Körper in Form: Bildwelten moderner Körperkunst [1. Aufl.] 9783839415504

Beim Anblick der attraktiven Körper der populären Bildwelten erscheinen die Medien wie transparente Fenster auf die Wirk

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German Pages 274 Year 2014

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Inhalt
Vorwort
1. Einführung
1.1. Souverän oder Dependent
1.2. Die Körperkonjunktur der frühen 90er Jahre
1.3. Körper und Emanzipation
1.4. Historiographie des Körpers
1.5. Historische Körperformationen
2. Aktuelle Ansprüche an den Körper
2.1. Die politische Auseinandersetzung um Körper
2.2. Der differenzierte Körper
2.3. Grenzziehungen
2.4. Körper als kulturelle Konstruktion
2.5. Universelle Ethik oder situationsgebundene Ästhetik der Existenz
2.6. Medienverbund Sprachkörper
2.7. Zeitgenössische Körper – Medialität und Boxkampf
2.8. Körperbild und elektronische Medien
2.9. Körper und Kunst
2.10. Zusammenfassung
3. Die Frage der Repräsentation
3.1. Exkurs – Normale und deviante Körper vereint
3.2. Der Begriff der Repräsentation
3.3. Die ‚Krise der Repräsentation‘
3.4. Die Kunstgeschichte und das Problem der Repräsentation
3.5. Repräsentation und Performativität
4. Wölfflins Darstellungs- oder Bildform
4.1. Die Bildkultur
4.2. Der abschattende Vergleich
4.3. Die Suspension von Darstellungsgegenstand und schöpferischem Subjekt
4.4. Ein holistisches Verfahren
4.5. Das bipolare Schema der Darlegung
4.6. Zusammenfassung
4.7. Perspektiven der Analyse von Körperkunstarbeiten
5. Die erste Darstellungsform des Körpers
5.1. Inez van Lamsweerde
6. Die vier Merkmale der ersten Darstellungsform
6.1. Der ‚fotografische Charakter‘
6.2. Teil und Ganzes – Gliederung der Körper
6.3. Die Ausstellung
6.4. Die Oberfläche des Körpers als Ausdruck seiner Qualitäten
6.5. Zusammenfassung der vier Merkmale
7. Die zweite Darstellungsform des Körpers
7.1. Spinoza – monistische Konzeption des Körpers
7.2. Baron Johann Jakob von Uexkülls Umweltlehre
7.3. Körper in Affektionsverhältnissen
8. Sue Williams – It’s a new age
8.1. Die Elemente
8.2. Die Textgruppen
8.4. Die Körperfragmente
8.5. Verknüpfungsweisen der Textsequenzen und Bildfragmente
8.6. Körperaffektionen
9. Schluss
9.1. Ende und Ausblick
10. Literaturverzeichnis
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Körper in Form: Bildwelten moderner Körperkunst [1. Aufl.]
 9783839415504

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Philipp Weiss Körper in Form

Studien | zur | visuellen | Kultur Herausgegeben von Sigrid Schade und Silke Wenk | Band 14

Philipp Weiss (Dr. phil.) studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft und lebt in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Historiografie der Kunst und Licht in der Malerei.

Philipp Weiss

Körper in Form Bildwelten moderner Körperkunst

Die vorliegende Studie wurde als Dissertation von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg im April 2007 angenommen. Erstgutachten: Frau Professor Dr. Silke Wenk Zweitgutachten: Frau Professor Dr. Katharina Sykora

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Vorwort 7 1. Einführung 17 1.1. Souverän oder Dependent 17 1.2. Die Körperkonjunktur der frühen 90er Jahre 22 1.3. Körper und Emanzipation 27 1.4. Historiographie des Körpers 28 1.5. Historische Körperformationen 31 2. Aktuelle Ansprüche an den Körper 33 2.1. Die politische Auseinandersetzung um Körper 34 2.2. Der differenzierte Körper 35 2.3. Grenzziehungen 36 2.4. Körper als kulturelle Konstruktion 37 2.5. Universelle Ethik oder situationsgebundene Ästhetik der Existenz 39 2.6. Medienverbund Sprachkörper 42 2.7. Zeitgenössische Körper – Medialität und Boxkampf 44 2.8. Körperbild und elektronische Medien 45 2.9. Körper und Kunst 48 2.10 Zusammenfassung 49 3. Die Frage der Repräsentation 53 3.1. Exkurs – Normale und deviante Körper vereint 53 3.2. Der Begriff der Repräsentation 55 3.3. Die ‚Krise der Repräsentation‘ 57 3.4. Die Kunstgeschichte und das Problem der Repräsentation 59 3.5. Repräsentation und Performativität 63 4. Wölfflins Darstellungs- oder Bildform 69 4.1. Die Bildkultur 71 4.2. Der abschattende Vergleich 71 4.3. Die Suspension von Darstellungsgegenstand und schöpferischem Subjekt 73 4.4. Ein holistisches Verfahren 74 4.5. Das bipolare Schema der Darlegung 75 4.6. Zusammenfassung 76 4.7. Perspektiven der Analyse von Körperkunstarbeiten 77

5. Die erste Darstellungsform des Körpers 79 5.1. Inez van Lamsweerde 79 6. Die vier Merkmale der ersten Darstellungsform 95 6.1. Der ‚fotografische Charakter‘ 96 6.2. Teil und Ganzes – Gliederung der Körper 114 6.3. Die Ausstellung 127 6.4. Die Oberfläche des Körpers als Ausdruck seiner Qualitäten 146 6.5. Zusammenfassung der vier Merkmale 166 7. Die zweite Darstellungsform des Körpers 175 7.1. Spinoza – monistische Konzeption des Körpers 175 7.2. Baron Johann Jakob von Uexkülls Umweltlehre 186 7.3. Körper in Affektionsverhältnissen 195 8. Sue Williams – It’s a new age 223 8.1. Die Elemente 223 8.2. Die Textgruppen 226 8.4. Die Körperfragmente 232 8.5. Verknüpfungsweisen der Textsequenzen und Bildfragmente 234 8.6. Körperaffektionen 235 9. Schluss 241 9.1. Ende und Ausblick 242 10. Literaturverzeichnis 255

Vorwort

Eine Weile lang, mit einem Höhepunkt in den 90er Jahren, war alles in der Kunst Körperkunst, genauso wie jenseits der Kunst eine unglaubliche Konjunktur des Körpers herrschte. Herrschte? Auch dieser Text widmet sich einigen Arbeiten neuerer Körperkunst. Er bezieht sich dabei auf durchweg bekannte Beispiele und beansprucht keine Neuentdeckungen. Nicht ein Überblick ist beabsichtigt, sondern die Beschränkung auf ein Problem, das gleichwohl die ganze Breite dessen, was da Körperkunst heißt, betrifft, das Problem der Darstellungsform. Obgleich die ausgewählten Arbeiten durch die Kritik und die Ausstellungszusammenhänge allesamt das Label ‚Körperkunst‛ tragen, stellen sie sich der ersten Anschauung als heterogener Haufen dar. Sie artikulieren sich in den unterschiedlichsten Techniken und entstammen einander fremden Traditionen: digital bearbeitete Fotografien, lebensnahe Puppen nach Abdruckverfahren, multimediale Installationen oder Kritzelbilder. Die Referenzpfeile weisen in tausend Richtungen. Der Kunstbetrieb ist es gewohnt, solcherart divergierende Arbeiten zu versammeln. Auf die erste Welle von Ausstellungen, in der das Wort Körperkunst selbstgenügsamer Stichwortgeber für die allgemeine ‚Richtung‛ der Kunstwerke war, folgten Ausstellungen, die speziellere thematische Anliegen formulierten. Neben medienspezifischen Ausstellungen etwa standen solche, die sich um Schlagworte theoretischer Provenienz drehten. Die vorliegende Auswahl bezieht ihre Kohärenz zunächst vor allem aus der Untersuchungsweise, aus der Problematisierung, der die Arbeiten ausgesetzt werden. Natürlich ist beabsichtigt, dass die Auswahl mehr und mehr nachvollziehbar wird und zuletzt gar anschauliche Evidenz gewinnt, dass also eine Analyseperspektive erkennbar

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wird, die die besprochenen Arbeiten legitimer Weise in einen Raum des Vergleichs zu stellen vermag. Die pralle Anschaulichkeit vieler Körperkunstarbeiten führt die Betrachter direkt in die Thematisierung, also zu den Körpern und den an ihnen auftretenden Inhalten. Und weil die neuere Körperkunst häufig referentiell operiert, sich auf die Körperbilder in Werbung, Unterhaltung und Information bezieht, führt sie zugleich zu den Thematisierungen, die in den verschiedensten gesellschaftlichen Zusammenhängen artikuliert werden und in ebenso vielen Medien auftreten, welche ihrerseits diverse technische Verschaltungen (Bild und Ton, Bild und Text, Film, gesprochene Sprache, Musik) ausbilden (Vgl. Kapitel 2. Aktuelle Ansprüche an den Körper). Da dieselben Körperbilder zudem (mit ihren Thematisierungen und Problematisierungen) all die Medien, Verschaltungen und Konventionen durchlaufen, verleiten sie zu einer Annahme, die wir im sogenannten Alltag kaum umgehen oder abweisen können und die selbst in der Bildwissenschaft Ansprüche anmeldet. Wir nehmen an, dass auch jenseits all der aufdringlichen Artikulationen ein fester, unveränderlicher Gegenstand existiere, wir rechnen mit der ‚Vorgängigkeit‛ dieses Gegenstandes1. Und wir statten diesen mit all den Merkmalen aus, mit denen er in den Artikulationen versehen worden ist. Kurz, wir halten für unverrückbar und gegeben, was doch vorzüglich Effekt all der Artikulationen ist. Die Kunst- und Bildwissenschaft hat verschiedentlich – differenten methodischen und theoretischen Interessen folgend – darauf hingewiesen, wie blind eine naiv gegenstandsverhaftete Kritik und Analyse von Bildern bleiben muss. In Sachen Körperdarstellungen war es in den letzten Dezennien vor allem die feministische Kunstgeschichtsschreibung, die das Problem herausarbeitete. Körperbilder stellen, ähnlich

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Und ‚natürlich‘ gibt uns unsere Sprach- und Bildpraxis in einem gewissen Sinn auch recht. Es ist nicht nur üblich, sondern durchaus sinnvoll zu sagen: ‚mein/ein/dein Körper‘. Allerdings gewinnt dieser Wortgebrauch erst genauere Konturen, wenn nun spezifische Problematisierungen, wie sie aus den Zusammenhängen (private/öffentliche, berufliche, freizeitliche, sportliche, diätetische, medizinische usw.) folgen, akut werden. Vorher ist der Referent, wenn auch im ‚Sprachkörper‘ präsent, vor allem diffus, ist ein Leerzeichen, das allerdings die Tendenz hat, sich seinen Sinn schnell zu suchen.

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wie andere Zeichenpraktiken auch, Körper ihrer genaueren Bestimmung nach erst her, insofern sie einige Unterscheidungen, Merkmale und Strukturen privilegieren und andere wiederum abweisen. Körperkonzepte sind historisch und kulturell veränderlich, Körperbilder sind codiert (vgl. Kapitel 1.4. Historiographie des Körpers und Kapitel 1.5. Historische Körperformationen). Die feministische Kunstwissenschaft hat in Folge ihres politischen Interesses, Körperbestimmungen abzuweisen oder auch zu ändern – betont, dass in diesem Zusammenhang nicht der Rekurs auf einen vermeintlich natürlichen, gleichermaßen medial unberührten Körper erfolgsversprechend sei, sondern nur ein Eingriff in die herrschenden Praktiken der Bezeichnung und Differenzierung2. Auch die vielbeschworenen ‚normalen, natürlichen oder ganzen Körper‛ sind ihrerseits schon das Produkt von Darstellungen, Benennungen und Problematisierungen. Die Möglichkeit der Eingriffe in bestehende Bestimmungen mag durch das Verständnis und die Analyse der Bestimmungsvorgänge erhellt werden. Es ist hier nicht der Ort, die vielen vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen der bildlichen Artikulationen oder Adressierungen des Körpers zu referieren, aber einige knappe Ausführungen sollen doch in den Ansatz der vorliegenden Arbeit einführen. Viele Studien beschäftigen sich zum Zweck der Analyse der performativen Wirkungen von Bildwerken mit den Darstellungsdispositiven, die der Malerei und auch der Fotografie zugrundeliegen. Als das heuristische Paradigma eines solchen Dispositivs werden häufig Darstellungen aus Dürers Underweysung der Messung… angeführt, welche den Anweisungen aus den bekannten Malereitraktaten der Renaissance, etwa von Alberti3, so gut zu entsprechen scheinen:

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Als eines von vielen möglichen Beispielen sei dazu angeführt: Schade, Sigrid, Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte, in: Barta, Ilsebill u. a. (Hg.), Frauen, Bilder – Männer, Mythen. Kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 239-260.

3

Vgl. Alberti, Leone Battista, Drei Bücher über die Malerei (1435-36), in: Leone Battista Alberti’s kleinere kunsttheoretische Schriften, Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Osnabrück 1970 (Neudruck der Wiener Ausgabe von 1877, übersetzt, erläutert ... Dr. Hubert Janitschek), S. 68.

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Abbildung 1: Albrecht Dürer, Underweysung der Messung…, Nürnberg 1525

Quelle: httpdigital.slub-dresden.de ppn27778509X Bild 180 von 186

Dem optischen Schema der zentralperspektivischen Konstruktion4 wird die Besetzung der folgenden drei Instanzen eingeschrieben: 1. der betrachtete/abzubildende Körper, 2. seine Abbildung (als Schnitt durch die Sehpyramide) und 3. der betrachtende/produzierende Körper. Es sollte dieses Beispiel wohlgemerkt – wenn es sich auch um ein wirkmächtiges, traditionsbildendes Schema handelt – als ein heuristisches Modell angesprochen werden, denn auch die Darstellungsdispositive verändern sich historisch. Innerhalb dieses Dispositivs wurden nun von der Kunstwissenschaft vor allem die asymmetrischen Besetzungen der Instanzen (wer bildet ab/wird abgebildet) mit den Folgen für die Ideologie und Produktionsästhetik der Kunst und mit all den Effekten der Fixierung bestimmter Bilder und der Form der Objektivierung der Darstellungsgegenstände untersucht. 4

Dieses Schema kann Konstruktions- (‚costruzione legittimima‘) und/oder Abbildungsdispositiv (‚prospettiva‘ – Durchsicht) sein. Wenn ich mich nicht täusche, sind in der italienischen Renaissance sowohl technischkonzeptuell als auch ideell beide Bedeutungen wichtig.

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Die Aufmerksamkeit der vorliegenden Arbeit richtet sich jedoch zunächst nur auf ein Element des Dispositivs, sie gilt der Bildform, als der der Darstellung immanenten Gesetz- und Regelmäßigkeit (zur genaueren Definition vgl. Kapitel 4. Wölfflins Darstellungs- oder Bildform). Genauer ausgedrückt geht es innerhalb der Darstellung um Regelmäßigkeiten in Hinsicht auf die Gliederung des Körpers, auf dessen Verhältnis zur eigenen Umgebung und schließlich auch zu den anderen Körpern und Dingen. Die Bildform ist immer Bestandteil eines Dispositivs, sie wird innerhalb seines Zusammenhanges wirksam, aber sie kann doch von ihm unterschieden oder abgehoben werden. Auch hier jedoch sind die jeweils konkreten oder historischen Fügungen zu beachten, die den Grad der Bindung oder Verzahnung bestimmen. So sind durchaus Dispositive denkbar (und existent) innerhalb derer verschiedene Bildformen wirken können. Es kann etwa im Dürerschen Schema die Bildform sowohl durch barocke, wie auch durch eher für das seicento typische Morphologien bestimmt sein, ohne dass das Gesamtgefüge beeinflusst wird, solange etwa beide konsistent zentralperspektivisch konstruiert sind. Folgt die Bildform eng der zentralperspektivischen Konstruktion, so ist sie relativ fest mit dem Dispositiv verbunden, denn aus den immanenten Verhältnissen der Darstellung (Fluchtpunkt, Distanzpunkte) lassen sich bildexterne Elemente des Dispositivs erschließen (Abstand und Position des Augenpunktes als ideellem Betrachterstandpunkt). Auf diese mögliche enge Verschränkung soll hier hingewiesen sein, weil in das Dürersche Schema auch eine andere Bildform eingefügt sein mag. Wenn etwa bei der Darstellung des Körpers und des Raumes die plastischen und räumlichen Verhältnisse nicht durch Konturierung und fluchtende Linien ausgedrückt werden, sondern durch die Konfrontation heller und dunkler Massen und durch die Durchdringung von Farb- und Helligkeitswerten (wie in einer für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts typischen niederländischen HelldunkelMalerei), so ist die Bildform innerhalb des Dispositivs unabhängiger. Sie gibt nun keine zwingenden Anweisungen mehr auf dieses5. Die

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Tatsächlich hatten zeitgenössische Betrachter, wie wir etwa für den Fall Tintoretto wissen, durchaus als ernsthaft empfundene und mit Schwindelgefühlen verbundene Schwierigkeiten, den rechten Betrachterabstand zu dessen Gemälden zu finden, obgleich doch Tintoretto nur die ersten Schrit-

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Untersuchung der Bildform muss also auch die mehr oder weniger enge Bindung an das Dispositiv reflektieren. Gerade auch die zeitgenössische herrschende Kultur der Fotografie fordert hier Genauigkeit bei der analytischen Konzeption. Wie soll nun die Bildform Gegenstand der Analyse werden? Die Arbeit schlägt eine Bestimmung über einen ausgedehnten Vergleich vor (vgl. Kapitel 4.2. ,Der abschattende Vergleich‘ und Kapitel 4.5. ,Das bipolare Schema der Darlegung‘). Wenn dabei auch nicht außer Acht gelassen werden kann, dass die Form ‚etwas‛ (Körper) zur Darstellung bringt, erlaubt es das vergleichende Verfahren doch, die Frage nach außerbildlichen Realitäten wenigstens vorläufig zu suspendieren. Die gegenstandsmotivierten Merkmalsbestimmungen der Körper treten zugunsten der bildinternen Formmerkmale zurück. Es wird eine solche vergleichende Analyse zweifelsohne eher die allgemeinen, konventionellen Merkmale betonen und weniger sensibel für ganz besondere Erfindungen oder, mit Szeemann gesprochen, ‚individuelle Mythologien‛ sein. Aber dass dies der Fall ist, mag ja auch sinnvoll sein, insofern die Referenz auf außerkünstlerische Bildwelten und deren Konventionen in Betracht gezogen wird. Auch der andere Pol des Dispositivs – wenn hier wieder der Dürersche Holzschnitt aufgerufen werden darf –, das Ausdrucks- und Formungsbegehren des Künstlers, ist daher mit dem Vergleichsverfahren zu einem gewissen Grad suspendiert (Vgl. Kapitel 4.3. ‚Die Suspension von Darstellungsgegenstand und schöpferischem Subjekt‘). Es stellt sich nun die Frage, in welche kunstwissenschaftliche Tradition sich eine solche vergleichende Analyse stellt. Mehrere Richtungen bedienen sich eines vergleichenden Verfahrens – auch die Ikonologen etwa pflegen neben dem Rekurs auf Textquellen eine Art Komparatistik des Bildzeichengebrauchs. Diese Arbeit jedoch versteht sich eher in der Tradition der Stil- und Formanalyse, genauer in der Heinrich Wölfflins. Weil aber mit der zeitgenössischen referenziell operierenden Körperkunst der Horizont auch der außerkünstlerischen Körperbilder eröffnet ist, soll mit der Methode weniger die Entwicklungsgesetzlich-

te hin zu einer Malweise bedeutete, in der die Konturierung lokalfarbenbestimmter Objekte im fluchtenden Raum allmählich durch Helldunkelfügungen abgelöst wurde. Vgl. Bohlmann, Carolin, Tintorettos Maltechnik. Zur Dialektik von Theorie und Praxis, München 1998.

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keit der Kunst (Form- und Stilgeschichte) zur Diskussion stehen, wie bei Wölfflin, als vielmehr ein Beitrag geleistet werden zur Analyse des Anteils der zeitgenössischen bildschöpferischen Hervorbringung an der heute so hochbesetzten und vielbeschworenen Entität ‚Körper‘. Die Bildform ist nichts Abstraktes, sie ist Darstellungs- oder Wahrnehmungsform und äußert sich an einem ‚Prätext‘, den sie zur Erscheinung kommen lässt, den sie formt. Dieser Prätext ist gewissermaßen Vorwurf (wie die Maler früher gesagt hätten) der Bildform. Als zur Darstellung gebrachter Gegenstand mag er als Objektivation einer bildschöpferischen Praktik bezeichnet werden. ‚Prätext‘ bedeutet jedoch nicht, dass dieser jenseits konkreter Artikulationen oder Wahrnehmungen vorkommen könnte, vielmehr geht es um einen radikalen Perspektivismus. So wie es keinen ungeformten, unartikulierten Körper gibt (denn wäre dies der Fall, so könnten aus der Differenz zwischen diesem und der geformten Erscheinung im Bild die Formmerkmale gewonnen werden), gibt es auch kein allgemeines Kriterium, nach der die Bildform qualifiziert werden könnte. Es gibt nur den direkten Vergleich mit anderen konkreten Formen, der allmählich Unterschiede und schließlich Merkmalskomplexe deutlich machen kann, die vor allem in Bezug auf die jeweils anderen Formen herauszustellen sind. Die vergleichende Analyse wird ergeben, dass auf der Ebene der Bildform nicht allein Ähnlichkeiten oder Regelmäßigkeiten zu konstatieren sind, sondern gar eine gewisse Knappheit verfügbarer Formen herrscht, obgleich doch die Fülle der unterschiedlichen zur Anschauung gebrachten Körper gerade darüber hinwegtäuschen mag. Im Verhältnis zu den erscheinenden Körpern lässt sich der Bildform der Status eines (veränderlichen, historischen) a priori zusprechen. Als Bedingung der Erscheinung entzieht sich die Form der Aufmerksamkeit weitgehend und erst durch die im Vergleich hervortretenden Unterschiede zwischen den Formen werden auch die Konsequenzen für die Formung der Körper deutlicher. Es lohnt sich, diesen Konsequenzen für die Hervorbringung und Definition von Körperbildern nachzuforschen. Zwei Aspekte sind dabei bedeutsam und bedürfen der Unterscheidung. Erstens interessiert, welche Spanne an Charakteristika und Merkmalen eine Bildform zu repräsentieren (also hervorzubringen und zu wiederholen – vgl. Kapitel: 3. Die Frage der Repräsentation) vermag. Zweitens ist von Belang, welche Möglichkeiten der Interaktion, des Austauschs und der

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Kommunikation den dargestellten Körpern innerhalb definierbarer Bildformen eigen sind. Auch diese inner- und interbildlichen Möglichkeiten betreffen die performativen Qualitäten der Bildschöpfungen, also ihre Wirkungen auf das (ap)perzeptive und affektive Körperverständnis der Betrachter, die ihren eigenen Körper in Hinsicht auf die Bilder formen (und bildlich reproduzieren) und damit in den Austausch der Körperbilder verstrickt sind. Der Körper ist heute ein privilegierter Ankerungspunkt für die verschiedensten Initiativen und er ist zudem ein überdeterminierter Gegenstand, zugleich Objekt und Subjekt des Selbstbezuges. Wenn auf der einen Seite alle möglichen Anstrengungen seiner Gestaltung, Formung und Verbesserung unternommen werden, so gilt er andererseits der individuellen, subjektiven Beeinflussung für unverfügbar, wo er etwa seinen maßgeblichen Bestimmungen nach als rein ‚natürlich‘ markiert wird. Die Überdeterminiertheit, die widerstreitenden Ansprüche von Interpretationshoheit und Eingriffskompetenz machen den Körper zu einem interessanten Politikum mit durchaus komplexen Auseinandersetzungsfeldern (Vgl. Kapitel ‘2. Aktuelle Ansprüche an den Körper‘). Wenn die Kunst- und Bildwissenschaften in diesem Zusammenhang die historischen und jüngeren kulturellen Codierungen der Körperbilder untersuchen, so versteht sich auch die vorliegende Arbeit als Teil dieser Anstrengung. Ihre Hauptthese könnte mit der Frage umrissen werden, ob nicht mit der Bildform bereits die Bedingungen der bildanschaulichen Erscheinung des Körpers als veränderlich oder historisch zu verstehen sind. Die analytische Schicht der Bildform geht – und dies ist eine weitere wichtige These der Arbeit – den thematischen Aktualisierungen (ein bestimmter Körpertyp, eine konkrete Erzählung, eine definierbare Person) auf eine bestimmte Art voraus. Wenn es auch richtig ist, dass die Bilder den Körper stets bereits als etwas Bestimmtes zu sehen geben, so scheint es m. E. auch wichtig, zu betonen, dass dabei die Mittel der weitgestreuten, anonymen Strategie der Verbreitung und Durchsetzung (wenn dieser etwas umständliche Ausdruck als Synonym für die ‚Bildkultur‛ gelten darf) bestimmter Körperbestimmungen mit den Mitteln, Instrumenten und Relais politischer Machtausübung in Verbindung gebracht werden sollten. Es ist mit Sicherheit nicht so, dass bestimmte Körperbilder einfach aufoktroyiert werden und die Menschen rein passive Empfänger dieser Bildmacht blieben. Bildformen des Körpers, Dispositive und Medien

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sind mit einer ganzen Batterie von Vorrichtungen, Anreizen und Versprechungen ausgestattet, die Individuen (mit ihrer eigenen Körperlichkeit) an diesem weitgespannten Körperbilderaustausch teilnehmen zu lassen. Auch für diese Fragen scheint mir eine Untersuchung der Bildform interessant: die Bildform hat ein bestimmtes, auszufüllendes Repräsentationsvermögen, das zugleich als produktiv und anregend, wie auch als kontrollierend und ausschließend zu denken ist. Zudem ist sie bestimmend für das Verhältnis, in das auf der Bildebene Körper miteinander in Beziehung gebracht werden können. Die Skepsis gegenüber einer allzu naiven, gegenstandsverhafteten Bildkritik wird weiterhin die Vorsichtsmaßnahme als sinnvoll erscheinen lassen, die da lauten könnte: Es ist richtig, die Perspektive umzudrehen: es geht nicht darum zu fragen, wie in der Kunst (oder in anderen Körperbildern) der Körper verhandelt und thematisiert wird, sondern darum, welche Körperbilder diese eben erst hervorbringt. Zur Darlegung der Untersuchung von Bildformen bedient sich die vorliegende Arbeit eines bipolaren Modells gegenseitiger Abschattung. Im ersten Teil (vgl. Kapitel 5) wird eine Bildform auch außerkünstlerischer Körperdarstellungen durch die Analyse von Körperkunstarbeiten erschlossen, welche hier in ihrem Bezug auf jene vorläufig als kritischdekonstruktiv bezeichnet werden können. Der zweite Teil (Kapitel 7) geht künstlerischen Anstrengungen nach, den Bestimmungen dieser Bildform zu entgehen und schließlich eine andere Form zu etablieren. Weniger eine Bewegung der Konfrontation zeichnet diese Anstrengungen meines Erachtens aus, als das Bestreben, die Kräfte anders zu organisieren, fremde Unterscheidungen einzuführen und neue Komplexe zu bilden. Einige Arbeiten der Fotokünstlerin Inez van Lamsweerde dienen exemplarisch der Vorstellung der in vier Merkmale auseinandergelegten ersten Bildform (Kapitel 5.1.). Diesen Merkmalen werden im Anschluss jeweils eigene Kapitel gewidmet, um ihre Charakteristika weiter zu explizieren. Gleichermaßen als Artikulationshilfe zur Darlegung einer anderen Bildform bedient sich der zweite Teil einer monistischen Bestimmung des Körpers, wie sie in Spinozas Ethik angeregt wurde. Diesem ist der erste Abschnitt vorbehalten (Kapitel ‘7.1. ,Spinoza – monistische Konzeption des Körpers‘). Auch einige Motive aus der ‚Umweltlehre‛ des Biologen und Verhaltensforschers Jakob von Uexküll werden her-

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angezogen, sofern sie dazu dienen, aus Spinozas Bestimmungen Analysekriterien der Bildform zu gewinnen (Kapitel 7.2. Baron Johann Jakob von Uexkülls Umweltlehre)6. Sodann kommt die sukzessive Entfaltung der Bildform anhand von Werkbeispielen in den Blick. Es ist dieser Prozess – auch aus dramaturgischen Gründen – als eine Bewegung der Flucht vor der ersten Bildform organisiert. Die Untersuchung endet in der Besprechung einer Arbeit von Sue Williams (Kapitel 8. Sue Williams – It’s a new age). Hier schließt sich der Kreis der Untersuchung, denn Williams Arbeit lässt sich meines Erachtens auch als eine explizite Auseinandersetzung mit der Bildform lesen. Die Analyse der Formen nach ihren Merkmalen und die Untersuchung der aus deren Zusammenhang resultierenden Wirkungen benötigen einen langen Atem. Dass sich auch aus der sauren Zitrone der Formanalyse Saft gewinnen lässt (, den die Körperkunst doch notorisch verspricht), mag sich aus den Geschichten ergeben, die ihrer Darlegung in der vorliegenden Arbeit parallel laufen. Sie drehen sich um die Vermögen und Qualitäten der Körper, sofern sie aus dieser Form folgen oder in ihr spezifische Wirkungen zeitigen. Dank an meine Liebsten Emma, Karl und Ilka für Ihre große Geduld!

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Vielleicht lässt sich ja den Biologen in Sachen Körperpolitik am Ehesten mit einem wissenschaftshistorisch etwas verdrängten Vorläufer der Verhaltensforschung begegnen.

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1. Einführung

Es wird einführend der weitere Horizont gezeichnet, in dem die vorliegende Arbeit sich versteht. Dabei soll in mehreren Anläufen ein Überblick der historischen und theoretischen Voraussetzungen der Körperkunst der 90er Jahre, ihrer Themenkomplexe und möglichen Problematisierungen gewonnen werden. Kritische Resümés7 und erste Abgesänge begleiten diese Kunst praktisch seit Beginn.

1.1. S OUVERÄN

ODER

D EPENDENT

Als heuristischen Ausgangspunkt zur ersten Skizzierung einiger Aspekte und Voraussetzungen neuerer Körperkunst ist hier eine der bekanntesten, überdeterminiertesten Darstellungen abendländischer Kunstgeschichte überhaupt gewählt: der homo vitruvianus von 1490 von Leonardo (Abb.2). Allerdings mag erst eine ungleich weniger erfolgreiche Illustration, die den selben literarischen Vorwurf ins Bild setzt und nur 30 Jahre jünger ist, im Kontrast dazu verhelfen, aus dieser Darstellung heute das Mittel zu machen, die wichtigsten Aspekte neuerer Körperkunst anzureißen.

7

Sladen, Mark, The body in question, Art Monthly Nr. 191, Nov. 1995, S. 3-5. Vgl. auch Wilson, Andrew, The Art Experience, Art Monthly Nr. 190, Okt. 1995, S. 3-6.

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Abbildung 2: Leonardo da Vinci, homo vitruvianus

Quelle: http://upload.wikimedia.org /wikipedia/commons/2/22/Da_Vinci_Vitruve_Luc_Viatour.jpg

Leonardos Studie, die trickreich die vagen Beschreibungen Vitruvs zum homo ad quadratum und homo ad circulum zu einer gemeinsamen Anschauung bringt, wird in Folge von Aby Warburg und Rudolf Wittkower8 im Kollektivgedächtnis der Kunstgeschichte nicht nur zum Leitsymbol der Korrespondenz von Mikro- und Makrokosmos sondern zu dem Emblem humanistischen Menschenbildes überhaupt: der ideale männliche Körper scheint durch eine Lageveränderung der Extremitäten die leicht exzentrisch zueinander stehenden geometrischen Figuren Kreis und Quadrat eher souverän zu kommandieren, als sich anpassend in sie einzuschreiben. Mensch und Kosmos, Organismus und Geometrie, Objekt und Subjekt der Wissenschaft – kein Widerspruch scheint die harmonische Fügung dieser Instanzen trüben zu können. Und wenn 8

Wittkower, Rudolf, Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus, München 1969 (London 1949). Siehe vor allem Teil 1, Kapitel 2, Zentralbauten bei den späteren Architekturtheoretikern (S.19-22), besonders S.20, 21. Wittkower schildert das Konzept der mathematischen Sympathie von Mikro- und Makrokosmos im Kreise Leonardos und auch die späteren neuplatonischen Vorstellungen.

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E INFÜHRUNG

die derart zusammenzufassende, konventionelle wissenschaftliche Deutung dieser Studie Leonardos nun bestritten wurde9, so ist ihre Popularität und Überzeugungskraft doch ungebrochen. Wo es um das menschliche Leben grosso modo geht, da gilt: keine pharmazeutische Werbung, kein populärwissenschaftlicher Artikel zur Biotechnologie, kein Fernsehbeitrag zur Evolution des Menschen kommt ohne dieses Emblem aus. Abbildung 3: Cesare Cesariano, homo vitruvianus

Quelle: httparchitectura.cesr.univ-tours.frTraiteImagesBPNME276Index.asp

9

Zöllner, Frank, Vitruvs Proportionsfigur, Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur im 15. und 16. Jahrhundert, Worms, 1987. Frank Zöllner resümiert vor allem mit Blick auf Leonardos Darstellung: „{...} diese Veranschaulichungen gehörten vor der Einführung geomorpher Meßkunde zum kulturgeschichtlich bisher wenig erörterten anthropomorphen Alltag.“ (Schluss, S. 203). Er zeichnet sehr ausführlich, wie ausgehend von Warburg, vor allem aber von Wittkowers ‚Architectural Principles in the Age of Humanism‘ (Vgl. Fußnote 1) Vitruvs Proportionsfigur in der Forschung sukzessive zu dem Renaissance-Emblem überhaupt wurde, dessen Bedeutungsspannweite bald völlig von der Willkür der jeweiligen Interessen bestimmt werden konnte.

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Befremdend dagegen wirkt im Vergleich auf uns heute die streng symmetrisch und konzentrisch organisierte Veranschaulichung des homo vitruvianus, die Cesare Cesariano seiner Vitruv-Ausgabe 152110 beifügte (vgl. Abb. 3): wie auf der Streckfolter überdehnt, oder – nach dem Augensinn – wie im Fadenkreuz unbarmherziger Betrachtung zeigt sich ein männlicher Körper, dessen vier Extremitäten dort hinreichen müssen, wo sich Kreis und Quadrat schneiden. Nicht nur ob seiner absurd langen Füße und seines kleinen Köpfchens dürfte dieser Herr wenig Aussichten auf eine Karriere traditionsbildender klassischer Idealität beanspruchen. Wenn hier noch einmal eine alte Erzählung bemüht werden darf, so ließe sich sagen: Die zunehmende wissenschaftliche Eroberung und Erforschung der Welt und auch des Menschen, zu deren hervorgehobenen Ausgangsmomenten die Renaissance gerechnet wird und für die in der Kunstgeschichte beispielhaft das Studium des Menschenkörpers und die Entwicklung der Zentralperspektive stehen, erweist sich bei Cesariano als eine für den Menschen auch durchaus schmerzhafte Arbeit11. Ideal gegen Verfehlung, Souveränität gegen schmerzliche Abhängigkeit und schließlich der ikonographische Siegeszug der Illustration Leonardos gegen die ephemere Erscheinung der Darstellung von Cesariano – der Kontrast soll es uns ermöglichen, die wichtigsten konzeptionellen Voraussetzungen des heutigen menschlichen Körpers auch für zeitgenössische Körperkunst vorläufig zu skizzieren. 1. Der menschliche Körper erweist sich im Unterschied der beiden Darstellungen als ein manipulierbares, also veränderliches Etwas. 2. Mit der Darstellung wird er zum Konstrukt, um das gestritten, das alternativ verhandelt wird.

10 Cesariano, Cesare, Di Lucio Vitruvio Pollione de Architectura Libri Dece traducti de latino in Vulgare... Como 1521, Nachdruck München 1969. 11 Es ist hier wegen der Gestaltähnlichkeit fast unumgänglich, auf die Doppelbesetzung des christlichen Symbols überhaupt, des gekreuzigten Christus, hinzuweisen: wenn der Kreuzigungstod in der antiken Welt die schimpflichste, den niedersten Verbrechern vorbehaltene Todesart war, so machen die Christen daraus das triumphale Zeichen der Hoffnung, Auferstehung und Jenseitserwartung. Leonardos Illustration scheint eher an das triumphale, Cesarianos (Andreaskreuz) an das Moment vollständiger Hilflosigkeit anzuknüpfen.

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E INFÜHRUNG

3. Die Körperkonstruktion bedeutet immer zugleich die Hervorhebung oder Anreizung bestimmter Eigenheiten und Kräfte – sie kann dabei als Ermächtigung verstanden werden – und die Kontrolle, Indienstnahme oder Beschneidung anderer Qualitäten – ein Moment der Zurichtung und Objektivierung. 4. Als eines der vielen Instrumente der Konstruktion wirkt das, was allgemein Medium genannt wird; hier eine Illustration. Diese beschränkt sich nicht nur auf die Vermittlung, erzeugt nicht nur Abbildungen, sondern ist selbst hervorbringend, bestätigend und propagierend. 5. Als Instrument ist die bildliche Darstellung zudem nicht selbstgenügsam, sondern ihrerseits eingetaucht in Maschinerien, die das Wissen und die Macht zu unterschiedlichen Komplexen organisieren. Dabei sind verschiedene Institutionen, Verfahren und Milieus wirksam. Typisch für diese Komplexe ist auch eine je eigene Integration von Sichtbarem und Sagbarem, Bildern und Texten: im genannten Beispiel die Veranschaulichung eines historisch weit vorausliegenden, immerhin aus augusteischer Zeit stammenden, autoritativen Textes. 6. Der menschliche Körper ist uns heute eine prekäre Instanz, zugleich Subjekt und Objekt. Die Person ist an ihn immer zugleich als an das Sensorium und den Gegenstand der Wahrnehmung gebunden. Im Abbildungsdispositiv sind diese Funktionen auseinandergelegt und ist die Besetzung ihrer Positionen geregelt: Der produzierende und sehende Körper (Künstler, Betrachter) hier und der reproduzierte (Abbildung) und gesehene (Modell) Körper dort. Wer kann jeweils in welche Position einrücken? All diese Punkte, die wohlgemerkt nicht aus der Renaissance gewonnen, sondern hier nur retrospektiv aus diesen heuristischen Modellen veranschaulicht sind, machen eines sehr deutlich: wenn heute die Rede vom Körper ist, so ist damit nicht allein der ‚natürliche‛ oder ‚biologische‛ Körper gemeint. Der Körper, das ist ein Zusammenhang aus einem biomechanischen Apparat, einem vielfältigen Sinnesapparat und psychischgeistigen Entitäten, ein psychosomatischer Komplex also. Aber dieser Komplex wird in seiner Ausprägung auch bestimmt von historisch wechselnden Praktiken und Wissensformen, von Konventionen und Normen, Gewohnheiten und Sprachen. Besonders interessieren uns

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unter diesen hier die Bilder des Körpers. Der Körper ist auch mit ihrer Hilfe in ein kulturelles Milieu getaucht, das den Zusammenhang (auch) seiner (Selbst-)Wahrnehmung determiniert. Heute ist es denkbar geworden, auch die Vorstellung des natürlichen Körpers, des allein durch Natur determinierten Körpers als ein spezifisches, historisches und somit auch vergängliches Konzept herauszustellen. Aber dieses Verständnis ist relativ neu und ruht auf einigen Voraussetzungen.

1.2. D IE K ÖRPERKONJUNKTUR 90 ER J AHRE

DER FRÜHEN

In der Kunst der frühen 90er Jahre wurde der menschliche Körper wieder einmal zu einem wichtigen Gegenstand, nachdem er lange Zeit in der Abstraktion verschwunden schien, oder nur eines unter vielen Dingen war. Zahlreiche Ausstellungen12, unter ihnen die documenta IX, die darauf folgende Biennale von Venedig und die 93er Whitney Biennial zeugen davon. Überall erschien Organisches, wurden Fragmente und Bilder des Körpers sichtbar. ‚Körperkunst‛ war nachgerade zu dem erfolgsversprechenden Label für größere Ausstellungsprojekte mit dem Anspruch internationaler Geltung geworden – so als trumpfe das Figürliche gegen die behauptete Universalität der Sprache der Abstraktion erneut auf. Bezog sich der Begriff Körperkunst zunächst vor allem auf Künstler und Künstlerinnen die, wie Charles Ray, Kiki Smith oder Robert Gober mit Modellen oder Abdrücken des (eigenen) Körpers oder lebensgroßen Puppen arbeiten, erstreckte er sich bald auf alle möglichen Techniken und Kunstformen, sofern nur Fragmente des menschlichen Körpers auszumachen waren, oder etwa Aspekte ‚kör12 Z.B. PostHuman, Deichtorhallen Hamburg 1992; Corporal Politics, MIT Cambridge 1992; Abject Art. Repulsion and Desire in American Art, Whitney Museum of American Art, New York 1993; Das Bild des Körpers, Frankfurter Kunstverein 1993; Bad Girls, New York 1994; The Body, Le Corps, Kunstmuseum Bielefeld 1994; Real Sex, Real Real, Real Aids, Real Text, Wien 1994; Oh Boy, it’s a Girl!, München 1994 usw.. Ein früher Kommentar zu einigen deutschen Ausstellungen: Sabine Vogel und Michael Freitag, Die Moral der Körperlichkeit, post human oder post real, in: Neue Bildende Kunst, 2, Berlin, 1993.

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E INFÜHRUNG

perlicher Wahrnehmung‘ (also neben den optischen etwa auch haptische, olfaktorische oder kinästhetische usw.) akut wurden. Nun gibt es neben diesen ‚sensualistischen‘ Tendenzen jedoch auch eine ganze Reihe von Arbeiten, die sich auf sehr konzeptionelle oder minimalistische Weise mit dem Körper beschäftigen, so dass die Investition einer besonderen Sinnlichkeit sicher nicht mehr ausreicht, um Körperkunst zu definieren. Ein Begriff, der auch ein Label des Kunstbetriebs und -marktes ist, wird jedoch immer schwer präzis zu bestimmen sein. Eine Ausstellung etwa kann über die bloße Gruppierung etablierter und unbekannter Arbeiten Zusammenhänge konstatieren oder auch über Ketten nach dem Prinzip der Wittgensteinschen Familienähnlichkeiten heterogenste Objekte in eine Perspektive stellen oder unter einen Begriff zwingen. Ein Label sollte für die Historiker daher eher als eigenständiges Datum gelten denn als historisches Beschreibungsinstrument. Auf die großen, allgemein mit dem Körperthema befassten Ausstellungen folgten die vielen spezialisierten Unternehmungen, die bestimmten Medien gewidmet waren oder thematische Konzentrationen intendierten. Ohne Zweifel wurde zeitgleich auch unsere Alltagswelt durch eine zunehmende Flut an sichtbaren und ausgesagten oder beschriebenen Körpern geprägt, wenn sich das auch nur schwer quantifizieren oder qualifizieren lässt. Zudem tauchten viele neue Versuche einer Theoretisierung des Körpers auf13. In England versuchte man sich etwa an einer Soziologie des Körpers14, im deutschsprachigen Bereich äußerte sich die Theaterwissenschaft zu den Belangen des Körpers15, die historische Anthropologie16 meldete sich zu Wort und die feministische

13 Ich führe hier exemplarisch einige wenige Titel aus den 90er Jahren auf, die sicher eine Hochkonjunktur der Körperproblematisierung in den verschiedensten Disziplinen bildeten. In einigen Bereichen geht die aktuelle Diskussion auf Beiträge aus den 70ern zurück. 14 Featherstone, Mike; Turner, Brian, Body and Society, Vol I, London 1995; Shilling, Chris, The Body and Social Theory, London 1993. 15 Fischer-Lichte, Erika, (Hg.) TheaterAvantgarde: Wahrnehmung, Körper, Sprache, Tübingen 1995; Dies., Kulturen des Performativen, Berlin 1998. 16 Kamper, Dietmar; Wulf, Christoph, Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt 1982; Dies. Transfigurationen des Körpers, Berlin 1989.

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Kunstwissenschaft17 hat wichtige Impulse gegeben, die lange in ihre Selbstverständlichkeit eingehüllte Rolle des Körpers für die Kunstgeschichte neu zu thematisieren. Vor allem aber sind die gender-studies zu nennen, die, wenngleich sie um ein definierbares Zentrum theoretischer Konzepte organisiert sind, bis heute ein fast unübersehbar weites interdisziplinäres Netz ausgebildet haben18.

17 Eiblmayr, Sylvia, Die Frau als Bild – Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993; Schade, Sigrid, Andere Körper, in: Dieselbe (Hg.), Andere Körper – Different Bodies (AK), Wien 1994, S. 10-25, insbesondere weitere Angaben in Fußnote Nr. 8 (S. 13/24). Dies sind nur zwei Beispiele für zahlreiche Beiträgerinnen der 90er Jahre. Bereits zu den Anfängen der feministischen Kunstwissenschaft wird in einer Auseinandersetzung mit einer sozialhistorisch argumentierenden Kunstgeschichtsschreibung (als einer der Ausgangspunkte feministischer Kunstwissenschaft) die Rolle des Körpers zentral: Linda Nochlins ‚Courbet, A Study of Art, Style and Society‘ (New York 1976) und das spätere ‚Courbet, Reconsidered‘ (gemeinsam mit Sarah Faunce, Yale 1988) kann man querlesen mit T.J. Clarks Arbeiten zu Courbet (Ders., ‚Image of the People, Gustave Courbet and the 1848 Revolution‘, und ‚The absolute Bourgeois: Artists and Politics in France 1848-1851‘, beide London 1973). Deutschsprachige zusammenfassende Publikationen: Schade, Sigrid; Wenk, Silke, Inszenierungen des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Bussmann, Hadumod; Hof, Renate (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 340-407; Söntgen, Beate, Rahmenwechsel. Kunstgeschichte als feministische Kulturwissenschaft, Berlin 1996. Interessant ist auch ein Aufsatz Griselda Pollocks, in dem die verschiedenen Stadien der Problematisierung der Abbildung von Frauen seit den Anfängen feministischer Kunstwissenschaft erörtert wird: Griselda Pollock, Missing Women – Rethinking Early Thoughts on Images of Women, in: Carol Squiers (Hg.), The Critical Image, Seattle 1990, S. 202-219. 18 Auch hier nur einige Titel exemplarisch genannt: DeLauretis, Teresa, Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington, 1987; Jordanova, Ludmilla: Sexual Visions. Images of Gender in Science and Medicine between the Eigteenth and Twentieth Centuries, New York 1989; Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M 1991 (New York 1990); Paul, Barbara, Kunstgeschichte, Feminismus und

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E INFÜHRUNG

Wenn sich mit der Körperkunst und den verschiedenen Theorien mannigfaltige Qualitäten dessen, was da Körper genannt wurde, artikulieren mochten, so erfuhr der Körper in seiner allgemeinen Konjunktur jedoch auch eine Umwertung zu einem universellen Relais für alle möglichen Operationen. Die Werbung etwa verschob ihren Fokus immer mehr von der Präsentation der Ware zum Vollzug ihres Erlebens durch den Konsumentenkörper. Und die allgemeine Körperkonjunktur in den Wissenschaften ging eine Zeit lang so weit, dass fast alle Diskurse unter dem Begriffsknotenpunkt ‚Körper‘ subsumierbar schienen. So konnte Jean-Michel Berthelot19 in einer kritischen Erörterung verschiedener Ansätze zu einer Soziologie des Körpers den Körper mit einem gewissen Recht als ‚discursive operator‘ bezeichnen, einen Operator, der eher Relais diverser Diskurse ist, als definierbarer Gegenstand. Diese Skepsis bezüglich der Existenz einer irreduziblen Entität Körper wird fast nur noch durch den schon früh und in bemerkenswerter Vergangenheitsform formulierten Wunsch des Berliner Künstlers Heinz Emigholz übertroffen. „Ich hätte auch gern einen Körper gehabt“ druckte er auf ein T-Shirt, das er auf seinem – ja was eigentlich – trug20. Es ist möglich, die Körperkunstarbeiten in eine Fülle von thematischen Komplexen aufzuspalten, die den Interessen der intermittierenden Theorie entsprechen: der gegenderte Körper (seine Naturalisierung, Struktur, die aktuellen Bearbeitungen – Angerer21), der vielfältig disziplinierte Körper (Körper der Arbeit und der Reproduktion, des

Gender Studies, in: Belting, Hans; Dilly, Heinrich; Kemp, Wolfgang (Hg.), Kunstgeschichte, eine Einführung, Berlin 2003, S. 297-328. 19 Berthelot, Jean-Michel, The Body as a Discursive Operator, Or the Aporias of a Sociology of the Body, in: Body and Society, Volume 1 Number 1 March, London 1995, S. 13-24. 20 Und etwa zur selben Zeit bittet Allucquere Stone ‚Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben?‘ im Titel eines Artikels, in dem Sie die komplexen Beziehungen von Subjektivität, virtuellen Körpern und individuellen Körpern im Sinne von ‚situierten biologischen Geschöpfen‘ (S. 82) erörtert. in: Kunstforum, Bd. 133 Februar – April 1996, Die Zukunft des Körpers II, S. 68-83, zuerst in: Benedikt, Michael (Hg.), Cyberspace: First Steps, Cambridge Mass. 1991. 21 Angerer, Marie-Luise (Hg.); The body of gender – Körper. Geschlechter. Identitäten. Wien 1995.

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Lernens und Gehorchens), der Körper des Anderen (dreifach: in der inneren Spaltung des Subjektes, der Frau und des Exoten – SolomonGodeau22), der Körper als Garant tiefsitzender Subjektivität (Körper der Emanzipation, der Befreiung, des Widerstandes gegen Zivilisierung und Entfremdung – Kamper; Wulf23), der Körper als spannungsvoller Kreuzungspunkt von individueller Existenz und Gesellschaft (Rian24), der Körper und sein Abjektes (Kristeva, Rebentisch25), der Körper und die modernen Medien (Virilio26), Körperprothesen (Macri27) und Körpertechnologien. Und mit Sicherheit entspräche eine solche thematische Kategorisierung der aktuellen Praxis von Kunst und Kunsttheorie (Schneede28). So wie die Kunst sich zuweilen ausdrücklich auf Theorie bezieht, sei es um der eigenen Reflexion oder anderer Zwecke willen, so ist die Theorie nicht nur der Kunst sich der ästhetischen Aspekte ihrer Darlegungen und Problemstellungen bewusster geworden, um von den wirklichen Kollaborationen von Kunst und Theorie gar nicht zu sprechen. Aber vielleicht sollten die Versuche der Definition etwas behutsamer und ausholender beginnen.

22 Solomon-Godeau, Abigail, Mistakten Identities (AK), Santa Barbara 1993. 23 Kamper, Dietmar; Wulf, Cristoph, Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/M 1982. 24 Rian, Jeff, What’s all this body art?, in: Flash Art, Vol XXVI, No 168 January/February 1993, S. 50-53. 25 Kristeva, Julia, Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York, 1982; Rebentisch Juliane; Abject, Informe und die Frage nach der Angemessenheit von Interpretationen, in: Texte zur Kunst, November 1996, S. 189. 26 Virilio, Paul, Die Eroberung des Körpers, München 1994. 27 Macri, Teresa, Il corpo postorganico, Genua, Mailand 1996. 28 Vgl. Schneede, Martina, Mit Haut und Haaren, Der Körper in der zeitgenössischen Kunst, Köln 2002. Schneede bedient sich gewissermaßen einer Mischform der Differenzierung: ausgehend von gegenständlichen Unterscheidungen, die die Kapitel ihres Buches markieren (Körper, Haut, Haar, Fleisch, Blut) verweist sie auf die gängigen zeitgenössischen Problematisierungen, die dann in Unterstichwörtern, wie ‚Markierung‘, ‚Identität‘, ‚Verschwinden‘ akut werden. Die historische Entwicklung ist in die jeweiligen Problematisierungen eingearbeitet.

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E INFÜHRUNG

1.3. K ÖRPER

UND

E MANZIPATION

Der Ausgangspunkt einer solchen Definition mag in der näheren Vergangenheit liegen. Mit der Konjunktur des Körpers in der neueren Kunst kommen auch einige Künstlerinnen und Künstler und deren Arbeiten aus den 70ern wieder an die Oberfläche des Kunstbetriebs. Rein phänomenologisch ließe sich sagen, dass sich damals der Körper vor allem in der Aktionskunst und Performance als eine Art Medium in die Disziplinen wie Film, Musik, bildende Kunst oder Literatur einschob. Man denke an Gina Panes Selbstverletzungen als Körpermarkierung, an Gilbert & George als singende Körper-Skulpturen, an Dennis Oppenheim, der seinen Körper zur Leinwand machte, an Marina Abramovic, die davon sprach, einen regelrechten ‚PerformanceKörper‘ ausgebildet zu haben, aber auch an Vito Acconcis Transposition von Poesie in Performances. Der Körper wurde aus seinen konventionellen Positionen entrückt und verunsicherte so auch Repräsentations- und Signifikationsverhältnisse. Das private und häufig bohèmehaft inszenierte Leben der avantgardistischen Künstler wurde à la Warhol mit den medialen Instrumenten der Massenkultur verbunden, der Künstlerkörper selbst zum Werk in Analogie zur Ware Star. Einige dieser Künstler der 70er und 80er Jahre treten als Vorläufer der neueren Körperkunst wieder ins Blickfeld, andere, wie beispielsweise Valie Export oder Joan Jonas äußern sich mit neuen Arbeiten. Mit dem Versuch der Selbstbemächtigung der Repräsentation des Körpers durch die KünstlerInnen, aber auch der ‚Amateure‘ gegen die Bildmacht der großen Medienapparate (Fernsehen, Werbung) ging seine Untersuchung einher. In zahllosen Videoarbeiten lässt sich diese Doppelstrategie bemerken, die mit der Frage der Autorschaft und ihres Verhältnisses zum Modell ein ganz neues Verständnis der Funktionen der Repräsentation eröffnete. Ohne die body art der 70er Jahre vollständig darauf reduzieren zu wollen, mag behauptet werden, dass eine ihrer wichtigen Triebfedern ein sozialutopisches Konzept des Körpers war, dessen Überzeugungskraft heute langsam verebbt. Bis in unsere Zeit hinein, mit einem Höhepunkt vielleicht in den 60er und 70er Jahren, galt der Körper im Zusammenhang verschiedener Emanzipationsanstrengungen als eine politisierbare Gegenkraft zu Zivilisation und Kultur, als natürliche Essenz, auf die sich allerhand Hoffnungen stützten. Entsprechend konnte die Befreiung des Körpers als die Emanzipation von zivilisatorischen

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K ÖRPER IN FORM

Einhegungen, Verkleidungen und Beschneidungen gelten, sollte damit auch die Befreiung seiner Natur und seiner Triebe nach sich ziehen und schließlich die Emanzipation und In-Recht-Setzung seiner ‚wahren Bedürfnisse‘ ermöglichen. Der menschliche Körper, so vermutete man, sei ein taugliches Mittel zur Subversion und vielleicht gar zum Umsturz der entfremdenden Zivilisationszwänge. Die hochbesetzten Investitionen in die befreienden Wirkungen des ‚Körpers als Subjekt‘29 waren verbunden mit großer Aufmerksamkeit auf seine vermeintlich wahrhaftigen Äußerungen, auf die Körpersprache im weitesten Sinne. Dieser galt das Interesse vielfältiger Praktiken der Selbstbeobachtung und –hermeneutik sowie auch der Wissenschaften. Jenseits der Kleidung und Dressur, der verfälschenden Ernährung, der Indoktrination und Verklemmung sollte der Körper seine wirklichen Ansprüche anmelden. Unser Jahrhundert ist reich an Variationen dieses Konzeptes, das sich zu einer vielfältigen und widersprüchlichen Geschichte entfaltet hat30.

1.4. H ISTORIOGRAPHIE

DES

K ÖRPERS

Sowohl die Vorstellung vom Körper als dem Garanten für die natürliche Bestimmung des Menschen, als auch das Gegenmodell vom Körper als der zu kultivierenden und dressierenden Natur, verlieren zunehmend an Bedeutung. Der Dualismus Natur/Kultur erscheint immer weniger tauglich, die Körperphänomene zu begreifen.

29 So bezeichnen dieses politische Projekt: Kamper, Dietmar; Wulf, Christoph, Lektüre einer Narbenschrift, in: Dies. (HG.) Transfigurationen des Körpers – Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989, S. 1. 30 Detlef Kuhlbrodt hat dies exemplarisch sehr schön in einer collageartigen Darstellung der Geschichte der Freikörperkultur für den Norddeutschen Rundfunk gezeigt. Ihre Entstehung um die Jahrhundertwende, ihre Rolle in sozialreformerischen und -revolutionären Bewegungen (‚Brüder zur Sonne zur Freiheit‘), die rassistische Variation der Nazis usw. Diesselbe Thematik wird von ihm noch einmal im Zusammenhang des Zusammenstoßes unterschiedlicher west- und ostdeutscher FKK-Kulturen zur Nachwendezeit dargelegt: Detlef Kuhlbrodt, Psychobefreiungs-Dingsbums – Warum der Mensch auf textilfrei steht, in: TAZ vom 1.10.1992, Seite 11 (TAZBericht).

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E INFÜHRUNG

Vor allem eine Verschiebung in der Konzeption des Körpers bestimmt die heutigen künstlerischen Auseinandersetzungen mit ihm. Der galoppierende Skrupel, der zunächst die Geschichtsschreibung erfasst hat, und der ihr bedeutet, dass alles immer anders ist, als es vorher war und danach sein wird, kurz das alles veränderlich oder historisch ist, hat langsam auch den Körper erreicht. Es verbreitet sich die Vorstellung, dass auch der vermeintlich stabile Körper – diese Stabilität drückte sich wenigstens in den letzten drei Jahrhunderten in seiner Konzeption als einer durch Natur determinierten Entität aus – ein historisch sehr weitgehend veränderliches Gebilde ist, das je nach den Umständen die unterschiedlichsten Merkmale und Vermögen ausbilden kann. Eine frühe große Welle eines historisch orientierten Interesses am Körper, die zu moderneren Problematisierungen hinleitet, bestand vielleicht in den zahlreichen Sitten- und Kulturgeschichten des 19. Jahrhunderts. In der Sittengeschichte schossen als Double der disziplinierenden Sexualmoral Abhandlungen über die verschiedensten Thematiken ins Kraut: diverse Sphären öffentlichen und privaten Lebens der verschiedenen Völker und Epochen wurden erörtert. Zahlenmäßig auffällig sind Abhandlungen frivolen Charakters – von unterschiedlichen Schönheitsidealen, über Liebespraktiken bis zur Prostitution. Die geschichtsphilosophischen Erwägungen der Kulturgeschichtsschreibung, wie etwa die, ob es eine allen Menschen gemeinsame Kulturgeschichte gebe oder ob dagegen weitgehend unverbundene Perioden auf die verschiedenen Völker verteilt seien, berührten auch diese, den Körper betreffenden Praktiken. Die erste Anstrengung zu einer zusammenhängend interpretierenden Geschichte, die den Körper betrifft, könnte man in Norbert Elias Abhandlung ‚über den Prozeß der Zivilisation‘31 sehen. Er behauptet eine fortschreitende Affektkontrolle und Schamhaftigkeit in Fragen der Hygiene, der Sexualität oder der Tischsitten sowohl im privaten als auch im öffentlichen Kontext – deren Grenzen dadurch mit gebildet und verschoben wurden. Elias hat bereits ein deutlich ausgebildetes Bewusstsein von der historischen Veränderlichkeit der Konventionen. Dieses Bewusstsein ist jedoch mit normativen und teleologischen Motiven verbunden. Seine Arbeit ist sowohl von einem gewissen Fort-

31 Elias, Norbert, über den Prozeß der Zivilisation, Bern 1969 (2., erweiterte Auflage).

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schrittsoptimismus gekennzeichnet, wie von der festen Überzeugung der Notwendigkeit einer zunehmenden Zivilisierung. Eine Reihe weiterer perspektivischer und methodischer Verschiebungen müssen erwähnt werden, die, oftmals angeregt durch die Anthropologie, die Kulturgeschichtsschreibung seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts erweitert haben und zu so interessanten Disziplinen wie der Geschichte der Mentalitäten, des Alltags und volkstümlicher Wissensformen führten. Hier ist vielleicht erst der Zugang zur Vorstellung sich historisch wandelnder Körpertypen erreicht worden32. Die französische, quantitativ orientierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Philippe Ariès, Marc Bloch, Fernand Braudel, Georges Duby, Lucien Febvre u.a.) ist ebenso zu nennen, wie die italienische ‚Mikrogeschichte‘ (Carlo Ginzburg, Carlo Poni), die ausgehend von scheinbar unwichtigen, bis dato nicht geschichtswürdigen Personen oder Ereignissen komplexe Lebenswelten rekonstruiert. Beiden historiographischen Strömungen ist die Abwendung von der am Herrscher orientierten Ereignisgeschichte und die Konzentration auf ‚niedere‘ Personen und Realitäten eigen. Indem demographische Entwicklungen, Verwandtschaftsverhältnisse, Volksglauben, Denk- und Empfindungsweisen gleichermaßen thematisiert wurden, wie unterschiedliche agrarische Bewirtschaftungsweisen, Arbeitsteilung und Handelsstrukturen, kamen neben der Geschichte der Kriege, der Religionen, des Geistes, der Kunst oder der Wissenschaft und Technik Praktiken und Wissensformen zum Vorschein, die sich der Kodifizierung und Epistemologisierung und damit auch weitgehend der Überlieferung, wie sie für die ‚Hochkultur‘ typisch ist, entzogen haben. Ihre Spuren haben sich anders niedergeschlagen und müssen mit neuen Mitteln gefunden und rekonstruiert werden. Nicht zuletzt der Körper ist Ort ihrer Markierung und Mittel ihrer Überlieferung. Diese Spuren zeugen sicher eindringli-

32 Vgl. le Goff, Jacques; Truong, Nicolas, Une histoire du corps au Moyen âge. Paris 2003. Le Goff schildert im Vorwort (,Introduction, Histoire d’un oubli) die Herausbildung des Körpers zu einem Gegenstand der historischen Forschung ähnlich. Hier wird neben Norbert Elias auch auf Michelet (Le peuple; La sorcière) verwiesen, auf Marcel Mauss und dessen Interesse an den ‚Techniken des Körpers‘ (Essai sur le don, 1934), welches auch Levi-Strauss aufgriff. Auch Marc Bloch und Lucien Febvre werden genannt.

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E INFÜHRUNG

cher von der ungeahnten Wandelbarkeit der menschlichen körperlichen Existenz als die Aufreihung heroischer Herrschergestalten. Zugleich hat sich in der Historiographie ein allmählicher Übergang von einer reinen Ideen- und Geistesgeschichte zur Erforschung ihrer jeweiligen auch wechselnden Bedeutungen, zu ihren Wirkungen in einem gegebenen Kontext vollzogen33. Dabei geht es gleichermaßen um die Entwicklung, wie auch die Mittel und Techniken der Verbreitung, Transformation und Übertragung dieser Ideen. Neben einer ausgedehnten Aufmerksamkeit auf die Sprache erwies sich zunehmend auch die Untersuchung nichtsprachlicher Praktiken als geeignet, um die Entwicklung, den Verlauf und Erfolg – und damit auch die mehr oder minder gewaltsame Durchsetzung – von Ideen und Bedeutungen zu untersuchen, wo die herkömmliche, an der Schriftkultur orientierte, geistesgeschichtliche Betrachtung ratlos bleiben musste. Foucaults unterschiedliche Arbeiten zur Geschichte der Sexualität, zum Wahnsinn, zu ‚Überwachen und Strafen‘ haben gerade in Bezug auf die Körpergeschichte einige Konsequenzen aus diesen methodischen Wandlungen gezogen. Sie verschieben den Akzent von einer Geschichte der fortschreitenden Zivilisierung des Körpers zu einer der produktiven Disziplinierung, die die unterschiedlichsten diskursiven und nichtdiskursiven Instrumente ausbildet und sich zu historisch je eigenen, retrospektiv überraschend bizarr erscheinenden Formen der Beobachtung und Problematisierung, der Kontrolle und Reglementierung, der Machtausübung und -gewährung entfaltet.

1.5. H ISTORISCHE K ÖRPERFORMATIONEN In Folge von Elias und Foucault und im Bewusstsein der Tatsache, dass der Körper selbst eine Geschichte hat, erschienen seit Ende der 80er Jahre eine Reihe historiographischer Studien zum Körper34. Neben den ersten umfangreicheren Arbeiten, wie den ‚Fragments for a history of the Human Body‘35 sollen drei frühe spezifischere Bei-

33 Vgl. diese titelstiftende Entgegensetzung bei Bouwsma, William J., From History of Ideas to History of Meaning, in: The Journal of Interdisciplinary History, Bd. 2, 1981, S. 279. 34 Auch hier können nur einige wenige Beispiele genannt werden, deren Auswahl wiederum weitgehend willkürlich ist.

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spiele genannt werden, die schnell auch für die Kunstgeschichte wie die neuere Kunstwissenschaft von Interesse waren: Barbara Duden veröffentlichte verschiedene Texte vor allem zum historischen Körper der Frau36, während Jean Claude-Schmitt37 die Entwicklung der Gesten und Gebärden im Mittelalter untersuchte. Weiterhin soll auf den von Norbert Schnitzler und Klaus Schreiner herausgegebenen Band ‚Gepeinigt, begehrt, vergessen, Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit‘38 verwiesen werden. Interessant ist der Band vor allem auch deshalb, weil er Fragen nach den Möglichkeiten und Methoden der Interpretation überlieferter Körperdarstellungen aufwirft. Inzwischen existiert eine kleine Bibliothek von Texten, in denen in den unterschiedlichsten Disziplinen historischen Körpertypen und den damit verbundenen Diszliplinartechnologien, Institutionen, Milieus und Darstellungsdispositiven nachgespürt wird. Für die Historiker ist der Körper mittlerweile gleichermaßen Objekt wie Dokument der Geschichte. Seine Gestalt trägt die Zeichen und Formen der vielen verschiedenen Kräfte, die auf ihn wirkten, so dass er vor allem auch ein vielschichtiges, widersprüchliches und verwirrendes Gebilde ist. Wenn die Analyse alter Texte gleichermaßen Fragen wie die nach der Autorschaft, der Sprachgeschichte, der Begriffe, der Darstellungsformen, der Überlieferung, der Aufzeichnungsapparate und vielem anderen stellt, so wird eine Deutung historischer Körperbeschaffenheiten sich ähnlich vielstimmig ausbilden und behutsam konzipiert werden müssen.

35 Feher, Michael u.a. (Hg.), Fragments for a History of the Human Body, 3 Bde, New York 1989. 36 Duden, Barbara, Geschichte unter der Haut – ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987; Der Frauenleib als öffentlicher Ort -vom Missbrauch des Begriffs Leben, Hamburg 1991; Body History – a repertory, Wolfenbüttel 1990. 37 Schmitt, Jean-Claude, Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992 (Paris 1990). 38 Schnitzler, Norbert; Schreiner, Klaus, Gepeinigt, begehrt, vergessen – Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992.

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2. Aktuelle Ansprüche an den Körper

Neben der Berücksichtigung der aus der Geschichte überlieferten – oft widersprüchlichen und gegenläufigen – Körperformationen richtet die neuere Körperkunst ihr Interesse auf die aktuellen Ansprüche an den Körper. Der Körper ist privilegierter Ankerungspunkt diverser Instanzen und Interessen. Die Medizin möchte ihn durchleuchten, gesund und tendenziell ewig lebensfähig halten, er ist zugleich ein Relais vielfältiger kommerzieller Interessen, die Pflege der Hygiene und Dietätik teilen sich unter anderen Staat, Familien, Medien und pharmazeutische Industrie, die Bevölkerungspolitik kümmert sich nicht allein um Anzahl und Verteilung der Körper, sondern auch um ihre Reproduktionsund Arbeitsfähigkeit und fordert im Extremfall die Kriegstauglichkeit. Gen- und Biotechnologie, plastische Chirurgie und alle möglichen neuen oder auch reaktivierten alten, westlichen wie fernöstlichen Techniken der Körperformung und -beeinflussung verschärfen in den letzten Jahren den Druck auf den Körper. Wir alle sind dem Imperativ der Jugendlichkeit, Leistungsfähigkeit, Gesundheit aber auch des Optimismus und der Genussfähigkeit als Ausdrucksformen dieser Merkmale und Funktionen ausgesetzt. Gerade die Behauptung der Machbarkeit bezüglich der Veränderung und Optimierung des Körpers und die Betonung der wissenschaftlichen Fundierung der genannten Techniken gibt den Menschen das Gefühl eines Vergehens, wenn sie weiterhin in einem wenig idealen, ja ‚vernachlässigten‘ Körper herumlaufen. Dabei ist das Bild vom abhängigen, von äußeren, übermächtigen Instanzen bedrängten oder gar durch Gewalt bedrohten Individuum vor allem in Bezug auf die Industrieländer einseitig: der Konsumentenkörper sieht sich vor allem von Idealen umstellt, die ihm in der Selbstbe-

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kümmerung zu schaffen machen. Aus der drängenden Konfrontation von ubiquitären Vorbildern und dem eigenem Körper entwickeln sich regelrechte neurotische Schleifen. Mager- und Fress-, Fitness- und Gesundheitssüchte können aus leichten Verschiebungen derjenigen Perspektive resultieren, der der Körper Subjekt und Objekt zugleich ist und die an ihn immer auch als Medium der (selbst-)Wahrnehmung gebunden ist. Vor allem die Körper im Übergang von der Jugend zum Erwachsenen oder von diesem zum älteren Menschen sind diesen Identitätskonfusionen ausgesetzt.

2.1. D IE UM

POLITISCHE

AUSEINANDERSETZUNG

K ÖRPER

Vor allem dort, wo sich zwischen den gesellschaftlich verbreiteten Körpervorstellungen und der individuellen Körpererfahrung als problematisch empfundene Widersprüche oder Reibungen auftun, ist das Politische des Körpers ersichtlich. Hier wird die klassisch öffentliche Fürsorge und Vormundschaft des Staates und seiner Agenten als ähnlich nötigend erlebt, wie die allgegenwärtigen kommerziellen Initiativen einer umfassenden ‚Körperpflege‘. Im Feminismus und beim politischen Kampf gegen rassistisch motivierte Diskriminierung und Gewalt sind sicher die ersten bewussten und intensiveren Auseinandersetzungen mit dem herrschenden Körperbild als Teil einer politischen Strategie geleistet worden39. In Folge wurden sodann gen- und biotechnologische Problematisierungen des Körpers, wurde Aids und seine offizielle wissenschaftlichmedizinische und politische Verhandlung auch von den Künstlern als Zumutungen empfunden, die eine Antwort erforderten. Vor allem in Amerika entwickelte sich eine neue Form des auch künstlerisch artikulierten Aktivismus. Der durch die Medien ausgeschüttete kommerzielle Körperkult, die Angebote plastischer Chirurgie und anderer körperoptimierender 39 Vgl. Friedrich, Annegret; Haehnel, Birgit; Schmidt-Linsenhoff, Viktoria; Threuter, Christina (Hg.), Projektionen. Rassismus und Sexismus in der Visuellen Kultur, Marburg 1997; Hall, Stuart, Die Konstruktion von ‚Rasse‘ in den Medien, in: Ders. Ausgewählte Schriften (hg. von Räthzel, Nora, Berlin 1989, S. 150-71).

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A KTUELLE A NSPRÜCHE AN

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Techniken, die abwechselnd als bedrohlich-überwältigend oder hoffnungsträchtig-zukunftsweisend phantasierte Optimierung oder gar Ersetzung des Menschen aber auch die durch neue Darstellungsweisen und medizinische Machbarkeiten angeheizte Abtreibungsproblematik und die Reproduktionstechnologien besetzten ebenso das Interesse künstlerischer Auseinandersetzung. Gerade die wechselseitige Beziehung zwischen dem einzelnen oder eigenen (Künstler-) Körper und seinem kulturellen Kontext mit all den Beschränkungen, Anreizen, Forderungen und Kontrollen wurden daher von vielen Künstlern ins Zentrum ihres Interesses gerückt.

2.2. D ER

DIFFERENZIERTE

K ÖRPER

Damit die einzelnen Körper den genannten Ansprüchen ausgesetzt werden können, unterliegen sie einem offensichtlich weitgehend einheitlich ausgebreiteten, wahrnehmungsleitenden Raster binärer Differenzierungen. Die Körper sind entweder männlich oder weiblich, hetero- oder homosexuell, schlank oder dick, weiß oder schwarz, gesund oder krank, jung oder alt. Diese Differenzierungen ermöglichen einerseits den Zugriff all der genannten, um die Ausbildung der Körper besorgten Instanzen auf den einzelnen Körper, andererseits stellen sie die Mittel der individuellen Körperidentität bereit. Dieses double-bind von Individualisierung und Totalisierung hat den modernen Körper zu einem diskursiven Knotenpunkt gemacht, der geradezu der Ort der Exemplifizierung von politischer Macht geworden ist. Die Behauptung und Stabilisierung der Körperidentität scheint in diesem Schema nur allzu oft auf die Abspaltung des jeweils anderen Teils der binären Differenzierungspaare angewiesen. Eine der lebhaftesten Baustellen neuerer Körperkunst setzt daher an der Reihe von Unterscheidungen an, die die heutigen Körper charakterisieren. Vor allem die alltäglichen binären Differenzierungen, die die Last der Differenz dem jeweils zweiten Term aufladen, ihn als das Andere, Fremde und/oder Exotische markieren, werden künstlerisch bearbeitet. Beispielgebend ist dabei vielleicht die der amerikanischen Diskussion des multiculturalism entspringende Ausstellung ‚mistaken identities‘40

40 Mistaken identities, Ausstellungskatalog, Santa Barbara, 1993. Die Folgewirkungen dessen, was in Amerika unter ‚multiculturalist debate‘ fungiert,

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geworden. Hier ist auch der politische Zusammenhang von geschlechtlicher und ethnischer Differenzbestimmung deutlicher geworden, eine Frage, die in der deutschsprachigen Kritik verspätet aufgenommen wurde41.

