Das präventive Selbst: Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik [1. Aufl.] 9783839414545

Praktiken der Prävention sind eine grundlegende Sozial- und Kulturtechnik der Moderne. Sie haben nicht nur die instituti

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German Pages 390 Year 2014

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INHALT
Vorwort
Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik
TEIL I: GRUNDLAGEN: GESUNDHEITSVORSORGE IN DER MODERNE: EPISTEMISCHE, MATERIELLE UND INSTITUTIONELLE PERSPEKTIVEN
Lebensmittel und neuzeitliche Technologien des Selbst: Die Inkorporation von Nahrung als Gesundheitsprävention
Lebensversicherung, medizinische Tests und das Management der Mortalität
TEIL II: EPIDEMIOLOGISCHE TRANSITION UND DER AUFSTIEG DER PRÄVENTION NACH 1900
„Die Jagd auf Mikrobien hat erheblich an Reiz verloren“ – Der sinkende Stern der Bakteriologie in Medizin und Gesundheitspolitik der Weimarer Republik
Health like liberty is indivisible – zur Rolle der Prävention im Konzept der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931)
Die Pflicht zur Gesundheit: Chronische Krankheiten des Herzkreislaufsystems zwischen Wissenschaft, Populärwissenschaft und Öffentlichkeit, 1918-1945
Moderne Diätetik als präventive Selbsttechnologie: Zum Verhältnis heteronomer und autonomer Selbstdisziplinierung zwischen Lebensreformbewegung und heutigem Gesundheitsboom
TEIL III: SICHERHEIT IM KALTEN KRIEG: PRÄVENTIONSMODELLE UND -PRAKTIKEN IN DER FRÜHEN NACHKRIEGSZEIT
Medizin, Public Health und die Medien in Großbritannien von 1950 bis 1980
Sicherheits- und Präventionskonzepte im Umbruch: von der Gruppenvorsorge zur individualisierten medizinischen Risikoprävention für Schwangere
Risikofaktoren: Der scheinbar unaufhaltsame Erfolg eines Ansatzes aus der amerikanischen Epidemiologie in der deutschen Nachkriegsmedizin
Eine neue Sorge um sich? Ausdauersport im „Zeitalter der Kalorienangst“
TEIL IV: PRÄVENTION IM ZEITALTER VON BIOMEDIZIN UND GENETIK
Über die Spannungen zwischen individueller und kollektiver Intervention: Herzkreislaufprävention zwischen Gouvernementalität und Hygienisierung
Konzeptualisierung(en) des Metabolischen Syndroms: Versuch einer diskurshistorischen Analyse über ein zeitgenössisches Syndromkonzept
Die Vermengung von Risiko- und Krankheitserfahrung
Autorinnen und Autoren
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Das präventive Selbst: Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik [1. Aufl.]
 9783839414545

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Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst

Band 9

Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).

Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.)

Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik

Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Förderprogramm »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Tobias A. Suter, Basel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1454-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Vorwort Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik MARTIN LENGWILER, JEANNETTE MADARÁSZ

9

11

TEIL I: GRUNDLAGEN: GESUNDHEITSVORSORGE IN DER MODERNE: EPISTEMISCHE, MATERIELLE UND INSTITUTIONELLE PERSPEKTIVEN Lebensmittel und neuzeitliche Technologien des Selbst: Die Inkorporation von Nahrung als Gesundheitsprävention JAKOB TANNER

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Lebensversicherung, medizinische Tests und das Management der Mortalität THEODORE M. PORTER

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TEIL II: EPIDEMIOLOGISCHE TRANSITION UND DER AUFSTIEG DER PRÄVENTION NACH 1900

„Die Jagd auf Mikrobien hat erheblich an Reiz verloren“ – Der sinkende Stern der Bakteriologie in Medizin und Gesundheitspolitik der Weimarer Republik SILVIA BERGER Health like liberty is indivisible – zur Rolle der Prävention im Konzept der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869-1931) URSULA FERDINAND

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Die Pflicht zur Gesundheit: Chronische Krankheiten des Herzkreislaufsystems zwischen Wissenschaft, Populärwissenschaft und Öffentlichkeit, 1918-1945 JEANNETTE MADARÁSZ Moderne Diätetik als präventive Selbsttechnologie: Zum Verhältnis heteronomer und autonomer Selbstdisziplinierung zwischen Lebensreformbewegung und heutigem Gesundheitsboom EBERHARD WOLFF

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TEIL III: SICHERHEIT IM KALTEN KRIEG: PRÄVENTIONSMODELLE UND -PRAKTIKEN IN DER FRÜHEN NACHKRIEGSZEIT Medizin, Public Health und die Medien in Großbritannien von 1950 bis 1980 VIRGINIA BERRIDGE Sicherheits- und Präventionskonzepte im Umbruch: von der Gruppenvorsorge zur individualisierten medizinischen Risikoprävention für Schwangere ULRIKE LINDNER Risikofaktoren: Der scheinbar unaufhaltsame Erfolg eines Ansatzes aus der amerikanischen Epidemiologie in der deutschen Nachkriegsmedizin CARSTEN TIMMERMANN Eine neue Sorge um sich? Ausdauersport im „Zeitalter der Kalorienangst“ TOBIAS DIETRICH

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TEIL IV: PRÄVENTION IM ZEITALTER VON BIOMEDIZIN UND GENETIK Über die Spannungen zwischen individueller und kollektiver Intervention: Herzkreislaufprävention zwischen Gouvernementalität und Hygienisierung JÖRG NIEWÖHNER

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Konzeptualisierung(en) des Metabolischen Syndroms: Versuch einer diskurshistorischen Analyse über ein zeitgenössisches Syndromkonzept MARTIN DÖRING

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Die Vermengung von Risiko- und Krankheitserfahrung ROBERT A. ARONOWITZ

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Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Dieses Buch entstand im Rahmen des Forschungsverbundes Präventives Selbst – Interdisziplinäre Untersuchung einer emergenten Lebensform, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Initiative Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog gefördert wurde. Der Verbund brachte zwischen 2007 und 2010 eine interdisziplinäre Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ein gemeinsames Forschungsanliegen zusammen. Die hier versammelten Beiträge sind primär historisch ausgerichtet – sie verfolgen die Entwicklung moderner Praktiken der Gesundheitsprävention. Sie profitieren aber auch von sozialwissenschaftlichen und sozialmedizinischen Zugängen. Die Autorinnen und Autoren haben erste Fassungen ihrer Beiträge 2007 und 2008 an zwei internationalen Tagungen am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) präsentiert und diskutiert. Die meisten Artikel sind Originalbeiträge, die eigens für diesen Sammelband verfasst wurden. Einzig die Artikel von Robert Aronowitz, Virginia Berridge und Theodore Porter wurden in englischer Sprache bereits an anderem Ort publiziert und erscheinen hier erstmals in deutscher Übersetzung. Wir sind einer Vielzahl von Personen für ihre Hilfe und Unterstützung auf dem Weg zu diesem Buch zu großem Dank verpflichtet. Dies betrifft zunächst all jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an der Tagung mitwirkten, indem sie Kommentare verfasst oder Moderationen übernommen haben: Brigitta Bernet, Martin Dinges, Thomas Mergel, Jessica Reinisch, Jan Behrends, Christoph Heintze, Marion Hulverscheidt, Christine Holmberg und Malte Zierenberg. Winfried Süß und Patrick Kury danken wir für wertvolle Tagungsreferate, die an anderen Orten publiziert wurden. Dieter Gosewinkel (WZB) und Volker 9

DAS PRÄVENTIVE SELBST

Hess (Charité, Berlin) haben mit ihrer großzügigen fachlichen, organisatorischen und finanziellen Unterstützung die Tagungen überhaupt erst ermöglicht. Im Vorfeld der Veranstaltungen stand uns jeweils Rolf Rosenbrock (WZB) mit wertvollen inhaltlichen Ratschlägen bei. Unerlässliche organisatorische Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagungen leisteten Ina Bömelburg, Christian Sammer und Philipp Reick (alle am WZB). Christian Sammer und Philipp Reick waren zudem für die Übersetzung der englischen Beiträge verantwortlich. Für die Aufbereitung der Manuskripte zur Drucklegung konnten wir uns auf den Scharfblick und die Übersicht von Tobias Suter (Universität Basel) verlassen. Ihnen allen sei für ihre tatkräftige Unterstützung herzlich gedankt. Birgit Klöpfer betreute das Projekt auf Seiten des transcript Verlags; auch sie verdient einen großen Dank für ihre effiziente und professionelle Begleitung unseres Vorhabens. Schließlich danken wir dem BMBF für die finanzielle Unterstützung unseres Forschungsvorhabens und dem WZB, insbesondere der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa, für den fachlichen Beistand und die kritische Begleitung unserer Arbeiten.

Martin Lengwiler und Jeannette Madarász, Basel und Berlin im Mai 2010

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Prä vent ion sg es chicht e a ls K ult urges chi cht e der G e sundheit spolit ik MARTIN LENGWILER, JEANNETTE MADARÁSZ

1983, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, äußerte sich die britische Sozialanthropologin Mary Douglas in ironischer Zuspitzung zur Risikowahrnehmung der amerikanischen Bevölkerung: „What are Americans afraid of? – Nothing much really, except the food they eat, the water they drink, the air they breathe [...].“ (Douglas 1983: 10) In einer Zeit, die vom Wettrüsten, einer schlechten Wirtschaftslage und horrenden Staatsdefiziten geprägt war, drehten sich die Alltagssorgen Amerikas nicht um die großen politischen und wirtschaftlichen Krisen der Zeit, sondern um banale Ernährungs- und Trinkgewohnheiten. Zweierlei ist bemerkenswert am Kommentar von Douglas. Er verweist einerseits auf die Alltäglichkeit moderner Risikovorstellungen und der damit verbundenen Präventionspraktiken. In der Tat haben gesundheitspolitische Popularisierungen und pathologisierende Formen der Zivilisationskritik in vielen westlichen Ländern dazu geführt, dass im 19. und 20. Jahrhundert überlieferte Formen des Essens und Trinkens problematisiert, aufgebrochen und zum Gegenstand eines gesundheitsorientierten Präventionsdiskurses gemacht wurden. Andererseits illustriert das Zitat von Douglas, dass die Transformation präventiver Verhaltensweisen in historischer Perspektive ein vielschichtiges Phänomen ist. Nicht ohne Grund ist die Geschichte der modernen Gesundheitsprävention noch weitgehend ungeschrieben. Denn ihr haftet etwas Unwirkliches, Unauffälliges an. Unwirklich, weil Prävention einen Schaden antizipiert, der meist gar nicht eintritt, weil er vorsorglich verhindert werden soll. Und unauffällig, weil Prävention meist die Ebene unspektakulären Alltagsverhaltens (Essen und Trinken, 11

MARTIN LENGWILER/JEANETTE MADARÁSZ

Rauchen, Bewegung etc.) betrifft und dabei oft in wenig sichtbaren Infrastrukturbereichen ansetzt, etwa bei der Nahrungsmittelhygiene, der Fabrikinspektion oder allgemein der Hygienisierung des öffentlichen Raumes. Zwar hat das Thema Gesundheitsprävention in den letzten Jahren politisch und gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen. Trotzdem ist es keineswegs selbstverständlich, Prävention zu einem Gegenstand der historischen Forschung zu machen. Dieses Forschungsdesiderat bildete den Ausgangspunkt des vorliegenden Sammelbandes. Die folgenden Beiträge verstehen sich als exploratives Unternehmen, das einige zentrale Schauplätze und Schlüsselmomente einer Präventionsgeschichte der Moderne in den Blick nimmt. Die Entwicklung der Gesundheitsprävention wird dazu aus historischer und sozialanthropologischer Perspektive verfolgt. Geographisch ist der Band europäisch-vergleichend angelegt, ergänzt durch einen transatlantischen Seitenblick. Dabei stehen Länder wie Deutschland (vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis zur DDR und der Bundesrepublik), Großbritannien, die Schweiz oder die USA im Vordergrund. Untersucht werden nicht nur die zwischenstaatlichen Unterschiede, sondern auch internationale Transfers in der Gesundheitspolitik. Die nationalen Entwicklungspfade des Präventionsdiskurses werden also nicht nur mit Blick auf die Divergenzen, sondern auch auf die Konvergenzen analysiert. Exemplarisch für die Divergenzen stehen beispielsweise die nationalen Leitkrankheiten, nach denen sich die jeweils dominierenden Präventionsstrategien orientierten. Während etwa in den USA der Präventionsdiskurs seit den 1940er Jahren stark auf die Herzkreislaufkrankheiten und die damit verbundenen Ernährungs- und Lebensstilrisiken konzentriert war, standen in Großbritannien die Krebsprävention, insbesondere die Tabakrisiken, später auch der Alkohol im Vordergrund. Deutschland liegt gleichsam in der Mitte. In der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus dominierte das Krebsrisiko, in der Nachkriegszeit gewannen die Risiken der Herzkreislaufkrankheiten an Aufmerksamkeit. Die Präventionsgeschichte spiegelt daneben die zwischenstaatlichen Transfers, die etwa zum internationalen Aufstieg des Risikofaktorenmodells seit den 1950er Jahren und damit zu einer Angleichung nationalstaatlicher Präventionsdiskurse führten. Solche Trends wurden noch unterstützt durch die Arbeit internationaler Organisationen – von den internationalen Kongressen des 19. Jahrhunderts bis zu den supranationalen Organisationen des 20. Jahrhunderts, etwa dem Internationalen Arbeitsamt, der Weltgesundheitsorganisation oder den Organisationen der Europäischen Gemeinschaft, beziehungsweise der Europäischen Union. 12

PRÄVENTIONSGESCHICHTE ALS KULTURGESCHICHTE

Sie alle bewirkten eine zunehmende Europäisierung und Internationalisierung der Präventionsdiskurse, insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Weindling 1995).

Prävention als Kulturtechnik der Moderne: t h e o r e t i s c h e Z u g ä n g e , z e n t r a l e Ak t e u r e u n d ungelöste Paradoxien Dass Prävention eine grundlegende Sozial- und Kulturtechnik der Moderne darstellt und die Präventionsgeschichte einen exemplarischen Blick auf die Entwicklung der modernen Gesundheitspolitik eröffnet, ist keine neue Erkenntnis. Schon Auguste Comte hat bekanntlich in seiner 1844 erschienenen Rede über den Geist des Positivismus den positivistisch-forschenden Geist mit der Fähigkeit gleichgesetzt, „zu sehen um vorauszusehen“ – ein Postulat, das später zum positivistischen Leitspruch des Savoir pour prévoir, afin de pouvoir kanonisiert wurde (Comte 1994: 20; Lévy-Bruhl 1931: 14; vgl. auch: Bröckling 2008: 42). Prävention wird hier zum Leitmotiv der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und der davon ausgehenden sozialpolitischen Interventionen. Einen Schritt weiter ging Adolph Wagner, Staatswissenschaftler und prominenter Vertreter der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie, der im ausgehenden 19. Jahrhundert auf den konstitutiven Zusammenhang zwischen Prävention und Moderne hingewiesen hat (zu Wagner: Grimmer-Solem 2003: 172-175). In seinem 1893 erschienenen „Lehr- und Handbuch der politischen Ökonomie“ postulierte Wagner das sogenannte „Gesetz des Vorwaltens des Präventivprincips im entwickelten Rechts- und Culturstaate“ (Wagner 1893: 908-915). Moderne Staaten würden ihr Handeln, so das Argument, zunehmend dem Vorsorgegedanken unterordnen und sich dabei vom „Repressivprinzip“ abwenden. Wagner sprach von einer „Veränderung der Art und Weise, in der der Staat seine Tätigkeiten ausführt“ und zwar in dem Sinne, dass „der Staat zu umfassenden, präventiv Rechtsstörungen verhütenden Maßregeln“ greife (Wagner 1893: 908-912). Den Grund dafür erkannte Wagner im steigenden Komplexitätsgrad moderner Gesellschaften. Es sei effizienter und ökonomischer, gesellschaftliche oder zwischenstaatliche Spannungen und Konflikte durch präventive Verhaltensregeln zu vermeiden als die Konfliktparteien ex post durch Bestrafungen zu sanktionieren. Das „Präventivprinzip“ sah Wagner in sämtlichen Bereichen des staatlichen Handelns im Vormarsch, in der Außen- wie in der Innenpolitik, in der Sozial- wie in der Gesundheitspolitik. 13

MARTIN LENGWILER/JEANETTE MADARÁSZ

Auch in neueren sozialwissenschaftlichen und historischen Theoriedebatten wurde wiederholt auf die Wahlverwandtschaft zwischen moderner Staatlichkeit und rationalem Präventionsdiskurs hingewiesen. Schon Reinhart Koselleck hat Prävention als eine auf rationalem Kalkül beruhende Zukunftsbeherrschung und damit als Kernelement eines modernen Rationalisierungsprozesses verstanden – ein Ansatz, der seither vor allem von Lucian Hölscher weiterentwickelt wurde. Danach setzt sich der rationale Zukunftsbegriff im Verlauf des 19. Jahrhunderts gegenüber konkurrierenden Zukunftsmodellen, etwa apokalyptischer, eschatologischer oder astrologischer Provenienz, schrittweise durch. Die Annahme einer rationalisierbaren und damit prognostizierbaren Zukunft öffnete im Verlaufe des 19. Jahrhunderts jenen neuen Wahrnehmungshorizont und jene Handlungsoptionen, auf denen die modernen Präventionspostulate gründeten (Koselleck 1989: 19-34; Hölscher 1999: 3446). Auf die herrschaftstheoretischen Dimensionen dieses Rationalisierungsprozesses haben Soziologen wie Nikolas Rose oder Ulrich Bröckling hingewiesen. In Rückgriff auf Michel Foucault werden präventive Praktiken hier als charakteristisches Merkmal einer Biopolitik der Moderne interpretiert, als eine wissenschaftlich-technologisch fundierte, mit wirkungsmächtigen Rationalitätsansprüchen auftretende Form der Sozial- und Bevölkerungspolitik (Rose 2001; Bröckling 2009: 43-47). Dass Risikodiskurse in modernen Gesellschaften auch eine sozialkonstitutive Funktion haben können, hat die eingangs erwähnte Mary Douglas verschiedentlich unterstrichen. Sie sieht risk und blame in einem wechselseitig produktiven Verhältnis, mit der Konsequenz, dass soziale Gruppen bestimmte Verhaltensweisen deshalb als riskant ausgrenzen, weil sie damit den normativen Zusammenhalt ihrer Gesellschaft durch präventive Auflagen zu festigen vermögen. Douglas spricht in diesem Zusammenhang auch von der forensischen Funktion der Risikoprävention, weil hier bestimmte Verhaltensweisen quasi kriminalisiert werden. Jedenfalls besitzen Präventionspraktiken in diesem Model sowohl sozialintegrative wie -exklusive Wirkungen (Douglas 1996: 3-21). In vergleichbarer Weise haben auch soziologische Zeitdiagnosen wie jene der Risikogesellschaft oder der Zweiten Moderne (Ulrich Beck) die zentrale Bedeutung von Risiko- und Präventionsdiskursen für das krisenhafte Selbstverständnis westlicher Gesellschaften im ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhundert betont (Beck 2007; vgl. auch Ewald 1993). Präventionspraktiken lassen sich vor diesem Hintergrund als exemplarischer Gegenstand einer Kulturgeschichte des modernen Gesundheitswesens untersuchen. Dies bezieht sich zunächst auf die Ebene der 14

PRÄVENTIONSGESCHICHTE ALS KULTURGESCHICHTE

Akteure. Es sind vier Akteursgruppen, von denen die Dynamik der modernen Präventionsgeschichte ausgeht – sie stehen auch in diesem Sammelband im Mittelpunkt. Zunächst bildet die Gesundheitsprävention ein Anliegen des Staates, beziehungsweise moderner bürokratisch-rationaler Verwaltungsapparate. In der Tradition merkantilistischer und kameralistischer Bevölkerungspolitik entdeckten verschiedene europäische Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts den Vorsorgegedanken als Herrschaftstechnik, um ihre Bevölkerung – als ökonomische und militärische Ressource – möglichst effizient und nachhaltig zu mobilisieren. Der Staat engagierte sich in der präventiven Zukunftsvorsorge nicht zuletzt, um konkurrierende Vorsorgeeinrichtungen, etwa von kirchlichen oder berufsständischen Akteuren, zu verdrängen (Stolleis 2003: 14f.). Dabei war die Legitimität staatlicher Gesundheitsprävention oft besonders hoch. Dies wohl nicht zuletzt, weil der Staat prädestiniert war, den Schutz individuellen Lebens unmittelbar mit dem kollektiven Wohl zu verbinden. Eine solche etatistische Deutung präventiver Techniken findet sich beispielsweise bei Adolph Wagner, der die Verantwortung für präventives Handeln wie erwähnt beim Staat verortete. Prävention wird dadurch zu einem zentralen Motor einer langfristigen Bürokratisierung; nicht zufällig steht das „Präventionsgesetz“ in Wagners Lehrbuch unmittelbar vor dem weit bekannteren „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeiten“ (Wagner 1893: 892-912). Der Präventionsdiskurs geht zweitens von privatwirtschaftlichen Akteuren aus, die in der Forschung oft übersehen werden. Zu diesen gehören etwa die Versicherungs-, die Pharma- oder die Tabakindustrie, aber auch Gesundheitseinrichtungen wie private Spitäler oder private Krankenkassen. Parallel zum Ausbau der Sozialstaaten lässt sich im 20. Jahrhundert auch ein wachsender Einfluss privater Einrichtungen für die Propagierung präventiver Verhaltensnormen und in Verbindung damit eine Ökonomisierung der Präventionsdiskurse beobachten. Parallel zum Aufstieg des einflussreichen Risikofaktorenmodells wurde der Bereich der Gesundheitsprävention seit der frühen Nachkriegszeit zunehmend kommerzialisiert. Der Vorsorgegedanke wurde damit nicht nur nach marktlogischen und ökonomischen Kriterien umformuliert; zur privatwirtschaftlichen Präventionslogik gehörte auch eine Individualisierung und Subjektivierung der gesundheitsorientierten Verhaltensauflagen (Bröckling 2008: 46f.). Als dritter Akteur sind zivilgesellschaftliche Vereinigungen zu nennen, etwa die Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts oder alternativmedizinische Kreise des 20. Jahrhunderts. In Abgrenzung von einer staatlichen Präventionspolitik lässt sich hier eine stärker lebensweltlich 15

MARTIN LENGWILER/JEANETTE MADARÁSZ

verankerten Präventionskultur verfolgen. Präventive Praktiken begründen hier soziale Kohäsions- und Exklusionseffekte, die für das Selbstverständnis zivilgesellschaftlicher Gruppierungen oft prägend waren. Schließlich liegt präventives Verhalten viertens auch in der Verantwortlichkeit individueller Akteure. Auf diese subjektive Ebene der Präventionsgeschichte hat beispielsweise der britische Soziologe Nikolas Rose hingewiesen, eingebettet in ein historisches Argument. Danach setzte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein Transformationsprozess von staatlichen und zivilgesellschaftlichen zu liberalindividualistischen Präventionspraktiken ein (Rose 2001: 1-5; vgl. auch: Labisch 1992: 321-325). Diese Subjektivierung der präventiven Verantwortung muss sich nicht in einer Weiterführung staatlicher Vorsorgestrategien erschöpfen; das präventive Selbst, jenes rationale, krankheitsminimierend agierende Subjekt, das in den neueren gesundheitspolitischen Debatten vermehrt beschworen wird, kann sich – ähnlich wie beim Habitus-Modell Pierre Bourdieus – auch dissonant oder in Opposition zu staatlichen Präventionsmodellen entwickeln. Die hier versammelten Beiträge verstehen sich als Bestandsaufnahme einer noch weitgehend ungeschriebenen Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Sie zielen insbesondere darauf, die grundlegenden Paradoxien präventiver Verhaltensdispositionen in kulturalistischer Perspektive zu erhellen. Zunächst geht es um den Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Präventionsanspruch und alltäglichen Präventionspraktiken. Die Präventionsgeschichte ist voll von Beispielen, in denen die präventiven Erwartungen der Experten hoch, die effektiven Resultate dagegen bescheiden waren. Dahinter verbirgt sich eine soziokulturelle Dissonanz der Präventionsvorstellungen. Wissenschaftliche Präventionsmodelle (etwa in der Epidemiologie oder der Sozial- und Präventivmedizin) beziehen sich auf Kollektive, auf die Gesundheit ganzer Populationen. Auf der Ebene von Einzelpersonen dagegen drücken sich präventive Normen meist nur in diffusen Wahrscheinlichkeitsaussagen aus. Die probabilistischen Ansätze der medizinischen Risikoforschung standen deshalb meist in einem konfliktreichen Spannungsverhältnis zu den handlungsleitenden Maximen einzelner Individuen. Anders als der wissenschaftliche Präventionsdiskurs begründeten Individuen ihr vorsorgliches Handeln in der Regel partikularistisch, vor dem Hintergrund ihres subjektiven Erfahrungsraums. Ein weiteres Paradox, das es im folgenden zu klären gilt, besteht in der nicht-intendierten Vermehrung von Unsicherheit durch den modernen Präventionsdiskurs. Zwar zielten Präventionsbestrebungen auf eine Reduktion der mit Risiken verbundenen Kontingenzen, der Effekt war aber häufig gegenteilig, zumindest in alltagspraktischer Perspektive. 16

PRÄVENTIONSGESCHICHTE ALS KULTURGESCHICHTE

Durch präventive Sensibilisierungen wurden scheinbar ungefährliche Verhaltensweisen wie Essen, Trinken oder Rauchen unvermittelt zu Gesundheitsrisiken umdefiniert. Mit der Konjunktur der medizinischen Risikoforschung kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Proliferation der medizinischen Risiken und einer Extensivierung entsprechender Präventionsstrategien. Die subjektiven Folgen dieser Entwicklung waren ambivalent. Auf der einen Seite lässt sich eine verstärkte Sensibilisierung beobachten, beispielsweise in den Debatten um die „Kalorienangst“ und um die „Managerkrankheiten“ der frühen Nachkriegszeit (Kury 2010). Seit den 1980er-Jahren zeigen sich aber auch Gegentendenzen und offene Symptome von Präventionskritik und präventivem Überdruss. Die widersprüchlichen Reaktionen zeigen, dass die Zunahme an Präventionsauflagen auf subjektiver Ebene das Potenzial an Verunsicherungen nicht reduziert, sondern eher noch vermehrt hat. Ein besonderes Augenmerk gilt in den folgenden Beiträgen auch der materiell-körperlichen Dimension der Präventionsgeschichte (vgl. auch: Lengwiler/Beck 2008). Präventionsmaßnahmen zielen in verschiedener Hinsicht auf eine Transformation des Natürlichen: durch Veränderung der äußeren Natur (Umweltfaktoren, Lebensbedingungen) wie auch der inneren Natur (körperliche Zustände, Lebensstile, etc.). Für die Analyse dieser materiellen Dimension nutzen die Beiträge verschiedene innovative theoretische Zugänge, insbesondere die Ansätze der historischen Anthropologie, der Wissenschaftsgeschichte und der Körpergeschichte (exemplarisch: Sarasin 2001: 11-28; Tanner 2004: 123-131).

Vom Vorsorgestaat zum präventiven Selbst: Ski zze einer Präventionsgeschichte des 20. Jahrhunderts Wie stellen sich die groben Umrisse der Präventionsgeschichte des 20. Jahrhunderts dar? Ausgehend von den hier versammelten Beiträgen sollen im Folgenden einige Entwicklungslinien und Umbrüche des europäischen Präventionsdiskurses skizzenhaft nachgezeichnet werden. Auch wenn der Aufstieg des Vorsorgegedankens oft im 19. und 20. Jahrhundert, als Teil der Rationalisierung und Bürokratisierung der Moderne, angesiedelt wird, reichen die Wurzeln gegenwärtiger präventiver Gesundheitspraktiken durchaus in vor- und frühmoderne Zeiten zurück. So greift etwa der umweltbezogene Präventionsbegriff des modernen Ernährungs- oder des Hygienediskurses auf die frühneuzeitliche Humoralpathologie und ihr komplexes Analogieschema von inneren Säften und äußeren Elementen zurück (z.B. Teleky 1948: 196-201). Insbesondere 17

MARTIN LENGWILER/JEANETTE MADARÁSZ

im Populärdiskurs lassen sich humoralpathologische Deutungsmuster – wenn auch unter veränderten Vorzeichen – noch bis ins 20. Jahrhundert verfolgen, so etwa bei alternativmedizinischen Ernährungslehren (vgl. dazu die Beiträge von Jakob Tanner und Eberhard Wolff). Auch in institutioneller Hinsicht wurden die Weichen der modernen Gesundheitsprävention bereits in der Frühen Neuzeit gestellt. So etablierte sich das Vorsorgemodell des modernen Versicherungswesens in Großbritannien bereits im 17. und 18. Jahrhundert, zur Absicherung bürgerlicher Einkommen und Vermögenswerte vor frühzeitigen Todesfällen oder zum Schutz vor unternehmerischen Geschäftsrisiken wie Unwettern oder Piraterie im Seehandel (Clark 1999). Um 1900 wird das Präventionsdenken von einer doppelten gesellschaftlichen Transformation erfasst, die schließlich die Grundlage der modernen Gesundheitsprävention bildet. Auf der einen Seite steht ein epidemiologischer Umbruch, der meist im Begriff der epidemiologischen Transition gefasst wird. Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen in den staatlichen Krankheitsstatistiken die chronischen Krankheiten stark zu, unter anderem als Folge der gesteigerten Lebenserwartung und der Zurückdrängung epidemischer Krankheiten durch medizinische und sozialhygienische Maßnahmen. Weil chronische Krankheiten wie Krebs, Herzkreislaufkrankheiten oder Diabetes schwer zu behandeln waren und deren Ursachen – vor allem beim Krebs und den Herzkrankheiten – lange im Dunkeln blieben, verlagerte sich mit der Zunahme der chronischen Krankheiten der medizinische Diskurs zunehmend von kurativen therapeutischen Eingriffen zu präventiven Vorkehrungen (differenziert: Weindling 1992; kritisch zur demographischen bzw. epidemiologischen Transition: Ehmer 2004: 118-127). Ohne die Bedeutung dieser materiell-biologischen Dimension für die Präventionsgeschichte ganz in Abrede zu stellen, setzen die hier versammelten Beiträge andere Akzente. Denn die epidemiologischen Faktoren allein können den Aufstieg präventiver Deutungs- und Handlungsmuster im Gesundheitswesen nicht erklären. Mindestens so wichtig waren die epistemischen Voraussetzungen für den Aufstieg der Prävention. So beruhte die Wahrnehmung der epidemiologischen Wende auf dem parallelen Aufstieg der Medizinalstatistik und dem gesellschaftlichen Vertrauen, das solchen Quantifizierungen sozialer Realitäten zukam. Erst die Verwendung detaillierter Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken machte die Veränderungen des kollektiven Gesundheitszustandes der Bevölkerung einseh- und verhandelbar für die interessierten zeitgenössischen Beobachter. Dieser Prozess wurde durch verschiedene Akteure vorangetrieben, darunter staatliche Stellen wie die statistischen Ämter oder die öffentlichen gewerbemedizinischen und hygienischen Einrich18

PRÄVENTIONSGESCHICHTE ALS KULTURGESCHICHTE

tungen, aber auch durch Akteure der Privatwirtschaft, insbesondere in Form der Lebensversicherungen und ihrer medizinischen und versicherungsmathematischen Experten (vgl. dazu den Beitrag von Theodore Porter). Nach dem Ersten Weltkrieg konstituierte sich auf dieser epistemischen Grundlage das Feld der medizinischen Risikoforschung, angesiedelt im disziplinären Umfeld der neuen Epidemiologie und der medizinischen Statistik (vgl. Matthews 1995: 97-130). Hinzu kam, dass der Präventionsgedanke eine wichtige Funktion für die Gesellschafts- und Zivilisationskritik des Fin de siècle und des frühen 20. Jahrhunderts übernahm. Denn als Gegenmodell zur traditionellen kurativen Medizin war das Anliegen der Prävention quasi prädestiniert, zum gesundheitspolitischen Kampfbegriff und zum Spielball sozial- und bevölkerungspolitischer Debatten zu werden. Prävention wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert gleichsam zu einem biopolitischen Leitbegriff des modernen Gesundheitswesens (Foucault 1999). In der Zwischenkriegszeit erlebte der Präventionsdiskurs eine eigentliche Blütezeit. Dafür lassen sich epistemologische wie politische Gründe angeben. In epistemologischer Perspektive konnte der Präventionsgedanke von der Krise der Bakteriologie und ihrer deterministischen Kausalitätsmodelle profitieren. Indem die bakteriologischen Ansätze spätestens im Anschluss an die Spanische Grippe von 1918 zunehmend ihre hegemoniale Stellung in den medizinischen Kausalitätstheorien einbüßten, gewannen umweltbezogene Erklärungen in der Tradition der Hygiene wieder an Beachtung (vgl. dazu: Baldwin 1999: 1-36; Schlich 1999). Wie Silvia Berger in ihrem Beitrag ausführt, wurde dieser Trend noch verstärkt durch eine kritische Selbstreflexion innerhalb der Bakteriologie, die sich seit den 1890er Jahren gegenüber ökologischen, holistischen Krankheitsmodellen schrittweise geöffnet hatte. Dies führte dazu, dass sich nach dem Ersten Weltkrieg die ehemals scharf gezogene Grenze zwischen Hygiene und Bakteriologie weitgehend auflöste; entsprechend gewannen die umweltbezogenen Präventionspostulate der Hygiene auch in breiteren medizinischen Kreisen an Unterstützung. Hinzu kommt, dass sich die Politisierung des Präventionsdiskurses in der Zwischenkriegszeit weiter fortsetzte und Prävention nun endgültig zu einem gesundheitspolitischen Schlüsselbegriff avancierte. So gehörten präventive Ansätze zu den Kernanliegen der progressiven Sozialmedizin nach Ende des Ersten Weltkriegs, die sowohl in der sozialdemokratischen Weimarer Republik wie in der Sowjetunion oder in linken Medizinerkreisen Großbritanniens und den USA hoch im Kurs standen, mit nachhaltigen Folgen bis weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus (vgl. die Beiträge in: Porter 1997; Moser 2002). Dieser Ansatz wird exemplarisch verkörpert in der Figur Alfred Grotjahns (1869-1931), der 19

