Verwerfungen moderner Arbeit: Zum Formwandel des Produktiven [1. Aufl.] 9783839408742

Dass Arbeit produktiv ist, wenn sie monetäre Mehrwerte schafft, wird in einer Gesellschaft fragwürdig, in der nicht mehr

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German Pages 192 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung.
Zur Produktivität von Hausangestellten
Aspekte produktiver Arbeit. Zur Geschichte der technischen Rationalität
Produktives Altern. Auf dem Weg zum Alterskraftunternehmer?
Arbeit, gesellschaftlicher Stoffwechsel und nachhaltige Entwicklung
Arbeiten an Universitäten. Zu den Bedingungen der Produktivität von Wissen
Stigma und Produktivität. Zur Darstellung von körperlicher Behinderung im Reality-TV
Die Flexibilität der Arbeit und das garantierte Grundeinkommen
Produktivität durch Entwertung. Innovation als produktive Destruktion
Marx, Lenin und Mao. Korrekturen der Arbeitswertlehre
Delayed Productivity. Erkundungen zum Zeitaspekt produktiver Arbeit
Autorinnen und Autoren
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Verwerfungen moderner Arbeit: Zum Formwandel des Produktiven [1. Aufl.]
 9783839408742

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Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit

2008-02-22 10-14-42 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630754276|(S.

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2008-02-22 10-14-42 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630754276|(S.

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Manfred Füllsack (Hg.)

Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven

2008-02-22 10-14-43 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630754276|(S.

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) T00_03 titel - 874.p 171630754380

Gedruckt mit Förderung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Manfred Füllsack Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-874-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-02-22 10-14-43 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630754276|(S.

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I N H AL T

Einleitung. Zur Produktivität von Hausangestellten MANFRED FÜLLSACK

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Aspekte produktiver Arbeit. Zur Geschichte der technischen Rationalität WOLFGANG PIRCHER

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Produktives Altern. Auf dem Weg zum Alterskraftunternehmer? STEPHAN LESSENICH

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Arbeit, gesellschaftlicher Stoffwechsel und nachhaltige Entwicklung 65 MARINA FISCHER-KOWALSKI UND ANKE SCHAFFARTZIK

Arbeiten an Universitäten. Zu den Bedingungen der Produktivität von Wissen PAUL KELLERMANN

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Stigma und Produktivität. Zur Darstellung von körperlicher Behinderung im Reality-TV FRITZ BETZ

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Die Flexibilität der Arbeit und das garantierte Grundeinkommen GEORG VOBRUBA

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Produktivität durch Entwertung. Innovation als produktive Destruktion BIRGER P. PRIDDAT

133

Marx, Lenin und Mao. Korrekturen der Arbeitswertlehre DIRK BAECKER

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Delayed Productivity. Erkundungen zum Zeitaspekt produktiver Arbeit MANFRED FÜLLSACK

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Autorinnen und Autoren

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Einleitung. Zur Produk tivi tä t von Ha usanges tellte n MANFRED FÜLLSACK

Unter Statistikern, die sich um Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen bemühen, kursiert ein Bonmot, das die Problematik des vorliegenden Buches anspielt: heirate deine/n Hausangestellte/n – heißt es – und du schadest deiner Volkswirtschaft. Hintergrund dieser seltsam anmutenden Regel ist der Umstand, dass in den Erhebungen zur Leistung von Volkswirtschaften die Arbeit von Hausangestellten, sofern sie monetär entlohnt wird, als »produktive Arbeit« und damit als zum Beispiel für das Bruttoinlandsprodukt relevanter Faktor betrachtet wird. Sobald dieselbe Arbeit aber von einem Ehepartner verrichtet wird, gilt sie als volkswirtschaftlich irrelevant und damit in ökonomischem Sinn als »unproduktiv«.1 Schon dieser Umstand gibt Anlass, die Unterscheidung von produktiven und unproduktiven menschlichen Aktivitäten mit Vorsicht zu handhaben. Der rasante Wandel aber, dem die Arbeit und ihre Bedingungen im Zeitalter der Globalisierung unterliegen, sowie die damit verbundenen Verwerfungen zwischen den unterschiedlichen Arbeitsformen, scheinen das Produktivitätskriterium gegenwärtig mit Unsicherheiten zu belasten, die es als orientierende Erwartung wirtschaftlicher Aktivitäten unbrauchbar werden lassen. In einer Gesellschaft, in der selbst Arbeit, die hohe monetäre Gewinne erbringt, nicht mehr ohne weiteres als produktiv bezeichnet werden kann, weil gleichzeitig – und zwar nicht 1

Vgl. u.a. Bos 2006: 77, und zu den Bemühungen, das »Satellitensystem Haushaltsproduktion« doch statistisch zu erfassen u.a.: Schäfer/Schwarz 1994, Schäfer 2004. 7

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mehr nur partikular, sondern mit sozialer Tragweite – gesehen werden kann, dass dieselbe Arbeit die Umwelt verschmutzt, dass sie Arbeitsplätze vernichtet, dass sie Gewinne außer Landes lukriert und dass sie in dem Ausmaß, in dem sie Knappheiten reduziert, auch beständig neue erzeugt, wird Produktivität zu einer erklärungsbedürftigen Kategorie. Zu deutlich lässt sich nun sehen, dass sich die Umstände, von denen es abhängt, ob etwas als produktiv oder unproduktiv wahrgenommen wird, im Zuge der Arbeit selbst fortlaufend verändern – und zwar bezeichnenderweise gerade als Folge der Voraussetzungen, die geschaffen werden, um produktiv arbeiten zu können. Um nämlich mehr Output zu generieren, als Input zu verbrauchen – so die gängige Definition von Produktivität –, um also zum Beispiel mit Feldarbeit in der Landwirtschaft, mit maschineller Arbeit in der Industrie oder mit geistiger Arbeit im Büro ein Mehr an Werten zu erarbeiten als zur Ermöglichung dieser Arbeit investiert werden muss, bedarf die Arbeit, so grotesk dies klingen mag, der Bearbeitung. Feldarbeit will saisonal stimmig eingeteilt, die Maschine in der Fabrik rational positioniert und der Flipchart übersichtlich erstellt werden, um positive Output/Input-Ratien zu ermöglichen. In dem Ausmaß aber, in dem die »Arbeit an der Arbeit« (Priddat 2000) Früchte trägt, in dem sie also zur Produktivität der damit ermöglichten Arbeit beiträgt, gewinnt sie selbst Relevanz, und bringt so unweigerlich ihre je eigenen Produktivitätsvorstellungen ins Spiel. Und diese unterscheiden sich im Detail von denen der Arbeit, deren Produktivität damit befördert werden soll. Genau in dem Ausmaß, in dem die Produktivität durch Bearbeitung der Arbeit gesteigert werden kann, differenzieren sich damit die Produktivitätsvorstellungen der Arbeitenden. Festzustellen, was unter diesen Umständen als produktiv gilt, wird zu einem aufwendigen Unterfangen, das Arbeit macht und damit die eigene Problematik unablässig verschärft. Ein kurzer Rückblick in die Geschichte des Produktivitätskriteriums mag diesen Umstand einleitend beleuchten.

W o z u » p r o d u k t i v e Ar b e i t « ? Es scheint zunächst keineswegs ausgemacht, warum Arbeit durch das Attribut »produktiv« noch zusätzlich bestimmt werden muss. Kaum jemand würde wohl Tätigkeiten, deren Verrichtung auf Dauer mehr Energie oder Aufwand erfordert als durch sie gewonnen oder erspart werden kann, Arbeit nennen wollen. Im allgemeinen Sprachgebrauch scheint Arbeit durch die Erwartung, mehr Output zu generieren als Input zu erfordern, bereits hinreichend bestimmt. Dass die moderne Gesell8

EINLEITUNG. ZUR PRODUKTIVITÄT VON HAUSANGESTELLTEN

schaft trotzdem viel Arbeit darauf wendet, ihre Arbeit auf ihre Produktivität hin zu beobachten, und sie sowohl volkswirtschaftlich, wie auch sozialpolitisch trennscharf von »unproduktiver Arbeit« zu unterscheiden versucht, ist eine Folge der historischen Entwicklung der Arbeit, oder genauer ihrer Differenzierung – einer Differenzierung, die Konflikte und Uneinigkeiten darüber entstehen ließ, welche Formen von Arbeit als relevant anzusehen sind. Auch in kleineren Arbeits- und Daseinskollektiven, wie sie für Jäger und Sammler oder frühe landwirtschaftliche Produktionsformen typisch sein mögen, sind solche Uneinigkeiten keineswegs unbekannt. Sich sozial folgenreich auf das Bild unserer Arbeit auszuwirken begannen sie allerdings erst, als zum einen mit der beginnenden Industrialisierung die wahrgenommenen Unterschiede im Output verschiedener Arbeitsformen groß genug wurden, um politische Aufmerksamkeit und in der Folge auch wissenschaftliches Interesse zu wecken, und als zum anderen mit dem Aufkommen des Nationalstaates auch ein Bezugsrahmen entstand, innerhalb dessen sich verschiedene Formen von Arbeit im Hinblick auf ihre Produktivität unterscheiden und damit vergleichen ließen. Erst unter diesen Bedingungen begann sich die Frage, welche Formen von Arbeit in der Lage sind, den Wohlstand einer Gesellschaft zu mehren und welche ihn im Gegensatz dazu nur gleich belassen oder gar vermindern, mit sozialer Tragweite zu stellen. Unter diesen Bedingungen unternahm Adam Smith seine berühmte Inquiry into the ature and Causes of the Wealth of ations, in der er 1776 die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit in die Wirtschaftstheorie einführte.2 Zuvor war der Produktivitätsfrage keine große Aufmerksamkeit zugekommen, jedenfalls keine die in ihren Folgen auf das Produktivitätskriterium selbst zurückwirken sollte. Solange Arbeit primär um die landwirtschaftliche Haus-, Hof- oder Dorfgemeinschaft organisiert und »ganzheitlich« (vgl. Brunner 1980) in den Lebenszusammenhang eingebunden war, sie also unter weitgehend von den Arbeitenden selbst überschaubaren Bedingungen verrichtet wurde, konnten die Beteiligten im Großen und Ganzen selbst wissen, was für sie produktiv war und was nicht. Sie produzierten für zeitliche und räumliche Reichweiten, innerhalb deren sie gewöhnlich keine großen Probleme hatten, den Erfolg ihrer Arbeit zu beurteilen. Sowohl die Inputs, also etwa die in erster Linie solarbasierten Energieformen, die ihrer Arbeit zugrunde lagen, wie auch die Outputs, vor allem Lebensmittel, hatten Entstehungs-, Verfalls2

Vgl. Smith 1776/1974: 429f: »There is one sort of labour which adds to the value of the subject upon which it is bestowed; there is another which has no such effect. The former, as it produces a value, may be called productive; the latter, unproductive labour.« 9

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und Regenerationszeiten, die die Lebenszeit der Arbeitenden nicht überschritten. Nutzpflanzen wuchsen im Laufe des Jahres zur Erntereife heran, Nutztiere im Schnitt in drei bis fünf Jahren und die wichtigste Energieressource dieser Produktionsweise, der Wald, benötigte in etwa 50 Jahre zur Regeneration (vgl. Sieferle 1997). So der Input, also etwa die zur Aussaat aufgewendete Arbeit und Energie, den Output, die Ernte, an Wert zu übersteigen drohte, war dies unmittelbar zu bemerken. Und wenn dies der Fall war, konnte auch relativ unmittelbar darauf reagiert werden – durch mehr wie auch durch weniger Einsatz von Arbeit.3 »Entfremdende« Zusammenhänge, wie etwa die des Marktes, des Geldes, der Industrie etc. die, weil sie andere Zeit- und RaumHorizonte und damit auch andere Output/Input-Ratien ins Kalkül bringen, die Frage nach Produktivität allmählich verkomplizieren, gehörten unter diesen Bedingungen noch nicht zum Erfahrungshorizont breiter Massen. Auch deshalb unterlag die frühe landwirtschaftliche Produktionsweise wenig bis gar keinem Wandel. Sie war »metabolisch stabil« (Fischer-Kowalski 1997), im Wesentlichen also auf Subsistenzwirtschaft (Evers 1979/81) beschränkt und kannte über lange Zeit keine folgenreiche Kapitalakkumulation. Die Produktivität der Arbeit blieb damit für große Bevölkerungsteile und über viele Generationen hinweg so ähnlich, dass sich die Frage nach Unterschieden und ihren Gründen nicht stellte. Erst als mit der beginnenden Industrialisierung die zunehmend systematisierte Arbeitsteilung, der Handel mit Rohstoffen und Produkten, sowie der vermehrte Einsatz von fossilen Energieformen und damit verbunden die Automatisierung der Arbeit dafür sorgten, dass Arbeitsprozesse zum einen deutlich steigenden Wohlstand für manche, aber nicht für alle bewirkten, und zum anderen dabei gleichzeitig auch mehr Faktoren zu involvieren begannen, als nur die Verausgabung von Grund und Boden und menschlicher Arbeitskraft, wurde Produktivität zur erklärungsbedürftigen Kategorie. Als zusätzlich die Nationenbildung mit der Notwendigkeit, große Militärapparate auszurüsten und eine schnell wachsende Bürokratie zu finanzieren, immer höhere Kosten aufwarf, wurden, um Besteuerungsmöglichkeiten zu erkunden, die ersten Versuche unternommen, nationalen Wohlstand zu schätzen und seine Ursachen zu ergründen (vgl. Studenski 1958). Die ersten bekannten Unternehmungen dazu stammen von frühen britischen Ökonomen wie 3

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Im Russland des 19. Jahrhunderts zum Beispiel soll die Landbevölkerung in Jahren, in denen die Ernte zufriedenstellend ausfiel, spontan sogenannte »Volksfeiertage« eingeführt haben und diese Feiertage dann ebenso spontan auch wieder reduziert haben, sobald aufgrund ungünstigerer Bedingungen wieder mehr zu tun war. Vgl. Mironov 1999: 306f.

EINLEITUNG. ZUR PRODUKTIVITÄT VON HAUSANGESTELLTEN

William Petty oder Gregory King aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die, wie auch etwa ihr Landsmann John Locke4, erstmals den Stellenwert der Arbeit als wesentlichen Produktionsfaktor betonten. Bei der Mehrzahl der Wirtschaftstheoretiker galt damals noch Landbesitz als entscheidender Faktor. Als produktive Klasse wurden die in der Landwirtschaft Tätigen, die cultivateurs, angesehen. Rohstoff bearbeitende Tätigkeiten galten demgegenüber als nützlich aber unproduktiv, die entsprechende Klasse als classe stérile. Noch 1758 unterschied François Quesnay demgemäß die eigentlich »produktive Klasse« der Bauern von der »gemischten Klasse« der Gutsherren und der »sterilen Klasse« der Handwerker. In seinem volkswirtschaftlichen Tableau, in dem er vorführte, wie sich diese Klassen in mehreren Runden gegenseitig die Outputs ihrer Arbeit als Input für die je nächste Bearbeitung zur Verfügung stellen, lieferte er die Grundlage, auf der Adam Smith dann die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit vollzog. Wie auch noch zahlreiche Ökonomen nach ihm, betrachtete Smith, der sich wie zu seiner Zeit üblich vorwiegend an materiellen Sachwerten orientierte, vor allem die Arbeiten in der Landwirtschaft, in der Manufaktur, im Handel und im Transport als produktiv. Die Leistungen des zivilen und militärischen Personals der Regierung hingegen, ebenso wie die von Geistlichen und Gelehrten oder auch die der Regierenden selbst sah er als »unproduktiv« an. Die Werte, die diese Arbeiten generieren, würden, wie Smith meinte, im Augenblick der Leistung wieder vergehen und damit weder die sonstigen Arbeitsprodukte noch die Gesellschaft auf Dauer bereichern. Als besonderes Beispiel für Arbeit, die keinen Wertzuwachs schafft, die sogar eher Werte vermindert, nennt Smith in diesem Zusammenhang die Arbeit von Hausangestellten, von »menial servants«.5

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Vgl. u.a.: Locke (1690/1969: II, 5, §42), der meinte »dass den weitaus größten Anteil ihres Werts die Arbeit den Dingen verleiht [...]. Der Boden, der die Rohstoffe liefert, ist dabei kaum in die Rechnung einzubeziehen« Vgl. Smith 1974: 429f: »Thus the labour of a manufacturer adds, generally, to the value of the materials which he works upon, that of his own maintenance, and of his master’s profit. The labour of a menial servant, on the contrary, adds to the value of nothing. […] A man grows rich by employing a multitude of manufacturers; he grows poor by maintaining a multitude of menial servants.« 11

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U n p r o d u k t i ve P r o d u k t i v i t ä t ? Im Kern liegt die Smith’sche Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit bis heute volkswirtschaftlichen Unternehmungen zugrunde, Arbeit im Hinblick auf ihre Produktivität zu beobachten und zu administrieren.6 Eine ihrer wohl folgenreichsten Manifestationen fand sie dabei gut 150 Jahre nach dem Erscheinen von Wealth of ation in jenen Staaten Osteuropas, die sich unter dem Einfluss der Schriften von Karl Marx an eine sozialistische Neuorganisation ihrer Arbeit gemacht hatten. In diesen Staaten wurde die Smith’sche Unterscheidung mitunter mit so viel administrativem und propagandistischem Aufwand festgezurrt, dass Arbeitsaktivitäten, die nicht in dieses Bild passten, gar nicht anders konnten, als die offizielle Auffassung von produktiver Arbeit zu sprengen. Bezeichnend, dass viele dieser Aktivitäten aus heutiger Sicht als die eigentlich produktiven Leistungen des Sozialismus betrachtet werden könnten. Gedacht sei nur etwa an viele künstlerische und auch wissenschaftliche Leistungen aus dem inoffiziellen oder nur halboffiziellen Bereich dieser Gesellschaft, oder aber auch etwa an die überaus produktive sozialistische Kleingartenwirtschaft oder die Schattenwirtschaft, die nicht selten Ausgangspunkt enormer postsowjetischer Vermögensakkumulationen war (vgl. dazu ausführlicher Füllsack 2006: 313f). Administrativ wurde in diesen Ländern zwischen so genannten »Produktivarbeiten« (oder auch »Produktionsgrundarbeiten«) und »nicht-produktiven« Arbeiten unterschieden und die ersteren gegenüber den zweiteren, gegenüber der »bloß zuliefernden Peripherie«, mitunter beträchtlich höher vergütet, – und zwar nicht so sehr monetär, was, da Konsumartikel rar waren, wenig Bedeutung hatte, als vielmehr durch eine Vielzahl von typisch sozialistischen Begünstigungen wie privilegierten Wohnungszuweisungen, Zugang zu besser ausgestatteten Krankenhäusern und Bildungseinrichtungen, zu Gewerkschaftsheimen, zu Freifahrtmöglichkeiten im öffentlichen Transport etc. Da zur »nichtprodukiven Peripherie« vielfach auch Vorarbeiter, Brigadeleiter, Unternehmensmanager und ähnliches Personal gezählt wurden, also all jene Berufsgruppen, in die gewöhnliche »Produktivarbeiter« bei entsprechender Leistung aufrücken konnten, bot der Ausschluss dieser Peripherie von den Begünstigungen nicht selten systematischen Anreiz, auf beruflichen Aufstieg zu verzichten. Die Folge davon war, vielfach beschrieben, eine Arbeitsmoral, die sorgfältig darauf bedacht war, nicht so »pro-

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Vgl. dazu u.a. auch die Fußnoten 2 und 3 im Beitrag »Delayed Productivity« in diesem Band.

EINLEITUNG. ZUR PRODUKTIVITÄT VON HAUSANGESTELLTEN

duktiv« zu arbeiten, dass dies als Grund für Beförderungen angesehen werden konnte (vgl. u.a. Shearer 1996: 177; Lüdke 2002). Dabei war Karl Marx selbst noch, in Orientierung an Hegel, zunächst von einem durchaus weitgefassten Begriff von Arbeit ausgegangen, den er unabhängig von seinen konkreten geschichtlichen Formen als »ewige Naturnotwendigkeit« zur Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens bestimmte (MEW 23: 192). Zur Veranschaulichung dieses Arbeitsbegriffs zog Marx zahlreiche Beispiele aus der »Arbeit der Natur«, des Stoffwechsels, des Tierreichs, aber auch aus der Kunst und den Wissenschaften in Betracht und bezeichnete im Hinblick darauf, jeglichen Versuch, Produktivität vorab als etwas Absolutes zu bestimmen, als Ausdruck »bürgerlicher Borniertheit« (MEW 26.1: 369). Arbeit könne, so Marx, je nach Sichtweise durchaus einmal als produktiv und einmal als unproduktiv angesehen werden, wie er in stilsicherer Prosa unter anderem am Beispiel des Verbrechers vor Augen führt, der neben Verbrechen auch das Kriminalrecht und darüber hinaus den Professor, der dieses Recht lehrt, verursacht, und damit in diesem Sinn sehr wohl auch produktiv für seine Gesellschaft arbeitet (MEW 26.1: 363f). Dieser lockeren Fassung von Produktivität steht bei Marx allerdings der Umstand entgegen, dass Arbeit in einer solch »formlosen« Form für ihn niemals vorkommt. Arbeit findet immer und unweigerlich im Rahmen spezifischer sozialer und historischer Gegebenheiten statt. Sie geschieht niemals a-historisch oder a-sozial. Sie wird immer schon von Bedingungen bestimmt, die in früheren Arbeitsunternehmungen und in denen anderer Gesellschafter geschaffen werden. Die Frage nach ihrer Produktivität stellt sich damit stets im Rahmen der je betrachteten Umstände. Auch Marx’ Vorstellung von produktiver Arbeit orientierte sich damit in ihrer konkreteren Ausformulierung vorwiegend an jener Produktionsweise, die er für seine Gegenwart als die relevante ansah, nämlich an der des Kapitalismus. In dieser Produktionsweise werden essentielle Teile der gesellschaftlichen Produktion, des volkswirtschaftlichen Outputs, nicht mehr in »direkter« Arbeit, sondern unter Verwendung von »geronnener Arbeit« erwirtschaftet, unter Verwendung von Kapital eben, das entsteht, weil Produkte und Resultate früherer Arbeit nicht konsumiert, sondern als Voraussetzung für weitere Arbeit verwendet werden. Dieses Kapital erzeugt damit neue Arbeitsbedingungen, es generiert, wie vielfach beschrieben, eine eigene Logik, eine »emergente Ordnung«, in der, was als produktiv gilt und was nicht, anderen Gesichtspunkten unterliegt als zuvor (vgl. u.a. MEW 23: 532). Im Rahmen des Kapitalismus ist Arbeit damit in erster Linie dann produktiv, wenn sie im kapitalistischen Sinn 13

MANFRED FÜLLSACK

Mehrwert erzeugt (MEW 26.1: 371f), wenn sie sich also in Kapital verwandelt, weil ihre Produkte und Leistungen in den Produktionsprozess reinvestiert werden (MEW 26,1: 375). Die bloße Konsumption, das Verbrauchen und Nicht-Reinvestieren von Arbeitsprodukten und Arbeitsleistungen passt nicht in dieses Bild. Was nicht zur Vermehrung des Kapitals beiträgt, ist – zunächst einmal – »unproduktiv« (MEW 26.1: 127).

W o z u » u n p r o d u k t i ve Ar b e i t « ? Von dieser unmittelbar konsumierten Arbeit unterscheidet Marx allerdings nun, im Anschluss an Smith und Ricardo, noch eine Form von Arbeit, die zwar nicht selbst unmittelbar »Mehrwerte setzt«, die aber dem »Kapital als Hebel dient, Mehrwerte zu setzen«, die also der unmittelbar produktiven Arbeit gleichsam hilft, produktiv zu sein (MEW 26.1: 369). Als Beispiel dafür führt er unter anderem die Arbeit von Kaufleuten und Händlern an, die er »Zirkulationsarbeit« nennt. Zwar sei diese Form von Arbeit nicht unmittelbar selbst produktiv (MEW 25: 290f ). Wohl aber kann sie, in dem sie etwa die Kosten der Arbeitsvorleistungen reduziert, die Reproduktion des Gesamtkapitals ökonomisieren und beschleunigen und damit indirekt zur Produktivität beitragen (ebd.). Eine besondere Rolle in dieser »Zirkulationsarbeit« spielt dabei die Organisations- und Planungsarbeit von Aufsehern und Managern, deren Arbeit Marx grundsätzlich gewillt scheint, als, wenn auch nur vermittelnde, so doch zumindest letztendlich produktive Arbeit anzusehen (vgl.: MEW 26.1: 386f ). Allerdings kommt in diesem Zusammenhang wohl auch seine politische Vorentscheidung zu tragen, den Kapitalismus als Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis zu betrachten. Aufseher und Manager, die notwendige Leitungsarbeiten verrichten, und damit produktiv arbeiten, sind damit für Marx von solchen zu unterscheiden, die »Ausbeuterfunktionen« verrichten – Aufgaben also wie etwa die Einstellung und Entlassung oder die Disziplinierung von Personal, die Lohnfestsetzung, Festlegung von Arbeitsbedingungen usw. – und die damit »Instrumente des Kapitals« sind (MEW 25: 397). Diese »ausbeuterischen Oberaufseher« arbeiten damit zwar im Sinne des Kapitals auf den ersten Blick produktiv, wirken aber intern zugleich an der Vergrößerung der vom Kapital aufgeworfenen Widersprüche mit. Ihre Arbeit hat damit für die Gesellschaft und auf längere Sicht auch für den Kapitalismus zumindest kontraproduktive Folgen. Dass gerade dies im Gegenzug für den Sozialismus oder Kommunismus »produktiv« sein könnte, war Marx natürlich bewusst. Aus heutiger 14

EINLEITUNG. ZUR PRODUKTIVITÄT VON HAUSANGESTELLTEN

Sicht machen seine Überlegungen damit einmal mehr deutlich, was im 20. Jahrhundert als unumgehbare Bedingung jeglicher Produktivitätszuschreibung sichtbar wird: dass es in differenzierten Gesellschaften mit heterogenen Problemsichten und vielfältigen Arbeitsformen unumgänglich wird, den Beobachter zu bestimmen, wenn von Produktivität die Rede sein soll.7 »Unproduktive Arbeit« definiert Marx, ähnlich wie Smith, als »Arbeit, die sich nicht gegen Kapital, sondern unmittelbar gegen Revenue austauscht [...]« (MEW 26.1: 127). Als »Revenue« bezeichnet er jenen Teil des Mehrwerts, der als Mittel zum Lebensunterhalt, zum Privatkonsum, sofort verbraucht wird und damit nicht – zumindest für Marx nicht – in den Kreislauf der Produktion zurückfließt (MEW 25: 857). »Revenue« hat, anders gesagt, für ihn keine kapitalistische, höchstens subsistenzielle Relevanz. Die Arbeit, die nur dafür getauscht wird, produziert keinen Mehrwert. Erst wenn dem Kapitalisten mehr Arbeitsleistung zur Verfügung gestellt wird, als dieser in Form des Lohns zurückzahlt, erst also wenn der Kapitalist, wie Marx dies unterstellt8, einen Teil der Produktionsgewinne abschöpft und damit das spezifische, weil »verdeckte« Ausbeutungsverhältnis des Kapitalismus bedient, kann in seinem Sinn von »produktiver Arbeit« gesprochen werden (MEW 26.1: 127). Als typisches Beispiel für unproduktive Arbeit gilt damit, wie schon für Smith, auch für Marx, neben den Aktivitäten müßiggängerischer Feudalherren und Kapitalisten, insbesondere die Arbeit der »Bedientenklasse«, der Hausangestellten, also jener »direkten Lohnarbeiter der müßigen Kapitalisten« (MEW 24: 481), deren Lohn nicht als Vorschuss für Kapital gezahlt wird, um damit Kapital zu vermehren, sondern die aus den privaten Konsumtionsfonds für private Bedienung, eben aus den »Revenues« der Reichen bezahlt werden. Es verwundert damit nicht, dass gerade die »Bedientenklasse« zu einer der ersten Gruppierungen der Bevölkerung Russlands wurde, die bereits unmittelbar nach der Sozialistischen Revolution von den Bolschewiken nachhaltig dezimiert wurde. In den Jahren zwischen 1913 und 1926 soll sich die Zahl der

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Vgl. dazu u.a. Baecker 2002: 206: »Was Arbeit ›ist‹, wissen wir immer erst, wenn wir sehen, welcher Beobachter sich ihr nähert. Wir müssen daher den Beobachter bestimmen, und können dies nur, weil wir uns als Beobachter ihm nähern, und können nur daraus auf die ›Arbeit‹ schließen, die den Beobachter interessiert und die uns interessiert, wenn wir diesen Beobachter beobachten.« Zur Frage der Haltbarkeit dieser Unterstellung siehe: Füllsack 2007. 15

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Haushaltsangestellten im russländischen Raum von 1,6 Millionen auf 317.000 verringert haben (Barber/Davies 1994: 84).

P r o d u k t i ve U n p r o d u k t i v i t ä t ? Noch einige Jahre zuvor freilich, im Jahr 1899, nicht einmal ganz zwei Jahrzehnte nach Marx’ Tod, sollte bereits eine andere Schrift eindrucksvoll vor Augen führen, als wie partikular die Marx’sche, und insbesondere die marxistische Vorstellung von produktiver Arbeit auch im 19. Jahrhundert schon betrachtet werden konnte. In seiner als anthropologische Studie ausgegebenen Satire Theory of the Leisure Class hat Thorstein Veblen das Verhalten von Besitzenden und Reichen untersucht und dabei – obwohl dies vermutlich nicht primär beabsichtigt war – anschaulich gezeigt, dass sich die Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit und damit nicht zuletzt auch die Produktivität von Hausangestellten auch ganz anders betrachten ließ als dies bei Smith und Marx angedacht war. Veblens Ausgangsüberlegung fußt dabei auf der Annahme, dass es den Wohlhabenden seiner Zeit nicht mehr so sehr um die Akkumulation von Geld und materiellen Gütern ging, sondern in erster Linie um den Status und Rang, den ihnen ihr Wohlstand zu erringen erlaubt. Arbeit zählt in diesem Zusammenhang nicht mehr als bloße Existenzsicherungsaktivität. Denn ginge es nur ums Überleben, so argumentiert Veblen, müsste sich ein definitiver Punkt ausmachen lassen, an dem der Anreiz, Güter zu akkumulieren seine Wirkung verliert. Dies sei aber nicht der Fall. Schon in nur gering differenzierten Gesellschaften liege der Arbeit vielmehr ein, wie Veblen meint, »pecuniary struggle« zugrunde, der in dem Bemühen mündet, Wohlstand zu erringen und diesen auch vorzuführen, um Ansehen und Anerkennung zu finden. Für Veblen stellt dieser »pecuniary struggle« den eigentlichen Impuls für die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft dar. Und eigentlich sollte er zu Fleiß und Sparsamkeit anregen. Für die Arbeiterklasse, die »pecuniary inferior class«, schien dies auf den ersten Blick auch zu gelten. Die Wohlhabenden allerdings, die »pecuniary superior class« sah Veblen in einer beständigen »pecuniary emulation« verfangen, in fortgesetztem Bemühen also, anderen in jenem Ansehen, das sie mit Wohlstand assoziieren, gleichzukommen oder sie sogar zu übertreffen. Für dieses Bemühen seien verschiedenste Verhaltensformen typisch. Zum einen machte Veblen, neben dem Anhäufen von materiellen und immateriellen Gütern – Land, Kapital aber auch Trophäen, Medaillen, 16

EINLEITUNG. ZUR PRODUKTIVITÄT VON HAUSANGESTELLTEN

Orden, Titel, akademische Grade, Kunstwerke etc. – die mittlerweile vielzitierte »conspicuous consumption« dafür verantwortlich, den »demonstrativen« oder »Geltungskonsum« also, der für das als »VeblenEffekt« bekannte Phänomen sorgt, dass die Nachfrage nach bestimmten Produkten mit dem Preis steigen kann, dass also manche Güter gerade aufgrund ihres hohen Preises, mit dem sie als Luxusgüter gelten, gekauft werden. Und zum anderen führte Veblen das im vorliegenden Kontext interessantere Bestreben ins Feld, sich von der Arbeit fern zu halten.9 Für die »leisure class« gilt Muße als zentraler Wert, der sich im Zuge der fortgesetzten »pecuniary emulation« immer tiefer einbrennt. Muße bedeutet dabei allerdings nicht einfach nur »Nicht-Arbeit« für Veblen. Muße meint vielmehr den sichtbaren Ausdruck dafür, dass jemand so effektiv arbeiten kann, oder in der Vergangenheit gearbeitet hat, dass er nun nicht mehr arbeiten muss. Der Mensch sei, so Veblen, ein im Grunde zweckorientiertes Wesen, das »productive efficiency« deutlich höher schätzt als unnütze, ziellose Anstrengungen. Sein soziales Ansehen erringt er deshalb vor allem durch die Fähigkeit, effektiv zu arbeiten. Unter Beweis stellt er diese Fähigkeit allerdings am wirkungsvollsten, wenn er offensichtlich nicht mehr zu arbeiten braucht. Am meisten Ansehen und Respekt erringt derjenige, dem es am effizientesten gelingt, seine Effizienz vorzuführen.10 Unterschiedliche Gesellschaften tun dies in unterschiedlicher Weise. Sowohl für den polynesischen Häuptling wie auch für den König von Frankreich ist es aber nicht nur unehrenhaft und unvereinbar mit ihrem Status und ihrem Ansehen, sondern sogar »morally impossible«, produktiver Arbeit nachzugehen. Was für sie wichtig und wertvoll ist, ist nicht Produktivität, sondern demonstrierte Unproduktivität, also Muße, mit der sich Wohlstand zur Schau stellen lässt. Womit sich die »leisure class« primär beschäftigt, ist deshalb »conspicuous leisure«, wie Veblen sie nennt, vorgeführte Muße, mit deren Hilfe sich »pecuniary superiority« demonstrieren lässt. Und zu dieser »conspicuous leisure« zählen nun einerseits spezifische Verhaltensweise und Sitten, die zwar in Überlebensskills wurzeln, nun aber keine lukrativen Effekte mehr haben, sondern einzig als »voucher of a life of leisure« fungieren. Einen solchen Voucher stellt die »vicarious leisure« dar, die »stellvertretende 9

»Abstention from labour is not only a honorific or meritorious act, but it presently comes to be a requisite of decency.« Veblen 1899, Kap. 3. 10 »Conspicuous abstention from labour therefore becomes the conventional mark of superior pecuniary achievement and the conventional index of reputability; and conversely, since application to productive labour is a mark of poverty and subjection, it becomes inconsistent with a reputable standing in the community.« Veblen 1899, Kap.3. 17

MANFRED FÜLLSACK

Muße«, in der auch die Frau des Wohlhabenden, vor allem aber seine höchsten Bediensteten eingebunden sind. Denn nur der erscheint wirklich als wohlhabend, der nicht einmal sein Personal zu produktiver Arbeit anhalten muss. Und weil dabei, so Veblen, die Muße der Hausangestellten nicht ihre eigene, sondern ihnen von ihrem Herrn auferlegt ist, kommt es mitunter dazu, dass das Personal, obwohl es nichts tun darf, extrem gut und zeitaufwendig ausgebildet wird, damit die Diskrepanz zwischen Investition und »unproduktivem« Output möglichst groß, sprich auffallend wird. Wirklich produktiv ist in diesem Sinn damit vor allem die möglichst auffallende Verschwendung, nach Veblen also »the conspicuous waste«.

Au s b l i c k Damit ist im Prinzip schon fast alles gesagt. Veblens Überlegungen zur Produktivität des Unproduktiven überspringen gleichsam die Versuche des 20. Jahrhunderts, mit dem Produktivitätskriterium produktiv umzugehen, und bereiten Überlegungen vor, die insbesondere mit den Debatten um das »Ende der Arbeitsgesellschaft« (u.a. Arendt 1958/1981, Dahrendorf 1983, Rifkin 1995) und beeinflusst von den nicht mehr zu übersehenden ökologischen Folgen industrieller »Überproduktivität« gegen Ende des Jahrhunderts begannen, der Arbeit zunächst die Möglichkeit ihrer »Destruktivität« (Clausen 1988, Bardmann 1994) vorzurechnen und sodann immer mehr und aus den unterschiedlichsten Richtungen auf so etwas wie eine »post-produktive« Verortung der Arbeit abzielen (vgl. Offe 1993; Aronowitz/Cutler 1998; Engler 2005; Friebe/Lobo 2006; Vobruba 2006; Füllsack 2006). Auch der vorliegende Band vereinigt Beiträge, die die traditionelle Auffassung produktiver Arbeit in diesem Sinn hinterfragen und in Anbetracht aktueller Entwicklungen und theoretischer Überlegungen neue Produktivitätsformen erkunden. Den Anfang macht ein Beitrag von Wolfgang Pircher, der weitere historische Details der vielfältigen Debatten um das Produktivitätskriterium beleuchtet und insbesondere dessen Formwandel im Zuge der technischen Rationalisierung thematisiert. Ihm folgt Stephan Lessenich mit einem Beitrag, der die Bedeutung wachsender durchschnittlicher Lebenszeiten für die herrschende Produktivitätsauffassung und vor allem für ihre sozialpolitische Rahmung erkundet. Marina Fischer-Kowalski und Anke Schaffartzik stellen im Anschluss daran der Arbeit die Nachhaltigkeitsfrage und überlegen, ob eine Reduktion der Arbeitszeit unter Nutzung industriell-bedingter Produktivitätszuwächse nicht posi18

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tive Auswirkungen auf Ökologie und Umwelt haben würden. Paul Kellermann analysiert in seinem Beitrag den spezifischen Arbeitsbereich Wissenschaft und überlegt, inwiefern die aktuellen Entwicklungen insbesondere in der Organisation der Universitäten die Produktivität wissenschaftlicher Arbeit fördert oder behindert. Fritz Betz spürt sodann jüngsten sozialen und technologischen Entwicklungen nach, die andeuten, dass eine Personengruppe, deren Aktivitäten seit jeher als un- oder minder produktiv angesehen wird, nämlich die der Behinderten, unter Umständen in nicht allzu ferner Zeit neue Maßstäbe für das Produktivitätskriterium setzen könnte. Der Beitrag von Georg Vobruba setzt die um Produktivität besorgten Diskussionen zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen mit den eher von regelmäßigen Produktivitätsüberschüssen ausgelösten Überlegungen zu einer Entkoppelung von Einkommen und Arbeit in Beziehung und zeigt, dass diese keineswegs im Widerspruch zueinander stehen müssen. Birger Priddat untersucht die flankierenden Maßnahmen, die aktuell in den Vordergrund treten, um Konsumgüter mit dem für produktive Marktbedingungen mittlerweile unverzichtbaren Attribut der Neuheit anzureichern. Dirk Baecker analysiert in seinem Beitrag soziale Strukturen wie Staat und Bildung, die historisch mit dazu beigetragen haben, produktive Arbeit in ihre hier thematisierte Form zu bringen. Und Manfred Füllsack schließt den Band mit Überlegungen zur zeitlichen Dynamik der Form produktiver Arbeit unter vielfach gegeneinander verworfenen sozialen Bedingungen. Einem Teil der Beiträge liegen Vorträge einer Veranstaltungsreihe zugrunde, die im Frühsommer 2007 am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst unter dem Titel „Produktive Arbeit“ durchgeführt wurde. Dank gilt dem Leiter des Instituts, Thomas Hübel, für die Ermöglichung dieser Veranstaltung und für redaktionelle Hilfe bei der Zusammenstellung des Bandes.

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EINLEITUNG. ZUR PRODUKTIVITÄT VON HAUSANGESTELLTEN

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As pekte produktiver Arbeit. Zur Gesc hic hte der tec hnische n Rationalität WOLFGANG PIRCHER

»Die Arbeit, welche auf Herstellung von Bomben für anarchistische Attentate verwendet wird, soll produktiv sein?« Eugen von Philippovich

Im Jahre 1909 versammelten sich in Wien Mitglieder des Vereins für Socialpolitik, um Fragen der Produktivität zu diskutieren. Unter den Diskutanten fanden sich prominente Namen wie Max Weber, Othmar Spann, Otto Neurath und nicht zuletzt Eugen von Philippovich, der die österreichische Schule der Nationalökonomie vertrat und mit seinen Darstellungen den Widerspruch Max Webers hervorrief. Weber war schon im Jahr zuvor für die »Werturteilsfreiheit« der Wissenschaft eingetreten. Seine »Polemik gegen den ökonomischen Produktivitätsbegriff« initiierte die Werturteilsdebatte (Schön 1988: 96). Für den Verein ergab sich damit die etwas paradoxe Situation, gleichsam sein Wesen und sein Ziel selbst in Frage zu stellen: denn wie sollte eine Sozialpolitik gedacht werden, die keine Wertungen der sozialen Realität vornahm. Philippovich referierte 1909 über »Das Wesen der volkswirtschaftlichen Produktivität« und gestand gleich zu Beginn seiner Ausführungen die Unsicherheit in der Begriffsbestimmung ein. »Die Worte produktiv und Produktivität gehören zu den vieldeutigsten, welche in der Sprache unserer Wissenschaft gebraucht werden.« (Philippovich 1910: 329). 23

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Dementsprechend bemühte sich Philippovich, diese Vieldeutigkeit durch eine Öffnung des Bedeutungshorizontes zu erschließen und nannte etwa Erfolgsvorstellungen, die Fähigkeit Dinge hervorzubringen, die Zwecke erfüllen können, die Fruchtbarkeit und nachhaltige Wirkung des Erzeugten, die Erzielung eines Überschusses über den Aufwand hinaus und die Tauschfähigkeit erzeugter Güter als Kriterien für Produktivität. Den dabei auftauchenden Widersprüchen versuchte er durch Unterscheidung in »privatwirtschaftliche und volkswirtschaftliche Produktivität« zu begegnen. Denn scheinbar ermöglicht es diese Unterscheidung anzunehmen, »daß das, was privatwirtschaftlich produktiv ist, volkswirtschaftlich unproduktiv sein könne und umgekehrt« (ebd. 333). Da die privatwirtschaftliche Produktion sich an einer Nachfrage orientiert, die vom subjektiven Bedürfnis und Lustempfinden der Käufer abhängt, kann sich die Frage stellen: »Sind Güterherstellungen und Dienstleistungen, die einem unvernünftigen oder vielleicht unsittlichen Begehren dienen, auch produktive Arbeiten?« (ebd. 334).1 Beantwortet man diese Frage bejahend, »dann sei Produktivität auch bei der Befriedigung törichter Bedürfnisse gegeben« (ebd.). Einem derartigen sozialpolitischen Ärgernis lässt sich nach Philippovich nur mit Rekurs auf ein Konzept volkswirtschaftlicher Produktivität begegnen, welches »die Produktion als soziale Lebensäußerung vom Standpunkt der Gesellschaft und ihren Wert für das menschliche Leben beurteilt« (ebd. 337). Damit wird die Frage der privatwirtschaftlichen Produktivität, die für Philippovich gleichzeitig die technische Produktivität ist, zu einer gesellschaftlichen Betrachtung ausgeweitet, die notwendig wertende Urteile enthalten muss. Es kommt ja damit nicht nur der technische Prozess der Gütererzeugung in den Blick, »sondern wir prüfen auch die in den Lebensbedingungen der Bevölkerung liegenden allgemeinen Bedingungen seiner Entfaltung und seiner Wirkungen auf die Wohlfahrt der Menschen« (ebd. 339). Kurz: »Technische Produktivität bedeutet eine Menge von Gütern, volkswirtschaftliche Produktivität gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung« (ebd. 360). Wer diese Arbeitsteilung zwischen dem technischen und privatwirtschaftlichen Produzenten und dem weitblickenden Sozialpolitiker im akademischen Gewand nicht ohne weiteres hinnehmen will, muss sich die Frage nach dem Potential der technischen Produktion stellen.

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Man wird sich hier an Marxens Abschweifung über produktive Arbeit erinnern, wonach auch der Verbrecher produktive Arbeit leistet, in: MEW 26.1: 363f.

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D e r Z a u b e r d e r Ar b e i t s t e i l u n g Die enorme Wichtigkeit, die Adam Smith der Arbeitsteilung am Anfang seines 1776 erschienenen Buches The Wealth of ations zuspricht2, wurde in der Folgezeit von den Ökonomen eher abgeschwächt. Die Literatur wird nur mehr ausnahmsweise auf Fragen der unmittelbaren Produktion eingehen und somit den Bezug zur Technologie, der im 18. Jahrhundert noch eng war, aufgeben. Damit fällt aus dem ökonomischen Denken jener Bereich heraus, der als Schnittstelle von Ökonomie und Technik die traditionelle Domäne des Ingenieurs war und ist. Die diversen Principles of Economy des 19. Jahrhunderts sparen diesen technischorganisatorischen Bereich zumeist völlig aus oder lassen ihn bestenfalls als Illustrationsmaterial den systematischen Kapiteln nebenherlaufen. Das hat zur Folge, dass die am Ort der industriellen Revolution, der Fabrik, entstehenden Probleme meist von Technikern beschrieben und systematisiert werden. Charles Babbage mag hier als frühes Beispiel gelten, Frederik Winslow Taylor als späteres. So sehr nun Adam Smith die zivilisatorische Bedeutung der Arbeitsteilung betonte – immerhin markiert sie bei ihm den Unterschied der ewig armen Naturvölker zu den immer mehr Reichtum anhäufenden europäischen Völkern – und so detailliert er an dem berühmten Beispiel der Nadelmanufaktur deren innerbetriebliche Wirkung beschrieb, er dachte nicht daran uns den Agenten dafür zu nennen. Nach Smith können wir die innerbetriebliche Arbeitsteilung für die Bedingung der industriellen Revolution schlechthin halten, weil sie auch Anlass zur Einführung der Maschinerie in den Produktionsprozess ist. Er führt zwar als Motiv dafür die menschliche Neigung zum Tausch an, diese aber wird schwerlich jene analytische Leistung der Zerlegung von Arbeitsvorgängen in separierte kleine Einheiten erklären können, wie sie für die Arbeitsteilung typisch sind. Auch ist es unwahrscheinlich, diese Leistung im Bereich der Handarbeit selbst anzusiedeln, wie wenn die Arbeiter irgendwann einmal von selbst oder durch Anregung dazu übergegangen wären, nicht mehr den gesamten Arbeitsprozess individuell zu beherrschen, sondern gleichsam freiwillig eine Dequalifizierung in Kauf zu nehmen. Wir können kaum annehmen, dass ein Nadelarbeiter, der den ganzen Prozess der Herstellung einer Nadel beherrschte, nun mit der vergleichsweise sehr simplen, monotonen und schlechter bezahlten Teil2

So lautet der erste Satz dieses epochemachenden Buches: »The greatest improvement in the productive powers of labour, and the greater part of the skill, dexterity, and judgement with which it is any where directed, or applied, seem to have been the effects of the division of labour.« Smith 1976: 13. 25

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arbeit zufrieden ist. Im Gegenteil, die qualifizierte Handarbeit hatte versucht Barrieren der unterschiedlichsten Art gegen derartige Neustrukturierungen der Produktion zu errichten. Im Vergleich zur alten zünftischen Handarbeit, wo der Meister in sich den Eigentümer des Betriebes und den Beherrscher der technischen Fertigkeiten darstellt, der noch dazu die Ausbildung der Handwerker übernimmt, meist in der traditionellen, von der Zunft vorgeschriebenen nicht-öffentlichen Weise direkter Anleitung, wird nun die neue Form der Arbeit von einer den Arbeitern gegenüberstehenden fremden Instanz vorgeschrieben. Ohne hier der verwickelten Geschichte des Ingenieurs nachzugehen, lässt sich schematisch die neue Beziehung Ingenieur-Arbeiter an die Stelle der alten Meister-Geselle stellen. Der Ingenieur ist es, der den industriellen Arbeiter kreiert, der hinfort als Element eines von ihm nicht geplanten und nicht beherrschten Arbeitsprozesses fungiert. Jenseits aller Standesfragen gilt uns jener Agent der Produktion als Ingenieur, der sie mit analytischem Blick zerlegt und neu synthetisiert, wobei dies sowohl die Handarbeit alleine wie auch deren Anschluss an eine Maschinerie betreffen kann. Hatte der Handwerker alten Typs als Ziel seines von ihm geplanten und durchgeführten Arbeitsprozesses das fertige Produkt als seines vor sich, dem er gleich dem Künstler sein fecit aufprägen konnte, so wird in der arbeitsteiligen Produktion das fertige Produkt dem zufällig letzten Teilarbeiter aus der Hand gehen, der nicht mehr daran als sein Werk betrachten kann, als den letzten Teilschritt. Damit aber eine derartige Produktionsform erfolgreich sein kann, bedarf es der Gesamtorganisation, eben der Synthese aller Teilschritte und der abhängigen Funktionen (wie z.B. Materialzuführung), das heißt, es muss der Raum der Produktion ebenso einer zeitlichen Planung unterworfen sein wie die Abfolge der Arbeitsschritte. Damit verdichtet sich das raum-zeitliche Gefüge der Produktion. Foucault hat dies bekanntlich als einen Effekt der Disziplinierung vorgestellt. Die von Smith beschriebene Nadelmanufaktur stellt eine Zwischenform dar, die von den Zeitgenossen nicht immer als empfehlenswert angesehen wurde. So schreibt Boucher d’Argis in seinem Artikel »Manufaktur« in der Großen Enzyklopädie: »Eine vereinigte Manufaktur kann nur mit sehr großen Unkosten für Bauten, Direktoren, Werkmeister, Buchhalter, Kassierer, Aufseher, Handlanger und andere solche Leute und schließlich auch nur mit großen Beständen gegründet und betrieben werden. [...] In der großen Manufaktur geht alles genau nach der Uhr, die Arbeiter stehen unter größerem Zwang und werden häufiger zurechtgewiesen. Die Aufseher, die ihnen gegenüber ein hochmütiges und herrisches Wesen an den Tag zu legen pflegen, das gegenüber der Masse wahrhaftig notwendig ist, behandeln sie hart und mit Verachtung; des26

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halb verlangen diese Arbeiter einen höheren Lohn oder bleiben nur so lange in der Manufaktur, bis sie eine andere Arbeit gefunden haben.« (Boucher d’Argis 1984: 621f). Die von Smith beschriebene Erhöhung der Produktivität kommt d’Argis gar nicht vor Augen, weil er von den (realen) Überlebensproblemen der Manufakturen geblendet scheint: zu hohe Kosten (und zu kleine Märkte). Sein Votum für die Verlagsproduktion (sie heißt bei ihm »verstreute Manufaktur«) wird von der Wirtschaftsgeschichtsschreibung insofern unterstützt, als die Verlagsproduktion in der Form der ländlichen Protoindustrialisierung für wichtiger angesehen wird als die gelegentlichen Manufakturen.3 Eine gewisse Arbeitsteilung hatte sich auch hier eingespielt, worauf es uns aber ankommt, ist die Fremdbestimmung der Arbeit und die Öffnung hin auf eine wissenschaftliche und akademische Bestimmung ihrer Formen. Somit wird dafür die Manufaktur, auch wenn ihr Gewicht für die Industrialisierung geringer sein sollte, wichtiger als die Verlagsproduktion, bei der diese Funktion des Ingenieurs keine Rolle spielen kann. Außerdem macht Charles Babbage 1832 ein ökonomisches Argument geltend, das schon im 18. Jahrhundert überaus geläufig war und wonach der Unternehmer durch die Teilung der Arbeit für jeden Teilprozess gerade nur den hinreichend geschickten und starken Arbeiter anzustellen brauchte (gegebenenfalls auch ein Kind) und dadurch Lohnkosten spart, da er nicht den für alle Arbeiten geeigneten und damit relativ umfassend qualifizierten Arbeiter bezahlen muss (vgl. Babbage 1999: 143f, Kapitel 19: Von der Arbeitsteilung). Die Einrichtung der Manufakturen gegen Ende des 17. Jahrhunderts hatte mehrere bedingende Kräfte zur Ursache: einmal die des absoluten Staates, der versuchte seine Wirtschaftskraft zu stärken, zumal diese als Faktor der Konkurrenz gegenüber anderen Staaten erkannt wurde. Zum anderen besetzten die Manufakturen jene Produktionszweige, die schon für einen größeren Markt produzieren konnten, vorzüglich Luxuswaren, weil dafür ein gesamteuropäischer Markt der Aristokratie vorhanden war. Im diesbezüglich fortschrittlichsten europäischen Staat dieser Zeit, in Frankreich, verbanden sich die staatlichen wirtschaftspolitischen Aktivitäten auch mit solchen der Ausbildung einer militärisch-technischen Elite, eben die der Ingenieure. Es ist nicht verwunderlich, dass bald ein öffentliches Interesse an den neuen Produktionsmethoden entsteht. Insbesondere die Akademien werden umfassende Dokumentationen erstellen, die das technische Wissen der Zeit zu erfassen versuchen. Damit rückt erstmals die materielle Produktion von Gütern in den Be3