2.3. G RENZZIEHUNGEN Ständig verschieben sich auch für den Körper die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Bereich, zwischen den Fragen, die eher der Sorge der kleinen sozialen Kreise (Familien, Paare, andere Lebensgemeinschaften) und der Selbstbekümmerung oder -hermeneutik unterliegen und denen, die für öffentlich relevant erachtet werden. Einer der weiteren Schwerpunkte des Interesses der neueren Kunst ist daher die Frage nach den Grenzziehungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, die bereits zentrales Thema der body art der 70er Jahre war. Diverse Mittel der Abschottung und Ausschließung wirken im Zusammenhang mit solchen der Öffnung, Verbindung und Mischung – sie markieren eine komplizierte Topographie, die in wechselnder Folge sowohl Ganzheiten erstellt wie auch Abspaltungen organisiert: „With all the holes in you already, there’s no reason to define the outside environment as alien.“ heißt es in einer Leuchtschrift Jenny Holzers42 trotzig und doch weiß nicht nur die Psychoanalyse von der subjektkonstituierenden Einrichtung der Einfriedung oder Abschließung des Körpers, der sich so erst zu einem Außen ins Verhältnis setzen kann43. Eine große Bekümmerung um diese Grenzziehungen verrät der ausgedehnte Streit der 90er Jahre um die Rechtmäßigkeit oder Notwendigkeit der Veröffentlichung oder des Outens von sexuellen Orientierungen bis hin zu Stasikontakten. Es berühren sich klassisch politische Fragen und Forderungen (das Private öffentlich und damit zum Politischen machen) mit voyeuristischen Anliegen, Thronsturzvergnü-

sind auch in der Kunst sehr deutlich. Viele thematische Ausstellungen sind hier zu verzeichnen. 41 Vgl. hierzu Zimmermann, Anja, in: Dies. (HG), Kunstgeschichte und Gender, Einführung S. 28ff. 42 Holzer, Jenny, Signs, Des Moines Art Center 1986, ICA 1988. 43 Vgl. Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt Main, 1991, S. 199.

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gen und Erpressungsversuchen. Die Medien aktualisieren ihren Authentizitätsanspruch mit Containern, in die alle hinein, aus denen die Eingeschlossenen aber nicht hinaussehen können. Das Konflikt‚lösungs‘konzept durch militärische Ausschließung des Anderen und Abschottung des Eigenen bekam innergesellschaftlich und weltpolitisch eine neue Konjunktur. So wie die Aids-Opfer und ihr Sterben zunächst verdrängt werden sollten, verschloss sich die ‚Festung Europa‘ vor den Flüchtenden der Bürgerkriege44. Der in die Kliniken verdrängte Tod meldete seine Rückkehr mit ähnlicher Dramatik, wie die mit der Kolonialisierung angelegten Konflikte wieder akut wurden. Kriegsmetaphern beherrschten die medizinischen und öffentlichen Diskurse über den Kampf gegen das ‚Killervirus‘ ebenso45, wie umgekehrt Kriege in der Sprache der Pathologie verhandelt wurden und nicht umsonst gilt hier bis heute als die größte Gefahr, als der Feind Nummer 1 der gewissermaßen irreguläre, weder einzuhegende noch auszugrenzende, ja nicht einmal wahrnehmbare Terror(ismus).

2.4. K ÖRPER

ALS KULTURELLE

K ONSTRUKTION

Die historisch wechselnden und kulturell unterschiedlichen Körperformationen geben einen gewissen Anlass zur Hoffnung, dass sich der Körper verändern lässt und dass die Individuen nicht untrennbar an bestimmte Körperidentitäten, verstanden als als natürlich markierte, unverfügbare Körperbestimmungen, gebunden sind. Dabei sind sicher konstruktivistische Theoreme zu einem Kern dieser Problematisierung geworden. Körper und Körperidentität sind

44 Siehe Schade, Sigrid, Andere Körper, in: Andere Körper (AK), Wien 1994, S. 10-25, bes. S. 20. 45 Vgl. Varela, Francisco, Der Körper denkt, das Immunsystem und der Prozeß der Körper-Individuierung, in: REAL TEXT, Denken am Rande des Subjektes, Klagenfurt 1993, S. 64-75. Francisco Varela legt dar, wie die Vorstellungen über das Funktionieren des Immunsystems nach Metaphern der kriegerischen Auseinandersetzung ausgebildet worden sind.

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nicht unabänderlich natürlich, nicht durch Natur determiniert, sondern kulturell ‚konstruiert‘, also auch zu dekonstruieren, zu verändern46. Meines Erachtens muss dabei die Frage der Veränderbarkeit der Körper sorgsam bedacht werden, denn die Körperformationen sind recht stabile Gebilde, die sich historisch nur allmählich und unter Einfluss vieler Schritte und Akte verändern. Es sind diese vielen kleinen Initiativen gleichermaßen zu festen Fügungen sedimentiert, deren Beharrungsvermögen nicht unterschätzt werden sollte, so dass hier m. E. die Rede von historisch veränderlichen a priori Sinn macht. Viele interessante Arbeiten der neueren Körper-Kunst hantieren mit vorhandenen Körperbildern, statt sich der Illusion voluntaristischer Totalumbauten oder Neuschöpfungen hinzugeben, die oft gerade im Tarngewand humanistischer Ideale daherkommen47. Die Art und Weise, wie

46 Die im Kontext der gender studies schrittweise etablierte Unterscheidung zwischen sex und gender mag dafür exemplarisch genannt werden. Offensichtlich diente die anfängliche Aufteilung in ein biologisches Substrat und eine kulturelle Ausarbeitung wissenschaftsgeschichtlich betrachtet den Sozial- und Kulturwissenschaften zunächst vor allem der Enteignung der für Geschlechterdifferenzen lange Zeit exklusive Kompetenz beanspruchenden Naturwissenschaften (Biologie, Medizin). Aber bald hat sich das Begriffsverhältnis geändert. Zum einen werden auch die von den Naturwissenschaften zur Wirklichkeit erklärten ‚biologischen Tatsachen‘ für Interpretationen, für Ergebnisse diskursiver Prozesse gehalten und so in den Strom historischer Entwicklungen verlegt. Dadurch wäre sozusagen der ganze für Geschlechterdifferrenz relevante Bereich von den Kulturwissenschaften angeeignet. Andererseits wird die analytische Tauglichkeit des Dualismus biologische Grundlage/kulturelle Einschreibung grundsätzlicher bestritten. 47 Die auch in Hamburg zu sehende Ausstellung ‚post human‘ (AK Hamburg 1993) etwa verband praktisch gegen den eigenen Titel mit dem humanistischer Tradition folgenden Ideal selbstbestimmten, sich selbst neu entwerfenden Menschendaseins die Suggestionen von plastischer Chirurgie, Genund anderer Hightechnologie. Utopie reduziert sich hier auf serielle Klischees nordamerikanischer und europäischer Mittelstandsträume: Freizeitleben, Jugendlichkeit, globales Netz von swimingpoolbevölkernden Mobiltelefonbesitzern (siehe die Illustration des AK S. 60-61). Karlheinz Lüdeking versucht in einem Gespräch mit Jeffrey Deitch, dem Kurator der Ausstellung, die Fragwürdigkeit dieser Suggestionen herauszustellen und erfährt dabei von Deitch auch gewisse Relativierungen. Vgl: Menschliches

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von den Künstlern mit bestehenden Formationen des Körpers umgegangen wird, wie diese bearbeitet, angegriffen oder kritisiert werden, lässt sich vorläufig durchaus mit den gängigen Stichworten postmoderner Ästhetik und Strategie anreißen: Pastiche, Parodie, Ironie, Dekonstruktion, Neukombination, Eklektizismus, Zitat. Mit dem Einlassen auf konkrete Körperformationen sind diese Künstler zu historischen und spezifischen Künstlern geworden und haben sich vom Konzept des universellen Künstlers noch der klassischen Moderne verabschiedet.

2.5. U NIVERSELLE E THIK

ODER SITUATIONSGEBUNDENE ÄSTHETIK DER E XISTENZ

Die Frage der Veränderlichkeit von Körper und Körperidentität auch in der Kunst kann mit Theoremen postmoderner Provenienz aus den 80er Jahren verknüpft werden, vor allem wo diese neue politische Optionen diskutierten. Die postmodernen Theoretiker gingen, so könnte man ungeachtet all der Unterschiede der Konzepte sagen, – anders als viele Vertreter der Frankfurter Schule48 – von einem historischen Paradigmenwechsel, von einer Ablösung der Moderne aus. Anstelle der Vorstellung einer seit der frühen Neuzeit fortschreitenden historischen Ausdifferenzierung der westlichen Gesellschaften in diverse gesellschaftliche Sphären, Funktionszusammenhänge und Spezialisierungen konstatierten sie einen fundamentalen Zerfall, ein Auseinanderbrechen der ideo-

und Künstliches, in: Kunstforum International, Bd. 132, NovemberJanuar1996, S. 112-123. 48 Vgl. Habermas, Jürgen, Die Moderne, eine unvollendetes Projekt, in: Welsch, Wolfgang, Wege aus der Moderne, S. 184: „{...} das Projekt der Moderne (ist) im 18. Jahrhundert von der Philosophie der Aufklärung formuliert worden, mit dem Ziel, die objektivierenden Wissenschaften, die universalistischen Grundlagen von Moral und Recht und die autonome Kunst unbeirrt in ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln...“ Habermas wendet sich hier deutlich gegen eine ‚Gegenaufklärung‘ (S. 181, 183) und warnt vor einer ‚Abwertung der Aufklärung als der Ausgeburt einer terroristischen Vernunft‘ (S. 189).

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logischen und metaphysischen Grundlagen der modernen Gesellschaft49. In diesem Zusammenhang konzentriert sich die postmoderne Theorie auch auf das Subjekt, seine kulturelle und sprachliche Formierung. Akut wurde damit die Frage nach möglichen nach-modernen, nach zeitgenössischen Formen der Subjektivierung und zugleich auch nach neuen Strategien der Repräsentation des Subjektes. Auffällig ist vor allem im Bereich der Kunst seit den 90er Jahren, dass in der Auseinandersetzung um Formen und Konsequenzen gesellschaftlicher Repräsentation zugleich mit dem vermeintlichen allmählichen Schwinden des modernen Subjekts die Ansprüche benachteiligter Gruppen, Ethnien und Völker nach einer eigenen und (erstmalig) angemessenen Repräsentation (im politischen, wie auch ethischpraktischen Sinn: Anerkennung, Präsenz) laut wurden. Gerade Künstler haben hierbei eine aktivere, interventionistischere und kritischere Rolle gewonnen und sich im Rahmen verschiedener politischer Bewegungen engagiert. Für die Theoretiker der Postmoderne war es neben der Dekonstruktion der Rationalität der Moderne vor allem auch die Diagnose eines Zerfalls der klassischen gesellschaftlichen Kontroll- und Regelungsorgane und deren Agenten und Institutionen, die eine Entwicklung neuer Weisen der Interaktion all der nunmehr erratischen ‚Sprachspiele‘50 und ‚Lebensformen‘ wünschbar machte. Wenn – vorausgesetzt, die These wird geteilt – der gesellschaftliche Zusammenhalt und dessen Organisation nicht mehr zentral, d.h. staatlich gesteuert werden, und eine solche Steuerung (etwa der Formen des Zusammenlebens und füreinander Sorgens in den klassischen Familien oder auch in anderen, beglaubigten oder unbeglaubigten Lebensformen) zudem immer mehr als unbegründete Gängelung und Knechtung erfahren wird51, so stellte sich nun die neue Frage, wie die Vielfalt der

49 Formelhaft zusammenfassend bei Lyotard, Jean-François, Der Widerstreit, München 1987, S. 12; Vgl. Vattimo, Gianni, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990. 50 Vgl. Lyotard, Jean-François, Das postmoderne Wissen, Wien 1986, S. 75f; Vgl. Warmer, Gebhard; Gloy, Klaus, Jean-François Lyotard. Darstellung und Kritik seines Sprachbegriffs, Aachen 1995, S.67. 51 Vgl. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986.

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auseinanderstrebenden Arbeits- und Lebensformen ohne Gewaltausübung, ohne allgemeines Gesetz (juridisch oder wissenschaftlich bestimmt) funktionieren könnte52. Als eine zunächst überraschende und auch zuweilen als reaktionär befeindete Folge aus der Schwächung der traditionellen linken oder emanzipatorischen Politik erwuchs eine neue Konjunktur diverser Ethiken nichtuniversalistischer Ausprägung. Diese bezogen sich zum Teil auf historisch weit entlegene, antike Konzepte, deren Situierung in übersichtlichen Lebenszusammenhängen und alltäglichen Praktiken die Rede von einer Diätetik, einem ‚gelebten Ethos‘, ja von einer ‚Lebenskunst‘ nahelegen53. Die von Foucault durchaus mit Emphase konstatierte griechisch-antike ‚Ästhetik der Existenz‘ ist eher eine Kunst oder Stilistik des Lebens, weil die Lebensführung nicht strikt an Gesetz, Norm oder Wissenschaft gebunden ist und doch nicht ohne Richtlinien bleibt54. Historisch gesehen erfuhr das Subjekt nach Foucault erst im Christentum seine Wahrheit vom ‚Ort des Anderen‘ (dem Beichtvater, der Wissenschaft, der Psychoanalyse), so dass eine Ethik als Lebenskunst schließlich unmöglich wurde55. Diesem neuen Interesse an ‚Subjektivierungsformen‘, also an der Art und Weise, wie das Individuum sich als Subjekt konstituiert und versteht56, lassen sich Arbeiten der Körperkunst der 90er Jahre an die Seite stellen. Viele dieser Arbeiten beziehen sich etwa auf Subjektivierungspraktiken marginalisierter oder unterdrückter Gruppen. Zugleich ist jedoch auch zu beobachten, dass beißende Kritik an einem yuppiehaften und privilegierten Gebrauch einer ‚Ästhetik der Existenz‘ als dem kommerzialisierten Kleiderwechsel von Identitäten laut wurde. Vertreter der ‚Dritten Welt‘ warfen dem Westen vor, solange universelle Moral und Ethik gepredigt zu haben, bis Unterprivi-

52 Vgl. Münnix, Gabriele, Zum Ethos der Pluralität – Postmoderne und Multiperspektivität als Programm, Bonn 2003, Kapitel ,Vernunftkritik und radikaler Pluralismus‘ (S. 42-52). 53 Vgl. Hadot, Pierre, Philosophie als Lebensform, Berlin 1991. 54 Vgl. Foucault, Michel, Die Sorge um sich, Frankfurt 1989, S. 60. 55 Foucault, Michel, Hermeneutik des Subjekts, in: Becker, Helmut (Hg.),Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge (Interview (1984)/Vorlesung(1982), Frankfurt 1985, S. 33. 56 Vgl. Münnix, Gabriele, Zum Ethos der Pluralität, a.a.O., Kapitel ‚Subjektivierung oder Ende des Subjekts‘, S. 57-102.

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legierte diese Predigt als Forderung aufnahmen, um dann kurzerhand postmoderne Vielfalt und Regionalität zu feiern57.

2.6. M EDIENVERBUND S PRACHKÖRPER Die Sprache des Körpers mag Körpersprache genannt werden, aber der Körper ist noch in einem anderen Sinne ein Sprachkörper, er spricht selbst und wird als Körper angesprochen. Sprachliche Artikulationen des Körpers beeinflussen ebenso wie visuelle Bilder den Körper58. Die Repräsentation der Körper findet nicht nur in unterschiedlichen Medien statt (mit je eigener Technik, Tradition, Organisations- und Verteilungsstruktur), sie entsteht auch in der Regel aus einem Zusammenspiel von Sprache und Bildern, das wiederum zu verschiedenen Konventionen geronnen ist. Viele Künstler der 90er Jahre beschäftigen sich mit den gängigen, in den unterschiedlichen Medien üblichen Weisen des Zusammenspiels von textlichen und bildlichen Mitteln der Repräsentation. Text und Bild werden aus ihren konventionellen Kohärenzen gerissen, indem etwa Redensarten direkt illustriert oder Bilder literalisiert werden. Eine unbedachte oder schlafende sprachliche Metapher kann in der Redundanz ihrer bildlichen Doppelung ‚aufgeweckt‘ werden, genauso wie umgekehrt ein konventionelles Bildschema in der sprachlichen Benennung erst bewusst und explizit werden mag. Die Körperkunst kann sich dabei auf eine breitere Tradition von Text-Bild-Kunstwerken stützen, die gerade auch in den letzten beiden Jahrzehnten auf Werbung und moderne Bildmedien rekurrierten, wie etwa Barbara Kruger, Jenny Holzer oder, früher, Richard Prince, Karen Kilimnik, Daniel Martinez, Sue Williams, Ken Lum oder Lorna Simpson sind nur einige von denen, die diese Ansätze weitergeführt haben. Diese Akte der Verfremdung und gegenseitigen Spiegelung erhellen beispielsweise die banale Brutalität allzu gewohnter Witzeleien.

57 Vgl. Areen Rasheed, Our Bauhaus, Other’s Mudhouse, Third Text, No. 6, 1989, angeführt von Jimmie Durham, A Central Margin, in: The Decade Show: Frameworks of Identity in the 1980’s AK, New York 1990, S. 168. 58 Vgl. Küchenhoff, Joachim; Warsitz, Peter: Sprachkörper und Körpersprache, in: Kittler, Friedrich; Tholen, C.G. (Hrsg.), Arsenale der Seele, München 1989.

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Die ihren Titel ‚black woman with chicken‘ in der Form einer schwarz/weiß-Sozialfotografie direkt illustrierende Arbeit Carrie Mae Weems (vgl. Abb. 4) konfrontiert den Betrachter mit der Dumpfheit der sexistischen (Frauen = chicken, die verspeist werden wollen) und rassistischen (alle Südstaatenschwarzen essen ständig billige Hühner) Suggestionen alltäglicher Redeweisen. Aber sie bestreitet der dokumentarischen Fotografie, wie sie aus Ethnographie und Sozialreportage geläufig ist, zugleich ihren Anspruch auf unschuldige Objektivität und Unparteilichkeit. In der reziproken Übersetzung und Verfremdung werden die beiden unterschiedlichen Repräsentationsweisen ihrer Konventionalität entkleidet und offenbaren ihren Sinn: die Redeweise wird in ihrer brutalen Konsequenz ebenso deutlich, wie die sentimentalen und bemäntelnden Funktionen der Sozialreportage heraustreten. Abbildung 4: Carrie Mae Weems, Black Woman with Chicken, 1987

Gelatin Silver Print, 20x16 – Quelle: Mistaken Identities (AK), Santa Barbara 1993, S.27

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2.7. Z EITGENÖSSISCHE K ÖRPER – M EDIALITÄT UND B OXKAMPF Das Wiedererscheinen des Körpers in der Kunst der 80er und 90er Jahre wurde zuweilen mit den rasanten medialen Veränderungen der reichen Industrieländer in Zusammenhang gebracht. Einige Autoren vermuteten, dass die Wiederkehr des Körpers auch eine kompensatorische Reaktion auf den Verlust unmittelbarer Erfahrung sein könnte. Digitale Technologie, zeitlich und quantitativ gesteigerte Bildreproduktion und -distribution verschärften sicher das Bewusstsein der Medialität der ‚Wirklichkeit‘, wenn auch, wie bei jeder medialen Revolution, offensichtlich daran erinnert werden muss, dass das menschliche Leben seit Jahrtausenden durch den Umgang mit Medien bestimmt wird und eine Unmittelbarkeit jenseits von Medien kaum zugänglich sein dürfte. Es ist also sicher angemessener, die Aufmerksamkeit auf mediale Mischungen, auf die Verschleifung und eventuell auch den Übergang von älteren zu neueren Medien zu richten. Eher als im Rekurs auf die populistische Alternative zwischen Unmittelbarkeit und Medialisierung können so auch die unterschiedlichen ‚Realitätseffekte‘ der Medien in den Blick rücken. Für die Kunst mag gesagt werden, dass in einem gewissem Gegensatz zu den 70er Jahren der Umgang der Künstler der 90er Jahre mit modernen Medien viel selbstverständlicher war, sicher auch aufgrund der einfacheren Verfügbarkeit. Bei einigen Künstlern, wie etwa Stelarc, lässt sich auch der Eindruck schwer abweisen, dass sie sich selbst in der Avantgarde technischen Fortschritts wähnten und deren propagandistische Versprechungen teilten. Der Vorwurf jedoch, dass Körperkunst der 90er Jahre auch zuweilen einen kompensatorischen Rückgriff59 auf die conditio humana überhaupt oder doch auf vermeintlich historisch entglittene Sicherhei59 Vgl. Sladen, Mark, The Body in Question, Art Monthly 191 (11.95), S.3. Sladen referiert hier einige Reaktionen auf die frühe Konjunktur an Körperkunst (der Endachtziger), die etwa beklagen, dass sich viele Künstler allein deshalb des Körpers bedienten, um einen primären, authentischen Ausdruck zu erreichen und die sogar fordern: „Schluss mit diesem Faschismus des Körpers, der uns jede Entscheidungsfreiheit raubt. Es ist vielleicht an der Zeit, der Körperkunst ein Moratorium zu halten“. (zitiert nach Sladen, S.3., übersetzt von Ph.W.)

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ten bedeuten konnte, scheint mir in den Fällen passend zu sein, in denen auf den ‚unmittelbaren Körper‘ als den Garanten für authentische Erfahrung etwa im Gegensatz zur verwirrend vielfältigen, medial gefächerten modernen Lebenswelt rekurriert wurde, – er scheint mir in den Fällen passend zu sein, wo die Sinnlichkeit körperlicher Erfahrung als Antidot gepredigt wurde gegen Simulation und technische Reproduktion. Dann bleibt dem Körper nichts, als das traurige „Medium der Verlustanzeige des ‚Wahren, des Eigentlichen und Natürlichen‘„60 zu spielen. Ein solch regressiver und populistisch ausgereizter Körperbegriff hat sicher eine Rolle im Umfeld der Documenta IX gespielt. Die Verunsicherung auch der Körperwahrnehmung im Kontext hightechmedialisierter Wirklichkeit mag Anfang der 90er Jahre zu so merkwürdig machistisch-existenzialistischen Rückversicherungen führen, wie der Suche nach exemplarisch wahrhaftiger Körpererfahrung ausgerechnet im Boxkampf61.

2.8. K ÖRPERBILD

UND ELEKTRONISCHE

M EDIEN

Interessanter mag dagegen für die Körperkunst sein, was in der Welt digitaler Medien mit dem Körperbild und seiner Perzeption passierte62. Die elektronischen Medien wirken auf ihre eigene Weise an der Veränderung der traditionellen Körpergrenzen und -umwelten. Gegenüber den etablierten Bildmedien wie Film und Fotografie arbeiten sie vermehrt der Tendenz zu, den Gehalt der Körper auf der Oberfläche des Bildes zu sammeln. Hier hat sich eine Fluchtlinie entwickelt, die dem Körper älterer Medien Gewicht und Materialität nimmt. Pop-, Porno- und Spielkultur sind sich in diesem Sinne vielleicht sehr nahe. In digitalisierter Formatierung reisen die Körper fast in der vielbeschworenen ‚Echtzeit‘ an einige Orte der Welt. Bilder aus smartphones, emails und webcams können ihre Adressaten in direkter Konse-

60 Schade, Sigrid, Andere Körper, Wien 1994, S. 21. 61 Vgl. Ruhrberg, Karl, Der Boxer – Was Jan Hoet mit Joseph Beuys und Muhammad Ali verbindet, in: Kunstforum International, Bd. 119, 1992, 100-103. 62 Vgl. dazu insbesondere Kamper; Wulf, in: dies., Transfigurationen des Körpers, Berlin 1989, Einleitung S. 3 und 4.

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quenz ihrer Entstehung erreichen, egal wo diese sich befinden, dabei verraten sie nicht notwendig etwas über Zeit, Ort und Art ihrer Entstehung. Die elektronische Aufzeichnung lockert das Bild also weiter von der zeitlichen und räumlichen Bindung des Körpers. Im Kontext von Werbung, Unterhaltung und Information wird das digitalisierte Körperbild zudem zu einer neuen Form von Medium und Ware, deren Distribution und Reproduktion extrem potenzierbar ist. Auf eine gewisse, technisch zu begründende Weise lösen die Körperbilder dieser Repräsentationsmedien auch die Bindung an ihren Vorwurf. Sie sind gleichwohl noch Aufzeichnungen des Lichts, wie die Foto-grafien fotochemischer Provenienz, aber durch ihre digitale Codierung sind sie manipulierbar bis hin zur völlig synthetischen Herstellung. So können sie zugleich vorbildlose, neue, ‚unersehene‘ Welten schaffen, wie auch virtuelle Welten mit der Tendenz der Ununterscheidbarkeit von älteren Bilderzeugungstechniken, die einen indexikalischen Bezug zu ihrem Gegenstand bewahren oder voraussetzen, also Fotografie und Film. Und schließlich können so, wie sich digital generierte Bilder an fotografisch erzeugte mimetisch angleichen mögen, diese ihrerseits in die Digitalisierung einbezogen (und den entsprechenden Bearbeitungsmöglichkeiten unterworfen) werden. In extremis ist der Körper als Bild vollständig synthetisierbar, ohne dass sich dies dem Betrachter erschließen muss. ‚Mimesis grundlos‘63 nennt Horst Bredekamp das anhängige Transformations- und Vervielfältigungsprinzip, nach dem eine Kopie sich im mimetischen Spiel auf andere Kopien überträgt. Dieses Prinzip erlaubt die Erzeugung von Bildwelten, deren Realitätsstatus unentscheidbar bleibt. Die ‚Virtualitäten‘ der neueren technischen Anordnungen aber sollten nicht vorschnell zu hightechverliebten, totalisierenden Szenarien hochgerechnet werden, wie viele der hardware-orientierten Theoretiker dies gern tun. Es ist nämlich sehr auffällig, dass die Bildproduktionen der digitalen Medien nicht nur in ständigem Austausch mit denjenigen der ‚analogen‘ Medien (Foto64, Film, gar Malerei) bleiben,

63 Bredekamp, Horst, Mimesis grundlos, in: Kunstforum international, Bd. 114, Juli/August 1991, S. 278-288. 64 In der zeitgenössischen alltäglichen Digitalkameraknipserei ist dies besonders auffällig, hier ist das Zitieren, die Durchdringung, Rückversicherung und Bestätigung augenscheinlich: die Menschen lassen ihre digitalen Bilder gern auf fotochemischem Papier belichten und erhalten so als Ergebnis

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sondern dass sie dabei immer auch auf deren (teils aus dem technischen Dispositiv folgenden, teils aus der Darstellungskultur stammenden) konventionelle Formen rekurrieren. Die technische Unabhängigkeit von einem ‚wirklichen‘ Referenten führt entgegen vieler Propagandisten der neuen Medien nicht automatisch zu ungeahnt neuen, zukünftigen Bildungen, sie dient – im Gegenteil – häufig dazu, stereotype Figuren (etwa in Hinsicht auf Geschlecht, Ethnie) umso ‚reiner‘, vollständiger, idealtypischer (zuweilen hypertropher) auszubilden – nicht zuletzt auch wegen der zunehmenden ‚Einfachheit der Verrichtung‘. Dies gilt sowohl für die Figuren, wie für die einfachen, zentralperspektivisch fluchtenden Räume, in die sie gestellt werden. Eine neue Form von Synthetik in der Bildproduktion bedeutet also faktisch nicht, dass die Erzeugnisse dieser Medien nicht weiter stark an alte Formen angepasst blieben, ja dass sie ihre Potentiale nicht gar verstärkt in deren Propagandadienste stellten. Fast hat man den Eindruck, dass auch die explizit virtuellen Helden und Heldinnen von Zeit zu Zeit durch die Schlaufe der alten Medien (und damit auch durch diejenige der Verkörperung durch Schauspieler aus ‚Fleisch und Blut‘) laufen müssen, um uns wirklich dauerhaft zu interessieren und um auf unsere eigene Körperlichkeit bezogen zu bleiben. Die Welt ist in verschiedene (Kultur-) Techniken und (Technik-) Kulturen aufgeteilt. Das Nebeneinander diverser Reproduktionstechniken, Informations- und Kommunikationsmittel und der konkrete Gebrauch bestimmen Vokabular und Grammatik der Medien ebenso wie der neueste technische Stand von hard- und software. Auch in Sachen Cyberspace gilt, dass die Untersuchung bestehender Spiele, Netzwerke oder sonstiger ‚Anwendungen‘ am aufschlussreichsten ist. Dabei wird sichtbar, dass sich Neuerungen gerade im spannungsvollen Kontakt mit vorhandenen Strukturen bilden und dass sie meist Wege nehmen, die von den technikdeterministischen Prophezeiungen und Versprechungen der Elektronik-Industrie ‚Lichtjahre weit entfernt‘ sind – um im Bilde zu bleiben.

wieder etwas, was wirkt, wie ein altes Foto, also die technische Verschaltung von Lochkamera-Linse-fotochemische Aufzeichnung (Negativ/Positiv). Das erinnert etwas an die Fotos der 70er Jahre, die auf Leinwand belichtet und in Rahmen gesteckt zu Tafelbildern gestaltet wurden.

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2.9. K ÖRPER

UND

K UNST

Die Künstler, die sich kritisch-dekonstruktiv auf etwas Vorfindliches beziehen (nämlich andere Bilder des Körpers) statt souveräne Schöpfer zu sein, die Verstrickung von Medium und Gegenstand (das ist zuweilen ein Körper, vielleicht gar der Künstlerkörper oder sein Abdruck), schließlich die Körper der Betrachter als Medien der Wahrnehmung und zuweilen körperlich adressierte Mitspieler des Werkes – das intrikate Verhältnis dieser Instanzen weicht die lange stabile Trias von Künstler, Werk und Betrachter auf. Vielfältig sind die Körperkunstarbeiten, die die Bilder der Werbung aber auch die Inkunabeln der Kunstgeschichte bearbeiten, etwa indem sie sie mit den ‚profaneren‘ Bildungen des Körpers, mit Schaufensterpuppen oder mit anatomischen Modellen konfrontieren, kreuzen und überblenden. Auch diejenigen, die – häufig in Fortführung der body art der 70er – ihren eigenen Körper investieren (als Bild, Abdruck, Performancekörper) greifen in die Fügung traditioneller Körperbildung ein, die doch die Trennung in den konzipierenden, entwerfenden und aus dem Unsichtbaren heraus beobachtenden Schöpferkünstler und seine Schöpfung voraussetzte. Schließlich adressieren viele Körperkunstarbeiten den Körper des Betrachters mit seiner Gestalt, seinen Sinnen direkt und reißen ihn ihrerseits aus der (der Künstlerposition komplementären) Position des neutralen Beobachters. Neue Begriffe der Analyse (und auch der theoretischen Konzeption von Ausstellungen) waren die Folge dieser Verschiebungen in der Körper(bildenden)kunst. Gerade die Infragestellung, Bearbeitung und Dekonstruktion des vielbeschworenen ganzen, normalen und natürlichen Körpers, den die Kunstgeschichte bis ins 19. Jahrhundert so überzeugend in illusionistischen Darstellungen hervorbrachte65 und den auch die Werbebildwelten propagieren, besetzte das Interesse der Theorie. Vor allem mit Bezug auf psychoanalytische Vorstellungen über die die Sub-

65 Vg. Schade, Sigrid, Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘. Das Fragmentarische in der Kunst des 20. Jahrhunderts als Dekonstruktion bürgerlicher Totalitätskonzepte, in Barta, Ilsebill; Breu, Zita; Hammer-Tugendhat, Daniela (Hg.) Frauen, Bilder,- Männer, Mythen. Kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 239-260.

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jektkonstitution beeinflussende Funktion der bildschöpferischen Herstellung der Körper, entwickelten sich Untersuchungen, die die Konzeption des Künstlers als Schöpfer, die Funktionen des ‚Anderen‘ (‚verkörpert‘ in der inneren Spaltung des Subjektes, in der Frau und im Exoten) in der Bildpolitik, schließlich die Strategien sowohl der Abspaltung wie auch der (imaginär/phantasmatischen) Integration des ‚Eigenen‘ auf der Ebene der Bildproduktion zum Inhalt haben. Einige der in diesem Zusammenhang kursierenden Begriffe und Konzepte sind auch für den Kunstbetrieb von Bedeutung geworden: In Anspielung auf den Begriff der object-art wurden in Amerika Werke von Künstlern wie John Miller, Mike Kelly, aber auch Robert Gober, Kiki Smith oder Paul Finnegan als ‚abject-art‘, bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit dem Abscheu und Ekel des Publikums arbeiten und dies durch die Darstellung von körperlichen Ausscheidungen, von Körpersäften erreichen oder durch abgetrennte Körperfragmente und die Inszenierung von Kadavern oder Krankheit. Die französische Feministin und Psychoanalytikern Julia Kristeva hatte den Anstoß zu dieser Begriffsbildung gegeben, indem sie die Verwerfung und Abspaltung von Körperprodukten als ab-jection bezeichnete66.

2.10. Z USAMMENFASSUNG Im historischen Rückblick mag die Ikone idealer neuzeitlicher Körperlichkeit, der homo vitruvianus des Leonardo in Konfrontation mit einer weniger wirkmächtigen Illustration der selben Epoche einige Aspekte

66 Vgl. Kristeva, Julia, Powers of Horror: An Essay on Abjection, New York 1982. Kristeva gibt zudem eine Erläuterung ihres Begriffs direkt auf die Kunst bezogen im Vorwort zum Ausstellungskatalog der selbst kuratierten Ausstellung: Rites of passage (AK), London 1995. Hal Foster schreibt über die amerikanische Faszination für das Abjekte und erhält eine Replik von John Miller: Foster, Hal, Der Kult der Abjektion, in: GEWALT/Geschäfte (AK); Berlin 1995, S. 92-93 und: Miller, John, Eine Antwort auf Hal Foster, in: ebd., S. 94-96. Juliane Rebentisch hat die vor allem amerikanische Auseinandersetzung, die sich um diesen Begriff drehte, ausführlicher besprochen: Abject, Informe und die Frage nach der Angemessenheit von Interpretationen, in: Texte zur Kunst, November 1996, 6. Jahrgang, Nr. 24, S. 83-93.

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unseres Verständnisses vom Körper deutlich machen: seine historische Veränderlichkeit, seinen politischen Status, die Rolle der Medien und anderer Instanzen bei seiner Formung. Eine Fülle von Körperkunstausstellungen charakterisiert die 80er und 90er Jahre. Vielleicht erweist weniger der direkte Blick auf ihre Verfassungen Aufschluss über die ihnen gemeinsamen Problematisierungen des Körpers, als der Kontrast im Rückgriff auf ihren unmittelbaren Vorgänger, die body art der 70er Jahre. Diese scheint noch enger mit einem älteren Projekt des Körpers, mit seiner Emanzipation verbunden zu sein. Die Absicht der Befreiung des Körpers von seinen zivilisatorischen Einschränkungen ruhte auf der Annahme seiner natürlichen Bestimmung. Indem die Historiker immer mehr die Geschichtlichkeit des Körpers, seines Begriffs, seiner Form und Ausprägung herausstellten, wurde die Grundlage dieses Konzeptes entzogen. Insbesondere seit den frühen 90er Jahren entstehen – parallel zur Körperkunst dieser Zeit – eine Reihe allgemeiner und speziellerer Untersuchungen zur Geschichte des Körpers. Zu den historischen Prägungen gesellen sich drängende aktuelle Ansprüche, denen unsere Körper ausgesetzt sind. Im Feminismus und im Kampf gegen rassistisch bestimmte Ausgrenzung und Gewaltandrohung sind erste Ansätze einer politischen Strategie abzusehen, die sich gegen die offizielle Körperpolitik wendet. Diese setzt bei den dichotomischen Bestimmungen an, die sowohl die politischen Differenzierungslinien, wie auch die Mittel der Individualisierung bereitstellen. Auch die Grenzziehungen dessen, was in Körperangelegenheiten als privat und was als öffentlich gilt, bestimmen die Körperpolitik. Die historisch erwiesene Veränderlichkeit der Körper eröffnet nun auch politisch die Möglichkeit, bestehende Körperbestimmungen abzuweisen. Chancen und Wünschbarkeiten auch der Körperpolitik geben den Einsätzen postmoderner Theoretiker, die der Forderung der Durchsetzung einer universellen Moral mit den Projekten situationsgebundener Ethiken und oder Ästhetiken der Existenz antworten, einen besonderen Ernst. So wie eine jede Bekümmerung um den Körper mit Bildern und Begriffen arbeitet, bedient sich auch die Kunst der 90er Jahre beider Mittel. Insbesondere die neuen Möglichkeiten elektronischer Bilderzeugung, Reproduktion und Vertreibung heizen die Auseinandersetzung um den Status des Körpers der 90er Jahre an.

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A KTUELLE A NSPRÜCHE AN

DEN

K ÖRPER

Die Tatsache, dass der Körper in seiner vielfach gesättigten Form als historisch geformtes Monument, als Ausdrucksmittel und auch als Medium der Wahrnehmung auf verwirrende Weise die klassischen Positionen von Künstler, Werk und Betrachter durchlaufen und verunsichern kann, hat zu neuen Problematisierungen auch der Kunstwissenschaft geführt.

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3. Die Frage der Repräsentation

Um die Untersuchungsperspektive deutlich zu machen, die die vorliegende Arbeit intendiert, wird zunächst ein Werbephänomen der 90er Jahre vorgestellt, das die Versammlung vormals inkompatibler Körpertypen auf einer gemeinsamen Darstellungsebene demonstriert. Sodann wird den Möglichkeiten einer solchen Versammlung über die Erörterungen des neueren Begriffs der Repräsentation nachgegangen.

3.1. E XKURS – N ORMALE UND

DEVIANTE

K ÖRPER

VEREINT

Häufig versammelt die Werbung heute Körper nach einem bestimmten Schema. Ein Körper von braver Normalität, der Körper der Identifikation, nähert sich in kesser Grenzüberschreitung, in einem ‚unkonventionellen‘ Akt einem eher ‚verrückten‘ Körper. Es kann hier etwa an die Plakat- und Fernsehwerbung der Zigarettenmarke ‚West‘ erinnert werden: Ein angestellter bis brokender Herrenanzug bietet der gepiercten Lederpunktranse Feuer und Zigarette an: ‚Shake hands‘ – zwei Konsumenten eines aufregenden Lebens. So werden die Werbebildwelten von allen möglichen vormals devianten, klandestinen oder subkulturellen Körpern bevölkert, die nun nicht mehr die Grenzen legitimer Körperbildungen markieren, sondern in die Mitte wenigstens der Bildwelt rücken können. Wenn auch diese Bildrolle noch nichts über den gesellschaftlichen oder politischen Status der Dargestellten sagt, so bleibt doch die Frage: auf der Grundlage welcher Veränderungen der Bildwelt ist die neuartige Versammlung möglich?

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K ÖRPER IN FORM

Wenn nun zunächst von den dargestellten Körpern gesprochen wird, so müsste man sagen, dass der normale oder normalisierte Körper lange Zeit zu seiner Herstellung wohl auf den Körper des Anderen als des Pathologischen, Defizitären oder Exotischen angewiesen war, jedoch in der Form der Abspaltung – stets war diesem eine subalterne Position zugewiesen. Und die Norm kreiste, wie die Untersuchungen etwa Foucaults erweisen, lange Zeit vor allem um die Produktivität. Die Körper des Arbeiters, Soldaten oder Bürokraten unterliegen Zeit- und Raumregimes in den disziplinierenden Milieus von Schule über Militärdienst, Arbeitgeber bis hin zum Krankenwesen und sie erleben die Reproduktion ihrer Arbeitskraft in Freizeit und Sport als Körperertüchtigung. Der weibliche Körper ist zugleich Gegenstand einer umfassenden Hysterisierung im Sinne einer Reduktion auf natürliche Körperlichkeit, d.h. Geschlechtlichkeit und Rezeptivität und der Zuweisung vor allem reproduktiver Aufgaben. Er ist zugleich auch privilegierter Bildkörper. Nun jedoch, in wahrer outing- und Präsenzwut67, versammeln sich all diese Körper, die normalisierten wie die devianten zunehmend auf einer gemeinsamen visuellen Oberfläche ostentativer Fröhlichkeit – man könnte sagen auf der Oberfläche des Konsums, wenn dieser Begriff hier als vorläufiger oder Hilfsbegriff analog zum Begriff (der Norm) der Produktivität für die neue Körperkonstellation benutzt werden darf68. In diese Körper wird investiert, damit sie fröhlich-tüchtigjugendlich-soziabel seien. Und dies geschieht vielleicht weniger, um sie zu Arbeitsleistungen zu befähigen, als zum effektiven Konsum (auch ihrer selbst).

67 Damit soll eher die sensationsgeile Publikation aller möglichen ‚Geheimnisse‘ und ‚Wahrheiten‘ durch die Medien (auch zu Werbezwecken) bezeichnet sein, als die politische Praxis des outing, die eine andere Skandierung des Feldes des Privaten und Öffentlichen vorzunehmen bestrebt ist. Vgl. Renate Lorenz, outing, in: Jahrezeitschrift: A.N.Y.P. Nr. 5, Berlin 1993, S. 5ff. 68 Vgl. Treusch-Dieter, Gerburg, Postevolution statt Revolution. Nicht mehr die Gesellschaft – die Körper werden verändert, in: Die Unruhe und die Zufriedenheit oder die Tragödie des Scheiterns (AK des Karlsruher Kunstvereins), Karlsruhe 1998, S. 44-62. Treusch-Dieter spricht davon, wie die Arbeit „durch die Automation {...} selbst zum Verzehr {...} geworden“ (S. 61) ist – eine Entwicklung, die auch die Gestaltung der Körper ergreift.

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D IE F RAGE DER R EPRÄSENTATION

Wiederum auf der Ebene der dargestellten Körper lässt sich fragen, auf wessen Kosten diese gemeinsame Versammlung geht, welche Transformationen ein vormals devianter, klandestiner oder subversiver Körper durchmachen muss, um vollständig der Öffentlichkeit zugeführt werden zu können, oder auch, welche Modifikationen der Körper der Norm erfährt, wenn er dem Körper der ‚Anderen‘ auf der Bildebene konfrontiert wird69, wenn sich auch sicherlich schnell sagen lässt, dass dies nicht das patchwork der Minderheiten (Lyotard)70 ist, sondern eher der als Blumenstrauß der Hautfarben71 präsentierte Konsumpark Benettons. Wenn die Personen, die durch die für die Werbefotografie posierenden Darsteller symbolisiert werden sollen, anders als durch die realistische Exposition suggeriert, sich zunächst nicht in der Wirklichkeit treffen, sondern nur durch ihre Stellvertreter in der Werbung, so sollte nicht allein behauptet werden, dass die Werbung lügt, sondern es muss gefragt werden, wie es innerhalb ihrer Darstellungsweise zu der Versammlung kommen kann, wie sich die Körper hier austauschen können.

3.2. D ER B EGRIFF

DER

R EPRÄSENTATION

Die Thematisierung der verschiedenen Funktionen der Darstellung läuft auch in den Bildwissenschaften heute meist unter dem Stichwort der Repräsentation. Diesem Schlagwort ist eine enorme Bedeutungs-

69 Vgl. beispielsweise Abigail Solomon-Godeau, Irritierte Männlichkeit, in: Christian Kravagna (Hg.) Privileg Blick – Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 223-239. Solomon-Godeau zeigt mit Rekurs auf die Ikonografie der französischen Revolution, dass die Konjunktur effeminierter Männlichkeitsdarstellungen in der amerikanischen Werbung nicht notwendig mit einer Destabilisierung männlicher Machtpositionen verbunden ist. Ihre Kontextualisierung in einem homosozialen Umfeld mag sie im Gegenteil geradezu zu einer Stütze dieser Positionen machen. 70 Lyotard, Jean François, Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik, Berlin 1977. 71 Ursprünglich eine Metapher des Sozialisten Jean Jaurès, der damit die ‚Völkerfamilie‘ – wieder eine Metapher – bezeichnete.

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K ÖRPER IN FORM

spanne verliehen worden72. Es mag sinnvoll sein, hier zusammenfassend drei wesentliche Bedeutungsaspekte zu unterscheiden. Mit Repräsentation wird zunächst – zumeist nach psychologischer Tradition – die ,Vorstellung‘ bezeichnet, also eine Vergegenwärtigung in Form eines mentalen Bildes. Repräsentation bedeutet auch ,Darstellung‘ – gleich ob hier die alte sakrale christliche Verwendung des Begriffs angesetzt wird oder andere Konzepte bis hin zu modernen zeichentheoretischen. Gemeinsam ist allen diesen jedoch der Aspekt eines materialisierten, es ließe sich auch in Kontrast zum ersten Sinne sagen, eines veräußerlichten Zeichens. Dieses ist als codiert aufzufassen, es beinhaltet einen symbolischen Verweis auf etwas anderes, es steht stellvertretend für etwas anderes. Es ist als ein solches Zeichen auch sozial wirksam, hat den Charakter einer von mehreren geteilten Sprache. Repräsentation hat zuletzt einen juristischen (und politischen) Sinn, bedeutet hier soziale Stellvertretung. Dabei ist der (historische) Kontext für die Entfaltung dieser Funktion von großer Bedeutung. Es ist zu betonen, dass die drei Aspekte der Repräsentation unweigerlich miteinander verbunden sind: eine Vorstellung (ein Bild des Körpers und sei es des eigenen) steht immer in Beziehung zu den in einer Kultur präsenten Darstellungen, sie ist insofern auch mit dem Bewusstsein von etwas (und sei es das Selbstbewusstsein) verbunden. Zugleich lassen sich Vor- und Darstellungen nicht von politischen und juristischen Effekten trennen. Mit Repräsentation sind also weniger Zeichen oder Zeichentypen bezeichnet, als Fügungen von Bildern und Praktiken, die den Individuen weitgehend vorausgehen73.

72 Der ‚Repräsentation‘ betitelte Artikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie umfaßt mehr als sechzig Seiten und bespricht gerade für die letzten zwei Jahrhunderte nicht allein den individuellen Gebrauch einzelner Autoren, sondern auch die vielfältigen schulmäßigen Besetzungen des Begriffs in den verschiedensten Disziplinen. Joachim Ritter(+) und Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 8, Darmstadt 1992, S. 790-854. 73 Vgl. Schade, Sigrid, Körper – Zeichen – Geschlecht. ‚Repräsentation‘: zwischen Kultur, Körper und Wahrnehmung, Teil 4 Repräsentation als Schnittstelle zwischen Blick, Sprache, Körper und Begehren, in: Härtel, Insa; Schade, Sigrid (Hrsg.), Körper und Repräsentation, Bremen 2002. S. 83-87. Schade erörtert die Frage nach der Repräsentation von Körpern im

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D IE F RAGE DER R EPRÄSENTATION

Hier kann selbstverständlich nur ein ganz schmaler Pfad durch das weite Feld des Begriffs der Repräsentation beschritten werden. Als ein idealtypischer Ausgangspunkt soll jener Begriff von Repräsentation gelten, den Michel Foucault gleichermaßen als Bestimmung der Episteme des klassischen Zeitalters einführt. In les mots et les choses bezeichnet er die die ,Ordnung der Dinge‘ (deutscher Titel) verbürgende Erkenntnisform des klassischen Zeitalters mit dem Begriff Repräsentation. Repräsentation bedeutet hier, verkürzt gesagt, die unmittelbare Verbindung zwischen Signifikant und Signifikat, die die Transparenz des Zeichens auf den Gegenstand behauptet und die vor allem auch dadurch garantiert ist, dass der Signifikant mit der Vorstellung des Signifikats auch sein Vermögen zu repräsentieren darstellt: „... sie (= die Repräsentation, a.d.V.) ist gleichzeitig Indikation und Erscheinen, Beziehung zu einem Gegenstand und Manifestation ihrer selbst.‘74 Die Zeichen vermögen im klassischen Zeitalter in einem Reduplikationsverhältnis erfüllend die Wirklichkeit zu repräsentieren. Zugleich jedoch blendet das klassische Zeitalter das die Repräsentation leistende Subjekt aus, wie Foucault am Beispiel der Malerposition der Las Meninas zu zeigen bestrebt ist.

3.3. D IE ‚K RISE

DER

R EPRÄSENTATION ‘

Gleich wie Foucaults Analyse einzuschätzen ist (es wurde ihre Reichweite über den französischen Kulturraum hinaus bestritten und zuweilen überhaupt ihr Befund) – seit dem späten 18. Jahrhundert verliert das epistemologische Modell der Klassik an Verbindlichkeit. Zeichen und Bezeichnetes scheinen sich in der Moderne unwiderruflich zu verfehlen und gerade in den Künsten wird diese Entwicklung auch unter dem Stichwort der ‚Krise der Repräsentation‘75 verhandelt. Zuweilen nimmt das die denkwürdige Form an, dass allein den Künsten noch die

Zusammenhang der tradierten Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit und referiert hier TheoretikerInnen der 70er und 80er Jahre. 74 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M 1974, Kapitel IV. Die reduplizierte Repräsentation, S. 99ff. 75 Vgl. den gleichnamigen Unterartikel im Artikel zum Repräsentationsbegriff, in: Ritter; Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1992, Band 8, S. 846-854.

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K ÖRPER IN FORM

Fähigkeit der erfüllenden Repräsentation der ‚Wirklichkeit‘ zugetraut wird (etwa über die kompensatorische Reflektion der Verfehlung76). Aber in dem Maße, wie die Zeichen den Gegenstand verfehlen, die verschiedenen Zeichentypen auch verschiedene Repräsentationsvermögen offenbaren, werden in der Differenz die produktiven wie einschränkenden Aspekte der Repräsentation deutlicher und so auch die ersten Schritte zu einem anderen Begriff der Repräsentation möglich. In der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts könnte man etwa die vielfältige Traditionslinie künstlerischer Bild-Text-Arbeiten77 als eine anhaltende Reflektion über die Repräsentationsvermögen verschiedener Gattungen und Medien lesen. Redundanz und spiegelnde Doppelung, notorische Verfehlung, verblüffender Nonsens und unendliche mise en abîme ereignen sich an den Nahtstellen jener Künste, deren Auseinandersetzung nichts mehr mit dem klassischen Paragone zu tun hat. Fragen der Wahrnehmung rücken in den Vordergrund, Zeichen werden unterschiedliche Realitätseffekte zugeschrieben, die Welt präsentiert sich stets als eine zeichenvermittelte. Die Problematisierung der Repräsentation geht insbesondere mit einer durch vielfältige Initiativen beförderten Beschränkung des Erkenntnisanspruchs des Sehsinnes oder Blicks, als des zumindest seit der Zeit der Renaissance privilegierten und paradigmatischen Erkenntnisorgans einher. Im selben Zug, in dem der Repräsentation die Transparenz auf ihre Gegenstände bestritten wird und ihr performativer Charakter, ihre disziplinierenden und produktiven Effekte herausgestellt werden, ergibt sich im anschaulichen Bereich eine ‚Dichte des Sehens‘78. Dem vermeintlich kühlen, interesselosen, analytischen Blick unterschiebt sich das Begehren, der Reinheit des Wissens die Macht, die sich in der Komplikation wahrer Repräsentationsdispositive79 einnistet, welche das Verhältnis von Betrachterposition, Medium

76 Vgl. De Man, Paul, Criticism and crisis, in: Blindness and insight, Minneapolis 1986, S. 8-16. 77 Vgl. Weiß, Christina M., Seh-Texte, Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten, Diss., Hamburg 1982. 78 Kravagna, Christian (Hg.) Privileg Blick – Kritik der visuellen Kultur, Berlin, 1997, Vorwort, S. 8f. 79 Unter ‚Repräsentationsdispositiv‘ soll hier die Anordnung verstanden werden, in der Betrachter/Produzent, Bildmedium und Gegenstand in Beziehung gesetzt werden. Ein solches Dispositiv bestimmt etwa, wer sieht

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D IE F RAGE DER R EPRÄSENTATION

und Referenz in wechselnden Realisierungen organisieren. Konkurrierend erheben die anderen Sinne Ansprüche.

3.4. D IE K UNSTGESCHICHTE DER R EPRÄSENTATION

UND DAS

P ROBLEM

In der Kunstgeschichte mag die Ahnung wechselnder Repräsentationsvermögen zunächst in der Form- und Stilgeschichte aufgetaucht sein: „Man sieht nicht nur anders, man sieht auch Anderes“ schreibt Wölfflin80 über die Repräsentationsvermögen der von ihm konstatierten und beschriebenen ‚Bild- oder Darstellungsformen‘ von Renaissance und Barock, wenn diese doch scheinbar dieselben außerikonischen Vorwürfe zu Bildproduktionen nutzten. Wenn Craig Owens81 Recht hat, so spart jedoch der Mainstream der Kunstgeschichte mit Panofsky und Gombrich in seiner der idealistischen Tradition geschuldeten Perspektive das Problem der Repräsentation weitgehend aus. Panofsky und Gombrich spannen demnach die Repräsentation reduktionistisch zwischen die Pole Substitution und Illusion. Die substituierende symbolische Aktivität – gleichsam eine künstlerische Überhöhung der profanen Wirklichkeit – steht gegen das bloße Replizieren einer visuellen Erfahrung, der jeder künstlerische Status abgesprochen wird82.

(bzw. in diese Position rücken kann), in welchem Sinne ein Medium vermittelt (z.B. als Fenster, Spiegel, Niederschlagsfläche, Vergrößerungsglas), was als Gegenstand erscheint und über welche Gesetzmäßigkeiten diese drei Instanzen aufeinander bezogen sind. Ein bekanntes anschauliches Beispiel für ein solches Dispositiv ist der bereits im Vorwort besprochene Holzschnitt Dürers aus der ‚Underweysung der Messung‘ von 1525. 80 Wölfflin,Heinrich, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 1960 (Originalausgabe 1915), S. 276. 81 Owens, Craig, Representation, Appropriation and Power, in: Ders., Beyond Recognition, Berkeley, 1992, S. 96, 97. 82 Vgl. Panofsky, Erwin, Studies in Iconology, New York, 1962, S. 3-4; Ders., Die Perspektive als ‚symbolische Form‘, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924-25, Leipzig/Berlin 1927, S. 258-330; Gombrich, Ernst, Meditations on a hobbyhorse and other essays in the theory of art, London 1963.

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K ÖRPER IN FORM

Die vielen jüngeren kunsthistorischen Beiträge zu einer Theoretisierung der Repräsentation haben die Aufmerksamkeit dagegen zunehmend auf regelrechte Maschinerien der Repräsentation gelenkt. Stellvertretend kann man hier als eine der kunsthistorischen Strömungen, die diese Ausweitung gestalteten, die verschiedenen Ansätze der Rezeptionsästhetik anführen. Leo Steinberg, Svetlana Alpers, Michael Fried und Louis Marin oder Wolfgang Kemp lassen sich nennen, wobei die Einführung von Ansätzen anderer Disziplinen, vor allem der Literaturwissenschaft, eine wichtige Rolle spielt. Exemplarisch dafür scheint mir Louis Marins Studie zu Poussin zu sein, die auch die theoretischen Implikationen der genannten Referenzen thematisiert83. Während Wolfgang Kemp Anregungen der Literaturwissenschaftler Jaus und Iser aufnimmt – den Titel seiner Anthologie ,Der Betrachter ist im Bild‘84 kann man als Paraphrase der Iserschen Studie ,Der implizite Leser‘85 verstehen -, lässt sich bei Svetlana Alpers86 leicht der Gebrauch von Kategorien des Linguisten Emile Benveniste87 aufweisen. Dessen Unterscheidung zweier Darstellungsoder Äußerungsebenen, genannt ‚discours‘ und ‚histoire‘88, wird in vager Übertragung für die malerische italienische und niederländische Darstellungsweise geltend gemacht. Demnach erfasst und produziert der Betrachter oder Künstler der klassischen italienischen Zentralperspektive aktiv seinen Gegenstand, während sich in der niederländischen Malerei die Welt selbst zeigt oder abbildet, so wie der Retina ein Bild der äußeren Welt projiziert wird: Fenster versus Spiegel. In der Aufnahme der Benvenisteschen Differenzierung werden vor allem auch die folgenden Implikationen wirksam. Für Benveniste ist die linguistisch begründete Unterscheidung der beiden sprachlichen Äußerungs-

83 Marin, Louis, Toward a Theory of Reading in the Visual Arts: Poussin’s The Arcadian Shepherds, in: Suleiman, Crosman (Hg.), The Reader in the Text, Princeton 1980, S. 293-324. 84 Kemp, Wolfgang, Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985. 85 Iser, Wolfgang, Der implizite Leser, München 1972. 86 Alpers, Svetlana; Marias, Fernando (Hg.), Otras meninas, Madrid 1995. 87 Benveniste, Emile, Problèmes de linguistique générale, Paris 1966, deutsch als: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974. 88 Benveniste, Emile, 1974. Die Unterscheidung wird besonders in den Aufsätzen ‚Über die Natur der Pronomen‘ und ‚Die Tempusbeziehungen im französischen Verb‘ entwickelt.

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D IE F RAGE DER R EPRÄSENTATION

ebenen (vor allem nach einem je besonderen Gebrauch der Personalpronomen und Vergangenheitsformen) mit bestimmten Konsequenzen für die Position des Sprechers (referiert er nur, oder ist er als Person in der Erzählung präsent) und auch die Diskurssituation (kann die Erzählung auf die Situation ihrer Äußerung, also auch auf die Zuhörer oder Leser bezogen werden) verbunden. Daraus ergibt sich, dass die Wahl einer Äußerungsebene – man könnte auch sagen: Darstellungsform – immer auch mit bestimmten Realitätseffekten und Verantwortlichkeitsstrukturen verknüpft ist. Zu einem regelrechten Tummel- und Schlachtfeld für die Auseinandersetzung um die Frage der Repräsentation mit mittlerweile unzählbaren Beiträgen sind Velazquez Las Meninas geworden. Anlass für das durchaus revierverteidigende Engagement der verschiedensten Kunsthistoriker ist der Ausflug Michel Foucaults in das Gebiet der Kunstgeschichte geworden, der seiner obengenannten Studie eine Betrachtung der Las Meninas voranstellt. Auch daher mag Foucaults Bestimmung des Begriffs der Repräsentation zumindest für die kunsthistorische Diskussion ein instruktiver Ausgangspunkt sein. Trotz aller Differenzen werden Die Hoffräulein dabei auch von den Kunsthistorikern häufig als exemplarisch für die der Klassik eigenen Form der Repräsentation betrachtet. Leo Steinberg etwa sieht die verschiedenen Funktionen und Rollen, die die Bildebene zu dieser Zeit bestimmen, wie sie an der Rückwand des Velazquezschen Palastateliers in einer Folge auftauchen: ein Fenster, durch das wir die Welt erfassen, ein Spiegel, in dem die Welt, sich zeigend, wahrgenommen werden kann, schließlich eine bemalte Oberfläche89. Auffällig ist jedoch auch, dass sich viele Kunsthistoriker an der Foucaultschen Behauptung einer allgemeinverbindlichen, disziplinenübergreifenden Episteme stoßen. Sie machen dagegen die Besonderheiten der Malerei, ihrer diversen geographischen Ausbildungen, vor allem aber die individuellen Unterschiede (um nicht zu sagen: die Au-

89 Diese Unterscheidung taucht bei Leo Steinberg bereits in Ders., Other Criteria, London, Oxford, New York, 1972, S. 73, 74 auf. Durchaus mit Blick auf Foucaults Text, wird sie später ausführlicher dargelegt: Ders., Velazquez‘ Las Meninas, in: October Nr. 19, Winter 1982, S. 45-54.

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K ÖRPER IN FORM

torschaft) geltend und sind häufig bemüht, die Souveränität des schöpferischen Subjekts in Schutz zu nehmen90. In besonderem Maß hat sich in den letzten Jahrzehnten die feministische Kunstwissenschaft um die Problematik der Repräsentation bekümmert und dabei auch gerade die Frage nach der Bedeutung der Repräsentation des (weiblichen) Körpers gestellt91. In sehr starker Verkürzung mag gesagt werden, dass die feministische Kunstwissenschaft in ihren Anfängen einerseits um die Position des Künstlersubjekts92 kreiste und andererseits um die Darstellung der Frau93 in der Kunst – zwei Fragen, die über die Ideologie der Kunst und – in Folge – auch deren Historiographie zusammenhängen94.

90 Beispielsweise: Alpers, Svetlana, Interpretation without Interpretation, or, The Viewing of Las Meninas, in: Representations 1, S. 31-42. Deutsch als: Interpretation ohne Darstellung – oder: Das Sehen von Las Meninas, in: Kemp, Wolfgang, Der Betrachter ist im Bild, Köln 1985, S. 91-109. 91 Eine ausführliche Schilderung dieser Entwicklung gibt Anja Zimmermann in: Dies. (Hg.), Kunstgeschichte und Gender, Einführung: Gender als Kategorie kunsthistorischer Forschung (S. 9-31). Vergleiche auch den im selben Band erschienen Aufsatz Sigrid Schades: Körper und Körpertheorien in der Kunstgeschichte, S. 61-72. Danach trifft die feministische Kunstgeschichte mit der Problematisierung der Repräsentation der Körper einen so empfindlichen wie blinden Fleck der klassischen Kunstgeschichte, die sich trotz der zahlreichen Untersuchungen zur Status und Rolle des Körpers in der abendländischen Geschichte, die die Nachbardisziplinen in den letzten Jahrzehnten anstrengten, lange hartnäckig weigerte, die Rolle des Körpers in der Kunst(geschichte) und damit auch die eigenen ideologischen und theoretischen Voraussetzungen zu reflektieren. Schade erläutert deutlich die Entwicklung der deutschsprachigen feministischen Kunstgeschichte auch in Hinsicht auf die angelsächsische Szene. 92 Nochlin, Linda und Sutherland Harris, Ann, Women Artists: 1550-1950, Los Angeles 1978 (AK); Und, als Kommentar auch zur Museumspolitik: Guerrilla Girls, The Guerrilla Girls` Bedside Companion to the History of Western Art, New York 1998. 93 Vgl. Pollock, Griselda, Missing Women – Rethinking Early Thoughts on Images of Women, in: Carol Squiers (Hg.), The Critical Image, Seattle 1990, S. 202-219. Nochlin, Linda, Representing Women, London 1999; Dieselbe und Thomas B. Hess, Woman as Sex Object: Studies in Erotic

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Zunächst müssen als die methodischen Referenzen hier eine (marxistisch orientierte) sozialhistorisch argumentierende Kunstgeschichte und bald auch die Psychoanalyse genannt werden. Inzwischen hat sich die Diskussion sehr ausgeweitet95 und ist mit vielen anderen Ansätzen in Verbindung getreten.

3.5. R EPRÄSENTATION

UND

P ERFORMATIVITÄT

Repräsentation ist also nicht transparent auf ihren Gegenstand, wiederholt diesen nicht unterschiedslos. Der analytische Blick ist nicht ohne Begehren. Es gibt keine Erkenntnis jenseits der Macht, oder: es gibt nur Erkenntnisse innerhalb von Macht-Wissenskomplexen. Diese Komplexe bilden wechselnde Dispositive aus, in die neben dem Sehsinn auch die anderen Sinne involviert sind und an denen andere Medien, Gattungen und Disziplinen teilhaben. Die Epistemologie, formanalytische, ikonologische oder sozialhistorische Kunstgeschichte, Literatur- und Sprachwissenschaft, Psychoanalyse und gender-studies – sie alle haben verschiedene Interessen an der Frage der Repräsentation, sie alle arbeiten an verschiedenen Baustellen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie der Repräsentation heute eine Wirkkraft zuschreiben, die die unterschiedslose Wiederholung des Referenten überschreitet (das wäre ein mimetischer Repräsentationsbegriff) und häufig wird diese Kraft mit dem Begriff der Performativität belegt. Offensichtlich stammt dieser im bezeichneten Sinn aus der pragmatischen Sprachwissenschaft, also der am Aspekt der Sprachhandlung interessierten Disziplin – im Gegensatz zur systematischen Linguistik, die gewissermaßen den Sprachkörper als Regelsystem distink-

Art, 1730-1970, London 1972; Silvia Eiblmayr, Die Frau als Bild – Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993. 94 Vgl. Pollock, Griselda und Parker, Rozsika, Old Mistress: Women, Art and Ideology, London 1981; Pollock, Griselda, Differencing the Canon: Feminist Desire and the Writing of Art’s History, London 1999. 95 Vgl. Broude, Norma; Garrard, Mary D. (Hg.), Expanding Discourse: Feminism and Art History, New York, 1992.

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K ÖRPER IN FORM

ter Elemente zum Gegenstand hat. Austins Sprechakttheorie96 unterscheidet konstative, d.h. auf ihre Wahrheit zu überprüfende Sätze von performativen Sätzen, deren Aussage eine Handlung impliziert, wie dies etwa bei einer Erklärung, Eröffnung oder Vereidigung der Fall ist (sogenannte illokutionäre Äußerungen, deren Performativität sich direkt im Sprachakt erfüllt). Diese Unterscheidung ist von Searle popularisiert worden97 und in der Folge ist die Charakteristik der performativen Sätze verallgemeinert worden und wird so in gewisser Weise zu einem Aspekt einer jeden Äußerung. Auch ein im Austinschen Sinne konstativer Satz ist in seiner Äußerung nicht einfach wahr oder falsch, er bestätigt, propagiert, wiederholt bestimmte Differenzierungen und überdeckt, beeinflusst oder nivelliert damit auch andere Unterscheidungen, er macht Sinn oder Bedeutung. Inzwischen wird die fordernde Frage der pragmatisch orientierten Sprachwissenschaft an die klassische Linguistik, die Frage nämlich, welchen Stellenwert die pragmatische Seite, die Seite der Handlung mit Sprache für das wissenschaftliche Verständnis der Sprache überhaupt hat, auf breiterer, kulturwissenschaftlicher Ebene gestellt. Dabei steht auch zur Debatte, wie die performative Kraft einer Äußerung sich genau entfaltet, wie sie funktioniert. Judith Butler98 nimmt Derridas Bemerkungen99 über Austin und Searle auf und bezeichnet mit Performativität den sich permanent wiederholenden Akt der Bedeutungssetzung durch das Zitieren kulturell kodierter Muster. Es ist ihrer Ansicht nach also vor allem die stetige Wiederholung der Muster, die zu so etwas wie ihrer Einschreibung und Durchsetzung führt. Dieser Prozess der Bedeutungssetzung interessiert sie besonders auch in Hinsicht auf die gesellschaftliche Herstellung der Geschlechtsidentität. Und in Bezug auf die Frage der Repräsentation der Körper könnten wir sagen: Erst die Zitierung und Reproduktion der vorfindlichen Schemata verleiht dem Subjekt seine (Geschlechts-)Identität. Butler investiert hier auch psychoanalytische Theoreme einer prozesshaft sich

96 Austin, John L., How to do things with words, Harvard 1955. 97 Searle, John R., Speach acts, Cambridge 1969. 98 Butler, Judith, Bodies that matter, New York 1993, deutsch als: Körper von Gewicht, Berlin 1995, S. 297-298. 99 Derrida, Jacques, Signatur Ereignis Kontext, in: Randgänge der Philosophie, Frankfurt am Main, 1976, S. 150.

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bildenden und verfestigenden Subjektivierung. Insbesondere Lacan und dessen Konzept einer am Spiegelbild, also an einer äußeren Repräsentation sich phantasmatisch, weil zunächst voreilig, vergewissernden Bestätigung der eigenen Totalität und Souveränität des jungen Kindes, verbindet Butler mit der Vorstellung von Perfomativität der pragmatischen Sprachwissenschaft100. Von welch allgemeinem Interesse die Frage nach der Rolle der Performativität für die verschiedensten historisch und kulturwissenschaftlich orientierten Disziplinen inzwischen ist, mag hier ein Selbstdarstellungstext eines DFG-Forschungsprojektes im Rahmen der ‚Kulturen des Performativen‘101 bezeugen. Er fordert eine Ergänzung der in der Tradition des Strukturalismus forschenden Kulturwissensenschaft, die Kultur bisher als Text, d.h. als Zeichensystem begriff. Und diese Ergänzung soll genau in der Untersuchung der Rituale und Praktiken bestehen, die dazu dienen, ‚Texte‘ zu wiederholen, einzuüben, zu vermitteln, durchzusetzen.

100

Vgl. dazu Sigrid Schades Erörterung ‚Körper und Körpertheorien in der Kunstgeschichte‘, in: Zimmermann, Anja (Hg.), Kunstgeschichte und Gender, Berlin 2006, S. 61-72, insbesondere S. 64.

101

Vgl.

http//www.uni-potsdam.de/u/germanistik/mediaevistik/6_forsch.htm,

Copyright©2000 Lehrstuhl Mediävistik Universität Potsdam [letzte Aktualisierung 01.02.02 / Kathrin Müller]) Seite 1: „Diese entscheidende Herausforderung entsteht erst dann, wenn Kultur nicht nur als Text verstanden wird, sondern insbesondere die Performativität von Kultur in den Blick rückt. Die Erforschung derartiger performativer Prozesse erweist sich in den letzten Jahren in so unterschiedlichen Disziplinen wie der Theaterwissenschaft, der Diskursanalyse, der Ethnologie, der Soziologie, der (Sprach-) Philosophie, der Linguistik, den Literaturwissenschaften, der Psychologie oder auch der Pädagogik als äußerst fruchtbar. Weitere, partiell sich mit dem Konzept der Performativität überlappende Begriffe, die einen veränderten Blick auf Kulturen und kulturelle Phänomene anzeigen, sind: Inszenierung, Spiel, Maskerade, Spektakuläres sowie eine Betonung der Materialität, Medialität und interaktiven Prozeßhaftigkeit kultureller Handlungen. (aus dem Projektantrag)“ Webside: DFG-Sonderforschungsbereich 447 Teilprojekt A3 Kulturen des Performativen. ‚Performative Turns‘ im: Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und in der Moderne.

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K ÖRPER IN FORM

Es soll nun versucht werden, in Ergänzung der genannten Initiativen den Gedanken der Bedeutungssetzung durch die Wiederholung kulturell codierter Muster auch für die Bildwissenschaft in Anspruch zu nehmen. Wenn dies aber Prämisse ist, so wäre zu fragen: Was oder welche Muster oder Regelmäßigkeiten werden mit den Bildern und an ihnen wiederholt? Sind es außerikonische Tatsachen, solche, die gleichermaßen und mit derselben Wirkung in anderen Medien und seien es Sprachmedien wiederholt werden könnten? Oder sind es eher etwas wie Bildformeln, die gleich den Warburgschen Pathosformeln durch die Kunst verschiedener Epochen wandern können, um dort ihre Wirkung zu entfalten? Ist es gar etwas Strukturelles im Prozess der Bildproduktion, was die Rede von der Wiederholung sinnvoll macht?102 Was die Frage der wiederholenden Bedeutungssetzung in der Kunst angeht, besteht also die entscheidende Frage nach dem richtigen Einschnitt, nach den passenden Differenzierungen103.

102

Von soziologischer Seite ist im Kontext der Genderforschung einmal mit Blick auf Bildanalysen grundsätzlich bemängelt worden, dass die Auseinanderlegung der Körpertatsachen in diskursive Prozesse alles andere als hilfreich für das Verständnis der Wirkungen anschaulichganzheitlich wahrnehmbarer Körper sei, vgl: Lindemann, Gesa, Szenen einer Begriffsehe, Wenn die ‚gender‘ nicht mehr mit dem ‚sex‘, Tageszeitung, Freitag 5.8.1994, S. 13. Aber es gibt doch inzwischen auch in den Bildwissenschaften interessante Versuche: So ist am technischen Dispositiv der Fotografie, in deren indexikalischem wie mimetischen Bezug zum Referenten eine Wiederholung, wie auch ein Abstand, eine Differenz (von Vorbild und Abbild) ausgemacht werden kann, das performative Moment erörtert worden. Vgl. Katharina Sykora, Unheimliche Paarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie, Köln 1999. Sykora greift hier auf Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998 zurück (Vgl. S. 168).

103

Vgl. Wulf, Christoph, Der performative Körper. Sprache – Macht – Handlung, in: Belting, Hans; Kamper, Dietmar; Schulz Martin, Quel Corps – Eine Frage der Repräsentation, Berlin 2002, S. 207-218. Auch Wulf erörtert hier – das Paradigma der Performanz referierend – trotz des Titels, der Anderes erwarten ließe, vor allem sprachliche Akte. Sein Artikel schließt mit einer kleinen Bibliografie neuerer und neuester Titel zur Theorie der Performanz.

66

D IE F RAGE DER R EPRÄSENTATION

Der vorliegende Vorschlag besteht darin, über einen bewussten, einen kontrolliert anachronistischen Rückgang dieser Frage nach dem richtigen Einschnitt nachzugehen und eine Antwort zu versuchen, die sich am Begriff der Bildform orientiert, den Heinrich Wölfflin zu Beginn dieses Jahrhunderts entwickelte. Danach – die hierandeutendvorwegnehmende Antwort – sind es gewisse historisch allmählich veränderliche formale Regelmäßigkeiten, die als Darstellungsform bezeichnet werden können und die von den dargestellten Gegenständen (wie sie eine einfache sprachliche Bezeichnung wiederholen könnte) unterschieden sind und ihnen gewissermaßen vorausliegen. Um die Jahrhundertwende fällt mit der obengenannten ‚Krise der Repräsentation‘ eine wissenschaftliche Beschränkung auf die Immanenz der Zeichen, ihre Struktur, die Untersuchung ihrer Regelmäßigkeiten zusammen. Ist es überzogen, diese Tendenz zur Immanenz als einen Reflex auf diese Krise zu betrachten, also einen Wirkungszusammenhang zu vermuten? Auffällig ist jedenfalls, dass sich die an Saussure orientierte Linguistik in der ‚Signifikantenkette‘ einrichtet104, so wie

104

Selbstverständlich intendiert die Saussuresches Zeichentheorie zentral etwas anderes: hier sind Zeichen und Bezeichnetes durch eine Art reziproke Evokation unlösbar miteinander assoziiert, wie es die berühmte Rede von den zwei Seiten eines Blattes veranschaulicht: Vgl. Saussure, Ferdinand de, Cours de linguistique générale, hrsg. postum von Bally, Charles; Sechehaye, Albert, Lausanne/Paris (Erstausgabe 1916) 1969, S. 157. Dabei ist das Zeichen bei Saussure psychischer (Derrida wird sagen: transzendentaler) Natur: „Le signe linguistique unit non une chose et un nom, mais un concept et une image accoustique.“ Ebd. S. 98. Ich will hier allein darauf hinweisen, dass die an Saussure orientierte Schule der Linguistik eine Flut von Untersuchungen der unterschiedlichsten Sprachen hervorgebracht hat, die sich vor allem um die Charakteristika nach Oppositions- und Substitutionsverhältnissen auf den verschiedenen sprachlichen Ebenen kümmern. Zwangsläufig werden bei diesen Untersuchungen auch semantische Fragen berührt, etwa wenn es darum geht, welche anderen Wörter ein Wort auf der paradigmatischen Ebene ersetzen können. Hier aber verhält sich diese Linguistik in der Regel deskriptiv: sie konstatiert allein, welche anderen Wortzeichen (oder Folgen) in einer gegebenen Sprache an der ensprechen-

67

K ÖRPER IN FORM

Wölfflin immer mehr der ‚Wirkung von Bild auf Bild‘ nachgeht und die Gegenstandsreferenz der Darstellung einerseits und den Produzenten als Ausdruckssubjekt andererseits fast völlig suspendiert. Hier soll mit Rekurs auf Wölfflin die analytische Aufmerksamkeit auf Regelmäßigkeiten der Darstellung gelenkt werden.

den systematischen Position stehen (können), sie interpretiert keine Konzepte.