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mit seinem Konzept der Sozialen Hygiene eines der ersten umfassenden Präventionsmodelle schuf, das sowohl sozialpolitische Forderungen (zu Fragen des Wohnungsbaus, der Arbeitsverhältnisse etc.) wie auch individuelle Verhaltensempfehlungen (sportliche Betätigung, gesunde Ernährung, eugenisch begründete Familienplanung etc.) umfasste. Dabei setzte Grotjahn nicht nur bei den klassischen Infektionskrankheiten an, sondern bezog seine Lehre auch auf die neuen Zivilisationskrankheiten, wie den Krebs oder die Herzkreislauferkrankungen. Auch wenn Grotjahns Soziale Hygiene im Nationalsozialismus und der BRD aus politischen Gründen kaum beachtet wurde, entfaltete der Ansatz indirekt, vor allem in der Sowjetunion, den USA und später der DDR, einen langfristig wirksamen Einfluss (vgl. den Beitrag von Ursula Ferdinand). Solche progressiven Ansätze der Gesundheitspolitik fanden in der Zwischenkriegszeit auch Unterstützung in internationalen Organisationen, insbesondere im Internationalen Arbeitsamt (vgl. allg.: Weindling 1995) Der Begriff der Zivilisationskrankheiten verweist schließlich auf einen kulturhistorischen Faktor, der ebenfalls in der Zwischenkriegszeit zu einer verstärkten Beachtung präventiver Deutungs- und Handlungsmuster beitrug. Mit der Vorstellung von Zivilisations- oder Kulturkrankheiten griff der Präventionsdiskurs auf ältere Formen der dystopischen Gesellschaftskritik zurück und formulierte gleichsam eine medizinisch-pathologische Variante der moralischen Zivilisationskritik des frühen 19. Jahrhunderts. Hinter der Sorge um die neuen Zivilisationskrankheiten verbirgt sich letztlich ein tiefgreifender kulturhistorischer Transformationsprozess, der von Veränderungen der Konsumgewohnheiten im Übergang von Mangel- zu Überflussgesellschaften ausging und damit eine Neukodierung von Ernährungsgewohnheiten einschließlich neuer Pathologien wie der Fettsucht und dem Herzkreislaufrisiko verband. Dieser Diskurs etablierte sich in den 1920er und 30er Jahren und verstärkte sich merklich nach 1945 (Merta 2003). Dabei blieb die Zivilisationskritik nicht bloß ein Experten- oder Elitenphänomen, sondern war alltagskulturell in breiten Schichten verankert. Dies zeigt sich etwa in den höchst erfolgreichen regionalen und nationalen Hygiene- und Gesundheitsausstellungen, etwa der deutschen GeSoLei (Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen) 1926 in Düsseldorf oder der schweizerischen Hyspa (Hygiene, Gesundheit und Sport-Ausstellung) 1931 in Bern (Madarász 2010). Die neuere Forschung hat sich auch mit der Frage beschäftigt, wie offen der Nationalsozialismus gegenüber präventionsorientierten Gesundheitsmodellen eingestellt war. Zwar stößt man in nationalsozialistischen Quellen durchaus auf Sympathiebekundungen gegenüber alternativmedizinischen und sozialhygienischen Postulaten, insbesondere bei 20

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der nationalsozialistischen Krebsbekämpfung und der Tabakprävention, außerdem auch in der nationalsozialistischen Ernährungspolitik (exemplarisch: Proctor 1999). Allerdings blieb der nationalsozialistische Präventionsdiskurs weitgehend ein propagandistisches Luftschloss. Spätestens nach Kriegsbeginn wurden die gesundheitspräventiven und ernährungsreformerischen Postulate, angesichts der zunehmenden Rationierungen und der sich ausbreitenden Mangelwirtschaft, Makulatur. Faktisch kam es unter dem Nationalsozialismus – dies konnten neuere Untersuchungen zeigen – zu einer deutlichen Verschlechterung der Ernährungslage und der Gesundheitssituation der breiten Bevölkerung (vgl. Süß 2003). Nach 1945 zeichnete sich in den gesundheitspolitischen Debatten ein Paradigmenwechsel ab, der auch die präventiven Normensetzungen entscheidend tangierte. Als die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1946 Gesundheit neu nicht mehr als Abwesenheit von Krankheit, sondern aufgrund positiver Qualitäten wie körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens definierte, legte sie den Grundstein für eine schrittweise Auflösung der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit. Das Feld der Gesundheitsvorsorge brauchte sich nach dieser Definition nicht mehr auf die Verhinderung pathologischer Einflüsse zu beschränken, sondern konnte nun auf verschiedenste lebensweltliche Sphären erstreckt werden. In den nachfolgenden Jahrzehnten entwickelte die WHO diesen generalisierten Gesundheitsbegriff und die damit verbundenen Präventionskonzepte weiter, insbesondere mit den Konferenzen von Alma Ata (1978/79) und Ottawa (1986). Der Gesundheitsbegriff von 1946 sollte nun insbesondere in den Ländern der Dritten Welt umgesetzt werden. Die WHO hoffte, dass durch ihre Politik sich die Gesundheitsversorgung der unterentwickelten Staaten allmählich den westlichen Industrienationen annäherte. Ein zentrales Mittel dazu bildete die positive Gesundheitsförderung (im Gegensatz zur traditionellen, krankheitsfixierten Vorsorge). Prävention – neu im Sinne einer Gesundheitssicherung (Salutogenese) und nicht mehr der traditionellen Krankheitsverhinderung – wurde damit Teil eines globalisierten Gerechtigkeitsdenkens. Allerdings spielten sich diese Debatten primär auf der Ebene medizinischer Deutungsmuster und politischer Strategiedebatten ab und erreichten erst in vielfach modifizierter, gebrochener Form den gesundheitspolitischen Alltag. Die hier versammelten Beiträge zeichnen vor diesem Hintergrund ein ambivalenteres und zugleich differenzierteres Bild der Präventionsgeschichte nach 1945. Die gesundheitlichen Präventionsmodelle waren einerseits einem markanten Verwissenschaftlichungstrend, andererseits einem weiteren Popularisierungsschub ausgesetzt. Die Verwissenschaft21

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lichung des Präventionsdiskurses ist eng an die Rezeption der angelsächsischen Risikofaktoren-Forschung in der Herzkreislaufmedizin gebunden. Dabei verdankt sich der Aufstieg des Risikofaktorenmodells der Ausbreitung kybernetischer, systemanalytischer Organisations- und Steuerungsmodelle, die von den kriegswirtschaftlichen Verwaltungswissenschaften des Zweiten Weltkriegs, vor allem in Großbritannien und den USA, ausging (Lengwiler 2006: 314-320). In der medizinischen Forschung wurde das Konzept der Risikofaktoren vor allem durch die sogenannte Framingham-Studie, einer Langzeituntersuchung der Herzkreislauferkrankungen und der damit korrelierenden Verhaltens- und Umweltfaktoren in Framingham, einer amerikanischen Kleinstadt in Massachusetts, kanonisiert. Seit den 1950er Jahren wurde das Modell auch in verschiedenen europäischen Staaten breit beachtet, mit vielschichtigen Folgen. Zunächst führte das Denken in Risikofaktoren zu einer massiven Ausweitung der potenziellen Gesundheitsrisiken – aufgrund der mathematisch-statistischen Verfahren konnten nun auch kleinste Umweltfaktoren mit Gesundheitsschädigungen korreliert und damit als präventionsrelevant identifiziert werden. Die davon ausgehende Proliferation der identifizierten Gesundheitsrisiken verband sich bereits in der frühen Nachkriegszeit mit einer sprunghaften Extensivierung der Präventionsstrategien. Weiter bildete das Risikofaktorenmodell einen wichtigen Grund dafür, dass sich gegenüber der Sozialen Hygiene die Akzente der präventiven Verhaltensregeln von umwelt- und kontextbezogenen Maßnahmen (Verhältnisprävention) in Richtung individuelles Handeln (Verhaltensprävention) zu verschieben begannen (vgl. dazu den Beitrag von Carsten Timmermann). Zwar entfaltete sich der Prozess der Individualisierung und Subjektivierung präventiver Praktiken bereits in der Zwischenkriegszeit. Vor allem in bürgerlich-elitären Kreisen, etwa im Umfeld der Lebensreformbewegung, hielt ein solcher Individualisierungstrend schon vor dem Zweiten Weltkrieg Einzug. Darauf verweist etwa der Beitrag von Eberhard Wolff am Beispiel der ernährungsorientierten Bircher-Benner-Privatklinik in Zürich. Auch die sozialhygienische und sozialmedizinische Bewegung um Alfred Grotjahn oder die kritische Bakteriologie betonten zunehmend die individuelle Verantwortlichkeit in Präventionsfragen, um zu verhindern, dass die gesundheitspolitischen Interventionen wirkungslos verpufften. Diese Überlegungen waren jedoch eingebettet in ein allgemeines sozialreformerisches Programm, zu dem auch gesundheitspolitische Maßnahmen und staatliche Interventionen gehörten (vgl. die Beiträge von Silvia Berger und Ursula Ferdinand). In der Nachkriegszeit setzte nun, initiiert durch den Aufstieg des Risikofaktorenmodells, eine liberale Wende des Präventionsdiskurses ein, 22

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durch die individuelle Verhaltensempfehlungen auf Kosten institutioneller, sozialstaatlicher Reformen zunehmend in den Vordergrund rückten. Ein treffendes Beispiel dafür liefert der Beitrag von Ulrike Lindner. Die Autorin zeigt darin auf, wie sich in der Schwangerenfürsorge sowohl in Großbritannien wie in Deutschland der Ansatz einer staatlich kontrollierten Gruppenvorsorge zunehmend von einer individuellen Prävention, begleitet durch die niedergelassenen Ärzte, abgelöst wurde. Solche Veränderungsprozesse standen in enger Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Individualisierungstrends, etwa im Kontext der sich ausbreitenden Konsum- und Freizeitgesellschaft. Individualistische Lebensstile öffneten neue Felder der Prävention und wurden ihrerseits zunehmend präventionsorientiert umformuliert. Ein Beispiel dafür ist der Aufstieg von freizeitsportlichen Aktivitäten wie etwa des Joggings, der sich in den 1970er Jahren nicht zuletzt dem Hinweis auf die gesundheitsfördernde Wirkung des Sports verdankte. Die Geschichte des Breitensports zeigt darüber hinaus, dass das Anliegen der Krankheitsvorsorge in der Nachkriegszeit zunehmend ergänzt und überlagert wurde durch das Modell der Gesundheitsförderung, ein Prozess, der dem Präventionsdiskurs insgesamt einen zusätzlichen, bis heute anhaltenden Auftrieb verliehen hat (vgl. dazu den Beitrag von Tobias Dietrich). Solche Individualisierungsprozesse wurden noch befördert durch zunehmend professionelle Kampagnen zur Popularisierung der Gesundheitsprävention. Wie Virginia Berridge in ihrem Beitrag aufzeigt, nutzte die Sozial- und Präventivmedizin der frühen Nachkriegszeit für ihr Popularisierungsanliegen die Erkenntnisse der zeitgenössischen Propaganda- und Marktforschung. Mit dem Aufstieg professioneller Marketingmethoden in der Gesundheitsprävention veränderte sich auch der Status des angesprochenen Publikums: Aus dem staatsbürgerlichen Individuum wurde neu ein Konsument beziehungsweise eine Konsumentin präventiver Verhaltensempfehlungen. Die Breitenwirkung des Präventionsdiskurses konnte nach 1945 – ähnlich wie bereits in der Zwischenkriegszeit – von vorsorgeorientierten alltagskulturellen Dispositionen profitieren. Dies zeigt sich etwa an der populären Wahrnehmung der Herzkreislaufkrankheiten, die in den 1950er und 60er Jahren im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff der Managerkrankheiten diskutiert wurden. Wie Patrick Kury jüngst aufgezeigt hat, verwob diese populäre Krankheitsdiagnose geschickt verbreitete Modernisierungs- und Amerikanisierungsängste und formte daraus eine pathologisierend grundierte Zivilisationskritik (Kury 2010). Dass solche Deutungsmuster auf fruchtbaren Boden fielen, hängt mit dem beschleunigten kulturellen und gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit zusammen. Die Veränderungen der Erwerbswelt mit der 23

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Automatisierung der Industriearbeit und dem Aufstieg des Dienstleistungssektors sowie die Transformation der Konsumgewohnheiten im Übergang von der kriegsbedingten Mangelwirtschaft zur Überflussgesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte wurden im populären Diskurs vor allem auf die damit verbundenen Gesundheitsrisiken – Stress, Bewegungsmangel oder Übergewicht, beziehungsweise die davon ausgehenden Herzkreislaufkrankheiten – reduziert (vgl. dazu den Beitrag von Jeannette Madarász in diesem Band). Als Folge dieser vielschichtigen Individualisierungs- und Popularisierungsprozesse wurden präventive Ansätze nach 1945 zunehmend zu inkorporierten Elementen subjektiver Körper- und Gesundheitsvorstellungen. Die historische Entwicklung präventiver Verhaltensnormen gleicht deshalb einem langfristigen Interiorisierungsprozess, der in seiner longue durée von den etatistischen Vorsorgemodellen spätabsolutistischer Staaten bis zum individualistischen Leitbild des präventiven Selbst – einem rationalen Subjekt, das sich kontinuierlich beobachtet und sein Verhalten nach gesundheitlichen Kriterien selbst diszipliniert – reicht. Die jüngste Phase der Präventionsgeschichte setzte in den 1990er Jahren ein und ging vom Aufstieg biomedizinischer und humangenetischer Ansätze im medizinischen Fachdiskurs aus. Der Beitrag von Martin Döring illustriert diesen Umbruch exemplarisch am Konzept des metabolischen Syndroms, das sich in den letzten Jahren als zentrales Erklärungsmodell der Herzkreislaufkrankheiten etabliert hat. Das Konzept betont die Bedeutung des Zellstoffwechsels und der Gewebebeschaffenheit für die Entstehung von Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Thromboserisiken und Diabetes (Typ 2). Die Stoffwechselfunktionen wiederum werden einerseits auf genetische Prädispositionen, andererseits auf umweltbedingte Einflüsse zurückgeführt; beide Faktoren zusammen sind in einem hochkomplexen Syndrommodell vereint. Döring verweist einerseits auf die unsichere Kohärenz der medizinischen Terminologie und führt andererseits deren verblüffenden Erfolg gerade auf die Vagheit und Offenheit des Syndromkonzepts zurück. Für den Präventionsbegriff wichtig ist, dass die Risiken chronischer Krankheiten mit der Diagnose eines metabolischen Syndroms vervielfacht werden und damit auch die Ansatzpunkte für gesundheitsorientierte Verhaltensempfehlungen weiter zunehmen. Sie erstrecken sich nun endgültig auf die Ebene normaler alltäglicher Verhaltensweisen – eine Pathologisierung des lebensweltlichen Alltags, die die Grenze zwischen krank- und gesundmachenden Handlungen vollständig verwischt. Zu demselben Schluss kommen auch die Beiträge von Jakob Tanner und Robert Aronowitz. Beide konstatieren, dass die intensivierte medi24

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zinische Risikoforschung zu einer massiven Proliferation der Gesundheitsrisiken geführt habe – Tanner bezieht sich auf die Debatte um krankhafte Formen des Übergewichts (Adipositas), Aronowitz auf die Brustkrebsforschung. Die Diskussion um Gesundheitsrisiken habe, so Tanner, inzwischen eine „pandemische Qualität“ erreicht, mit entsprechenden Verunsicherungen auf Seiten der risikoexponierten Bevölkerung. Aronowitz weist darüber hinaus darauf hin, dass anstelle des einst klaren Gegensatzes zwischen gesund und krank heute ein Kontinuum zwischen schwacher und starker Risikoexposition entstanden ist. Damit verbunden ist eine massive Zunahme potenziell gefährdeter Patientinnen und Patienten, die sich nun nicht mehr entlang der Trennlinie zwischen gesund und krank einordnen können, sondern mit einer Fülle präventionsorientierter Verhaltensauflagen konfrontiert werden, auch wenn sie selber noch gar keine Krankheitssymptome aufweisen. Solche risikobasierte Krankheitsdiagnosen zeitigen für Patientinnen und Patienten durchaus paradoxe Verhaltenseffekte. Diesen Punkt illustriert insbesondere der Beitrag von Jörg Niewöhner, der sich unter anderem mit der Wahrnehmung des metabolischen Syndroms durch Patientinnen und Patienten beschäftigt. Denn die Genetisierung der medizinischen Diagnosen engt letztlich den ärztlichen Behandlungsspielraum sowie die Handlungsfähigkeiten von Patientinnen und Patienten deutlich ein, was indirekt die Legitimität der präventiven Verhaltensauflagen untergräbt. Auch ist es ein schwieriges Unterfangen, so Niewöhner, angesichts der hohen Komplexität biomedizinischer Erklärungsmodelle überhaupt nachvollziehbare präventive Verhaltensempfehlungen zu formulieren. Auch Robert Aronowitz betont die widersprüchlichen Folgen aktueller Präventionsdiskurse für die betroffenen Individuen. Auf der einen Seite lässt sich ein steigender Präventionsdruck diagnostizieren, verbunden mit einer akzentuierten Risikoangst. Auf der anderen Seite finden sich aber auch Anzeichen einer Art kognitiver Erschöpfung (eines risk fatigue). Die subjektiven Reaktionen auf die jüngste Proliferation der Gesundheitsrisiken pendeln damit zwischen Sensibilisierung und Banalisierung der Risikopotenziale hin und her. Die intendierte Pathologisierung vermeintlich normaler Verhaltensweisen entpuppt sich damit in der medizinischen Praxis letztlich als Phyrrussieg. In den USA hat die Pathologisierung des Übergewichts inzwischen dazu geführt, dass das Land heute mehr Übergewichtige (und damit potenziell Adipositas-Gefährdete) zählt als Einkommenssteuerpflichtige (auf Bundesebene; vgl. The Economist, 23.1.2010, S. 43). Damit ist aus der pathologischen Anomalie endgültig eine neue Norma-

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lität geworden. Der moderne Präventionsdiskurs hat mit anderen Worten begonnen, seine eigenen Existenzgrundlagen zu untergraben.

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T EIL I: G RUNDLA GEN : G ESUNDHEIT SV ORS ORGE IN DER M ODERNE : E PIS TEM ISCH E , MAT ER IE LL E UND INST ITU TIONE LL E P E RSPEKT IVEN

Leben smittel und neuz eitli ch e Te chnologi en des Se lb st: D i e I n kor p or ati o n von N ahr un g als Ges un dhei tspr ä ven tio n JAKOB TANNER

I . „ Kö r p e r v o n G e w i c h t “ 1 Seit einiger Zeit mehren sich Stimmen, die vor den gravierenden Folgen eines zunehmenden Kalorienverzehrs bei gleichzeitig abnehmender körperlicher Betätigung warnen. Bereits in den 1980er Jahren war das Schlagwort einer neuen „Killerkrankheit“ aufgetaucht; die Rede war von einer in weiten Bevölkerungskreisen grassierenden Adipositas (Emsberger 2004: ix).2 In den USA lautet die dramatische epidemiologische Diagnose: Zwei Drittel der Amerikaner sind übergewichtig. Wie schon einige Surgeons General of the United States vor ihm erklärte auch Richard Carmona, der dieses Amt von 2002 bis 2006 innehatte, im Vorfeld der Vorbereitungen zum zweiten Irakkrieg anfangs 2003, die Verfettung der Amerikaner sei eine gefährlichere Bedrohung als der Terrorismus (Campos 2004: 3f.; vgl. Mink 2008). Und ein Jahr darauf ließ das US1

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Der Untertitel verwendet den Titel von Judith Butlers wichtiger Studie zugleich wörtlich und metaphorisch. Butler analysiert die Restriktionen, die Zwänge, Verwerfungen und Verschiebungen im Zusammenwirken von körperlicher Materialität und kulturellen Konstruktionsprozess von Körpern unter geschlechtsspezifischen Vorzeichen. Darum geht es auch in diesem Aufsatz (vgl. Butler 1997). Der Untertitel mag erinnern an Judith Butler: Körper von Gewicht: die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Diese Studie liefert Ansatzpunkte für die geschlechtsspezifische Analyse des Problems, die hier nicht behandelt wird. 31

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Centre for Disease Control and Prevention verlauten, Übergewicht löse das Rauchen als Gesundheitsgefahr Nr. 1 schon bald ab. Die Prognose wird gestützt durch zwei gegenläufige Indikatoren, den abnehmenden Tabakkonsum und den zunehmenden Kalorienverzehr pro Kopf der Bevölkerung.3 Gegen Adipositas und „Fett-Epidemie“ laufen inzwischen in allen Bundesstaaten Aufklärungs- und Fitnessprogramme; fast ein Drittel der Männer und gegen die Hälfte der Frauen versuchen mit irgendeiner Diät ihr Gewicht zu reduzieren. Das ästhetische Phänomen wurde von Anfang an als gesundheitsmedizinisches Problem wahrgenommen und erforscht. Als 1994 mit dem Leptin ein Hormon entdeckt wurde, welches das Körpergewicht maßgeblich beeinflusst, verfestigte sich eine neue Ätiologie, die nicht mehr auf das „Zuviel-Essen“, sondern auf eine hormonelle Disposition – und damit auch auf Erbfaktoren – fokussierte (Korbonits 2008).4 Dennoch blieb die robuste soziale Diagnose, dass nämlich in einer Überflussgesellschaft die Menschen in die Breite gehen und dass dagegen etwas getan werden müsse, intakt. Das Problem beschränkt sich nicht auf die USA, die als Land of Plenty die Freedom from Want postulierten und den American Dream und zum globalen Exportartikel gemacht haben.5 Auf internationaler Ebene rief WHO-Generaldirektor Lee Jong-Wook 2004 auf der Jahrestagung der Weltgesundheitsorganisation zum verstärkten Kampf gegen die Fettleibigkeit auf globaler Ebene auf.6 Im August 2006 erklärte der Ernährungsepidemiologe und Professor an der Universität North Carolina in Chapel Hill, Barry Popkin, die Zahl der Übergewichtigen hätte weltweit die Zahl der Hungrigen überrundet. Es gäbe inzwischen mehr als eine Milliarde zu dicke Menschen, verglichen mit ca. 800 Millionen Unterernährten.7 Das Fett-Problem sei keineswegs auf die Industrielän3 4

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Vgl. die Droemer-Knaur-Homepage: http://www.was-sache-ist.de/2010/01 /totgesagte-leben-langer/ (zuletzt eingesehen am 15.1.2010). Nachdem man in den 1960er Jahre wegkam von einer endokrinologischen Erklärung der Anorexia nervosa, lässt sich nun bei der Adipositas eine gegenläufige Bewegung feststellen (vgl. Bruch 1973; Vandereyken et al. 1992). Freedom from Want ist eine der „four-freedom“-Abbildungen, die Norman Rockwell aufgrund einer Radiorede von US-Präsident Franklin D. Roosevelt von 1941 in den frühen 1940er Jahren gemalt hat und das eine Familie vor einem opulenten Thanksgiving-Mahl zeigt (vgl. Murray/ McCabe 1993). Diese betreffe, so die Statistiken der verschiedenen Länder, zwischen 4060 Prozent der Erwachsenen und erreiche auch bei Kindern schon Werte um einen Fünftel, mit steigender Tendenz (vgl. Kuoni 2008). Vgl. Overweight People Now Outnumber Hungry People, http://www. medicalnewstoday.com/articles/49720.php (zuletzt eingesehen am 15.1. 2010).

TECHNOLOGIEN DES SELBST

der beschränkt; dieselben Phänomene zeigten sich auch in Newly Industrialized Countries (wie China, Indien, Südafrika, Mexiko und Brasilien) sowie in armen Ländern; hier würden sie sogar stärker zunehmen als in den wirtschaftlich entwickelten Erdregionen, weshalb von einer „Global Obesity Pandemic“ gesprochen werden müsse. Gegen diese Sichtweise richten sich Stimmen, die in der massenhaften Adipositas ein Phantom sehen und den Kampf gegen das Übergewicht als Obsession bezeichnen. Fehlgeleitete Experten würden – so der Vorwurf von dieser Seite – problematische Normen in die Gesellschaft hinein diffundieren, wodurch die Körpererfahrung von Menschen erschüttert und ihr Selbstverständnis durch Zweifel kontaminiert werde. Pandemische Qualität hat nun nicht mehr das Dicksein, sondern die penetrante Angst davor. Sander Gilman spricht von einer Infectobesity, um die Mechanismen „kultureller Ansteckung“, über die sich dieses Krankheitsbild ausbreitet, zu charakterisieren (Gilman 2006). Paul Campos veröffentlichte 2004 ein Pamphlet gegen den „obesity myth“ (Campos 2004), in dem er das alarmistische Reden von einem künftigen Desaster der öffentlichen Gesundheit durch den Vormarsch des Körperfetts mit vier Argumenten kritisiert: Erstens sind Gesundheitsrisiken, die mit Körpergewicht zusammenhängen, vergleichsweise gering; zweitens vermag das Gewicht eines Menschen überhaupt nur etwas auszusagen, wenn es auf andere Faktoren, vor allem die Bewegung und die dadurch beeinflusste sog. metabolische Fitness, bezogen wird. Drittens gibt es signifikante Evidenz, dass die durch viele Diäten unterstützte rasche Gewichtsabnahme gesundheitlich schädlich ist, und dass die meisten, die es versuchen, anschließend gleich wieder in die Schwergewichtsklasse zurückfallen. Und viertens ist – trotz einer über ein Jahrhundert dauernden Forschung – noch kein funktionierendes Rezept bekannt, wie man dicke Leute nachhaltig dünn machen könne. Der „Krieg gegen das Fett“ baute auf einem neuen Verständnis von gesundheitlicher Prävention auf. In der Vergangenheit richteten sich Präventionsappelle vorwiegend an „gefährdete“ Randgruppen, Minderheiten und Unterschichten. Als Problempopulationen wurden diese zum Objekt von pädagogischen Aufklärungsprogrammen gemacht. Heute nennt man das „primäre Prävention“. Es gab und gibt aber auch Beispiele einer Affirmative Action, die auf Gleichberechtigung zielt (sekundäre Prävention). Demgegenüber ist die „tertiäre Prävention“ ein soziales Breitbandkonzept, das aufs Ganze geht und sich an gesamte Bevölkerungen oder an große gesellschaftliche Teilgruppen, z.B. an „Jugendliche“ oder „Alte“, richtet (vgl. dazu Yarnell 2007). Der Kampf gegen die Adipositas hat diesen umfassenden Anspruch – mit dem Resultat, dass heute das erste Mal – so Campos – die große Mehrheit der Bevölkerung 33

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unter Verdacht gestellt und in „soziale Parias“ transformiert wird. Als eine treibende Kraft hinter dieser Entwicklung identifiziert der Autor einen dietary-pharmaceutical complex, der das angestaute Unbehagen über das eigene Körpergewicht nutzt, um Absatzmärkte für diätetische Produkte und Praktiken auszuweiten. Der Ausdruck „Parias“ erweist sich allerdings – wie die Schlussfolgerungen der Studie von Campos selber demonstrieren – als wenig tauglich, weil Übergewichtige diesem Abwertungsdruck durchaus etwas entgegensetzen, sei es, dass sie behaupten, es gäbe gar kein Problem, sei es, dass sie sich nicht in ihre Rolle schicken, sondern nach der tiefgehängten Norm eines „schlanken Körpers“ streben. Letzteres bringt, wie Campos wiederum nachweist, Abermillionen von Menschen dazu, sich in und mit ihrem Körper schlecht zu fühlen. Diese „fundamental essgestörte Kultur“ verstärke, so Campos weiter, die Angst vor dem Fett und löse Selbstverabscheuung und endlose Unzufriedenheit aus. Dafür verantwortlich sei eine verhängnisvolle Mischung von Junk science und „anorektischer Mentalität“. Das heißt: Basierend auf schwachen oder manipulierten statistischen Befunden sowie suggestiven Kausalitätsfiktionen würden Schreckensbotschaften und Schockmeldungen über eine „neue Seuche“ verbreitet. Gleichzeitig würde einem Kult des schlanken Körpers gefrönt. Als Konsequenz nehme die Toleranz gegenüber auch milden Formen körperlicher Diversität ab (Campos 2004: xixff.). Aus sozialhistorischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive lässt sich feststellen, dass gegenläufig zum Industrialisierungsprozess und zum Aufstieg der Massenkonsumgesellschaft ein schleichender Statusverlust von Dickleibigkeit stattfand. Die positive Verbindung von Big und Fat, die in vielen Gesellschaften Formen der Machtausübung auf die Ernährungsweise bezog, wurde gesprengt. In einem Fettpolster sah man nicht mehr einen nützlichen und willkommenen Energiespeicher, der über karge Zeiten hinweghelfen konnte, sondern ein medizinisches Problem, ein persönliches Handicap, oder aber ein sichtbares Resultat vieler kleiner „Ernährungssünden“. Ziemlich genau zu jenem Zeitpunkt, zu dem das Kotelett als sinkendes kulinarisches Kulturgut an der Basis der Sozialpyramide angelangt war, wurden die Bedeutungen von Fett und Reichtum umgepolt. Die soziale Produktion von Knappheit (vgl. Hirsch 1980) funktionierte nun über reziproke Körpernormen – in einer Welt, in der alle genug essen können, werden visuelle Körpermarker, die eine schlanke Linie und damit auch die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung anzeigen, zu neuen Distinktionsmerkmalen. Diese Präferenz weist ebenfalls eine lange Tradition auf; die österreichisch-ungarische Kaiserin Sissi (Elisabeth von Österreich-Ungarn) stand seit den 1860er Jahren für ein schlankes Körperideal, das an Vorbilder aus der Renais34

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sance anknüpfte und das sie nicht nur mit der radikalen Abwendung von der bisherigen Hoftracht demonstrierte, sondern auch mit einer sportlicher und gymnastischer Freizeitpraxis pflegte. Eine snobistische Zuspitzung erfuhr diese Präferenz in der Devise der Herzogin von Windsor aus den 1930er Jahren, man könne „nie reich und dünn genug“ sein. Der Hang zur Schlankheit wurde indessen immer wieder durch die Dominanz der Körperfülle als Ausdruck einer mächtigen Präsenz gebrochen (Schwartz 1986). Seit den 1920er Jahren, verstärkt aber in der Nachkriegszeit, akzentuierte sich eine genderspezifische Asymmetrie zwischen dick und dünn. Während Frauen, die dem Schönheitsideal entsprechen wollten, ihr Körpergewicht unter Kontrolle zu halten hatten, konnten sich Männer – auch solche, die einem Bürojob nachgingen – als „Schwerarbeiter“ mit entsprechendem Leibesumfang profilieren. Inzwischen haben sich die Bewertungskriterien allerdings weit grundsätzlicher verschoben. Fett hat seine „reiche Aura“ ganz allgemein eingebüsst und ist damit zur markanten Signatur von Armut aufgestiegen. Die neuen Normen einer ranken Schlankheit diffundierten in die aufstiegsorientierten Mittelschichten. Diese versuchten (und versuchen) sich mittels Jogging, anderen Fitness-Praktiken und gesundheitsbewusstem Essen von unvorteilhaften Fettpolstern zu befreien und ihre Körperkonturen auf das Ideal der Schlankheit zu trimmen, um als „erfolgreiche Schöne“ dazustehen. Die Literaturwissenschaftlerin Maud Ellmann wies in einer erhellenden Studie über „Hungerkünstler“ darauf hin, dass die Amerikaner sich im 19. Jahrhundert noch weit stärker über Verdauensstörungen sorgten als um ihren Leibesumfang. Seit dem Bürgerkrieg (1861-65) griff eine Furcht vor dem Fett um sich. Ein Jahrhundert später, in den 1960er Jahren, war „der Asket, der ohne Erbarmen gegen sich selbst fastet“ daran, zu „einem neuen Hoffnungsträger“ zu werden (Ellmann 1994). Sarkastisch beschreibt die Autorin einen Typus des fitten Menschen, der den erwarteten Weltuntergang gleichsam privatisiert hat und nun täglich mit ziellosem Laufen die „Verbrennung“ als „private Apokalypse“ praktiziert. Ellmann bezeichnet dieses burning als „Autophagie“ und sieht in dieser modernen Form der Selbstverzehrung ein signifikantes Beispiel dafür, dass „die Geschichte der Zivilisation als Geschichte der Introversion des Opfers“ und mithin als eine „Geschichte der Entsagung“ zu verstehen ist, wie sich Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung ausdrückten (Horkheimer/Adorno 1984: 50). Stärker sozial- und kulturhistorisch argumentiert der italienische Historiker Massimo Montanari in seiner Überblicksdarstellung Der Hunger und der Überfluss. Für diesen Autor ist es offensichtlich, dass moderne Menschen es gründlich verpasst haben, ihr durchschnittliches Ernäh35