Vgl. aus der umfangreichen Literatur dazu: Berg 1994; Schultz 1997: 124ff. 27

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reich des akademischen Wissens ein, muss sich ihm aber im gleichen Zug anpassen, das heißt öffentlich diskutierbar werden, sich sozusagen »verwissenschaftlichen«, was wiederum bedeutet sich im Code von Mechanik und Mathematik auszudrücken. Das Wissen wird öffentlich, systematisiert und lehrbar. Die Große Enzyklopädie von d’Alembert und Diderot wird sich im einschlägigen Teil auf solche Arbeiten der Pariser Akademie stützen und hier findet Adam Smith die von ihm beschriebene Nadelmanufaktur. Das Produktionswissen hat Eingang in das Speichermedium Buch gefunden, damit wird es dem dunklen Arkanwissen entzogen und in den Prozess der Wissensakkumulation eingeordnet. Korrespondierend verläuft die Einrichtung von Schulen, auch hier ist Frankreich im 18. Jahrhundert für Europa beispielhaft. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts hatte sich in Frankreich eine Gruppe von »Zivilingenieuren« gebildet, die mit der Durchführung und Beaufsichtigung öffentlicher Arbeiten befasst war und dafür neben den technischen Kenntnissen auch die notwendigen ökonomischen besitzen musste. Das Interesse in der Bewertung öffentlicher Investitionen und »the pricing of public goods« waren typisch französische Phänomene, resultierend aus der zentralen Planung und Durchführung von Transportlinien durch den Staat. Französische Ingenieure waren sowohl für die technische wie für die ökonomische Durchführung verantwortlich (vgl. dazu Hebert 1992). Typischerweise formte sich auf Anregung Colberts, des großen Manufakturgründers unter Ludwig XIV., das erste Ingenieurkorps 1668. Es war allerdings noch schlecht organisiert und hatte keine verbindlichen Standards. 1690 führte Marschall Vauban, der an den Ingenieuren reges militärisches Interesse nehmen musste, bauten sie doch seine Festungswerke, eine Prüfung ein. 1716 legte schließlich ein königliches Dekret die Rolle und die Organisation des Ingenieur-Corps fest, dessen Aufgaben die Errichtung von Straßen und Brücken war, später kam die Erstellung von Landkarten wie die Planung und Inspektion von Straßen und Kanälen dazu. Diese Funktionen waren in Paris zentralisiert und unter der Beaufsichtigung von Jean-Rodolphe Perronet, der als Chef des Bureaus 1747 installiert wurde. Er begann Instruktionsklassen einzurichten, zunächst informell die École des Ponts et Chaussées, die er ein halbes Jahrhundert leitete. Im 18. Jahrhundert hatte diese Schule keine Professoren, die fortgeschrittenen Studenten unterrichteten ihre Kollegen in Geometrie, Algebra, Mechanik, Hydraulik, Differential- und Integralrechnung, Steinschneiden und Maurerhandwerk. Dieser Lehrplan zeigt die enge Verbundenheit der Ingenieurskunst mit der Architektur, wie sie seit der Renaissance typisch ist (vgl. dazu Picon 1992). Aus der Verwobenheit mit ziviler und militärischer Archi-

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tektur lösen sich die Ingenieure erst mit dem neuen Schultyp des Polytechnikums. So fragil die Manufakturen und späteren Fabriken in ihrem Bestand auch waren, sie richten jedenfalls eine neue Art des Produktionswissens ein, wonach der entscheidende Angriffspunkt für die Organisation der Arbeitsprozesse außerhalb dieses Prozesses selbst liegt. Anders als der handwerkliche Betrieb alten Musters ist die Manufaktur und Fabrik so zusagen gegen außen offen, bekommt ihre wesentlichen Impulse von außen. Solange sich das neue Produktionswissen nicht stabilisierte, war die Abhängigkeit von »Projektenmachern« groß. Noch im 18. Jahrhundert scheitern die meisten derartigen Betriebe entweder recht bald an ungünstigen Marktbedingungen oder an ungelösten Fragen der Produktionstechnik. Erst das 19. Jahrhundert wird ein Expertentum ausbilden, das zumindest die wichtigsten Produktionsbedingungen technischer Natur zu steuern vermag und in ein stabiles Gefüge einbauen kann. Während das industriell fortgeschrittenste Land, England, weiterhin seiner Methode des »learning by doing« vertraut, starten die kontinentalen Länder geradezu mit einer technischen Bildungsoffensive ins 19. Jahrhundert. Diese ist nicht zuletzt von dem Motiv gekennzeichnet, durch den Einsatz der Wissenschaft und der ihr entsprechenden Ausbildung den technisch-ökonomischen Vorsprung Englands wettzumachen. Die französische Revolution setzt hier neue Maßstäbe, als die freie und unteilbare Nation im Moment der höchsten Bedrohung durch eine ausgeprägte Technokratenherrschaft gerettet wird. Das gibt ein eindrucksvolles Beispiel für die gesellschaftliche Bedeutung des technischen Wissens auch und gerade in Fragen der Organisation. Unmittelbar nach der Abwehr der ärgsten Bedrohung wird 1795 die École Polytechnique gegründet, um als Grundschule für alle Ingenieurwissenschaften zu dienen. Gemäß der französischen Tradition ist sie eng mit dem Militär verbunden. Ihre Vorbildwirkung für Österreich und Deutschland wird sich allerdings auf die nichtmilitärische Ausbildung von Ingenieuren beschränken. Spätestens mit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen die Ingenieure sozusagen offiziell in den Manufakturen und Fabriken. Zunächst wohl auch noch meist Organisatoren des ganzen Ablaufes, beschränken sie sich in der Folge auf jene Tätigkeiten, die mit dem Entwurf und der Konstruktion neuer technischer Geräte und Anlagen zu tun haben. Wenn wir uns des Schemas bedienen, das Wolfgang König (1989) für das Verhältnis zwischen Konstruktion und Fertigung im deutschen Maschinenbau zwischen 1820 und 1890 entworfen hat, um das Eindringen des Ingenieurs in die klassische Fabrik des 19.Jahrhunderts zu skizzieren, dann lassen sich folgende Etappen ausmachen: zunächst hat das 29

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Verhältnis zwischen Konstruktion und Fertigung durchaus das Gepräge des alten Handwerks, der Meister konstruiert und fertigt in einem zusammen mit seinen Arbeitern, denen er mündliche Anweisungen gibt. Modelle, Skizzen und unbemaßte Werkstattzeichnungen unterstützen den Fertigungsprozess. In der Phase, die um 1850 beginnt, kommt es zur langsamen Herauslösung der Konstruktion aus dem Fertigungsprozess, der Erfinder-Konstrukteur bedient sich einer Werkstätte, die relative Eigenständigkeit erlangt (ein prototypisches Verhältnis ist jenes vom Erfinder Werner von Siemens zum »Handwerker« Johann Georg Halske). In der eigentlichen Gründerphase verselbständigen sich sowohl Konstruktion wie Fertigung, beide unterliegen einem Normierungsprozess, der auch ihr wesentlichstes Kommunikationsmedium, die Werkstattzeichnung, modernisiert. Unter dem Einfluss der Rationalisierungsbewegung wird schließlich die Trennung zwischen Konstruktion und Fertigung, die viele Friktionen verursacht hatte, in ein Zusammenwirken verwandelt, nicht ohne neue Elemente dazwischen zu schieben, die diese organisatorische Aufgabe übernehmen (Betriebsbüros). Erst um die Jahrhundertmitte beginnt sich die interne Betriebsstruktur so zu differenzieren, dass gegenüber den alten handwerklichen Strukturen ein deutlicher Bruch eintritt, der auch die technische Ausbildung, wie sie diverse Polytechnika und Hochschulen anboten, nutzbar werden lässt. Die verschiedenen Funktionen innerhalb eines Betriebes wurden nun verschiedenen »Büros« zugeordnet, deren Besetzung zunächst allerdings noch nicht von den formalen Bildungsqualifikationen, wie sie auf den diversen Schulen erworben wurden, abhing, sondern wesentlich über »Erfahrung« vermittelt war. Es spricht sich hier eine Tendenz zur langsamen »Entmachtung« der Handarbeit aus, wie sie in der Werkstätte geübt wurde, und damit einhergehend auch zur Dequalifizierung der Handarbeit. Diese Entmachtung, die zunächst zugunsten der »Büros« ausschlug, trug auch dem sich zunehmend »verwissenschaftlichenden« Ausbildungsprozess der Ingenieure an den Hochschulen Rechnung. Mehr und mehr war die Konstruktionsarbeit bestimmt von theoretischen Kenntnissen, »die von mathematisierten Beschreibungsmodellen technischer Sachverhalte bis zu formalen zeichnerischen Darstellungsweisen reichten. [...] In zunehmendem Umfang drangen jetzt akademisch ausgebildete Ingenieure in die Konstruktion ein. Konstrukteur wurde das Berufsbild, auf das hin die Technischen Hochschulen ausbildeten, und Konstrukteur wurde der typische Anfangsberuf für den Hochschulabsolventen.« (König 1989: 188). Aber sowohl in den Betrieben wie auch an den Hochschulen verlief dieser Prozess nicht konfliktfrei. Wurde an den Hochschulen bald die zu große Dominanz theoretischer Fächer beklagt, eine Klage die schließlich 30

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im »Mathematikerstreit« kulminierte (dazu Hensel/Ihmig/Otto 1989), so war es in den Betrieben die scheel angesehene superiore Stellung der Konstruktion gegenüber der Fertigung. Gegen Ende des Jahrhunderts waren außerdem solche Betriebsgrößen erreicht worden, die das interne Organisationsproblem mit Vehemenz stellten, was mit einer zunehmenden »Bürokratisierung« einherging, wodurch sich der Anteil der Angestellten an der Gesamtbelegschaft deutlich erhöhte. Damit erhöhte sich allerdings auch jener Anteil der Lohnkosten, die nicht direkt in die Produktion eingingen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts schlug die Idee der »fertigungsfreundlichen Konstruktion« auch auf die Hochschulen zurück, deren Defizit im fertigungstechnischen Unterricht offenkundig war. In den zwanziger Jahren gab es eine breite Diskussion über die berufliche Weiterbildung der Konstrukteure in Richtung fertigungsfreundlichen oder werkstattgerechten Konstruierens. In den Betrieben wurden unter dem Einfluss der tayloristischen Rationalisierungsbewegung die Betriebs- und Arbeitsvorbereitungsbüros zwischen Konstruktion und Fertigung geschaltet. »Die Arbeitsvorbereitungsbüros hatten zwei zentrale, miteinander zusammenhängende Aufgaben: Zum einen sollten die in ihnen tätigen Betriebsingenieure die Fertigung technisch und organisatorisch rationalisieren. Und zweitens setzten sie die aus der Konstruktion kommenden Werkstattzeichnungen, die bislang an den Werkmeister gegangen waren, in Arbeitsanweisungen in anderer Form, z.B. auf Arbeitskarten, um. Damit zogen die Betriebsingenieure Aufgaben an sich, die vorher teilweise in der Kompetenz der Meister und Facharbeiter gelegen hatten.« (König 1989: 193). Damit war aber nicht nur eine weitere Instanz gegenüber der Handarbeit eingeführt, auch gegenüber der von akademisch gebildeten Ingenieuren geführten Konstruktion war ein anderer Typus des Ingenieurs auf der betrieblichen Bühne erschienen, der in sich theoretische und praktische technische Kenntnisse vereinte und beide einem kalkulatorischen ökonomischen Kalkül unterwarf. Friedrich August von Hayek hat den Ingenieuren bekanntlich vorgeworfen, nicht nur nichts von Ökonomie zu verstehen, sondern darüber hinaus auch noch zum Sozialismus zu tendieren. Er bezog sich dabei vor allem auf die französischen Ingenieure im Umkreis der École Polytechnique, die eine enge Verbindung zum Saint-Simonismus eingegangen waren.4 Es war allerdings Tradition in Frankreich, dass die Inge4

Hayek 1979: 154f: »Hier wurde der echte Ingenieurstyp mit seinen charakteristischen Ansichten, Ambitionen und Grenzen geschaffen. Dieser synthetische Geist, der keinen Sinn in etwas anerkennen wollte, was nicht vorbedacht konstruiert worden ist, jene Liebe zur Organisation, die aus der zweifachen Quelle militärischer und technischer Praktiken entspringt, die 31

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nieure, die zunächst vorzugsweise im öffentlichen Raum tätig waren, wo sie etwa Straßen, Brücken und Eisenbahnen bauten, den volkswirtschaftlichen Nutzen dieser Unternehmungen angeben mussten, also nicht nur die engere betriebswirtschaftliche Rentabilität im Auge hatten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts entfaltete sich in den USA eine Bewegung, die einen umfassenden gesellschaftsreformerischen Anspruch aus der Perspektive des Ingenieurs stellte.

D i e T e c h n o k r a t i e b ew e g u n g 5 Der Neologismus »Technocracy«, ursprünglich von dem Ingenieur, Patentanwalt und Erfinder William Henry Smyth 1919 geprägt, um Mittel zu bezeichnen, die von Ingenieuren zur Steigerung der industriellen Effizienz eingesetzt werden können, wurde bald zum Namen einer sozialreformerischen Bewegung von Ingenieuren, die damit ihren gesellschaftlichen Herrschaftsanspruch anzumelden versuchten. Wie in anderen industriell entwickelten Ländern auch, kam es in der USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer seltsamen Ungleichgewichtigkeit, wonach die Ingenieure einerseits für die zentralen industriellen Aufgaben entscheidende Rollen zu übernehmen hatten, für den gesellschaftlichen Einsatz und die politische Begleitung dieser Prozesse aber nach wie vor andere Berufsgruppen zuständig waren. Die Idee, wonach die technischen Fachleute auch die politische Führung übernehmen sollten, lag ebenso auf der Hand wie der politische Widerspruch zum demokratischen Verfahren. Einer der ersten Propheten dieser Richtung, Charles Proteus Steinmetz, ersetzte in seinem technischen Utopieentwurf das seiner Meinung nach unzeitgemäße und kontraproduktive demokratische Wahl-

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ästhetische Bevorzugung alles bewußt konstruierten gegen dem bloß gewordenen war ein starkes neues Element, das sich dem revolutionären Eifer der jungen Polytechniker zugesellte – und im Laufe der Zeit ganz an seine Stelle trat. Die eigenartigen Wesenszüge dieses neuen Typus, der sich, wie gesagt wurde, brüstete, präzisere und befriedigendere Lösungen für alle politischen, religiösen und sozialen Fragen zu haben als irgend jemand anderer und der sich erdreistete, eine Religion zu konstruieren so wie man an der École lernt, eine Brücke oder eine Straße zu bauen, wurde früh bemerkt und seine Neigung sozialistisch zu werden, oft aufgezeigt.« Hier ist offensichtlich nicht die École Polytechnique, sondern die ältere École des Ponts et Chaussées gemeint, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts existierte und, wie ihr Name sagt, die Aufschließung des Landes zu ihrer Aufgabe machte. Die folgende Darstellung stützt sich wesentlich auf die kenntnis- und materialreiche Dissertation von Stefan Willeke (1995).

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recht durch technisch-naturwissenschaftlichen Sachverstand, über dessen Resultate sich nicht abstimmen läßt. Gleichzeitig gerät dieser Sachverstand zu einem Planungsmittel, der sowohl politischen Liberalismus wie freie Marktwirtschaft außer Kraft setzt. Der 1865 in Breslau geborene Steinmetz kam im Laufe seines Studiums in Kontakt zu sozialistischen Gruppen, was ihn 1888 nötigt in die Schweiz zu fliehen, um der Drohung des Arrests zu entgehen. 1889 kommt er in die USA, wo ihm seine Forschungs- und Entwicklungsarbeiten über den Restmagnetismus und den Wechselstrom schließlich ab 1892 zu einer 31 Jahre dauernden Karriere bei General Electric verhelfen. Daneben aber bleibt er Sozialist, begeistert sich zum Beispiel für die russische Revolution und bietet Lenin brieflich Hilfe bei der Elektrifizierung an. Die New Yorker Socialist and Farmer-Labor Parteien nominieren ihn 1922 für den Posten eines state engineer. In der Wahlwerbung für diesen Posten interessiert ihn vor allem der Ausbau der Nutzung von Wasserkraft. So schlägt er eine Nutzung der Niagara Fälle vor, »where millions of kilowatts rush uselessly over the cliffs – in order to cut coal consumption by up to two thirds.« (Jordan 1989: 68). 1916 publiziert er America and the ew Epoch. Ein zeitgenössischer Rezensent stellt die Schrift an die Seite der damals bekannten und populären utopischen Bücher von Edward Bellamy und Samuel Butler, wobei er Steinmetz' Buch die »most plausible of all the Utopias« nennt. Man kann die utopische Komponente leicht unter die zwei Schlagworte »Effizienz« und »Sparsamkeit« im Sinne von Vermeidung von Verschwendung bringen. Die Steigerung der technisch-ökonomischen Effizienz mit der gleichzeitigen Einschränkung unnötiger Konsumtion, ließe einen vier Stunden Arbeitstag möglich werden. Die gewonnene Zeit wiederum stimuliert die Bildungsinteressen in jeder möglichen Richtung. John Dos Passos hat Steinmetz ein literarisches Denkmal errichtet. Im Band The 42nd Parallel der USA-Trilogie porträtiert er den wizard of electricity Steinmetz in einer einprägsamen Kurzbiographie mit dem simplen Titel Proteus. Obwohl Gesellschaftsplaner wie Steinmetz nicht mit F.W.Taylor übereinstimmten6, blieb das Taylorsche Konzept der betrieblichen 6

Vgl. Jordan 1989: 80: »Steinmetz rejected Taylor’s program of personnel engineering and instead redefined efficiency: ›There are those who measure efficiency as industrial efficiency, as the relation of the amount of commodities produced, to the amount of material and money expended in producing them. This is the efficiency of man as a cog in the industrial machine, but not his efficiency as a human being. What then, in our purpose, is efficiency? It is to make the most of our lives and our industrial productivity is but a part of a means to that end, although it is not the end.‹ Steinmetz thus discounted the Taylor system of industrial organization. He 33

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Rationalisierung immer ein Bezugspunkt aller sozialen Aktivitäten von Ingenieuren. Die Schlagworte »efficiency« und »waste« waren am Beginn des 20. Jahrhunderts Kristallisationspunkte, um die sich sowohl die progressive Naturschutzbewegung dieser Zeit wie später die Technokratiebewegung gruppierten. Die Erhöhung der Effizienz bei gleichzeitiger Vermeidung von Verschwendung sollte sowohl soziale Probleme wie solche im Verhältnis zur natürlichen Umwelt lösen helfen. Aber auch ein gewisses Misstrauen gegen die Unternehmen der privaten Wirtschaft war hier spürbar. Als der Taylor-Schüler Morris L. Cooke 1909 eine Konferenz zu Fragen der Luftverschmutzung anregte, appellierte er an den »public service«, weil nur dieser die Technik zum Wohle der Gesellschaft einzusetzen vermag, während die »corporations« eine eigennützige, Natur und Mensch unterwerfende Expansionspolitik betrieben. Wie auch in Europa waren in den USA die kriegswirtschaftlichen Maßnahmen ein mächtiger Antrieb für planwirtschaftlich orientierte Gesellschaftskonzeptionen. Erstmals wurde damit die realisierbare Möglichkeit einer zentral koordinierten und nach »rationalen« Methoden ablaufenden Versorgungswirtschaft ins Werk gesetzt, wenn auch von einem Staat, der keineswegs damit zum Vorläufer sozialistischer Gesellschaften werden wollte. Für das Beispiel der mitteleuropäischen Staaten hat Otto Neurath den kriegswirtschaftlichen Impuls für eine bessere, das heißt nichtmarktwirtschaftlich dominierte Gesellschaftsform zu nutzen versucht. Bei dem österreichischen Nationalökonomen und späteren prominenten Mitglied des »Wiener Kreises« findet sich eine Gesellschaftskonzeption, die durchaus mit der der amerikanischen Technokraten vergleichbar ist. Auch für Neurath ist die Kriegswirtschaft ein wichtiger Angelpunkt seines gesellschaftsreformerischen Denkens. Sie bestärkt ihn in der Ablehnung der »Geldwirtschaft«, die er durch eine »Naturalwirtschaft« zu ersetzen wünscht. Auch spricht er sich für eine innige Verbindung von Wirtschaft und Technik aus, wobei er den Umfang des Begriffs Technik so ausdehnt, dass auch »die bewußte Gestaltung der menschlichen Gesellschaft« darunter fällt und in diesem Falle kann man von einer »Gesellschaftstechnik sprechen, zu der dann auch die Wirtschaft zählt.« (Neurath 1919: 221). In typischer Weise wird auch bei Neurath die Volkswirtschaft als riesiger Betrieb angesehen, in dem die historische Entwicklung von

retained efficiency as a social panacea, but moved the locus of its pursuit from the factory shop floor to the corporate boardroom, with benefits extending to all of society.« 34

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Maschinentechnik über die Arbeitstechnik und Betriebstechnik zur Gesellschaftstechnik verläuft. Die alten Utopisten standen für ihn auf dem Boden einer früheren Stufe der Technik, sie konstruierten die Gesellschaftsordnungen in der Weise, »wie dilettantische Erfinder unsystematische Maschinen konstruierten. Ein Plato, ein Campanella, ein Thomas Morus sind in gewissem Sinne Vorläufer jener Gesellschaftstechniker, welche uns eine nicht allzu ferne Zukunft schenken wird.« (Neurath 1919: 223). Noch aber mangelt es den Sozialingenieuren an gewissen notwendigen Werkzeugen, die es ihnen erlauben, eine umfassende Gesellschaftsplanung ohne Geldrechnung durchzuführen. Es ist die im Rahmen der administrativen Ökonomie notwendige Naturalrechnungszentrale, die als große statistische Maschine alle notwendigen Daten zu liefern hat, auf die Neurath seine Zukunftshoffnungen stützt. Dafür aber ist die Gesellschaft noch zu wenig reif, weil zu wenig technizistisch. »Warum entwerfen wir nicht schon längst einen Plan der Pläne? Weil wir nicht technisch denken.« Hier erinnert Neurath an einen Techniker, nämlich an Popper-Lynkeus, der den Versuch unternahm, »eine Gesamtwirtschaft im Rohen durchzurechnen.« Und er betont den Wert dieser Unternehmung, auch wenn Popper-Lynkeus, anders als Otto Neurath, vom Sozialismus nichts wissen wollte. »Die Bedeutung dieses Versuches Poppers, eine aturalrechnung der Wirtschaft ungestört von jeder Geldbetrachtung zu entwerfen, ist völlig unabhängig von der Richtigkeit seiner sonstigen Anschauungen über Wirtschaft und Lebensordnung, ebenso von der Durchführbarkeit seiner Reformvorschläge.« (Neurath 1919: 226). Für die USA galt der 1917 gegründete »War Industries Board« als beispielgebend für eine ökonomische Planung unter der Anleitung von Ingenieuren, die zwar nicht entscheidungsbefugt waren, aber doch ihre technizistischen Idealvorstellungen von Ökonomie zumindest in den Grundzügen verwirklicht sahen. Davon war zum Beispiel auch der Taylor-Schüler und Maschinenbauingenieur Henry L. Gantt beeinflusst, der später zu einem wichtigen Exponenten der Technokratiebewegung wurde. Radikaler als die anderen Ingenieure gründete er bereits 1917 eine Organisation namens »New Machine«, die ungeachtet ihres kurzen Bestehens als direkter Vorläufer späterer technokratischer Organisationen angesehen werden kann. Neben den ausgesprochen autoritären und anti-demokratischen politischen Ideen, die Gantt vertrat, war es seine Opposition zu den »financiers«, zur über Geld und damit über wirtschaftlichen Einfluss verfügenden Klasse, die das Bild der Technokraten so deutlich prägte. In ihrer gesamten Geschichte und über alle politischen Modifikationen hinweg, blieb der Gegensatz zur monetären Marktwirtschaft bestimmend. Hierin fand die Technokratiebewegung 35

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Unterstützung bei einem dissidenten Ökonomen namens Thorstein Veblen. Insbesondere sein 1921 erschienenes Buch The Engineers and the Price System wurde zu einem »Manifest der Technokraten« (Gisela Klein), vor allem durch das letzte Kapitel dieses Buches: A Memorandum on a Practicabel Soviet of Technicians. Was Veblen für die Technokraten so attraktiv machte, ist sowohl seine Kritik an der kapitalistischen Marktwirtschaft, die er unter den Begriff »Preissystem« fasste, und seine Vorstellung nur durch die Herrschaft der Produzenten, der Ingenieure, könne eine tatsächlich effizient funktionierende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung errichtet werden. Die Retter der Gesellschaft standen also schon bereit, noch sind sie allerdings gleichsam von den »vested interests« gefesselt. »But these specialists in technological knowledge, abilities, interest, and experience, who have increasingly come into the case in this way – inventors, designers, chemists, mineralogists, soil experts, crop specialists, production managers and engineers of many kinds and denominations – have continued to be employees of the captains of industry, that is to say, of the captains of finance, whose work it has been to commercialize the knowledge and abilities of the industrial experts and turn them to account for their own gain. It is perhaps unnecessary to add the axiomatic corollary that the captains have always turned the technologists and their knowledge to account in this way only so far as would serve their own commercial profit, not to the extent of their ability; or to the limit set by the material circumstances; or by the needs of the community.« (Veblen 1990: 77). Daraus ergibt sich für Veblen die klare Forderung die Gesellschaft nicht vom Pol des Geldes her, sondern von dem der tatsächlichen Arbeit zu strukturieren. »The material welfare of the community is unreservedly bound up with the due working of this industrial system, and therefore with its unreserved control by the engineers, who alone are competent to manage it. To do their work as it should be done these men of the industrial general staff must have a free hand, unhampered by commercial considerations and reservations; [...]« (Veblen 1990: 83). Und ohne, dass sich Veblen der Illusion einer baldigen Umwälzung in den USA hingegeben hätte, er hält die Angst der »vested interests« vor einer kommunistischen Revolution für unbegründet, so weiß er doch, wer eine neue Gesellschaft zu lenken hätte. »On provocation there might come a flare of riotous disorder; but it would come to nothing, however substantial the provocation might be, so long as the movement does not fall in with those main lines of management which the state of the industrial system requires in order to insure any sustained success. These main lines of revolutionary strategy are lines of technical organization 36

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and industrial management; essentially lines of industrial engineering; such as will fit the organization to take care of the highly technical industrial system that constitutes the indispensable material foundation of any modern civilized community.« (Veblen 1990: 103f ). Von der russischen Revolution beeindruckt, schien ihm die Lösung ein Rat der Ingenieure, eben ein »soviet of technicians« zu sein. Die Technokratie-Bewegung erreichte in den USA erst in der Krise von 1929 einige Bedeutung, wurde aber bald vom »New Deal« Präsident Roosevelts aufgesogen und neutralisiert. Ein ähnliches Schicksal erlitt das deutsche Pendant. Heinrich Hardensetts einflussreiche Dissertation Der kapitalistische und der technische Mensch wurde von so exponierten Vertretern der politischen Rechten wie Werner Sombart und Othmar Spann gewürdigt. Gerade in dieser Zeit schwenkte die Standesvertretung der Deutschen Ingenieure, der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) ins totalitäre Lager über und drückte auf »wissenschaftlichen Tagungen« seine Missbilligung des demokratischen Pluralismus aus. Diese Entwicklung war alles andere als zufällig. Es ist nicht untypisch, dass Gottfried Feder, Diplomingenieur, Autor des nationalsozialistischen Wirtschaftsprogramms und seit 1918 Propagator der Losung »Brechung der Zinsknechtschaft«, versuchte mit Hilfe der deutschen Technokraten Karriere im NS-Staat zu machen. In seiner Person verband sich ein tiefes Ressentiment gegen das Geld, in Anspielung auf die lange abendländische Debatte über den Wucher, die nicht frei von antisemitischen Untertönen war, mit einer ingenieurmäßigen Lenkung des Wirtschaftsgefüges. Seine Unterscheidung zwischen dem »schaffenden« Industriekapital und dem »raffenden« Finanzkapital sicherte ihm in aller Einfalt die Sympathie der ähnlich denkenden Ingenieure. Federn scheiterte allerdings in allen Belangen, weder konnte er seine wirtschaftspolitischen Ideen durchsetzen, noch war er mit der Technokratenbewegung erfolgreich.

P r o d u k t i ve s P r o g r a m m i e r e n Die Arbeit des Ingenieurs ist geistige Arbeit, da sie sich idealerweise in der Konstruktion von Artefakten erschöpft. Mit dem Aufkommen der elektronischen Rechenmaschinen eröffnete sich eigenartigerweise eine Spannung zu jenem Teil an notwendigen Arbeiten, die nicht mehr mit den Maschinenkonstruktionen selbst beschäftigt sind, sondern deren spezielles Funktionieren abdecken (um so etwas umständlich den Bereich der software von dem der hardware zu unterscheiden). Während man ohne größere Schwierigkeiten daran denken kann, den Prozess der 37

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Herstellung der Rechenmaschinen zu industrialisieren, ist dies im Bereich der Programmierung nicht so leicht möglich. Die Software-Krise ist so alt wie die Software selbst. Klagen darüber, dass Software nicht zeitgerecht, nicht ohne Budgetüberschreitung, in akzeptabler Qualität und Verfügbarkeit produziert wird, gibt es seit langem. Nach Ensmenger und Aspray ist die Software-Krise eine Krise der Programmier-Arbeit.7 Mit anderen Worten und in obiger Perspektive, diese Arbeit hat ein gegenüber dem Kapital widerspenstiges Element in sich. Sie ist nicht so ohne weiteres von der spezifischen Qualität der Arbeitenden zu lösen, womit diesen eine relative Position der Stärke zukommt. Es ist, wie wenn im industriellen Produktionsprozess der Werkstätte, genauer: bestimmten Handwerker-Künstlern, entscheidendes Gewicht zufiele. Wie immer, so spielt auch hier Ideologie mit, das heißt die Perspektive der Sprecherposition. Da in der entsprechenden Literatur der Standpunkt der Unternehmer und des ihm verpflichteten Managements dominiert, weiß man wenig über die tatsächlichen Arbeitsprozesse und über die Erfahrungen der Software-Entwickler8. Was sich scheinbar leichter beschreiben ließ, waren die gewünschten Qualifikationen und die Menge der erforderlichen Arbeitskräfte, die darüber verfügen. Schon 1962 warnte man vor einem drohenden Mangel an entsprechend ausgebildetem Personal. Bis dahin wurde allgemein mathematisches Wissen als wesentliche Komponente des Programmierens angesehen. Wie schon in der Ingenieursausbildung des 19. Jahrhunderts erlangten daher akademische Institutionen ein Ausbildungsübergewicht. Schon in den 1950er Jahren ging man in den USA von einem deutlichen Mangel an akademisch ausgebildeten Mathematikern aus, der sich in der Folge, so wurde prophezeit, eher verschlimmern als beheben lassen würde. Große militärische Projekte der US-amerikanischen Regierung, vor allem das SAGE (Semi-Automatic Ground Environment) Luftverteidigungssystem (vgl. Redmond/Smith 2000), zogen den Hauptbestand der Arbeitskräfte an sich. Im Rahmen solcher Projekte gingen die beteiligten Firmen, wie SDC (System Developing Corporation) oder IBM, dazu über, die Arbeitskräfte selbst auszubilden. Als der Markt für kommerzielle Rechner in den 1960er Jahren expandierte, stieg der Bedarf an erfahrenen Programmierern rasant. Das trieb die Löhne in die

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Ensmenger/Aspray 2002. Der folgende Teil stützt sich im wesentlichen auf diesen Text. Eine gewisse Ausnahme macht Zachary (1996). Letztendlich laufen seine Darstellungen aber doch auf eine Heroengeschichte des NT-Entwicklers Cutler hinaus.

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Höhe. Die Programmierer zählten zu den wahrscheinlich am besten bezahlten technischen Berufen. Es stellte sich rasch heraus, dass bestimmte Programmierer wesentlich effektiver arbeiteten als andere. Eine frühe IBM-Studie schätzte einen erfahrenen Programmierer als zehnmal effizienter ein als einen eher durchschnittlichen Kollegen. Die fundamentale Frage der Firmen lautete also nicht, »wo kann ich einen Programmierer finden?«, sondern »wo kann ich einen herausragenden Programmierer finden?« Das wiederum führte zur Frage, was genau einen herausragenden Programmierer auszeichnet. Die einfache Antwort, dass ein guter Mathematiker auch ein guter Programmierer sein würde, stellte sich als nicht generell richtig heraus. Die universitären Computerausbildungsprogramme (formale Logik und numerische Analyse) entfernten sich mehr und mehr von dem steigenden kommerziellen Bedarf. Wie der Autor einer 1959 veröffentlichten Studie Business Experience with Electronic Computing feststellte, neigten die mathematisch ausgebildeten Programmierer dazu die komplexen Probleme des Geschäftslebens zu unterschätzen und viele ihrer Lösungen waren unzulässige Vereinfachungen. Die meisten der universitären Computer-Zentren waren in den Ingenieurs-Abteilungen situiert und entsprechend mehr maschinenorientiert oder sie funktionierten als Service-Büros für traditionelle akademische Abteilungen. Diese Service-Abteilungen orientierten sich allgemein an wissenschaftlichen Anwendungen, üblicherweise mit Verwendung von Programmiersprachen wie FORTRAN. Die Spannung zwischen den theoretisch orientierten akademischen Computerspezialisten und den praktischen Erfordernissen der Industrie verschlimmerte den empfundenen Mangel an erfahrenen Business-Programmierern. In den 1960er Jahren entstanden private Schulen, die allerdings als profitorientierte Unternehmen mehr an Quantität als an Qualität interessiert waren. Erneut entstand die Frage nach den besonderen Qualitäten der Programmierarbeit: ist sie eine angeborene Fähigkeit oder kann sie erworben werden? In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren war es nicht ungewöhnlich, die Tätigkeit der Programmierer mehr als Kunst denn als Wissenschaft zu beschreiben. Man kam damit wieder jener seit Sokrates und den Sophisten das Abendland beunruhigenden Frage nach dem Status des Wissens nahe. Als bloß technisches ist es lehrbar und somit mit Geld zu erwerben, nämlich indem der Lehrer bezahlt wird. Hat das (wahre) Wissen aber einen anderen Status, dann geht es in dieser (sophistischen) Sphäre nicht auf, womit ein Problem entsteht. Klar ist, dass kapitalistische Unternehmen an der Technifizierung dieses für sie wichtigen Wissens interessiert waren. Was sie wollten, war eine Art Standard-Test. Industrie-Psychologen entwickelten 1955 39

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den IBM Programmer Aptitude Test (PAT), der für viele Jahre de facto Industriestandard war. Es handelte sich dabei jedoch um eine recht primitive Filter-Methode. Getestet wurden Fähigkeiten und Charakteristiken die für Angestellten-Arbeit typisch sind: Fähigkeit des logischen Denkens, unter Druck zu arbeiten, mit Menschen auszukommen, gutes Gedächtnis, den Wunsch ein Problem zum Abschluss zu bringen, Aufmerksamkeit für Details. Das einzig überraschende Ergebnis war, dass gute mathematische Kenntnisse nicht in signifikanter Beziehung zur Leistung als Programmierer stehen. 1996 stellte schließlich ein Projektmanager nach mehr als 20 Jahren Erfahrung fest, dass exzellente Programmierer geboren und nicht gemacht werden. Kurz gesagt, es ließen sich keine zuverlässigen Standards für gutes Programmieren angeben. Damit entzog sich diese Arbeit in gewisser Weise aller Kontrolle, was als Problem fehlender Disziplin wahrgenommen wurde. So sprach Herb Grosch 1966 von den Programmierern als einer »Cosa Nostra«. Umgekehrt hatten die fehlenden Standards auch den Effekt, dass sich beliebig ausgebildete Personen zum Computer-Experten erklären konnten. Wie auch immer, die Softwarespezialisten gewannen nie effektive Kontrolle über ihren eigenen Berufsstand. Sowohl Ausbildung wie Arbeitserfahrung differierten dramatisch von Individuum zu Individuum und von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. So gab es zum Beispiel einen tiefen Graben zwischen den Systemprogrammierern, die das Biest zähmen mussten, dass die Computerkonstrukteure gebaut hatten und den Anwendungsprogrammierern, welche das gezähmte Biest dazu bringen mussten Leistung für Anwender zu erbringen. Es war möglich, dass zwei Programmierer nebeneinander saßen, vom selben data processing manager geleitet, vom selben Personalchef angeheuert und an völlig verschiedenen Typen von Projekten arbeiteten, die wiederum völlig getrennte Kenntnisse und Erfahrung verlangten. In den 1950er Jahren waren viele Programmierer Migranten von anderen mehr traditionellen wissenschaftlichen oder Ingenieursdisziplinen. Der Charakter der Programmierarbeit änderte sich jedoch und wurde spezialisierter und unterschiedlicher. Eine Hierarchie entstand. Die breiter ausgebildeten »Systemanalytiker« wollten sich von den technisch eingeschränkteren »Kodierern« und Lochkartenoperatoren unterscheiden. Die Programmierer saßen irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Systemanalyse wurde als abstrakte Form des Problemlösens beschrieben und weniger als Programmieren und war dementsprechend von größerer Anwendungsbreite. Die Nähe zum Operations Research machte sie auch dem Management vertrauter. Erfahrene Software-Entwickler waren vielen Verwertungszwängen ihrer Arbeitskraft enthoben, da ihnen der Arbeitsmarkt viele Möglich40

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keiten bot. Damit spielte die Qualität der Arbeit eine relativ große Rolle und die Entlohnung eine entsprechend nebensächliche. Eine Studie über Berufszufriedenheit von 1971 zeigte, dass die Mehrzahl der Programmierer die psychologischen Vorteile ihrer Arbeit – Selbstentwicklung, Anerkennung, Verantwortlichkeit – mehr schätzten als die Entlohnung. Dagegen, wenig verwunderlich, lehnten sie eine strikte Steuerung und Kontrolle ihrer Arbeit ab. Da die Lohnkosten der Programmierer einen sehr hohen Anteil an den Gesamtinvestitionen einer Computer-Installation in den Betrieben ausmachten, gerieten sie in ihrer beanspruchten Eigenständigkeit schnell ins Feuer der kommerziellen Kritik. Sie erwarben sich den Ruf nachlässig, unprofessionell und schwierig im Umgang zu sein. In der Zeit des Übergangs war es nur allzu natürlich, dass das Regime der »alten« Männer, die in den großen Firmen meist die Häuptlingspositionen einnahmen, aber über nahezu keine Kenntnisse dieser neuen Techniken verfügten, sich über die Arroganz und Ungeduld dieser »Künstler« beklagten. Die empfohlenen Lösungen für die Software-Krise unterschiedenen sich nicht sehr von denen des wissenschaftlichen Managements von Frederick W. Taylor: mittels einer »Verwissenschaftlichung« der Arbeitsvorgänge, sollten diese dem Arbeiter nicht mehr überlassen, sondern detailliert vorgeschrieben werden. Es ist bekannt, dass Taylor von den intellektuellen Fähigkeiten der Arbeiter nicht viel hielt und sie »effektiver« zu machen versuchte, indem er sie gleichsam als Maschinenteile betrachtete. Die angestrebte »Routinisierung der Arbeitsvorgänge« kann leicht als Disziplinierung verstanden werden, das heißt als Versuch von Unternehmern und Management, völlige Kontrolle über den Arbeitsprozess zu gewinnen. Die NATO Konferenzen 1968 zum Thema Software-Engineering stellten den Versuch dar, das Programmieren traditionellen industriellen Rationalisierungsgrundsätzen zu unterwerfen. Erhofft wurde eine »software industrial revolution«, die mittels automatischem Programmieren die Programmierer so weit wie möglich durch Maschinen ersetzen sollte9 und damit eine Art ManagerIdeal der gesteuerten Fließband-Software Entwicklung verwirklichen sollte. Die vom Verteidigungsministerium der USA geförderte Programmsprache ADA wurde als Mittel gefeiert, das idiosynkratische künstlerische Ethos, das so lange das Programmschreiben dominiert hatte, durch ein effizienteres, kosteneffektives und ingenieurhaftes Verfahren zu ersetzen.

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Schon Marx hatte ja angemerkt, dass, wann immer die Arbeiter dem Kapital lästig werden, versucht werde, sie durch neue Maschinen zu ersetzen. 41

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Produkti ves Altern. Au f dem Weg z um Alterskraftunternehmer? STEPHAN LESSENICH

I could be handy, mending a fuse when your lights have gone You can knit a sweater by the fireside Sunday mornings go for a ride Doing the garden, digging the weeds Who could ask for more Will you still need me, will you still feed me When I’m sixty-four Lennon / McCartney 1967

»Who could ask for more«?: Gesellschaftliche B i l d e r d e s p r o d u k t i ve n Al t e r n s Vor nunmehr 40 Jahren schrieben John Lennon und Paul McCartney, die mittlerweile beide – 1940 bzw. 1942 geboren – das (zukünftige bzw. bisherige) gesetzliche Rentenzugangsalter erreicht hätten bzw. haben, mit »When I’m sixty-four« nicht nur ein Lied über die Liebe und ihre Zeit(en), sondern zugleich auch eine musikalische Hymne auf den verdienten Ruhestand. Beide damals noch unverbrauchte Mittzwanziger, malten sie sich das Alter als eine Zeit der entspannten und unbeschwerten Zweisamkeit aus. Das im Text imaginierte hochaltrige Paar begegnet uns als eines, das, von Erwartungen und Ansprüchen Dritter unbelastet, in vollen Zügen die Vorzüge eines erwerbsbefreiten Lebens genießt: Er ist Gelegenheitsheimwerker, sie widmet sich der Handarbeit, beide be45

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treiben gemeinsam Gartenarbeit, wenn sie nicht auf ihrem sonntäglichen Ausritt (mit Pferd oder Drahtesel) sind. »Who could ask for more?«: Wer könnte vom Alter mehr wollen, fragen die beiden romantisierenden Pilzköpfe sich und ihre Generation der nachkriegssozialisierten Wirtschaftswunder-Twens ebenso treuherzig wie rhetorisch – denn angesichts der beschworenen alltäglichen Altersidylle konnte die unausgesprochene Antwort wohl nur lauten: niemand. »Who could ask for more?« Nun: Die Zeiten, sie haben sich seit dem Erscheinen von »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band« im Frühjahr 1967 geändert – und mit ihnen die gesellschaftlichen Erwartungen und Ansprüche an das Alter und das Altern. Das Lennon/McCartney-Bild vom Alter als Zeit des unaufgeregten und (gegebenenfalls partnerschaftlich) selbstbestimmten Ruhestandes ist im wahrsten Sinne des Wortes »von gestern«. Heute wird – diese These gilt es hier zu vertreten und zu plausibilisieren – von »den Alten« mehr gewollt als nur die rentenbewehrte, selbstgenügsame Heimarbeit. Heute ist von ihnen durchaus mehr gefragt als bloße Expertise in Sachen Freizeitgestaltung und -genuss. Vielmehr wird das Alter derzeit als eine Lebensphase »entdeckt«, die sich für eine zeitliche Verlängerung und inhaltliche Ausweitung produktiven Tätigseins anbietet, ja geradezu aufdrängt. Denn »die Alten« werden nicht nur »immer älter«, sondern in gewisser Weise auch »immer jünger«: Ihre gesunde, leistungsfähige und somit potenziell aktive, aber erwerbsfreie Lebenszeit weitet sich zunehmend aus – und gerät ins Blickfeld gesellschaftlicher Begehrlichkeiten. Mit Erreichen des Rentenalters versiegt die menschliche Schaffenskraft keineswegs quasi-automatisch – Sir Paul McCartney, der seinen im erwerbswirtschaftlichen »prime age« von 40 Jahren ermordeten Koautor glücklicherweise überlebt hat, mag das beste Beispiel dafür sein: Im Mai 2007 hat der Brite sein fünfundzwanzigstes Album seit Auflösung der Beatles veröffentlicht und verbringt die zweite Jahreshälfte – als 65-Jähriger – auf großer Tournee durch die Vereinigten Staaten, Japan, Australien und Europa. Warum sollten also nicht auch »Normalsterbliche« in ihrem »dritten Lebensalter« weiterhin aktiv sein – und sich, wenn auch nicht unbedingt mit musikalischen Weltbeglückungsaktionen, sondern je nach ihren Möglich- und Fähigkeiten, als sozial produktiv erweisen? Der folgende Beitrag geht dem neuen – oder vorsichtiger formuliert: veränderten – gesellschaftlichen Blick auf das Alter(n) in diskurskritischer Perspektive nach. Dabei werden zunächst die Hintergründe aktueller Bilder des »produktiven Alters« skizziert: der sich in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften abzeichnende demographische Wandel und der mit dessen gesellschaftlich-politischer Wahrnehmung in Verbindung stehende Umbau des Sozialstaats. Sodann werden – in eher 46

PRODUKTIVES ALTERN

unsystematischer Weise – einige Bausteine des gegenwärtigen Altersdiskurses in Wissenschaft und Politik präsentiert, die deutlich machen, wie »das Alter« zunehmend zum Objekt gesellschaftlicher Produktivitätsanrufungen gerät. Dass dieser Objektstatus des Alters allerdings in paradoxaler Weise mit Bemühungen zu dessen Subjektivierung einhergeht, soll in einem dritten und letzten Schritt erläutert werden.

Demographischer Wandel und »aktivierender« Sozialstaat Das Faktum der fortschreitenden Alterung – und zukünftig wohl auch Schrumpfung – der Bevölkerung ist seit einigen Jahren zu einem zentralen Thema in der politischen Öffentlichkeit praktisch aller OECDStaaten geworden. Auch wenn man von den häufig üblichen Überdramatisierungen der zu erwartenden soziodemographischen Entwicklung absieht (vgl. dazu Ebert/Kistler 2007), ergibt sich dem interessierten Beobachter doch das Bild zukünftig bedeutsamer Verschiebungen in der Altersstruktur der spätindustriellen Gesellschaften. Einige diesbezügliche Strukturdaten, deren öffentliche Wahrnehmung den Hintergrund der politischen »Entdeckung« des »produktiven Alters« (vgl. Dyk 2007) 1 bildet, seien im Folgenden kurz zusammengetragen. Bei allen berechtigten Vorbehalten gegenüber allzu forsch vorgetragenen langfristigen Bevölkerungs- und daraus abgeleiteten Belastungsprognosen ist doch unumstritten, dass der Anteil der älteren Menschen und insbesondere jener der Hochaltrigen an der Gesamtbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten deutlich ansteigen wird. Auf die 15 Mitgliedsstaaten der EU vor deren Osterweiterung bezogen, wird sich der Bevölkerungsanteil der Personen über 65 Jahren von 15,4 Prozent im Jahr 1995 auf – so die Basisvariante der Bevölkerungsvorausschätzung von Eurostat – 27,5 Prozent im Jahr 2050 beinahe verdoppeln. Deutschland und Österreich liegen hier mit erwarteten 27,7 bzw. 26,4 Prozent Altenanteil zur Jahrhundertwende knapp über bzw. unter 2 dem europäischen Durchschnitt. Vor allen Dingen die Hochaltrigen – 1

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Die nachfolgenden Daten zur demographischen Alterung sind der Homepage des Europäischen Statistikamtes http://epp.eurostat.ec.europa.eu (22.11.2007), sowie dem Standardwerk von Schimany 2003 (hier: 143153 u. 275-281) entnommen. Die aktuellsten Zahlen für das Jahr 2005 weisen einstweilen noch deutlich höhere Werte für den derzeitigen europäischen Spitzenreiter Deutschland (18,6%) im Vergleich zu Österreich (16,0%) aus; diese Differenz soll sich den Berechnungen entsprechend im Zuge der nächsten Jahrzehnte allerdings verringern. Den geringsten Wert unter den EU-15 wies 2005 mit 47

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das sind Personen im Alter von über 80 Jahren – werden sich in dieser Zeit »vermehren«: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der europäischen Gesellschaften wird sich vermutlich von 3,9 Prozent auf 10,0 Pro3 zent (Deutschland 10,4 Prozent, Österreich 9,8 Prozent) erhöhen. Die als »Altersabhängigkeitsverhältnis« oder »Alterslastquotient« bezeichnete rechnerische Relation zwischen den »ökonomisch inaktiven« über 65-Jährigen und den Personen im erwerbsfähigen Alter (24-65) wird sich entsprechend spürbar verschlechtern und im EU-Durchschnitt von 24,3 Prozent im Jahr 2000 auf voraussichtlich 53,2 Prozent 2050 (Deutschland 55,8 Prozent, Österreich 53,2 Prozent) ansteigen. Auf einen Altersrentner werden dann also – grob gesagt – statt derzeit vier nur noch 4 zwei potenzielle Erwerbstätige kommen. Dieser Trend ist, neben den anhaltend niedrigen Geburtenraten in den meisten europäischen Gesellschaften, insbesondere der steigenden Lebenserwartung in den entwickelten Industrienationen geschuldet. Die Lebenserwartung bei Geburt lag 2005 für deutsche und österreichische Männer bei 76,7 Jahren, für die Frauen bei 82,0 (bzw. 82,3) Jahren; sie dürfte sich bis zum Jahr 2050 bei den dann geborenen Männern auf min5 destens 79 Jahre, bei den Frauen auf etwa 85 Jahre erhöht haben. Von größerer Relevanz als diese Zahlen sind allerdings die Daten zur so genannten »ferneren Lebenserwartung« alter Menschen, die ausweisen, dass deren Sterblichkeit sinkt und weiterhin sinken wird. Hatten 60jährige deutsche (österreichische) Männer im Jahr 1960 eine Lebenserwartung von weiteren 15,5 (15,0) Jahren, so konnten sich Männer dieses Alters im Jahr 2005 auf eine weitere Lebenszeit von 20,7 (20,8) Jahren einstellen; selbst die bereits 65-Jährigen hatten 2005 mit 16,9 (17,0) Jahren statistisch eine gegenüber den 60-Jährigen der 1960er Jahre erhöhte fernere Lebenserwartung. Dasselbe gilt für deutsche und österreichische Frauen: Diese können als heute 60- bzw. 65-Jährige mit einer

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11,2% Irland auf – das Land, das im Jahr 2050 den Prognosen zufolge noch vor Spanien und Italien den in dieser Gruppe höchsten Anteil älterer Bewohner (34,3%) haben wird. Gegenüber dem Jahr 1960 würde sich dieser Wert dann versiebenfacht haben. Bezeichnend für die – im nächsten Abschnitt zu untersuchende – öffentlich-politsche Rede über den demographischen Wandel ist, dass die entsprechenden Daten zum Altersstrukturwandel beim Europäischen Statistikamt unter der Rubrik »Überalterung der Gesellschaft« geführt werden. Dies sind Berechnungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1999. Die Ende 2006 veröffentlichte 11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes geht demgegenüber für den deutschen Fall bereits von deutlich höheren Werten – 83,5 Jahre für Männer und 88,0 Jahre für Frauen – aus (vgl. Ebert/Kistler 2007: 44).