68

4. Wölfflins Darstellungs- oder Bildform

Dieses Kapitel besteht aus zwei Abschnitten. Zunächst wird beschrieben, wie Wölfflin zur Analyse der von ihm konstatierten Darstellungsformen von Renaissance und Barock kam, wie er bei der Analyse vorgeht und welchen Status diese Form hat. Es sollen dann diejenigen Punkte dieser analytischen Tätigkeit, die für die Untersuchung von Körperdarstellungen in der Körperkunst der 90er Jahre anzusetzen sind, genannt werden. Wegen der offensichtlichen Unterschiede im Gegenstandsbereich kann dabei weniger von der Übertragung einer bestimmten Arbeitsweise, als von derjenigen einer spezifischen Aufmerksamkeit, einer Untersuchungsperspektive, die Rede sein. Heinrich Wölfflin, der mit den ‚Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen‘ (1915) bekannt geworden ist, hat in den ersten Jahren seiner wissenschaftlichen Laufbahn noch ganz andere Bahnen verfolgt, als in diesem Buch. Wenn er zu Beginn zunächst an den gleichermaßen enzyklopädisch ausgerichteten, wie positivistisch verfahrenden Kulturhistorikern wie etwa Thomas Henry Buckle orientiert war, deren Streben nach umfassender historischer Übersicht ihm imponierte, so bemängelte er doch auch, wie einige Zeitgenossen, ihr Unvermögen, das viele Material zu synthetisieren und zu interpretieren. Das kulturhistorische Interesse beibehaltend bediente sich Wölfflin in seiner Dissertation der Einfühlungspsychologie, um in der Kunstgeschichte von einzelnen Werken auf die ‚großen Daseinsgefühle‘105 einer Epoche zu schließen, wobei er stillschweigend – wie viele andere – die Stilperiode mit der Kulturepoche in eins setzte. Die Formen der Architektur (darum geht 105

Wölfflin, Heinrich, Kleine Schriften, Basel 1946, S. 16

69

K ÖRPER IN FORM

es in der Dissertation), so nahm Wölfflin an, werden in einem unbewussten Beseelungsakt anthropomorph gedeutet. Über einen psychophysischen Mechanismus teilt sich die Stimmung einer Epoche, objektiviert in ihren Bauwerken, den Betrachtern mit. Diese empfinden Bauwerke analog zur menschlichen Mimik, Gestik und Körperkonstitution als ausdruckshaft. Vor allem die Vorstellungen Robert Vischers, vermittelt über Wölfflins philosophische Lehrer Johannes Immanuel Volkelt und Rudolph Hermann Lotze, investiert Wölfflin hier in die Interpretation der Architektur, wobei auch experimentelle Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie Wundts und Fechners aufgenommen werden. Der kulturhistorische Kunstgriff besteht also zunächst in der Reduktion der unzähligen historischen Daten auf die ‚Stimmung‘ einer Zeit, auf die ‚großen Daseinsgefühle‘. Diese sollen eingeschlossen sein in den Bauwerken und teilen sich den einfühlenden Menschen auch anderer Epochen unmittelbar mit, da doch die Basis der Einfühlung, die menschliche Gestalt mit ihrer Gestik und Mimik, historisch unveränderliche Grundlage dieser empathischen Leistung sei. Peu à peu jedoch stellen sich bei Wölfflin Skrupel ein und die synthetisierende und weitreichende Interpretation wird zugunsten der minutiösen Analyse der Form schließlich fast völlig aufgegeben106. Ein durch den Bildhauer und Theoretiker Adolf von Hildebrand vermittelter Kant, der antiphilologische, formanalytische Archäologe Heinrich Brunn und auch die seinerzeit neue Disziplin der Literarhistorik sind einige der Elemente, die ihn auf diesem Weg bestätigen. So dass man schließlich – zur Zeit der Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe – sagen kann: Wölfflin interessiert sich nicht für das Leben der Künstler, für die Ausdrucksfunktion der Kunst, selten für ikonologische, sicher nicht für sozialhistorische Fragen. Sein Interesse

106

Vgl. Weiss, Philipp, Die Entstehung und Entwicklung des Stilbegriffs bei Heinrich Wölfflin, Magisterarbeit am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der FU-Berlin, 1991. Ich versuche dort, diese Schritte nachzuvollziehen. Später war ich bemüht, die Ergebnisse dieser Arbeit in einer Darlegung der Methode Wölfflins knapper wiederzugeben: Rose oder Apfel, man sieht nur, was man sucht. Versuch einer Neueinschätzung Heinrich Wölfflins, in: Schweizerische Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte, Band 53, 1996, S.79-86. Auch die Argumente dieses Kapitels entstammen diesen Studien, so dass ihre zuweilen etwas apodiktische Kürze erklärt sein mag.

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W ÖLFFLINS D ARSTELLUNGS-

ODER

B ILDFORM

richtet sich ganz auf Fragen der Form. Wie aber ist diese ‚Form‘ bei Wölfflin konzipiert und was sind die Instrumente ihrer Analyse?

4.1. D IE B ILDKULTUR Mit wenigen Ausnahmen nimmt sich Wölfflin nicht eines einzelnen Werkes, sondern einer Gruppe von Arbeiten, sei es eines Gesamtwerks, des breiten Nebeneinanders einer Zeit oder auch des Nacheinanders im Lauf der Zeiten an. Seine Analysetätigkeit richtet sich auf die Gruppe, auf das Gemeinsame ihrer Mitglieder und ähnliches gilt auch für das Einzelwerk, das vor allem als ein Zusammenhang von Elementen interessant ist. Wölfflin warnt davor, dass sich ein Motiv selbstgerecht in den Vordergrund der Betrachtung schiebt. In einer Anstrengung der Distanzierung soll die Aufmerksamkeit des Analytikers auf das Zusammenspiel gerichtet werden und hier muss die Fügung sich gegenseitig allererst definierender und individuierender Elemente begriffen werden: „Das Einzelne sieht jeder, die Schwierigkeit liegt im Zusammensehen des Ganzen“107. Notwendig für das Verständnis des Zusammenhanges der Elemente eines einzelnen Werkes ist die Konsultation der vielen benachbarten Werke. Der Blick öffnet sich auf die Bildkultur einer Zeit und als das Gemeinsame dieser Bildkultur treten gewisse Regelmäßigkeiten hervor, die zunächst abstrakt als Gemeinsamkeiten der Art und Weise, wie Objekte definiert werden, wo Einschnitte und Grenzen verlaufen, bezeichnet werden mögen.

4.2. D ER

ABSCHATTENDE

V ERGLEICH

Es ist also der Vergleich, in dem sich der fleißige Beobachter, der Empirist Wölfflin übt. Ein induktives Programm soll zu den allgemeinen Merkmalen der Bildkultur führen. Wölfflin träumt von einem reinen Vergleich, einer gegenseitigen Abschattung. Ein solches Verfahren würde implizieren, dass nicht ein der Analyse zugrundegelegtes Raster 107

Wölfflin, Heinrich, Das Erklären von Kunstwerken (= Bibliothek der Kunstgeschichte, Hrsg. Hans Tietze, Bd. 1), Leipzig 1921, S.5.

71

K ÖRPER IN FORM

wirksam wird, sondern allein die in der gegenseitigen Abschattung der Werke auftauchenden Merkmale heraustreten. Diese Form der Abschattung, ein solcher Vergleich führt vor allem zu einer Lagebestimmung, einer Klärung des Zueinander der Kunstwerke. Und in der Euphorie der Empirie äußert Wölfflin entsprechend einmal: „Die Beschreibung ist die Erklärung.“108 Aber es ist ganz deutlich, dass Wölfflins Blick auch durch die von ihm der Formästhetik der Renaissance zugeschriebenen Normen109 bestimmt ist. Die Renaissance bestimmt zudem die Spannweite seines historischen Interessensbereichs. Diese reicht von der Frührenaissance als der Ankündigung und Herausbildung der Renaissance bis zum Barock, verstanden als deren Abwandlung. Eine zweite Koordinate des Vergleichs besteht im Verständnis der Kunst als einer abbildenden Disziplin, einer Disziplin, die Gegenstände äußerer Provenienz in eine visuelle Ordnung bringt, indem sie diese zu einem spezifischen räumlichen Eindruck organisiert. Wölfflin, der historisch an der Schwelle zu einer abstrakten Kunst steht, interessiert sich für formale Gegebenheiten (Punkte, Linien, Flecken, Farben, Helligkeiten) vor allem, insofern sie eine Rolle bei der räumlichen Organisation von Objekten wahrnehmen. Diese Perspektive ist sicher dem Vorbild Adolf von Hildebrands110 geschuldet.

108

Heinrich Wölfflin, Nachlass im Basler Archiv der Universitätsbibliothek, Notizheft 38, S.115. Vgl. ebenfalls: Wölfflin, Heinrich, Nachlass im Basler Archiv der Universitätsbibliothek, IV 1366 (Brief des Philologen Eduard Wölfflin an seinen Sohn Heinrich mit der Empfehlung der Methode des ausgedehnten Vergleichs zur Herausarbeitung allgemeiner Merkmale). Vgl. ebendort den Entwurf Heinrich Wölfflins, Grundsätze einer vergleichenden Kunstgeschichte, Nachlass Notizbuch 9, S. 46. Wölfflin orientiert sich dabei an Sayce, Archibald Henry, The Principles of Comparative Philology, London 1875.

109

Für diese Vorstellungen vgl. Heinrich Wölfflin, Die Schönheit des Klassischen, Gedanken zur Kunstgeschichte, Basel 1941.

110

Der Bildhauer Hildebrand sieht in ‚Das Problem der Form in der bildenden Kunst‘, Straßburg 1913 (Erstausgabe 1893) die Hauptaufgabe der Kunst in der Zurichtung des in der Naturerfahrung beunruhigend vielfältigen und verwirrenden Visuellen zur rein anschaulichen Klarheit der Raumverhältnisse.

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W ÖLFFLINS D ARSTELLUNGS-

4.3. D IE S USPENSION VON D ARSTELLUNGSGEGENSTAND SCHÖPFERISCHEM S UBJEKT

ODER

B ILDFORM

UND

Der Blick auf das Gemeinsame der Form einer Bildkultur führt Wölfflin zu einer gewissen Indifferenz gegenüber den Darstellungsgegenständen. Die Art und Weise der malerischen Zurichtung wird zentral und Wölfflin polemisiert mehrfach gegen den unmittelbaren Appetit vieler Fachkollegen auf den Darstellungsgegenstand. Diesem Appetit nachzugeben, erscheint ihm als vorwissenschaftlich, ja laienhaft. Die zur Darstellung gebrachten Gegenstände sind Wölfflin vor allem Objektivationen einer bildschöpferischen Praktik. In der Kunst ist es die Darstellungsform, die die Verwandtschaft zwischen Darstellungsgegenständen bestimmt, nicht deren Zusammenhang im Lebensweltlichen. So wird ein Gegenstand zum bloßen Prätext, aus dem sich alle möglichen künstlerischen Virtualitäten realisieren lassen: „Der Inhalt der Welt kristallisiert sich für die Anschauung nicht in einer gleichbleibenden Form“111, „In jeder neuen Sehform kristallisiert sich ein neuer Inhalt der Welt“112 und: „man sieht nicht nur anders, man sieht auch Anderes“113. In derselben Bewegung ist Wölfflin auch dem schöpferischen Subjekt gegenüber indifferenter geworden. Die sehr weitgehend verbindliche Bildkultur durchkreuzt die expressivistische Linie SubjektWelterfahrung-Ausdruck. Wölfflin fasst diese Ausrichtung in die bekannte Formel von der ‚Wirkung von Bild auf Bild‘. In der Beschäftigung mit dem Malerdichter Salomon Geßner macht er die Erfahrung, dass für den Maler die Werke der Kollegen bestimmender für die Darstellung sind, als die unmittelbare Anschauung der Natur. Diese Haltung wird durch seine kunsthistorische Analysepraxis verstärkt. Als Positivist, der seine analytische Tätigkeit auf die Werke konzentriert, enthält sich Wölfflin der Spekulationen über Absichten und Begehren der Künstler. Das Künstlersubjekt ist, wenigstens nach der Praxis der 111

Wölfflin, Heinrich Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 1960 (Originalausgabe 1915), S. 261.

112

Wölfflin, Heinrich, Das Erklären von Kunstwerken, Leipzig 1921, S.

113

Wölfflin, Heinrich, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 1960, S.

15. 276.

73

K ÖRPER IN FORM

Analyse, eher eine der Bildkultur anhängige Instanz als ihre erste Ursache. Wölfflins Untersuchungen von Barock und Renaissance ergeben so den Befund historisch ganz allmählich veränderlicher, aber zu ihrem Zeitpunkt bindender Gesetze der Bildschöpfung, die er zusammenfassend ‚Bildform‘ nennt. Man könnte von der frühen Annahme eines historischen a priori in der Kunst sprechen114, wenn Wölfflin auch mit Sicherheit noch keinen deutlichen Begriff davon hatte, obgleich er sich in diesem Zusammenhang mit den Kantschen Anschauungsformen auseinandersetzte. Es ist hier angesichts der Bildformen auch das Prinzip einer gewissen historischen Knappheit zu konstatieren: „Es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich“115, sagt Wölfflin wenigsten für den bildschöpferischen Bereich – denn er ist zugleich sehr vorsichtig, was etwa die Übertragung des Analysebefunds auf so etwas wie die alltägliche visuelle Wahrnehmung angeht.

4.4. E IN

HOLISTISCHES

V ERFAHREN

Hier mag, da Wölfflin im vorherigen Kapitel hinsichtlich seines Rückzugs auf die Ebene der Immanenz der Zeichen einmal mit Saussure in Verbindung gebracht wurde, nun auch der Unterschied zum Strukturalismus116 bezeichnet werden. Einige der Eigenheiten seiner Vorgehensweise legen zunächst eine Annäherung nahe. Es gibt eine Konzentration auf die synchronische Ebene und, damit verbunden, auf das Ganze eines Regelsystems. Aber damit ist die Gemeinsamkeit fast aufgezehrt. Wölfflin isoliert nicht die möglichen Elemente eines Zeichensystems nach Oppositions- und Substitutionsverhältnissen, um von diesen auf das Ganze der Struktur

114

Vgl. Weiss, Philipp, Rose oder Apfel, man sieht nur, was man sucht, in: Schweizerische Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte, Band 53, 1996, S. 81-82.

115

Wölfflin, Heinrich, Das Erklären von Kunstwerken, Leipzig 1921, S.15.

116

„Der Strukturalist Wölfflin muss erst noch entdeck werden!“ schreibt Dilly, Heinrich, Heinrich Wölfflin und Fritz Strich, in: Literatur und Geistesgeschichte 1910-1925, Hrsg. Lämmert, Eberhardt; König, Christoph, Frankfurt 1993, S. 284, Fußnote 41.

74

W ÖLFFLINS D ARSTELLUNGS-

ODER

B ILDFORM

zu schließen. Wölfflin kennt gar keine dafür notwendigen diskreten Elemente. Grundlegender als das Element ist für Wölfflin der Kontext. Sein Verfahren muss holistisch genannt werden. Es gibt keine außer den im Kontext erscheinenden Elementen, und diese werden als solche auch erst in diesem Kontext definiert und individuiert: „...das System der sich gegenseitig stützenden und steigernden Töne..., wie diese Elemente... sich gegenseitig bedingen ...“117 Es wäre also angebracht, bei Wölfflin, wenn überhaupt, dann von differentiellen Elementen zu sprechen.

4.5. D AS

BIPOLARE

S CHEMA DER D ARLEGUNG

Wölfflin war einerseits der hingebungsvolle und auch ein wenig genauigkeitsfanatische Empirist, der nach den Worten seines Schülers und Basler Nachfolgers Joseph Gantner vor allem als Vortragender seine größte Publikumswirksamkeit entfaltete, wobei er zur begleitenden Anschauung Bilder vergleichend an die Wand projizierte, eine Praxis die nicht nur die Ikonologen pflegten118. Er war aber auch in der Lage, die Befunde seiner Formanalysen zu knapp formulierten Gesetzen zusammenzuziehen, welche die großen Züge einer Stilepoche sicher zu umreißen vermochten.

117

Wölfflin, Heinrich, Das Erklären von Kunstwerken, Leipzig 1921, S. 5.

118

Wenn man den Zeugen wie Ganter glauben darf, so gibt die Exposition der ,Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe‘ (1915) Aufschluss über Wölfflins bildanalytische Praxis. In der Regel stellt Wölfflin zwei Beispiele einer Gattung (Landschaften, Interieurs, Architekturfassaden) nebeneinander, um entweder historische, individuelle aber auch geographische Unterschiede herauszuarbeiten. Häufig werden dabei Werke präsentiert, die ähnliche ‚Vorwürfe‘ ins Bild setzen, um die formalen Aspekte ungeachtet der Darstellungsinhalte besser herausarbeiten zu können. Auch die Charakterisierung der Merkmale ist immer relational, das geht bis in die Begriffe, die jeweils als Gegensatzpaare ausgebildet sind. Zum Einsatz von Diaprojektionen in der kunsthistorischen Praxis vgl. Wenk, Silke, Zeigen und Schweigen. Der kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion, in: Schade, Sigrid; Tholen, Georg Christoph (Hg.) , Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292-305.

75

K ÖRPER IN FORM

Die Formulierung dieser Gesetze erfolgt entsprechend seines holistisch orientierten, vergleichenden Verfahrens nicht als quasigrammatische Anweisung der Kombination von Elementen. Sie wird dagegen in fünf Begriffspaaren, den ‚Grundbegriffen‘, dargelegt, welche als Aspekte zweier, aufeinander bezogener Pole vergleichend jeweils die Merkmale von Renaissance und Barock bezeichnen. Wenn Wölfflin von der Kunst der Renaissance sagt, dass sie die deutlich zu unterscheidenden, linear umrissenen Gegenstände in ein beruhigtes, klares, häufig geradezu tektonisches Verhältnis zueinander setzt, während im Barock die kaum gegeneinander abzugrenzenden Gegenstände zu wenigen, massigen Gruppen zusammengeführt werden, deren Bewegungstendenzen, Überlagerungen und Randauflösungen auch das Gesamtgefüge dynamisieren, so werden die Charakteristika der beiden Epochen in die folgenden Gegensatzpaare gefasst: Linear und Malerisch; Fläche und Tiefe; Geschlossene Form und offene Form; Vielheit und Einheit; Klarheit und Unklarheit. Die bipolare Organisation seines Schemas, die gewiss um die Jahrhundertwende nicht nur in der Kunstgeschichte sehr verbreitet war, hat einerseits mit seinen privilegierten historischen Gegenständen zu tun, das ist zunächst die Renaissance und später immer mehr der Barock. Sie erweist sich aber auch als ein äußerst geeignetes Mittel, seine Formanalysen in Formeln zu fassen, deren Eingängigkeit ihnen eine lange währende wissenschaftliche Konjunktur garantierte.

4.6. Z USAMMENFASSUNG Wölfflin, so kann man zusammenfassend sagen, konstatiert also eine verbindliche Bildkultur, ein historisches a priori der Darstellungsform. Diese Form ist nicht von den präikonischen Referenten abhängig, die sie ins Bild setzt und auch nicht vom Ausdrucksbegehren des einzelnen Künstlers. Sie liegt den Inhalten voraus, ist Artikulationsgrundlage und fasst die Dinge auf eine bestimmte, ihr eigene Art auf (etwa nach ihren Grenzen und ihrer Tektonik einerseits, oder nach ihrem Zusammenhang mit anderen Dingen und ihrer Bewegungsdynamik andererseits). Um diese Schicht für die Analyse zu präparieren, ist es nötig, mögliche andere formgebende Ursachen (die Künstler, die Darstellungsgegenstände) zurückzustellen. Wölfflin betrachtete seine Arbeit jedoch nicht als erfüllend, sondern als Propädeutikum. Waren die Dar-

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W ÖLFFLINS D ARSTELLUNGS-

ODER

B ILDFORM

stellungsformen einer Zeit erschlossen, konnten sie mit anderen Aspekten durchaus in Verbindung gebracht werden. So verwies er etwa auf das naturphilosophische Interesse, das das 17. Jahrhundert für atmosphärische Phänomene aufbrachte und setzte es in Verbindung mit dem dynamischen Aspekt der Darstellungsform des Barock. Ebenso verhält es sich etwa mit der unterschiedlichen Schilderung und Dramatisierung derselben christlichen Szenen in der Kunst des Barocks und der Renaissance.

4.7. P ERSPEKTIVEN DER A NALYSE VON K ÖRPERKUNSTARBEITEN Nun werden noch einmal die wichtigsten Schritte des Wölfflinschen Verfahrens abstrahiert, um daraus Ansätze für eine Analyse der Darstellungsform von Körperkunstarbeiten abzuleiten. Zunächst geht es darum, einen Überblick zu gewinnen, hinter den vielen einzelnen Werken eine Kultur der Darstellung zu erfassen. Die Forderung des Überblicks bezieht sich auch auf das einzelne Werk. Hier soll als der Zusammenhang der Elemente die Form erarbeitet werden. Beide Momente ergeben sich aus dem ausgedehnten Vergleich, der idealtypischerweise ein reiner, ein abschattender Vergleich ist. Nehmen wir die Metapher von der Abschattung kurz auf: übereinandergelegt ergeben sich die Konturen zweier Objekte in ihren Abweichungen voneinander. So können Merkmale gewonnen werden, die nicht in einer vorausgesetzten Norm bereits investiert sind. Selbstverständlich ist diese Anforderung ein Ideal, das nicht vollständig eingehalten werden kann. Alle Anmutungen, die gegenständlich motiviert sind, sollen vorläufig suspendiert werden, um die genannte Form zu gewinnen. Es interessiert zunächst nicht, welche Rolle ein Gegenstand in einem anderen, etwa lebensweltlichen Zusammenhang, spielt. Etwas Ähnliches gilt für mögliche Ausdrucksansprüche der betreffenden Künstler. Auch hier handelt es sich um eine vorläufige Suspension. Kommen wir zu den Besonderheiten, die für die Analyse der Körperdarstellungen gelten. Wie geschildert, ging es bei Wölfflin nicht um

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K ÖRPER IN FORM

die abstrakte Form, sondern um die Form, insofern sie einen Gegenstand (als ‚Prätext‘ der künstlerischen Zurichtung) in eine räumliche Ordnung bringt. Der Prätext oder präikonische Referent der Analyse der Darstellungsformen in der Körperkunst ist der Körper. Selbst hier aber gelten die Punkte meines Interesses Fragen, die nahe an den Wölfflinschen Problematisierungen bleiben. Erstens stellt sich die Frage nach der internen Gliederung der Körper, nach der Definition ihrer Elemente und nach der Art ihrer Zusammensetzung. Diese Zusammensetzung betrifft auch die Grenzen des Körpers. Und zweitens wird in gewisser Verlängerung dieser Frage auch der Zusammenhang untersucht, den die Körper mit ihrer Umgebung unterhalten. In der Darlegung der Formen der Körperdarstellungen neuerer Körperkunst wird auch insofern dem Vorbild Wölfflins gefolgt, wenn als die zwei Extrempunkte eines Kontinuums (nicht wie bei Wölfflin einer historischen Spanne, sondern einer synchron sich darlegenden Vielfalt an Äußerungen) zwei Formen voneinander abgehoben sind, deren Charakteristika in der Gegenüberstellung herausgearbeitet werden.

78

5. Die erste Darstellungsform des Körpers

Im Folgenden geht es um eine Skizzierung der ersten Bildform neuerer Körperkunst. Einige Arbeiten der Künstlerin Inez van Lamsweerde werden hier als subtile Paraphrase und damit Offenlegung einer Bildform gelesen, die auch in den außerkünstlerischen Bildwelten eine wichtige Rolle spielt. Die Bildform soll durch vier Merkmale umschrieben werden. Diese vorläufige Charakterisierung wird ihre volle Bestimmung erst im Laufe der Arbeit durch die Gegenüberstellung mit der anderen zur Rede stehenden Form der Körperdarstellung gewinnen. In dieser Gegenüberstellung wird der Sinn der Unterscheidung in vier Merkmale deutlicher werden. Hier schließt sich zunächst eine Erörterung der vier Merkmale in vier Kapiteln an, um dann die theoretischen Grundlagen zur Erarbeitung der anderen Bildform zu entwickeln.

5.1. I NEZ VAN L AMSWEERDE 5.1.1. Das Verfahren Nach dem Werbeslogan für ein Heimtrainergerät zur Formung der Oberschenkel nennt die belgische Künstlerin Inez van Lamsweerde eine Serie von Arbeiten ‚thank you thighmaster‘ – Danke Dir, Schenkelmeister! Es soll die mit ‚Kim‘ (Abb.5) betitelte Arbeit besprochen werden.

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K ÖRPER IN FORM

Abbildung 5: Inez van Lamsweerde, Serie: Thank You Thighmaster, Kim, 1993

Duraflex-Abzug in Plexiglas, 187x 120 cm – Quelle: Suture, Phantasmen der Vollkommenheit, Salzburg 1994, S.31

Fotografien werden digitalisiert und bearbeitet. Die Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung dienen der Montage von Körperteilen und der Veränderung ihrer Oberflächen. Der unbekleidete Körper eines Mannequins oder Fotomodells (beide Assoziationen werden nahegelegt) und ein Schaufensterkopf sind zu einer Gestalt integriert. Dem Puppengesicht wird das Inkarnat des Körpers übertragen, so dass es wirkt ‚wie Fleisch und Blut‘. Die Geschlechtsmerkmale119 wie Brustwarzen

119

Ich halte mich hier schlicht an gängige Lexika: danach zählt die Biologie für die Säugetiere zu den primären Geschlechtsmerkmalen die inneren und äußeren Geschlechtsorgane, zu den sekundären Merkmalen bei weiblichen Vertretern u. a. die Milchdrüsen (Vgl. z.B. Meyers großes Taschenlexikon, Bd. 8 (Gart-Grie), Mannheim 1990, S. 146-148.

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D IE ERSTE DARSTELLUNGSFORM DES K ÖRPERS

und Scham120 sind von Haut überzogen, gleichsam oberflächennivelliert, ohne damit die Markierung der Körpermorphologie als weiblich zu beeinträchtigen. Das ist auch von Barbie- oder Schaufensterpuppen bekannt, deren geschlechtsspezifische, idealisierte bis hypertrophe Formen (die in die biologischen Kategorien der sekundären bis tertiären Geschlechtsmerkmale fallen) zugleich von regelrechten Geschlechtsorganen ‚gereinigt‘ sind121. Die Arbeit Lamsweerdes beruht auf der Rekombination flottierender Bildelemente, nicht auf eigenen Erfindungen. 5.1.2. Körper als Ganzheiten wohlintegrierter Elemente nach analogem Raster Die Annäherung der verschiedenen, in der Montage integrierten Körpertypen folgt einer Logik der Analogisierung: Körper werden nach einer gemeinsamen Ordnung in diskrete Elemente aufgegliedert und gemäß dieser Ordnung wieder zu einem Körper zusammengesetzt. Neben dieser Ersetzung von Elementen eines Zusammenhanges findet hier zudem ein Austausch der habituellen Gesten und Posen von Körpertypen statt, der aufgrund der Verwandtschaft der Typen und ihrer gegenseitigen Reflektion unterschwellig wirkt. Auch dieser Austausch prozediert analog: der ‚Ausdrucksapparat‘ Körperhaltung wird übertragen. In der Annäherung und Überblendung tauschen die beiden in ikonografischer und funktionaler Hinsicht verwandten Typen, die Schaufensterpuppe und das Mannequin, ihre Qualitäten aus, wobei es hier

120

In der Darstellung der weiblichen Scham folgt Lamsweerde einer Tradition, die in der abendländischen Kunstgeschichte nur äußerst wenige Ausnahmen kennt: weder die Schambeehaarung noch die Vulva selbst werden dargestellt, sondern allein ein verschlossener, glatter Venushügel. Vgl. Lehmann, Ann, Das unsichtbare Geschlecht – Zu einem abwesenden Teil des weiblichen Körpers in der bildenden Kunst, in: Benthien, Claudia; Wulf, Christoph (Hg.), Körperteile – Eine kulturelle Anatomie, Hamburg 2001, S. 316-338.

121

Aziz und Kusher haben mit ähnlichen Mitteln Ganzkörperfotografien zu Barbiepuppen gemacht. Siehe etwa: Dies. in Kunstforum Bd. 132 November – Januar 1996, Die Zukunft des Körpers I, S. 172-175 mit Abdrucken der Arbeiten ,Faith, Honour and Beauty‘ von 1992.

81

K ÖRPER IN FORM

um nur noch mit Haut und Formen bekleidete Körper geht (, die vielleicht zunehmend als die eigentliche und auch öffentliche, d.h. visuelle Oberfläche des Körpers gelten – dazu später mehr). Proust hat für eine bestimmte sprachliche Figur, in der zwei verwandte und doch differente Terme sich ähnlich eng durchdringen, den Begriff von der Allitération Perpetuelle122 geprägt. Und er illustriert diese Trope mit dem Bild eines Glases, das ins Wasser getaucht wird. Das Harte, Trockene, Kristalline des Glases verschwindet dabei mit dessen Objektgrenzen in der gemeinsamen Transparenz von Wasser und Glas und es wirkt dort ebenso flüssig, wie das Wasser seinerseits im Glas zu erstarren und sich mit den kristallinen Eigenschaften aufzuladen scheint. In Lamsweerdes Fotoserie dehnt sich das Ideal-Schöne, das Allgemein-Abstrakte, die Serialität und auch die Künstlichkeit und Starrheit der Puppe auf den menschlichen Körper aus, der diese seinerseits belebt, mit organischer Materialität auflädt und damit in einem gewissen Maß individualisiert, also an die Identität des Typs Individuum bindet, das wir als nicht nur unteilbar (In-dividuum), sondern auch als besonders, als einzigartig, das heißt unreproduzierbar zu denken gewohnt sind. Die beiden hier unterschiedenen ‚Qualitätsfelder‘ sind in wechselnden Mischungen immer schon in den Körpertypen Puppe und Mannequin enthalten. Allerdings dürfen wir in der Regel erwarten, vom Verfremdungseffekt, der sich aus der Anleihe von Merkmalen eines anderen Körpertyps ergibt, schließlich auf die ‚wirkliche‘, d.h. im Grunde eine Identität verwiesen zu werden, etwa indem ein Typ den anderen dominiert und dessen Merkmale integriert. In diesem Falle ließe sich sagen: die Schaufensterpuppe scheint wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, oder dieser wirkt wie eine Puppe. Hier jedoch laden sich beide Typen mit den Eigenschaften des anderen auf und verän-

122

Vgl. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 3, Im Schatten junger Mädchenblüte 2, Frankfurt 1979, S. 1115. Alliteration bedeutet eigentlich Stabreim, Proust meint jedoch damit (einem recht modernen Konzept der Metapher folgend, wonach diese nicht einen eigentlichen Ausdruck ersetzt, sondern als eine komplexe sprachliche Operation der Verschiebung und Verdichtung im Zusammenhang eines Metaphernfeldes verstanden werden muss) einen ausgedehnten Prozess des gegenseitigen Austauschs zweier Qualitäten.

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D IE ERSTE D ARSTELLUNGSFORM DES K ÖRPERS

dern und verschieben so ihre Qualitäten zu einem neuen, unentschiedenen Gebilde. Es ist diese unterschwellig wirksame Identitätskonfusion, die zuerst aufmerksam macht auf die mögliche Verunglückung der Rekombination analog segmentierter Ausgangskörper. Die Konfusion beeinträchtigt aber noch nicht die Integrität der Gestalt. Denn das Ergebnis der anschaulichen Vermittlung der beiden Terme ist dank der digitalen Bearbeitungstechnik zunächst von beeindruckender Evidenz: eine Ganzheit wohlverbundener Elemente, welche zu einer flüssigen Ausdrucksbewegung vereint sind. Das ist ein möglicher Körper ohne Risse, der sich mit einem Schlag dem Blick darbietet. Die vollkommene Oberfläche präsentiert einen jugendlichen, schlanken, attraktiven Körper. Aber die Vollkommenheit der Vermittlung erzeugt kein Bild idealer Subjektivität123 sondern ein beunruhigendes, für manche Betrachter auch komisches124 Gebilde. Sicher liegt ein Teil des verstörenden Effektes dieser Arbeiten an Investitionen, die – ebenfalls mit Mitteln der digitalen Bearbeitung – dem ersten Eindruck perfekter Vermittlung und Durchdringung gleichsam in zweiter Instanz entgegenwirken. Hände und Füße der Figur glänzen und schimmern wie schweißbedeckt, zugleich treten an ihnen bläuliche Adern hervor. Diese unidealen Aspekte, die das Geschöpf an die Last und den Stress kreatürlichen Daseins fesseln, treffen auf die Gegenbewegung der übergroßen und starren Augen des symmetrischen Gesichts der Puppe, die, unfähig etwas Konkretes zu fixieren, einen gegenwartsentrückten (oder - transzendierenden) Ausdruck haben. So erweist sich die Geschlossenheit der Figur zunehmend als eine Fügung gegenstrebiger Elemente, deren anhaltender Zusammenhang beängstigend, weil widersprüchlich ist: ideale, überzeitliche Figur oder konkretes Geschöpf unter Stress?

123

Wie J. Rebentisch zurecht in einer Besprechung bemerkt, die Lamsweerdes Arbeiten mit Blick auf Butler und Haraway bespricht: Cyborg is a state of mind, in: Zitty, 11/Berlin 1994, S. 72-76.

124

So Koether, Jutta, in ‚Meine Arbeit ist eine extreme Vergrößerung‘, in: Texte zur Kunst, März 1994, S. 87-89. Koether verweist zudem darauf, dass Lamsweerdes Arbeiten in eine Zeit fallen, als der Kunstbetrieb von den realistischen, auf Authentizität abhebenden Körperrepräsentationen etwa Nan Goldins dominiert wird. Und sie beschreibt die ikonographische Referenzwelt Lamsweerdes dagegen passend als eine Bildwelt des Eurotrash und -glamour.

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Auch die nach Maßgabe klassischer Ästhetik etwas übertriebene Standbein-Spielbein Pose arbeitet diesem Widerspruch zu: Statt in einer lässigen, ausgeglichenen Pose zu ruhen ist die Person zu einer etwas verzerrten, unbequem erscheinenden Haltung auseinandergezogen. Diese Widersprüchlichkeit ereignet sich thematisch vor allem auf der ideologischen Basis der Pole Natürlichkeit versus Künstlichkeit. Wenn das Geschöpf auch frei ist von den bekannten Zeichen des Monströsen, wie sie in unserer Kultur den künstlichen Schöpfungen menschenähnlicher Kreaturen oft eigen ist, die sich etwa durch Übergröße, Disproportion, oder Hyperexpressivität auszeichnen, so bedient es sich doch in einer Hinsicht einer klassischen Ausdrucksform des Monströsen: Sein Organismus ist von Dysfunktionen durchkreuzt und dadurch von innen her der Gefahr der Auflösung ausgesetzt. Es liegt nahe, das alte, hier angespielte Motiv vom Scheitern der künstlichen (das heißt durch Menschenhand verursachten) Schöpfung der Menschen auf den Sonderfall des Scheiterns der Versprechung idealer Körperlichkeit durch die Bildschöpfungen zu beziehen. Das Unbehagen am Geschöpf Lamsweerdes bezieht sich jedoch auch auf die Weise seiner Herstellung durch die Verschiebung, Überblendung und Neukombination von Elementen bekannter Körpertypen, deren Nachbarschaftsverhältnis zerrüttet wird. Das ‚Morphen‘ als ein Effekt digitaler Bearbeitung von Fotografien mag zunächst mit den Machbarkeiten und Machbarkeitsphantasien moderner Biotechnologie assoziiert werden, mit dem Klonen, mit Genmanipulationen aber auch dem ‚Nachbessern‘ von Körpern durch plastische Chirurgie. Parveen Adams125 beschreibt jedoch eindringlich, wie der Einsatz digitaler Bildbearbeitung bei Lamsweerde zugleich eine Reihe von Konventionen der Klassifizierung von Körpern anhand ihrer Morphologien durcheinanderbringt. Danach sind wir bisher daran gewöhnt, hinsichtlich der Körperbilder zwischen einem Typus (Merkmalsdefinition) und dem Einzelfall (individuelle Variation im Rahmen dieser Merkmale) zu unterscheiden, als ‚Gelegenheitsbiologen‘ auch zwischen Genotyp und Phänotyp, zwischen Gattung und Individuum. Die Grenzen all dieser Typisierungen und Klassifizierungen werden durch

125

Adams, Parveen, Das ist mein Körper, in: Suture, Phantasmen der Vollkommenheit (AK), Salzburg 1994, S. 48-56.

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die Möglichkeiten der unbeschränkten Refiguration, der Neukombination und Manipulation durch digitale Bildbearbeitung unterminiert; eine ähnliche Verunsicherung wird ausgelöst, wie durch die Schilderung der chinesischen Enzyklopädie der berühmten Borgeschen Erzählung126. Was sollen wir etwa von einer Bildung halten, die sich aus den Merkmalen der visuellen Artikulation eines Typs und zugleich aus denen eines konkreten Individuums zusammensetzt. Hier aber geschieht noch etwas anderes: so wie das Klonen die Genealogie zweigeschlechtlicher Fortpflanzung durcheinanderbringen könnte, falls es etwa Kopien eines Individuums an verschiedenen Positionen eines Stammbaumes einsetzt, entrückt das Morphen das Körperbild aus dem Abbildverhältnis. Der indexikalische Bezug ist abgeschnitten und das Bild wird zum Element einer letztlich infiniten Serie von Bildungen, die potentiell alle Grenzen von Typen und Klassen durchlaufen können. Der Charakter der Abbildung wird angegriffen: ein Körperbild verweist nicht mehr auf ein Individuum, nicht einmal auf einen Typus, es ist polyreferentiell und schließt sich letztlich in die Serie anderer Bilder ein. Wenn die Fotografie immer mit ihren beiden Bezügen zum Referenten operiert, der ikonischen Funktion eines Entsprechungsverhältnisses (das wir gemeinhin als Ähnlichkeitsverhältnis wahrnehmen) und der indexikalischen Funktion eines Wirkungszusammenhanges (das Bild als Lichteinwirkung eines Körpers auf einen lichtempfindlichen Träger), so wird dieses doublebind hier aufgegeben. Es liegt der Verdacht nahe, dass wir es bei Lamsweerdes Geschöpfen gar nicht mehr mit einer Kreuzung der Ausgangstypen Schaufensterpuppe und menschliches Modell zu tun haben, sondern bereits mit einer Mutation xter Ordnung oder gar mit einer völlig vorbildlosen Produktion. Bei ‚thank you thighmaster‘ herrscht eine Ähnlichkeit und Nähe der Ausgangskörper, welche bereits im Außerbildlichen ein Reflexionsverhältnis und gegenseitiges Zitieren und Anleihen beinhalten. Und so vermag Lamsweerde die Körper nach gleichem Muster zu segmentieren und zu rekombinieren. Eine Praxis, die etwa für die Herstellung einer Schaufensterpuppe durchaus gängig ist. Befremdend ist dabei aber die Ununterscheidbarkeit, in die die Ausgangskörper gezogen werden.

126

Borges, Jorge Luis, Die analytische Sprache John Wilkins‘, in: ders., Das Eine und die Vielen, Essays zur Literatur, München 1966, S. 212.

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Abbildung 6: Inez van Lamsweerde, Serie: Final Fantasy,1993

Duraflex, Plexiglas, Aluminium, 100x150 cm – Quelle: Kunstforum International, Band 132, 1996, S. 206

Einen ganz anderen Effekt zeitigt der Analogaustausch von Körperteilen, wenn die Ausgangskörper nicht als ähnlich oder verwandt, sondern als Pole eines Komplementärverhältnisses konzipiert sind, wie dies der Fall in der Serie final fantasies ist, in der Lamsweerde den als Lolitas posenden Kleinkindern die Münder erwachsener Männer einpixelt (vgl. Abb. 6). Wenn wir mit Butler das Geschlecht – konzipiert als (als biologisch naturalisierte) soziale Geschlechtsidentität – zusammen mit seinem Körper als dessen Träger oder Operator als performativ hervorgebrachte Kategorien verstehen, so ließe sich sagen, dass die Lolita als kulturelle Produktion das konventionelle Körperschema des Mädchens als noch unreife, gewissermaßen vor- oder asexuelle Frau verfehlt. Nach dem Maß des normativen Entwicklungsmodells weiblicher Sexualität findet hier eine Verdrehung (nicht im streng psychoanalytischen Sinn) in der verfrühten und zudem übertriebenen Performanz entliehener Attribute und habitueller Merkmale der ‚reifen Frau‘, oder besser der extrem sexualisierten, der Vamp-Frau, statt – eine Perversion, die Lamsweerde noch steigert, indem Kleinkinder in das Schema der Lolita gefasst sind. Diese Operation könnte mit Butler als ein theatralisches Zitieren einer Norm interpretiert werden. In die konventionelle Figur der Lolita ist bereits ein Austauschverhältnis zweier Körperschemata oder -normen eingeschrieben: ein Körpertyp übernimmt die Merkmale eines anderen Typs illegitimerweise, nämlich zeitlich verfrüht, übernimmt seine Posen, seine Bekleidung.

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Lamsweerde kreuzt diesen Körper der Lolita nun mit ihrem (konventionellen) Komplement: mit Männern, genauer mit deren Mündern, die dem Gesicht der Kinder eingepixelt sind. Die ambivalenten Ausdruckswerte der gebleckten Zähne dieser Münder, die als Lächeln oder Grinsen aber auch als Drohgebärde verstanden werden können und damit gleichsam drei mögliche Positionen, nämlich die des begehrlichen Mannes, des Inhabers der phallokratischen Macht und des Vertreters des väterlichen Gesetzes repräsentieren mögen127 (könnte aus genau diesem Grund der ‚Onkel‘ als das konventionelle Komplement der Lolita gelten?), stehen im Zentrum der Beziehung dreier Körpertypen: Mädchen-Frau-Mann. Hier zeitigt der analog prozedierende Austausch von Elementen der beteiligten Körper andere Effekte als bei den Geschöpfen der Serie thank you thighmaster, deren ikonographische und funktionale Nähe Identitätskonfusion nahelegte. Der Analogaustausch zwischen den beiden Instanzen eines Komplementärverhältnisses ergibt eigene Komplikationen. Was konventionell als Bestimmungsverhältnis konzipiert ist – das Geschlechterverhältnis wie das zwischen Betrachter und Betrachteter – fällt hier in einer finalen Schleife in eins: final fantasy. Lamsweerde bezieht sich auf Körperbilder, die Körper als regelmäßig zusammengesetzte Ganzheiten konzipieren, die sich auch gemäß dieser Zusammensetzung, nach Ordnung ihrer Elemente austauschen können. Das ist ein Gesetz, das dann aufträgt, bis zum eigenen Scheitern getrieben werden kann, wenn die Ausgangskörper zu nahe sind, so dass Identitätskonfusion droht oder wenn der Austausch als Ersetzung verstanden wird, wo er als komplementär konzipiert ist (der Austausch von weiss und schwarz128, von jung und alt als konventionellen Markierungslinien von Identität würde wahrscheinlich zu ähnlichen Kurzschlüssen führen, wie der zwischen Lolita und ihrem Onkel).

127

Ich gebe zu, dass diese Interpretation genauso theatralisch ist, ein Fall von Ansteckung, der vielleicht illegitim ist.

128

Vgl. etwa die Arbeiten Adrian Pipers, die divergierende ethnische Zuschreibungen in der identity card und der unmittelbaren Anschauung miteinander konfrontiert: Cornered, 1988 Videoinstallation, Installationview in: mistaken identities (AK) A.a.O.S. 48.

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5.1.3. Der fotografische Charakter1 der Körperbilder Ähnliches wie für die Durchdringung der Körpertypen von ‚thank you thighmaster‘ gilt für die diesen zugehörigen ikonographischen Konventionen, die sich gegenseitig zitieren und imitieren. Als ein zentrales Moment der ikonographischen Konventionen erscheint hier der ‚fotografische Charakter‘. Die Körperhaltungen der Serie sind bekannt aus dem ‚Vogueing‘ von Mannequins, die kurz in bestimmten Posen verharren, welche aus einem Bewegungsablauf herausgeschnitten zu sein scheinen130. Der Anschein von Schwung und Dynamik wird in einem Standbild eingefangen, gewissermaßen eingefroren. Schaufensterpuppen beziehen sich ihrerseits imitierend auf solche Posen, die im Grunde Fotografien vor dem Fall sind, zu Fotoposen erstarrte Körper, die fotografiert werden werden. Das sind Körper, die ihre Erfüllung als Fotografie finden, welche ihrem Körper erst Stabilität und Komposition verleiht. Der Schnitt aus dem Fluss der Zeit lässt die Bewegung erstarren und erfasst den Körper im Moment seines Selbst-IdentischSeins. Wir sind die fotografische Reflexion auch unserer selbst derart gewohnt, dass wir unseren Körper als ein jederzeit zu fotografierendes Etwas einrichten, wir organisieren unsere Haltungen, unsere Gesten, unser Gesicht in fotografischen Posen und Mienen. Eine überzeugende Identifikation von Imago und Persona geht den Schnappschüssen der

129

Den Begriff des ‚fotografischen Charakters‘ entlehne ich aus einem Aufsatz Kaja Silvermanns (Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick, Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S.41-64). Ich möchte ihn in Folge als Bezeichnung für eine Reihe formaler Bestimmungen nutzen, die ich nicht nur für fotografische, sondern auch eine Reihe anderer Bilder geltend machen will. Silvermann dagegen entwickelt in ihrem Aufsatz die These, das Feld des Sichtbaren, das sie in Lacanschen Termini ausmalt, sei heutzutage durch die (Stand)Fotografie bestimmt, die Fotografie gebe am besten Aufschluss über die zeitgenössische Form des Gespiegeltwerdens als Teil menschlicher Subjektivität.

130

Gewöhnlich tun sie dies am Ende des Laufsteges, bevor sie zurückgehen. Diese Art von Posing ist kurzfristig auch als ein Tanzstil in die Jugend- und Musikkultur eingegangen.

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Laien jedoch in der Regel ab und kann erst durch eine sorgsame Bildkomposition etwa in der Werbefotografie behauptet werden131. So wie die Körpertypen in einer komplexen Durchdringung der allitération perpetuelle eine Annäherung erfahren, wird auf der Ebene der ikonografischen Konventionen geschickt eine mise en abîme der Repräsentation inszeniert: eine Puppe wie ein Mannequin wie eine Fotografie... Und auch hier dient Lamsweerde diese Strategie der Unterminierung und Herausstellung eines Merkmals der zur Rede stehenden Körperbilder, das im Folgenden als fotografischer Charakter bezeichnet werden soll. 5.1.4. Die Ausstellung: Eminenz und Isolierung der Körper Die Weise der Exposition der Figur, derer sich Lamsweerde bedient, ist unserer Kultur so geläufig, dass sie zur Wahrnehmung dieser Konventionalität entkleidet werden muss. Mitten im Gewirr einer äußerst vielfältig verästelten und rekurrenten Tradition visueller Herausstellung von Objekten finden wir auch Anordnungen und Konventionen für die Präsentation von Mannequin und Schaufensterpuppe: Bühne, Laufsteg, Schaufenster, Stellwand – naturalistische oder abstraktere Szenerien. In beiden Fällen ist eine extreme Homogenisierung des Hintergrundes denkbar. Lamsweerdes Arbeit gehört zu dieser Gruppe, in der die Exposition des menschlichen Körpers in offensichtlicher oder unterschwelliger Weise an die Ausstellungsweise anderer Objekte angenähert wird. Der berühmt-berüchtigte weiße Raum des Museums132, aber auch die Abhebung von Objekten zu wissenschaftlichen Zwecken (das ‚weiße Blatt‘ ließe sich in Übertragung sagen) mögen privilegierte Zielscheiben weitgestreuter Referenzpfeile sein.

131

Vgl. Rabine, Leslie W., Die zwei Körper der Frau: Modemagazine, Konsumkultur und Feminismus, in: Texte zur Kunst, September 1994, S. 57-74. Rabine zeigt jedoch auch, wie die vorgeführte Idealität außerhalb der Fotografie nicht wiederholt werden kann und dass die mit dem Ideal versprochene Ermächtigung nicht eintritt.

132

O’Doherty, Brian, Inside the white cube, als dreier-Serie in: Artforum, March, April, November 1976.

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Der Hintergrund ist eine rein weiße Fläche ohne Binnendifferenzierung. Der Eindruck, die Figur stehe dennoch in einem Raum oder Raumabschnitt, resultiert daraus, dass sie unter recht einfachen Lichtverhältnissen aufgenommen ist, so dass die Hauptlichtquelle deutliche Abschattungen auf dem Körper hervorbringt und dessen Plastizität bei durchgängiger Oberflächendefinition eindringlich ist – ein klassisches ‚Beleuchtungslicht‘133. Der weiße Hintergrund verhält sich hier komplizenhaft zum Objekt der Herausstellung: obgleich ihm alle räumlichen und materialen Bestimmungen fehlen, wirkt er als Umgebungsraum der Figur. Dazu trägt auch die klassische Positionierung der Figur im Hochformat bei, wie sie bereits da Vincis zur Ikone humanistischer Menschlichkeit sedimentierte Illustration des Vitruvschen Mannes vorführt: der Mensch steht auf dem Boden und hat über dem Kopf etwas Platz für den Himmel frei. So ist die menschliche Figur eines jeden Kontextes enthoben, sie erscheint isoliert, dem Blick freigegeben, aber sie erscheint auch souverän, selbstgenügsam. Für ihren Auftritt benötigt sie nichts, als sich selbst. Die Exposition der Lolitas aus final fantasy ähnelt der der Mannequin-Puppen aus thank you thighmaster mit einigen subtilen Abweichungen. Da ist zunächst das Querformat, das sowohl nach seinen Proportionen als auch der Ausfüllung mit einem Körper traditionell eher in der Folge des liegenden Aktes (die Assoziation muss hier angesichts der Fotografie noch spezifischer sein: des Centerfolds) steht. Auch der weiße Hintergrund der Figuren arbeitet anders. Der weiche, matratzenhafte Untergrund, auf dem die Kleinkinder posen, ist allein im Bereich des Kontaktes mit den Körperteilen durch Falten und Schatten materiell bestimmt, geht aber ansonsten in den rein weißen Hintergrund über. Hier wird der ganze Assoziationsspielraum vergleichbarer Präsentationsmittel eröffnet: von der Matratze über die kleinen Samtkissen auf denen Kostbares, wie Schmuck, der goldene

133

Vgl. Schöne, Wolfgang, über das Licht in der Malerei, Berlin 1951. Dieser Begriff wird gleich in der Einführung entwickelt und zum Hauptcharakteristikum des Lichts der neuzeitlichen (und das heißt hier: von der Frührenaissance an) Malerei erklärt. Einer als präexistent gesetzten Szenerie kommt demnach ein Licht häufig bildexterner Quelle hinzu, dessen Richtung das Gegenüber von Betrachter und Bild kreuzt und so die Darstellungsgegenstände plastisch abschattet. Vgl. S.8-10.

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Federhalter oder etwa ein besonderer Schlüssel präsentiert werden usw... Ähnlich andeutungsweise erfährt der Betrachter von der Existenz einer transparenten Scheibe vor den Kleinkindern allein durch wenige plane Druckstellen auf deren Haut. Mit den Druckstellen wird neben dem weißen Hintergrund und der ‚Bettung‘ auf ein weiteres Instrument des Ausstellens verwiesen, das in unserer Kultur verbreitet ist: das Glas und der Glaskasten, der das Objekt, das man aus seinem Kontext herausgeführt und isoliert der Betrachtung vorgeführt hat, einschließend bewahrt. Durch die Betonung der Kontaktstellen ist die der isolierten Exposition als Behauptung in erster Instanz zugrundeliegende vollständige Autonomie des Objekts vor seinem Hintergrund durchkreuzt. Ein ebenmäßiger Hintergrund ist also – so sagt uns Lamsweerde – nicht Nichts. Zwischen Figur und Hintergrund besteht immer ein gegenseitiges Wirkungsverhältnis. Hier wird gezeigt, dass die spezifische Fügung von Hintergrund und Figur diese zunächst isoliert, dass sie auf sich und ihre eigenen Merkmale reduziert wird. Zugleich wird damit das Subjekt jedoch auch als selbstgenügsam, als souverän markiert und hervorgehoben – zwei Seiten einer Medaille. 5.1.5. Die anschauliche Versammlung der Qualitäten auf der Oberfläche des Körpers Die Segmentierung des Körpers, seine fotografische Erstarrung zu einer selbstidentischen Entität und die Isolierung und Exaltierung des Körpers führen schließlich zu einer weiteren Eigenheit, die Lamsweerde nicht nur durch die Verwendung serieller Klischees und Schönheitsideale, sondern auch durch die Nacktheit und die Oberflächennivellierung (der gleichmäßigen, puppenartigen Haut, der abgeschlossenen Geschlechtsorgane) artikuliert. Diese Körper haben kein Geheimnis, keine zu verbergende Tiefe, sie versammeln ihre Qualitäten anschaulich auf ihrer Oberfläche. Abgeschnitten aus den Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt (der fotografische Charakter), isoliert von den Einflüssen seiner Umgebung (die Ausstellung), nährt sich der Körper allein von seinen sich selbst identischen Elementen, so dass diese gleichermaßen den Forderungen funktionalistischer Architektur (form follows function) wie denen neuerer Benutzeroberflächen (you

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get what you see) genügen müssen. Die Qualitäten und Merkmale dieser Körper sind anschaulich zugänglich und werden dessen Elementen als intrinsisch zugeschrieben. 5.1.6. Der Zusammenhang der Aspekte Damit nun die hier am Beispiel der Fotoarbeit genannten Merkmale die geschilderte Wirksamkeit entfalten können, müssen sie zu einer Bildform zusammengeschlossen sein. Der Körper als aus dem Zeitablauf geschnittene, selbstidentische Entität wird von seiner Umgebung abgehoben, er offenbart seine Qualitäten anschaulich auf dem Raster eines aus wohlintegrierten Teilen zusammengeschlossenen stabilen Ganzen, diese Qualitäten folgen aus den den Elementen eigenen Funktionen, deren analogisierende Bezugnahme auf die Teile anderer Körperganzheiten die Unterschiede zu anderen Körpern markiert und ihren Austausch reguliert. Zentrale Merkmale dieser Bildform scheinen mir einerseits der Zeitmodus einer verewigten Augenblickspräsenz und andererseits die Existenz eines ‚einfachen Raumes‘134 von deutlich voneinander geschiedenem Körper und Umgebung zu sein. Lamsweerde bearbeitet all diese Bestimmungen: sie verweist auf den fotografischen Charakter der Körperbilder durch die dafür prototypischen, erstarrten Körper von Mannequin und Schaufensterpuppe, sie demonstriert die Isolation und Heraushebung des Körpers durch den weißen Hintergrund, den wir als willfährigen Komplizen des Körpers, als dessen Standraum, wahrnehmen, obgleich er weitgehend materieller Merkmale entbehrt. Sie zeigt auf die Oberfläche des Körpers als anschaulichen Versammlungsort seiner Merkmale durch den Abschluss von Körperöffnungen, sie betont die zur Gewohnheit gewordene Einrichtung des Körpers als einer Ganzheit wohlintegrierter Elemente durch die unterschwellige Verunsicherung dieses Zusammenhanges und sie verweist zuletzt durch den schlichten Tausch der Köpfe oder Münder, wie Körper im Rahmen einer solchen Bildform qualifiziert und miteinander in Beziehung gesetzt werden können.

134

Das ist wohlgemerkt nicht etwa der zentralperspektivische Raum, sondern ein Hintergrund, der weitgehend unbestimmt bleibt.

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Wenn zu Anfang gesagt wurde, Lamsweerde erfinde nichts, sie beziehe sich auf vorfindliche Bildelemente und Figuren, so muss dies auch für die Bildform betont werden. Alle Operationen ihrer Arbeit der Rekombination ähneln gängigen Verfahren der Formung, Darstellung und Gruppierung von Körpern. Sie bringt diese Verfahren als konsistente Formen allein deshalb zum Vorschein, weil sie durch minimale Übertreibungen und Verschiebungen, leichte Verwechslungen und zuweilen auch durch Übergenauigkeit deren Funktionieren im Scheitern und in der Verfehlung anschaulich macht und heraustreten lässt.

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6. Die vier Merkmale der ersten Darstellungsform

Das folgende Kapitel dient der weiterführenden Erörterung und Beschreibung der vier in der Besprechung der Arbeiten Lamsweerdes angeführten Merkmale der Bildform. Die Geschichte der Bilder und ihrer Darstellungsformen kann heute nicht mehr als teleologisch, und auch nicht als linear aufbauend konzipiert, sie kann nicht in Termini von Fortschritt gedacht werden. Entwicklungen werden unterbrochen oder umgelenkt und auch dort, wo alte Thematiken wiederaufgenommen scheinen, so werden sie dies gemäß der neuen Perspektive und den veränderten Ansprüchen derjenigen, die sie fortschreiben. Andere Sphären als die der künstlerischen Bildproduktion intervenieren, indem sie neue Gegenstände hervorbringen oder selber Bilder schaffen. Es ist daher schwierig, eine erfüllende historische Genealogie der Merkmale zu entfalten, egal ob sich diese auf den Bereich der künstlerischen Bildproduktion beschränkt oder darüber hinausgeht. Zugleich erschien mir jedoch eine Beschränkung auf eine rein formale Bestimmung als wenig sinnvoll. So ergibt sich in den folgenden vier Kapiteln eine Mischform, in der wohl historische Vorläufer und Entwicklungen angeführt werden, der historiographische Anspruch aber stets begrenzt bleibt. Der Bezug der Kapitel richtet sich auf sehr verschiedene Bereiche, die für die Gestaltung der anschaulichen Oberfläche des Körpers von Bedeutung waren. Das reicht von der Fotografie über die Entwicklung des bürgerlichen Körperverständnisses, die anatomisch-medizinische Problematisierung der Körperuntergliederung bis zur Kultur der Exposition in der Malerei und im Museum. Die Auswahl ist willkürlich und andere Beispiele wären womöglich ähnlich oder besser geeig-

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net. Pragmatisches Kriterium der Darlegung ist allein, ob die wichtigsten Aspekte der Merkmale deutlicher expliziert werden können.

6.1. D ER ‚ FOTOGRAFISCHE C HARAKTER ‘ Wenn hinsichtlich eines Merkmals der Bildform das Wort vom ‚fotografischen Charakter‘ der Bildschöpfungen fällt, so soll das nicht bedeuten, dass damit nur Fotografien betroffen sind. Zur Rede steht die Beeinflussung und Formung verschiedener Bildgattungen und Darstellungsweisen – und damit auch der Wahrnehmung – durch Technik und Gebrauch, sagen wir kurz, eine mächtige Kultur der Fotografie. Die unterschiedlichsten Problematisierungsweisen richten die Aufmerksamkeit auf die fotografische Beeinflussung des Selbstbildes der Menschen. Je nachdem, ob sie an Fragen der Mimesis orientiert sind, ob sie semiologisch vorgehen, ob sie ideologiekritische Absichten haben, ob sie philosophisch oder kulturhistorisch argumentieren, werden unterschiedliche Aspekte hervorgehoben. Auch aus psychoanalytisch orientierten Untersuchungen lässt sich einiges über den fotografischen Charakter unserer Bildkultur erfahren. Diese Untersuchungen gehen gegenüber der vorliegenden Arbeit von einer leicht verschobenen Perspektive aus. Sie interessieren sich für das fotografische Bild, für die fotografische Spiegelung der menschlichen Gestalt im Zusammenhang der Konstituierung des menschlichen Subjekts135. Die Fotografie wird dabei zuweilen als Grund für eine be-

135

Ich folge in diesem Kapitel einigen Argumenten eines Aufsatzes von Kaja Silvermann: Dieselbe, Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick, Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 41-64. Silvermann verfolgt mit Bezug auf Lacan (S. 41f) ein psychoanalytisches Konzept. Ihre These ist, dass schon immer das „Gespiegelwerden {specularity} ... wenigstens Teil der menschlichen Subjektivität...“ (S.41) sei, und dass die epochenspezifischen Bedingungen, zu denen dies heute geschehe, maßgeblich durch die Standfotografie bestimmt seien. Nach der Entwicklung dieser Bedingungen bezieht sich Silvermann auf einige Arbeiten aus den Untitled Film Stills (1977-79) von Cindy Sherman. Silvermann konzentriert hier Thesen, die sie bereits entwicklelt hat in: Dies., The Threshold of the Visible World, New York, 1996. Ungeachtet der psychoanalytischen Problematisierung in-

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stimmte Form der Subjektivierung gesehen, oft aber einfach als die relevante Metapher für die (zeitgenössische Art) des Selbstbilde(n)s verstanden. Hier sollen jedoch die Effekte im Vordergrund stehen, die die Kultur der Fotografie auf einer formalen Ebene für die Darstellung des menschlichen Körpers nach sich ziehen und die bereits vorwegnehmend kurz genannt werden: die Immobilisierung und Konservierung, die Bildung einer Gestalt, die Fixierung zu einem Selbst-Identischen Ganzen, die Abstraktion von der Veränderlichkeit. Bei der Untersuchung dieser Effekte werden wir mit Anleihen bei den genannten Problematisierungsweisen vorgehen. Das ist eine Arbeit der Collage aus Elementen, die zuweilen grob über die Konzepte, Perspektiven und Zwecke ihrer Herkunft hinwegsehen muss. Diese Collage wird ihren Ausgangspunkt noch einmal von der vorne abgebildeten Dürerschen Veranschaulichung des zentralperspektivischen Abbildungssdispositivs (Nürnberg 1538) nehmen. Die monokulare Zeichnerposition, das Bildmedium zugleich als Fenster und Aufzeichnungsfläche und der Körper als Bildgegenstand – sie alle sind über die im Augenpunkt zentrierten ‚Sehstrahlen‘ miteinander verbunden und zu einer Anordnung fixiert. Uns interessiert an diesem prominenten Knotenpunkt einer vielfältigen Tradition hier allein die Unterscheidung in die drei Instanzen Betrachter, Medium, Gegenstand. Sofern die Fotografie als fotochemische Aufzeichnung einer camera obscura-Projektion am Dispositiv der Zentralperspektive teilhat, ist diese Unterscheidung hier heuristisch sinnvoll. Bereits Ludwig Feuerbach nimmt – nah am historischen Moment der Entstehung der Fotografie – Anstoß daran, dass sich in diesem System, welches in Folge der Renaissance gewohnt war, das Bild als ein Fenster auf die Wirklichkeit zu konzipieren, eine Veränderung ereignet habe. Er bemerkt, dass seine Epoche das Bild dem Original vor-

teressiere ich mich dagegen eher für einige pragmatische Aspekte (inwiefern wirkt die allgegenwärtige Kultur der Fotografie auf die menschliche Körperlichkeit), für Fragen des Repräsentationsvermögens der Fotografie, vor allem aber für die formalen Charakteristika, die für die Darstellung des Körpers aus der fotografischen Kultur folgen.

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ziehe136. Von heute her ist diese Entwicklung, ist das Maß des Abstands zu einer Epoche, in der dies möglicherweise nicht der Fall war, schwer zu ermessen. Marshall McLuhan zeichnet den mühseligen Weg zu diesem Vorher: „Die Medien haben sich selbst an die Stelle der älteren Welt gesetzt. Auch wenn wir den Wunsch hätten, diese ältere Welt wiederzuentdecken, könnten wir das nur durch intensives Studium der Methoden erreichen, mittels deren die Medien sie verschlungen haben.“137 Auch Vilém Flusser operiert im folgenden Zitat mit den drei Instanzen dieser Konstellation. Er beschreibt den Vorgang der Verschiebung im System Mensch-Medium-Welt, der auch Momente einer Verwechslung trägt. Vielleicht ist es für unsere Zwecke nicht von Belang, ob damit eher eine anthropologische Tatsache behauptet werden soll oder eine ein wenig apokalyptisch ausgemalte, historische Entwicklung hin zu einem jetzigen Zustand (die Philosophie erlaubt sich zuweilen diesen apodiktischen Ton zwischen Historiographie und ‚Es war schon immer so‘): „Der Mensch ‚ek-sistiert‘, das heißt, die Welt ist ihm unmittelbar nicht zugänglich, so dass Bilder sie ihm vorstellbar machen sollen. Doch sobald sie das tun, stellen sie sich zwischen die Welt und den Menschen. Sie sollen Landkarten sein und werden zu Wandschirmen: statt die Welt vorzustellen, verstellen sie sie, bis der Mensch schließlich in Funktion der von ihm geschaffenen Bilder zu leben beginnt. Er hört auf, die Bilder zu entziffern und projiziert sie stattdessen 138

unentziffert in die Welt ‚dort draußen“, (...)“

Wittgenstein äußert sich entsprechend: „Wir betrachten die Photographie, das Bild an der Wand, als das Objekt selbst (Mensch, Landschaft, etc.), welches auf ihm dargestellt ist.“139

136

Berichtet nach Sontag, Susan, Über Fotografie, Frankfurt/M (12. Auflage) 2000 (Originalausgabe ‚On Photography‘, New York 1977), S. 146.

137

Zitiert nach Sontag, Susan, 2000, S. 187.

138

Flusser, Vilém, Für eine Philosophie der Fotografie (1983), 6. Aufl., Göttingen 1992, S.9,10. Hier zitiert nach Kaja Silvermann, Dem Blickregime begegnen, S. 42.

139

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Zitiert nach Sontag, Susan, 2000, S. 185.

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Susan Sontag ihrerseits beschreibt ganz ähnlich diese Verschiebung und Verwechslung, die sie nun jedoch spezifisch auf die Fotografie, oder, genauer, auf deren Allgegenwärtigkeit in unserer modernen Lebenswelt, bezieht: „Statt ganz einfach die Wirklichkeit wiederzugeben, ist das Foto zum Maßstab der Art und Weise geworden, in der uns die Dinge erscheinen,...“140. Ein Maßstab ist dies, der seine Merkmale auf den Gegenstand zurückwirft.: „Wir indessen neigen dazu, den realen Gegenständen die Qualitäten eines Bildes zuzuschreiben“141. Diese weitreichenden Wirkungen der Fotografie auf das menschliche Verhältnis zu Bildern und deren Referenten betrifft nun auch das Bild, das die Menschen von sich selbst bilden und haben. Jacques Lacan greift – in unserer inszenierten Diskussion – in das von Sontag gezeichnete Szenarium ein. Auch er geht davon aus, dass die Abbildung (oder in seinen Termini: der Bildschirm) das Feld des Visuellen (das er immer unter dem Vorzeichen des Begehrens betrachtet) bestimmt, aber er gewichtet die Instanzen auf neue Weise und kehrt die Blickrichtung gemäß seiner Orientierung an der Phänomenologie gewissermaßen um. Das Subjekt ist nicht mehr die souveräne, sehende Instanz, und dem Blick wird eine radikale Äußerlichkeit zugeschrieben: „In the scopic field, the gaze is outside, I am looked at, that is to say, I am a picture {...}. The gaze is the instrument through which light is embodied and through which – if you will allow me to use the word, as I often do, in a frag142

mented form – I am photo-graphed.“

140

Sontag, Susan, Der Heroismus der Fotografie, in: Sontag, Susan, 2000, S. 86

141

Sontag, Susan, Die Bilderwelt, in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie III, 1945-1980, München 1983, S.244-250, Zitat von S.247.

142

Lacan, Jacques, The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, trans. Alan Sheridan (New York: Norton, 1989), zitiert nach: Craig Owen, Beyond Recognition, S. 211. Deutsch als: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Bd. XI (1964), Olten und Freiburg im Breisgau, 1978. Das Bild, mit dem Lacan arbeitet, entspricht in gewisser Weise der antiken, bis in die Renaissance wirksamen Extramissionstheorie des Augensinnes: Das Auge wird verstanden als ein Organ, das gleich einem Tastorgan aus sich herausgehend Licht aussendet, um zu sehen. Entsprechend ist bei Lacan der

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Bei Lacan ist die Fotografie in ‚Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse‘ eine Art mitlaufende Metapher und er aktualisiert jeweils unterschiedliche, eng umgrenzte Konnotationen. Das Subjekt versteht sich hier selbst gegenüber dem Blick als Bild, es ist Objekt eines Blickes. Es ist hier nicht nötig, die spezifischen theoretischen Voraussetzungen dieser Entäußerung des Blickes zu erläutern, denn sie wurde auch von theoretisch vollständig anders orientierten Autoren (je eigen) beschrieben143. Für Roland Barthes (der, wie einschränkend bemerkt werden könnte, allerdings Lacans Text kennt) etwa ist die Fotografie nachgerade das Medium, das das Subjekt zum Objekt macht: „Die PHOTOGRAPHIE hat das Subjekt zum Objekt gemacht (...). In der Phantasie stellt die PHOTOGRAPHIE (...) jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt noch Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt: (...)“144. (Tatsächlich ist es ja auch technisch so, dass das Helldunkelgefüge, das von der fotografierten Person (als Reflexion) ausgehend ein Lichtbild auf einer lichtempfindlichen Oberfläche gezeichnet hat, schließlich von derselben Person wieder wahrgenommen werden kann. So gesehen kann dieselbe Person also einmal Sender und einmal Empfänger des eigenen Bildes sein.)

Blick das Instrument, durch das das Licht verkörpert wird und der in der Lage ist, mich zu ‚photo-graphieren‘, also mit/aus Licht zu zeichnen. Wissenschaftlich hatte Kepler mit der Erkenntnis der Retina als des rezeptiven Organs, das das Licht, welches durch die Pupille einfällt, auffängt, wohl endgültig mit der Extramissionstheorie Schluss gemacht: ut pictura, ita visio: (frei übersetzt) das Auge funktioniert so wie eine camera-obscura Aufzeichnung. 143

In der französischen Theorie hat dieses Motiv der Umkehrung der Blickrichtung, also des Objektes oder auch Bildes, von dem der Betrachter angeblickt wird, eine längere Tradition. Man denke neben Lacan an Jean Paul Sartre (Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 2000 (Paris 1943)) und zuletzt an Didi-Hubermann, Georges, Was ich sehe, blickt mich an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999. Zusammenfassend: Jay, Martin, Downcast Eyes – The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley, LA, London 1993.

144

Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt 1985 (La chambre clair, Paris 1980), S. 21 u. 22.

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Und eine weitere Formulierung dieser Erfahrung finden wir wiederum bei Sontag, die die normierenden Wirkungen der Äußerlichkeit dieses Blicks anspricht: „Wir lernen, uns selbst mit den Augen der Kamera zu sehen; sich für attraktiv halten heißt nichts anderes als glauben, dass man auf einem Foto gut aussehen würde.“145 Es heißt, so könnte man ergänzen, ‚fotogen‘ zu sein. Ulrich Raulff deutet mit der Etymologie des Wortes fotogen den Übergang vom Bild(schöpfungsverfahren) auf den Referenten als ein Wirkungsverhältnis an146. Dieser Übergang kann mit der Verschiebung der Konstellation parallelisiert werden, die wir über die Äußerungen von Flusser über Sontag bis Lacan verfolgt haben. ‚Fotogen‘, das bedeutete ursprünglich schlicht: mit Mitteln der Fotografie erzeugt, fotogeneriert. Fotogen aber meint nun den Referenten, der sich besonders gut eignet, fotografisch repräsentiert zu werden, der auf Fotos ‚gut kommt‘. Eine Person ist fotogen oder sie ist es nicht. Dieser Ausdruck weist schon darauf hin – wir werden in Folge sehen, warum -, dass das Verhältnis zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung einerseits und fotografischer Repräsentation andererseits nicht einfach eines der Deckung ist, sondern ein spannungsreiches, kompliziertes. Nicht jeder ‚gutaussehende‘ Mensch ist auch fotogen, nicht jeder Fotogene überzeugt auch noch als unmittelbare Erscheinung oder filmische Reproduktion (telegen, besser cinegen) unsere Augen. Und diese Differenz bedeutet auch: ein Foto muss nach bestimmten Regeln hergestellt werden, um eine befriedigende oder erfüllende Repräsentation eines Subjektes zu schaffen. Es ist jetzt vielleicht an der Zeit zu fragen, wie das Foto das Feld des Visuellen bestimmt und was es tut – wie handlungsorientiert formuliert werden –, wenn es einen Körper repräsentiert. Viele Autoren unterscheiden auf ähnliche Weise die zweifache Art, in der ein Foto einen Gegenstand repräsentiert. Zum einen – und das nähert die Fotografie an bestimmte Spielarten der Malerei – ähnelt eine Fotografie seinem Gegenstand. Wir erkennen ihn wieder und diese Erfahrung geht bis zur täuschenden Ähnlichkeit. In Verbindung mit dem naturwissenschaftlichen Anspruch wertfreier,

145

Sontag, Susan, 2000, S. 84, Vgl. Silvermann, S. 43, die dieses Zitat

146

Raulff, Ulrich, Image oder Das öffentliche Gesicht, in: Kamper/Wulf

ebenfalls anführt. (Hg.), Das Schwinden der Sinne, Frankfurt 1986.