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rungsverhalten an die gesellschaftliche Transformation anzupassen. Der Trend zu mehr Dienstleistungen, zu motorisierter Mobilität und „sitzenden Berufe“ hat sich kaum im Ernährungsbewusstsein niedergeschlagen. Trotz eines steigenden Nahrungsangebots und zunehmender Ernährungssicherheit essen die meisten Menschen noch immer so, als ob demnächst akuter Mangel ins Haus stehe und als ob es gelte, sich mit einem körperlichen Fett-Depot gegen die nächste Hungersnot zu wappnen (Montanari 1999). Montanari gelangt zur Konklusion: „Die unwiderstehliche Anziehungskraft der Ausschweifungen, die eine jahrhunderte lange Geschichte des Hungerns in die Körper und Köpfe der Menschen eingegraben hat, beginnt uns nun, da der Überfluss alltäglich geworden ist, hart zu treffen.“ (Montanari 1999: 203)

II. Prävention: Zur Geschichte von Problematisierungen Prävention ist ein Diskurs und zugleich eine Praxis. Aus präventivmedizinischer Sicht ist der Mund das wichtigste Einfallstor für gesundheitsgefährdende und krankheitsauslösende Faktoren. Im Unterschied zu anderen, diskreteren Kontaminationen, die über Körperkontakt und Luftwege, d. h. über Resorption durch die Haut oder Atmen durch die Nase, sind hier orale Lüste, Begehren und starke Wünsche im Spiel. Dadurch ergibt sich ein omnivorer doublebind, ein Alles(fr)esser-Dilemma (Fischler 1993): Gerade weil sie in ihrer Nahrungswahl frei sind und alles Mögliche essen können, müssen Menschen bei der Auswahl von Nahrung eine große Vorsicht obwalten lassen, um Gefahren zu vermeiden. Der Hang zur Abwechslung stärkt auch die Angst vor der Innovation, nach dem Motto: „Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht“ (Fischler 1979). Neophilie (die Lust am Neuen) und Neophobie (die Furcht vor dem Unbekannten) gehen dabei oft paradoxe Verbindungen ein. Geschmackspräferenzen integrieren den Mund in eine spezifische Ökonomie der Aufmerksamkeit. Diese funktioniert über eine Synästhetik der Sinne. Unwillkürlich unterstützt durch die andern Sinne, insbesondere den Seh-, den Tast- und den Geruchssinn, vermittelt auch über den Gehörsinn, „entscheidet“ der in vielschichtigen Sozialisationsprozessen geformte Geschmackssinn, ob die Speise oder das Getränk ins Körperinnere gelangen oder ob sie ab- bzw. zurückgewiesen werden. Der Geschmacksinn fungiert somit als Ja-oder-Nein-Sinn (Ong 1967; vgl. Falk 1994). Es gibt auch externe Kontrollen: Mundschenke, Pilzkontrolleure, Vorschmecker, zudem Fabrikärzte, Sozialmediziner und Apotheker sind Instanzen einer Experten-Überprüfung der Inkorporati36

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on. Durch solche Sicherheitsvorkehrungen konnten in unterschiedlichen historischen und sozialen Kontexten wahrgenommene Risiken minimiert werden. Doch in den meisten Alltagssituationen verlassen sich Menschen auf ihre eigene Fähigkeit zum Unterscheiden. Sie halten sich an durch kulturelle Tradierung und eigenen Erfahrungen erworbene VorUrteile, sie reagieren mit Zurückweisung, wenn etwas „nicht stimmt“, Ekel verursacht oder wenn die Unsicherheit zu groß ist. Diese Wahlkriterien sind allerdings nicht starr; vielmehr wird die Demarkationslinie zwischen dem Essbaren und dem Nichtessbaren immer wieder neu abgesteckt. Dies führt dazu, dass das enorm breite Spektrum von Esskulturen und Ernährungsweisen, die wir rund um den Globus und auch in historischer Perspektive feststellen können, sich immer wieder verändert. Die Mundöffnung ist nicht nur Eingang der Nahrung in den Körper, sondern im Mund und Kehlkopf materialisiert sich auch das Sprechen. Hier entstehen, mittels physischer Modellierung der Atmosphäre, Signifikanten. Diese codierten akustischen Lautzeichen können durch Gesprächspartner und Zuhörer wiederum decodiert werden. Sprache ermöglicht so die Kommunikation von Bedeutungen und die Transformation von Nahrungsaufnahme in Esskultur. Nahrungsgewohnheiten und -tabus stabilisieren soziale Normen und Verhaltensregeln. Gleichzeitig öffnen sie Raum für Variation, für Idiosynkrasien und Tabuverletzungen. Lust sowie Ekel sind nicht einfach instinktive Reflexe, sondern diskursive Ereignisse. Als Bedeutungsphänomene sind sie gedanklicher Reflexion und kommunikativer Interaktion zugänglich. Die Naturwissenschaften sind Teil dieses Vorgangs. Denn wenn Menschen die Nahrung, die sie zu sich nehmen, über deren chemische Eigenschaften und die physiologischen Funktionen ihres Körpers beschreiben und sich dabei auf „die Natur“ beziehen, so ist dies ein äußerst voraussetzungsreicher, kultureller Vorgang.8 Diese Einsicht in die Variabilität, Diversität und Wandelbarkeit kultureller Muster bringen mit sich, dass Aussagen zur conditio humana, zur genetischen Grundausstattung oder zu anthropologischen Konstanten aus historischer Perspektive wenig ergiebig sind und von den Erklärungsansprüchen, die aus ihnen abgeleitet werden, meist inkonsistent bleiben oder in die Irre führen.9 Menschen sind in ihrer Geschichte nicht 8

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Die Psychoanalyse hat auf die „Gier des Mangels“ hingewiesen. Dabei standen die Körperöffnungen im Zentrum: „oral“ und „anal“ sind die Begriffe, die den psychoanalytischen Diskurs über das Essen organisieren, wobei (wie Esther Fischer-Homberger feststellt) Freud „seine ‚Libido‘ nach dem Modell des Hungers entworfen“ hatte (vgl. Fischer-Homberger 1997: 31). In diese Kategorie gehören Studien wie Tiger/Fox 1976. 37

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immer „letztlich dieselben“ geblieben, sondern sie haben sich mittels Kulturtechniken in einem offenen, zielblinden Prozess in steter soziokultureller Interaktion selber verändert. Weiterführend ist der Ansatz einer historischen Anthropologie, die den menschlichen Körper über die Vorstellungen, die Menschen über ihn bilden und die Praktiken, die sie auf sich selber anwenden, zu historisieren versucht. Dazu einige Überlegungen, welche von den Umbrüchen und Zäsuren ausgehen, die sich im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, beobachten lassen. Im 18. Jahrhundert war Gesundheit ein „Denkraum“, in dem die dominierenden Überzeugungssysteme widerhallten und der durch die Auseinandersetzungen um die Machtstrukturen des Ancien Régime geprägt wurde. Vorherrschend waren Diätetik und Humoralpathologie, die eine nahezu zwei Jahrtausend Jahre alte, über Galen bis auf Hippokrates zurückreichende Geschichte aufwiesen.10 Als Deutungshorizont für Gesundheit und Krankheit war die Viersäftelehre in ein umfassendes Verständnis der Welt und in eine elaborierte Theorie der Bezüge zwischen Mikro- und Makrokosmos eingebunden. Die Diätetik war keine Ernährungslehre, sondern zielte auf die umfassende Regulierung der Lebensführung. „Speis und Trank“ waren durchaus ein wichtiger Faktor, um das Gleichgewicht der Körpersäfte aufrechtzuerhalten, aber keineswegs der einzige. Daneben gab eine ganze Zahl von anderen Aspekten, die Beachtung finden sollten in der Kunst, eine gesundheitsfördernde Balance zu finden und das Leben zu verlängern. Systematisiert wurden diese in den „sex res non naturales“, die neben der Ernährung auch Licht und Luft, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachen, Absonderungen und Ausscheidungen sowie die Regulierung der Affekte umfassten (Sarasin 2001). Diese Diätetik wird missverstanden, wenn sie mit der modernen Prävention in eine Reihe gesetzt wird. Als 1796 Christoph Wilhelm Hufeland sein Hauptwerk Makrobiotik oder Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern veröffentlichte, bezog er sich auf das „richtige Maß“, auf Selbsttechniken des Maßhaltens, die ausgeprägte religiöse Konnotationen aufwiesen und die ein gesundes Leben nicht auf einen modernen Begriff der „Volksgesundheit“ bezog. Die diätetische Makrobiotik basierte weder auf statistischen Erhebungstechniken noch auf einem epidemiologischen Zugang, sie hat mit einem evidence-basedAnsatz nichts zu tun, sondern stellt eine durch Tradition begründete Körperfiktion und mithin eine regulative Idee dar, mit der Menschen ihre Aufmerksamkeit bündeln und ihr Verhalten in verschiedenster Hin-

10 Auf die globale Wirkungsgeschichte der Humoralpathologie geht Kuriyama 1998 ein. 38

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sicht zu kontrollieren vermochten. Es ging um ein maßvolles Leben, das sich von den sündigen res contra naturam fernhielt und sich in Übereinstimmung mit religiösen Grundsätzen entfaltete. Die These, es habe sich bei der traditionellen Diätetik um eine „natürliche“ Ernährungsweise oder eine naturverbundene Lebensform, basierend auf authentischer Körpererfahrung gehandelt, widerspricht wissenschafts- und medizinhistorischen Forschungsresultaten diametral. Diätetisch-humoralpathologische Körperkonzepte basierten vielmehr auf symbolisch hochartifiziellen Konstruktionen und legten medizinische Behandlungsformen nahe, die aus heutiger Sicht vielfach kontraintuitiv sind – wobei auch diese Intuitionen wiederum Resultat einer spezifischen medizinischen Vergesellschaftung darstellen. Die Problematisierung der Ernährung in der Frühen Neuzeit und im Ancien Régime kreiste auffallend häufig um die Frage der politischen Herrschaft. Im 18. Jahrhundert manifestierte sich zunehmend eine fundamentale Ambivalenz von Inkorporationsnarrativen. Zum einen stützte sich das königliche Gottesgnadentum auch auf eine metabolische Metaphorik. Auch diesbezüglich lassen sich (wie bei der Diätetik) lange Traditionslinien nachweisen. „Alte“ (antike) Stoffe wurden immer wieder neu angeeignet. Prominentes Beispiel ist die Fabel, die in der römischen Antike (in den Sammlungen Aesops) auftauchte und fortan in unzähligen Varianten immer wieder aufgegriffen wurde. Diese Fabel erzählt davon, wie die fleißigen Glieder des Körpers mit dem trägen Magen in Streit geraten und ihm ihre Dienstgemeinschaft aufkündigen. Sofort merken sie aber, dass sie sich damit selber schädigen und nehmen, nachdem sie das Lob des Magens gesungen haben, reumütig ihren Betrieb wieder auf. Schon der römische Senator Menenius Agrippa soll diese Metaphorik verwendet haben, um den Widerstand aufständischer Plebejer zu brechen (Peil 1985: 8ff.). Die Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza bezeichnet diese Geschichte vom „Magen und den Gliedern“ in ihrer erhellenden Studie über den „verfassten Körper“ „als Gründungstext der Metapher vom politischen Körper“ (De Mazza 1999: 50). Im 18. Jahrhundert fand sie als politische Parabel neue Resonanz. In der 1740 publizierten Version von Daniel Wilhelm Triller reimt sich das so: Die Glieder fingen an, den Magen Mit diesen Worten zu verklagen: Da liegt er auf der Bärenhaut Thut nichts, als dass er nur verdaut [...]! Ey! Sind wir dann nicht wohl bey Sinnen? Auf, lasst uns ihm den Dienst entziehn!

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Nach kurzer Zeit wurden die Glieder der verherrenden Folgen ihres Tuns gewahr: Da merkten erst die Glieder an, Dass der, der ihnen müßig schiene, Dem ganzen Körper besser diene, Als ihre Müh bisher gethan, Und ihnen allen heilsam wäre, Wenn man ihn, wie zuvor, ernähre. (De Mazza 1999: 2f.)

Diese aus einer Parallelisierung von Natur und Herrschaft abgeleitete „Moral der Geschichte“ lautete: So müssen auch der Obrigkeit Die Unterthanen alle dienen [...] Der Magen lebt zwar durch die Glieder; Doch er ernährt und stärkt sie wieder. (De Mazza 1999: 4)

Zum andern wurde diese Begründung politischer Herrschaftssturkuren in einer logischen Ordnung der Dinge und in einer harmonischen Funktionsweise des Körpers in der Aufklärung durch neue Deutungsmuster und Klassifikationssysteme in Frage gestellt. Jean Claude Bonnet zeigt in seiner Untersuchung über das réseau culinaire de l’Encylopédie (Bonnet 1976), wie der demokratische Impetus der Herausgeber dieses aufklärerischen Monumentalwerks dem Bestreben Vorschub leistete, die Zeichen der Nahrungsmittel aus dem semantischen Käfig einer ständisch strukturieren Gesellschaft zu befreien. In der Enzyklopädie werden die vormals festen Beziehungen zwischen der Natur der Speisen und der Position der Stände aufgeweicht. Dies hat eine semiotische Entkoppelung von Macht und Nahrung zur Folge. Die frei gesetzten Signifikanten begannen zu flottieren, sie verbanden sich auf neue Weise mit Objekten des Begehrens und öffneten das Bild des menschlichen Körpers für bisher unbekannte Wahrnehmungen. Es gab nicht mehr einen statischen Kontinent mit herrschaftlich-absolutistisch integrierten „Völkern“, sondern ein dynamisches Europa, in dem in allen Himmelsrichtungen gereist, Handel und kultureller Austausch getrieben wurde. Die Enzyklopädie enthält damit bereits zentrale Elemente einer Theorie der modernen Konsumgesellschaft. Auf derselben Linie lagen Interpretationen, die metabolische Metaphern für die Kritik an Ungleichheiten in der Verteilung von Nahrungsressourcen nutzten. Diese orientierten sich häufig an der antiken Kon40

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zeption der „Isonomie“, d.h. der „Gleichheit vor dem Gesetz“. Davon ausgehend forderten sie einen Rückzug der politischen Macht aus der bürgerlichen Privatsphäre und aus dem sich selbst regulierenden Markt. Bekannt ist die Metapher der „unsichtbaren Hand“, die Adam Smith kreierte, um die Transformation von privatem Eigennutz in öffentliche Tugenden durch eine marktintegrierte Arbeitsteilung zu plausibilisieren. Smith richtete sich zwar nicht gegen Staatsaktivität, er wies auch explizit die Vorstellung zurück, der Markt könne sich vollständig selber regulieren. Dennoch setzte er auf überindividuelle, nicht-intentionale Koordinations- und Ausgleichsmechanismen, die dafür sorgen, dass in einer marktverfassten Gesellschaft alle auf ihre Rechnung kommen. In seiner Theory of moral sentiments von 1759 stellt Adam Smith einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen Ernährung und Gleichheit her (Smith 1994). Ausgehend von der evidenten wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit warf Smith die Frage auf, wieso denn für die Armen überhaupt etwas zum Essen übrig bleibt angesichts der „natürlichen Selbstsucht und Raubgier“ der Begüterten. Er stellt dann fest: „Es ist vergebens, dass der stolze und gefühllose Grundherr seinen Blick über seine ausgedehnten Felder schweifen lässt und ohne einen Gedanken an die Bedürfnisse seiner Brüder in seiner Phantasie die ganze Ernte, die auf diesen Feldern wächst, selbst verzehrt. Das ungezierte und vulgäre Sprichwort, dass das Auge mehr fasse als der Bauch, hat sich nie vollständiger bewahrheitet als in Bezug auf ihn. Das Fassungsvermögens seines Magens steht in keinem Verhältnis zur maßlosen Größe seiner Begierden, ja sein Magen wird nicht mehr aufnehmen können als der des geringsten Bauern.“ (Smith 1994: 316)

Smith kommt dann – und das ist eine der drei Stellen, wo er in seinem Werk von einer invisible hand spricht – zum Schluss, aufgrund dieser Gegebenheit komme ein gleichsam natürlicher ausgleichender Mechanismus zur Wirkung und es stelle sich ein für die Gesellschaft befriedigendes Resultat ein: „Von einer unsichtbaren Hand werden sie [die begierigen Reichen] dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner aufgeteilt worden wäre; und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft.“ (Smith 1994: 316)

Dieser Rekurs auf die physiologisch-metabolische Gleichheit der Menschen als Grund für die vergleichsweise ausgeglichene Verteilung von Lebensmitteln wird mit der Smith’schen Auffassung über den Tod zuge41

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spitzt. Er charakterisiert „die Furcht vor dem Tode“ als „eines der wichtigsten Prinzipien der menschlichen Natur“. Der Tod sei „das stärkste Gift für jedes Glück, aber auch die gewaltigste Schranke für die Ungerechtigkeit der Menschen, die, während sie den einzelnen bedrückt und quält, doch die Gesellschaft behütet und schützt“ (Smith 1994: 13).

I I I . Di e O p t i m i e r u n g d e s „ m e n s c h l i c h e n M o t o r s “ Im 19. Jahrhundert setzte sich eine neue Problematisierung der Ernährung und der Inkorporation durch, die um Erfordernisse der industriellen Arbeitsgesellschaft kreiste und dabei auf die experimentelle Verwissenschaftlichung des Körpers setzte. Die Laborforschung bezog sich auf die beiden Modelle des Haushaltes (Einnahmen/Ausgaben bzw. Gewinne/Kosten) und des thermodynamischen Motors (Energietransformation) (Vatin 1993). Die Problematisierung der Ernährung folgte der Grundbedingung der Knappheit. Die Materialität des Metabolismus fand deshalb Aufmerksamkeit, weil Nahrungsmangel und unrationeller Ressourcenverbrauch die Leistungsfähigkeit von Menschen beinträchtigen konnten. Die Ernährungs- und Arbeitsphysiologie wollten zudem mit Rationalisierungsverfahren den „Nutzungsgrad“ der Arbeit erhöhen. Dabei parallelisierten sie Nützlichkeit und Funktionalität. Menschen inkorporieren permanent Stoffe, die sie ihrer Umwelt abgewinnen. Die thermodynamische Grundregel lautet: Der „Input“ in Form von Nährstoffen entspricht exakt dem „Output“ in Form von Wärme und Arbeit. Damit konnte das alte Sprichwort „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ umgekehrt werden: „Wer nichts zu essen bekommt, kann auch nicht arbeiten.“ Nach bahnbrechenden Versuchen in den 1820er und 30er Jahren vermochte sich in den hungry forties die moderne Ernährungswissenschaft als neue Sparte der akademischen Lehre und Forschung zu etablieren. Der beeindruckende wissenschaftliche Aufstieg Justus von Liebigs und – etwas später – des Physiologen Emil Du Bois-Reymond waren Akteure und zugleich Symptome dieser wissenschaftlichen Neuformatierung von Erkenntnisobjekten. Die Müdigkeit stieg allerdings alsbald zu einem zentralen Forschungsbereich auf, der den Optimierungsoptimismus, der durch den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, den sogenannten „Energieerhaltungssatz“ begründet wurde, unterminierte. Der zweite thermodynamische Hauptsatz, das Entropiegesetz, stellte gleichsam die „Nemesis“ eines wissenschaftlich-technisch fundierten Fortschritts dar, weil er die industrielle Ordnung mit schwierig zu erklärenden Phänomenen der Verausgabung und der Erschöpfung konfrontierte (Rabinbach 1992: 67ff., 127ff.; vgl. Vatin 1998). 42

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Die normierende Tendenz dieser Forschungen regte die Erstellung von Kostmassen und sog. dietary standards an. Hier wurde der Normverbrauch eines Durchschnittsmenschen in Bezug auf die verschiedenen Nährstoffe errechnet, wobei letztere aufgrund ihrer energetischen Durchschnittsäquivalenten in eine kalorische Substitutionsbeziehung gebracht werden konnten. Die Kostmaße stellten gleichsam ernährungswissenschaftliche Input-Tabellen dar, aufgrund derer arbeitsphysiologische Outputs berechnet werden konnten. Rationalisierung war auf beiden Seiten ein wichtiges Stichwort. Auf der Ernährungsseite ging es darum, das Ausgabenverhalten von Haushalten zu optimieren und die planerische Voraussicht auch unter harten Budgetrestriktionen zu stärken. Die erzieherische Populärpädagogik zielte dementsprechend auf die Vermittlung von Wissen darüber, welche Nährstoffe am kostengünstigsten erworben werden konnten. Schnaps, Tabak und andere Genussmittel schnitten nicht primär deswegen schlecht ab, weil sie die Gesundheit beeinträchtigten, sondern weil sie einer Fehlallokation knapper Ressourcen gleichkamen. Das so verausgabte Geld fehlte für die Anschaffung stärkender Nahrungsmittel. Die „rationelle Volksernährung“ fungierte damit als Korrelat der leistungsfähigen Industriegesellschaft (Tanner 1999: 89ff.). In diesem Modell ging es ebenfalls nicht primär um Prävention. Die Gefahr drohte von Unterversorgung und Mangelerscheinungen. Hingegen gab es ein großes Vertrauen in die Fähigkeit des Körpers, seine physiologischen Funktionen, wenn er denn ausreichend versorgt wurde, selber zu regulieren. Seit Claude Bernard mit seinem Konzept eines „milieu intérieur“ die physiologische Theorie der Selbstregulation begründete, ging die experimentelle Forschung davon aus, dass der menschliche Körper eine hoch komplexe, mit traumwandlerischer Sicherheit funktionierende Fabrik darstelle, welche selber dafür sorge, dass die eingenommene Nahrung in die benötigten Bau- und Betriebsstoffe umgewandelt würden (Canguilhem 1979; Prochiantz 1990). Parallel zu dieser dominanten arbeitsgesellschaftlichen Problematisierung der Ernährung werden nun aber auch präventive Konzepte diskutiert, die verschiedene Ausgangspunkte hatten. Erstens wurden durch die Hygienebewegung Inkorporations- und Vorsorgepraktiken miteinander verknüpft. Neue Diskursivierungsstrategien postulierten eine gegen verschiedenste Gefahren umsichtig vorbeugende Gestaltbarkeit des menschlichen Körpers (Sarasin 2001). Zweitens zeigte die Toxikologie, die in der Lebensmittelchemie seit den 1880er Jahren verstärkt Anwendung fand, neue Risikoprofile und Gefahrenquellen auf, die aus problematischen Nahrungsmitteln, Verpackungsmaterialien und Ernährungsgewohnheiten resultierten. Auch hier war präventives Handeln umso mehr angezeigt, als nun zunehmend epidemiologische Daten erhoben und 43

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Krankheiten sowie Unfälle im Zuge einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ statistisch ausgeleuchtet wurden. Drittens wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert die Vermutung bestätigt, dass es Mikronährstoffe gab, die dem Körper durch eine „gesunde Ernährung“ zugeführt werden mussten. Seit 1912 wurden diese „akzessorischen Nahrungsmittel“ auf Anregung des polnischen Biochemikers Casimir Funk „Vitamine“ genannt. Mit dem „Vitaminrummel“ und der Vitamania der Zwischenkriegszeit veränderte sich nicht nur die ernährungsphysiologische Bewertung von Speisen auf Kosten des bisherigen industriegesellschaftlichen „Supernahrungsmittels“ Fleisch; vielmehr rückten nun auch die Zubereitung und insbesondere das Kochen ins Zentrum einer präventiven Aufmerksamkeit (vgl. Bächi 2009; Nikolow/Schirrmacher 2007; Apple 1998). Die Gründung von Kochschulen und die Organisation von Haushaltungskursen, in denen das Wissen und die Praktiken einer „gesunden Küche“ vermittelt wurden, sind Ausdruck dieses tiefgreifenden Wandels der Ernährungswissenschaft. Die neue Sichtweise, die sich in den Jahrzehnten zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der Zwischenkriegszeit durchsetzte, veränderte nicht nur die Problemwahrnehmung, sondern schuf auch neue Verantwortungsträger. Die wissenschaftlichen Top-down-Ansätze der Arbeits- und Ernährungsphysiologie wurden verdrängt durch populäre Bottom-up-Praktiken, die breite Bevölkerungsschichten in die Pflicht zu nehmen versuchten und die vor allem in den Frauen wichtige Ansprechpartnerinnen für die Implementierung von Präventionskonzepten sahen. Diese Ansätze wurden flankiert und unterstützt durch die seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den meisten Industrieländern eingeführten und an die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse angepassten Lebensmittelgesetze. Neben diesen nachträglichen Kontrollen, die, wenn Verstöße streng sanktioniert werden, auch eine beträchtliche präventive Wirkung entfalteten konnten, wurde in vielen Ländern eine Alkoholgesetzgebung geschaffen, die dem Alkoholismus und einem moralisch kritisierten und wirtschaftlich negativ bewerteten Trinken einen Riegel schieben sollte. Meist griff der Staat in den Preismechanismus ein, was den Alkohol verteuerte und ihn damit für schlecht verdienende Gruppen unerschwinglich oder zumindest weniger attraktiv machte, mit messbarem Mengeneffekten (vgl. Holt 2006). Der Präventionsgedanke, der sich nun an verschiedenen „Fragen“ (Alkoholfrage, soziale Frage, etc.) festmachte, erhielt wichtige Impulse durch die „neue Ernährungslehre“. Diese wurden konkretisiert durch eine krankheitsspezifische Prophylaxe, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg in verschiedenen europäischen Ländern, so auch in der Schweiz, mit der Bekämpfung von Kropferkrankungen durch Jodzusätze im Kochsalz 44

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praktiziert wurde. Unter den politischen Bedingungen der Zwischenkriegszeit verband sich der Präventionsgedanke allerdings mit völkischen rassistischen Ideologien; Volksgesundheit wurde zum militärischen Erfolgsfaktor und zu einer Machtressource. Im Nationalsozialismus stieg Ernährung rasch zum strategischen Faktor auf. Sie diente nun der „nationalen Wehrhaftmachung“ und der Stärkung der wirtschaftlichen Nationalautarkie. Während des Krieges begründeten viele Regierungen ihre Anbau- und Rationierungsprogramme mit solchen Argumenten. Die Propaganda für eine gesunde, vitaminreiche pflanzliche Ernährung war zugleich eine Kaloriensparstrategie, denn rückläufiger Konsum tierischer Kalorien öffnete beträchtliche Versorgungsspielräume. Aufgrund des Ziels, das Überleben des „Volks im Krieg“ zu gewährleisten, wurde nicht selten auch auf alternative Ernährungsideologien, wie sie etwa von der Lebensreformbewegung propagiert wurde, Bezug genommen. Daher rührt unter anderem die Vorstellung, im „Dritten Reich“ seien vegetarische Ideen auf eine bis anhin nie gekannte Resonanz gestoßen (Tanner 2003). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Präventionskonzepte der Zeit vor 1945 unter liberalen Vorzeichen erneut aufgegriffen. Von den USA ausgehend wurde der Dreischritt health – good health – better health präventivmedizinisch operationalisiert. Während health die Devise einer unter Mangelsyndromen und oftmals akuter Knappheit leidenden Gesellschaft war und ganz einfach ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln bedeutete, bezog sich good health auf ein gesteigertes Wohlbefinden durch eine Optimierung qualitativer Faktoren, zu denen maßgeblich auch die Ernährung gehörte. Die Esskultur sollte explizit auf gesundheitliche Anforderungen hin funktionalisiert werden; gleichzeitig wurden vor allem Empfehlungen abgegeben, die auf verstärkte körperliche Bewegung ausgerichtet waren. Der Komparativ Better health griff diese Präventionsvorschläge auf und kombinierte sie mit Maßnahmen, die auf kommende Jahrzehnte gerichtet waren und gleichsam die Zukunft kolonialisierten. Jeder Mensch sollte bereits in jungen Jahren so leben, dass er/sie dann auch im Alter noch bei möglichst guter Gesundheit sein würde. Es geht hier also um die biographische Antizipation optimaler Lebensbedingungen durch ein Essverhalten, in das auch bereits das wissenschaftliche Wissen um das Altern des menschlichen Organismus inkorporiert ist. Die bestmögliche Lebensführung in der Gegenwart konvergiert dadurch mit optimalen Aussichten für gute Gesundheit im Alter. Wie schon in der Zwischenkriegszeit spielen – unter andern Bedingungen – auch in der Nachkriegszeit alternative Ernährungsstile eine wichtige Rolle, was sich auch mit personellen Kontinuitäten erklären 45

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lässt. So vermochte sich etwa das NSDAP- und SS-Fördermitglied Werner Kollath – nach einer farcenhaften „Entnazifizierung“ nach 1945 – in der Wirtschaftswunderzeit als weitsichtiger Pionier einer gesundheitlichen Präventionskampagne zu profilieren. Die eugenischen Positionen, die er im „Dritten Reich“ vertreten hatte, wurden nun zu einer die Erbanlagen der Menschen zur Geltung bringenden „präventiven Umweltlehre“ umformuliert (Spiekermann 2001: 253). Im soziokulturellen Wandel der 1960er Jahren stießen solche ernährungsreformerischen Ideen auf eine zunehmende Resonanz; sie wurden breit und gemessen am politischen Anspruch der 68er Bewegung auf eine paradoxe Weise rezipiert. Warren J. Belasco hat in seiner 1989 erstmals erschienenen Studie Appetite For Change gezeigt, How The Counterculture Took On The Food Industry (Belasco 2007). Dem Untertitel entsprechend geht der Autor nicht davon aus, die Nahrungsmittelindustrie hätte Anregungen der Gegenkultur der 60er Jahre aufgegriffen und in ökonomische Verwertungszusammenhänge integriert; er konstatiert vielmehr umgekehrt einen „echten Pyrrhussieg“ der Alternativkultur der 60er Jahre. Zudem hat sich die Ahnung, dass das hehre Ziel der Selbstverwirklichung inzwischen zu einem lebenslangen Zwang mutiert sein könnte, in vielen Beispielen konkretisiert.

