l t z noch dürfte die Berücksichtigung eines solchen >Bildungsgutes< zu dem von G o l t z so vielfach beschworenen naturhaften Lebens- und Erfahrungsraum eines Kindes passen. G o l t z : Buch der Kindheit. S. 141. Ähnliche >Überforderungen< der Kind-Perspektive finden sich übrigens auch in Jung-Stillings >LebensgeschichteDigressionen< zu machen. Freilich würde dies auch weder den mit dieser Art von Kindheitsdarstellungen verbundenen Intentionen des Autors noch den Wünschen des intendierten bürgerlichen Rezipientenkreises entsprechen. 2 2 8 Ein solches Abstrahieren von historischen und sozialen Gegebenheiten zur Zeit der eigenen Kindheit, die Beschränkung auf die Darstellung bäuerlicher, archaischer Lebensformen bei deren Wiedergabe sowie die anderen genannten Idealisierungen erwachsen aus Zwängen, die offensichtlich auch auf gesellschaftliche und politische Konstellationen um die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen sind. Eine solche Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter formuliert doch vornehmlich derjenige, der sich nicht in der Lage sieht und auch nicht gewillt ist, sich einer Auseinandersetzung mit der zunehmend unübersichtlicher und bedrohlicher werdenden Umwelt zu stellen — das >Buch der Kindheit« ist ein Jahr vor den Revolutionen von 1848 erschienen. Sprachliches Handeln mittels autobiographischer Darstellung markiert hier, auf Grund einer nachhaltigen Positivierung der Kindheit, 2 2 9 einen tiefen, auch durch das Erzählen nicht mehr überbrückbaren Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Schreibenden. D e m korrespondiert eine Vielzahl von Äußerungen zu sozialen und philosophischen Fragestellungen, die den Autor während der Entstehung dieses Textes beschäftigen, Äußerungen, die ein tiefes Unbehagen an der

228

Vgl. dazu die fast gleichzeitig geäußerte Auffassung eines anderen Autobiographen: »Von der Heimath plaudern, thut wohl, und es geht von Herzen. Aber auch z u m Herzen, denk' ich, geht solche Rede. An die eigne Wiege und den heimathlichen Herd treu und dankbar erinnernd, begreift der Leser leicht des Erzählers Redseligkeit und Wärme, und freut sich seiner Freude, und fühlt mit ihm den Schmerz.« Spindler, C . : Städte und Menschen. Erinnerungen in bunter Reihe. Stuttgart 1848. S. 2 6 3 / 2 6 4 .

229

Verstärkt wird diese Positivierung noch dadurch, daß Goltz Kindheit, soweit sie zu seiner Schreibgegenwart gehört, ebenfalls mit negativ gefärbten Attributen belegt: »Das weiß der Henker, auch die Kinder versteh'n heut nicht mehr so glückselig zu sein wie sonst, ihre Spiele verlieren an Einbildungskraft wie an herzlichem Witz«. Vgl. auch: Goltz: Buch der Kindheit. S. 47, S. 67, S. 86.

224

p o l i t i s c h e n u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n S i t u a t i o n u m die J a h r h u n d e r t m i t t e a r t i k u lieren: Wahrhaftig, wir sind einer höhern Freiheit und eines höhern Glückes im Staat wie in der Weltgeschichte nicht eher würdig und werth, als bis von uns mit der herzlichsten Sel(b)stverläugnung in unserm P r i v a t = u n d F a m i l i e n l e b e n e i n e g r ö ßere Freiheit nach unten zu, bei D i e n s t b o t e n , P f l e g e b e f o h l e n e n

und

U n t e r g e b e n e n vorbereitet und verwirklicht sein wird. Denn es steht schlecht, es steht lieblos und heillos um diese Verhältnisse. U n d doch bleibt eine jegliche Bildung eitel Lug und Trug, von der nicht die Masse in Sinn und Herzen angerührt worden ist, und eine jegliche Freiheit bleibet ein Trugbild und ein eitler Wahn, die nicht in Menschenliebe und Leutseligkeit, in heiliger Menschenbildung ihre W u r zeln und ihre Gipfel getrieben hat. L a ß t

uns besser w e r d e n ,

nur

dann

w i r d ' s b e s s e r s e i n ! . . . Gegenseitigkeit, Gerechtigkeit, Liebe, Wahrhaftigkeit, sittliches Gleichgewicht, sittliche Vergeltung, das sind die ewigen Mächte, die Elemente und Prinzipien, in denen Staat und Weltgeschichte, Handel und Wandel, Verkehr und Freiheit sich bilden, sich mehren und bestehn (S. 3 7 9 / 3 8 0 ) . E s ist b e z e i c h n e n d f ü r G o l t z ' R ü c k z u g v o m E r z ä h l e n , d a ß er h i e r u n t e r V e r w e n d u n g v o n Elementen bekennender R e d e über Veränderungen im sozialen B e r e i c h s p r i c h t . I n d i e s e r u n d a n d e r e n P a s s a g e n ä u ß e r t s i c h kein s o u v e r ä n e r E r z ä h l e r , s o n d e r n ein v o n d e r G e g e n w a r t z u t i e f s t b e u n r u h i g t e s I n d i v i d u u m , das die in s o l c h h i l f l o s e r u n d v e r s c h w o m m e n e r K l a g e k o n s t a tierte E n t f r e m d u n g zwischen M e n s c h und M e n s c h , M e n s c h und N a t u r im Rahmen

des

auch

zu

dieser

Zeit

kaum

noch

existierenden

>ganzen

Hausesleidigen R e p u b l i k a n i s m u s < , s o w i e die e x p l i z i t e Rechtfertigung überkommener Sozialstrukturen: Ich liebe die bevorzugten Stände unter der Bedingung, daß sie die Vortheile, welche sie von ihrer Stellung im Leben haben, in echt adeliger, d. h. in leutseliger Weise zu Schutz und F r o m m e n ihrer Pflegebefohlenen und aller hülfsbedürftigen Menschheit verwenden. Das gibt dann erst eine sittlich poetische Welt voll Gegensatz und Mannigfaltigkeit und einen schönen Zug von Lebensarten ohne Ende, w o die W e b e r = S c h i f f c h e n herüber und hinüberschießen, die Fäden der Herzensgewohnheit sich fester und fester in den Aufzug von T r e u ' und Charakter hineinweben, und wenn das Muster, das Gewebe dann fertig ist, so ist's ein Stück Weltgeschichte mit Farbe und Glanz, mit Sinn und Gemüth und eine Symbolik aller Historien Himmels und der Erden zugleich, ein echt menschliches Stück Culturgeschichte, in welchem alle Kräfte zum Ausspielen gekommen sind. Aber für leidige Republiken, für nordamerikanische Advokatenaristokratien und Gesetzmechanismen, sowie für politische D a r m v e r w i c k l u n g s = G e s c h i c h t e n ,

230

wie in der

Hier verstanden im Sinne O t t o Brunners als eine sozialökonomische Einheit, zu der der (Feudal)-Herr, die Familienmitglieder und die vom Herrn Abhängigen gehören. Brunner, O t t o : Das »ganze Haus« und die alteuropäische » Ö k o n o m i k « . In: Brunner, O t t o : N e u e Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. 2

Göttingen

1 9 6 8 , S. 1 0 3 - 1 2 7 . 225

Schweiz, hab' ich so wenig Sinn und Verstand wie für Oligarchie und Leibeigenschaft. Habeat sibi! Wir haben von harmlosen Dingen zu berichten, und den 99 klugen W e l t v e r s t ä n d i g e n kann man doch nimmer begreiflich machen, wie und in welcher Weise auch die Kindergeschichten zu den Weltgeschichten gehören, die wieder hervorgeholten Theorieen von Freiheit und Gleichheit aber nur Seifenblasen und ein großes Kinderspiel sind (S. 355/356).

Der restaurativen Zeitkritik kommt die erwähnte typisierende Darstellung von Kindheit sehr entgegen, artikuliert diese doch eine um die Mitte des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Sehnsucht nach Geborgenheit innerhalb (scheinbar) begrenzter, konfliktfreier Räume wie Familie, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft; das Zitieren des im 19. Jahrhundert ungemein populären Rückert-Liedes >Aus der Jugendzeit* zu Beginn des hier behandelten Textes bringt die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts so verbreitete »biedermeierliche« Tendenz zum Rückzug aus politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen deutlich genug zur Sprache. Von daher erweist sich Goltz' Text nicht so sehr als das von den oben genannten Rezensenten gepriesene liebevolle Erzählen von Kindheit, sondern als Reaktion 231 auf dem Autor nicht verständliche und nicht akzeptierbare Veränderungen des geistigen und sozialen Klimas um die Mitte des 19. Jahrhunderts.

231

Eine Reaktion, die sich in späteren Werken von Goltz u. a. in aggressiven reaktionären und chauvinistischen Äußerungen manifestiert; z.B. in den üblen rassistischen Ausfällen gegen Franzosen und Italiener in >Der Mensch und die Leute< (1858).

226

7.

D i e berichtende A u t o b i o g r a p h i e im 19. Jahrhundert

7.1. Der Dominanzwechsel von der erzählenden zur berichtenden Autobiographie ab 1840 E r h a l t e n e r z ä h l e n d e A u t o b i o g r a p h i e n als V e r s u c h einer k o l l e k t i v e n V e r g e w i s s e r u n g n a t i o n a l e r G e s c h i c h t e ähnlich w i e d e r h i s t o r i s c h e R o m a n f ü r k u r z e Zeit K o m p l e m e n t ä r f u n k t i o n 1 g e g e n ü b e r der H i s t o r i o g r a p h i e , s o b ü ß t dieser T y p u s diese F u n k t i o n u m die M i t t e des J a h r h u n d e r t s nicht z u l e t z t d e s h a l b ein, weil sich die n o c h in d e n 30er J a h r e n v o n s o v e r s c h i e d e n e n H i storiographen wie R a n k e und Gervinus2 gepflegten und propagierten Techn i k e n narrativer H a r m o n i s i e r u n g z u n e h m e n d a u t o m a t i s i e r e n . D a s f ü h r t in e r z ä h l e n d e n A u t o b i o g r a p h i e n z u b i s w e i l e n a u ß e r o r d e n t l i c h trivialen D a r s t e l l u n g e n u n d D e u t u n g e n h i s t o r i s c h e r A b l ä u f e , s o w e n n z. B . die u m die J a h r h u n d e r t m i t t e recht b e k a n n t e Schriftstellerin H e l m i n a v o n C h é z y die U r s a c h e n u n d F o l g e n der E r m o r d u n g K o t z e b u e s d u r c h d e n

Burschen-

schaftler Sand bedenkt: Nach meiner Ansicht war diese That das Saatkorn alles zukünftigen Unheils, selbst dessen, womit wir heute noch ringen, und der Stuhl, dem die Blutströme einer Revolution entquillen. Der Funke, dessen Flammen Länder einäschern, woraus entsteht er? Aus Worten. Schiller's >Räuber< waren das Saatkorn der That Karl Sands. 1

2

Wolf, Erwin: Sir Walter Scott und Dr. Dryasdust. Zum Problem der Entstehung des historischen Romans im 19. Jahrhundert. In: Iser, Wolfgang / Schalk, Fritz (Hrsg.): Dargestellte Geschichte in der europäischen Literatur des ^ . J a h r h u n derts. Frankfurt a. M. 1970, S.21. So fordert Gervinus von der Historiographie nicht allein die Aktivierung der Verstandeskräfte des Individuums, sondern auch ein »Erwecken edeler Gefühle«. Das Geschichtswerk soll nicht rein pragmatisch orientiert sein, nicht einzelne Lehren vermitteln, »sondern den Menschen im Ganzen die wirkliche Welt zeigen . . . « Gervinus, G . G . : Historik. In: G. G . Gervinus Leben. Von ihm selbst. S. 387. Ranke hatte allerdings den Wert von Autobiographien als historiographische Quelle bereits recht früh zugunsten von Brief und Aktenmaterial in Frage gestellt, als er am Beispiel der Memoiren von Retz und Richelieu nachweisen konnte, in welchem Ausmaß solche Texte >frisiert< sein können. Vgl. dazu: Gooch, G . P.: Geschichte und Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Vom Verfasser neu bearbeitete deutsche Ausgabe mit einem Ergänzungskapitel. Frankfurt a. M. 1964, S. 104. 227

Ahnte das dem guten, dem großen Geiste nicht, der dieses Werk geschaffen? Nein! Denn bewußtlos erfüllen die Menschen die undurchdringlichen Beschlüsse der göttlichen Vorsehung. 3 Solch abenteuerliche Syntax und Metaphorik ist durchaus kein Einzelfall, 4 v o r allem w e n n damit das seit dem 18. Jahrhundert v o n einzelnen A u t o b i o graphen immer wieder bemühte Vorsehungsschema f ü r die Deutung sow o h l der Individual- als auch Nationalgeschichte >poetisch< reaktiviert werden soll. Diese Tendenz zur Verflachung betrifft dabei nicht allein die stilistisch-semantische, sondern auch die pragmatische Ebene. So ist die oben angemerkte Automatisierung im Bereich der erzählenden A u t o b i o graphie hinsichtlich Schreibsituation, Erzählergestalt und Adressatenbezug in den vierziger Jahren so weit fortgeschritten, daß manche A u t o r e n lieber ganz auf die Orientierung am Erzählen verzichten. Sie wechseln das V e r fahren und wollen sich lediglich als Berichterstatter jüngster Vergangenheit verstehen. 5 Den Dominanzwechsel v o m Erzählen zum Berichten der eigenen G e schichte markieren dabei zum einen berichtende Neuauflagen v o n erzählenden Autobiographien 6 und zum anderen Texte, die mit einem detaillierten Erzählen der Kindheit beginnen, um dann den weiteren Lebensweg berichtend wiederzugeben. 7 Solche Mischung der T y p e n hängt um die Mitte des 19. Jahrhunderts sicher nicht so sehr mit aus dem Gegenstandsbereich erwachsenden Schreibzwängen zusammen, 8 sondern mehr mit A n t i z i pationen bestimmter Rezipientenbedürfnisse, die zu dieser Zeit einerseits