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objektiver Wahrheit und dem literarisch-journalistischen Anspruch wahrhaftiger Darstellung der Wirklichkeit (der im 19. Jahrhundert zugleich mit der Fotografie aufkommt) gilt die Fotografie vielen als das Medium, das gewissermaßen transparent ist auf die Wirklichkeit und diese daher wiedergeben und konservieren kann. Die große Karriere der Dokumentarfotografie hat ihren Ausgangspunkt im 19. Jahrhundert. Diese Qualität der Ähnlichkeitsentsprechung ist jedoch in ihrer Abstraktheit und Allgemeinheit von verschiedenen Seiten bestritten worden. Und es muss vielleicht ungeachtet der vielen evidenten Ähnlichkeitserfahrungen, die wir innerhalb einer Kultur der Fotografie teilen mögen, betont werden, dass bei der Fotografie nur von Ähnlichkeit gesprochen werden kann, wenn eine ganze Reihe von Prämissen über den Rahmen geteilt werden, in dem diese Ähnlichkeit akut wird147. Dass eine solche Ähnlichkeitserfahrung nicht in jedem Fall garantiert ist, dass Fotos also codiert sind, bestätigt exemplarisch etwa die folgende, häufig angeführte, Schilderung: „Der Anthropologe Melville Herskovits zeigt einer Buschmann-Frau ein Foto ihres Sohns. Sie ist außerstande, irgendetwas als Abbild wiederzuerkennen, bis ihr die Details des Fotos erläutert werden. {...} Für diese Frau ist die Fotografie nicht als Botschaft markiert, ist eine Nicht-Botschaft, bis sie durch den Anthropologen sprachlich abgesteckt wird. Eine metasprachliche Aussage wie ‚dies ist eine Botschaft‘ und ‚das steht für ihren Sohn‘ macht den Schnappschuss erst lesbar.“148

Statt von Ähnlichkeit sollte also eher von analogen Verhältnissen zwischen Referent und Abbildung gesprochen werden. Zum Verständnis der Ähnlichkeit, beziehungsweise der Entsprechung (wir sind geneigt, hier von einem kontinuierlichen Übergang zu sprechen) ist die Kennt-

147

Joel Snyder bemüht sich anhand einer Fotografie von Walker Evans um die Aufzählung dieser Prämissen: Ders., Sehen, Darstellen, in: Kemp, Wolfgang (Hg.), Theorie der Fotografie III, 1945-1980, München 1983, S.274-281.

148

Sekula, Allan, On the Invention of photographic meaning, in: Burgin, Victor (Hg.), Thinking Photography, London 1982, S. 84-109: 85f. Zitiert nach: Dubois, Philippe, Der Fotografische Akt, Amsterdam, Dresden 1998, S. 46.

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nis, oder besser – es handelt sich schließlich um weitgehend unbewusste oder ungesagte Vorgänge – die Akulturation der Transformationsregeln149 Voraussetzung. Zum anderen ist die Fotografie mit ihrem Gegenstand über einen Wirkungszusammenhang verbunden. Das vom Gegenstand reflektierte oder ausgestrahlte Licht trifft, gebündelt von einer optischen Vorrichtung, auf eine lichtempfindliche Fläche und hinterlässt über diverse Stufen chemischer Prozesse eine ‚Spur‘ (Sontag) auf einem Papier. In seiner letzten Schrift über die Fotografie findet Barthes einen fast neuplatonischen Ausdruck für dieses Wirkungsverhältnis: „Die Fotografie ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin {...}. Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick.“150 Das Ursache-Wirkungsverhältnis zwischen Referent und Fotografie erweist sich in Barthes Augen also als kontagiös, es dehnt sich auf den Betrachter aus. Dies passiert vielleicht in derselben Bewegung, in der die Fotografie (das Fotopapier) zugunsten ihres Referenten ihre eigene Materialität vergessen macht151. Es ist dies einer der Gründe, warum sich Barthes von der Fotografie auf eine andere Weise – man könnte sagen: buchstäblich – ‚berührt‘ fühlt, als von der Malerei152. Fast bin

149

An der Entschlüsselung der Codes der Fotografie hat eine ganze Generation von Wissenschaftlern gearbeitet, von denen nur einige stellvertretend aufgezählt werden können: Umberto Eco, Roland Barthes, René Lindekens. Neben diesen semiotisch verfahrenden Autoren mögen auch der Soziologe Bourdieu oder der Filmtheoretiker Baudry genannt sein, deren Bestreitung des Wirklichkeitsanspruchs der Fotografie anders begründet wird. Zusätzlich zu den Wissenschaftlern sollten heute sicher auch FotokünstlerInnen angeführt werden, die, wie Cindy Sherman kritisch-dekonstruktiv an der Entzifferung der Codes weitergearbeitet haben, wenn sie etwa die Rolle der Pose als der Nachahmung einer Norm und die Funktion der Kadrierung, wie auch des Verhältnisses von Person und Hintergrund herausgestellt haben.

150

Barthes, Roland Die helle Kammer, Frankfurt 1985, S.90-91.

151

Vgl. Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt 1985, S. 55.

152

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang auch interessant, dass der Kunsthistoriker Wolfgang Schöne mit Rekurs auf die neuplatonische

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ich geneigt zu sagen, dass das Wirkungsmoment von Barthes in dem Maße empfunden wird, wie das Moment der Ähnlichkeitsentsprechung bis zur Transparenz des Mediums fortgetrieben ist, so dass hier bereits ein Zusammenspiel von Ähnlichkeitsentsprechung (transparentem Medium) und Wirkungsverhältnis impliziert ist. Charles Sanders Peirce liefert die praktische, zeichentheoretische und mittlerweile recht geläufige Terminologie für die genannte Unterscheidung: Er spricht vom ikonischen Bezug auf den Referenten, wenn von einer gewissen Entsprechung oder Ähnlichkeit die Rede sein soll, und vom indexikalischen Bezug, wenn bei der Bilderzeugung ein Wirkungsverhältnis (hier ein chemischer Niederschlag des Lichtes) Referenten und Bild verbindet153. Die Unterscheidung ist nicht unkompliziert. So kann ein Ikon seinem Referenten nicht nur durch nachahmende Ähnlichkeit entsprechen, sondern durchaus auch durch ein anderes Entsprechungsverhältnis seiner Merkmale, wie dies etwa ein Diagramm aufweist, oder, um auf weitere Zeichentypen zu verweisen: Zahlen. Und ein Index wiederum mag eine seiner Ursache (seinem Referenten) völlig unähnliche Wirkung sein, wie sie der Rauch für das Feuer ist, oder er mag seinem Referenten durchaus ähneln – wie dies

Lichtmetaphysik Witelos, eines Theologen und Optikers des 12. Jahrhunderts, die Malerei des Mittelalters, also die vor-zentralperspektivische Malerei, die viele moderne Betrachter im Gegensatz zur Fotografie sicher nicht als wirklichkeitsgetreu empfinden würden, gleichsam als die Emanation eines göttlichen Senders beschreibt. Der Betrachter vermag hier nach der Schilderung Schönes kaum eine objektivierende Distanz zum Bildgegenstand zu errichten, er wird von derselben, sich in Sphären ausströmenden Bewegung erfasst, deren Wirkung auch das Bild ist. Das Paradebeispiel Schönes ist das gefärbte gotische Kirchenfenster. Von Außen/Oben strömt das Licht, es lässt die Darstellung sichtbar werden und aufleuchten und ergießt sich weiter in den Raum, den es seinerseits in ein farbiges Licht taucht Schließlich trifft es in derselben Bewegung auf den Betrachter und erhellt auch ihn. Siehe: Schöne, Wolfgang, Das Licht in der Malerei, Berlin 1951, S. 12 u. 56ff. 153

Vgl. Peirce, Charles Sanders, Semiotische Schriften (Hg. u. Übersetzer Christian Kloesel und Helmut Pape), Frankfurt/M 1986, 1990, 1993 (3 Bde.); Peirce, Charles Sanders, Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/M 1983. Die Theorie der Zeichen erfährt bei Peirce eine lange Entwicklung und ständige Fortschreibung.

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in der Gebrauchsfotografie, die die mit einer Linse ausgestattete camera obscura mit der fotochemischen Aufzeichnung eines kurzen Augenblicks kombiniert, auch die Regel ist. Entscheidend für die (analoge) Fotografie im Gegensatz zur Malerei ist allein, dass erstere einen Referenten notwendig voraussetzt, also immer ein indexikalisches Verhältnis zu diesem wahrt, während letztere etwa auch einen imaginären Referenten darstellen kann. Philippe Dubois154, der Peirce aufnimmt, macht den indexikalischen Bezug der Fotografie auf ihren Referenten zum Ausgangspunkt seiner Theorie und Geschichte der Fotografie. Er systematisiert damit etwas, das bereits bei Barthes deutlich formuliert war: „Es heißt oft, die Maler hätten die PHOTOGRAPHIE erfunden (indem sie den Ausschnitt, die Zentralperspektive Albertis und die Optik der camera obscura auf sie übertrugen). Ich hingegen sage: nein, es waren die Chemiker. Denn der Sinngehalt des ‚Es-ist-so-gewesen‘ ist erst von dem Tage an möglich geworden, da eine wissenschaftliche Gegebenheit {...}, es erlaubte, die von einem abgestuft beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen einzufangen und festzuhalten.“155 Historisch gesehen stellt Dubois seine Betrachtungsweise ans Ende einer dreistufigen Problematisierung der Fotografie. Danach neigte die Kritik zunächst zur Diskussion der mimetischen Qualitäten der Fotografie, verschob dieses Interesse in zweiter Instanz auf die Dekonstruktion ihres Wirklichkeitsanspruchs durch semiologische und ideologiekritische Untersuchungen um schließlich im indexikalischen Bezug der Fotografie den Kern ihres Funktionierens zu sehen. Ob es ein Effekt der oftmals verblüffenden Ähnlichkeit des Fotos mit der abgebildeten Person ist, oder eine Ahnung der indexikalischen Beziehung, die mit einer Entführung, einem Ab-zug assoziiert werden kann: viele Personen und Kulturen, die das erste Mal mit einer fotografischen Repräsentation ihrer selbst konfrontiert werden, erleben dies als Schock156. Berühmt ist die von Nadar kolportierte Privattheo-

154

Dubois, Philippe, L’acte photographique, Paris, Brüssel 1990, deutsch als: Der photographische Akt, Dresden 1998.

155

Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt 1985, S. 90, Vgl. auch S.

156

Angesichts der auffällig häufigen und ähnlichen Schilderungen über die

86/87. erschrockenen Reaktionen von ‚Wilden‘ auf ihre erstmalige fotografi-

105

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rie Balzacs, der von einer endlichen Zahl geschichteter, geisterhaftunkörperlicher Oberflächenbilder ausging, deren sukzessive Ablösung und Verzehr durch die fotografische Aufnahme er befürchtete157. Und noch bei Barthes ist von einer Entfremdungs- und Enteignungserfahrung die Rede: „Denn die Photographie ist das Auftreten meiner selbst als eines anderen: eine durchtriebene Dissoziation des Bewusstseins von Identität (....) die anderen – der ANDERE – entäußern mich meines Selbst, machen mich blindwütig zum Objekt, halten mich in ihrer Gewalt, verfügbar, eingereiht in eine Kartei, präpariert für jede Form von subtilem Schwindel:(...)“158. Sicher haben Schock, Überraschung und die Empfindung einer Verletzung vielfältige und häufig vermischte Gründe. Da ist zunächst der sinnesanschaulich nicht nachvollziehbare Vorgang der Belichtung und Entwicklung als eines quasi-alchemistischen Prozesses, da ist auch die Diskrepanz zwischen der Vorstellung vom Selbst und der fotografischen Repräsentation und da ist schließlich das Moment der Feststellung, Objektivierung und Kontrolle, das mit der Herstellung, Vervielfältigung und auch der gesteigerten Verfügbarkeit der fotografischen Reproduktion ermöglicht wird. Was passiert genau in jenem kurzen und entscheidenden Moment der fotografischen Aufnahme? Der Schilderung von Christian Metz fol-

sche Repräsentation fragt man sich jedoch, ob hier nicht eher eine mächtige Projektion am Werk ist. Susan Sontag, 2000, etwa spricht in ‚über Fotografie‘ mehrfach in diesem Sinne über ‚primitive Stämme‘, ‚sogenannte unterentwickelte Kulturen‘ usw. Die Bemerkung von Deleuze und Guattari, dass bei ‚primitiven Völkern‘ anders als in unseren Kulturen wenig über das Gesicht verlaufe (an Machtausübung, Kontrolle, Identifikation) könnte diesen Verdacht bestärken. ‚Wilde‘ sind also vielleicht weniger erschrocken und beeindruckt als indifferent angesichts der Fotografie. Vgl. Gilles Deleuze, Felix Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980, S. 215. 157

Vgl. Sontag, Susan, 2000, S. 151.

158

Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt 1985, S. 21 und 23.

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gend, gleicht die fotografische Aufnahme eines Gegenstandes einem ‚Schnitt durch den Referenten“159. Da viele Autoren diesen Vorgang als ähnlich ‚einschneidend‘ empfinden, mag es kein Zufall sein, dass sie seine Wirkung und Folge gar mit dem Tod assoziieren und wir die Metapher von der ‚Mortifizierung‘ des Subjektes durch den fotografischen Akt sehr häufig finden. Mit der Metapher werden durchaus unterschiedliche Phänomene bezeichnet und in Verbindung gebracht: so etwa der weitverbreitete sentimentale Gebrauch der Fotografie zum Gedenken Verstorbener, oder die Tatsache der Suspension, die sich im Herausschneiden eines raumzeitlichen Fragments aus dem Lauf der Zeit und der Weite des Raumes ereignet, aber auch die damit verbundene Stillstellung der menschlichen Figur. Philippe Dubois spricht gar von ‚Thanatographie‘160. Und Metz selbst geht ebenfalls von der vielstrapazierten Beziehung zwischen Tod und Fotografie aus: „Unbeweglichkeit und Stille sind nicht nur zwei objektive Merkmale des Todes, sie sind auch seine wichtigsten Symbole, sie stellen ihn dar.“161 Auch die Fotografie zeichne diese beiden Charakteristika aus, und wir können als erste Be-

159

Metz, Christian, Photography and Fetish, in: Carol Squiers (Hg.),The Critical Image, Seattle 1990, S. 158: „Photography is a cut inside the referent, it cuts of a piece of it {...}“ . Vgl. Silvermann, S. 43.

160

Dubois, Philippe, l’acte photographique, Paris, Brüssel 1990, S. 163. Martin Schulz verweist auf ein weit über die Fotografie hinausreichendes altes ‚Dispositiv der Thanatographie‘ bzw. auf deren ‚’longue durée‘ und führt hierzu die christlichen Legenden der acheiropoieta an. Vgl. Ders., Körper sehen, Körper haben – Fragen der bildlichen Repräsentation, in: Belting, Hans; Kamper, Dietmar; Schulz, Martin (Hg.), Quel Corps – Eine Frage der Repräsentation, Berlin 2002, S. 22; Vgl. dazu ebenfalls: Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt/M 1985, S. 93: „...; wie man es auch dreht und wendet: die PHOTOGRAPHIE hat etwas mit Auferstehung zu tun: kann man von ihr nicht dasselbe sagen, was die Byzantiner vom Antlitz Christi sagen, dass sich auf dem Schweißtuch der Veronika abgedrückt hat, nämlich dass sie nicht von Menschenhand geschaffen sei: acheiropoietos.“

161

Metz, Christian, Photography and Fetish, in Carol Squiers (Hg.), The Critical Image, Seattle 1990, S. 157. (von mir aus dem Englischen übersetzt)

107

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stimmung des fotografischen Bildes die Immobilisierung des Referenten festhalten. Die Fotografie hält mit der Immobilisierung vom Referenten etwas Unveränderliches, mit sich selbst Identisches fest. Uns allen ist aus der alltäglichen Praktik des Knipsens bekannt, dass alle möglichen Kunstanstrengungen unternommen werden, damit diese Immobilisierung nicht tatsächlich den Eindruck des Todes mit sich bringt: die Fotografierten sollen lächeln, es werden ‚lebensnahe‘ Situationen arrangiert, man geht in die Natur, in der alles wächst... In einem weiteren Sinne noch vergleicht Metz Tod und Fotografie. Der in der Fotografie erfasste Moment ist unwiderruflich vergangen, tot. Victor Burgin spricht davon, dass die Fotografie plötzlich und für alle Zeiten ein Fragment des raum-zeitlichen Kontinuums isoliert und gleichsam einfriert162. Zur Immobilisierung kommt also die Bestimmung der Konservierung. Das Unveränderliche, Selbstidentische eines Augenblickausschnitts wird tendenziell für alle Zeiten aufbewahrt und bereitgestellt. In der Stillstellung konserviert die Fotografie die Person als eine Gestalt. Singularität und Gestalt müssen beide unterstrichen werden. Durch den Schnitt aus dem Fluss der Bewegungen entsteht ein unveränderliches Bild. Und dieses Bild ist das Bild einer Gestalt. In einem Text über das intrikate Verhältnis von Fetisch und Fotografie, demonstriert Metz, wie der Film die Bewegung auf Kosten des Vergessens der einzelnen Bilder erzeugt (, denn die Bewegung entsteht aus der Differenz aufeinander folgender Bilder), während die Fotografie das Bild der Gestalt schafft163. Technisch-ästhetisch ist dies darin begründet, dass das fotografische Bild dem Körper erst in der Stillstellung Zusammenhang und Komposition verleiht164. Der Film betont zudem die

162

Burgin, Victor, Photography, Phantasy, Function, in: ders. Thinking Photography, London 1982, S.190. Zitiert nach: Owen, Craig, Beyond recognition, Berkeley 1992, S.208: „The Photograph, like the fetish, is the result of a look which has, instantaneously and forever, isolated, ,frozen‘, a fragment of the spatio-temporal continuum“.

163

Metz, Christian, Photography and Fetish, in: Carol Squiers (Hg.), The Critical Image, Seattle, 1990, S.155-164. Vgl. Lyotard, Jean François, zur Bewegung im Kino: Affirmative Ästhetik, Berlin 1982, S.25 ff.

164

Vgl. Silvermann, Kaja, Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick, Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S.44; Vgl. Barthes, Roland, Die helle Kammer, Frankfurt/M 1985, S.

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Abwicklung der Bewegung und ist von der Tendenz her prospektiv, die Fotografie dagegen hebt den Bezug auf den Referenten (als etwas Vergangenem) hervor. Sie produziert den Körper in der Gestalt165 als etwas Selbstidentisches. Die Gestalt der fotografischen Repräsentation wird auf Kosten des Verlustes von Beweglichkeit, Lebendigkeit, ja jeglicher Veränderlichkeit geschaffen. Der Preis für die Konstituierung des Subjektes in der fotografischen Repräsentation ist also, wie Silverman bemerkt, dieser Verlust166. Der Verlust und die unglaubliche Reduktion der vielfältigen Realitäten eines Körpers (auch im anschaulichen Bereich: verschiedene Ansichten, veränderliche Zustände, Bewegungen, Kontexte) auf eine Gestalt

88: „...im PHOTO hat sich etwas vor eine kleine Öffnung gestellt und ist dort geblieben (so jedenfalls empfinde ich es); doch im Film hat sich vor der gleichen kleinen Öffnung etwas vorbeibewegt: die Pose wird von der ununterbrochenen Folge der Bilder beseitigt und geleugnet: es kommt zu einer anderen Phänomenologie und folglich zu einer anderen Kunst, obgleich sie von der ersteren abgeleitet ist.“ 165

Es mag hier einzuwenden sein, dass auch die Malerei von jeher die Person als eine Gestalt repräsentiert. Und – wie viele Anhänger der Malerei in der Frühphase der Fotografie dies im gleichermaßen künstlerischen wie wirtschaftlichen Paragone mit dieser beanspruchten – sie vermag vielleicht wirksamer die aus langwährender Anschauung gewonnen Aspekte einer Person zu synthetisieren. Aber sie hat – im Gegensatz zur Fotografie – das Problem, dass sie ihre Repräsentation nicht notwendig als die Wirkung der Ursache des Referenten oder: der dargestellten Person bezeichnen darf. Sie spiegelt womöglich nur vor, der Verdacht der täuschenden Ähnlichkeit begleitet sie immer. Und tatsächlich ist die Aufgabe der Repräsentation der Menschen heute im Wesentlichen auf die Fotografie übergegangen. Allein in besonders ritualisierten, offiziösen Zusammenhängen rekurriert man auf Malerei oder Plastik – Ähnliche Rückgriffe auf vergangene Stile, Formen oder Medien sind auch aus der älteren Kunstgeschichte bekannt.

166

Vgl. nochmals Silvermann, Kaja, Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick, Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S.44

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wären nun nicht denkbar ohne eine Kompensation. Und diese Kompensation besteht in der Verallgemeinerung und Übertragung, es ist fast nötig zu sagen: der Hypostasierung des Unveränderlichen, Selbstidentischen des raumzeitlichen Fragments, das die Aufnahme ‚herausgeschnitten‘ hat. Ausgerechnet dieses Fragment nämlich vermag, wie der verbreitete sentimentale Gebrauch der Fotografie lehrt, der Repräsentation im Sinne der verbürgten Stellvertretung einer Person zu dienen. Das Fragment muss also mit den wesentlichen Eigenschaften der Person identifiziert werden. Bei Barthes lesen wir über das Subjekt, das in Erwartung einer fotografischen Aufnahme Versuche unternimmt und Wünsche hegt, der Aufnahme so zu begegnen, dass sie mit dem ‚kostbaren Wesen seiner Individualität‘ übereinstimmen mag, damit es nicht allein die Realität des vergangenen Augenblicks, das ‚Es-ist-so-gewesen‘ verbürgt, sondern auch die ‚Essenz‘ einer Person bewahrt. Sicher spielt in seinem Konzept die Indexikalität der Fotografie, ihr kontagiöses Vermögen, eine direkte Beziehung zum Repräsentierten herzustellen, eine wichtige Rolle im Dienste dieses Anspruchs. Es mag hier von den verschiedenen älteren kulturellen und BildPraktiken, die ebenfalls von einen indexikalischen Bezug zum Dargestellten ein besonderes Stellvertreterprivileg ableiten, nur ein Beispiel genannt sein: die Totenmaske167. Vielleicht sollte die etwas krude metapherologische Operation, die in der Annäherung von Fotografie und Tod durch die Rede von der Mortifizierung besteht, durch eine technischere Beschreibung ersetzt oder ergänzt werden. Wenn man sich in der Genealogie der Körperstillstellungen und ihrer Illustrationen umsieht, so scheint nicht der Mörder und auch nicht der Anatom, der an der Leiche arbeitet, ein gutes Gleichnis für die Effekte der fotografischen Aufnahme zu sein, sondern eher der Physiognom, der sich mit seiner Analyse der Morphologie nicht nur gern an das stabile Skelett hält, sondern bereits auf die Objektivierung und Stillstellung körperlicher Maß- und Formen-

167

Vgl. zu diesem Aspekt Belting, Hans, Repräsentation und Antirepräsentation. Grab und Porträt in der frühen Neuzeit, in: Belting, Hans; Kamper, Dietmar; Schulz, Martin (Hg.), Quel Corps – Eine Frage der Repräsentation, Berlin 2002, S. 29-52, Zitat S. 34

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verhältnisse im Profil setzt, dessen Schattenriss er aufzeichnen kann168. Die Fotografie schafft mit diesem Selbst-identischen Ganzen jedoch nicht automatisch aus ihrer technischen Anordnung heraus erfüllende oder ideale Repräsentationen von Personen. Sie bedarf durchaus der Anstrengung der Komposition, der Zurichtung des Objekts, seiner Haltung, Position und Rahmung. Die meisten als ‚film-stills‘ sich ausgebenden Bilder zur Bewerbung von Filmen sind mitnichten Bilder aus der Filmrolle, sondern sorgsam produzierte Fotografien169. Und allzu viele Schnappschüsse lassen die darin Repräsentierten an ihrem Selbst verzweifeln, weil sie Züge verewigt sehen, die sie für ephemer hielten oder gar nicht kannten und sie gerade denjenigen Ausdruck, der ihrer Selbstwahrnehmung (, die ihrerseits auch durch die Wirkung anderer Bilder phantasmatisch mit gebildet wurde) entspricht, vermissten. Besonders akute Affekte, wie der Ausdruck der Verwunderung oder des Staunens, die die Person gewissermaßen dezentrieren, sie als vor allem reaktiv markieren, aber auch vorübergehende und ultrakurze Zustände, wie im Zwinkern geschlossene Augenlider, werden in der Fotografie vermieden, wenn sie die Repräsentation einer Person intendiert. Die beeindruckenden Effekte der ‚gelungenen‘ Fotografien von Personen aber auch die Erfahrungen der Mißrepräsentationen mögen erklären, wie die Fotografie auf den Menschen wirkt und dessen Fleisch buchstäblich zu formen vermag. In Antizipation einer Aufnahme erstarren viele Menschen zu einer vor-fotografischen Pose, zu einer dreidimensionalen Fotografie vor dem Fall, wie Craig Owens äußerst anschaulich beschreibt: „Still, I freeze, as if anticipating the still I am about to become; mimicking its opacity, its still-ness; inscribing, across the surface of my body, photography’s ‚mortification‘ of the flesh.“170

168

Vgl. Fischer, Rotraut; Stump, Gabriele: Das konstruierte Individuum, Zur Physiognomik Johann Kaspar Lavaters und Carl Gustav Carus, in: Kamper, Dietmar; Wulf, Christoph (Hg.), Transfigurationen des Körpers, Spuren der Gewalt in der Geschichte, S. 123-143, insbesondere S. 129 ff.

169

Der Begriff dafür ist auch heute noch zumeist durchaus doppeldeutig: ‚Szenen-Foto‘.

170

Owens, Craig, Beyond Recognition, Berkeley 1992, S. 210.

111

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Owens weist darauf hin, dass es für diese Erstarrung heutzutage aufgrund der Lichtempfindlichkeit und der dadurch möglichen und auch üblichen ultrakurzen Belichtungszeit nicht den geringsten technischen Grund gibt. Anlass für diese Posen ist vielmehr die Absicht der zu Repräsentierenden, ihre fotografische Verdopplung zu kontrollieren um sie möglichst der ersehnten Repräsentation anzunähern. Die Pose ist – und so wird der Begriff heute auch zumeist benutzt – die Einnahme einer vorgeprägten Haltung, die Anpassung an eine Norm. Deleuze-Guattari drücken sich hier sehr drastisch aus, wenn sie hinsichtlich der Gesichter davon sprechen, dass diese nicht vom Subjekt und seiner Wahl, sondern von der gesellschaftlichen Produktion her gedacht werden müssen. Eher als dass jemand ‚ein Gesicht macht‘, kommt es zu ihm171. Posen und Mimik müssen also im Rahmen des herrschenden kulturellen Repertoires gesehen werden. Das Subjekt kann über seine Pose zudem einige Prämissen der fotografischen Repräsentation bestimmen oder wenigstens nahelegen: die Perspektive, das Format (den Rahmen), das Verhältnis zu seiner Umgebung. Die Aktivität des In-Pose-Setzens als Konkurrenz und Komplement des In-Szene-Setzens durch die Kamera spielt sich in einem ständigen Anpassungsprozess zwischen individuellem Ausdrucksbegehren und kulturell vorgegebenem Bildreservoir ab. In einer Perspektive, die die fotografische Repräsentation unter den Vorzeichen der Mimikry, der Anpassung an Normen betrachtet, bekommt die vorfotografische Erstarrung in der Pose einen apotropäischen Charakter. Insofern die fotografische Aufnahme ihren Gegenstand sowohl festzustellen als auch zu verletzen oder gar zu töten droht, lässt sich die Erstarrung als Abwehrbewegung, als Gegenzauber vor dem bösen Blick verstehen. Der Erblickte imitiert die Erstarrung, die ihm als Folge der Aufnahme droht, er stellt sich tot, um nicht getötet zu werden. All dies ist im keep smiling! als der Generalversicherung im Angesicht einer fotografischen Repräsentation beschlossen: das Anhalten und Erstarren, die Antizipation der erstrebten Repräsentation, welche Lebendigkeit und Fröhlichkeit paradoxerweise im Suspens performen muss, aber auch das Zähneblecken des Abwehrzaubers und nicht zu-

171

112

Deleuze, Gilles; Guattari, Felix, Mille Plateaux, Paris 1980, S.12.

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letzt der Versuch, den Blickkontakt zum zukünftigen Betrachter herzustellen. Zusammenfassend: Die Medien haben seit jeher das Weltbild der Menschen bestimmt, in gesteigertem Maße muss dies von der Fotografie gelten, deren Verbreitung und allgemeine Verfügbarkeit historisch vorgängige Bildmedien weit überschreitet. Dabei ist auch das Selbstbild betroffen – Subjektivität und Weltbild begründen einander widerspiegelnd. Mit Peirce lässt sich ein zweifaches, ein ikonisches und indexikalisches Verhältnis der Fotografie zu ihrem Referenten konstatieren. Die besondere Bedeutsamkeit der Fotografie resultiert aus der Verbindung und gegenseitigen Bestärkung der daraus ableitbaren Charakteristika. So gilt die Fotografie in ihren gängigen Anwendungen nicht nur als Medium guter Transparenz auf die Wirklichkeit, sie ist auch das Bildmedium, das notwendig eine Verbindung zu ihrem Referenten unterhält, die Abbildung entsteht in Kontiguität zum Referenten. Der Betrachter erhält mit dem Bild die Gewissheit, dass das Abgebildete so einmal existiert habe. Aus den Besonderheiten der fotografischen Aufzeichnung folgen einige formale Charakteristika für die Darstellung des menschlichen Körpers. Mit der kurzen Belichtung immobilisiert die Fotografie ihren Referenten. Der Schnitt aus dem Lauf der Zeit und der Heterogenität des Raumes ergibt ein Bild mit der Tendenz, dem Körper jenseits seiner Veränderlichkeiten Zusammenhang zu verleihen, ihn zu einer Gestalt zu formen. Diese Gestalt wird konserviert. Die Reduktion, die in der Fragmentarisierung (in Hinsicht auf Zeit, Raum, Perspektive, Ausschnitt) begründet ist, wird kompensiert durch das Repräsentationsvermögen, das der Fotografie wenigstens phantasmatisch zugesprochen wird. Der Vorzug, der der Fotografie gerade im Bereich der sentimentalen Anwendungen vor anderen Bildverfahren gegeben wird, macht es ganz deutlich: ihr traut man die Wiedergabe der wesentlichen Charakteristika, ja des Wesens des Repräsentierten zu.

113

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6.2. T EIL UND G ANZES – G LIEDERUNG DER K ÖRPER Kamper und Wulf schreiben 1989, der gegenwärtige Umgang mit dem Körper sei durch „die Zerteilung bestehender und die Zusammensetzung einzelner Teile zu neuen Körpern“172 charakterisierbar. Das ist zunächst eine bloße Beobachtung. Schließen wir einmal die handgreiflich-blutigen Varianten aus und beschränken uns auf die Bildebene. Auf welcher Basis geschieht dieser Umgang, wie sind Körper heute gegliedert, um diese Operationen mitmachen zu können? Als eine Illustration mag die Abbildung eines ‚idealen weiblichen Körpers‘ dienen, der aus den Körperteilen verschiedener Supermodels und Schauspielerinnen zusammengesetzt zu sein behauptet (vgl. Abb. 8). Abbildung 8: Der Androide, zusammengesetzte Schönheit aus Berühmtheiten von Uma Thurman (Füße) bis Naomi Campbell (Augen), 1996.

Quelle: Kunstforum International, Band 141, 1998, S. 187 (Abbildung) und 186 (Angabe: Arena 19, 1996)

Was bestimmt die Ordnung dieser eklektischen Figur? Die Aufgliederung der Elemente folgt nicht den Gesetzen harmonischer Proportion, nicht der Ordnung der Mechanik beweglicher Glieder und auch nicht

172

Kamper, Dietmar; Wulf, Christian (Hg.), Transfigurationen des Körpers, Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989, S. 3.

114

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der Aufteilung des Körpers in Organe nach biologischem Verständnis, vereint sie doch – wenn wir der Beschriftung innerhalb der Abbildung folgen – so unterschiedliche Dinge, wie Tatoo, Fuß, Schönheitsflecken und Frisur. Sie steht quer zu diesen Unterscheidungen. Zunächst lässt sich nicht mehr sagen, als dass hier all die Elemente zu einem Bezeichnungszusammenhang versammelt werden, welche in einem bestimmten Moment – nach welchen diskursiven oder anschaulichen Vorgaben auch immer – zur sichtbaren Artikulation eines ‚perfekten Frauenkörpers‘ dienen sollen. Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen, historisch gewachsenen und noch akuten Körperkonstruktionen, deren Bestimmungen sich jeweils auf unterschiedliche Zeichen und Merkmale stützen173. Diese sind nicht unbedingt miteinander zu kombinieren, obwohl es so scheint – und auch dies soll hier als bloße Beobachtung angeführt werden -, dass sie, wenigstens im Bildanschaulichen, zunehmend im Konstrukt des natürlichen Körpers mit seiner nackten Oberfläche ihr gemeinsames Zentrum und schließlich ihren Austauschplatz finden, so wie die Mode transparent ist auf die Formen des Körpers (oder solche doch zu evozieren bemüht ist), oder wie die medizinische Illustration sich in die Silhouetten deutlich gegenderter Körper einträgt. Das Konzept der vorliegenden Collage ähnelt – wenn hier auch eine unglaubliche Zeitspanne überbrückt wird – in gewisser Weise dem der berühmten Beschreibung Agamemnons in der Ilias. Dessen Körper wird dort als eine Zusammensetzung unter anderem aus dem Kopf des Zeus und den Hüften des Ares geschildert: Der mächtige Herr Agamemnon Glich an Augen und Haupt dem donnerfrohen Kroniden Und dem Ares am Gurt, am Rücken jedoch dem Poseidon.174

173

Sampson, Philip J. Die Repräsentation des Körpers, in: Kunstforum Bd. 123, November – Januar 1996, S. 95: „Es gibt hingegen eine Reihe von unterschiedlichen Ansichten des Körpers mit jeweils besonderen Beschreibungsweisen: Biologische, symbolische, geschichtliche, soziale, ökonomische und ästhetische Gesichtspunkte sind die Grundlage von unabhängigen Diskursen und keiner von diesen erschöpft die Bedeutung des Körpers.“

174

Ilias, Zweiter Gesang, 477-479, Zitiert nach der Übersetzung von Hampe, Roland, Stuttgart 1979, S. 37.

115

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Hier werden die jeweils eindrucksvollsten körperlichen Merkmale dieser Götter zu einem Heroen-Körper vereint. Das erscheint wie eine Zusammenführung zweier in der antiken Ästhetik viele Jahrhunderte später diskutierter Wege der künstlerischen Darstellung idealer Körperschönheit: der Schöpfung aus göttlicher Inspiration unter Absehung irdischer Vorwürfe einerseits175 und der Synthese aus Elementen des Realschönen verschiedener und nur in jeweils beschränkter Hinsicht idealer Körper zu einem vollkommenen Körper andererseits176. Der Unterschied besteht darin, dass es sich auf der einen Seite um die literarische Schilderung einer sagenhaften Gestalt handelt und auf der anderen um die anschaulich gemachte ästhetische Optimierung eines menschlichen Körpers in einer Zeit, zu der dessen Formbarkeit, Austausch und selbst Programmierung in den Horizont rücken und sei es als (Bild)Versprechung. Und man mag des Weiteren auch einen grundsätzlichen ästhetischen Unterschied konstatieren: die Götter zeichneten sich durch übermenschliche, unerreichbare, extreme Vermögen aus, deren Synthese zu denken Schwierigkeiten verursacht und deren Ästhetik eine Tendenz zum Erhabenen, auch das Anschauungsvermögen überschreitende hat. Die angesprochenen Schönheitsmerkmale der Supermodels bezeichnen dagegen eher optimale Positionen im mittleren Bereich von Spannbreiten: nicht zu dünn, zu dick, zu lang, zu kurz, sondern

175

Ein Konzept, was sowohl für die Dichtkunst als auch für die Malerei verhandelt wurde, etwa von Philostrat II: „{...} die Nachahmung stellt her, was sie gesehen hat, die Phantasie aber sogar das, was sie nicht gesehen hat, denn sie erschließt es nach Analogie des Seienden,...“ (Leben des Appollonius von Tyana, VI 19.). Die fantasia, also die künstlerische Einbildungskraft, wird zuweilen als göttlich geleitetes Vermögen definiert. Diese Vorstellung entwickelt sich langsam im Hellenismus, ausgebildet erscheint sie etwa bei Pseudo Longin in ‚Das Erhabene‘ (Peri Hypsos oder De Sublimitate).

176

Diese Ästhetik wird in der sogenannten ‚Zeuxislegende‘ von Cicero (De inventione, II,I) und Plinius d.Ä. (Nat. Hist. 36 und 64) in Aufnahme hellenistischer Quellen ersichtlich: Zeuxis, der den Auftrag erhalten hat, ein Bild der Hera Lakinia für den Heratempel in Kroton oder Agrigent auszuführen, wählt die fünf schönsten Jungfrauen der Stadt aus, die jeweils einen ausgesuchten körperlichen Vorzug besaßen und kombiniert aus diesen Vorbildern eine Figur höchster Schönheit.

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‚genau richtig‘. So erscheint die Synthese der Supermodels weniger zum Ergebnis einer extremen, überwältigenden Schönheit zu führen, als zum Bild ausgeglichener, abgewogener Schönheit ohne Fehler, ohne auffällige Besonderheiten. Nun soll hier im Vordergrund stehen, wie die Gliederung eines Körpers beschaffen ist, in welchem Verhältnis die Teile zueinander und zum Ganzen des Körpers stehen und schließlich wie das Verhältnis zu anderen Körpern beschaffen ist, um die anschauliche Operation der Rekombination zu ermöglichen. Ergebnis der Montage ist ein gegliedertes Ganzes aus definierten, stabilen Elementen (im Beispiel der Illustration aus der Zeitschrift Arena anschaulich und diskursiv bezeichnet – wenn auch die Grenzen im Anschaulichen nicht immer besonders evident scheinen, da sie durch die Integration überspielt werden). Diese Elemente sind herauslösbar, durch analog gesetzte Elemente anderer Körper ersetzbar (ein anderer Fuß, eine andere Frisur könnte in die bestehende Kombination einrücken). Offenbar nicht zur Disposition steht das (allerdings nicht näher bestimmte) Raster der Gliederung dieses Körpers. Aber es gilt: die Vergleichskörper müssen nach demselben Schema aufgegliedert sein, denn die Funktionen der Elemente werden an ihrem von der Gliederung definierten Ort akut (hier vor allem in Hinsicht auf ihren ästhetischen Wert). Ist dieser Körper damit zu charakterisieren, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft (§ 65 B291) schreibt, dass seine Elemente „sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form“ sind? Eine solchermaßen zweckhaft ausgerichtete Organisation des Körpers kommt sicher einer holistisch konzipierten Fügung, in der sich die Elemente gegenseitig individuieren und identifizieren, näher als der genannten Gliederung. Wenn auch die Elemente miteinander interagieren, scheint diese Interaktion nach einem festen Muster abzulaufen, das die Form der Elemente oder die ihnen zugeschriebenen Funktionen nicht beeinträchtigt oder verändert. Die Merkmale der Elemente müssen deswegen intrinsischer Natur sein und dürfen nicht von anderen Elementen der Gliederung abhängen – man geht in diesem konkreten Fall also davon aus, dass in der neuen Zusammensetzung die Beine von Supermodel A nicht etwa als

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Teil des Bewegungsapparates die Arme von Supermodel B betreffen, und zu einer Anpassung zwingen müssten, oder umgekehrt von diesen beeinflusst würden, sondern dass die Elemente der Collage stabil, funktionsfähig und kompatibel blieben. Die Gliederung ist stabil, die Qualitäten der Elemente sind intrinsisch bestimmt und bewegen sich in der Interaktionen mit anderen in einer bestimmten und begrenzten Bandbreite, die Teil und Ganzes intakt hält. In einer gewissen Hinsicht ist dieser Körper nach dem Vorbild des Organismus gebildet, wenn darunter ein Zusammenhang aus Organen (im Sinne der Etymologie: von Werkzeugen) verstanden wird, welche, wie nach der einfachen medizinischen Definition als Körperteile mit einheitlicher Funktion (etwa innere Organe, wie Herz, Leber, oder Sinnesorgane, wie Auge, Ohr) gelten. Nun ist das Konzept des Organismus, das hier angeführt wurde, sicher ein wenig anachronistisch, denn dieser Organismus ist wie ein Mechanismus austauschbarer Elemente gedacht. Das ist etwa der Körpermechanismus, den sich Descartes im ‚Traité de l’homme‘ vorstellte, eine mechanistische Gliederpuppe. Es ist hier einem äußeren und ersten Beweger, einem Transzendenten vorbehalten, den Apparat in die Lage zu versetzen, seine Funktionen auszuüben177. Die systematische Anatomie aber geht seit langem weiter, sie konstatiert, beginnend mit der frühen Entdeckung des Blutkreislaufes durch Harvey178 (noch im 17. Jahrhundert) im 18. und 19. Jahrhundert komplizierteste Funktionszusammenhänge, die verschiedene Organe zu einander überlagernden und sich durchdringenden Systemen verbinden, wie das Nervensystem, das Immunsystem, das Hormonsystem... Es sind diese übergreifenden Systeme, die noch der modernen zeitgenössischen Medizin den Austausch (die Transplantation) einzelner Organe erschweren, welche wohl ihre Haupt-Funktion für eine Zeit wieder aufnehmen mögen, aber nicht so ohne weiteres in das Immun-

177

Mir ist bewusst, dass diese Charakterisierung eher einem immer weiter verbreiteten Klischee Descartes entspricht, als dessen durchaus komplexer Konzeption. Sie mag jedoch trotz ihrer historischen Ungenauigkeit als Denkmuster oder Kontrastmittel tauglich sein.

178

Auch dieser ist jedoch noch mechanistisch orientiert, sein Blutkreislauf ist vor allem eine Hydraulik.

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system, den Stoffwechsel oder das Nervensystem des neuen Organismus zu integrieren sind. Die heutige Medizin also hat Probleme, wenn sie dem Konzept der Zergliederung und Rekombination als intrinsisch bestimmter Elemente folgt179. Die Austauschbarkeit, die scheinbar unbeschränkte Rekombinationsmöglichkeit, die durch die Collage suggeriert wird, hat eine starke Ähnlichkeit oder Annäherung der unterschiedlichen Körper zur Voraussetzung. Der Proportion, der Dimension oder gar der Zusammensetzung nach radikal unterschiedliche Körper sperren sich gegen diese Form des Tauschs und der Rekombination. Solche Körper würden in der Zerlegung und Rekombination untereinander das Gerüst der Gliederung ändern. Körper müssen also der Struktur ihrer Zusammensetzung und internen Interaktionsmodi nach stabil sein und diese Struktur mit anderen Körpern teilen: Selbstidentität und Allgemeinheit.

179

Vgl. Nancy, Jean-Luc, Der Eindringling, Das fremde Herz, Berlin 2000. Nancy berichtet, wie ihm das eigene Herz erst in seiner Dysfunktion (Rhythmusstörungen) als gesondertes Organ bewusst und damit auch fremd wurde. Nach der Transplantation eines neuen Herzens empfindet sich Nancy als zugleich jünger (das junge, funktionierende Spenderherz) und älter als zuvor (die Folgen der Operation und der Nebenwirkungen durch die Medikation). Um die Funktion als Blutpumpe ausführen zu können, muss das Herz vor den Immunreaktionen des restlichen Körpers (und vice versa) bewahrt werden, das heißt, diese müssen unterdrückt werden, was zu einer (beiden gemeinsamen) Empfindlichkeit gegenüber Infektionen führt, die wiederum mit Medikamenten und anderen Maßnahmen bekämpft und verhindert werden müssen. Schließlich bildet sich ein Krebs, der es nötig macht, mit ihm das eigene Abwehrsystem vollständig zu vernichten (Strahlen- und Chemotherapie), welches zuvor durch Entnahme des eigenen Rückenmarkes (blutbildende Zellen) bewahrt und nach der Therapie wieder implementiert wird (Autotransplantation). Nancy reflektiert in Erfahrung dieser Vorgänge der Abspaltung, des Eindringens, Ersetzens, der Dissoziation die Begriffe der Fremdheit, des Eindringlings, der Integrität des Ich und des Körpers.

119

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Betrachten wir noch einmal ein anderes Körperkonzept und sodann den Beginn einer Problematisierung des Körpers nach seiner Zusammensetzung aus Elementen unterschiedlicher Funktionen. Zu einer Zeit, in der der menschliche Körper mit Bezug auf den göttlichen Körper problematisiert wird, malt sich Augustinus die Umwandlung vom unvollkommenen, vergänglichen, irdischen Körper zum vollkommenen jenseitigen Körper nach dem Muster des Körpers Christi aus180: „All das, was wir hier nach unserem bescheidenen Vermögen betrachtet und dargelegt haben, führt zu dem Ergebnis, dass bei der Auferstehung des Fleisches zum ewigen Leben die Körpergröße so bemessen sein wird, wie es der dem Leibe eines jeden eingepflanzte Idee vollendeter oder zu vollendender Jugendkraft entspricht, wobei die Glieder in schicklichem Verhältnis zueinander stehen werden. Dies angemessene Verhältnis zu wahren, mag bisweilen der ungefügen Größe eines Gliedes etwas abgenommen werden, um es auf das Ganze zu verteilen, so dass nichts verlorengeht und das rechte Gleichmaß der Teile hergestellt wird.“

Die Vollkommenheit des Körpers artikuliert sich bei Augustinus als Wohlproportioniertheit seiner sichtbaren Elemente. Um den Übergang ohne Verluste zu gewährleisten, wird einem Teil des Körpers etwas genommen, damit es einem anderen zugefügt werde, wie bei einer Tonplastik, bis er schließlich in vollkommener Proportion erscheint. Das Maß der Vollkommenheit richtet sich als eine Art ästhetischer Maßstab allein an den äußerlich sichtbaren Körper, noch nicht den inneren und auch nicht an die Funktionen der Körperteile. Mit der Wiederaufnahme des antiken anatomischen Wissens vor allem Galens im 12. bis 16. Jahrhundert jedoch wird auch der innere Körper sichtbar und zur Diskussion gestellt. Galen hat mit Rekurs auf Lysipp und Polyklett das Prinzip der Wohlproportioniertheit im Be-

180

Augustinus, Vom Gottesstaat, Buch 11 bis 22, München 1978, 22. Buch, Kapitel 20, S. 799; Vgl. Augustinus, Confessiones, 4. Buch, 13. Kapitel und 13. Buch, 28. Kapitel. In den Confessiones spricht Augustinus auch über von ihm verfasste, den Körper betreffende ästhetische Schriften, die aus der Zeit vor seiner Bekehrung stammen, aber meines Wissens nicht überliefert sind.

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griff der Symmetrie (auch Augustinus ist diesem antiken Konzept verpflichtet) bereits sowohl ästhetisch als auch medizinisch definiert: „Im Körper {...} unterschied er (Lysipp) deutlich, dass die Gesundheit auf der Symmetrie der Elemente, die Schönheit auf der Symmetrie der Glieder beruhe. Das hat er augenscheinlich dargelegt in der soeben von mir zitierten Rede, wo er sagt, dass die körperliche Gesundheit die Symmetrie von warm und kalt, von trocken und feucht, also der Elemente des Körpers sei. Die Schönheit dagegen liege nicht in der Symmetrie der Elemente, sondern der Glieder, nämlich eines Fingers zum anderen, aller Finger zur Mittelhand und zur Handwurzel, dieser aller zur Elle, der Elle zum Arm und aller Teile zu allen, wie es im Kanon des 181

Polyklett geschrieben steht.“

Die medizinische Sorge gilt hier noch nicht inneren Körperteilen, die im modernen Sinne Organe wären, sondern einem ausgeglichenen Verhältnis der Elemente im Rahmen der antiken Elementenlehre. Nach der Analyse Michael Sonntags hat dieses frühe anatomische Wissen gegen allen Anschein noch sehr wenig mit der modernen Medizin zu tun. Sonntag verortet die Anatomie des 16. Jahrhunderts wissenschaftsgeschichtlich in einem ‚intermundium‘ am Ende der in Foucaultschen Termini ausgemalten Episteme, in der sich das Wissen in einem ausgedehnten System von Ähnlichkeiten ordnet und in dem die Dinge offen ihre Signaturen tragen, die auf die Sympathie von Mikround Makrokosmos verweisen182. Noch in Vesals ‚fabrica‘ ist diese Anatomie nach Sonntag rein zergliedernd. Der Körper wird in seine Elemente zerlegt, der Lage dieser Elemente nach studiert, aber nicht (etwa nach Maßgabe unterschiedlicher Funktionen: Mechanik, Motorik, Stoffwechsel...) wieder zusammengesetzt. Eine Art vorausgesetzter Einheit bezieht der menschliche Körper allein aus der göttlichen Ordnung, in der er als ein parvus mundus, eine kleine Welt, auf den Makrokosmos deutet. Von einem Zusammenhang seiner Elemente nach Maßgabe von deren Funktionen

181

De plac. Hipp.et Plat., Diels Fragment A 3, angeführt nach Steuben, H. von, Der Kanon des Polyklet. Doryphoros und Amazone, Tübingen 1973, S. 71.

182

Sonntag, Michael, Die Zerlegung des Mikrokosmos, in: Kamper, Dietmar, Wulf, Christian, Transfigurationen des Körpers, Berlin 1989, S. 71.

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kann noch keine Rede sein. Der Anatom tut im Grunde nichts anderes, als den göttlichen Bauplan (die fabrica) des Körpers zu demonstrieren, indem er ihn auseinanderlegt. Etwas anders ist es, wiederum nach Sonntag, bereits mit den Illustrationen der ‚fabrica‘ bestellt. Hier bewahrt der Illustrator auch bei Öffnung des Körpers den Zusammenhang der menschlichen Figur in einer möglichen lebendigen Haltung und stellt diesen als selbstbewusste Renaissancefigur in eine von Menschen kultivierte Landschaft. Es ist aber einzuwenden, dass der Zusammenhang äußerlich, und in diesem Fall durch die Perspektive und die lebensweltliche Kontextualisierung hergestellt ist. In der Kunst weisen Leonardos und Michelangelos anatomische Studien darauf hin, dass vor allem die Erscheinungsweise des Körpers (topo-/morphologische Anatomie, d.h. Studium von Proportion und Bewegungsmöglichkeiten, bzw. Erscheinung von Knochen und Muskulatur bewegter Glieder in perspektivischer Darstellung) das Interesse besetzten. So wie in der Medizin die frühe Anatomie aufgrund gewisser äußerer Ähnlichkeiten mit späteren Unterscheidungen und Illustrationen häufig für moderner gehalten worden sein mag als sie war, tendierte auch die humanistisch orientierte Kunstgeschichtsschreibung dazu, den Entwurf selbstbestimmter moderner Menschlichkeit auf die Darstellungen der Renaissance zu projizieren. Die Elemente des Körpers nach ihren Funktionen zu untersuchen und zu unterscheiden wird der darauf folgende Weg der Medizin sein, den Zusammenhang untereinander und schließlich auch des ganzen Körpers zu bestimmen. Zunächst stellt man sich diese Funktionen vor allem mechanisch vor und schließlich wird sich eine Physiologie entwickeln, die neben den Einzelfunktionen auch Funktionszusammenhänge und -kreise aufweist und der Differenzierung der Naturphilosophie in Physik, Chemie und Biologie parallel geht. Der Körper selbst hat sich im Laufe der Geschichte allmählich aus seinem Bezug zur göttlichen Instanz gelöst und zunächst als mechanischer, maschinenähnlicher und schließlich als biologisch konzipierter Körper neue Bezugssysteme gefunden. Dieser Körper erweist sich dabei zunehmend nicht nur als Analyseobjekt, er erscheint als Funktionszusammenhang auch der Reparatur zugänglich, er wird verbessert, durch Prothesen wiederhergestellt und soll schließlich im Zuge der

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Gentechnologie gar dem Programm nach optimiert werden – eine historische Bewegung, die sicher zu recht auch als eine Säkularisierung der christlichen Heilserwartung des jenseitigen Körpers verstanden werden kann. Es muss hier jedoch noch auf eine Form der vergleichenden Differenzierung der Körper und ihrer daraus folgenden Klassifizierung die Rede kommen, um die Art, wie Körper heute als rekombinierbar erachtet werden, besser zu verstehen. Bereits die Verfasstheit der frühen neuzeitlichen und später auch die der mechanistischen Konzeption des Körpers als einer Gliederpuppe, zusammengesetzt aus diskreten Elementen, deren Funktionen schon zur Debatte stehen und die einander Bewegung mitteilen können, wie Teile einer Maschine, enthält die Möglichkeit vergleichender Anatomie. Die Analyse segregierter Elemente, ihres Funktionierens und Zusammenspiels eröffnet dann jedoch erst im Zusammenhang mit der Darwinschen Evolutionslehre denjenigen Vergleich, der über die Auseinanderlegung von Analogien und Homologien das Netz der Verwandtschaften unter den Gattungen und Arten entfaltet. Nun ist es nicht mehr das System der Ähnlichkeiten, die den Lebewesen ihre Signatur und ihren Platz im Ganzen gibt, und auch nicht ihr Funktionieren nach den gleichen, die res extensam betreffenden, mechanistischen Prinzipien (wie im 17. Jahrhundert formuliert würde), sondern ihre Entwicklungsgeschichte. Dass sich unter den Exemplaren einer Art die Gliederung und die Organe ihrer Funktion nach gleichen, unterschiedliche Arten oder gar Gattungen jedoch selbst bei weitgehender Homologie ganz anders ‚funktionieren‘ und, umgekehrt, ähnliche Funktionen nicht von homologen Elementen ausgeführt werden müssen, resultiert aus der modernen vergleichenden Anatomie183.

183

Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht interessant, dass die immer noch weitgehend verbindliche Linnésche Taxonomie der Arten in binärer lateinischer Nomenklatura (Carl von Linné, Systema naturae, 1735) von modernen Biologen heutzutage kritisiert wird, weil sie sich bei der Qualifikation der Verwandtschaften offensichtlich noch zu sehr nach dem Kriterium der Ähnlichkeit richtete. Neuere Untersuchungen, die Verwandtschaftsverhältnisse etwa genetisch analysieren, erweisen häu-

123

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Die fiktive Annäherung von Menschen und anderen Lebewesen ignoriert diese Unterscheidung seit jeher und auch heutige ComicFiguren arbeiten notorisch mit der Überspielung der Unterscheidung wenn sie im Dienste der Annäherung eine Analogie für eine Homologie nehmen und umgekehrt, um die Welt der Menschen und Tiere in ein (in der Regel human codiertes) Reich zu verwandeln. Und wenn wir hier nun den Vergleich der Zergliederung und Rekombination des Frauenkörpers der angeführten Illustration mit der Gliederung eines Körpers, konzipiert als mechanistischem Organismus aufnehmen und hinsichtlich der Unterscheidung nach Homologie und Analogie befragen, so muss gesagt werden, dass all die ins Spiel der Rekombination investierten Elemente gewissermaßen als zugleich homolog und analog begriffen werden. Sie stehen an derselben systematischen Stelle im Ganzen der Struktur und sie funktionieren im Rahmen der gleichen begrenzten funktionalen Spannweite. Der Individualität eines Elementes kann und wird genau so weit Rechnung getragen, wie es im Rahmen der Allgemeinheit des Typs auftreten kann. Nun wäre all dies für im strikten Sinn anatomisch definierbare Körperelemente nicht so verwunderlich (wohlgemerkt gilt das auf der Ebene der Taxonomie, beinhaltet aber nicht automatisch die freie Rekombinierbarkeit im medizinischen Sinne). Interessant ist aber, dass hier auch Merkmale, die anderen Kategorien zuzuordnen sind (Kulturtechniken, individuelle Eigenheiten), diesem Regime untergeordnet werden. Es bedeutet schlicht, dass auch diese im begrenzten, kompatiblen, austauschbaren Rahmen bleiben müssen. Zurück zur Geschichte: Die Kunst hat seit dem 16. Jahrhundert eine wichtige Hilfestellung bei der Darlegung und Analyse des Körpers als einer wohlgeordneten organischen Ganzheit geleistet. Sie hat die Einheit seiner Funktionen in Illustrationen von ganzheitlichen Körpern überzeugend mitgestaltet. Es ist jedoch auch auffällig, dass spätestens

fig, dass morphologisch und funktional sehr ähnliche Lebewesen entwicklungsgeschichtlich weit auseinanderliegen (hier spricht man in der modernen Phylogenetik von ‚Konvergenz‘), so dass die Linnésche baumdiagrammatische Unterscheidungs- und auch Bezeichnungsstruktur problematisch wird. (Vgl. etwa Wiley, E. O., Phylogenetics; the theory and practice of phylogenetic systematics. New York 1981.)

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im frühen 19. Jahrhundert ein breiterer Riss durch diese Kollaboration geht. Der zerteilenden, analytischen, an Einzel- und Mikrofunktionen interessierten und damit den Lebenszusammenhang auch zersetzenden und zerstörenden Tätigkeit der Anatomen steht noch zur Goethezeit die ästhetische Forderung der Künstler nach Wahrung des Körperzusammenhangs entgegen. Auch die Anatomiemodelle, die ja den Körper aufschlüsseln, sollen danach möglichst lebendig, integriert wirken. Bald jedoch hat in den Künsten, angefangen wohl in der Literatur, die analytisch-sezierende Tätigkeit der Erforscher des menschlichen Körpers auch eine ästhetische Vorbildfunktion bekommen. Die ‚Unerschrockenheit ihrer zerteilenden Neugier‘, der ‚messerscharfe Blick‘ werden etwa zum Ideal einer gesellschaftsanalytischen literarischen Strömung184. Und mit dem beginnenden 20. Jahrhundert hat die historische Analyse, die den wohlintegrierten, ganzheitlichen Körper lange als Heimstätte des selbstbestimmten Individuums feierte, langsam wahrgenommen, dass nicht allein die analytische Zerteilung, sondern auch die Herstellung des ganzheitlichen Körpers auf schmerzhaften und disziplinierenden Maßnahmen beruht, dass also der Körper wohlintegrierter, stets im Rahmen der Allgemeinheit verbleibender Funktionen Produkt einer Zurichtung, einer Normalisierung ist. Die anschauliche Evidenz des Körpers als stabile Einheit wird mehr und mehr als bloßer Oberflächeneffekt verstanden. Florian Rötzer hat, Diderot anführend, dargelegt, wie „{...} der Körper der Erfahrung {...}“ gegenüber der braven Gleichförmigkeit des sogenannten natürlichen Körpers „{...} sich in Intensitätsverdichtungen und Kraftkontraktionen zeigt, die unaufhörlich wechseln und in immer andere Koalitionen und Oppositionen eingehen: {...}“. Er schildert, wie die Kunst ihm mit Goya das Schlachtfeld bereitet, wie sie ihn später in kubistische Partikel zersprengt und den „Verheerungen der futuristischen Bewegung“ ausgesetzt hat185.

184

Vgl. Steinhäuser, Monika, ‚Die Anatomie Selbdritt‘ – Das Bild des zergliederten Körpers zwischen Wissenschaft und Kunst, in: MüllerTamm, Pia; Sykora, Katharina (Hg.), Puppen, Körper, Automaten – Phantasmen der Moderne, S.106-124, besonders 111-116.

185

Rötzer, Florian, Kopie und Spiegel, in: Kamper, Dietmar; Wulf, Christof (Hg.), Transfigurationen des Körpers, Berlin 1989. S. 207 (Zitat)

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Man kann parallel dazu konstatieren, wie die historisch abgelaufenen ästhetischen und wissenschaftlichen Fügungen des Körpers später gewissermaßen als Grotesken aus den Museen und Wunderkammern in die Jahrmarktsbuden wanderten oder etwa in veränderter Form die Kleider- und Schaufensterpuppen beeinflussten. Die Surrealisten haben das sehr wohl bemerkt, wenn sie die so profanen wie erotisch aufgeladenen Schaufensterpuppen in Verbindung mit den akademischen Anatomiestudien der Klassizisten gebracht haben. Die Bedeutung der vielen fragmentarisierten Körper vor allem in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist vielfach in Hinsicht auf die Frage der Gewalt diskutiert worden. Bedeuten Bilder von zerteilten Körpern auch immer eine Gewaltandrohung für die Körper aus Fleisch und Blut, oder wird hier eher der Bildkörper (oder eine Darstellungsform) attackiert und bearbeitet – so könnte man in aller Kürze zusammenfassen. Vielleicht wurde die Annahme, dass Bilder von fragmentarisierten Körpern in erster Linie als ästhetische Initiativen zu untersuchen sind, allmählich von eben jener Erkenntnis erleichtert, dass auch die Bilder von ‚ganzen‘ oder ‚natürlichen‘ Körpern neben ihrer vorgeblichen Abbildfunktion vor allem Instrumente zur Durchsetzung bestimmter Körperkonzepte sind und dass sie gegen allen Anschein der Unversehrtheit des Signifikats im Kontext von körperpolitischen Maßnahmen wirksam werden, die Gewalt, Abspaltung und Verdrängung notwendig implizieren.186 Trotz aller Operationen der Fragmentarisierung, Verletzung und Desintegration, die auch die Körperkunst der 90er Jahre ausmachen – scheint mir eine der wesentlichen Aufmerksamkeiten dieser Arbeiten auf Fragen der Repräsentation der Körper in außerkünstlerischen Körperbildern zu liegen, die den ganzheitlichen, natürlichen Körper feiern und propagieren. Deren Strategien und Wirkungen werden untersucht,

und 209. Vgl. S. 213, Fußnote 5: Diderot, Erzählungen und Gespräche, Frankfurt am Main, 1981, S. 389 und 390. 186

Ausführlich diskutiert hat diese Frage Sigrid Schade in ‚Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘‘ -in: Zimmermann, Anja (HG.), Kunstgeschichte und Gender, Berlin 2006, S. 159-180. Vergleiche auch den diese Diskussion einleitenden Beitrag Silke Wenks: Repräsentation in Theorie und Kritik: Zur Kontroverse um den Mythos des ganzen Körpers, S. 99114.

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indem sie kritisch-dekonstruktiv bearbeitet werden. Und so kommt es, dass wir mit einer Fülle von Körperbildern konfrontiert werden, die wir aus Werbung und Unterhaltung kennen. Man kann wohl zeigen – und dazu diente dieses Kapitel -, dass die anschauliche Operation der Zerteilung und Rekombination von Körpern, wie sie in der Werbung (oder hier der entsprechenden Illustration einer Frauenzeitschrift) praktiziert wird, selbst dann, wenn sie ausdrücklich im propagandistischen Horizont der Gen- und Biotechnologie, der plastischen Chirurgie oder anderer moderner Verfahren der Körperoptimierung steht, wenig mit deren wissenschaftlichen Grundlagen oder Techniken zu tun haben muss. Diese Bildoperationen ruhen auf Prämissen, die eher auf die Vorstellungen eines mechanistischen Körperorganismus zurückgehen, als auf die Konzepte zeitgenössischer Medizin oder gar die informationstheoretischen Versuche der Entschlüsselung oder Programmierung des genetischen Codes. Dass sie gleichwohl für derartige Propagandazwecke genutzt werden, hat wohl auch eher damit zu tun, dass sie dazu taugen, die Körper der Adressaten anzusprechen, indem sie sie in den Strudel der vorgestellten Optimierung qua Rekombination ziehen können: denn wenn, wie hier impliziert ist, alle Körper sich soweit gleichen, dass sie derart verbessert werden können, gibt es auch keinen Grund sich mit seinem Körper diesen drängenden Verbesserungsimperativen zu entziehen.

6.3. D IE AUSSTELLUNG Die Exposition eines in Vorderansicht vollständig gegebenen Körpers vor einem weitgehend neutralen, kaum differenzierten oder gar rein weißen Hintergrund ist Anlass, über einige Aspekte dieser Ausstellung nachzudenken. Das Exzentrische der Fügung, die uns ja zugleich sehr geläufig ist, mag deutlich werden, wenn man sich klar macht, dass ein solcher Körper wohl plastisch ausgeführt ist (nach den Maßgaben, die die neuzeitliche Darstellungstradition vorgibt: einheitliche Beleuchtung, plastische Abschattung, runde Körper), aber dabei nicht mehr in einem nach denselben Maßgaben gebildeten Raum steht, sondern gewissermaßen flottiert, in einem unbestimmten Milieu schwebt.

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Der Körper ist isoliert. Das bedeutet zunächst zweierlei, sich bis zu einem gewissen Grad scheinbar Widersprechendes: Er wird einerseits zum Objekt, dem Blick dargeboten in seiner Ganzheit wie in seinen Elementen. Dieses Objekt ist verfügbar, bekommt einen zeichenhaften Charakter, kann flottieren, kann überall in Dienst genommen werden, denn es ist weder an einen spezifischen Ort gebunden, noch auch in einem festgelegtem Verhältnis zum Betrachterstandpunkt dargelegt (dieser ‚Augenpunkt‘ ist mit der Aufgabe des Zusammenhanges von Körper und fluchtendem Raum, der in der zentralperspektivischen Darstellung gewährt ist, suspendiert). Ihm ist dabei mit der Unabhängigkeit von Kontext, spezifischem Betrachter und festem Ort zugleich eine gewisse Selbstgenügsamkeit eigen. Vielleicht ist der Widerspruch, ist dieses Sowohl-als-auch in seinem besonderen Verhältnis zum Hintergrund beschlossen, einem Verhältnis das unserer jüngeren visuellen Kultur eigen ist. Der Hintergrund ist Entzug all dessen, mit dem der Körper sonst in Kontakt kommt (und zugleich was den Betrachter von der Betrachtung allein des Körpers abhalten könnte). In dieser Hinsicht ist er leer, ist nicht bestimmt. Aber der Hintergrund ist auch der Raum, den der Körper beansprucht, er muss daher eine gewisse Ausdehnung haben, ein Territorium ausmachen, das die anderen Dinge in der Ferne hält. Ich möchte hier an Stelle einer Untersuchung, die der Ausstellungsweise des menschlichen Körpers historisch folgt (in der Kunst, Medizin, den wissenschaftlichen Illustrationen usw.) ein anderes, schlichteres Verfahren wählen, um zu versuchen, den skizzierten Charakteristika näher zu kommen. Zwei jüngere Traditionslinien, die sich schneiden und bis zu einem gewissen Grad bestärken und austauschen, sollen hier verfolgt werden. Da ist zuerst die Weise, wie im Museum verschiedenste Gegenstände wissenschaftlichen Interesses dem Blick dargeboten werden, und da ist die Weise, in der die moderne Kunst ihre Werke ausgestellt hat und – häufig – auch noch ausstellt. Was die Kunst auch für die Naturbeobachtung getan hat – um das Verbindende beider Bereiche anzudeuten -, hat vielleicht zuerst Svetlana Alpers in ,Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17.

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Jhs.‘ dargelegt187. Diese Studie ist interessant, weil sie mit der Kunst auch andere Bereiche streift: die Naturbeobachtung, sofern sie sich über die Zurichtung des Objektes zu Anschauungszwecken Gedanken macht oder sich der Illustration bedient, die veranschaulichende Pädagogik, die Bilderbücher herstellt und schließlich die Optik, die das menschliche Auge als Aufzeichnungsort einer Projektion konzipiert. Um die für unsere Belange wichtigen Aspekte des Besonderen des Ausstellungswesens moderner Kunst zu bezeichnen, halte ich mich an die ersten Passagen des bekannten Texts Brian O’Dohertys: ,Inside the White Cube: Notes on the Gallery Space‘188. 6.3.1. Alpers – Objekte visuellen Interesses. Es soll hier zunächst von einem anderen, jüngeren Text Svetlana Alpers ausgegangen werden, in dem sie selbst über die moderne, zeitgenössische Art spricht, in der im Museum Dinge ausgestellt werden189. Unsere Museen haben demnach die Eigenheit, jedwedes Objekt, das sie präsentieren, zu einem Anschauungsobjekt zu machen, sie dem Augensinn zuzubereiten. In diesem jüngeren Text finden wir ungeachtet des enormen historischen Abstandes eine gewisse Synthese oder Verschleifung von Aspekten ihrer früheren Studie über die holländische Kunst des 17. Jahrhunderts mit Thesen, die auch bei O’Doherty formuliert werden. Alpers berichtet eingangs in ihrem Aufsatz, der einer Anthologie angehört, welche über die Repräsentation von Kulturen im Museum reflektiert, von einem Museumsbesuch ihrer Kindheit. Danach erinnert sie sich noch heute an eine riesige Krabbe in einer naturkundlichen Sammlung, deren ungewöhnliche Gestalt, zusammengesetzt aus skurrilen und auch etwas unheimlich anmutenden Elementen sie beindruckt hatte, so sehr, dass sie noch viele Jahre später alle Details aufrufen kann. Wodurch, so fragt sie sich weiter, war

187

Alpers, Svetlana, Kunst als Beschreibung, Holländische Malerei des 17.

188

O’Doherty, Brian, Inside the White Cube: Notes on the Gallery Space,

Jahrhunderts, Köln 1985 (Chicago 1983). in drei Teilen: Part I, Artforum, März 1976, S. 24-31; Part II, Artforum April 1976, S. 26-33; Part III, Artforum Nov. 1976, S. 38-44. 189

Alpers, Svetlana, The Museum as a Way of Seeing, in: Exhibiting Cultures – The Poetics and Politics of Museum Display, Ed. Karp, Ivan; Lavine, Steven D., Washington, London 1990, S. 25-32.

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die genaue Betrachtung dieser Krabbe möglich? Und sie antwortet: die Krabbe war unbeweglich, ausgestellt für den Blick und tot. Ihre Umgebung und ihre Gewohnheiten des Aufenthaltes, der Nahrungsaufnahme und der Fortbewegung waren nicht repräsentiert190. So kann man die Krabbe beschreiben, kann sie ansehen, wie ein Artefakt und, in diesem Sinne, gar wie ein Kunstwerk. Das Museum hat die Krabbe transformiert, hat – durch die Isolation – diese Aspekte hervorgehoben: „The museum had made it an object of visual interest.“191. Alpers hält die Kraft des Museums, Sichtobjekte herzustellen, für eine Eigenschaft unserer Kultur. Sie verortet deren Anfänge in der Renaissance, sieht dort jedoch die Kunst noch vorrangig im Dienst des Rituals befangen192. Um das Beispiel mit der Krabbe, welches der Le-

190

„I could attend to a crab in that way because it was still, exposed to view, dead. Its habit and its habits of rest, eating, and moving were absent.{...} I am describing looking at it as an artifact and in that sense like a work of art.“ Alpers, Svetlana, The Museum as a Way of Seeing, in: Exhibiting Cultures – The Poetics and Politics of Museum Display, Ed. Karp, Ivan; Lavine, Steven D., Washington, London 1990, S. 25.

191

Alpers, Svetlana, The Museum as a Way of Seeing, in: Exhibiting Cultures – The Poetics and Politics of Museum Display, Ed. Karp, Ivan; Lavine, Steven D., Washington, London 1990, S. 25.

192

Und natürlich erinnert diese Bemerkung an Walter Benjamins Unterscheidung vom Kultwert, der dem Kunstwerk lange eigen gewesen sei und seine Funktion dominierte, bis – im Zuge der Reproduktionsmedien – sein Ausstellungswert mehr und mehr hervortrat. Benjamin ist dabei der Überzeugung, dass der Ausstellungswert nicht so sehr der rein künstlerischen Funktion des Werkes zu Gute komme, diese also allein von der Religion emanzipiere, wie es zunächst erscheinen mag, sondern dass der Ausstellungswert der Kunst eine ganz andere, nämlich ihre politische Funktion und Rolle hervor treibe. (Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduktion, Erste Fassung und Zweite Fassung, in: ders. Gesammelte Schriften, Werkausgabe Frankfurt 1980, Band I2, Vgl. Erste Fassung: S.442, Zweite Fassung: S. 482, 483 und S. 484). Die Charakteristika oder der historische Einschnitt, welche(r) Objekte zu reinen Anschauungsgegenständen mach(t)en, wird von Museologen durchaus unterschiedlich eingeschätzt. Für Krzystof Pomian (Der Ursprung des Museums – Vom Sammeln, Berlin 1993, zuerst Paris 1986, 1987 u. 1988) etwa gibt es

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ser als zu exzentrisch und wenig repräsentativ einschätzen möge, zu stützen, schildert Alpers die Kraft des Museums, alles in Objekte der Betrachtung zu transformieren, desweiteren anhand einer griechischen Statue. Auch diese war mitnichten immer im modernen Sinne ein Kunstwerk. Die Statue, demonstriert Alpers, wurde zunächst aus einem Heiligtum oder einem Stadium entfernt, um schließlich, ganz bleich geworden durch den Verlust der ursprünglichen, bunten Bemalung, im Rahmen unserer Museumskultur zum Kunstgegenstand, zum Gegenstand der Betrachtung zu werden193. Und in der Folge des Aufsatzes zeigt Alpers wiederholt, wie das Museum einen jeglichen Gegenstand von Möbeln über Kleider bis zu Arbeitsgeräten zu Gegenständen visuellen Interesses macht, und noch viel mehr ist sie der Meinung, dass dies auch die Hauptfunktion des Museums sei und dass heute eine jede Überlegung über Museumsaus-

durchaus keinen Widerspruch zwischen der Aufbewahrung von Gegenständen in Tempeln zu rituellen Zwecken und ihrer Zurichtung für die Anschauung. Wesentlich erscheint ihm, dass Objekte aus dem profanen ökonomischen Zusammenhang herausgenommen werden und – sei es auch im religiös/rituellen Zusammenhang – zu Bedeutungsträgern, in seinen Worten ,Semiophoren‘, für entrückte, unsichtbare Realitäten werden. Nach Pomian führt gerade ihre Funktion, die profane Wirklichkeit zu transzendieren zu ihrer Betrachtung. Hier gibt es keinen Bruch, keinen historischen Einschnitt zwischen der rituellen Bedeutung und dem Ausstellungswert eines Objektes. Und folgerichtig qualifiziert sich für Pomian auch das moderne Kunstwerk selbstverständlich durch seine Potenz etwas zu bedeuten, und da heißt, Unsichtbares, Abwesendes zu repräsentieren. 193

Vgl. Alpers, Svetlana, The Museum as a Way of Seeing, in: Exhibiting Cultures – The Poetics and Politics of Museum Display, Ed. Karp, Ivan; Lavine, Steven D., Washington, London 1990, S. 26. Mit dem Verlust ihrer Bemalung entfernt sich – so könnte man die Alpersche Beschreibung zur Metapher ausspinnen – die Statue von ihrem vormaligen rituellen Kontext, vielleicht gar vom ‚bunten Leben‘, erscheint, abstrakter, unverbundener, klassischer und genügt sich schließlich als Ausstellungsstück selbst.