IV. Generalprävention im „pursuit of perfection“: aktuelle Kontroversen In der Nachkriegszeit konnten die Promotoren eines Präventionsansatzes mehr denn je die zermürbende oder – aus anderer Sicht – hoffnungsvolle Erfahrung machen, dass ihre gesundheitsförderlichen Ratschläge immer wieder am kulinarischen Eigensinn von Menschen und an der schieren Macht von Gewohnheiten scheiterten. Das Ernährungsverhalten und das Gesundheitsbewusstsein wurde insgesamt weit weniger durch gesundheitspolitische Appelle und präventivmedizinische Programme als durch sozioökonomische Entwicklungen und kulturelle Dynamiken verändert. Vielfach zeigte sich eine „kognitive Dissonanz“ zwischen Wissen und Wollen (Festinger 1957). Die durch unermüdliche Popularisierungskampagnen in breite Bevölkerungsschichten hinein getragenen Informationen hatten nur geringe Auswirkungen auf das beobachtbare Verhalten. Präventionsexperten begannen aufgrund dieser Misserfolge nach den emotionalen Voraussetzungen erfolgreicher Vermittlung von Maßnahmen, welche die Gesundheit verbessern konnten, zu fragen. Und sie bemühten sich um eine breitere, auch politische, Abstützung ihrer Kampagnen. 46

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Wie das geschieht, dafür liefert die Schweiz zurzeit ein instruktives Beispiel. Seit 2008 läuft hier eine vergleichsweise heftige Diskussion um die nationale Präventionspolitik.11 Das federführende Bundesamt für Gesundheit (Bern) konstatiert einen generellen, internationalen „Trend einer vermehrten Stärkung der Prävention von Krankheiten und Unfällen wie auch der Gesundheitsförderung“ und weist auf die „chronischen Krankheiten und ihre Ursachen – Übergewicht, Mangel an Bewegung, Stress, etc.“ hin. Wenn es nicht gelinge – so das Argument des Bundesamtes – diese Entwicklungen durch „nichtmedizinische […] Maßnahmen“ zu bremsen, müsse „mit der verstärkten Medikalisierung sämtlicher Gesundheitsprobleme und mit einer entsprechenden Kostenzunahme in der medizinischen Versorgung gerechnet werden“ (BAG 2006: 9). Im Sommer 2008 lief ein sogenanntes „Vernehmlassungsverfahren“ an, das Verbänden, Kantonen und Interessengruppen aller Art die Möglichkeit gab, ihre Meinung zu einem neuen Gesetzesprojekt über „Prävention und Gesundheitsförderung“ einzubringen. Besonders umstritten war die vorgesehene Schaffung eines nationalen Präventionsinstituts. Am 30. September 2009 veröffentlichte der Bundesrat (die schweizerische Regierung) einen Gesetzesentwurf, der an der Idee dieses Instituts festhielt – obwohl dieser Versuchs einer organisatorischen Umsetzung des Präventionsgedankens auf teilweise harsche Kritik stieß. Gegen die institutionalisierte Prävention verfasste z.B. der Allgemeinmediziner Th. Schweizer aus Bern ein Gedicht, das auf der Leserbriefseite der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde und das folgendermaßen beginnt: Wo früher Kinderbanden streunten sind jetzt die Naherholungsräume im Takt der Nordic-Walking-Stöcke verbrennen wir dort schlechte Fette Gesundheit wird zur Religion Und sakrosankt die Prävention der Veloweg ins Paradies geht durchs Normal-Werte-Verlies

11 Zu den Zielen des Gesetzes vgl. Bundesamt für Gesundheit, „Vision und Thesen zur Neuregelung von Prävention und Gesundheitsförderung in der Schweiz“ – Dokument der Fachkommission „Prävention + Gesundheitsförderung“ vom 13. März 2006, Bern. Einsehbar über: www.bag.admin.ch (zuletzt eingesehen am 15.1.2010). 47

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denn bald sind Biodatenkarten der Schlüssel für die Prämienraten […]12

Das von Reim und Rhythmus her verunglückte Poem nimmt – inhaltlich durchaus treffsicher – einige Probleme der Prävention aufs Korn. Die Mischung der Motive macht deutlich, dass die Kritik an den Gesundheitsexperten widersprüchliche Wertungen enthält. Die Ablehnung der Präventionspolitik bedient sich primär eines mit dem Aufstieg neoliberaler Konzepte modisch gewordenen Anti-Staat-Reflexes. Die Botschaft lautet: Der Staat will überall intervenieren, er wird immer teurer. Darüber hinaus wird die Freiheit des Bürgers bedroht. Von dieser Fragestellung ausgehend wird – so etwa in einem Beitrag in der rechtsnationalen „Weltwoche“ (Keller 2008) – das Bild einer unaufhaltsam vorrückenden „Präventionsmaschine“ heraufbeschworen. Mit deren Hilfe streben „staatliche Gesundheitsförderer“ eine „flächendeckende Umerziehung“ an. „Diffuse Krankheitsbilder“ dienen dazu, „Alles-im-Griff“-Programme zu lancieren, die den Bürger bis ins Private hinein verfolgen, um ihn vor gesundheitsschädigende und damit kostenverursachenden Fehltritten zu bewahren. Unter anderem wird das „großangelegte nationale Programm […] ‚Ernährung und Bewegung 2008-2012‘“ kritisiert. Die Konklusion lautet: Diese „Bevormundungskampagnen verschlingen Millionen“, derweil ihr Nutzen nicht bewiesen werden kann. Zustimmend wird dann die „Gewerbezeitung“ zitiert, die den damaligen Direktor des genannten Bundesamtes, Thomas Zeltner, als „Gesundheits-Taliban“ apostrophierte. In der argumentativen Tiefenlage wird im Wesentlichen das Argument, das vor zwei Jahrhunderten Thomas Malthus gegen sozialpolitische Maßnahmen ins Feld führte, auf aktuelle gesundheitspolitische Vorkehrungen transponiert: Die Verhältnisse sind nun einmal so, wie sie sind, und der Versuch, Menschen zu verbessern, endet mit dem Gegenteil des Intendierten. Statt einer gesunden Gesellschaft haben wir am Schluss einen kranken Staat, der dabei auch noch die Privatinitiative stranguliert und derweil den Bürgern ein Glück verordnet, das diese gar nicht erstreben. Diese antietatistische Polemik sollte indessen nicht darüber hinwegsehen lassen, dass es eine andere Analyse der Prävention gibt, die beim 12 NZZ 21./22. Juni 2008, Nr. 143, S. 17, Leserbrief von Dr. med. Th. Schweizer (Bern). Das Gedicht geht weiter: „sozial korrekt wird dann bestraft/ wer runde Pfunde auf sich hat/ und dies durch den Expertenstaat/ der nachhaltig sich selbst bezahlt/ doch weil schon/ Ablasshandelspriester/ von Ängsten gründlich profitiereten/ sind wir vorsorglich auf der Hut:/ was gut sich gibt ist längst nicht gut.“ 48

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Begriff der „modernen Kontrollgesellschaft“ ansetzt (vgl. Deleuze 2004). So kritisiert der französische Soziologe François Cusset die „neue Biopolitik der schlanken Linie“ unter dem programmatischen Titel „Dein Körper, dein Kapital“ (Cusset 2008). Diese Ökonomisierung des Menschen komme – so das Argument – durch das Zusammenwirken einer imperativen Persönlichkeitsoptimierung und einer ubiquitären Generalprävention gegen alle möglichen Lebensrisiken zustande. Dadurch wird das Leben gesteigert und Kontingenz reduziert. Damit soll nicht nur die Kostenexpansion im öffentlichen Gesundheitswesen gedämpft, sondern es werden auch Unternehmen bedient, die sich Menschen wünschen, die gut in Form sind. Corporate culture integriert heute das Privatleben von Mitarbeiter/innen; diese sollen ihren Arbeitsschwung erneuern können und z.B. darin unterstützt werden, ihre persönlichen „Gewichtsziele“ zu erreichen, ihre individuelle Gesundheitsbilanz zu verbessern und zwar durch Fitnessprogramme, durch mehr Bewegung, richtige Ernährung und gesundheitsbewusste Lebensführung. Im Zuge ihrer Multiplikation mutieren diese neuen biopolitischen Leitbilder allerdings unwillkürlich zu einer „Gesundheitsverpflichtung“ des Einzelnen. Wer dieser neuen Pflicht nicht nachkommt, läuft Gefahr, nicht nur benachteiligt, sondern direkt bestraft zu werden. Für Cusset läuft die „Aufforderung zur Mobilisierung des Körpers“ auf die totale Verfügbarmachung des arbeitenden Menschen hinaus. Die unaufhaltsame Arbeit am gesunden Körper produziert im Endeffekt eine Enteignung. Diese Analyse des präventiven Gesundheitsmanagements versteht sich als Kritik an der neoliberalen Subjektivierungsweise, die atomisierte Individuum in ein kompetitives Feld integriert, in der es gilt, bei Strafe des Untergangs das eigene Gesundheitskapital zu rentabilisieren. Nur wem es gelingt, das eigene Selbst effizient zu ökonomisieren, vermag schließlich als „Unternehmer seiner selbst“ im harten Wettbewerb um Existenzchancen auf der Gewinnerseite zu landen. Die „Technologien des Selbst“ – in Michel Foucaults Spätwerk auch als Fähigkeit zur Selbsttransformation des Menschen in ästhetischer Absicht imaginiert – werden damit durch die Mechanismen der Macht kolonialisiert und sie in neue, auf Selbstführung basierende Formen des Regierens integriert (vgl. Bröckling et al. 2000; Rose 1998). Eine umgekehrte Argumentation verfolgen Sheila M. und David J. Rothman in ihrer Studie The pursuit of perfection, die den Untertitel trägt: The Promise and Perils of Medical Enhancement (Rothman/Rothman 2003). Die Rothmans sprechen einleitend präzisierend vom „pursuit of biological perfection“ und stellen fest:

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„The enterprise has never been able to free itself completely from quacks and nostrums, but it represents serious science and pervades medical practice. Its aim is not to cure a disease, to make a patient normal or remedy a deficit, but to make people better than well, to take them from standard levels of performance to peak performance.“ (Rothman/Rothman 2003: ix)

Es geht also nicht länger um Normierung und Normalisierung, sondern um das, was jenseits dieser Durchschnittlichkeiten liegt. Der Mensch will nicht regierbar gemacht werden, sondern er zielt auf die synästhetische Modellierung seines Körpers. Mit dieser Verschiebung von der Heilung zur Perfektionierung verändert sich auch die Moral und Finalität der medizinischen Technik und der Präventionsmedizin.13 Die Autoren situieren das Streben nach biologischer Selbstüberbietung in einer Säkularisierungsperspektive: Es ist der Verlust des Glaubens an die eigene Unsterblichkeit, der Menschen im Wunsch nach Lebensverlängerung bestärkt. Die Soteriologie stellt gleichsam von der heiligen Seele auf den profanen Körper um. Sosehr den Gentechnik – die bisher noch keine funktionierende Verfahren anbieten kann – einen technischproblemlosen Zugang zu diesem bioästhetischen Unternehmen verspricht, sosehr verfestigt sich aber zugleich die Ahnung, dass die Geschichte der „Interiorisierung des Opfers“ dadurch in eine Phase gesteigerter Intensität geraten könnte, die einen spürbaren Ausdruck in den Zumutungen einer präventiven Diät und einer forcierten Inkorporationskontrolle finden wird.

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13 Überlegenswert ist die These von Toine Pieters und Stephen Snelders, die festhalten, dass diese Verschiebung eine längere, bis in die Jahrzehnte um 1900 zurückreichende Geschichte aufweist (vgl. Pieters/Snelders 2009; Canguilhem: 1966). 50

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Leben sv er si cherung, m edizi nisch e T est s und das M an age ment d er M o rt alit ät 1 THEODORE M. PORTER

Wissenschaftliche Objekte werden nicht alleine von Wissenschaftlern konstruiert. Besonders wenn wir jene Forschungszweige betrachten, die eine mögliche militärische, industrielle, kommerzielle, medizinische, landwirtschaftliche, erzieherische, regulatorische, politische oder bürokratische Umgebung einschließen, erkennen wir, dass sie durch die Interessen und Erwartungen verschiedener Akteure mitgeformt werden. Unpersönliche Formen des Wissens, die häufig mit grundlagenorientierter Wissenschaft gleichgesetzt werden, dürften enger mit jener Distanz und jenem Misstrauen verbunden sein, die für die weniger unabhängigen Formen der Wissenschaft charakteristisch sind. Das Verlangen, Zugang zu zeitlosen Wahrheiten über die Natur zu erhalten, unabhängig von lediglich menschlichen Hoffnungen und Wünschen, stellt einen Anreiz für Objektivität dar, aber die im weitesten Sinne politische Gegnerschaft zum Subjektiven und Persönlichen ist inzwischen vielleicht der wirkungsvollere Anreiz (Porter 1995a). Eine Verschiebung weg vom informellen Expertenurteil hin zum Vertrauen auf quantifizierbare Objekte stellt eine Möglichkeit dar, öffentliche Standards privaten Fertigkeiten voranzustellen. 1

Dieser Aufsatz erschien zuerst in englischer Sprache als „Life Insurance, Medical Testing, and the Management of Mortality“. In: Lorraine Daston (Hrsg.), Biographies of Scientific Objects, Chicago: University of Chicago Press 2000, S. 226-247. Die Übersetzung stammt von Philipp Reick und Christian Sammer. Wir danken dem Verlag, der University of Chicago Press, für die freundliche Genehmigung, den Beitrag in diesen Sammelband aufzunehmen. 55

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Dieser Artikel handelt von der Konstruktion und Aufrechterhaltung stabiler Mortalitätsraten durch amerikanische Lebensversicherer. Im 19. Jahrhundert verteidigten sich diese Unternehmen gegen einen Anstieg der Versicherten-Sterblichkeit, die aus einer „schlechten Lebensführung“ resultiere, dadurch, dass sie nur Anwärter mit einer robusten Konstitution und einem moralisch einwandfreien Charakter akzeptierten. Als diese Art der Selektion im 20. Jahrhundert in administrativer Hinsicht unausführbar und in politischer Hinsicht suspekt geworden war, wandten sie sich zunehmend instrumentellen Messtechniken und statistischen Tabellen zu, die Größen wie Blutdruck oder Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße berücksichtigten. Diese hingen wiederum von neuen medizinischen Praktiken und neuen beruflichen Rollen ab. Die Unternehmen haben so als Verbündete eine Vielzahl an wissenschaftlichen Entitäten gewonnen, um Standardmortalitätsraten gegen zerstörerische Tendenzen bürokratischer Einmischung und Misstrauens zu verteidigen.

Informationsformen Versicherungen bilden, zusammen mit dem Bankenwesen und der Buchhaltung, eine klassische Form der Informationsindustrie. Das wirklich hervorstechende Beispiel für die Allianz von Lebensversicherung und formalem Wissen ist die Sterbetafel. Eine Sterbetafel definiert für eine Kategorie von Menschen die Anzahl derer, die aus einer Geburtenkohorte von einhunderttausend erwarten können, je ihren nächsten Geburtstag bis ins Alter von einhundert Jahren erleben zu dürfen. Mathematiker begannen im 17. Jahrhundert, solche Tabellen zu erstellen, und setzten sie zur Ermittlung von Jahresrenten und Versicherungsbeiträgen ein. Im 19. Jahrhundert erwuchs daraus eine ganze Berufsgruppe, deren Hauptgeschäft daraus bestand, Sterbetafeln zu erarbeiten und Prämien zu berechnen, die auf Mortalitätserfahrungen und Kapitalverzinsungen basierten. Die Ursprünge der Mortalitätstabelle können dabei mit der Begründung der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung im 17. Jahrhundert verbunden werden. Stabile Sterberaten galten im 19. Jahrhundert gemeinhin als Ausweis dafür, dass selbst das menschliche Leben den Gesetzen der Statistik unterliegt und damit nicht von unserem Willen abhängt. Die Berechnung der Sterbetafeln versinnbildlicht die Rolle formaler Methoden und expliziten Wissens im Bereich der Lebensversicherungen. In anderer Hinsicht blieben die Lebensversicherungen jedoch lange in Abhängigkeit von zutiefst personalisierten Methoden des Wissens. Englische Versicherungsfachleute bestanden in der Mitte des 19. Jahr56

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hundert darauf, dass selbst ihre eigenen Berechnungen eines Expertenurteils bedurften, das auf vernünftigen Erwartungen über Kapitalrenditen und Sterberaten begründet war. Doch handelte es sich hierbei nicht einfach um Vorhersagen. Die Validität der Sterbetafeln hing von der geschickten Auswahl dessen ab, was damals als Qualitätsleben (quality lives) bezeichnet wurde. Wenn lediglich gesunde, tugendhafte und erfolgreiche Menschen in die Lebensversicherung aufgenommen wurden, war es grundsätzlich möglich, eine Sterberate aufrecht zu erhalten, die niedriger als jene der Gesamtbevölkerung war. Im Allgemeinen glaubten Versicherungsmathematiker, dass ohne behutsame selektive Gegensteuerung gerade diejenigen Menschen eine Lebensversicherung abschließen würden, die fürchteten bei schlechter Gesundheit zu sein und die dementsprechend zu höheren Anteilen sterben würden als es die Sterbetafeln vorhersagten. Dies wurde unter dem Begriff der „Negativauslese“ bekannt.2 Man sollte festhalten, dass die These der Negativauslese problematisch ist und häufig in Frage gestellt wird. Versicherer berufen sich auf sie, um Richtlinien zu begründen, die entweder einen exklusiven Geltungsbereich der Versicherung abstecken oder hohe Prämien von jenen verlangen, die ein erhöhtes Risiko tragen und daher auch den größten Bedarf für eine Versicherung haben. Was jedoch, fragen viele, soll eine Versicherung bringen, die nur jenen zur Verfügung steht, bei denen das Eintreffen einer Versicherungsleistung unwahrscheinlich ist. Warum werden Beiträge nicht auf der Grundlage der allgemeinen Sterblichkeit der Gesamtbevölkerung berechnet und Policen an jede ausgestellt, die willens sind die Prämien zu zahlen? Die Unternehmen antworten darauf, dass es so einfach nicht sei, denn die Policen würden besonders von jenen begehrt, die von sich selbst wissen, dass sie ein erhöhtes Risiko tragen. Versicherungsmathematiker sagen uns, dass Sterbetafeln ihre Aussagekraft verlören, wenn die Negativauslese nicht in Schach gehalten würde. Aber die Selektion von Leben war schon immer ein schwieriges Geschäft. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war es für einen medizinischen Experten noch schwerer als heute, ebenso viel über den Gesundheitszustand eines Bewerbers in Erfahrung zu bringen wie sie über ihren eigenen, persönlichen Zustand wussten. Darüber waren Versicherungsunternehmen mit ernsthaften Vertrauensproblemen konfrontiert. Der Hausarzt eines Antragstellers für einen Versicherungsvertrag fühlte sich seinem Patienten weitaus mehr verbunden als dem weit entfernt domizi-

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Zu Sterbetafeln, Berechnungen und Beurteilungen in Lebensversicherungen vgl. Daston (1988) S. 174-82; Alborn (1991). 57

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lierten Versicherungsunternehmen; entsprechend dürfte er selten etwas anderes als die gute Gesundheit des Antragstellers attestiert haben. Wenn das Unternehmen eigene medizinische Experten unterhielt, dürften diese den Antragsteller wahrscheinlich nur einmal gesehen haben. Auf einer solchen Grundlage werden sich die Mediziner in hohem Maße auf die Angaben des Anwerbers verlassen haben. Dies, so scheint es, war kaum angemessen. Natürlich konnte eine unumwundene Lüge in einigen Fällen zur Nichtigkeit eines Versicherungsvertrages führen. Das tatsächliche Problem war jedoch nicht eine beweisbare Unwahrheit, sondern eher ein nahezu universeller Unwillen, offen über bockige Schmerzen und Leiden oder undiagnostizierte medizinische Zustände zu sprechen. Die Auswahl von Anragstellern für einen Versicherungsvertrag glich unter diesen Bedingungen eher der Zulassung zu einem Gentlemen’s Club. Die Versicherungsgesellschaft musste schlicht von der Ehrenhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit eines Interessenten überzeugt sein. Entsprechend einer Darstellung aus dem Jahr 1843 war es in England nicht unüblich, dass die Versicherungsdirektoren sich nach den intimsten Details aus dem Leben der Bewerber oder Bewerberinnen erkundigten. Diese wurden gefragt, ob sie jemals an bestimmten mit Namen versehenen Krankheiten gelitten haben. Von ihnen wurde verlangt, dass sie einen Arzt und einen privaten Freund als Referenzen angaben, die nicht nur zu ihrem generellen Gesundheitszustand, sondern auch zu ihrem Charakter und zur Art ihrer Lebensführung befragt wurden. Prinzipiell wurde von den Antragstellern erwartet, dass sie vor einem Arzt der Versicherungsgesellschaft und häufig auch vor den versammelten Direktoren der Gesellschaft erschienen, die ohne weiteres ein günstiges medizinisches Urteil aufheben konnten. Der Versicherungsmathematiker Charles Ansell erklärte einem ausgewählten Komitee des House of Commons im Jahr 1843 den „Vorteil, der bisweilen daraus gezogen werden kann, wenn Männer von Welt die zu versichernden Leben untersuchen können; will sagen, dass sich die Gewohnheiten von Menschen häufig in ihrem Auftreten zeigen; und dies führt häufig zu Nachforschungen über die Lebensgewohnheiten des Betroffenen.“3 Es scheint, dass auch in amerikanischen Unternehmen medizinisches Wissen einer grundsätzlichen Einschätzung der Würde und Moral untergeordnet wurde. So blieb beispielsweise die gesundheitliche Verfassung eines Be3

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First Report of the Select Committee on Joint Stock Companies, Parliamentary Papers, House of Commons, 1844, vol. 7, 1, 147-48. Diese Aspekte werden behandelt in Porter (1995b). Zu Problemen des Vertrauens in die Wissenschaft, besonders an Schnittstellen mit dem öffentlichen Leben, vgl. Porter (1995a).

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werbers „den Erwägungen über seinen grundsätzlichen Charakter, seine Reputation und finanzielle Verantwortlichkeit untergeordnet“, selbst nachdem die State Mutual Life Insurance Company 1865 einen versicherungsmedizinischen Direktoren eingestellt hatte. „So dass die Auswahl geeigneter Leben ganz ähnlich wie die Zerlegung des Charakters im Nähzirkel der Dorfkirche ablief.“ (Gage 1917: 6)4 Moralische Standfestigkeit war gleichbedeutend damit, würdig zu sein, sich einer ausgewählten Gesellschaft anschließen zu dürfen, aber es galt ebenso als Ausweis für Langlebigkeit. „Männer, die als Club-Mitglieder und lebensfrohe Naturen bekannt sind, gehören üblicherweise zu den Frühverstorbenen.“ (Emery 1911: 476) Dieser Aspekt des Versicherungswesens hatte bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand und ist niemals völlig verschwunden. Versicherer nehmen an, dass Bewerber für Policen mehr über ihre Gesundheit wissen, als die Unternehmen ohne Umstände herausfinden können und dass sie deshalb höchst wachsam vor einer Negativauslese sein müssen. Daher achten sie mit Sorgfalt auf jegliche Hinweise, dass der Bewerber versuchen könnte, sie auszutricksen oder dass er den Versicherungsvertrag eher als eine spekulative Investition denn als Schutz gegen Einkommensverlust ansehen könnte. Im Allgemeinen weigern sie sich Policen zu verkaufen, die ein Vielfaches des gegenwärtigen Einkommens übersteigen oder die eine Person als Begünstigten nennen, die kein finanzielles Interesse am Leben des Versicherten hat. Häufig untersuchen sie die finanziellen Angelegenheiten eines möglichen Käufers einer großen Police minutiös, zum Teil um die Versicherungsfähigkeit zu ermitteln, zum Teil aber auch um zu versuchen, die Persönlichkeit zu beurteilen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg näherte sich in den USA diese Form der Überwachung – bevor es der Fair Credit Reporting Act (1970) deutlich schwieriger machte, sich auf Hörensagen zu berufen – der Perfektion an. Ermittlungsagenturen wie die Retail Credit Company in Atlanta beschäftigten Tausende von Ermittlern, um einen Einblick in die persönlichen und finanziellen Leben der Bewerber um eine Lebensversicherung zu erlangen. Die Bewerber wurden einer Art Sicherheitscheck unterzogen. Die Ermittler stellten Untersuchungen zu ihrer religiösen, sozialen und politischen Zugehörigkeit an. Sie machten enge Freunde und Geschäftspartner aus und fragten diese Leute nach den beruflichen Verpflichtungen des Bewerbers, nach seinen finanziellen Umständen, Trinkgewohnheiten und seiner allgemeinen Reputation. Sie waren äußerst interessiert an Belegen für irreguläre sexuelle Gewohnheiten. 4

Homer Gage, der zu dieser Zeit bei eben jenem Unternehmen als Leiter der versicherungsmedizinischen Abteilung tätig war, berichtet hier, was sein Vater ihm erzählt hatte. 59

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Natürlich widerstrebte es den Informanten häufig, zu viel über ihre Freunde und Nachbarn auszuplaudern. Also mussten die Ermittler eine Kunst entwickeln Lügen aufzudecken. Wenn mehr als einer der Bekannten nur einen Moment zögerte oder auf eine Frage nach, sagen wir, Alkohol verschwörerisch grinste, konnte dem Bewerber eine höhere Prämie berechnet oder die Police ganz verweigert werden.5 Diese recht persönlichen und oft sehr aufdringlichen Untersuchungen stellten eine Möglichkeit für die Versicherungsgesellschaften dar, mit dem Problem des Vertrauens umzugehen. Eine Alternativstrategie lag darin, sich um größere Objektivität zu bemühen, was in der Domäne der Medizin meist Vertrauen auf Labortests und Instrumentenauswertungen bedeutete. Medizinische Test sind von den Versicherern aktiv vorangetrieben worden. In den 1950er Jahren schrieben Versicherungsmediziner gemeinhin, dass ihr Fachgebiet das einzige sei, dass sich ernsthaft mit dem Problem der Langzeitprognosen auseinandersetze. Seither hatte die Versicherungsmedizin großen Anteil an der Entwicklung und Standardisierung der wichtigsten prognostischen Instrumente. Diese Instrumente wiederum brachten neue Messungen – oder besser gesagt Messungen neuer Objekte – hervor.

Di e L e i t e r d e r versicherungsmedizinischen Abteilungen Es scheint nur natürlich, dass sich Lebensversicherer mit medizinischen Prognosen beschäftigen, aber es war keineswegs selbstverständlich, dass sich dies im Ablesen von Instrumenten manifestieren sollte. Die Praxis des 19. und selbst noch des 20. Jahrhunderts maß dem taktvollen, sensitiven Auftreten des Arztes und dessen Fähigkeit, dem Patienten oder der Patientin eine aufschlussreiche Krankengeschichte zu entlocken, größere Bedeutung bei als irgendetwas, das Instrumente anzeigen könnten (Lawrence 1985). Für den Zweck der Prognose galt taktvolles Auftreten als wenig bedeutsam; dagegen wurde die Krankengeschichte des Patienten im Allgemeinen als beste Quelle für relevante Informationen angesehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war ein neuer Berufsstand, oder zumindest eine Berufsklassifikation, geschaffen worden, um die Gesundheit eines Lebensversicherungsbewerbers zu bewerten. Dieser Stand war 5

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Zu Ermittlungsagenturen siehe Sanford (1946). Beispiele für die Breite der Erwägungen, die als relevant für eine Versicherung angesehen wurden, finden sich in „Case Clinic Discussion“, Journal of Insurance Medicine 1, no. 2 (1946): 45-53 sowie die sehr detaillierte Diskussion in Dingman (1946) S. 158-182, 240-245.

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jener des versicherungsmedizinischen Direktors. Anfänglich untersuchten die versicherungsmedizinischen Direktoren die meisten Bewerberinnen und Bewerber noch persönlich, bevor sie eine Empfehlung an die Unternehmensführer abgaben. Dieser informelle Stil wurde jedoch im späteren 19. Jahrhundert unmöglich, da die Anzahl der versicherten Personen bei den erfolgreicheren Unternehmen in die Hunderttausende und Millionen anwuchs und sich über den ganzen Kontinent erstreckte. 6 Zumindest in den Vereinigten Staaten waren die Direktoren mehr und mehr darauf angewiesen, sich auf weit verstreute Examinatoren zu verlassen. Diese wurden zunächst von den Versicherungsvertretern ausgewählt, deren Kommission von der tatsächlichen Ausstellung der Police abhängig war. Wir können, ebenso wie es die Zentralen der Unternehmen taten, davon ausgehen, dass diese Examinatoren danach ausgewählt wurden, wieweit sie bereit waren, vorteilhafte Empfehlungen auszustellen und nur die offensichtlichsten gesundheitlichen Probleme zu vermelden. Im frühen 20. Jahrhunderts gingen die Leiter der versicherungsmedizinischen Abteilungen dazu über, für jede Stadt oder Region einen oder mehrere autorisierte Examinatoren zu ernennen. Nichtsdestotrotz entwickelten Versicherungsvertreter verschiedene Tricks, um die Entscheidungen der Aufnahmeprüfung zu beeinflussen oder um die Entlassung strengerer Examinatoren zu bewirken, aufgrund der Behauptung, dass diese sich weigerten günstige Hausbesuche zu machen oder weithin unbeliebt waren. Die Association of Life Insurance Medical Directors of America hielt 1890 ihr erstes Treffen ab. Ihre Mitglieder waren Ärzte. Obwohl diese ihren ärztlichen Berufsstand ernst nahmen, arbeiteten sie nicht selbstständig, sondern wurden von Versicherungsunternehmen angestellt. Sie waren im Allgemeinen vom oberen Management weitgehend getrennt. Zu dieser Zeit wurde der Posten des versicherungsmedizinischen Direktors auch klar von dem des Aktuars (bzw. des Versicherungsmathematikers) unterschieden. Aktuare waren in Mathematik ausgebildet, nicht in Medizin. Sie beschäftigten sich nicht mit einzelnen Fällen, sondern versuchten statistisches Material für ausgewählte Kategorien von Menschen zu sammeln, was eine nuanciertere Beurteilung der Moralität ermöglichte. Dies stand in scharfem Kontrast zum traditionellen Individualismus der Mediziner. Dennoch hatten die versicherungsmedizinischen Direktoren bereits 1890 begonnen, sich für die ver6

1910 gab es laut Industriestatistik in den Vereinigten Staaten 209 Unternehmen, die sieben Millionen Policen mit einem Gesamtwert von 13,2 Milliarden US-Dollar ausgestellt hatten. 1925 war diese Zahl auf 247 Unternehmen angewachsen, mit 23,9 Millionen Policen im Wert von insgesamt 58,8 Milliarden US-Dollar (Elston 1926: 332). 61

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sicherungsmathematischen Methoden zu interessieren. Der ärztliche Individualismus rief eine ganze Reihe von Problemen hervor. Wenn ein Unternehmen einen Bewerber oder eine Bewerberin ablehnte, ein anderes Unternehmen, das vermeintlich genauso streng handelte, die Bewerbung akzeptierte, konnte sich der versicherungsmedizinische Direktor auf Beschwerden seitens des Bewerbers oder der Bewerberin und seitens der Versicherungsvertreter gefasst machen. Einer der Hauptgründe für den Aufbau einer Vereinigung versicherungsmedizinischer Direktoren war es offensichtlich, solche Widersprüche zu vermeiden und durch den Austausch von Informationen auf eine einheitlichere ärztliche Praxis hinzuarbeiten und standardisierte Untersuchungsmethoden auszuhandeln. Das größte Hindernis für das Vertrauen auf die persönliche Urteilskraft des Arztes war jedoch das überwältigende Problem des Misstrauens. In der ersten präsidialen Rede vor der Vereinigung betonte Edgar Holden von der Mutual Benefit Company in Newark 1895 genau diesen Punkt. „Wenn wir nicht auf die Gesunden zugingen, kämen die Kranken auf uns zu, und diese sind selten blind für die Leistungen unserer posthumen Philanthropie […]. In den alten Tagen der London Equitable mussten die Anwärter noch persönlich vor den Direktoren erscheinen, und diese entschieden nach einer Probezeit über Annahme oder Ablehnung“. In der anonymeren Welt des Fin de siècle erkannten er und seine Kollegen eine „Befangenheit der Urteilskraft überall dort, wo es um eigene Interessen geht. Der Vertreter, der im Fall der Annahme siebzig oder achtzig oder fünfhundert Dollar erhält, oder der Arzt, bei dem das Wohlwollen und die Gunst eines Freundes auf dem Spiel stehen, oder der den ihn favorisierenden Vertreter nicht vor den Kopf stoßen oder enttäuschen will, kann einem skrofulösen Gelenk, einer Fistel, einer Knochennekrose oder gar einer beschädigten Lunge kaum das ihnen zustehende Gewicht einräumen; und so wird als Konsequenz aus dieser getrübten Wahrnehmung ein Mann mit fünf Punkten über der Grenzlinie präsentiert, obwohl er meilenweit darunter liegt.“ (Holden 1985: 51-57)

Holden folgerte daraus, dass die Unternehmen auf einheitlichere Auswahlkriterien hinarbeiten sollten.