3

4

5

6

7

8

Chezy, Helminav.: Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Helmina von Chezy. Von ihr selbst erzählt. Leipzig 1858. Bd. 2, S. 222/223. Siehe z . B . auch: Rebs, Ch. G.: Erinnerungen aus meinem Leben. Zeitz 1839, S. 81 ff. Z. B. Peter von Bohlen: Autobiographie. Königsberg 1842, S. 22. Denkwürdigkeiten des Generals Eickemeyer, ehem. Kurmainz. Ingenieur — Oberstlieutenants, sodann im Dienste der französischen Republik. Frankfurt a. M. 1845, S. 27 ff. Ders.: Denkwürdigkeiten aus dem kriegerischen und politischen Leben eines alten Offiziers. Ein Beitrag zur Geschichte der letzten vierzig Jahre. Dresden und Leipzig 1848. Besonders gut erkennbar ist dieser Wechsel bei einem Vergleich zwischen der ersten und zweiten Auflage von >Krugs LebensreiseFikzionen« innerhalb der ersten Auflage rechtfertigt. Krug's Lebensreise in sechs Stazionen von ihm selbst beschrieben. Leipzig 2 1842, S.2/3. Z.B. Dr.Joseph Carl Ed.Hoser's Rückblicke auf sein Leben und Wirken. Prag 1848. Dr. Claus Harms gewesenen Predigers in Kiel Lebensbeschreibung verfasset von ihm selber. Kiel 1851. Z. B. in der Weise, daß die Darstellung von Kindheit und Jugend das Erzählen, diejenige des Erwachsenendaseins ein Berichten verlangt.

228

>malerischenSelbstbiographie< (1853) übrigens ein Beispiel dafür ist, daß die Tendenz zum Berichten nicht immer mit historiographischen Intentionen gekoppelt sein muß. Auch dort, wo das Subjekt bevorzugter Gegenstand der autobiographischen Darstellung bleibt, überwiegt die berichtende Handlung (so z. B. auch bei Rohmer, Friedrich Christian Ludwig Konrad: Für Freunde gedruckt. Zug - Zürich und Nidwaiden 1842 oder: Brettschneider, Karl Gottlieb: Aus meinem Leben. Gotha 1851). Als Ausnahme sind hier zu nennen die witzig, distanziert und kritisch geschriebenen >Memoiren des Karl H . Ritter von Lang. S k i z z e n aus meinem Leben und m e i n e r ZeitIch< durch das >Wir< betont die Kollektiverfahrung, das gemeinsame Erleben von Geschichte, sei es das der Befreiungskriege oder das der Revolutionen von 1830 oder 1848: D i e große deutsche G e g e n w a r t , die wir erleben d u r f t e n , u n d die g r o ß bleibt t r o t z der W o l k e n , die zeitweise v o r die S o n n e getreten sind, zieht uns i m m e r wieder zurück z u ihren Q u e l l e n und V o r s t u f e n , auch zu den k ü m m e r l i c h e n A n f ä n g e n u n d G e g e n s ä t z e n , die uns älteren Z e i t g e n o s s e n so bleischwer im G e d ä c h t n i s liegen. W e n n irgendetwas die hohe d a n k b a r e F r e u d e an den Z u s t ä n d e n der G e g e n w a r t befestigen k a n n , s o ist es die E r i n n e r u n g an die J a h r e , die uns wahrlich nicht gefallen

11

A u e r b a c h , B e r t h o l d : Schrift u n d V o l k . G r u n d z ü g e der v o l k s t h ü m l i c h e n Literatur,

12

In B e z u g auf Spielhagen m u ß freilich eine gewichtige E i n s c h r ä n k u n g

angeschlossen an eine C h a r a k t e r i s t i k J . P. H e b e l s . L e i p z i g 1846. gemacht

w e r d e n . D e s s e n >objektivistische< R o m a n t h e o r i e reklamiert eine K o m p o n e n t e f ü r die E r z ä h l p r o s a , die der berichtenden A u t o b i o g r a p h i e weltgehend mangelt, n ä m lich die der Totalität. Siehe d a z u : H e l l m a n n , W i n f r i e d : O b j e k t i v i t ä t , Subjektivität und E r z ä h l k u n s t . Z u r R o m a n t h e o r i e Friedrich Spielhagens. I n : B r i n k m a n n , R i chard ( H r s g . ) : B e g r i f f s b e s t i m m u n g des literarischen R e a l i s m u s . D a r m s t a d t

2

1974,

S. 98 f. 13

E i n e ähnliche F u n k t i o n erfüllt zu dieser Zeit übrigens auch die B i o g r a p h i e . Vgl. d a z u : J a u ß , H a n s R o b e r t : N e g a t i v i t ä t und Identifikation. V e r s u c h z u r T h e o r i e der ästhetischen E r f a h r u n g . In: Weinrich, H a r a l d ( H r s g . ) : Positionen der N e g a t i v i t ä t (Poetik u n d H e r m e n e u t i k VI). M ü n c h e n 1975, S. 326.

230

konnten, an die ganze nationale Misere vor, in und nach 1848 bis zum Jahre 1863, wo eine neue Ära der Kraft und des Ruhmes sich zuerst in leisen Schwingungen regte. Es wird gut sein, wenn der Einzelne recht fleißig in diesen retrospektiven Spiegel schaut, damit er nicht vergesse, wie wir gestaltet waren, ehe die Zeit der Erhebung kam . . . Der Historiker hat diese Zeiten in allseitiger Würdigung des politischen und Kultur= Lebens darzustellen, nichts Menschliches darf ihm fremd bleiben; aber ehe solche Geschichtsbilder im großen entworfen werden, mögen auch die bescheidensten Beiträge individueller Art willkommen sein, die im Persönlichen doch einen allgemeinen Kern bergen, ein Faden im vielfadigen Gewebe. Das ist der Sinn dieser anspruchslosen Blätter, die keineswegs äußere Aufschlüsse und Enthüllungen bringen wollen, sondern lediglich in der Form des Selbsterlebten die Frage beantworten sollen, i n w i e f e r n d e r S i n n f ü r den S t a a t , f ü r p o l i t i s c h e s L e b e n , f ü r ein n a t i o n a l e s G e m e i n w e s e n , v o r h e r f a s t u n b e k a n n t dem d e u t s c h e n V o l k e , u n d seit den F r e i h e i t s k r i e g e n a b h a n d e n g e k o m m e n der deutschen J u g e n d , seit dem A n f a n g der v i e r z i g e r J a h r e a u f l e b t e u n d b a l d e i n e c h a r a k t e r i s t i s c h e M a c h t in u n s e r e r g e b i l d e t e n Jugend wurde.14 Diese W o r t e des liberalen Pädagogen F. L. W . Herbst sind ein Beleg dafür, in welchem Maße selbst liberale Intellektuelle ihre Autobiographien als traditionsgelenkte 1 5 und damit als traditionsvermittelnde Handlungen gestalten. Vornehmlich aus diesem G r u n d e gerät diesem Autobiographen die Selbstdarstellung zu einer weitgehenden Distanzierung v o n eigenen politischen Auffassungen der früheren Jahre; nicht Bekenntnis zu, sondern bestenfalls Bericht von politischen Handlungen und Gesinnungen der Zeit um 1 8 4 8 bestimmen die betreffenden autobiographischen Schriften. Die private Geschichte des Einzelnen wird mehr und mehr die Geschichte des Staatsbürgers, der sich zum Zeitpunkt des Schreibens der Autobiographie resignierend mit den bestehenden Verhältnissen abgefunden hat oder diese sogar ausdrücklich anerkennt. 1 6 In manchen solcher Autobiographien tendiert dies zu einer vollständigen A f f i r m a t i o n der v o r 1 8 4 8 bestehenden sozialen und politischen V e r -

14

15

16

Herbst, F. L. W . : Aus der Jugendzeit. Kleine Memorabilien aus vormärzlichen Tagen. Gotha 1882, S. 1 - 3 . Gemeint hier im Sinne des >traditionalen Handelns< bei Max Weber als »bewußte Bindung an das Gewohnte« (und nicht so sehr als »dumpfes Reagieren auf gewohnte Reize«), Weber: Methodologische Schriften. S. 302. Ähnliches hat Scheuer für die deutsche Biographie um die Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt. Scheuer, Helmut: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979, S. 111. Zur politischen Resignation und der damit verbundenen Einbindung der Intellektuellen in die oben genannten >Objektivationen des Geistes« nach der gescheiterten Revolution von 1848 siehe auch: Wittmann, Reinhard: Das literarische Leben 1848-1880. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Stuttgart 1976, S.200. 231

hältnisse.

Das wirkt besonders dann peinlich,

wenn die

betreffenden

A u t o r e n einige Jahre oder Jahrzehnte z u v o r völlig andere Auffassungen über Staat und Gesellschaft vertreten hatten, wie im Falle des Philosophen H e r m a n n von Keyserlingk, der, in seiner Jugendzeit begeisterter Burschenschaftler und Anhänger einer konstitutionellen Monarchie, bereits 1839 die politische Orientierung deutscher Studenten und Professoren vehement beklagt, so z. B . in seinen Äußerungen über das Wartburgfest anläßlich des 300jährigen Jahrestages der Reformation im Jahre 1 8 1 7 : Denn Statt die festliche Feier rein von ihrem k i r c h l i c h = religiösen Standpunkte aus aufzufassen und zu betrachten, ward sie von den verschiedenen Rednern lediglich vom p o l i t i s c h e n Gesichtspunkte aus aufgefaßt und beleuchtet. Man sprach von der N o t h w e n d i g k e i t einer p o l i t i s c h e n U m g e s t a l t u n g in Bezug auf die Verfassung, Verwaltung und die Gesetzgebung der Staaten und von der N o t h w e n d i g k e i t einer g ä n z l i c h e n U m g e s t a l t u n g in Bezug auf die ges e l l s c h a f t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e der Studierenden. Die Reden drehten sich in dieser Beziehung um zwei h o c h t ö n e n d e , im Grunde aber n i c h t s s a g e n d e Worte; nämlich, daß an die Stelle der u n u m s c h r ä n k t m o n a r c h i s c h e n Verfassung n o t h w e n d i g C o n s t i t u t i o n e n , und an die Stelle der L a n d s m a n n s c h a f t e n B u r s c h e n s c h a f t e n treten müßten. Man hatte p r a k t i s c h noch nicht erfahren, daß die sogenannten c o n s t i t u t i o n e l l e n Verfassungen im Grunde nur ein h o h l e s B l e n d w e r k sind, . . Das Bevorzugen der historiographischen Komponente, das Bestreben, a l lein der Sache zu dienenAutobiographie< zur Folge gehabt, von der vor allem N e u m a n n und Oesterle in ihren Arbeiten ausgehen. 1 8 Vielmehr spricht es für die >Elastizität< der Gattung, daß sie mit einem Dominanzwechsel auf Veränderungen in Literatur, Kultur und Gesellschaft reagiert, der das berichtende M o m e n t stärker hervortreten läßt, ohne das erzählerische völlig zu verdrängen. Autobiographien sind diese Texte auch dann noch, wenn sich ihre A u t o r e n im R a h m e n der Schreibsituation verstärkt an ihrer sozialen Rolle orientieren. 1 9 Wie 17

18

19

Keyserlingk, Herrmann: Denkwürdigkeiten eines Philosophen oder Erinnerungen und Begegnisse aus meinem seitherigen Leben. Altona 1839, S. 81. Neumann: Identität . . . S. 183. Oesterle, Günter: Die Grablegung des Selbst im Andern und die Rettung des Selbst im Anonymen. Zum Wechselverhältnis von Biographie und Autobiographie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Friedrich Theodor Vischers Auch Einer. In: Grimm, Reinhold / Hermand, Jost (Hrsg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts. 1982, S. 45 —70. Vornehmlich bei der Darstellung dieser Phase der Gattungsgeschichte zeigt sich die Problematik der von Neumann vorgenommenen Unterscheidung zwischen Autobiographie und Memoiren. Neumann, der nicht in Bezug auf den Handlungscharakter, sondern hinsichtlich bestimmter Aspekte des Gegenstandes übrigens eher

232

w e n i g selbst in B e z u g a u f d i e j e n i g e n A u t o b i o g r a p h i e n , d e r e n A u t o r e n s i c h v o r n e h m l i c h als H i s t o r i o g r a p h e n v e r s t a n d e n , v o n e i n e r » G r a b l e g u n g d e s S e l b s t « z u g u n s t e n b i o g r a p h i s c h e n o d e r d i c h t e r i s c h e n S c h r e i b e n s 2 0 die R e d e sein k a n n , soll i m f o l g e n d e n a m B e i s p i e l v o n G e r v i n u s ' A u t o b i o g r a p h i e g e zeigt werden.