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stellungen daher von dieser Kraft, Sichtobjekte zu schaffen, ausgehen müsse194. Doch nun zur Studie, die die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts betrifft, deren Hauptfunktion mit dem Begriff der ‚Beschreibung‘ belegt (Kunst als Beschreibung) und sie dabei mit anderen gesellschaftlichen Sphären, vor allem mit dem zunehmenden Interesse an Naturbeobachtung und -beschreibung, in Beziehung setzt. Alpers bezieht die Eigenheiten der niederländischen Malerei, die sie gegen die italienische, als die klassische und die Kunstgeschichtsschreibung lange Zeit formende Kunst kontrastierend herausstellt, auch explizierend auf die Prinzipien und die Praxis der englischen experimentellen Naturphilosophie des selben Jahrhunderts. Die für unsere spezifische Frage nach der Ausstellung wichtigste These Alpers lautet: Die holländische Malerei richtet sich an den Augensinn vor allem als einen betrachtenden, beobachtenden Sinn. Wie Alpers mithilfe einer Bemerkung des englischen Klassizisten Sir Joshua Reynolds ausführt, verfahre diese Kunst kaum allegorisierend, sie operiere nicht symbolisch, sei nicht narrativ im Sinne der italienischen Malerei195. Die niederländische Malerei von Landschaften, ländlichen

194

Kulturell informativ seien Ausstellungen vor allem, wenn die Exponate bereits in Hinsicht auf ihre Sichtbarkeit hergestellt und gestaltet seien. Alpers geht jedoch soweit, anzunehmen, dass selbst die Ausstellung von für die Anschauung zugerichteten Artefakten, wie Kunstwerken, problematisch sei, wenn man damit etwa Entwicklungen oder Einflussnahmen illustrieren wolle, die in der Kunstgeschichtsschreibung verhandelt werden, in der Anschauung aber nicht evident werden. Gleich wie man diese Reserven bezüglich aller Museumsinitiativen, die ihren Ausgangspunkt nicht bei anschaulichen Operationen nehmen, werten mag – beeindruckend ist die Vehemenz, mit der die Kraft des Museums, alle Objekte, die es enthält, zu Gegenständen visuellen Interesses zu transformieren, behauptet wird. Alpers äußert sich zu den Ursachen dieser Transformationskraft – abgesehen vom Entzug des Kontextes der Exponate – kaum, sie umschreibt vor allem ihre Wirkungen.

195

Vgl. Alpers Svetlana, Kunst als Beschreibung, Einleitung, S.22. Aus heutiger Sicht ist es zwar wissenschaftspolitisch nachvollziehbar, aber doch auch verblüffend, wie sehr Alpers hier in der Absicht, besondere Seiten herauszustreichen, so weitgehend von den von der Ikonologie als Disziplin hervorgehobenen Aspekten der niederländischen Bildkultur

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und häuslichen Szenen, ihre Stillleben, aber auch die Illustrationen von Pflanzen oder Tieren, die häufig ebenfalls von Künstlern ausgeführt wurden und selbst die Landkarten dienen dagegen vorrangig der Erweiterung des menschlichen Wahrnehmungsfeldes. Im selben Sinne feiert ein Zeitgenosse, Constantijn Huygens, das Mikroskop und das Teleskop, weil sie dem menschlichen Auge Dinge sichtbar machen, die es zuvor nicht wahrnehmen konnte. Gleichsam göttergleich erscheinen Huygens die durch diese Instrumente verstärkten Menschenaugen196. Und zugleich empfiehlt man den Künstlern die Aufzeichnung der aufregenden Bilder, die das Mikroskop eröffnet. Im Zuge dieser Malerei und dieses Interesses für visuelle Wahrnehmung verliert der menschliche Körper als Maßstab der Wahrnehmung diejenige Bedeutung, die er noch in der italienischen Kunst besaß, welche den Augenpunkt des Betrachters mit der Zentralperspektive koordinierte und seinen Standort mit dem der dargestellten Personen, welche wiederum als Maßstab der erscheinenden Dingwelt galten. Die Kontinuität zwischen Betrachterstandpunkt und der im Fenster der Zentralperspektive erscheinenden Welt wird unterbrochen. Die holländische Kunst wendet sich an ein Auge, das nicht in einer bemessenen Distanz zum Bild steht, sondern inmitten der dargestellten Welt. Damit wird dieses Auge gewissermaßen entanthropomorphisiert197. Dies wird vielleicht deutlicher, wenn all die Abweichungen von der (hier idealtypisch vereinfachten) Zentralperspektive der italienischen Darstellungskultur herausgestrichen werden: die Betrachterposition ist nicht mehr notwendig mit der der dargestellten Personen koordiniert (Unteroder Oberansicht, statt gemeinsamer Horizont), der Fluchtpunkt rückt aus der Bildsymmetrie (ein ‚schräger‘ Einblick an Stelle des bildparallelen Raumkastens), die Dimension der dargestellten Dinge lässt sich nicht mit einem bemessbaren Abstand und einer auf diesen bezogenen Körperlichkeit des Betrachters vergleichen. Das Modell des Sehens ist zugleich ein passives im Gegensatz zum ergreifenden, aktiven Sehen der Italiener. Das Auge empfängt ein Bild der Welt als Projektion auf der Retina und analog wird auch das Bildermalen verstanden. Das Gemälde ist ein Spiegel, der ein Bild der

des 17. Jahrhunderts absieht, also von der breiten Kultur der Emblematik, der (Vanitas-)Stilleben, der Impresen und Allegorien. 196

Vgl. Alpers, S. , Kunst als Beschreibung, S. 63.

197

Vgl. Alpers, Kunst als Beschreibung, S. 169 und 170.

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Welt auffängt: ut pictura ita visio198. Die holländische Malerei ist nach Alpers als indexikalisches Bild konzipiert199, als Niederschlag der Welt auf der Leinwand. Neuere Untersuchungen bestätigen diese Thesen von der nachlassenden Bindungskraft der klassischen Zentralperspektive auch dort, wo sie scheinbar weiter Geltung hat: Stadtansichten aber auch Kircheninnenräume synthetisieren verschiedene Perspektiven zu einer Form, die mehr ist, als der Schnitt durch die Sehpyramide200. Auf der theoretischmaltechnischen Seite bemühte sich Gerard Desargues zur selben Zeit um eine ‚universelle Manier‘201 auf den Grundlagen der projektiven Geometrie. Desargues ermöglichte damit den Malern und Architekten über die knappen, rezeptartigen Anweisungen der traditionellen Zentralperspektive (, die etwa für Innenraumdarstellungen Kachelmuster und Deckengebälk zur Hilfe nahmen, um die Tiefenverhältnisse der Rauminhalte zu

198

Vgl. Alpers, S., Kunst als Beschreibung, insbesondere Kapitel 2, ‚ut pictura ita visio‘ – Keplers Modell des Auges und das Bildermachen im Norden.

199

Vgl. Alpers, S. Kunst als Beschreibung, S. 107. Am eindringlichsten kommt der Gegensatz zur italienischen Malerei vielleicht in der schönen Passage zum Ausdruck, in der Alpers gleichsam die beiden Dispositive oder Regimes des Sichtbaren vergleichend je ein Gemälde von Domenico und van Eyck beschreibt und etwa die unterschiedliche Rolle des Lichtes darlegt, das einmal die Körper plastisch abschattet und alles nach seiner Lage definiert (Italien) und einmal das Reflektionsvermögen der Oberflächen zeichnet (Holland): S. 107-108.

200

Vgl. etwa Wheelock, Arthur K.: History, Politics and the Portrait of a City: Vermeer’s View of Delft, in: Zimmermann, S. und Weissmann, R.F.E. (Hg.): Urban Life in the Renaissance, Newark 1989, S. 165-184.

201

Desargues, Gérard., Exemple de l’une de manières universelles... touchant la pratique de la perspective, Paris 1636. Diese von Abraham Bosse (ders. traité de perspective, Paris 1647) an der Französischen Malereiakademie eine Weile lang vertretene Konstruktionslehre diente neben den Malern auch den Architekten, etwa um die verschiedenen Ansichten einer Architektur schon während der Entwurfsphase antizipieren zu können. Auch die Wirkungen unterschiedlicher Beleuchtungsweisen und – wenigstens dem Anspruch nach – die genaue Erscheinung von Licht und Farben konnte so konstruiert bzw. vorherbestimmt werden.

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bestimmen) hinaus präzise geometrische Bestimmungen aller Raumverhältnisse. Zugleich erlaubte er es erstmalig, alle möglichen, auch weit von der menschlichen Körperlichkeit entfernten Augen- und Fluchtpunkte einzurichten und sogar Lichtquellenpositionen minutiös zu konstruieren. So können Lichtquellpunkt und Augenpunkt, die nach denselben Maßgaben konstruiert werden, gar ineinander überführt und ausgetauscht werden. Es beginnt mit der Vervielfältigung möglicher Betrachter- und Beleuchtungspunkte die Herrschaft der einen Perspektive zu wanken. Diese Vervielfältigung der Perspektive wird auch in der Philosophie angesprochen: „Und gleichwie eine einzige Stadt – wann sie aus verschiedenen Gegenden angesehen wird – ganz anders erscheinet – und gleichsam auf die perspektivische Art verändert und vervielfältigt wird; so geschieht es auch – dass durch die unendliche Menge der einfachen Substanzen gleichsam eben so viele verschiedene Welt-gebäude zu sein scheinen – welche doch nur so viele perspectivische Abrisse einer einzigen Welt sind – wonach sie von einer jedweden Monade aus verschiedenen Ständen und Gegenden betrachtet und abgeschildert wird.“202 Dass das 17. Jahrhundert die Städte sowohl in Ansichten wie auch durch Grundrisskarten repräsentierte (die Landkarten, wie wir sie etwa von Vermeers ‚Malkunst‘ kennen, zeigen eine Kompositform: die Karte der Niederlande mit einem rahmenden Band von Stadtansichten) führt auf ein weiteres Thema. Denn auch die Kultur der Landkarten macht Alpers für diesen neuen Bildbegriff geltend. Die Landkarte ermöglicht im Gegensatz zur begrenzten, nach Blickrichtung und Standpunkt festgelegten Zentralperspektive den Überblick, eine – und so wurde es von den Zeitgenossen auch empfunden – fast übermenschliche Perspektive. Es hat zuletzt Christine Bucy-Glucksmann die Struktur und Entwicklung dieses ‚kartographischen Blicks‘ ausführlicher herausgearbeitet203 und sie schildert ihn kontrastierend mit der klassischen Zentralperspektive: „Einerseits der Blick für uns, der Prospekt der Szenographie, in der alles von einem einzigen Platz (situs) aus betrachtet wird. Andererseits der Blick an sich, der Grundriß der Ichnographie, in der das im Unendlichen angesiedelte Auge das Ganze überschaut. Beide Modi der Sichtbarkeit definieren unterschiedliche ,Schaubilder‘, auf denen das Eine und das

202

Leibniz, Gottfried Wilhelm, Monadologie (französisch-deutsche Aus-

203

Bucy-Glucksmann, Christine, Der kartographische Blick der Kunst,

gabe), Frankfurt am Main 1996, S 58. Berlin 1997, S.22.

135

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Mannigfaltige miteinander in Beziehung treten. Während sich der Prospekt eines Netzes konvergierender Linien bedient, um die Welt perspektivisch darzustellen, ist der Grundriss eine horizontale Fläche, eine göttliche Perspektive, deren Parallelen sich im Unendlichen schneiden.“204 Diese neuen Formen von Beobachtung und Beschreibung des Sichtbaren205, wie sie sich in der Malerei ereignet, hat nach der Analyse Alpers‘ Anteil an einem breiteren epistemologischen Paradigmenwechsel, sie ist eine der Grundlagen eines neuen Typs von Wissen, das sich allmählich von der Autorität der zumeist antiken Texte, vom reinen Schriftgelehrtentum entfernt. Und in diesem Kontext nimmt Alpers Bezug auf die experimentelle Naturphilosophie der Engländer, denen das Testimonium der Sinne, die Augenzeugenschaft auch einer größeren Gruppe von Betrachtern ihrer Experimente zur Beglaubigung und Verbreitung ihrer Ergebnisse so wichtig war206. Über das Ziel der zahlreichen und unendlich vielfältigen Experimente, die nicht selten unter Mithilfe von Instrumenten der Erweiterung des Augensinnes, wie dem Mikroskop, aber auch der Luftpumpe mit ihrem Glasbehälter von statten gingen, lässt sich der Gründervater der englichen Experimentalwissenschaft Bacon aus. „Natur in Abstraktionen aufzulösen ist

204

Bucy-Glucksmann, (1997), S.31.

205

Auch hier mag man heutzutage, ähnlich wie in Bezug auf Emblematik und Allegorie auf das Ausblendungsvermögen Svetlana Alpers‘ hinweisen. Dass die Veränderungen der perspektivischen Konstruktionen und die Entwicklung der optischen Apparate nicht nur zu einer gesteigerten Objektivierung und Beobachtung der Gegenstandswelt geführt hat, sondern im gleichen Zug Grotesken, Anamorphosen und Täuschungsanstrengungen hervorbringt, findet kaum eine Erwähnung. Annette Hüsch hat zuletzt darauf hingewiesen, dass im gleichen Maße, wie das Modell der camera obscura Vorbild für eine rationalistische Ausarbeitung eines abbildenden Sehsinnes sein konnte, die laterna magica mit ihren täuschend illusionistischen und grotesken Projektionen und Lichtspielen als paradigmatischer Apparat der ‚dunklen Seite‘ des Barock gelten kann. Vgl. Annette Hüsch, Der gerahmte Blick – zu einer Geschichte des Bildschirms am Beispiel der Camera obscura, Karlsruhe 2003 (Dissertation), S. 78 ff.

206

Vgl. Shapin Steven; Schaffer, Simon, Leviathan and the air pump. Hobbes, Boyle, and the experimental life. Princeton 1985.

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weniger unser Vorhaben, als vielmehr, sie in ihre Teile zu zerlegen.“207 schreibt er im Novum Organum. Der holländische Pädagoge Commenius, der erste, der illustrierte Kinderlehrbücher herausgab, zeigt, was diese Prämisse in einem ganz anderen Gebiet praktisch bedeutet. Zunächst betont auch er die Autorität des Gesehenen gegenüber dem Gelesenen oder Gehörten am Beispiel der auch für die zeitgenössische Malkultur so wichtigen Anatomie-Lektion. Die Autopsie, die die Inaugennahme aller Elemente des menschlichen Körpers erlaube, sei viel eher geeignet, die Lage seiner Teile zu verstehen und zu memorieren, als anatomische Vorlesungen ohne Veranschaulichung. „Sehen ist Glauben“, so der Schlachtruf des Pädagogen Commenius. Und er beschreibt sehr genau, wie eine lehrreiche Abbildung eines zu studierenden Gegenstandes beschaffen sein muss: „1 dass er vor Augen steht; 2 nicht zu weit weg, sondern in vernünftiger Entfernung; 3 nicht seitlich, sondern unmittelbar vor Augen; 4 und so, dass die Vorderseite des Gegenstands dem Betrachter zugewandt ist; 5 dass das Auge zuerst den Gegenstand als Ganzen erfaßt; 6 und dann im Weiteren die Teile unterscheidet....“208 Auch aus diesen Anweisungen geht hervor, dass der Gegenstand nach seinen eigenen Maßgaben (seiner Dimension, Gestalt, Richtung) der Anschauung zugänglich gemacht werden muss und nicht sosehr nach denen des Betrachters. Anders ausgedrückt geht es darum, ihn nicht durch eine (zufällige, spezifische, beschränkte) Betrachterperspektive wahrzunehmen und auch nicht nach Maßgabe des Körpers des Betrachters209, sondern nach Maßgabe seiner eigenen Dimension und Zusammensetzung zu

207

Zitiert nach Alpers.S., Kunst als Beschreibung S. 175.

208

Zitiert nach Alpers, S., Kunst als Beschreibung, S. 179/80.

209

Es ist möglich, die Loslösung des Betrachtungspunktes von einem mit der Bildwelt koordinierten Körper (der KünstlerInnen und BetrachterInnen) als eine Steigerung der objektivierenden Macht dieses Konstruktionspunktes zu interpretieren, denn einem solchen ‚körperlosen Blick‘ sind eben auch nicht die körperlichen Grenzen desselben gesetzt. Es bleibt aber die Frage, ob die häufig mit derselben Entwicklung verbundene Lösung des Darstellungsgegenstandes aus einem zentralperspektivisch konstruierten Raum dieser Bewegung nicht eher entgegenwirkt, weil auch für den Gegenstand – buchstäblich ausgedrückt – die Grenzen oder Koordinaten eines solchen Raumes nicht mehr länger Bestimmungscharakter haben.

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verstehen. Es ließe sich in gewisser Übertreibung sagen, dass auch hier der situs des Betrachters durch eine ichnographische210 Perspektive ersetzt werden soll. Diese der Pädagogik geschuldeten Anweisungen für die Zwecke lehrreicher Betrachtung finden ein gewisses Echo auch in der naturphilosophischen Bearbeitung der Forschungsgegenstände für die Experimente. Bacon war der festen Überzeugung, dass die Natur der Dinge sich eher im Zwang der Kunst zeige, als in ihrer natürlichen Freiheit. Dies bedeutete unter anderem die Herauslösung und Isolierung von Elementen, um sie als solche nach ihren Eigenheiten und Merkmalen experimentell untersuchen zu können. Zusammenfassend konstatieren wir eine Kunst, die weniger an den klassischen narrativen Aufgaben orientiert ist, sondern an der Erweiterung des Wahrnehmungsfeldes des menschlichen Augensinnes. Hierzu vergrößert sie kleinste Gegenstände und holt die Fernsten heran (wie Mikroskop und Teleskop), zugleich entanthropomorphisiert sie gewissermaßen das Auge und den Blick, indem der Betrachterkörper seine Rolle als Maßstab und Perspektive verliert. Das bedeutet auch eine gewisse Abwertung der dienstbarmachenden Aktivität eines ergreifenden Sehens nach italienischer Art – die rezeptive Funktion der Retina ist wahrnehmungstheoretisches Vorbild für eine Bildauffassung, die das Bild als Niederschlag oder Spiegel der Welt sieht. In diesem Zusammenhang verliert die klassische Zentralperspektive an Bedeutung, sie wird durch Vervielfältigung von ihren normierenden Wirkungen befreit, sie tendiert schließlich zur Vereinigung der vielen Perspektiven im Überblick, im Blick an sich, im karto- oder ichnographischen Blick. Auf dem Gebiet des Erwerbs und der Verbreitung des Wissens

210

Ichnographie, (griech. wörtlich: die Beschreibung der Fußstapfen einer Sache) meint in der Architektur den Grundriss eines Gebäudes; ein Riss, welcher die Einteilung eines Gebäudes im Grunde desselben nach einem horizontalen Durchschnitt darstellt. Es ist vielleicht interessant, dass Desargues in seiner manière universelle, welche die Gesetze der projektiven Geometrie für den Gebrauch auch der Künstler vereinfacht, zur Konstruktion stets die Ichnographie (in seiner Terminologie: das ,Geometral‘ oder den ,plan geometral‘) eines Gegenstandes oder einer Szene mit einer Perspektive derselben verbindet. Die Ichnographie verzerrt den Gegenstand nicht perspektivisch, sie entspricht ihm proportional.

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drängt die neue Kultur der Beobachtung und Beschreibung die Autorität des Schriftgelehrtentums überlieferter Texte zurück. Die Konsequenzen für die Gegenstandsseite der Darstellungen können folgendermaßen verallgemeinert werden: es werden die fernsten, die kleinsten, wie auch die ausgedehntesten Ganzheiten für den menschlichen Blick zubereitet. Ein jedes Ding kann ein sichtbarer und damit analysierbarer Gegenstand werden. Die Darstellung folgt dabei den Maßgaben des Gegenstandes selbst, seines Zusammenhanges und seiner Gliederung. Dazu wird dieser Gegenstand aus seiner Umgebung, seinem Kontext herausgelöst. 6.3.2. O’Doherty – der weiße Raum. Die Bestimmungen, die O’Doherty in ‚Inside the White Cube‘ Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts über das moderne Kunstwerk (ausgehend vom abstrakten Gemälde) im Kontext der Ausstellung in der Galerie trifft – und hier wird vor allem das Verhältnis des Werks zur Ausstellungswand besprochen, aber auch die Rolle des Betrachters – beziehen sich auf die moderne Kunst etwa seit den 50ern desselben Jahrhunderts. Es ist jedoch interessant, dass sich der Befund der ersten Passagen in mancherlei Hinsicht mit den Alperschen Ausführungen über die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts überschneidet – tatsächlich liegen auch nur 7 Jahre zwischen der Veröffentlichung seines Essays und der Studie von Alpers. Die Galerie moderner Kunst ist, wie eingangs von O’Doherty geschildert wird, ein Raum, der die Kunstwerke sparsam verteilt und sie vor dem Hintergrund weißer Wände exponiert. Dabei ziehe der Raum alles vom Kunstwerk ab, was seiner Eigenschaft als Kunstwerk Abbruch tun und von seiner Bewertung als solches ablenken könnte. In dieser Funktion sei die Galerie mit einer Reihe anderer Räume oder Orte vergleichbar und historisch gesehen auch Partizipant an deren Wirkungen. Es sind dies Orte, in denen „gleichfalls Konventionen durch ein geschlossenes System von Werten bewahrt werden‘. Aufgezählt werden mit den spezifischen architektonischen Fügungen dieser Orte – man könnte auch sagen: Institutionen – vor allem ihre wichtigsten atmosphärischen Wirkungen: die Heiligkeit der Kirche, die Formalität des Gerichtssaales und die Mystik des Experimentier-Labors211.

211

Vgl. O’Doherty, Brian, Inside the White Cube, Part I S.24.

139

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Noch vor der genauen Analyse betont O’Doherty die schiere Wirkmächtigkeit des Galerieraumes. Alles was dieser aufnimmt, so behauptet er, ganz ähnlich wie Alpers über das Museum, wird zur Kunst und umgekehrt wird alles, was aus ihm herausfällt, profan, alltäglich. Das Kunstwerk ist als Bewohner hier weniger Ausdruck seiner selbst, als vielmehr Medium „mächtiger Ideen über Kunst“212. Dieser Behauptung folgt eine genauere Beschreibung der Architektur und Ausstellungsanordnung: Das Konstruktionsgesetz der Galerie sei so streng und einfach wie das einer mittelalterlichen Kirche: die Außenwelt wird ausgeschlossen (es gibt keine Fenster, das Licht kommt von der Decke), die Wände sind glatt und weiß, der Boden wird entweder klinisch glatt poliert, um die Schritte der Besucher sauber als klickklack zu reflektieren oder er ist ein Teppich, der jedes Geräusch schluckt. So werde die Wahrnehmung im strengen Kontrast zur Außenwelt formalisiert, denn zugleich ist die Exposition der einzelnen Objekte in ihrer Übersichtlichkeit und Sparsamkeit regelmäßig, so dass ein jedes für sich im gleichen Kontext studiert werden könne. Die asketische Strenge der Anordnung, das Bestimmende formaler Werte führt beim Besucher dazu, dass sich dieser selbst als unangemessen wahrnehmen muss, dass er, wie O’Doherty es ausdrückt, seinen eigenen Körper in diesem Zusammenhang als ein altes, unpassendes Möbel empfindet. Die Galerie heiße wohl das Auge und den Geist des Besuchers willkommen, nicht aber seinen Körper, dessen typisches, ungelenkes, unentschiedenes und plumpes Verhalten in der blendenden Galerie O’Doherty mit viel Genuss ausmalt. Und O’Doherty steigert das Bild noch, indem er auf eine Bildschöpfung, einen Bildtypus hinweist, den er für die Ikone unserer visuellen Kultur hält. Es ist der „installation shot“, die Aufnahme eines in der Galerie installierten, ausgestellten Werkes, die, indem sie keinerlei Besucher oder Betrachter abbildet, das „Descartsche Paradox“ so deutlich illustriert, von dem O’Doherty spricht: „Du bist da, ohne da zu sein.“213 Dieser moderne Bezug auf den älteren topos eines körperlosen Blicks, einer ‚cartesianischen Perspektive‘ verdient Beachtung214.

212

O’Doherty, Brian, Inside the White Cube, Part I, S. 24.

213

O’Doherty, Brian, Inside The White Cube, Part I, S. 25.

214

In der Kunstgeschichte hat zuletzt Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996 mit Rekurs auf den technischen Apparat der Camera obscura das Kon-

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Wie ein merkwürdiges Gegenbild zum imaginären Museum Malraux‘, wirkt O’Dohertys Schilderung. Während der Betrachter bei Malraux mithilfe der jegliche Materialität nivellierenden Reproduktionstechniken alle Kunstwerke auf einmal zu sich nach Hause holen, sie aus ihren Museen entführen kann (, welche die Kunstwerke seinerzeit selbst aus ihrem ursprünglichen Kontext entführt haben und allein aufgrund der Relativierung ihres Abbildcharakters, ihrer Verschiedenheit von den Dingen, welche sie abbilden, auf einem gemeinsamen Grund versammeln können215) und sie nun vergleichen mag (es ist dabei von zunehmender Intellektualisierung der Rezeption die Rede216), schwebt bei O’Doherty der betrachtende Geist körperlos durch die weißen Kuben.

zept eines ‚körperlosen Bildes‘ für die Bildkultur im 17. und 18. Jahrhundert geltend gemacht, ein Konzept, das er sowohl von dem der Zentralperspektive, wie von dem der Photographie unterschieden hat. Die Camera obscura gilt in dieser Zeit nach Crary auch als philosophische Leitmetapher für die Position des menschlichen Subjektes gegenüber der äußeren Welt, wie er durch die Analyse einiger Texte von Leibniz, Locke und Descartes zeigen möchte. Kritisch dazu: Hentschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. Marburg 2001. Vgl auch: Linda Williams, Pornografische Bilder und die ‚Körperliche Dichte des Sehens‘, in Kravagna, Christian (Hg.), Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 65-98. 215

Malraux, André: Das Imaginäre Museum, Hamburg 1957 (Genf 1947, „Dafür hat es {= das Museum} nur Abbilder von Dingen, die von diesen Dingen verschieden sind und gerade auf dieser spezifischen Verschiedenheit ihre Daseinsberechtigung gründen: das ermöglicht ja überhaupt erst ihre Vereinigung. Eine gotische Statue stand im Verband der Kathedrale, ein klassisches Bild in dem seiner Zeit eigenen dekorativen Zusammenhang: jedes Kunstwerk lebte jedenfalls in irgend einer Bindung; allerdings nie mit Werken einer anderen Geisteshaltung“. S. 8.

216

Malraux, André a.a.O., „Denn ein imaginäres Museum, wie es noch niemals da war, hat seine Pforten aufgetan: es wird die Intellektualisierung, wie sie durch die unvollständige Gegenüberstellung der Kunstwerke in den wirklichen Museen begann, zum Äußersten treiben. Was die Museen angeregt hatten, geschah: der bildenden Kunst erschloß sich die Verfielfältigung im Druck.“, S.12.

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Der Raum, der den Körper des Betrachters zurückweist, wird nach O’Doherty zugleich vom Kunstwerk beansprucht. Die Geltung des modernen Kunstwerkes beruhe darauf, dass es vom Betrachter einzeln aufgenommen wird, ohne dass andere Werke visuell intermittieren. In O’Dohertys Formulierung begreifen die Kunstwerke die leere Wand als Niemandsland, das sie mit dem Imperativ territorialen Anspruchs belegen. Sie fordern ein Territorium – nicht sosehr einen Raum – in der raumlosen, weil ungegliederten, gleichmäßig weißen Galerie217. Der weiße Hintergrund ist nun nicht mehr nur ein Instrument des bloßen Entzugs von Kontext, sondern auch ein Wirk- und Resonanzraum. Es scheint fast, als ob sich Paul Valery in einem ästhetischen intermundium zwischen Petersburger Hängung und modernem Kunstmuseum befand, als er es seinerzeit als ‚Das Problem der Museen‘ bezeichnete, als Betrachter inmitten von Skulpturen stehen zu müssen, ...“deren jede einzelne, – ohne dass es ihr gewährt würde – nach dem Nichtvorhandensein aller anderen schreit.“, in der sich „in der Stille ein absonderlich gegliedertes Durcheinander“ entfaltet. Valery störte sich an der anschaulichen Gleichzeitigkeit all der als je eigen, inkompatibel und vollendet empfundenen Werke, er möchte ihnen ihr Recht auf Eigenexistenz, auf einen eigenen Geltungsraum zurückgeben und dem Betrachter die Muße der Konzentration. Zugleich gilt ihm die Ansammlung und Verfügbarkeit all der Werke als unausweichliche Erscheinung seiner Zeit des technischen Fortschritts. Valery sah in diesem Falle keine moderne Lösung, er empfiehlt allein die Erinnerung

217

O’Doherty, Inside the White Cube, Part I, S. 29. Vgl. auch S. 30. O’Doherty leitet diesen Anspruch auf ein Territorium aus der kunstgeschichtlichen Entwicklung ab, in deren Lauf zunächst die Zentralperspektive, mit ihr eine geschlossene Welt der Illusion, bald darauf der Rahmen fiel und schließlich auch die Tiefe des Bildes zugunsten des Triumphs der Flachheit der Bildebene. Der Rand des Bildes wird nicht mehr markiert, der Abstand zur Wand ist räumlich minimal, formal gesehen aber bleibt er – Erbe der Jahrhunderte währenden Tradition des Illusionismus – ein ‚Abgrund‘. Da das Bild nicht mehr durch sein geschlossenes zentralperspektivisches System und seinen Rahmen begrenzt sei, dehne es seinen Geltungsanspruch über den Rand aus. Das ist das Ende der ‚Petersburger Hängung‘ und der Beginn des white cube.

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an die Zeit, als die Architektur als die ehemalige „Mutter“ der nunmehr „ausgesetzten Kinder Malerei und Bildhauerei“ noch lebte und diesen ihren Ort, ihren Sinn und ihre Bindungen anwies218. Aber ist nicht gewissermaßen der weiße Kubus die Lösung dieses Problems: er vereinzelt die Kunstwerke, gibt ihnen einen Geltungsraum, ein Territorium, aber er schafft keine Unordnung, verursacht keine überbordende Anhäufung, weil er zugleich ein ortloses, fensterloses Vehikel ist, das sich zu enormen Komplexen staffeln lässt und überall und nirgends auf der Welt zu finden ist (Internationalität und Allgemeinheit). „The context is the content“ artikuliert sich O’Doherty, der die Wirkkraft moderner Kunst aus ihrem Ausstellungszusammenhang ableitet. Wenn es überhaupt einen Inhalt moderner Kunst gibt, so spitzt O’Doherty den Gedanken der Wirkmächtigkeit des white cube zu, ist es die Neudefinition von Raum und Zeit219. Und es ist genau diese Komplizität von Kunstwerk und weißem Umgebungsraum (und die besondere Rolle des Betrachters), die die Definition ausmacht220. Der territoriale Anspruch zunächst des abstrakten Bildes, bald aber auch der jeglichen anderen Kunstwerktyps (Plastik, Installation, Readymade usw.) hat sich als Wirkungsformel verallgemeinert. 6.3.3. Zusammenfassung Versuchen wir, die Alperschen Thesen hiermit in Verbindung zu bringen. Bei Alpers sind verschiedene Feststellungen sowohl für die Betrachter-, wie für die Gegenstandsseite zu unterscheiden: da ist das vom Betrachterkörper emanzipierte Auge, an der Beobachtung und Beschreibung der Welt interessiert und da ist die vielfältige Welt der Dinge, ein jedes potentiell vollwertiger Gegenstand dieses Auges. Beide Bestimmungen treffen sich im Konzept des Bildes als eines Spiegels oder Niederschlags der Welt. O’Doherty seinerseits stellt den

218

Valery, Paul, Das Problem der Museen, in: Joachim Rönneper (Hg.), Die Welt der Museen, Frankfurt/M, Leipzig 1993, S. 168-173, Zitate von 168, 169, 173.

219

O’Doherty, Brian, Inside the White Cube, Part II, S. 27.

220

Man könnte hier, Benjamin wiederaufnehmend, fragen, ob dies als die zeitgenössische politische Funktion der Kunst zu werten wäre.

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möglichst entkörperlichten Betrachter gegen das Kunstwerk, das weniger einen Raum, als ein Territorium beansprucht und hier ist es die Struktur des white cube als eines Mediums, die dieses Verhältnis bestimmt. Für beide Pole wiederum lassen sich jeweils Einschränkungen aber auch Gewinne nennen: das Betrachterauge des 17. Jahrhunderts hat nicht mehr die imperative Kraft, alles auf seine Aktivität und die Ordnung seines anhängigen Körpers zu beziehen (es ist nur Auge), aber es vermag dafür Dinge zu sehen, die einem körperverhafteten Blick nicht zugänglich waren. Ähnlich wird der Besucher im white cube peinlich seiner eigenen, konkreten, unvollkommenen Körperlichkeit erinnert (und soll ihn möglichst verstecken, verleugnen), kann aber dafür am Geltungsanspruch des homogenen, internationalen Raumes teilhaben. Die Gegenstände der niederländischen Bildwelt des 17. Jahrhunderts sind aus der Bedeutung narrativer Einheiten ausgeschlossen, aus ihrem strikten Bezug zur menschlichen Körperlichkeit, bei Isolierung gar von ihrem eigenen Kontext abgeschnitten, aber sie sind ein jeder Gegenstand aufmerksamer Betrachtung. Das Interesse an ihrer visuellen Erscheinung überdeterminiert jegliche sonstige Funktion. Das Kunstwerk im white cube ist seinerseits aus jedem säkularen Zusammenhang, sogar den alten dekorativen Kontexten gelöst, es ist aber dadurch umso mehr reine Kunst, der exklusiven Beachtung der Betrachter ausgesetzt. In seinem Territorialanspruch behauptet es nicht nur seine Geltung gegenüber den anderen Kunstwerken, es garantiert auch jenen homogenen Hintergrund, der Voraussetzung für seine Inernationalität, sein Flottieren, für seine universelle Geltung ist. Beide Bereiche lassen sich für Tendenzen auch der zeitgenössischen Ausstellungskultur geltend machen – insbesondere dort, wo isolierte Gegenstände vor einem leeren oder homogenen Hintergrund exponiert sind. Für die Darstellung menschlicher Körper lassen sich m.E. vor allem zwei Aspekte hervorheben und unterscheiden, die nur scheinbar einen Widerspruch bedeuten:

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Jene menschlichen Körper, die vor einem neutralen, einem fast homogenen Hintergrund abgebildet sind221, haben immer zugleich etwas von dem zu Untersuchungszwecken aufgepinnten Insekt und vom Pathos der erhaben-puristischen, abstrakten Kunstwerke. Sie sind unseren Blicken, unserem Studium, unserer zergliedernden Neugier ausgesetzte Anschauungsobjekte und sie sind zugleich erfüllte, selbstgenügsame und souveräne Subjekte, deren Wirkmacht auf den sie umgebenden Raum ausstrahlt, die sich gut aufgehoben fühlen im weißen Raum, in der Nachbarschaft teurer Kunstwerke, im showroom aktueller Kunst. Es sind dies Repräsentationen von Subjekten, die im Jargon der Philosophen sowohl unterworfen (Sub-ject) sind als auch Ausstrahlungszentren eigener Wirkungsmacht.

221

Es gab zuletzt eine Reihe von Untersuchungen, die den Zusammenhang von (zentralperspektivischen) Raum und den in diesen gestellten Körper untersucht haben, um hier ein bestimmtes Blickregime herauszuarbeiten (Vgl. Colomina, Beatriz (Hg.) Sexuality and Space, Princeton 1992). Meines Erachtens lassen sich bereits in der Darstellungskultur des 17. Jahrhunderts Formen aufweisen, die den (gleichwohl plastisch ausgemalten) Körper aus diesem Umgebungsraum herauslösen. Die Konsequenzen dieser Herauslösung sind noch kaum untersucht.

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6.4. D IE O BERFLÄCHE DES K ÖRPERS ALS AUSDRUCK SEINER Q UALITÄTEN 222 Im Laufe all der historischen Veränderungen der Auffassung und Funktion des Körpers in der Gesellschaft, wie sie die Untersuchungen der Geschichte des Privatlebens, der Medizin und des Krankenwesens, der Bildung und vieler anderer Bereiche deutlich zeigen, hat auch der Körper in seiner Funktion als Ausdruckskörper, als Körper, der die Merkmale seiner Person bezeichnet, Änderungen erfahren. Dass ein Körper mit seiner anschaulich zugänglichen Oberfläche die Eigenschaften einer Person erfüllend kommuniziert, oder präziser: dass wir uns so benehmen und verhalten, als sei dies möglich und der Fall, das ist gewiss keine Selbstverständlichkeit. Und diese Möglichkeit, diese Praxis des Körpers und seiner Oberfläche als Zeichen und Symbol der Person scheint auch tatsächlich historisch rar zu sein, scheint einer jüngeren Entwicklung zu entstammen, deren sozialhistorische Ursachen hier skizziert werden sollen223. 222

Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Frage nach der Konzeption des menschlichen Körpers, dessen anschaulich zugängliche Oberfläche seine Merkmale erfüllend ausdrückt. Die These besteht nun darin, dass das bürgerliche Körperkonzept, das sich gegen die feudale Ordnungs- und Machtstruktur absetzt, eben dadurch zu kennzeichnen ist. Entsprechend werden verschiedene Bereiche untersucht (Feudale contra bürgerliche Gesellschaftsstufung; adeliger/bürgerlicher Tugendbegriff; Charakterologie/Physiognomik; Bildungsfähigkeit des Menschen/Körpers; Definition der Körpergrenzen (Kleidung); Repräsentationsvermögen/Ausdrucksästhetik des Körpers; natürliche/künstliche Zeichen; ‚Phantasma der natürlichen Gestalt‘; staatliche Kontrolle und Regulierung der Menschen als biologischer Gattungswesen).

223

Ich bin mir bewusst, dass diese Behauptung, es gebe eine jüngere Bildkultur, die beansprucht durch die Darstellung oder Präsentation des menschlichen Körpers auch die Person erfüllend zu repräsentieren, einigermaßen gewagt ist. Hans Belting etwa ist, Ernst Cassirer referierend, zwar durchaus der Meinung, dass die „{...} Geschichte der Repräsentation ‚eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau des Bewusstseins“ {Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 1923, Bd. , 35 und 41}“ sei, und: ‚Unter dieser Prämisse dürfen

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Diese Entwicklung lässt sich vielleicht deutlicher skizzieren, wenn man hinter sie zurückgeht. In der Feudalgesellschaft ist der Körper des Adeligen qua Geburt vorzüglich, er ist ‚wohlgeboren‘. Vorzüglich bedeutet, er ist den Körpern der anderen Stände überlegen und übergeordnet224. Sein Körper ist gemacht zum Führen und Herrschen, zum Kriegsführen, zur Ausübung all der adeligen und ritterlichen Tätigkeiten und Tugenden (auch diese gelten hier als körperlich determiniert). Eine bestimmte Somatik zeichnet ihn aus225: sein Körper ist nicht gedrungen und schwer, wie der des Bauern, der der Erde zugeneigt arbeitet, er ist nicht wie derjenige des Handwerkers, der mit allerlei auch unreinem Material hantiert, sondern er ist aufrecht, der Kopf ist frei, dem Himmel nah, er ist beweglich, wagemutig, elegant226.

wir die Geschichte des Porträts als synonym mit einer Geschichte des Subjektes betrachten.“ Aber zugleich schreibt er angesichts Holbeins (Hans Holbein d.J., Die Gesandten, 1533): „Die Repräsentation des Menschen geht in der Gleichung mit dem Körper nicht auf. Davon muss das Bild Zeugnis ablegen, indem es die Sichtbarkeit der Körper sowohl affirmiert wie negiert. Vgl. Belting, Hans, Repräsentation und Anti-Repräsentation, in: Belting, Hans; Kamper, Dietmar; Schulz, Martin (Hrsg) Quel Corps – Eine Frage der Repräsentation, Berlin 2002, S. 36-37. 224

Vgl. Bouchard, Constance Brittain, ‚Strong of body, brave and noble‘: chivalry and society in medieval France, Ithaca, 1998. über den Vorrang des Adels und die Erblichkeit der Vermögen, die vor allem über den Ausdruck des adeligen Blutes, ‚noble blood‘, verhandelt werden, siehe S. 3-6. Zum Begriff der adeligen Familie, der Anteilhabenden (consanguinei) eines Geschlechts (stirps, gens) siehe Kapitel ‚Noble Families and Family Life‘, S. 67ff.

225

Vgl. Jouanna, Arlette, Ordre social. Mythes et hiérarchies dans la

226

Die Verknüpfung von somatischen Bestimmungen und daraus abgelei-

France du XVIe siècle, Paris 1977, S. 62; S.121. teten Vermögen und auch Vorrechten ruhen auf einer langen Tradition. Wenn hier exemplarisch der Bereich der Wissenschaften angeführt werden darf, so hat vielleicht die römisch-antike Kodifizierung der Artes liberales und – mechanicae ihre deutlichsten Nachwirkungen in der Ordnung der Wissenschaften und Disziplinen hinterlassen und zwar von den mittelalterlichen Universitäten (artes liberales als Propädeutikum der höheren Fakultäten – Vgl. J. Koch, Von der antiken Bildung

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In einer Gesellschaft, in der die körperliche Beschaffenheit der unterschiedlichen Stände aus ihrer Abstammung resultiert, entspricht die Stellung innerhalb des sozialen Gefüges immer auch der naturgegebenen Stellung – wenigstens vertritt und behauptet dies der Adel als die unverrückbare Grundlage seiner Herrschaft. Das Körperverständnis der Feudalgesellschaft ist (der Ausdruck soll mit Einschränkung benutzt sein) biologisch avant la lettre: es beruht auf Abstammung und geht von der Erblichkeit der Vermögen im ‚Geblüt‘227 aus, die zu ihrer Ausbildung also nicht erworben, sondern allenfalls geübt und praktiziert werden müssen. Aus einer Bauernfamilie erwächst demnach kein Ritter, ein Fürst wird kein Handwerker, eine Gräfin keine Krämerin. Ein jeder Mensch ist durch seine Abkunft für bestimmte Vermögen und auch Aufgaben prädisponiert. Die Menschen sind grundsätzlich unterschiedlich, es handelt sich um Unterschiede, die nicht übersprun-

zur Wissenschaft des Mittelalters, Leiden und Köln, 1976) über die Rolle des Künstlers seit der frühen Neuzeit bis zu den humanistischen Reformationen der Universitäten. Bis weit in unsere Zeit gilt in den Künsten ein gewisser Vorrang der entwerfenden geistigen Tätigkeit gegenüber der ausführenden, handwerklich-praktischen (Vgl. Pochat, Götz, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie Köln 1986, S. 97-98). Den Hierarchisierungen der Disziplinen gehen gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Differenzierungen parallel. 227

Vgl. Schmid, Karl, Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewusstsein: Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter, Siegmaringen 1998. Schmidt schildert den Wert des adeligen Blutes, das Bemühen, ihn durch Vermählungspolitik zu steigern und den damit verbundenen Macht- und Führungsanspruch (S.18): „Was mit dem Ausdruck Geblüt angesprochen wird, übersteigt den biologisch-genealogischen Bereich. Die Behauptung von Personen und Familien, gemeinsames Blut mit anderen zu besitzen, hat nur Sinn, wenn die Gemeinschaft einen Wert darstellt. Man behauptet also, edles Blut zu haben. Dessen Kraft lag darin, dass es weitergegeben und weiter veredelt werden konnte. Jedem, der edles Blut hatte, war dieser Besitz selbstverständlich. Sein Geblüt war eine dauernd gegebene Potenz. Im Bewusstsein dieser Potenz musste ein Anspruch liegen, der Anspruch der Qualität. Im Mittelalter lebte – wie wir sahen – die Überzeugung, kraft Geblüts Macht zu erhalten, kraft edleren Geblüts größere Macht, kraft königlichen Geblüts königliche Macht.“

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gen werden können. Auch Kleidung, Schmuck und Zeichen, die am Körper getragen werden, entsprechen der Abkunft und Übertretungen werden peinlich verfolgt. Das aufkommende Bürgertum führt seine Erfolge auf andere Tugenden zurück als der Adel, auf Tugenden, die zunächst nicht in der Genealogie, in der Tradition gründen228, sondern aus der Mündigkeit229 des Menschen überhaupt folgen und zu Verdiensten befähigen, die auf ‚Selbstdenken‘230, und ‚Selbsttun‘ zurückgehen. Es sind nun Leistung

228

Vgl. Wiedenhofer, S u.a., Begriff Tradition, in: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990. Siehe S. 630, Kapitel Philosophie und Politik: Vernunft und Erfahrung versus Tradition; siehe zum naturwissenschaftlichen Traditionsbegriff S. 627-28, Kapitel Traditionswissen versus Erfahrungswissen; Siehe zur Legitimation des Adels in der Übergangszeit S. 627: „Wenn die großen Herrschaftssubjekte nun eine systematische schriftliche Inventarisierung ihrer genealogischen, dynastischen und kulturellen Traditionen betreiben, so geschieht dies im Bewusstsein eines nicht mehr funktionierenden bzw. nicht mehr genügenden gesellschaftlichen Kollektivgedächtnisses {...} in der Konkurrenzsituation der frühneuzeitlichen gesellschaftlichen und politischen Differenzierungsbewegungen. Wenn aber Legitimation, Repräsentation und Identität primär durch den Verweis auf Ursprung, Alter und Kontinuität gewährleistet werden, so hat sich das Geschichtsbewusstsein umgekehrt noch nicht aus der Kultur des Mittelalters abgelöst.“

229

Vgl. Ebersold, Günther, Mündigkeit; zur Geschichte eines Begriffs, Frankfurt/M, Bern, 1980.

230

Hinske, Bernhard (Hg.), Aufklärung, Bd I, Heft I: Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit, Hamburg 1986, S.5: „Versucht man jedoch, die deutsche Aufklärung als geschichtliche Bewegung zu begreifen und ihren Weg in seinen verschiedenen Etappen nachzuvollziehen, so zeigt sich sehr bald, dass alle drei Begriffe {= Eklektik, Selbstdenken, Mündigkeit, Anm. P.Weiss} in ihrer Substanz ein und dasselbe Programm artikulieren: die Idee eines freien und eigenständigen Denkens, das sich aus der Bindung an eine einzelne Autorität, egal ob Schule, Sekte oder Partei, gelöst hat und aus eigener Einsicht nach Erkenntnis sucht.“ Und, S. 6-7: „Im Anschluß an bestimmte juristische und theologische Traditionen aber akzentuiert der Begriff der Mündigkeit stärker das volunta-

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und Verdienst, die zu Machtansprüchen und Rechten befähigen, nicht der eingeborene Stand. Der Bürger definiert sich als fleißig, arbeitsam, stetig, persönlich bescheiden, bildsam. Er ist – als Bourgeois – stolz auf seine wirtschaftliche Tüchtigkeit (in jeder Beziehung: Handel, Kalkulation, auch Affektkontrolle). Er ist aber auch – als Citoyen – stolz auf die Sittlichkeit seines Handelns und seine Bildung (auf Verstandes- und Geschmacksbildung und auch auf die naturwissenschaftlich-technologische). Der Tugendbegriff selbst entfernt sich in dieser Übergangszeit von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft weg von den Konnotationen der kriegerischen Tüchtigkeit, der Tauglichkeit und bekommt einen vor allem ethischen und moralischen Gehalt.231

tive Moment. Er richtet den Blick auf den ganzen Menschen. Aufklärung ist für ihn nicht nur eine Sache des ‚Selbstdenkens‘, sondern, ebensosehr des ‚Selbsttuns‘. So gesehen kommt der Prozeß der Aufklärung erst in dem so mißverständlichen Begriff der Mündigkeit zur Vollendung.“ Vgl. Kant, Imanuel, in ders. Werke in sechs Bänden, Hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1959, S. 283: Was heißt: sich im Denken orientieren. „Selbstdenken heißt der oberste Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken ist Aufklärung.“ 231

Vgl. Dierse, Ulrich, Artikel Tugend, in: Werner Schneiders (Hg.), Lexikon der Aufklärung , München 1995, S. 415-418, besonders 415: „Der Tugendbegriff der Aufklärung unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von früheren. Einmal umfaßt er meistens nicht mehr, wie es im Wort virtus und im deutschen Tugend lag und seit der Antike gelehrt wurde, den Sinn von Tüchtigkeit, Tauglichkeit, {...} D. Hume plädiert dafür, nur die moralischen Tugenden zu den Tugenden zu zählen und sie von den Talenten abzugrenzen.“; Vgl. Seubert, Sandra Gerechtigkeit und Wohlwollen: bürgerliches Tugendverständnis nach Kant, Frankfurt/M; New York, 1999. Seubert zeigt im ersten Kapitel, betitelt ‚Zum Verhältnis von individueller Moralität und politischen Institutionen bei Kant“ (S. 25-37), wie Kant im „{...} Bestreben, eine Trennung von Moralität und Legalität vorzunehmen und die Rechtsmoral als unterschieden von einer durch verschärfte Bedingungen gekennzeichneten Tugendmoral zu präsentieren, gleichzeitig damit aber auch einen institutionellen Rahmen absteckt, innerhalb dessen die Ausbildung von Mora-

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Es lässt sich zeigen, wie der sich verändernde Tugendbegriff auch in der Repräsentation wirksam wird. So preisen die bürgerlichen Schriftsteller des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts in der veranschaulichenden Schilderung der Personen (ihres eigenen Standes, aber auch anderer) nicht mehr den äußeren Ausdruck der Kraft oder Schönheit, des Wagemutes, des Stolzes oder gar des Geblüts. Sie beginnen, die Zeichen auf eine andere Weise zu deuten, sie interessieren sich vor allem für diejenigen Züge und Spuren, die um Tugenden (bzw. deren komplementären Untugenden) kreisen, die im weitesten Sinne aus ihrer Art von Arbeit und Bildung und der Herstellung eines bürgerlichen Gemeinwesens resultieren: Ehrlichkeit und Redlichkeit, Herzens- und Geschmacksbildung, Sensibilität und Bescheidenheit, Einfühlsamkeit232. Wenn es etwas Schönes zu preisen gibt, dann ist es vor allem die Schönheit der Seele233. Der Körper glänzt nicht mehr als

lität als Tugend möglich wird“ (S. 22, Einleitung, Hervorhebung von P. Weiss). 232

Vgl. Käuser, Andreas, Physiognomik und Roman im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M 1989; Och, Gunnar, Der Körper als Zeichen; zur Bedeutung des Mimisch-Gestischen und Physiognomischen im Werk Jean Pauls, Erlangen 1985; Vgl. auch: Niehaus, Michael, Physiognomie und Literatur im 19. Jahrhundert, in: Campe, Rüdiger; Schneider, Manfred, Die Geschichte der Physiognomik, Freiburg 1996, S. 411-430. Niehaus schildert ausführlich die regelrechte Flut an Physiologien, die im Paris der 1840er erschienen.

233

Als eines der unendlich vielen literarischen Beispiele, das diesen Anspruch jedoch im Titel trägt: Eschenbach, Olga, Der Seele Schönheit; Erzählungen und Novellen für die weibliche Jugend. Berlin 1850. Dieses erbauliche, verschiedene literarische Genres verschleifende Büchlein ist ein anhaltendes Exerzitium der Entzifferung der wahren, der inneren Tugenden, die wohl vom – stets aristokratisch ausgemalten – Putz und Trug der blendenden Oberflächen überdeckt werden mögen, aber doch letztlich immer triumphieren: „Hier schwieg Gertrud. Eine heimliche Ruhe lag in ihrem Blicke, mit dem sie mich fragend anschaute. Nein, sie war nicht unglücklich, obgleich sie häßlich war. Der Seele Schönheit strahlte aus ihrem Auge.“ (S. 17). Der ostentativ zur Schau getragene Reichtum und der eitle Stolz des Erbadels bestreiten, behindern und verletzten diese stillen und einfachen Tugenden und ihre pastoral gezeichneten Idyllen. Die Kunsthistoriker mögen sich daran erin-

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das wappenartige Gepränge adeliger Herrlichkeit, er wird zum Zeichen innerer Werte. Aller Rede von der fortschreitenden Verinnerlichung zum Trotz kann jedoch der Körper diese neue Schönheit kommunizieren, wenn man ihn nur zu entziffern vermag. Es entwickelt sich ein immer stärkeres Interesse am als ‚Charakter‘ bezeichneten Merkmalskomplex der Personen, dessen äußerem Niederschlag in der Physiognomik234, dessen Struktur und Entwicklung in der ‚Charakterkunde‘235 und ‚Charakterologie‘236 nachgeforscht wird.

nern, dass der Freigeist Winckelmann – auf einer ganz anderen Klaviatur – einen ähnlichen Antagonismus bedient. Dem Absolutismus und der Fürstenwillkür setzt er die antike Polis-Demokratie entgegen, auf deren Nährboden die (Stil-) Ideale ,stiller Größe‘ und ,edler Einfalt‘ wachsen konnten, die er der dekadenten Lasterhaftigkeit der RokokoKunst konfrontieren kann. 234

Historisch geht die Physiognomik auf die pseudo-aristotelische ,physiognomica‘ zurück, die eine Ganzkörperphysiognomik ist – das bürgerliche Zeitalter wird sich stärker auf die Gesichter konzentrieren. Natürlich muss hier vor allem auf Lavater (Physiognomische Fragmente, 1775-79 – zuletzt auch im Original zu betrachten: Johann Caspar Lavater – Die Signatur der Seele: physiognomische Studienblätter aus der österreichischen Nationalbibliothek Wien (AK) Hg. Goritschnig, Ingrid; Stephan, Erik, Jena 2001) verwiesen werden. Zuletzt ausführlicher: Campe, Rüdiger; Schneider, Manfred (Hrsg.), Geschichte der Physiognomik, Freiburg 1996. In der bildenden Kunst ist die Darstellung der Charaktere zunächst noch mit allegorischen Ausdrucksformen verbunden, die ihrerseits auf Humoraltheorie rekurrieren kann. Hier zielt sie eher auf Konstitutionstypen als auf individuelle Charakterisierung (Vgl. als Artikulation noch des 17. Jahrhunderts: Lebrun, Charles, Handwörterbuch der Seelenmahlerei. Zum gemeinnützigen Gebrauch, besonders für Zeichner, Mahler und Liebhaber charakteristischer und allegorischer Darstellungen. Nebst 52 in Kupfer gestochenen Köpfen, die vorzüglichsten Gemütsbewegungen und Leidenschaften betreffend, von (Charles) LeBrun. – Leipzig : Kleefeld, 1802).

235

Die Charakterkunde geht letztlich auf die Bestimmungen Theophrasts zurück. Interessant ist vielleicht, dass dieser im Vorwort zu den ‚Charakteren‘ betont, dass, obwohl „{...} Griechenland über ein gemeinsames Klima verfüge und alle Griechen auf dieselbe Art erzogen seien,

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An Macht und Einfluss gewinnend kann das Bürgertum nicht der feudalen Hierarchie folgen und auch nicht ihrer Begründung in der unverrückbaren Rückführung aller Tugenden, Rechte und Ansprüche auf die Herkunft. Dem Bürgertum geht es daher darum, die eigenen Werte verbindlich zu machen und zugleich die des Adels abzuwerten. Dem Bürger, der seine Ansprüche auf die eigenen Verdienste zurückführt, erscheint der Adelige müßiggängerisch und anmaßend. Die Unterschiede der Tugendauffassungen werden auch in Hinsicht auf die Körper akut. Vor allem im beanspruchten Vorrecht, über die Körper der anderen Stände und Schichten zu verfügen, erscheint der Adelige anmaßend: wenn er sie versklavt, wenn er sie peinigt oder bestraft, wenn er sie verführt, nötigt oder vergewaltigt. Diesen nun als barbarisch und brutal denunzierten Körpertechniken setzt der Bürger die Erziehung und Disziplinierung der Körper entgegen. Zunächst macht das Bürgertum tabula rasa mit der alten Hierarchie der Körper, es macht alle Körper ihren Ansprüchen und auch ihren potentiellen Vermögen nach gleich. Die Leitparole der französischen Revolution mag die Aspekte dieses Aktes aufschlüsseln: alle Körper sind gleich (égalité), sie sind frei auch vor den Übergriffen oder Anmaßungen der anderen Körper (liberté) und sie sind sich förderlich in

sie doch nicht dieselbe Charakterkomposition hätten“ (Theophrast, Characters, (griechisch/englisch) London 1993, S. 51 Vorwort). Die Notwendigkeit der Unterscheidung findet also auch hier vor dem Hintergrund einer Gleichheit (wenn auch, selbstverständlich diese nicht mit dem Egalitaritätsideal der bürgerlichen Revolution gleichgesetzt werden darf) statt. Merkmale der Charaktertypen allerdings sind hier nicht oberflächenanschaulich, sondern Verhaltensweisen, besonders Sprachverhalten. Ethisch-moralische Beurteilungen der – und auch Warnungen vor den – unterschiedlichen Typen schließen die Schilderungen jeweils ab. Strukturähnlich ist also die Forderung nach Entzifferung der Phänomene auf ihre inneren Qualitäten hin. 236

Bahnsen, Julius Friedrich August, Beiträge zur Charakterologie, Leipzig 1867. Bahnsens Charakterologie steht im Dienste der Pädagogik. Der Befund der Analyse einzelner Individuen dient dem Pädagogen als Grundlage für den Umfang und die Ziele der Erziehungsanstrengung, gewissermaßen also für die Bildungsfähigkeit des zu Erziehenden. Vgl. Vorrede, S. VII-IX.

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ihrer Bildung, die auf der Basis der freundschaftlichen Verbundenheit ruht (fraternité). Selbstverständlich gelten die Körper nicht ihrer Faktizität nach als gleich, wohl aber nach ihrem Potential. Die Forderungen erheben daher nicht allein Anspruch, Gesetz zu werden, sondern sie sind vor allem regulatives Ideal. Und so wie die bürgerlichen Tugenden auf Arbeit, Bildung, Akkumulation beruhen, kann auch der Körper sich seinen Merkmalen nach bilden, formen und steigern. Der Körper besitzt seine Eigenschaften nicht bereits von Geburt auf unveränderliche, unverfügbare Weise, er ist kultivierbar. Von seiner Eigenschaft, Eigentümer ererbter Merkmale zu sein, verändert er sich zum Träger potentiell unbegrenzter Eigenschaften. Er ist mit der Geburt zunächst ein offenes Blatt. Man muss diese grundsätzliche Kultivierbarkeit und auch die Forderung nach Kultivierung in den allgemeinen Rahmen der Erziehungsansprüche der Aufklärung stellen: „Die Erziehung zum Menschen sollte die möglichst vielseitige Förderung aller menschlichen Kräfte bewirken, um dem Individuum als Persönlichkeit die höchste Form harmonischer Vollkommenheit (und damit Sittlichkeit) zu ermöglichen und um den Menschen als Gattungswesen auf den Weg einer fortschreitenden Kultivierung zu bringen.“237 Mit Foucault ist zu konstatieren, dass parallel zur Propaganda der bürgerlichen Erziehungsideale (und zeitlich im französischen Raum gar auch noch vor der Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaftsweise bereits ab dem 17. Jh.) ein neues System, neue Disziplinen der Beobachtung und Kontrolle der Menschen und damit auch des Körpers, ein neues Regime der Zeit und des Raumes entwickelt werden. Der neue Staat bezieht sich in seiner Politik auf die ‚Wissenschaften vom Menschen‘. Seine Bürger definiert ein solcher Staat als Lebewesen, deren Funktionen (Arbeitsleistung, Reproduktionsfähigkeit, Kriegstauglichkeit) gesteuert und reguliert werden müssen: „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.“238 Im 18. Jh. entwickelt sich zeitgleich zum humanistischen

237

Lexikon der Aufklärung, Schneider, Werner (Hg.), München 1995, Ar-

238

Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit,

tikel Erziehung von Ulrich Herrmann, S. 108. Band 1, Frankfurt 1977, S. 170.

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Diskurs der Gleichheit in den Werkstätten der Manufakturen ein am Körper einsetzendes verschärftes Disziplinarregime, und die staatliche Überwachung eines jeden Mitgliedes der Gesellschaft durch das sich ausdehnende Polizeiwesen nahm zu. Wenn diese Techniken der Disziplinierung auch in erster Linie auf die Arbeiter und das Subproletariat Anwendung fanden, so gingen sie in gewissem Maß doch auch in die Schulen und die Universitäten ein: „Die wirklichen und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoß zu den formellen und rechtlichen Freiheiten. Mochte auch der Vertrag als ideale Grundlegung des Rechts und der politischen Macht erdacht werden: der Panoptismus stellte das allgemein verbreitete technische Zwangsverfahren dar.“239 Politik wird in der Foucaultschen Perspektive seit dem 17. Jh. zunehmend zur ‚Biopolitik‘, welche die körperbezogenen Disziplinartechnologien einerseits und die Sorge um Anzahl, Verbreitung und das Fortpflanzungsverhalten der Bürger, welche ihrerseits verschiedene Sozialtechniken und Disziplinen hervorbringt, andererseits schließlich vereint und die verschiedenen Initiativen des Wissens und der Macht zu einer ‚Biomacht‘ zusammenfügt. Sowohl die Kontrolle der Menschen als Lebewesen, als Art (als die die Politik die Bürger problematisiert) als auch die Kontrolle der Körper ist nun Gegenstand der ‚Biomacht‘. Eine einschneidende Initiative muss hier berücksichtigt werden: sowohl auf der Ebene der bürgerlichen Ideologie (trotz des Gleichheitspostulats) als auch auf der Ebene der flächendeckend sich ausbreitenden staatlich organisierten körperlichen Disziplinar- und Kontrolltechnologien wird ein zunehmend als biologisch definierter und begründeter Unterschied zu einer neuen Qualität aufgebaut: der Unterschied der Geschlechter240. So wird der Staat die Frauen vor allem in Hinsicht auf die biologischen (Nachwuchs) und sozialen Reproduktionsvermögen (Pflege der Familie) kontrollieren und disziplinieren, während die bürgerliche Kultur den Körper der Frau metaphorologisch mit der lebens-

239

Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M 1976, S. 285.

240

Spickernagel, Ellen, Vom Aufbau des großen Unterschieds. Der weibliche und männliche Körper und seine symbolischen Formen. in: Barta, Ilsebill; Breu, Zita; Hammer-Tugendhat, Daniela; Jenni, Ulrike; Niehaus, Irene; Schöbel, Judith (Hg.), Frauen, Bilder, Männer, Mythen: kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 107-147.

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spendenden Natur assoziiert (Reproduktion, Erotik) und den Mann eher nach seiner gesellschaftlichen Funktion und Stellung qualifiziert. Nicht allein eine gesellschaftliche Hierarchie, die in alle Schichten eingeschrieben ist, korrespondiert dieser Unterscheidung, sondern auch ein nach Macht und Begehren moduliertes, spezifisches Regime der Sichtbarkeit. In diesem Zusammenhang wird der Körper der Frau, der als biologisch-natürlicher Körper determiniert wird, zugleich zum paradigmatischen Körper werden, eine Position, die gerade in den Künsten von großer Bedeutung ist. Bevor die bedeutsame Unterscheidung der Geschlechter und deren Folge für die Körperpolitik noch einmal aufgenommen werden, möchte ich zunächst weitere Folgen erörtern, die sich aus dem Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Körperverständnis ergeben. In diesem historischen Zusammenhang bekommt die Fähigkeit des Körpers seine Person zu symbolisieren, ihre Eigenschaften auszudrücken, eine neue, grundsätzlichere Rolle. Ist der Körper nicht mehr mit angeborenen, unverfügbaren und standesbezogenen Merkmalen verbunden, so wird er nun zum Instrument, zum Organ, das die aus der Fülle der Möglichkeiten aktualisierten Merkmale einer Person symbolisiert. Idealiter ist der Angehörige einer bürgerlichen Gesellschaft in seiner Ausbildung nur seinem freien Willen untertan. Ob er ein Schuft ist oder ein verlässlicher Vertragspartner, eine ehrenhafte Person oder eine zwielichtige Erscheinung, ob er begrenzt ist auf niedere Tätigkeitsbereiche oder in der Lage zu Wissenschaft und Bildung – all dies ist nicht mehr untrennbar mit seiner Standeszugehörigkeit verbunden. Eine ganz neue über alle sozialen Schichten verteilte Anstrengung der Darstellungs- und Ausdrucksfähigkeit und zugleich deren Entzifferung und auch der Codierung des Körpers ist direkte Folge der anfänglichen Gleichstellung der Körper241 – Lichtenberg sprach vom „herr-

241

Die Titel einiger Physiognomika sind hier bereits aufschlussreich: Praetorius, Johann Heinrich, Brevarium physiognomicum. Das ist eine kurtze und deutliche Vorstellung wie man aus dem Angesichte, Gebährden und Gestalt, jemandes gute oder böse Zuneigungen erkennen, und sich im Umgang und Handel darin vorsehen kann {...}, Hamburg 1715; Vörös, Stephan Freiherr von, Versuch einer Entdeckung der Sitten und Neigungen anderer Menschen, Helmstedt 1752, und Christian Thomasius beansprucht gar im Titel „{...} das Verborgene des Herzens ande-

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schenden Beobachtungsgeist“ und regelrechter „physiognomischer Raserei“242. Im ausgehenden 18. Jahrhundert herrscht ein „{...} berühmter Streit, der {...} um die Deutung des seelischen Inneren aus den Bildern des körperlichen Außen geführt wurde und der mit den Namen Lavaters und Lichtenbergs, aber auch mit denen Mendelssohns, Herders, Lenz‘ und Goethes verbunden war.“243 Dabei ist „die Bedeutung eines Zeichens nicht mehr die konventionell mit demselben assoziierte Idee {...}. Sie ist wesentlich Nuance, charakteristische Bewegung, die zurückgeht auf das Eigentümliche des Subjektes, das das Zeichen hervorbrachte.“244 Körper als Entität bedeutet nun auch das Ausdrucksorgan245, der Begriff bezeichnet nicht mehr allein das Exemplar einer durch Genealogien strukturierten Ausprägung von Eigenschaften.

rer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Conversation zu erkennen.“, Halle 1691. 242

Angeführt nach Barta, Ilsebill, Der disziplinierte Körper – Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Barta, Ilsebill; Breu, Zita; HammerTugendhat, Daniela; Jenni, Ulrike; Niehaus, Irene; Schöbel, Judith (Hg.), Frauen, Bilder, Männer, Mythen: kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 85.

243

Campe, Rüdiger; Schneider, Manfred (Hg.), Geschichte der Physiognomik, Freiburg 1996, Vorwort S. 9.

244

Wellbery, David E., Zur Physiologie des Genies: Goethe/Lavater, in: Campe, Rüdiger; Schneider, Manfred (Hg.), Geschichte der Physiognomik, Freiburg 1996, S. 331-356, Zitat S. 332.

245

Der Begriff ,Ausdruck‘ mit Bezug auf den Körper soll hier so verstanden werden, wie er von Autoren des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde. War seine Bedeutung zuvor eng an eine Ästhetik rhetorischer Tradition gebunden, so dient er nun mehr und mehr dazu, den Weg von inneren subjektiven Entitäten und Qualitäten (Gefühle, Gemüt, Geistiges, moralische Empfindungen) zu ihrer Artikulation oder Äußerung über verschiedene Mittel (Sprache, Gesten, Mimik, Musik oder bildende Kunst) oder Zeichen zu beschreiben (Vgl. Artikel ‚Ausdruck‘ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A-C, S. 653-660). Ich habe hier jedoch weniger besondere Konzepte oder gar gattungsästhetische Bestimmungen im Sinne als allgemein die soziale Funktion von Körpern, die ihr Inneres ausdrücken.

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Anstelle einer in distinkten Stufen sich skandierenden Gesellschaftshierarchie (Körper sind grundsätzlich unterschieden) artikuliert sich im bürgerlichen Zeitalter auf den Körpern eine gesellschaftliche Binnendifferenzierung (Körper sind gleichgestellt), deren Grundlage eine gemeinsame Zeichenwelt ist246. Auch die Kleidermode der Schichten unterscheidet sich nicht prinzipiell. Vor allem der Gesellschaftsanzug des Mannes wird zu einer übergreifenden Formel247. Der Unterschied besteht graduell nach dem Raffinement der Ausführung, der Materialien, der Kombination, der Herkunft, aber auch der Angemessenheit an die jeweilige Situation. Ähnlich ist es um das Benehmen bestellt, die Wortwahl, den Dialekt, die Bewegung. Es herrscht hier kein politisches Regiment der Verordnungen und Privilegien, sondern eine durch Geschmack (das heißt Zeichenkompetenzen) und selbstverständlich auch durch wirtschaftliches Vermögen (das den Zugang sowohl zur Bildung als auch zu den Mitteln des Ausdrucks mitbestimmt) instrumentierte Abstufung. Als Ausdrucksorgan ist der Körper transparent für die Äußerungen der ,inneren Werte‘ und Lavaters Physiognomik strengte sich an, „... den Menschen ‚durchsichtig bis in den Kopf und ins Herz‘ erscheinen zu lassen ...“.248

246

Vgl. Barta, Ilsebill, Der disziplinierte Körper – Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Barta, Ilsebill; Breu, Zita; Hammer-Tugendhat, Daniela; Jenni, Ulrike; Niehaus, Irene; Schöbel, Judith (Hg.), Frauen, Bilder, Männer, Mythen: kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987: „Der Bürger ging dabei von der Gleichheit aller Körper aus, die sich jeweils nach ihren inneren Eigenschaften ausdrückten; der Körper war gleichsam das Theater der Seele“, S. 86.

247

Vgl. Kuchta, David, The Three-Piece Suit and Modern Masculinity, Berkeley, L.A., London 2002. Kuchta zeigt sehr genau, wie sich in England in den letzten zwei Jahrhunderten in der Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern allmählich der Gesellschaftsanzug durchsetzt und mit welchen Werten er konnotiert ist.

248

Geitner, Ursula, Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters, in : Campe Rüdiger; Schneider, Manfred, Geschichte der Physiognomik, Freiburg 1996, S. 357-385, Zitat S. 357.

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Ein Ausdrucksorgan ist einer gewissen Neutralität seines eigenen Apparates bedürftig. Um für alle Äußerungen durchlässig zu sein, darf der Körper selbst nicht mit spezifischen Bedeutungen behaftet sein, darf der Apparat nicht auftragen. Gegen Prunk, Künstlichkeit und die Affektiertheit des Adels, die als Maskerade und Trugspiel gelten, wird der bürgerliche Körper daher seine Einfachheit und Natürlichkeit stellen249, ein Konzept, das im Anspruch des unmittelbaren, d.h. natürlichen und nicht mehr konventionellen (im Sinne der Zeichenlehre des 18. Jahrhunderts) Ausdrucks der Tugend durch den Körper gipfelt. Die historische Veränderung der Bedeutung der Oberfläche des Körpers setzt sich aus vielen Teilgeschichten zusammen, so, von besonderer Bedeutung, der Geschichte der (weißen) Haut. Die aristokratischen Vertreter des Ancien Régime traten nur mit einer dicken Schicht weißer Schminke in die Öffentlichkeit. Die Bürger aber warfen dem Adel vor, sein wahres Gesicht, seine Absichten und Natur mit der Schminke zu verhüllen. Das Adelsgesicht war eine Maske, eine Maske zudem, deren hygienische und gesundheitliche Nebenwirkungen angeprangert wurden. Die Zutaten dieser Schminke, die unter anderem Blei enthielt, entstelle, so ging die Rede, die Haut

249

Vgl. etwa die Ausführungen von Barta, Ilsebill, Der disziplinierte Körper – Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Barta, Ilsebill; Breu, Zita; Hammer-Tugendhat, Daniela; Jenni, Ulrike; Niehaus, Irene; Schöbel, Judith (Hg.), Frauen, Bilder, Männer, Mythen: Kunsthistorische Beiträge, Berlin 1987, S. 84-106. Barta führt eingangs aus: „So wie Mozart in der ,Zauberflöte‘ von 1791 den Weg des Helden ,Tamino‘ zur bürgerlichen Tugend, Ordnung, Vernunft und Macht sowie zum anderen Geschlecht über einen Initiationsweg mit Triebaufschub, Affektbekämpfung und letztlich Disziplinierung musikalisch beschreibt, so schildert Daniel Chodowiecki (1726-1801) als künstlerischer Chronist idealtypisch diesen Weg des Bürgers mit seinen einschneidenden Veränderungen auf den Körper.“, S. 84. Bezug ist hier der von Georg Christoph Lichtenberg redaktionell betreute und mit moralisierenden Kommentaren versehene Göttinger Taschenkalender von 1779 und 1780, der ‚Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens‘ vorstellt, indem jeweils ein bürgerliches und ein adeliges Paar konfrontierend bei verschiedenen Tätigkeiten dargestellt werden – etwa der Begrüßung, des Spazierganges in der Natur, der Kunstbetrachtung etc…

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und verschlimmere noch den Gegensatz zwischen der zur Schau gestellten makellosen Oberfläche und dem wahren (hässlichen) Gesicht, gleichsam als ob die fortgesetzte Maskerade keinen unversehrten Kern mehr lasse. Eine weiße Haut jedoch war – in einem ganz anderen Sinne – auch ein bürgerliches Ideal. Das erstrebte Weiss der bürgerlichen Haut aber war von natürlicher Qualität. Es war ein durchlässiges, gleichermaßen milchiges Weiss, transparent für Regungen und Affekte, die Haut war eine unschuldige, eine permeable Oberfläche, die ihren Tiefe nicht verhüllte oder verleugnete, sondern ehrlich und unvermittelt kommunizierte.250 Diese Auseinandersetzungen um die Haut zeigen sehr deutlich, wie hier Fragen der Repräsentation des Körpers und seiner Ausdrucksfähigkeit eng mit seiner Natur und deren Pflege (Hygiene) zusammenhängen. Wenn auf der Ebene der öffentlichen Repräsentation der Körper die konventionelle Markierung des Standes mittels distinktiver Kleider und Zeichen durch einen gemeinsamen Standard abgelöst wird, auf dem sich erst Binnendifferenzierungen artikulieren können, so gilt ähnlich im Bereich der bildenden und darstellenden Kunst, dass Ausdrucksformen, die Merkmale mittels konventioneller Zeichen kommunizieren, zurückgedrängt werden. In der Kunst nun spielt der von allen kulturellen Zutaten – und dazu kann gleichermaßen die ‚Verbildung‘ zählen, wie auch die Bekleidung – befreite, ‚unschuldige‘, ‚natürliche‘ Körper eine wichtige Rol-

250

Vgl. Hierzu Benthien, Claudia, Haut, Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbeck bei Hamburg 1999. Benthien schildert in einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten, literarischen Untersuchung die Bedeutung der Haut als eines symbolischen Austauschorts von Innen und Welt, der nicht nur für das Selbstverhältnis (Durchlässigkeit, Kontaktfläche…) und die Fremdwahrnehmung von großer Relevanz ist, sondern auch zur politischen Bühne von Stigmatisierung und Markierung werden kann. Siehe zum Diskurs ‚maskenhaftes, verdeckendes, ungesundes, versus natürliches, gesundes Schminken‘ noch Lola Montez: The Arts of Beauty; Or Secrets of a Lady’s Toilet‘ von 1885, wiederabgedruckt zusammen mit anderen ihrer Schriften in: Diess., Timeles Beauty, 1998, vgl. S 46ff.