W i s s e n u n d Ag e n c y Die Protokolle der Vereinigung der versicherungsmedizinischen Direktoren wurden „gedruckt für die nicht-öffentliche Zirkulation“. Vielleicht waren die Aufzeichnungen aus diesem Grund erstaunlich freimütig, 62

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bisweilen geradezu im Plauderton gehalten, bis die Beiträge schließlich im Jahre 1940 an das Genre der wissenschaftlichen Literatur angepasst wurden, so dass das höchst sensible Geschäft der versicherungsmedizinischen Direktoren nicht länger verschriftlicht wurde. Deren größtes Problem war der Umgang mit menschlichem Verbergen, Verheimlichung und Betrug. Patienten gaben sich nicht gerade besondere Mühe hilfsbereit zu sein und trieben gelegentlich ein Doppelspiel. Medizinische Examinatoren waren im praktischen Einsatz bisweilen inkompetent, häufig schlecht informiert und arbeiteten grundsätzlich unter Druck, was sie davon abhielt, vollkommen offen mit dem Hauptgeschäftstellen zu kommunizieren. Die höchste Stelle in der Dämonologie der versicherungsmedizinischen Direktoren nahm allerdings der Versicherungsvertreter ein.7 Die Arbeit der Versicherungsvertreter war absolut unabdinglich für den Erfolg der Versicherungsunternehmen. 8 Er musste ein Meister der Überredungskunst sein. Er musste wieder und wieder zu zögernden Kunden zurückkehren, immer bewaffnet mit neuen Argumenten, um sie von der Notwendigkeit einer Lebensversicherung zu überzeugen. Seine Arbeit beruhte auf Eigeninteresse, denn er arbeitete mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Kommission. Unverantwortliche Verkäufe von Vertretern trugen dazu bei, eine Welle von öffentlichen Untersuchungen im Jahre 1905 loszutreten, was schließlich zu einer außerordentlichen Ausweitung staatlicher Regulierung führte. Selbst danach hatten die meisten Vertreter in den folgenden Jahrzehnten kaum oder keine besondere Ausbildung in Versicherungsfragen und arbeiteten größtenteils jenseits der Kontrollmöglichkeiten der Unternehmen.9 Es war unter versicherungsmedizinischen Direktoren ein Allgemeinplatz, und es traf wahrscheinlich zu, dass Lebensversicherungen fast immer verkauft und nicht gekauft wurden. Wenn doch mal ein Bewerber um eine Lebensversicherung aus eigener Initiative auftauchte und nicht durch einen Vertreter angeworben worden war, machte sich dieser automatisch verdächtig: „Wenn ein Anwärter sich freiwillig um eine Lebensversicherung bemüht, stellt er einen Fall dar, der genauer zu beobachten ist,“ erklärte Arthur B. Wood, Aktuar bei der Sun Life Insurance Company (Wood 1911: 454). Die beste Strategie für die Handhabung 7 8 9

Zur Schwierigkeit belastbare Lebensversicherungsinformationen zu erhalten, vgl. Thornton (1935). Zur Bedeutung von Vertretern für die Versicherungswirtschaft siehe Rotman-Zelizer (1979), Kapitel 7. Zum Armstrong Committee in New York, das die originäre und wichtigste dieser Untersuchungen durchführte, vgl. Keller (1963), Kapitel 15. Zu Vertretern, vgl. Stalson (1942), besonders S. 593-604. 63

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der Negativselektion war es, ihr Produkt vor allem bei zögerlichen Kunden feilzubieten, in der Regel bei Männern, die vorher nicht auf die Idee gekommen waren, dass sie eine Lebensversicherung bräuchten. Eine Kategorie von Menschen, derer sich Vertreter vor Mitte des 20. Jahrhunderts nur selten näherten, war die der Frauen. Deshalb wurden in der Regel Versicherungen nicht an Frauen verkauft, sondern letztere entschieden sich dafür, eine Versicherung zu kaufen. Wood erwähnte diesen Umstand, um unvorteilhafte Ergebnisse aus deren Lebensversicherungen nachzuweisen – trotz einer Lebenspanne, die im Allgemeinen derjenigen von Männern gleich war oder diese überstieg (Wood 1911: 449). Sicherlich mussten auch die Gefahren der Geburt mit einbezogen werden. Die versicherungsmedizinischen Direktoren betrachteten dies als eine weitere Form der Negativselektion. Letztlich tendierten Frauen immer dann zum Kauf von Versicherungen, wenn die Risiken der Geburt am größten waren, und Wood unterstellte ihnen eine geradezu okkulte Anfälligkeit für „Schwächen oder versteckte Krankheiten, die dazu neigen das Leben zu verkürzen“ (Strong/Weisse 1929: 307). Die Beharrlichkeit und Verkaufstüchtigkeit der Vertreter richtete sich nicht nur auf potentielle Kunden. Der Leiter der versicherungsmedizinischen Abteilung der Reliance Life Insurance Company, ein O.M. Eakins, nannte sie „die temperamentvollen Halluzinierenden, die das Nervenzentrum seines Unternehmens ausmachten […]. Ein Vertreter, der einmal vom Blut eines versicherungsmedizinischen Direktors gekostet hat, bleibt mit einem unstillbaren Durst zurück.“ (Eakins 1923: 135) Vertreter bekamen schnell heraus, welche Ärzte lockere Untersuchungen zu machen pflegten und wickelten all ihre Geschäfte über diese ab. Die Unternehmen versuchten dem zu begegnen, indem sie einen oder mehrere medizinische Examinatoren für jede Region ernannten und festlegten, dass alle Abschlüsse durch deren Hände gehen mussten. Wenn dieser Examinator zu streng erschien, versuchten die Vertreter seine Entlassung zu erwirken, indem sie sich beschwerten, dass er in seiner Nachbarschaft unbeliebt sei oder sich geweigert habe für eine Untersuchung eine Reise auf sich zu nehmen oder Patienten so lange warten ließ, bis letztere sich die Notwendigkeit einer Lebensversicherung nochmals überlegten. Kurz gesagt verfügten die Versicherungsvertreter über eine große Zahl an Kunstgriffen, um ihren Einfluss auf diese angestellten Mediziner auszuweiten, was es für die Unternehmen schwierig oder unmöglich machte, sich auf etwas so Unbeständiges wie die professionelle Einschätzung eines unabhängigen Arztes als Kriterium für die Annahme oder Ablehnung einer Bewerbung um eine Lebensversicherung zu verlassen.

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Die beste Alternative war scheinbar, die medizinische Untersuchung als eine regelbestimmte Übung zu rekonfigurieren. Dies sollte zu größerer Übereinstimmung führen und so die Lücken schließen, die die Vertreter gerne ausnutzten. Außerdem erhöhten Regeln, die auf versicherungsstatischen Daten beruhten, ganz grundsätzlich die Glaubwürdigkeit von Entscheidungen. R.L. Lounsberry von der Security Mutual erklärte: „Wenn du in der Lage bist, deinem Vertreter zu erklären, dass die Sterblichkeit in dieser Kategorie ungefähr so und so sein wird, dass es sich dabei nicht um eine Vermutung sondern um die Wahrheit handelt, da du tausende von versicherten Leben studiert hast und weißt wovon du sprichst, wirst du ihn überzeugt haben, dass sein Geschäfts weder willkürlich noch oberflächlich behandelt wird.“ (Lounsberry 1908: 240)

Nu m e r i s c h e M e t h o d e Die numerische Methode zur Einschätzung von Lebensversicherungsanwärtern wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von Oscar Rogers, einem Arzt und versicherungsmedizinischen Direktor, und Arthur Hunter, einem Versicherungsmathematiker, ausgearbeitet. Zunächst war sie umstritten, vor allem weil sie als eine mechanische Alternative zur ärztlichen Diagnose und damit als Bedrohung für die Expertise der medizinischen Direktoren angesehen wurde. Rogers und Hunter stritten dies immer ab und bestanden darauf, dass die numerische Methode das ärztliche Urteil nicht ersetzte, sondern eine Grundlage für die Urteilsbildung darstellte. Dennoch war diese Fehlinterpretation entschuldbar. Als ihr Unternehmen, die New York Life, das jährliche Treffen der Vereinigung der versicherungsmedizinischen Direktoren ausrichtete, hielt ihr Chef eine Eröffnungsrede, die die ärztliche Arbeit als subjektiv und veraltet abtat: „In gewissem Sinne tut ihr Jungs mir leid, denn ich denke, ihr werdet aus euren Jobs verdrängt. Ich kann bereits erkennen, was passieren wird. Der Statistiker und der Chemiker und der Aktuar werden euch aus dem Markt drängen […]. Die alten Zeiten, in denen Risiken nach den Launen der versicherungsmedizinischen Direktoren beurteilt und Anwärter akzeptiert oder abgelehnt wurden, je nachdem ob das Frühstück des Direktors nach seinem Geschmack war, neigen sich dem Ende zu. Risiko wird heute auf Grundlage der Fakten bestimmt, nicht mehr aufgrund von Meinungen oder Mutmaßungen. Heute handeln wir auf statistischer Basis […] [Über kurz oder lang] wird [der versicherungsmedizinische Direktor] aussterben. So läuft das heute im modernen Geschäftsleben.“ (Kingsley 1922: 6-8) 65

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Die Leiter der versicherungsmedizinischen Abteilungen waren nicht völlig anderer Meinung. Sie äußerten sich etwa wie folgt: „Einheitlichkeit“ sei die „Grundlage aller Wissenschaft“ (Stebbins 1895: 70); „die Auswahl von Leben für die Versicherung sollte einer exakten Wissenschaft ziemlich nahe kommen“ (Burrage 1902: 315); „Standardisierung heißt heute die Maxime. So kam es in der Produktion, im Geschäftsleben, im Handel, in der Bildung, überall“ (Dillard/Chapman 1921: 179); „die Standardisierung der Untersuchungen in der medizinischen Versicherung ist wünschenswert“ (Daley 1928: 16). Dennoch waren sie wenig geneigt, ihren Berufsstand als überflüssig anzusehen. Die Direktoren verstanden Zahlen im Allgemeinen als Hilfsmittel beim ärztlichen Urteil. Ein anderer ärztlicher Angestellter der New York Life, Rufus W. Weeks, schrieb dazu: „Jeder, der sich auf kritische Art und Weise mit Statistik beschäftigt hat, weiß, dass Zahlen im Naturzustand großartige Lügner sind; dass sie ebenso großer Zähmung und Übung bedürfen, damit aus ihnen die Wahrheit sprechen kann, wie es der Hände eines Missionars bedarf, um aus einem Heiden einen guten Christen zu machen.“ (Weeks 1907: 164-165) Die versicherungsmedizinischen Direktoren bemühten sich in diesem Sinne darum, die Ergebnisse der medizinischen Untersuchung für die versicherungsmathematische Analyse nutzbar zu machen. Laut Oscar Rogers hat die New York Life 1903 einheitliche Standards zur Risikobeurteilung aufgestellt. Jeder, der mit diesen Bemühungen zu tun hatte, bestand darauf, dass sie absolut erfolgreich waren. Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein sorgsam gehütetes Rezept für eine Art Wettbewerbsvorteil. Rogers war ein entschlossener Verfechter wissenschaftlicher Offenheit. Wie viele andere versicherungsmedizinische Direktoren wollte er die Anzahl jener Interessenten reduzieren, deren Antrag für eine Versicherung vom Unternehmen abgelehnt und die dann als Standardrisiko bei einem anderen Unternehmen aufgenommen wurden. Rogers erklärte seine Methode als die Form der Evaluation, die natürlicherweise von jedem Verstand angewandt würde. „Wenn wir bei der Beurteilung von Risiken unsere Gedankengänge analysieren, werden wir herausfinden, dass jeder günstige oder ungünstige Faktor – je nachdem welchen Eindruck er bei uns hinterlässt – dazu beiträgt, unser Urteil für oder gegen dieses Risiko zu lenken, und so schwankt unser Urteil mal in die eine, mal in die andere Richtung, so lange bis die Konklusion, zu der wir nach reiflicher Überlegung gekommen sind, sozusagen das Resultat eben dieser Schwankungen darstellt. Es ist, als ob jeder Faktor einen bestimmten positiven oder negativen Wert hätte, und unser endgültiges Urteil die algebraische Summe dieser Kräfte wäre.“ (Rogers 1906: 7)

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Leider waren diese spontanen Gedankenschritte nur schlecht standardisiert. Man brauchte, so Rogers weiter, „eine Auswahlgrundlage, aus der die persönliche Schlussfolgerung verbannt wäre, – eine Auswahl, bei der das sprunghafte Urteil des Individuums so weit wie möglich durch die Ergebnisse einer statistischen Untersuchung ersetzt wären“ (Rogers 1908: 227-228) Die Vereinigung der versicherungsmedizinischen Direktoren unterstützte diese Bemühungen aktiv. Sie förderte, manchmal alleine, manchmal in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Amerikanischen Versicherungsmathematiker (Actuarial Society of America), eine Reihe von Studien über verschiedene Risikofaktoren und bemühte sich darum, die jeweils mit diesen Faktoren assoziierte Sterblichkeit messbar zu machen (Moorhead 1989: 111-112). Die Arbeit von Rogers und Hunter war Teil dieser Anstrengungen. Die beiden Autoren schlugen vor, dass jede Versicherungspolice zur Prämienkalkulation neun Faktoren berücksichtigen solle: Körperbau, Familiengeschichte, physische Gesundheit, persönliche Krankengeschichte, Gewohnheiten, Beruf, Umgebung, moralische Risiken (moral harzard) oder versicherbare Zinsen, sowie das Versicherungsangebot, um das der Antragsteller sich beworben hatte. All diese Faktoren konnten statistisch erfasst werden, vielleicht mit Ausnahme des moral hazards (was sich hier auf gefährliche oder unmoralische Angewohnheiten des Versicherten und besonders etwaige betrügerische Absichten bezog). Rogers und Hunter veröffentlichten unzählige Tabellen, die auf ihrer eigenen Erfahrung und der von anderen Unternehmen basierten und die bestimmten Berufsgruppen, körperlichen Beeinträchtigungen, der Krankengeschichte und ähnlichen Kriterien ein prozentual erhöhtes Risiko zuschrieben. Kerngedanke ihrer Idee war, dass ein Leiter der versicherungsmedizinischen Abteilung oder ein Büroangestellter jeden Faktor für sich betrachten konnte – hier 20 Prozent für einen risikoreichen Beruf und 25 Prozent für einen unwesentlich erhöhten Blutdruck addierend, da zehn Prozent für eine exzellente Familiengeschichte abziehend – bis am Ende dieser Übung eine einzelne Zahl resultierte, die das relative Risiko, das mit diesem bestimmten Leben verbunden war, darstellte. Die numerische Methode von Rogers und Hunter war um 1920 zur Standardmethode für Lebensversicherer geworden. Natürlich handelte es sich nicht einfach um ein neues Protokoll, dem die versicherungsmedizinischen Direktoren bei der Bewertung von Antragstellenden zu folgen hatten. Sie beruhte darauf, dass Versicherungsvertreter und medizinische Examinatoren Informationen sammelten, die für die neue Berechnungspraxis verwertbar waren. Standardpolicen waren davon wohl weniger betroffen, denn diese wurden für Leben ausgestellt, die keine ernsthaften 67

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Beeinträchtigungen aufwiesen. Das auffälligste Resultat der numerischen Methode und der umfangreichen Untersuchungen zur Sterblichkeit, die die Implementierung dieser neuen Methode erst möglich machten, war, dass es die gewaltige Ausweitung von sogenannt anormalen oder minderwertigen (auf englisch: substandard) Versicherungspolicen erleichterte. Die Lebensversicherer tendierten traditionellerweise dazu, die Versicherten als Clubmitglieder zu behandeln und die Prämien nur auf Grundlage des Alters zwischen ihren Mitgliedern zu unterscheiden.10 Einem Anwärter, der in die Tropen gezogen war, der mit dem Schnapshandel in Verbindung gebracht wurde, der in halbseidene finanzielle Geschäfte verstrickt war oder der einmal gegen Syphilis behandelt worden war, blieb der Zugang zu diesem Club aus einem eigentümlichen Mix von moralischen und medizinischen Gründen verwehrt. Aber wenn man Barmännern einfach einen Wert von 80 Prozent oder einem ehemaligen Syphilispatienten eine andere Zahl, die auf der Art der Symptome und der seit der Behandlung verstrichenen Zeit basierte, zuweisen konnte, wurde es möglich, auch auf deren Leben Policen auszustellen. Rogers sah es als ein löbliches Ideal, dass jedem Anwärter auf eine Lebensversicherungspolice eine solche auch angeboten werden konnte, selbst wenn es eine teurere sein musste. In der Versicherungspraxis war dieses Anliegen allerdings in jenen Fällen ziemlich unrealistisch, die durch eine besonders hohe Zahl negativer Eigenschaften der strengsten Negativauslese ausgesetzt waren. Jemand, der eine Police mit einer Prämie angeboten erhielt, die ein Vielfaches über den Standardprämien lag, lehnte diese Police meist ab, wenn er nicht gerade wusste, dass seine Gesundheit äußerst gefährdet war. Und Menschen mit einem solchen Wissen starben sogar schneller als es die Sterbetafeln prognostizierten. Die neue Methode der Standardtests und der angepassten Prämien erlaubte es aber, den weniger hart Gebeutelten, die im alten System schlicht abgelehnt wurden, Lebensversicherungen neu zu einem erhöhten Tarif anzubieten. Zwei weitere Auswirkungen der numerischen Methode und des damit verbundenen Objektivitätsregimes verdienen Beachtung. Erstens reduzierte die Methode den Grad der Expertise, der für die Einwerbung von Lebensversicherungen notwendig war. Rogers und Hunter brüsteten sich damit, dass in ihren Büros die meisten Fälle nun von Büroangestellten erledigt werden konnten und keine Prüfung durch die versicherungsmedizinischen Direktoren oder medizinisch ausgebildete Assistenten mehr erforderten. Dies schloss, so betonten die beiden, eine große Gruppe anormaler Fälle ein, deren Prämien nun mit einem Blick auf eine

10 Dies geht auf die frühen Anfänge des Lebensversicherungswesens zurück, vgl. Clark (1993) 68

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Tabelle bestimmt werden konnten. Skeptiker entgegneten, dass auch einfache Büroangestellte nicht nach mechanischen Methoden arbeiten würden, aber Rogers erwiderte, dass bei der New York Life eine außergewöhnlich hohe Anzahl von Fällen routinemäßig behandelt werden konnte (Rogers/Hunter 1919a: 102, 129-173). Allerdings mussten die Angestellten auch bei der numerischen Methode in der Lage sein, problematische Umstände, die den Beizug einer Expertenmeinung verlangten, zu erkennen. Weil das Geschäftsfeld aber stark expandierte, erlangten auch Angestellte ohne medizinische Ausbildung ein solches Expertenwissen. Diese Angestellten waren die alten Lebensversicherungsagenten. Insgesamt aber beinhaltete die Weiterentwicklung der Methoden und Regeln dieser Urteilsbildung ein Element von Qualifikationsverlust. Dieser Qualifikationsverlust erreichte auch die Büros der medizinischen Examinatoren. Der in der Versicherungspraxis tätige Arzt, dessen Verlässlichkeit und Integrität von der Zentrale nun bezweifelt werden konnte, wurde zunehmend gebeten, lediglich die Ergebnisse von Tests und Messungen zu übermitteln and nicht mehr gutachterlich über die Eignung eines Bewerbers für eine Lebensversicherung zu urteilen. So erklärte etwa Edwin W. Dwight von der New England Mutual 1920, er würde seinen medizinischen Examinatoren nicht zutrauen, zu entscheiden was wichtig sei beziehungsweise Entscheidungen fürs Unternehmen zu fällen. „Wir erwarten, dass unsere Männer uns die Fakten liefern und die Entscheidung über deren Bedeutung uns überlassen“ (Dwight 1920: 65). T.H. Rockwell von der Equitable fügte hinzu, dass sich die Richtlinien der Hauptgeschäftsstelle änderten, und dass der versicherungsmedizinische Direktor einen Datenzugang habe, über den der medizinische Examinator nicht verfüge. Alles, was er von letzteren erwarte, seien „exact facts“, die mittels eines standardisierten Erhebungsbogens aufzunehmen waren (Rockwell 1920: 68).11 Rogers drängte darauf, dass die Methode nur auf Tests basieren dürfe, die man anhand einer „äußerst simplen Methode“ ausführen könne, „einer Methode, die unsere Examinatoren anzuwenden verstehen, was uns letztlich erlaubt, zwischen den ernsthaften und den unbedeutenden Arten von Anormalitäten zu unterscheiden“ (Rogers 1928: 223). Ein weiteres wichtiges Anliegen der numerischen Methode war zu vermeiden, dass Versicherungsagenten Schwächen der Antragstellenden verheimlichten, weil sie befürchteten mit einer Ablehnung des Antrags 11 Keller bemerkt, dass der massive Anstieg und die damit einhergehende Bürokratisierung um die Jahrhundertwende die Lebensversicherungsunternehmen dazu verleitete, die Unternehmensmacht im Hauptsitz zu zentralisieren (Keller 1963: 37). Zu den standardisierten Erhebungsbögen siehe Yates (1989). 69

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auch die ihnen zustehende Kommission zu verlieren. Eakins betonte diese Besonderheit in einer Verteidigung der numerischen Methode: Unsere Vertreter verstünden, so schrieb er, „dass Meinungen oder Versprechungen oder Drohungen oder das letzte Druckmittel, der Wettbewerb, die Antwort auf eine arithmetische Summe nicht ändern“. Dr. Hamilton von der Sun Life legte nahe, dass es besonders effektiv wäre, wenn alle Unternehmen die gleichen Berechnungsweisen übernähmen. Unterschiede in den Tarifen für anormale Risiken, so Hamilton, machten die Vertreter immer stutzig und seien für die meisten Bewerber, die „willkürliche Entscheidungen verachteten, […] vollkommen unverständlich“ (Eakins 1920: 197; Scadding 1922). Eine rigorose numerische Methode würde dabei helfen, die Unregelmäßigkeiten zwischen den verschiedenen Unternehmen zu beseitigen. J. Allen Patton von der Prudential identifizierte 1929 die numerische Methode als zentralen Faktor für den Fortschritt hin zu einem „Jahrtausend“ der „Gleichbehandlung“ aller Lebensversicherungsanträge. Ohne diese gäbe es kein Mittel gegen die Beschwerden der Vertreter, wenn Anwerber von ihrem eigenen Unternehmen abgelehnt, von einem anderen, für seine strengen Aufnahmekriterien bekannten Unternehmen jedoch aufgenommen würden (Patton 1929: 14). Schließlich lieferte der Rückgriff auf die statistisch begründete numerische Methode ein Rechtfertigungsargument gegen die Regulationsbehörden, die argwöhnten, dass gestufte Tarife lediglich ein Trick der Unternehmen waren, aus schutzlosen Kundinnen und Kunden einen Vorteil zu ziehen und einen Mehrgewinn zu generieren.12

Instrument e und Standardisierung Charles F. Martin, Leiter der medizinischen Abteilung der State Life Insurance Company, nahm an, dass das numerische System auf einem fundamentalen Fehler beruhe. Er legte dar, dass „subjektive Symptome und Beschwerden“ informativer für die Beurteilung der Konstitution des Herzens seien als das Ablesen von Stethoskopen. Einige wenige und hastig umgesetzte Messungen könnten niemals das liefern, was versicherungsmedizinische Direktoren wirklich bräuchten, nämlich einen Eindruck der allgemeinen Gesundheit des Antragstellers. Rogers hatte ein gewisses Verständnis für diese Position.

12 Siehe die Aussage von Rufus Weeks, Chefaktuar bei der New York Life, in Armstrong (1906), S. 1109-1112. 70

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„In Bezug auf Dr. Martins Beitrag stimme ich vom medizinischen Standpunkt aus mit jedem einzelnen Punkt überein, widerspreche aber größtenteils vom Standpunkt der Lebensversicherer […]. Wir können Versicherungsanwärter nicht der gleichen sorgfältigen Prüfung unterziehen, die ein niedergelassener Arzt für die Behandlung seiner Patienten aufwenden kann.“ (Rogers 1911: 406-407)

Der medizinische Examinator bekomme den Bewerber nur einmal zu sehen. Und der Patient, der offen zu seinem Arzt sei, verheimliche Dinge vor dem Versicherungsunternehmen (Martin 1911). Vor diesem Hintergrund gab es für die Versicherung nichts Wichtigeres als einfache, verlässliche Untersuchungsinstrumente, die nicht von den differenzierten Fähigkeiten oder dem feinsinnigen Urteil eines medizinischen Examinators abhingen und die die übliche Verschwiegenheit der Bewerber überwinden konnten. Die Unternehmen brauchten messbare Objekte und passende Messwerkzeuge. Der Wert objektiver Messungen für die Einschätzung einer Versicherung wurde bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt. Der Prototyp solcher Informationen bedurfte überhaupt keiner besonderen Instrumente. Ein Autor einer Publikation des 1850 gegründeten (englischen) Institute of Actuaries betonte, dass der Körperbau einen wichtigen Kennwert für Versicherungsmathematiker bei der Beurteilung eines Bewerbers um eine Lebensversicherung bieten kann: „Wenn zum Beispiel ein Antrag eingesandt wird, der lediglich durch die Ansicht eines Sachverständigen, den wir nicht kennen, unterstützt wird, dass ‚keine Anzeichen für eine Erkrankung erkennbar‘ seien und dass ‚der Anwärter eine robuste Erscheinung‘ habe, so ist unser Wissen um seine Konstitution in der Tat begrenzt. Doch wenn zudem hinzukommt, dass er 1,72 Meter [five feet eight inches] groß ist und 70 Kilogramm [154 pounds] wiegt, verspüren wir eine gewisse Sicherheit, ihn annehmen zu können […]. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass dies die Begründung eines Ablehnungs- oder Aufnahmeentscheids, die der Direktor bisweilen von seinen medizinischen Beratern verlangen mag, sehr vereinfacht; denn diese hängt von einer für jeden verständlichen Beweisführung und der Reduktion auf Zahlen ab […] und kann so die Unbestimmtheit einer bloßen negativen Ansicht vermeiden.“ (Chambers 1850: 88)

Dieser Einschätzung schlossen sich auch Rogers und seine Mitarbeiter an, entsprechend wurde an den frühen Zusammenkünften der versicherungsmedizinischen Direktoren nach 1900 häufige über den Zusammenhang von Körperbau und Sterblichkeit diskutiert. Die Verhandlungsprotokolle beinhalten umfassende Tabellen und Empfehlungen zum Umgang mit besonders risikoreichen körperlichen Eigenschaften wie etwa 71

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dem Bierbauch. Rogers erster umfangreicher Aufsatz war eine Studie aus dem Jahr 1901 zum Thema „Körperbau als Einflussfaktor für Langlebigkeit“ (Rogers 1901). Sogar noch in den 1940ern war das Verhältnis von Gewicht zu Größe der Prototyp medizinischer Versicherungsinformation, denn der Wert konnte einfach ermittelt werden und variierte nicht von einem Moment oder Tag zum nächsten. Der Körperbau sollte gemäß dem Lehrbuch von Herbert Dingman aus dem Jahr 1946: „der Ausgangspunkt in der Risikoeinschätzung sein. Dies ist jener singuläre Bereich im Versicherungswesen, für den zuverlässige und positive Informationen für 100 Prozent der Fälle erhältlich ist. Die Beurteilung der physischen Verfassung kann Fehlern oder Meinungsunterschieden unterliegen. Lebensumfeld und Beruf können sich ändern. Gewohnheiten und moralische Gefährdungen [moral hazard] können falsch interpretiert werden. Persönliche Krankengeschichten können falsch angegeben werden. Familien- und Rassengeschichten können auf falschen Hinweisen beruhen.“ (Dingman 1946: 10-11)13

Anfänglich erachteten die Unternehmen den Mittelwert als das Normale und verhängten unvorteilhafte Quoten für positive wie negative Abweichungen vom Mittel. Niedriges Gewicht wurde als mögliche Gefahr einer Schwindsucht (Tuberkulose) interpretiert, während hohes Gewicht in Relation zur Körpergröße ein erhöhtes Risiko von Herzproblemen implizierte. Mit der Zeit wurden nachteilige Einstufungen mehr und mehr mit Übergewicht gleichgesetzt. Vertreter beschwerten sich natürlich in jedem einzelnen Fall, dass der Aspirant keineswegs fett sei, sondern einfach nur einen schweren Knochenbau habe oder muskulös sei. Die versicherungsmedizinischen Direktoren auf der anderen Seite sammelten Belege dafür, dass selbst schwer gebaute Männer einem erhöhten Risiko unterlägen. Keine dieser Erkenntnisse war vor dem Moment, in dem die Versicherungsunternehmen ihre Nachforschungen begannen, bereits evident. Während die weitgehende Auffassung bestand, dass Fettleibigkeit zu einem frühen Tod beitragen könne, wurde Beleibtheit als Anzeichen für eine robuste Gesundheit gedeutet. Mit der Risikoabschätzung anhand von Größe und Gewicht stützten sich die Versicherungsunternehmen nicht auf verbürgtes medizinisches Wissen. Informationen zum Körperbau wurden erst als Ergebnis aus den Bemühungen der Unternehmen selbst zu einer verlässlichen Grundlage für differenzierte Mortalitätsprognosen. In noch stärkerem Maße als Gewicht wurde der Blutdruck zu einem bevorzugten Untersuchungsgegenstand der versicherungsmedizinischen 13 Der Begriff der „Rassengeschichte“ bezieht sich hier wohl auf die Rasse oder Ethnie der Vorfahren. 72

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Direktoren auf deren Suche nach objektiven Beurteilungskriterien für die medizinische Prüfung der Anwärter. Die Historikerin Audrey Davis konnte zeigen, dass das Blutdruckmessgerät größtenteils deshalb zum medizinischen Standardinstrument avancierte, weil es in Lebensversicherungsuntersuchungen eingesetzt wurde (Davis 1981). 14 Die Beiträge zu den Treffen amerikanischer Versicherungsmediziner stützen ihre These. Der Einsatz dieses, am effektivsten von John W. Fisher von der Northwestern verfochtenen Instruments war Teil einer eigentlichen Kampagne der Versicherungsunternehmen mit dem Ziel, die medizinische Praxis zu transformieren. Exemplarisch zeigt sich dies an einer Debatte zwischen versicherungsmedizinischen Direktoren um 1901. Fisher wurde gefragt, ob die Unternehmen die Mediziner extra für Blutdrucktests bezahlten. Er antwortete, dass sie dies in der Regel nicht taten. Sollten die Unternehmen das Instrument zur Verfügung stellen? Nein, antwortete er, „ebenso wenig, wie wir ein Stethoskop zur Verfügung stellen würden. Wir erwarten, dass unsere Examinatoren auf der Höhe der Zeit sind und diese Instrumente selber besitzen“ (Fisher 1911). Mögliche Einnahmen aus Versicherungsuntersuchungen bildeten einen der Hauptanreize für einen Mediziner, solche Instrumente anzuschaffen und einzusetzen – und sich selbst gleichsam in die Liste der Männer auf der Höhe der Zeit einzuschreiben. Die Northwestern begann laut Fisher 1907 damit, eine Blutdruckmessung von allen Anwerbern zu verlangen, die älter als 40 waren, manchmal auch von jüngeren. Er hielt das Blutdruckmessgerät für ein unverzichtbares Instrument.15 Die bloße Entscheidung ein Instrument zu verwenden hieß noch nicht, dass es auch praktikabel war. Auch wenn Versicherungsuntersuchungen eine beträchtliche Einnahmequelle für einzelne Ärzte – und sogar den gesamten Berufsstand – darstellen konnten, hatten die untersuchenden Mediziner ein Problem, diese Instrumente in die Hände zu bekommen. Zunächst gab es keine zuverlässigen Blutdruckmessgeräte, die zu einem Bewerber nach Hause mitgenommen und dort eingesetzt werden konnten. Rogers nutzte die Gelegenheit, die sich durch einen Aufsatz von Fisher bot, den versammelten versicherungsmedizinischen Direktoren ein neuartiges, tragbares Instrument vorzustellen, das er selbst erfunden hatte und das er einem Hersteller in Lizenz zu übergeben beab-

14 Zur Einführung medizinischer Testverfahren in einem Unternehmen, siehe Clough (1946), S. 288-290. 15 Siehe die Diskussionen zum Blutdruckmessgerät in PALIMDA 2, twentieth annual meeting, 1909, S. 256a. 73

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sichtigte.16 Er arbeitete wie andere ständig weiter an neuen Verbesserungen. Ein Problem stellte daneben auch die Standardisierung dar, also eine Methode zu entwickeln, die über den einzelnen Untersucher hinaus relativ uniforme Ergebnisse liefern würde. Dies war offenbar besonders schwierig, da ein bestimmtes Individuum, je nach Zustand seiner Nerven und anderer Faktoren, höchst variable Messwerte aufweisen konnte. Medizinische Examinatoren wurden im Fall von hohen oder grenzwertigen Blutdruckergebnissen ermutigt, die Messung einmal oder mehrmals, vielleicht auch an einem anderen Tag, zu wiederholen. Auch die Versicherungsvertreter hatten diese Schwankungen bald entdeckt und boten ihren Kunden schnell Rat an, wie sie ihren Blutdruck senken konnten. Ein Leiter einer versicherungsmedizinischen Abteilung meldete 1928 den Fall eines Vertreters, der seinen medizinischen Examinatoren eine zweite Entlohnung in Höhe von zwei Dollar für die Untersuchung bezahlte, damit diese einen neuen Blutdrucktest machten, wenn der erste zu hohe Werte ergab (Davis 1981: 400-401; Alton 1928). Schließlich war es notwendig Daten zu sammeln, die einen Zusammenhang zwischen Blutdruckmesswerten und Sterblichkeit herstellten. Die einzige Quelle für solche Daten waren die Unternehmen selbst. Fisher präsentierte Ergebnisse von der Northwestern. Hunter und Rogers arbeiteten wie immer an einer Zusammenstellung von Ergebnissen verschiedener Unternehmen und waren um Einblicke in die Sterblichkeit von abgelehnten Bewerbern bemüht, besonders wenn diese erhöhte Blutdruckwerte hatten. Zunächst wurde nur der systolische Druck routinemäßig gemessen, und bis ungefähr 1930 waren sich die Direktoren nicht klar über die Bedeutung diastolischer Blutdruckmessungen. Bald jedoch begannen die Unternehmen, Risikotabellen für beide Maßeinheiten zu erstellen. Gegen Ende der 1930er stieg die „Hypertonie“ zum Problem nationaler Größenordnung auf, was nach systematischen Tests und gesundheitspolitischen Initiativen rief (Fisher 1913; Rogers/Hunter 1911; Rogers/Hunter 1923; Rogers/Hunter 1926). Die Gefahren der Hypertonie wurden somit durch die Versicherungsunternehmen entdeckt, 20 Jahre bevor sie die Aufmerksamkeit von Klinikern erregten. Blutdruckmessungen erhielten also nicht als Konsequenz einer neutralen medizinischen Forschung oder aus ärztlicher Sorge um die individuellen Patientinnen und Patienten Einzug in die Medizin. Vielmehr geschah dies als Teil der Bemühungen von Lebensversicherungsunternehmen, bessere und objektivere Mittel zur Mortalitätsprognose zu entwickeln (Scholz 1940: 260). 16 Rogers kommentierte Fishers „Diagnostic Value“ (Rogers 1911). Ein Jahr später gestand er, dass er einige Fehler entdeckt hatte und präsentierte ein, wie er hoffte, korrigiertes Instrument: Rogers (1912), S. 94. 74