7.2. Die Neutralität des Autobiographen. Objektivierungstendenzen in der berichtenden Autobiographie um 1860: >G. G. Gervinus Leben. Von ihm selbst< A n d e r s als I m m e r m a n n , a b e r k a u m w e n i g e r n a c h d r ü c k l i c h h a t G e o r g G o t t fried G e r v i n u s die e n g e V e r b i n d u n g v o n A u t o b i o g r a p h i e u n d H i s t o r i o g r a phie p r o k l a m i e r t . In der bereits e r ö r t e r t e n >Widmung< b e t o n t er z u B e g i n n s e i n e r L e b e n s b e s c h r e i b u n g , 2 1 d a ß e r d i e s e n T e x t v o r a l l e m als H i s t o r i k e r s c h r e i b e , d e m ein s o l c h e s V o r h a b e n P f l i c h t u n d n i c h t E r g e b n i s e i n e r m e h r o d e r m i n d e r w i l l k ü r l i c h e n E i n g e b u n g sein m ü s s e : M i r im Besonderen, in meinem historischen Amte, hat es immer scheinen wollen, daß m i r diese Aufgabe nicht sowohl als eine willkürliche Wahl vorliege, als vielmehr wie eine Art Berufspflicht obliege. Denn neben jener strengen Lessing'schen Ansicht, daß eigentlich nur der Geschichtsschreiber seiner Zeit den Namen des Historikers ansprechen dürfe, dünkte mir von jeher die andere Forderung noch richtiger, daß der Geschichtsschreiber seine Befähigung in der Erzählung seines eigenen Lebens bewähre . . . D e n n wie sollte auch über Geschichte

urtheilen

können, der nicht selbst an sich selber Geschichte erlebt hat? U n d wo wäre in der G e s c h i c h t - s c h r e i b u n g eine größere Vollkommenheit denkbar, als in der B e schreibung des Eigenlebens, w o der, der die Dinge selber und in ihrem ganzen Umfange erlebt hat, sie selber erzählt? (S. X I I ) . V o r a u s s e t z u n g , ja K r ö n u n g h i s t o r i o g r a p h i s c h e r T ä t i g k e i t , d e r e n M e t h o d e u n d G e g e n s t a n d m i t d i e s e n W o r t e n a r t i k u l i e r t w i r d , ist ein s o l c h e s H a n d e l n des A u t o b i o g r a p h e n n a c h A u f f a s s u n g v o n G e r v i n u s a u f G r u n d e i n e r i n t e n klassifiziert als typologisiert, muß die Geschichte der deutschen Autobiographie spätestens nach 1870 als beendet erklären, weil er als Autobiographie nur die b e schichte des Werdens und der Bildung eines noch nicht sozialisierten Menschen« gelten lassen kann. N e u m a n n : Identität . . . S. 25. 20

Oesterle: Die Grablegung . . . S. 54.

21

Siehe Kap. 1.1. dieser Arbeit. Gervinus hat recht früh eine Vorliebe zu autobiographischem Schreiben entwickelt. Pläne zu einer Autobiographie hat er bereits 1838 geschmiedet; eine erste A u t o b i o g r a p h i s c h e Skizze< wird dann 1848 formuliert, nachdem er bereits vorher an die Freunde Seil und Kriegk rechtfertigende, bekennende Selbstdarstellungen verschickt hatte. Vgl. dazu auch: Carl, Rolf-Peter: Prinzipien der Literaturbetrachtung bei Georg Gottfried Gervinus. Kiel 1968, S. 5/6.

233

siven Selbstbeobachtung und der daraus resultierenden Selbsterkenntnis; sie garantiert, daß die eigene Geschichte die zuverlässigste Geschichte ist, die ein Historiograph erzählen kann. 22 Diese, übrigens auch nicht sehr originelle, aber in der >Widmung< breit ausgeführte Akzentuierung des Wahrheitskriteriums ist freilich nicht so bedeutsam an diesem Zitat wie die Berufung auf die Rolle des Historiographen. Wenn Gervinus nach diesen Äußerungen das Schreiben einer Autobiographie als »Pflicht« und somit als Bewältigung einer von der politischen und literarischen Öffentlichkeit gestellten Aufgabe versteht, dann versucht er offensichtlich, deren Erwartungen und Interesse an dem privaten Bereich einer öffentlichen Person< zu genügen, einer Person, die letztlich selbst »lieber ganz als halb gekannt sein möchte«. 23 Das im Zitat artikulierte Schwanken zwischen Privatmann und öffentlicher Person, zwischen Autobiograph und Historiograph ist in dieser Autobiographie in zweifacher Weise erkennbar: erstens auf der Ebene des Dargestellten in der Parallelisierung von Individual- und Nationalgeschichte, zweitens in der Kommunikationsstruktur, die zunächst durch einen intimen Interaktionsrahmen, im Verlauf der Lebensbeschreibung aber zunehmend durch einen eminent starken Öffentlichkeitsbezug ausgezeichnet ist. Den intimen Interaktionsrahmen entwirft Gervinus mit der >WidmungWidmung< formulierten und oben zitierten historiographischen Intention widerspricht. Deren Dominanz zeigt sich darin, daß er letztlich auch keinerlei Auswirkungen auf die Gestaltung des Textes gehabt hat, läßt doch dessen Struktur nirgendwo erkennen, daß sich seine Entstehung einer besonders innigen Beziehung zwischen den Ehepartnern verdankt. Der Gestus des privaten Gesprächs bleibt Staffage, und auch dort, wo Victorie Schelver nicht Adressat, sondern Gegenstand der autobiographischen Darstellung 22 23

G. G. Gervinus Leben . . . S. XII. G. G. Gervinus Leben . . . S. XV.

234

ist, b e s t i m m t D i s t a n z und K ü h l e die sprachliche D i k t i o n . N i r g e n d w o wird dies deutlicher als im letzten Kapitel (>Die Hausgründungdamalsjenerdort< etc. B e s o n d e r s deutlich zeigt sie sich im V e r z i c h t auf Darstellung des Intimbereichs, einem V e r z i c h t , den G e r vinus u. a. im R a h m e n eines Berichts über seine erste große L i e b e wie folgt begründet: Die Geschichte dieser Neigung in allen den nichtig=wichtigen Einzelheiten zu erzählen, die solch einer Leidenschaft eigen sind, würde mir heute, bei dem großen Abstand der Jahre und der Sinnesweise, bei einem Gegenstande, der einer faßlichen Darstellung in sich so sehr widerstrebt, kaum möglich sein. Die vita nuova zu schreiben, die diese Liebe nun neben dem alten Prosaleben in mir entwickelte, das verlangte eines Dante Erfahrungstiefe und hohe Naivetät und dazu das jugendliche Zeitalter, in dem er lebte. Denn diese heutige, praktisch gewordene Zeit, die das Phantasieleben in der Jugend als eine sinnlose Verirrung lieber ganz unterbände, als zu so üppigem Schusse treiben möchte, deren Beruf auch in der That auf ganz anderen Wegen liegt, also wo ihn jene Periode der romantischen Verzerrungen in Deutschland suchte, diese Zeit würde sich mismuthig abwenden von solch einer inneren Aushölung, von solch einer eitlen Verdunstung der geistigen, gefühligen und psychischen Kräfte (S. 85/86). Gervinus bindet mit diesen Formulierungen sehr deutlich sein berichtendes, distanziertes Schreiben an Voraussetzungen der Schreibsituation: verantwortlich für die D i s t a n z z u m Gegenstand ist neben der eigenen Befindlichkeit das von einer bestimmten historischen Konstellation abhängige Lesebedürfnis der antizipierten Rezipienten. Interesse und Möglichkeiten des V e r stehens bei diesem P u b l i k u m sind also wesentliche Kriterien der T e x t gestaltung. 24 25

G. G. Gervinus Leben . . . S. 322ff. »Ich weiß an mir nichts so Schönes, das mich zum Selbstbeäugeln verlocken möchte, . . . « G. G. Gervinus Leben . . . S. XV. 235

Ebenfalls zum Gestus des distanzierten, objektiv berichtenden Historikers gehört die für Autobiographien ungewöhnlich häufige Inanspruchnahme von Briefen und anderen Dokumenten aus der Vergangenheit. Im Bemühen, >die Fakten sprechen zu lassenMacchiaveIlMacchiavell< zeigt sich die Berücksichtigung älterer historischer Arbeiten übrigens dort, wo Gervinus ganze Passagen aus der bereits 1837 geschriebenen >Historik< übernimmt. Das gilt für die Hinweise auf Lessings Historikerbild 27 ebenso wie für geschichtsphilosophische Erörterungen zum Thema >Schicksal und Vorsehung in der Geschichte*. 28 Die mit dem Ausblenden der eigenen Person verbundene Profilierung der Historikerrolle wird spätestens dann manifest, wenn die Autobiographie zur Biographie wird, ein im 19. Jahrhundert häufig praktiziertes Verfahren, 29 auf dessen Bedeutung ja bereits im Rahmen der Ausführungen zu Immermanns >Memorabilien< verwiesen worden war. Gegenstand dieses biographischen Kapitels ist Gervinus' Heidelberger Lehrer Friedrich Christoph Schlosser. Schlosser (1776—1861) war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem als Verfasser der >Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung< (1815—1841) und der >Geschichte des 18.Jahrhunderts< einem liberal gesinnten Publikum bekannt geworden. Seit 1817 war Schlosser Professor für Geschichte an der Universität Heidelberg, wo ihn Gervinus 1826 in dieser Eigenschaft kennenlernte und schließlich zu einem seiner treuesten Schüler wurde. 30 Das Schlosser-Kapitel ist zunächst Nekrolog, Preisschrift für einen gerade Verstorbenen, Würdigung von dessen Verdiensten und Einfluß nicht 26

G. G. Gervinus Leben . . . S. 2 6 0 ff.

27

G. G. Gervinus Leben . . . S. X I I (Autobiographie) und S. 388 (Historik).

28

G. G. Gervinus Leben . . . S. 285 ff. (Autobiographie) und S. 382 ff. (Historik).

29

Z. B. bei K. C . von Leonhard, G. H . von Schubert, Z. Funck u. a.

30

Innerhalb der vom Historismus geprägten deutschen Historiographie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Schlosser insofern eine Ausnahme, als er, noch geprägt von Idealen und Prinzipien der Aufklärung, die Nationalgeschichte zugunsten der Universalgeschichte weitgehend vernachlässigt, Historiographie und Politik im Rahmen einer umfassenden geschichtsphilosophischen Konzeption miteinander verbindet und in seinen Darstellungen und Wertungen historischer Abläufe einem ethischen Rigorismus huldigt. Vgl. dazu: Metz, Karl-Heinz: Grundformen historiographischen Denkens. Wissenschaftsgeschichte als Methodologie. Dargestellt an Ranke, Treitschke und Lamprecht. Mit einem Anhang über zeitgenössische Geschichtstheorie. München 1979, S. 241 ff.

236

allein in Bezug auf die geistige Entwicklung des Biographen Gervinus, sondern auch auf die historische Erziehung einer ganzen Nation. Von daher bestimmt neben der Perspektive des Schülers vor allem die des Historikers die Darstellung der Person Schlossers, des Historikers, der mittels dieser Biographie auch eine Auseinandersetzung mit anderen Strömungen innerhalb der Historiographie zu führen gedenkt. Bezeichnenderweise sagt Gervinus zu Beginn dieses Kapitels, daß er »offen« und »öffentlich« 3 1 zu Schlosser stehen will. Er setzt damit die bereits mit früheren Schriften begonnene 3 2 und mit dem fast gleichzeitig mit der Autobiographie erschienenen (1861) >Nekrolog< beendete Verteidigung Schlossers gegenüber der Ranke-Schule fort, eine Verteidigung, die übrigens nach dem Erscheinen des >Nekrolog< noch einmal eine erbitterte Fehde auslöste. 3 3 In zuweilen stark apologetischen Passagen versucht Gervinus, den ethischen Rigorismus seines verehrten Lehrers gegenüber Rankes »Historiographie der Worte« 3 4 zu rechtfertigen sowie dessen Unzulänglichkeiten in Methode und Darstellung zu entschuldigen, wobei er vor allem auf dessen von der Ranke-Schule mit Recht kritisierte Vernachlässigung der Quellenkritik eingeht. Neben der rechtfertigenden steht die rühmende Rede: außer solchen Charaktereigenschaften wie Nationalbewußtsein und »Demokratismus« 3 5 lobt Gervinus an Schlosser vor allem dessen Pragmatismus, der auch die H i storiographie zu einer Form politischen Handelns erklärt: Es war eine größere historische That, . . . als Schlosser sein 18. Jahrhundert herausgab, in dem er von der bloßen wissenschaftlichen Kritik zu der sittlich politischen Kritik der dargestellten Zeiten und Handlungen überging. Hat Niebuhr den Anstoß zu einer rücksichtslosen Freiheit der Kritik gegeben, die eine neue Aera geschichtlicher Forschung begründete, so hat Schlosser, als Spittler's ächter Schüler, den von diesem zuerst eingenommenen Standpunct weiter angebaut: der Geschichtsschreibung einen praktischen Bezug auf die Zeitverhältnisse zu geben, die Gegenstände der Behandlung zu wählen nach einem Bedürfnisse des Moments, sie zu bearbeiten aus einem Augenpuncte, der von diesem Bedürfnisse bestimmt ist (S. 191/192).