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le. Und für diesen spielt ein ganz ähnlicher Diskurs eine Rolle, wie für die Haut des Gesichts. Vorzüglich der jugendliche weibliche, ‚naturnahe‘ Körper wird zum „Phantasma der natürlichen Gestalt„251 ausgebildet. Günther Heeg hat in einer Studie zum Theater des 18. Jahrhunderts dargelegt, wie in Literatur, Theater und auch der Malerei des 18. Jahrhunderts der ‚unschuldige Körper‘ seine Tugend direkt zu kommunizieren vermag und zwar ohne Rekurs auf konventionelle Zeichen, die alle Möglichkeiten der Täuschung einschließen: „Die Faszination der ‚Unschuld‘ geht von der Vorstellung einer Inkarnation aus. Sie suggeriert die nahtlose Verbindung der präskriptiven Vernunft mit dem materiellen Leib, bruchlose Einswerdung von moralischem Anspruch und sinnlicher Verkörperung. Indem sie den Riß zwischen der Artikulation des Leibes und seiner Bedeutung als Zeichen einzuschmelzen vorgibt, übertrifft sie die geläufigen allegorischen ‚Gestalten der Unschuld‘ an unmittelbarer Wirkung. Die ‚unschuldige Gestalt‘ des jungen Mädchen ist kein konventionelles oder allegorisches, sondern – in der Sprache des Jahrhunderts – ein ‚natürliches Zeichen‘. Das moralische Gesetz scheint ihr nicht auf den Leib geschrieben, sondern reiner Ausdruck ihrer Empfindungen zu sein, beglaubigt durch die Anmut ihrer Bewegungen, der Abfolge ‚unschuldiger‘ Leibzeichen, die sich zur ‚natürlichen Gestalt‘ zusammenfügen. Dies ist das Phantasma des Jahrhunderts.“252

Heeg demonstriert im Kapitel ,Das Bild der Unschuld in der Malerei‘, wie auch diese jenseits der allegorisierenden Darstellungen und Pathosformeln klassi(zisti)scher Kunst eine Repräsentationsweise entwickelt, in der der unschuldige, natürliche Körper, scheinbar bar jeder Ausdrucksabsicht (als sich unbeobachtet wähnender, in sich vertiefter Körper ohne Adresse) dargelegt ist und derart seine Tugend offenbart. Er bezieht sich dabei unter anderen auf Jean-Baptiste Greuze.

251

Vgl. Heeg, Günther, Das Phantasma der natürlichen Gestalt: Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, 2000. S.37.

252

Ders. ebenda. Es mag einem hier auch Kleists Marionettentheater in den Sinn kommen, in dem nun einmal nicht ein junges Mädchen sondern ein unschuldiger Knabe genau so lange vollendet anmutig und natürlich sich bewegt und hält, wie er sich seiner selbst noch nicht bewusst ist.

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Die idealisierenden Darstellungen der natürlichen Gestalt in der Kunst werden zeitlich von einer Fülle von wissenschaftlichen Illustrationen und auch anatomischen Modellen flankiert, die im Kontext der Untersuchung der Natur des Menschen – vor allem in der weiblichen Biologie – durch die Humanwissenschaften und die Biologie als Disziplin stehen. Die feministische Kunstgeschichte und Bildwissenschaft hat als das Gemeinsame dieser Bilderproduktionen aufgewiesen, wie „das Bild des weiblichen Körpers {...} im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts in den verschiedenen Einzeldisziplinen zum privilegierten Schauplatz der Enthüllung von Natur (wird)“253. Unschuld und Natürlichkeit als sittliche und ästhetische Ideale reflektieren auch jene obrigkeitsstaatliche Konzeption des Körpers, die die Menschen in Hinsicht auf ihre als natürlich ausgewiesenen Lebensfunktionen problematisiert und sich um die Erhaltung und Anregung ihrer Leistungsfähigkeit sorgt. So sind das ‚Phantasma der natürlichen Gestalt‘, das die Kunst ausbildet und deren ideologische Grundlage (die natürliche Determination der Menschen) gleichermaßen Bezugspunkte bürgerlichen Körperverständnisses. Judith Butler wird aus der Kenntnis dieser historisch erfolgten Besetzung der Körper(oberfläche) auch die Möglichkeit der Revision oder Neubesetzung folgern und später in ‚Das Unbehagen der Geschlechter‘254 etwa anregen: „Ebenso, wie die Körperoberflächen als das Natürliche inszeniert werden, können sie umgekehrt zum Schauplatz einer unstimmigen, entnaturalisierten Performanz werden, die den performativen Status des Natürlichen selbst enthüllt“255. Diese Möglichkeit erörtert sie weitergehend in ‚Körper von Gewicht – Die diskursiven Grenzen des Geschlechts‘, Berlin 1995.

253

Schade, Sigrid, Wenk, Silke, Strategien des ‚Zu-Sehen-Gebens‘: Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte, in: Bußmann, Hadumod; Hof, Renate (Hg.), Genus – Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 145-173, Zitat S. 167.

254

Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M 1991.

255

Ebda, S. 214.

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In der alltagsweltlichen Zeichenpraxis des Körpers jedoch sollte der bürgerliche Körper ungeachtet des sittlichen Ideals natürlichen Ausdrucks zunächst noch nicht mit dem entkleideten, nackten Körper gleichgesetzt werden. Dieser reicht über seine kreatürlichen Grenzen hinaus. Dem Bürger ist auch die Kleidung, sein Spazierstock, das Monokel, der Hut ein Teil seines durch seine Bildungstugenden ausgebildeten Körpers. Die Gestaltung des menschlichen Körpers durch die schmückende, ver- und enthüllende Funktion der Kleidung wurde in Hinsicht auf die sittlichen, ästhetischen, moralischen und immer mehr auch die medizinischen Ideen seiner Zeit interpretiert. So wie die feudale Hierarchie in den höfischen Tugendlehren und Handbüchern in Handlungsanweisungen übersetzt wurde, erfährt die Ethik der Aufklärung in den bürgerlichen Etikettebüchern eine Konkretisierung und Codifizierung zu Anweisungen des rechten Benimms, der angemessenen Kleidung usw. Die Absetzung gegen einen historischen Vorgänger, die in diesem Fall zunächst die ideale Gleichstellung der Körper bedeutete, impliziert zugleich auch immer die Übernahme, Weiterentwicklung und Verfeinerung der Instrumente des Gegners. Diese Instrumente werden zur Absicherung der eigenen Herrschaft eingesetzt. Gegenüber dem Körper der unteren, der körperlich arbeitenden Schichten – deren rohe Kraft und kreatürliche Robustheit, deren schiere Masse der Bürger zugleich fürchtet und bewundert – werden die höhergestellten, die vornehmeren Qualitäten seines Körpers abgesetzt. Nur durch lange Geistes- und Geschmacksbildung in den Familien und Bildungsinstitutionen, nur durch ein größeres Geldvermögen, durch eine gewisse Internationalität lassen sich die Qualitäten erreichen, die der bürgerliche Körper so distinguiert kommuniziert. Eine Art Geistesund Wirtschaftsaristokratie entsteht. Auch der Bürger schließlich kaschiert die Kunstmittelanstrengungen, die nötig sind, seinem Körper den gewünschten Ausdruck zu geben, zugunsten seiner schieren Effekte. Das Monokel ist mitnichten Ausdruck einer Sehschwäche, sondern von Scharfsichtigkeit und Gelehrtheit, der Spazierstock keine Krücke, sondern Instrument kultivierten Gestikulierens oder eleganten Spazierens, zur Not auch eine Waffe. Eine jegliche Schwäche im Verhältnis zu den Arbeiterkörpern deutet der Bürger als Zeichen ausgesuchter Empfindungsfähigkeit, Sensi-

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bilität, Feinheit der Nerven und des Geistes. Die Herausstellung dieser Tugenden kann bis zur Idealisierung der völligen Untauglichkeit für das sogenannte praktische Leben gehen. Die Naturalisierung der Qualitäten des Körpers kann schließlich auch zu einem Instrument im Rahmen der Auseinandersetzung der Klassen werden. So mag ihre Betonung bestimmte Merkmale als unverfügbar markieren und so bestehende politische Verhältnisse zementieren. Wenn also auf der ideologischen Oberfläche die Gleichheit der Körper, einst Forderung im Rahmen einer sozialrevolutionären Bewegung, aufrechterhalten wird, so tut der Bürger doch alles, um seine Privilegien auch körperpolitisch zu erhalten: er entrückt seinen Körper gegenüber den unteren Klassen in die Vornehmheit, er kaschiert seine Kunstanstrengungen, er naturalisiert seine Ansprüche, bewacht eifersüchtig die Mittel zur Herstellung seines Körpers. Auch hinsichtlich der Fragen des Raffinements wendet sich das arrivierte Bürgertum wieder an die Kompetenzen des vormaligen politischen Kontrahenten, den Adel. Noch die Recherche des Marcel Proust ist eine ausgedehnte Lektion im Bestreben der Bürger, hier aufzuschließen. Der müssiggängerische Adel hat jene Leichtigkeit der treffenden Gesten und Zeichen ausgebildet, die seine Vorrangigkeit so beiläufig und unwiderstehlich deutlich macht. Wer dazu gehört und wer nicht, es ist in einem Detail beschlossen und mit einem Wink ausgedrückt. Das ist eine Leichtigkeit, die nicht direkt aus der biederen Geschäftstüchtigkeit des Bürgers entwickelt werden kann, sondern im Wettbewerb der Salons erprobt wird, die sich nach dem Stil der Unterhaltung, den kulturellen Interessen, der Garderobe, den favorisierten Professionen voneinander abzusetzen bestrebt sind und doch stets aufeinander bezogen bleiben. Zugleich begründet die Wertschätzung der Bildung einerseits, wie der rein wirtschaftlichen Potenz andererseits Verschränkungen in den gesellschaftlichen Hierarchien. Personen geringer Wirtschaftskraft und hohen ‚Bildungskapitals‘ mögen den Vermögenden gleich oder gar höhergestellt sein, die Klasse der Lehrer und Professoren erhält einen besonderen Status. Vor allem Bourdieu hat diese Verhältnisse in Bezug auf die französische Gesellschaft genauestens analysiert256.

256

Vgl. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main, 1987 (Paris 1979).

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Auch die Arbeiterklasse hat die Ausdrucksfunktion des Körpers nicht generell bestritten. Es ist durchaus sinnvoll, zu überlegen, ob die Verbindung sozialrevolutionärer Bewegungen mit dem Freikörperkult zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht auch ein Affekt gegen den durch Vermögensmittel verstärkten bürgerlichen Körper ist (‚Brüder zur Sonne zur Freiheit‘ bekommt hier einen neuen Sinn). Diese Bewegungen beharren wohl auf der Gleichstellung der Körper sowie seiner Ausdrucksfunktion, bestreiten aber dessen ungleichmäßige Verkleidung und Panzerung. Im 18. und 19. Jahrhundert kann ein Körperverständnis konstatiert werden, das – als Reflex gegen das feudale Verständnis – egalitär ist. Ich habe versucht zu zeigen, dass dieses Konzept unter anderem zur Folge hat, dass die Oberfläche des Körpers (nicht strikt des unbekleideten) zum sichtbaren Ausdruck der Qualitäten eines Menschen wird. Mit der Begründung des Körperkonzeptes in der Biologie des Menschen ist – quer zum/gegen den Egalitaritätsanspruch – die Etablierung/(Verschärfung) des Geschlechtsunterschieds verbunden. Aus dieser Unterscheidung folgt ein besonderer Status des weiblichen Körpers. Auch in den politischen Auseinandersetzungen zwischen den Klassen wird der biologische Körper ins Spiel gebracht. Es kann dies geschehen, um das Egalitäre des Konzeptes zu propagieren oder auch einzuklagen, es gibt aber auf der Gegenseite genauso Versuche, die Klassenunterschiede oder den gesellschaftlichen Status Einzelner als naturbegründet zu fassen (in der Regel zur Stützung des status quo). Mein Eindruck ist, dass mit den wirtschaftlichen und technischen Veränderungen der industrialisierten Länder ab der Mitte des 20. Jahrhunderts (Automatisierung, Informations- und Dienstleistungssektor) und mit der Veränderung der Funktion des Staates (Ersetzung bzw. Ergänzung der klassischen Kontroll- und Disziplinartechnologien) auch die Körperpolitik eine wiederum neue Ausbildung bekommt. Die ererbten Imperative bezüglich der Pflege und Ausbildung des ‚natürlichen‘ Körpers bleiben bestehen (Produktivität, Gesundheit), ja sie werden durch neue Technologien noch bestärkt, aber sie sind einer Ausarbeitung anvertraut, die stärker auf die Eigenbekümmerung setzt und die Individuen anhält, ihren Körper selbständig auszubilden und als leistungsfähigen und gesunden Körper zu präsentieren.

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In diesem Zusammenhang ist es mehr und mehr der entkleidete, der ‚biologische‘, ‚natürliche‘, ‚gegenderte‘ Körper, der zu präsentieren ist und dessen Vernachlässigung zunehmend geahndet wird. In einer Zeit, die als Folge des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts die Machbarkeit bezüglich der Formung, Optimierung und bald auch Programmierung des Körpers zu den erwähnten Eigenschaften hin behauptet, erweist sich der Inhaber eines abweichenden, defizitären Körpers nicht einfach als ‚natürlich oder gesellschaftlich benachteiligt‘, sondern als moralisch verwerflich. So entsteht eine neue Mischung von Körperzuständen und zugehörigem gesellschaftlichen Status. Vorbei ist die Zeit des fetten, prassenden, hässlichen, befrackten Kapitalisten, wie ihn nicht nur Otto Dix gemalt hat. Der Begüterte wird seine Statussymbole nicht mehr vor sich her tragen, sondern immer mehr in seinen eigenen Körper investieren, er wird seine attraktive Körperlichkeit, seine Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit als Statussymbol präsentieren. Wenn die Forderung, seinen eigenen Körper leistungsfähig, gesund und jung zu erhalten, immer drängender wird und vielleicht gar zur der alle anderen Inhalte überdeterminierenden Forderung wird, so ergibt sich hier für den Körper ein neues Verhältnis von Inhalt und Ausdruck. Der Körper wird zum direkten, unfehlbaren Zeichen für die Moral seines Trägers. Er kann daher, obgleich er Zeichen bleibt, nichts mehr hinter sich bedeuten oder (täuschend) verstecken, er offenbart bereits faktisch alles, was er ausdrückt. Der (‚natürliche‘, nackte) sichtbare Körper ist das Innen, ist Signifikant und Signifikat. Die Körperoberfläche ist transparent auf die (tiefe) Bedeutung. Wenn Lavaters Physiognomie sich dadurch empfahl, die Personen ‚bis auf Herz und Kopf durchsichtig‘ zu machen und damit ein taugliches Interpretationsinstrument versprach, so scheint sich heute die Durchsichtigkeit, die Lesbarkeit zu einer verpflichtenden Forderung an eine jede Person, an einen jeden Körper fortentwickelt zu haben. Nicht unsere Wahrnehmungsfähigkeit sondern unsere Selbstoffenbarungspflicht soll gesteigert werden.

6.5. Z USAMMENFASSUNG

DER VIER

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Die Kurzanalyse der vorgestellten Arbeiten Lamsweerdes hat vier verschiedene Formmerkmale skizziert, die zusammengenommen – das ist

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eine der Thesen dieser Untersuchung – eine Darstellungsform (das heißt auch: eine Konvention der Darstellung) des menschlichen Körpers ausmachen. Bevor nun im Fortgang der Untersuchung diese Form durch die Analyse und Beschreibung einer weiteren Form eine zusätzliche Bestimmung in Hinsicht auf ihre Lage, Grenze und ihr Vermögen bekommt, sollen die vier Merkmale zusammenfassend genannt werden. 1. Die Erörterung des fotografischen Charakters der Bildform ergab zunächst – der jüngeren Theoretisierung der Fotografie folgend -, dass das Bild, welches sich die Menschen heute von sich und ihrem Körper machen, stark durch die breite und überaus wirkmächtige Kultur der Fotografie geprägt ist. Eine ganz besondere Schubkraft mag die Fotografie im Bewusstsein der Menschen dadurch erhalten, dass sie nicht nur als ein auf die Wirklichkeit besonders transparentes Medium gilt, sondern auch den indexikalischen Zeichen angehört, also in Kontiguität zu ihrem Referenten steht, so dass ihren Repräsentationen das Signum der Wahrhaftigkeit anhaftet. Faktisch immobilisiert sie in der Aufnahme ihren Referenten und sie konserviert dieses Immobilisierte zum Bild einer unveränderlichen, mit sich selbst identischen Person. In dieser Operation begünstigt sie die Produktion des Körpers als Gestalt mit den entsprechenden Charakteristika: fester Zusammenhang des ganzen Körpers, Absetzung von anderen Entitäten. Obgleich die fotografische Repräsentation faktisch auf Kosten des Verlusts der Vielfalt, der Veränderlichkeit und der Beweglichkeit geht, die einer Person und ihrem Körper eigen sein mögen, hat sie in ihrer Geschichte eine überzeugende Kompensation dieses Verlusts gefunden: sie erscheint uns in der Lage, im Unveränderlichen das Wesenhafte einer Person zu repräsentieren. Die Gewöhnung an fotografische Repräsentationen, auch die Gewöhnung an die latente fotografische Repräsentation des eigenen Körpers hat formend auf die Körper eingewirkt, hat dafür gesorgt, dass der Körper stets bemüht ist, Posen einzunehmen, sich in Szene zu setzen (Ausschnitt und Rahmen bestimmend), einen kulturell codierten Ausdruck aufzusetzen (Vitalität, Ernsthaftigkeit) um den Kriterien erfüllender fotografischer Repräsentation zu genügen. 2. Die Frage nach der anschaulichen Versammlung aller Qualitäten auf der Oberfläche des Körpers mag eingangs mit der nach der fotografischen Spiegelung verbunden werden. Wenn dieser eine erfüllende

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Repräsentation möglich sein soll, dann mag das auch an der Ausdrucksfähigkeit der körperlichen Oberfläche, wie wir sie heute verstehen, liegen. Im Rückgang auf das Körperverständnis der feudal gegliederten Gesellschaft erwies sich der erste Akt eines bürgerlichen Körperkonzepts als die Egalisierung der Körper. Von Geburt an gleich, aber auch für alle Entwicklungsmöglichkeiten offen, ist der Körper zunächst ein unbeschriebenes Blatt. Die Egalisierung ist mit einer Hervorhebung und einer besonderen Ausbildung der Ausdrucksfunktion des Körpers verbunden. Auf der Basis der gleichberechtigten Körper ereignet sich eine Binnendifferenzierung – Unterschiede artikulieren sich nicht in Stufen essentieller Wesensdifferenz, sondern graduell. Der Körper ist Ausdrucksmedium des Individuellen, sofern dies im Allgemeinen Platz findet. In der Etablierung gegen den feudalen, durch Erbe disponierten Körper wird zunächst dessen – nach vorbiologischem Verständnis – natürlicher Körper abgewertet. Der Körper des Bürgers ist zuvorderst Medium des Ausdrucks und als solches bedeutungsneutral bzw. transparent für verschiedene Bedeutungen. Daher ereignet sich zunächst auch eine gewisse Ausdehnung des Körpers auf artifizielle Hilfsmittel, wie Kleidung, Kosmetik oder Prothesen – im Grunde auf alles, was der Körper mit sich führt. Im Zuge der Bestimmung des Körpers als einer biologisch determinierten Entität bezieht sich sein Ausdrucksvermögen auf diese Grundlage. Auch diesem Körper ist es aufgegeben, seine Merkmale erfüllend auf seiner Oberfläche zu offenbaren. Entkleidet von den verhüllenden, verbergenden, kompensierenden Verlängerungen des Körpers wird jetzt der nackte Körper selbst Gegenstand der gestaltenden Ausdrucksanstrengungen seines Trägers. Der alte Imperativ, sich zu benehmen, sich ordentlich zu präsentieren, gilt nun auch für den Körper, dessen Mängel dem Eigner als persönliche Versäumnisse zum Vorwurf gemacht werden. Der nackte Körper ist zugleich Signifikant und Signifikat, auf seiner Oberfläche demonstriert er anschaulich alle seine Qualitäten. 3. Teil und Ganzes Der Körper als sich ausdrückende Oberfläche ist in Elemente aufgegliedert. Im Rückgang auf verschiedene historische Konzepte der Zergliederung und Rekombination der Körper lassen sich einige Bestimmungen treffen, die am ehesten denjenigen eines in mechanisti-

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scher Weise gedachten Zusammenhanges von Organen zum Ganzen des Körpers gleichen mögen. Alle Körper sind zudem nach demselben Schema zusammengesetzt, das als stabil gilt und so den Körper zu einem allgemeinen macht. Die Qualitäten seiner Einzelteile sind intrinsischer Natur und weitgehend unveränderlich. Einzelelemente und Schema der Zusammensetzung sind also gleichermaßen stabil. Die Elemente verschiedener Körper stehen in einem Analogieverhältnis. Sowohl die Qualitätsspannweite eines jeden Elementes als auch die Interaktion der Elemente im Körperzusammenhang sind daher begrenzt. Verschiedene Systeme von Bedeutungen artikulieren sich auf der Oberfläche des gegliederten Körpers – hier gehen die Merkmale der allgemeinverbindlichen Gliederung mit denen der Ausdruckhaftigkeit Hand in Hand. 4. Ausstellung Der Körper fotografischen Charakters, seine in Elemente zergliederte, anschaulich offenbare Oberfläche – sie bedürfen einer geeigneten Auftrittsbühne. Als wirksamste Ausstellungsweise erweist sich der homogenisierte, weitgehend unbestimmte Hintergrund einer gewissen Ausdehnung. Zwei ihm gemeinsame Ursprungsorte sind in der empiristisch-experimentellen Naturbeobachtung einerseits und in der Exposition moderner Kunstwerke andererseits zu finden. Beide Traditionen kreuzen sich gewissermaßen in der Museumskultur. Der weisse Raum des modernen Museums und der neutrale Hintergrund (weißes Blatt oder Glaskasten) des wissenschaftlichen Exponats geben Aufschluss über diese Bühne. Der Körper ist durch seinen weißen Hintergrund von jedem Kontext abgeschnitten, allein auf sich bezogen – er ist damit einerseits objektiviert, dem Blick ausgesetzt, und er ist im Selbstbezug auch selbstgenügsam, souverän und bestimmt seine Umgebung vollständig. Eine der zentralen Fragen ist, wie sich die aufgezählten Merkmale zueinander verhalten. Können sie etwa auch einzeln auftreten? Diese Frage muss sicher bejaht werden, das ergibt sich bereits aus ihrer ganz unterschiedlichen Genealogie. Der Zusammenhang ist also nicht zwingend. Andererseits fragt es sich, was passiert, wenn sie zusammenfallen. Die obige Zusammenfassung hat es bereits suggeriert. In einiger Hin-

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sicht bestärken sie gegenseitig ihre Charakteristika und Wirkungen in Hinsicht auf die Definition der dargestellten Körper. Wenn die Fotografie von ihrem Anspruch profitiert, das Wesentliche, Unveränderliche einer Person in ihrer gestalthaften Repräsentation einzuschließen, so trifft sich steigernd dieses Repräsentationsvermögen mit einem Körperverständnis, das die menschlichen Körper nach einem gemeinsamen Schema in Elemente aufteilt und diesem Schema Allgemeinheit und den Elementen intrinsische Bestimmung und Stabilität zuspricht. Beide Merkmale wiederum finden einen förderlichen Artikulationsgrund im Miteinander von homogenem Ausstellungsmilieu und Ausdrucksoberfläche des Körpers. Gleichwohl ist die Fügung dieser Merkmale zu einer Form eine historische Tatsache, die nicht selbstverständlich ist und die sich gewiss auch wieder aufzulösen vermag. Anders als Darstellungsformen, die etwa aus einem Epochenstil resultieren mögen oder weitgehend aus den technischen Bedingungen eines bestimmten Mediums folgern, kommen hier bestimmte Merkmale und Regelmäßigkeiten zusammen, deren Herkunft nicht unterschiedlicher seien könnte (heterogen nach Medium, Disziplin, gesellschaftlichem Kontext, Genealogie) und deren vielleicht einzige Gemeinsamkeit, oder besser, deren einziger Versammlungsort darin besteht, dass sie sich auf Darstellungen des menschlichen Körpers beziehen. Ihrem Anspruch nach sind alle Körper in dieser Form repräsentierbar (fotografischer Charakter), sie sind vergleichbar, qualifizierbar, um nicht zu sagen kompatibel (ähnliche Struktur), sie sind auf einer Vergleichsbühne angeordnet (Ausstellung), und sie drücken sich dort erfüllend aus (ihre Oberfläche kommuniziert ihre Charakteristika). Mit einer solchen Form ist zugleich ein Instrument installiert, das bereits unweigerlich am Körper eines jeden verankert ist, der in der stetigen Konfrontation mit Körperbildern befangen ist. Es bringt den Körper – die Problematisierung der Fotografie hat es erwiesen – zu bestimmten Formen der eigenen Präsentation, es tendiert dazu, ihm die Merkmale der Darstellungsform aufzuzwingen und, in zweiter Instanz, die Normen und Ideale, die mit Hilfe dieser Form transportiert werden. Es liegt nahe, die geschilderte Form der Isolierung, Gliederung, Oberflächenbestimmung und des fotografischen Charakters dieser Körperdarstellungsform in Verbindung mit den politisch wirksamen Leitunterscheidungen der Körper zu bringen. Die identitätsstiftenden wie öffentlich relevanten Differenzkategorien Geschlecht und Ethnie,

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aber auch Alter oder Gesundheitsstatus und Attraktivität sind – davon war bereits die Rede – häufig zu binären Polen ausgearbeitet. Die Frage lautet: Männlich oder weiblich, jung oder alt, weiss oder schwarz, attraktiv oder hässlich… Diese Alternativen bezeichnen allerdings – wie bereits gesagt – weniger friedlich koexistierende Departemente als potentiell gefährdete Identitäten, die zu ihrer Selbstbehauptung auf die Abspaltung und Entwertung der Qualitäten des jeweils zweiten Terms auch angewiesen sind. Es ist nun – Punkt für Punkt – möglich, die Eigenschaftsfigur als das Bildmittel zu verstehen, dass solche Differenzen besonders effektiv verankert und distribuiert. Die Absetzung der Körper vom Kontext eröffnet den Vergleichsraum, die Gliederung nach allgemeinem Raster ist die Eintragsmatrix der Unterschiede, die Oberfläche garantiert ihre Kommunizierbarkeit und der fotografische Charakter schärft Wirklichkeitsbezug wie Selbstoffenbarungspflicht. Die formale Analyse der Bildformen bestätigt damit eine Diagnose, die in der jüngeren kritischen Auseinandersetzung um den (phantasmatischen) ‚ganzen‘ oder ‚natürlichen‘ (Bild-) Körper getroffen wurde, die Diagnose nämlich, dass der Errichtung des ganzen Körpers seine Zergliederung oder Rasterung nicht nur historisch, sondern auch – wie ich hinzufügen würde – notwendig vorausgeht257. Das Bild des ‚ganzen Körpers‘ schreibt sich für die Selbst- wie Fremdwahrnehmung im Raster der Differenzen ein. Abgrenzbarkeit und Kompatibilität sind seine beiden Voraussetzungen. Eingerichtet ist also eine Darstellungsform als eine Vorrichtung, die alle möglichen Initiativen, die über den Körper laufen, mit einer universellen Bildsprache ausstattet.

257

Vgl. Wenk, Silke, Repräsentation in Theorie und Kritik: Zur Kontroverse um den ‚Mythos des ganzen Körpers‘, in: Zimmermann, Anja (Hg.), Kunstgeschichte und Gender, Berlin 2006, S. 99-114, hier vor allem S. 104. Vgl. Schade, Sigrid, Der Mythos des ‚Ganzen Körpers‘, in: Zimmermann, Anja (wie oben), S. 159-180, hier besonders S. 167. Ich möchte hier vor allem auf die Kompatibilität meiner eher formalen Untersuchung der Körperdarstellungsformen zu den bezeichneten Untersuchungen hinweisen und lasse die psychoanalytischen Voraussetzungen, die die Prozesse der Subjektivierung mit Fragen der Repräsentation verbinden, an dieser Stelle unerörtert.

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Sicher kann dieses Instrument, diese Form auch von jedem selbst in einem expliziten Gebrauch eingesetzt werden, also hergestellt (knipsen, morphen), vervielfältigt (drucken, kopieren, entwickeln), in Umlauf gebracht und ausgetauscht werden, so dass wir nicht nur Empfänger, sondern auch Produzenten dieser Bildmacht sind. In aller Regel jedoch sind die laienhaften Anstrengungen nicht besonders wirkmächtig und müssen wohl eher als Verbreiterung der Ankerungspunkte professioneller Initiativen gelten. Ich möchte dieser Darstellungsform nun aus praktischen Gründen einen Namen geben und sie ‚Eigenschaftsfigur‘ nennen. Die wichtigsten ihrer Merkmale sollen über eine knappe Etymologie (verstanden als Perspektive, die die Wortbedeutung mit Fragen der Wortgeschichte und Verwandtschaft verbindet), wie wir sie in jedem Duden finden könnten, genannt werden. (Die etymologische Erläuterung ist mitnichten die Erklärung der Bildform, aber sie soll als Hilfsstruktur der Darlegung fungieren, um die wichtigsten Konnotate des Neologismus ‚Eigenschaftsfigur‘ aufzuführen.) ‚Eigen‘ ist eine Partizipableitung eines ehemaligen Verbs mit der Bedeutung ‚haben, besitzen‘ und wird in diesem strengen Sinne nur noch in der Fügung ‚Leibeigen‘ gebraucht (Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 129, Artikel ‚eigen‘). ‚Eigen‘ bedeutet nun jedoch vor allem ‚zugehörig‘ (Duden, ebd.). Und in diesem Sinn soll es in der Fügung ‚Eigenschaftsfigur‘ verstanden werden: es geht um die einer Person zugehörigen Charakteristika, ein Sinn, der im umschreibenden ‚eigen‘, gleichbedeutend mit ‚selbst‘ und ‚selbständig‘ mitklingt (Duden, ebd.). Dies sind aber nun Charakteristika, die, wenn der Begriff zusammengesetzt ‚Eigenschaft‘ lautet, einem Ding oder einer Person wesentlich oder akzidentiell zukommen (Meyers großes Taschenlexikon, Mannheim 1990, Bd 6, S. 59, Artikel ,Eigenschaft‘). Dass mit den Eigenschaften wichtige Qualitäten (lat. qualitas, vgl. auch proprietas) einer Person oder eines Gegenstandes bezeichnet werden, zeigt auch der adverbiale Gebrauch, ‚eigentlich‘ bedeutet bestärkend zugleich ‚tatsächlich‘, ‚wirklich‘ und ‚ausdrücklich‘ (Duden, Etymologie, ebd.). In Bezug auf Personen werden mit Eigenschaften tendenziell grundsätzliche, wesentliche Merkmale gemeint, wie auch der psychologische Wortgebrauch deutlich macht: „Bezeichnung für Verhaltensdispositionen, die die Grundlage der Persönlichkeitsstruktur darstellen

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und die individuelle Ausprägung und Konstanz des Verhaltens über verschiedene Situationen und Zeitpunkte hinweg gewährleisten.“ (Meyers großes Taschenlexikon, ebd.) Es erfolgt mit der Nennung wesentlicher Merkmale im Begriff der Eigenschaft zugleich auch eine Einordnung in eine Klasse von Gegenständen (Meyers großes Taschenlexikon, ebd.). Der Index in Richtung einer klassifizierenden Qualifikation ist wichtig. Im juristischen Gebrauch etwa knüpfen sich an ‚wesentliche Eigenschaften‘ auch Fragen der Zusicherung und Haftung (Der große Brockhaus in 12 Bänden, Wiesbaden 1953, Bd.3, S. 449, Artikel ,Eigenschaft‘). Eine Eigenschaft ist eine Qualität, sie qualifiziert eine Person nicht nur im Sinne der Ein- oder Zuordnung, sie qualifiziert sie auch zu etwas. In der Eigenschaft kommt also auch zum Ausdruck, wofür sich jemand ‚eignet‘ (wie genau mit dem verwandten Verb ‚eignen‘ artikuliert wird- Vgl. Duden, Etymologie, ebd. Artikel ,eignen‘). Was nun den zweiten Teil der Fügung ‚Eigenschaftsfigur‘, das Wort ‚Figur‘ angeht, so sollen aus dem breiten Bedeutungsspektrum vor allem drei Pole hervorgehoben werden. ‚Figur‘ bezeichnet einerseits die Gestalt, ein geometrisches Gebilde (das von lateinisch ‚figura‘ für Gebilde, Gestalt, Erscheinung herrührt und auch mit lateinisch ‚fingere‘ für ‚formen, bilden, gestalten, ersinnen, erdichten‘ zu tun hat, Vgl. Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 166, Artikel ,Figur‘). Hier ist der Aspekt der Form und der Gliederung festzuhalten, der mit einer gewissen Stabilität und Dauerhaftigkeit zu tun hat. Zweitens (im ‚fingere‘ ist es angedeutet) ist diese Figur etwas Gemachtes, Hergestelltes, ist Resultat einer Bearbeitung. Schließlich und Drittens kommt in den verwandten ‚figürlich‘ und ‚figurieren‘ eine Sinnschicht zum Ausdruck, die auf den Zeichencharakter der ‚Figur‘ verweist. Das Adjektiv ‚figürlich‘ bedeutet auch ‚bildlich, übertragen‘ und das Verb ‚figurieren‘ ‚erscheinen als..., auftreten als...‘ (bereits mittelhochdeutsch im Sinne von ‚im Bild darstellen, gestalten, aus lat. ‚figurare‘ für bilden, gestalten, darstellen – Vgl. Duden, Etymologie, S. 166, Artikel ,Figur‘). Und all diese drei Aspekte – das formale Moment des Gestalthaften, das Moment des Artefakts und das Moment des Zeichenhaften – sollen festgehalten werden. Zusammengenommen mit den obengenannten Bedeutungsaspekten der Eigenschaft soll also mit ‚Eigenschaftsfigur‘ eine Darstellungsform des Körpers bezeichnet sein, die beansprucht, die wesentlichen,

173

K ÖRPER IN FORM

stabilen und vergleichbaren Merkmale einer Person in der Fügung der Figur zu repräsentieren

174

7. Die zweite Darstellungsform des Körpers

7.1. S PINOZA – MONISTISCHE K ONZEPTION DES K ÖRPERS Beim Bezug auf Spinozas monistische Konzeption des Körpers stütze ich mich auf zwei Philosophen: Gilles Deleuze, der mehrere Studien zu Spinoza veröffentlicht hat und Beispiele sowie Anweisungen spinozistischer Projekte gibt258 und Moira Gatens259, die – Deleuze folgend – den Versuch vorgetragen hat, mit spinozistischen Begriffen das Geschlechterverhältnis zu analysieren. Es soll darum gehen, diejenigen Bestimmungen Spinozas aufzuführen, die für eine Betrachtung von Körperdarstellungen in der Körperkunst wichtig sein mögen. Aber vor dem Versuch der Einrichtung einer spinozistischen Perspektive auf Körperkunst steht noch die Betrachtung der Arbeit des Vorläufers der Verhaltensforschung Jakob von Uexküll. Deleuze hat geschildert, wie dessen Untersuchungen eher einer Ethologie im Sinne der Ethik Spinozas als der zeitgenössischen Biologie verpflichtet sind. Der Umweg über Uexküll, die Entfernung von Spinoza, soll mir dazu dienen, mich – angesichts meines philoso-

258

Deleuze, Gilles, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1968 (Paris 1968); Deleuze, Gilles, Spinoza – Praktische Philosophie, Berlin 1988 (Paris 1981). Vor allem im 6. Kapitel, ‚Spinoza und Wir‘ (S. 159-169) ist die Rede von Studien, die Körper im Sinne Spinozas konzipieren.

259

Gatens, Moira, Ethologische Körper, Geschlecht als Macht und Affekt, in Marie-Louise Angerer, The Body of Gender, Wien 1995.

175

K ÖRPER IN FORM

phischen Unvermögens – vor dem Versuch einer direkten begrifflichen Übertragung zu bewahren. Moira Gatens ist sehr rigoros in der generellen Einschätzung Spinozas: „Spinoza weist jedes transzendente Wesen zurück, darunter Gott als vorübergehende Ursache260, Endursachen (=Zweckursachen A.d.A.), die Teleologie der Natur oder der Geschichte, eine transzendentale Moral usw.“261 Diese Erläuterung ex negativo zielt auf die Gegnerschaft Spinozas zum Zeitgenossen Descartes, dessen Erbe bis auf unsere Zeit Moira Gatens konstatiert und gerade in Bezug auf die Konzeption des Körpers hervorhebt, „{...} da die Wissenschaften vom Menschen im Schatten des kartesianischen Dualismus entstanden sind {...}“262. Es ist sicher richtig, dass die Descartsche Denkweise eine Reihe von Dualismen oder Dichotomien befestigt hat, wie die Scheidung von Körper und Geist, Kultur und Natur, welche von Spinoza ausdrücklich abgelehnt werden, so dass sich dieser hier als Kontrastmittel empfiehlt. Genau um die Vermeidung solcher Dualismen geht es auch Gatens, die ihrer Überraschung über das Ausmaß Ausdruck gibt, „{...} in dem viele gegenwärtige psychoanalytische und feministische Ansichten vom Individuum eine so suspekte Vorstellung der Kausalität von Kör-

260

Vgl. Spinoza, Baruch, Ethik, Pars I. De Deo, Propositio XVIII: Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens. – Gott ist die immanente, nicht aber die vorübergehende Ursache aller Dinge (Reclam Ausgabe Latein/Deutsch, Stuttgart 1990, S. 54/55). Der Ausdruck transiens wird häufig auch mit ‚äußerer Ursache‘ übersetzt. Damit ist ein Ursache-Wirkungstyp bezeichnet, in dem die Wirkung die Ursache verlässt, um in einer anderen Sphäre ihre Wirkung zu entfalten. Gemeint ist etwa der in die Transzendenz entrückte Gott, der die Grenze jedoch zu überschreiten und in die irdische Welt hineinzuwirken vermag.

261

Gatens, Moira, Ethologische Körper, Geschlecht als Macht und Affekt,

262

Gatens, Moira, Ethologische Körper, Geschlecht als Macht und Affekt,

in Marie-Louise Angerer, The Body of Gender, Wien 1995, S. 37. in Marie-Louise Angerer, The Body of Gender, Wien 1995, S. 36.

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D IE ZWEITE D ARSTELLUNGSFORM DES K ÖRPERS

per und Geist bzw. von Geschlecht im biologischen Sinn und Geschlecht im kulturellen Sinn widerspiegeln.“263 Unsere Problematisierung des menschlichen Körpers und seiner Möglichkeiten geschieht jedoch gewöhnlich auf der Grundlage solcher Differenzierungen. Wir unterscheiden Geist und Körper im Sinne einer Kommandozentrale in einem biomechanischen Organismus, wir beanspruchen einen grundlegenden Unterschied zwischen Mensch und Tier (dem wir keine Seele, kaum Geist zubilligen), wir setzen Kunst und Natur auseinander und wir abstrahieren den Körper aus seinen Verbindungen mit der Umwelt. François Moreau ordnet etwas anders als Gatens diese Unterscheidungen, fast sind es Prämissen, eher einem diffusen, weiter gefassten ‚Anderen‘ des Baruch Spinoza, einem allgemein verbindlichen Denkraum zu, als strikt Descartes selbst264. Gleichwohl ist es richtig, dass sich Spinoza zu diesen Vorstellungen verhält, ja dass er sie ausdrücklich als Vorurteile bezeichnet, deren Ursachen er in der Ethik Stück für Stück, vor allem in den Anmerkungen, die die Lehrsätze und Beweise begleiten, erörtert. Spinoza schreibt dem Körper eine radikale Offenheit für die Wirkungen aller möglichen anderen Körper und Dinge zu, Spinoza kennt kein Primat des Geistes über den Körper, noch des menschlichen Körpers über andere Dinge – er erfasst ihn in seiner konkreten Beziehung zu anderen Dingen und Körpern. Die Merkmale und Vermögen eines Körpers resultieren aus diesen Beziehungen, aus ‚Affektionsbeziehungen‘. Deleuze/Guattari, inspiriert von Spinoza und seiner Terminologie (‚affiziert‘ würde sagen, wer seinerseits in den Strom der spinozistischen Begrifflichkeit gerät), formulieren zusammenfassend: „Wir wissen nichts von einem Körper, wenn wir nicht wissen, was er vermag, das heißt, welche Affekte er hat, wie sie sich mit anderen Affekten, den Affekten eines anderen Körpers, verbinden können oder nicht, um ihn entweder zu zerstören oder von ihm zerstört zu werden,

263

Gatens, Moira, Ethologische Körper, Geschlecht als Macht und Affekt,

264

Moreau, François, Spinoza, Versuch über die Anstößigkeit seines Den-

in Marie-Louise Angerer, The Body of Gender, Wien 1995, S. 36. kens, Kapitel II Spinoza und sein Anderes, S. 26-43.

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K ÖRPER IN FORM

um entweder zu handeln oder zu leiden, oder um mit ihm einen Körper zu bilden, der noch mehr vermag als er.“265 Versuchen wir nun, die Prämissen darzulegen, nach denen mit Spinoza die Analyse der Vermögen eines Körpers zu rechnen hat. Die knappen Lehrsätze der Ethik eignen sich, der Skizzierung des Konzeptes eine Kontur zu geben266. 1. Eingepasst in einen umfassenden Monismus ist Spinozas Konzept des Körpers, und die wichtigsten Prämissen lassen sich mit einigen der Prinzipien seiner Ethik anreißen: es gibt eine einzige Substanz für alle Attribute (I, Def. 6; Lehrs. 1-14); eine einzige Natur für alle Körper; eine Natur, die selbst ein auf unendlich viele Weisen variierendes Individuum ist (Ethik II Lehrs. 13). Auf dieser gemeinsamen Grundlage entfalten sich alle Unterschiede zwischen den Dingen, sie bildet den Immanenzplan – so drückt sich Deleuze aus. Menschliche, tierische, pflanzliche Körper und andere Entitäten – Spinoza spricht durchgehend von Körpern – werden als Zusammensetzungen von weiteren Zusammensetzungen bis hinab zu jeweils unendlich vielen kleinen Teilen begriffen267.

265

Deleuze/Guattari, Mille Plateaux, Paris 1980 S. 350. Es ist hier in diesem Zitat unterschiedslos von Affekt die Rede, wo üblicherweise zwischen Affekt und Affektion geschieden wird. In grober Vereinfachung kann man sagen, dass mit Affektion bei Spinoza die Einwirkung eines Körpers auf einen anderen (und damit auch jenes auf diesen) bezeichnet ist. Mit Affekt wird eher eine Zustandsänderung eines Körpers in Folge einer Affektion bezeichnet, welche, wenn der Körper dadurch in seinem Vermögen eine Steigerung erfährt, einen Affekt der Lust, wenn er aber in seinem Vermögen eingeschränkt oder vermindert wird, einen Affekt der Unlust, ausmacht.

266

Die folgenden Spinoza-Zitate aus der Ethik, Reclam-Ausgabe La-

267

In den Postulaten des 13. Lehrsatzes Ethik II erläutert Spinoza die Zu-

tein/Deutsch, Stuttgart 1990. sammensetzung des menschlichen Körpers: „1. Der menschliche Körper ist aus vielen Individuen (verschiedener Natur) zusammengesetzt, von denen jedes sehr zusammengesetzt ist.

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D IE ZWEITE D ARSTELLUNGSFORM DES K ÖRPERS

Auf allen Ebenen – innerhalb der zusammengesetzten Körper wie auch zwischen den Körpern – stehen diese Zusammensetzungen untereinander in einem Zusammenhang von Ursache und Wirkung, in einem gegenseitigen Affektionszusammenhang. Man muss vielleicht noch einmal betonen, dass dieser Affektionszusammenhang auf dem Plan der Immanenz die heterogensten Dinge umfasst: menschliche Körper, Tiere, Pflanzen, Anorganisches, Artefakte. Spinoza unterscheidet nicht grundsätzlich – und auch hier kommen die genannten Dichotomien zur Sprache – Geist und Körper, Belebtes von Unbelebtem, Natürliches von Künstlichem268. Da sich die Qualitäten eines Körpers aus seinem Affektionsvermögen (Welche Wirkungen kann er ausüben oder erleiden) und den aktuellen Affektionsverhältnissen (welche Beziehungen ist er eingegangen) ergibt, relativiert die spinozistische Perspektive die konventionellen Grenzziehungen und Markierungen unter den Dingen. Wenn etwa das Interesse auf die Vermögen eines Menschen gerichtet ist, so wird sie die Aufmerksamkeit nicht auf seine Formen, seine Abgrenzungen be-

2. Von den Individuen, aus welchen der menschliche Körper zusammengesetzt ist, sind einige flüssig, andere weich und wieder andere hart. 3. Die Individuen, welche den menschlichen Körper bilden, und folglich auch der menschliche Körper selbst, werden von äußeren Körpern auf verschiedene Weisen affiziert. 4. Der menschliche Körper braucht zu seiner Erhaltung sehr viele andere Körper, von welchen er fortwährend wiedererzeugt wird. 5. Wenn ein flüssiger Teil des menschlichen Körpers von einem äußeren Körper bestimmt wird, auf einen anderen, weichen, öfters zu stoßen, so verändert er dessen Fläche und drückt ihm gewisse Spuren des äußeren Körpers ein, der den Anstoß gibt. 6. Der menschliche Körper kann die äußeren Körper auf sehr viele Arten bewegen und auf sehr viele Arten disponieren.“ 268

Auch Gatens stellt dies zu Beginn fest: „Eine ethologische Perspektive wird sicher nicht a priori dem Menschen eine Vorrangstellung gegenüber anderen Formen des Seins geben, da ein ‚Körper alles sein kann; er kann ein Tier ein Klangkörper, ein Geist oder eine Idee sein; er kann ein Sprachkörper ein gesellschaftlicher Körper, ein Kollektiv sein‘. (Gilles Deleuze, Spinoza 1988, S. 127)“. Moira Gatens, Ethologische Körper, S.39.

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schränken, sondern im Gegenteil all diejenigen Dinge für gleichermaßen wichtig erachten, mit denen er in Beziehungen von Ursache und Wirkung steht, mit einem anderen Menschen also ebenso, wie mit einem Theorem, einer Musik, einem Tier oder einem Bild. Neben einfachen Verhältnissen – etwa der Aneignung oder Indienstnahme eines Körpers durch einen anderen – sind komplexe gegenseitige Affektionsverhältnisse und vielfältige Bildungen möglich und zu beachten. 2. Ausnahmslos einem jeden Ding wird eine spezifische Wirkkraft zugesprochen (I, Lehrs. 36: „Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgte“), so affiziert es andere Dinge und wird seinerseits von ihnen affiziert. Die Allgemeinheit der Wirkkraft ist von großer Wichtigkeit gerade auch im Kontext eines Descartschen Denkraumes. Mit Spinoza verbietet sich die Annahme einer mechanistischen Welt ohne jede eigene Dynamis, deren Elemente allein durch eine äußere Ursache angestoßen in Bewegung geraten und nur nachklappern. Spinoza zeigt, wie in der derart konzipierten mechanistischen Welt die Menschen mit ihrem vermeintlichen Vermögen, ihrem freien Willen folgend eine Bewegung zu initiieren, selbst wie kleine Götter erscheinen müssen. Und so kritisiert Spinoza zugleich mit der Vorstellung Gottes als einer äußeren Ursache (als erstem Beweger, als transzendenter Ursache irdischer Wirkungen) die Illusion des freien Willens, die die Menschen glauben macht, aus dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung ausbrechen zu können und ihrerseits unbedingt handeln zu können. Spinoza teilt also nicht die Unterscheidung der Welt in das Reich der den (Natur-) Gesetzen der Kausalität unterworfenen Dinge einerseits und das cogito andererseits, das die Kraft des freien Willens entfaltet und sich so gleichsam einen Bruch mit den UrsacheWirkungsketten erlaubt269. Auch die Wirkungen des Menschen resultieren ausnahmslos aus Ursachen und der Mensch macht sich nur deswegen die Illusion der souveränen Entscheidung oder des einsamen freien Willens, weil er nicht alle Ursachen zu erkennen vermag, die seine Wirkungen bestimmen270:

269

Vgl. Moreau, François, Spinoza, S. 40f.

270

Vgl. Balke, Friedrich, (Die größte Lehre in Häresie, über die Gegenwärtigkeit der Philosophie Spinozas, in: François Moreau, Spinoza,

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(II Lehrs 48:) „Es gibt im Geiste keinen absoluten oder freien Willen; sondern der Geist wird dieses oder jenes zu wollen von einer Ursache bestimmt, die auch wieder von einer anderen bestimmt worden ist, und diese wieder von einer anderen, und so fort ins unendliche.“ Und (III Vorwort:): „Die meisten, die über die Affekte und über die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, scheinen nicht von natürlichen Dingen zu reden, die den allgemeinen Naturgesetzen folgen, sondern von Dingen außerhalb der Natur. Ja, sie scheinen den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staate anzusehen.“ Der Voluntarismus findet also bei Spinoza kein Recht. Alles ist dagegen in einem unendlichen Affektionszusammenhang verbunden, jedes Ding vermag sowohl andere Dinge zu affizieren, als von ihnen affiziert zu werden, eine jede Wirkung folgt aus einer Ursache. Zugleich mit der Illusion einer Freiheit, die durch Willen und Bewusstsein definiert ist und die Möglichkeit der unbedingten Wahlfreiheit impliziert, bestreitet Spinoza auch die Illusion einer teleologischen Ordnung der Welt. In ihr wurzelt nämlich nach seiner Analyse wie viele andere Irrtümer auch die Vorstellung der Willensfreiheit. Die in der Ethik behandelten einzelnen Vorurteile, so Spinoza, sind von einem großem Irrtum abhängig, „nämlich davon, dass die Menschen gewöhnlich annehmen, alle Dinge in der Natur handelten, wie sie selbst, um eines Zweckes willen, ja dass sie von Gott selbst mit aller Bestimmung behaupten, er leite alles zu irgendeinem bestimmten Zweck.“ (Ethik I Anhang) Der Anhang der Ethik I schildert, wie die Menschen von der Begierde, ihren Nutzen zu suchen, die sie wohl verspüren, deren Ursache ihnen aber nicht bewusst ist, ihr Handeln auf eine Zweckursache beziehen, wie sie in nächster Instanz, da sie sich zur Erreichung ihres Nutzens verschiedener Mittel bedienen, viele Dinge der Natur nicht nur als ihre Mittel, sondern als zu ihrem Zweck eingerichtete Mittel verstehen und schließlich einen mit menschlicher Freiheit begabten Lenker der Natur supponieren, der diese Dinge zu ihrem Nutzen geschaffen habe.

Versuch über die Anstößigkeit seines Denkens, Frankfurt, 1994), der in dieser Hinsicht auf Freud als Nachfolger Spinozas verweist, S. 145f.

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K ÖRPER IN FORM

Die allmähliche Zurückdrängung der teleologischen Konzepte in der zeitgenössischen Naturphilosophie war Spinoza wohl bewusst und so beruft er sich für seine Analyse ausdrücklich auf das Vorbild der Mathematik, da diese „sich nicht mit Zwecken, sondern nur mit dem Wesen und den Eigenschaften der Figuren beschäftigt...“ Als solche dient auch sie dem Aufweis der wahren Ursachen und bestreitet die Substitution unbekannter Ursachen durch Zweckursachen. 3. Die Bestimmung der Charakteristika (Individualität) eines Körpers geschieht bei Spinoza gleichsam auf zwei Ebenen, und Deleuze und Guattari haben vorgeschlagen, dass man die Vermögen der Körper mit Spinoza kartographieren könne, indem man sie in ein Diagramm mit zwei Achsen einträgt. A. Die erste Achse verzeichnet die Beziehungen, die die Elemente des Körpers zu Zusammensetzungen und diese Zusammensetzungen schließlich zum globalen Zusammenhang des Körpers führen. Es sind diese Beziehungen solche der Ruhe und Bewegung, der Langsamkeit und Schnelligkeit: „Alle Körper sind entweder in Bewegung oder in Ruhe; Jeder Körper bewegt sich bald langsamer, bald schneller; Die Körper unterscheiden sich voneinander hinsichtlich der Bewegung und der Schnelligkeit und Langsamkeit, nicht hinsichtlich der Substanz.“ (II, Lehrs. 13 Axiom 1, 2, Hilfssatz 1) Und: „Wenn einige Körper gleicher oder verschiedener Größe von anderen so zusammengedrängt werden, dass sie aneinanderliegen oder dass sie, wenn sie sich mit gleicher oder verschiedener Schnelligkeit bewegen, einander ihre Bewegungen in irgend einer Weise mitteilen, so sagen wir, dass alle diese Körper miteinander vereinigt sind, oder dass alle miteinander einen Körper oder ein Individuum bilden, das sich von den übrigen durch diese Einheit der Körper unterscheidet.“(II Lehrs. 13 Definition) Und: „Der menschliche Körper ist aus sehr vielen Individuen zusammengesetzt, von denen jedes seinerseits wieder stark zusammengesetzt ist.“ (II Lehrs. 13 Postulat 1)

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Diese ‚Physik‘ der durch Geschwindigkeitsverhältnisse organisierten Teilchen führt gleichsam die extensiven Teile einer Beziehung auf271. Man kann – mit Deleuze – von einer kinetischen Bestimmung der Körper sprechen272. B. Die zweite Achse verzeichnet das Affektionsvermögen eines Körpers, also die Frage, wieweit ein Körper andere Körper affizieren kann (auf sie einwirken kann) oder von diesen affiziert wird (Wirkungen erleidet). Die Charakterisierung der Körper nach ihrem Affektionsvermögen kann man im Gegensatz zur kinetischen als eine dynamische Bestimmung bezeichnen273. Die kinetische und die dynamische Proposition sind als zwei Beschreibungsweisen desselben Zusammenhangs zu verstehen: die ‚fabrica‘ oder Zusammensetzung eines Körpers korrespondiert seinem Affektionsvermögen – löst sich die Zusammensetzung auf, so schwindet auch das Affektionsvermögen, eine Erweiterung der Zusammensetzung dagegen dehnt auch das Affektionsvermögen aus. Vermögen und Verbindung, das mögen in Bezug auf die Körper die beiden wichtigsten Begriffe der Ethik sein. Es soll nun noch etwas zur Frage der Affektionen gesagt werden. Ein Körper besitzt seiner Natur, also seiner Zusammensetzung gemäß, ein bestimmtes Affektionsvermögen. Dies betrifft sowohl die Fähigkeit, auf einen anderen Körper einzuwirken, als auch, sich von ihm affizieren zu lassen: „Alle Arten, auf die ein Körper von einem anderen Körper affiziert wird, folgen aus der Natur des affizierten Körpers und zugleich aus der Natur des affizierenden Körpers, so dass ein und derselbe Körper auf verschiedene Weisen bewegt wird...“(II Lehrs. 13 Axiom 1) Die Erfüllung des Affektionspotentials kann auf zweierlei Arten geschehen: „Ich sage, dass wir dann handeln, wenn etwas in uns oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d.h. {... }, wenn etwas in uns oder außer uns aus unserer Natur erfolgt, das durch sie klar

271

Die res extensa, die ausgedehnten Dinge werden in ihrer Ausdehnung

272

Deleuze, Gilles, Spinoza, Praktische Philosophie, S. 160.

273

Deleuze, Gilles, Spinoza, P.Ph. S.160

durch die Bewegung erfahrbar, die von Punkt a zu Punkt b verläuft.

183

K ÖRPER IN FORM

und deutlich erkannt werden kann. Dagegen sage ich, dass wir leiden, wenn in uns etwas geschieht oder aus unserer Natur etwas folgt, wovon wir nur die partiale Ursache sind.“ (III Def 2) Spinoza bezeichnet erstere als aktive, letztere als passive Affektionen (oder auch: Tätigkeitsvermögen / Leidenschaften). Die Frage der aktiven und der passiven Affektionen bekommt zudem einen ethischen Einsatz. Ziel eines jeden Körpers ist es, das Affektionsvermögen weitgehend mit aktiven Affektionen auszufüllen: „Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es.“ (4 Lehrs 40) Affektionen nämlich können den spezifischen Zusammenhang eines Körpers (Ruhe – Bewegung) entweder bestärken und fördern oder aber hemmen oder gar zersetzen. Die Tätigkeits- und Leidensvermögen eines Körpers bestimmen auch das Erkenntnisvermögen seines Geistes. Hier herrscht ein Parallelismus274: „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe, wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.“ (II, Lehrs.7) Und: „Alles, was das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt das Denkvermögen unseres Geistes.“(III Lehrs. 11) Im Rahmen des Parallelismus gibt es keine Hierarchie zwischen Körper und Geist, kein Kommandoverhältnis: „Der Körper kann weder den Geist zum Denken noch der Geist den Körper zur Bewegung oder zur Ruhe oder zu etwas anderem {...} bestimmen.“(III Lehrs. 2) Wohl aber gibt es eine Art Prius des Körpers, aus dessen Affektionsvermögen diejenigen des Geistes folgen:

274

Es ist viel über diesen Parallelismus von Geist und res extensa bei Spinoza geschrieben worden. Deleuze beschreibt das Verhältnis als das eines gegenseitigen Ausdrucks (Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza, Das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, München 1968) Ich vermag hier nicht mehr, als die explizitesten Lehrsätze der Ethik zu zitieren.

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„Der menschliche Geist ist befähigt, sehr vieles zu erfassen, und umso befähigter, auf je mehr Weisen sein Körper disponiert werden kann.“(II, Lehrs. 14). Tätigkeiten des Körpers (Affektionen, deren adäquate Ursache wir sind) nämlich befähigen den Geist zu Erkenntnissen: „Unser Geist tut manches, manches aber leidet er. Insofern er nämlich adäquate Ideen hat, tut er notwendig manches; und insofern er inadäquate Ideen hat, leidet er notwendig manches.“(III Lehrs.1) Die monistische Darstellung Spinozas, die Geist und Körper in einem Zug erfasst, erlaubt es auch, die Struktur des Körpers mit der des Geistes in Verbindung zu bringen. Der Geist ist keine dem Körper gegenüber äußerliche oder transzendente Qualität. Und so haben auch Verstand, Wissen und Begehren eine konkrete körperliche Gestalt und gehen der Komplexität des Körpers gemäß seiner Zusammensetzung und seinen Affektionen parallel: „Das Objekt der Idee, die den menschlichen Geist ausmacht, ist der Körper oder eine gewisse Daseinsform der Ausdehnung, die in Wirklichkeit existiert, und nichts anderes“(Ethik II, 13). Es soll mit diesen Prinzipien die Skizze einer monistischen Konzeption des Körpers nach Spinozas Vorbild (deren Grundlegung freilich nicht berührt wurde) abgeschlossen sein. Die folgende Liste wird diejenigen Punkte aufzählen, die für eine spinozistische Qualifikation von Körpern maßgeblich sind und in nächster Instanz auch die Aufmerksamkeit für die anschauliche Darlegung dieser Bestimmungen leiten sollen. – Eine monistische Perspektive legt den Körper auf einem Plan auseinander, auf dem Körper, ihre Elemente, ihre Umgebung und deren Verbindungen aufgezeichnet sind. Körper werden im Konnex, als Element von größeren Gefügen erfasst. – Die Elemente sind nach ihrer Zusammensetzung zu größeren Einheiten, nach ihren extensiven Verhältnissen und auch nach der Ausfüllung ihrer Affektionsvermögen, ihren intensiven Verhältnissen, zu qualifizieren. – Aus der Betonung der allgemeinen Wirkkraft jeglicher Elemente folgt die Forderung gleichmäßig verteilter Aufmerksamkeit. Kein Element darf voreilig als unbedeutend, passiv, akzidentiell betrachtet werden. Die konventionellen Grenzen der Körper verweisen genauso

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K ÖRPER IN FORM

wenig auf ihre Qualitäten, wie die Unterscheidung in belebte und unbelebte, in künstliche und natürliche Dinge Vorentscheidungen bezüglich der tatsächlichen Affektionsverhältnisse bedeuten sollten. Konkreter gilt es etwa, den menschlichen Körper nicht selbstverständlich als Protagonisten (Prot-agonist = griechisch für erster oder vorderster Schauspieler) zu betrachten, ihm einen Vorrang als wirkende oder erleidende Entität zu geben. – Affektionsverhältnisse müssen in Bezug auf die Steigerung oder Verminderung der Vermögen ihrer Elemente qualifiziert werden. – Die Affektionen eines einzelnen Körpers, die den Charakter der Aneignung eines kleineren Elementes haben, können also danach beurteilt werden, ob sie für diesen Nahrung oder (in extremis) Gift sind (um eine auch von Spinoza häufig benutzte Metapher zu verwenden) – tatsächlich können Affektionen auch Teile des Körpers in ihrem Vermögen bestärken und andere zugleich schwächen. – Affektionsverhältnisse zwischen verschiedenen Körpern bergen weitere Komplikationen. Zusammenschlüsse zu Populationen oder Sozietäten, die das Affektionsvermögen der beteiligten Körper gegenseitig extensivieren und/oder intensivieren, sind genauso denkbar, wie die vollständige Determination einzelner Körper oder gar ihre Auflösung.

7.2. B ARON J OHANN J AKOB U MWELTLEHRE

VON

U EXKÜLLS

Der Biologe und Vorläufer der Verhaltensforschung Uexküll soll hier der Konkretisierung und vorläufigen Veranschaulichung einer möglichen spinozistischen Analyse der Körper nach ihren Vermögen und Verbindungen dienen. Ich möchte Uexküll hier vor allem deswegen gleichsam ‚dazwischen schieben‘, um dem Risiko einer direkten Übertragung spinozistischer Begriff zu entgehen. Uexküll lässt sich nicht im strengen Sinne in die Begriffswelt Spinozas übersetzen. Die Besprechung seiner Arbeit bezieht sich auf zwei Schriften, auf die ‚Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Bedeutungslehre‘275 und ‚Umwelt und Innenwelt der Tiere‘ 276. 275

Uexküll, Jakob von 1, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Bedeutungslehre, Hamburg 1956.

276

186

Uexküll, Jakob von 2, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909.

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Vor allem Uexkülls Konzeption des Umweltbegriffs erscheint mir als eine interessante Erfindung und Ergänzung im Rahmen einer Ethologie. Deleuze277 gibt in einem kurzen Exkurs zu Uexküll das auch von diesem häufig bemühte Beispiel der Zecke278 an, um die Problematisierungsweise zu skizzieren. Die extrem einfache ‚Umwelt‘ der Zecke lasse sich mit drei Affekten beschreiben: lichtgeleitet erklimmt die weibliche Zecke einen Baum oder Strauch, geruchsgeleitet lässt sie sich auf ein darunter befindliches Säugetier fallen, wärmegeleitet kriecht sie zu einer haarlosen, gut durchbluteten Hautstelle, wo sie sich vollsaugt, um schließlich Eier abzulegen und zu sterben. Schon diese kurze Beschreibung markiert deutlich die Perspektive. Die knappe Nennung der von der Zecke selektierten Dinge aus ihrer Umgebung ergreift die Zecke als Element eines Gefüges. Weder wird die Zecke ihrer körperlichen Beschaffenheit nach der Betrachtung und Analyse vorgeführt, noch gibt es ein Bild ihres Lebensraumes, das über die von ihr wahrgenommenen und selektierten Dinge hinausginge. Es besteht kein Zweifel, dass Uexküll, heute ein wichtiger Vorgänger der modernen Verhaltensforschung oder Ethologie, nach Disziplin, Zeit und Begrifflichkeit weit von Spinoza entfernt ist – womöglich kannte er Spinoza gar nicht oder maß ihm doch keine Bedeutung für die eigene Arbeit zu. Uexküll, in Estland 1864 geboren und 1944 auf Capri verstorben, studierte an der Universität Dorpat Zoologie und arbeitete zunächst einige Jahre bei dem bekannten Physiologen W. Kühne in Heidelberg und auf der Zoologischen Station in Neapel. Er gründete und leitete das Hamburger Institut für Umweltlehre. Später hat er sich vom akademischen Betrieb gelöst und als Privatgelehrter auch seine bekanntesten Bücher veröffentlicht. Man mag in diesem Zusammenhang die anschauliche und drastische Darstellungskunst und seine polemische Ader nennen, deren Früchte Uexküll einem breiten, auch nichtwissenschaftlichen Publikum widmete.

277

Deleuze, Gilles, Spinoza – Praktische Philosophie, Berlin1988, S. 162; Vgl auch Deleuze, Gilles; Guattari, Felix, Tausend Plateaus, S. 350.

278

Vgl beispielsweise Uexküll, J.v. 1, Hamburg 1956, S. 23f.

187

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Die Position eines Wissenschaftlers lässt sich auch aus seinen erklärten Gegnerschaften erschließen. Für Uexküll war das vor allem der Darwinismus seiner Zeit (nicht so sehr Darwin selbst). Der Darwinismus führt nach Uexküll im Zuge der Betonung der Lehre von der sukzessiven Höherentwicklung zu immer komplexeren Lebewesen Irrschlüsse mit sich und blockiere so die Wissenschaft von den Lebewesen279. Zunächst verhindere die stillschweigende Annahme, höher entwickelte (das heißt hier vor allem: komplexer zusammengesetzte) Lebewesen seien auch vollkommener, weil besser an ihre Umwelt angepasst, die Untersuchung der Funktionen einfacher zusammengesetzter Organismen. In einer polemischen Überspitzung behauptet Uexküll, der sich viel mit einfachen Meereslebewesen auseinandergesetzt hat, dass die einfachen Organismen in gewissem Sinne sogar vollkommener seien als die komplexeren, weil ihre Gestalt in den wenigen Funktionen vollständig aufgehe280. Nach Uexkülls Verständnis selektiert ein Tier gemäß seines ‚Bauplans‘ seine Umwelt281. Uexkülls Konzept der Entsprechung von ‚Umwelt‘ und ‚Innenwelt‘ eines Organismus zu einem regelrechten ‚Funktionskreis‘, aus dessen Kohärenz Vollkommenheit in jedem Fall folge, steht gegen die mehr oder minder gelungenen Anpassungsversuche an eine tendenziell feindliche Natur, die die Darwinisten den Organismen attestieren. Der Darwinismus hat aber nach Uexküll auch eine lähmende Spaltung in der Biologie zur Folge. Die anatomisch prozedierende Forschung privilegiert die Entwicklungslinien, sie erstellt den Stammbaum und vernachlässigt den Funktionszusammenhang und die Umwelten der Tiere282. Die Physiologie dagegen untersucht mit Anleihen bei Physik und Chemie Mikro- und Teilfunktionen einzelner Organe. Sie entwickelt partikuläre Vorstellungen vom Lebensprozess, die sich kaum synthetisieren lassen. Uexküll dagegen schlägt vor, die Organismen als ‚Subjekte‘ zum Gegenstand der Forschung zu machen283, und zu diesem Zweck bemüht er sich, die jeweilige ‚Umwelt‘ zu rekonstruieren, deren Zentrum

279

Uexküll, Jakob von 2, Berlin 1909, Einleitung, S.2.

280

Uexküll, J.v. 2, S. 4.

281

Uexküll, J.v. 2, S.4-5.

282

Uexküll, J.v. 2, S.3.

283

Uexküll, J.v.1, S. 21.

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sie bilden. Er konzentriert sich auf die Umgebung eines Tieres und die Beziehungen, die es innerhalb dieser Umgebung eingeht. In einer umfassenden ‚Bedeutungslehre‘ untersucht Uexküll aus welchen ‚Merkmalen‘ sich die ‚Umwelt‘ eines Tieres aufbaut. Sind diese Merkmale, die den Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsspielraum ausmachen und innerhalb einer je eigenen räumlichen und zeitlichen Struktur gelagert sind, erschlossen, so forscht Uexküll danach, welche Merkmale für das jeweilige Tier den Charakter von ‚Merkzeichen‘ haben, die von ihm mit ‚Wirkzeichen‘ beantwortet werden und so den Merkmalen ‚Wirkmale‘ aufprägen – man kann diesen Zeichenaustausch als unmittelbaren Verwertungszusammenhang verstehen. Die Betonung der Zeichenhaftigkeit der Relationen und die Untersuchungsperspektive, die die Tiere als Subjekte ihrer Umwelt positioniert – dies sind die Mittel, mit denen Uexküll das Spezifische des Lebendigen zu erfassen bestrebt ist und das er der mechanistischen Reduktion der Physiologen für genauso unzugänglich erklärt, wie den genealogischen und systematischen Anstrengungen der Anatomen. Nicht die Erscheinung eines Tieres (seine Ähnlichkeit mit anderen, seine daraus vermeintlich folgenden Eigenschaften), nicht seine Herkunft, nicht einmal die physiologische Funktionsfähigkeit seiner Organe besetzen Uexkülls Interesse, sondern der jeweils realisierte Zusammenhang mit der Umwelt ist leitender Gesichtspunkt. Uexküll, der der Ausbildung nach Physiologe ist, verknüpft selbst mechanistische Tendenzen mit vitalistischen. Seinen frühen physiologischen Untersuchungen vor allem einfacher Meeresbewohner verdankt sich die Erkenntnis, dass ein jedes Tier geradezu als das Klischee seiner Umwelt zu bezeichnen ist. Ein einfach aufgebautes Lebewesen selektiert entsprechend seiner Sinnesund anderer Organe eine einfach aufgebaute Umwelt aus seiner Umgebung, ein komplexes eine komplexe. Innenwelt- und Umwelt eines Tieres stehen in vollständigem Entsprechungsverhältnis. Es gibt eine Art Strukturzusammenhang des Tieres mit Elementen der (belebten oder unbelebten) Umgebung284.

284

Dieser Zusammenhang mit der Umgebung ist nach Uexküll, der hier seinem Lehrer Hans Driesch folgt, bereits in den Keimzellen angelegt. Das Tier verfüge über ein Repertoire an vorbereiteten Reaktionen auf Faktoren seiner Umwelt. Driesch, Hans, *1867, +1941.

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Wenden wir uns einmal dem Begriff der Umwelt etwas genauer zu: Die Tiere einer Nachbarschaft – etwa ein bestimmter maritimer Bereich, der von Seeigeln, Seesternen, Fischen, Muscheln usw. bevölkert ist – haben durchaus unterschiedliche Umwelten. Derselbe Gegenstand (oder auch ein anderer Organismus) mag in ihrer Umwelt als Merkmal auftauchen oder gar keine Rolle spielen (nicht wahrgenommen, nicht differenziert werden), er mag bei den Tieren, die ihn als Merkmal wahrnehmen, unterschiedlich das Merkzeichen Essbares, Giftiges oder Brutplatz signalisieren und in den entsprechenden Funktionskreis eintreten285. Aber diese Formulierungen lassen vielleicht noch zu sehr an einen Selektionsvorgang denken, der aus einem gemeinsamen, äußeren Fundus schöpft. Die Tiere sind dagegen nach Uexküll völlig in ihre jeweiligen Umwelten eingeschlossen, deren Dimensionen und Formen, deren Horizont und zeitliche und räumliche Skandierung unterschiedlich organisiert sind. Die Vorstellung des Ganzen der Umgebung resultiert aus der Sicht des wissenschaftlichen Betrachters – sie ist eine Abstraktion und allein von heuristischem Wert. Es ist der tierische Bauplan, der gleichermaßen a priorische Formen der Anschauung aber auch des Wirkens bedingt – Uexküll definiert jeweils Wirkraum, Tastraum, Sehraum (mit der fernsten Ebene als Abschluss) aber auch die Merkzeit mit ganz unterschiedlichen Bereichen und Schwellen. So vermögen etwa schnelle, beutegreifende Insekten in kleinsten Zeiteinheiten sich zu orientieren und zu agieren, Zeiteinheiten, die für die zeitliche Skandierung der Wahrnehmungen und Aktivitäten ihrer Opfer oder gar einer Schnecke gar keine Rolle spielen. Statt also vom Szenario einer gemeinsamen, allgemeinen Umwelt auszugehen, einem universell zugänglichen Wahrnehmungs- und Aktionsbereich, richtet sich die Perspektive auf ganz bestimmte, sehr unterschiedliche Horizonte, die sich allein aus den selektierten Dingen (oder den Verbindungen) aufbauen. Die Voraussetzung eines allgemeinen Rahmens wird zugunsten der konkreten Untersuchung vorfindlicher Realitäten aufgehoben. Das Allgemeine, vermeintlich Gemeinsame oder Ähnliche wird suspendiert, um allein die jeweiligen konkreten und aus Sicht eines allgemeinen Standpunktes sowohl knappen, bizarren, wie auch vielfältigen, fremden Umwelten zu erschließen.

285

190

Uexküll, J.v. 1, S.94.

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Uexküll selbst hat sich im Kontext der Diskussion um den Raum auf Kant bezogen, anders als dieser jedoch leitet er die Charakteristika der ‚Anschauungsformen‘ aus dem jeweiligen Bauplan ab286 – hier erweist er sich als ausgebildeter Physiologe. Auch die Formen der Anschauung sind also, wie die jeweiligen Umwelten nicht allgemein, universell, sondern unterschiedlich von Lebewesen zu Lebewesen, entsprechend seines Bauplanes. Der gegenseitige, mitunter vollständige Abschluss oder Ausschluss der Umwelten bedeutet aber nicht, dass es nicht Überschneidungen von Funktionskreisen geben könnte. So ist der hohe Laut einer Fledermaus, der ihr zur Kommunikation oder, im Rahmen eines Echolotsystems, zur Orientierung dient, für bestimmte Nachtfalter ein Warnsignal. Bestimmte Zeichen sind verschiedenen Umwelten gemein, gehen jedoch in unterschiedliche Verwertungszusammenhänge ein und sind so dem einen Lebewesen Merk- dem anderen Wirkzeichen. Hieraus entsteht ein Perspektivismus, der dasselbe Ding, denselben Körper je nach dem Gefüge, dem er angehört, mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen besetzt. Der Wert eines Elementes ist ihm nicht absolut eigen, sondern resultiert aus der Affektion. Wenn der Schrei der Fledermaus also ein Ortungsschrei ist, der der Suche nach Beutetieren dient, derer sie bedarf, um den Zusammenhang ihres Körper und seine Vermögen zu erhalten, so flüchtet der Nachtfalter, der die Verschlingung und schließlich Verdauung und Zersetzung seines Körpers zu vermeiden bestrebt ist, vor dem selben Ton. Uexküll nennt eine ganze Reihe von Phänomenen, die noch über diese partiellen Überschneidung hinausgehen, es sind dies die ‚kontrapunktischen‘ Verhältnisse, Organismen, die völlig in die Umwelt ihrer Beute oder Nahrungsquelle eingehen: Fliege und Spinne, Hummel und Blüte, Teichmuschel und Bitterlin287. Und Uexküll phantasiert häufig darüber, die vielen Umwelten zur großen ‚Komposition‘ oder ‚Partitur der Natur‘ als einer kontrapunktischen Symphonie zu entschlüsseln –

286

Uexküll, Jakob von 3 Theoretische Biologie, 2. gänzlich neu bearbeite-

287

Uexküll, J.v. 1, Kapitel 10: Der Kontrapunkt als Motiv der Formbil-

te Auflage, Berlin 1928, S. 4ff. dung, S. 145ff.