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Vergleichbares, wenn auch nicht im selben Ausmaß, kann über die Elektrokardiographie gesagt werden. Auch hier trug die Versicherungsuntersuchung viel zur Entwicklung und Ausbreitung dieser Methode bei. Robert Frank weist in einem ausgezeichneten historischen Essay darauf hin, dass die Verwendung von Instrumenten zur Messung der Herztätigkeit von Anfang an motiviert war durch den Wunsch nach präziser Aufzeichnung, „die nicht von der Sinnesschärfe des Arztes abhing“ (Frank 1988: 212).17 H.F. Taylor, assoziierter Versicherungsmediziner der Aetna, machte 1931 den Einwand, dass die Unternehmen aufgrund kardiovaskulärer Unregelmäßigkeiten Geld verlören und gegebenenfalls aufhören müssten, Fälle mit Herzerkrankungen zu versichern. Die beste Diagnosehilfe, nämlich eine von einem ausgebildeten Kardiologen angefertigte, detaillierte Krankengeschichte, stehe den Versicherern selten zu Verfügung. Aber, so fügte er hinzu, diese könnten aus „den weniger wichtigen instrumentellen Diagnosehilfen“ einen Vorteil ziehen, im Besonderen aus der Elektrokardiographie (Taylor 1931: 165). Harry Ungerleider von der Equitable ergänzte in einem Kommentar, dass die „aus der Elektrokardiographie abgeleiteten Informationen begrenzt sein mögen, aber verlässlich sind sie“ (Ungerleider 1931). Taylor empfahl, dass ein Elektrokardiogramm von allen Bewerberinnen und Bewerbern über 50 oder von jenen, die mehr als fünfundzwanzigtausend Dollar Versicherungssumme anstrebten, verlangt werden sollte (Taylor 1931). Haynes Harold Fellows von der Metropolitan stimmte dem zu. „Wir alle wissen, dass es häufig ein sehr schwerwiegendes Problem darstellt genug medizinische Daten zu ermitteln, um im Fall bestimmter Versicherungsanwärter zu einer ausgewogenen Schlussfolgerung zu gelangen. Krankengeschichten werden – manchmal unwissentlich, manchmal absichtlich – zurückgehalten. Ich bezweifle, dass der Antragsteller jemals die Aufmerksamkeit des untersuchenden Arztes auf eine bekannte physische Beeinträchtigung lenkt, und es ist nicht gänzlich unmöglich, dass es bisweilen Versuche gibt, körperliche Einschränkungen zu kaschieren oder zu verbergen […]. Wir brauchen also zwangsläufig eine kostensparende, praktische, tatsachenbasierte Untersuchungsmethode, die sich der nützlichen Entwicklungen der Medizin, ganz so wie sie eintreten, bedient.“ (Fellows 1931: 202)

Gleichzeitig erforschten Versicherungsunternehmen in den frühen 1930ern den Einsatz von Röntgenstrahlen für die Beurteilung des Zustands von Herz und Lungen. Sowohl Röntgenbilder als auch Elektrokardiogramme hatten den Vorteil, dass sie eine fassbare (Bild-)Spur 17 Zu medizinischen Instrumenten und quantitativen Messungen, vgl. Howell (1995). 75

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hinterließen. Die Spezialisten dieser Instrumente mussten sich nicht auf eine Expertenmeinung verlassen. Man sollte von ihnen verlangen, so W.E. Thornton von der Lincoln National im Jahr 1935, dass sie ihre Röntgenbilder und Graphiken mit einschickten, und damit „die Überlegenheit unseres eigenen Urteils in unserem eigenen Bereich zugestehen“ müssten (Thornton 1935: 238). Auch sollten sie „angehalten werden, ihre Untersuchungen gemäß standardisierter Vorgaben, wo immer diese durch die Versicherungsmedizin festgesetzt wurden, durchzuführen und zu melden“ (Thornton 1935: 239). Einmal mehr arbeiteten die versicherungsmedizinischen Direktoren darauf hin, den Einsatz der Instrumente mit zu gestalten; sie waren keinesfalls passive Begünstigte des medizinischen Fortschritts. Earl C. Bonnett von der Metropolitan erklärte 1940, dass sein Unternehmen noch ein Jahrzehnt zuvor nicht gewusst hätte, wie man ein normales von einem abnormalen Elektrokardiogramm unterscheidet (Bonnet 1940). Frank Wilson, Medizinprofessor an der University of Michigan, stellte ein paar Jahre früher die Behauptung auf, dass es an den Versicherungsunternehmen sei, die Grenzen der Normalität zu definieren, da diese allein über große Mengen an normalen Elektrokardiogrammen verfügten (Wilson 1937: 96-97). Man sollte jedoch hinzufügen, dass diese nicht einfach zu erhalten waren. 1930 war das Aufzeichnungsgerät noch immer nicht weithin verfügbar. Die Nachfrage seitens der Versicherungsunternehmen war allerdings ein wichtiger Faktor für dessen Verbreitung. Ungerleider hielt fest, dass Versicherer so großen Enthusiasmus für diese Tests aufbrachten, dass es eine gewisse Neigung gegeben habe, den Schwanz mit dem Hund wedeln zu lassen (Ungerleider 1936).18 Die Nachfrage der Unternehmen nach neutralen Informationen war unterdessen stark gewachsen. Während die Unternehmen einerseits dabei halfen, die medizinische Praxis in Richtung einer systematischen Verlässlichkeit von Tests und Messungen zu transformieren, half ihre Nachfrage nach schneller Informationsverarbeitung, die moderne Computertechnologie zu erschaffen und mit zu gestalten (Yates 1993). Die intensive Suche der Versicherer nach zuverlässigen und objektiven Möglichkeiten zur Prognose der Lebenserwartung spiegelt vor allem den Wunsch wider, im Vergleich zu dem Wissen, das Anwärter über ihre eigene Gesundheit haben, nicht benachteiligt zu sein. Dabei ließen sie kaum etwas unversucht. 1949, als das Journal of Insurance Medicine ein „Symposium zur Prognose“ veranstaltete, war einer der eingeladenen Teilnehmer der berühmte Parapsychologe J.B. Rhine aus Duke. Er äu-

18 Zur Rolle der Versicherungsunternehmen für die Einübung der Elektrokardiogramminterpretation, vgl. Ungerleider (1962). 76

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ßerte sich optimistisch über den möglichen Wert der außersinnlichen Wahrnehmung als ein Präzisionsinstrument, um zur Auswahl der Anwärter für eine Lebensversicherung beizutragen (Rhine 1949).

Maßeinheiten Statistiker haben bisweilen die Regelmäßigkeit von Mortalitätsdaten überschätzt. Auch haben sie durch gesundheitspolitische Maßnahmen versucht, die Sterberate zu senken und damit die Statistik zu verbessern, oder sie mussten zusehen, wie diese sich aufgrund von Epidemien oder unkontrollierter Gewalt verschlechterte. Es braucht keinen dekonstruierenden Blick der Wissenschaftsforschung um zu zeigen, dass Sterblichkeit irgendetwas Unregelmäßiges ist und in Abhängigkeit von wirtschafts- wie sozialpolitischen Kontexten und von Gesundheits- wie Polizeisystemen steht. Dennoch ist der Tod so sicher wie die Steuern. Versicherungsmediziner und Versicherungsmathematiker, die für Lebensversicherer arbeiteten, hatten nicht die Macht, die Sterblichkeitsrate einer gesamten Bevölkerung zu verändern, außer vielleicht sehr langsam. Ihre Hauptsorge galt aber auch nicht der Sterblichkeit der breiteren Bevölkerung, und die Stabilität der Mortalität genügte nicht, um vorhersagbare Sterberaten in den Versicherungen zu garantieren. Weil es einen universellen Versicherungsschutz nicht annähernd gab, konnte ein Unternehmen nur dann stabile, vorhersagbare Sterberaten erreichen, wenn es die versicherte Bevölkerungsgruppe aktiv mit gestaltete. Zumindest in den Vereinigten Staaten waren die dafür notwendigen Informationen – wenigstens im großen Stil – nicht leicht zu bekommen, da die Netzwerke des lokalen Wissens unzuverlässig waren. Als Alternative arbeiteten Versicherungsfachmänner daran, neue, weniger persönliche Formen des Wissens zu erschaffen, die den Verheimlichungspraktiken und dem institutionellen Misstrauen angepasst waren. Dieses Misstrauen kann nicht als wesenhaft für die Logik der Lebensversicherung angesehen werden, noch nicht einmal als eine zwangsläufige Antwort auf den Wettbewerbsdruck. Indikatoren zur Sterblichkeit sind nicht aus einem ewigen Streben nach Wettbewerbsvorteilen heraus entwickelt worden, sondern aus der Kooperation von verschiedenen Unternehmen heraus, die man beinahe als wettbewerbsfeindliche geheime Absprache verstehen könnte. Die versicherungsmedizinischen Direktoren und deren Vorgesetzte waren besorgt, dass ihre Kunden über ein geheimes Wissen verfügen und dies zu ihrem Nachteil einsetzen könnten. Das simple Ablesen von Instrumenten konnte, so dachten sie, dazu beitragen die Balance wieder herzustellen. Aus diesem Grund hal77

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fen sie dabei, Blutdruckmesswerte und Elektrokardiogramme zu routinemäßigen medizinischen Maßnahmen zu machen. Damit trugen sie auch zum Triumph der Instrumente und Messungen über das informelle Urteil von Individuen und ihren Ärzten bei. Der Schub in Richtung Objektivität in der Medizin und sogar in der Wissenschaft sollte zum Teil als eine Zusammenstellung unvollständiger Lösungen für einige tiefgreifende Vertrauensprobleme verstanden werden. Objektivität bedeutete in diesem Sinne zuallererst eine Ablehnung des Persönlichen und Subjektiven, aber sie hing auch von der Erschaffung einer Reihe wissenschaftlicher Objekte ab. Diese Objekte sollten nicht der Metaphysik gutgeschrieben werden, sondern dem Management. Zu diesen zählen Sterberaten, die für eine ausgewählte, verwaltete Bevölkerung stabil gehalten werden konnten. Die Versicherungsärzte kodifizierten und definierten auch die Bedeutung einer ganzen Reihe von körperbezogenen Messwerten, inklusive gesunder und gefährlicher Verhältnissen von Gewicht zu Größe, guten zu schlechten Blutdruckwerten und normalen zu abnormalen Elektrokardiogrammen. Diese Maßeinheiten hingen wiederum von neuen Instrumenten wie Blutdruckmessgeräten und EKG-Geräten ab. Und sie bedingten schließlich den Aufstieg einer ganz neuen Art von Beschäftigten: Techniker, die die Instrumente bedienten, oder Rechnungsspezialisten, die die Zahlen handhabten, und sogar einen auf subtile Art und Weise neu definierten Mediziner, der gelernt hatte, sich weniger auf die Abnahme des Pulses oder die Beschwerden des Patienten und mehr auf Laborergebnisse zu verlassen. Neue wissenschaftliche Objekte entstehen nur im Bündnis mit der richtigen Art von Instrumenten und Menschen. Die Verbindung ist dabei nicht so eng, dass sie ein Entdecken neuer Objekte durch alte Forscher oder alter Objekte durch neue Instrumente ausschlösse, aber wir können Bedingungen identifizieren, die die Vermehrung von Maßeinheiten begünstigen. Hier, in der Versicherungsmedizin, wurde die tragende Rolle von den großen, entschieden unpersönlichen Institutionen eingenommen. Ähnliche Erwägungen treffen, wenn auch subtiler, auf die wissenschaftliche Grundlagenforschung zu. Man kann also einerseits festhalten, dass Blut gar keinen Blutdruck kannte, bevor die Versicherungsunternehmen auf den Einsatz von Blutdruckmessgeräten drängten, und andererseits argumentieren, dass es vor den Versicherungsstatistikern keine Sterblichkeit gegeben habe. Die „Entstehung“ solcher quantitativer Einheiten sollte vielmehr im Sinne einer Auswahl unter alternativen Wegen des Wissens verstanden werden. Häufig ist, wie im vorliegenden Fall, diese Auswahl bedingt durch eine Reihe von Interessen und Zwängen. Die Verschiebung hin zu Standardisierung und Objektivität in dieser Geschichte der Versicherungs78

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medizin kann nicht als unausweichliches Produkt der Wissenschaft oder von Modernisierung oder bürokratischer Rationalität angesehen werden. Vielmehr war es eine Anpassung an einen sehr besonderen Gebrauchskontext, in dem Vertreter, Ärzte, Geschäftsleute, Regulierungsbehörden und selbst die schweigsamen Anwärterinnen und Anwärter auf einen Versicherungsvertrag eine ebenso bedeutsame Rolle spielten wie die versicherungsmedizinischen Direktoren und die Versicherungsmathematiker.

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T EIL II: E P IDEM I OL OG ISC HE T RANSITION UND DER A U FST IE G P RÄVEN TI ON NACH 1900

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„D ie Jagd auf M i krobien hat erheb lich an R eiz ver loren“ – D er sin kend e St ern de r B akt e riologi e in M edizin und Ge sundheit spolit ik der W ei m arer R epubl ik SILVIA BERGER

Um die Mitte der 1920er Jahre taucht in medizinischen Zeitschriften ein neues Textgenre auf: die Bakteriologen-Schelte. Quer durch alle Fachjournals und Wochenschriften hinweg finden sich Artikel, die für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einen Verlust der bakteriologischen Vorherrschaft im medizinischen System postulierten und höhnisch auf die Zweifel und Unsicherheiten der früher so selbstbewusst auftretenden „Bakterienjäger“ hinwiesen. Zum vermeintlichen Ende der Bakterienära konstatierte ein Autor 1924 mit kaum verhohlener Genugtuung, überall sei derzeit zu beobachten, wie das „starre bakteriologische Denken“ verlassen werde, das bei Infektion und Epidemie den Fokus auf die Erreger und ihre Verbreitung gelenkt habe (Sauerbruch 1924: 1300). Den Autoritätsverlust der „Pilzlehre“, wie die Bakteriologie bisweilen abfällig genannt wurde, quittierte ein anderer Kritiker mit der spöttischen Bemerkung: „Die Jagd auf Mikrobien, die vor einem Menschenalter die Gemüter in Atem hielt, hat erheblich an Reiz verloren“ (Buttersack 1925: 329). Selbst ehemaligen Weggefährten Robert Kochs gelang es nicht mehr abzustreiten, dass ihre Wissenschaft nach dem Krieg und dem Erstarken von Konstitutionslehre und Sozialhygiene in einer Krise steckte. August von Wassermann, einer der ersten Schüler Kochs, diagnostizierte für die Mikrobiologie – wenn auch etwas gewunden – ein „Übergangsreaktionsstadium“ und räumte ein, dass der „Bazillus“ im Seuchenge87

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schehen keineswegs mehr Alleinherrscher sei. Wehmütig blickte er auf die letzten 50 Jahre zurück, die er als große Epoche der spezifischen Ätiologie, der spezifischen Diagnose und spezifisch-ätiologischen Prophylaxe und Therapie beschrieb – eine Epoche, die ein für allemal an ihr Ende gelangt zu sein schien (Wassermann 1924: 1685). Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem tiefen Fall der medizinischen Bakteriologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts – einer Wissenschaft, die im Wilhelminischen Kaiserreich nicht nur Orientierungspunkt des medizinischen Denkens war, sondern auch das öffentliche Gesundheitswesen weitgehend zu dominieren vermocht hatte.1 Nach einem einführenden Überblick zum bakteriologischen Zeitalter im Kaiserreich gehe ich den Ursachen für den Autoritätsverlust der Disziplin nach dem Ersten Weltkrieg nach und untersuche, welche Effekte die Destabilisierung des orthodoxen Wissensregimes auf die Verortung der Bakteriologie in den gesundheitspolitischen Entscheidungsgremien und medizinischen Handlungsfeldern der Weimarer Republik hatte. Um die Implikationen des Endes der bakteriologischen Ära exemplarisch zu beleuchten, nehme ich eine Episode der Konfrontation zwischen zwei gesundheitspolitisch bedeutenden Akteuren nach Kriegsende genauer in den Blick: Die Ablösung von Martin Kirchner durch Adolf Gottstein an der Spitze der Preußischen Medizinalverwaltung. Einerseits werde ich die institutionell-personellen Details dieser Episode diskutieren, wobei die Akteure als idealtypische Repräsentanten der – im Falle von Kirchner – ‚alten‘, eng mit den obrigkeitsstaatlichen Strukturen des Kaiserreichs verbundenen bakteriologischen und der – im Fall von Gottstein – ‚neuen‘ sozialhygienischen Herrschaftsordnung in Erscheinung treten. Andererseits möchte ich anhand programmatischer Texte von Kirchner und Gottstein das Aufeinanderprallen völlig divergierender wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Entwürfe, Strategien und Praktiken sichtbar machen. Eine Antinomie und Unvereinbarkeit von Positionen allerdings, die nur kurzweilig Bestand haben sollte. Denn wie abschließend argumentiert wird, formierte sich bereits ab Mitte der 1920er Jahre eine viel bescheidener auftretende Bakteriologie, die von Kirchners Ansichten Abstand nahm, sich den Strömungen und Erkenntnissen der neuen Zeit öffnete und ihr Wissens- und Handlungssystem grundlegend zu transformieren begann.

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Der vorliegende Aufsatz steht in Zusammenhang mit meiner Dissertation Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890-1933, die vor kurzem im Wallstein Verlag erschienen ist (Berger 2009a). Für Kommentare zu diesem Text danke ich Jessica Reinisch, Jeanette Madarász und Martin Lengwiler.

BAKTERIOLOGIE IN DER WEIMARER REPUBLIK

Z u r D o m i n a n z d e r Ba k t e r i o l o g i e i n M e d i z i n u n d G e s u n d h e i t s w e s e n d e s Ka i s e r r e i c h s Die medizinische Bakteriologie hatte sich in Deutschland um 1890 als Forschungsgebiet etabliert. In der Öffentlichkeit stießen die laborbasierten Studien über die kleinsten, unsichtbaren Lebewesen und ihre unheilvolle Rolle im Krankheitsgeschehen auf große Resonanz. Auch von Seiten des Staates wurde die Bakteriologie mit Beifall und Fördermaßnahmen bedacht, schließlich versprach sie gegen die akuten epidemischen und endemischen Infektionskrankheiten, die die gesundheitspolitische Agenda beherrschten, neue und effiziente Handhaben. Robert Koch war ab 1880 im Kaiserlichen Gesundheitsamt tätig, das mit dem eigens für ihn eingerichteten bakteriologischen Labor zu einer der Hauptarbeitsstätten für die bakteriologische Forschung und die Prävention und Bekämpfung von Infektionskrankheiten avancierte (vgl. Hüntelmann 2008; Gradmann 2005). Im Zuge der Konsolidierung des Wissensgebietes, die in der Gründung hochdotierter Forschungsinstitute wie dem Preußischen Institut für Infektionskrankheiten 1891 ebenso sichtbar wurde wie in der Publikation von Fachzeitschriften und ersten Lehr- und Handbüchern, stieg die Bakteriologie bis zur Jahrhundertwende gar zum Orientierungspunkt der Humanmedizin auf. 2 Mit ihrer „epochemachenden“ Betrachtung der Infektionskrankheiten, die als notwendige und determinierende Ursache von Infektionskrankheiten spezifische, von außen in den Körper eindringende Bakterienarten postulierte, verlieh sie – wie es der Koch-Schüler Emil Behring emphatisch formulierte – der „modernen Medicin das Gepräge“ (Behring 1894: 686). Das kausale Minimalkonzept und der Krankheitsbegriff der Bakteriologie, der Krankheit und Gesundheit elementar voneinander schied und ihn an die „Invasion“ „feindlicher Eindringlinge“ in den Körper knüpfte, rückten zwar die vielfältigen natürlichen Interaktionsprozesse zwischen Menschen und Bakterien aus dem Blickfeld. Sie ermöglichten dafür ein umso einfacheres Präventionskonzept: Seuchen konnten verhütet und bekämpft werden, indem man die Bazillen – in der Diktion Kochs – „bis in ihre äußersten Schlupfwinkel“ verfolgte und tötete, das heißt indem man jeden verdächtigen Krankheitsfall anzeigte, die spezifischen Krankheitserreger mithilfe bakteriologischer Untersuchungen rasch identifizierte, die betroffenen Infizierten rigoros isolierte und ihre Umgebung einem systematischen Desinfektionsregime unterwarf. Prophylaktisch boten sich überdies Maßnahmen zum Unterbruch der infek2

Dass die „Aneignung“ der Bakterientheorie durch die Hygieniker und hygienisch interessierten Ärzte ein längerer und vielschichtiger Prozess war, zeigt Hardy 2005. 89

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tiösen Übertragungswege (städtebauliche Assanierung etc.) und Schutzimpfungen wie die Pockenimpfung an; therapeutisch versprach nach dem Scheitern der Tuberkulintherapie vor allem die Serumtherapie Behrings künftige Erfolge.3 In personeller und institutioneller Hinsicht existierten bereits vor der Jahrhundertwende starke Überschneidungen und Allianzen zwischen der Bakteriologie und dem Militär. Jüngere Sanitätsoffiziere wurden oft zu mehrjährigen Dienstleistungen in das Gesundheitsamt, später auch an hygienische Institute oder das Institut für Infektionskrankheiten kommandiert. Der Großteil der ersten Schüler Kochs rekrutierte sich folglich aus Militärärzten (vgl. Weindling 1989a: 161f.; Labisch/Tennstedt 1985: 52). Die bakteriologisch informierte Hygiene und ihre spezifischätiologische Prophylaxe wurden auch besonders früh im Militärsanitätswesen verankert. Die Medizinalverwaltung im Kriegsministerium nutzte die Errungenschaften der Bakteriologie, indem sie eine bakteriologische Schulung als festen Bestandteil in das Ausbildungsprogramm zukünftiger Militärärzte integrierte und bereits zu Beginn der 1890er Jahre an den Sitzen des Generalkommandos, beim Gardekorps in Berlin und bei anderen Armeekorps bakteriologische Untersuchungsstellen einrichtete (Kirchner 1896: 34). Für den Kriegsfall erließ man 1907 die Kriegssanitätsordnung, die exakte Vorschriften für die bakteriologische Seuchenabwehr enthielt (vgl. Bischoff 1912; K.S.O. 1907). In der öffentlichen Gesundheitssicherung wurde das bakteriologische Konzept der Seuchenprävention in der Reichsseuchengesetzgebung von 1900 und diversen Landesseuchengesetzen akkreditiert (vgl. Kirchner 1907b). Die Gesetze gaben der bakteriologischen Erregerlehre und ihrem Katalog epidemiologischer Interventionsstrategien rechtsverbindlichen Charakter und übertrugen deren Ausführung der Polizeibehörde und damit der staatlichen Ordnungsverwaltung. Die Präventionsprogramme hatten den Charakter einer rigiden obrigkeitsstaatlichen Indoktrination und legitimierten Zwangs- und Polizeimaßnahmen, die systematische Eingriffe in die persönliche Freiheit und körperliche Integrität des Individuums umfassten (vgl. Hüntelmann 2006: 44f.). Wie stark die Bakteriologie um 1900 nicht nur medizinische Leitwissenschaft, sondern auch gesundheitspolitischer Orientierungspunkt des Kaiserreichs war, lässt sich paradigmatisch an der Zusammensetzung des Reichsgesundheitsrats ablesen. Dieses Gremium wurde im Anschluss an das Reichsseuchengesetz als beratende Behörde des Kaiserlichen Gesundheitsamts gegründet (vgl. Glaser 1960: 2-10). Auf der Mit3

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Zu Behrings Formation der Serumtherapie in der Tradition der Desinfektion vgl. Simon 2001. Zum „Tuberkulindebakel“ Kochs vgl. Gradmann 2005: 105-170; Gradmann 2001.

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gliederliste des größten Fachausschusses, demjenigen für Seuchenbekämpfung, rangieren die Namen der in klarer Linie zur orthodoxen Bakteriologie stehenden Direktoren staatlicher Forschungseinrichtungen, Leiter hygienischer Institute und Untersuchungsstellen, hochrangiger Militärhygieniker und Mitarbeiter der Medizinalverwaltung. 4 Der Reichsgesundheitsrat markiert damit geradezu idealtypisch die Verflechtung und das dynamische Netzwerk, das sich zwischen bakteriologischer Wissenschaft, Medizinalverwaltung und Militär um 1900 gebildet hatte, und weist die Bakteriologie als staatstragende und vom Staat getragene Wissenschaft aus. Olaf Briese spricht denn auch zutreffend von der Bakteriologie als „Wilhelminischer Wissenschaft“ (Briese 2003: 300). Eine Verschmelzung von Bakteriologie, Staat und Militär in Personalunion repräsentierte Martin Kirchner. Kirchner war nicht nur Schüler Kochs. Er war zugleich ein der Monarchie verpflichteter, nationalkonservativer Stabsarzt und Privatdozent für Hygiene. In der Kultusbehörde Preußens wurde er als geheimer Medizinalrat und beratender Rat ab 1898 zur zentralen Instanz für die Implementierung der bakteriologischen Hygiene und Seuchenbekämpfung in Staat und Reich. So war er an der Ausarbeitung des Reichsseuchengesetzes beteiligt, figurierte unter den ersten Mitgliedern des Reichsgesundheitsrats und zeichnete als Hauptverantwortlicher des Preußischen Seuchengesetzes (vgl. Kirchner 1919a: 75; Mohaupt 1989: 58f.). Auch für die Errichtung von Untersuchungsanstalten zur Analyse infektionsverdächtiger Proben, die die institutionelle Verortung der Bakteriologie in der staatlichen Mittelinstanz beförderte, hat sich Kirchner eingesetzt (Lentz 1926: 10; Gins 1926: 73). 1911 berief man ihn auf ausdrücklichen Wunsch Kaiser Wilhelms II. zum Ministerialdirektor im Preußischen Innenministerium (Labisch/Tenndstedt 1985: 56) – eine Ernennung, die den Aufstieg der Bakteriologie zur Wilhelminischen Wissenschaft krönte und auf das Prestige verwies, das die Bakteriologie vor dem Ersten Weltkrieg noch immer genoss. Anzumerken gilt nämlich, dass ihr Denkstil seit den 1890er Jahren mit einigen Irregularitäten und Problemen konfrontiert worden war. Kritik setzte speziell an der reduktionistischen Ätiologie der Bakteriologen ein. Nachdem sich die Fälle von infizierten Personen häuften, die trotz pathogener Bakterien in ihren Körpern nicht erkrankten, konnte kaum mehr postuliert werden, dass jede Bazilleninvasion zwangsläufig

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Bundesarchiv Berlin, R86/857: Übersicht über die Zuteilung der Mitglieder des Reichsgesundheitsrates an die Ausschüsse und Unterausschüsse, Mai 1914. 91

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eine Krankheit verursachte. 5 Die bakteriologische Ätiologie wurde deshalb um die individuelle Disposition als Bedingung für die Krankheitsauslösung erweitert. Der dominierende Ursachenstatus allerdings blieb weiterhin dem Erreger vorbehalten (Berger 2009a: 119f.). Gerade bei den chronischen Volksseuchen wie der Tuberkulose gewannen nach 1900 ungeachtet der ersten Reformen innerhalb der Bakteriologie die Ansätze der Konstitutionshygiene und frühen Sozialhygiene sowie die damit in Wechselwirkung stehenden eugenischen Denkmuster immer mehr an Gewicht. Diese neuen, in ihren Konzeptionen und gesundheitspolitischen Stoßrichtungen heterogen ausgeprägten Richtungen der Hygiene legten den Fokus auf die Gesundheitsgefährdungen des Proletariats in der industriellen Arbeits- und Lebenswelt und erhoben Krankheitsanlagen beziehungsweise soziale Zustände zum zentralen Ansatzpunkt hygienisch-prophylaktischer Forderungen.6 Auf kommunaler Ebene und im Rahmen der Aktivitäten bürgerlicher Wohlfahrtsorganisationen und Hygienevereine wurden als Praxis der Sozialhygiene erste gesundheitsfürsorgerische Maßnahmen lanciert wie zum Beispiel die Schaffung von Säuglings- oder Tuberkulosefürsorgestellen (vgl. Vossen 2005; Weindling 1989b; Labisch/Tennstedt 1985: Kap. 3; Göckenjahn 1985: 124ff.). Besonders erfolgreich bei der Initiierung und Ausweitung der Gesundheitsfürsorge für besonders gefährdete Gesellschaftsgruppen war der liberale Stadtarzt und Sozialhygieniker Adolf Gottstein in der Gemeinde Charlottenburg (Gottstein 1925b: 21-29; Koppitz/Labisch 1999: XXXVI-XXXIX). Trotz Revisionen und Einbuße an Deutungsmacht bei den „stillen“ Volkskrankheiten behielt die Bakteriologie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und auch während des Krieges selbst Oberwasser als staatlich protegierte Gesundheitswissenschaft. Zum einen blieben Sozialhygieniker wie Gottstein in der Kaiserzeit noch zumeist marginalisiert und in ihrem Wirkungskreis beschränkt. Auch die Fortbildungsmöglichkeiten in Fragen der sozialen Hygiene waren für Ärzte gerade in Preußen kurz vor Beginn des Weltkriegs sehr gering (Moser 2002: 33; Hüntelmann 2008: 154).

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Zu dem in den 1890er Jahren auftauchenden Problem asymptomatischer Infektionen im Rahmen der Cholera-Epidemie von Hamburg vgl. Mendelsohn 1996: Part II. Zur Herausbildung der Konstitutions- und Sozialhygiene in der durch Depression, fortschreitende Industrialisierung und zunehmende Verelendung des Industrieproletariats gekennzeichneten Zeit um die Jahrhundertwende vgl. Baader 2005; Labisch 2004: 262-265.

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Abbildung 1: Kulturnation im Krieg: Mobile dampfbetriebene Desinfektionsanlage des Deutschen Heeres aus erbeuteten französischen Holzfässern („Doppel-Diogenes“).

Quelle: Hoffmann, Wilhelm (Hg.) (1922): Hygiene, Leipzig: Barth (Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Band VII), S. 303.

Zum anderen gelang es der Koch-Schule, ihre Wissenschaft nach der ersten Ernüchterungsphase erneut als gesundheitspolitischen Leitstern zu positionieren, indem sie die Bakteriologie als kriegsentscheidende epidemiologische Feldwissenschaft etablierte. Ausschlaggebend dafür war eine groß angelegte Seuchenbekämpfungs-Kampagne, die sich gegen den Typhus im Südwesten von Deutschland richtete. Sehr bewusst hatte Koch bei seinen Plänen für eine große Bekämpfungskampagne um 1900 nicht nur nach einer Infektionskrankheit Ausschau gehalten, mit der er sich mit Blick auf das Militär Geltung verschaffen konnte – die Durchfallerkrankung Typhus war als Kriegsseuche gefürchtet. Er lenkte die Aufmerksamkeit auch absichtlich auf ein Territorium, das seine Beziehungen zu Reichs- und Militärbehörden bestärken und ihre Unterstützung für seine rigorosen Interventionsmaßnahmen sichern würde. Als Gebiet der Typhuskampagne propagierte er nämlich exakt jenen Landstrich, in dem laut Schlieffen-Plan die Offensive der deutschen Truppen im nächsten Krieg stattfinden würde. Koch versprach, die Armeen in diesem strategisch wichtigen Landesteil vor einer zukünftigen Verseuchung zu bewahren. Militär- und Reichsbehörden waren daraufhin schnell überzeugt. Im ländlichen Südwesten Deutschlands entwickelte sich so zwischen 1903 und 1914 ein riesiger, staatlich unterstützter „Feldzug“ zur vollständigen „Ausrottung“ des Typhus (vgl. Mendelsohn 1996).

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Abbildung 2: Grundriss einer deutschen Sanierungsanstalt im Ersten Weltkrieg.

Quelle: Hoffmann, Wilhelm (Hg.) (1922): Hygiene, Leipzig: Barth (Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Band VII), S. 268f.

Der gesunde „Bazillenträger“, der den Bakteriologen zuvor in ätiologischer Hinsicht große Probleme bereitet hatte, wurde in der Kampagne als neuer epidemiologischer Hauptfeind kodiert: Er repräsentierte nun ein wandelndes Bazillenreservoir zur Verbreitung von Epidemien. Die Bazillenangst und Berührungshysterie unter der Bevölkerung erreichte

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Abbildung 3: Duschraum einer deutschen Sanierungsanstalt im Ersten Weltkrieg.

Quelle: Hoffmann, Wilhelm (Hg.) (1922): Hygiene, Leipzig: Barth (Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918, Band VII), S. 268f.

dadurch neue Dimensionen; denn jetzt waren nicht nur die Kranken gefährlich, auch jeder Gesunde war potentiell eine Infektionsquelle. Dem gesunden Keimträger musste dementsprechend mit einem ebenso rigorosen, in die privaten Verhältnisse eindringenden Aufspür-, Desinfektions- und Isolationsregime begegnet werden wie dem Kranken (vgl. Kirchner 1907a; Fraenkel 1904). Eine weitere Bestärkung ihrer Autorität erfuhr die Bakteriologie schließlich im Ersten Weltkrieg. Mit Verweis auf das zwangsläufige Auftreten von Seuchen in den Kriegen der Weltgeschichte wurde die Bakteriologie zu Beginn des Weltkriegs zur potenten, autoritativen und für das Deutsche Reich geradezu existentiellen Kriegswissenschaft erklärt. Einzig mit einem strikt bakteriologischen Bekämpfungsdispositiv, das Korpshygieniker und beratende Hygieniker – ausgerüstet mit mobilen Laboratorien, Desinfektionsapparaten und Trinkwassersterilisatoren – vom vordersten Schützengraben bis in die Etappe umsetzten, glaubte man Heer und Heimat vor den gefürchteten Kriegsseuchen schützen zu können. Die Jahre 1914 bis 1918 markierten folgerichtig den Höhepunkt des „offensiven“, mit ungeheurem Aufwand und schier unerschöpflichen Mitteln betriebenen Ausrottungs- und Reinigungsfeldzugs gegen alle pa-

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thogenen Bakterien und potentiellen Infektionsträger (vgl. Berger 2009a: 171-251).