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weiteren Lebenszeit von knapp 25 bzw. gut 20 Jahren rechnen – ein Wert, der sich Prognosen zufolge bis zum Jahr 2040 für die 65-Jährigen weiter auf mindestens 23 Jahre erhöhen soll. Damit steigen aber – ceteris paribus – auch die Rentenbezugszeiten von Männern und insbesondere von Frauen, die tendenziell – und insbesondere in den kontinentaleuropäischen Staaten – früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden und länger leben als ihre männlichen Zeitgenossen (vgl. Ebbinghaus 2006: 87-114). Soziologischen Beobachtern des Gesellschaftsgeschehens galten Phänomene demographischen Wandels »immer schon« gleichermaßen als Effekt und Motor von Prozessen gesellschaftlicher Modernisierung und Mobilisierung. Für Emile Durkheim beispielsweise war das rasante Wachstum der Bevölkerung seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Triebkraft der fortschreitenden industriegesellschaftlichen Arbeitsteilung, deren produktivitätssteigernde Wirkungen wiederum eine weitere Zunahme von Bevölkerungs-»Volumen« und -»Dichte« gesellschaftlich praktikabel werden ließen. Heute erweisen sich der skizzierte Altersstrukturwandel und die prognostizierte Schrumpfung der Bevölkerung der hochindustrialisierten Gesellschaften ihrerseits als Ausdruck und Auslöser von sozialen Mobilisierungsprozessen: als Folge der auf Autonomie zentrierten, individualisierten Lebensführungsmuster der wohlfahrtsstaatlichen Moderne – und als Ausgangspunkt einer sozialpolitischen Bewegung zur »Aktivierung« der neu entstehenden Sozialkategorie der »jungen Alten«. Diese Bewegung, deren diskursive Rahmung und soziologische Deutung Gegenstand der weiteren Ausführungen dieses Beitrages sind, ist Teil einer breiteren Tendenz zur »aktivierenden« politischen Intervention in gesellschaftliche Verhältnisse, die seit nunmehr einem guten Jahrzehnt die soziale Staatstätigkeit in den westeuropäischen Gesellschaften bestimmt. Die Philosophie der »Aktivierung« zielt auf eine grundlegende Umorientierung sozialpolitischen Handelns von einer kon6 sumentenzentrierten auf eine produktionsorientierte Perspektive. In einem nicht mehr vorrangig verteilenden und versorgenden, sondern primär gewährleistenden und befähigenden Sozialstaat soll an die Stelle des bloß passiven Leistungsbezugs die aktive Einbeziehung der Adressaten in die Leistungserbringung treten. Der sozialpolitische Übergang vom Alimentationsprinzip zum Investitionsgedanken wird dabei wahlweise kapital- oder vermögenstheoretisch gerahmt: Öffentliche Mittel sollen vornehmlich in den Aufbau von Humankapital oder – breiter ge-

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Zur analytischen Unterscheidung dieser beiden Herangehensweisen vgl. Kaufmann 2005. 49

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fasst – Humanvermögen fließen, womit neben dem individuellen Nutzen des Leistungsempfängers insbesondere auch ein kollektiver Zusatznutzen produziert werden kann. Individuelle Wohlfahrt ist in dieser Perspektive »weniger eine Funktion des verfügbaren Einkommens als der verfügbaren Kompetenzen zur Mobilisierung von Ressourcen« (Kaufmann 2005: 236), die wiederum in dem Maße der kollektiven Wohlfahrt zugute kommen, wie sie der Einzelne, auch dank entsprechender sozialpolitischer Programme, »in den gesamtgesellschaftlichen Leistungszusammenhang ein[zu]bringen [vermag]« (ebd.). Im Blickpunkt der sozialpolitischen Aktivierungsprogrammatik stand zunächst vor allem die »Kommodifizierung« erwerbsfähiger Nicht-Erwerbstätiger, sprich die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt einerseits von Empfängern von Arbeitslosenversicherungs- oder Sozialhilfeleistungen, andererseits von Personengruppen mit vergleichsweise geringer Erwerbsbeteiligung. Bill Clintons »Welfare to Work«-Programmatik in den USA, der »New Deal« für Arbeitslose in Tony Blairs Großbritannien oder das von Gerhard Schröder verantwortete »Hartz IV«Projekt in Deutschland stehen für die internationalen Versuche, arbeitsloses Einkommen (»welfare«) durch den mehr oder weniger sanften Druck zur Wiederaufnahme einer Beschäftigung (»workfare«) zu ersetzen (vgl. Lødemel/Trickey 2001). Die auf EU-Ebene initiierte »Europäische Beschäftigungsstrategie« zielt darüber hinaus auf die Ausweitung des Arbeitsangebots von bislang in überdurchschnittlichem Maße nicht – oder nicht mehr – erwerbstätigen Bevölkerungsgruppen, namentlich von Frauen und älteren Menschen. Letztere wiederum geraten nicht nur – in Umkehrung der vorherigen Frühverrentungsprogrammatik – als potenzielle Erwerbspersonen in den Blick, sondern auch in ihren produktiven Potenzialen jenseits der Erwerbsarbeit. Das gleichfalls von der Europäischen Union ausgerufene Politikkonzept des »Active Ageing« (s.u.) steht für den Übergriff der Aktivierungsphilosophie auch auf die Nacherwerbsphase. Was in diesem Konzept aufscheint, ist eine Umorientierung der Alters- und Altenpolitik, der die Vorstellung vom »verdienten Ruhestand« nicht länger als programmatisches Leitbild dient. Die konsumzentrierte Perspektive, wonach die Rente – in den Worten eines vormaligen deutschen Bundessozialministers – »Alterslohn für Lebensleistung« darstellt, also einen durch (früher hätte man leichthin gesagt: »lebenslange«) Erwerbstätigkeit wohlerworbenen Anspruch auf den nicht weiter begründungspflichtigen Genuss von lebensstandardsichernden Rentenzahlungen im Alter, wird zunehmend überlagert und tendenziell abgelöst durch eine produktionsorientierte Sichtweise. Diese konstruiert den Altersrentenbezug als eine Fortsetzung der Erwerbsarbeit mit anderen 50

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Mitteln, als eine biographische Phase, die eine Zeit produktiver Tätigkeit, oder genauer: eine Zeit der selbsttätigen (Wieder-)Eingliederung von Altersressourcen in den »gesamtgesellschaftlichen Leistungszusammenhang« (Kaufmann) sein kann und werden soll. In begrifflicher Anlehnung an das arbeitssoziologische Konzept des »Arbeitskraftunternehmers« (Voß/Pongratz 1998) als neuartige Form der Vergesellschaftung menschlichen Arbeitsvermögens lässt sich hier vom Altersbild des »Alterskraftunternehmers« sprechen. Nicht nur der instrumentelle Aspekt der Vergesellschaftung der spezifischen Leistungspotenziale auch älterer Menschen lässt diese terminologische Parallelisierung plausibel erscheinen. Auch das subjektivierende Moment dieses Vergesellschaftungsimpulses – das der Sozialfigur des »Arbeitskraftunternehmers« eingeschriebene Handlungsmotiv der Selbstkontrolle in der Arbeit, der Selbstökonomisierung der Arbeitskraft und der Selbstrationalisierung der Lebensführung – findet sich im gesellschaftlichen Leitbild des »Alterskraftunternehmers« wieder: Auch der (und die) »junge Alte« sollen zu »Unternehmern ihrer selbst« (vgl. Bröckling 2007), ihrer offenkundigen – oder aber nur verborgenen und zu aktivierenden – produktiven Potenziale werden. Meint jedenfalls der hierzulande in jüngerer Zeit geführte Altersdiskurs, den es im Folgenden mit einigen Schlaglichtern zu beleuchten gilt.

» Ak t i v e s « u n d » p r o d u k t i ve s Al t e r ( n ) « als Diskursphänomen Die »Entdeckung« der »jungen Alten« als ein soziales Phänomen, das die dominierende Defizitdeutung des Alters dementiert, hat im wissenschaftlichen Diskurs schon vor längerer Zeit stattgefunden. Ausgehend von der bereits in den 1960er Jahren entwickelten sozialgerontologischen »Aktivitätstheorie« (Tartler 1961) und vermittelt über das sozialpsychologische Konzept des »kompetenten Alterns« (Baltes/Baltes 1989) hat sich in der sozialwissenschaftlichen Altersforschung zunehmend das Bild »der Alten« als gesunde, gebildete und (also) leistungsfähige Mitbürger(innen) sowie des »dritten Lebensalters« (Laslett 1995) als eine Zeit fortgesetzter produktiver, gesellschaftlich wertschaffender 7 Tätigkeit (vgl. Tews 1996) etabliert. Im politischen und medialen Diskurs ist dieses neue Bild des Alter(n)s zwar erst in jüngster Zeit angekommen – dafür allerdings umso begieriger aufgenommen worden. In den verschiedensten Lebens- und Handlungsbereichen werden die – ak7

Vgl. zu dieser Entwicklung ausführlich Dyk 2007. 51

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tuelle und insbesondere potenzielle – Produktivität des Alters und die wirtschaftliche Bedeutsamkeit und soziale Nützlichkeit nacherwerblicher Aktivität betont. Von der Bildung (»lebenslanges Lernen«) bis zur Gesundheit (der eigentlichen Heimstatt der Rede vom »active ageing«), vom Umgang mit dem eigenen Körper (»anti-ageing«) bis zu den Gewohnheiten des Konsums (»silver market«), von den sozialen Beziehungen im Familienkontext und im engeren sozialen Umfeld (»Generationensolidarität«) bis hin zur Rolle im zivilgesellschaftlichen Alltagsgeschehen (»Bürgerschaftliches Engagement«): Stets kommt der bzw. die Alte als produktiver Faktor in den Blick, als Aktivist(in) der Sorge um sich selbst – und um die anderen. Die folgenden Diskursbausteine sollen einen ersten Eindruck von dem Tenor dieser neuartigen Anrufung der Alten als gesellschaftliche Produktivkraft vermitteln, wobei zunächst ungeklärt bleiben muss, ob die Adressaten jener Anrufung tatsächlich die gegenwärtig im – besten – »dritten Lebensalter« stehenden Bürger und Bürgerinnen sind oder nicht doch eher schon – gewissermaßen prophylaktisch – die geburtenstarken Kohorten der »Babyboomer-Generation«, die zwar nicht jetzt, aber in nicht mehr allzu ferner Zukunft die kollektive Statuspassage in den Ruhe- oder eben in den Unruhestand 8 vollziehen werden. Auf diese offene Frage wird abschließend zurückzukommen sein. Ein erster wichtiger Stichwortgeber für den neuen öffentlich-politischen Diskurs zum »aktiven« und »produktiven« Alter ist der britische Soziologe Anthony Giddens gewesen. Einer der einflussreichsten und prominentesten wissenschaftlichen Berater von Tony Blairs »New Labour«, hat Giddens in seiner 1998 erschienenen programmatischen Schrift »The Third Way. The Renewal of Social Democracy« ein sozialpolitisches Reformkonzept von »positive welfare« ersonnen, das auch einen Richtungswechsel in der Alters- bzw. Altenpolitik vorsieht. Die bloße Auszahlung von Altersrenten stellt demnach einen Paradefall von »welfare dependency« dar – einen Ausweis von Sozialstaatsabhängigkeit, die durch die Aktivierung der Passivierten gebrochen werden muss. In Giddens’ Gegenentwurf »positiver Wohlfahrt« finden sich bereits alle wesentlichen Versatzstücke des forthin um sich greifenden neuen Altersbildes: zum einen die Vorstellung von der Offenheit, Gestaltbarkeit und »Plastizität« des Alters; zum anderen die Thematisierung der Ressourcen des Alters als gesellschaftliche Produktivitätsreserve; schließlich die rhetorische Umkehrung sozialer Verantwortungsverhält8

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Zur »produktiven Unruhe« – bzw. Beunruhigung – der bereits an der Schwelle zum Rentenalter stehenden »Babyboomer« in den USA (die dort die geburtenstarken Jahrgänge ab 1946 umfassen und damit eine halbe Generation älter sind als in Europa) vgl. Vieregger 2007.

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nisse zu Lasten der Alten und der Appell an deren – eben gesellschaftlich verantwortliche – Selbststeuerung. »Ageing used to be more passive than it is now: the ageing body was simply something that had to be accepted. In the more active, reflexive society, ageing has become much more of an open process, on a physical as well as a psychic level. Becoming older presents at least as many opportunities as problems, both for individuals and for the wider social community. […] We should move towards abolishing the fixed age of retirement, and we should regard older people as a resource rather than a problem. [...] old age shouldn’t be seen as a time of rights without responsibilities […] and older people should see themselves as in the service of future generations.« (Giddens 1998: 119)

Was hier im Modus des Sollens und des Fremdappells an die Alten (als »die Anderen«) gehalten ist, kommt bei der – durch die zu jener Zeit verbreitete Regierungspräsenz der europäischen Sozialdemokratie maßgeblich mit beeinflussten – Ausrufung von »Aktivem Altern« zum »New Paradigm in Ageing Policy« durch die Europäische Kommission als Ist-Aussage und im alternsgemeinschaftlichen Wir-Stil daher: »Active ageing is about adjusting our life practices to the fact that we live longer and are more resourceful and in better health than ever before, and about seizing the opportunities offered by these improvements. In practice it means adopting healthy life styles, working longer, retiring later and being active after retirement.«9

Im deutschen Kontext scheint es hier instruktiv zu sein, mit Meinhard Miegel einen wichtigen Akteur der öffentlichen Alters- und insbesondere Rentendebatte zu Wort kommen zu lassen, bei dem die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Analyse, Politikberatung und Inter10 essenvertretung vor den Augen des Beobachters noch nachhaltiger verschwimmen als dies bei Giddens Ende der 1990er Jahre der Fall war. Miegel plädiert in seinem sozialstaatskritischen Manifest »Die deformierte Gesellschaft« aus dem Jahre 2002 für eine konsequente Entstaatlichung der sozialen Sicherung und eine »Rückübertragung sozialer Funktionen auf den Einzelnen und die Gesellschaft«, weil die Aus9

http://ec.europa.eu/employment_social/soc-prot/ageing/news/paradigm_en .htm (22.11.2007) Ähnlich auch »Towards a Europe for All Ages. Promoting Prosperity and Intergenerational Solidarity«, COM (1999) 221 final, 21.5.1999, S. 21, unter: http://ec.europa.eu/employment_social/socprot/ageing/com99-221/com221_en.pdf, 22.11. 2007. 10 Miegel ist seit Jahrzehnten unverhohlener Lobbyist der privaten Versicherungswirtschaft. 53

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weitung öffentlicher Sozialleistungsgarantien Menschen – Stichwort »welfare dependency« – »zu bloßen Empfängern von Sozialleistungen« degradiert und »die Gesellschaft in Aktive und Passive gespalten« habe (Miegel 2003: 264). Eben diese Spaltung jedoch suche der aktivierende Sozialstaat zu überwinden – und zwar mit Blick auf alle Adressaten- und Altersgruppen gleichermaßen: »Von außergewöhnlichen Fällen abgesehen, muss jeder, der Leistungen empfängt, auch Leistungen erbringen. Das gilt nicht nur für erwerbsfähige Empfänger von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sondern auch für Nichterwerbsfähige, Alleinerziehende und ähnliche Personengruppen. Auch sie können auf unterschiedliche Weise dem Gemeinwesen nützlich sein […]. Ebenso muss das Rentnerdasein nicht bedeuten, dass nur die Hand aufgehalten und gelegentlich – sofern vorhanden – nach dem Enkelkind geschaut wird. Bei einer zeitgemäßen Alterssicherung [gemeint ist die von Miegel seit Langem geforderte Reduktion der gesetzlichen Altersrente auf eine Grundsicherung, S.L.] gibt es keine Nicht-mehr-Aktiven. Alle bleiben am aktiven Leben beteiligt. Sie ändern nur ihre Beteiligungsform.« (Miegel 2003: 264-265)

Schon klar: Wo das Niveau der öffentlichen Alterssicherung zur Lebensstandarderhaltung nicht mehr reicht, ist – in den Worten der EU-Kommission – »working longer, retiring later and being active after retirement« angesagt. Aktivität kann man also nicht nur heraufbeschwören und diskursiv einfordern, sondern auch herbeiführen und regulativ erzwingen. Ist dies für die Betroffenen eine eher bedingt positive Aussicht, so weiß die sozialgerontologische Forschung ihnen eindeutig Gutes zu berichten. Kurz vor seinem Tod Ende 2006 hat Paul B. Baltes, über Jahrzehnte zentrale Figur der psychologischen Altersforschung, die frohe Gerontologenbotschaft nochmals einem breiteren Publikum verkündet: »Es gibt viele gute wissenschaftliche Nachrichten über das Dritte Alter. Im Vordergrund steht das große Entwicklungspotenzial, also die Tatsache, dass es aufgrund gesellschaftlichen Fortschritts und persönlichen Engagements möglich ist, sein Altwerden besser zu gestalten. Plastizität ist der vorherrschende Denkstil.« (Baltes 2007: 16)11

11 Wie im Zeitalter des aktiven Alters nicht anders zu erwarten, heißt es in dem Nachruf des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Baltes’ langjähriger Wirkungsstätte: »Paul B. Baltes ist am 7. November 2006 im Alter von 67 Jahren in Berlin verstorben. Er hat mit Elan und zunächst gutem Erfolg eine Krebserkrankung bekämpft. Selbst vom Krankenbett aus blieb er aktiv, redigierte Texte und führte Telefongespräche. Nachdem sich sein Zustand so verschlechtert hatte, dass ihm dies nicht mehr mög54

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Doch auch hier hat das Gute zugleich eine andere Seite: Wer hat – und sich auch im hohen Alter noch entwickeln kann –, der kann auch geben. Hans-Peter Tews, ebenfalls einer der wichtigsten Repräsentanten des alternswissenschaftlichen Feldes, bringt es auf den Punkt: »Ist dies so, dann haben sich auch die Potentiale zur Verpflichtung und zu neuen Wiederverpflichtungen erhöht. […] Von den kompetenter gewordenen Alten kann man ja schließlich doch erwarten, dass sie ihre Kompetenzen auch einsetzen.« (Tews 1994: 56)

Und Ursula Lehr, Psychogerontologin und ehemalige Bundesseniorenministerin, sekundiert ihm – nicht ohne, im vertraut-vergemeinschaftenden Modus des selbstappellativen »Wir«, die altersbezogene Aktivierungsagenda auf die gesamte Lebensspanne auszudehnen: »Dass wir älter werden, daran können wir nichts ändern. Aber wie wir älter werden, das lässt sich schon beeinflussen! […] Altern ist ein lebenslanger Prozess. Wie wir uns als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener verhalten, das beeinflusst unseren Alternsprozess im Seniorenalter. Jeder Einzelne hat alles zu tun, um möglichst gesund und kompetent alt zu werden. Damit erhöht er nicht nur seine eigene Lebensqualität im Alter, sondern auch die seiner Angehörigen, seiner Familie – und spart letztendlich der Gesellschaft Kosten.« (Lehr 2003: 5; Hervorhebungen im Original.)

Hier finden wir, in der lebenslangen Sorge um die eigene Gesundheit und Kompetenz, individuellen und kollektiven Nutzen auf das Schönste vereint – wobei das Glück von Angehörigen und Familie, keine kranken und inkompetenten Alten betreuen zu müssen, und der in entgangenen Kosten gemessene Nutzen der Allgemeinheit aus dieser Perspektive insgesamt durchaus schwerer wiegen dürften als die gestiegene Lebenszufriedenheit individueller Alter. Dass eben dieses Missverhältnis umso stärker zu Tage tritt, je mehr wir uns von der Wissenschaft bzw. wissenschaftlichen Politikberatung auf das Feld der Politik selbst bewegen, ist da wenig überraschend. Eine wissenschaftlich und politisch hochrangig besetzte, von der (im bundesdeutschen gesellschaftspolitischen Diskurs, nicht nur auf diesem Feld, allgegenwärtigen) Bertelsmann-Stiftung eingesetzte Expertenkommission zum Thema »Ziele in der Altenpolitik« gibt in ihren im vergangenen Jahr veröffentlichten und passender Weise »Alter neu denken« lich war, traf er die klare, nachdrückliche Entscheidung, weitere Diagnostik und Therapie abzubrechen. Er starb friedvoll zu Hause.« Vgl.: http:// www.mpib-berlin.mpg.de/de/aktuelles/nachruf_pbb.html, 22.11.2007. 55

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überschriebenen Empfehlungen den Tenor der gegenwärtigen Debatte vor bzw. wieder: »In den gesellschaftlichen Altersbildern wird den möglichen Stärken und Potenzialen des Alters nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen. […] Das Alter neu zu denken wird von der Kommission als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe aufgefasst. Entsprechend sollen mit den vorliegenden Empfehlungen auch interessierte Menschen im höheren Erwachsenenalter und Alter angesprochen werden, die ihr eigenes Altern in verantwortlicher Weise gestalten möchten.« (Bertelsmann Stiftung 2006: 4)

Das Alter neu zu denken als eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe« aufzufassen heißt hier: es ist die Aufgabe jedes und jeder Einzelnen. Der alte bzw. der alternde Mensch (und von Ursula Lehr wissen wir, dass das Alter(n) schon in der Kindheit anfängt) wird hier, als »interessierter« Zeitgenosse, als Produzent oder jedenfalls Koproduzent seiner Aktivierung »angesprochen«, wobei Aktivität unvermittelt für Verantwortlichkeit steht: Wer sein Altern – erneut steht hier der gesellschaftliche Kollektivnutzen individuellen Tuns im Vordergrund – »in verantwortlicher Weise gestalten möchte«, der und die ist bzw. wird aktiv, macht mit, bewegt sich, interessiert sich, informiert sich, lässt sich informieren, lässt sich bewegen, lässt sich aktivieren – und zwar eben dazu, sein bzw. ihr Altern in die Hand zu nehmen und in verantwortlicher Weise zu gestalten. Die Idee einer solchen, »gesamtgesellschaftlichen« Gestalttherapie durchdringt durchweg die alterspolitischen Verlautbarungen und Positionierungen der deutschen Bundesregierung: die frohe Botschaft der Alternswissenschaften ist in der Politik angekommen. Schon der offizielle Auftrag der Bundesregierung an die Expertenkommission ihres Fünften Altenberichts, der unter den Titel »Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft« gestellt wurde, ließ keinen Zweifel an Ziel und Zweck der Expertise aufkommen: »Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung sowie dem [sic] verbreiteten frühzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben hat sich eine neue Lebensphase ausgebildet, in der die Menschen weitgehend von Verpflichtungen in Beruf und Familie frei sind, weiterhin aber leistungsfähig und leistungsbereit bleiben. Dieser Lebensabschnitt sollte nicht nur individuell, sondern auch für die Gesellschaft genutzt werden. Das Know-how, die Kompetenz und die Lebenserfahrung Älterer dürfen weder in der Wirtschaft noch in der Gesellschaft weiter ungenutzt bleiben.« (BMFSFJ 2004: 2)

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Neben der Tatsache, dass hier schon vorab – ungeprüft – nicht nur die Leistungsfähigkeit, sondern auch die (im Sinne der »Erfinder« des »aktiven Alterns«) Leistungsbereitschaft älterer Menschen – und zwar aller – unterstellt wird, tritt hier das Präskriptive der Aussage besonders in den Vordergrund: Die Produktivitätspotenziale der Alten sollten, ja dürfen wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht unausgeschöpft bleiben. Dies ist seither die quasi-offizielle Sprachregelung des zuständigen Ministeriums. So dekretierte die damalige SPD-Ministerin Renate Schmidt anlässlich der Vorabpräsentation des – inhaltlich dann über12 raschungsfreien – Fünften Altenberichts im Mai 2005 öffentlich: »Ältere Menschen verfügen über Potenziale, sie haben Fachwissen, sie haben berufliche Erfahrung. Und sie haben dank ihres Alters auch mehr Lebenserfahrung als die Jüngeren. Auf diese Ressourcen dürfen wir nicht länger verzichten.« (BMFSFJ 2005; vgl. FAZ 2005)

Und Ursula von der Leyen, die amtierende Nachfolgerin von der anderen großen Volkspartei CDU, brachte die alterspolitische Aufgabe – nicht nur des Tages – vor Kurzem anlässlich eines internationalen Kongresses zum Thema »Demographischer Wandel als Chance« erneut auf den Punkt: »Wir müssen das aktive, produktive und innovative Alter entdecken.« (BMFSFJ 2007; vgl. FAZ 2007)

Komisch eigentlich: Als wäre genau dies nicht schon längst geschehen.

» Ak t i v i e r u n g « a l s g e s e l l s c h a f t l i c h e N e u ve r h a n d l u n g d e s Al t e r s Vielleicht meint »entdecken« ja aber aus Sicht der Bundesseniorenministerin auch: nicht mehr nur darüber reden. Denn zunächst jedenfalls scheint das »aktive, produktive und innovative Alter« vor allen Dingen – in welch manisch-beschwörender Weise auch immer – ein Diskursphänomen zu sein. Als solches sollte man es gleichwohl ernst nehmen und seine gesellschaftspolitische Bedeutung nicht unterschätzen – im Gegenteil. Es geht eben offensichtlich nicht wenigen Akteuren des 12 Der »Fünfte Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland« lässt sich einschließlich der zugehörigen wissenschaftlichen Expertisen unter: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/ Kategorien/Service/themen-lotse,did=78114.html (22.11.2007) einsehen. 57

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wissenschaftlichen und politischen Lebens darum, das Alter »neu zu 13 denken« bzw. gesellschaftlich neu denken zu lassen , und zwar im Doppelsinne: Es ist demnach eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe – die Aufgabe aller und damit jedes Einzelnen – das Alter »sozial« zu denken, d.h. im Sinne des gemeinen Wohls – des Wohles aller und damit jedes Einzelnen. Diese neue gesellschaftliche Rahmung des Alters, ihre Eigenarten und ihre Implikationen, sollen im Folgenden einer ersten, vorläufigen soziologischen Analyse unterzogen werden (vgl. Kondratowitz 1998; Barkholdt 2004). Fünf Momente des alterspolitischen Aktivierungsdiskurses scheinen mir in diesem Sinne von besonderer Relevanz zu sein – und zwar im Wesentlichen unter dem Gesichtspunkt, dass sie zwar in dem hier interessierenden Kontext altersspezifisch verhandelt werden, jedoch allesamt allgemeine Charakteristika der breiteren sozialpolitischen Aktivierungsprogrammatik darstellen. An erster Stelle ist hier der generelle aktivierungspolitische Vorrang des kollektiven Nutzens gegenüber dem individuellen Nutzen zu nennen: Es geht, in einer quasi-utilitaristischen Wendung des »Altersdenkens«, um den größten Nutzen der Allgemeinheit. Zwischen ihr und den Einzelnen werden zweitens – im übertragenen, (zunächst jedenfalls) nicht privatrechtlichen, sondern sozialmoralischen Sinne – neue gesellschaftliche »Schuldverhältnisse« etabliert: Nicht »die Gesellschaft« schuldet dem Einzelnen Schutz und Unterstützung, sondern umgekehrt ist es das Individuum, das eine soziale Verantwortung dem »großen Ganzen« gegenüber trägt (vgl. Lessenich 2003b, 2003c). Damit in engem Zusammenhang steht drittens die diskursive Betonung des Verpflichtungscharakters der Aktivierungsagenda: Durch all die zuvor referierten Redewendungen, von Giddens’ »older people should see themselves« bis zu Tews’ »von den Alten kann man ja schließlich doch erwarten«, von Ursula Lehrs »jeder einzelne hat alles zu tun« über Renate Schmidts »wir dürfen auf diese Ressourcen nicht länger verzichten« bis zu Ursula von der Leyens »wir müssen das aktive Alter entdecken«, zieht sich der Geist der Responsibilisierung, des verpflichtenden Verweises der Individuen auf eine »verantwortliche« Lebensführung. Mit dieser sozialen Verantwortungsrhetorik ruft das gesellschaftsgemeinschaftliche »Wir« – viertens – die (hier: alten bzw. alternden) Subjekte zugleich zur Eigenverantwortung: Das »erfolgreiche«, »kompetente«, »produktive« und also gesellschaftlich nutzbringende Altern wird in das Verantwortungsbewusstsein der Subjekte ge13 Die am 17. Juli 2007 von der Bundesministerin berufene Sachverständigenkommission zur Erarbeitung des Sechsten Altenberichts der Bundesregierung wird sich denn auch nicht zufällig mit dem Thema »Altersbilder in der Gesellschaft« beschäftigen. 58

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legt, wird zum Gegenstand verpflichtender und sozial verpflichteter Selbstführung erhoben und damit in die Subjekte selbst hinein verlagert, sprich: subjektiviert (vgl. Lessenich 2003a). Die »Alten« werden damit fünftens – früher oder später, bei Ursula Lehr bereits von Kindesbeinen an – zu Koproduzenten und in letzter Konsequenz zu den alleinigen Produzenten ihrer selbst als »Aktivbürger/innen« stilisiert, die sich aus sozialem Eigenantrieb ein Leben lang um eine sozial verantwortliche, d.h. aktive und produktive, Lebensführung bemühen, ja bemühen wollen, und für die gesellschaftlich definierte »Inaktivität« und »Unproduktivität« zum Ausweis persönlichen Versagens und Scheiterns wird, ja – in der programmatischen Logik gedacht – werden muss. Die gesellschaftliche »Entdeckung« des aktiven und produktiven Alters fügt sich damit ein in eine Lebenslagen und Altersphasen über14 greifende Transformation und »Neuerfindung des Sozialen«. Dass dieser gesellschaftliche Transformationsprozess hochgradig ambivalent und widersprüchlich, ja nicht selten paradoxaler Natur ist, scheint mir außer Zweifel zu stehen. Ich möchte meine soziologische Analyse des »produktiven Alterns« mit einem kursorischen Verweis auf diese Ambivalenzen, Widersprüche und Paradoxien der altersbezogenen Aktivierungsprogrammatik beschließen. Erneut sind es fünf Punkte, die diesbezüglich bemerkenswert erscheinen. Erstens ist, schon in Anbetracht der hier wiedergegebenen Zitate, auffällig, dass das einerseits als »natürlich« und wesenhaft unterstellte »aktive Alter« – die alten Menschen sind biologisch leistungsfähig und konstitutionell leistungsbereit – andererseits offenbar doch erst durch politische Intervention und Wissensproduktion als ein solches hergestellt werden muss: Die Aktivierungsprogrammatik muss ihre Adressaten als zugleich (potenziell) Aktive und (noch) Nicht-Aktive darstellen und ihnen zunächst – und im Zweifel kontrafaktisch – »die Passivität unterstellen, die sie dann zu überwinden verspricht« (Kocyba 2004: 21). Zweitens, und das hängt damit zusammen, ist die aktivgesellschaftliche Mobilisierungsbewegung prinzipiell unabschließbar und behält damit immer ihren zukunftsoffenen Projektcharakter: »aktiv« ist man nie genug bzw., altersbezogen gedacht, nie früh und lange genug (vgl. Dean 1995; Bröckling 2007). Drittens erscheint das im hier untersuchten Diskurs transportierte Lebensführungsmodell »produktives Alter« und dessen (intendierte) gesellschaftliche Normalisierung, sozialstrukturanalytisch betrachtet, als ein Produkt (und Projekt) der Mittelschichten: Das Bild des erfüllten, weil aktiven, des erfolgreichen, weil produktiven, und des wertvollen, weil nützlichen Alterns entspringt der Lebenswelt der 14 Vgl. dazu demnächst ausführlich Lessenich 2008. 59

STEPHAN LESSENICH 15 (im Zweifelsfall akademisch) gebildeten bürgerlichen Milieus. Diese »gutbürgerlich«-produktivistische »Kolonialisierung der Lebenswelt« der Alten ist viertens beredter Ausdruck einer gesellschaftlichen NichtAkzeptanz des Alters als eigenständiger Lebensphase, die sich den Bewertungs- und Relevanzkriterien der Arbeitsgesellschaft entzieht bzw. entziehen könnte. Vielmehr wird sie im aktivgesellschaftlichen Kontext an Vorstellungen, Ansprüchen und Erwartungen gemessen, die aus der Welt der Erwerbstätigkeit in die des Altseins verlängert und transponiert werden. Fünftens schließlich – und damit zusammenhängend – bewirkt die aktivgesellschaftliche Deutung des »dritten« in der Umkehrbewegung die (weitergehende) Entwertung und Delegitimierung des »vierten Lebensalters«, also jener Lebensphase, die tatsächlich durch irreversible »Passivität« und Abhängigkeit gekennzeichnet ist: Wie in anderen gesellschaftlichen Lebensbereichen auch gerät in Zeiten des Aktivitätskults und Produktivitätsdrucks das – und sei es »unverschuldet« und »unwillentlich« – inaktive und unproduktive Alter unter verstärkten Rechtfertigungszwang, sowohl was seine soziale Unterstützung wie auch was das bloße Faktum der »Nicht-Beteiligung« angeht. Denn, so haben wir gelernt, im Zeitalter der Aktivgesellschaft »gibt es keine Nicht-mehrAktiven« (Miegel), oder genauer: es darf sie nicht geben.

Fazit Was lernen wir – ganz akut – darüber hinaus? Zumindest wohl die Lektion, dass in einer Gesellschaft, in der die Zahl und der Anteil der Alten und Hochaltrigen zunimmt und vorerst beständig weiter zunehmen wird, die gesellschaftlichen Ansprüche an die Produktivität, Mobilität und letztlich Rentabilität des Alters dahin tendieren sich zu radikalisieren. Das Diskursphänomen des »produktiven Alter(n)s« ist, so will es scheinen, repräsentativ für die gegenwärtig in den spätindustriellen »Wissensgesellschaften« sich vollziehende – und zutiefst widersprüchliche – politische Konstitution des flexiblen Kapitalismus als gesellschaftliches

15 Nicht zufällig wird – von Paul Baltes bis Renate Schmidt – zum Vorbild des politisch imaginierten produktiven Alten der Pianist Arthur Rubinstein erhoben, von dem die – natürlich »wahre« – Geschichte erzählt wird, er habe im Alter von 71 Jahren den Entschluss gefasst, das komplette Klavierwerk Frédéric Chopins auf Schallplatte zu bannen; die Gesamtaufnahme nahm 9 Jahre in Anspruch. Da kann sich die Unterschicht eine Scheibe von abschneiden. 60

PRODUKTIVES ALTERN

Reproduktionssystem der als Investitionssubjekte gedachten Jungen und 16 Mobilen (vgl. Lessenich 2006). In dieser Situation müsste eine gesellschaftspolitische Gegenbewegung dahin gehen, das Alter gegen seine mobilisierten Verächter zu verteidigen, das Verständnis »produktiver« Tätigkeit – im Alter wie davor – zu individualisieren, die nach je individuellen Maßstäben zu beurteilende Erfülltheit des Alters zum Bezugspunkt sozialpolitischen Handelns zu machen und den Wert der Alten nicht nach Rentabilitätskriterien zu bemessen. Dass all dies aber in der Tat Zukunftsmusik ist, zeigt ein kürzlich in der britischen »Financial Times« erschienener Beitrag des Kolumnisten John Gapper, der die gesellschaftliche Parteinahme für die Nicht-(mehr-)Aktiven in keinem guten Licht erscheinen lässt. Ebenfalls mit dem Beatles-Titel »When I’m 64« spielend, kommt er am Ende seiner lobenden Kommentierung des (späten) Abschieds der entwickelten Wohlfahrtsstaaten von der alten Praxis der Frühverrentung zu dem Schluss, dass die spätindustriellen Gesellschaften zukünftig weder willens noch in der Lage sein werden, ihren Alten eine »leistungsfreie« Alimentierung zu gewähren: »Older people will discover that no one – not themselves, nor their families, nor their countries – has enough money to let them retire at 55, or even at 64. Will you still need me? Yes. Will you still feed me? No.« (Gapper 2007) Gut, dass zumindest John Lennon – »Imagine all the people / living for today« – das nicht mehr erleben muss.

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führung im Alter; in: Gertrud M. Backes et al. (Hg.), Lebensformen und Lebensführung im Alter, Wiesbaden (VS), S. 133-149. Bertelsmann Stiftung (2006): Alter neu denken. Empfehlungen der Expertenkommission »Ziele in der Altenpolitik« zu gesellschaftlichen Altersbildern, Gütersloh (Bertelsmann Stiftung). BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2004): »Projektporträt: 5. Altenbericht«, http://www.dza.de /download/praesentation5ab.pdf, 22.11.2007. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2005): »Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Renate Schmidt, am 2. Mai 2005 in Berlin«, http://www.bmfsfj.de/Kategorien/Archiv/15-Legislaturperiode/reden ,did=28194.html, 22.11.2007. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2007): »Rede der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ursula von der Leyen, am 17. April 2007 in Berlin«, http://www.bmfsfj.bund.de/Kategorien/Presse/reden,did= 97112.html, 22.11.2007. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. (Suhrkamp). Dean, Mitchell (1995): Governing the unemployed self in an active society; in: Economy and Society 24 (4), S. 559-583. Dyk, Silke van (2007): Kompetent, aktiv, produktiv? Die Entdeckung der Alten in der Aktivgesellschaft; in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 37 (1), Heft 146, S. 93-112. Ebbinghaus, Bernhard (2006): Reforming Early Retirement in Europe, Japan and the USA, Oxford (Oxford University Press). Ebert, Andreas/Kistler, Ernst (2007): Demographie und Demagogie. Mythen und Fakten zur »demographischen Katastrophe«; in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 37 (1), Heft 146, S. 39-59. FAZ (2005): Fähigkeiten der Älteren nutzen; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.5.2005. FAZ (2007): Das innovative Alter entdecken; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.4.2007. Gapper, John (2007): There is more to life than just Vera, Chuck and Dave; in: Financial Times vom 26./27.5.2007, S. 7. Geyer, Christian (2007): Abspecken! Fit statt fett: Ein Nationaler Aktionsplan gegen die Dicken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.5.2007, S. 39. Giddens, Anthony (1998): The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge (Polity Press). 62

PRODUKTIVES ALTERN

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STEPHAN LESSENICH

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Ar be it, ges ellsc haftlic he r Stoffw echs el und nac hhaltige Entw icklung MARINA FISCHER-KOWALSKI UND ANKE SCHAFFARTZIK

Wird eine Fläche gerodet und umgepflügt, um auf ihr etwas anzubauen, oder wird im Bergbau Kohle als Energieträger gewonnen, dann fällt es nicht schwer, der Vorstellung anzuhängen, dass es physische menschliche Arbeit ist, durch die Umwelt verändert und durchaus auch beschädigt wird. Es läge auch auf der Hand, eine Proportionalität zwischen aufgebrachter Arbeitszeit und den Auswirkungen auf die Umwelt zu vermuten. Ein so direkter Zusammenhang zwischen Arbeit und Umweltveränderungen lässt sich bei der Arbeit in modernen Industriegesellschaften allerdings nicht ausmachen. Obwohl hier menschliche Arbeit eher hinter einem Schreibtisch als an einem Pflug geleistet wird, und eine Stagnation oder gar ein Rückgang von Arbeitszeit zu beobachten ist, geht die Einwirkung der Gesellschaft auf ihre Umwelt mitnichten zurück. Es stellt sich damit die Frage, wie relevant Arbeit und Arbeitszeit heute für die Umweltpolitik sind. Könnten Bemühungen zum Schutz der Umwelt eventuell bei Arbeit ansetzen und somit die Möglichkeit zur Verbindung sozialer und umweltpolitischer Fragestellungen bieten? Die Beantwortung der Frage, welche Bedeutung Arbeit in der Interaktion zwischen Gesellschaft und Umwelt hat, setzt ein grundsätzliches Verständnis dessen voraus, in welcher Beziehung Gesellschaft und Umwelt zueinander stehen, welchen Veränderungen diese Interaktion im Laufe der Zeit unterliegt und wie sich dementsprechend auch die Rolle von Arbeit verändert. Es scheint, dass sich in Anbetracht der Strukturen moderner Industriegesellschaften recht überzeugend darlegen lässt, dass 65

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weniger zu arbeiten nicht nur dem individuellen Lebensglück, sondern auch der Nachhaltigkeit ganzer Gesellschaften zuträglich wäre.

Ar b e i t , g e s e l l s c h a f t l i c h e r S t o f f w e c h s e l und Nachhaltigkeit Physische Arbeit, als für die Einwirkung einer Gesellschaft auf ihre Umwelt relevanter Prozess, lässt sich in einem Interaktionsmodell NaturKultur verorten. Dieses Modell erlaubt einerseits, gesellschaftliche Prozesse in einem kulturalen Wirkungszusammenhang und somit nach Regeln der Kommunikation funktionierend zu verstehen, und andererseits, manches Gesellschaftliche als materielle Prozesse aufzufassen, die einem naturalen Wirkungszusammenhang unterliegen und mit Hilfe naturwissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten beschreibbar sind. Weist man diesen materiellen und kulturellen Kompartimenten graphisch Sphären zu (siehe Abbildung 1), die über eine gemeinsame Schnittmenge verfügen, so liegen in dieser Schnittmenge die materiellen Elemente von Gesellschaften. Sie bestehen zumindest aus der menschlichen Bevölkerung selbst, den von ihr hergestellten und genutzten Artefakten und den Nutztieren. In dieser Schnittmenge gelten gleichzeitig die Regeln des kulturalen Wirkungszusammenhangs und jene naturaler Kausalität. Abbildung 1: Interaktionsmodell Natur – Kultur

Der materielle Teil der Gesellschaft steht mit der übrigen Natur in einem energetischen und materiellen Austausch und ist mit ihr über Erfahrung als sinnlich-physischer Eindruck und über Arbeit als handelnder Eingriff verbunden. Erfahrungen werden im kulturellen System repräsentiert, verar66

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beitet und unter anderem in Kompetenzen, Programme und Wissen darüber, wie mit Natur umgegangen werden kann bzw. soll, umgewandelt. Während sich Gesellschaft mittels Kommunikation kulturell reproduzieren kann, muss sie zur Bewerkstelligung ihrer materiellen und energetischen Reproduktion einen kontinuierlichen Austausch mit der Natur, einen Stoffwechsel, aufrecht erhalten. In diesem Stoffwechsel führt sich die Gesellschaft einerseits Energie und Rohstoffe zu, andererseits scheidet sie Abwärme, Abfälle und Emissionen aus, die wieder an die natürliche Umwelt abgegeben werden. Dieser Stoffwechsel muss einerseits die Grundbedürfnisse der Menschen abdecken, andererseits auch all das, was zur Erzeugung und Aufrechterhaltung von Nutztieren und Artefakten benötigt wird. Die Größe und Beschaffenheit dieses Stoffwechsels ist eng mit Problemen der Nachhaltigkeit einer Gesellschaft verbunden: Ressourcenübernutzung auf der Inputseite oder drastische Veränderungen der Umwelt durch Abfälle und Emissionen können die Möglichkeiten zukünftiger gesellschaftlicher Reproduktion1 dramatisch erschweren oder sogar gänzlich gefährden. Dass es menschliche Arbeit ist, die den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur bewerkstelligt, ist eine Überlegung, die bereits Marx im ersten Band des »Kapitals« (Marx 1977) anstellt. Solange allerdings der gesellschaftliche Stoffwechsel nicht viel mehr umfasst als Nahrungsbeschaffung für die Mitglieder einer Gemeinschaft, ist er vom gemeinschaftlichen Stoffwechsel sozial lebender Tiere (z.B. Wolfsrudel) nur wenig unterschieden. Es ist daher fraglich, ob hier der Begriff der »Arbeit« angebracht ist. Physikalisch gesehen erfordert es Arbeit, Nahrung zu jagen und zu sammeln, aber physikalisch erfordert es ebenso Arbeit, diese Beute zu kauen und zu verdauen (was auch einen erheblichen Anteil der mit der Nahrung aufgenommenen Energie kostet). Wir neigen zu der Auffassung, dass ein sozial-kultureller Begriff von Arbeit nicht nur voraussetzt, dass es sich um einen planvollen Vorgang handelt, sondern auch, dass er Gegenstand sozialer Verteilung (Arbeitsteilung) sein kann. Das gilt zwar sicher für das Jagen (auch bei Wölfen), nicht aber für das Verdauen.2 Quantitativ wirklich bedeutsam werden solche »planvollen Vorgänge« in einem sozialen System dann, wenn nicht nur relativ direkt der organische Stoffwechsel der einzelnen Mitglieder bedient, sondern 1

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Nach der bekannten Brundtland-Definition wird die Befriedigung gegenwärtiger Bedürfnisse dann als nachhaltig verstanden, wenn sie die Möglichkeiten künftiger Generationen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht gefährdet, vgl.: World Commission on Environment and Development 1987. Oder nur sehr eingeschränkt: manche Tiereltern zum Beispiel füttern ihre Jungen mit vorverdauter Nahrung. 67

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in die natürliche Umwelt gestaltend eingegriffen wird. Für solche gestaltenden Eingriffe mittels Arbeit in die Umwelt haben wir den Begriff der »Kolonisierung« geprägt. Beschrieben wird hiermit die Veränderung von natürlichen Systemen mit dem Ziel, bestimmte Leistungen, die sie erbringen können, für die Gesellschaft längerfristig nutzbar zu machen.3 In der Landwirtschaft beispielsweise wird permanent Arbeit eingebracht, gerodet, gepflügt und gedüngt, um das Ökosystem in einem Zustand zu halten, der es schließlich ermöglicht, zu ernten. Die ständige Bearbeitung ist insbesondere notwendig, um zu verhindern, dass sich das Feld in seinen ursprünglichen Zustand zurück verwandelt, also verkrautet, verbuscht und schließlich wieder zu Wald wird. Die Kolonisierungsarbeit prägt nicht nur die betroffenen natürlichen Systeme (im naturalen Wirkungszusammenhang), sondern auch das jeweilige sozial-kulturelle System. Eine Gesellschaft, die Reisanbau betreibt, unterscheidet sich ganz maßgeblich von einer Gesellschaft von Hirtennomaden, die von Viehzucht leben. Kolonisierende Eingriffe beziehen sich nicht nur auf biotische Systeme; auch der Bau und die Aufrechterhaltung von Atomkraftwerken zur Energiegewinnung bedeuten kolonisierende Eingriffe. Diese Eingriffe unterscheiden sich maßgeblich von denen, die zur Sicherstellung der Versorgung mit dezentraler Solarenergie notwendig wären. Das soziale System muss sich in Abhängigkeit davon, woher es seine Energie bezieht, organisieren, um die zur Sicherstellung der Dienste kolonisierter Systeme notwendigen Leistungen dauerhaft aufbringen zu können. All dies erfordert menschliche Arbeit. Die Umweltwirkung menschlicher Arbeit kann dabei verallgemeinernd als proportional zum Produkt aus Energieintensität und Umwandlungseffizienz4 aufgefasst werden. Je energetisch wirksamer die im naturalen System verrichtete menschliche Arbeit ist, desto leichter und schneller wird das System tiefgreifend verändert: je mehr Energie effektiv in die Umweltveränderung investiert wird, desto mehr Schaden kann angerichtet werden.

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Eine ausführlichere Beschreibung findet sich in: Fischer-Kowalski/Erb 2006 oder auch in: Haberl et al. 1998. Umwandlungseffizienz beschreibt hier, zu welchem Grad die aufgewendete Energie tatsächlich in Arbeit im physikalischen Sinne umgewandelt werden kann. Diese aufgewendete Energie mag nur zu einem kleinen Teil auf menschlicher Arbeitskraft beruhen und sich zum weitaus größeren Teil aus anderen Energiequellen speisen. Dies gilt bereits für Brandrodung und für die Verwendung tierischer Arbeitskraft, mehr noch für die Umsetzung fossiler Brennstoffe durch Maschinen. Ein normaler Baggerführer kontrolliert pro Zeiteinheit mehr Arbeitskraft als der Pharao Ägyptens beim Pyramidenbau mit 2000 Mann.

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Abbildung 2: Die innergesellschaftliche Koppelung von Zeit- und Geldkreisläufen

Die Umweltwirkungen von Arbeit sind jedoch nicht auf direkte Eingriffe in natürliche Systeme beschränkt. Auf dem Umweg über gesellschaftlichen Austausch kann menschliche Arbeit indirekt Umweltwirkungen erzeugen, die sich nicht aus Produktionsprozessen herleiten, sondern vielmehr als Folge von Konsumationsprozessen entstehen. In komplexeren Gesellschaften wirkt ein Wirtschaftssystem mittels Arbeit auf Natur ein, indem es z.B. Landwirtschaft, Bergbau oder andere Formen der Energie- und Ressourcen-Gewinnung betreibt und diese Ressourcen physikalisch, chemisch und zuweilen auch biologisch in Güter und Dienstleistungen einerseits, Abfälle und Emissionen andererseits umwandelt. Diese Güter und Dienstleistungen können von Personen/ Haushalten mittels Geld gekauft werden, das sie in der Regel dadurch erwerben, dass sie Arbeitszeit verkaufen. Systemisch gesehen lässt sich diesbezüglich davon sprechen, dass das Personen- und Haushaltssystem die menschliche Arbeitszeit produziert. Indem Kinder geboren und aufgezogen werden, für Ernährung, Schlaf, Regeneration, Gesundheit und Pflege gesorgt wird, wird menschliche Lebenszeit und Arbeitsvermögen 5 innerhalb des Systems der Haushalte produziert und reproduziert. Während also das Wirtschaftssystem als Maschine zur Gelderzeugung aufgefasst werden kann, handelt es sich bei den Haushalten in diesem Kontext um Zeiterzeugungsmaschinen. Dementsprechend muss Arbeit nicht nur in ihrer Funktion der physischen Einwirkung auf die Natur, sondern eben auch im wirtschaftlichen Kontext des Tausches von Zeit gegen Güter verstanden werden.

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Es kann sich dabei im Grenzfall auch um Einpersonenhaushalte handeln – zur Fortpflanzung bedarf es allerdings wenigstens vorübergehend einer zweiten Person. 69

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H i s t o r i s c h e P e r s p e k t i ve : Ar b e i t i n unterschiedlichen sozialökologischen Regimen Der Begriff des sozial-ökologischen Regimes beschreibt ein bestimmtes dynamisches Gleichgewicht der Interaktion zwischen Gesellschaft und Natur, das heißt zugleich eine bestimmte Qualität und Quantität des gesellschaftlichen Stoffwechsels (Sieferle 2000; Fischer-Kowalski/Haberl 2007). Dieses Konzept ähnelt dem Begriff der Subsistenzweisen (Smith 1776) bzw. der Produktionsweise (Marx 1983), berücksichtigt aber im Gegensatz dazu, dass sich nicht nur die Gesellschaft historisch verändert, sondern dass Gesellschaft jeweils auch die Natur verändert, und diese veränderte Natur wiederum auf die Gesellschaft zurück wirkt (Godelier 1986). Die gängige Unterscheidung in Subsistenzweisen von Jägern und Sammlern, von Agrar- und schließlich Industriegesellschaften ist auch unter dem Blickwinkel sozial-ökologischer Regimes aufschlussreich. Jäger und Sammler-Gesellschaften zeichnen sich im Hinblick auf ihren Austausch mit der Natur dadurch aus, dass sie sich nur passiv in den solaren Energietransformationsprozess einschalten, indem sie zwar Pflanzen sammeln bzw. ernten und Tiere jagen, dabei aber den Energiefluss von der Sonne in die Pflanzen nicht modifizieren. Was zuvor als Kolonisierung von Ökosystemen, also als gezielte und dauerhafte Veränderung beschrieben wurde, findet innerhalb dieses Regimes nicht 6 statt. Dadurch sind diese Gesellschaften von der gegebenen Dichte des Angebotes an Nahrung abhängig. Die Arbeit, die die Gesellschaft zur Nahrungsbeschaffung aufwenden kann, ist notwendigerweise begrenzt. Expansion von Arbeitsaufwand mit dem Ziel, natürliche Ressourcen vermehrt zu nutzen, schadet letztlich der Gesellschaft selbst. Bei unveränderten Erneuerungsraten der Nahrungsquellen führt Übernutzung dazu, dass sich die Gesellschaft ihre eigene Lebensgrundlage entzieht, zumal die Distanzen, die auf der Suche nach Nahrung zu Fuß überwunden werden können, begrenzt sind, will man nicht für ihre Überwindung mehr Energie aufwenden, als man dabei gewinnen kann. Auch die Möglichkeiten zur Lagerung von Nahrung sind bei nomadischer Lebensweise sehr begrenzt. Folglich sind keine Anreize gegeben, mehr Nahrungsmittel aus der Umwelt zu entnehmen, als unmittelbar ge6

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Eine der wenigen Formen von »Kolonisierung«, die diese Gesellschaften praktizieren, ist die Kolonisierung des menschlichen Körpers durch Tätowierung, Piercing, gezielte Veränderung von Körperteilen, Haartracht und Bekleidung. Relevanz kommt dieser Form von Kolonisierung zu, weil sie eine auch für Außenstehende sofort erkennbare Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gemeinschaft signalisiert.