Als ähnlich bedeutsam in methodischer Hinsicht erachtet Gervinus Schlossers Berücksichtigung der schönen Literatur als historiographischer 31 32

33

34 35

G . G . Gervinus Leben . . . S. 150. Z. B. in: »Historische Briefe< (1832); >Uber Schlossers universal-historische Ubersicht der Geschichte der alten Welt< (1835). U. a. mit W. Löbell und C . v. Noorden. Vgl. dazu Schilfert, Gerhard / Schleier, H a n s : Georg Gottfried Gervinus als Historiker. In: Streisand, Joachim (Hrsg.): Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung von oben. Berlin (Ost) 1963, S. 156. G . G . Gervinus Leben . . . S. 165 ff. G . G . Gervinus Leben . . . S. 174ff.

237

Quelle. 3 6 Mehr als alles Stöbern in Archiven ermögliche es ihr Studium nach Auffassung Schlossers, »den Geist der Personen, der Völker und Zeiten in einer treuen Unbefangenheit abzuspiegeln«. 3 7 Schlosser hat damit in den Augen von Gervinus nicht allein »die Methode der Geschichtsschreibung fruchtbar erweitert«, 3 8 sondern auch zugleich Auffassungen den Weg bereitet, die Literatur und Literaturgeschichtsschreibung als besondere Formen politischen Handelns verstehen wollen. Vergleicht man diese und andere Passagen des Schlosser-Kapitels mit Gervinus' Äußerungen zu Theorie und Praxis der Historiographie z. B. in der >Historik< und in der >Geschichte der deutschen NationalliteraturGeschichte der poetischen National-Literatur der Deutschem ausdrücklich vom Dichter, daß >er sich auf die Bühne des handelnden Lebens wagen müsse«, und versucht, den Künstler im Rahmen seiner literaturgeschichtlichen Ausführungen immer wieder als Repräsentant seines Volkes und seiner Epoche vorzustellen. Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. 5 Theile. Leipzig 1 8 3 5 - 4 2 . Bd. V, S. 651. Es ist übrigens bezeichnend für die Tendenz zum Berichten in Autobiographie und Biographie um die Mitte des 19. Jahrhunderts, daß die dafür charakteristische Reduktion des Individuums auch in Diltheys früher Schlosser-Biographie (1862) beobachtbar ist. Siehe dazu auch: Graevenitz, Gerhart v.: Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. Zur Begründung der Biographie im 19. Jahrhundert. In: D V j s 54, 1980, S. 153. Hier hat Gervinus übrigens mit Sicherheit überzeichnet: Schlosser hat durchaus nicht so intensiv die Verbindung von Historiographie und politischem Handeln propagiert, wie er ja auch nie so direkt politisch zu handeln versucht hat wie sein Schüler Gervinus.

238

allem die Aufgabe hat, Völker und Individuen auf politisches Handeln vorzubereiten. Bekanntlich bestimmt diese bereits in der >Historik< von 1837 vorbereitete These weitgehend die Anlage seiner Literaturgeschichte und die Einschätzung der Weimarer Klassik als End- und Höhepunkt der deutschen Literaturgeschichte sowie die damit verbundene Auffassung, daß nach dieser Kulmination der Literaturentwicklung in Deutschland ein ähnlicher Höhepunkt in der politischen und staatlichen Entwicklung des deutschen Volkes eintreten müsse und solle. Ahnliche Ubereinstimmungen finden sich in den Passagen über Ziel und Aufgabe der Geschichtsschreibung. Wenn Gervinus im Schlosser-Kapitel davon spricht, daß die Historiographie Schlossers von der Suche nach übergreifenden historischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt gewesen sei, dann erinnert das unübersehbar an eigene Äußerungen, die als »eigentlichen Geschichtsschreiber« nur denjenigen gelten lassen, »der überall den Theil der Menschheit, den er geschichtlich behandelt, in Beziehung zum Ganzen bringt«. 4 2 Diese und eine Vielzahl anderer Ubereinstimmungen sind nicht nur auf das von Gervinus zu Beginn dieses biographischen Kapitels angesprochene Lehrer-Schüler-Verhältnis zurückzuführen; vielmehr ist die Würdigung Schlossers Mittel, die eigene Position als Historiograph zu profilieren. Auf diese Weise wird die für die berichtende Autobiographie des 19. Jahrhunderts so charakteristische Distanziertheit in der Behandlung der persönlichen Geschichte kompensiert, die eigene Person und ihre Vergangenheit nur scheinbar vernachlässigt; die Biographie in der Autobiographie ist also auch eine verkappte Selbstdarstellung. 4 3 Wie wichtig eine solche Selbstdarstellung als Historiker für Gervinus gewesen sein muß, wird spätestens dann evident, wenn man berücksichtigt, daß er während des Schreibens der Autobiographie ein zwar in der Öffentlichkeit bekannter, als Historiker jedoch bereits weitgehend vergessener Mann gewesen ist. Zu sehr war die liberale süddeutsche Historikerschule von Ranke und seinen Schülern in den Hintergrund gedrängt worden, und

42

Gervinus: Über Schlossers universal-historische Übersicht der Geschichte der alten Welt und deren Quellen. In: G . G . Gervinus: Gesammelte kleine historische Schriften. Karlsruhe 1838, S. 348.

43

Die Untersuchungen von G . v. Graevenitz haben gezeigt, daß dies in der Biographik des 19. Jahrhunderts mehrfach begegnet. Im Gegensatz zu den von Graevenitz vornehmlich behandelten Biographien von D . F. Strauß (über Märklin) und R. H a y m (über Hegel) geht es Gervinus in seinem Schlosser-Kapitel freilich nicht um die Bewältigung einer ganz bestimmten Phase aus der eigenen Vergangenheit und auch nicht um eine verdeckte Hegelkritik, die das Individuum gegenüber der Gattung >Mensch< wieder deutlicher profilieren möchte. V. Graevenitz: Geschichte . . . S. 128 ff. Vgl. auch Oesterle: Die Grablegung . . . S. 52 ff.

239

es ist bezeichnend, daß nach Gervinus' Tod, zehn Jahre nach dem Abfassen der Autobiographie, Herman Grimm in den »Preußischen Jahrbüchern< von >einer gewissen Verlegenheit« sprach, dem Historiker Gervinus einen angemessenen Nachruf zu widmen. 44 Dieser Wunsch nach Profilierung wird auch noch einmal im vorletzten Kapitel der Autobiographie erkennbar (>Die Berufswahl«), wo Gervinus nach oft ermüdendem, seitenlangem Bericht über Positionen der idealistischen Geschichtsphilosophie die eigene historiographische Konzeption erläutert. Hier sind es besonders die Philosophen Krause und Hegel, denen er dabei vorwirft, einer >divinatorischen Geschichtsphilosophie« anzuhängen, welche die »lebendige Mannigfaltigkeit der Geschichte«45 zugunsten einer bestimmten teleologischen Interpretation von Geschichte vernachlässigt habe. Nun ist ein solcher Vorwurf gegenüber Hegel zwar alles andere als originell, doch muß er bei einer Person erstaunen, die als Historiker 46 und Autobiograph dem Prinzip einer teleologischen Interpretation historischer Abläufe durchaus nicht ablehnend gegenübersteht. Hinweise darauf ergeben sich aus einer Untersuchung der Struktur der Autobiographie ebenso wie aus Formulierungen, die auf die Lenkung des eigenen Lebenslaufes durch das Schicksal aufmerksam machen. So lassen z. B. einige vorausdeutende Anmerkungen 47 die Handlungen und Ereignisse aus der persönlichen Vergangenheit auch immer unter dem Aspekt dessen erscheinen, was sich aus ihnen ergab, und die Darstellung der »Bildungsgeschichte« soll dem Leser sehr deutlich den Eindruck vermitteln, daß die eigene Entwicklung auf ein ganz bestimmtes Ziel hin ausgerichtet war. Wesentlich signifikanter für das Schwanken zwischen Autobiographie und Historiographie ist nun freilich der zweite der oben genannten Punkte: die Parallelisierung von Individual- und Nationalgeschichte. Gervinus verdeutlicht diesen Sachverhalt implizit durch die Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte und explizit in Verbindung mit Äußerungen über Ziel und Aufgabe autobiographischen Schreibens. Die Autobiographie ist nach seiner Auffassung deshalb besonders geeignet für »Idee, Entwurf und Zweck irgend Eines Stückes der Geschichte«, 48 weil die in ihr dargestellten, ein einzelnes Individuum betreffenden Sachverhalte repräsentativ für eine bestimmte Epoche, für eine bestimmte soziale Gruppierung sind, sei es Familie, Volk oder Nation.

44 45 46

47 48

Schilfert / Schleier: Georg Gottfried Gervinus als Historiker, S. 148. G. G. Gervinus Leben . . . S. 287. Carl: Prinzipien . . . S. 27. Erler, G . : Gervinus, Schriften zur Literatur. Berlin (Ost) 1962, S. 490. G. G. Gervinus Leben . . . S. 12, 37, 149. G. G. Gervinus Leben . . . S. XIII.

240

So warf denn das Z e i t = und Volksleben von früh auf seine Bilder in meine Seele, wie in einen unverhängten, wohlgeschliffenen Spiegel: und wenn einmal in deutscher Culturgeschichte die Rede sein wird von dem Ringen der Zeit, in der das deutsche V o l k den schweren Uebergang vom geistigen zum praktischen Leben suchte, so wird mein N a m e nicht ungenannt bleiben. Denn schwerlich hat sich dieser Kampf der Nation in einem anderen Einzelwesen stärker und treuer abgespiegelt (S. 47).

Es ist also nicht allein die durch eigenes Erleben bedingte Verbürgtheit der dargestellten Sachverhalte, sondern auch deren repräsentativer Charakter, welcher der Autobiographie diesen hohen Rang innerhalb der Historiographie sichert. Bei der Wiedergabe des eigenen Lebens wird vornehmlich von solchen Handlungen und Ereignissen berichtet, an denen übergeordnete Geschehnisabläufe aufgezeigt werden können, das Individuum tritt zugunsten des Kollektivum Volk auf der Ebene des Dargestellten in den Hintergrund. Kaum ein Autobiograph des 19. Jahrhunderts ist in dieser Parallelisierung so weit gegangen wie Gervinus, keiner der vielen Autobiographen, die im 19. Jahrhundert die eigene Lebensgeschichte so gern mit der Geschichte des eigenen Volkes verbanden, 49 hat diesen Anspruch auf Repräsentativität so extrem formuliert. Besonders deutlich wird dieses Gleichsetzen an der Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte zu einer für das frühe 19. Jahrhundert exemplarischen Bildungsgeschichte, in deren Verlauf der berichtende Autobiograph immer wieder zum die eigene vita formenden Erzähler wird. Gervinus vermittelt von seinem inhalts- und ereignisreichen Leben vornehmlich Sachverhalte aus der Zeit zwischen Geburt und dem 32. Lebensjahr: der Text endet mit der Berufung nach Göttingen und der gleichzeitig erfolgten Eheschließung. Er informiert scheinbar also gerade nicht bzw. nur marginal über diejenigen Ereignisse und Handlungen, die seinen Autor zu einer >öffentlichen< Person gemacht haben: z. B. über die Erklärung der >Göttinger Sieben< im Jahre 1837, 50 über die Teilnahme an parlamentarischen Beratungen 1848 in der Paulskirche, 51 die Arbeiten an der >Geschichte der poetischen NationalLiteratur der Deutschen*52 oder die Umstände, die ihm 1853 einen in ganz

49

Arndt, Jahn, v. W o l z o g e n , Herbst u. a.

50

Als einer der >Göttinger Sieben< hatte Gervinus bekanntlich 1837 gegen einen Verfassungsbruch des Königs Ernst August von Hannover protestiert und war daraufhin entlassen und des Landes verwiesen worden. Dieser Vorgang hatte in Deutschland ungeheures Aufsehen erregt. Vgl. dazu: Kück, H a n s : Die Göttinger Sieben. Berlin 1934.

51

Gervinus hatte sich 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung wählen lassen und im Verfassungsausschuß mitgearbeitet. Diese Mitarbeit währte allerdings nur bis Juli 1848.

52

Gervinus' bedeutendste Leistung, die ihn zum eigentlichen Begründer deutscher

241

Deutschland mit Empörung verfolgten Hochverratsprozeß

eingetragen

hatten. 5 3 Anders als viele Autobiographen, die ihre Selbstdarstellung aus Altersgründen oder Mangel an Interesse nicht vollendet haben, hat Gervinus nun allerdings seine Schrift bewußt auf einen Zeitraum zwischen Geburt und Eheschließung eingeschränkt und dies auch zu Beginn des Textes begründet: Ich k o m m e in diesen späten Jahren denn doch noch dazu, ein altes Versprechen zu halten, das ich dir einst gegeben habe: dir die Geschichte — nicht sowohl meines ganzen Lebens niederzuschreiben (das ja damals noch im Werden war), aber doch, was das Wesentliche und fast Genügende ist, dir die Geschichte meiner Ausbildung zu erzählen (S. X I ) .