De s t a b i l i s i e r u n g d e s o r t h o d o x e n Wissenssystems nach dem Ersten Weltkrieg Nach dem Ersten Weltkrieg und dem ‚totalen‘ Krieg gegen die Bazillen stieß der bakteriologische Denkstil allerdings an seine Grenzen. Selbst orthodoxe Bakteriologen konzedierten anfangs der 1920er Jahre die Unvollkommenheit ihrer Kenntnisse der Ätiologie und Epidemiologie übertragbarer Krankheiten und warfen die Frage nach einer neuen theoretischen Orientierung auf. Auch den Grenzen der bakteriologischen Prophylaxe und der Seuchengesetze war man sich deutlich bewusst. So bemerkte ein Leiter einer bakteriologischen Untersuchungsanstalt, der an der Koch’schen Typhuskampagne beteiligt gewesen war, an der Jahresversammlung des Deutschen Medizinalbeamtenvereins 1921, man befinde sich gegenwärtig in einer Zeit der Kritik an der bisherigen Seuchenbekämpfung. Sie sei allerdings berechtigt, würden die ätiologischen und epidemiologischen Kenntnisse doch klare Lücken aufweisen. Die gesetzlichen Maßnahmen der Seuchenbekämpfung sollten deshalb nur als „Teil“ einer allgemeinen Seuchenprophylaxe betrachtet werden (Rimpau 1921: 520f.). Mit deutlichen Worten wendete sich auch der Direktor des Robert Koch-Instituts für Infektionskrankheiten, Fred Neufeld, gegen die Seuchenprophylaxe à la Koch und Kirchner: „Es wäre meines Erachtens ein großer Fortschritt, wenn diejenigen, die sich mit Seuchenbekämpfung befassen, endlich die Vorstellung aufgeben würden, als sei es ihre Aufgabe, immer den letzten Bazillus [...] in [seine] entlegensten Schlupfwinkel zu verfolgen und zu töten; solche Illusionen [...] führen zu nichts, als dass sie die Aufmerksamkeit von dem, was praktisch nötig und praktisch erreichbar ist, ablenken.“ (Neufeld 1924: 1350)

Angesichts dieses Votums von berufener Seite erstaunt es nicht, dass Bakteriologie-Kritiker in der Weimarer Republik das Ende des Zeitalters der Mikrobenjäger nahen sahen. Was aber waren die Ursachen für die Autoritätseinbuße und die Destabilisierung der bakteriologischen Wahrheiten? Eine wichtige Rolle spielte sicher die Influenza-Pandemie 1918-1920. Sie konfrontierte die bakteriologische Fachwelt mit einer Vielzahl von Rätseln – nicht nur in epidemiologischer Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die ungeklärte Erregerfrage und das klinische Bild, das seltsame Krankheitserscheinungen des zentralen Nervensystems mit einschloss (vgl. Tognotti 2003; Men96

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Abbildung 4: Der beratende Hygieniker und Robert Koch-Schüler Paul Uhlenhuth (Dritter von links) vor einem Typhus-Lazarett (1915).

Quelle: Neumann, Herbert A. (2004): Paul Uhlenhuth. Ein Leben für die Forschung, Berlin: ABW Wissenschaftsverlag, S. 123.

delsohn 1996). Mit den bisherigen Schemata der Seuchenentstehung kaum vereinbare Seuchengänge während dem Weltkrieg und unmittelbar danach fügten dem Influenza-Schock weitere Verunsicherungsmomente hinzu. So entwickelten sich zu Kriegsende trotz der überstürzten Demobilisierung und dem vollständigen Zusammenbruch des bakteriologischen Seuchenabwehrdispositivs, das der „Invasion“ von Bazillen und Infektionsträgern in die Heimat Tür und Tor öffnete, keine der befürchteten großen Fleckfieber-, Ruhr- oder Typhusepidemien. Neben der offensichtlichen Komplexität des Seuchengeschehens, das mit einfachen Invasions- und Übertragungsmodellen nicht mehr aufzuhellen war, wurde angesichts der Kriegserfahrungen aber auch etwas anderes deutlich: Die bakteriologische Diagnostik und die Theorien zu Ursache und Verlauf der Einzelinfektion vermochten im Feld nicht zu überzeugen. Die unzähligen atypischen und uneinheitlichen Krankheitsbilder, die explodierende Zahl von Erregervarietäten und die Beobachtungen von Mischinfektionen entwarfen ein überaus komplexes Bild der Infektion, das mit dem

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bisherigen Fokus auf den vermeintlich stabilen „bakteriellen Faktor“ nicht mehr adäquat erfasst werden konnte.7 Katalysator des Bedeutungsverlustes der Bakteriologie und ihrer Strategien der Prävention waren neben diesen wissenschaftsimmanenten Irritationen und Unsicherheiten zweifelsohne auch Weichenstellungen in der Gesundheitsverwaltung nach dem Kollaps der alten politischen Ordnung. Krieg und Revolution hatten eine katastrophale soziale und wirtschaftliche Situation und eine schwere gesundheitliche Misere hervorgerufen. In deren Gefolge wurde der Ruf nach drakonischen Maßnahmen zur Hebung der „deutschen Volksgesundheit“ immer lauter. Angesichts der Kriegsverluste, der abnehmenden Geburtsrate und der Degenerationsängste durch die verstärkte Zunahme chronischer und mentaler Krankheiten8 verschob sich – befördert durch den sozialpolitischen Aufbruch der neuen politischen Kräfte – die staatliche Aufmerksamkeit immer mehr auf die Probleme eines ausreichenden Nachwuchses und die Eindämmung der chronisch-degenerativen Volkskrankheiten. Hier konnte die Bakteriologie wenig Deutungshoheit anmelden. Im Gesundheitssystem der jungen Republik wurden die Handlungs- und Entscheidungsräume zusehends von den seit Beginn des Jahrhunderts entwickelten und jetzt politisch aufgewerteten Bezugsdisziplinen der sozialen Hygiene, Eugenik beziehungsweise Rassehygiene und den Bevölkerungswissenschaften besetzt. Vor allem mit den auf die Soziologie, Ökonomie und Statistik zurückgreifenden gesundheitsfürsorgerischen Interventionen der Sozialhygiene, die bisher nur im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung zum Zuge gekommen waren, glaubte man den apokalyptischen Szenarien eines sich „auflösenden Volkes“ und dem Niedergang der Volksgesundheit begegnen zu können.9 Allenthalben konstatierten zeitgenössische Beobachter, Konstitutions- und Sozialhygiene verkörperten die „modernen Richtungen“ der Hygiene, die biologische, vorwiegend mit exogenen Schädigungen der menschlichen Gesundheit befasste Richtung der Hygiene – die Bakteriologie – habe für die öffentli-

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Zur Destabilisierung der bakteriologischen Epidemiologie und Infektionslehre durch die Erfahrungen des Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Berger 2009a: 291-314. Diese Krankheiten waren bereits seit der Jahrhundertwende in den Vordergrund gerückt. Zur epidemiologischen Transition vgl. Weindling 1992. Die Entwicklung der Sozialhygiene zur Leitwissenschaft einer breiten Bewegung und die Akzeptanz der gesundheitsfürsorgerisch ausgerichteten Sozialhygiene auf politischer Ebene in der Weimarer Republik erörtern Moser 2002; Moser 2004; Vossen 2005; Weindling 1989a: Kap. 5/6; Labisch/Tennstedt 1985: Kap. 5; Labisch/Tennstedt 1991: 19-23; Weder 2000.

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che Gesundheitspflege dagegen nur noch wenig Bedeutung (Fürst 1926: 68f.; Seligmann 1922: 2533). Auch wenn sich für die Einbindung der Bakteriologie auf Reichsebene durchaus Kontinuitäten zur Vorkriegszeit feststellen lassen – vor allem im Reichsgesundheitsamt (vgl. Hubenstorf 1994: 388) –, so war der institutionelle und konzeptuelle Verlust der leitwissenschaftlichen Position der Bakteriologie im Gefüge des Weimarer Gesundheitswesens doch markant. Im Reichsgesundheitsrat als ehemals prominentem Ort bakteriologischer Autorität und Einflussnahme veränderte sich die Zusammensetzung und Gliederung der Ausschüsse markant. Ein klares Signal für die gesundheitspolitische Bedeutung und Validierung der entsprechenden Krankheiten und Disziplinen in der Weimarer Republik setzte zum einen die Streichung der separaten Unterausschüsse für Typhus, Cholera und Pest – dem ureigensten Feld bakteriologischer Expertise – im Ausschuss für Seuchenbekämpfung, zum andern die Aufstockung der Mitglieder in den Unterausschüssen für chronische Volkskrankheiten mit wissenschaftlichen Vertretern der Sozialhygiene, Statistik und Eugenik (vgl. Saretzki 2000: 75, 79f.; Glaser 1960: 56). Als Folge der massiven Reduktionen im Militärsanitätswesen nach der Verabschiedung des Versailler Vertrages verlor die medizinische Bakteriologie zudem eine weitere, für ihre Belange und den einseitigen Bazillenkampf bislang zentrale staatliche Stütze.10 Am augenfälligsten markiert den Bedeutungsverlust und den prekären Status der Bakteriologie in den Gesundheitsgremien und der öffentlichen Gesundheitssicherung nach dem Weltkrieg allerdings die Ablösung Martin Kirchners durch Adolf Gottstein in der Medizinalverwaltung Preußens. Diese Episode am Ende des bakteriologischen Zeitalters soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. Es lassen sich dabei nicht nur paradigmatisch die unüberbrückbaren Differenzen der beiden Akteure im Hinblick auf die prophylaktischen Forderungen, den propagierten Gesundheitsbegriff und die Konzeptualisierung hygienischer Subjekte sichtbar machen. Deutlich wird auch, dass Kirchner in der revolutionären Umbruchszeit Ende 1918, anfangs 1919 seine in der zeitgenössischen Wahrnehmung gleichsam unhintergehbare Assoziation mit dem Wilhelminischen Obrigkeits- und Militärstaat zum Verhängnis werden sollte – ein Staatsentwurf, der seine Grundlagen endgültig verloren hatte.

10 Zur Herabsetzung der Sanitätsoffiziere auf knapp einen Zehntel des ehemaligen Personalbestandes und der Schließung der Kaiser-WilhelmAkademie für das militärärztliche Bildungswesen vgl. Möllers 1923: 10, 33ff. 99

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Ki r c h n e r v s . G o t t s t e i n Während des Weltkriegs agierte Kirchner als nationalistisch euphorisierter und viel gelobter Organisator der Preußischen Seuchenabwehr. Nach dem Ausbruch der Revolution, der schmachvollen Kriegsniederlage und den enormen Problemen, welche die ungeregelte Demobilisierung und die sozialen und ökonomischen Kriegsfolgen in gesundheitlicher Hinsicht mit sich brachten, blies ihm allerdings ein steifer Wind entgegen. Ende 1918 wurde Kirchner von Seiten der Arbeiter- und Soldatenräte erstmals vorgeworfen, er habe bei der drohenden Verlausung der Bevölkerung durch die Rückkehr der Truppen und bei der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zu schwerfällig reagiert und zeige sich gegenüber der provisorischen Revolutionsregierung unkooperativ. 11 Auch mangelnde Aktivität auf dem Gebiet der sozialen Fürsorge und ein übertriebener Schematismus in der Seuchenbekämpfung wurden der Preußischen Medizinalbehörde vorgehalten. Kirchner wollte diese Vorwürfe nicht gelten lassen. Im Januar 1919 stimmte er ein Hohelied auf die Bakteriologie an und bekräftigte seinen Standpunkt, die bakteriologisch dominierte Bekämpfung der übertragbaren Krankheiten sei Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitspflege und wichtigster Ansatzpunkt für die Stärkung der „Volkskraft“. Belege für eine veraltete, sozialfürsorgerisch inaktive Medizinalverwaltung sah Kirchner keine. Er war bereit, an der Gestaltung der Zukunft mitzuarbeiten, betonte aber, dass es der „neuen Zeit“ schwer fallen werde, mehr zu leisten als die vorangehende. An die neuen politischen Machthaber richtete er die mahnenden Worte: „[D]ie vorwärts Strebenden dürfen niemals vergessen, was ihre Vorgänger geleistet haben. Ein fruchtbarer Fortschritt baut sich nur auf dem auf, was uns die Vergangenheit hinterlässt.“ (Kirchner 1919a: 76) Wie um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, plädierte Kirchner im Mai 1919 für einen Ausbau der Seuchenbekämpfung, die sich noch strenger als bisher an den Grundsätzen Kochs orientieren sollte. Die restlose Erfassung und Vernichtung aller Erreger würden zum einen genauere Studien über die biologischen Eigenarten der Erreger garantieren, zum anderen sollten mehr Untersuchungsämter, Infektionskrankenhäuser und Desinfektionsanstalten gebaut und bei den Kreisärzten „Seuchenwärter“ angestellt werden (Kirchner 1919b). Als ein bakteriologisch ausgebildeter Internist, Georg Jürgens, im Juni 1919 in der Berliner Klinischen Wochenschrift gänzlich „Neue We-

11 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 VIII B/3555. 100

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ge“ der Seuchenbekämpfung skizzierte, sah sich Kirchner aufs Neue herausgefordert. Jürgens hatte sich dezidiert gegen die staatliche Seuchenbekämpfung ausgesprochen: Sie basiere auf den „Einrichtungen eines fest gefügten Militär- und Polizeistaates“, der den Willen und die Macht habe, seine Anordnung durchzusetzen und „die Schwächen der Organisation unaufgedeckt beiseite zu stellen“. Statt des illusorischen Vernichtungskampfs gegen die Parasiten, der einem Militärstaat angepasst sei, forderte Jürgens mehr Fürsorge für die Kranken, die Steigerung des Wohlstandes und die frühzeitige Vermeidung von Schädigungen. Zudem sollten im neuen „Volksstaat“ anstelle der Bazillenangst und den Zwangsmaßnahmen des alten „Systems“ mehr Erziehung und individuelle Belehrung zum Tragen kommen (Jürgens 1919: 533). Mit kaum verhohlener Abneigung gegenüber dem 17 Jahre jüngeren Kollegen hielt der 64-jährige Kirchner in einer kurze Zeit später publizierten Replik am sanitätspolizeilichen Überwachungs- und Vernichtungsdispositiv fest. Die bakteriologische Seuchenbekämpfung stelle die einzig mögliche Prophylaxe dar, schäumte Kirchner. Sie sei weder veraltet noch ausgefahren und zähle zu den „größten hygienischen Errungenschaften“, um die Deutschland von seinen Feinden beneidet werde. Für das Erstarken der Volksgesundheit sei es mit mehr Fürsorge für den Kranken und mehr Belehrung und Erziehung zur Selbstverantwortung nicht getan (Kirchner 1919c).12 Tatsächlich stand Kirchner im Juni 1919 längst auf verlorenem Posten – und zwar im wörtlichen Sinn. Im Frühjahr 1919 war er von sozialistischer Seite ein weiteres Mal angegriffen worden. Die Regierung müsse auf dem wichtigen Gebiet der Gesundheitspflege „sachverständige Vertrauensleute ihrer politischen Richtung“ haben und dürfe nicht von ihr im „innern zweifellos feindlich gesinnten bisherigen Ressortleitern“ abhängig sein, hieß es in einem am 24. Februar vom Zentralrat der deutschen Sozialistischen Republik an die Reichregierung weitergeleiteten Brief des Sozial- und Gewerbehygienikers Benno Chajes.13 Wenig später berichtete der Berliner Lokalanzeiger, der Zentralrat habe beschlossen, der Minister des Innern möge im Abgeordnetenhaus darauf hinweisen, dass es für einen „Herrn wie Kirchner, der als ein starkes

12 Anzumerken gilt jedoch, dass Kirchner bei der Tuberkulose zwar die bakteriologische Erkennung jedes Falles, die Absonderung und die Desinfektion besonders hervorhob, die Notwendigkeit sozialfürsorgerischer Maßnahmen bereits nach 1900 aber durchaus anerkannte und unterstützte. Vgl. Kirchner 1909. 13 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 76 VIIIB/3557: Zentralrat der deutschen Sozialistischen Republik an die Reichsregierung Berlin, 24.2.1919. 101

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Hindernis in der Entwicklung der freien Wissenschaft zu betrachten sei, [...] keinen Platz mehr als Ministerialdirektor im heutigen Volksstaat gebe“.14 Daraufhin wurde angeordnet, Kirchner einen wissenschaftlichen Beirat zur Seite zu stellen. In diesen Beirat von Sachverständigen, die „auf dem Boden der heutigen Zeit“ stehen sollten, beorderte man u.a. Georg Jürgens – jenen Jürgens, der wenig später vollkommen neue Wege der Seuchenbekämpfung postulieren sollte (Jürgens 1949: 178). Unter diesen Umständen aber, die einer wissenschaftlichen Entmachtung und politischen Bevormundung gleichkamen, nahm Kirchner am 4. März seinen Abschied. Die Münchener Medizinische Wochenschrift kommentierte den Abgang mit den Worten: „Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, dass bei einem Manne, dessen Lebensarbeit mit dem Verwaltungssystem der jetzt abgeschlossenen Periode eng verknüpft war, die gewaltigen politischen Umwälzungen, die wir erlebt haben, den Wunsch nach dem otium cum dignitate früher reifen ließ, als es sonst der Fall war.“15

Obgleich man auch Jürgens wegen seiner Ablehnung der „einseitigen, von Theoretikern geführten Seuchenbekämpfung“ als Nachfolger kolportierte (Jürgens 1949: 178), wurde am 10. März Adolf Gottstein von der Preußischen Regierung zum Kommissarischen Leiter der Medizinalabteilung des Preußischen Ministerium des Innern berufen und ab Mai 1919 zum Leiter der Abteilung „Allgemeine Medizinalverwaltung“ im neuen Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt.16 Gottstein war nicht nur liberaler Sozialhygieniker der ersten Stunde. Er war seit den 1890er Jahren auch als vehementer Gegner der bakteriologischen Infektions- und Seuchenlehre aufgetreten (vgl. Weindling 1989a: 219; Labisch 1997; Stürzbecher 1959). Um die Jahrhundertwende hatte er allerdings kaum Chancen, bei den Bakteriologen auf Gehör zu stoßen. Dies sollte sich, wie im letzten Abschnitt gezeigt wird, im Verlauf der Weimarer Zeit ändern. Gegenüber den Positionen Martin Kirchners bedeutete Gottsteins Wahl eine klare gesundheitspolitische Kehrtwende – und zwar nicht nur bezüglich der wichtigsten Handlungsfelder der Gesundheitspflege und der verfolgten Präventionskonzepte, sondern auch mit Blick auf die Gesundheitsvorstellungen, die Handlungsautonomie individueller Akteure 14 Zit. Deutsche Medizinische Wochenschrift 12 (1919). 15 Berliner Briefe (eigener Bericht), in: Münchener Medizinische Wochenschrift 13 (1919). 16 Qua Amt war Gottstein Mitglied im Reichsrat und Berichterstatter für die Gesundheitsgesetzgebung im Reich (Labisch 1997: 683). 102

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sowie die Bedeutung, welche der Aufklärung und Erziehung dieser Individuen zugemessen werden sollte. Wie Gottstein nach seiner Ernennung in diversen Schriften über das zukünftige Heilwesen festhielt, hatten sich die Abwehrmaßnahmen der öffentlichen Gesundheitspflege bisher zu stark auf die Bekämpfung der Ansteckung beschränkt. Obwohl er die Fortführung des Kampfes gegen die Volksseuchen als wichtigste Zukunftsaufgabe erachtete, war er davon überzeugt, dass es mit der einseitigen kontagionistischen Auffassung und dem darauf basierenden Präventionsregime nicht getan war. Endogene Vorgänge im bedrohten Organismus und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einflüsse auf Krankheitsverläufe würden kaum berücksichtigt (Gottstein 1922: 2584; Gottstein 1925b: 66). Er reklamierte denn auch die Eingliederung der sozialen Hygiene in die öffentliche Gesundheitspflege; die Gesundheitsfürsorge müsse ebenbürtig an die Seuchenbekämpfung und allgemeine Hygiene angereiht werden, womit methodisch vor allem der Einbezug sozial- und bevölkerungsstatistischer Ansätze und das Studium volkswirtschaftlicher Vorgänge verknüpft waren (Gottstein 1922: 2584). Besonders zentral erschien Gottstein eine „gedankliche Ausdehnung“ des Begriffs der Vorbeugung. Diese sollte zunächst einmal einen ganz anderen zeitlichen Fokus haben: Vorbeugende Maßnahmen durften nicht erst im Zeitpunkt der schon eingetretenen Bedrohung oder ganz kurz vor dieser einsetzen. Bei der Tuberkuloseprävention etwa sollte der Angriffspunkt zeitlich so weit zurückverlegt werden, dass schon beim Kleinkind und Schulkind mit Maßnahmen der Früherkennung und -behandlung gesundheitlicher Störungen begonnen wurde. Vorbeugung berücksichtigte darüber hinaus auch die „konstitutionelle Schwäche“, das heißt individuelle Maßnahmen zur Steigerung der Widerstandskraft sowie allgemeine Maßnahmen zur Hebung der gesundheitlichen Kultur, die ein Krankwerden überhaupt vermeiden sollten (Gottstein 1922: 2585; Gottstein 1925b: 32; Gottstein 1924). Vorbeugung war für Gottstein schließlich nicht denkbar ohne Aufklärung und Selbstautorisierung der Bevölkerung. Nur aus der Einsicht über den Wert der Gesundheit und die Folgen des Krankseins konnte sich ein Verantwortungsgefühl gegenüber der eigenen Person und der Gesellschaft und das Bewusstsein zur Pflicht der Mitarbeit am zentralen Gut ‚Gesundheit‘ bilden. Mit einem Seitenhieb an die Adresse der alten bakteriologischen Garde betonte Gottstein, es müsse Freude an der Aufklärung gefördert werden, nicht „Angstmeierei“ und sklavische Unterordnung unter polizeilichen Zwang: „[Die Gesundheitspflege] soll und darf nicht freudlose Menschen erziehen, die vor jedem Bazillus zähneklappernd bangen und im Mitmenschen nur den Trä103

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ger einer Ansteckung sehen; [...] Sie soll kräftige, widerstandsfähige, das frohe Leben bejahende Menschen heranwachsen und wirken lassen, die auch einmal einen starken Stoß aufzufangen vermögen [...].“ (Gottstein 1925a: 486)

Gesundheit und Bildung seien die Grundlage des Wohlseins, das habe bereits Rudolf Virchow in seinen „noch immer wichtigen“ Abhandlungen aus den Revolutionsjahren erkannt. Einen besonderen Kontrapunkt zur bakteriologischen Wissensordnung setzte Gottstein mit seinem Gesundheitsbegriff. In Forschung und Praxis sollte die Vorstellung einer „relativen Gesundheit“ Fuß fassen, die Vorgänge in kranken und gesunden Körpern nicht als grundverschieden erachtete, den Eintritt von Krankheitserscheinungen demnach auch nicht mehr als Maß der Gesundheit bezeichnete.17 Gottstein plädierte für die Integration einer von Physik und physikalischer Chemie inspirierten physiologischen Betrachtungsweise der Lebensvorgänge in die Hygiene – eine Betrachtungsweise, die die harmonische Zusammenarbeit der Einzelorgane und die feinen Regulierungsmechanismen im Gesamtorganismus untersuchte, den funktionellen Gründen für Störungen der Harmonie und Regulation nachging und Vorgänge der Anpassung, „Kompensation“ und „Regeneration“ beschrieb.18 Hygiene sollte so zur angewandten Physiologie werden, die nicht nur die letzten spezifischen Krankheitsursachen gelten ließ, sondern auch die in der Ursachenkette weiter entfernten Gründe für die Störung der Harmonie und Regulation (Gottstein 1922: 2585, Gottstein 1925b: 85; Gottstein 1925a: 62-84). Die konzeptuellen Vorgaben Gottsteins fanden, wie verschiedene Studien belegt haben, in der konkreten Ausgestaltung der Gesundheitspolitik Weimars Widerhall (vgl. Weindling 1989a: 342-368; Moser 2002: 93, Stürzbecher 1959). Alfons Labisch bemerkte zur Reichweite der gesundheitspolitischen Aktivitäten Gottsteins, dass es in der turbulenten, sozial wie gesundheitlich schwierigen Anfangsphase der Weimarer Republik keine öffentliche Gesundheitsmaßnahme Preußens und wohl auch des Reiches gab, an der Gottstein nicht an maßgeblicher Stelle involviert gewesen wäre (Labisch 1997: 683). Besonders prominent hervorzuheben ist seine Beteiligung am Krüppelfürsorgegesetz von 1920, dem Hebammengesetz 1922, dem fürsorgerisch orientierten Preußischen Tuberkulosegesetz 1923, dem Ausführungsgesetzes zum Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt 1924, aber auch an der Gründung sozialhygienischer Akademien (vgl. Moser 2002: 95). 17 Den Begriff der „relativen“ Gesundheit übernahm Gottstein von Ludwig Aschoff (Aschoff 1917). 18 Zum Regenerations- und Kompensationsbegriff vgl. Gottstein 1920. 104

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Auf Reichsebene zeigte sich das von Gottstein eingeforderte Primat der Sozialhygiene besonders eindringlich im Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechteskrankheiten von 1927, das den Akzent auf die Aufklärung und Erziehung sowie die frühzeitige Erfassung der Kranken setzte (Saretzki 2000: 373; Labisch/Tennstedt 1991: 22). Auch auf der nationalen Hygiene-Ausstellung Gesolei von 1926 wurde mehr als deutlich, dass bakteriologische Interventionen bei den Geschlechtskrankheiten, aber auch der Tuberkulose keine Priorität mehr besaßen; die beiden Krankheiten wurden kurzerhand aus der Ausstellungs-Gruppe „Übertragbare Krankheiten“ der Abteilung „Gesundheitspflege“ ausgegliedert und in die „Soziale Fürsorge“ eingereiht. Wie ramponiert der Status der ehemaligen Leitwissenschaft Bakteriologie Mitte der 20er Jahre war, manifestierte sich auch im Raum, den man ihr in der Ausstellung als Disziplin zubilligte. Im Begleitband zur Ausstellung hieß es lapidar, es habe darauf verzichtet werden müssen, die Mikrobiologie als Sonderwissenschaft „in großem Umfange aufzuziehen“. Ein Laboratorium, das der Feststellung der Krankheitserreger und der mikrobiologischen Diagnosestellung von Krankheiten diente, sollte als disziplinäre Repräsentation ausreichen (Bürgers 1927: 423).

Transformierte Bakteriologie Mit Blick auf Gottstein weitgehend unbeachtet geblieben ist, dass sich in seinen programmatischen Texten der ersten Nachkriegsjahre durchaus auch Wegweiser für die Reform finden, die sich im bakteriologischen Wissenssystem im Verlauf der 1920er Jahre vollziehen sollte. Dieser Reform und den Anknüpfungspunkten zu Gottsteins Postulaten möchte ich mich abschließend widmen. Die Destabilisierung bakteriologischer Wahrheiten und Denkmuster mündete in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik in einen sukzessiven Wandel der bakteriologischen Wissensordnung. Nicht die akuten Infektionskrankheiten wie noch Ende des 19. Jahrhunderts standen jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Als Forschungsobjekte dienten den Bakteriologen vielmehr die rätselhaften Infektionskrankheiten des Zentralnervensystems wie die epidemische Meningitis und Enzephalitis, die im Gefolge der Influenza-Pandemie große Irritationen ausgelöst hatten, aber auch die so genannten „Zivilisationskrankheiten“ wie Diphterie, Scharlach und Masern und die chronischen Volkskrankheiten wie Syphilis und Tuberkulose. Basierend auf den Studien dieser Krankheiten entwickelte eine Schar junger, von der orthodoxen Schule wenig tangierter

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Bakteriologen sehr viel komplexere Modelle des Infektions- und Seuchengeschehens (vgl. Berger 2009b; Mendelsohn 1996). Bezeichnend an diesen Modellen war, dass dem bakteriellen Faktor – wie dies Gottstein gefordert hatte – nicht länger eine Vorzugsstellung in der Ätiologie eingeräumt wurde. Durch den Einbezug konstitutionsmedizinischer, erbwissenschaftlicher und sozialhygienischer Erkenntnisse richtete sich der bakteriologische Blick stattdessen auf das vielgestaltige Wechselspiel von Erreger und Körper, bei dem die Faktoren Menge und Virulenz auf Seiten der Parasiten sowie die Dispositions- und Immunitätsverhältnisse auf Seiten des Makroorganismus miteinander interagierten und in ihrem Wert wiederum abhängig waren von einem Gefüge innerer und äußerer Verhältnisse. Dazu zählten die „Konstitution“ und die „Anlage“, das Lebensalter oder biologische, geographische und soziale Umwelteinflüsse (vgl. Seitz 1929; Wohlfeil 1931; Rimpau et al. 1928). Da die Bakteriologen überdies die Erkenntnisse aus der physikalisch-chemisch inspirierten Physiologie, aber auch der Ökologie und Parasitologie in ihr Denken integrierten, wurde der Infektionsprozess zunehmend in einen größeren „biologischen“ Kontext eingebettet. Krankheitserscheinungen rückten dabei immer mehr an den Rand und gaben den Blick frei auf die Mannigfaltigkeit und Breite der natürlichen Reaktionen im Wechselspiel von Bakterium und Mensch. Krankheit war in den Augen der Bakteriologen keinesfalls mehr simples Produkt einer „Invasion“ „feindlicher“ Erreger und einer verlorenen „Abwehr“ des menschlichen Körpers. Sie entsprach vielmehr einer Störung eines „Gleichgewichts“ oder einer Harmonie des Körpers, der seinerseits nicht mehr fähig war, durch Anpassungs- und Regulationsleistungen die exogene Schädigung vollkommen zu „kompensieren“. Besonders die latenten Infektionen und latenten Durchseuchungszustände, bei denen pathogene Bakterien mit den Menschen eine Koexistenz zu finden schienen, machten die Wissenschaftler darauf aufmerksam, dass „normaler“ und „anormaler“ Zustand, Physiologie und Pathologie nicht scharf getrennt werden konnten und sich nicht ohne jeden Übergang gegenüber standen (vgl. Berger 2009b) – eine Konvergenz zu Gottsteins Begriff der „relativen Gesundheit“. Zu guter Letzt erfuhr durch die Krise der orthodoxen Bakteriologie auch die bislang sakrosankte Seuchenbekämpfung eine Revision. Gesetzliche Maßnahmen, so waren sich die meisten der nun bescheiden auftretenden Bakteriologen einig, durften nur als Bestandteil einer allgemeinen Seuchenbekämpfung betrachtet werden, in der „Gesundheitspflege in weitestem Maße“ getrieben wurde (Rimpau 1921: 521). Dazu gehörte, wie der Bakteriologe Erich Seligmann vom Hauptgesundheits106

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amt Berlin 1928 betonte, eine Vielzahl von Arbeitsgebieten: Wissen um Bakteriologie und Immunität, um experimentelle und soziale Hygiene, Kenntnisse auf dem Feld der Statistik, in den Büchern der Geschichte und ein offenes Auge für wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge (Seligmann 1928: 16). Die neue und gleichsam integrative Seuchenbekämpfung verabschiedete sich also vom einseitigen Schema der Verfolgung und Vernichtung aller Erreger „bis in die äußersten Schlupfwinkel“. Nicht Ausrottung und Vernichtung wie bei Kirchner lautete die Losung der Stunde. Gefordert wurde vielmehr ein differenziertes, die Eigentümlichkeiten der betreffenden Infektionskrankheiten reflektierendes Vorgehen, bei dem die von Sozialhygiene und Konstitutionsforschung propagierten Gesundheitsinterventionen ein zunehmend wichtiger werdender Bestandteil und eine Ergänzung der sanitätspolizeilichen Vorschriften und Verbote darstellte. Vor allem bei den chronischen Infektionskrankheiten und den Zivilisationsseuchen schrieb man den gesundheitsfürsorgerischen Maßnahmen eine zentrale Bedeutung zu (vgl. de Rudder 1927). Aber auch für die akuten Infektionskrankheiten reichte der reine Parasitenkampf längst nicht mehr aus. Der einzelne Mensch mit seiner individuellen Widerstandskraft, der Einfluss seiner Lebensweise, der Ernährung und der sozialen Umwelt sollte immerzu mit berücksichtigt werden (vgl. Doerr 1932: 23).19 Ein letzter Hinweis Gottsteins fand im bakteriologischen Diskurs Aufnahme: Es war sein Plädoyer für die Autorisierung hygienisch reifer, von der Bazillenangst befreiter Subjekte. Die Bakteriologen waren sich einig: Nicht länger sollten obrigkeitsstaatliche Indoktrination und Zwangsmaßnahmen bevormundete soziale Akteure heranziehen, die überall umherschwirrende Bazillen vermuteten und vor Furcht gelähmt jede Art von Berührung und Kontakt vermieden. Zentrale Voraussetzung der Bekämpfung der Seuchen schien jetzt die Aufklärung jedes Einzelnen zum hygienischen Selbstschutz und zum Verantwortungsgefühl dem eigenen Körper gegenüber. Diese Aufklärung sollte, wie es Gottfried Frey vom Reichsgesundheitsamt formulierte, sowohl lebendig und anschaulich sein als auch persönlich auf den jeweiligen Körperzustand eingehen – eine hygienische Individualbelehrung also zur Produktion selbsttätiger, „von den Regeln der Hygiene durchdrungener Persönlichkeiten“ (Frey 1926: 238).