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braucht werden, und darüber hinaus beugen zahlreiche Tabus Übernutzungen vor. Daher bleiben die für die bio-physische Reproduktion der Gesellschaft benötigten Arbeitszeiten recht gering. Beispielsweise haben Untersuchungen bei Jägern und Sammlern auf den Nicobareninseln ergeben, dass zur Erhaltung eines 9-Personen-Haushaltes am Tag nur 1,5 7 Stunden Arbeit aufgebracht werden mussten (Singh/Schandl 2003). Bereits eine Mischstruktur von Jagen, Sammeln und Landwirtschaft wie in Campo Bello im bolivianischen Amazonas benötigt gut das Zehnfache 8 an Arbeitszeit (Ringhofer 2007). Die geringe Arbeitszeit prägt soziale und kulturelle Strukturen, die viel mehr Zeit für nicht-instrumentelle Tätigkeiten vorsehen, wie z.B. elaborierte Formen von Kunst, Zeremonien, rituelle Kriegsführung und aufwändiges Sozialleben. Trotz der zuvor beschriebenen Begrenzung hatten auch die Aktivitäten der Jäger und Sammler negative Umweltwirkungen. Das Aussterben der Megafauna (wie z.B. des Mammuts) in Amerika wird mit der beginnenden Eroberung durch menschliche Jäger in Verbindung gebracht (Ponting 1991), ähnlich wie die Umgestaltung der Flora und Fauna großer Gebiete Australiens auf das durch Aborigines praktizierte Abbrennen des Buschgrases zurückgeführt wird (Goudsblom 1992). Diese Umweltveränderungen wurden trotz des insgesamt sehr geringen gesellschaftlichen Stoffwechsels ausschließlich durch menschliche Aktivität und die Wirkung von Feuer ausgelöst. Dass die Einwirkungen der Agrargesellschaften auf die Umwelt ein gänzlich anderes Ausmaß annehmen, ist vor allem auf das aktive Einschalten in den Energiefluss zurückzuführen: Die Transformation von Sonnenenergie in Biomasse wird auf landwirtschaftlichen Flächen gezielt zugunsten erwünschter Nutzpflanzen gesteuert. Durch Kolonisierung von terrestrischen Ökosystemen mittels Landwirtschaft kann also die Dichte des verfügbaren Nahrungsangebots direkt beeinflusst werden. Zwischen der eingebrachten Arbeit und der gewonnenen Nahrung existiert im agrargesellschaftlichen Regime ein direkter Bezug, weil eine Steigerung der Erträge je Flächeneinheit durch Arbeit möglich ist: Je mehr gejätet, bewässert, gepflügt, gedüngt, umzäunt wird, desto 7

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Der Tsunami, der diese Inseln im Jahr 2004 heimsuchte und viele Kokospalmen zerstörte, die eine wichtige ökonomische Grundlage dieser Gesellschaft darstellten, zwang viele zur Umstellung auf Landwirtschaft. Der enorme Anstieg an Arbeitszeit, der damit verbunden war, verursachte und verursacht nach wie vor erhebliche sozial-kulturelle Anpassungsprobleme. Unter Verweis auf Untersuchungen bei Jägern und Sammlern hat Sahlins sein berühmtes Buch über Leisure societies verfasst (Sahlins 1968). Unsere neueren Ergebnisse bestätigen seine – durchaus auch umstrittene – Diagnose. 71

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mehr Nahrung kann geerntet werden. Das ermöglicht eine höhere Bevölkerungsdichte (und die Entstehung von Städten, die sich vom landwirtschaftlichen Surplus ernähren können), begünstigt aber höheres Bevölkerungswachstum, da Kinder als Arbeitskräfte nachgefragt sind und bei Sesshaftigkeit leichter in kurzen Abständen geboren und aufgezogen werden können. Landwirtschaftliche Überschüsse und Sesshaftigkeit ermöglichen und erfordern neue Technologien der Speicherung von Nahrung. In die Errichtung und den Schutz von Lagerstätten für Getreide werden Energie und Material investiert, die sich im gesellschaftlichen Stoffwechsel niederschlagen. Gleichzeitig zieht diese Entwicklung eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionen in z.B. Produktion, Schutz und Verteidigung nach sich, die zur Entstehung von Klassengesellschaften beiträgt. Zusätzlich braucht das erzeugte Mehrprodukt Abnehmer, entweder in Form einer landbesitzenden Klasse, die sich Teile der landwirtschaftlichen Produktion aneignet, oder in Form von Märkten, die zur Versorgung von Städten dienen. Letztlich war dieses Mehrprodukt aber in den meisten Agrargesellschaften recht klein und machte also nur 10 bis 20 Prozent der Gesamtproduktion aus und wurde eher über Abgaben und Steuern abgeschöpft denn vermarktet: Der Großteil der Bevölkerung bestand notwendigerweise aus Bäuerinnen und Bauern. Die Entwicklung dieses Gesellschaftstyps lässt sich auf Innovationspfade zurückführen, die eine Steigerung des Ertrages pro Fläche ermöglichten. Im Kontext der wachsenden Bevölkerung war die Möglichkeit, von einer gegebenen Fläche steigenden Nahrungsbedarf decken zu können, von besonderer Wichtigkeit. Ertragssteigerungen setzten jeweils voraus, dass mehr Arbeit aufgebracht wurde, und unterlagen einer Obergrenze, die sich über die maximal verfügbare Arbeitszeit bestimmte. Die Erhöhung der Flächenproduktivität (Ertrag/ha) war verkoppelt mit einem Sinken der Arbeitsproduktivität (Ertrag je Arbeitsstunde). In Kombination mit der hohen Siedlungsdichte führte diese Entwicklung die Agrargesellschaften wiederholt in Krisen, die beispielsweise die Form von Epidemien oder Bürgerkriegen annahmen. Stark vereinfacht ausgedrückt führten diese wiederum zu einem (jedenfalls vorübergehenden) Rückgang der Bevölkerungsdichte und lösten das Krisenmoment auf. Das Bevölkerungswachstum ist jedoch nicht nur potentieller Auslöser von Konflikten in Agrargesellschaften, sondern auf Grund der ihnen eigenen Arbeitsweise gleichsam notwendig. Die Arbeit in der Landwirtschaft ist zyklisch strukturiert und wird von Jahreszeiten und Phasen höheren und niedrigeren Bedarfs an Arbeitskraft geprägt. Die

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Bevölkerungszahl bestimmt sich über die erforderliche Arbeit in den Extremzeiten, z.B. zur Ernte. Insgesamt ist die Arbeitsbelastung deutlich höher als in Jäger und Sammler-Gesellschaften. Auch etwaige Unterschiede der Agrargesellschaften untereinander bezüglich ihres Reichtums lassen sich auf die Unterschiede in der erbrachten Arbeit zurückführen. Der hohe Stellenwert der Arbeit führt dazu, dass die agrargesellschaftlichen Regimes auch unter den Bedingungen der Kolonialherrschaft weiterhin existieren konnten. Während in ihnen intensives und diszipliniertes Arbeiten im Dienste von Obrigkeiten gut eingeübt war, gingen viele Jäger und Sammler-Gesellschaften an solchen Anforderungen zugrunde (vgl. das Schicksal der nordamerikanischen Prärieindianer oder der Aborigines in Australien). Die Arbeitsintensität in den Agrargesellschaften führte direkt zu erhöhten Umweltauswirkungen. Die flächenmäßige Expansion und die fortschreitende Intensivierung der Flächennutzung war mit dem Verlust von bewaldeten Gebieten verbunden und reduzierte die Größe der Gebiete, die nicht menschlich genutzt wurden und als Wildnis brachlagen. Unter anderem führte dies zu einem Verlust an Biodiversität. Hinzu kamen Zerstörungen der eigenen Produktionsgrundlagen als Folge von Nutzung: Intensive Bewässerung beispielsweise führte zu Versalzung von Böden und schwerwiegenden Erosionserscheinungen. Die Bodenfruchtbarkeit nahm drastisch ab. All diese Umweltveränderungen des agrargesellschaftlichen Regimes lassen sich im Prinzip auf menschliche Arbeit und die Nutzung durch Tiere zurückführen (Allerdings ist es auch menschliche Arbeit, die die Umweltveränderungen in Grenzen hält, etwa der Terrassenbau zur Verminderung von Erosion oder das periodische Schwemmen von Land zur Entsalzung). Erst in der Industriegesellschaft nimmt die Einwirkung auf die Umwelt dann Dimensionen an, die nicht mehr nur von Arbeit als direkte physische Einwirkung bestimmt sind. Der im 17. Jahrhundert in England mit der Nutzung von Kohle einsetzende Prozess der Industrialisierung gewinnt im 18. und 19. Jahrhundert deutlich an Dynamik und ist zunächst mit einem Anstieg der Arbeitszeiten verbunden. Einerseits führt sich dies darauf zurück, dass die Möglichkeit entstand, zusätzlich zu den in der Landwirtschaft ohnehin schon sehr hohen Arbeitszeiten, in den saisonal bedingten Phasen geringeren Arbeitseinsatzes in der industriellen Produktion (Manufaktur) tätig zu werden. Die notwendige Kaufkraft, die es ermöglichte, das Hergestellte abzusetzen, war insbesondere durch die Entstehung und das Wachstum von Städten gegeben. Gleichzeitig führte die Vertreibung der Bäuerinnen und Bauern 73

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vom Land in die Städte, insbesondere im England des 15. bis 17. Jahrhunderts, dazu, dass überschüssige Arbeitskraft in den Städten verfügbar war (Sieferle et al. 2006). Andererseits führte der Einsatz der ersten Generation von Technologien, die von fossilen Energieträgern betrieben wurden, zu positiven Rückkopplungen zwischen der Förderung von Kohle, ihrem Einsatz in der Dampfmaschine (die vorerst einmal das Wasser aus den Kohlegruben pumpte) und später der Möglichkeit der Verhüttung von Eisen (Schandl/Krausmann 2007). Diese Entwicklungen machten menschliche Arbeitskraft nicht überflüssig, sondern verstärkten mangels fehlender feinmechanischer Maschinerie zur Übersetzung der neuen Energieformen in Verarbeitungsprozesse noch den Bedarf (Voth 1997; DeVries 1993). Sehr anschaulich lässt sich diese Entwicklung anhand des Aufkommens der Eisenbahn nachvollziehen, das nicht etwa dazu führte, dass dampfbetriebene Zugkraft die Arbeit von Menschen und Tieren ersetzte. Vielmehr kam es zu einer Erhöhung des Transportaufkommens, da wegen der Grobmaschigkeit des Eisenbahnnetzes der Bedarf an Zulieferung zu und von den Bahnhöfen in die Höhe schnellte und somit auch den Bedarf an Transporten durch Pferdewagen, also mittels menschlicher und tierischer Arbeit, ansteigen ließ. Ähnlich wurden in den Fabriken an den mit Hilfe der Dampfmaschine mechanisch angetriebenen Werkzeugen vermehrt Arbeiterinnen und Arbeiter gebraucht, um Werkstücke auszuführen. Abbildung 3: Primärenergieeinsatz und geleistete Arbeitsstunden, Großbritannien 1870-2000

ach Schandl/Schulz 2002 Während in dieser ersten Phase der Industrialisierung die Mobilisierung von Energie und Material eng mit der aufgebrachten menschlichen Arbeitszeit verknüpft ist, kommt es in der zweiten Industrialisierungs74

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phase zu einem Rückgang der Arbeitszeit bei gleichzeitig immer deutlicher zu Tage tretenden Umweltauswirkungen. Menschliche Arbeit ist nun nur noch sehr bedingt notwendig, um Energie und Material umweltwirksam bewegen zu können. Aus Daten zu Energieeinsatz und geleisteter Arbeitszeit, die für Großbritannien im Zeitraum 1870 bis 2000 gesammelt wurden, lässt sich deutlich ablesen, dass zwar zunächst ein höherer Einsatz von Energie nur möglich ist, wenn mehr Arbeit aufgebracht wird. Dass die Arbeitszeit dann deutlich zurückgeht, hindert jedoch offensichtlich den Energieeinsatz nicht daran, weiter in die Höhe zu schnellen (Abbildung 3). Ein höherer oder niedrigerer Einsatz menschlicher Arbeitszeit führt nicht zu mehr oder weniger Wirkung auf die Umwelt.

Ar b e i t , S t o f f w ec h s e l u n d N a c h h a l t i g k e i t i n modernen Industriegesellschaften Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass das Ausmaß menschlicher Arbeit in der Industriegesellschaft nicht umweltrelevant ist. Es ist in diesem sozial-ökologischen Regime vielmehr auf indirektem Wege von Bedeutung. Ausschlaggebend ist dabei, dass Arbeitszeit ein Weg ist, auf dem menschliche Lebenszeit in Geld und Kaufkraft umgewandelt wird. Diese Kaufkraft wird in Konsum umgesetzt, der wiederum den Verbrauch von Material und Energie antreibt. Es entsteht ein interessanter Effekt, der in der Fachliteratur unter rebound effect angesprochen wird (Hertwich 2005). Der technische Fortschritt ermöglicht Zugewinne an Arbeitsproduktivität, sowie an Energieund Materialeffizienz, die dazu führen, den gleichen Nutzen unter Einsatz von sinkenden Mengen an Arbeitszeit, Energie und Material zu erzeugen. Diese Effizienzgewinne werden allerdings durch das Anwachsen der Kaufkraft überkompensiert, so dass der Energie- und Materialverbrauch weiterhin steigt. (Vgl. dazu auch den Begriff des Jevons’ paradox bei: Rosa et al. 2007)

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Abbildung 4a: Energieintensität von Arbeitsstunden

Abbildung 4b: Materialintensität von Arbeitsstunden

Beide Abbildungen nach Schandl/Schulz 2002, für Großbritannien 1870-2000 Dass der Energie- und Materialverbrauch weiterhin ansteigen, während die Arbeitszeit stagniert, lässt sich anhand von Daten exemplarisch darstellen, die für Großbritannien für die Jahre 1870 bis 2000 erhoben wurden. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war der Anstieg im Primärenergieverbrauch auch mit einem Anstieg von Arbeitszeit verbunden – mehr Energie konnte nur unter Aufbringung von mehr Arbeit eingesetzt werden (Abbildung 4a). Auch der Materialeinsatz weist in diesem Zeitraum eine zur aufgebrachten Arbeitszeit proportionale Entwicklung auf (Abbildung 4b). Ab Mitte des 20. Jahrhunderts aber steigen sowohl der Primärenergie- als auch der Materialverbrauch weiterhin deutlich an, die Arbeitszeit jedoch geht zunächst zurück und stagniert dann. Aus diesen Entwicklungen lässt sich schlussfolgern, dass 76

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die Quantität menschlicher Arbeit unter modernen Bedingungen nicht mehr direkt relevant für den Energie- und Materialverbrauch einer Volkswirtschaft und für die damit verbundenen Umwelteffekte ist. Wenn die Quantität geleisteter Arbeitszeit also nunmehr nur auf indirektem Weg, über die Erhöhung von Kaufkraft, Umweltauswirkungen hat, sollten Bemühungen, die Auswirkungen zu begrenzen oder einzudämmen, diesen Sachverhalt berücksichtigen. Machen wir ein Gedankenexperiment. Angenommen wird, dass Produktivitätszuwächse nicht nur den effizienteren Einsatz von Arbeitskraft, sondern auch von Material und Energie nach sich ziehen. Würde nun die Arbeitszeit im Maße dieser Produktivitätszuwächse reduziert, blieben die Lohneinkommen (und vermutlich auch die Gewinne) auf gleichem Niveau. Folglich würde auch die Kaufkraft nicht weiter ansteigen. Daher kämen die Zuwächse an Material- und Energieeffizienz voll als Umweltentlastung zum Tragen. Ein rebound effect bliebe aus. Zur Untermauerung dieses Gedankenexperiments können Daten für Japan, die USA und die EU15 herangezogen werden. In den USA und in Europa gab es im Zeitraum von 1960 bis 1980, ausgehend von einem sehr ähnlichen Start bei knapp 2100 Jahresarbeitsstunden, einen merklichen Rückgang der Arbeitszeiten pro Beschäftigten. In Japan dagegen lässt sich erst zwischen 1980 und 2000 ein Rückgang der Arbeitszeit ausmachen. In Europa verringert sich die Arbeitszeit in diesem Zeitraum nur mehr wenig, und in den USA stagniert sie und liegt daher seit Ende der Neunzigerjahre höher als in Japan (Abbildung 5). Ganz ähnliche Tendenzen lassen sich an den Zahlen für die jährliche Arbeitszeit pro Kopf der Bevölkerung (von der Wiege bis zur Bahre) ablesen: Japan langsam von durchschnittlich 1000 Jahresarbeitsstunden auf 850 sinkend, Europa von 1960 bis 1980 sinkend und seither stagnierend, und die USA stetig steigend, ausgehend von einem Niveau, das dem heutigen europäischen entspricht, auf inzwischen fast 900 Jahresarbeitsstunden und damit Japan übertreffend (Abbildung 6).

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Abbildung 5: Jährliche Arbeitsstunden pro Beschäftigtem/r in der EU15, Japan und den USA 1960-2003

Abbildung 6: Jährliche Arbeitsstunden pro EinwohnerIn in der EU15, Japan und den USA 1960-2003

Quelle der verwendeten Daten: OECD, Groningen Database Langfristig gesehen hat sich die gesellschaftliche Entwicklung dadurch ausgezeichnet, dass der technische Fortschritt sowohl dem Einkommen, als auch der Verkürzung der Arbeitszeiten zugute kam (man erinnere sich an die Debatten zur Freizeitgesellschaft [Newman 1983] und zum 9 »Ende der Arbeitsgesellschaft« u.a. Offe 1984). Seit den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts scheint sich das geändert zu haben.

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Ausubel und Grübler (1995) haben für Großbritannien gezeigt, dass seit 1850 die Lebenszeiten für beide Geschlechter deutlich zugenommen und die Arbeitszeiten abgenommen haben. Laut ihren Daten betrug die Lebensarbeitszeit um 1850 etwa 20 Prozent der Lebenszeit, im Jahre 1920 nur mehr 13 Prozent, und 1980 dann 10 Prozent der Lebensarbeitszeit (Durchschnitt beider Geschlechter).

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Zwischen 1980 und 2000 ist in allen drei Wirtschaftsräumen ein Zuwachs an Arbeitsproduktivität von 3 Prozent jährlich zu verzeichnen, das heißt, dass sich über diese 20 Jahre hinweg die Arbeitsproduktivität nahezu verdoppelt hat. Wäre dieser Zuwachs an Arbeitsproduktivität in eine Verringerung der Arbeitszeit übersetzt worden, hätte diese rein rechnerisch halbiert werden können. Bei rund 1600 Arbeitsstunden pro Jahr und Beschäftigtem hätte die Reduktion von drei Prozent bereits im ersten Jahr 48 Arbeitsstunden weniger und somit eine zusätzliche Woche Urlaub bedeutet, bei gleichem Einkommen. Dabei hätte also kein Anstieg der Kaufkraft stattgefunden und zu zusätzlichem Energie- und Materialverbrauch geführt. Abbildung 7: Arbeitsproduktivität, Arbeitsstunden, Reallöhne/Stunde und Kapitaleinkommen

Quelle der verwendeten Daten: OECD, Groningen Database

So war es aber nicht: in der Realität wurde der erzielte Produktivitätszuwachs in Form von Gewinn- und Reallohnsteigerungen weitergegeben. In den USA fielen die Gewinnsteigerungen in dieser Zeitspanne besonders üppig aus, da wie gezeigt (Darstellung 7) die Arbeitszeiten 1980 bis 2000 sogar anstiegen, während sie in der EU stagnierten. Freilich steht die Auszahlung von Produktivitätszuwächsen in Zeit statt in Geld in Widerspruch zu einer Politik der Maximierung von Wirtschaftswachstum und dem Fokus auf internationalen Wettbewerb um die Größe des Bruttosozialprodukts. Unpopulär müsste sie aber nicht sein: Wenn man den Daten aus den USA glauben kann, zöge es eine gute Mehrheit der Beschäftigten vor, in Hinkunft über das gleiche Einkommen, aber über mehr Zeit zu verfügen (Schor 2005). 79

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Damit wird ein Zusammenhang zwischen ökologischen Anliegen – nämlich einer Verringerung von Material- und Energieverbrauch hochentwickelter Industriegesellschaften – und traditionellen sozialen Anliegen wie der Verkürzung von Arbeitszeit sichtbar. Politisch scheint die Aufmerksamkeit dafür zur Zeit allerdings nicht opportun, selbst wenn die demographische Entwicklung zunehmende Unvereinbarkeit zwischen Arbeitsleben und Kinderkriegen signalisiert und immer mehr Menschen über knappe Zeitressourcen klagen. Eine glaubwürdige Politik nachhaltiger Entwicklung müsste solche Zusammenhänge freilich berücksichtigen.

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World Commission on Environment and Development (1987): Our Common Future. The Brundtland-Report, Oxford (Oxford University Press).

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Ar be iten an Uni ve rs itäte n. Zu de n Be dingunge n der Produk tivität von Wissen PAUL KELLERMANN

Das Thema »Arbeiten an Universitäten« assoziiert geistige Tätigkeiten in einer eigenen Welt. Es lässt an Forschung, Lehre und Studium im »Elfenbeinturm« denken. Doch wie jede Arbeit findet auch geistige Tätigkeit unter kulturgeschichtlichen Bedingungen statt, hat Voraussetzungen und selbstverständlich Ergebnisse, jedenfalls Folgen. Der Rahmen erstreckt sich von der Gründung der ersten Universitäten im europäischen Mittelalter bis hin zur Hochschulpolitik der Europäischen Union im 21. Jahrhundert. Und ebenso wie jede andere Arbeit unterliegt auch die geistige Tätigkeit dabei fortlaufender Arbeitsteilung, die die Produktivität wissenschaftlicher Arbeit im Kontext von Arbeitsvermögen und Arbeitsorganisation sowie in der Auseinandersetzung mit natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten bestimmt. Worin sich Universitätsarbeit aber von sonstigen Tätigkeiten unterscheidet, ist das erwartete Produkt: persönliches und gesellschaftliches Wissen. Im Folgenden soll anhand zweier Betrachtungsweisen der Aufgaben von Universitäten erörtert werden, welchen Bedingungen die Wissensproduktion unterliegt. Die eine Perspektive lässt sich in Erinnerung dessen skizzieren, was oftmals als »Idee der Universität« tradiert wird; die andere durch die Beschreibung dessen, was seit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert vielfach als Ziel europäischer Hochschulpolitik hervorgehoben wird: nämlich Wissensentwicklung zur Steigerung der globalen Konkurrenzfähigkeit und Ausbildung zur individuellen Beschäftigungsfähigkeit (employability). Lässt sich die erste Betrachtungsweise mit der 83

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Idee »Freiheit der Wissenschaften«, so lässt sich die zweite mit dem Schlagwort »Wissen als Produktionsfaktor« charakterisieren.

T r a d i e r t e G e s c h i c h t e u n d I d e e d e r U n i ve r s i t ä t Die Universitäten haben seit ihrer Gründung im europäischen Mittelalter immer wieder Krisen und Blütezeiten erlebt. Diese Konjunkturen waren hauptsächlich durch Veränderungen der Organisationsstruktur bedingt und beeinflussten das Wirken der Universitätsmitglieder. Waren zunächst Lehre und Studium – in Juristerei, Medizin und Theologie auf philosophischer Basis – deren Aufgaben, trat zu Beginn der Aufklärung Forschung hinzu. Die Grundstruktur entwickelte sich als Einheit einander ergänzender Teile wie magistri und scholarii, Lehre und Forschung, Arbeit und Leben auf dem Campus. Die besondere Stellung der Universität kam durch Privilegien ihrer Mitglieder wie Steuerbefreiungen, Recht des Herumziehens mit Waffenbesitz, Ehrenränge bei kirchlichen Ereignissen, aber auch durch die Gewährung von Autonomie auf dem Territorium der Universität und eigener Gerichtsbarkeit zum Ausdruck, kurz: in besonderen Freiheiten (Prahl 1981: 40ff.). Weithin befreit von körperlicher Arbeit konnten sich Universitätsleute gewissermaßen in Muße (griech. scholae) mit Geistigem beschäftigen (Weber 1922: 532). Dies auf der Grundlage von Arbeitsteilung, die eine zunehmende Trennung von Reproduktionsarbeit und Innovationstätigkeit, zugleich aber auch eine immer rascher steigende Produktivität des Gesamtsystems bewirkte. Das im Studium jeweils erworbene persönliche Wissen sowie die durch theoretische und empirische Forschung rasch entstehende Wissenschaft beschleunigten durch ihre Anwendungen den Wandel der Gesellschaft, ja des Lebens allgemein. Die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts immer rascher aufeinander folgenden Reformen veränderten Ziele und Strukturen der Universitäten, was deren jeweilige Bedeutung für die Gesellschaft allgemein starken Schwankungen unterwarf. Zweifellos haben sowohl die Universitäten vor der Berliner Neugründung von 1809 wie ebenso die Universitäten, die von der Berliner Gründung beeinflusst waren, auch Berufsausbildung betrieben. Wilhelm von Humboldt selbst förderte mit seinem Erlass vom 12. Juli 1810, mit dem er das Staatsexamen für das höhere Lehramt einführte (Schelsky 1963: 207), die Tendenz zur universitären Berufsausbildung. Gleichwohl müssen zwei Umstände einschränkend berücksichtigt werden: Zum einen sind der Theologe, Mediziner und Jurist der Universitäten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts noch nicht als berufliche Spezialis84

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ten anzusehen, die sich je eigenen, von einander isolierten Fachgegenständen zuwenden. Vielmehr dürfte das gemeinsame Moment − das sowohl universelles Wissen und Interesse wie auch sittliche Lebensauffassung umfasste − viel wichtiger gewesen sein als die fachliche Tätigkeit, die zudem lediglich der Lebenssicherung zu dienen hatte. Zum anderen galt das Streben innerhalb des universitären Studiums nicht primär der Qualifizierung im Sinne der Berufsausbildung. Nach neuhumanistischidealistischer Vorstellung ging es eher um angeblich zweckfreie oder für sich selbst Zweck seiende wissenschaftliche Beschäftigung, die sowohl als Bildungsmedium wie ebenso als Ausdruck charakterlicher Sittlichkeit gesehen wurde. Aber auch hier muss weiter eingeschränkt werden: Die Berliner Universität sollte nicht das Reformmodell für andere Universitäten abgeben, sie sollte vielmehr »Über-Universität« oder – nach heutigem Jargon – »Elite-Universität«, also sozusagen die höchste Einrichtung der hierarchisch verfassten Bildungsorganisationen sein: »Diese ›Super-Universität‹, für die man den in Verruf geratenen Namen der Universität gar nicht mehr verwenden will, soll sich also vor allem von jeglicher akademischer Berufsausbildung entlasten und ein modernes Gelehrtentum in völliger Reinheit in sich verkörpern.« (Schelsky 1963: 53)

Der idealistische Charakter der Berliner Universitätsidee musste auch all jenen bewusst gewesen sein, die eben nicht imstande waren, eine materiell sorgenlose Existenz an der Universität zu führen, welche die eigentliche Grundlage zur Missachtung des »Brotstudiums«, also der universitären Berufsqualifizierung, bot. Friedrich Schiller zum Beispiel, der 1789 bei seiner Antrittsvorlesung in Jena den diskreditierenden Unterschied zwischen dem »Brotgelehrten« und dem »Philosophischen Kopf« einführte (Schiller 1954: 513ff.), lebte keineswegs glanzvoll. Johann Gottlieb Fichte, der wesentlich das Berliner Universitätskonzept prägte, fristete sein Leben als Hauslehrer und Prediger. Und Wilhelm von Humboldt, mit dessen Namen die neue Universität von 1809 gemeinhin verbunden wird, war zu dieser Zeit beruflich stark beschäftigter Beamter, nämlich preussischer Gesandter beziehungsweise Geheimer Staatsrat und Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht, also kein Universitätsmitglied (Schelsky 1963: 56). So sollte nicht übersehen werden, dass die Diskrepanz zwischen Idee und Realität bei der Gründung der Berliner Universität besonders groß war, dass ihre konstitutiven Prinzipien einem Ideal, einem Tätigkeitsziel entsprachen, das entweder auf der Ebene der einzelnen Person nur utopische Orientierung oder auf der Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse ein idealistischer Faktor sein konnte, der

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gegen die Entwicklungstendenzen des sich konsolidierenden Kapitalismus gerichtet war. Diesen idealistischen Charakter behielt die Universität bei, ja sie erstrebte ihn und behauptete sich auch in der Restaurationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg gerade durch ihre relative Zeit-Unangemessenheit gegen die Vereinnahmung in den Verwertungsprozess profitabler Produktion. Nur durch diesen zäh verteidigten Anachronismus – so ließe sich behaupten – vermochte die Universität zunächst den Standort zu wahren, der ihr die Chance zur Distanz gegenüber den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Chance zur kritischen Reflektion gegen die Ansprüche einer sich zweckrational organisierenden Gesellschaft zu sichern schien. Die politisch betriebene Auflösung dieses Anachronismus (in den 1960er Jahren zuerst durch Studierende, danach durch Regierungen) nicht nur im Bereich der materiellen Fakten – die Universität war ohnehin schon von Beginn an auf Alimentierung angewiesen –, sondern vor allem auch im Bereich der Ideologie, des Bildungsideals und der kritischen Distanz, passt die Universität heute an eine Lebenswelt an, deren Probleme allesamt mit Geld lösbar zu sein scheinen. In dieser Welt hat die Universität bei Strafe ihres Untergangs Aufgaben zu erfüllen, die ihr von den Bedürfnissen der eingespielten Produktion vorformuliert werden. Im Rahmen ihrer Bildungsfunktion ist dies vor allem die Qualifikation der wissenschaftlich geschulten Arbeitskraft, deren aktuelle Funktionalität und Bedarf jeweils neu vom Entwicklungsstand der Produktivkräfte – vorab von Wissenschaft generell und von Technologie speziell – bestimmt werden. Der ehemals hohe Anspruch der Universität auf allseitige Bildung zur autonomen Persönlichkeit und des ihm immanenten Sinns der Aufklärung zur Durchdringung allen gesellschaftlichen und natürlichen Geschehens mit dem Ziel vernünftigerer Gestaltung der Verhältnisse wurde ersetzt durch die Funktion der Hochschule, die Ausbildung höchst qualifizierter Arbeitskräfte zu besorgen.

U n i ve r s i t ä t s r e f o r m e n Um den Weg der Universität zur Hochschule nachvollziehen zu können, sollen zunächst die konstitutiven Ideale der »klassischen Universität« angeführt werden: Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, Autonomie sowie Bildung durch forschende Wissenschaft. Gewiss ist diese Form der Universität stilisiert, sind Elemente in ihr vermischt worden, die verschiedener Herkunft waren. Gleichwohl hatten sie Wirkungen, die räumlich und zeitlich weit reichten. Die Gemeinschaft der Lehrenden 86

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und Lernenden bestimmte eine Moralität, deren Prinzipien die gleichgerichtete Suche nach Wahrheit, die gegenseitige Vertrautheit und Verantwortung waren (Schelsky 1963: 91ff.). Die Freiheiten der Universität bezogen sich auf einen Lebensstil, der teils der Feudalzeit, teils antizipierter Demokratie entlehnt zu sein schien: autonome Rechtsetzung im Rahmen der generellen Regeln von Papst- und Kaisertum sowie des Absolutismus, schließlich des bürgerlichen Staats; autonome Selbstverwaltung; autonomer Haushalt nach Maßgabe pauschal zugewiesener Mittel und autonome Rekrutierung (Kooptation) der Lehrenden. Die Vorstellung der Bildung durch Wissenschaft schließlich betraf Vernunft und Wissen als die vornehmsten Kriterien des Universitätsmenschen: Studium und Forschung zur Wissensaneignung und Wissensentwicklung; wissenschaftliche Erörterung zur emotionsfreien Prüfung des wissenschaftlich Erkannten und Universalität des gesammelten Wissens. Die verschiedenen Reformen räumten mit diesen idealistischen Merkmalen der »klassischen« Universität auf. Immer wieder wurden die autonomen Bereiche der Universität beschnitten oder gar beseitigt; zuletzt im ausgehenden 20. Jahrhundert: Nahezu alle Regeln des hochschulischen Lebens, von der Immatrikulation über die Prüfungsordnungen bis zur Studienbeihilfe, von der Organisation der Lehre und Forschung über die Anzahl der Studienplätze und Studierenden bis zum Ordnungsrecht wurden staatlich verordnet; ja, selbst die Verwaltung der Hochschulen wurde bisweilen staatlich bestellten Kommissaren und Direktoren übertragen; und auch die Kontrolle der Besetzung von wissenschaftlichen Positionen oblag häufig den Regierungen, die hier oft genug nach politischer Opportunität verfuhren. Die Steigerung nicht nur der Studierendenzahl zur Sicherung des Bedarfs an produktivem Wissen, sondern auch die vervielfachte Zahl der Lehrenden einer Universität wandelte die Vertrautheit in Anonymität, die gegenseitige Verantwortung in soziale Isolation und verkehrte die gleichberechtigte Erkenntnissuche aller Universitätsmitglieder in die Hierarchie von Studienanfängern, fortgeschrittenen Studierenden, Examenskandidaten, Tutoren, Aufbaustudenten, Doktoranden, geprüften und ungeprüften wissenschaftlichen Hilfskräften, Assistenten und wissenschaftlichen Angestellten, Universitätsdozenten und Abteilungsleitern, außerordentlichen, Honorar- und ordentlichen Professoren. Nicht anders verhielt es sich mit der Entwicklung des Ideals einer Bildung durch forschende Wissenschaft: Ganz abgesehen davon, dass Forschung sich gegen die Organisation als Massenveranstaltung sträubt, konnte schon der sich progressiv dünken, der die studentische Beteiligung an Forschung bloß forderte. Forschung, die als Produktivkraft gesehen wurde, sollte an gesicherten, vom Lehrbetrieb gesonderten Orten 87

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– mitunter als Statussymbol privilegierter Wissenschaftler – betrieben werden. Den Reformatoren erschien die studentische Teilnahme an Forschung oftmals als unnötige Verlängerung des Studiums, das schon als solches zu lange von der erwarteten Funktion eines Hochschulstudiums abhielt. Mit der Definition der Universität als Hochschule zur Ausbildung hoch qualifizierter Arbeitskräfte war die Basisentscheidung gefällt, nach der sie zweckrational zu reformieren war: Das individuelle Streben nach Wahrheit und Erkenntnis wurde als zu kostspielig und damit als dysfunktional angesehen, genauso wie langwierige Diskussionen und Argumentationen als akademische Mittel der Wissensaneignung und Wissensüberprüfung oder das Bemühen um enzyklopädisches Wissen, das die gebildete Persönlichkeit auszeichnete. Das Studium wurde als Ausbildung darauf konzentriert, in möglichst kurzer Zeit ein kompaktes Fachwissen in einer Spezialdisziplin zu vermitteln, das weder die Flexibilität und Mobilität für den Arbeitsmarkt noch die etablierte Ordnung gefährden darf: »Da der Arbeitnehmer in einer möglichst kurzen Zeit an seine Aufgabe angepasst werden soll, darf er bei seiner Ausbildung nur ein Minimum an autonomen Fähigkeiten entwickeln. Man befürchtet, daß die Menschen, wenn sie ihre Fähigkeiten ›zu weit‹ entfalten … sich nicht mehr einer begrenzten Aufgabe und der industriellen Hierarchie unterwerfen werden … Man wünscht, daß sie kompetent aber beschränkt sind; aktiv aber folgsam; intelligent aber unwissend in allem, was über ihre unmittelbare Funktion hinausgeht; unfähig, den Blick von ihrer Aufgabe abzuwenden. Kurz, man wünscht sich Spezialisten.« (Gorz 1967: 134)

Doch anders als in der Organisation industrieller Produktion nach dem tayloristischen Prinzip strikter Trennung von anweisender und ausführender, also von geistiger und körperlicher Arbeit, kommt es in der vorwiegend intellektuellen Arbeit von Forschung, Lehre und Studium kaum auf Anordnung und Gehorsam oder finanzielle Entlohnung, vielmehr auf intrinsische Motivation und anregende Umwelten an. Wissenschaftlich schöpferische, sorgfältige und verantwortbare Arbeit kann nur suboptimal unter außengeleiteter Weisung und Orientierung an außerwissenschaftlichen Interessen erfolgen.1 Auf diese Erkenntnis gründeten

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Vgl.: Weber 1922: 531 bzw. 533 »Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.« »›Persönlichkeit‹ auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient.«

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zu Recht seit Jahrhunderten die Autonomie der Universitäten und die Freiheit von Wissenschaft und Forschung.

Europäische Hochschulpolitik für das 21. Jahrhundert Dem Begriff von Wissen widerfährt ein Bedeutungswandel ähnlich dem Bildungsbegriff: Der Reduktion von Bildung auf Schulung und Training entspricht die Verengung von Wissen auf instrumentellen Verstand. In gleicher Weise werden Bildung und Wissen bevorzugt als Mittel gesehen, um im globalen Wettbewerb um Märkte und Wirtschaftswachstum mithalten zu können. Wie andere Produktionsmittel wurden Bildung und Wissen so selbst zu Wirtschaftsgütern, die auf Märkte ausgerichtet sind. Bildung und Wissen als ehemals erstrebte Merkmale reifer Persönlichkeit und damit Werte an sich werden derzeit entweder nur noch in sentimentalen Situationen wie bei Sonntags- und Trauerfeiern erinnert oder dienen in Form von Kreuzworträtselkenntnissen zur Unterhaltung von Fernsehserien vom Typ »Millionenshow«. Der Eindruck entsteht, dass, wer Bildung und Wissen nur als »Produktionsfaktoren« nutzen und verwerten will, nicht daran interessiert ist zu erfahren, wie Bildungsprozesse ablaufen und die Aneignung von Wissen erfolgt. In Verkennung der Bedingungen des Bildungs- und Wissenserwerbs sollen sich Schulen und Hochschulen sowie die Regelung und Kontrolle der Bildungsinstitutionen an veralteten betriebswirtschaftlichen Modellen zur Unternehmensführung ausrichten. Dies verkennt allerdings, dass die erwünschten Kompetenzen für innovative, produktive Arbeit nicht durch Verordnungen und Vorschriften zu erreichen sind. Die Entwicklung dieser Kompetenzen setzt persönliche, intrinsische Motivation und anregende sozial-kulturelle Umwelten voraus, die das persönliche Gelingen antizipieren, damit zugleich individuelle Energien stimulieren und unterstützende Erwartungen hervorrufen. Eingriffe fremder Interessen lassen die produktive Atmosphäre erst gar nicht entstehen, sondern rufen in Schulen und Hochschulen eine entsprechende Außenorientierung hervor, die zu geistiger Abhängigkeit führt. Und diese destruiert Motivation und Gemeinschaftssinn. Wenig verwunderlich ist die Klage von Wirtschaftsverbandsfunktionären und ihren Anhängern, dass Schulen und Hochschulen nicht das an Graduierten liefern, was im Interesse des Wirtschaftswachstums und des erfolgreichen Konkurrenzkampfs gebraucht werde. Symptomatisch scheinen dafür zu Beginn des 21. Jahrhunderts Verlautbarungen verschiedener

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Gremien der Europäischen Union zur Beziehung von weltwirtschaftlichem Interesse und Hochschulbildung. So verstand sich zum Beispiel die »Joint Declaration on Harmonisation of the Architecture of the European Higher Education System« (Sorbonne 1998) noch als Erklärung zum Vorteil für »Europe, its students, and more generally of its citizens«. Als Mittel zur Erreichung dieses Vorteils postulierte sie die Schaffung einer »European area of higher education« durch die »progressive harmonisation of the overall framework of our degrees and cycles … through strengthening of already existing experience, joint diplomas, pilot initiatives, and dialogue with all concerned«. Eine grundlegende Orientierung der Sorbonne-Erklärung war »that Europe is not only that of the Euro, of the banks and the economy: it must be a Europe of knowledge as well« (Sorbonne Declaration 1998: 1). Wissen wurde hier durchaus noch als eigener Wert angesehen. In der bereits ein Jahr später folgenden Bologna-Erklärung (Bologna 1999) lässt sich dagegen eine bedeutsame Verschiebung oder gar ein Bruch in der Tradition europäischer Hochschulbildung, wie sie die Sorbonne-Erklärung noch fortzuführen schien, ausmachen. Während diese noch im Einklang mit überlieferten Universitätswerten die relative Freiheit und Freizügigkeit der Studierenden und Graduierten in Einklang mit humanistischen Zielen zu stärken versuchte, verschob die Bologna-Erklärung das Ziel auf Humankapital, Beschäftigungsfähigkeit und Mobilität als Instrumente zur Stärkung der Konkurrenzwirtschaft. Aus Subjekten mit eigenen Interessen wurden Objekte der Interessen anderer. Ein Vergleich der Sorbonne-Erklärung mit einem besonderen Dokument zeigt diesen Umstieg von traditionellen humanistischen Bildungszielen auf utilitaristische Instrumentalität. Die Schrift »Trends in Learning Structures in Higher Education« (Haug et al. 1999) – ausdrücklich bezeichnet als »Project Report prepared for the Bologna Conference on 18-19 June 1999« – interpretiert die Sorbonne-Erklärung grundsätzlich anders. In dem Dokument findet sich der Artikel »The Sorbonne Declaration of 25 May 1998: what it does say, what it doesn’t«. Der Artikel richtete sich an Minister und Repräsentanten von nicht weniger als 31 europäischen Ländern: »Hence the Sorbonne Declaration is not only about academic recognition or comparability per se: the raison d’être of the debate is intimately linked to the emergence of an ever more European and indeed international labour market.« Im Verweis auf die Markt-Dimension unterstellt der Artikel der Sorbonne-Erklärung, dass sie »a plea for Europe to take up its full role in the world markets of knowledge and education« sei (Haug et al. 1999: 29). Damit wurde die politische Absicht gewechselt von »strengthening the intellectual, cultural, 90

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social and technical dimensions of Europe, its students and more generally of its citizens« der Sorbonne-Erklärung zu »Märkten« der Arbeit, der Bildung und des Wissens. Aus heutiger Sicht lässt sich dieser Bericht als Vorbereitung der Bologna-Erklärung auf jenen Zeitgeist primärer Geschäftsorientierung auffassen, wie er in der »Presidency Conclusions, Lisbon European Council, 23 and 24 March 2000« zum Ausdruck kam: »[...] to become the most competitive and dynamic knowledge-based economy of the world.« Wie das einige Zeit später folgende Dokument »Communication from the Commission to the Council in the European Parliament« (21. November 2003) festhielt, sei Konkurrenzfähigkeit der Schlüssel zur Erreichung der Lissaboner Ziele: »Europe must become more competitive.« (European Council 2003: 1) »The European educational and training systems show structural weaknesses and require urgent reform to achieve the Lisbon Strategy goal.« Vier Prioritäten werden genannt: »Concentrating reform on investments on key points in each country«, »Making life long learning a reality«, »Creating a Europe of education and training« und »Giving ›Education & Training 2010‹ its rightful place in the implementation of the Lisbon Strategy« (European Council 2003: 24). Ungeachtet der Tatsache, dass akademische Professionen traditionell auch in freien Berufen wie Arzt, Rechtsanwalt oder Unternehmensberater ausgeübt werden und dass Arbeitsverhältnisse in abhängiger Beschäftigung unsicher geworden sind, wird employability heute den Universitäten als wesentliches Ausbildungsziel der verkürzten Bachelorund Masterstudien, ja inhaltlich selbst der Doktoratsstudien vorgegeben2. Die Vorstellung eines »Europa des Wissens« scheint sich damit in die instrumentelle Konzeption einer neuen polit-ökonomischen Strategie zu verwandeln, bei der Hochschulbildung und Wissen einerseits als Mittel zur Stärkung der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit ausgerichtet, andererseits als Waren auf Märkten angeboten werden sollen.

Marktkonkurrenz und wissenschaftliche Kooperation Was heute als »neoliberale Lehre« nach dem Auslaufen planwirtschaftlicher und wohlfahrtstaatlicher Modelle radikalisiert wieder aufzustehen scheint, gleicht dem Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts.

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Verlautbarung der Vorsitzenden der deutschen, österreichischen und schweizerischen Rektorenkonferenzen: »Zur Zukunft der Promotion in Europa« (Bonn, 27. März 2004) 91

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Führende Politiker in Europa mit halbem Verständnis der Situation in den USA neigen in Orientierung an dieser zeitgeistigen Lehre dazu, auch die europäischen Universitäten dem Markt und der Konkurrenz zu unterstellen. Zur Erreichung von Wirtschaftsmacht soll das im Wirtschaftssystem so erfolgreiche Marktsteuerungsmodell mit seinen Charakteristika von Waren, Markenbezeichnungen, Konkurrenz und Orientierung am Geldgewinn auch an Hochschulen eingeführt werden.3 Die entscheidende Frage ist jedoch, ob in der Welt der Universität die optimale Leistungskraft mit den Prinzipien der Welt der Waren aktiviert werden kann oder ob nicht ein anderes Motiv als partikulärer Eigennutz und eine andere Organisation als der Markt und andere Rahmenbedingungen als die der Konkurrenz und andere Grundorientierungen als Geldgewinn wissenschaftliche Arbeit optimieren. Bleiben diese Leistungen qualitativ dieselben, wenn sie zur Warenproduktion instrumentalisiert werden? Was steuert Erzeugung und Aneignung, Entwicklung und Anwendung von Wissen bestmöglich? Unbestritten werden Forschung und Lehre heute auch außerhalb der Universitäten betrieben. Trotzdem fungieren Hochschulen nach wie vor als Zentren wissenschaftlicher Arbeit. Die Funktionsweise der Universität gründet dabei auf einer besonderen Struktur, die sich im Prinzip auch in der spezifischen Machtordnung der bürgerlichen Gesellschaft – Regierung und Opposition in der Demokratie – durchgesetzt hat. Diese Struktur lebt von der wechselseitigen Abhängigkeit und immer wieder neu zu gewinnenden Balance zweier einander kontrastierender Faktoren, wie sie sich prominent in ihrem Namen ausdrücken: universitas magistrorum et scholarium. Dieselbe dialektische Struktur findet sich in den Gegensatzpaaren von Forschung und Lehre, Theorie und Praxis, Vorlesung und Seminar, allgemeiner und beruflicher Bildung, Zweifel und Erkenntnis, Darlegung und Kritik, Rede und Gegenrede, alltäglichem Institutsbetrieb und weltweiter scientific community, Begrenztheit der Ressourcen und Offenheit des Denkens, Engagement und Distanz, von strengen Prüfungen und gemeinsamen Feiern, Semesterbetrieb und Semesterferien. Und diese Dualitäten gewähren einer strukturell-funktionalen Dialektik Raum, die dem Modell der Marktkonkurrenz opponiert: open minded-Kooperation steht einer closed minded-Konkurrenz gegenüber. Die Vorteile liegen im Fall der Wissenschaft klar auf der Hand: Zum einen wird nur durch Publizität Kritik an Theorie und Empirie anderer zum Vorteil der wissenschaftlichen Entwicklung ermöglicht; zum 3

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»Der Hochschulzugang dient dem Beruf, das Studium hat praxisnah zu sein und die Forschung so nützlich, daß sie nicht nur auf dem Markt der Eitelkeiten, sondern auch auf der Hannover-Messe verkäuflich wird.« (Röllecke 1984: 6)

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anderen müssen Forscher und Forscherinnen ihre Energien nicht ständig aufs neue zur Untersuchung des selben Gegenstands aufwenden, sondern können auf den Erkenntnissen anderer aufbauen. Unabhängig davon, dass Zusammenarbeit Produktivität fördert, ist auf Grund der gerade auch in den Wissenschaftsdisziplinen entwickelten Arbeitsteilung Kooperation objektiv unvermeidbar.4 Konkurrenz würde diese Vorteile nicht nur beseitigen, sondern überdies Energien zur Beobachtung und Abwehr der Mitbewerber abziehen. Trotzdem scheint die aktuelle Hochschulpolitik der Universität – dem Zeitgeist entsprechend – Konkurrenz zu verordnen, obwohl sich Kooperation seit Jahrhunderten bewährte. Konkurrenz ist auch da von Nachteil, wo Hochschulen – wie heute öffentlich erwartet – um Studierende oder Zweit- und Drittmittel gegeneinander antreten müssen. Aus der Sicht einzelner sowie aus der Sicht von in dieser beschränkten Perspektive befangener Institutionen werden die Kosten des Konkurrenzkampfs als Investitionen wahrgenommen, die sich für den Obsiegenden lohnen. Aus der Perspektive der Wissenschaften als gesellschaftliche Einrichtungen verursachen diese Kosten zu einem hohen Anteil jedoch Verluste, weil sie zu Lasten von Forschungskapazität und -entwicklung gehen. Produktive Arbeit an Universitäten, aus der prozessual Wissen hervorgeht, setzt intrinsische Motivation und anregende Umwelten voraus. Beides erfordert Kooperation und gleichberechtigte Teilnahme aller Beteiligter. Konkurrenz und Bildungsmarkt, Bildungsangebot und Bildungsprodukte oder gar Bildungsbroker, Zertifizierung und Effizienz, Überlebenskampf und customisation scheinen heute die Schlagwörter des neoliberalistischen Lenkungsmodells. Die verwendete Terminologie indiziert die tatsächliche Verengung des Blicks und damit der Erkenntnis. Zum zentralen Begriff wird der Markt. Ihm wird mythisch autonome Steuerung der Wirtschaft zugeschrieben. Statt um Kooperation zur Entwicklung der Wissenschaften als primäre Aufgabe im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung scheint es nun an Universitäten vor allem um offensive Konkurrenz zu gehen. Studierende und Graduierte, Lehrende und Forschende, Forschungsergebnisse und wissenschaftliches Wissen sind der neuen Universität nicht mehr von eigenem Wert, sondern Mittel zur Generierung von Geld. Was kein Geld bringt, hat kaum Relevanz.

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Vgl. dazu u.a.: Durkheim 1988: 84 »Nicht nur, daß der Gelehrte nicht mehr gleichzeitig mehrere Wissenschaften pflegt, er überschaut nicht einmal mehr die Gesamtheit einer einzigen Wissenschaft. Der Kreis seiner Untersuchung verengt sich auf eine bestimmte Teilzahl von Problemen oder gar auf ein einziges Problem.« 93

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Aus Zwecken werden Mittel, die sich auf Bildungsmärkten als wirtschaftliche Investitionen präsentieren lassen. All dies übersieht jedoch grundlegende Voraussetzungen der intellektuellen Leistung. Studierende wie Forschende entwickeln ihre fachlichen, sozialen und ethischen Kompetenzen in Auseinandersetzung mit angemessenen sozialen Anstößen und im Rahmen der strukturellen Bedingungen ihrer jeweiligen Umwelt. Solche Anstöße und fördernde Umweltstrukturen prosperieren nur unter speziellen Bedingungen. Ein verlässlicher Indikator für diese Bedingungen scheint das Entstehen von intrinsischer Motivation zu sein, das Entstehen eines inneren Antriebs zur Erreichung von Zielen.5

S e l b s t - u n d f r e m d b e s t i m m t e Ar b e i t Die Substitution körperlicher, meist repetitiver und routinierter Formen von Lohnarbeit an Maschinen in Unternehmen durch geistige, häufig innovative und flexible Formen von selbst zu organisierender Arbeit ist heute weit gediehen. Nach Mechanisierung und Vollmechanisierung, nach Teilautomation und Vollautomation hat sich die Funktion der im Arbeitsprozess beteiligten Menschen weitgehend auf die Erbringung kognitiver Leistungen, also auf kreatives und produktives Mitdenken, verschoben. Körperkraft kommt sowohl im Produktionsprozess selbst wie auch in der Dienstleistungen immer seltener zum Einsatz. Wissen und Aufmerksamkeit für den Umgang mit Wissen wurden in der »Wissensgesellschaft« zu den entscheidenden Wirtschaftsfaktoren. Als Konsequenz dieses Wandels wird der Bedarf an Wissen heute öffentlich stark betont. Gleichzeitig soll aber – und dies ist nur schwer zu verstehen – die Jahrhunderte alte Welt des Wissens, die universitäre Lebenswelt, in ihren Arbeitsbedingungen auf das überholte Modell von Arbeitgeber und Arbeitnehmer umorganisiert werden. Es scheint als würden Universitäts- und Betriebswelt kreuzweise ihre Führungsmodelle austauschen. Aus den früher selbstbestimmten Semesterferien wurden festgelegte Urlaubstage; aus der freien Organisation der Arbeitstätigkeit wurden 5

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Die neuere Unternehmensführungsphilosophie spricht diesbezüglich auch von »inspirierender Motivation« (Bass 1986) oder »Mitarbeiter-empowerment« (Ritter/Zink 1992). Beide Konzepte zählen zur »transformationalen« Betriebsführung, in der es darum geht, die ganze Persönlichkeit der Mitarbeiter in die Agenden des Unternehmens zu involvieren (Burns 1978), also aus Befehlsempfängern im Sinne Frederik W. Taylors Subjekte der Handlung mit Eigeninitiativen zu machen.