Wenn sich Gervinus auf die Darstellung der Bildungsgeschichte beschränkt, dann geschieht das also bewußt und unter Angabe von Gründen; die Autobiographie ist somit nicht, wie bisweilen behauptet wird, 5 4 der Ehefrau unvollendet hinterlassen worden. Die Begründung dafür erfolgt unter zwei Gesichtspunkten: zum einen liegt ihr eine Auffassung von Kindheit und Jugend zugrunde, welche diese Phase der menschlichen Entwicklung als grundlegend für das spätere E r wachsenendasein versteht und davon ausgeht, daß die Entwicklung eines Individuums mit dem Ende der Adoleszenz abgeschlossen ist. 5 5 Zum anderen ist natürlich die pragmatische Präsupponierung für dies »Genügende« verantwortlich. Denn sowohl dem >intimen Adressaten* — der Ehefrau — als auch der literarischen und politischen Öffentlichkeit war der Ehemann, der Historiker und Politiker natürlich weit mehr bekannt als das Kind und nationaler Literaturgeschichtsschreibung werden ließ. Vgl. dazu: C a r l : Prinzipien . . . S.23ff. 53

Im Jahre 1853 hatte sich Gervinus mit seiner »Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts< eine Anklage wegen Hochverrats zugezogen, weil die darin geäußerte positive Beurteilung »demokratischer Grundsätze< vom Badischen Hofgericht als »Gefährdung der Ruhe und O r d n u n g im Staate« interpretiert worden war. Vgl. dazu: Boehlich, W . ( H r s g . ) : D e r Hochverratsprozeß gegen Gervinus. Frankfurt a. M . 1967. Lutze, K . : G . G . Gervinus. Seine politische Ideenwelt bis zur Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts. Phil. Diss. Berlin F U 1956.

54 55

Schilfert / Schleier: Georg Gottfried Gervinus als Historiker, S. 155. »In dieser Jugendgeschichte liegt mein ganzes späteres Leben, Charakter, Talente und Schicksale, in einer vielleicht nicht gemeinen, starkausgeprägten Vorbildung wie im Keime beschlossen. In frühem Alter entwickelten sich in mir die mehrseitigen Anlagen des Charakters, des Geistes, des Gemüthes, wie sie mir von der mehrseitigen

Natur höchst verschieden gearteter Eltern angeboren waren;

in

frühem Alter, bei dem ersten Erwachen des Bewußtseins, begannen die Ereignisse einer mächtig bewegten Zeit an mich heranzutreten und mich in das große Leben der nationalen Gesammtheit einzuweisen.« G . G . Gervinus Leben . . . S. 46.

242

der Jugendliche. Gervinus konnte in Bezug auf seine Existenz nach dem 32. Lebensjahr von einem soliden Wissen der Leserschaft über seine Person ausgehen, war er doch spätestens seit der Protestaktion der >Göttinger Sieben< zu einer in ganz Deutschland bekannten und weithin geachteten Person geworden. Bei genauerer Betrachtung der >Bildungsgeschichte< fällt nun auf, daß ihr Verfasser einerseits Bildungsinstanzen eine für seine Entwicklung bedeutsame Rolle zuerkennt, die in den Autobiographien vor 1850 selten oder überhaupt nicht genannt werden, und andererseits bislang als selbstverständlich und wichtig eingeschätzte Sozialisationsinstanzen abwertet. So mißt er Elternhaus und Schule wenig Bedeutung für seine geistige und seelische Entwicklung bei, auch wenn er der Lebensphase von der Geburt bis zur Konfirmation ein umfangreiches Kapitel widmet. Nicht so sehr Familie und Schule, sondern »die öffentlichen Verhältnisse in Cultur und Staatsleben« 5 6 sind nach Auffassung von Gervinus für seine Bildung bestimmend gewesen, wobei »Cultur« vor allem den bereits den Knaben fesselnden B e reich der Bücher und des literarischen Lebens meint. So spricht der Autobiograph im ersten Kapitel von der bis zur >Verirrung und wüsten Schwärmerei* gehenden Lesewut des Elfjährigen: Diese Verirrungen begannen schon in der Zeit meiner ersten Beschäftigung mit H o m e r selber, wo ich bereits in die ausschweifendste Lesewuth verfallen war, die jugendliche Phantasie aufs üppigste ausarten ließ und alle geistige Kraft in profuser Verschwendung an die lähmendsten, erschlaffendsten Dinge setzte. Uebermächtige Einflüsse wirkten auch zu dieser Wendung in meinem Leben ein. Das ganze Zeitalter sprang von der Anstrengung der äußeren Thaten in ein ganz inneres, phantastisches Geistesleben über ( S . 3 8 ) .

Es ist bezeichnend für das oben angemerkte Bestreben, Individual- und N a tionalgeschichte parallel zu setzen, daß Gervinus im Rahmen seines Berichts die >Lesewuth< nicht nur als von der eigenen Anlage, sondern auch von T e n denzen bestimmt sieht, welche innerhalb einer bestimmten Phase der N a tionalgeschichte dominierend sind. Ahnliche Ubereinstimmungen sieht er auch zwischen der poetischen Tätigkeit des Vierzehnjährigen und der literarischen Szene während der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts. 5 7 In beiden Fällen sollen Anlage und Umwelt von vornherein übereinstimmen und erscheinen nicht als im Rahmen der Bildungsgeschichte zu vermittelnde Gegensätze. Andererseits ist der spätestens seit Goethe in der deutschen Autobiographik virulente Gegensatz zwischen Ich und Lebenswelt, zwischen den Bestrebungen des Subjekts und den Gegebenheiten und Anforderungen von 56

G . G . Gervinus Leben . . . S. 104.

57

G . G . Gervinus Leben . . . S. 45.

243

Familie, Gesellschaft etc. auch für diese Autobiographie relevant und bestimmt in hohem Maße ihren Aufbau. Das wird nirgendwo deutlicher als durch das von Gervinus ausgiebig dargestellte Schwanken des Knaben und Jünglings zwischen literarischer Betätigung und einem ihm widerstrebenden Bemühen, ernsthaft und realitätsbezogen tätig zu sein. So folgen entsprechende Phasen in der Autobiographie fast alternierend aufeinander: einer weitgehend orientierungslosen Lektüre und Produktion von Literatur während der letzten Schulzeit folgt die von Gervinus als Jugendlichem abgelehnte, als Autobiographen jedoch hochgeschätzte kaufmännische Lehre; diese Phase wird abgelöst durch Theaterleidenschaft, die letztlich in Plänen kulminiert, Schauspieler zu werden; schließlich weicht auch >dieses Luftschloß^ 8 einer realistischeren Einschätzung der eigenen Möglichkeiten, und Gervinus beginnt >Die Lehrjahre in der Wissenschaft^ Dieser nur sehr grobe Aufriß der Abfolge ließe sich noch weiter differenzieren, da der Wechsel zwischen literarischer Schwärmerei 5 9 und praktischer Tätigkeit auch innerhalb der genannten Phasen manifest gemacht wird. 6 0 Gervinus orientiert sich bei der Darstellung dieses Wechsels offensichtlich nicht allein an der oben erwähnten Tradition innerhalb der Gattung >AutobiographieWilhelm Meisters Lehrjahren 6 1 Darauf deuten nicht nur inhaltliche Faktoren wie der Wechsel zwischen Theater- und Kaufmannssphäre hin, sondern auch scheinbare Kleinigkeiten wie die wiederholte Aufnahme des Substantivs >Lehrjahre< in einzelne Kapitelüberschriften oder der an Hegels berühmte Wilhelm-Meister-Kommentierung gemahnende Sprachduktus des alternden Autobiographen, so wenn dieser die >Fieberhitze schwärmerischer Einbildung< mit der >Prosa der Wirklichkeit^ 2 in Beziehung zu setzen sucht. Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang das Bestreben, den oben genannten Gegensatz zwischen literarischer Schwärmerei und praktischem Handeln während einer bestimmten Entwicklungsphase im Beruf des Schauspielers aufzuheben, den 58 59

60 61

62

G . G . Gervinus Leben . . . S. 56, 98. Gegenstand und Ausgangspunkt dieser poetisierenden Schwärmerei ist vornehmlich das dichterische Werk Jean Pauls; es ist bezeichnend für die ablehnende Haltung des späten Gervinus gegenüber dieser Lektüre (nicht gegenüber Jean Paul), daß er mittels einer Paraphrasierung eines auf S. 181 dieser Arbeit behandelten Zitats aus der >Selberlebensbeschreibung< sich nach dieser Lektüre als »in mein Schneckenhaus eingeengt, die Fühlhörner so eingezogen« (G. G . Gervinus Leben . . . S. 73) darstellt. G . G . Gervinus Leben . . . S. 69 ff. Die Kohärenz des dargestellten Lebenslaufes ist also nicht, wie Neumann behauptet, die notwendige Folge intensiver Lebensplanung, sondern Ergebnis sprachlicher Gestaltung. Neumann: Identität . . . S. 164. G . G . Gervinus Leben . . . S. 70/71, 99.

244

bei aller Schwärmerei immer vorhandenen >dunklen Drang zum Handeln< und das damit verbundene Streben nach außenbezogenem, öffentlichem Wirken auf der Bühne zur Entfaltung zu bringen. An Goethes Bildungsroman erinnert dabei vor allem die Begründung: weil das öffentliche Leben in Deutschland keinerlei Anstöße zu verantwortlicher gesellschaftlicher T ä tigkeit vermittelt, muß dieser Anstoß im Bereich der theatralischen Kunst gesucht werden. 6 3 Dabei spielt allerdings der in >Wilhelm Meisters Lehrjahre< so wichtige Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum in Gervinus' Argumentation keine Rolle; der »bürgerliche Held< wird hier nicht an öffentlicher Tätigkeit gehindert, weil diese traditionell von Angehörigen der Adelsgesellschaft ausgeübt wird, sondern weil die politischen Zustände im Deutschland der Restauration ein uneingeschränktes gesellschaftliches H a n deln nicht zulassen. Gervinus' >Verirrungen< in die Sphären des Dichterischen werden von ihm einerseits mit Hilfe gängiger Topoi der Dichterkritik 6 4 ausgiebig ironisierend dargestellt, erscheinen aber andererseits als notwendige Stufen innerhalb der Gesamtentwicklung. Denn der Wechsel zwischen literarischer Schwärmerei und der von ihm durchaus bejahten >Prosa der Wirklichkeit< 6 5 wird vom Autobiographen so gestaltet, daß er als notwendige Voraussetzung für den Endpunkt dieser Entwicklung, nämlich die Profession des Literarhistorikers, gelten muß. In dessen Tätigkeit vereinigen sich nach G e r vinus die genannten Gegensätze, sie versöhnt ihn schließlich mit sich und auch mit seiner Umwelt. Deshalb erscheint der Entschluß zur Produktion und Publikation der umfänglichen »Geschichte der deutschen Nationalliteratur* als H ö h e - und Endpunkt dieser Entwicklung, und die folgenden Ausführungen dazu stehen auch sicher nicht zufällig am Ende desjenigen Kapitels, mit dem die Bildungsgeschichte dieses Gelehrten abgeschlossen wird: Mich selbst zog der Gegenstand (die Literaturgeschichte, J. L . ) von allen möglichen Seiten an. E r warf mich mitten in die Welt der Poesie hinein, die immer so viel Anziehungskraft auf mich übte; die Aufgabe war die des Geschichtschreibers, der aber doch in Materie und Methode sich die Verbindung mit den beiden nachbarlichen Disciplinen offen halten konnte, die ihn nicht losließen; es war ein höchst nationaler Stoff, der in sich durch die Vollendung unserer klassischen Dichtungsperiode geschichtlich vollkommen abgeschlossen war; selbst die politischen Zwecke, die mir vorschwebten, waren mit dem scheinbar unverträglichen Gegenstande keineswegs unvereinbar. Ich schrieb das Werk von vorn herein in der Ten63 64

G. G. Gervinus Leben . . . S. 94. Z. B. Dichtung als verzerrende Darstellung der Wirklichkeit, Dichtung als Verführung der Jugend, Dichtung als Quelle der Untätigkeit. Bes. G. G. Gervinus Leben . . . S. 70 ff.

65

Auch dieser Wechsel gehört übrigens nach Auffassung von Gervinus zu denjenigen Faktoren, die ihn mit Tendenzen der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts verbinden. Vgl. dazu: G. G. Gervinus Leben . . . S. 67.

245

denz, den Deutschen zu zeigen, daß alle ächten Lorbeeren, die sie auf dem Felde der Dichtung zu pflücken hatten, vorläufig eingethan seien; ich schrieb die erste Zeile mit der Aussicht auf das letzte Blatt des Werkes; denn grade die gewaltsamen Zuckungen unserer Literatur in Folge der neuen politischen Reaction, die Zerrissenheit der Geister, die Untergrabung der alten guten Sitte und Wissenschaft überzeugten mich täglich mehr, daß auch die Zeit der guten alten Kunst vorüber war, wenn auch die Zeit der staatlichen Entwicklungen in Deutschland noch so weit ausstehen sollte. Daß ich mich für die politisch=patriotischen Zwecke, die mich so stark bewegten, mit der Wahl dieses Stoffes auf einen weiten Umweg begab, das wußte ich sehr wohl; der Gang der öffentlichen Dinge bewies aber, in wie richtigem Takt ich voraussah, es werde damit nichts wesentliches versäumt sein; ich hatte das deutliche Gefühl, daß die negativen Richtungen, die unsere politische Existenz verzögerten, mit keinen zu umständlichen Anstalten bekämpft werden könnten. Ich wußte auch, daß ich mit einer so kolossalen Unternehmung den Plan meines Lebens schon in so jungen Jahren gleichsam abschlösse; (S. 298/299). W e n n G e r v i n u s die bereits in d e r >Geschichte d e r p o e t i s c h e n N a t i o n a l - L i t e r a t u r d e r D e u t s c h e n « f o r m u l i e r t e n T h e s e n v o m E n d e der K u n s t p e r i o d e 6 6 n o c h e i n m a l a u f g r e i f t , d a n n b e d e u t e t d a s hier nicht allein eine e r n e u t e A k zentuierung der diesem W e r k zugrundeliegenden

Darstellungsprinzipien.