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in den Worten Deleuze/Guattaris: den Immanenzplan der Natur zu entfalten. Diese Beispiele mögen uns einen Eindruck geben, wie sich Umwelten zu Komplexen verbinden und einen gemeinsamen, größeren Zusammenhang ausbilden. Hier geht es nicht mehr um die unmittelbare Verwertung oder Aneignung (etwa einer Nahrung), sondern um die Extensivierung von Vermögen durch die Bildung übergreifender Komplexe. Denn bestimmte kontrapunktische Verhältnisse dienen nicht allein der Ausbeutung oder Verwertung des einen Lebewesens, sondern bilden sich als gegenseitiger Wirkzusammenhang, als Symbiose aus. Die biologischen Termini klassifizieren die dabei möglichen Arten des Ineinander, Miteinander, Nebeneinander und mögliche Übergangsformen heute sehr differenziert: Endosymbiose (Symbiont lebt in Wirt: Darmbakterien), Ektosymbiose (Symbiont lebt außerhalb: Putzerfisch und Raubfisch), Mutualismus (= 3er-Komplex mit integriertem Parasitismus: Madenhakerstare entfernen Ektoparasiten aus der Haut von Säugetieren), Kommensalismus (ein Organismus ernährt sich vom Nahrungsüberfluss eines anderen, ohne ihm zu schaden) usw. usw. Symbiotische Verhältnisse integrieren alle Arten von Organismen: Bakterien, Pilze, Pflanzen, Insekten, usw288. Der Begriff der Komposition der Natur, welcher Uexküll Planmäßigkeit unterstellt, markiert vielleicht den größten Abstand zu darwinistischen aber auch vielen modernen Positionen in der Biologie und Verhaltensforschung. Uexküll weist gerade im Zusammenhang kontrapunktischer Verhältnisse (Spinne – Fliege) das Erklärungsmuster sukzessiver Anpassung qua Mutation und Selektion zurück (wofür einige gewichtige Argumente geliefert werden) und geht stattdessen von einer gemeinsamen, zugrundeliegenden ‚Partitur‘ aus289.

288

Referiert nach: Artikel Symbiose in: Der Brockhaus in Text und Bild, PC-Bibliothek Version 2.0, Mannheim 1999.

289

Ob hier nicht einfach ein Unterschied der Perspektive zur vermeintlichen systematischen Unverträglichkeit hochgerechnet wird, vermag ich nicht zu beurteilen. Evolution lässt sich von Uexküll her nicht denken. Natürlich muss man fragen, ob nicht ein Übergang vom Analysebefund einzelner Tierwelten (das Umweltgefüge der Fledermaus erweist sich dem Betrachter gegenüber als planmäßig) zur Hypostasierung als allgemeinem Wirkprinzip der Natur erfolgt ist. Portland (in: Uexküll, Streifzüge, A.a.O., Vorwort, S. 11) weist auf die Herkunft dieser Kon-

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Uns interessiert hier jedoch vor allem die Konzeption der Umwelt. Uexküll selbst hat den Begriff nicht nur für die Tierwelt benutzt, sondern ihn auch auf die Menschen ausgedehnt. Und er hat tatsächlich kurze Texte veröffentlicht, die die Umwelten einzelner Personen, aber auch von Gruppen skizzieren sollen290. Die Rede vom Bauplan, aus denen die Umwelten der Tiere abgeleitet werden können, hat Uexküll früh, zu Zeiten seiner Beschäftigung mit einfachen Organismen entwickelt. Hier ist es der Physiologe Uexküll, der Kennzeichen des Bauplans feststellt. Eine physiologische Bestimmung des Bauplanes würde nun gewisse Schwierigkeiten bei der Übertragung auf die unterschiedlichen Umwelten der Menschen machen. Später hat sich Uexküll von den im strengen Sinne physiologischen Untersuchungen entfernt, so dass der Begriff Bauplan eine andere Konnotation bekommt und eher das Gefüge von Affektionen bezeichnet, zu denen ein Organismus fähig ist. Als solches resultiert es aus der Beobachtung und Auseinanderlegung in Merk- und Wirkzeichen. So konzipiert ist es weniger erstaunlich, wenn Uexüll die Rede von Umwelt und Bauplan schließlich auch auf die Menschenwelt bezieht. Da die Umwelten der Menschen sich nach Uexküll sowohl individuell als auch nach Gruppen unterscheiden, verfolgt er also das Konzept veränderlicher, kultureller Baupläne291. Die Wissenschaft vom Menschen ist es inzwischen gewohnt, sich unterschiedliche soziale (Bourdieu) oder historische a priori (Foucault, Veyne) vorzustellen. Gerade Formulierungen Paul Veynes erinnern an

zeptionen aus dem Vitalismus hin, aber auch auf die Überstrapazierung des Begriffs. Das Wort vom Plan (auch Bauplan) jedenfalls ist in Uexkülls Gebrauch sehr schillernd. 290

Uexküll, J.v. 3, Nie geschaute Welten. Die Umwelt meiner Freunde,

291

Portland kritisiert (in seinem Vorwort zu ‚Streifzüge... und Bedeutungs-

Berlin 1936. lehre von 1956, Hamburg, S. 10,11), dass Uexküll bei dieser Übertragung den Umstand vergesse, dass die Menschen anders als die Tiere nicht in ihre Umwelten eingeschlossen seien, sondern diese transzendieren könnten. Die je eigene Umwelt spiele daher in der Gesamtwelt der Menschen nicht dieselbe Rolle wie im Tierreich.

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die Szenarien von Uexkülls292. Vielleicht ist es die Übung mit der Vielfalt der fundamental voneinander unterschiedlichen Umwelten der Tiere, die Uexküll auch für die Unterschiede der Menschenumwelten sensibel gemacht hat. Deren a priori sind anders als bei Kant nicht Bedingungen einer jeden möglichen Erfahrung, auch nicht die bauplanbestimmten (unveränderlichen?) Bedingungen der Tiere, sondern die jeweils wirklichen, d.h. historischen/sozialen Bedingungen der Menschen. Gleich ob es nun historische a priori oder Umwelten in der Welt der Menschen im strengen Sinne geben kann oder nicht – die Arbeit Uexkülls mag uns in heuristischer Hinsicht hilfreich sein. Uexkülls Untersuchungsansätze führen uns nun zu einer Reihe von Kritierien, die bei der Analyse von Körpern nach Maßgabe der von ihnen unterhaltenen Affektionen hilfreich werden können. Diese Kriterien markieren eher Punkte der Aufmerksamkeit als bereits konkrete Handlungsanweisungen zu bilden: 1. Eine solche Problematisierung von Körpern muss vor allem in erster Instanz eine unmittelbare Deutung nach Richtschnur der äußeren Ähnlichkeit oder Verwandtschaft vermeiden. 2. Diese Zurückhaltung soll für das Ganze des Körpers, aber auch für seine Teile gelten. Besondere Vorsicht gilt hier auch den intrinsischen Funktionen, die bestimmten Organen oder Elementen zugesprochen werden. Sie sagen noch nichts über tatsächlich aktualisierte Verbindungen und Vermögen aus.

292

Uexküll, J.v. 1, Kapitel 1. Die Umwelträume, S. 30ff und Veyne, Paul, Der Eisberg der Geschichte, Berlin 1981, S. 26: „Für den Löwen ist es dermaßen selbstverständlich, Löwe zu sein, dass er nicht weiß, dass er Löwe ist; genauso wenig wissen der König als Amme der Völker oder der Verwalter der Ströme, was sie sind; {...), S. 27: „Genauer: sie wissen nicht einmal, dass sie nicht wissen (darin liegt der Sinn des Ausdrucks ‚wie von selbst‘), wie ein Autofahrer, der nicht sieht, dass er nicht sieht, wenn sich Regen und Nacht vereinigen {...} Es ist sicherlich etwas sehr eigenartiges, und der Neugier eines Philosophen würdig, wie es nämlich um diese Fähigkeit der Menschen bestellt sei, ihre Grenzen zu ignorieren, ihre Seltenheit, Knappheit und sie umgebende Leere nicht zu bemerken, sondern sich jedes mal in der Vollkommenheit der Vernunft eingerichtet zu glauben ...“

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3. Bei der Frage nach den Verhältnissen, die der Körper mit anderen Körpern eingeht, ist die Unterscheidung von Umgebung und Umwelt hilfreich. Zu Lasten der Annahme einer allgemein zugänglichen und geltenden (Wahrnehmung, Orientierung, Handlung betreffenden) Umgebung interessiert sich Uexküll allein für die aus den realisierten Verbindungen folgenden Elemente. 4. Umwelten sind je eigen, oft unvergleichbar – jenseits des gegenseitigen Wahrnehmungs- und Handlungsfeldes. Wo sich Umwelten überschneiden, bedeutet dies nicht zugleich die Ähnlichkeit oder Gemeinsamkeit der involvierten Körper. Die Uexküllsche Perspektive betrachtet eine allgemeine Umgebung als eine Fiktion und den allgemeinen Vergleichsraum als Ausnahme im Miteinander der Umwelten.

7.3. K ÖRPER

IN

AFFEKTIONSVERHÄLTNISSEN

Nachdem zunächst aus den Bestimmungen des Körpers bei Spinoza einige Aspekte der Aufmerksamkeit gefolgert wurden und die Arbeit Uexkülls, insbesondere dessen Begriff der Umwelt, dazu diente, etwas konkreter darzulegen, wie eine monistische Analyse der Körper, ihrer Beziehungen und Vermögen aussehen möge, wird hier nun der Versuch gemacht, Körperkunstarbeiten in den Blick zu bekommen, die eine gewisse Affinität zu monistischen Bestimmungen des Körpers aufweisen. Diese Affinität mag so weit gehen, dass von einer regelrecht monistischen Art der Darstellung und zuletzt gar von einer Darstellungsform die Rede sein kann. Die Merkmale dieser Form sollen stufenweise anhand konkreter Arbeiten aufgewiesen werden. In der Darlegung wird die Form der Erzählung gewählt. Diese Erzählung bezieht sich auf sehr unterschiedliche Körperkunstarbeiten. Das geschieht jedoch vor allem, um sie in einen gemeinsamen Erzählzusammenhang einzuspannen. Es wird so ihrer jeweiligen Besonderheit oder ihrem Kontext im Werk eines Künstlers oder einer Ausstellung nicht entsprochen. Weniger als Musterbeispiele einer vollentwickelten Analyse sind die Kunstwerke hier vorgestellt, denn als Bausteine einer Explikation. Es geht darum, stufenweise von Arbeiten, die die Merkmale der Körper in der Form der Eigenschaftsfigur artikulieren, zu solchen überzugehen, die körperliche Affektionsverhältnisse exponieren. Das Modell

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der Explikation ist also der Übergang, der die Spanne zweier Extrempole durchmisst. Ich fingiere den Übergang als einen Weg der Flucht und der Abweichung von Eigenschaftsfiguren aber auch von bestimmten Körperzuständen (-formungen/-zurichtungen). Man mag darüber streiten, ob es tatsächlich diese Fluchtbewegung der Körper gibt (auch außerhalb der Körperkunst), ob es stattdessen nur um Darstellungsformen geht, oder ob bei den besprochenen Arbeiten notwendig beides zusammengeht (eine Form determiniert den Gegenstand und umgekehrt). Beginnen wir mit Arbeiten, die deutlich diejenigen Funktionen privilegieren, wie sie in der Analyse der Eigenschaftsfigur expliziert wurden. Die darauf folgenden Beispiele zeigen Absetzbewegungen vom selbstidentischen geschlossenen Ganzen des Körpers: ‚widernatürliche Aneignungen‘ anderer Körper oder auch Mischungen oder Kreuzungen von Körpern. Hier wird schon deutlich, dass Affektionsbilder die Elemente von Gefügen exponieren, also Körper im Kontext von Verbindungen zeigen. Die Verbindungen, die den Körper auf eine Weise bestimmen und verändern, die die Eigenschaftsfigur nicht fassen kann, ereignen sich ‚zwischen‘ den Körpern. In extremis verschwindet der Körper vor den Anknüpfungspunkten, die seine ‚Umwelt‘ (im Sinne Uexkülls) ausmachen. Er erscheint dann allein durch die Elemente, die er im Außen selektiert. Daher werden eine Reihe von Arbeiten besprochen, die ‚Körperumwelten‘ auseinanderlegen und sich dabei sukzessive von figurativen Konstellationen fortbewegen. Am Schluss steht die Analyse einer Arbeit, die wohl auf das Ganze eines Körpers zielt, aber dabei nicht den wohlgegliederten Organismus eines Körpers meint, sondern das Affektionsgefüge, das seine Vermögen regelt. Dieses Gefüge wird gerade in der Sprengung des organischen Ganzen des Körpers anschaulich. 7.3.1. Die Verneinung – Wer ist Charles Ray? Der Künstler stellt in einer Arbeit seinen eigenen Körper zur Disposition (vgl. Abb. 10). In einer mise en abîme293 von Kunstformen präsentiert sich das Brustbild Charles Rays.

293

Das ist eine Äußerungsform, deren unglaubliche Konjunktur der letzten Jahre eine eigene Untersuchung verdiente.

196

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Abbildung 10: Charles Ray, No, 1992, 1992

Color Photograph, 38x30 – Quelle: 1993 Biennial Exhibition (AK), New York 1993, S. 315

Der extreme Naturalismus – die Mimesis geht hier bis zum Effekt der täuschenden Ähnlichkeit – trifft auf die komplizierte Reflektion der Kunstmittel, die ineinander geschachtelt sind und dabei wie Zitate wirken müssen. So entsteht eine Spannung zwischen der effektiven Transparenz der Medien, die zu einer gegenstandsgebundenen, inhaltlichen Deutung verführt, und ihrer Herausstellung und Relativierung, die sich aus einem letztlich unklärbaren Spiel fortlaufender Referenzen ergibt: eine Wachspuppe, wie ein Mensch, auf einer Fotografie, die ihrerseits wie eine foto- oder hyperrealistische Malerei wirkt. Der Künstler Ray ist sehr traditionsbewusst294. Er selbst erachtet den Minimalismus (Judd und André) in seiner Radikalität für sozial 294

Vgl. Ray, Charles, interviewed von Selwyn, Marc, in: Flash Art No 141, Summer 1988, S. 115.

197

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und politisch. Seine frühen Arbeiten, die oberflächlich gesehen minimalistisch wirkten, sich auf die Physis des Raumes und seine Formalität orientierten, waren zugleich auch auf den Betrachter bezogen, bargen oft ein gewisses Risiko (ein bis zum Rand mit hunderten von Litern Tinte gefüllter Kubus, ein Kreis als eine sich gefährlich schnell drehende Scheibe auf dem Galerieboden) und hatten daher auch immer etwas Expressives in ihrer (zuweilen potentiellen) Ereignishaftigkeit – ein expressiver Minimalismus, könnte man sagen. Sind diese Arbeiten der 90er Jahre nun, umgekehrt, ein minimalistischer Expressionismus, die Transformation der performance-orientierten body-art in Termini des Minimalismus? Die Reflektion des Kunstmittels, die formale Strenge und der Bezug auf den Raum bleiben, wenn Ray sein Abbild in paranoider Schleife durch die Kunstformen seiner nahen Vergangenheit schickt. Nehmen wir die behauptete Transparenz dieser Medien auf Ray einmal ernst: Wer ist Charles Ray? Ray ist offensichtlich ein etwa 40jähriger Mann der gebildeten Mittelschicht. Ein ‚gepflegter‘, ‚nachdenklicher Brillenträger‘, vielleicht ‚ein wenig neurotisch‘, mit ersten deutlichen ‚Spuren des Lebens‘ im Gesicht. Wenn man die stereotypen Problematisierungen dieses Typus aufruft, so ließe sich sagen: ‚Ein Mann, der seine beruflichen und privaten Erfahrungen gemacht hat‘, wahrscheinlich irgendwo etabliert ist und ‚nicht am Anfang steht‘, aber auch ‚noch nicht am Ende‘, ein Mann, der vielleicht seine Position noch einmal grundlegend verändern könnte. Ein knappes ‚No‘ ist der Titel der Arbeit. Eine ebenso grundsätzliche wie diffuse Verneinung der Darstellung, also seiner eigenen Arbeit, der eigenen Person oder eines äußeren Angebots? Offensichtlich von all dem. Da kein krisenträchtiges Argument für die Verneinung anschaulich gemacht wird, mag es legitim sein, dieses Nein als Ausdruck eines Dranges zu interpretieren, der eigenen Lage zu entkommen, Veränderungen vorzunehmen. Das Nein scheint einem Leben zu gelten, das wohl auskömmlich ist (es gibt keine Anzeichen von Mangel), das geregelt zu sein scheint (es kann für sich sorgen, sich pflegen), das sich im Rahmen eines Typs abspielt (intellektuelle Mittelschicht), einem Leben, das aber nun den Drang empfindet, sich zu verändern. Ray wird seinen eigenen Körper nun häufiger der Kunst, dem Betrachter aussetzen.

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In dieser Erzählung wird diese Verneinung des eigenen Lebens als der Ausgangspunkt einer Absetzbewegung imaginiert (tatsächlich datiert sie ein Jahr später als die nächste hier angesprochene Arbeit Mannequin, Fall 91). 7.3.2. Das Angebot – Mannequin (Fall 91) Eine einzelne Person, eine junge Frau im eleganten modischen Kostüm, stehend im leichten Kontrapost mit energisch in die Hüften gestemmten Armen – ein Model als Geschäftsfrau (vgl. Abb. 11). Ray ruft mit dem im angelsächsischen Sprachraum sicher etwas anachronistischen, auffälligen oder manierierten Wort Mannequin den ganzen historischen Komplex auf, der zum Teil in der Etymologie enthalten ist295, und der die (Zeichen)Gliederpuppe der Künstler, vor allem aber die Kleiderpuppe und die menschliche Person als Kleidermodell umfasst. Der Körper erscheint isoliert, monumental im weiten, ‚leeren Raum‘ moderner Architektur, von der allein die Raumgrenzen, Wand und Boden, als bestimmende Merkmale kubischer Verhältnisse zu sehen sind. Die Körperglieder sind gefügt, um eine gemeinsame Ausdrucksbewegung zu vollziehen, die ungefähr so umschrieben werden könnte: energisches, selbstbewusstes in Szene setzen der eigenen Person bei kritischer Prüfung eines fiktiven Gegenüber. Der Vagheit der Situation korrespondiert die Offenheit des Systems potentieller symbolischer Beziehungen, die dieses ‚Mannequin‘ eingehen könnte. Deren drei allgemeinste Ordnungen jedoch lassen sich andeuten, wenn wir die einzelnen Elemente dieses Körpers und die ihnen korrespondierenden Funktionen über eine Kette analoger Korrespondenzen mit anderen Personen verbinden. So ergibt sich etwa: eine Position im Berufsleben (moderne, energische Businessfrau), eine Position im differenzierenden Spiel der Mode (elegante, moderne,

295

Vgl. Webster’s New Encyclopedic Dictionary, Ed. 1996, New York: S. 609, Artikel Mannequin: 1: an artist’s, tailor’s, or dressmaker’s jointed figure of the human body; also: a form representing the human figure used especially for displaying clothes 2: a woman who models clothing: MODEL {French from Dutch mannequin...}. Bedenke auch das Berlinerische, das französische ,mannequin‘ verballhornende ,Männeken‘ für nicht ganz ernst zu nehmende männliche Personen.

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gehobene Bekleidung), eine Position im Geschlechterverhältnis (eine junge, attraktive, selbstbewusste Frau). Diese Positionen und die ihnen korrespondierenden Zeichensysteme sind nicht nur kombinierbar, sie durchdringen einander. Abbildung 11: Charles Ray, Mannequin Fall ‘91

Mixed Media, 244 cm – Quelle: Post Human (AK), Hamburg 1993, S.128-129

Die isolierende Präsentation im Konnotationsbereich von Laufsteg, Werbefotografie und Kunstausstellungsraum, die glatte, perfekte Artifizialität der Puppe, der kleine, exponierende Ständer und schließlich die Übergröße, die in der Konfrontation mit der Person des Künstlers deutlich wird, all dies deutet darauf hin, dass es sich hier weniger um eine konkrete Person, als um ein Modell im Sinne eines vorbildhaften Musters handelt.

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Die Puppe transzendiert und übersteigt (die Kunsthistoriker mögen sagen: blow up296) das Maß des Menschlichen auch physisch. Sie ist noch größer, als die überdurchschnittlich großen Laufstegschönheiten, etwas ‚zu groß‘, uneinholbar groß, genaugenommen zwei Meter vierzig groß, wie uns die Werkangabe aufklärt. Das Model wird – mit dem Eintritt des profanen, irdisch dimensionierten Charles Ray – zu einem unerreichbaren, überwältigenden Ideal. Unmöglich, dass der kleine Ray eine der oben skizzierten Beziehungen zu ihm aktualisieren könnte. Das Model wird Model bleiben, Ideal bleiben und jeder andere Bezug zu ihm bestenfalls neurotisch. Es mag hier an O’Dohertys Bemerkungen über den Betrachter ‚inside the white cube‘ erinnert sein, um der besonderen Form von Inkompatibilität auf die Spur zu kommen. Der Betrachter ist im modernen Ausstellungsraum nur als Auge und Geist willkommen, der Purismus der Räume, die Makellosigkeit der Kunstwerke degradieren seinen Körper zu einem schäbigen, unpassenden Möbel, er tendiert dazu, sich ungeschickt, plump in den Räumen zu bewegen und ist daher auch in aller Regel – im Dienste der Realisierung des Descartschen Paradox – aus der für dieses Verhältnis aufschlussreichsten bildlichen Ikone unserer Zeit, dem ‚installation shot‘ ausgeschlossen. Genau dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Betrachter – Ray selbst – drängt in seiner Unvollkommenheit ins Bild und Ray markiert den gewaltigen Abstand durch diese Transgression. Das Begehren erscheint lächerlich. Obgleich auf der Seite des Mannequins alles für den bequemen Vergleich, die Beziehung eingerichtet scheint – Isolation aus konkreten Lebensumständen, anschauliche Ganzheitlichkeit integrierter Organe zu einem Organismus, Selbstidentität, Allgemeinheit – sind die Körper von Mannequin und Betrachter hier nicht kompatibel, kommt es nicht zum Verhältnis, das die Werbung verspricht, wenn sie mit Idealen operiert. Die deutliche Geschlechtsmarkierung, eigentlich ein Angebot, eine Reduktion der Auswahl zu selektierender Aktualisierungen (die durch die Präsenz Rays akzentuiert wird), verstärkt eher noch die Inkompatibilität. Das Ideal ist zu übermächtig, als dass auch nur danach gestrebt werden könnte297. Auch die Ebene des modischen

296

Ein Verfahren, das Ray auch bei einer anderen Arbeiten angewandt hat.

297

In der Zusammenschau mit anderen seiner Arbeiten, erscheint es fast ein bisschen, als ob sich Ray hier auch über die populistisch/psycho-

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Laufstegs oder des Geschäftslebens kann für den kleinen, im Staunen befangenen Ray nicht zur Grundlage eines Tauschs werden. Es soll – in aller Kürze – auf eine gewisse Nähe der Darstellungsweise zu derjenigen Lamsweerdes aufmerksam gemacht werden: die Verwandtschaft und Durchdringung der Genres und Medien (Mannequin, wie Schaufensterpuppe, wie Fotomodell) mit dem Effekt der Unentscheidbarkeit; eine durch moderne Bildmedien, durch die Fotografie, präformierte Form der Präsentation (das Posing als Erstarren in der lebendig wirkenden Ausdrucksbewegung); die Betonung des Ausstellungscharakters (der leere Raum, die sichtbare Stütze der Figur). All diese Operationen vereinen und betonen nachgerade die wichtigsten Charakteristika der im ersten Abschnitt dieser Arbeit analysierten Darstellungsform. Aber – wie bei Lamsweerde – auch hier ist eine Verunsicherung, ein gegenläufiges Moment wirksam: es ist dies die Konfrontation der glatten Idealität mit der kreatürlichen Materialität, die mit der realen, dreidimensionalen Präsenz im Raum und dem Gegenüber in der Figur Rays gegeben ist. ‚Der Betrachter ist im Bild‘ – und dies nicht nur implizit, wie es die Rezeptionsästhetik verfolgt, sondern buchstäblich und deutlich, fast so groß wie das Ausstellungsstück. Und so erfahren wir eine Lektion über die grotesken Effekte der Konfrontation des für die Anschauung zugerichteten Ideals mit dem Körper des Betrachters. Diese allgemein aufgegliederten Ausdruckskörper, die sich miteinander austauschen können, ziehen in einer gewissen Weise immer auch den Betrachter in den Vergleich, bestimmen seine Vorstellungen von seinem Körper und wirken formend auf ihn ein: Der Betrachter bezieht sich in seiner Eigenwahrnehmung auf Repräsentationen fotografischen Charakters, er ist bemüht, seine eigene Repräsentation den gelungenen Repräsentationen anzunähern, seine Qualitäten anschaulich zu kommunizieren usw. Zugleich bedarf jedoch ein solcher Körper einer ähnlichen medialen Zurichtung um tatsächlich auf derselben Bildebene auftauchen und in den anschaulichen Austausch eingehen zu können.

analytische Erzählung lustig macht, die die Genese der männlichen Homosexualität in der Konfrontation mit einer übermächtigen Mutter/ Frauenfigur sieht, die bestaunt, bewundert, ja gefürchtet wird, aber nicht begehrt werden darf.

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Aber Charles Ray gibt dem Versprechen auf Kompatibilität und Austausch auf eine naive Weise nach (wenn diese Körper an meinem Teil haben, so will ich auch an ihnen Teil haben – mein Phantasma) und tritt ins Bild298. Wenn der Suggestion der Transparenz des Mediums (Du siehst hier einen anderen, wirklichen Körper, der Deinem ähnelt) Glauben geschenkt wird und die formenden Kräfte des Mediums gewissermaßen ignoriert und übersprungen werden, so ergibt sich diese komische Konfrontation eines sich ungelenk nähernden, im Staunen befangenen Körpers mit jenem souveränen Monument. Das ist doppelt grotesk: hinsichtlich der Gegensätze zwischen der anspruchsvollen, selbstbewussten Perfektion des Modelkörpers und dem überaus durchschnittlich wirkenden Charles Ray einerseits und hinsichtlich der Gegensätze zwischen der Darstellungsform einer vollendeten Veranschaulichung der idealen Qualitäten auf der Körperoberfläche und der so verstohlen wie dreist (weil illegitimer Weise) ins Bild eingedrungenen und in dessen Milieu gewissermaßen ungeformten, obskuren Erscheinung Rays andererseits. 7.3.3. Abwege In Oh! Charly, Charly, Charly wird dagegen auf den Wegen des Selbstbezugs eine andere Richtung eingeschlagen. Ray vervielfältigt sich, um zu einem Ensemble kreisförmig kopulierender Körper zu werden299.

298

Es erscheint fast, als ob ein gewichtiger Anteil des voyeuristischen Vergnügens an den neueren Gerichtssendungen, den diversen ‚Containern‘ und der Suche nach Superstars dieser Verfehlung gilt: schau mal, wie der oder die versucht, sich professionell zu präsentieren und dabei natürlich zunächst scheitert – um schließlich, nach einem langen dornigen Weg voller Rückschläge den Triumph des ,go for it‘ zu ernten, um so die Werbebehauptung, die eigene Realität sei auf das Ideal hin zu transzendieren, wieder einmal zu bekräftigen.

299

Bazon Brock gibt in seiner Videobesucherschule zur Doc9 (1992) die Erklärung der Arbeit als einer Variation des uralten philosophischen Verdachts, dass der Mensch letztlich allein sei, weil er sich nur der eigenen Gefühle und Wahrnehmungen wirklich versichern kann, menschlicher Austausch daher illusorisch und vergeblich sei. Weniger

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Abbildung 12: Charles Ray, Oh! Charly, Charly, Charly, 1992

Quelle: http://www.kunstdunst.de/documenta.htm

Hier steht nicht mehr der ganze Mensch zur Disposition300, hier wird die Affektion einzelner Organe durch andere Organe ins Spiel gebracht. Es kommt zu einer Autonomisierung einer ehemaligen Teilfunktion, zu einem wuchernden Anwachsen an deren Möglichkeiten zu affizieren und affiziert zu werden (hier konventionell mechanischpornographisch durchkonjugiert). Alle Potentiale werden zugleich realisiert. Die zentrale Regelung und Bestimmung des zu affizierenden Kontrapunktes, der Zeit, Dauer und Intensität einer Affektion fällt weg. Sowohl die abgestimmte Rolle im Organon verschiedener Funktionen des eigenen Körpers, als auch diejenige im Verkehr mit anderen Körpern wird obsolet. In der Entbindung aus ihrer Funktion für das Ganze entfalten die Organe – jetzt eher Ankopplungs- als Geschlechts- oder Reproduktionsorgane – ihr ganzes Transformationspotential. Statt selbst von ihm beschränkt und integriert zu werden, ziehen sie den Körper in eine monströse Konstellation aus sich verausgabenden, verschwendenden Teilen. Trotz der drastisch naturalistischen Elemente der Darstellung (es handelt sich um Puppen nach Körperabdrücken Rays) wird hier als Steigerung und Entfaltung wird die Arbeit als Zeugnis der Selbstbeschränkung interpretiert. Das scheint mir so gelehrt, wie falsch. 300

Es sei denn wir interpretierten symbolisch, dann stünde der Geschlechtsverkehr für das ganze Begehrenswesen Mensch und sein Drama etc.

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weniger nach Maßgabe organischer Körperlichkeit figuriert, als nach der Dynamik der Entfaltung von Affektionspotentialen. Das bedeutet eine gewisse Vervielfältigung der Elemente, die der Logik des Organismus widerspricht. Es bedeutet zudem eine Ausdehnung im Raum, die als eine Staffelung bezeichnet werden könnte. Die Staffelung löst den einheitlichen Raum, in dem dieselben Dinge nur einmal vorkommen, ab. Charles Rays Expressionismus nähert sich den minimalistischen räumlichen Staffelungen eines Judd an. Ein weiteres bekanntes Beispiel ‚widernatürlicher Anteilnahme‘, das die Körperkunst der frühen 90er bietet, ist Paul McCarthys Installation The Garden (Abb. 13). Abbildung 13: Paul McCarthy, The Garden (Detail), 1991

Plants and motorized figures in artificial garden, 853x914x610 cm – Quelle: Post Human (AK), Hamburg 1993, S. 117

In Termini erster Kategorisierungen gesprochen wird hier ähnlich drastisch-buchstäblich nicht der narzistisch-homoerotische Selbstbe-

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zug, sondern die ‚Liebe zur Natur‘ gepflegt. Mittelalte mitteleuropäische Männer, die mit der Natur kopulieren – das birgt in unserer Kultur einen ganzen Abgrund an Anspielungen. Die gebildeten Betrachter können ihren kultur- und kunsthistorischen Assoziationsspielkasten auspacken: Der Mann, das tätige, geistige Prinzip bearbeitet, befruchtet und beseelt die empfängnisbereite, passive Natur, die Materie, er formt sie zum Garten301. Dieser in vielen Varianten ausgebildete Idealismus ist hier noch psychologisch übercodiert, denn zugleich sublimiert er dabei die rohen, tendenziell destruktiven Triebkräfte zu Kultur- und Zivilisationsleistungen. Selbstverständlich ist die Natur weiblich, wie die Kunst302.

301

Vgl. Berger, Renate; Hammer-Tugendhat, Daniela (Hrsg.), Der Garten der Lüste. Köln 1985.

302

1. Das ist ein Spiel mit dem alten Motiv der Erhebungsbewegung des materiell Gebundenen, Ungeformten, Niedrigen zum unkörperlichgeistigen Ideal, hier eingepaßt in die Narration ‚vergeschlechteter‘ Protagonisten mit einem befruchtenden, geistigen und einem materiellen, empfangenden Teil. Der Künstler ist privilegierter Agent dieses Idealismus und noch der Büromensch hängt ihm an. 2. Über das traditionelle Verhältnis des männlich Tätigen zu seinem als weiblich markierten Gegenstand in der Kunst kann uns die sozialhistorisch-feministisch orientierte Kunstgeschichte sehr viel sagen, besonders über die merkwürdigen Übergänge, Verschleifungen oder gar Substitutionen von Natur, Leinwand und Frauenkörper, die ihre Qualitäten dabei gegenseitig austauschen. Man könnte gar sagen, dass diese Kunstgeschichte sich genau an diesem Punkt entzündet hat – konkret an ihrer Interpretation der Interpretation der Revolutionskunst durch die ‚Gründerväter‘ der neueren sozialhistorisch orientierten Kunstgeschichte. 3. Natürlich muss hier Freud genannt werden und seine diffus ins KollektivBewusstsein eingegangene Konzeption von der Sublimierung vor allem sexueller Triebenergie zu Kulturleistungen besonders im Bereich intellektueller und künstlerischer Ausübung. Freud hantiert traditionsbewusst mit den Hauptkonnotationen des Begriffs Sublimierung: a. das Erhabene, Sublime betreffend (in der angelsächsischen und romanischen Ästhetik ist das der Begriff), b. der physikalische Begriff: der direkte Übergang eines festen Körpers in einen gasförmigen, flüchtigen

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Die krude Mischung aus künstlichen Materialien und Pflanzen, beunruhigendem Naturalismus und Kulissenwirkung, Idyll und Pornographie, gelehrter Zeichenoperation und aufdringlich sinnlicher Materialität erlaubt sich keine Reserven. Die Katachrese ist das Stilmittel der Versammlung. Da wird der schlaffe Bürohengst zum wilden Rammler, den Plastikfelsen umfängt echtes Moos, der treibende Motor arbeitet in der Borke. Katachretisch ist daher auch die Wirkung des Ensembles: statt die Betrachter über die metaphorischen und symbolischen Zeichenoperationen (der Geschlechtsakt ist wie der künstlerische Akt, die Frau ist wie die Natur, diese wird durch den Mann zum Garten usw.) vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Idealen zu erheben, stolpern diese immer wieder über die harten Übergänge und fallen zurück in die Buchstäblichkeit der Bildsprache303. Diese Buchstäblichkeit jedoch dient vor allem dazu, die metaphorische Operation, den Aufstieg, das anagogische Programm zu durchkreuzen. Der Vergleich, die Ersetzung ist lächerlich, die Gleichung geht nicht auf. Nichts wird produziert, kein Kunstwerk erscheint. Das ist ein Witz, ein grober, ein massiv zusammengezimmerter und insistierender Witz. Er konkurriert im Insistieren mit eben dem Konzept (und dessen historischer Wirksamkeit) auf das er sich bezieht: dem anhaltenden Beackern der Natur und der Materie durch den Mann zwecks Formung, Beseelung und Befruchtung jener und Sublimierung der Triebkräfte dieses. Die Früchte der Anstrengung und das Erhabene des Konzepts werden tragikomisch bestritten, aber dramatischer ist vielleicht noch: die Arbeit dauert mit unerbittlicher Monotonie an. Die sichtbaren Elektromotoren agitieren den Gummikörper unaufhörlich (wie um dem Begriff der Performanz einen Körper zu geben, oder umgekehrt: um dem Begriff Körper seine Performanz zu geben) und sie

Zustand (vgl. LaPlanche Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M 1973, Artikel Sublimierung, S 478-481. 303

Es ist fast, als hätte der Künstler all die Fehler gemacht, die PseudoLongin in seiner Schrift Vom Erhabenen, die hier als eine Art Urtext der Ästhetik des Erhabenen angeführt sein soll, den Künstlern, die erhabene Wirkungen anstreben, aber verfehlen, vorrechnet: niedrige, unangemessene Vergleiche, das Auftragen, d.h. Offensichtlich-werden der Kunstmittel, Trunkenheit statt wahren Pathos, übertriebener Naturalismus: Vgl. vor allem: Pseudo Longin, Vom Erhabenen, 41-43 (S.99-105 in der zweisprachigen Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1988).

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konterkarieren damit ihrerseits die symbolische Gleichung der Arbeit, die sich erfüllen möchte, die ein Ende, einen Schlusssatz sucht. Die Arbeit ist ein grober Witz, ein Scherz, aber auch ein Spiel im Rahmen der Metapher und des Symbols. Keine Flucht aus einem Zustand, keine alternative Verbindung ergibt sich, eher eine groteske Arretierung, eine Art Dantesker Höllenstrafe für die Verfechter idealistisch gewandter, sexistischer Zivilisationskonzepte auch noch des ausgehenden 20. Jahrhunderts304. Vielleicht sollten wir beginnen, damit aufzuhören, all unsere Tätigkeiten nach diesem Muster zu begreifen – so könnte diese Arbeit gelesen werden. Hier wird ein Funktionskreis (Mann + Umwelt, so würde sich Uexküll ausdrücken) dargestellt, ein Affektionsgefüge (mit Spinozas Worten), vor allem jedoch das Befangensein in einem Affektionsverhältnis. Verbindung und (Un-)Vermögen werden anschaulich gemacht. Es ist das dargestellte Verhältnis ein Verhältnis, das sich auf ein ästhetisches und psychoanalytisch-kulturtheoretisches Konzept bezieht und dieses nicht nur bestreitet (als monoton, unangemessen), sondern auch seine Stil- und Ausdrucksmittel der Lächerlichkeit preisgibt. Dabei legt die Arbeit keine anderen Verhältnisse nahe, sie verbleibt symbolisch, repräsentativ, wie ihre Elemente: die Gummipuppe, die einen Typus repräsentiert (mittelalterlicher Mitteleuropäer, Büromensch, Geistesarbeiter), die Baumlandschaft, die Natur und Garten meint. Alles artikuliert sich in diesem Rahmen des Verweisungszusammenhanges von Trieb und Kulturarbeit, von der Befruchtung, Formung und Idealisierung des Gegenstands.

304

Wie die fast identische Exposition der zunächst ähnlich buchstäblichen Liebe zur Natur zu ganz anderen Lösungen führen kann, mag die Tourniersche Variation (Vendredi ou les limbes du Pacifique, Paris 1967) von Daniel Defoes bekanntem Roman (Daniel Defoe, The life and strange adventures of Robinson Cruseo, London 1719) zeigen. Nachdem Robinson all die auf der Insel entbehrten Beziehungen zu einer menschlichen Gesellschaft ersetzt hat (er verkörpert höchstpersönlich diverse Amtspersonen und Funktionen, baut Uhren, schafft Gesetze usw.), nimmt seine Ersetzungsanstrengung angesichts des Mangels eines weiblichen Pendants andere Entwicklungen. Wie McCarthys Herren begattet er zunächst in kruder Mimesis zum menschlichen Geschlechtsakt die Natur, um schließlich zu einer ‚Sexualität‘ zu finden, die jeglicher Analogie zu menschlichem Verkehr entbehrt.

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Es ist eine Arbeit der Ironie, die auch einen gewissen Anteil an ‚gepflegtem‘ Zynismus birgt, sofern man sich in der Ausweglosigkeit niederlässt. Es lässt sich also eine Exposition konstatieren, die die Charakteristika, die Merkmale des zur Rede stehenden Körpers nicht auf dessen Oberfläche darlegt, sondern durch die Art und Weise, wie er sich mit Elementen seiner Umwelt verbindet. Die zur Rede stehende Umwelt ist repräsentativ für einen bestimmten Idealismus. Sie verweist auf einen über bestimmte metaphorische und symbolische Operationen angeschlossenen Bedeutungshorizont. Die Arbeit zeigt noch im Scheitern und der Suspension dieser Operationen, wie ein bestimmtes Gefüge von Verbindungen und Affektionen eine Art Reglement ausbilden kann, das den Körper an festgelegte Aktionen und Möglichkeiten bindet. 7.3.4. Kreuzungen Nehmen wir trotzdem – um die Fiktion fortzuspinnen – an, dass die Figuren McCarthys (‚The Garden‘) und Charles Rays (‚Oh! Charly, Charly, Charly‘) ‚gezeugt‘ hätten, sich an sich selbst vermehrt oder mit der Natur gekreuzt und etwas Neues geschaffen hätten. In spinozistischen Termini ausgedrückt: dass sie Verbindungen eingegangen wären, die ihre Vermögen erweitern oder verändern.

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Abbildung 14: Meyer Vaismann, Untitled Turkey, 1992

Stuffed turkey, rabbit fur, and fabrics,86 x 56 x 71 cm – Quelle: Post Human (AK), Hamburg 1993, S. 138

Es soll hier Meyer Vaismanns Turkey (vgl. Abb. 14) gewissermaßen als mögliche Frucht ‚widernatürlicher Anteilnahmen‘ vorgestellt werden. Die Ausgangskörper oder ‚Eltern‘ der Bildung sind klar: Menschen (repräsentiert durch Männerbekleidung), ein Kaninchen und ein Truthahn. Drei Eltern sind sicher ungewöhnlich, aber vielleicht ist es auch an der Zeit, das Muster zweigeschlechtlicher Reproduktion als Vorbild für eine jegliche Affektion nicht länger in Anspruch zu nehmen. Was resultiert nun aus der gegenseitigen Einwirkung der drei Körper, welche Verbindungen, welche Vermögen werden entwickelt? Ein Truthahn mit gespreiztem Schwanzgefieder ist in das Fell eines weißen Kaninchens gehüllt und dazu mit ungewöhnlich drapierten, teils gewendeten Kleidungsstücken versehen.

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Ganz offensichtlich hat man es hier nicht mit den üblichen Annäherungen zwischen Mensch und Tier zu tun. Das ist kein schwanzwedelndes Haustier (des Menschen bester Freund, ‚fast wie ein Mensch‘), aber auch kein Mensch, der zur Bestie regrediert wäre (‚dummes Huhn‘, ‚blöder Hund‘) oder sich mit tierischen Eigenschaften verstärkt hätte (‚fliegen wie ein Vogel‘). Aus der Kreuzung ist etwas Drittes, ganz anderes entstanden. Wir erfassen dieses Dritte nicht, wenn wir einen Austausch oder eine Annäherung der Qualitäten durch eine Analogisierung annehmen: Flügel wie Arme, Truthahnkrallen wie Menschenbeine... Eine Teil für Teil prozedierende Annäherung oder Kreuzung von Fähigkeiten würde von den wichtigsten intrinsischen Qualitäten der Organe ausgehen und sie zu den entsprechenden Organen des Vergleichsorganismus in Beziehung bringen: die Arme könnten dann fliegen wie Flügel, die Flügel sich verschränken wie Arme. Einem Organ würde dabei das übliche Vermögen eines Vergleichsorgans appliziert. Fast alle tierischen Comicfiguren funktionieren so. Wird systematisch vorgegangen, ergeben sich die allzu menschlichen Entenhausener. Eher ist es hier so, als ob eine Handlung oder ein Vermögen (die Federn spreizen, sich aufplustern) eine andere Handlung (Kleider drapieren) affiziert hätte und deren Möglichkeiten dabei verschiebt und erweitert: die Kleider falten und schürzen wie Federn, die Ohren des Kaninchens ins Verhältnis zum aufgestellten Schwanz bringen (und nicht zu eigenen Hörorganen), schließlich die Krawatte binden, jedoch nicht am Hals, sondern am Übergang vom Körper zum Schwanzgefieder (die Krawatte skandiert einen Übergang und wird in dieser Eigenschaft akut). Es sind nicht die typischen, die allgemeinsten Vermögen der Organe oder Elemente (fliegen/arbeiten; laufen/hüpfen), die dabei ins Spiel kommen, sondern all die Handlungen, Haltungen und Manierismen, die sich um das Herausputzen, in Positur werfen oder das Stelzen drehen, also die Ausdrucksfunktionen körperlicher Elemente. Die Genese der ungewöhnlichen Bildung lässt sich vielleicht folgendermaßen nachzeichnen. Eine begrenzte Anzahl möglicher Eigenschaften und Handlungen wird von den Ausgangsorganismen abgezogen, so dass sich jeweils eine abstrakte Versammlung aus ihnen bündelt. Diese Eigenschaften und Handlungen können hier auch als Affektionen (Wirkungen ausüben, Wirkungen erleiden) definiert werden,

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insofern sie anzeigen, wie sich die unterschiedlichen Körper mit der Welt verbinden können, welche Vermögen sie dabei entfalten. Und aus diesen ausgewählten Vermögen der Ausgangsorganismen werden wiederum einige Kurzschlüsse zwischen den Organismen hergestellt. So entsteht eine Kreuzung (im wörtlichen Sinn), eine gegenseitige Beeinflussung der Eigenschaften innerhalb des den Ausgangsorganismen gemeinsamen äußeren Bereichs. Dort wo ein Organismus mit der Welt interagiert, kreuzen sich die Affektionen. Das Spreizen der Feder wendet den Stoff, das Binden der Schleife skandiert die Glieder des Truthahns neu, das Schwanzgefieder wiederholt die Haltung der Ohren. Ein Organ vermag andere Dinge zu affizieren (Wirkung auf sie auszuüben) oder von ihnen affiziert zu werden (Wirkung zu erleiden). Wenn wir jedoch üblicherweise die allgemeinsten Vermögen eines Organes kennen oder wenigsten aus dessen Form und Bau erschließen können, so ist dieses hier nicht mehr möglich. In dem verschiedenen Organismen gemeinsamen Bereich kreuzen, berühren und verändern sich ihre Vermögen mit weitgehend unvorhersagbaren Folgen. Der neu kombinierte Zusammenhang, der hier durch Vaismann exponiert wird, ist das Produkt dieser Art von Kreuzung. Es gleicht eher einem nie dagewesenen Ungetüm, als einem anthropomorphisierten Tier oder einem regredierten Menschen. Weder wird die Mitte zwischen verschiedenen Polen gesucht, noch konzentrieren sich die Eigenschaften der Ausgangsorganismen um einen dominierenden Typus. Die Kreuzung der Merkmale und Eigenschaften spielt sich hier also nicht im Rahmen einer Steigerung, Fortpflanzung oder Analogübertragung der Vermögen ab, sie führt zu gänzlich anderen Vermögen Auswahl oder Extraktion einzelner Handlungen, Vermögen oder Affektionen aus einem ganzheitlichen Organismus und dann die Kreuzung der Affektionen verschiedener Ausgangskörper – das ist die Zusammenfassung der Kreuzungsvorgänge oder Operationen, die zu Meyer-Vaismanns merkwürdigem Truthahn geführt haben305.

305

Vgl. Massumi, Brian, A User’s guide to capitlism and schizophrenia – deviations from deleuze and guattari, Massachusetts 1992, S. 93. Massumi referiert das ‚Hund-werden‘ eines Mannes, wie es von Deleuze/Guattari in Mille Plateaus geschildert wird (Milles Plateaus, Berlin 1992 (Paris 1980, S. 352) und abstrahiert gewissermaßen die Funktio-

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7.3.5. Umwelten Bisher sind wir von den Körpern ausgegangen, um Affektionsverhältnisse zu betrachten und wir haben dabei eine Bewegung verfolgt, die sich von der Selbstgenügsamkeit des geschlossenen Organismus entfernt. Entfernung bedeutete die Autonomisierung einzelner Affektionen, die Desintegration des Körpers, die Vervielfältigung und Staffelung der Affektionspotentiale, die (widernatürliche) Anteilnahme an anderen Körpern und die Kreuzungen mit diesen. Nun möchte ich vorschlagen, vom anderen Pol des Funktionskreises Körper und Umwelt, von der Umwelt her, Affektionsverhältnisse in den Blick zu nehmen. 7.3.5.1. Natürliche Umwelten Gehen wir zunächst von einem unreflektierten Begriff von Umwelt oder Umgebung aus. Die heute vielleicht häufigste, einem einzelnen Individuum zuzuordnende Umwelt ist das Zimmer, vielleicht ‚sein Zimmer‘, das ‚private Zimmer‘. Ein Zimmer als Umgebung ist ausgestattet nach verschiedenen Maßgaben: nach den allgemeinen Maßgaben des Schutzes (Wetter), der Abschließung (allein sein). Die Ausstattung ist ästhetisch begründet (‚Einrichtung‘) sie folgt praktischen Ansprüchen und Funktionen (Schlafen, Arbeiten, Fernsehen) usw.. Neben individuellen Kriterien sind dabei vor allem auch Konventionen maßgebend (die Personen beziehen ein bereits bestehendes, ausgestattetes Zimmer, sie wählen aus einem Fundus existenter Ausstattungen.) Ein solches Zimmer kann sparsam sein, es kann mit seinen Gegenständen in den Tätigkeiten der Person aufgehen, es kann aber auch ein Magazin der Zeit sein, Gegenstände enthalten und ansammeln, die keinerlei Funktion mehr ausüben306. nen: Auflösung der Qualitäten zweier Spezies, Extraktionen von Affekten (der Art und Weise sich mit der Welt zu verbinden), selektive Kombination dieser Affekte. 306

Unsere Bildkultur ist es gewohnt, die Zimmer moralisch zu qualifizieren. Wenn man an die Gelehrtendarstellungen des 17. Jahrhunderts denkt, so zeigen sie neben den ernsthaften Theologen und Naturphilosophen in ihrer Konzentration auf die wichtigen Dinge (die heilige Schrift, die Embleme der Vanitas, die naturwissenschaftlichen Instru-

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Die meisten Gegenstände oder Objekte eines Zimmers kann man – in Bezug auf die Bewohner – auch in Termini von Affektionen bezeichnen, deren grammatischer Ausdruck vielleicht am ehesten der Infinitiv des Verbes ist: das Bett/schlafen, rumaalen; die Teddybären/knuddeln, misshandeln; das Telefon/sich verabreden, quatschen; die Bücher/lesen, träumen, schmökern, studieren. Das Bild eines Zimmers erzählt etwas über seinen Bewohner, aber es dramatisiert diese Erzählung auf eine andere Art, als die Darstellung seines Körpers, der sich an einem Ort, mit bestimmten Gegenständen, zu einem bestimmten Zeitpunkt befände, also sowohl Privilegierungen, wie einen Zeitablauf einrichtete. Die Dinge ohne Körper zeugen von den verschiedenen Verbindungen, die die Person mit ihrer Umwelt eingeht. Es ist wohl ihre Auswahl bedeutsam, aber die Zeitlichkeit ist gegenüber der körperbezogenen Darstellung eigen: tatsächliche und potentielle, vergangene, gegenwärtige und zukünftige Affektionen sind nicht unterscheidbar und versammeln sich so in einem gemeinsamen Raum. Uexküll hatte gelehrt, die Umgebung (als die Totalität der Dinge eines Milieus) von der Umwelt (als die vom Subjekt aus dieser Umgebung gemäß dem Wahrnehmungshorizont und den Verwertungsinteressen selektierten Anknüpfungspunkte) zu unterscheiden. Wenn wir in den folgenden Absätzen Körperkunstarbeiten untersuchen, die Vermögen von Körpern aus den Anknüpfungspunkten ihrer Umgebung ableiten, ohne die Körper selbst zu zeigen, so geht der Weg von Umwelten aus, die naturalistisch sind in dem Sinne, dass ihre Topographie nach Maßgabe des bewohnenden Körpers organisiert ist (Umwelten, wie wir sie gewohnt sind), zu solchen Anordnungen, deren Struktur eher nach der Intensität der Verbindungen von Körper und Elementen der Umgebung bestimmt wird: hier finden sich Staffelungen, Wiederholungen, Wucherungen. Sylvie Fleury’s Arbeit Shoes, ottoman and carpet (Abb. 15) zeigt eine Teilwelt, weniger ein privates Zimmer, als einen, gleichwohl auf das

mente der Erkenntnis, wie Erd- und Himmelsglobus) auch die wüsten, unordentlichen, überbordenden Stuben der Alchemisten, die sich in ihrem (wissenschaftlich bereits) überkommenen und unchristlichen (Suche nach der quinta essentia, dem Stein der Weisen, der Erzeugung des Goldes) Streben verirren.

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Private sich beziehenden Verkaufsraum im Begriff der Ausdehnung. Ein Sitzmöbel, wie es sowohl im privaten Bereich (Wohnzimmer/Ankleidezimmer) als auch in einem schicken Schuhgeschäft stehen könnte, ein flauschiger Teppich und einige Damenschuhe nebst Schuhkartons sind versammelt. Ein sehr dienstleistungsorientierter Verkäufer oder eine sehr zahlungskräftige Kundin könnten zu diesem luxuriösen Durcheinander geführt haben. Sich hinsetzen, Schuhe abstreifen und anziehen, sie verwerfen oder zurückstellen, ein anderes Paar probieren, vielleicht doch lieber einen anderen Schuhtyp, die Entscheidung suspendieren, ein paar Schuhe mitnehmen, oder ‚sich gar nicht entscheiden können‘ – so könnte man die Operationen bezeichnen, die in der exponierten Umwelt statthaben. Abbildung 15: Sylvie Fleury, Untitled, Shoes, ottoman, and carpet, 1992

335x267x92 cm – Quelle: Post Human (AK), Hamburg 1993, S. 92/93

Die Anordnung dieser Arbeit ist noch einem gewissen Realismus geschuldet. Der Teppich als Ort des Geschehens, das Fauteuil als Zentrum, um das sich die Dinge verteilen – sie verweisen auf den Platz des Körpers. Aber die Vervielfältigung beginnt, die figurative Konstellation zu überdecken und durch ein Muster an Affektionen zu ersetzen. Und es ist wichtig, sich nicht von der Totalität einer naturalistischen oder realistischen Umgebung ablenken zu lassen, sondern den einzelnen Affektionen, schließlich auch deren Wucherungen, Wiederholungen und Rhythmen nachzugehen, um ein Struktur, ein Gefüge der Affektionen definieren zu können.

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7.3.5.2. Synthetische Umwelten Weiter in die Richtung einer nicht mehr realistisch räumlich verteilten Umwelt geht Kodai Nakaharas, Date Machine (Abb. 16). Abbildung 16: Kodai Nakahara, Date Machine, Installation view, 1991

Quelle: Post Human (AK), Hamburg 1993, S. 120-121

In der Mitte des Raumes ein Bett, vielfältige Hifi-‚Komponenten‘, Computer, Fernseh- oder Videomonitore, einige Möbel aus der Bürowelt, diverse Tisch- und Bodenleuchten, ein Hibiskus als Zimmerpflanze, die Teppichauslegware – das sind die Elemente307.

307

Der Raum wird von Wänden mit Bildern der Künstlerin begrenzt, über die hier nichts gesagt werden soll.

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Wollte man die Elemente zum Zusammenhang eines Interieurs verbinden, so müsste man ein mit Unterhaltungselektronik etwas wahllos ausgestattetes Schlafzimmer konstatieren. Irritierend ist vor allem jedoch die Vielzahl gleicher oder ähnlicher im Raum verteilter Geräte. Wenn wir auch noch einige Zentren menschlicher Körperlichkeit ausmachen können (das Bett, Stühle und Tische als Orte spezifischer Haltungen und Tätigkeiten), die den Raum konventionell gliedern, so unterminieren die vielen unterschiedlichen Richtungsvorgaben der Monitore und Lampen diese Ordnung doch erheblich. Sie wenden sich von den Orten und Zentren menschlicher Körper ab, einander zu, sie scheinen sich zu vermehren und autonom zu werden. Jedes einzelne Gerät wäre ohne Schwierigkeiten in eine sich vor allem auf dem Teppich ausbreitende moderne Schlafzimmerwohnlandschaft308 zu integrieren. Hier aber werden zugleich alle potentiellen Orte beweglicher Elemente besetzt, so dass neben dem Monitor, der dem Einschlafenden zugewandt ist, der Monitor erscheint, vor den sich die Freunde setzen und dazu derjenige, der die langweilige Routinearbeit am Schreibtisch begleitet. Und zugleich mit dem Verschwinden des organischen, wohlgegliederten Körpers, dessen integrierte Funktionen Platz machen für die vielfältigen Affektionen, zugleich mit der Auflösung des naturalistischen Raumes zugunsten des wuchernden, gestaffelten, richtungslosen Raumes scheint hier auch die Zeit des geordneten Nacheinanders zugunsten der Eröffnung einer Welt der Gleichzeitigkeit potentieller Affektionen zu verschwinden, so dass alle Möglichkeiten, alle vergangenen Momente des Fernsehens, Musikhörens, der Entspannung, des elektronisch beförderten Einschlafens oder Durchwachens in einem unerhörten Zeitraum der Gleichzeitigkeit zusammenfallen. Das Affektionsbild ist also zu charakterisieren durch eine Versammlung und Steigerung des Raumes der gegenseitigen Äußerlichkeit (von in Affektionsverhältnissen befindlichen Elementen) und das Zusammenfallen potentieller Affektionen in einen gemeinsamen Zeitkomplex.

308

Immer weniger werden unsere Räume von der festen Topographie unverrückbarer, mit je eigenen Funktionen ausgestatteter Möbel bestimmt, deren Pathosformeln im Ausdruck elementarer Trage- und Lastkräfte, der Bewehrung und Befestigung, des Thronens und der Harmonie des Gleichgewichts zu bestehen scheinen.

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7.3.6. Zusammenfassung Anstelle der Gestalt eines Ganzen wohlintegrierter Teile erscheinen einzelne Elemente, Körperteile, Teile von Körperumwelten. Elemente wuchern, werden mehrfach oder vergrößert dargestellt. Sie erscheinen in Zusammenhang mit Elementen anderer Körper oder Umwelten und werden in diesem Kontext nach ihren Qualitäten und Merkmalen bestimmt. Es gibt also keine intrinsische Bestimmung von Körperelementen. Nicht die Form eines Elementes, seine Ähnlichkeit mit anderen oder seine üblichen Merkmale und Charakteristika qualifizieren es, sondern die Verbindung mit anderen Elementen. Eher als von Merkmalen oder Funktionen sollte daher vom Vermögen eines Elementes/Körpers die Rede sein, andere Elemente/Körper zu affizieren. Gerade im gegenseitigen Raum der Äußerlichkeit, im Milieu zwischen den Dingen ergeben sich so neue, den Ausgangskörpern allein nicht eigene Vermögen. Der Körper ist veränderlich, er wird zudem nicht eindeutig bestimmt, sondern nach seinen Möglichkeiten und Potentialen: neben aktualisierte Verbindungen und Affektionen treten virtuelle, vergangene, gegenwärtige und zukünftige. Anstelle der Essentialisierung einer Augenblicksaufnahme steht die Öffnung der Achse der Zeit und auch der Potentiale. So wenig, wie die Körper notwendigerweise zu sich selbst identisch, unveränderlich bleiben, so wenig ähneln sie ihren Vermögen nach notwendigerweise anderen Körpern. Wenn der Körper als Ganzheit wohlintegrierter Elemente im analog prozedierenden Austausch mit anderen Körpern dazu tendiert, die Bandbreite seiner Funktionen zu regulieren, so mögen diese Körper dagegen gerade über extreme, die Zusammenhänge auflösende Vermögen aufeinander bezogen sein. Hier geht es um das Anwachsen und Wuchern der Funktionen und die Herstellung neuer Einheiten. Es ist nicht der einzelne Körper, dessen Gestalt seine Merkmale offenbart, sondern Vermögen werden über Verbindungen dargelegt. Körperumwelten, einzelne Körper in Affektionsbeziehungen oder regelrechte Diagramme von Körperverbindungen werden ausgebreitet. Analog zum Begriff der Eigenschaftsfigur, deren Bedeutungsspektrum am Ende des ersten Teiles zusammenfassend aus der Etymologie seiner Komposita dargelegt wurde, möchte ich auch den Begriff des Affektionsgefüges, der die Darstellungs- oder Bildform der oben be-

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sprochenen Arbeiten bezeichnen soll, noch einmal kurz aufschlüsseln. Auch hier ist die (durchaus partiell und willkürlich herangezogene) Etymologie nur Darstellungsinstrument für eine Begriffsschöpfung. Im Partikel ‚Affekt‘ bzw. ‚Affektion‘ sind vor allem zwei wichtige Aspekte enthalten. Da gibt es zunächst den Aspekt der Bewegung. Mit Affekt wird eine ‚Gemütsbewegung‘, eine ‚stärkere Erregung‘ bezeichnet (von lat. ‚affectus‘, eine ‚durch äußere Einflüsse bewirkte leibseelische Verfassung, Gemütsbewegung, Leidenschaft‘ – Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 14, Artikel ,Affekt‘). Im Affekt also ereignet sich eine Bewegung, eine Veränderung hin zu einem neuen Zustand. Diese Bewegung nun resultiert – und das ist der zweite Aspekt – aus einer Beziehung, aus einer gegenseitigen Beeinflussung mit etwas Äußerem: lat. ‚affectio‘ bedeutet auch ‚Einwirkung, Eindruck und Beziehung‘. Die Einwirkung ereignet sich in einer Form der Zuordnung oder neigung. In der Rhetorik wird mit dem zugrundeliegenden Verb ‚afficio‘ (feci fectum) ausgedrückt, dass etwas in Verhältnis zu etwas anderem gesetzt wird, es bedeutet auch, jemandem etwas zuzufügen oder anzutun, ihn in einen Zustand oder eine Stimmung zu versetzen, anzuregen oder zu ergreifen (Langenscheidts Taschenwörterbuch Latein, Berlin, Leipzig, München. u.a. 1995, S. 28, Artikel ,afficio‘). (‚Affekt‘ (lat. affectus) und ‚Affektion‘ (lat. affectio) sind im lateinischen weitgehend synonym, wenn sie auch auf unterschiedliche Verben zurückgehen mögen. Bei ‚affectio‘ ist der Aspekt der Einwirkung, des Eindrucks auf etwas stärker – vgl. Langenscheidts Taschenwörterbuch Latein, ebd., Artikel ‚affectio‘ und ‚affectus‘) Mit dem Begriff des Gefüges kann nun die Art der Zuordnung genauer beschrieben werden. Im ‚Gefüge‘ drückt sich ein Zusammenhang aus, der aber, verglichen mit dem der ‚Figur‘ andere Konnotationen privilegiert. Zunächst einmal ist der Aspekt des Gestalthaften weniger stark ausgeprägt. Das Gefüge ist ein Zusammenhang mit Blickpunkt auf die Verbindung (auch: die Fuge) der Elemente, auf deren Qualitäten und Strukturen und erst in zweiter Linie auf das Ganze der Konstruktion. Und selbst in Bezug auf das Ganze steht eher die Struktur des Zueinander der Verhältnisse im Vordergrund. Es geht um die Qualitäten, die sich aus dem Kontakt der Elemente ergeben, es geht um die differentielle Bestimmung und nicht so sehr um die äußere Form- oder Gestaltbildung. Mit ‚Fügung‘ etwa bezeichnet man in der Grammatik seit dem 17. Jahrhundert das, was im Latei-

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nischen ‚constructio‘ bedeutet (Duden, Etymologie, Mannheim 1963, S. 189/190, Artikel ‚Fuge‘ und ‚fügen‘) und in der Geologie wird mit dem Begriff ‚Gefüge‘ gleichermaßen Textur (= räumliche Anordnung und Verteilung) und Struktur (= Art und Grad der Kristallisation) von Gesteinsmassen angesprochen (Meyers großes Taschenlexikon, Mannheim 1990, Bd. 8, S.42, Artikel ‚Gefüge‘). ‚Gefüge‘ ist auch verwandt mit dem musikalischen Begriff der Fuge (von lat.-ital. fuga = Flucht), der neben dem kompositorischen Prinzip, dass ein Thema durch alle Stimmen geführt wird, zum Ausdruck bringen soll, dass in dieser Gattung eine Stimme gleichsam vor der folgenden flieht (Duden, Etymologie ebd. Artikel Fuge). Die Stimme erhält also ihren Sinn vor allem in Bezug auf die anderen Stimmen, wie im Gefüge ein jedes Element seine Bedeutung aus dem Verhältnis gegenseitigen Einwirkens mit den anderen Elementen gewinnt. In der Darstellungsform des Affektionsgefüges artikulieren sich also körperliche Vermögen, die aus den Verbindungen und gegenseitigen Einwirkungsverhältnissen des Körpers mit Elementen anderer Körper oder Dinge resultieren. Und die Formel für die dieser Darstellungsform polar entgegengesetzte Bildform, der Eigenschaftsfigur, sei hier zum Zweck des Vergleichs noch einmal aufgerufen: mit ‚Eigenschaftsfigur‘ ist eine Darstellungsform bezeichnet, die beansprucht, die wesentlichen, stabilen und vergleichbaren Merkmale einer Person in der Fügung der Figur zu repräsentieren. Eingangs dieser Studie wurde bemerkt, dass die Untersuchung der Darstellungsformen des Körpers aus heuristischen Gründen, aus Gründen der Anschaulichkeit zwei Extrempole eines Kontinuums gegeneinander abzeichnen will. Es ist nun – nachdem die zweite Darstellungsform bereits sukzessiv aus Übergangsformen entwickelt wurde – vielleicht an der Zeit, über diesen großen Bereich zwischen den beiden Polen nachzudenken, nachzudenken über das Verhältnis und auch die Spannung zwischen den Polen. Eine kürzlich erschienene Studie, betitelt de figura309 gibt Anlass, wenigstens den Problemkreis anhand eben jenes Begriffs der Figur zu skizzieren.

309

Brandtstetter, Gabriele; Peters, Sibylle(Hg.), de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt, München 2002.

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De figura beansprucht, begriffsgeschichtlich gewappnet im Rahmen von literatur-, tanz- und theaterwissenschaftlichen, sowie philosophischen Studien, vor allem das „performative Potential von Figur und von figurativen Darstellungsmodi“310 auszuloten. Entzündungspunkt dieses Unternehmens ist ausweislich der Einleitung die figura betitelte Sltudie Erich Auerbachs311. Auerbach verfolgt darin einerseits die Karriere des Begriffs Figura in der Rhetorik, und Brandtstetter und Peters heben in ihrer Auerbach-Lektüre vor allem die Konnotation der Plastizität, der Beweglichkeit (im Gegensatz zum Begriff ‚forma‘) des mit Figura Umschriebenen, seine durch Neuheit wirksame ‚Energie der Evidenz‘ und seine Nähe zum Modellhaften, im Sinne einer in der Materie verkörperten oder informierten (=figurierten) Idee hervor. Andererseits bezieht Auerbach sich auf die wichtige Tradition der Figuraldeutung der Kirchenväter. In die zwei Instanzen von Typos und Antitypos oder Präfiguration und Figura auseinandergelegt, ist der Begriff so mit dem Verhältnis von Vorausdeutung oder Vorverkündigung einerseits und Einlösung oder Erfüllung andererseits angereichert, wenn etwa alttestamentarische Personen oder Ereignisse mit den entsprechenden neutestamentarischen figural in Verbindung gebracht werden. In der Trope Figura oder in figurativen Darstellungsweisen ist so also immer ein Verweisen, eine Differenz eingeschrieben. Zugleich vermag sie nach Auerbach damit eine Verspannung von irdischem, konkretem Geschehen und jenseitiger Erfüllung zu erreichen und ist derart in die christliche Zeitkonzeption einer historisch verrinnenden und im Eschaton sich erfüllenden Zeitdynamik einbezogen: Augustinus versetzt nach Auerbach „…das konkrete Ereignis, so vollständig es auch erhalten bleibt, als Figura aus der Zeit heraus und in die Perspektive der Jederzeitlichkeit und Ewigkeit…“312 Diese heilsgeschichtliche Verspannung spielt in der Folge auch in geschichtsphilosophischen Konzepten eine Rolle. Brandtstetter hat den in vielerlei Hinsicht überzeugenden Versuch unternommen, auch in einer sich aus christlich-mythologischen Kontexten emanzipierenden Literatur noch Gestaltungsprinzipien aufzuweisen, die im Auerbach-

310

A.a.O., Einleitung, S. 7.

311

Auerbach, Erich, Figura, in: Archivum Romanicum 22 (1938), S. 436489. Wiederabgedruckt, in: Neue Dantestudien, Istanbul 1944, S. 1171.

312

Auerbach, Erich, a.a.O. S. 37.

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schen Sinne durchaus figural konzipiert sind, obgleich eine Erfüllung im heilsgeschichtlichen Sinn obsolet wird.313 Interessant wäre es nun, ob sich die Trope oder rhetorische Figur – besser noch wäre hier vielleicht wirklich von ‚Darstellungsprinzip‘ die Rede – der ‚Figura‘ auch sinnvoll für den Bereich der gestalteten Bildwelt in Anschlag bringen lässt. Es ließe sich etwa fragen, ob bestimmte Darstellungen des Körpers ebenfalls jene Verspannung von Vorausdeutung und Erfüllung implizieren, jene Unentschiedenheit zwischen konkret verankerter Historizität und ewigzeitlicher Geltung. Brandtstetter und die anderen Autoren des Sammelbandes betonen – zuweilen mit Berufung auf Auerbach – die dynamischen und wandelbaren, die iterativen und inversen, die dissimulierenden und transitorischen Aspekte der figurativen Darstellungsweise. Diese Prädikate finden nun auch ein substantivisches Komplement, wenn hier zugleich eine ganze Begriffsfamilie aufgemacht wird: Figuration, sowie De-, Kon- und Präfiguration… Diese fluiden Tendenzen kann ich nun mit Bezug auf mein begriffliches Konstrukt der ‚Eigenschaftsfigur‘ nicht mitmachen, weil diese Form eher die Verdichtung, Vereinheitlichung und verallgemeinernde Reduzierung von Qualitäten bezeichnen soll. Gleichwohl möchte ich diese Aspekte für die Beziehung zwischen den unterschiedlichen Darstellungsformen geltend machen. Sie können vielleicht erste Hinweise darauf geben, auf welche Art die verschiedenen visuellen Adressierungen des Körpers interagieren. Es ist richtig, dass sich – so würde man mit Brandtstetter/Auerbach etwa artikulieren – heterogene Körperpraktiken und Konzepte zur Präfiguration der Eigenschaftsfigur verdichten können und es ist auch richtig, dass sich diese Verdichtung wieder auflöst, dissimuliert und in die mannigfaltigen Diagramme des Affektionsgefüges zerstreut. Ich kann allerdings diesen meines Erachtens in der Kunstgeschichte weitgehend unerschlossenen Bereich hier nur andeutend fantasieren und will darum im anschließenden Kapitel wenigstens exemplarisch den Versuch unternehmen, eine künstlerische Strategie des Argumentierens mit unterschiedlichen Darstellungsformen des Körpers zu erörtern.

313

Brandtstetter, Gabriele, a.a.O., de figura – Überlegungen zu einem Darstellungsprinzip des Realismus – Gottfried Kellers Tanzlegendchen, S. 223-246.

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8. Sue Williams – It’s a new age

Abschließend steht die Erörterung einer Arbeit von Sue Williams (vgl. Abb. 17) , die all die bisher genannten Merkmale der Exposition eines Körpers nach seinen Affektionsvermögen aufweist. Zugleich jedoch kommt ein qualitativ neues Moment hinzu. Die in einzelnen Affektionen oder Verbindungen anschaulich gemachten Vermögen eines Körpers werden nun als ein zusammenhängender Komplex dargelegt, dessen Ökonomie als ein regelrechtes Regime heraustritt. Die Art und Weise, wie sich aus körperlichen Verbindungen mit anderen Körpern (aber auch Ideologemen, wie Idealen) geschwächte oder gesteigerte Vermögen ergeben, welche als Affekte akut werden, wie diese Affekte ihrerseits miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig stützen, ist in einem Körperdiagramm auseinandergelegt. Und dieses Diagramm erfährt seine Relevanz gerade in Konfrontation mit jener idealtypischen Körperlichkeit der aus tüchtigen, funktionierenden Einzelteilen zusammengesetzten Körpergestalt, der Eigenschaftsfigur.

8.1. D IE E LEMENTE Drei, vier Farben füllen das hochformatige Bild: das Gelb als Hauptfarbe und Bildträger, ein Grauschwarz zur Konturierung und sparsamen Modellierung der ungelenk und comic-artig gezeichneten Körperund Körperteile, ein schwärzlicher Ton für die Schrift, ein Kittweiß ebenfalls zur Modellierung, als Lokalfarbe, vor allem aber zum Überstreichen von Körperteilen und damit zugleich als Grund für Sätze oder Phrasen. Schmutzige Übergänge ergeben sich aus den feucht in-

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einander gemalten oder mit ungereinigtem Pinsel aufgetragenen Farben. Von feinen Linien bis zu breiten, teils verwischten Streifen reichen die Farbspuren. Der flächige Untergrund, die über das ganze Format verteilten, gekrickelten Zeichnungen und Inschriften in lockerer Comic-Syntax, schließlich der Palimpsest erinnern sowohl an die anonyme, durch stetige Fortschreibung angereicherte Versammlung von Skizzen und Kommentaren auf Wänden oder Klotüren, wie an das gedankenlose, selbstvergessene Gekritzel anderwärtig beschäftigter Personen. Gleichermaßen eingetragen zwar im üblichen Koordinatensystem einer Lese- oder Bildseite (oben/unten-links/rechts) variieren Schriftgröße und Schreibrichtungen der Wörter und Sätze. Die Totalität des Bildes ist zusammengesetzt aus Schriftsequenzen und Bildgestalten. Überschreibung, Fortführung, Kommentierung, Gruppierung auf der Fläche – das mögen die wichtigsten Modi des Miteinander der Elemente sein. Die Figurenfragmente sind meist durch ungelenkes Gekritzel gekennzeichnet, aber es finden sich auch einige Beispiele routinierter Stereotypie – wie von Kindern, die sagen: ‚ich kann ein Pferd‘ und meinen, dass sie ein erwachsen wirkendes Schema wiederholen können. Zentral erscheint die massige Gestalt eines Körpers. Von den Unterschenkeln und Knien über die Oberschenkel, Hüfte, flächige Scham und einen undifferenzierten Oberkörper nebst angedeutetem Oberarm durchmisst sie annähernd die Höhe und drei Fünftel der Breite. Nach oben wird sie durch einen Schriftzug abgeschlossen. Links neben dem Rumpf erscheint ein Torso mit einem traurigen, verquollenen, nach vorne links aus dem Bild gewandten Gesicht und langen Haaren. Zwei Finger der rechten Hand sind ins rechte Auge gedrückt314, der Daumen der linken Hand weist über die Schulter auf den zentralen Rumpf und/oder dessen Überschreibung. Unterhalb des Torsos befindet sich die Zeichnung eines vogelartigen Fötus, eines brutzelnden Spiegeleis und eines weißen Flecks mit tropfenden Farb-

314

Ein sehr ähnliches Motiv gibt es in einer anderen Arbeit (Try to Be More Accommodating, 1991, Akryl auf Leinwand 18 x 15): hier drücken sich Phalli in alle möglichen Öffnungen eines Gesichts; Auge, Mund, Ohren.