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vorgeschriebene Wochenarbeitsstunden und Anwesenheitspflichten; aus dem gesicherten Beamtenstatus, der Kritik nach allen Seiten ohne Existenzangst und freie Interpretation der Aufgaben in Forschung und Lehre ohne zusätzliche Abgeltung ermöglichte, wurde ein Angestelltenstatus mit finanziellen »Leistungsanreizen«, der allein schon wegen seiner häufigen zeitlichen Befristung die Konzentration auf die Hochschularbeit nicht wirklich fördert. Auch die Studierenden sind davon betroffen: Anstatt die Studienzeit als besonderen Altersabschnitt qualitativ erleben zu können, wie das Jahrhunderte lang der Fall war, wird das Studium auf die einzelne Fachstunde und die zu erlangenden ECTS-Punkte buchhalterisch durchbilanziert, und wer sich dem nicht fügen will, dem und seiner Universität hält man zu lange Studienzeiten, Studienabbruch und zu geringe Leistungen vor. Dass Studien primär auf Kompetenzen und erst sekundär auf »Bildungsabschlüsse« abzielen und dass lange Studienzeiten, die heute vermehrt auf zusätzlich erforderliche Erwerbsarbeit zurückgehen, eigentlich bereits dem allseits propagierten lifelong learning entsprechen, scheint aktuell kaum wahrgenommen zu werden. Als adäquate Instrumente zur Steuerung von Hochschulen fungiert vielmehr die mengenmäßige Steigerung von Studierenden und Graduierten, von Veröffentlichungen und Patenten, von Zweit- und Drittmitteleinnahmen und ähnlichem mehr – kurz: Quantitäten statt Qualitäten. Die Produktivität dieser Entwicklung bleibt freilich aus mehrfacher Sicht fragwürdig. Zum einen lässt sie sich in Anbetracht des gesellschaftlichen Auftrags von Universitäten hinterfragen, nämlich Forschung, Lehre und Studium grundsätzlich für alle Lebensbereiche zu gewährleisten und nicht nur für den wirtschaftlichen Bereich. Zum zweiten kann gefragt werden, ob indirekt – also etwa über Geld – motivierte Arbeiten weniger Leistungen erbringen als intrinsisch motivierte.6 Und zum dritten lässt sich auch die Unterstellung, dass Studien und Universitäten grundsätzlich zu wenig Wissen vermitteln, mit einigem Recht bezweifeln.7 6

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Vgl. u.a.: Frey 1997: 431 »The more interesting a task is for the agents, the higher is their intrinsic motivation to perform well […] The more extensive the agents’ participation possibilities are, the higher its work morale […] Indeed, scientists and artists are difficult to imagine without a significant level of work motivation.« Vgl. auch Csikszentmihalyi/ Schiefele 1993: 207. In einer Befragung von über 35.000 männlichen und weiblichen Hochschulabsolventen aus elf europäischen Ländern und Japan zeigte sich ein relativ hohes Maß an Übereinstimmung in den verfügbaren Kompetenzen und erforderlichen Arbeitskompetenzen von Graduierten. Insbesondere waren dies Konzentrationsfähigkeit, Lernfähigkeit und analytische Fähigkeiten, also Potentiale, die als kognitive oder typisch intellektuell-akade95

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Schlussbemerkung Paradox scheint, dass gerade in den europäischen Ländern, in denen sich der gesellschaftliche Reichtum in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt durch wissenschaftlich ermöglichte Produktivitätssteigerungen vervielfacht hat, die Universitäten ihrer faszinierenden besonderen Lebens- und Arbeitswelt beraubt werden. Es könnten heute mehr Menschen als je zuvor am Wissenschaftsprozess, das heißt an neugieriger Forschung und intelligenter Erkenntnissuche, aus eigenem Antrieb und in anregender Umwelt teilhaben. Doch einerseits wird Kooperation vielfach auf Konkurrenz umgepolt. Andererseits wird selbstbestimmte Arbeitsorganisation in Studium, Forschung und Lehre zugunsten zeitlich und rechtlich reglementierter Arbeitsbedingungen nach dem binären Arbeitgeber/ Arbeitnehmer-Modell veralteter Betriebsverfassungen zurückgedrängt. Die damit verbundene Missachtung der besonderen Entwicklungsgeschichte der Universitäten kann weder für die Gesellschaft im ganzen noch für die dann bloß noch so genannten Universitäten von Vorteil sein. Produktive geistige Arbeit – so die These der vorliegenden Überlegungen – benötigt inneren Antrieb und unterstützende Impulse aus der Gemeinschaft (universitas). An anderem als an Erkenntnis interessiert zu sein, verlagert die Motivationsstruktur. Von außen geforderte wissenschaftliche Leistungen, die nach heteronomen Regeln zu erbringen sind, bleiben suboptimal. Physische Leistungen mögen nach dem TaylorModell der strikten Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit in extensiver Nutzung des Arbeitsvermögens so effektiv sein, wie es einer »lebenden Maschine« zu entsprechen vermag (Frey 1919). Intellektuelle Leistungen hingegen bedürfen intensiver Anstrengungen aus innerem Antrieb und gleichberechtigter Kooperation (Kellermann 2002b: 7ff).

Literatur Bass, Bernard M. (1986): Charisma entwickeln und zielführend einsetzen, Lansberg.

mische Kompetenzen angesehen werden können. Ein gewisser Überschuss ergab sich vor allem in fachlichen Kompetenzen wie fachspezifischen theoretischen und methodischen Kenntnissen einerseits sowie Fremdsprachenbeherrschung andererseits. Diese Kenntnisse scheinen freilich vor allem dann als überschüssig wahrgenommen zu werden, wenn die Graduierten fachfremd beschäftigt werden und damit »unterfordert« sind. Vgl. Kellermann 2002a: 8ff. 96

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Bologna Declaration (1999): The European Higher Education Area – Joint Declaration of the European Ministers of Education, Convened in Bologna on the 19th of June 1999. Burns, James M. (1978): Leadership, New York. Csikszentmihalyi, Mihaly/Schiefele, Ulrich (1993): Die Qualität des Erlebens und der Prozess des Lernens; in: Zeitschrift für Pädagogik, 39/2, 207-221. Durkheim, Emile (1988): Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a.M. European Council (2000): Presidency Conclusions: Lisbon European Council, 23rd and 24th March 2000, Barcelona. Frey, Josef P. (1919): Die »Wissenschaftliche Betriebsführung« und die Arbeiterschaft, Leipzig. Frey, Bruno S. (1997): On the Relationship between Intrinsic and Extrinsic Work Motivation; in: International Journal of Industrial Organisation, Vol. 15, 1997: 427-439. Gorz, André (1967): Zur Strategie der Arbeiterbewegung im Neokapitalismus, Frankfurt a.M. Haug, Guy/Kristein, Jette/Knudsen, Inge (1999): Trends in Learning Structures in Higher Education, Copenhagen/Brussels. Kellermann, Paul (2002a): Self-Reported Competences of Graduates and »Employability« as an Ideological Purpose for Higher Education in Europe; in: National Research Programme: Education and Occupation: Workshop Documentation, Bern: 8-17. Kellermann, P. (2002b): Motivation, Organisation, Administration – Über Arbeitsbedingungen in der Universitätswelt aus soziologischer Sicht; in: Soziologie 4/2002: 5-19. Prahl, Hans-Werner/Schmidt-Harzbach, Ingrid (1981): Die Universität. Eine Kultur- und Sozialgeschichte, München/Luzern. Ritter, Albert/Zink, Klaus J. (1994): Differenzierte Kleingruppenkonzepte als wesentlicher Bestandteil eines umfassenden, integrierten Qualitätsmanagements; in: Zink, Klaus J. (Hg.) Qualität als Managementaufgabe, Lech, 245-273. Röllecke, Gerd (1984): Entwicklungslinien Deutscher Universitätsgeschichte; in: Politik und Zeitgeschichte B3-4/84, Bonn: 3-6. Schelsky, Helmut (1963): Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg. Schiller, Friedrich (1954): Gesammelte Werke, Sechster Band, Berlin. Sorbonne Declaration (1998): Joint Declaration of Harmonisation of the Architecture of the European Higher Education System, Paris. Weber, Max (1922): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen.

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Stigma und Produktivität. Zur Darstellung von körperlicher Behinderung im Rea lit y- TV FRITZ BETZ

Zu den größten Quotenerfolgen des niederländischen Fernsehens des Jahres 2006 gehörte eine Reality Show mit dem Titel »Miss Verkiezing«, was auf Deutsch einfach nur »Misswahl« bedeutet. Erst der englische Titel »Miss Ability« deutet das Besondere dieses Schönheitswettbewerbs an: die Frauen, die sich zur Wahl stellten, mussten ein sichtbares körperliches Handicap aufweisen. Die Show wurde am Flughafen von Amsterdam vor großem Publikum inszeniert. Der Gewinnerin wurde für ein Jahr zur »Botschafterin« der Behinderten gewählt, ein Preis der vom niederländischen Ministerpräsidenten am Ende der Veranstaltung auf der Bühne überreicht werden sollte. Nach wochenlangen Vorausscheidungen im ganzen Land waren zwölf Finalistinnen verblieben – Einbeinige, Spastikerinnen oder Rollstuhlfahrerinnen – die den klassischen Parcour einer Misswahl absolvierten: einen Auftritt im Abendkleid, ein persönliches Interview und zuletzt eine Bikinirunde. Wichtige Rollen in der Inszenierung waren »politisch korrekt« besetzt: Das Moderatorenpaar bestand aus einer Behinderten und einem NichtBehinderten, auch in der vierköpfigen Jury befand sich ein behinderter Mann. Mit dichten Rhythmen, zu denen auch ein Rollstuhlfahrer rappte, eröffnete eine Schlagwerk-Gruppe das Rahmenprogramm. Zwischen die einzelnen Runden des Wettbewerbs wurden Aufzeichnungen von Fotoshootings, Interviews mit den Teilnehmerinnen und eine Reportage über einen beinamputierten Schauspieler aus der US-amerikanischen Fernsehserie CSI geschaltet.

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Warum interessiert uns dieses mediale Ereignis, bei dessen Schilderung Wahrnehmungsroutinen herausgefordert werden und an Tabus gerührt wird? Selbstverständlich, weil wir wissen, dass Normalität stets erst durch die Skizzierung des »Anderen«, des »Abweichenden« ihre Konturen erhält. Daher ist in diesem Fall nicht nur mit Hinblick auf die so genannten Behinderten die Frage interessant, auf welche Art und Weise Behinderung repräsentiert wird, sondern Behinderung lässt sich, einem Grundsatz der Disability Studies entsprechend »als erkenntnisleitendes Moment für die Analyse der Mehrheitsgesellschaft« (Waldschmidt/Schneider 2007: 15) nutzen. Keineswegs ist »Miss Verkiezing« ein vereinzeltes oder gar bizarres Beispiel für medialen Sensationalismus. Die Show wurde im Jahr 2007 wiederholt, Fernsehsender in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und in den USA haben die Rechte zur Produktion des Sendeformats erworben. In den USA wird insgesamt ein Wandel des Images von körperlicher Behinderung im Fernsehen und im Film vermerkt: »The melodramatic movies and fundraising telethons striving for cures have given way to amputees rock climbing on reality shows like ›The Amazing Race‹ and showing their skills on ›Dancing With the Stars‹. Comedies and dramas have joined the trend” (Navarro 2007: 1).

Impairment und Disability Die Produzenten von »Miss Verkiezing« behaupten, ihre Show würde einen Beitrag zur sozialen Inklusion behinderter Menschen leisten. Deren Exposition in der massenmedialen Öffentlichkeit würde helfen, sie »right in the middle of this society« (Absolutely Independent 2006) zu verorten. Die Botschaft der Show, die vordergründig von allen Beteiligten getragen wurde, lässt sich leichter analysieren, wenn wir auf das so genannte »soziale Modell« der Reflexion von Behinderung in den Disability Studies zurückgreifen: dort wird (ähnlich der Unterscheidung zwischen „Natürlichem“ und „Sozialem“ über die Begriffe sex und gender in den Gender Studies) zwischen körperlicher Beeinträchtigung (»impairment«) und den mit ihr verknüpften Phänomenen der sozialen Benachteiligung bzw. Ausgrenzung (»disability«) differenziert. »Disability« überschneidet sich mit dem Begriff Stigma, der von Erving Goffman (1975) in die Diskussion eingeführt wurde. Gemeint ist damit bei Goffman, dass ein bestimmtes Merkmal einer Person von der Umwelt als Zeichen für ihre moralische Diskreditierung aufgefasst wird. Durch die Interaktionen mit dieser Umwelt wird das Bewusstsein der Stigmatisierung prägend für die Identitätsbildung der betroffenen 100

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Person. Eine weitere Autorität, auf die sich die Disability Studies berufen, ist Michel Foucault, in dessen wissenschaftshistorischen Arbeiten deutlich wird, dass sich die »Normalität« abendländischer Rationalität erst durch die Abgrenzung vom »Anderen« konstituiert. Daran schließt, bezogen auf unser Thema, die Feststellung an, dass Normkörper erst durch Ausschließungsprozesse entstehen. Aus Foucaults machttheoretischen Analysen wird die Einsicht übernommen, dass Normprofile sich durch disziplinierende Diskurse und Praktiken verfestigen, wie sie nicht zuletzt von den Institutionen des Gesundheitswesens ausgehen. Beschreibt Goffman den Mechanismus der Internalisierung von Normprofilen auf der mikrosoziologischen Ebene der Interaktion, so kann mit Foucault »Normalität« als makrosoziologischer Effekt diskursiver Hegemonie und dezentral organisierter Kontrolle und Disziplinierung diskutiert werden. Die Schwierigkeiten einer solchen Dichotomie, mit der ein »natürliches« Faktum (»impairment«) von der sozialen Konstruktion von Behinderung (»disability«) mit der Konsequenz von Abwertung und Ausgrenzung unterschieden wird, sind in den Sozialwissenschaften reichlich diskutiert (vgl. Gutzer/Schneider 2007: 34ff): Erst diese Unterscheidung ermöglicht es, die Aufmerksamkeit für jene Diskurse und institutionellen Praktiken zu schärfen, über die Normalität und Behinderung definiert werden. Erst durch sie wird es möglich, im Umgang mit Behinderung andere Strategien als jene der bestmöglichen individuellen Anpassung an die Normal-Umwelt zu verfolgen. Allerdings handelt man sich mit dieser Unterscheidung zwei weitere einander diametral gegenüberstehende Probleme ein: konsequent mit Foucault gedacht, lässt sich eine »Naturalisierung« von impairment nur schwer aufrecht erhalten. Ob ein Phänomen als körperliche Einschränkung wahrgenommen wird oder nicht, ist von historischen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängig. Die Stigmatisierung bestimmter körperlicher Merkmale wiederum bestimmt auch die Eigenwahrnehmung der Betroffenen. So lautet eine Grundthese in der Diskussion auch: »Impairment is social and disability is embodied« (Hughes/Paterson 1997: 336 nach Waldschmidt 2007: 61). Das heißt also: wird die kritische, konstruktivistische Perspektive mit ihrer an Foucault geschulten Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Normierungsmaßnahmen konsequent weitergedacht, fällt die Unterscheidung zwischen impairment und disability wieder in sich zusammen (hier folgen die Disability Studies dem, was wir schon aus der Radikalisierung des Gender-Diskurses bei Judith Butler kennen, die darauf besteht, dass nicht nur gender, sondern auch sex ein Produkt normierender Diskurse und Praktiken ist). Andererseits wird aber dieses 101

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»soziale Modell« aufgrund seiner Körpervergessenheit kritisiert: die These, Normalität und Behinderung wären allein die Produkte von Diskursen und diskursiven Praktiken, negiert, so die Kritiker, den Eigensinn in der Erfahrung des eigenen Körpers bzw. Leibes. Schmerzen oder Lustempfindung, könnte man in diesem Sinn sagen, auch die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des körperlichen Handlungsrepertoires, lassen sich nicht hinreichend durch die Internalisierung gesellschaftlicher Normen erklären. Vernachlässigt wird damit ein „Eigenwille“ des Körpers, der diesseits der bewussten Kontrolle und Kontrollierbarkeit liegt (vgl. Gutzer/Schneider 2007: 43 f.), und der manchmal, zum Beispiel in Fällen von Schwerstbehinderung, von den Betroffenen selbst als repressiv, als einschränkend, als behindernd empfunden wird. Nichts spricht dagegen, anzunehmen, dass in der Moderne hegemoniale gesellschaftliche Definitionen und die ihnen verbundenen Praktiken alle uns bekannten sozialen Erscheinungen durchdringen. Dennoch würde ich dafür plädieren, aus erkenntnisstrategischen Gründen die Unterscheidung von impairment und disability bestehen zu lassen. Impairment wäre dann keine Kategorie, die frei von Diskursivierung wäre, aber eine, die helfen könnte, genau zwischen unterschiedlichen Formen subjektiver Leiberfahrung zu differenzieren. Und erst die begriffliche Dichotomie von disability und impairment erlaubt es, die Übergänge und Grenzen zwischen (internalisierter) Fremdwahrnehmung einerseits und dem Körpereigensinn andererseits zu diskutieren.

Das zeitgenössische Paradigma: Integration durch Leistung Behinderte Frauen, so der manifeste Text in »Miss Verkiezing«, sind ebenso begehrenswert, schön und leistungsfähig wie nicht behinderte. Ja, unter Umständen sind sie sogar »besser«. Die Behauptung, dass eine Behinderung keine solche wäre, wird in vielen Variationen wiederholt, verdichtet sich zu einer Anti-Viktimisierungsrhetorik und wendet sich in ihrer Mehrdeutigkeit ebenso gegen die funktionalen körperlichen Einschränkungen (impairment) wie gegen die soziale Diskriminierung aufgrund dieser (vermeintlichen) Einschränkungen (disability). In Kurzporträts der Teilnehmerinnen kommt immer wieder die Erzählung über ihre Leistungsfähigkeit in Beruf und Freizeit vor, und in verschiedenen Wortbeiträgen wird jeder Form von Bevormundung eine Absage erteilt. Unübersehbar bleibt aber auch der ambivalente Charakter dieser Form von Identitätsstrategie: Die grundlegende Botschaft der Veranstaltung 102

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zielt ja darauf ab, dass körperliche Einschränkung als Facette von Normalität zu akzeptieren sei, während andererseits die Relevanz dieser körperlichen Einschränkung bestritten wird. Diese Ambivalenz wird im Bezugsrahmen eines Schönheitswettbewerbs besonders virulent: Emanzipation und Anerkennung werden in der Show durch größtmögliche Annäherung an die herrschenden Normalitätsprofile gesucht. Gemessen an geltenden Schönheitsidealen haben alle Teilnehmerinnen mehr oder weniger »hübsche« Gesichter. Keine von ihnen ist »alt« oder »übergewichtig«. Keine von ihnen widersetzt sich den Disziplinierungsmechanismen der medialen Inszenierung. Besonders deutlich wird dies, als die am Ende des Bewerbs verbliebenen letzten vier Teilnehmerinnen jeweils genau 60 Sekunden Zeit haben, eine letzte Botschaft an das Fernsehpublikum zu richten, bevor dieses per SMS und Telefonanruf die Siegerin kürt. Die sprachliche und körperliche Performanz folgt einem exakten Skript, und eine Stoppuhr am Bildrand liefert uns den Beweis, dass die Protagonistinnen sich genau an das vorgegebene Zeitlimit halten. Mitleid, eine helfende Attitüde und Bevormundung sind passé. Wie wir spätestens seit Goffman (1975: 148f) wissen, können solche Haltungen von jenen, die er »Diskreditierte« nennt, also von Menschen mit sichtbarem Handicap in bestimmten Situationen als überaus problematisch empfunden werden, ebenso wie das vorgebliche »Übersehen« ihrer Behinderung. Das Fernsehen übernimmt in diesem Punkt also durchaus eine Perspektive der Betroffenen. Vor allem aber führen die Unsicherheiten und Ambivalenzen in den Interaktionen zwischen Behinderten und Normalen dazu, dass beide dazu tendieren, Begegnungen zu vermeiden, was für Behinderte mit der Gefahr sozialer Isolation einhergeht (ebenda 26f). Die öffentliche Demonstration sichtbarer Handicaps im TV wirkt hier wie ein mächtiger Kontrapunkt, und nicht zuletzt deshalb wurde »Miss Verkiezing« wohl auch von den niederländischen Behindertenverbänden unterstützt. Integration findet erstens statt, das ist das massenmediale Kalkül, wenn das Stigma nicht verborgen, sondern seine Sichtbarkeit durch die öffentlichen Zurschaustellung überakzentuiert wird. Zweitens soll die mit der körperlichen Beeinträchtigung verbundene abwertende soziale Erwartung, oder in anderen Worten, die an das Stigma gekoppelte moralische Diskreditierung aufgelöst werden. Und hier geben uns die Reality Shows den entscheidenden Hinweis, wodurch ein Individuum heute in erster Linie moralisch diskreditiert ist, nämlich durch mangelnde Produktivität. »Miss Verkiezing« will vorführen, dass Behinderte deshalb zu integrieren seien, weil sie dieselben Leistungsvorgaben erfüllen, wie sie für Nicht-Behinderte gelten. Selbstverständlich spielen hier auch die 103

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Semantiken von sexueller Attraktivität und Schönheit eine gewichtige Rolle, aber das eben nur im Zusammenhang mit einem öffentlichen Wettbewerb und nicht im Kontext einer subjektivierten Liebessemantik. Hier sei daran erinnert, dass Reality Shows insgesamt in einem kaum verhüllten Verhältnis zum gesamtökonomischen Kontext stehen. Sie lassen sich unschwer als hoch kompetitive mediale »Assessment Centers« interpretieren (vgl. Wegas 2003), wobei die Zuseher sich an jenen Selektionsmechanismen erfreuen dürfen, deren Opfer sie selbst faktisch oder potentiell in ihrem eigenen Arbeitsalltag sind. Mag eine solche Interpretation angesichts der inszenierten sozialen Konkurrenz in Wohncontainern, in der Wildnis exotischer Inseln, oder dann, wenn Heiratskandidatinnen um einen attraktiven Bräutigam buhlen, gewagt erscheinen, wird sie angesichts jener Fernsehshows trivial, in denen tatsächlich Arbeitslose um einen Job kämpfen.1 Im Wirklichkeitsfernsehen steht genau das auf dem Prüfstand, was in der Realität der neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft so wichtig ist, nämlich die »Persönlichkeit« inklusive des vormals Privaten und Intimen, der soziale Kompetenz als Waffe des individuellen Durchsetzungsvermögens dient.2 Ins Fernsehen ist mit den Reality Shows eine Form der Konkurrenz eingezogen – nämlich die von Personen als ganzen und nicht mehr der Wettbewerb bestimmter Fähigkeiten – in deren Licht ältere Quizsendungen den Charakter der gemächlichen Halbbildungsplauderei oder des schlecht imitierten Kinderspiels annehmen, während auf dem Arbeitsmarkt, auf den firmeninternen Konkurrenzmärkten oder im Kundenkontakt des tertiären Sektors mehr und mehr jene Eigenschaften zählen, die man einst brauchte, um professionelle Akteurin in den Massenmedien zu werden.

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Beispielsweise die Show »Recursos Humanos« von »Canal 13« (Argentinien), »The Apprentice« von NBC, »Job-Chance« von Neun Live, »Der Traumjob« von RTL, »Hire or Fire« von ProSieben. Die Erfolglosigkeit solcher Programme im deutschsprachigen Raum könnte darauf hindeuten, dass das Publikum hier doch sublimierte Formen von Konkurrenzspielen vorzieht und im Bereich der Unterhaltung nicht mit der ursprünglichen Referenz, dem Arbeitsmarkt, belästigt werden möchte. Das ist auch der wichtige Unterschied zum Behindertensport, wo das Ideal des produktiven Individuums in erster Linie durch körperliche Leistung angestrebt wird. Man könnte das wirtschaftshistorisch als ältere, »tayloristische« Anerkennungsstrategie bezeichnen.

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D i e F u n k t i o n vo n P e r s ö n l i c h k e i t Persönlichkeit ist auch der Schlüsselbegriff, der in »Miss Verkiezing« unentwegt von den Moderatoren und Juroren bemüht wird, allerdings auch in einem Kontext, der sich von anderen Shows deutlich unterscheidet. So wird, unmittelbar nachdem die Kandidatinnen die Bikinirunde absolviert haben, während sie also in Bademode auf der Bühne posierend auf die Urteile der Jury warten, zunächst einmal lange und wertschätzend ihre Kommunikationsfähigkeit und sprachliche Ausdrucksfähigkeit kommentiert. Dann folgen Urteile, in denen allenfalls Begriffe wie »Glamour« oder »Funkeln« als Kriterien genannt werden. Selbstverständlich ist es gerade das Brisante an der Show, die Körper behinderter Frau anders einzusetzen als es gängigen sozialen Erwartungen entspricht, nämlich als sexualisierte Körper. Partiell ist das ein radikaler Versuch der Recodierung, mit dem gemeinhin als deformiert oder unvollständig Abgewertete für die soziale Wahrnehmung in den Status des Schönen oder sexuell Attraktiven aufgewertet werden. Partiell aber wird diese Sexualisierung geleugnet, indem sie mittels des Diskurses über die Persönlichkeit verbrämt wird. Dies ist einer der Punkte, an denen sich die enorme Ambivalenz der medialen Rhetorik zeigt. Sie verstößt gegen herrschende Normen und bestärkt sie gleichzeitig. Tatsächlich stößt die Inszenierung hier auf selbst auferlegte Grenzen, wenn sie versucht, den von der Norm Abweichenden Anerkennung zu verschaffen, indem sie einem Benchmarking unterzogen werden, dessen Bezugsgrößen die niemals explizit festgelegten allgemein vorherrschenden Schönheitsvorstellungen sind. Auch wenn in gängigen Misswahlen als Überbleibseln lächerlicher patriarchalischer Rituale nicht allein und völlig unverhohlen die Körper von Frauen klassifiziert werden: hier muss es den Kommentatoren noch schwerer fallen, »Begründungen« für die körperliche Attraktivität der ausgestellten Frauen zu formulieren. Zu sagen, dass eine Frau schön wäre, obwohl sie im Rollstuhl sitzt, wäre beleidigend und ein krasser Verstoß gegen die egalitaristische, antipaternalistische Form der Anerkennung, der sich das Programm der Show verpflichtet fühlt. Man kann aber auch nicht sagen, sie sei schön, weil sie im Rollstuhl sitzt, denn dies wäre der Appell an eine Form des Begehrens, die bei aller Affirmation zur Offenbarung von Intimität immer noch als abweichend klassifiziert werden würde.3 Weil aber die öffent3

In einem Seminar ersuchte ich Studierende, einen Fragebogen auszufüllen, während sie eine Aufzeichnung der Show ansahen. Danach folgte eine moderierte Gruppendiskussion. Im Fragebogen konnte angegeben werden, welche Gefühle bzw. Einstellungen die Kandidatinnen bei den Zuseherinnen und Zusehern auslösten. Nur zwei von 32 Studierenden vermerkten 105

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liche Konkurrenz im Gegensatz zur romantischen Liebe nach objektivierenden Begründungen verlangt, werden sie von der Taxierung der Körper in das Feld der Kommunikationsfähigkeit verlagert. Auch wenn die Jury nach den ersten beiden Runden des Bewerbs ihre Urteile gnadenlos verkündet, und die Ausgeschiedenen die Bühne abrupt und mit gefrorenem Lächeln verlassen, die kalte Positionierung als bloße Körperobjekte bleibt ihnen erspart. Dies scheint aus zumindest zwei weiteren Gründen notwendig zu sein. Erstens kann nur so vermieden werden, dass die Urteilssprüche der Jury bzw. des Publikums, das ja in der Schlussrunde die Siegerin kürt, als offene Bevorzugung dieser oder jener Form von Handicap gedeutet werden. Zudem ist die Besprechung der körperlichen »Vorzüge« der Kandidatinnen in diesem Rahmen unmöglich, weil dann ja auch im Detail die jeweilige Abweichung von hegemonialen Schönheitsnormen diskutiert werden müsste. Zweitens würde der Bewerb mit der positiven oder negativen Ästhetisierung der »Deformation« explizit an eine Diskursgeschichte anknüpfen, von der er implizit selbstverständlich zehrt und die er gleichzeitig aus moralischen Gründen mit allen Mitteln verbergen muss: die Geschichte von Menschen als Schauobjekten, als Signifikanten des »Anderen«, des Monströsen an den Höfen der europäischen Aristokratie, auf den Jahrmärkten der viktorianischen Epoche oder in »Freakshows« bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein. Schon bei Goffman kann nachgelesen werden, dass Stigmatisierte selbst in den Taktiken des öffentlichen Umgangs mit ihrem körperlichen Handicap zu zwei entgegengesetzten Handlungsvarianten neigen: einerseits zum Verbergen, andererseits zum ostentativen Zeigen. Die zeitgenössischen medialen Inszenierungsformen sind ganz dem Demonstrativen verpflichtet, wählen aber beizeiten auch die Möglichkeit des Verbergens, wenn es opportun erscheint, sich an den Idealbildern der NormalUmwelt zu orientieren (beim Fotoshooting aussehen wie ein »normales« Model) oder die tabuisierte Erotisierung der »Beeinträchtigung« zu vermeiden. Manchmal, wie im Fall der Bikinirunde in der Misswahl, finden Zeigen und Verbergen sogar gleichzeitig statt: die Inhaltsebene der dominierenden visuellen Präsentation wird von jener des sprachlichen Kommentars geleugnet. Kategorien wie »Persönlichkeit« und »Ausstrahlung« sind also zum einen die Ausweichstrategien aus einem Dilemma der ambivalenten Sexualisierung. Und sie dienen als Dementis eines evidenten Sensatioan sich selbst ein »Begehren«. Auch negative Zuschreibungen wurden vermieden. Mit der häufigen Nennung von »Sympathie« und »Respekt« bewegten sich die Antworten durchwegs im Spektrum des sozial Erwünschten. 106

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nalismus. Während die öffentliche Ausstellung behinderter Frauenkörper eine Subversion vorherrschender ästhetischer ormen darstellt, wird dieser »Verstoß« durch völlige Konformität auf der Ebene der Handlungsnormen wieder konterkariert: In der Inszenierung wird alles getan, um die Differenz zu weiblichen Normkörpern möglichst gering zu halten: in Rückblenden zeigt man uns in der Show, wie ein Coach die Bewegungsabläufe der Frauen drillt, ganz nach dem Vorbild der Models und Schauspielerinnen, die er sonst schult; oder wie ein Starfotograf die Kandidatinnen ablichtet, in eben den gleichen Posen, in denen er Frauen ansonsten für Magazine fotografiert; oder wie die Kandidatinnen in großen Limousinen chauffiert werden, ganz so wie andere Nobodys (!) des Alltags in den heute gängigen Fernsehformaten für kurze Zeit mit den Insignien des Stars versehen werden. Wenn wir uns auf Sprachspiele mit Begriffen wie »Nobody« einlassen, werden wir daran erinnert, dass in der Moderne das Konstrukt der »Persönlichkeit« nicht von den Wahrnehmungsweisen der körperlichen Erscheinung zu trennen ist: der Körper steht »für das Selbst, für die materialisierte Subjektivität« (Gutzer/Schneider 2007: 45). »Miss Verkiezing« versucht also eine ReProgrammierung des unbarmherzigen kulturellen Codes, nach dem ein »beschädigter« Körper der Signifikant einer beschädigten Identität ist. Um die körperliche Erscheinung der Frauen in der sozialen Wahrnehmung zu rehabilitieren (!), wird sie durch die Dramaturgie nicht nur so nahe wie möglich an die Bezugsgröße des imaginären Normkörpers herangebracht, sondern soll vor allem über das Phantasma der intakten Persönlichkeit als Beschädigte vergessen gemacht werden. Die Herstellung des intakten Ganzen (als Eintrittskarte zur gesellschaftlichen Integration) geschieht aber nur unter der Bedingung der Ökonomisierung: die Persönlichkeiten müssen sich vor Publikum als konkurrenzfähig erweisen, und die Körper müssen ihre Bereitschaft auch zur Körperarbeit – grob gesprochen: ihre Arbeitswilligkeit und Verwertbarkeit – unter Beweis stellen. So übersteht etwa die Zweitplatzierte, die einen Rollstuhl benötigt, nicht nur alle Strapazen des Wettbewerbs mit einem Lächeln, sie hat auch schon die Vorleistung erbracht, ihren Körper durch Bodybuilding trainiert zu haben.

P u b l i z i t ä t a l s An e r k e n n u n g s s t r a t e g i e Bei aller Ambivalenz: wenn das Fernsehen den Blick auf das »visible handicap« verstärkt und fokussiert, kann dies zweifelsohne wünschenswerte Effekte der Enttabuisierung und sozialen Inklusion mit sich

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bringen.4 »Miss Verkiezing« schafft allerdings auch neue Formen der Diskriminierung, weil die Show implizit zwischen mehr oder weniger akzeptablen Formen von Behinderung unterscheidet, nämlich zwischen telegenen und weniger telegenen. Spätestens vor der Schlussrunde, wenn nur noch vier Kandidatinnen zur Wahl stehen, ist absehbar, wer die spätere Siegerin, damit der Modellfall der gesellschaftlich anerkannten Behinderten sein wird.5 Zu den Faktoren für ihren Erfolg gehört etwa das Vorhaben, das sie im Interview für den Fall ankündigt, den Bewerb zu gewinnen und zur Botschafterin der Behinderten gekürt zu werden. Während ihre Konkurrentinnen sich für barrierefreie Bauten oder Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt einsetzen wollen, besteht das Programm der eloquenten Gewinnerin darin, Behinderten in Zukunft mehr Publizität und öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Damit agiert sie als Verstärkerin für die Schlüsselstrategie der gesamten Veranstaltung, auf die sich die Produzenten und Rezipienten der Show geeinigt haben: auf das Offenbaren, sich Bekennen, Sichtbarmachen. Wird aber der überzeugende öffentliche Auftritt zum Kriterium für die Anerkennung der behinderten Person, so gehen damit auch unterschiedliche Bewertungen für unterschiedliche Formen von Handicaps einher. So lässt sich erklären, dass etwa zwei Kandidatinnen, die hörbare Sprachprobleme haben, im Bewerb chancenlos bleiben müssen. Das Leitbild der durchsetzungsfähigen Persönlichkeit lässt sich in einer Gesellschaft, die beginnt, den klassischen Arbeitsbegriff durch einen der Kommunikation zu ersetzen, nur schwer mit Problemen der sprachlichen Artikulation in Einklang bringen. Noch etwas ist an Roos, der Siegerin, auffällig, nämlich die ungewöhnliche Art der Behinderung, von der sie betroffen ist. Es handelt sich um eine Muskelerkrankung, die sie zwingt, ihre Wirbelsäule durch das Tragen einer Halskrause zu stützen. Nur für wenige Minuten kann sie aufrecht sitzen, stehen oder gehen, ansonsten würde ihr Kopf nach hinten kippen und die Atmung eingeschränkt oder gar unterbrochen werden. Im Kreis ihrer Mitbewerberinnen scheint Roos zum einen die am schwersten behinderte zu sein, denn als einzige kann sie sich nicht selbstständig fortbewegen: Zumeist wird sie in einem Bett liegend auf 4

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So sagte ein Student in der Gruppendiskussion, er hätte zum ersten Mal die Möglichkeit verspürt und auch ausgekostet, körperlich behinderte Menschen über längere Zeit hinweg zu betrachten. Ansonsten würde er es vermeiden, sie anzusehen, um ihnen nicht das unangenehme Gefühl zu vermitteln, angestarrt zu werden. 30 von 32 Studierenden im Seminar tippten zu diesem Zeitpunkt auf die spätere Siegerin.

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die Bühne geschoben. Andererseits aber erscheint sie auch als die »normalste« der Frauen, denn wenn sie für kurze Zeit den »Catwalk« im Abendkleid oder Bikini bestreitet, steht sie auf und bewegt sich wie jemand, der von keinerlei körperlicher Einschränkung betroffen ist. Sie verfügt also – zumindest in der Dramaturgie des Wirklichkeitsfernsehens – über ein größeres Repertoire an »Zuständen« und Handlungsmöglichkeiten als die anderen Frauen. Sie vermittelt auf der Ebene der visuellen Argumentation am deutlichsten beides: ein Bild der Schwerstbehinderung wie eines der Normalität. Das lässt sich wiederum auf zwei Arten lesen: als chronologische Erzählung und als Bild der Koexistenz von Normalität und Behinderung. Beide Deutungsangebote sind für das Publikum attraktiv. In der chronologischen Erzählung finden wir den Heroismus einer jungen Frau, die, wenn sie Anstrengungen und Risiken auf sich nimmt, das Schicksal der körperlichen Beeinträchtigung temporär besiegen kann und damit auch immer wieder die Möglichkeit der Heilung im Sinn einer imaginären vollkommenen Funktionalität evoziert. Hier sind Behinderung und Normalität Komponenten einer kleinen Heilsgeschichte. Wann immer die Akteurin aus ihrem Bett aufsteht, es erscheint wie ein Zitat auf ein biblisches Wunder. Behinderung und Normalität bleiben hier aber auch strikt voneinander abgegrenzte, einander entgegengesetzte Kategorien des Daseins. In einer zweiten Lesart erscheinen Behinderung und Normalität als Phänomene der Gleichzeitigkeit, womit auch die Opposition dieses Begriffspaars unterminiert wird: Wenn Roos auf ihrem Bett liegt, wissen wir um ihr Potential zu normalen Bewegungsmustern, wenn sie über den Laufsteg schlendert, wissen wir über die Existenz der Behinderung Bescheid. Beide Zuschreibungen, Normalität und Behinderung, gehören zu ihrem Dasein, eine davon befindet sich jeweils in Latenz. Roos ist also behindert und normal, sie ist normale Behinderte bzw. behinderte Normale, womit sie dem Publikum eine größtmögliche Bandbreite an Identifizierungsangeboten bietet. Dieser zweite Aspekt möglicher Rezeption, durch den die Dichotomie von Normalität und Behinderung unterwandert wird, ruft uns auch Goffmans Versuch in Erinnerung, dieses Gegensatzpaar aufzulösen: selbst Menschen mit sichtbarem Stigma, die Diskreditierten, kennen den Zustand der »Normalität«, nämlich dann, wenn sie sich innerhalb einer Gruppe ähnlich Stigmatisierter befinden. Umgekehrt kennen auch die Normalen den Zustand der Behinderung, weil ihnen in der Regel irgendeine Eigenschaft anhaftet, die abhängig von den jeweiligen Identitätsnormen in bestimmten sozialen Situationen zum Stigma werden kann. Sie sind diskreditierbar. In diesem Sinn ist »die Dynamik beschämender 109

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Andersartigkeit […] ein allgemeines Merkmal sozialen Lebens« (Goffman 1975: 172). »Beschämende Andersartigkeit«: Viele der sozialen Merkmale die in Goffmans Untersuchungen aus den frühen 1960ern noch mit diesem Etikett abgehandelt wurden, haben im Spätkapitalismus am Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem »Kommunikation« die entscheidende Produktivkraft bildet, an stigmatisierender Wirkung verloren. »Abweichende« sexuelle Orientierung oder ethnische Zugehörigkeit sind im Licht jener Toleranz, wie sie in der politischen Öffentlichkeit und in den populärkulturellen Diskursen westlich-demokratischer Staaten zu finden ist, keine Kategorien moralischer Diskreditierung mehr (was allerdings in vielen Lebenslagen nicht gegen faktische Diskriminierung schützt). Gleichheits- und Gerechtigkeitsansprüche von sozialen Gruppen, die ehemals ab den späten 1960ern eine »Gegenöffentlichkeit« bildeten, haben sich durchgesetzt ebenso wie die »Toleranz« der ökonomischen Verwertungslogik: Andersartigkeit wird akzeptabel, wenn sie öffentlich einbekannt wird und wenn sie sich nutzbar machen lässt, weil sie mit spezifischem Erfahrungswissen und mit spezifischem kulturellen oder sozialen Kapital verbunden ist, das sich wiederum für bestimmte Dienstleistungen einsetzen lässt. Im Kontext der elektronisch anonymisierten Distribution von Gütern und der Entmoralisierung wirtschaftlichen Handelns ist »Vertrauen« zu einer zentralen Kategorie der Managementliteratur geworden. Das Coming-out und die selbstbewusste Verknüpfung von vormaligen Stigmata mit gesellschaftlicher Prominenz haben sich weit über die Entdeckung und Bearbeitung von Nischenmärkten mit von der Norm »abweichenden« Zielgruppen (wie den Schwulen und Lesben ab den späten 1990ern) hinaus als vertrauensbildende Maßnahmen im politischen und kommerziellen Marketing etabliert. Menschen mit körperlicher Behinderung allerdings blieben von solchen Anerkennungsmechanismen bislang weitgehend ausgeklammert. Vielleicht aber ist die Rhetorik von »Miss Verkiezing« ein erster Schritt in diese Richtung. Dort, wo sie den Gegensatz von normal und behindert in Frage stellen, leisten Text und Subtext der Show das, was auch andere identitätspolitische Strategien tun, wenn sie Mechanismen der Selbstverleugnung und Verdrängung freilegen: Sie betonen nicht nur die Normalität der vermeintlich Andersartigen, sondern erinnern auch die Normalen an das Andersartige, das ihnen selbst inhärent ist, also die Männer an ihre femininen Anteile, die Heterosexuellen an ihre lesbischen oder schwulen Neigungen, die Xenophoben an ihre Herkunft aus der »Fremde« etc.

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D i e b e h i n d e r t e M e h r h e i t a l s Ar b e i t s g e s e l l s c h a f t der Zukunft »Miss Verkiezing« spricht, wenn auch sehr indirekt, die Normalen als potentiell Behinderte an und vollzieht damit jene diskursive Wende, wie sie in den fortgeschrittensten Bereichen der politischen Administration von Gesundheit bereits stattgefunden hat. So heißt es in der Einleitung zur International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der Weltgesundheitsorganisation: »The ICF puts the notions of ›health‹ and ›disability‹ in a new light. It acknowledges that every human being can experience a decrement in health and thereby experience some degree of disability. Disability is not something that only happens to a minority of humanity. The ICF thus ›mainstreams‹ the experience of disability and recognises it as a universal human experience.« (WHO 2007)

Nach wie vor sind es aber Unklarheiten in den Definitionen und Klassifikationen, die dazu führen, dass Behinderung selbst in hoch industrialisierten Ländern statistisch nur mangelhaft erfasst ist.6 Insgesamt deuten aber die verfügbaren Daten an, dass der Anteil der offiziell als behindert Wahrgenommenen im Steigen begriffen ist.7 Das liegt zum einen an der Alterung westlicher Gesellschaften. Auch die Verbreiterung der Perspektive auf das Phänomen der Behinderung, wie das die ICF nahe legt, führt dazu, dass mehr Menschen als behindert klassifiziert werden. Noch befinden wir uns in einer Situation, in der unter dem Blickwinkel individueller Chancengleichheit die mangelnden Zugangschancen Behinderter zum Erwerbsmarkt kritisiert werden. Der demographische Wandel hin zu einer »Gesellschaft des langen Lebens«, in der die bio6

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Der letzte entsprechende EU-Bericht mit dem Titel »Disability and social participation« von 2001 basiert auf einer Erhebung aus dem Jahr 1996 (!) und orientiert sich an der Selbsteinschätzung der Befragten, die sich als »schwer« (severe) oder »gemäßigt« (moderate) behindert einschätzen konnten. 14,5 Prozent der über 16-Jährigen in den damaligen EU-14-Staaten stuften sich dabei als behindert ein (4,5 Prozent als schwer, 10 Prozent als gemäßigt). Zur Problematik der Datenlage in Österreich siehe Talos 2007. Dies behauptet die New York Times (Navarro 2007) über die USA. In Österreich lassen sich aufgrund der problematischen Datenlage nur Indikatoren für diese These heranziehen. So stieg bspw. die Zahl der »begünstigten Behinderten« von 63.292 Personen 1995 auf 93.596 im Jahr 2006. »Begünstigte Behinderte« sind erwerbsfähig und weisen eine vom Bundessozialamt anerkannte Behinderung von mindestens 50 Prozent auf. Die Zahl der Personen, die Pflegegeld bezogen, wuchs von 1995 bis 2005 um 20 Prozent (BMSK 2007). 111

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politischen Strategien darauf abzielen, die Erwerbsquoten unter den Älteren zu steigern, könnte aber ein wichtiger Grund sein, warum sich ein von Ausschließungs- und Verdrängungsmechanismen gekennzeichneter Diskurs zu verwandeln beginnt in einen, der einer Bekenntniskultur mit Geständnissen über individuelle Formen von Beschädigung Platz macht. Längst ist die »Generation 50-plus« als stetig wachsendes Kundensegment identifiziert, und mit der Bewerbung von Produkten aus dem Gesundheitsbereich ist unter anderem das neue Berufsbild des jugendlichen Rollstuhl-Models entstanden. In Gesellschaften, in denen steigende Pflegekosten, Fragen der Finanzierung der Pensionen und die politische Forderung nach möglichst langer Lebensarbeitszeit prominent diskutiert werden,8 entspricht es der sozialtechnologischen Logik, dass Menschen »funktionelle Defekte« vorbehaltlos offenbaren, um möglichst effektiv Maßnahmen zugunsten ihrer weiteren ökonomischen Produktivität unterzogen werden zu können. In der Diskussion um die Pflegeausgaben wird man darauf verwiesen, dass mit einem Rückgang der durch Bezugspersonen unentgeltlich erbrachten informellen Pflege aufgrund gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen (Singularisierung der Haushalte, erhöhte Frauenerwerbsquote, ...) zu rechnen sei (IHS 2007: 3). Wenn das Fernsehen Populärkultur produziert, in der an Leistungswilligkeit und verbessertes Selbstmanagement appelliert wird, so bildet dies eine komplementäre Botschaft in jenem öffentlichen Diskurs, in dem wir andernorts vor explodierenden öffentlichen Pflegeund Gesundheitskosten gewarnt werden. Die Behauptung eines grundlegenden Mangels und das Versprechen, diesen Mangel zu tilgen, ist ein wesentlicher Zug moderner technischökonomischer Rationalität. Alles wird gut, so lautet in diesem Kontext also auch die Botschaft des Reality-TV, solange wir unsere Defekte einbekennen und über sie kommunizieren, das heißt, sie anschlussfähig für soziale Maßnahmen halten, und solange wir den individuellen Leistungswillen demonstrieren, Schwächen in Stärken zu verwandeln. Unter den Aspekten von Leistung und Effizienz könnte sich im weiteren Kontext der Technologieentwicklung das Leitbild des funktionalen Normkörpers in Zukunft ohnehin als obsolet erweisen: Oscar Pastorius aus Südafrika nennt sich selbst »the fastest man on no legs«. Auf künstlichen Beinen läuft er 400 Meter in 46,34 Sekunden. Die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2008 wird ihm voraussichtlich verweigert werden, da ihm, so die Sportverbände, seine Prothesen Vorteile gegen-

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Im bereits erwähnten EU-Bericht wird die statistische Erfassung von Behinderung ausdrücklich im Zusammenhang mit Problemen der alternden Bevölkerung und steigender Pflegekosten gesehen.

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über nicht behinderten Läufern verschaffen könnten (Longman 2007: 1, 3). Was Sigmund Freud in seinen kulturtheoretischen Schriften vermerkte, nämlich dass Brillen, Motoren, Kameras, aber auch das Telefon »Hilfsorgane« wären, die den Menschen zum »Prothesengott« machen (Freud 1996: 57), wurde später bei Marshall McLuhan zu einer Theorie der Funktionalität aller Technologien entwickelt: Sie wären Prothesen und Körperextensionen (McLuhan 1964). Damit lässt sich dann Technologieentwicklung als Versuch der maschinellen Verbesserung einer imaginierten grundlegenden Unvollkommenheit des menschlichen Körpers verstehen. Mit den Informations- und Biotechnologien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden schließlich die Grenzen zwischen Menschen und Maschinen unscharf. Auch wenn sich Oscar Pastorius noch nicht mit »gesunden« Läufern messen darf, weil er als unzulässige Kombination aus Mensch und Maschine die olympische Ideologie stört: sein Beispiel zeigt, dass nicht nur die imaginäre, sondern auch die »reale« Unvollkommenheit des Körpers willkommener Anlass zur Steigerung seiner technischen Funktionalität ist. Es mag sein, dass sich hier eine bei Schneider/Gutzer (2007: 48) erwähnte »Chance der Gesellschaft zu neuen Körperutopien« verorten lässt. Die verbleibt allerdings im Eindimensionalen, solange sie sich nur innerhalb des Paradigmas der individuellen Produktivität eröffnet.

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Goffman, Erving (1975): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt a.M. (US-amerik. 1963). Gutzer, Robert/Schneider Werner (2007): Der »behinderte« Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung; in: Waldschmidt/Schneider (Hg.): S. 31-54. Hughes, Bill/Paterson, Kevin (1997): The Social Model of Disability and the Disappearing Body. Towards a Sociology of Impairment; in: Disability & Society 12, S. 325-340. IHS (2007), Institut für Höhere Studien, Wien: Gesundheitsausgaben in Österreich: Stabilisierung auf hohem Niveau. Presseinformation, Wien, 1.3.2007. Longman, Jeré (2007): Debate on Amputee Runner: Is He Disabled or Too-Abled?; in: The New York Times, Monday, May 21, articles selected for Der Standard, S. 1 und 3. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The extensions of man, New York/Toronto/London. Navarro, Mireya (2007): With Palsies Or Prosthetics. An Evolution in Attitudes; in: The New York Times, Monday, May 21, articles selected for Der Standard, S. 1. Tálos, Emmerich (2007): Zur Situation von Menschen mit Behinderungen im aktuellen Wandel der Erwerbsarbeit und sozialstaatlicher Sicherung. Vortrag zum Kongress »Vom schönen Schein der Integration. Menschen mit Behinderung am Rande der Leistungsgesellschaft«, Wien, auf http://www.lok.at/kongress/admin/ files/Beitrag_Talos.pdf, 31.10.2007. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.) (2007): Disability Studies. Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (2007): Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung, in: dies. (Hg.), S. 9-28. Waldschmidt, Anne (2007): Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies, in: Waldschmidt/ Schneider (Hg.), S. 55-77. Wegas, Toni (2003): Loser: We are the Champions?, in: malmoe, http://www.malmoe.org/artikel/alltag/486, 31.10.2007. WHO (2007), World Health Organisation: International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), auf http://www.who.int/ classifications/icf/en/, 2.10.2007.

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Die Flexibilität der Arbeit und das garantierte Grunde ink ommen GEORG VOBRUBA

Ende der 1970er Jahre wurde im Zuge der Debatten um den Wandel der Arbeit begonnen, die Flexibilisierung der Arbeit zu diskutieren. Unwesentlich später setzten auch Diskussionen um ein garantiertes Grundeinkommen ein. Zwischen beiden Diskursen besteht eine Art struktureller Verwandtschaft, und zwar sowohl hinsichtlich der Diskursinhalte als auch der Diskurskonstellation. Die Inhalte beider Diskurse stehen zueinander in einem bemerkenswerten Komplementaritätsverhältnis: Die Diskussion um die Flexibilisierung von Arbeit zielt direkt auf die Gestaltung der Arbeit und zieht diverse Erwartungen und Befürchtungen bezüglich der Folgen für die Einkommen nach sich. Die Diskussion um ein Grundeinkommen zielt direkt auf Einkommensfragen und zieht Erwartungen, Befürchtungen bezüglich der Folgen für Arbeit und Arbeitsbereitschaft nach sich. Inhaltlich geht es also in beiden Fällen um den gesellschaftlichen und biographischen Stellenwert von Arbeit sowie um Modalitäten des Arbeitseinsatzes, insbesondere um Neujustierungen des Verhältnisses von abhängiger Erwerbstätigkeit und anderen Arten individueller Zeitverwendung. Ähnlich war auch die politische Konstellation, in der die beiden Diskussionen stattfanden: Im Zuge der sich damals entwickelnden Entgegensetzung von organisierten Interessen und Neuen Sozialen Bewegungen positionierten sich Befürworter und Geg1 ner im wesentlichen quer zum Rechts-Links-Schema. Daraus ergaben 1

Eine bemerkenswerte Ausnahme war der damalige österreichische Sozialminister und exponierte Gewerkschaftsfunktionär Alfred Dallinger (vgl. Martinek et al. 1986, Bundesministerium für Arbeit und Soziales 1987), 115

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sich in der Arbeitsflexibilitätsdiskussion und in der Grundeinkommensdiskussion überraschende Konfliktlinien und irritierende Kooperationschancen, insgesamt also neuartige Orientierungsprobleme. Sieht man von einigen Ausnahmen (vgl. Standing 1986; Vobruba 1985/2007) ab, blieben die beiden Diskussionen gleichwohl merkwürdig separiert voneinander. Ich will hier nicht über mögliche Gründe dafür spekulieren, noch will ich für eine generelle Verknüpfung beider Diskurse argumentieren. Ziel meiner Argumentation ist, zu zeigen, an welcher Stelle der Diskussion um die Flexibilisierung der Arbeit (so etwas wie) ein Grundeinkommen ins Spiel kommen muss, wenn man flexibilisierungspolitische Absichten mit Aussicht auf Erfolg realisieren will. Dazu werde ich zuerst die Diskussion zur Arbeitsflexibilisierung aufnehmen. Dann werde ich Erweiterungen dieser Diskussion rekonstruieren und schließlich auf das Konzept der Flexicurity zu sprechen kommen. Anhand einer Systematik unterschiedlicher Ansätze zur Flexicurity lässt sich schließlich zeigen, an welcher Stelle die Flexibilisierungsdiskussion auf eine Verknüpfung mit der Grundeinkommensdiskussion hinaus läuft.