V i e l m e h r dient d i e s e W i e d e r a u f n a h m e i n n e r h a l b der A u t o b i o g r a p h i e a u c h n o c h einmal einer B e k r ä f t i g u n g d e r eigenen h i s t o r i o g r a p h i s c h e n P r o f e s s i o n . B e z e i c h n e n d e r w e i s e g r ü n d e t er seine L i t e r a t u r g e s c h i c h t s s c h r e i b u n g schließlich d o c h nicht allein auf d i e V e r s ö h n u n g v o n literarischer m i t >praktischer< T ä t i g k e i t , s o n d e r n a u c h auf eine A r t h i s t o r i o g r a p h i s c h e r B e g a b u n g , ist d o c h d e r g e w ä h l t e » U m w e g « s o w i e d e r d a m i t v e r b u n d e n e >Lebensplan< a u c h b e d i n g t u n d veranlaßt d u r c h > h i s t o r i o g r a p h i s c h e I n s p i r a t i o n < , 6 7 d u r c h eine m e h r u n b e w u ß t e r f a h r e n e als a n a l y t i s c h e r a r b e i t e t e E r k e n n t n i s der G e s e t z m ä ß i g k e i t e n v o n h i s t o r i s c h e n A b l ä u f e n . S o ist es g e m ä ß seiner a u t o b i o g r a p h i s c h e n D a r s t e l l u n g s c h o n i m J a h r e 1830 die » h i s t o r i s c h e W i t t e r u n g « , 6 8 die i h m die U b e r z e u g u n g vermittelt, » d a ß in D e u t s c h l a n d die D i n g e f ü r irg e n d eine d a u e r n d e p o l i t i s c h e U m g e s t a l t u n g nicht reif w a r e n « u n d » d e m g e l b s c h n ä b l i g e n K a n n e g i e ß e r s c h o n jetzt z u w e i l e n eine kleine A u f m e r k s a m keit e i n t r u g e n auf seinen p o l i t i s c h e n I n s t i n c t o d e r seine h i s t o r i s c h e W i t t e r u n g « . 6 9 A u c h hier g e h ö r t z u dieser » h i s t o r i s c h e ( n ) W i t t e r u n g « die E r k e n n t n i s , daß die literarische S z e n e eine s o l c h e p o l i t i s c h e 66

67 68 69

Umgestaltung

Gervinus, G . G . : Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Leipzig 1835—1842. Bd. V, S. 735. Die Rede vom >Ende der Kunstperiode< erinnert natürlich an H . Heines Äußerungen in f r a n z ö s i s c h e Maler< aus dem Jahre 1831. Im Gegensatz zu Gervinus geht es Heine allerdings nicht um eine Ablösung dichterischen durch politisches Handeln, sondern um eine inhaltliche und funktionale Neubestimmung der Kunst. G. G. Gervinus Leben . . . S. 234. G. G . Gervinus Leben . . . S. 234. G. G . Gervinus Leben . . . S. 234.

246

schon gar nicht leisten könne, weil ja die große Zeit der Literatur vorbei sei. Dabei wird, ähnlich wie in der »Geschichte der poetischen National-Literatur< oder der Börne-Kritik, das »Junge Deutschland« zum Gegenstand ungerechter, ja bösartiger Angriffe: Sah ich mich nun der Literatur des »jungen Deutschland< gegenüber, die mit der Julirevolution aus allen Winkeln aufquellend ein seichtes Gewässer revolutionärer Tendenzen über ein dürres aufsaugendes Gelände ergoß, so war mir im Innersten bange vor einer zweiten Verfrühung und Verpfuschung des politischen Lebens. Ich war einig mit den jungen Schreiern und Schreibern über das Ziel, aber nicht über die Wege . . . U n d diese Trägheit der Seelen, diese Herzensfeigheit, diesen Charaktermangel zu heilen, schien mir die flaue Poesie und Belletristik am wenigsten geeignet, die wir nachgerade gewöhnt waren mehr als ein Schlafmittel einzunehmen (S. 2 3 4 / 2 3 5 ) .

Der nachdrückliche Verweis auf die »historische Inspiration< zielt sowohl auf die oben bereits erörterte Historikerrolle als auch auf die Spezialisierung zum Literaturhistoriker. Er unterstreicht zum einen die Begabung von Gervinus, die Gesetzmäßigkeiten von historischen Abläufen auch ohne genaues Quellenstudium und Quellenkritik richtig und rechtzeitig zu erkennen und zu bewerten, ist also noch einmal eine polemische Spitze gegen die RankeSchule. Zum anderen wäre er ohne diese Begabung nie von der Profession des Historikers zum Literaturhistoriker gelangt, hat sie ihn doch zu der Erkenntnis geführt, daß die Rolle des Literaturwissenschaftlers besonders geeignet ist, einen »mittleren Standpunct zwischen Wissenschaft und Leben« 7 0 einzunehmen, auf ihm zu verharren und damit den Problemen der Tagespolitik mit Souveränität gegenüberzutreten: . . . ich glaubte in Schiller's Geiste, daß der U m w e g durch Kunst und Wissenschaft für des Vaterlandes staatliche Geschicke keineswegs verloren sei, wenn ihr Inhalt nur gesund und tauglich war. Ich gefiel mir in dem schmeichlerischen Gedanken, der »redliche Finder< sein zu können, den sich Schiller in seinen Briefen über den D o n Carlos prophezeite: der auf dem Wege der Wissenschaft die Vorbereitung für das politische Leben fortsetze, die E r auf dem Wege der Kunst erzielte; ich hatte das Gefühl, daß der langsame Verlauf der Volksgeschichte in dem getheilten Lande auch künftig noch neue »Finder* nöthig machen werde, die, ganz und nur in dem Boden der Praxis gewurzelt, mit den Händen das ausführen müßten, was die Köpfe zuvor nur ausgedacht. In dieser Stellung habe ich mein ganzes Leben ausgehalten, und ich hatte mich des Gleichmuths meiner Seele zu freuen in den Katastrophen, in welchen die Hoffnungen für die vaterländischen Dinge zeitweilig versanken, zeitweilig enthusiastisch überspannt wurden: da bog ich gelassen in die Wege der Kunst wieder ein . . . (S. 266).

Dieser Gestus der Souveränität kann die Unfähigkeit zu politischem Handeln freilich nur mühsam kaschieren. Denn Gervinus, der wie kaum ein anderer Historiograph im 19. Jahrhundert die eigene publizistische und histo70

Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur . . . Bd. IV, S. V I .

247

riographische Tätigkeit als politisches Handeln verstehen will, ist letztlich immer gescheitert, wenn er konkrete politische Aufgaben zu bewältigen suchte. Das beweisen die erfolglose Mitarbeit an der verfassungsgebenden Versammlung 1848 ebenso wie die gescheiterte außenpolitische Mission in England im Jahre 1850. Das »gelassene Einbiegen in die Wege der Kunst< war also meist erzwungen, der wiederholte Hinweis auf die einen »mittleren Standpunct zwischen Wissenschaft und Leben ermöglichende Inspiration< darf als Begründung dafür gewertet werden, daß der über sie Verfügende trotz wiederholter Proklamation eine konkrete politische Wirkung weder mittels publizistischer Aktivitäten noch über den Weg wissenschaftlicher Forschung und Lehrtätigkeit erreicht hat.

7.3. Schlußbemerkung Gervinus ist also augenscheinlich der zu Beginn dieser Arbeit erörterten Ankündigung nachgekommen: er hat als Autobiograph weder im Stil eines »eitlen Confessionenschreibers< noch in dem eines Dichtung und Wahrheit vermischenden Erzählers gehandelt. Vielmehr hat er die am Anfang seiner Autobiographie so ausführlich umrissene »Aufgabe des Biographen< erfüllt und die eigene Lebensbeschreibung zum Bericht eines Historiographen gemacht, der von sich selbst so spricht, wie auch andere über ihn reden könnten. D i e Untersuchung dieses Textes von Gervinus hat jedoch auch ergeben, daß selbst diese so eindeutig berichtende Autobiographie erzählende und bekennende Passagen enthält. So läßt die sorgfältige Gestaltung des eigenen Lebensweges zum Literarhistoriker immer wieder den an literarischen V o r bildern geschulten Erzähler erkennen, und auch der Gestus des bekennenden Autobiographen ist bisweilen unübersehbar. Schließlich ist diese Autobiographie nicht allein deshalb interessant, weil sie — ähnlich wie die Biographie im 19. Jahrhundert 7 1 — Methode und Gegenstand der Historiographie repräsentiert, sondern weil sie in einzelnen Passagen als Rechtfertigung und Auseinandersetzung eines bestimmten Individuums mit anderen Historiographen verstanden werden muß. Damit bestätigt sich noch einmal die zu Beginn dieser Arbeit geäußerte These, gemäß der die drei genannten Typen Idealtypen sind, denen die einzelnen unterschiedliche Dominanzen setzenden Autobiographien als konkrete historische Phänomene niemals ausschließlich zuzuordnen sind. Das mindert jedoch keineswegs die Bedeutung dieses Textes im Rahmen der aufgezeigten Gattungsentwicklung, die von einer bestimmten Abfolge 71

V. Graevenitz: Geschichte aus dem Geist des Nekrologs. S. 109.

248

von der bekennenden über die erzählende z u r berichtenden Autobiographie gekennzeichnet war. Vielmehr zeigen die von Gervinus in seinem V o r w o r t formulierten Aussagen über »Dichtung und Wahrheit< und die »Bekenntnißschriften«, daß dieser Autobiograph die hier verfolgte Entwicklung der deutschen Autobiographik zwischen 1700 und 1870 geradezu resümiert, indem er sie sowohl theoretisch reflektiert als auch praktisch f ü r die Gestaltung der eigenen Lebensgeschichte fruchtbar macht.

249

Literaturverzeichnis

1.

Primärtexte

1.1.

Autobiographien

(einschließlich der behandelten autobiographischen R o m a n e und Biographien) Aksakov, Sergej: Detskie gody Bagrova-vnuka (Die Kinderjahre des Enkels Bagrov). Moskva 1959. Alexis, Willibald: Erinnerungen. Berlin 1900. Alfieri, Vittorio: Mein Leben. Hrsg. v. G . Z o p p i , übers, v. H . Hinderberger. Zürich 1949. Andryana,

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eines

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3

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Gesammelte

Schriften. Gesammtausgabe in zwölf Bänden. Berlin 1869, Bd. 9, S. 15 — 17. Carl Heinrich von Bogatzky's Lebenslauf, von ihm selbst beschrieben. Für die Liebhaber seiner Schriften und als Beytrag zur Geschichte der Spener'schen theologischen Schule herausgegeben. Halle 1801. Bohlen, Peter v.: Autobiographie. Königsberg 1842.

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Gor'kij,

Maksim

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V.

A.:

K

vopprosu

ob

avtobiograficeskich

povestjach

M. G o r ' k o g o

>Detstvo< i >V ljudjach< (Zur Frage nach den autobiographischen Kurzromanen M . G o r ' k i j s >Detstvo< und >V ljudjachDichtung und WahrheitUber den DilettantismusDichtung und Wahrheit« und in Rousseaus >ConfessionsDichtung und Wahrheit«. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1970. Hiebel, Friedrich: Goethe. Die Erhöhung des Menschen — Perspektiven einer morphologischen Lebensschau. Bern und München 1961. Jahn, Kurt: Goethes Dichtung und Wahrheit. Vorgeschichte — Entstehung — Kritik - Analyse. Halle 1908. Kohlschmidt, Werner: Die Begegnung Goethes mit Herder in Straßburg. In: Revue d'Allemagne 3, 1971, S. 1 5 4 - 1 6 4 . Kuhn, Dorothea: Das Prinzip der autobiographischen Form in Goethes Schriftenreihe >Zur Naturwissenschaft überhaupt, besonders zur Morphologie«. In: Neue Hefte zur Morphologie 4, 1962, S. 1 2 9 - 1 4 9 . Mandelkow, Karl Robert: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. 3 Bde. München 1975—1979. Mayer, Hans: Goethe, >Dichtung und Wahrheit«. In: Mayer, Hans: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963, S. 9 3 - 1 2 1 . Pascal, R o y : Goethe's Autobiography and Rousseau's »Confessions«. In: Studies in French Language, Literature and History, presented to R. I. Graeme Ritchie. Cambridge 1949, S. 1 4 7 - 1 6 2 . Pohle, Klaus-Rüdiger: >Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« oder Die Wiederholung des Lebens. Studien zur Altersperspektive der Geschichte der Jugend omnis vivam. Phil. Diss. F r e i b u r g / B r . 1972. Pyritz, Hans: Selbstschau des alten Goethe. In: Pyritz, Hans: Goethe-Studien. K ö l n / Graz 1962, S. 7 2 - 9 5 . Schuler, Reinhard: Das Exemplarische bei Goethe. Die biographische Skizze 1803 und 1809. München 1973. Schulz, Günter: Goethes Einsicht in den geselligen Lebensprozeß. Seele und Gesellschaft in >Dichtung und Wahrheit«. Bonn 1938. Sommerfeld,

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(Hrsg.):