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spuren. Ganz unten in der Ecke ist ein hingestrecktes Hinterteil mit einem männlichen Genital darüber gezeichnet. Abbildung 17: Sue Williams, It’s a new Age, 1992

Synthetic, polymer and oil on canvas, 64x54 – Quelle: 1993 Biennial Exhibition (AK), New York 1993, S. 251

Zwischen den breit gestellten Beinen der zentralen Gestalt sind ein weiteres, hier prall modelliertes Hinterteil und der Kopf eines katzenähnlichen Tieres untergebracht. Am rechten Rand halten auffällig verspreizte Hände mit langen Fingernägeln einen schmutzigen Slip, auf gleicher Höhe zum Torso links erblicken wir ein der Mitte zugewandtes Gesicht mit geschwollener Schniefnase. Eine Reihe der Motive sind aus anderen Arbeiten Williams‘ bekannt.

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8.2. D IE T EXTGRUPPEN Komplexe aus Wörtern, Phrasen und Sätzen überziehen das Bild.Deren Inhalte lassen sich skizzenartig vielleicht folgendermaßen nachzuzeichnen, ohne die einzelnen Themenkreise allzu ausführlich zu analysieren. Optimismus und Wahlfreiheit „It’s a new world“ steht auf einer kleinen logoartigen Weltkugel links oben. Die Atmosphäre der Kugel besteht – so ist es bezeichnet – zu je 50% aus Ammoniak und Bleichmitteln. Die Formel wird variierend aufgenommen und als „It’s a new age“ wie eine Bildüberschrift platziert und mit dem kleiner geschriebenen „and it is hot“ unterlegt. Diese vollmundigen und fortschrittsoptimistischen Werbebehauptungen einer ganz neuen (und doch durch Reinigungsanstrengungen grundlegend verschmutzten) Welt und einer neuen Epoche geben Anstoß für eine in Ichform gehaltene Spekulation über das eigene erreichte Alter (‚age‘ = hier nicht mehr das Zeitalter), die damit erworbene ‚Freiheit der Wahl‘, das ‚Lernen aus Fehlern‘ und den ‚Spaß, der aus der Umwandlung von Problemen in Lösungen‘ resultiert. Ein selbstsuggestiver, ja zwangsoptimistischer Impetus des think positive durchzieht die Spekulation, er durchstreicht etwa das Wort ‚Fehler‘ (mistakes), um es durch das neutralere ‚Dinge‘ (things) zu ersetzen und weist auf den möglichen positiven Ertrag eines zunächst schmerzhaften Fauxpas (in amerikanischer Phonetik: ‚Faupaw‘) hin. Die behauptete Wahlfreiheit des Icherzählers findet das Kriterium der Entscheidung im ‚Vertrauen in die eigenen Instinkte‘. Und weiterhin liest sich hier auch die bekannte Formel eines jeden zeitgenössischen Unternehmers seiner selbst: ‚Es gibt keine Probleme, nur Lösungen und der Spaß kommt ins Spiel, wenn sie gefunden werden.‘ Die Spekulation wendet sich unvermittelt zur Frage der Wahl der Bildmittel, so dass zum Ich des Textes oder Bildes überblendend oder gar identifizierend das Ich der Künstlerin tritt: ‚I chose yellow + I’m not sorry‘. Der Zweifel jedoch ist Begleiter der zunächst forschen und bald gar trotzigen Behauptungen und gewinnt kurzfristig die Oberhand: „For instance, I then chose a rotten Navajo white, but it looks like putty and doesn’t work for beans“ (Zum Beispiel habe ich dann ein schmutziges Navajo Weiß gewählt, aber es sieht aus wie Kitt und

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funktioniert nicht für Bohnen). Dieses Eingeständnis wird sodann durch ein entschiedenes „Na und“ (I say so what) weggewischt, um allerdings von einem kleingeschriebenen (kleinlauten) „und dann esse ich Dinge, die nicht auf meiner Liste stehen“ sekundiert zu werden, das dem Misserfolg die Willensschwäche zur Seite stellt: deutliche Töne also im Vordergrund, deren Behauptungen aber Widersprüche folgen wie untrennbare Schatten. Diese Erörterung erstreckt sich über den Rumpf und die Oberschenkel der Figur, sie ist teils auf die weißen Balken aufgetragen, die die Konturen der Figur übermalen, teils auf dem dunklen Grund der flächigen Scham und dem Gelb des Grundes. Zwei kleinere Abkömmlinge der Spekulation geben weiter Aufschluss über den Sorgebereich der sich auf die Kraft der freien Wahl berufenden Person: 1. über den linken Oberschenkel steht geschrieben: „I chose fat thighs, but it’s o.k. I, I mean I feel o.k. with it“ (Ich habe fette Oberschenkel gewählt, aber es ist o.k., Ich, ich meine, ich fühle mich gut damit). Das ‚Ich‘ als der begründende Ausgangspunkt der Wahl wird durch Wiederholungen in seinem Autoritätsanspruch betont und zugleich relativiert: ‚Ich‘ bedeutet hier zuletzt noch ‚wenigstens ich‘. 2. „The ass grows hard to reach tufts – another odd choice. Perhaps my mind was elsewares.“ ( = der Hintern lässt schwer zu erreichende Büschel sprießen – eine andere merkwürdige Wahl. Vielleicht waren meine Gedanken woanders315) – Hier durchkreuzt die gedankenlose Ablenkung das heroische Programm der freien Wahl durch die selbstbewusste Person. Ein gewisses Lebensalter, die im Ich (auch: dem eigenen Instinkt) begründete Freiheit der Wahl, der Impetus forscher Problembewältigung, Körperproblematisierung, Zweifel, Misserfolg und Ablenkung – aus diesen Bausteinen speist sich die Erörterung, die über die zentrale Figur ausgebreitet ist.

315

Es ist auf die ungewöhnliche Rechtschreibung zu achten: ‚elswares‘ ähnelt dem eigentlich zu erwartenden ‚elsewhere‘ (woanders) phonetisch. Ob hier tatsächlich Konnotationen von ‚ware‘ (Ware) oder gar ‚war‘ (Krieg) eine Rolle spielen sollen, oder ob die Geistesabwesenheit gar auf die Rechtschreibkompetenz Auswirkung hat, ist schwer zu beurteilen.

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Eggs Eine andere semantische Kette geht von der Figur links aus. „A helping hand“ steht auf dem Arm, dessen Finger sich in das Auge der Person drücken. Gegenstrebigkeit und Ambivalenz – die ‚helfende Hand‘ verletzt – bestimmen auch die folgenden Textelemente: „Yes, what about abortion? – wrong painting, let’s try to say hello.“ (Was ist mit Abtreibung? – falsches Bild, versuchen wir, guten Tag zu sagen). Wie beim Bezug auf die Farbwahl schiebt sich hier die Metaebene der Malerin über das Ich der Sprecherfigur, ein Positionswechsel, der in der Fehlleistung, der Ablenkung stattfindet. Und auch diese Ablenkung wird weitergeführt: „Human Fetus? or still in chicken stage.“ Die Frage, die entlang der populären Artikulation der auch bildlich illustrierten Formel die-Ontogenese-ist-wie-die-Phylogenese gestellt ist, erlebt eine konkretere, auf die Gegenwart bezogene Bedeutung: „Max, Sam, Alex, names of the ninties (humans)“, schließt sich als Text an. Es ist, wie wir aus der Fortführung erfahren werden, zusammengenommen, die Frage danach, wann/ob dem Embryo oder Fötus Subjektstatus zugewiesen wird, wann/ob er bereits human (a human/ein Mensch) ist. Zur Subjektivierung und Individualisierung gehört ein Name. „You see, I wanted to talk about eggs“ (egg bedeutet (Hühner)ei aber auch Eizelle), hebt eine weitere Textzeile an und links sieht man ein brutzelndes Spiegelei, dem der Name Max zugeordnet ist. Die Tatsache der assoziativen (homonymisch prozedierenden) Überblendung und Verschiebung der Gedanken von profanen Frühstückseiern zu Eizellen und Embryonen leitet zum nächsten Topos über, zur (vermeintlich) geschlechtlichen oder psychosozialen Disposition zu solchen über Einfühlung verursachten Fehlleistungen, zu Unangemessenheit, Lächerlichkeit, ja Hysterie, zu „my pathetic Life as a woman“. Es scheint hier der ganze Konnotationsbereich des englischen ‚pathetic‘ aufgemischt und mit dem Dasein der Frau verbunden zu werden: 1. Etwas mit ‚pathetic‘ Attribuiertes, das ist zunächst etwas Bemitleidungswürdiges, etwas, das zu Mitleid oder Trauer veranlassen kann und die englischen Lexika verzeichnen drastisch als Beispiele etwa Hilfeschreie oder die Ansicht sterbender Kinder(!). 2. ‚pathetic‘ bedeutet aber auch etwas vollständig Unangemessenes, gar zu Verachtendes und kann zum Vorwurf werden: You’re pat-

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hetic! Und in diesem Sinne ist es in eine Redensart eingegangen, die ausgerechnet folgendermaßen lautet: You’re pathetic, can’t you even boil an egg?316 3. Diese Redensart mag nun zu einem verwandten Literaturterminus führen. Mit pathetic fallacy (fallacy = Irrtum) wird die Qualifikation eigentlich unbelebter Gegenstände als lebendiger und fühlender Dinge bezeichnet. Williams führt verschiedene, aus dem griechischen ‚pathos‘ (das der etymologische Kern dieser divergenten Begriffe und Bedeutungen ist) entwickelte historische Bedeutungen zusammen: Da ist zunächst die Bedeutung von Schmerz, Leiden in Richtung des Mitleidens (der Empathie), da ist dann die Bedeutung des Eindringlichen, Ausdrucksstarken (auch im ästhetischen Sinne als Ausdruckskraft) und da ist zuletzt die Bedeutung des Leidens eher als des Krankhaften, der Krankheit (so wie entsprechend ‚Pathologie‘ die Lehre von den Krankheiten meinen wird und nicht die des leidenschaftlichen Ausdrucks317). Die Fügung, die Williams vorstellt, ist nun ganz deutlich: das Mitleidende, Empathische wird als übertrieben (übertriebener, unangemessener Ausdruck), falsch (falsche Vergleiche, unzulässige Qualitätsübertragung), gefühlsduselig (allein den Affekten, nicht der Vernunft folgend) und schließlich gar krankhaft (pathetic im Sinne von hysterisch) markiert und als typische Qualität, ja als das Leben der Frau bezeichnet. Yes feelings Die nächste Reihe, einer Reihe der Steigerung und bald auch des Umschlags führt zur lächerlichen Person den Sozius ein, ihre Qualifikation verdankt sich nun ihrem Verhältnis zu diesem. Diese Reihe wird euphemistisch als „Yes feelings“ bezeichnet, wie die Illustrierten sie zum

316

Oxford Advanced Learner’s Dictionary, Oxford 1989, S.906, Artikel ‚pathetic‘.

317

Im Zeitraum der Entstehung der Psychoanalyse werden die beiden Aspekte des Leidens, der Krankheit einerseits und des starken (körperlichen) Ausdrucks andererseits noch einmal zusammengeführt. Illustriert durch die bekannten Fotos von Charcot ist die Untersuchung der Hysterie, deren psychische Ätiologie Freud behaupten wird, mit den wichtigsten Entdeckungen der Psychoanalyse verbunden: Unbewusstes, Phantasie, Verdrängung, Abwehrkonflikt usw.

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autosuggestiven Mandala empfehlen könnten: „sap, sucker, stooge“, das sind die ersten drei Elemente dieser von Anfang an ambivalent organisierten Reihe: sap, das bedeutet zugleich Lebenssaft, Energie, Pflanzensaft aber eben auch Dummkopf (poor sap318). Sucker ist analog zu sap der Wurzelsproß aber auch jemand, der leicht zu betrügen ist319 und stooge schließlich bezeichnet ziemlich eindeutig eine Theaterfigur, auf deren Kosten Scherze gemacht werden (etwa: Hanswurst) oder auch einen bloßen Handlanger. Der dritte Term also qualifiziert im Rücklauf die Bedeutung auch der ersten beiden. Self hatred und self destructive (Selbsthaß und selbstzerstörerisch) lauten die weiteren eindeutigen Begriffe (eher Effekte als Attributionen). Es folgt „chump“ (Dummkopf, auch Baumstumpf), das Metaphernfeld der ersten beiden Begriffe aufnehmend und steigernd. Den Anschluss bilden „used“ (benutzt/missbraucht) „or codependent“320 . Beendet wird die Serie mit „or angry“ (wütend), „may be a little afraid, Huh?“ In einer Reihe können wir wiederholen: der metaphorischen Charakterisierung als pflanzennahes Geschöpf, als eines manipulierbaren Hanswursts folgt die Charakterisierung der Wirkung dieser Position auf das Selbstverhältnis (Selbsthass, Selbstzerstörung) und die Bestimmung der Beziehung als einer des Missbrauchs und der symbiotischen Abhängigkeit. Den Abschluss bildet die nachdrückliche Frage, ob Wut oder Angst aus dieser Position folgen. Ganz offen bleibt hier die Position des Subjektes der Aussage, wie des Objektes der Attributionen. It takes two to tango In direkter räumlicher Nachbarschaft befindet sich der nächste Komplex, der sich weiter um die Frage der Zweisamkeit, der Abhängigkeit dreht:

318

Das Verb ‚to sap‘ umschreibt gar die schleichende Schwächung von

319

Neben all den anderen Bedeutungen: jemand, der lutscht, Lutscher...

320

codependent‘ ist ein in Amerika populär gewordener Begriff aus der

etwas.

Paar- oder Familientherapie, er bezeichnet die unheilvolle gegenseitige Abhängigkeit, eine Art neurotischer Symbiose – die beispielsweise akut wird, wenn Suchtkranke (unbewusst, indirekt) durch ihre Angehörigen in ihrem Verhalten bestärkt werden.

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„MS – ever heard about the phrase ,it takes two to tango‘?“ dieser Satz, steht geschrieben über einer Zeichnung, in der sich ein schlaffes männliches Glied („zzzzzzz“ markiert es als schlafend) auf ein hingestrecktes Hinterteil beugt, dessen Rückenfortsetzung ebenfalls schnarcht („zzzzz“). Als Kommentar liest man noch: „an unconventional reply“ und – in Anbindung an die benachbarte Reihe: „Yo, lets look at that word co-de-pen-dent“. Hier wird offensichtlich eine schlafende Metapher geweckt (de-pendent = ab {auch:herab}-hängend), um ihren buchstäblichen Sinn zu evozieren. So erfährt ein wissenschaftlicher Begriff in der Popularisierung eben auch diese merkwürdige Erdung. Das Thema der wohlausgeführten Gegenseitigkeit muss ja als Dauerbrenner der allgegenwärtigen ratgeberischen Problematisierung heterosexuellen Verkehrs gesehen werden. Und vielleicht genügt dieser Hinweis für diesen Komplex. Madonna, Cicciolina In grober Wut und Hetze artikulieren sich Bemerkungen zu Madonna und Cicciolina, den „petite capitalist whores“ und „ass holes“, die ‚abgefüllt‘ gehören. Diese Formulierungen scheinen allgemeine misogyne Ausbrüche mit Vorbehalten bezüglich kommerziell motivierter rolemodels zu vermischen. Offensichtlich zielen die Worte „that italian politician Cicalina’s ...“ auf den Ex Pornostar, die spätere italienische Parlamentsabgeordnete und vorübergehende Ehefrau Jeff Koons, Ilona Staller, genannt Cicciolina (etwa: Dickerchen). Was jedoch ist ihr gemeinsamer Auftrittsort mit Madonna? Vielleicht die Tatsache, dass sie beide im Diskurs der Medien als Beispiele für die Umwertung der Frauenrolle gehandelt werden? Auch hier wieder erscheinen diese Aussagen ohne ein zuzuordnendes Subjekt der Äußerung. Eine letzte Texgruppe sei noch genannt: Don’t fight it, go with the flow Ein (menstruationsblut?-) befleckter Slip wird von gespreizten Händen mit langen lackierten Fingernägeln gehalten und neben mir unlesbaren Kommentaren mit dem Spruch „don’t fight it, go with the flow, don’t think...“ bedacht. Ist das ein Ausflug in Sphären, deren Konturen fast vollständig von einer allgegenwärtigen Damenbindenreklame bestimmt werden, in der eine exemplarische weichgezeichnete Landschaft unbefleckter Hygiene vorgeführt wird, deren blendende Unschuld das Ausmaß des zu bemäntelnden, schmutzigen Geheimnisses

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markiert? Kann eine Politik der Affirmation (don’t fight it, go with the flow) dieser Waschzwangaufforderung Gewicht entgegensetzen? Die Frage der Wahl- und Willensfreiheit eines Individuums in einem gewissen Zeit- und Lebensalter, die Frage nach körperlichen Beschaffenheiten, nach Haushaltstätigkeiten und Abtreibung, nach verletzender Abhängigkeit, nach role models und Hygiene, sie alle werden hier aufgerufen, ohne dass noch ersichtlich wird, wie sie zusammengehören.

8.4. D IE K ÖRPERFRAGMENTE Es ist daher zu fragen, in welcher Form diese disparaten Diskurselemente interagieren. Dazu mag zunächst ein Blick auf die Anordnung der Zeichnung dienen. Obgleich die zentrale Gestalt inkomplett ist, hat sie doch durch ihre Dimension, durch die Frontalität und nicht zuletzt durch die kreisweise Zuordnung der vielen kleineren Bildelemente einzelner Körperteile so etwas wie die Rolle der Repräsentanz des ganzen Körpers inne. Eher als eine integrale Gestalt ist sie jedoch ein abstrakter Platzhalter dieser Position, der gleichwohl darauf hinweist, dass es hier um das Ganze geht – der Begriff dieses Ganzen ist jedoch noch zu definieren. Wir können aus der Gesamtheit der Körperteile Körperansichten unterscheiden – sie sind durch fehlende Ausdrucksorgane (Gesichter, Hände) zu charakterisieren, werden aber auch durch die Texte als Gegenstand oder Objekte einer Besprechung oder Ansicht markiert. Daneben finden sich Ausdrucksgesichter, die Gefühle, Stimmungen und Affekte ausdrücken oder direkt auf Sensationen reagieren. Ihnen ist auch ein gewisser deiktischer Charakter eigen: Blickrichtungen und zeigende Finger verbinden sie mit anderen Elementen. Schließlich gibt es zwei Szenen direkter körperlicher Interaktion: die Finger im Auge und die merkwürdige Konstellation ‚eingeschlafener Verkehrsteilnehmer‘ im Zustand der ‚codependency‘, der gegenseitigen Ab-hängigkeit, links unten. Die Fragmentarisierung und Vervielfältigung der Elemente, ihre Präsentation als Agens oder Objekt, ihre ausdrückende, wahrnehmende oder empfindende Funktion und nicht zuletzt die räumliche Konfi-

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guration organisiert das Bild zu einem System von verweisenden und korrespondierenden Elementen. Nicht jedoch figürliche Einheiten, sondern Fragmente und Komplexe stehen in diesem Korrespondenzbezug. Bereits auf der bildanschaulichen Ebene entfaltet sich eine dichte und vielfältige Zeichenwelt, in der die Relationen multipel sind. Auch der Text ist in Gruppen unterteilt, die diverse Relationen unterhalten. Neben einfachen Wörtern, Interjektionen, Phrasen, Satzkomplexen und Fragen finden sich auch Wortreihen. Die Linguisten und Grammatiker mögen alle Übergangsformen von hochschrifttypischen zu slangartigen Ausdrucksformen bemerken, selbst die Orthografie wird von dem Durcheinander angegriffen. Die Aussageinstanzen wechseln abrupt (das Ich der Erzählerin verschiebt sich zum Ich der Künstlerin), sie sind gegenstrebig organisiert (‚Ich‘ neben ‚Du‘, er, sie es...), sie werden nicht nur vertauscht, sie sind auch zu verwechseln und, das steigert diese undeutlichen Verhältnisse noch: sie verbinden sich nicht eindeutig mit den Aussagen oder den Objekten. Auch die Aussagen selbst (Prädikationen, Attributionen) erscheinen mal in der Form der Affirmation, der Negation oder der Unentschiedenheit und verbinden sich mit wechselnden Objekten. Einige der Transitwege dieser Shifts lassen sich nennen: Homonymie, Konsonanz, Kontingenz, buchstäblicher und übertragener Sinn. Eine große Dichte an Zeichen versammelt sich so, eine Dichte, die nicht nur durch die schiere Zahl der Zeichen, sondern auch durch die Durchdringung der unterschiedlichsten Aussageebenen, Personen oder Zeichenordnungen bestimmt ist. Es scheint aber diese Versammlung keinen wirklichen gemeinsamen semantischen Grund als Anlass der Versammlung auf einer Ebene zu haben. Die inhaltlichen Übergänge sind da, aber sie sind willkürlich, okkasionell und nur im direkten Kontakt wirksam, in der nächsten Zeile spielt die Bindung keine Rolle mehr. Die Frage also, wie der Raum der Versammlung zu begründen ist, bleibt vorerst offen.

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8.5. V ERKNÜPFUNGSWEISEN DER T EXTSEQUENZEN UND B ILDFRAGMENTE Stellen wir in diesem Zusammenhang auch die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Bild. Zunächst können wir ein wechselseitiges Bestimmungsverhältnis konstatieren: die bildliche Anordnung der Körperteile zieht die assoziierten Textsequenzen in ihre Organisation hinein, genauso wie auch die Bildelemente zuweilen der Explikationsbewegung der Texte folgen, wenn etwa der Blick der Lesenden über die Satzentfaltung von einem Bildteil zum nächsten geführt wird. Schrift steht in räumlichem Bezug zu den gezeichneten Körperteilen: sie ist in deren Konturen eingetragen oder sie befindet sich in direkter Nachbarschaft, die Grenzen manchmal überschreitend. Auf dem Gelbgrund oder auf gegenständlich bestimmtem Zeichengrund findet sie ihre Unterlage. Schließlich wird sie von den weißlichen Balken getragen, die die Zeichnungen überdecken und doch durchscheinen lassen. Schrift also als Bezeichnung, Denotation, aber auch als löschende Überschreibung, als Umschreibung, Circumscription und nicht zuletzt als Inschrift oder Inscription auf Bildeinheiten. Neben der räumlichen Zuordnung von Schrift und Bild stellt auch hier die Deixis Verbindungen her. Pfeile, aber auch deiktische Ausdrücke (‚this‘) verknüpfen Text und Bild. Die direkte Ansprache des Betrachters durch Aufforderungen und Fragen bildet ein weiteres Bindungsglied, deren wichtigstes sicher die expliziten Aussagen zum bildlich Dargestellten sind, die eine Verbindung der Evidenz herstellen. Während der Text-Bild-Zusammenhang zuweilen zwingend ist, scheint er manchmal wahrscheinlich, zufällig oder gar zweifelhaft. Erratische Motive können Bindungen mit benachbarten Elementen eingehen. Wiederholungen bilden Verknüpfungen aber auch über weitere Entfernungen. Im Text-Bildverhältnis berühren sich die Extreme scheinbar eindeutiger Bezeichnung und äußerst vager Assoziation, als ob die Gegenpole in einer Kreisbewegung zueinander fänden: So wie ein eindeutiges Wort ein deutliches Bild doppelt und in der Redundanz als

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Mehrwert auch Unsinn und Leere herstellt321, produziert die vage Verbindung im Übersprung der Differenz eine Fülle an Bedeutung. Statt jedoch der dichten Versammlung der diskursiv aufgerufenen Inhalte einen klareren Zusammenhang zu geben, statt einer Verdeutlichung in der Referenz zuzuarbeiten, scheint die Weise der Verknüpfung von Text und Bild ein weiteres Mittel der Zeichenproliferation und -verdichtung: ein jedes Element ist mit allen anderen potentiell in Kontakt.

8.6. K ÖRPERAFFEKTIONEN Es mag daher vernünftig sein, zu fragen, ob diese Zeichen einen gemeinsamen Entzündungspunkt aufweisen. Und in der Tat schließen sich die Themen, wie sie in den Textsequenzen angeschnitten und anschaulich präsentiert werden, ausnahmslos an Körperbekümmerungen an. Gleich, ob es sich um Spekulationen oder Delirien über Lebensalter, über Schwangerschaft und -abbruch, über Selbstbewusstsein oder über Madonna und Cicciolina handelt – sie alle entzünden sich an Wahrnehmungen, Empfindungen und Zuständen des Körpers. Man kann also sagen, dass sie als Affektionen des Körpers akut werden. Texte wie Bilder explizieren diesen Zusammenhang. Einen ersten Hinweis auf die Qualität dieser Affektionen mag der Text bieten. Viele der Textpartikel artikulieren sich unterhalb der Schwelle von Aussagen oder Propositionen. Juxtapositionen von Substantiven, Artikeln, Adverbien und Verben, der Wechsel der Aussageposition und inhaltliche Umschläge (Negation, Inversion) bestimmen den Modus der Körperaffektionen. So lösen sie sich aus dem Kontext der Aussageinstanz sowohl wie aus dem Attributionsverhältnis zu bestimmten Personen aber auch aus der narrativen Folge von Gedanken und Erzählungen. Die körperlichen Affektionen erscheinen in einer gewissen Abstraktheit, sind als reine Qualitäten angesiedelt. Als solche flottieren sie und können wechselnde Beziehungen eingehen.

321

Bezeichnet das Wort das Bild oder umgekehrt, präzisieren sie einander, wessen Bestimmungskraft ist stärker, verweisen sie auf den gleichen Gegenstand usw. Vgl. Foucault, Michel, Dies ist keine Pfeife, München 1974, S. 43ff und S.31.

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Diese Beobachtung auf der Textebene lässt sich auch durch bildanschauliche Eigenheiten stützen und ergänzen. Hier beobachten wir die Selektion und Isolation der direkt an einem Affektionsverhältnis beteiligten Elemente. Das bedeutet nicht nur den Schnitt durch einen Körper (Abtrennung), sondern mitunter durch mehrere (Ausschnitt der am Verhältnis beteiligten Elemente). Die Affektion umfasst allein die handelnden und leidenden Elemente, die nicht notwendig zu einem Körper gehören müssen. Auch hier lässt sich also von isolierten oder reinen Qualitäten sprechen. Wie kann man sich die Existenzweise solcherart isolierter, ‚reiner‘ Affektionen vorstellen? Was bleibt übrig, wenn die Zeit der Handlung, identifizierbare Protagonisten, ein definierbarer Ort suspendiert werden? Was kann der Status solcher Affektionen sein und wie können sie sich ausdrücken? Man könnte in diesen Zusammenhängen – grammatikalisch ausgedrückt – von einer Art Verlaufsform zu sprechen, die vielleicht folgendermaßen dargelegt werden kann: Die Affektionskomplexe – herausgerissen aus der narrativen Ordnung, gelöst von Subjekt und Objekt der Aussage – werden in einem Modus aufgeführt, der an Kinderspiele erinnert; so wie ein Kind, das spielt, nicht sosehr Lastwagenfahrer spielt (‚ich fahre einen Lastwagen‘), sondern das Lastwagenfahren spielt und sich in der merkwürdigen Verlaufsform ‚fahre, fahre, brems, brems, stink, stink‘ artikuliert, die eine Tätigkeit bezeichnet, ohne dabei den Täter, seinen Gegenstand und sein Tun zu unterscheiden, oder einen sinnvollen Anfang oder ein Ende zu finden. Das Kind füllt alle Elemente eines Affektionsverhältnisses aus. Es schaltet und rollt, es macht die Geräusche des Wagens und des Fahrers. Das Kind schauspielert nicht, imitiert nicht den Lastwagen, es betreibt Lastwagenfahren. Ähnlich könnten wir in Sue Williams Arbeit eine Reihe von Affektionskomplexen isoliert beschreiben: – Links oben ist das Gesicht, das Schmerz erfährt, jammert und auf etwas verweist und so den abstrakten Komplex Schmerz/Leid/Klage bildet, – wir sehen an der rechten Seite die Hand, die mit gespreizten Fingern den Slip hält (Interesse/Ekel), – das schlaffe männliche Glied über dem Hinterteil – sie versammeln gewohnheitsmäßige Zuwendung/Indifferenz/lähmende Abhängigkeit.

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Diese Komplexe sind jeweils zunächst durch konkrete Thematisierungen initiiert, stehen jedoch auch in gegenseitigem Verweisungszusammenhang und vermögen sich schließlich von ihrem Anlass zu lösen und mit anderen Komplexen und Thematisierungen auszutauschen und aufzuladen. Wenn die Schrift- und Bildzeichen in ihrer Organisation die Herauslösung einzelner Affektionskomplexe zu isolierten Qualitäten leisten mögen, so scheint es auch ein psychologisch-ästhetisches Prinzip zu geben, das dieser Isolierung zuarbeitet, um schließlich zu einer bestimmten Anordnung der Komplexe zu führen. Das Bild ist von einer Versammlung starker Affektionen geprägt, die Affekte 322 auslösen. Hier handelt es sich um Momente höchster

322

Ich folge hier nicht genau Spinozas Unterscheidung von Affektion und Affekt. Dort werden die Affektionen unter anderem als die Modifikationen der Modi, anders gesagt: als ihre gegenseitigen Wirkungen aufeinander bestimmt. Sie sind in diesem Sinne direkte körperliche Spuren (II, Post.5;II,17,Sch.;III,Post.2). Die Ideen der Affektionen umfassen sowohl die Natur des affizierenden, wie des affizierten Körpers. Affektionen als Ideen, oder, wie es an anderer Stelle heißt, Vorstellungsbilder (II,17 Sch.) bezeichnen einen bestimmten Zustand des Körpers, der mehr oder weniger Vollkommenheit (gemäß seiner Natur) bedeutet, als der vorhergehende Zustand. Und genau der Übergang von einem zum anderen Zustand, der die Anknüpfung an den vorhergehenden einschließt, wird als Affekt (affectus, häufig übersetzt mit Gefühl) bezeichnet. Affektion bezeichnet also eher die gegenseitige Wirkung der Modi oder den Zustand eines affizierten Körpers, während Affekt sich auf die Veränderung (eventuell auch die Konstanz) im Grad der Vollkommenheit eines Körpers, wie sich Spinoza ausdrücken würde, bezieht. Zwei Haupttypen lassen sich unterscheiden: traurige Affekte (sie begleiten Zustandsveränderungen des Körpers in Richtung abnehmender Vermögen) und freudige Affekte (... in Richtung zunehmender Vermögen). Ich möchte den Begriff Affekt hier besonders für extreme Eindrücke geltend machen: gemeint ist die Wirkung besonders einschneidender Affektionen des Körpers, Affektionen, die einen Bruch in der Kette von Wahrnehmung, Kognition und Handlung verursachen. Eindrücke, die derart stark sind, dass der Reiz nicht mehr vom Subjekt der Wahrnehmung eingefangen werden kann, sondern dieses überwältigt. Das Subjekt kann sich in kein Verhältnis mehr zum Reiz bringen,

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Intensität, die sich als drängende Fragen, Ausrufe, Verzweiflungsausbrüche, insistierende Wiederholungen, verwirrende Wahrnehmungen aber auch Zerstreuungen äußern. Ihre Intensität übersteigt für einen Moment die Handlungsfähigkeit. Statt in die Sukzession einer Verhandlung, Fortführung oder Synthese einzugehen, erstarren die Szenen im Moment ihres affektiven Höhepunktes und verbleiben in einer gewissen Entscheidungslosigkeit. Fragen werden nicht beantwortet, sondern zum Schrei gesteigert, Alternativen werden nicht ausgetragen, sondern fallen in eins, Perspektiven führen nicht zum anvisierten Ziel, sondern verschwimmen mit anderen Perspektiven, Motive verlieren sich in zirkulären Bewegungen und Abschweifungen. Erstarrung, Tonstörung, Suspension, Zirkularität und Indifferenz – von der Warte der Vernunft erscheinen die Effekte starker Affekte als Zynismus oder Hysterie – und interessanterweise wird hier die Hysterie als Effekt auch thematisiert („my pathetic life as a woman“)323. Die Lösung des Affekts von seinem konkreten Anlass, seinem eigenen Subjekt und Gegenstand, seine Entbindung zu einer reinen Qualität versetzen ihn in eine Welt, in der er ungehemmt in ein Austauschverhältnis mit anderen Affekten und Zeichen eintritt. Herauslösung und Freistellung und schließlich die Versammlung der Affekte jedoch bestimmen einen Bedeutungsraum mit durchaus definierbaren Eigenschaften: es ist ein Raum, der jenseits der konkreten Zeitentfaltung eines Vorher und Nachher, die Möglichkeiten dessen, was geschah, geschieht, geschehen wird oder geschehen könnte, auf einer Ebene versammelt. Es ist die virtuelle Versammlung aller möglichen Entwicklungen und Verknüpfungen. Technisch könnte man sagen, dass die vereinzelten oder losgelösten Affekte sich in einem Bereich extrem erweiterten Assoziationsspielraumes bewegen. So übernimmt eine Metapher oder Metonymie, die in der geregelten Rede zum Vergleich des eigentlichen Verhandlungsgegenstandes eingeführt ist, hier alsbald selbst die Vorherrschaft

es kann auch keine ‚Antwort‘ geben; sein Funktionszusammenhang ist temporär außer Kraft gesetzt. Verschiedene ‚Fehlleistungen‘ resultieren aus diesem Zustand: Verstummung, Lähmung, Krampf, inadäquate Automatismen... 323

Freud definiert Hysterie auch durch ‚falsche Verknüpfungen‘, d.h. narrative Inkohärenz: Vgl. Breuer, Josef; Freud, Sigmund, Studien über Hysterie, Frankfurt/M. 1970, S. 236f).

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S UE W ILLIAMS – IT ’ S A NEW

AGE

über die Rede, bis sie von einer weiteren Assoziation überwältigt und abgelöst wird. Ist ein Term zur Bestimmung eines anderen eingesetzt oder erhebt er eigene Ansprüche – es ist oft nicht mehr zu entscheiden. Die Assoziationen reichen sich die Hand, beschleunigen ihren Verkehr und eröffnen eine Welt an möglichen Verbindungen. Auch das Ausdrucksgesicht bezieht sich bald auf seine Inskription, bald auf benachbarte Körperansichten und Interaktionskomplexe und wird schließlich von deren Bewegungen und Bezügen erfasst. Reagiert es oder ist es selbst Ausgangspunkt einer Bewegung oder Zwischenglied eines Ablaufs – die Antwort auf diese Fragen wird schließlich unwichtig324. Diese Weite des Assoziationsspielraumes, der die Konsolidierungsanstrengungen integrierender Instanzen zunichtemacht, öffnet die Textsequenzen und Bildelemente nicht nur auf die benachbarten Komplexe, sondern bald auf alle Elemente des Bildes. Wiederholungen, Echos, Antworten bilden das dichte Netz der Kommunikationspunkte der einzelnen Komplexe. Was in der einzelnen Sequenz unsinnig, sprunghaft, unvollständig erschien (ein dummer Gedanke, ein unnötiges Insistieren), was im direkten Übergang zu einer anderen Sequenz widerstrebend wirkte (was hat das miteinander zu tun, du verwechselst da was), gibt den einzelnen Komplexen eine Position im Gefüge.

324

Was hier am Gegebenen dargestellt wird, könnte auch eine theoretische Ausarbeitung finden. Die philosophische Adresse sind die englischen Empiristen: Locke, Berkeley, vor allem Hume. Was dort generell über die Gesetzmäßigkeit affektgeleiteter Assoziationen von Gegenständen und Ideen gesagt wird, mag hier in besonderem Maße gelten. Grob vereinfacht ließe sich zusammenfassen: Es ist nichts den Gegenständen oder deren Vorstellungen oder Ideen immanentes, welches die Assoziationsbewegung von einem Gegenstand zum Nächsten (einer Idee zur nächsten) lenken würde, sondern es sind die Qualitäten der mit diesen verbundenen Affekte. Diese qualifizieren Gegenstände und Ideen nämlich gemäß ihres affektiven Gehalts und bestimmen so auch die Prinzipien der Ähnlichkeitsbeziehung. Ein Gegenstand, der mit denselben Affekten verbunden ist, wie ein anderer, wird in der Einbildungskraft mit diesem verbunden. Vgl. zum Implikationsverhältnis von Assoziation und Affekt beispielsweise: Hume, David, A Treatise on Human Nature, Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects':..., 1739-40.

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Statt die thematischen Motive als dramatische Eckpunkte eines erzählerischen Spannungsbogens zu organisieren, werden hier die Potentiale eines Gefüges entwickelt. Der ganze Raum der möglichen Verknüpfungen unter den Affektionen wird gezeichnet. Ein Komplex sich gegenseitig stützender und ineinander übergehender Affektionen erscheint. So wie die Assoziation fließend von Abtreibung über fette Oberschenkel zu Madonna geht, ohne die Vermittlung einer Erzählung zu benötigen, so sind die einzelnen Motive jeweils ganz vom Gefüge determiniert. Die einzelnen thematischen Aktualisierungen definieren sich im Modus des Affekts gegenseitig. Ihre Bedeutung resultiert aus dem Verknüpfungszusammenhang, ihre Rolle und ihr Wert für die Vermögen einer Person werden allein in diesem Komplex ersichtlich. Die sich gegenseitig definierenden Elemente machen hier die produktive Rolle des ‚und‘ ersichtlich: diese und diese und jene Affektionen bilden ein Affektionsgefüge. Was inhaltlich getrennt bleibt, erweist sich auf der Ebene der Affektionen als ein wohldefinierbares Gefüge. Die Vervielfältigung der Zeichen, die Entbindung der Potentiale, die Versammlung aller vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten scheint die Ordnung der thematischen Aktualisierungen zu nivellieren. Und tatsächlich organisieren sich die Zeichen gemäß den affektiven Bedeutungen der einzelnen Komplexe nicht gemäß der Logik der inhaltlichen Thematisierungen. Sie zeichnen ein Diagramm der Affektionen nach ihrem affektiven Wert, das heißt nach der Bedeutung für die Verminderung oder Stärkung der Vermögen eines Körpers.

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9. Schluss

Versuchen wir die Organisation des vorliegenden Gefüges zu beschreiben: neben einigen wenigen Affektionen, die aus dem Verhältnis zu anderen Körpern und Dingen resultieren, fällt hier der starke Selbstbezug auf: es sind der eigene Körper und dessen Zustände, auf die sich die Person bezieht. Schleifen von Selbstbekümmerung werden eingerichtet: ist mein Körper (zu) dick, alt, zu beharrt, schmutzig? Die Person ist über diese Körperbekümmerung an sich als Subjekt gebunden. Selbstbewusstsein (und dessen Krise) resultiert vor allem aus der Problematisierung des eigenen Körpers. Es ist offensichtlich charakteristisch für das von Williams entfaltete Affektionsgefüge, dass die Vermögen des Körpers dadurch beschränkt werden, dass über Selbstbezug und Eigenbekümmerung (das Ich befreien, den Körper formen) nicht enden wollende Schleifen eingerichtet werden: die Frage nach der Abtreibung, die keine Frage ist, weil sie nur eine Antwort kennt (und praktisch in einer Politik des schlechten Gewissens begründet ist, die zu kontinuierlicher Gewissenserforschung anregt); die Unmöglichkeit, mit der besten Anstrengung ‚positiven Denkens‘ den Körper am Altern zu hindern; die Mehrfachcodierung des Körpers als eines zu optimierenden Objektes (als Voraussetzung für einen positiven Selbstbezug) und als Objekt der Gewaltandrohung. Ihrem expliziten Gehalt nach sind die Thematisierungen, die sich in der Praxis zu Schleifen der Selbstbekümmerung organisieren, aporetisch. Ihrer Wirksamkeit nach perpetuieren sie die Abschließung in diese Selbstbekümmerung. (Was hier in quasi-ökonomischen Termini artikuliert ist, lässt sich auch als Verkettung von Ideologemen ausdrücken: das anzustrebende Körperideal, das Motiv des freien Willens, Selbstbeobachtung und

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Selbsthermeneutik, Erfahrung der Inkongruenz, des Versagens, schlechtes Gewissen, freier Wille, da capo) Der Körper ist von einem Affektionsgefüge durchzogen, das politische Implikationen hat, denn es ist als Auswahl, Besetzung und Ordnung körperlicher Funktionen Machtgefüge. Zugleich betrifft es Fragen der Subjektivierung und Individuierung, insofern es auch Besetzung der Eigenvorstellung und Selbstwahrnehmung ist. Das Gefüge ist konstitutives Moment dieser Bildungen. Im Zentrum der Arbeit steht nicht eine dramatisch interessante Person (Schicksal, Geschichte), nicht ein isoliertes politisches Thema (Abtreibung, Schlankheitsideal, Altersproblematik), sondern ein Komplex, der als Affektionsgefüge des Körpers beschrieben werden kann. Insofern dies ein Komplex trauriger, reduzierender, schwächender Affekte ist, zielt die Arbeit auf die Struktur und Ökonomie des Komplexes. Es ist für Sue Williams offensichtlich nicht damit getan, einzelne Motive des Gefüges abzuweisen, es geht darum, ein Affektionsgefüge zu bearbeiten, das den Körper vollständig in das Regime einer Macht der Kontrolle aller seiner Funktionen und Vermögen spannt: die Verhältnisse zum (männlichen) Partner, die Formung des eigenen Körpers, die Funktionen unterschiedlicher Lebensalter, die Politik des schlechten Gewissens bei der Reproduktionsanforderung. Mit einem gewissen Spaß an der Absurdität des zirkulären Theaters der Selbstbekümmerung, mit einem Spaß an Indezenz, schlechtem Geschmack und schließlich der Katastrophe irrlaufender Affekte artikuliert Williams ihre Arbeit. Und es scheint mir, dass sich dieser Spaß in die Aufforderung übersetzen lässt: Lasst euch nicht in die monotone Litanei der thematischen Aktualisierungen zwingen, bringt das Gefüge zum Platzen!

9.1. E NDE

UND

AUSBLICK

Die allgemeine Konjunktur des Körpers, also die Fülle von ausgesagten, beschriebenen und dargestellten Körpern in allen Bereichen wird begleitet von einer Konjunktur an Körperkunst. Ein besonderes, wissenschaftshistorisch jüngeres Interesse der Kunstwissenschaften lässt sich gebündelt im Begriff der Repräsentation fassen, der Frage nach der stellvertretenden Verdopplung, der ma-

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teriellen und mentalen Vorstellung, den Repräsentationsvermögen der unterschiedlichen Medien, ihrer Entwicklung und Interaktion und den disziplinierenden und produktiven Aspekten. Dieses kunstwissenschaftliche Interesse lässt sich nun erhellend auf neuere Körperkunst beziehen, insofern diese mit der Aufnahme und Bearbeitung von Körperrepräsentationen anderer Sphären beschäftigt ist. In dieser Hinsicht kann Körperkunst unter dem Titel der Repräsentation der Repräsentation problematisiert werden. Die vorliegende Arbeit schlägt vor, pragmatischen oder performativen Aspekten der Körperrepräsentationen, also der Frage inwiefern Körperabbildungen jenseits der bloß mimetischen Funktion produktive und auch disziplinierende Wirksamkeiten entfalten, durch die Untersuchung der Darstellungsformen nachzugehen. Wenn hierbei als der präikonische Referent der menschliche Körper (sofern es ihn in dieser Abstraktheit und Unbedingtheit denn jenseits des Wortzeichens gibt) gilt, so besteht die Frage nach der Form darin, auf welche Weise der Körper gegliedert oder zusammengesetzt ist, wie er sich zu seiner Umgebung, auch zu anderen Körpern, verhält. Die Form bestimmt einerseits, welche Merkmale und Qualitäten dem dargestellten Körper eigen sein können (Repräsentationsvermögen in Hinsicht auf den Referenten), sie ist aber auch entscheidend für die Art und Weise, wie Darstellungen untereinander in Beziehung gesetzt werden können und wie der Betrachter diese auf seine eigene Körperlichkeit bezieht. Eine der Prämissen dieser Problemstellung ist, dass es nicht nur in der Kunst (hier wissen wir es von den Stil- und Formhistorikern), sondern auch in außerkünstlerischen Bildwelten unterschiedliche Konventionen der Darstellung, kurz historisch wechselnde Darstellungsformen gibt. Den Menschen stehen nun nicht immer alle Möglichkeiten, alle Formen offen, sondern sie sind gemäß der historischen Bedingungen in einen Raum der Knappheit325 gestellt, sie sind bestimmten Formen verpflichtet (als Rezipient und Produzent) auch insofern diese die apriorischen (im bezeichneten, d.h. historischen Sinn) Formen ihrer Anschauungen bestimmen. Die Analyse solcher Formen versucht nun zunächst, ein Panorama zu erstellen. Dabei sind Suspensionen hilfreich, die durchaus gegen

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Vgl. Veyne, Paul, Der Eisberg der Geschichte, Berlin 1981, S. 27-29.

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bestimmte Gewohnheiten der Kunstkritik und -wissenschaft gehen: es muss etwa eine gewisse Indifferenz gegenüber thematischen Aktualisierungen geben, ähnlich verhält es sich mit der Ausdrucksabsicht des Künstlers bzw. ausdrucksästhetisch orientierten Deutungen. Der Vergleich der Formen funktioniert über die Abschattung, die die geringsten Unterschiede herausstellt und schließlich zu den wichtigen Differenzen führt, die in einer Lagebestimmung artikuliert werden. Aus Gründen der Deutlichkeit etabliert die vorliegende Analyse zwei entgegengesetzte Formen als Extrempunkte einer Spanne. Ausgangspunkte sind einige Arbeiten Lamsweerdes, bei denen die Rede von der Repräsentation der Repräsentation besonders naheliegt. Lamsweerde bezieht sich zugleich mimetisch-anschmiegend und kritisch-analytisch auf diejenige Darstellungsform des Körpers, die wohl als die die Bildmedien heute beherrschende Form bezeichnet werden kann. Vier Formmerkmale lassen sich m.E. aus Lamsweerdes Arbeiten ableiten: 1. Das erste Merkmal ist mit dem Begriff des fotografischen Charakters zu bezeichnen. Diesen kann Lamsweerde gerade durch Bezug auf eine neuere, auf digitaler Basis gründende, aber stets mit der Fotokultur verbundenen Bildbearbeitungs- und -erzeugungstechnik herausstellen: Zunächst zeichnet er sich durch formale Besonderheiten aus: die Augenblicksfeststellung, ihre Konservierung, die Tendenz zur Gestaltbildung. Eng damit verbunden ist ein Wahrheits- oder Wirklichkeitseffekt: Darstellungen fotografischen Charakters behaupten oder beanspruchen die Konservierung der Essenz des Körpers als eines selbstidentischen Ganzen. 2. Dieses selbstidentische Ganze ist zusammengesetzt aus Elementen intrinsischer Bestimmung. Zugleich erhebt die Darstellungsform auch den Anspruch auf eine Art von Allgemeinheit, nach der alle Körper sich in ihrer Gliederung gleichen (Identität und Allgemeinheit), so dass sie derart miteinander auch verglichen werden können, dass ihre Qualitäten sich analog austauschen können, ja dass sie im Extremfall auch derart zu konstruieren, zu verändern oder zu ersetzen sind, wie es das Bild eines Organismus, zusammengesetzt aus Bausteinen mechanistischer Funktion suggeriert. Merkwürdigerweise herrscht dieser Anspruch auf Allgemeinheit und Kompatibilität gemeinsam mit

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seinem bildlichen Instrument des mechanistischen Organismus als Propagandainstrument gerade auch dort, wo er theoretisch längst überwunden scheint (etwa in der Medizin). 3. Diese Darstellungsform beinhaltet auch den Anspruch auf ein besonderes Repräsentationsvermögen, das im Konzept des Körpers als einer Oberfläche, die ihre Qualitäten erfüllend anschaulich ausdrückt, besteht. Ich war bemüht zu zeigen, dass die spezifisch bürgerliche Variante der (historisch ohne Zweifel älteren) Ausdrucksfunktion des Körpers in der Orchestrierung von Binnendifferenzen auf einer gemeinsamen Basis (der egalitäre Anspruch) besteht. Man könnte sagen, dass dieser Körper damit vor allem auch ein Zeichenkörper ist. 4. Zuletzt ist der Darstellungsform eine Art der ,Ausstellung‘ des Körpers eigen, die ihn von seiner Umgebung abhebt, ihn dekontextualisiert. Ein solcher Körper wird einerseits seiner Objektivierung zugeführt, erscheint der Betrachtung ausgesetzt, andererseits behauptet er seine Selbstgenügsamkeit und Souveränität. Die bezeichnete Darstellungsform möchte ich mit dem Begriff der ‚Eigenschaftsfigur‘ bezeichnen. Die Eigenschaftsfigur beansprucht, die wesentlichen, stabilen und vergleichbaren Merkmale einer Person anschaulich in der Fügung der Figur zu repräsentieren. Wenn sich Lamsweerde gewissermaßen einer minimalen, raffiniert instrumentierten Differenz bedient hat, um diese Bildform herauszustellen, so schreitet die vorliegende Arbeit der Analyse der Form auf einem ganz anderen Weg fort. Hier wird zum Mittel größtmöglichen Abstands gegriffen, indem ein historisch entferntes, sehr abstraktes Konzept des Körpers zum Ausgangspunkt der Analyse einer anderen Gliederung oder Formung des Körpers dient. Spinoza – der in diesem Sinne als Katalysator in Dienst genommen wird – qualifiziert die Körper nach ihrem Affektionsvermögen und (zwei Seiten derselben Medaille) nach den Verbindungen, die sie eingegangen sind. Weder die äußere Form, noch die Organe (begriffen als abzugrenzende Bauteile intrinsischer Funktion) geben nach dieser Perspektive Aufschluß über die Qualitäten eines Körpers. Entsprechend sind auch Ähnlichkeitsverhältnisse ohne weitere Bedeutung. Der Blick auf den Vorläufer der Verhaltensforschung, auf Jakob von Uexküll konkretisiert eine mögliche spinozistische Perspektive auf Körper. Insbesondere der Umweltbegriff ist geeignet, Ansatzpunkte für eine Formanalyse von Körperkunstarbeiten zu gewinnen, die den Körper weniger als Gestalt präsentieren, als ihn diagrammatisch ausei-

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nanderzulegen. In dieser Auseinanderlegung erscheinen die Qualitäten eines Körpers in der Verbindung seiner Elemente mit außerkörperlichen Entitäten und den gegenseitigen Affektionsvermögen. Die Darlegungsstrategie in Bezug auf die Merkmale der 2. Darstellungsform bestand nun in der Skizzierung einer doppelten Fluchtbewegung. Es wurde vorausgesetzt, dass es bestimmte Gründe für den Körper gebe, seiner Regulierung innerhalb der ersten Form, die ihn vor allem in Bezug auf die anderen menschlichen Körper qualifiziert, zu entgehen und dass auf diesem Weg die Merkmale einer anderen Darstellungsform sukzessive zu erschließen seien. Startpunkt der Flucht sind Arbeiten Charles Rays. Ray beginnt mit der grotesken Konfrontation seines eigenen, profanen Körpers mit einem Ideal perfekter Körperlichkeit, welche wie eine dreidimensional gewordene Bildung Lamsweerdes wirkt. Und er schreitet mit dem Versuch einer Kreuzung mit sich selbst weiter. In einem ähnlichen Versuch scheint Paul McCarthy hängen geblieben zu sein. Er ist bemüht, seinen Körper nicht mit einem anderen menschlichen Körper auszutauschen, bleibt aber notorisch befangen in der metaphorisierenden Maschinerie des künstlerischen Produktionsprozesses (nach erhabener Ästhetik). Erst Meyer Vaismann zeigt als die möglichen ,Früchte widernatürlicher Anteilnahmen‘ neue, ungewohnte Bildungen, die als Kreuzungen im gegenseitigen Raum der Äußerlichkeit mehrer Körper bezeichnet werden mögen. In einem zweiten Anlauf ging es nun darum, dieser Äußerlichkeit und den Gesetzen ihrer Fügung nachzugehen, indem Arbeiten untersucht wurden, die Umwelten im Sinne Uexkülls exponieren, Umwelten also, die aus genau denjenigen Elementen zusammengesetzt sind, mit denen der Körper ein Austauschverhältnis pflegt. Auf die Exposition ,natürlicher Umwelten‘ – organisiert etwa nach morpho-topologischer Maßgabe des menschlichen Körpers – folgen als weitere Beispiele Bildungen, die Staffelungen und Wucherungen aufweisen und schließlich die räumliche und zeitliche Ordnung in der Gleichzeitigkeit und -wertigkeit realisierter und virtueller Affektionen sprengen. Im Kontrast zu den Merkmalen der 1. Bildform, der Eigenschaftsfigur, lässt sich die zweite Form folgendermaßen skizzieren: 1. Die Körper erscheinen fragmentiert, zerissen, Elemente wuchern oder werden verdoppelt. An Stelle der Präsentation einer selbstidentischen Entität steht die Darlegung eines Diagrammes. Momente der Vergangenheit, der Gegenwart, wirkliche und mögliche Gegebenhei-

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ten werden versammelt. Der Propaganda des Selbstidentischen wird die Entfaltung der Potentiale konfrontiert. 2. Der Körper wird nicht durch intrinsisch begründete Charakteristika seiner Teile bestimmt, sondern durch deren Beziehungen mit Elementen menschlicher, tierischer oder sonstiger Provenienz. Er wirkt und erleidet Wirkungen. Statt der ausschließenden Unterscheidung zwischen Körper und Umgebung wird gerade die Verbindung privilegiert dargestellt und so stehen an Stelle der prallen Anschaulichkeit stabiler Gebilde komplexe Gefüge aus Körperelementen und Teilen der Umgebung als regelrechte Körperumwelten. 3. Dabei werden auch die Unterschiede vermeintlich ähnlicher Körper herausgestellt. Den anschaulich zugänglichen Formen der Körperelemente kommunizieren nicht automatisch ihre Vermögen, diese werden allein in ihren Verbindungen und Affektionen ersichtlich. 4. Da die Körpervermögen nicht in einer abhebbaren, selbstidentischen und allgemein gegliederten Figur ersichtlich werden, lassen sie sich auch nicht wie flottierende Münzen von ihrer Umgebung lösen. Die Charakteristika dieser zweiten Bildform möchte ich im Gegensatz zu dem der ‚Eigenschaftsfigur‘ im Begriff des ‚Affektionsgefüges‘ fassen. Im Affektionsgefüge artikulieren sich körperliche Vermögen, die aus den Verbindungen und gegenseitigen Einwirkungsverhältnissen des Körpers mit Elementen anderer Körper oder Dinge resultieren. Darstellungsformen des Körpers sind Bildinstrumente mit denen und anhand derer die Menschen ihre eigenen körperlichen Vermögen reflektieren und ausbilden. Die Studie, die bemüht war, die Merkmale zweier solcher Formen kontrastierend herauszuarbeiten, endet nun mit der Betrachtung einer künstlerischen Arbeit, welche die Merkmale und Effekte der beiden Darstellungsformen in kritisch reflexiver Absicht gegeneinanderstellt. Sue Williams zeigt, welche Rolle die 1. Darstellungsform, die Eigenschaftsfigur, die hier in der zentralen Figur zitiert wird, bei der Propaganda von Körperidealen spielt, sie zeigt, wie die eigene Körperlichkeit heutzutage in Hinsicht auf Ideale überprüft wird, indem etwa einzelne Körperteile ihrer Form nach verglichen und kritisiert werden und Anlass zu Sorge und Selbstbekümmerung geben. In den um die zentrale Gestalt gruppierten Bildchen und Textspuren entfaltet Williams die Mechanismen, die sich aus der Konfrontation von Vorbild und eigener Körperlichkeit entwickeln: das Vorbild eröffnet

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den Vergleichsraum, es schärft die Eigenwahrnehmung an, es stellt die Fehler und Abweichungen heraus. Der Körper wird im Rahmen des Bezuges auf eine bestimmte Körperlichkeit (Jugendlichkeit, Attraktivität, Reproduktionsfähigkeit, bzw. -forderung) auch auf ein Konzept der Verantwortung (‚go for it!‘ – ‚man muss nur wollen!‘) verpflichtet. Er wird zudem auf ein streng definiertes, privilegiertes Körperverhältnis eingeschworen (Komplement im Geschlechterverhältnis, was die Forderung der Gegenseitigkeit impliziert, die jedoch hier in die Erfahrung von Missbrauch und Abhängigkeit mündet). Er wird – und dies ist die Konsequenz aus den unterschiedlichen Forderungen, Verpflichtungen und Formen der Selbstbekümmerung – im Ergebnis zu einem in Abhängigkeit, Leiden, Unvermögen und schlechtem Gewissen arretierten Körper geformt. Während nun die Bildform der Eigenschaftsfigur behauptet, die Vermögen eines Körpers bestünden aus den sichtbaren Qualitäten seiner Teile, und so könne ein jeder Körper, da er doch dieselbe Natur habe und auf dieselbe Weise gegliedert sei, auch nach diesem Vorbild dargestellt werden, zeigt Williams mit der Entfaltung der Affektionsverhältnisse, dass ein solches in dieser Darstellungsform artikuliertes Vorbild eine ganz andere Rolle für die Körperausbildung spielen kann, als seine Versprechungen suggerieren. Die Gliederung der Eigenschaftsfigur und diejenige des Affektionsgefüges haben etwas miteinander zu tun, aber sie spielen auf einer anderen Ebene. Die Qualität der Arbeit(en) von Sue Williams besteht nun vielleicht genau darin, diese Beziehungen dargelegt zu haben. Wenn man also sagen kann, dass es verschiedene Darstellungsformen des Körpers gibt, die unterschiedliche Repräsentationsvermögen und performative Kräfte beinhalten, so besteht auch die Möglichkeit eines innerbildlichen Verhältnisses dieser Formen und Williams konnte zeigen, wie die Entfaltung eines Affektionsgefüges eine kritischanalytische Kraft in Hinsicht auf die Wirkweisen der Eigenschaftsfigur gewinnen kann. Aus Gründen der Analyse wurde gleich zu Beginn vorgeschlagen, die Frage der thematischen Aktualisierungen für eine gewisse Weile zu suspendieren. Ich glaube es ist richtig zu sagen, dass diese die Darstellungsformen nicht vollständig determinieren. Zugleich folgte die Darlegung der zweiten Darstellungsform einer Doppelstrategie: die formalen Merkmale wurden sukzessive an künstlerischen Arbeiten entwi-

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ckelt, deren Inhalte nun auch zur Rede standen. So ist deutlich geworden, dass die Darstellungsformen thematischen Aktualisierungen vorhergehen, dabei jedoch stets ein eigenes – und das heißt auch: ein begrenztes, ein spezifisches – Repräsentationsvermögen haben. Es sind also nicht alle Inhalte in einer Form möglich und zugleich verfügt die Form selbst über bestimmte Eigenschaften was den Austausch und die Qualifikation der in ihr artikulierten Inhalte angeht. Hier soll nun angesichts der Tatsache, dass wir heutzutage mit verschiedenen Darstellungsformen des Körpers konfrontiert sind, also unsere Körper auch nach deren Maßgaben begreifen, bilden und formen, noch einmal jene doppelte Perspektive aufgegriffen werden. So mag mit der Frage, welche Grenzen der Repräsentation Darstellungsformen aufweisen, mit der Frage welche Entscheidungen wir implizit treffen, wenn wir mit der Wahl einer Darstellungsform die Art und Weise der Definition unserer körperlichen Merkmale, ihrer Spannweite, ihrer Qualifikation in Hinsicht auf andere Körper bestimmen, auch deren politische Aspekte aufscheinen. Ich möchte den Horizont dieser Momente hier eröffnen, ohne weitergehende Thesen zu entwickeln. Wenn wir mit der ersten Darstellungsform beginnen und ihr Repräsentationsvermögen, ihr Vermögen Inhalte zu fassen skizzieren, so lässt sich sagen, dass die Körper auf eine definierte Spannweite an Vermögen im Rahmen eines allgemeinen Rasters begrenzt werden. Eine Vielzahl von außerordentlichen Merkmalen, die diese Spannweite und diesen Rahmen überschreiten, ist nicht zu repräsentieren. Um also innerhalb der Darstellungsform auftauchen zu können, muss ein Körper reguliert werden und seine Qualitäten im gegebenen Raster eintragen. Was nun die Darstellungsform angeht, so verspricht sie für die derart zugerichteten Körper: alle diese Vermögen können auf der Oberfläche erfüllend anschaulich repräsentiert werden. Sie verspricht zudem: alle derart geformten Körper können einander verglichen werden. Sie sind für ihre Qualifikation und den Austausch mit den anderen Körpern zubereitet. Durch diese Eigenschaften ist die Form auch in besonderer Weise geeignet, Standards und Ideale zu artikulieren, die in definierbaren Bezug zu allen in ihr repräsentierbaren Körpern stehen. Verbunden mit dem Anspruch erfüllender Anschaulichkeit und der Vergleichbarkeit ist zugleich der Anspruch universaler Repräsentationskraft. Die Darstellungsform suggeriert auch immer: ich kann alle

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Körper erscheinen lassen (Diese Suggestion verhüllt eine Reihe drängender Forderungen: forme Deinen Körper gemäß meinen Vorgaben, damit Du überhaupt erscheinen kannst, missachte Qualitäten und Vermögen, die ich nicht erscheinen lassen kann, stell Dich in den Vergleichsraum, orientiere Dich an den Vorbildern...). Interessant ist hier die Verschränkung von Begrenzung und Universalität: gerade weil die Form die Merkmale deutlich begrenzt und in einem Vergleichskontext artikuliert, kann sie auf der anderen Seite behaupten, alle Körper erfassen und repräsentieren zu können. Wenn wir nun das Repräsentationsvermögen der zweiten Darstellungsform definieren wollen und uns an die Definition halten, dass sie Körper nach ihren Verbindungen und ihrer Affektionskraft bestimmt, so lässt sich zunächst sagen, dass hier keine absolute Grenze der Repräsentation auszumachen ist. Jede denkbare Konstellation aus Körpern ist im Rahmen eines Diagramms von Verbindungen und Vermögen darlegbar. Die einzelnen Artikulationen dieser Darstellungsform aber sind im gegenseitigen Kontakt kaum zu kalkulieren. Ob sich zwei solcher Diagramme zu einem größeren Gebilde zusammenschließen können, ob sie sich gegeneinander abschließen, sich integrieren oder auflösen, lässt sich nicht sagen. Das Maß an bereits in die Form investierte Ähnlichkeit und Allgemeinheit ist so gering, dass all diese Möglichkeiten offen bleiben. Ähnlich verhält es sich mit dem Körper des Betrachters, der Kontaktpunkte des Austauschs, der Verbindung finden mag oder auch nicht (Das Nicht kann bis zur Blindheit gehen: gar nicht sehen können, dass hier und welche Körpervermögen ausgebreitet sind). Es konnten zwar in der Analyse verschiedener Arbeiten gewisse strukturelle Gemeinsamkeiten aufgewiesen werden, wenn man etwa an die Tendenz der Wucherungen und Staffelungen denkt, wenn die Konzentration auf die Verknüpfungspunkte mehrerer Körper gelegt wird und der einfache Raum und die lineare Zeitentwicklung zugunsten der Vervielfältigung und Versammlung der Potentiale aufgehoben werden. Aber diese Bewegungen haben eher die Tendenz, zu je eigenen Bildungen zu führen. So müssen wir also hinsichtlich der Begrenzung auf der einen Seite und dem universalen Anspruch auf der anderen Seite hier ein ganz anderes Verhältnis, eine ganz andere Verteilung konstatieren als bei der Form der Eigenschaftsfigur. Die Darlegung körperlicher Qualitäten als

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Affektionsgefüge kennt keine Grenzen der Repräsentation, sie entwickelt aber auch keine Form der Allgemeinheit, die die Spannweite der Vermögen begrenzt und in ein allgemeines Raster einzutragen vermag. Es soll nun exemplarisch, andeutend der Horizont skizziert werden, wie auch jenseits des Bereichs zeitgenössischer Kunst die Darstellungsformen des Körpers, wie sie in dieser Studie definiert wurden, etwa im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen oder ökonomischen Tendenzen erörtert werden könnten. Wenn es richtig ist, dass wir in einer Gesellschaftsform leben, in der Machtausübung, Wissensökonomie und Produktionsprozesse immer weniger in Institutionen organisiert sind, die relativ geschlossene Milieus einrichten (Schule, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, staatliche Verwaltung), in denen die Körper einer disziplinierenden Zeit- und Raumökonomie unterliegen – Wenn es zudem stimmt, dass wir stattdessen immer mehr angehalten werden, uns selbst zu kontrollieren und zu regieren (Kontrollgesellschaft, Gouvernementalität), dann ist zu vermuten, dass eine solche Gesellschaftsform auch neue Instrumente, neue Techniken und Ankerungspunkte entwickelt, die ihren Initiativen zuarbeiten. Foucault hat gezeigt, wie bereits in der Disziplinargesellschaft bestimmte Formen der Selbsthermeneutik und -bekümmerung, abgeleitet unter anderem aus der christlichen Pastoral, wirksam werden. In der Regel steht hier eine professionelle Instanz demjenigen bei, der ‚sich um die Wahrheit seiner selbst kümmert‘ (Pfarrer, Analytiker, Arzt, Lehrer). Nun erfahren wir jedoch eine starke Entwertung der disziplinierenden Milieus. Nehmen wir als ein Beipiel die Schule. Die Schule beklagt, dass ihr Einfluss auf die Kinder schwindet, sie stellt sich selbst, mit ihren eigenen Mitteln, katastrophale Zeugnisse aus: sie kann die Schüler nicht mehr disziplinieren (sie stören, ignorieren, schwänzen), sie kann sie nicht erziehen (sie verhalten sich unhöflich, ungehobelt, gewalttätig), sie kann ihnen daher auch nichts mehr beibringen (Pisa). Und die Gründe, die die Schule dafür findet, sind einfach zu benennen: die klassische Familie besteht nicht mehr (als ein ihrerseits disziplinierendes Milieu), die Eltern taugen nicht mehr als Agenten (, die ehemals die Kinder zu den Hausaufgaben anhielten, ihnen einen Tagesrhythmus gaben, ihnen als Produkte erfolgreicher Disziplinierung ein Vorbild waren). Stattdessen überlassen sie die Kinder dem Fernsehen, den

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Computerspielen und dem Kommerz. All das, was dort passiert, ist aus der Sicht der Schule defizient, nichtig, führt direkt zum Verfall. Die Schule kann nicht anders, als die neuen Verhältnisse als Mangel, als Fehlen, als Ablenkung wahrzunehmen: die Schüler können sich nicht mehr konzentrieren, sie haben keinen Respekt mehr, sie üben sich nicht in den klassischen Disziplinen (lesen, schreiben, rechnen), sie üben sich nicht einmal mehr in der Übung (Gedächtnisübung: Gedichte, Vokabeln, Geschichte), sie erscheinen faul und antriebslos. Das, was die Kinder interessiert, die Popstars, die tollen Körper, die Klamotten erscheinen hier als nichtige Oberfläche, als falsche Versprechung, als Täuschung. Dass die Kinder aber gewaltige Anstrengungen unternehmen, dass sie sich in der Präsentation ihrer selbst üben, dass sie bis zur Erschöpfung die Rhythmen und Geschwindigkeiten der Computerspiele annehmen, dass sie unermüdliche und bald frühreife Poser sind, denen der Übergang in die mediale Doppelung ihrer selbst, etwa im Fernsehen, mit einer Leichtigkeit gelingt, die ihren Eltern abgeht, all dies kann die Schule weder wahrnehmen noch goutieren. Und so wundert es nicht, dass auch die Instrumente dieser Übungen, die allgegenwärtigen Körperbilder, bewegte wie unbewegte, als bloßer Schein, als anspruchslose Oberfläche wahrgenommen werden. Dass diese Bilder aber die Kinder nicht allein von der alten Schule ablenken, sondern sie selbst zu Formung und Übung anhalten, dass sie also die klassischen ‚Lehrmittel‘ gewissermaßen ersetzen und die Kinder zu einer durchaus strapaziösen Ausbildung ihrer selbst anregen, wird dabei leicht übersehen. Genau in diesem Kontext aber könnten wechselnde Darstellungsformen des menschlichen Körpers erörtert werden. Als gewissermaßen idealtypische Form erscheint mir in diesem Zusammenhang das, was ich als die Bildform der Eigenschaftsfigur bezeichnet und beschrieben habe. Diese Bildform ist geeignet, die als relevant erachteten Qualitäten und Merkmale einer Person auf der Oberfläche des Körpers zu versammeln, die Körper in einen Raum des Vergleichs zu stellen und so auch den eigenen Körper dem Vergleich, der Verbesserung und Ausstellung zu empfehlen. Eine andere mögliche Problematisierung des Körpers und seiner Darstellungsformen mag in der Veränderung wirtschaftlicher Verhältnisse liegen.

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Im Kapitalismus wird ein jedes Ding zur Ware, reduziert auf seinen Tauschwert, sagen die Marxisten. Ein gewisser Mehrwert ist im Fetischcharakter der Waren enthalten, im Versprechen, dass der Erwerb einer Ware noch jenseits von Gebrauchs- und Tauschwert ein Glücksversprechen enthält, das unterschiedliche Formen haben mag (gesellschaftliches Prestige, Gegenwelt der Freizeit) und allgemein mit dem Besitz (Besitzerstolz) verbunden ist. Nun bemerkt man in den letzten Jahren nicht allein in der Werbung, sondern auch in der Welt der Produkte (ihre Verfasstheit) eine Verschiebung vom Stolz am Besitz einer kostbaren Ware zum möglichen körperlichen Vollzug, der damit verbunden ist. Weniger das pralle Objekt wird vom Besitzer ausgestellt, als der aktive körperliche Vollzug, den es ermöglicht. Das geht so weit, dass es bei einigen Produkten schwer ist, noch zu unterscheiden, ob unser Körper sie konsumierend verbraucht, oder ob sie direkt in den Körper investiert werden, um diesem zu einem besseren Konsum seiner selbst zu verhelfen. Ein nach den Vorgaben der Werbung attraktiver Körper bekommt einen Wert, macht seinen Inhaber reich, wie vormals vielleicht ein Immobilienbesitz Reichtum bedeutete. Ich vermute nun, dass im Rahmen dieser Verschiebungen analog zum Tauschwert der Waren auch die Körper in ein Verhältnis der Vergleichbarkeit, der Kompatibilität gesetzt werden. Einen Vorgeschmack darauf mag die Art des Rankings von Filmschauspielern und Models nach der Höhe ihrer Gagen oder der Versicherungssumme ihrer Körper(teile) sein. Ich denke, dass diese Art der Evaluierung der Körper fortschreiten wird. In diesem Zusammenhang verändern sich auch die Grenzlinien, die man zwischen den verschiedenen um den Körper bekümmerten Institutionen ziehen konnte, so dass auch hier wieder Fragen der Gesellschaftsform, der Organisation von Macht und Wissen zur Rede stehen. Wer in ein Fitnessstudio geht, für den wird es schwer zu entscheiden, ob der Trainer, der einen duzt, ein Freund ist, mit dem man gemeinsam Spaß hat und ‚etwas Gutes für seinen Körper tut‘, oder ob er eher ein Arzt ist, der diagnostiziert und eine Therapie vorschlägt, oder ein Händler, der vor allem viel verkaufen möchte, ob er einen für den Arbeitsalltag oder -markt fit macht oder eher für den der Geschlechter. All dies ist nicht klar, klar ist aber, dass hier die Körper nach allgemeinen, messbaren Kriterien ‚definiert‘ werden.

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Studien zur visuellen Kultur Angelika Bartl, Josch Hoenes, Patricia Mühr, Kea Wienand (Hg.) Sehen – Macht – Wissen ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung April 2011, ca. 206 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1467-1

Kerstin Brandes Fotografie und »Identität« Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre Oktober 2010, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1586-9

Antke Engel Bilder von Sexualität und Ökonomie Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus 2009, 258 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-915-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Studien zur visuellen Kultur Claudia Mareis Design als Wissenskultur Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960 Januar 2011, ca. 380 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1588-3

Sigrid Schade, Silke Wenk Studien zur visuellen Kultur Eine Einführung März 2011, ca. 228 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-89942-990-9

Anja Zimmermann Ästhetik der Objektivität Genese und Funktion eines wissenschaftlichen und künstlerischen Stils im 19. Jahrhundert 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-860-5

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Studien zur visuellen Kultur Sigrid Adorf Operation Video Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre 2008, 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-797-4

Silke Büttner Die Körper verweben Sinnproduktion in der französischen Bildhauerei des 12. Jahrhunderts Dezember 2010, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1544-9

Marion Hövelmeyer Pandoras Büchse Konfigurationen von Körper und Kreativität. Dekonstruktionsanalysen zur Art-Brut-Künstlerin Ursula Schultze-Bluhm 2007, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-633-5

Jennifer John, Sigrid Schade (Hg.) Grenzgänge zwischen den Künsten Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-967-1

Renate Lorenz Aufwändige Durchquerungen Subjektivität als sexuelle Arbeit 2009, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1196-0

Tanja Maier Gender und Fernsehen Perspektiven einer kritischen Medienwissenschaft 2007, 280 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-689-2

Barbara Paul, Johanna Schaffer (Hg.) Mehr(wert) queer – Queer Added (Value) Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken – Visual Culture, Art, and Gender Politics 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1057-4

Johanna Schaffer Ambivalenzen der Sichtbarkeit Über die visuellen Strukturen der Anerkennung 2008, 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-993-0

Corinna Tomberger Das Gegendenkmal Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur 2007, 362 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-774-5

Yvonne Volkart Fluide Subjekte Anpassung und Widerspenstigkeit in der Medienkunst 2006, 302 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-585-7

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