D i e D e b a t t e u m Ar b e i t s z e i t f l e x i b i l i t ä t Im Gegensatz zur Grundeinkommensdiskussion, aus der bald Systematisierungsvorschläge hervorgingen (vgl. Nissen 1990; Wolf 1991), um die Komplexität der Diskussionskonstellation analytisch in den Griff zu 2 bekommen, dominierte in der Debatte um Arbeitszeitflexibilität lange Zeit die einfache Unterscheidung zwischen Gewinnern und Verlierern von Arbeitszeitflexibilisierung. Man fragte nach Interessen noch bevor das Untersuchungsfeld überhaupt analytisch aufgearbeitet war und Effekte von Arbeitszeitflexibilisierung mit ausreichender empirischer Plausibilität überhaupt festgestellt worden waren. Diese interessenperspektivische Verkürzung der früheren Arbeitszeitflexibilisierungsdiskussion sicherten ihr zwar erhebliche Aufmerksamkeit, mag aber auch ein Grund für ihren Mangel an Nachhaltigkeit gewesen sein. Ich rufe kurz die wesentlichen Phasen der Diskussion in Erinnerung. In der ersten Phase der Diskussion dominierten zuerst kurz Darstellungen von Arbeitszeitflexibilisierung als moderne Arrangements im Interesse aller (vgl. Teriet 1976; Teriet 1977). Dies war die Zeit, in der

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von dem starke Impulse für die Diskussion um Arbeitszeitflexibilisierung und Grundeinkommen ausgingen. Wesentliche Teile hier sind übernommen aus meinem Beitrag im Berliner Journal für Soziologie, Jg. 16, Nr. 1. S. 25-35.

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FLEXIBILITÄT UND GRUNDEINKOMMEN

diverse Muster von Arbeitszeitflexibilität erfunden und auf ihre Realisierbarkeit in Betrieben getestet wurden (vgl. Hoff 1983). Hand in Hand mit der Auffassung, Arbeitszeitflexibilität schaffe win-win-Situationen, ging die Entwicklung von Arbeitszeitberatung als einer betriebswirtschaftlichen Teildisziplin. Das Grundproblem dieser frühen harmonistischen Sicht auf Flexibilisierung bestand in Folgendem: Arbeitszeit ist eine der wesentlichsten Determinanten der Gestaltung von Lebenszeit (vgl. Rinderspacher 1985: 288; Vobruba 1989: 75ff.). Die unterschiedlichen, auf den Arbeitsprozess bezogenen Interessen manifestieren sich darum primär in Arbeitszeitkonflikten und erfordern genaue Regelungen des zeitlichen Einsatzes von Arbeit. Insofern Arbeitszeitflexibilisierung dazu führt, dass Arbeitszeitregelungen uneindeutig werden, muss sie also Gegenstand von Interessenkonflikten werden. In der zweiten Phase wurde dies bald klar. Der technokratische Optimismus wurde nun von Wortmeldungen überlagert, in denen energisch auf die partikulare Interessengebundenheit von Arbeitszeitflexibilisierung aufmerksam gemacht wurde. Diese Entwicklung wurde durch mehrere Faktoren begünstigt. Zum einen: Sobald sich die Gewerkschaften überhaupt zur Arbeitszeitflexibilisierung positionierten, positionierten sie sich dagegen (vgl. Bäcker/Seifert 1982). Zum anderen: Im Konflikt um die Arbeitszeitverkürzung im Jahr 1984 beruhte die Strategie der Arbeitgeber im Wesentlichen darauf, Arbeitszeitflexibilisierung als »Alternativangebot« zur kollektiven Arbeitszeitverkürzung ins Gespräch zu bringen. Damit bestätigten sie die Interessengebundenheit der Debatte und bestärkten die Gewerkschaften in ihrer kritischen Haltung zu Arbeitszeitflexibilisierung (vgl. Bleses/Vetterlein 2002: 135). In den Sozialwissenschaften gab es in den späten 70er Jahren und in der ersten Hälfte der 80er Jahre eine breite Arbeitszeitdebatte und intensive Arbeitszeitforschung (vgl. z. B. Offe et al. 1982; Talos/Vobruba 1983). Hier fanden sich sehr deutliche Bemühungen, das Thema Arbeitszeitflexibilisierung quer zum politischen Rechts-Links-Schematismus zu positionieren. Im Einzelnen drehte sich die Debatte vor allem um Kongruenzen und Inkongruenzen von Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten und betrieblichem Arbeitseinsatzbedarf (vgl. Strümpel 1982; Landenberger 1983) und damit um das tatsächlich empirisch feststellbare Ausmaß der verschütteten Konsenspotentiale zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Weiter ging es in der Diskussion um das Verhältnis von Arbeitszeitflexibilisierung zu Beschäftigungsproblemen (vgl. Heinze et al. 1979; Mertens 1982). Angesichts der sich verfestigenden hohen Arbeitslosigkeit war dabei vor allem die Frage von Interesse, ob das in chronometrischer Arbeitszeitflexibilisierung (insbesondere in Teilzeit117

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arbeit) enthaltene Arbeitsumverteilungspotential beschäftigungspolitisch genützt werden könne: Abbau kollektiver Unterbeschäftigung durch Abbau individueller Überbeschäftigung (vgl. Strümpel 1990). Aus dieser Diskurskonstellation ergaben sich zwei Konsequenzen, die in der dritten Phase der Debatte ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Zum einen ließen sich die »falschen Allgemeinheiten« (Wiesenthal 1985) und insbesondere das Argument, dass Arbeitszeitflexibilisierung prinzipiell im Interesse aller sei, nicht länger aufrecht erhalten. Dies entwertete das Thema als Arbeitgeber-Instrument gegen kollektive Arbeitszeitverkürzung erheblich. Zum anderen ließ sich die Gewerkschaftsposition gegen Arbeitszeitflexibilisierung nicht durchhalten: Erstens, weil sich arbeitnehmerseitige Wünsche nach flexiblen Arbeitszeiten nicht auf Dauer ignorieren ließen und zweitens, weil sich die Gewerkschaften dem Vorwurf ausgesetzt sahen, dass erst ihre Weigerung, Flexibilisierung in ihr politisches Repertoire aufzunehmen, jene Nachteile von Flexibilisierung verursache, deretwegen sie Flexibilisierung pauschal ablehnten. Spiegelbildlich wurde arbeitgeberseitigen Forderungen nach mehr Flexibilität die Empirie der tatsächlich existierenden Flexibilität entgegen gehalten und der Vorwurf erhoben, dass Unternehmen diverse Flexibilisierungsmöglichkeiten aufgrund eines nicht weiter explizierten »Zeitkonservatismus auf der Arbeitgeberseite« (Matthies 1994: 157) nicht nutzten. Im Ergebnis schrumpfte die Schnittmenge gemeinsamer Interessen an Flexibilität erheblich – etwa in Folge ebenso schlichter wie wichtiger empirischer Befunde wie dem, dass Frauen an Vormittagsteilzeitarbeitsplätzen, der Einzelhandel aber vor allem an Nachmittagsteilzeitarbeitskräften interessiert ist (vgl. Eckart 1983).

E rw e i t e r u n g e n d e s F l e x i b i l i t ä t s d i s k u r s e s Gegen Ende der 80er Jahre kam es zu einer thematischen Erweiterung des Arbeitsflexibilitätsdiskurses. Von da an ging es nicht mehr nur um Arbeitszeitflexibilisierung, sondern um die Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes in seinen Dimensionen: Zeit, Raum, und Qualifikation. Für diese Erweiterung gab es zwei Hauptursachen. Zum einen trieben wachsende ökonomische Instabilitäten, wie etwa der zunehmende globale Wettbewerb, die Flexibilisierungsdiskussion voran. Gleichgültig ob real, konstruiert oder einfach interessenpolitisch übertrieben – die breit geteilte Diagnose einer zunehmend instabilen Weltökonomie war die ausschlaggebende Ursache für die verbreitete Überzeugung, dass umfassende Flexibilisierungen der Arbeits- und in 118

FLEXIBILITÄT UND GRUNDEINKOMMEN

ihrer Folge der Lebensverhältnisse ohne Alternative sei. Und zweitens wurde die Entwicklung atypischer Beschäftigungsformen und die zunehmende sozialwissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit für Prozesse der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses (vgl. Mückenberger 1985; Vobruba 1990), seien sie deregulierungspolitisch initiiert, Unternehmensstrategie, oder Ausdruck des Wunsches nach selbstbestimmter Arbeit (vgl. Hörning et al. 1990), zu einem wichtigen Stimulus für Flexibilisierung in ihren drei Dimensionen. Damit trat die Flexibilisierungsdebatte in die Phase der Systematisierung nach unterschiedlichen Flexibilisierungsdimensionen ein. Wenn ich recht sehe, könnte sich die folgende Systematisierung für zukünftige Forschung als nützlich erweisen. Sie beruht auf zwei Unterscheidungen: Externe und interne Flexibilität sowie numerische und funktionale Flexibilität von Arbeit (vgl. Dragendorf 1988; Matthies et al. 1994; van Kooten 1999: 50; Klammer/Tillmann 2001: 7; Struck 2006: 13). Kombiniert man diese Unterscheidungen, so ergeben sich daraus die folgenden vier Typen von Arbeitsflexibilität: Schaubild I: Typen von Arbeitsflexibilität

Extern

Intern

Quantitativ

Qualitativ

Heuern/Feuern

Unternehmensberater

Leiharbeit (I)

Outsourcing (II)

Überstunden

Job rotation, Springer

Teilzeit (III)

Weiterqualifikation (IV)

Diese Systematik von Flexibilitätstypen beruht auf Unterscheidungen, an die sich unmittelbar soziale Konsequenzen der jeweiligen Flexibilisierungsstrategien anschließen lassen. Numerische Flexibilität bezieht sich auf die Dimension Zeit, und zwar auf den chronometrischen und den chronologischen Aspekt des Arbeitseinsatzes (I und III). Qualitative Flexibilität dagegen betrifft primär die Dimension der Qualität des Arbeitseinsatzes (II und IV), eine Dimension, die wiederum in engem Zusammenhang mit der Qualifikation der Arbeitskraft steht. Die Unterscheidung extern/intern dagegen impliziert Flexibilität in der Dimension Raum: Interne Flexibilität bezieht sich auf Flexibilität innerhalb eines Unternehmens (III und IV), externe Flexibilität impliziert Arbeitsplatzwechsel zwischen Unternehmen (I und II). Insbesondere die letztere Unterscheidung spielt eine wichtige Rolle für das Verständnis der Entwicklung des Ansatzes und unterschiedlicher Formen von Flexicurity. 119

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Und genau hier kommt die Idee eines garantierten Grundeinkommens ins Spiel. Dies werde ich nun zu zeigen versuchen, indem ich unterschiedliche Formen von Flexicurity danach sortiere, ob sie interne oder externe Flexibilität der Arbeit implizieren.

Zw e i T yp e n v o n F l e x i c u r i t y Die Flexicurity-Idee entstand aus der Verknüpfung von Ideen zur Deregulierung des Arbeitsrechts und zum Um- und Ausbau der Sozialpolitik. Die Diskussion hatte also ganz offensichtlich zwei interessenpolitisch höchst unterschiedlich besetzte Ausgangspunkte. Die Erweiterung des Spektrums legaler Arbeitsverhältnisse durch Deregulierung wurde als in der Denkwelt des Neoliberalismus beheimatet gesehen und als Arbeitgeberposition vorgetragen. Der Um- und Ausbau des Sozialstaats und sozialpolitischer Rechtsansprüche dagegen wurde mit markt-skeptischen Positionen assoziiert und eher dem Repertoire Grüner und heterodoxer sozialdemokratischer Positionen zugeordnet. Entsprechend kompliziert und langwierig war es, jenseits der weltanschaulichen und interessenpolitischen Frontstellungen Platz für die Denkmöglichkeit von Entsprechungsverhältnissen zwischen Deregulierung und sozialpolitischer Verrechtlichung zu schaffen (vgl. Standing 1986; Vobruba 1985/2007; Zapf et al. 1987; Vobruba 1997: 77ff). Das Flexicurity-Konzept kam Ende der 1990er Jahre auf. Es stellt insofern eine Neuerung dar, als hier Flexibilität im Rahmen einer neuen, komplexeren Bedingungskonstellation gedacht wird. Die Grundidee von Flexicurity ist, dass Flexibilität des Arbeitseinsatzes Kontinuität des Einkommens voraussetzt. Darüber herrscht in der Diskussion weitgehend Einigkeit. Bei der Ausgestaltung gibt es zwei Grundversionen: In der ersten Version handelt es sich um Flexibilität im Rahmen des Betriebes, also um interne Flexibilität. Die erforderliche Einkommenskontinuität wird hier durch kontinuierliche Betriebszugehörigkeit hergestellt. In der zweiten Version dagegen handelt es sich um Flexibilität, die den Wechsel zwischen Betriebene und damit möglicherweise den Wechsel zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit einschließt, also um externe Flexibilität. Dies bedeutet, dass die Einkommenskontinuität, die im Falle interner Flexibilität durch die Betriebszugehörigkeit hergestellt wird, bei externer Flexibilität aus einer arbeitsmarktexternen Einkommensquelle 3 substituiert werden muss. Arbeitsflexibilisierung und Sozialpolitik müs-

3

Eine interessante Ausnahme ist Leiharbeit: Externe Flexibilität in der Raumdimension (Wechsel des Arbeitsorts) wird hier mit Einkommens-

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FLEXIBILITÄT UND GRUNDEINKOMMEN

sen also so zusammengedacht und aufeinander abgestimmt werden, dass sich unterschiedliche Formen von Flexibilitäts-Stabilitäts-Arrangements realisieren lassen. Diese Unterscheidung zwischen externen und internen Versionen von Flexicurity und den systematisch unterschiedlichen sozialpolitischen Anforderungen, die sich daraus ergeben, ist in der Flexicurity-Diskussion bisher nicht ausreichend klar getroffen wurde. Und ebenso ist bisher weitgehend übersehen worden, dass sich hier eine Anschlussmöglichkeit für die Grundeinkommensdiskussion und ein gutes Argument für ein garantiertes Grundeinkommen ergibt. Ich gehe auf beides näher ein. 1. Die Versionen von Flexicurity, die auf interner Flexibilität gründen, beruhen auf kontinuierlicher Betriebszugehörigkeit. Rascher Wandel der Quantität und Qualität der Nachfrage aus der (Markt-)Umwelt von Unternehmen werden als Flexibilitätsanforderungen an die Akteure im Betrieb weitergegeben (vgl. Flecker 2005). Damit einher können Schwankungen der Einkommenshöhen gehen, doch sichert die kontinuierliche Betriebszugehörigkeit die prinzipielle Kontinuität des Einkommensflusses (Feld III). Der Beitrag der Sozialpolitik zur Ermöglichung von Flexibilität besteht hier vor allem darin, Langzeitprobleme flexibler Arbeitsverhältnisse abzufangen. Dabei wird (implizit) stets an einen – allerdings sehr häufigen – Spezialfall interner numerischer Flexibilität gedacht: Die Anpassung an sich rasch ändernde betriebliche Erfordernisse erfolgt durch Expansion atypischer Beschäftigungsverhältnisse, als Voraussetzungen für variable individuelle Arbeitszeiten und -einkommen. Atypische Beschäftigungsverhältnisse ziehen in einem auf das Normalarbeitsverhältnis fokussierten System sozialer Sicherung immer dann sozialpolitische Probleme nach sich, wenn auf ihrer Grundlage keine Anwartschaften auf ausreichend hohe Sozialtransfers erworben werden können (vgl. Vobruba 1990). Atypische Beschäftigungsverhältnisse bedeuten nicht per se Flexibilität, sondern können als Bausteine für Flexibilitätsarrangements genützt werden. Die sozialpolitische Absicherung atypischer Beschäftigungsverhältnisse (vgl. Keller/Seifert 2005) ist darum nur indirekt ein Beitrag zu Flexicurity. Es geht dabei vor allem um »sozialpolitische Probleme in der Nacherwerbsphase« (Keller/Seifert 2000: 296). Daraus ergibt sich kein zielgenaues Argument für ein Grundeinkommen (vgl. Vobruba 2007: 194). Denn Armut in Folge unzureichender Anwartschaften kann durch das Einziehen von Mindest-

kontinuität durch stabile Zugehörigkeit zum verleihenden Unternehmen verbunden. Bezeichnender Weise handelt es sich dabei aber meist nur um stark reduzierte Einkommenskontinuität. 121

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sicherungsschwellen in die gegebenen Sozialversicherungszweige, also mit einem weit weniger voraussetzungsvollen Instrument als einem Grundeinkommen, bekämpft werden. Am Konzept von Flexicurity, das interne Flexibilität impliziert, manifestieren sich zwei traditionelle Schwerpunktsetzungen und Grenzen des Aktionsradius gewerkschaftlicher Politik der Arbeitsflexibilität: Zum einen ist exklusiv an Politik für Beschäftigte gedacht. Die Idee, dass soziale Sicherheit (temporäre) Ausstiege aus abhängiger Erwerbstätigkeit ermöglichen solle, wird zwar am Rande erwähnt, zentral drehen sich die Ideen aber um die sozialpolitische Absicherung der Folgen von Flexibilität am Arbeitsplatz. Und zum anderen gründet diese Version des Flexicurity-Konzepts auf einer eindeutigen Annahme über die Ursachen von Flexibilität: Arbeitsflexibilität ergibt sich als unternehmerisch gesetzte Notwendigkeit, auf welche sich die Beschäftigten einzustellen haben. Es geht um die »Stärkung der Anpassungsfähigkeit« (Riester 1999: 142). Insgesamt handelt es sich bei dieser Version von Flexicurity um die Anpassung der Sozialpolitik an Arbeitsverhältnisse jenseits des Normalarbeitsverhältnisses. Eine Sozialpolitik, die nicht mehr strikt am Normalarbeitsverhältnis orientiert ist, soll die Akzeptanz dieser Arbeitsformen fördern und damit ihre unternehmerische Nutzung als Bausteine für Flexibilitätsarrangement ermöglichen. 2. Bei den Versionen von Flexicurity, die auf externer Flexibilität beruhen (Feld I), handelt es sich um Konzepte, bei denen soziale Sicherheit Flexibilität über den Einsatz in ein und demselben Unternehmen hinaus ermöglichen soll. Sozialpolitik spielt dabei eine aktive Rolle, sobald in das Flexicurity-Konzept Sozialtransfers für Erwerbsfähige (vgl. Hanesch 2001) eingebaut werden. Hier geht es um die Absicherung (vorübergehender) arbeitsmarktexterner Lebenslagen und somit um mehr Flexibilität bei Arbeitsplatzwechsel. Aus Unternehmensperspektive betrachtet, bedeutet dies die sozialpolitische Absicherung externer, numerischer Flexibilität. Aus individueller Sicht wird eine Absenkung des Einkommensrisikos bewirkt, das mit abnehmender Beschäftigungsstabilität (vgl. Struck/Köhler 2004) verbundenen ist. Genau hier ist die Anschlussstelle zwischen Flexicurity und einem garantierten Grundeinkommen.

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Grundeinkommen im Rahmen von Flexicurity Inwieweit sich im Rahmen des Flexicurity-Konzepts Anknüpfungspunkte für ein garantiertes Grundeinkommen bieten, erschließt sich über die folgende Frage: Welche Bedingungen muss ein Sozialtransfer erfüllen, um die externe quantitative Flexibilität des Einsatzes von Arbeitskräften bestmöglich zu unterstützen? Denn die sozialpolitische Absicherung von externer quantitativer Flexibilität ist das Kernelement all der Flexicurity-Konzepte, welche über unternehmensinterne Flexibilisierung hinaus gehen. 1. Der bedingungslose Zugang. Anwartschaften auf einen Sozialtransfer, der externe Flexibilität unterstützen soll, sind sinnlos. Es geht ja gerade darum, mehrere, in rascher Folge stattfindende Arbeitsplatzwechsel zu ermöglichen. Der Erwerb von Anwartschaften setzt dagegen stets eine erhebliche Stabilität von Arbeitsverhältnissen voraus. Allerdings ist die sukzessive Erfüllung dieser Bedingung durch die schrittweise Verringerung von erforderlichen Anwartschaftszeiten denkbar. Ebenso ist die Beschränkung des Zugangs durch Bedürftigkeitsprüfungen kontraproduktiv für externe Flexibilität, da sie Wechsel zwischen Erwerbseinkommen und Sozialtransfers administrativ belastet und damit schwerfällig macht. Eine Berücksichtigung des Einkommensbedarfs dagegen findet im Rahmen einer Gesamtbesteuerung aller Einkommensarten einer Person ohnehin statt. 2. Die ausreichende Höhe. Wenn Flexicurity, welche externe Flexibilität impliziert, kontinuierliche Einkommensbiographien trotz diskontinuierlicher Arbeitsbiographien ermöglichen soll, dann muss die Höhe des Sozialtransfers ausreichen, um einen drastischen Einbruch des Lebensstandards zwischen zwei Erwerbseinkommen zu verhindern. Nicht zu übersehen ist ein gewisser Widerspruch zwischen der einheitlichen Höhe eines Grundeinkommens und dem Postulat einer (relativen) Kontinuität des Einkommens zwischen den Beschäftigungsverhältnissen. Von der Differenz zwischen der Höhe des Transfers und dem vorherigen Erwerbseinkommen wird es abhängen, ob bloß unternehmensseitige Flexibilisierungsmaßnahmen akzeptiert oder auch arbeitnehmerseitige Flexibilisierungspotentiale aktiviert werden können. Ich komme darauf bei der Diskussion von Flexicurity als Verhandlungsgegenstand noch einmal zurück. Dass mit die Höhe eines Grundeinkommens über seine gesellschaftspolitische Qualität entschieden wird, ist gerade in jüngster Zeit angesichts unterschiedlicher politiknaher Grundeinkommensvorschläge deutlich geworden und hat zu einer gewissen Desillusionierung 123

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bezüglich der Konsenspotentiale in der Grundeinkommensdiskussion geführt. 3. Der unbefristete Bezug. Ob ein Sozialtransfer unbefristet beziehbar sein muss, um sich als Unterstützung für externe Flexibilität zu eignen, ist zumindest fraglich. Wenn Flexicurity darin besteht, ein gewisses Maß an Einkommenskontinuität mit rasch aufeinander folgenden Arbeitsplatzwechseln zu kombinieren, dann ist ein unbefristeter Bezug des Sozialtransfers, der externe Flexibilität ermöglichen soll, jedenfalls nicht zwingend. Insgesamt ergibt sich aus den Antworten auf die Frage, welche Bedingungen ein Sozialtransfer erfüllen muss, um als soziales Sicherungselement externer Flexibilität im Sinne von Flexicurity zu funktionieren, das Bild eines Sozialtransfers, der zumindest erhebliche Ähnlichkeiten mit einem garantierten Grundeinkommen aufweist.

Flexicurity verhandeln Die Absicherung arbeitsmarktexterner Lebenslagen durch Sozialtransfers leistet einen Beitrag zur Herstellung von Flexicurity, indem sie die Unternehmen von unternehmensfremden (sozialen) Problemen, insbesondere von der Aufgabe langfristige Einkommenskontinuität für die Arbeitskräfte herzustellen, entlastet. Dies ermöglicht ebenso individuelle Wechsel zwischen Arbeitsverhältnissen wie weniger problematisches Feuern und Heuern, da die Arbeitskräfte jenseits des Arbeitsmarkts vorübergehend sozialpolitisch absorbiert werden. Dieser Effekt wurde von Lutz (1984) als Funktion der Landwirtschaft für den Kapitalismus historisch untersucht, und von Offe und Lenhardt (1977) als Funktion von Sozialpolitik schlechthin angesehen. Das Bild der »atmenden Fabrik«, das bestimmte Formen interner Flexibilität veranschaulichen soll, passt übrigens für solche Formen von Flexicurity auf der Basis externer Flexibilität viel besser. Meine bisher angestellten Überlegungen haben der funktionsbezogenen Perspektive auf Flexicurity gegolten, in der Flexibilität und Sozialtransfers hinsichtlich ihres Entsprechungsverhältnisses zu untersuchen sind. Ebenso aber kann man Flexibilität und soziale Sicherheit als Gegenstand unterschiedlicher Interessen in Aushandlungsprozessen von Flexicurity begreifen und analysieren. Dies wäre eine konflikttheoretische Perspektive auf Flexicurity. Die Verknüpfung von funktionsbezogener und konflikttheoretischer Perspektive erfolgt dabei dadurch, dass das Funktionieren von Flexicurity-Arrangements eine Abstimmung 124

FLEXIBILITÄT UND GRUNDEINKOMMEN

zwischen den Interessen an Flexibilität einerseits und an sozialer Sicherheit andererseits zur Voraussetzung hat. Damit wird Flexicurity als Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse zwischen Vertretern von Interessen an Flexibilität und von Interessen an sozialer Sicherheit erkennbar. Unter Flexicurity als Verhandlungsergebnis (vgl. generell Ozaki 1999) kann man dreierlei verstehen: 1. Die Verhandlungen haben Flexicurity direkt zum Gegenstand, die Verhandlungspartner haben Flexicurity als gemeinsames Ziel, Streitgegenstand sind die Konditionen. 2. Eine Verhandlungspartei will Flexibilität, die andere Soziale Sicherheit. Flexicurity ist nicht Verhandlungsziel, aber Verhandlungsergebnis, Kompromiss. 3. Schließlich gibt es Konstellationen, in denen Interessen an Flexibilität und an Sicherheit völlig getrennt verfolgt werden, ja Domänen unterschiedlicher Politiken sind, in denen sich gleichwohl im Ergebnis Arrangements herstellen, die Flexicurity-Konzepten zumindest nahe kommen. Dies ist dann der Fall, wenn das Arbeitsrecht dereguliert wird und sich gleichzeitig durch Verschiebungen von lohnarbeitszentrierten zu familienbezogenen Leistungen implizit eine Grundsicherungsorientierung durchsetzt. So entwickeln sich unter der Hand tatsächlich rudimentäre Ansätze von Flexicurity-Konstellationen, die auf externer Flexibilität beruhen. »Augenscheinlich ist nicht nur dort Flexicurity drin, wo auch Flexicurity draufsteht.« (Blanke/Bleses 2005: 381) Diese Entwicklung findet einstweilen noch abseits der Programmdiskussion und der politischen Aufmerksamkeit für Flexicurity-Konzepte statt. Man kann diese drei Versionen externer Flexicurity auch als Sequenz von intendierten zu nicht intendierten Ergebnissen lesen. Im ersten Fall ist Flexicurity Ziel der verhandelnden Akteure, im zweiten Kompromiss, im dritten nicht intendiertes Ergebnis separater Entwicklungen.

E f f i z i e n z s t e i g e r u n g e n u n d Au t o n o m i e g ew i n n e Allen bisher genannten Formen von Flexicurity ist gemeinsam, dass sie unter der Dominanz von ökonomischen Flexibilitätserfordernissen, beziehungsweise unternehmerischen Flexibilitätsinteressen stehen. Sozialer Sicherheit kommt dabei die Rolle zu, Nachteile für Arbeitskräfte abzufangen. Davon prinzipiell zu unterscheiden sind solche Formen von 125

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Flexibilität, die sich nicht aus ökonomischem Anpassungsdruck ergeben, sondern Wünschen entsprechen, die sich aus dem Eigensinn individueller Lebensführung ergeben. Es ist klar, dass dieser Aspekt an Gewicht gewinnt, je mehr sich das Sozialtransfer-Element im Rahmen von Flexicurity einem Grundeinkommen annähert. Mit Blick auf das Spannungsverhältnis von Institutionen und Personen formuliert: Hier geht es um individuelle Bedürfnisse an Flexibilität jenseits von (aber nicht zwingend: gegen!) Effizienzsteigerungen. Die Effekte solcher Formen von Flexicurity subsumiere ich unter den weiteren Begriff »Autonomiegewinne« (Vobruba 1997). Welche empirischen Anzeichen gibt es dafür, dass soziale Sicherung zur materiellen Absicherung eigensinniger flexibler Lebensführung genützt wird? Mittlerweile liegen einige Untersuchungen zu individuellen Einkommensstrategien der Leute zwischen Arbeitsmarkt und Sozialstaat vor. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass soziale Sicherheit tatsächlich auch zur Steigerung individueller Flexibilität im Sinn von Autonomiegewinnen genutzt werden kann, dass Lebensführung an der Schnittstelle von Arbeitsmarkt und Sozialstaat ein komplizierter Balanceakt zwischen institutionellen Zwängen und individuellen Autonomiebestrebungen ist (Vgl. Gebauer et al. 2002, Gebauer/Vobruba 2003, Strünck 2003, Pelikan et al. 2003). Gerade um solche Gemengelagen genau analysieren zu können, halte ich eine klare Unterscheidung der unterschiedlichen Bedeutungsgehalte von Flexicurity für wichtig. Aber man sollte daraus keine kategoriale Wendung gegen die Ökonomie und ihre Erfordernisse machen. Autonomiesteigernde Flexicurity ermöglicht generell die Einbeziehung eines weiteren Zukunftshorizonts in individuelle Handlungskalküle. Dies schließt die Möglichkeit ein, nicht erst reaktiv auf ökonomische Umweltänderungen zu reagieren, sich also flexibel anzupassen, sondern mögliche Veränderungen zu antizipieren und sich darauf präventiv einzustellen, also im sozialen Wandel innovativ zu sein. Ich halte dies für den entscheidenden Vorteil des Europäischen Sozialmodells im globalen Wettbewerb gegenüber den USA, in denen adaptive, erzwungene Flexibilität dominiert (vgl. Vobruba 2001: 65ff.). Soziale Sicherung, welche Einkommen verstetigt und damit eine gewisse Unabhängigkeit vom Arbeitsmarkt verbürgt, wirkt zugleich qualifikationsstabilisierend und erhöht damit die Chancen auf Wiederbeschäftigung. Dieser Kombinationseffekt von Autonomiegewinnen und Effizienzsteigerung wird im Vergleich USA – Bundesrepublik Deutschland (West) deutlich (vgl. Gangl 2004, allgemeiner: Schettkat 2002, Heidenreich 2004). Ich fasse zusammen. Die Zusammenhänge von sozialer Sicherheit mit Arbeitsflexibilität lassen sich mit der Unterscheidung zwischen ex126

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terner und interner Flexibilität systematisch so verknüpfen: Versteht man Flexicurity als interne Flexibilität, geht es im Wesentlichen darum, Sozialpolitik auf atypische Beschäftigungsverhältnisse einzustellen. Versteht man Flexicurity als externe Flexibilität, geht es darum, aus diskontinuierlichen Arbeitsbiographien (einigermaßen) kontinuierliche Erwerbsbiographien zu machen. Im Anschluss daran lässt sich die Frage nach der Brauchbarkeit eines Grundeinkommens im Rahmen von Flexicurity untersuchen. Die Effekte von Flexicurity-Konzepten sind nicht ganz eindeutig. Je nachdem, wie die in solchen Konzepten realisierten Flexibilitäts-Stabilitäts-Balancen ausfallen, ergeben sich Kombinationen von ökonomischen Effizienzsteigerungen und individuellen Autonomiegewinnen. Auf der Grundlage dieser Dekonstruktion der strikten Entgegensetzung von ökonomischen Effizienzsteigerungen und individuellen Autonomiegewinnen müsste es möglich sein, die Effekte unterschiedlicher Kombinationen von Flexibilität und sozialer Sicherung empirisch zu untersuchen, neue Schnittmengen von Interessen an Flexibilisierung und an sozialer Sicherung sichtbar zu machen und Parallelentwicklungen von Arbeitsflexibilisierungspolitik und von Sozialpolitik so aufeinander zu beziehen, dass ihre Beiträge zur Herstellung von Flexicurity-Konstellationen analysierbar werden. Einerseits erscheint es lohnend, unter diesem Gesichtspunkt die sich abzeichnende Transformation der lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik (vgl. Bleses/Seeleib-Kaiser 2004), wie auch immer sie politisch motiviert sein mag, als impliziten Beitrag zur Herstellung von Flexicurity zu untersuchen. Andererseits ist es sinnvoll, nach den Bedingungen zu fragen, die ein Sozialtransfer erfüllen muss, um als konstitutives Element von Flexicurity zu funktionieren. Wenn Flexicurity (so etwas wie) ein Grundeinkommen erfordert und ökonomische Effizienzgewinne verspricht, dann lässt sich aus den Effizienzgewinnen ein starkes Argument für ein Grundeinkommen machen; dann lassen sich Interessen an Effizienzsteigerungen mit Interessen an einem Grundeinkommen in Aushandlungsprozessen um Flexicurity-Arrangements verknüpfen.

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GEORG VOBRUBA

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Produkti vitä t durc h Entw ertung. Inno vation als produktive Des truk tion BIRGER P. PRIDDAT

Als kulturelles Muster scheint sich gegenwärtig in Deutschland abzuzeichnen, dass Reformen infolge des hohen Anpassungs- und Änderungsdrucks nicht innovativ, kreativ angegangen werden, sondern von der Seite des Notwendigen her: durch Kostenreduktionen. Kostenreduktionen stellen eine nicht-innovative Form von Reformen dar. Man kann sie deshalb durchsetzen, weil sie notwendig sind. Und was notwendig ist, ist letztlich immer akzeptabel. Innovationen sind demgegenüber, so scheint es, nicht notwendig. Die entsprechenden wirtschaftskulturellen Differenzierungen werden selten expliziert. Wer Innovationen wagt, riskiert es bis zum Moment des Erfolges, keine Anerkennung zu finden. Es gibt keine Wagemutbegleitung in Deutschland, keinen Euphemismus, etwas Neues zu beginnen. Eher herrschen Verdruss und Skepsis vor: »man werde schon sehen, was man davon habe«; »da könnte ja jeder kommen«, »das kann ja nicht gelingen, weil …« etc. Die Stimmung gegenüber Innovationen ist: Vorsicht, wage nicht zu viel, das geht nicht. Die Gründe liegen – zum Teil – in den Spezifika deutscher Industrialisierung: ihrer Mensch/Maschine-Evolution. Maschinen erfordern Notwendigkeit (technische Notwendigkeit: Technologik), so dass die menschliche Arbeit sich mit Notwendigkeit an die Anforderungen der Maschine anpasst: in Übertragung von Pflichterfüllung. Die Arbeit wird nicht auf ihr kreatives Potential hin befragt, sondern auf ihre Anpassungsfähigkeit: auf ihr obligatorisches oder Pflichtmoment. Industrie ist ein deliberativer Mechanismus. Die Maschine erlaubt es, die Arbeit als 133

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Pflicht neu zu begründen und jedem einsichtig zu machen. In gewissem Sinn ist die deutsche Industrialisierung pflicht-tugend-basiert. Die Industrialisierung war so für die Deutschen ein Glücksfall. Sie erlaubte es, die Forderung zur Pflichterfüllung mit einer modernen Notwendigkeit, mit der Technik, zu begründen. Menschliche Leistung wurde auf die von Maschinen umgestellt. Deren Produktivität definierte fortan die der menschlichen Arbeit. Die eigentliche Managementleistung bestand nicht mehr darin, die Arbeiter zu motivieren, sondern die Abstimmung zwischen Maschinen- und Menschentakt zu koordinieren. Management wurde zu einer semi-technischen Aufgabe, und die Manager-Ingenieure, die im Zuge dessen herangezüchtet wurden, bezogen ihre Kommunikationsformen vom Militär (das selbst positiv zur »Militärmaschine« hochstilisiert wurde). Die Arbeiter waren stolz auf ihre Maschinen. Die Ingenieure auch, wenn auch aus anderen Gründen: Arbeitsfachlichkeit und Ingenieursintelligenz trafen sich aber in einem Punkt, der beiden letztendlich fremd blieb: an der Maschine und ihrer logischen Notwendigkeitsintelligenz. Management war in diesem Kontext Führung: also nicht Management, sondern Anweisung, der Maschine zu folgen. Nichtbefolgung wurde sanktioniert und sozial diskreditiert. Da war zuviel Organisatorisches, Menschliches im Spiel, das durch die strenge Mensch/MaschineRelation neutralisiert wurde. Die Organisation der deutschen Industrie konnte damit eher von Maschinen als von Menschen bewerkstelligt erscheinen. Die Logik der Technik beherrschte die Organisation des Produktionsprozesses, was gegenüber menschlicher Beherrschung als Fortschritt erschien, dem auch sozialdemokratische Arbeiter folgen konnten. Die Herrschaft der Maschinen musste lediglich als Fortschritt deklarierbar bleiben, was gelang, weil es der economy of scale der Massenproduktion gelang, die Preise zu senken, so dass auch die Arbeiter am Produkt teilhaben konnten (selbst dann, wenn die Löhne nicht erhöht wurden). Um die Maschinen und ihre arbeitsteilige Organisation der Arbeit herum konnten Innovationen blühen: und auch der Arbeiter. Es waren Innovationen in neue Mensch/Maschine-Systeme. Zu fragen wäre dabei, ob die Produktinnovationen, die deutsche Unternehmen einführten, tatsächlich marktorientiert oder eher technikgetrieben waren. Wer hatte das Auto entwickelt? Die Ingenieure, oder die Marketingfachleute? Exzellent war die deutsche Wirtschaft vor allem da, wo sie technikgetrieben neue Märkte eröffnete. Hier konnte das Mensch-Maschine-getriebene System die kulturelle Disposition zur Pflichterfüllung nutzen, durch Pflicht als Arbeit am Notwendigen: an der Mensch/Maschine-Systemstelle. 134

PRODUKTIVITÄT DURCH ENTWERTUNG

Das Innovationsproblem bereitet freilich nicht die technikgetriebene Innovation, sondern deren sozialer Zuschnitt. Wir haben keine Unternehmens-Intelligenz entwickelt, die den Ingenieuren ein Kontrepart sein könnte: dieses Ding ist unhandlich, dieses unförmig, dieses nicht elegant, dieses nur funktional etc. Es gibt in den Unternehmen selten Bewusstsein für die Gleichstellung von Arbeit, Technik und Idee. Unternehmen sind Idealismus-unterentwickelt. Was fehlt, ist Forschung am Nutzer, die die usability als Innovationsprojekt begreift, das genauso bedeutsam ist wie die technische Innovation. Die grossen Alltagsinnovationen der letzten Jahrzehnte – walkman, i-pod, cd, digital-camera, computer und laptops, chip-cards, mobil phones, etc. – wurden im Ausland entwickelt, oder, wenn in Deutschland technisch innoviert, im Ausland auf dem Markt durchgesetzt (MP3-player). Innovation hätte bedeutet, 1 sie selbst auf die Märkte zu bringen. Voraussetzung dafür wäre, sich auf der Basis von Technologien die Kontexte vorzustellen, in denen Produkte verwendet werden könnten, um so, auf Basis dieser Vorentscheidung, Hinweise für deren Verwendung zu geben. Die Kontexte der Produkte entsprechen den Ideen ihrer Verwendbarkeit, die nicht durch die Technik oder die Produktion zu definieren ist. Innovation hat damit nicht nur die Funktion, Kreativität und Invention auf den Märkten durchzusetzen, sondern die Form der Durchsetzung selbst ist bereits kreativ: in der Überzeugung von Menschen, denen der Gebrauch dessen, was aktuell innovativ angeboten wird, nicht selbstverständlich ist. Jede Innovation ist gleichsam Modell ihrer Überzeugung, nicht allein neu, sondern vor allem nötig zu sein. Nötig aber nennen wir nur etwas, das wir, auch wenn wir es zum ersten Mal sehen, weil es neu ist, wie selbstverständlich zu den Dingen zählen, die wir brauchen. Neues muß sofort überzeugen.

Was also benötigen wir? Das meiste Neue ist überflüssig, bis es etwas Altes tatsächlich ersetzt. Von da an beginnt es, als notwendig betrachtet zu werden. Ob wir tatsächlich smart phones benötigen, bleibt offen: wichtig ist, dass sie von möglichst vielen als notwendig erachtet werden, als notwendig zum Bei1

Nach einer Studie der Universität St. Gallen, in Zusammenarbeit mit Kienbaum, sehen die Ergebnisse von Innovationsprozessen in Unternehmen wie folgt aus: »Im Durchschnitt entstehen aus 175 Ideen 34 Projekte. Aus den 34 Projekten werden 16 Produkte entwickelt. Von den 16 Produkten werden drei auf den Markt gebracht. Und nur eines davon wird ein Verkaufserfolg« Vgl.: Eber 2007: Sp.3. 135

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spiel, um sich von den Eignern normaler mobile phones abzusetzen. Sobald dann die erste Absetzungswelle abklingt, weil bereits alle ein smart phone besitzen, muss ein neues Absetzungs-, oder genauer, Differenzierungsgerät her. Dass dabei stets massenweise abgesetzt wird, bleibt im Absetzbewegungsdschungel unsichtbar. Die Innovation fungiert so nicht technisch, sondern sozial differenzierend. Ein neues smart phone zeigt, dass man sich von allen unterscheidet, die keines haben. Zumindest zu Beginn dieser sozialen Bewegung zählen smart phone-Käufer zur konsumistischen Avantgarde, die über das neue Gerät Reputation erwirbt. Es geht also nicht um klassischen Nutzen, sondern um Reputation und konsumistischen Status. Es ist die Differenz zwischen Gebrauchswert und sozialem oder Statuswert. Hirsch nannte das einmal Positionsgut (und den Markt einen Positionierungswettbewerbsmarkt). Bei Massengütern ist dies jedoch unpassend. Eher geht es um soziale Markierungen, um Inklusionsphänomene: wer welcher community zugeschrieben wird. Man kauft sich – bleiben wir beim smart phone – ein mehrdimensionales Produkt, zum einen mit dem Aspekt, ortunabhängig telefonieren zu können, zum anderen mit dem Aspekt, dazu kein unhandliches, sondern eine kleines Gerät zu bekommen, mit vielen parallelen Funktionen (»smartness«), und zuletzt mit der Reputation, ein avangardistischer Käufer zu sein, der weiß »was angesagt ist«. Und auch die jeweils neuen Absetzobjekte müssen neu und akzeptiert sein. Es geht um Attribution, die Statusdifferenzen ausweist. Wichtig ist dabei insbesondere die Änderungsrate. Das Neue beruht auf Differenz, nicht auf neuen Qualitäten sui generis. Was »neu« genannt wird, unterliegt beständiger Veränderung. Bedarf besteht damit in modernen Gesellschaften mehr und mehr aus Gründen sozialer Differenzierung. Wenn Individualität groß geschrieben wird, muss gerade mit massenhaft angebotenen Geräten auch Individualität signalisierbar sein (vgl. Priddat/Kabalak 2007), – eine der Paradoxien, die moderne Innovationsprozesse leitet. Zwar werden auch weiterhin technische Innovationen den Markt antreiben, aber ich bin sicher, dass ihre soziale Form immer wichtiger wird. Neue Techniken, die sozial schlecht bewertet werden, fallen durch, so gut sie technisch auch sein mögen. Soziale Markierung, social value, wird extrem bedeutsam: ich nenne es das Kulturprogramm der Ökonomie.

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Das Kulturprogramm der Ökonomie: Beispiel Markenproduktion »Werbung« ist eine spezifische Produktion der Unternehmen, nämlich die Produktion von Literatur und Kunst – nun allerdings nicht, wie man gewöhnlich meint, freischwebend, sondern kontexturiert. Unternehmen, die Güter und Vertrauen produzieren, also Vertrauen in eine Marke, sind Parallelproduzenten: das Gut, das sie herstellen, ist ein Duplex, eine Kombination aus Gut (G) und Literatur (L) wie Kunst (K). Produktion = G + L, K »Werbung als Kunst und Literatur« ist hier die Metapher für eine ideelle Produktion, die Geschichten erzählt über den Kontext des Gutes, in den die potentiellen Konsumenten eintreten sollen. Die Geschichte, die in Form von Texten, Bildern, Video, Filmen als neue – und eigenständig neue – Kunstgattung produziert wird, erzählt das Gut als potentiell sinnaufwertendes Ereignis im Leben der Konsumenten – »sensemaking« (Weik 1995). Um das leisten zu können, muss die Geschichte ein potentielles Leben erzählen, und zwar in einem Bild/Text-Kombinat bzw. in einer acht-sekundigen Videosequenz. Wenn sie das Gut kaufen, wird ihr Leben bereichert als Teilhabe an der Geschichte, die zum Gut erzählt wird. Unternehmen, die Güter produzieren, sind, wenn sie zugleich Marken kreieren, oder Werbung machen, zur Hälfte bereits Kunstproduzenten, die Geschichten erzählen, um Kontexte zu produzieren, in denen ihre Güter Wertzuwachs erfahren. Güter, die mit Bedeutung geliefert werden, haben Selektionsvorteile. Güterproduktion ist systematisch, wenn die Produktion der Markierung mitgerechnet wird. So würde ich marketing übersetzen, als cultural industry, gleichgültig, welches Produkt hergestellt wird. Weil die industriellen Prozesse kulturelle involvieren, wenn nicht voraussetzen, erübrigt sich die kulturkritische Distinktion von hoher Kultur und niederer Industrie. Die Wertschöpfung durch höheren Umsatz wird, bei präziser Betrachtung, durch Investitionen in Kunst und Literatur erreicht, die Sinn produzieren, oder zumindest: neue Lebensweltinterpretationen, in die einzutreten der Kauf der markierten Güter gewährt. Wir befinden uns damit längst in einer Epoche engster Korrelation von Kunst und Wirtschaft. (vgl. Zdenek/Hentschel/Lickow 2002) Dass dieser Sinn medial ebenso erzeugt wie ständig dekonstruiert wird (Winkler 2007, Bolz 2002), hängt, wie Hutter (2007) erklärt, mit dem Phänomen der Neuheitsspirale zusammen: »die Urheber schöpfen neue Inhalte an der Schnittstelle der Kommunikation mit anderen Ur137

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hebern und Verwendern und setzen so in immer gleicher Weise immer neue Wertschöpfungssequenzen in Gang« (Hutter 2007: 44). Werbung ist kein akzidentielles Phänomen, sondern eine Produktionsform, der sich die Unternehmen nicht mehr entziehen können, wenn sie um die knappe Ressource Aufmerksamkeit konkurrieren. Alle Unternehmen, die werben oder Marken generieren, sind Teile der Kulturindustrie. Sie sind diejenigen Teile der Wirtschaft, die Weltbilder produzieren – moderne cultural agencies, wenn auch hoch fragmentiert und immer wieder sich selbst renovierend (McCracken 2005). Der angesprochene »Sinn« ist dabei nichts Invariantes, sondern ein hoch-kommunikatives Projekt, mit schnellen Zerfallsdaten. Alle Unternehmen, die ihre Güter oder Leistungen mittels Marketing vertreiben, das heißt spezielle Texte und Bilder, Musiken etc. dazu einsetzen (und zwar wiederum auf einem spezifischen Markt der Werbung, in einem hochdifferenzierbaren Spektrum an Medien etc.), betreiben Kulturproduktion. Ihre Güter/Leistungen haben nur als marked commodities Wert: G + K. Ohne die kulturelle oder Kunst-Markierung (+ K) sind sie für den Markt entweder unsichtbar, oder unmarked: unbelievable. Es geht nicht nur um den Informationsprozess: dass die potentiellen Nachfrager ohne Werbung nichts von einem neuen Angebot erfahren, sondern dass sie selbst dann, wenn sie davon erführen, keine hinreichende story erzählt bekommen, die sie glauben macht, es mit einem Produkt zu tun zu haben, das in ihrer Lebenswelt eine Rolle spielen sollte (vgl. Karamasin 2004; und zur Komplexität guten Geschmacks: Douglas 1996). Ohne kulturelle Interpretation gelingt der Verkauf von Gütern in den Angebotsinflationswelten moderner Märkte nicht mehr. Die Kulturindustrie der Werbung macht nicht mehr nur auf die Güter, für die sie wirbt, aufmerksam, sondern ordnet die Phänomenologie der Angebotswelten ebenso wie sie sie gleichzeitig ausweitet. Jede Geschichte erweitert den kulturindustriell hergestellten Raum der Erzählungen der Welt. Weil die Diversifikation des Angebotes extrem hoch ist, müssen die Unternehmen Marken produzieren, unter deren Dach das Vertrauen in die Qualität der Güter etabliert ist. Wir haben es also mit einer Parallelproduktion von Gütern und Semantik zu tun, die sich aus Sicht der Nachfrager als Parallelität von Präferenz und Semantik darstellt. Das hat methodologische Konsequenzen: es reicht nicht aus, die »ökonomische Handlung« als Präferenzrealisation darzustellen, da sie parallel durch Semantik gesteuert wird. Nicht die – semantikfreie – Wahl von besten Gütern ist allein relevant, sondern die Geltung von literatical oder cultural frames, das heißt von Geschichten, in die die Güter »verpackt« werden. Das Marketing spielt in 138

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der ökonomischen Theorie – außerhalb der management science – keine oder nur eine marginale Rolle, als Überredungstechnik, als Rhetorik des Verkaufs/Vertriebs, und damit gleichsam nur als Verstärker einer sowieso vorhandenen präferentiellen Neigung. Ich halte dagegen, dass Marketing keine akzidentielle Angelegenheit ist (die man deshalb auch nicht einfach unterlassen könnte), sondern eine Ko-Produktion der Erzeugung von Aufmerksamkeit durch short stories, ohne deren Vorhandensein Güter gar nicht bemerkt (oder nicht genügend bemerkt) würden, und um deren wegen jede Unternehmung »zur Hälfte« als artagency agiert. Erst Bianchi et. al. (1998b) entwickeln Konzepte des active consumer, der selbst innovativ (respektive: inventiv) agiert. Die Wirtschaftswissenschaft entdeckt, was ein Teil von ihr, die Marketingtheorien, längst nutzen: semiotic und semantic (Baudrillard 1972, Liebl 2000, Schroeder 2002, Hutter 1998). Dieses parallel-processing gälte es zu erforschen. Hier wäre eine Theorie des Konsumverhaltens zu entwerfen, die die Inklusion in stories und in imaginative Welten berücksichtigt, in denen semiotische und semantische Potentiale, semiotische Landschaften wie linguistic communities dominieren und eine governance-structure bilden, in der sich Konsumenten nach anderen Kriterien als nur nach »rein wirtschaftlichen« orientieren (Du Gray 1997; Schroeder 2002). Der vordem als passive Instanz modellierte Konsum wird zu einem aktiven Akt: zu einem Akt der Gestaltung von Konsum als Produktion von Konsum (prosuming) (Davidow/Malone 1993; Bianchi 1998b). Natürlich lässt sich advertizing als »Verpackung« bezeichnen, das heißt als verkaufsfördernde Attribution. Die Verpackung aber ist die Kennung des Gutes, seine offenbarte Bedeutung. Verpackungen wie Design sind Argumente im semantischen Raum der literarischen Produktionsseite der Unternehmen, die die Kommunikation des Marktes mit steuert. Wir haben uns die Ökonomie als einen parallelen Produktionsprozess von Gütern (präferenzbezogen) und Bedeutungsmarkierungen dieser Güter (semantikbezogen) vorzustellen, das heißt als eine »ZweiWelten-Theorie«, innerhalb derer Präferenzen wie Bedeutungen oszillieren. Präferenzen generieren Bedeutungen, ebenso wie Bedeutungen Präferenzen generieren (vgl. generell dazu Bianchi 1998a). Die Tatsache, dass Bedeutungen Präferenzen generieren, weist auf eine zweite Steuerungsebene der Ökonomie: auf die bedeutungsverschiebende oder -generierende Ebene der Kommunikation, die in der Ökonomie gewöhnlich als cheap talk beiseite gelassen wird. Dabei haben wir es längst mit der Ko-Existenz von zwei Prozessen zu tun, die notwendig interagieren. Semantik – wenn sich advertizing so kurz fassen lässt – steuert die Aufmerksamkeit auf Güter, die nicht mehr als 139

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bloße Gegebenheiten mit Evidenz auftreten können. Die Ökonomie der Produktion von Aufmerksamkeit (Frank 1998) ist kein zusätzlicher, sondern ein basaler Produktionsparallelprozess, der, unabhängig von den tatsächlichen Investitionskosten, den Absatz steuert.