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und

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Grewendorf,

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Festschrift

für

Ernst

Wolf

zum

60. Geburtstag.

München

1960,

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C a r l : Typologische

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G o o c h , G . P.: Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert. Vom Verfasser neubearbeitete deutsche Ausgabe mit einem Ergänzungskapitel. F r a n k f u r t a. M. 1964. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis u n d seine sozialen Bedingungen. Ubers, a. d. Franz. Berlin 1966. Hiller, H e l m u t : Zur Sozialgeschichte von Buch u n d Buchhandel. Bonn 1966. Koselleck, Reinhard: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. F r a n k f u r t a. M. 1973. M a r q u a r d , O d o : D e r angeklagte und entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts. I n : Studien z u m 18. J a h r h u n d e r t . M ü n c h e n 1980, Bd. 2/3, S. 1 9 3 - 2 0 9 . Metz, K a r l - H e i n z : G r u n d f o r m e n historiographischen Denkens. Wissenschaftsgeschichte als Methodologie. Dargestellt an Ranke, Treitschke u n d Lamprecht. Mit einem A n h a n g über zeitgenössische Geschichtstheorie. M ü n c h e n 1979. Möller, H e l m u t : Die kleinbürgerliche Familie im 18. J a h r h u n d e r t . Verhalten und G r u p p e n k u l t u r . Berlin 1969. Ranke, Leopold v.: Sämtliche Werke in 54 Bänden. Leipzig 1867—90. Ranke, Leopold v.: Das Briefwerk. Eingel. u. hrsg. v. Walter Peter Fuchs. H a m b u r g 1949. Rüsen, J ö r n : Geschichte und N o r m — Wahrheitskriterien der historischen Erkenntnis. In: Oelmüller, Willi (Hrsg.): N o r m e n und Geschichte. P a d e r b o r n / M ü n c h e n / Wien / Zürich 1979, S. 1 1 0 - 1 3 9 . Schenda, R u d o l f : Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1 7 7 0 - 1 9 1 0 . F r a n k f u r t a. M. 1970. Schütz, Alfred: D e r sinnhafte A u f b a u der sozialen Welt. F r a n k f u r t a. M . 1974. Stemme, Fritz: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. In: Z f d P h 72, 1953, S. 1 4 4 - 1 5 8 . Streisand, Joachim (Hrsg.): Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung von oben. Berlin (Ost) 1963. Taubes, Jacob: Geschichtsphilosophie und Historik. Bemerkungen zu Kosellecks K o n z e p t einer neuen Historik. In: Geschichte - Ereignis u n d Erzählung (Poetik und H e r m e n e u t i k V). M ü n c h e n 1973, S. 4 9 0 - 4 9 9 .

281

Namenregister

Achmatova, Anna 26

Bertolini, Ingo 98, 118

Aichinger, Ingrid 2 - 7 , 36, 43, 201, 203

Best, K a r l - H e i n z 54, 56

Aksakov, Sergej 40, 72, 80, 2 ) 6

Beutler, Ernst 139

Alexis, Willibald 45

Beyer-Fröhlich, Marianne 1

Alfieri, Vittorio 139

Biedermann, Woldemar Freiherr von

Alt, Carl 139

159, 172

Anderegg, Johannes 5, 32

Blanckenburg, Friedrich von 136

Anspach, Markgräfin von 199

Blanckensee, Joachim Friedrich 113

Aries, Philippe 221

Bloch, Ernst 44

Arndt, Ernst M o r i t z 192, 229, 241

B l o k , Alexander 8 3 - 8 5

Atarova, K. N . 40

Blümel, Emil Karl 198

Auerbach, Berthold 2 3 0

Blumenberg, Hans 121/122

Augustinus 27, 31, 33, 41, 43, 121, 219

Boehlich, Walter 242

Austin, J o h n L . 1 3 - 1 9 , 20, 21, 30, 55,

Bodenstedt, Friedrich 37

58, 68

Bogaevskaja, K . P. 64 Bohlen, Peter von 194, 228

Bach, Johann Sebastian 124

Bollnow, O t t o Friedrich 2 1 8

Bachtin, Michail 5, 2 5 - 2 9 , 52, 67, 85,

B o o t h , Wayne C . 49

98, 100, 206

Borisov, Leonid Il'ic 85

Bäuerle, Adolf 192, 215

Botkin, Vasilij Petrovic 68

Bahrdt, Carl Friedrich 134, 136

Bräker, Ulrich 120, 129, 135, 173

Baldinger, Friderika 134

Bremond, Claude 48

Ballmer, Thomas T . 55

Brentano, Clemens 216, 220

Barner, Wilfried 30

Brettschneider, Karl Gottlieb 229

Barthes, Roland 48

Brinkmann, Richard 2 3 0

Bartoszyriski, Kasimierz 5, 22, 52

Brion, Friederike 152—153

Bauer, Karoline 198

Bronner, Franz Xaver 134 — 136, 193

Baumann, Gerhart 158

Brunn, Friedrich Leopold 1 3 2 - 1 3 4

Beaugrande, Robert-Alain de 21

Brunner, O t t o 225

Bebel, August 72

Bruyn, Günter de 174, 177

Behrisch, Ernst Wolfgang 144

Bubner, Rüdiger 13/14

Belinskij, Vissarion V . 6 2 - 7 1

B u c k , August 27

Belousov, V . 85

Buck, Günther 121

Belyj, Andrej 39, 80

Büsching, Johann Gustav Gottlieb 134

Berend, Eduard 167, 169

Büttern, M . Andrea 92

Bergson, Henri 44

B u f f o n , George Louis C o m t e de 122

Berlichingen, G ö t z von 139

Bunin, Ivan 80

Bernd, Adam 29, 36, 39, 8 9 - 1 1 0 , 122,

Bunyan, J o h n 219

127, 131

Burger, J . Matthias 190

283

Campe, Julius 200 Canetti, Elias 31, 80 Cardano, Girolamo 43, 46, 139 Cari August von Weimar 142 Cari, Rolf-Peter 233, 240, 242 Caroli Quarti siehe Karl IV. Carossa, Hans 80 Carus, Cari Gustav 43, 139, 1 6 5 - 1 6 6 , 191 Cellini, Benvenuto 38, 1 3 8 - 1 4 0 , 194 Chabanon, Michel Paul Guy de 92 Chézy, Helmina von 227f. Clauren, H. 194 Corvin, Otto von 205 Crome, August Friedrich Wilhelm 189 Cyprian, Ernst Salomon 112, 113 Czermirìska, Mafgorzata 220 Dahn, Felix 163 Dammenhan, Johann 91 Danto, Arthur C. 20, 47 Derrida, Jacques 46 Desnickij, Vasilij Alekseevic 72 — 81 Diderot, Denis 139 Dietz, Johann 113 Dijk, Teun van 5, 23, 24, 30 Dilthey, Wilhelm 38, 44, 238 Dinter, Gustav Friedrich 1 8 8 - 1 9 0 , 194 Dippel, Johann 113 f. Dòblin, Alfred 61 Dorow, Wilhelm 41, 175 Dostoevskij, Fjodor M. 28, 29, 64 Dressler, Wolfgang 21 Droysen, Johann Gustav 46 Diihnert, Johann Cari 136 Duncan, Isadora 84 Durkheim, Emile 45 Ebeling, Hans 121 Eberhard, August Gottlob 161 f., 195 Eberhard, Wilhelmine 161 f. Ebert, Karen 19 Ebner-Eschenbach, Marie von 79 Eckermann, Johann Peter 159, 172, 194 Eco, Umberto 39 Edelmann, Johann Christian 29, 52, 110, 114 ff. Eichendorff, Joseph von 27, 46, 163, 229 Eickemeyer, Rudolf H. 228

284

Ejchenbaum, Boris Michajlovic 63 Eischenbroich, Donata 217 Emmerich, Wolfgang 72 Erenburg, Ilja 45 Erler, Gotthard 240 Ernst August von Hannover 241 Esenin, Sergej 8 1 - 8 6 Fanshel, David 47 Fest, Johann Samuel 129 Fichte, Johann Gottlieb 175, 205 Fillmore, Charles 37 Flitner, Wilhelm 149 Fontane, Theodor 80, 192, 217 Fouqué, Friedrich de la Motte 1 9 6 - 1 9 7 Franck, Dorothea 18/19 Francke, August Hermann 36 Frank, Johann Peter 122 Frerichs, Petra 2, 4, 6, 72 Freud, Sigmund 45 Fricke, Harald 21, 60 Friederich, Johann Konrad 27, 51, 80, 163 Friedrich II. von Preußen 51, 120, 199 Friedrich, Caspar David 191 Fries, Heinrich 60 Fuchs, Albert 139 Funck, Z. 191, 236 Funk, Heinrich 142 Fuhrmann, Manfred 42, 79 Gabriel, Gottfried 23, 32, 58, 77, 81 Geliert, Christian Fürchtegott 36 Gercen, Alexandr 52, 68 Gerhard, Melitta 155 Gerok, Karl 215 Gerth, Hans H. 114 Gervinus, Georg Gottfried 7—11, 52, 56, 139, 155, 183, 227, 2 3 3 - 2 4 9 Gervinus, Victorie, geb. Schelver 234-235, 242-243 Gibbons, Edward 92 Gide, André 43, 66 Goethe, Johann Wolfgang 6, 8, 9, 27, 38, 40, 45, 48, 49, 52, 131, 132, 136, 137, 1 3 8 - 1 6 6 , 167, 171 f., 181 f., 188, 189, 191, 194, 195, 201, 203/204, 218, 244, 245 Gogol, Nikolaj 29, 42, 52, 6 2 - 7 0 , 98, 101 Gollwitzer, Helmut 60

Goltz, Bogumil 87, 184, 190, 192, 215-226 Gooch, Georg Peabody 227 Gor'kij, Maksim 38, 7 1 - 8 1 , 82 Gorodeckij, Boris Pavlovic 83, 85 Gottsched, Johann Christoph 112 Grabbe, Christian Dietrich 200, 202, 212-214 Graevenitz, Gerhart von 109, 110, 112, 238f., 248 Grice, Paul 15, 16 Grigor'ev, Apollon 63 Grillparzer, Franz 36, 48, 229 Grimm, Herman 240 Grimm, Reinhold 232 Grossmann, Walter 115—116 Grützmacher, Carl 220 Guber, Aleksandr 63 Gülich, Elisabeth 20, 48, 61 Gumbrecht, Hans Ulrich 24 Gundling, Jakob Paul Freiherr von 133 Gusdorf, Georges 2/3, 43 Gustav Adolf von Schweden 203 Gutenberg, Norbert 54, 56 Gutzkow, Karl 38, 72, 192, 194, 215, 217, 229 Habermas, Jürgen 16, 49, 55, 83, 91, 109, 136 Hackert, Philipp 139 Hagen, Johann Philipp 48 Hahl, Werner 193, 198 Hahn-Hahn, Ida 188, 191 Halbwachs, Maurice 45 Haller, Johann Albrecht von 36, 136 Hamann, Johann Georg 36, 98, 109 Hamburger, Käte 33 Hardt, Ernst 121 Harms, Claus 228 Harring, Harro 198 Harweg, Roland 21 Hase, Karl von 38 Hauff, Wilhelm 195 H a y m , Rudolph 239 Hebbel, Friedrich 36, 217 Hebel, Johann Peter 191 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 44, 45, 189, 209, 230, 2 3 9 - 2 4 0 , 244 Heil, Theodor 194

Heine, Heinrich 191, 210, 246 Heiner, Hans Joachim 216 Hellbach, Johann Christian 163 Hellmann, Winfried 230 Hempel, Carl 5 4 - 5 7 Hempfer, Klaus W . 23, 53, 56 Hendricks, William O. 21 Henrich, Dieter 56 Herbart, Johann Fr. 193 Herbst, Friedrich Ludwig Wilhelm 231 241 Herder, Johann Gottfried 98, 109, 122, 129-133, 141-143 Hermand, Jost 232 Hernas, Czesfaw 30, 37 Herzen, Alexander siehe Gercen, Alexandr Hessemer, Friedrich Maximilian 236 Hettner, Hermann 155, 217 Hiebel, Friedrich 144 Hiller, Helmut 195 Hindelang, Götz 16 Hobbes, Thomas 121 Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm (Amadeus) 65, 188, 216, 217 Hoffmann, Heinrich 39 Hoffmann, Volker 7, 94, 100 Holtei, Karl von 189, 193 Homer 187, 243 Horn, Franz 194 Hoser, Joseph Carl Ed. 228 Houben, Heinrich Hubert 197 f. Hoven, Friedrich Wilhelm von 41, 190 Huber, Daniel 48, 120, 128 f. Humboldt, Wilhelm von 148, 218 Huth, Lutz 58 Iffland, August Wilhelm 185 Iken, Carl Jakob Ludwig 157, 158 Immermann, Karl 38, 80, 87, 199, 2 0 0 - 2 1 5 , 229, 233, 236 Iser, Wolfgang 29, 30, 33, 48, 51, 227 Isokrates 42 Ivanov, Vjaceslav 66 Jacobs, Jürgen 190 Jäsrich, Friedrich Gotthilf 195/196 Jahn, Curt 139 Jahn, Friedrich Ludwig 229, 241 285