T h e s e n z u r Z u k u n f t d e r I n n o va t i o n e n 1. Wir denken Innovation nicht innovativ genug. Wir sind schließlich – so könnte man sagen – alle Schumpeterianer: wir kennen Produktinnovationen, vielleicht auch Verfahrensinnovationen. Doch damit ist unser Vorstellungshorizont schon begrenzt. 2. Aber das Neue – um dessen Genese und Implementation es eigentlich geht – manifestiert sich so vielfältig in einer als pluralistisch bezeichneten Welt: als neue Werte, neue Trends, neue Lebensstile, neue Konfliktlinien, neue Ästhetik, neue Ängste, etc. 3. Es geht nicht mehr um Expressionen der Mensch/Maschine-Welt, nicht mehr nur um technische/technologische Innovationen, sondern um einen stark erweiterten Innovationsraum, indem wir uns längst schon bewegen, ohne ihn begrifflich immer nachzuvollziehen: es geht um Wissen, Wahrnehmung und Erkenntnis, um Kognition (vgl.: Arena/Festre 2006). 4. Unsere Welt ist turbulenter geworden, Stabilität/Instabilität ist nicht mehr gut sortiert, sondern selbst in die Ambivalenz von stabil/instabil einbezogen. 5. Die Wahrnehmungen dieser Turbulenzen sind emotional und kognitiv divers. Nicht mehr die Objekte, die anzubietenden Innovationen, sind alleine entscheidend, sondern die Wahrnehmung. Auffassung und Anerkennung nehmen gleichen Rang für das Geltendmachen von Innovationen ein. 6. Über den Wert/die Geltung einer Innovation, darüber, was ein Erfolg wird und was nicht, entscheidet der Markt. (für den Kunstmarkt vgl. etwa Groys 2003: 255 ff) Jedes neue, sich durchsetzende Produkt kreiiert einen emerging market: einen neuen, neu sich entwickelnden Markt. Doch dieser entsteht nicht von selbst. Diese Ausweitung der Innovations-Geltung läuft über (a) Analogien, (b) possible worlds und (c) über issues oder Thematisierungen. ad (a) Analogien: das meiste Neue ist in einem anderen Kontext schon längst vorhanden: in der Natur beispielsweise die wasserabweisende Oberfläche von Lotusblüten, die für Farben genutzt wird, oder Schwimmflossen als Nachahmung von Entenfüssen; oder in der Gesell140

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schaft die Rechtsabbiegerfreiheit an Ampeln, der Wundklebstoff, das ICE-Zugabteil in Analogie zur Fahrgastkabine im Flugzeug, Arbeiterhosen als modisches Kleidungsstück (Jeans), Sportshirts als gesellschaftlich akzeptable Bekleidung, etc. Analogien transportieren aus bekannten Erfahrungsräumen in unbekannte, um Erfahrungen von Neuem zu simulieren, das per definitionem erfahrungslos ist. Etwas wirklich Neues lässt sich gar nicht erkennen: es muss thematisiert werden, es muss als neu bezeichnet werden, damit es als Neues wahrgenommen wird. ad (b) Possible worlds steht für Möglichkeiten, die nicht hier, in dieser Welt, realisierbar sind, sondern in einer anderen, parellelen. Alles sei möglich, meint diesbezüglich der Philosoph David Lewis (2002), wenn auch nicht aktuell im Hier und Jetzt. Darüber nachzudenken, was aus einer anderen Welt aktuell möglich sein könnte, lässt sich damit als innovative Anleitung zur Differenzierung betrachten. Wenn sich Unterscheidungen machen lassen, die nicht trivial sind, wenn zum Beispiel bernsteinfarbig transparente Seifenstücke die Idee inspirieren, ein Bernsteinzimmer aus Seife zu bauen, mit Hintergrundbeleuchtung und speziellem Geruch, aber bernsteinfarbig in vollster Ausprägung, so ist dies die Aktualisierung einer possible world, ohne gleichzeitig Analogie zu sein: Seifen leiten gewöhnlich nicht über in Bernsteinzimmer. ad c) issues oder Thematisierungen (Liebl 2000) scheinen mir der bedeutendste Aspekt für moderne Innovation zu sein. Jedes Ding, gleich welcher Geltung und Brauchbarkeit, lässt sich durch Inszenierung, durch »in Szene-Setzen«, in einer Weise ernennen, verwandeln, transponieren, die es zu etwas Neuem macht, ohne dass an dem Ding selbst irgendetwas geändert wird. Die Innovation liegt damit nicht im Technischen, sondern im Kontextuellen. Etwas wird in einen anderen Kontext überführt, und so durch den neuen Kontext als Anderes interpretiert. Flache Frikadellen-Brötchen werden zu einem Nahrungsereignis weltweit, wenn sie bei McDonalds gebraten werden. Jeans, werden selbst bei Staatsempfängen (wie unlängst von Präsident Bush) zu Anzugjacken getragen. Abgewirtschaftete Automarken setzen in ihrer Werbung auf die Sicherheit von Kindern, Frauen erfahren Glück durch Tamponbenutzung, Männer berauschen sich durch Aktienkäufe: Innovationen erreichen die Menschen über die Erfahrung von Glück.

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7. Innovationen sind vornehmlich Innovationen im mental model der Akteure: sei es der Konsumenten, sei es der Produzenten. 8. Automobilmanager geben ihre Empfehlungen zum Bau von Autos, ohne dass die künftigen Kunden auch nur gefragt werden. Die Automobile, die dann gebaut und zum Kauf geboten werden, sind Phantasien der CEO’s, oft misslungene Wunschantizipationen, »voll daneben«, von starken männlichen Propositionen durchsetzt. Manche USKonzerne stellen deshalb, um jemanden zu haben, der »wie eine Frau denkt und entscheidet« (gendered mental models), Frauen als Manager ein, weil die Kundschaft mehr Frauen aufweist als Männer.2 9. Formen der Innovation, in denen der CEO danach entscheidet, was er für gut hält, sind für Marktbeherrschungsszenarien grenzwertig. Sie sind aber so typisch, dass man einen Moment einhalten muss, um zu verstehen, was uns hier innovatorisch hemmt: zum Beispiel Führungsideologien, die davon ausgehen, dass CEO’s solche Fragen zu entscheiden in der Lage sind. Zwar ist dies nun tatsächlich nicht ihr Bier, aber sie glauben, dazu berufen zu sein, auch wenn es eigentlich darum geht, der Firma zum Erfolg zu verhelfen und nicht, persönlichen Geschmack durchzusetzen. 10. Innovation meint damit Verzicht auf den eigenen Geschmack, um etwas zu realisieren, was nicht der eigenen Präferenz zu entsprechen hat, sondern der der potentiellen Kunden. Diese Differenz muss erst einmal ausgehalten werden.

I n n o v a t i o n s f e l d e r , I n n o va t i o n s p o t e n t i a l e Energie, access, coaching, Transformationsgüter, Sicherheit, wellness und Gesundheit, altersgerechte Stadt, Relevanz/Bedeutung/Sinn, housing, Ökologie, partnering/Sexualität, biotech, medtech und neurotech, cyber-world, remake, Bildung, etc. Innovationsfelder betrachten geltende Güter, Produkte, Dienstleistungen durch eine neue Linse oder in einem neuen Rahmen (re-framing). Indem

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Eine kurze Zwischenbetrachtung dazu: was wären denn »feminine Autos«? Elektronik in Kopplung mit Geschäften und Supermärkten (drive through connection), integrierter Kühlschrank für Einkaufstüten, einfaches Be- und Entladen, intelligentes Telefonieren in alle Phasen (Sprachbefehle etc.), extra Sauerstoffzufuhr (Haut, wellness); Kosmetikspiegel, Massageautomaten im Sitz, selbstauffordernde Wartungs-, Tank- und Ölsysteme, wenig bemerkbare Technik (Automatik), Farben und Federung variabel, Feng-shui-Kompatibilität, etc.?

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etwa Haushaltsgüter in ökologischen Formen gedacht werden, werden sie neu konzipiert. Und damit erhält im prinzip jedes Gut die Möglichkeit, einen neuen Markt zu begründen, mit zum Teil völlig verschiedenen Produzenten (von Beton zu Stahl, von Stromversorgung zur Eigenproduktion, von Mechanik zu Elektronik, etc.). Betrachten wir diesbezüglich – skizzenhaft – einige potentielle Innovationsfelder: Energie dürfte ökologisch und in Bezug auf die Kosten zum Dauerthema der Zukunftsgesellschaft werden. Neben der Gewinnung wird damit vor allem die Nutzung bedeutsam: Nutzungsintelligenz lässt sich dabei zum einen durch elektronische Steuerung (siehe unten: housing) gewährleisten, zum anderen mittels technologisch neu konzipierter energie-minimalistischer Geräte, wie etwa beim Automobil. Kein Gerät muss mehr ständig betriebsbereit sein; Heizungen und sonstige Energiesysteme lassen sich optimieren, auch im Hinblick auf ihre Klimaverträglichkeit (teurere und weniger Autos, Flüge etc.). Access ist diesbezüglich ein bislang noch weitgehend unausgeschöpftes Thema: statt Besitz werden Zugriffsrechte gekauft: auf Wohnen, Mobilität, Versorgung, wellness, Urlaub, Ausstattung etc. Der Materialeinsatz für die eigene Waschmaschine, das eigene Auto, die eigene Kleidungsausstattung etc. entfällt, bestellt wird nur mehr, was auch gebraucht wird. Freilich setzt dies neuartige Dienstleistungen voraus (Wäsche abholen und bringen, Mobilität mieten statt Autos, Kleidung mieten etc.) aber die allmähliche Gewöhnung, statt Eigentum zu erwerben, was gebraucht wird zu leasen, wird neue Märkte und Produkte entstehen lassen, vor allem Dienstleistungspakete ganz neuer Dimension. Ein enormes Innovationsfeld, insbesondere mit ressourcensparenden Aspekten, zeichnet sich ab, wenn es gelingt, vom Haben zum Liefern um zudenken. Einstweilen sind wir hier noch mächtigen Routinen ausgeliefert, die aufzugeben der eigentliche innovative Akt wäre. Coaching und Beratung werden in einer Welt, die den Einzelnen fortwährend einer Vielzahl unterschiedlicher Situationen aussetzt, zunehmend wichtig. Dies zuzulassen, sinnvoll zu finden und darüber hinaus Methoden anzubieten, die individuell different arbeiten, wird einen neuen Markt generieren, der großes Innovationspotential birgt (auch und insbesondere im Hinblick auf individuelle Einstellungen zur Kreativität). Transformationsgüter, wie Bücher, Therapien, Bildung, wellness etc. lassen deutlich werden, dass Güter (und Leistungen) nicht mehr primär als Objekte anzusehen sind, die einfach auf dem Markt dargeboten werden, sondern ein neues Qualitätsmerkmal, nämlich das der »Transformation«, der Veränderung als Sinn des Konsums bergen. Der Kauf 143

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einer ärztlichen Dienstleistung, die nichts ändert, Krankheit also nicht heilt, ist wertlos, auch wenn sie kostspielig ist. Auch Bildung hat zu verändern, sonst ist sie fruchtlos, und Bücher, die die Sicht der Welt nicht verändern, sind nutzlos. Neurotech/cyber-world: neue artifizielle Umgebungen, die in der Verbindung von neurotech und cyber-world entstehen, werden Kultur und Soziales neu definieren. Wenn sich das, was aktuell nur vorgestellt werden kann, in artifiziellen cyber-worlds tatsächlich »leben« lässt, erschließt sich eine technisch/technologische Dimension der Vorstellungskraft, die – neurotechnologisch gestützt – eigene, neue Welten kreiiert, mit noch nicht absehbaren Folgen für die Gesellschaft. In diesem Feld könnten die Innovationen förmlich explodieren. Housing: elektronisch kontrollierte Energiesparhäuser, unter anderem etwa in Bezug auf Beleuchtungsoptimierungen, sind längst technisch möglich, wenn auch am Markt noch nicht durchgesetzt. In ihrem Zusammenhang zeichnen sich vielfältige marktträchtige Innovationsmöglichkeiten ab: Wände als Projektflächen, die beliebige Bilder einspielen lassen; Schränke, die dann unter der Decke angebracht wären und ihre Inhalte bei Bedarf elektronisch herunter fahren; Wohnen wird lichtmoduliert; das Höhlen-artige heutiger Wohnungen weicht dem lichtgeduschten Erlebnisraum, der sein Inneres variiert (bis zur technischen Illusion der aufgelösten Grenzen des Inneren). Ernährung hat sich in den letzten 30 Jahren bereits enorm verändert. Die Internationalisierung der Küche hat unsere Essensgewohnheiten mit neuen Gewürzen und Speisen bereichert. Ihre Qualitätsverbesserung, etwa durch Verwendung ökologischer Rohprodukte etc., hat die Ernährung mit der Krankheitsprävention verbunden. »Nahrungsergänzungsmittel« und andere Medikamente, auch Drogen, eröffnen diesbezüglich ein weites Innovationsfeld. Etc. All dies zeigt, dass die aus der Hochzeit der Industrialisierung stammende Vorstellung, Innovationen seien primär materiell manifestierte Erfindungen von Ingenieuren und Unternehmern, das ideelle Moment der Innovation unterbelichtet ließ. Die Form des Produktes war da, fast platonisch, das Bild, die Idee des neuen Produktes, oder des neuen Gebrauchs eines alten Produktes oder des zusätzlichen Aspektes eines bekannten Produktes. Vieles, was neu schien, war dabei nur Variante. Für tatsächlich neue Neuheiten gilt demgegenüber, dass sie auch »innerlich« neu geformt sind, nicht nur im Oberflächenprofil. Das Neue muss gleichsam ein Bild erzeugen, mit dem es in unser Leben, gleichsam als Teil von uns, als Teil eines Lebenswertes, integriert wird. Erst wenn 144

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dieses Bild Konvention wird, stabilisieren sich auch innovative, neue emerging markets – nur um sofort wieder neue Innovationen auf den Plan zu rufen, die sie überspielen. Um stabil zu bleiben, müssen emerging markets dabei ihre Angebote selbst variieren: das Produkt muss, als das Gleiche, immer wieder neu angeboten werden – als etwas Anderes. Genau dies zieht die hohe Variabilität, Varianz und Destruktivität moderner Wirtschaften nach sich. Wenn Wirtschaften ihre Konsumenten dauerhaft mit stets gleichen Gütern versorgen, ermatten sie schnell (so es ihnen nicht gelingt, andere Konsumenten anderswo zu überzeugen). Variation bedeutet dabei noch nicht Innovation, aber sie spielt in deren Schatten beständig neue Varianten herein, wovon sich einige als invariant, und damit also als erfolgreich herausstellen. Dieser Zwang zur Variation setzt die Umstellung von Produktion auf Kreativität voraus: die Umstellung auf die Fähigkeit, Massenprodukte so zu variieren, dass sie stets neu und individuell scheinen. Kreativität als Produktion unterbricht die Massenproduktion und differenziert sie in diverse Varianten. Übergangsweise werden Basisprodukte mit variierten Designs (Autoplattformen mit verschiedenen Karosserien), verschiedenen Aufdrucken (T-shirts), mit verschiedenen Geschmacksrichtungen (Speiseeis), mit verschiedenen Extensionen (PC mit unterschiedlichen Software-Ausstattungen) etc. kreiiert. Ziel dieser mass customization ist die individuelle Anpassung des Serienproduktes. Das Alte muss in dieser Variante der Ökonomie nicht destruiert werden, um Neuem Platz zu machen. Das Neue ist eher eine Ergänzung des weiterhin geltenden Alten im Konkurrenzkampf des vielfältigen Neuen. Produktiv ist dann nicht mehr die Ausweitung des Angebots auf neue Konsumenten, sondern die Differenzierung des Angebots auf unterschiedliche Konsumgruppen. Die »neuen Konsumenten« sind nicht mehr nur Konsumenten derselben Art, sondern andere, die andere Produkte, beziehungsweise deren Varianten, nachfragen. Was Schumpeter als »schöpferische Zerstörung« bezeichnete und dem Kapitalismus als Prozesscharakteristikum zueignete, lässt sich in diesem Sinn milder als 3 »Aufhebung von Routinen« fassen, die sich netzwerkanalytisch erschließen. Mark Granovetter hat diesbezüglich auf die Bedeutung von Mittlern in den »strukturellen Löchern« zwischen verschiedenen Netzwerken hingewiesen, die das eigentlich innovative Potential tragen. »One reason resources may be unconnected is that they reside in sepa3

Vgl.: »Schumpeter defined entrepreneurship as the creation of new opportunities by pulling together previously unconnected resources for a new economic purpose«. »Innovation means breaking away from established routines«. (Granovetter 2005: 46) 145

BIRGER P. PRIDDAT

rated networks of individuals or transactions. Thus, the actor who sits astride structural holes in networks is well placed to innovate«. (Granovetter 2005: 46, mit Verweis auf Burt 1992) Netzwerkinklusion wird zum Argument für höhere Innovationspotenz, vor allem die Inklusion in Netzwerke mit differenten sozialen Sphären und Milieus. In der Wissensgesellschaft ist die Produktivität überdies an Kreativitätspotentiale gekoppelt (anonym 2006), was für die Form der Organisation von Unternehmen relevant ist, ist nicht nur die Leistungsorganisation. Auch die Motivations- und Selbständigkeitskultur spielen herein, und darin insbesondere die Nutzung von Netzwerken als Ressourcen für innerorganisatorische Prozesse. (vgl. Priddat/Kabalak 2008) Und auch für die Umgebung von Organisationen hat dies Bedeutung: Richard Florida’s creative centers sind jene Agglomerationen, die kulturell, von der ethnischen wie religiösen Toleranz her und im Hinblick auf die Wechselpotentiale für Arbeitsverträge, so attraktiv sind, dass immer mehr high level workers dorthin migrieren, zusammen mit dem Kapital, das dort eine human resource base vorfindet, die anderswo nicht mehr gegeben ist. Zwei Minimalbedingungen für Produktivität zeichnen sich ab: creative centers und idealistische Produktion, wie ich sie nannte, stellen eine Form der Kultur-Industrie dar, die die Differenzierungen der Produkte nicht mehr vordringlich über ihre Gebrauchswerte, sondern durch ihre soziale Markierung erreichen. Die Wertschöpfung ist nicht mehr an den – klassisch gesprochen – Nutzen der Produkte gekoppelt, sondern an ihre soziale oder reputative Auszeichnung. Der Wert der Produkte wird durch ihre soziale und Netzwerk-generierte Zuschreibung erzeugt. und damit lässt sich kaum noch entscheiden, ob neue Varianten auf den Markt kommen, weil der Wert eines Produktes mit der Zeit sinkt, oder ob umgekehrt der Wert und die Attraktivität des Produktes sinkt, weil neue Varianten auf den Markt kommen. Produktivität entsteht einfach in der Überholung älterer Varianten, also in der Überholung der je gegebenen Produktivität durch die nächstfolgende, ad infinitum. Das Destruktive ist ein Moment der Überholung, also ein normaler Prozess in ökonomischen Mobilisierungssystemen mit mehren, parallel sich entwickelnden Pfaden.

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PRODUKTIVITÄT DURCH ENTWERTUNG

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BIRGER P. PRIDDAT

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PRODUKTIVITÄT DURCH ENTWERTUNG

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Marx, Lenin und Mao. Korrekturen der Arbeitsw ertlehre DIRK BAECKER

I. Karl Marx war sich darüber im Klaren, dass die Arbeitswertlehre, die den Wert der Arbeit an der gesellschaftlich durchschnittlich aufzubringenden Arbeitszeit im Verhältnis zu den zur Verfügung stehenden Produktivkräften misst, dem Kapital in die Hände spielt. Immerhin ist das Kapital selbst »der prozessierende Widerspruch [dadurch], dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren stört, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt.« (Marx 1974: 593) In der Form dieses Widerspruchs macht sich das Kapital die Arbeit sowohl zum Produktivfaktor als auch zum Gegenstand der Mehrwert heckenden Ausbeutung. Es respektiert die Arbeit ganz im Sinne der latenten Anerkennung des Knechts durch den Herrn, von der Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) gesprochen hatte, und es unterwirft sich die Arbeit, um die manifesten Bedingungen definieren zu können, unter denen diese Anerkennung gewährt wird. Der Verwertungsprozess des Kapitals ist dann nichts anderes als der Prozess des Konsums der Ware Arbeit im und durch den kapitalistischen Produktionsprozess. (siehe Marx 1980: 192ff) Erst Lenin und Mao entdeckten, mit enormen Kosten an Mensch und Material, dass diese Rechnung der Arbeit mit dem Kapital zu kurz gegriffen hatte. Lenin ergänzte den Faktor Nation, ohne den der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus nicht zu bewältigen ist (siehe Lenin 1951), und Mao ergänzte den Faktor Bildung, in dem die Selbst151

DIRK BAECKER

erziehung der Massen zur produktiven Arbeit zusammengefasst ist.1 Seither ist die Frage wieder offen, inwieweit der Arbeiter »neben den Produktionsprozess (tritt), statt sein Hauptagent zu sein.« (Marx 1974: 593) Mit der Nation tritt ein kollektiver Akteur auf, der mithilfe politischer Ressourcen sicherstellt, dass Kapitalressourcen bereit gestellt werden können, denen die Arbeit zugeordnet werden kann (siehe auch Tilly 1992). Und mit der Bildung wird Individuen eine Form der Selbsterfahrung ermöglicht, die sie befähigt, sich eine produktive Arbeit vorzustellen, die ohne den Produktionsfaktor Kapital ihrerseits nicht auskommt. (siehe hierzu unter dem Aspekt des Bildungsromans: Lüscher 1988).

II. Mit seiner Analyse der Warenform im 1. Kapitel des Buches über »Das Kapital« hatte sich Marx dazu verleiten lassen, seine Kritik der politischen Ökonomie ihrerseits ökonomisch zu fundieren. Das schmälert seine Entdeckung der gesellschaftlichen Bedingungen der Wirtschaft nicht, lenkt jedoch den Blick auf jene Engführungen, die an ihren historischen Korrekturen nicht unschuldig sind. Aus der Entdeckung der gesellschaftlichen Bedingungen der Wirtschaft wären jedoch, so schon die Klassiker der Soziologie, eher soziologische Konsequenzen zu ziehen, und dies schon deswegen, um dem für Ökonomen typischen Hang zur Utopie (sei es des Sozialismus, sei es des Liberalismus) eine genauere Kenntnis der ambivalenten Bedingungen gesellschaftlichen Lebens entgegenzusetzen. Alle vier Klassiker der Soziologie bemühen sich denn auch um Werttheorien, die gleich über beide Engführungen, jene auf Arbeit und jene auf das Kapital, hinausführen. Für Emile Durkheim kommt es darauf an, die abstrakten Bedingungen jeden Werts unter den ebenso komplementären wie substitutiven und deswegen auf Solidarität angewiesenen Bedingungen der sozialen Arbeitsteilung um so pädagogischer zu vermitteln, je mehr ihnen die Anschaulichkeit und gesellschaftliche Repräsentierbarkeit in ein oder zwei Produktivfaktoren fehlt (Durkheim 1998). Für Gabriel Tarde ist jeder Wert nichts anderes als ein Produkt des Streits, für dessen Ausgang die Dynamik der gesellschaftlichen Assoziation entscheidender ist als der Rang eines Produktivfaktors in der Produktionsfunktion (Tarde 1902). Georg Simmel nimmt jegliche

1

Siehe den Beschluss des ZK der KP Chinas über die »Große Proletarische Kulturrevolution« vom 8. August 1966.

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KORREKTUREN DER ARBEITSWERTLEHRE

Werttheorie zurück auf die Beschreibung der Ansprüche, mit denen wir unser Interesse an einem im übrigen gleichgültigen Sein zum Ausdruck bringen (Simmel 1977). Und Max Weber sekundiert dieser Überlegung, indem er darauf hinweist, dass Wertungen aller Art nicht nur zweckund wertrationaler, sondern auch affektueller und traditionaler Art sein können, so dass man sich nicht sicher sein kann, welche Rolle ein wirtschaftlicher Wert selbst dann, wenn er ausgerechnet werden kann, in unseren Werturteilen spielt (Weber 1990). Die Arbeitswertlehre übersteht diese Differenzierungen nicht. Sie fristet in der ökonomischen Literatur ein Randdasein, während der real existierende Sozialismus sie ihrer ökonomistischen Beschränkungen überführt.

III. Eine soziologische Arbeitswertlehre ist mir nicht bekannt. Sie hätte mindestens mit jenem Nicht-Wissen zu rechnen, das Manfred Füllsack (2006, 2007) vorschlägt in Rechnung zu stellen und das den Rahmen darstellt, um sowohl die Werturteile und die jeweils von Beobachtern veranschlagten Unterscheidungen, unter denen sie zustande kommen, als auch die Gegenstände dieser Werturteile und die Frage, wie lange sie diesen genügen, angemessen zu berücksichtigen. Nicht umsonst hat Alfred Sohn-Rethel darauf hingewiesen, dass die Waren wie das Denken still halten müssen, wenn jegliches Werturteil nicht im nächsten Moment schon wieder zweifelhaft sein soll (siehe Sohn-Rethel 1972, 1978). Aber wie lange halten sie still? Und was versetzt sie im nächsten Moment wieder in welche Unruhe? Man ahnt angesichts dieser Frage, wie sehr sowohl der Strukturalismus als auch der Poststrukturalismus (alias die Postmoderne) davon fasziniert gewesen sind, jegliches Werturteil zum einen dingfest zu machen und zum anderen in die Verhältnisse, denen es sich verdankt, aufzulösen. Der aktuelle Stand der Dinge ist daher, wenn ich das richtig 2 sehe, ein allgemeines Schweigen zum Thema. In der Wirtschaftspolitik wie Entwicklungspolitik, in der Befürwortung der Globalisierung wie in der Gegnerschaft zu ihr geht es eher um Arbeitsplätze beziehungsweise deren Fehlen als um Arbeitswerte und deren schwierige Bestimmung. Nur dort, wo Karrieren auf dem Spiel stehen und deren prekäre Voraus-

2

Das schließt neuere Spezialistenliteratur nicht aus, siehe etwa Postone 2003, außerdem nach wie vor Backhaus 1997. Eine präzise Einführung verdanken wir Rolf Peter Sieferle 2007. 153

DIRK BAECKER

setzungen in den Blick genommen werden, wird noch nach dem Wert der Arbeit gefragt und wird denkbar radikal auch vorgeschlagen, diese Frage um keinen Preis auf die Ökonomie zu beschränken, sondern in jedem Fall Kunst (durchaus im Sinne der Fähigkeit des Kunstwerks zur »Selbstprogrammierung«, von der Niklas Luhmann (1995: 328ff) ge3 sprochen hat) und Leben (Prinzip Spontaneität ) mit ins Kalkül, das so auch wieder heißen darf, zu nehmen. (siehe hierzu Friebe/Lobo 2006, ferner Paoli 2002).

IV. Unter diesen Bedingungen ihrer theoretischen Erschöpfung und historischen Korrektur, aber auch eines nicht ganz verschwundenen praktischen Interesses lohnt es sich vielleicht, den Sachverhalt zumindest so weit soziologisch auf den Punkt zu bringen, dass Kapital, Nation und Bildung ebenso sehr als gleichwertige Variablen der Bestimmung des Arbeitswerts auftauchen wie Kunst und Leben als die Rahmenbedingungen nicht nur des Unverzichtbaren, sondern auch des Vorläufigen gelten. Auf der Innenseite der Form der Arbeit, so dürfen wir in der Begrifflichkeit von George Spencer-Brown (1997) dann vielleicht sagen, finden wir das Kapital, die Nation und die Bildung, auf der Außenseite die Kunst und das Leben. Der Wert der Arbeit, so könnten wir dann sagen, besteht in der Interdependenz zwischen diesen fünf Variablen, aber auch darin, dass diese Interdependenz durch eine Asymmetrie gekennzeichnet ist, die die Anschlussbedingungen für die Operation Arbeit auf der Seite von Kapital, Nation und Bildung situiert und ihre Reflexionsbedingungen auf der Seite von Kunst und Leben. Zunächst jedoch bedeutet dieses Interesse an einer soziologischen Arbeitswertlehre, den Marx der »Grundrisse« ernster zu nehmen als den Marx des »Kapitals«. Mit den »Grundrissen«, aber auch mit dem bemerkenswerten Text »Abschweifung (über produktive Arbeit)« (in: Marx 1985) hat auch Marx an einem operativen Verständnis von Arbeit gearbeitet, in dem der Arbeit eine positive und produktive Rolle bei der Hervorbringung jenes Kapitals zugeschrieben wird, das sich ihr gleich im nächsten Schritt ebenso fremd wie kenntnisreich gegenüberstellt, um sie auszubeuten. Wie im Vorgriff auf das letzte Kapitel von Michel Foucaults über die Geburt des Gefängnisses (siehe Foucault 1976) zeigt Marx in dieser Abschweifung, dass man selbstverständlich Verbrecher braucht, um Verbrechen zu produzieren, doch dies nur auf dem Umweg 3

Nach wie vor hierzu lesenswert: Hayek 1967.

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KORREKTUREN DER ARBEITSWERTLEHRE

über das Kriminalrecht, die Kriminaljustiz, die Polizei, das Gefängnis und bürgerliche Kriminalromane, die allesamt erforderlich sind, die Verbrecher zu produzieren. Dieser Gedanke geht im »Kapital« nicht verloren, aber er tritt doch in den Hintergrund zugunsten einer immer genaueren Analyse der Art und Weise, wie das Geld Geld und das Kapital Kapital hecken – wenn auch nur auf dem Umweg über die Ausbeutung der Arbeit. Dass auch die Arbeit sich reproduziert, wird gesehen, jedoch auf Subsistenz- und Lohnfragen reduziert. Der produktive Beitrag der Arbeit an der Reproduktion der Arbeit wird zugunsten des produktiven Beitrags der Arbeit an der Produktion des toten Kapitals, das der lebendigen Arbeit gegenübertritt, eher vernachlässigt. Fragen wir also genauer nach dem produktiven Beitrag der Arbeit bei der Reproduktion der Arbeit und nennen wir die Bearbeitung dieser Frage einen Beitrag zu einer soziologischen Arbeitswertlehre. Die erste Aussage dieser wie bislang auch jeder marxistischen Arbeitswertlehre lautet dann, dass die Arbeit selbst an der Form der Arbeit nicht unschuldig ist. Sie ist selbst die Operation, ohne die die Form nicht zustande käme, und ist für diese Operation auf ein Netzwerk weiterer Elemente oder Variablen der Form angewiesen, um die sich dann der eigentliche theoretische Streit, aber auch die historische Auseinandersetzung dreht. Wenn niemand arbeiten würde, fände die Arbeit nicht statt. Aber sobald jemand arbeitet, genügt er so oder so der Form. Wenn wir also folgende Formgleichung anschreiben:

Arbeit = Kapital Nation Bildung Kunst Leben

– dann verstehen wir unter dieser Spencer-Brown-Gleichung den Eigenwert einer rekursiv und iterativ sich selbst reproduzierenden Gleichung, in der die Arbeit ein aktives Moment darstellt, insofern ohne die aktive Unterscheidung des Zusammenhangs der mit diesen sechs Variablen getroffenen Unterscheidungen Arbeit nicht zustande kommt. Im Übrigen haben wir uns nicht verzählt, wenn wir von sechs und nicht von fünf Variablen sprechen, weil der unmarked state auf der Außenseite der in sich wiedereingetretenen Form seinerseits als eine Variable mitgezählt wird. Er steht für jenes Nicht-Wissen, von dem Manfred Füllsack spricht.

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DIRK BAECKER

V. Schauen wir uns die Variablen im Einzelnen an. Über das Kapital hat Marx alles Erforderliche gesagt. Seine Analyse bleibt weiterhin gültig. Das Kapital definiert die Verwertungsbedingungen nicht nur seiner selbst, sondern auch der Arbeit, insofern diese ein Produktionsfaktor ist, der nur im Rahmen der Produktion von Waren für einen Markt und damit nur im Rahmen riskanter Vorleistungen produktiv wird, die sich entweder bezahlt machen (wenn Kunden die Ware nachfragen) oder nicht (wenn die Nachfrage ausbleibt). Wir verstehen dabei unter Kapital den Mechanismus einer strukturellen Kopplung, der Wirtschaft und Gesellschaft, Tauschwert und Gebrauchswert der Ware sowie Tauschwert und Gebrauchswert der Arbeitskraft übergreift und aus der Sicht der Autopoiesis der Wirtschaft jene Risikokalküle trägt, die unter der Bedingung Knightscher Ungewissheit und Stiglitzscher Information errechnen (siehe Knight 1965, Stiglitz 2000), welche Investition und Produktion aussichtsreich sind und welche nicht (siehe auch Baecker 2001a). Man kann dieser ökonomischen Akzentuierung die gesellschaftliche Akzentuierung im Sinne von Talcott Parsons und Neil J. Smelser gegenüberstellen (Parsons/Smelser 1984), der gemäß jedes Kapital immer auch ein Vertrauenskapital (nämlich ein liquidierbares Vermögen) darstellt, das die Gesellschaft im Allgemeinen und die Politik im Besonderen der Wirtschaft nur dann zur Verfügung stellen, wenn diese mit ihren Operationen sowohl sozial als auch kulturell kompatibel bleibt. Aber das ändert nichts daran, dass die Kapitalvariable primär aus der Sicht der Wirtschaft formuliert wird.

VI. Ganz anders die Variable der Nation. Hier hat John W. Meyer (2005) in einer Reihe von Aufsätzen gezeigt, dass die gesellschaftliche Form der Wirtschaft und damit auch der Arbeit nicht zu verstehen ist, wenn man sich nicht anschaut, wie sich einzelne Regionen der Weltgesellschaft in dieser Weltgesellschaft positionieren, indem sie für Organisations-, Technologie- und Produktprofile Sorge tragen, die Anspruch darauf erheben können, bestimmte Rationalitätserwartungen dieser Weltgesellschaft an sich selbst zu teilen. Meyer spricht von einer »Weltkultur«, weil er diese Rationalitätserwartungen mit leichter Anlehnung an Parsons’ Kulturbegriff (den er gleichwohl nicht nennt) in Identitätserwartungen an Individuen, Organisationen und Nationen kulminieren 156

KORREKTUREN DER ARBEITSWERTLEHRE

sieht, in die die Erwartung der Differenz gegenüber der Varietät vor Ort gleichsam schon mit eingebaut ist. Im gleich weiten Abstand zu normativen (enttäuschungsfesten, aber sanktionsbereiten) und kognitiven (lernfähigen) Erwartungen, die Niklas Luhmann (etwa 1984: 436ff) unterschieden hat, sind kulturelle Erwartungen solche, die mit ihrer Enttäuschung rechnen, ohne daraus anderes lernen zu wollen als etwas über die Vielfalt der lokalen Verhältnisse, aber auch ohne daraus Sanktionen ableiten zu können oder auch nur ableiten zu wollen. Kultur ist auf sensible Indifferenz gegenüber allfälligen Abweichungen geeicht, könnte man vielleicht sagen und damit auf ein bewährtes Verständnis von »Zivilisation« anspielen (siehe dazu auch Baecker 2001). Die Geschichten der Individualisierung des Individuums, der Formalisierung der Organisation und der Nationalisierung der Politik rekonstruiert Meyer als (christlich fundierte) Geschichten der Inszenierung von und Angleichung an diese mehr imaginierte als reale Weltkultur, die jedoch im Zuge ihrer Inszenierung als Wert- und Vergleichsmaßstab ihre eigene, durchaus konstruktive Realität gewinnt. Die Nation spielt hier eine Schlüsselrolle, insofern sie sowohl der Organisation als auch dem Individuum Identitätsfindungsbezüge liefert, die jenseits der feudalen Gesellschaft liegen, aber auch diesseits der realen kulturellen Unruhe der modernen Gesellschaft. Das ist der Hintergrund dafür, dass auch die Arbeiterbewegung, obwohl sie das Imaginäre der Nation durchschaut und das Reale der Internationale erkannt hat, nicht umhin kommt, sich national und in der Form von Gewerkschaften und Parteien zu formatieren. In dieser Form und nach anfänglichem Widerstand durchaus begrüßt von den Vertretern des Kapitals, die bald herausfinden, wie einträglich zunächst die soziale Ordnung und dann die Emanzipation des Lohnabhängigen zum Konsumenten für sie werden können, geht die Arbeiterbewegung als Nukleus einer politischen Selbstbestimmung der Arbeit in die Gleichung des Arbeitswerts mit ein. Hinfort ist der Arbeitswert nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch bestimmt: als Ergebnis, wie man es aus der Zunftorganisation des Mittelalters kennt (siehe Weber 1991), einer territorialen Abgrenzung und Abschottung von Produkt-, Arbeits- und Kapitalmärkten. Der ökonomische Preis für diese politische Kodetermination ist der Verzicht auf die freie Bepreisung der Arbeit und damit ein Verzicht auf die vollständige Bewirtschaftung, das heißt Ausbeutung und Pflege der Arbeit. Das ist so lange undramatisch, wie diese Pflege statt dessen der Politik überlassen bleiben kann, wird jedoch problematisch, sobald diese finanziell und politisch (etwa ihrerseits in der Auseinandersetzung mit der Weltgesellschaft) überfordert ist.

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DIRK BAECKER

VII. Die Interdependenz der Variablen der Form des Arbeitswerts erkennt man schon daran, dass sie nicht nur in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, sondern auch in einem Verhältnis der Komplementarität. In dem Maße, in dem die Politik in der Determination des Arbeitswerts mit der Wirtschaft konfligiert und konkurriert, muss sie eine Kompensationskompetenz entwickeln und anbieten, die den Wert der Arbeit auch dann sicher stellt, wenn das Kapital daran gehindert wird, hier nach Gutdünken zu schalten und zu walten. Was als politische Begründung der Investition in Bildung zugunsten einer Weiterentwicklung der Wirtschaft (und ihrer Steuerkraft) beginnt, steht der Wirtschaft zwar irgendwann als Ausbau so dann doch nicht brauchbarer Kompetenzen im Wege (Schule und Universität orientieren sich eher am Bedarf an Staatsbeamten, Lehrern und Wissenschaftlern denn an Ingenieuren, Fachkräften und Führungspersonal), geht jedoch auch so in den Wert der Bestimmung des Arbeitswerts mit ein, weil Bildung weder mit Bezug auf die Politik noch mit Bezug auf die Wirtschaft formuliert wird, sondern mit einem spannungsvollen Doppelbezug auf das Individuum und die Organisation. Natürlich bildet sich das Individuum nicht zuletzt in der deutschen Tradition primär für sich selbst (zum Bildungsbegriff siehe Gadamer 1990: 15ff). Doch selbstverständlich hat es dabei die Sicherung der Fortsetzungsbedingungen seiner Selbstverwirklichung und damit: die Organisation, vor Augen. Bildung geht in der Fassung in die Form des Arbeitswerts mit ein, dass die Bildung die Anschlussbedingungen an Karrieremöglichkeiten innerhalb einer Organisation unter der Voraussetzung der mitlaufenden Erreichbarkeit von Karrieremöglichkeiten außerhalb der Organisation, das heißt: in einer anderen Organisation, formuliert. Bildung hat man für sich und gebildet ist man immer für einen anderen. Nur in dieser Fassung kann es gelingen, den Arbeitswert in der Bildung so unruhig zu verankern wie im Kapital (das prinzipiell auf dem Sprung ist) und in der Nation (die sich ihrer weltgesellschaftlichen Anschlüsse immer nur vorübergehend gewiss sein kann, da andere Nationen nicht schlafen).

VIII. Die Variablen Kapital, Nation und Bildung treten historisch in Formen auf, die im Zweifel eher der Notwendigkeit als der Freiheit das Wort reden. Das Kapital ist übermächtig, die Nation eigenmächtig und die 158

KORREKTUREN DER ARBEITSWERTLEHRE

Bildung wirkmächtig. In ihrem Dreischritt vermögen sie zu definieren, was den Wert von Arbeit vor dem Hintergrund der Investition in Märkte, der Sicherung von Solidarität und vor Konkurrenz und der Ausbildung individuell nachvollziehbarer Kompetenzen ausmacht, aber beweglich und erfinderisch machen sie nicht. Eher schon unterstützt der Dreiklang den Zugriff des Kapitals auf eine Formation von Arbeitskraft, die immer schon definiert ist, wenn der Einzelne antritt und nach seiner Stelle fragt. Eltern, Lehrer und Vorgesetzte können ihm alle dazu passenden Fragen beantworten. Das muss kein Unglück sein, solange sich die Industrialisierung (mit krisenhaften Schwankungen) auf dem Pfade ihrer Expansion und der Wohlfahrtsstaat auf den Bahnen seiner Konsolidierung befanden, aber im Zuge der gegenwärtigen Globalisierung werden die Karten in allen drei Variablen neu gemischt. Neues Kapital tritt auf den Plan, neue Nationen melden ihre Ansprüche an und neue Bildungskompetenzen werden angeboten, die einen »schöpferischen Prozess der Zerstörung« wie aus Joseph Alois Schumpeters (1987: 134ff) Bilderbuch angezettelt haben. Das ändert an den Werten der Variablen des Arbeitswerts viel und an diesen Variablen sowie an ihrer Form nichts. Allerdings wird es erforderlich, die Form zu reflektieren, das heißt auf ihr Nicht-Wissen, ihren unmarked state hin zu beobachten und die bislang eher unbemerkt mitlaufenden Reflexionswerte Kunst und Leben für eine Neubewertung der Variablen zu nutzen. Die Kunst ist spätestens seit dem klassischen und dem romantischen Geniebegriff für die Betreuung riskanter Individualisierungsstrategien zuständig. Der Künstler lebt vor, was sich alle anderen schon deswegen nicht trauen müssen, weil sie sehen, welchen Preis es fordert. Aber gleichsam als Nebenprodukt kann man dann hier und dort und im kleineren Rahmen doch die eine oder andere »Selbstprogrammierung« (Luhmann) versuchen, die auch in eine Neubestimmung des Arbeitswerts eingeht. Und das Leben taugt als Kategorie, die Spezifikationsmöglichkeiten ohne Spezifikationszwänge im Bereich der Suche nach Spielräumen individueller Biographie, Familienbildung und Lebensstilgestaltung bereit stellt. Das kann nach Bedarf zu Sinnfragen gesteigert und auf Komfortfragen beschränkt werden, Projektform gewinnen oder auf Dauer gestellt werden und in dem einen oder anderen Milieu ausprobiert werden. Reflexionsformen wie die der »Bohème« stehen seit dem 19. Jahrhundert bereit, um einen vorläufigen Verzicht auf eine Normalbiographie in allfälliger Nähe zum Lebensstil von Künstlern in den Dienst der Vorbereitung einer bürgerlichen Erfolgskarriere stellen zu können (siehe am Beispiel der Impressionisten White/White 1993). Aber auch das Murmeln und Rufen derer, die sich im Kontext industrieller Erschöpfung, politi159

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scher Ratlosigkeit, ökologischer Zweifel und globaler Befürchtungen 4 dem Satz »Je voudrais apprendre à vivre enfin« (Derrida 1993: 13 ) verschreiben, deutet auf eine Form der Reflexion, die die Arbeit in ihrem gesellschaftlichen und individuellen Kontext ins Visier nimmt.

IX. Die Formulierung der Arbeitswertlehre in der Fassung einer SpencerBrown-Gleichung erlaubt es, auf das schwierige Verhältnis von Interdependenz, Asymmetrie, loser Kopplung, Disjunktion und Transjunktion aufmerksam zu machen, das zwischen den Variablen einer solchen Gleichung herrscht und sie erst zum nicht-trivialen Verhalten eines knotenähnlichen Eigenwerts einer rekursiven Funktion, oder besser 5 gesagt: eines rekursiven Funktors, befähigt. Wir haben es mit einem polykontexturalen, mehrwertigen Funktor zu tun, der auf jeweils überraschende Weise Zusammenhänge zwischen den einzelnen Werten der Variablen herstellt, obwohl er hoch redundant ist in der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen immer wieder denselben Variablen (siehe zur Begrifflichkeit Günther 1976). Die Überraschungen verdanken sich vornehmlich der Möglichkeit eines solchen Funktors, zwischen disjunktiven und transjunktiven Beziehungen zwischen den Variablen zu oszillieren. Diese Oszillation stammt aus der doppelten Lesung von Unterscheidungen sowohl als Trennung als auch als Zusammenhang. Die Determination des Zugriffs des Kapitals auf die Arbeit kann deswegen sowohl komplementär als auch substitutiv zur nationalen Formatierung von Arbeit gedacht werden. Die Nation kann den Bildungsauftrag an die Arbeit sowohl national forcieren als auch international und »interkulturell« lockern und freigeben. Die Bildungskompetenzen, die in die Arbeit einfließen, können auf die Optionen von Kunst und Leben sowohl Rücksicht nehmen als auch quer zu ihnen stehen, etwa überholt und knöchern wirken. Und auch Kunst und Leben können Hand in Hand an neuen Lebensentwürfen stricken, aber auch mit wechselseitiger Überforderung aufeinander reagieren. Disjunkte Bezüge unterstreichen Inkompatibilitäten, transjunkte Bezüge wechselseitige Anleihen zwischen den Werten der Variablen.

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Kursiv im Original; die deutsche Übersetzung nutzt die Ambivalenz des französischen Wortes »apprendre«: »Ich möchte endlich lernen, endlich lehren, zu leben.« so Derrida 1995: 7. Siehe zum Umgang mit rekursiven Funktionen und Funktoren: Foerster 1993, Kauffman 1987, 1995, Baecker 2003.

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KORREKTUREN DER ARBEITSWERTLEHRE

Es ist schon wegen dieser Oszillationen kein Wunder, dass die Akteure des Arbeitswerts vielfach nicht wissen, woran sie sich halten können. Nimmt man hinzu, dass ein rekursiver Funktor auch noch zwischen der Symmetrie und der Asymmetrie im Verhältnis zwischen den Variablen oszilliert, das heißt dazu zwingt, jede Bestimmung im Kontext von Un6 bestimmtheit zu lesen , und nur so in der Lage ist, die Verhältnisse nicht nur festzulegen, sondern gleichsam zwingend kontingent für die Notwendigkeit von immer erst noch zu treffenden Entscheidungen von Be7 obachtern mit jeweils idiosynkratischen Präferenzen zu öffnen , beginnt man zu verstehen, dass auch und ausgerechnet dort, wo doch letztlich nur »gearbeitet« wird, über den Wert dieser Arbeit der Gesamtkontext von Welt und Gesellschaft mit bearbeitet wird. Es hilft deswegen sehr, wenn John W. Meyer (insbes. 2005: 27) für 8 die Variable der Nation so viel Wert auf lose Kopplung legt. Über lose Kopplung kann sicher gestellt werden, dass Zusammenhang und Differenz zwischen den Werten von zwei und mehr Variablen sowohl über konsequentes Handeln als auch über das Erleben von (kognitiver) Dissonanz, sowohl, mit der Tradition formuliert, über Perfektion und Perfektibilität, als auch, modern formuliert, über Ambiguitätstoleranz hergestellt werden kann. Lose Kopplung bedeutet, dass die action nicht sein muss, wo der talk ist, mit Nils Brunsson (1989) formuliert, ohne dass sich deswegen Entscheidungen (decisions) erübrigen würden. Mit all dem, das sollte deutlich geworden sein, wird nicht der Be9 liebigkeit, sondern der Komplexität das Wort geredet. Die berühmte Formel des »anything goes« ist schon bei Paul Feyerabend (siehe 1980: 97f) kein Freibrief für verantwortungsloses Herumprobieren, sondern eine präzise Formel für die Heuristik der Orientierung in komplexen, wenn nicht sogar chaotischen Verhältnissen. Man merkt das bei jeder einzelnen Entscheidung in der Ausbildung eigener Arbeitskompetenzen, im Streit um die Höhe des Arbeitslohns, bei der Suche nach geeigneten Mitarbeitern, im Vergleich nationaler und globaler Arbeitsmärkte, in der Auseinandersetzung um neue und kreative Lösungen alter oder neuer Problemstellungen oder in der Bemühung um work/life balances, die sich biographisch durchhalten lassen: In jeder einzelnen dieser Ent-

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Das ist die Pointe des so genannten Wiedereintritts (re-entry) bei SpencerBrown, 1997: 47 ff. Von »new markers who observe the original expression and prejudice the choice in transition” spricht Louis H. Kauffman 1978: 182. Zum Konzept der losen Kopplung siehe Cohen/March/Olsen 1972, Weick 1976, Orton/Weick 1990, Heimer/Stinchcombe 1999. Im Sinne von Warren Weaver 1948, Edgar Morin 1974, Niklas Luhmann 1990. 161

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scheidungen scheint es mehr oder minder große Spielräume zu geben, die bereits im Moment, in dem sie wahrgenommen werden, auf einige wenige und jeweils seltsam prädeterminierte Möglichkeiten schrumpfen. Erst wenn man sich auf die Verhältnisse einlässt, merkt man, dass diese sozial, sachlich und zeitlich bereits auf eine Art und Weise bestimmt sind, wie man sich dies, orientiert am bloßen Augenschein, nicht hätte träumen lassen. Die Interdependenz der Werte der Variablen ändert daher nichts daran, dass man es sowohl mit Asymmetrie als auch mit Symmetrie zu tun hat. Jede einzelne der ineinander geschalteten Unterscheidungen beschreibt zwar einen Zusammenhang, verweist jedoch zugleich darauf, dass Anschlussoperationen nur auf der jeweiligen Innenseite, nicht auf der Außenseite der Unterscheidung vorgenommen werden. Man muss sich jeweils zuerst auf bestimmte Bestimmungen des Kapitalzusammenhangs, des nationalen Umfelds, des Bildungsumfangs, des künstlerischen Selbstverständnisses oder der Lebenserwartungen einlassen und kann dann erst auf die anderen Werte der Variablen reflektieren, um sich anzuschauen, welche Konsequenzen die eine oder die andere Entscheidung hätte. Und man kann die Reflexion nicht vorwegnehmen. Erst die Entscheidung, verstanden als Operation, die einen neuen Zustand bewirkt, offenbart die Verhältnisse und ineins mit ihnen deren Komplexität. Deswegen ist man frei, solange man sich noch nicht entschieden hat, und entschieden klüger, sobald man sich entschieden hat. Diese Klugheit ist identisch mit einer Einsicht in Komplexität, die den Zusammenhang von Wissen und Nichtwissen nicht mehr aus den Augen 10 lässt. Die theoretische Erschöpfung der Arbeitswertlehre ist bei all dem so verständlich wie die historischen Lehren nachvollziehbar sind. Die Versuchung, anstelle des rekursiven Funktors eine lineare Funktion zu postulieren, die mit einer unabhängigen Variable arbeitet und diese variiert, um alle anderen als deren Ergebnis behandeln zu können, ist zu groß, um nicht immer wieder im Kapital (Marx), in der Nation (Lenin) oder in der Bildung (Mao) das Heil zu suchen. Die Reflexion auf die Weltgesellschaft mit ihrer gelassenen, weil über lose Kopplungen laufenden und diese akzeptierenden Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Komplexität (vgl. in diesem Sinne Qvortrup 2003; Guy 2007) befreit uns von den Fundamentalismen dieser historischen Experimente und konfrontiert uns mit der Notwendigkeit ebenso lokaler wie kontext-

10 Natürlich auch im Sinne von W. Ross Ashby (1958: 97f), und seiner Empfehlung eines »operational research«, das im Umgang mit Komplexität nicht auf Verstehen, sondern auf Kontrolle (control) setzt. 162

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sensibler Entscheidungen auf der Ebene aller Akteure, der Individuen, Organisationen und Nationen. Spätestens die Arbeitswertlehre belehrt uns darüber, dass individuelles Handeln und kollektives Handeln so real wie imaginär intensiv und extensiv ineinander verknotet und dennoch miteinander nicht identisch sind (siehe dazu die Studien von Ronnie D. Laing 1970).

X. Nichts spricht dagegen, mit einer hier angedeuteten soziologischen Arbeitswertlehre an die Kritik der politischen Ökonomie anzuschließen, die Karl Marx entworfen hat, und sie in den Dienst einer Kritik der Gesellschaft zu stellen, die vor dem Hintergrund dieser Arbeitswertlehre allerdings nicht mehr an wohlfeile Subjekt/Objekt-Unterscheidungen glaubt, sondern den Kritiker als aktives Moment dieser Gesellschaft mit in Rechnung stellt und mit kritisiert. Damit wären wir wieder beim kantschen Kritikverständnis angelangt, der Überprüfung der Bedingungen des eigenen Handelns und Erlebens im Zuge dieses Handelns und Erlebens, das heißt unter der Berücksichtigung, dass das Spiel immer schon läuft, das den eigenen Beitrag definiert, über den man etwas herauszufinden versucht, um an ihm etwas zu ändern, wenn es darum geht, daran etwas zu ändern. Die hier skizzierte Arbeitswertlehre ist nur ein Entwurf. Sie orientiert sich strikt an der theoretischen Erschöpfung, der historischen Korrektur (Lenin, Mao) und der praktischen Erweiterung (Aussteiger, glückliche Arbeitslose, digitale Bohème) unserer modernen Auffassung vom Arbeitswert. Sie hält daher nur den Stand der Dinge fest. Aber mehr braucht man auch nicht, um etwas besser beobachten und etwas gelassener entscheiden zu können.

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KORREKTUREN DER ARBEITSWERTLEHRE

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De la ye d Produc tivit y. Erk undunge n z um Zeitas pekt produkti ver Arbeit MANFRED FÜLLSACK

Der Begriff »produktive Arbeit« scheint zunächst tautologisch. Arbeit würde nicht lange als Arbeit angesehen werden, wenn zu ihrer Durchführung mehr Input notwendig wäre, als damit an Output generiert werden kann. Dennoch unterscheidet die moderne Gesellschaft zwischen 1 »produktiver« und »unproduktiver« Arbeit und geht sowohl in ihren 2 Bemühungen, die eigene Produktivität zu beobachten und zu messen , wie auch im Versuch, ihrer Arbeit einen »produktiven« organisatori3 schen und insbesondere sozialpolitischen Rahmen zu geben , davon aus,

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Beginnend etwa mit Smith (1776/1974: 429f.) und im Anschluss daran folgenreich etwa Karl Marx, u.a. MEW 26.1: 127. Obwohl anders als zu Zeiten der Arbeitswerttheorie und etwa des daran orientierten »Material Product System« (MPS69) der Ostblockländer, der Begriff »produktive Arbeit« keine explizite Kategorie der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung mehr ist, werden auch in der dritten Generation der internationalen Richtlinien zum »National Accounting« (SNA93, ESA95) zum Beispiel Haushaltsdienste, Freiwilligentätigkeiten oder auch etwa Ausgaben für Freizeitaktivitäten nicht erhoben. Tätigkeiten in diesen Bereichen werden damit implizit als »unproduktiv« angesehen. Vgl.: Eisner 1994, Bos 2006: 77. In der Sozialpolitik zieht etwa die Administration der Arbeitsbereitschaftsdemonstration (work test) und der Bedürftigkeitsprüfung (means test) Grenzen zwischen für »produktiv« und »unproduktiv« gehaltene Arbeiten. Vgl. Füllsack 2002: 89f. 167

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dass sich diese Unterscheidung mehr oder weniger trennscharf, dauer4 haft und somit unproblematisch ziehen lässt. Gerade indem dieser Begriff aber in den Bemühungen um Standardisierung von Outputmessungen, vor allem aber in Wirtschafts- und Sozialpolitik festgeschrieben wird, gerät die Grenze, die er zieht, in Bewegung. Ob Arbeit produktiv oder unproduktiv ist, lässt sich ob der Vielzahl der dabei in Rechnung stehenden Faktoren nicht mehr ohne weiteres beantworten. Zum einen steht dem die Differenzierung der jeder Arbeit zugrunde liegenden Knappheitswahrnehmungen (Problemsichten) entgegen, die fatalerweise gerade durch die Versuche, ihren Folgen – etwa durch Organisation – Herr zu werden, stets weiter befördert wird (vgl. Baecker 1999; Luhmann 2000). Und zum anderen steht dem, sehr tiefgreifend, die nicht zuletzt in folge dieser Differenzierung mittlerweile auf Dauer gestellte Problematisierung von Arbeitsvoraussetzungen entgegen, die – befördert von systematisch darauf abzielenden Einrichtungen wie dem Wissenschaftsbetrieb – dafür sorgt, dass jene Vielzahl an Werten, Normen, Erwartungen, Regeln und Ordnungen, die die Arbeit bisher längerfristig trugen, in der Moderne folgenreich hinterfragt und damit »flüssig« werden (Füllsack 2006a, b). Grundlegende Annahmen, wie etwa die, dass Arbeit als produktiv gilt, wenn sie monetäre Mehrwerte schafft, werden damit in einer Gesellschaft fragwürdig, die in ihrer Heterogenität nun auch – und zwar nicht mehr nur partikular, sondern mit sozialer Tragweite – wahrnehmen kann, dass die selbe Arbeit die Umwelt verschmutzt, dass sie Arbeitsplätze vernichtet, dass sie ihre Gewinne außer Landes lukriert und dass sie grundsätzlich damit einer Dynamik unterliegt, die aus sich heraus Wertschöpfungen beständig verschiebt. Festzustellen, was in einer solchen Gesellschaft als produktiv gelten könnte, wird zu einem aufwendigen Unterfangen, das, weil es selbst dieser Dynamik unterliegt, nur mehr – dies wollen die folgenden Überlegungen zeigen – im Vorgriff auf seine eigene Zukunft, und von daher dann unter ständiger Neuschreibung seiner Gegenwart und Vergangenheit gelingen, sprich »produktiv« stattfinden kann. Die aktuelle Situation der Arbeit zwingt, anders gesagt, dazu, grundlegend mit delayed productivity zu rechnen und diese zu einer der Grundlagen von Wirtschafts- und Sozialpolitik zu machen.

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Vgl. aber u.a. die Diskussionen um den Ersatz des BIP, in dem Umweltschäden oder auch Faktoren wie Freude oder Stress mit der Arbeit etc. keine Berücksichtigung finden, durch »Wohlfahrtsindikatoren«, u.a. Coelli/ Rao/Battese 1998/2005.

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DELAYED PRODUCTIVITY

D e l a ye d P r o d u c t i v i t y Um zunächst zu erläutern, wofür der Begriff delayed productivity stehen soll, ziehe ich im folgenden einen formalen Produktivitätsbegriff heran, der einen (wie auch immer einfach vorgestellten) Prozess oder eine Aktivität, dann als produktiv ausweist, wenn er/sie eine positive Output/Input-Bilanz aufweist, wenn also der Prozess mehr Output zu 5 generieren scheint, als Input für sein Stattfinden erforderlich ist. Solange ein solcher Prozess für sich, sprich einzig auf die in ihm anfallenden Kosten und erzielten Gewinne hin bilanziert, ist seine Produktivität trivial und damit ohne jegliche Relevanz für seine Umwelt. Interessanter wird die Sache, wenn Output/Input-Bilanzen über mehrere solche Prozesse – nun als Prozessschritte (als »Ereignisse« vgl.: Luhmann 1984: 389) vorgestellt – hinweg gezogen werden und dabei etwaige »unproduktive« Zwischenschritte im Hinblick auf künftige Produktivitätszuwächse in späteren Schritten akzeptiert werden, wenn also so etwas wie ein übergeordneter, oder ein Gesamtprozess in Betracht gezogen wird, in Bezug auf dessen Bilanz temporäre Unproduktivitäten in Kauf genommen werden. Ein naheliegendes Beispiel für delayed productivity in diesem Sinn – wir werden unten noch einen anderen Aspekt ins Auge fassen – liefert die vergleichsweise lange, bis zu einem Viertel der Gesamtlebenszeit ausgedehnte Lebensphase der Kindheit und frühen Adoleszenz bei Primaten und Menschen, in welcher die Teilnahme an den »produktiven Aktivitäten« der Gesellschaft partiell oder zur Gänze suspendiert ist (Gurven/Kaplan/Gutierrez 2006). Ethnologische Untersuchungen in Jäger und Sammler-Gesellschaften etwa gehen davon aus, dass »delayed maturation« zusammen mit langen Lebenszeiten und erhöhtem Großrindenwachstum als co-evoluierende Reaktionen auf die vergleichsweise engen Versorgungsnischen gedeutet werden können, die für mensch-

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Schon damit wird deutlich, dass Produktivität nur eine Zuschreibung sein kann, die ein Beobachter vornimmt, der spezifische Werte als relevante Input- und Output-Größen wahrnimmt, der also zum Beispiel Negentropie höher wertet als Entropie, oder lebensfördernde Zustände höher als lebensvernichtende etc., was, so setzen wir zunächst voraus, im Rahmen dessen, was im weitesten Sinn mit dem Begriff »menschliche Arbeit« assoziiert wird, der Fall ist (vgl. aber u.a. Füllsack 2006a: 27). Dass dieser Beobachter hier vorausgesetzt werden muss, um Betriebsbedingungen, denen er selbst unterliegt, analytisch zu fassen, entspricht der bekannten Paradoxie der in differentialistischen Systemtheorien herausgestellten »ersten Unterscheidung«, die immer bereits vorgenommen sein muss, um eine »erste Unterscheidung« vorzunehmen. Die Paradoxie lässt sich nur in der Zeit, durch Temporalisierung auflösen. Vgl. u.a. Spencer-Brown 1972. 169

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liche Jagd typisch scheinen (Stiner 1991). Indem Kinder und Jugendliche den Risiken der »Produktion« in diesen Nischen nicht ausgesetzt werden, wird ihnen Lernen ermöglicht, sprich das Akkumulieren von Skills, Qualifikationen, Erfahrungen, von »embodied«, »social« oder »cultural capital«. Mit diesem Kapital lässt sich die Phase jugendlicher »Unproduktivität« durch später erhöhte Produktivität, durch delayed productivity eben, amortisieren.

Verrechnung Produktivität beruht damit nicht mehr auf unmittelbaren, sondern auf längerfristig bilanzierenden Kosten-Nutzen-Kalkulationen, deren evolutionärer Vorteil darin besteht, dass ein in dieser Weise operierendes System Zufallsschwankungen seiner Produktionsbedingungen nicht ausgeliefert ist, sprich nicht mehr mit jedem negativ bilanzierenden Schritt sofort vor dem Aus steht, sondern in der Lage ist, vorübergehende Verluste oder Nicht-Gewinne in Erwartung künftiger Produktivitätszuwächse durchzustehen. Vorausgesetzt ist diesem »Durchstehen« dabei die Möglichkeit zum Vergleich oder zur Verrechnung früherer mit späteren Einzelbilanzen. Und diesem Vergleich ist seinerseits zum einen so etwas wie ein »Gedächtnis« vorausgesetzt, in dem die bisherigen Bilanzen verfügbar sind. Und zum anderen ist ihm auch eine Vorstellung der Anzahl der künftigen Prozessschritte, auf die hin Kosten und Nutzen verrechnet werden sollen, auf die hin also gesamtbilanziert wird, vorausgesetzt. Diese beiden Grundbedingungen generieren damit eine wie auch immer rudimentär vorgestellte Zeitdimension, die dann in konkreteren Zusammenhängen etwa die Lebensdauer eines Individuums, das Bilanzjahr einer Firma oder den Operations- und Entwicklungszeitraum einer Volkswirtschaft aufspannt. Zeit ist in diesem Sinn das Produkt einer Verrechnungsstelle, die so etwas wie einen »Gesamtplan« der Produktion verwaltet, den sie dem unmittelbaren Operieren auf erster Ebene (auf Vollzugsebene des Produktionsprozesses) auf einer nächst höheren Ebene (auf Metaebene) gegenüberstellt. In dieser Verrechnungsstelle werden die je aktuellen Prozessschritte (die Gegenwart) auf Basis der Gewinne bisheriger Operationen (der Vergangenheit) mit den noch zu absolvierenden Schritten (der Zukunft) verglichen und in Bezug auf die dabei errechneten Produktivitätspotentiale ausgerichtet. Systeme, die in dieser Weise operieren, sind von Rosen (1985) als »anticipatory systems« beschrieben worden, als Systeme, die komplex genug sind, um mithilfe einer 170

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internen Repräsentation, eines Modells ihrer selbst, zunächst auf Vergleichsebene die Produktivitäten aller, in einer gegebenen Situation theoretisch möglichen Alternativoperationen durchzurechnen, bevor diese Ergebnisse dann auf Aktions- oder Vollzugsebene zur Entscheidung für eine der unterschiedenen Alternativen herangezogen werden. Solche Systeme operieren differenziert, und zwar im hier beschriebenen Kontext zunächst zeitlich differenziert. Das heißt die Repräsentation auf Metaebene unterliegt einem anderen Zeitverlauf, einem anderen Takt, als die Aktionen auf Vollzugsebene. Das System kann damit auf Metaebene die Entwicklungen auf Vollzugsebene »antizipieren«, sprich bis zu einem gewissen Grad vorausberechnen. Die zeitlich Differenz lässt sich dabei mit Foerster (1968/1993) als Folge einer »Verzögerungsschleife« vorstellen, die als »Gedächtnis« fungiert, das seine Operabilität (seine »Produktivität«) dadurch erwirtschaftet, dass die bisherigen Produktivitätsgewinne nicht explizit (im Sinne der Inhalte etwa eines Getreidespeichers) vergegenwärtigt werden, um daraus die je aktuellen Möglichkeiten zu errechnen, sondern das rekursiv rechnet, also immer 6 nur in Bezug auf die je vorausgehenden Prozessschritte. Output wird dabei als rekursive Funktion von Input und Output des je vorausgehenden Schrittes betrachtet – O(t) = F {I(t) + O(t - ∆)} – und seinerseits als Input für den je nächsten Schritt, beziehungsweise nun auch für die Alimentation der Verrechnungsstelle, sprich für das »Gedächtnis« des Systems und seine »Vergleiche«, bereitgestellt. Mit seinen rekursiv errechneten Informationen kanalisiert dieses »Gedächtnis« auf Metaebene die Aktionen auf Vollzugsebene, ermöglicht sie aber gleichzeitig auch erst, indem eben dem Prozess ein Operations- und Orientierungsrahmen gegeben wird, innerhalb dessen und mit Hilfe dessen er stattfinden kann. Der Vergleich und die Verrechnung der nun differenziert operierenden Ebenen verursacht seinerseits Kosten, die mit steigender Differenzierung als zunehmend relevante »Transaktionskosten« (Coase 1988) in den Fokus des Systems rücken und damit die Gesamtbilanz und von da aus auch den Produktionsprozess beeinflussen. Wir kommen darauf zurück. Im Hinblick auf die Ebenenunterschiede kann sich, wenn die Differenzierung hinreichend stabil bleibt, ein hierarchisches »Kontrollverhältnis« etablieren, formal betrachtet ein Beobachter (Leydesdorff 2006: 91f), der das System mit Vorhersagen zu seiner Zukunft, mit Erwartungen also, versorgt, was diesem die Möglichkeit (und damit den

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Vgl.: Von Foerster (1968/93: 320): »Der Bezug auf die Vergangenheit wird vollständig durch die spezifische [rekursive] Funktion F erfüllt, die hier am Werke ist. F ist sozusagen die ›Hypothese‹, die aus vergangenen Fällen zukünftige Handlungen vorhersagt.« 171

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evolutionären Vorteil) gibt, auf Umweltveränderungen, noch bevor diese eintreten, zu reagieren. Ein anschauliches Beispiel für diese Form der Arbeitsteilung stellt die gut dokumentierte Emergenz von Organisation insbesondere im Kontext der Industriearbeit dar (Taylor 1911/1967, Braverman 1974), die zeigt, wie in dem Ausmaß, in dem die Produktion mit Zerstückelung ihrer Arbeitsschritte – gedacht sei an Smith’s Stecknadelfabrik – ihre »Ganzheitlichkeit« (Brunner 1980) verliert, die Notwendigkeit entsteht, die nun auf unterschiedlich spezialisierte Arbeitskräfte verteilte Industriearbeit im Hinblick etwa auf ihre effiziente Anordnung zu »beobachten«. Industriellen Unternehmen werden zu diesem Zweck ManagementAbteilungen eingegliedert, die in ihrem »Gesamtplan« den zeitlichen, räumlichen, sachlichen, ideellen etc. Horizont festsetzen, innerhalb dessen nun produktiv zu wirtschaften ist, die also so etwas wie ein system of reference für die Produktion bereitstellen – ein System, das vorgibt, was in seinem Rahmen als produktiv wahrgenommen werden kann und was nicht, das davon abgesehen aber eben auch selbst alimentiert werden muss, und das vor allem je erfolgreicher es zur effizienten Arbeitsorganisation und damit zur Produktivitätssteigerung beiträgt, selbst zur Ausweitung seiner Aktivitäten und damit zur Ausbildung und Differenzierung eines je eigenen organisatorischen Systems veranlasst – eines Systems, das in diesem Kontext dann etwa die Form eines schnell größer werdenden Angestellten- oder Dienstleistungs- und Wissensbetriebs annimmt und so völlig neue Wertschöpfungsaktivitäten – etwa die der Wissensarbeit – ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt (vgl.: Füllsack 2006a).

Wahrnehmung Im vorliegenden Kontext interessieren dabei insbesondere die epistemologischen Bedingungen, die dieses System vorgibt. Indem, wie gesagt, in der Verrechnungsstelle Einzelproduktivitäten verglichen werden ohne negative Zwischenbilanzen sofort fatale Wirkung entfalten zu lassen, wird die Produktion auf Metaebene gleichsam virtualisiert und damit eben ein Bild, eine Repräsentation des Arbeitsprozesses generiert, dem nun eine spezifische Vorstellung der Produktivität des Gesamtzusammenhangs eingeschrieben ist und damit auch eine Vorstellung, was in diesem Bild relevante Input- und was relevante Output-Faktoren sind. Auf dem bisher beschriebenen Niveau umfasst diese Vorstellung zunächst den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen Output/Input-Relationen als produktiv wahrgenommen werden. Mit Herbert Simon (1964: 172

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257ff.) lässt sich diesbezüglich betonen, dass solche Systeme immer nur unter »bounded rationality« operieren, sprich eben im Hinblick auf eine bestimmte (aktuell gerade relevant scheinende) Zahl von Prozessschritten bilanzieren und niemals im Hinblick auf alle möglichen Prozessschritte, auf »offene«, oder »unendliche« Zukünfte. Bilanziert wird stets nur im Hinblick auf ein »satisficing« im Rahmen, und nicht auf ein »maximizing« im Hinblick auf »absolute Produktivität« oder »absolute Rationalität«. In welchem Ausmaß »bounded« diese Rationalität dabei ist, hängt von den in den bisherigen Operationen (in der Vergangenheit) erwirtschafteten Möglichkeiten ab, zum einen »Durstphasen« durchzustehen, und zum anderen die Verrechnungsstelle zu alimentieren. Die erwirtschafteten Überschüsse legen damit, anders gesagt, zunächst einmal rein quantitativ fest, wie viele Prozessschritte in der Gesamtkalkulation verglichen und verrechnet werden können, ohne dass das System aufgrund der Kosten dieser Verrechnung unproduktiv wird. Wenn auf Basis dieser Festlegung Produktivitätszuwächse erwirtschaftet werden und damit der »Polster« an Überschüssen wächst, kann die Anzahl der Prozessschritte, der zeitliche Horizont der Produktion weiter ausgedehnt werden. Damit steigt zum einen die Dauer der »Durstphasen«, die durchgestanden werden können. Zum anderen steigt damit aber auch der Aufwand der Ver7 rechnungsleistungen, was evolutionären Druck erzeugt , auch auf dieser Ebene mit Selektionen zu operieren, mit »bounded rationality«, die abermals mithilfe einer Verrechnungsstelle, nun einer Verrechnungsstelle zweiter Ordnung, »produktiv« organisiert werden müssen. Diese Verrechnungsstelle zweiter Ordnung gibt damit ihrerseits ein eigenes Referenzsystem vor, in dem erneut in Form der eigenen Vergangenheit festgelegt ist, welche aktuellen Prozessschritte im Hinblick auf welche Zukünfte kalkuliert und akzeptiert werden können. Die Verrechnungsstelle bildet in diesem Sinn eine zweite Referenzebene aus, die die Informationen der ersten anreichert, in dem sie ihnen, so ließe sich sagen, 8 »Bedeutung« verleiht. Und analoges gilt, wenn auch damit wieder Produktivitätssteigerungen erwirtschaftet werden und die »bounded rationality« der zweiten Ebene neuerlich Selektionen nahe legt, die dann zum Beispiel als »Wissen« zu (temporär) stabilisierten Erwartungsorientie-

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Diese Formulierung ist der Lesbarkeit geschuldet. Denn natürlich können auch die Operationen aller weiteren Ebenen niemals anders, denn immer schon »bounded« stattfinden. Was hier analytisch und damit notgedrungen chronologisch aufgegliedert wird, entzieht sich strenggenommen linearer Darstellung. »Sinn« nach Luhmann 1984: 92f, »meaning« nach Leydesdorff 2006: 48f. 173

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Tausch In komplexeren Zusammenhängen, insbesondere in denen menschlicher Arbeit äußert sich diese Verteilung nicht nur in zeitlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht, wobei letztere von ersterer (aber natürlich, wenn auch hier nicht vorrangig besprochen, erstere von letzterer) maßgeblich beeinflusst wird. Um die Emergenz dieser Verteilung kurz im sozialen Kontext zu veranschaulichen, sei an das von Stanley H. Udy (1959) beschriebene Beispiel spezifischer Rituale in Stammesgesellschaften erinnert, mittels derer Jäger, denen bei der Jagd auf gefährliche Tiere erhöhte Adrenalinausschüttung zugute kommt, auf die Jagd vorbereitet und nach ihr, weil

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Vgl. dazu u.a.: Leydesdorff 2006: 134: »Knowledge can be considered as meaning that makes a difference.”

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dieser Adrenalinspiegel den Umgang mit anderen Stammesmitgliedern, mit Frauen oder Kindern zum Beispiel, stört, wieder »abgekühlt« werden – mittels derer also, analog zu den oben beschriebenen Managementabteilungen in industriellen Unternehmen, an den Bedingungen der Möglichkeit produktiv zu arbeiten gearbeitet wird und genau damit neuen Arbeitsarten und infolgedessen auch neuen Produktivitätsvorstellungen der Weg bereitet wird. In der Arbeit von speziell abgestellten Zeremonienmeistern, die die Jagd mit aufputschenden oder beruhigenden Ritualen »flankieren«, emergiert unweigerlich, auch wenn dies zunächst nur der Unterstützung der Jagd dient, mit der Zeit ein eigenes Referenzsystem, das sich von dem der Jäger unterscheidet und damit andere Produktivitätsvorstellungen nahe legt als sie den Jägern eignen. Weil damit von Zeremonienmeistern als wertvoll wahrgenommene Produktivitätszuwächse nicht mehr unmittelbar mit denen der Jäger verglichen werden können, ebenso wie sich mit der Zeit auch etwa die Produktivitätsvorstellungen auf Ebene der Fabrikhalle von denen in Managementabteilungen unterscheiden, sei hier auch in diesem Sinn von delayed productivity gesprochen, nun im Sinne von »verlegter«, sprich »anders zu liegen kommender« Produktivität, die eine der zentralen Produktivitätssteigerungsmöglichkeiten unter sozial differenzierten Bedingungen, nämlich den Tausch, mit hohen Aufwendungen belastet – mit Aufwendungen freilich, die unter »normalen« Umständen gar nicht als solche wahrgenommen werden. Schon den oben erwähnten Lernphasen in Zeiten der Kindheit und Jugend geht das in besonderem Ausmaß erst für Primaten und Menschen charakteristisch scheinende Verhalten des Beuteteilens, also einer spezi10 fischen Form von Proto-Tausch voraus. Angenommen wird, dass dieses Beuteteilen die gefährlich hohe Varianz der Nahrungsmittelversorgung in Jagdgesellschaften reduzieren hilft und damit gleichzeitig eben die Mitversorgung von Kindern und Jugendlichen ermöglicht (Byrne 1995). Das Teilen von Beute ist dabei ein in höchstem Maß sozialer Akt, der, wenn er für den einzelnen Akteur produktiv sein soll, so etwas wie die Beobachtung und Kalkulation der Beute, die andere Gesellschafter einbringen, erfordert und über Verständigung und Abmachungen im Fall von Ungereimtheiten Sozialkapital anreichert, also zur Entwicklung eines »social brain« beiträgt (Dunbar 1998), das seinerseits die Grundlage für ein arbeitsteilig und damit differenziert operierendes Sozialsystem darstellt, das sich Produktivitätsgewinne ebenso wie die damit er10 Der zusammen mit dem ebenfalls spezifisch hominiden Transport erlegter Beute über relativ weite Strecken zu einer Homebase, wo die Beute dann weiter verarbeitet wird, selbst bereits ein Beispiel für delayed productivity darstellt. Vgl.: Stanford 1999. 175

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möglichte »delayed maturation« in systematisiertem, institutionalisiertem und bei entsprechender Komplexität dann auch kommunikativ koordiniertem Tausch erarbeitet. Obwohl also der Tausch schon unter vergleichsweise einfachen sozialen Bedingungen vielfältiger Voraussetzungen bedarf, werden diese unter »normalen« Bedingungen, also etwa unter solchen, unter denen große Teile einer Gesellschaft mit gleichen oder ähnlichen Arbeitsaktivitäten befasst sind, nicht als relevante Input-Faktoren wahrgenommen. Noch im 19. Jahrhundert etwa konnte der Handel damit als »nicht un11 mittelbar produktive Zirkulationsarbeit« verortet werden. Die relevante Produktivität wurde in der Industriearbeit vermutet. Erst als der Tausch im Zuge sozialer Differenzierung mit zunehmend wachsender Produktund Leistungsvielfalt und großen Teilnehmerzahlen (Konsumenten) konfrontiert wurde, gewannen »Transaktionskosten«, etwa der »Preis des Preismechanismus« (Coase 1988: 6) ökonomische Bedeutung, wurden aber auch da zunächst noch als bloße »externalities« verbucht (Williamson 1985). In angemessener Klarheit scheint sich die Relevanz dieser Kosten erst abzuzeichnen, wenn einerseits, wie oben beschrieben, die »epistemologische Geschlossenheit« (der »Solipsismus« oder die »Autopoiesis«) in Rechnung gestellt wird, unter der »anticipatory systems«, oder hier in »methodologischem Individualismus« als eigenständige »Produzenten« vorgestellte Tauschpartner in ihrem eigenen Referenzsystem operieren. Und wenn andererseits dabei auch die Zeitlichkeit der Referenzsysteme dieser Produzenten in Erwägung gezogen wird und der Umstand, dass diese sich in dem Maße »verwirft«, in dem Tausch- oder Interaktionspartner ins Spiel kommen, deren Referenzsysteme zwar analogen, nun aber asynchronen, also »gleichzeitig ungleichzeitigen« Dynamiken unterliegen (Füllsack 2003: 274 und 2006: 157ff.).

Neuschreiben Um abschätzen zu können, was dabei in Rechnung steht, sei vorerst hier noch einmal die zeitliche Dimension und ihre Dynamik kurz unabhängig von ihrer sozialen Dimension betrachtet. Wie eingangs erwähnt, spannt grundlegend schon die »Zusammenfassung« einzelner Produktionsschritte zu Produktionsprozessen, in Bezug auf die zwischenzeitliche Unproduktivitäten akzeptiert (oder nicht akzeptiert) werden, eine Zeitdimension auf. Konturen gewinnt diese Zeitlichkeit dabei dann, wenn »anticipatory systems« mit dem Erwirtschaften von Produktivitäts11 Vgl. etwa Marx, MEW 25: 290f. 176

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zuwächsen ihre Relevanzwahrnehmungen ändern, wenn solche Systeme also auf Basis ihrer bis dahin erarbeiteten Möglichkeiten (auf Basis ihrer Vergangenheit) die Zukunft, auf die hin Produktivität zwischenzeitlich »delayed« wird, effektiv auswählen und damit Produktivitätsgewinne einfahren, die ihre Operationsbedingungen (ihre Gegenwart) verändern und damit auch (in »qualitativer« Hinsicht) das Bild der eigenen Vergangenheit neu zeichnen, zum Beispiel also neue Input-Faktoren 12 Relevanz gewinnen lassen. Sobald diese Veränderung ihrerseits dafür sorgt, dass der Verrechnungshorizont (eben weil nun zum Beispiel ganz andere Input-Faktoren in Rechnung stehen) neuerlich ausgedehnt, sprich die Zukunft erweitert werden kann, entstehen abermals neue Möglichkeiten für Produktivitätszuwächse. Wenn auch diese realisiert werden können, verändern sich Gegenwart und Vergangenheit neuerlich, usw. Das System errechnet, anders gesagt, im je aktuellen Erwirtschaften von Produktivitätszuwächsen beständig neue Repräsentationen, neue »Bilder seiner selbst«, seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in denen je andere Input- ebenso wie Output-Faktoren Relevanz haben. Es 13 verortet sich permanent neu in der Zeit , indem es sowohl rekursiv wie 14 auch inkursiv auf seine jeweiligen Repräsentationen zugreift und diese neu schreibt. In dieser »Neuschreibung« verändert sich permanent seine 15 Produktivitätsauffassung weiter. Ein naheliegendes Beispiel für diese permanente Neuschreibung von Geschichte und Zukunft liefert das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der ehemaligen Sowjetunion, dessen spezifische Produktivitätsauffassung aus heutiger Sicht in gewissem Sinn als »zu eng um produktiv zu sein« betrachtet werden kann (Füllsack 2006a: 318f), und dessen Eigenheit, je nach politischer Lage ein neues Geschichts- ebenso wie 12 Oftmals bemüht diesbezüglich auch etwa das Beispiel des Energieträgers Erdgas, der bis in die 1930er Jahre als »lästiges Nebenprodukt« der Erdölgewinnung abgefackelt wurde. 13 Vgl. Luhmann 1984: 390: Jedes Ereignis vollzieht »eine Gesamtveränderung von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart – alleine schon dadurch, dass es die Gegenwartsqualität an das nächste Ereignis abgibt und für dieses (für seine Zukunft also) Vergangenheit wird. Mit dieser Minimalverschiebung kann sich zugleich der Relevanzgesichtspunkt ändern, der die Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft strukturiert und begrenzt. Jedes Ereignis vollzieht in diesem Sinne eine Gesamtmodifikation der Zeit.« 14 Mit »Incursion« (im Gegensatz zu Recursion) hat Daniel Dubois (1998) jenen »Rückblick« aus der Zukunft bezeichnet, mit dem antizipative Systeme die Gegenwart mit einem vorgegriffenen Bild ihrer erwarteten Entwicklung anreichern. 15 Frühe Aufmerksamkeit für diese permanente »Neuschreibung« findet sich etwa in Schumpeters (1939) Konzept der »schöpferischen Zerstörung«. 177

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Zukunftsbild zu präsentieren, lange Zeit als totalitärstaatliche Partiku16 larität betrachtet wurde. Ein weiteres Beispiel stellt der Begriff der »Retrojektion« bereit, den Lacan für die rückwirkende Formation des 17 Ego , und Bibelforscher für Prophezeiungen und Interpretationen verwenden, die erst nach dem Tatbestand »eingefügt« werden, diesen aber gerade damit erst zu dem machen, als was er historisch erscheint.

V o r s yn c h r o n i s a t i o n Dieses auf Dauer gestellte »Neuschreiben« in der Zeitdimension verkompliziert die Kosten-Nutzen-Kalkulationen in der Sozialdimension. Die dadurch entstehenden Aufwendungen (Investitionen, Inputs) lassen sich unter »normalen Umständen« allerdings nicht ohne weiteres erkennen und verleiten damit dazu, Begrifflichkeiten wie »produktive Arbeit« und das was sie ausschließen, organisatorisch und – als Sonderbereich der Organisation – auch sozialpolitisch als unproblematisch zu betrachten. Verdeutlichen lassen sich die Gründe für diese »normale« Nichtwahrnehmbarkeit am »Problem« der »doppelten Kontingenz«, wie es von Talcott Parsons »erfunden« wurde, um an ihm die eben »im Normalfall« gar nicht als »Problemlösungen« wahrnehmbaren Voraussetzungen sozialer Interaktionen zu veranschaulichen. Nach diesem Konzept wird die extreme Unwahrscheinlichkeit, dass zwei einander mit 16 Die mit dem Jahr 1917 assoziierten sozialen Veränderungen sind bekanntlich in entscheidendem Ausmaß erst nachträglich, nämlich durch eine »aus der Zukunft zurückwirkende« (»inkursive«) sowjetische Geschichtsschreibung und Propaganda wirkungsmächtig als »proletarische Revolution« verortet worden, was der sich erst etablierenden Sowjetunion die Möglichkeit gab, ihre Aktivitäten primär, und ab etwa 1928 forciert, auf Industriearbeit zu konzentrieren und so ihre Zukunft unter anderem auf ein primär industriell-technisch verstandenes »Einholen des Westens« auszurichten. Indem, anders gesagt, das Sowjetsystem seine eigene Geschichte »brauchbar« umschrieb, konnte es unter Nutzung zwischenzeitlicher »Produktivitätsgewinne« seine Verrechnungsmöglichkeiten ausdehnen und damit neue, propagandistisch entsprechend herausgestellte Zukunftsbilder entwerfen – ab 1960 dann etwa nicht mehr nur das »Einholen« sondern nun auch das »Überholen des Westens« etc. –, die ihrerseits damit zum einen neuerlich andere Gegenwartsaktivitäten ermöglichten und zum anderen damit auch wieder ein in Details jeweils anders zu stehen kommendes Geschichtsbild nahe legten. 17 Vgl.: »[...] es ist die Wirkung des vollen Sprechens, die Kontingenz des Vergangenen neu zu ordnen, indem es ihr den Sinn einer zukünftigen Notwendigkeit gibt, wie sie konstituiert wird durch das bisschen Freiheit, mit dem das Subjekt sie vergegenwärtigt.« Lacan 1953/1986: 94. 178

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unterschiedlichen und sich noch dazu beständig neuschreibenden Produktivitätsvorstellungen gegenüberstehende Akteure interagieren, also zum Beispiel ihre Produktivität durch Tausch zu steigern versuchen, dadurch in hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit verwandelt, dass sie sich stets in einem »shared symbolic system«, in einer Kultur, in einem Referenzsystem bewegen, das seinerseits nicht nur im Zuge der je eigenen Operationen entstanden ist, sondern schon in der Vergangenheit der Akteure in fortgesetzter Auseinandersetzung mit dem sozialem Gegenüber, oder genauer, in Auseinandersetzung mit der beständigen Irritation, die das ohne diese Kultur »unverständliche« Verhalten des Gegenübers auslöst und damit Versuche provoziert, damit zurande zukommen. Dieses »shared symbolic system« ist auch historisch sozial konstruiert und hebt damit in sich jene Vielzahl an in der Vergangenheit stattgefundenen Kalkulationen zur Berechnung der Produktivität von Interaktionen und deren Manifestationen auf. Auf Basis dieser Vergangenheit sind Akteure bis zu einem gewissen Grad mit Interaktionspartnern, die auf eine ähnliche Vergangenheit, eine ähnliche Kultur, zurückblicken, »vorsynchronisiert«. Ihr Tausch, ihre Interaktion klappt deshalb im »Normalfall« – und zwar in jenem »Normalfall«, der aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit als solcher wahrgenommen wird und deswegen eigentlich gar nicht als Fall, sprich als Problem erkannt werden kann. Der Tausch klappt einfach. Nach Parsons entsteht dieses »shared symbolic system« in der fortgesetzten (iterativ wiederholten) Interaktion, in der sich, dem Tausch analog, die »erwirtschafteten Gewinne« allmählich zu einem umfassenden Sinngefüge anreichern, das dann dem »Gesamtproduktionsprozess« als (temporär) stabiler Möglichkeitsspielraum zur Verfügung steht, innerhalb dessen die Produktivitätskalkulationen »bounded«, nämlich quantitativ und qualitativ eingeschränkt (aber dadurch erst ermöglicht) stattfinden können. Ein anschauliches Beispiel für die Emergenz eines solchen Gefüges liefert die stumme Annäherung zum Tausch, die Hamilton-Grierson (1903/1980) beschreibt, etwa als erstes Hinauswagen von Stammesgesellschaftern in die offene Steppe, um dort in der Hoffnung auf Tausch Waren niederzulegen und zunächst aus sicherer Entfernung zu beobachten, ob die (noch nicht hinreichend deutlich als Tauschpartner wahrnehmbare) andere Seite sich darauf einlässt. Sobald sie dies tut, der Tausch also klappt, stehen Voraussetzungen bereit, an die mit variierten Wiederholungen angeschlossen werden kann, um so allmählich auch institutionalisiertere Tauschbedingungen wie etwa Händler oder erste Märkte und alsbald auch Regeln und Ordnungen, kurz

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Tauschkultur auszubilden und damit eben weitere Tauschhändel zu er18 möglichen und gleichzeitig zu beschränken. Kultur kanalisiert in diesem Sinn Produktivitätskalkulationen in der Sozialdimension und hebt gleichzeitig die oben angesprochene Zeitdimension (zunächst) hinreichend stabil in sich auf. Die auf Dauer gestellte Neuschreibung von Vergangenheit und Zukunft bereitet kein relevantes Problem, weil die Asynchronitäten mittels Kultur so weitgehend »vorsynchronisiert« werden, dass die Veränderungen, die alle Akteure gleichmäßig mitmachen, nicht auffallen. In »kalten«, sprich sich kaum oder nur sehr langsam entwickelnden Gesellschaften scheint dies weitgehend der Fall. In ihrem Rahmen scheinen Produktions- und Tauschrelevante Inputs und Outputs so weitgehend und immer schon festzustehen, dass im Prinzip einige wenige Kategorien reichen – Land-, Arbeitskraft- oder Kapital-Input hie, Güter-, Leistungs- und Geld-Output da –, um diese zu fassen. Unter diesen Bedingungen lässt sich annehmen, mit »vollständiger Information« zu wirtschaften und einiger19 maßen restfrei zu wissen, was »produktiv« ist und was nicht. Wie sehr die zeitliche Dimension und damit delayed productivity freilich auch unter diesen Bedingungen schon im Spiel ist, wird selbst erst retrospektiv deutlich, nämlich dann, wenn dieser Rahmen aufgrund wachsender Dynamiken seine Funktionalität einbüßt, wenn also, gerade weil der Tausch in der ihn ermöglichenden und einschränkenden Kultur operable Bedingungen vorfindet, weitergetauscht und weitergearbeitet werden kann und im Zuge dieses Weitermachens Produktivitätszuwächse dafür sorgen, dass sich die Produktionsbedingungen verändern und damit – man erinnere sich der Marx’schen Diagnose – in »Widerspruch« zu ihren stabilisierten Verkehrsformen treten. Die entsprechende Tauschkultur verliert ihre Funktion als vormoderne »Quasi-Determinante« sozialer Interaktionen und wird damit nach und nach als nur temporär operable Voreinschränkung eines prinzipiell offenen Möglich-

18 Ähnlich illustrativ etwa auch die Überlegungen und Versuche im Anschluss an das »iterative Gefangenen-Dilemma«. Vgl. etwa Axelrod 1984. 19 Und vorübergehend lässt sich, sobald sich dann doch »Reste«, sprich Residualkategorien einstellen, noch nachbessern und etwa von »Total Factor Productivity« etc. sprechen und die nun relevant scheinenden Inputs als »technischen Fortschritt«, als »Wissen« verorten. Aber schon die Heerschar von »New Growth Theories« (u.a. Romer 1990) oder später auch »Creativity Indices« (Florida/Tinagli 2004) etc., die dann ins Gefecht geworfen wird, um Produktivität doch zu erfassen, lässt in ihrer Vielzahl (sprich in den Transaktionskosten, die diese verursacht) die Grenzen des ökonomisch sinnvollen, sprich »produktiven« deutlich erkennen. Vgl. dazu aber auch etwa die Forderungen nach »adaptive efficiency«, u.a. North 1990: 80-82. 180

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keitsraums erkennbar, dem, um in ihm operieren zu können, immer wieder aufs neue Festlegungen abgerungen werden müssen. Erst indem damit nun gesehen werden kann, dass auch in der sozialen Dimension zeitliche Vorgriffe, sprich Antizipationen einer delayed productivity immer schon im Spiel sind, lässt sich erkunden, wie diese Festlegungen im Detail zustande kommen.

Vorgriffe Bei Parsons ist dieser Erkundung der Boden bereitet: ohne auf Kultur, sprich auf einen als Vergangenheit akkumulierten Vorwissensstand zu rekurrieren, könnten Tauschpartner nicht tauschen. Ihr Möglichkeitsspielraum wäre schlichtweg zu groß. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer beliebigen Aktion genau jenen Anschluss zu erzielen, der erst aufgrund einer langen Geschichte von Tauschhändel, aufgrund von Kultur also, überhaupt als solcher erscheint, wäre viel zu gering. Die Tauschpartner könnten sich ohne Kultur nicht hinreichend sicher sein, »produktiv« zu interagieren. Gleichzeitig darf aber Kultur das Gegenteil davon, nämlich absolute Sicherheit auch nicht gewährleisten. Jede Entwicklung, auch und vor allem die selbstinduzierte, würde dadurch verunmöglicht. Nicht einmal von Produktivitätszuwächsen, von Surplus, Mehrwert, Gewinn etc. ließe sich sprechen, wenn Produktions- oder Tauschprozesse stets vollständig determiniert und damit ein für alle mal unveränderbar abliefen. Wenn Kultur effektiv funktioniert, stellt sie in ihren Vorgaben gerade jenes Maß an Wahrscheinlichkeit bereit, das notwendig ist, um den an sich unwahrscheinlichen Tausch, die unwahrscheinliche Interaktion, soweit in den Bereich des Möglichen zu rücken – nicht mehr und nicht weniger –, dass die Akteure die Realisation schaffen.20 Der letzte Schritt zur Realisation muss vom Akteur, vom »anticipatory system« selbst getan werden, und zwar indem es antizipiert. Es muss, um in den Unwägbarkeiten einer sowohl sozial, wie auch zeitlich differenzierten Welt, in der die Produktivitätsvorstellungen der Interaktionspartner weder unvermittelt wahrgenommen noch als hinreichend feststehend angesehen werden können, und in der auch Kultur keine

20 Vgl. dazu auch die Simulationsexperimente zur »selbstorganisierten Kritizität« oder zum Systemverhalten am »Rande des Chaos«, u.a. bei Kauffman 1996 oder Leydesdorff 2006: 165ff. 181

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vollständige Synchronisierung gewährleisten kann, Vorgriffe wagen. Es muss Unterstellungen vornehmen, die ihre Gültigkeit, ihre »Produktivität« erst jeweils in der Interaktion, die durch diese Unterstellung ermöglicht wird, unter Beweis stellen kann und dann (also retrospektiv) unter Umständen den Charakter einer »bloßen Unterstellung« verliert. Es muss, so ließe sich sagen, im Hier und Jetzt mit icht-Wissen operieren, um in Zukunft wissen zu können. (Füllsack 2007) Es muss (und kann nicht nur) aktuell Un-Produktivität akzeptieren, um in Zukunft produktiv zu sein. Exemplifizieren lässt sich dieser Umstand anhand von Diskussionen in der analytischen Philosophie, die, eigentlich vom Problem der Wahrheit ausgehend, die Notwendigkeit thematisieren, unbekannten Interaktionspartnern eine Reihe von Voraussetzungen wie etwa »Sprachbegabung«, »Zurechnungsfähigkeit«, »ein gewisses Maß an Rationalität« 22 etc. zu unterstellen, um überhaupt mit ihnen interagieren zu können. Das (mittlerweile berühmte) Beispiel, das Willard O. Quine und im Anschluss an ihn Donald Davidson vorführen, ist der Laut »Gavagai«, den ein Eingeborener, dessen Sprache nicht verstanden wird und für deren Übersetzung auch kein Wörterbuch oder sonstiges Hilfsmittel zur Verfügung stehen, beim Vorbeihoppeln eines Kaninchens äußert und der, weil dieser Eingeborene von einem ihn beobachtenden Ethnologen (einem »radikalen Interpreten«, wie Davidson ihn in Anbetracht seiner völligen Unkenntnis von Sprache und Kultur des Eingeborenen nennt) für »sprachbegabt«, »zurechnungsfähig«, »rational« etc. gehalten wird, mit einiger Trefferwahrscheinlichkeit als Eingeborenen-Ausdruck für »Kaninchen« interpretiert werden kann. Diese Interpretation ist dabei aber stets nur ein Vorgriff, der erst im Zuge der weiteren Interaktionen, die durch ihn (und erst durch ihn) ermöglicht werden, seine Gültigkeit unter Beweis stellen kann. Natürlich findet auch diese Interpretation im Rahmen der Kultur des Interpreten statt, in der dem Eingeborenen – zumindest von zeitgenössischen Ethnologen, so ist zu hoffen – »Sprachbegabung«, »Zurechnungsfähigkeit« und »Rationalität« etc. gleichsam automatisch, sprich unbewusst unterstellt wird. Dass es sich dabei um Unterstellungen, um Vorgriffe auf eine erst noch im Zuge von gelingenden Interaktionen zu erreichende Zukunft handelt, wird vollends erst angesichts der Diskussionen deutlich, die die Quine’schen und Davidson’schen Überlegungen nach sich zogen, als die Selbstverständlichkeit, mit der diese Unterstel21 Vgl. dazu u.a. auch das Konzept der »Erwartungserwartung« bei Luhmann (1984: 411f), die den Vorgriff nicht nur in die eigene Zukunft, sondern auch in die des sozialen Gegenübers bezeichnet. 22 Vgl. zum folgenden ausführlich: Füllsack 2007. 182

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lung als solche nicht wahrgenommen wurde, abhanden kam. Eingewandt wurde nämlich, dass mittlerweile auch Computerprogramme (»Eliza«, Turing-Test etc.) zu Gavagai-Äußerungen und einer daran anschließenden Interaktion in der Lage seien, im Zuge deren sich der Eindruck einer »verständigungsorientierten« Kommunikation einstellen könne, und dass deshalb eben keineswegs mehr in jedem Fall gleichsam automatisch davon auszugehen sei, mit menschlichen Kommunikationspartnern zu interagieren. Mit anderen Worten, die Kultur, in deren Rahmen Sprachfähigkeit zweifellos, und deshalb auch nicht bezweifelnswert, menschlichen Interaktionspartnern und nur diesen zugeschrieben wurde, ist nicht zuletzt infolge der Entwicklung der Computertechno23 logie brüchig geworden und hat damit zum einen deutlich werden lassen, dass Unterstellungen, sprich zeitliche Vorgriffe auf delayed productivity schon immer grundsätzliche Voraussetzungen für »produktives« Agieren und Interagieren darstellen, auch wenn diese in der kulturellen Vorsynchronisation unter geringer differenzierten und damit weniger dynamischen Bedingungen als solche nicht wahrgenommen werden konnten. Und zum anderen ist damit deutlich geworden, dass delayed productivity keine Sonderform der Produktivität darstellt, sondern den einzig vorstellbaren Modus, in dem unter hochdifferenzierten und damit hochdynamisierten Bedingungen, in denen Wissens- beziehungsweise Kulturstände zu »Kurzfristveranstaltungen« werden, »produktiv« gewirtschaftet und gearbeitet werden kann. Die vorliegenden Erkundungen legen es daher nahe, auch jene Sonderformen der Arbeitsorganisation, die, ausgestattet mit einem üppigem (und seinerseits natürlich im beschriebenen Sinn historisch wachsenden und damit rekursiv und inkursiv seine je aktuellen Bedingungen neuschreibenden) normativem Korsett, unter dem Titel Sozialpolitik ausgehandelt werden, explizit auf delayed productivity auszurichten. Welche Möglichkeiten dafür bereitstehen und wie sie im einzelnen unter den hochdifferenzierten und dynamischen Bedingungen der Moderne zu 24 stehen kommen, wird noch zu erkunden sein. Zu betonen wäre im Hinblick auf die vorstehenden Überlegungen dazu, dass ein für trivial, weil weitgehend feststehend gehaltener Begriff »produktiver Arbeit«, wie er nach wie vor volkswirtschaftlichen Output-Messungen zugrunde liegt und vor allem aber zur Ausrichtung sozialpolitischer Maßnahmen herangezogen wird, wissenschaftlicher Grundlagen entbehrt. Zeitgemäße Wirtschafts- ebenso wie Sozialpolitik hat ihren Produktivitätsbegriff erst noch zu finden.

23 und überdies auch im Zuge der Debatten zur Sprachfähigkeit von Tieren. 24 Vgl. diesbezüglich aber: Füllsack 2002, 2006a, c. 183

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DELAYED PRODUCTIVITY

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MANFRED FÜLLSACK

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AU T O R I N N E N

UND

AU T O R E N

Dirk Baecker, Professor für Soziologie am Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen; Forschungsgebiete: Systemtheorie, Organisations- und Wirtschaftssoziologie: Publikationen u.a.: Form und Formen der Kommunikation (Frankfurt a.M. 2005), Wirtschaftssoziologie (Bielefeld 2006), Studien zur nächsten Gesellschaft (Frankfurt a.M. 2007). Fritz Betz, Hochschullehrer am FH-Studiengang Informationsberufe/ Angewandtes Wissensmanagement in Eisenstadt; Forschungsgebiete: Subjektivität im Postfordismus, Historische Anthropologie der Medien, Semiologie und Diskursanalyse, Informationsethik; Publikationen u.a.: Kühle Geborgenheit durch Evidenz. Zur Produktion von Wissen und Sicherheit im Forensic TV, in: xing 04/06; eGovernment und eGovernmentality in Österreich, in: proceedings der 1.Österr. FH-Forschungskonferenz 2007. Marina Fischer-Kowalski, Leiterin des Instituts für Soziale Ökologie in Wien und Professorin an der Universität Klagenfurt; Forschungsgebiete: Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen, nachhaltige Entwicklung, soziale Ökologie; Publikationen u.a.: Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonisierung von Natur. Ein Versuch in Sozialer Ökologie (Amsterdam 1997), Socioecological Transitions and Global Change. Trajectories of Social Metabolism and Land Use (Ed. Cheltenham 2007). Manfred Füllsack, Universitätsdozent für Sozialphilosophie an der Universität Wien; Forschungsgebiete: epistemologische, historische und soziale Bedingungen von Arbeit und Wissen; Publikationen u.a.: Zuviel Wissen? Zur Wertschätzung von Arbeit und Wissen in der Moderne (Berlin 2006), Auf- und Abklärung. Grundlegung einer Ökonomie gesellschaftlicher Problemlösungskapazitäten (Aachen 2003), Leben ohne zu arbeiten? Zur Sozialtheorie des Grundeinkommens, (Berlin 2002). Paul Kellermann, Professor emeritus für Soziologie an der Universität für Bildungswissenschaften in Klagenfurt; Forschungsgebiete: Hochschulforschung, Arbeitsvermögen, Arbeitsmittel, Arbeitsorganisation und Allgemeine Soziologie; Publikationen u.a.: Geld und Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven (Wiesbaden 2006), Arbeit, Humankapital und Wirtschaftspolitik (Berlin 2006). 187

AUTORINNEN UND AUTOREN

Stefan Lessenich, Professor für Soziologie an der Universität Göttingen; Forschungsgebiete: Theorie des Wohlfahrtsstaats, institutioneller Wandel und gesellschaftliche Transformation; vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung; Publikationen u.a.: Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive (Frankfurt/ New York 1998), Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell (Frankfurt/New York 2003), Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus (Bielefeld 2008). Wolfgang Pircher, Assistenzprofessor am Institut für Philosophie der Universität Wien; Forschungsgebiete: Wirtschafts- und Technikphilosophie; Publikationen u.a.: Lager und Belagerung. Zur Geschichte des Ausnahmezustandes; in: Schwarte, Ludger (Hg.): Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie, Bielefeld: transcript 2007, S. 110-132; Im Schatten der Kybernetik. Rückkopplung im operativen Einsatz: »operational research«, in: Hörl, Erich/Hagner, Michael (Hg.): Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a.M. 2008, S. 348-376. Birger P. Priddat, Professor für Politische Ökonomie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Forschungsgebiete: Institutionenökonomie, Staatstheorie, Modernisierungsfragen, Wirtschaftsethik, Theoriegeschichte der Ökonomie, Kommunikation und Ökonomie; Publikationen u.a.: Arbeit an der Arbeit: Verschiedene Zukünfte der Arbeit (Marburg 2000), Theoriegeschichte der Wirtschaft (München 2002), Moral als Indikator und Kontext von Ökonomie. Ethik und Ökonomie (Marburg 2007). Anke Schaffartzik, Studentin der Sozial- und Humanökologie am Institut für Soziale Ökologie in Wien, Mitarbeiterin im Forschungsbereich »gesellschaftlicher Metabolismus«. Georg Vobruba, Professor für Soziologe an der Universität Leipzig; Forschungsgebiete: Soziologie der Sozialpolitik, Soziologische Europaforschung, Politische Soziologie, Theorie der Gesellschaft; Publikationen u.a.: Politik mit dem Wohlfahrtsstaat (Frankfurt 1983), Arbeiten und Essen. Politik an den Grenzen des Arbeitsmarkts (Wien 1989), Entkoppelung von Arbeit und Einkommen. Das Grundeinkommen in der Arbeitsgesellschaft (Wiesbaden 2006).

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Sozialtheorie Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse Juni 2008, ca. 140 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-818-6

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-703-5

Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-829-2

Janine Böckelmann, Frank Meier, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Subjekts in der politischen Philosophie der Gegenwart April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-787-5

Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1

Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven März 2008, 180 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-874-2

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften März 2008, 458 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht März 2008, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-830-8

René John Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997 März 2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-886-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Jens Warburg Das Militär und seine Subjekte Zur Soziologie des Krieges Februar 2008, 378 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-852-0

Ekaterina Svetlova Sinnstiftung in der Ökonomik Wirtschaftliches Handeln aus sozialphilosophischer Sicht Februar 2008, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-869-8

Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven 2007, 164 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne 2007, 354 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0

Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich 2007, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0

Daniel Suber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 2007, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-727-1

Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 2007, 294 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

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Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman

2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de