Janoska-Bendl, J . 56 Jauß, Hans Robert 30, 230 Jean Paul 27, 40, 42, 137, 161 f., 1 6 6 - 1 8 3 , 184, 222, 244 Jenisch, Daniel 8 9 - 9 3 , 128f., 130, 133, 135 Jöcher, Christian Gottlieb 94, 111 Joseph I von Osterreich 120 Jünger, Friedrich Georg 44 Jung, Johann Heinrich 134, 139, 179, 216, 219, 223 Jung-Stilling siehe Jung, Johann Heinrich Jusin, Petr Fedorovic 84 Kambartel, Friedrich 58 Kanne, Johann Arnold 134 Kant, Immanuel 122 Karl IV. 50 Karl Eugen von Württemberg 120, 123 Karowski, Walter 60 Kausch, Johann Joseph 120, 122, 134 Kazin, Alfred 33 Keller, Gottfried 2 1 5 - 2 1 7 Kerner, Justinus 163, 164, 215 Ketteier, Lili von 52 Keyserlingk, Hermann von 232 Kiefer, Ferenc 19 Kierkegaard, S0ren 164 Kind, Friedrich 194 Kind, Hansgeorg 221 Kittler, Friedrich A. 121, 217 Klaiber, Theodor 1 Klee, Christian Carl Ludwig 191 Klein, Klaus-Peter 61 Klemm, Johann Christian 112 Klettenberg, Susanna Katharina von 142 Kljuev, Nikolaj Alekseevic 83, 85 Klopstock, Friedrich Gottlieb 124 Klose, Carl Rudolph Wilhelm 1 1 4 - 1 1 5 König, Carl Bernhard 161 f., 188, 215 Kohlschmidt, Werner 143 Kommerell, Max 175 Kortum, Carl A. 48 Koselleck, Reinhart 47, 136 Kotzebue, August von 161 f., 227 Kräuter, Friedrich Theodor David 161 Krause, Karl Christian Friedrich 240 Krauss, Werner 121

286

Kriegk, Georg Ludwig 233 Kristeva, Julia 27 Krug, Wilhelm Traugott 194, 228 Kück, Hans 241 Kügelgen, Gerhard von 166 Kügelgen, Gerhard von (Vater) 190 Kügelgen, Wilhelm von 166, 217 Kuhn, Dorothea 138 Kusikov, Alexander B. 82 Kuttenkeuler, Theodor 217 Labov, William 47 Lachmann, Renate 26, 31 Lackmann, Adam Heinrich 112 Lämmert, Eberhard 4, 74 Landwehr, Jürgen 21, 24, 30 Lang, Karl Heinrich Ritter von 193, 229 Langen, August 117 Langen, Joachim 110 Laube, Heinrich 205, 229 Lauer, Reinhard 162 Laukhard, Friedrich Christian vn 134, 136 Lavater, Johann Caspar 36, 142, 187 Lejeune, Philippe 2, 4, 43 Leonhard, Karl Caesar von 236 Lessing, Gotthold Ephraim 236 Lesskis, G. A. 40 Leßer, Friedrich Christian 112 Lichtenberg, Georg Christoph 36, 37 Lindner, Johann Gottfried 163 Linné, Karl von 122 Locke, John 101 Löbell, W. 237 Lotmann, Jurij 31, 34 Lowe, Johann Michael Siegfried 138, 1 3 9 - 1 4 1 , 154 Ludecus, W. 164 Luden, Heinrich 215 Ludwig I. von Bayern 159 Ludwig, Otto 61 Lützow-Ahlefeld, Elisa von 214 Luther, Martin 117 Lutze, Klaus 242 Maas, Utz 14, 17, 58 Märklin, Christian 239 Mahrholz, Werner 1 Maimon, Salomon 90

Malebranche, Nicolas 101

Oppenheimer, Paul 54, 56

Mandel'stam, Ossip 26

Ossiander, J o h a n n 133

M a n n , Klaus 66

Ossolinski, J e r z y 30

Mariengof, Anatoli Borisovic 82 Marquard, O d o 122

Pähl, J o h a n n Gottried von 2 2 9

Masinskij, S. 40

Pähl, Wilhelm 199

Massmann, Hans Ferdinand 195

Pascal, R o y 2, 4, 40, 216

M a y , Karl 39

Pavlov, Nicolai) Philippovic 63

Medvedev, Pavel Nikolaevic 25

Pawlowski, Tadeusz 54, 56

Meierotto, J o h a n n 132 — 134

Peskov, Alexej Maksimovic ( = Maksim

Melodius, Christian ( = Adam Bernd) 94-110

G o r ' k i j ) 72 Petersen, J o h a n n Wilhelm 110, 111

Menzel, Wolfgang 192, 198, 217

Petöfi, Janusz 19, 21

M e t z , K a r l - H e i n z 236

Petrarca, Francesco 27, 31

Meyer, Herman 172

Pichler, Caroline 164, 1 9 7 f .

Meyer, Johann Friedrich von 163

Pietsch, Ludwig 217

Meysenbug, Malwida von 38

Pitcher, G e o r g 69

Miltitz, Carl von 161 f.

Platen, August G r a f von 2 1 0 - 2 1 1

Minder, Robert 174

Platter, T h o m a s 48

Misch, G e o r g 1, 35, 36, 45, 91

Pockels, Carl Friedrich 90, 109, 122

Möller, Helmut 97

Pöllnitz, Freiherr von 199

Montaigne, Michel de 37, 139

Pohle, Klaus Rüdiger 138

M o r i t z , Karl Philipp 43, 72, 90, 122, 133, 136, 216

Polevoj, Petr Nikolaevic 70 Pratje, J o h a n n Hinrich 115, 119

M o r m a n n , Christine 33

Preisendanz, Wolfgang 189

Moser, J o h a n n J a k o b 111, 113, 120

Propp, Vladimir 48, 72

M o s t , Barthel 93

Pückler-Muskau, Hermann L. G . Fürst

Müller, J o h a n n G e o r g 92, 129 Müller, Klaus-Detlef 3 / 4 , 33, 35,

von 191 Puskin, Alexandr Sergiejevic 65, 67

4 4 / 4 5 , 51, 125, 128, 139, 144, 152 Mukarovsky, Jan 22, 45

Raible, Wolfgang 21, 48

Muratova, K. D . 72

Ranke, Leopold von 47, 2 0 9 , 227, 2 3 7 f f . Rebs, C h . G . 228

Nachtigal, J o h a n n C . C . 162

Rehbein, Franz 72

N a u m a n n , Manfred 29

Reimarus, Albert Heinrich 162

N e m c o v a , B o z e n a 73

Reimarus, Samuel 162

Nettelbeck, J o a c h i m 162, 229

Reimmann, J a c o b Friedrich 111 — 112

N e u m a n n , Bernd 2 - 7 , 9 1 , 1 1 7 f . , 119,

Reiske, J o h a n n J a c o b 112, 113

2 3 2 f . , 244 Niebuhr, Barthold G e o r g 209, 237 Niggl, Günter 3 - 6 , 111, 1 1 2 f . , 117, 125, 129, 135, 149, 155, 192 N o o r d e n , C . von 237 Novalis 216, 2 2 0

Reitz, J o h a n n Heinrich 113, 123 Retz, Jean François Paul de Gondi — Cardinal de 227 Richardson, Samuel 136 Richelieu, Armand Cardinal D u c de 227 Richter, Jean Paul Friedrich siehe Jean

Oehlenschläger, E c k a r t 169

Paul

Oelmüller, Willi 132

Richter, Johann 173

Oesterle, Günter 2 3 2 f . , 239

Richter, Max 168

Okopien-Siawinska, Alexandra 5, 22

Riemer, Friedrich Wilhelm 139, 143

287

Rock, Johann Friedrich 116 Rohmer, Friedrich Christian Ludwig 194, 215, 229 Rosegger, Peter K. 38 Rosenkranz, Carl 217 Rothfischer, Franz (Gregorius) 114, 135, Rousseau, Jean Jacques 8, 9, 48, 50, 76, 89, 93, 104, 110, 1 2 0 - 1 2 2 , 1 2 8 - 1 3 0 , 139, 216, 219 Rückert, Friedrich 226 Rüsen, Jörn 131 f. Runge, Philipp O. 220 Sachse, Johann Christoph 139, 161 Sagarra, Eda 195 Sand, Karl 227 Sandig, Barbara 21, 56, 84, 85 Saphir, Moritz Gottlieb 38, 194 Sartorius, Georg Christian 162 Sartre, Jean Paul 80 Schaden, Adolph von 188, 190 Schadow, Friedrich Wilhelm 210, 214 Schalk, Fritz 227 Schamelius, Johann Martin 96, 111 — 112 Schaub, Gerhard 216 Scheffner, Johann Georg 39 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 158 Schenda, Rudolf 193, 197 Scherer, Wilhelm 155 Scheuer, Helmut 231 Schilfert, Gerhard 237, 240, 242 Schiller, Friedrich 41, 92, 139, 190, 216, 227, 247 Schings, Hans-Jürgen 96, 101 Schlegel, Friedrich 213, 216 Schleier, Hans 237, 240, 242 Schlieben-Lange, Brigitte 14 Schlosser, Friedrich Christoph 236—239 Schmid, Christian Heinrich 136 Schmid, Christoph von 190 Schmid, Wolf 46 Schmidt, Siegfried J. 19 Schmidt-Dengler, Wendelin 33 Schnaase, Carl 210 Schöne, Albrecht 10 Schönemann, Lili 156 Schopenhauer, Arthur 184, 185 Schopenhauer, Johanna 184—187

288

Schoppe, Amalia 190 Schubart, Christian Daniel Friedrich 52, 87, 1 2 3 - 1 2 8 Schubart, Ludwig 124 Schubert, Gotthilf Heinrich von 190, 193, 236 Schütz, Alfred 56 Schwarz, Johann Ludwig 165, 195, 199 Schweikert, U w e 172, 174 Searle, John R. 1 4 - 2 0 , 23, 31, 32, 55, 58, 81 Seil, Carl 233, 236 Sengle, Friedrich 191, 192, 195 Senrok, V. I. 70 Sersenevic, Vadim Gabrièlevic 82 Seume, Johann Gottfried 52, 191 Sève, Lucien 2 Sevyrev, Stepan Petrovic 62, 70 Seybold, David Christoph 92 Shakespeare, William 142, 187, 213 Shumaker, Wayne 2/3 Sinerukov, A. E. 32 Slawinski, Janusz 5, 20 Sloterdijk, Peter 2 - 6 Spiegel, Marianne 135 Spielhagen, Friedrich 165, 230 Spieß, Philipp Ernst 92 Spindler, Carl 161 f., 224 Spinoza, Baruch de 142 Spittler, Ludwig Timotheus (von) 237 Sokrates 42 Ständlin, Carl Friedrich 162 Stanislawska, Anna 37 Stanzel, Franz 4, 23, 42, 84 Steffens, Henrich 163, 1 9 3 - 1 9 4 Steger, Hugo 16, 25 Stegmüller, Wolfgang 54 Stempel, Wolf-Dieter 20, 21, 32, 46, 61, 79 Stepanov, Nikolaj Leonidovic 63 Stieglitz, Heinrich 43, 46, 163, 165 Stierle, Karl-Heinz 5, 31 Strauß, David Friedrich 239 Strauß, Friedrich 161 f., 194 Strawson, Peter 15, 18 Streisand, Joachim 237 Striedter, Jurij 162 f. Swäzen, Robert zu 93

Tager, E. B. 72 Tarot, Rolf 33 Taubes, Jacob 44 Tieck, Ludwig 213, 216, 220, 221 Tischbein, Wilhelm 80, 191 Todorov, Tzvetan 47, 48 Tolstoj, Lev Nikolaevic 38, 39, 72, 80, 216 Toulmin, Stephen E. 85 Trenck, Friedrich Freiherr von der 110, 120 Trunz, Erich 149, 158 Türk, Horst 22, 121, 136, 217 Tynjanov, Jurij 32 Uchtritz, Friedrich Freiherr von 210 Uhlich, Leberecht 194 Ulrich, Hermann 1 Uspenskij, Boris 67 Varnhagen von Ense, August 159, 163, 165, 205 Verheijen, Melchior 33 Vietor, Karl 144 Vogel, Erhard Friedrich 171 Vogt, Marianne 2 Volosinov, Valentin N . 25, 31 Voß, Heinrich 168 Voßkamp, Wilhelm 52, 136 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 216, 221 Walch, Johann Georg 94 Waldmann, Günter 21 Waletzky, Joshua 47 Warning, Rainer 31 Watkins, John W. N . 57 Weber, Max 6, 24, 5 5 - 5 7 , 231

Wegelin, Johann Georg 92 Weikard, M. A . 129 Weinbrenner, Friedrich 80, 191 Weinrich, Harald 43, 230 Weiße, Christian Felix 51, 187 Wendeborn, Gebh. Fr. Aug. 191 Werlich, Egon 56 Werner, Abraham Gottlob 190 Wieland, Wolfgang 13 Wienbarg, Ludolf 194, 198 Wienholt, Arnold 162 Wiese, Benno von 200, 201, 204, 208 Winckelmann, Johann Joachim 138 Windfuhr, Manfred 200, 201 Winter, Helmut 42 Wittgenstein, Ludwig 14, 37 Wittmann, Reinhard 231 Wolf, Christa 41 Wolf, Erwin 227 Wolff, Gerhart 61 Wordsworth, Christopher 37 Wolzogen, Ludwig Freiherr von 241 Wright, Georg Henrik von 35 Wünscher, Wilhelm 112 Wunderlich, Dieter 5, 1 4 - 1 7 , 42, 58 Wuthenow, Ralph-Rainer 41, 111 Ysenburg von Buri 10 Zacharova, V. A. 72, 81 2 a k , L. 216 Zastrau, A. 139 Zelter, Carl Friedrich 147 Ziegler, Werner Carl Ludwig 162 Zimmermann, Klaus 56 Zober, Ernst 194, 195 Zschokke, Heinrich 36, 41, 43, 213

289