19 Eher traditionelle Pfade bezüglich Seuchenbekämpfung beschritt bis Mitte der 20er Jahre das Reichsgesundheitsamt, mit dessen Hilfe im Verlauf des Jahres 1921 eine „planmäßige Typhusbekämpfung“ in Mitteldeutschland analog der Koch’schen Typhuskampagne lanciert wurde (Wodtke 1924). 107

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Was in den Texten der Bakteriologen Ende der 1920er Jahre Gestalt annahm, war die Ermächtigung eines von Rudolf Virchow ursprünglich anvisierten „liberalen Selbst“20, das von der orthodoxen Bakteriologie, den polizeilichen Zwangsmaßnahmen und der Bazillenhysterie im Wilhelminischen Obrigkeitsstaat gleichsam entmündigt worden war. Und so enthielt auch das 1928 publizierte Lehrbuch zur Seuchenbekämpfung von Erich Seligmann eine explizite Huldigung Virchows; in der Trias Bildung, Wohlstand und Freiheit habe dieser die heute erneut anzustrebende Vision für die garantierte Gesunderhaltung eines Volkes entworfen (Seligmann 1928: 15/16). Adolf Gottstein, so lässt sich getrost spekulieren, hatte an dieser bakteriologischen Lektüre zweifellos seine helle Freude.

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H ealt h l ik e lib ert y is indi visi ble – zur R ol le der P rä vention im Konz ept d er Sozia lhygi en e A lf red Grot j ah ns ( 1 86 9- 1 93 1) URSULA FERDINAND

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Alfred Grotjahn sein Konzept der Sozialen Hygiene. Der Begriff war keineswegs neu. Er entstand ebenso wie die Begriffe Soziale Medizin und Demographie in Frankreich im Umfeld der frühen Hygienebewegungen. 1 Deren Aktivisten stärkten mit ihren Arbeiten über differentielle Sterblichkeitsraten in Bezug auf soziale Schicht, Rasse, Beruf, Kriminalität, Trunksucht, Mangel an Hygiene das Interesse am ‚menschlichen Faktor‘ in Wissenschaft und Poli2 tik (Sand 1952: 458ff.; Rosen 1975; Latour 2007). Von dort drangen 1

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1838 unterschied J.A. Rochoux zwischen privater (individueller) und öffentlicher (sozialer) Hygiene, die gesetzliches oder staatliches Eingreifen erforderte. Der Arzt Fourcault verwandte 1844 den Begriff ‚Sozialhygiene‘ in seinem Werk zur Verhütung chronischer Erkrankungen. Wenig später – 1848 – prägte der Arzt Jules René Guérin (1801-1886) den Begriff der ‚Sozialen Medizin‘, unter dem er ‚medicinische Polizey‘, öffentliche Hygiene und Gerichtsmedizin zusammenführte (La Berge 1992: 310; Kaspari 1989: 99). Den Begriff Demographie führte 1855 Achille Guillard (1799-1876) ein. Er definierte Demographie als das mathematische Studium der Bevölkerung in ihren allgemeinen Bewegungen (quantitativer Faktor) wie ihrer physischen, zivilen, beruflichen, intellektuellen und moralischen Bedingungen (qualitative Faktoren). Sein Schwiegersohn, der Mediziner Louis Adolphe Bertillon (1821-1883), nahm das Konzept Guillards auf, modifizierte es aber durch die Anbindung an die Anthropologie beziehungsweise die Anthropometrie (Schweber 2006). Zur englischen Hygienebewegung siehe Schweber 2006; Szreter 1996. Vgl. Metz 1988: 140ff. 115

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die Arbeiten und Begriffe auch nach Deutschland. Hier machte Rudolf Virchow (1821-1902) gemeinsam mit Salomon Neumann (1819-1890) und Rudolf Leubuscher (1822-1861) den Begriff ‚Soziale Medizin‘ zur Leitidee ihres 1848er Programms der politischen Reform des gesamten Heilwesens (Grotjahn 1912; Nadav 1985: 30ff.). Als ‚soziale Wissenschaft‘ diente sie als Instrument zur Hebung der Gesundheit und Bildung der Menschen. Mit der sozialen Funktionsbestimmung der Medizin erfassten diese Reformer die soziale Umwelt als Noxe und legitimierten das politische Eingreifen der Medizin in die Gesetzgebung als ein konkretes Projekt der Sozialreform. Sie bestritten die Selbstverschuldung armer Bevölkerungsgruppen an deren hohen Mortalitätsraten und behaupteten die Möglichkeit der Prävention des Pauperismus durch eine wissenschaftliche Politik (Baader 1987; David 1993: 213ff.). Nach der Gründung des Deutschen Reiches gab die soziale Gesetzgebung Anstoß für die Wandlung des Gesundheitswesens. Die aufkommende Fürsorgebewegung förderte die Einsicht einer medizinalstatistischen Durchforschung der Bevölkerungsschichten. Studien der Gesundheitsverhältnisse bestimmter Bevölkerungsgruppen bedienten sich der Methoden aus der Statistik, Anthropometrie und der Nationalökonomie (Vögele/Woelk 2002; Sachsse 1986: 63ff.; Moser 2002). Die Begriffe ‚Soziale Medizin‘ – oft auf Versicherungsmedizin beschränkt beziehungsweise mit Sozialer Hygiene gleichgesetzt3 – und ‚Soziale Hygiene‘ kamen wieder in Mode. Den Begriff der Sozialen Hygiene hatte 1870 der neomalthusianisch ausgerichtete Arzt Eduard Reich (1836-1919) in Deutschland eingeführt. Deren Aufgabe sah er darin, alle Erscheinungsformen des sozialen Lebens zu untersuchen, um das Wohl der Gemeinschaft zu wahren (Reich 1870). In der Verwaltungslehre des Staatsrechtlers und Nationalökonomen Lorenz von Stein (1815-1890) zielte die Soziale Hygiene darauf, „den Schutz des Lebens und der Gesundheit vom Mangel an Besitz unabhängig [zu] machen“ (zitiert. nach Stöckel 1996: 25). Akademische Anerkennung fand die Soziale Hygiene durch Max von Pettenkofer (1818-1901). Er definierte sie im Sinne einer umfassenden öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Mit dem Aufkommen der Bakteriologie fand die

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Der Begriff ‚Soziale Medizin‘ war lange Zeit umstritten. Grotjahn beispielsweise erfasste darunter die ärztliche Gutachtertätigkeit. Sozialhygieniker wie Benno Chajes (1880-1938) sahen sie als Wissenschaft, die sich „mit medizinischen Fragen befasst, welche in das Gebiet der staatlichen und privaten Versicherung fallen, und welche andere Gesundheits- und Standesangelegenheiten in ihren Beziehungen zum öffentlichen Leben betreffen“ (Weder 2000: 258f.; Weindling 1989: 220f.; Harig/Schneck 1990: 248ff. Vgl. Gottstein 1909: 75ff.; ders. 1932).

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Hygiene dann ihren Platz an den Universitäten, doch ließ sie als physikalisch-biologisch ausgerichtete Wissenschaft soziale Aspekte weitgehend unbeachtet. In den 1890er Jahren wurde nach der Entlassung Bismarcks die Soziale Frage, unter die Gesundheitsfragen subsumiert waren, wieder virulent. Dabei wurden sich verändernde Berufsstrukturen und die neuen Stratifikationsprozesse – Kennzeichen innerer Bevölkerungsverschiebungen und struktureller Änderungen – oftmals als Weg in den ‚Untergang‘ beziehungsweise zunehmender ‚Degeneration‘ der deutschen Nation wahrgenommen. In den Debatten über die Auswirkungen des Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses brach sich die bevölkerungsstatistische ‚Entdeckung‘ des demographischen Übergangs Bahn (Ferdinand 2005). Diese stieß statistische Studien über Fruchtbarkeitsund Mortalitätsunterschiede in unterschiedlich definierten Gruppen (Subpopulationen) und sozialdarwinistische Studien über den vorgeblichen ‚Rassen-‘ beziehungsweise nationalen Selbstmord an. Sie beförderte das eugenische und rassenbiologische Denken wie soziologisch empirische Forschungen zur Frage nach dem biologischen Fundament moderner Klassen- und Schichtenbildung. Ebenso weckte diese ‚Entdeckung‘ erneut das Interesse reformorientierter Ärzte an demographischen und sozialen Aspekten von Krankheit und Gesundheit. In ihre Betrachtungen der Wechselwirkungen der natürlichen Umwelt und der Gesundheit des Menschen bezogen sie sowohl die Lebens- und Arbeitsbedingungen armer Bevölkerungsgruppen wie ‚Zivilisationskrankheiten‘ der ‚Begüterten‘ ein, darunter Herzkreislauferkrankungen, Krebs und Nervosität (Nadav 1985; Moser 2002: 45f.). In diesem komplexen gesellschaftlichen Umfeld war Grotjahns Projekt verortet. Es wurde sein Verdienst, der Sozialen Hygiene ein eigenständiges Profil4 und eine „selbständige, eigene Stellung im System der Wissenschaft“ zu geben (Niedermeyer 1934: 214; Jahresbericht 1913: 1; Schallmayer 1914: 330; Nadav 1985: 75ff.).

G r o t j a h n s Ko n z e p t i o n d e r S o z i a l h y g i e n e Grotjahns Sozialhygiene antwortete dezidiert kritisch auf die disziplinären Entwicklungen der naturwissenschaftlichen Hygiene wie auf rassen- und sozialanthropologische und rassenhygienische Positionen. 4

Neben Grotjahn zählen zu den führenden Theoretikern der Sozialen Hygiene im deutschsprachigen Raum Alfons Fischer (1873-1936), Adolf Gottstein (1847-1941), Ludwig Teleky (1872-1957) und Julius Tandler (1869-1936) (Eckart 2001: 341). 117

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Zugleich war sie Antwort auf die Soziale Frage dieser Zeit wie auf die neuen demographischen Entwicklungen. Als praktischer Arzt, ‚medizinischer Kathedersozialist‘ und Wissenschaftler verwies Grotjahn auf die sich verschlechternde gesundheitliche Situation der Arbeiterschaft und forderte Sozialreformen (Grotjahn 1932). Das Rüstzeug dazu hatte er sich durch seine Arztpraxis im heutigen Berliner Stadtteil Kreuzberg wie in nationalökonomischen und soziologischen Schulungen bei Wilhelm Roscher (1817-1894) in Leipzig, bei Ferdinand Tönnies (1855-1936) in Kiel und bei Gustav Schmoller (1838-1937) in Berlin erworben (ebd.). In einer Ernährungsstudie,5 die sich auf Frédéric Le Plays (1806-1882) Kostsätze und Ernst Engels (1821-1896) Budgetrechnung stützte, zeigte er, dass die Umgestaltung der Volksernährung in einen ‚rationellen Ernährungstypus‘ bei den unteren Schichten mit unzureichender Ernährung einherging (Grotjahn 1902; Grotjahn 1923: 422ff.; Lewin 1913: 19ff.). Das erkannte Grotjahn als ein soziales Problem, dem durch sozialpolitische und -hygienische Maßnahmen Abhilfe geschaffen werden sollte (Grotjahn 1902; Lewin 1913: 42f.). Der These, dass Urbanisierung und Industrialisierung Entartung verursache, setzte er eine Depravationsthese entgegen. Damit polemisierte er gegen das ‚zoologische‘ und ‚anthropologische‘ Entartungsverständnis des Rassenhygienikers Alfred Ploetz (1860-1940) und bekämpfte das Vorurteil, dass „jedes Kulturvolk unter allen Umständen über kurz oder lang einmal der Entartung verfallen und schließlich ganz verschwinden müsse“ (Grotjahn 1902: 69; ders. 1902a: 169; ders. 1932: 131). Mit den Betrachtungen der Ernährungssituation einzelner Schichten erweiterte Grotjahn die (neo-)malthusianische Sicht der Wechselbeziehungen zwischen Nahrungsspielraum und Bevölkerung. Durch die Anbindung der Sozialhygiene an die Nationalökonomie und die Soziologie grenzte er sich zudem vom Verständnis biologisch-physikalischchemisch-orientierter Hygieniker ab. Für Grotjahn stand zwischen den Menschen und der Natur die Kultur, die am gesellschaftlichen Gebilde gebunden war, weshalb die Hygiene ihre Aufmerksamkeit auf die Einwirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse richten musste. Hygiene, die die soziale Umwelt einzubeziehen hatte, „in denen Menschen geboren werden und leben, arbeiten und genießen, sich fortpflanzen und sterben“, wurde „zur sozialen Hygiene, die der naturwissenschaftlichen als Ergänzung zur Seite tritt“ (Grotjahn o.J.: 219; ders. 1923: 2).

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Davor veröffentlichte Grotjahn eine Studie zum Alkoholismus. Das Problem des Alkoholismus sah er als ein soziales, dessen Bekämpfung als Aufgabe der Sozialpolitik (Grotjahn 1896; vgl. Nadav 1985: 66f.).

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SOZIALHYGIENE ALFRED GROTJAHNS

Die Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Biologen, Nationalökonomen und Soziologen forcierte Grotjahn gemeinsam mit seinem Freund, dem Ökonomen Friedrich Kriegel (*1870), mit der Gründung der Jahresberichte über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demographie (Kantorowicz 1931: 289f.). Gemäß dem Grundsatz, „dass sowohl alles auf dem Gebiete der Medizin und Hygiene, was für den Volkswirt, als umgekehrt auf dem Gebiete der Nationalökonomie und der Sozialwissenschaften alles, was für den Arzt von Interesse sein könnte, registriert zu werden verdiene,“ (Jahresbericht 1902: IIIf.) sollte die Zeitschrift als Plattform für fächerübergreifende Informationen aus der Sozialen Hygiene und der Demographie dienen. Als notwendig ergänzender Teil der physikalisch-biologischen Hygiene wurde die Soziale Hygiene als eine eigenständige Disziplin gesehen (Grotjahn/Kriegel 1904). Für diese neue interdisziplinär angelegte Wissenschaft suchte Grotjahn nun eine systematische Begrifflichkeit zu erstellen.

G r o t j a h n s De f i n i t i o n d e r S o z i a l e n Hy g i e n e Das Grundkonzept seiner Sozialen Hygiene präsentierte Grotjahn 1904 erstmals vor der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Gesundheitspflege in Berlin. Hier definierte er Soziale Hygiene als deskriptive und normative Wissenschaft. Als deskriptive Wissenschaft war sie „die Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen unterliegt“;

als normative „die Lehre von den Maßnahmen, die die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter der Gesamtheit von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen bezwecken.“ (Grotjahn/Kriegel 1904: XIVf.; Grotjahn/Kriegel 1906: 1f.)

In dieser Definition verschmolz Grotjahn die (sozial- und gesundheitspolitische) Forderung nach Wahrnehmung und Beschreibung der sozialen Faktoren im Gesundheits- und Krankheitsgeschehen mit seinem Leitmotiv des ‚sozialhygienischen Kalküls‘ – der generationsüberspannenden Verbreitung der hygienischen Kultur. Damit legte er einen doppelten Aufgabenbereich der Sozialhygiene fest: Als deskriptive Wissen119

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schaft hatte sie den „allgemeinen Status praesens hygienischer Kultur“ umfassend aufzunehmen und zu schildern, als normative Wissenschaft bewusst „die Verallgemeinerung der hygienischen Maßnahmen, die immer zunächst nur einer bevorzugten Minderheit zugute kommen, auf den ganzen Volkskörper und somit eine fortschreitende Verbesserung des jeweiligen Status praesens“ zu bezwecken (Grotjahn 1912a: 412; Moser 2002: 48f.). Durch die sozialhygienische Zielvorstellung – „die größtmögliche Verhütung von dem Körper drohenden Schädlichkeiten bei der größtmöglichen Zahl oder gar der Gesamtheit“ (Grotjahn 1912a: 412) – waren die Medizinal-, Bevölkerungsstatistik, beschreibende Nationalökonomie und Sozialwissenschaften wie die wissenschaftliche Analyse von Politik Hilfswissenschaften der Sozialen Hygiene. Dabei ging es Grotjahn nicht nur um die Beobachtung des Zusammenhangs zwischen Gesundheit und sozialer Lage, sondern um die aktive Beeinflussung dieses Gefüges. Die Soziale Hygiene sollte als eine Methode der präventiven Medizin im Großen die brennenden gesundheitlichen Probleme des 20. Jahrhundert lösen (Eckart 2001: 342; Grotjahn 1923: 446ff.). Die Gesundheitspflege war „die Verallgemeinerung der Köperkultur in allen Schichten unseres Volkes. Sie erstreckt sich […] auch auf die zukünftigen Generationen und hat als Endziel nichts mehr und nichts weniger als die ewige Jugend des eigenen Volkes“ (Grotjahn o.J.: 231).

Di e E r w e i t e r u n g d e s K o n z e p t s d e r Sozialen Hygiene Als normative Wissenschaft hatte Grotjahns Soziale Hygiene eine teleologische Ausrichtung. Ihr Zweck und Ziel war eine stetig fortschreitende Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Konstitution ‚nachwachsender‘ Menschen. „Wir definieren die Soziale Hygiene als die Lehre von den Bedingungen, denen die Verallgemeinerung hygienischer Kultur unter einer Gruppe von örtlich, zeitlich und gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen und deren Nachkommen unterliegt, sowie weiterhin als die Lehre von den Maßnahmen, mit Hilfe deren jene Bedingungen dem körperlichen Befinden der Menschen dienstbar gemacht werden können.“ (Grotjahn/Kriegel 1906, 1f.)

Die Aufnahme des generativen Aspektes – die Einbeziehung kommender Generationen – in den Planungshorizont der Theorie nahm Grotjahn zunächst strategisch als Abwehr gegenüber und Schutz vor rassenhygie120

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nischer Kritik an den kontraselektiven Wirkungen sozialpolitischer, und -hygienischer Maßnahmen vor. Doch bildete der generative Aspekt als wichtiges Charakteristikum des interdisziplinär breit angelegten Projektes den Grundstein für dessen Erweiterung. Unter Einbeziehung dieses Aspektes erfasste Grotjahn Bevölkerung als den „Inbegriff aller eines Volkes Land bewohnender, nach Abstammung, Geschlecht, Alter, leiblicher und geistiger Bildung verschiedener, aber generativ miteinander verbundener Individuen“ (Grotjahn 1926: 23). 6 Bevölkerung – Ergebnis der Fortpflanzung – umfasste nicht nur eine ‚Vielheit‘ nebeneinander stehender Individuen, „sondern auch eine solche von zeitlich aufeinander folgenden, durch überkommene Erbanlagen untereinander und mit den Vorfahren und Nachkommen eigenartig verbundener Personen“ (ebd.).7 Das Objekt der Hygiene war das Nebeneinander der Individuen nach Alter und Geschlecht und das Nacheinander von Individuen als Reihe der Geschlechterfolge. Damit hatte sich Soziale Hygiene mit den sozialen Bedingungen von Krankheiten, den ‚Beeinflussungen‘ sozialer Zustände von Krankheiten sowie mit der Prävention ‚erblicher Belastungen‘ der Bevölkerung zu befassen. Die (generative) ‚Verhütung der Degeneration‘ war ihr immanenter Teil. Die Prävention ‚erblicher Belastungen‘ als Abwehr der ‚Degeneration‘ war Aufgabe der sexuellen oder generativen Hygiene, eine das generative Verhalten des Menschen rationell regelnde Sonderdisziplin. Deren auf Kenntnisse der Vererbungswissenschaft und bevölkerungsstatistischen Gesetzmäßigkeiten gestützten Maßnahmen – so hoffte Grotjahn – würden den Widerspruch zwischen dem aus humanitären Gründen gebotenen ‚Schutz minderwertiger Elemente‘ und der vererbungsbiologisch angezeigten ‚Prophylaxe der Vererbung von Minderwertigkeit‘ harmonisieren (Grotjahn 1915: 17; ders. 1926: 97ff.; vgl. Hubenstorf 1987: 350f.; Moser 2002: 47f.). In einer Sozialen Hygiene, die sich auch auf die Nachkommen erstreckt, wird die Prophylaxe ‚erblicher Belastungen‘ das eigentliche, weil nachhaltige Instrument, um auf die Gesundheit zukünftiger Generationen einzuwirken. Dies erhob den eugenischen Gesichtspunkt über die sozialhygienischen Bestrebungen:

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Grotjahn stützte sich dabei auf den Bevölkerungsbegriff des Soziologen Albert Schäffle (1831-1903), den er um den Zusatz „aber generativ miteinander verbundener Individuen“ erweiterte (Grotjahn 1926: 23). Hier verweist Grotjahn auf einen solchen Bezug bereits bei seinem einstigen Lehrer Gustav Schmoller. 121

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„Was nützt auf die Dauer jede individuelle und soziale Hygiene, was alles hygienisch einwandfreie persönliche Verhalten und die Assanierung der Wohnplätze, wenn die Bevölkerung als Ganzes sich vermindert und zugleich verschlechtert. Nur die stete Berücksichtigung der eugenischen Belange bei allen sozialhygienischen Bestrebungen kann die kulturell führenden Völker vor einer allmählich fortschreitenden Entartung des physischen Substrats ihrer Kultur bewahren. Soziale Hygiene kann und darf nicht ohne die engste Verbindung mit praktischer Eugenik getrieben werden.“ (Grotjahn 1926: 97)8

Der Schulterschluss mit der Eugenik, den Grotjahn hier vollzog, prägte seine ‚Hygiene der menschlichen Fortpflanzung‘ und seinen Begriff für Eugenik (Ferdinand 2006; dies. 2007; dies. 2009). Danach „befasst sich [die Eugenik] mit den natürlichen und sozialen Aufzuchtbedingungen des Menschen und mündet in Bestrebungen ein, diese nach Beschaffenheit und Zahl, also in qualitativer und quantitativer Hinsicht günstig zu beeinflussen“.9 In einer zukunftsorientierten und auf stetige Verbesserung der Volksgesundheit ausgerichteten Sozialen Hygiene lag der Fokus auf der Fruchtbarkeit beziehungsweise auf der (differentiellen) Fortpflanzung (Grotjahn 1926: 76ff.). Dies wurde Grotjahns Einstieg in die Diskussionen um den Geburtenrückgang, in denen der Experte der Sozialen Hygiene bald auch zum gefragten, wenn auch umstrittenen Experten avancierte (Grotjahn 1915: 481ff.; ders. o.J.; ders. 1926: 101ff.).

Geburtenrückgang, Soziale Hygiene und Eugenik Grotjahn sah es als Aufgabe der Sozialen Hygiene zu untersuchen, warum in der Geschichte Kulturvölker untergegangen waren. Aus diesen Untersuchungen wollte er Maßnahmen abgeleitet wissen, die einem Volk ermöglichen, „die körperliche Grundlage seiner Kultur, seine Volkskraft, dauernd unversehrt zu erhalten“ (Kantorowicz 1931: 290; Grotjahn 1932: 118). Die demographische Entwicklung seiner Zeit (Geburtenrückgang) richtete Grotjahns Blick auf die Praxis der Geburtenbeschränkung, deren (vorgebliche) Übertreibungen und unzureichende Berücksichtigung eugenischer Ziele er beklagte:

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Vgl. zur Begriffsdefinition Grotjahn 1926: 9ff.; Gottstein 1932; Moser 2002, 57ff. Archiv der Humboldt-Universität: Nachlass Alfred Grotjahn, Akte 322, Bl. 1.

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„Die zwingende Notwendigkeit der Kulturvölker, und namentlich Deutschlands, das Wachstum ihrer Bevölkerung zu beschränken, ist insofern auch eine Voraussetzung für eine planvolle Eugenik, als es nahe liegt, die Beschränkung nicht nach der Willkür der einzelnen Elternpaare, sondern mit Rücksicht auf den somatischen und psychischen Wert der zu erwartenden Nachkommen durchzuführen.“ (Grotjahn 1926: 90)

Der Geburtenrückgang sei notwendiges ‚Ventil‘ gegen ein zu starkes Bevölkerungswachstum. Das aber galt es für Grotjahn nicht zu schließen, sondern richtig zu handhaben: „Der Geburtenrückgang ist nicht zu bekämpfen, sondern an der richtigen Stelle anzuhalten.“ (ebd.: 103f.) Mit der technischen Rationalisierungsthese erfasste Grotjahn als Ursache des Geburtenrückgangs die (verbreitete) Anwendung der Präventivmittel, zunehmende Demokratisierung des Wissens über Vorbeugung von Geburten sowie ‚Selbstzucht‘ und Besonnenheit kulturell wie sozial aufsteigender Schichten und mangelndes eugenisches Wissen. Da sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen ließ und zudem die Anwendung von Präventivmitteln aus medizinischen und eugenischen Gründen wünschenswert war, galt es sowohl die Reproduktion von Nachkommen als auch deren Verhinderung unter die Führung der Wissenschaft (Ärzte) zu stellen (Grotjahn 1914; ders. 1915: 505ff.; ders. 1930: 182). Grotjahn erhob damit den Geburtenrückgang zum Zentralproblem der Sozialen Hygiene wie der (praktischen) Eugenik. Dieses demographische Phänomen verpflichtete zur ‚Rationalisierung der Fortpflanzung‘, zu einer planenden eugenischen Bevölkerungspolitik. Die hier immanente Notwendigkeit zur Bündnispartnerschaft von Sozialer Hygiene und Eugenik gab Grotjahn durch die enge Verknüpfung beider eine Plattform (Grotjahn 1926: 99). Dabei hatte sich die Eugenik (Fortpflanzungshygiene) auf biologisch-medizinisches Tatsachenmaterial zu stützen. Sie basierte auf der Beobachtung der Masse von Individuen (Bevölkerung) und war über die Bevölkerungsstatistik methodisch mit der Sozialen Hygiene verbunden. Eugenik hatte sozialwissenschaftliche Gedankengänge einzubeziehen, zur Lösung der eigentlichen Probleme vorzudringen und zu einer ‚planvollen Eugenik für alle‘ zu werden. Angesichts der neuzeitlichen Bevölkerungsentwicklungen (Geburtenrückgang) galt es zu berücksichtigen, dass Veränderungen einer Bevölkerungsgröße (Quantität) immer auch zu Veränderungen ihrer Qualität führten. Für Grotjahn war das Erbgut des Individuums unveränderlich, jedoch ließ sich das Gesamterbgut einer Bevölkerung (Masse von Individuen)

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„sehr wohl dadurch mindern, dass für eine verschiedene Fortpflanzung der Einzelnen, je nach ihrem generativen Werte, gesorgt wird. Das geschieht im guten und schlechten Sinne durch das Spiel der sozialen Faktoren, die im Gegensatz zu den Erbfaktoren schnell und leicht veränderbar sind. Für den, der diesen Gedankengang einmal erfasst hat, ergibt sich ohne weiteres eine enge Verbindung von Sozialpolitik und Sozialhygiene mit der praktischen Eugenik.“ (Grotjahn 1926: 100)

Eine sozial bedingte differentielle Fruchtbarkeit war dem Walten sozialer Faktoren und deren Einwirkungen zugänglich und als solche der Aufgabenbereich der praktischen Eugenik (Grotjahn 1926: 248). In der Konsequenz hatte seine Fortpflanzungshygiene die ‚quantitative‘ und ‚qualitative‘ Rationalisierung der menschlichen Fortpflanzung zu umfassen (Grotjahn 1915: 489, 493, 509; ders. 1926: 112). Sie, deren Objekt das ‚große Ganze‘ (Bevölkerung) und nicht das Individuum war, legte als Zuchtziel des Menschen „eine dem Nahrungs- und Kulturspielraum angemessene Bevölkerung“ fest, in der „von Generation zu Generation weniger mit Erbübeln Behaftete und immer mehr Rüstige und Begabte geboren werden“.10 Ersteres – das ‚richtige Anhalten des Bevölkerungswachstums‘ – oblag der ‚quantitativen Rationalisierung‘, war Aufgabe planender (sozialer) Reformpolitik. Letzteres, die ‚qualitative Rationalisierung‘ – Beseitigung der dysgenischen Wirkungen der differentiellen Fruchtbarkeit – war Aufgabe der menschenökonomischen/eugenischen Politik im Verbund mit der individuellen und sozialen Fortpflanzungshygiene unter der Aufsicht des Arztes (Grotjahn 1915: 527; ders. 1914/15; ders. 1926: 122). Hier habe der Mensch, jene knapp werdende Ressource, im Mittelpunkt einer Gesundheits- und Bevölkerungspolitik (‚Menschenökonomie‘) zu stehen.11 „Der Mensch als solcher wird wieder wertvoll. Nicht mehr die ›Güter‹ sondern die Menschen geraten in den Mittelpunkt der öffentlichen Anteilnahme. Nicht mehr die Finanz- und die Gewerbepolitik werden die erste Stelle in den politischen Diskussionen und Maßnahmen einnehmen, sondern die Bevölkerungspolitik, die ‚Menschenökonomie‘, die Einsparung von Menschen, wird zur zwingenden nationalen Forderung, die auf die Bekämpfung und Verhütung aller wichtigen Krankheiten, auf den Säuglingsschutz und die Fürsorge der Unehelichen mächtig fördernd einwirken muss.“ (Grotjahn 21915: 520)

10 Archiv der Humboldt-Universität: Nachlass Alfred Grotjahn, Akte 325: Eugenisches, Bl. 2. Siehe auch Grotjahn 1926: 247. 11 Das Konzept der Menschenökonomie stammt von dem Wiener Soziologen und Privatgelehrten Rudolf Goldscheid (1870-1931). Siehe Goldscheid 1911. 124

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Zur Rolle der Prophyl axe in Grotjahns Sozialer Hygiene Grotjahn ging es in seiner Sozialen Hygiene um eine aktive Beeinflussung des Zusammenhangs zwischen Gesundheit und gesellschaftlicher Lage. Als Methode der präventiven Medizin versprach die Soziale Hygiene die Lösung der gesundheitlichen Probleme des 20. Jahrhunderts. Die Soziale Hygiene hatte sich mit spezifischen Änderungen, „welche die Gesundheit bestimmter Gesellschaftsgruppen durch ihre Sonderstellung begründende Faktoren erfährt“ sowie „mit der Rückwirkung dieser spezifischen Veränderungen auf den Nachwuchs dieser Gruppen insgesamt“ zu befassen (Labisch 2001: 79). Die Gesundheitsfürsorge als Praxis der Soziale Hygiene richtete sich auf Gruppen, die durch Alter, soziale Lage oder Berufstätigkeit besonderen gesundheitlichen Gefährdungen ausgesetzt waren (unter anderem Mütter und Kinder) sowie auf solche, die durch (Volks-)Krankheiten sich und ihre Mitmenschen gefährden (Tuberkulöse, Geschlechtskranke, Alkoholiker, Geisteskranke etc.). Sozialhygiene richtete den Blick auf die Häufigkeit von Krankheiten in bestimmten Gesellschaftsgruppen und deren spezifischen (pathogenen) Lebensverhältnisse, wofür Grotjahn den Begriff der „Sozialen Pathologie“12 prägte (Labisch 2001: 79). Soziale Pathologie behandelte vor allem den gesellschaftlichen Konnex verschiedener Krankheitsgruppen, womit Grotjahn den prophylaktischen Gesichtspunkten – der Verhinderung von Krankheiten – eine besondere Bedeutung zuschrieb. Von sozialpathologischer Bedeutung waren Krankheiten der Kinder und Frauen, chronische Infektionskrankheiten (etwa Tuberkulose), vor allem aber Nerven- und Geisteskrankheiten. Daneben wurden unter sozialen Aspekten auch Geschlechts- und Hautkrankheiten sowie Krankheiten des Herzens und der Blutgefäße und Krebserkrankungen betrachtet, wobei bei den letztgenannten das soziale Moment noch unzureichend geklärt war (Grotjahn 1915; ders. 1923; Nadav 1985: 106f.).13 Für Grotjahn war es eine Binsenwahrheit, dass es leichter sei, „zehn Krankheiten zu verhüten als eine zu beheben“ (Grotjahn o.J.: 5). Sämtliche Krankheiten wären vermeidbar, ein großer Teil der Krankheiten je12 Die Soziale Pathologie erschien 1912. Es folgten 1915 und 1923 zwei weitere Ausgaben, wobei in der dritten Auflage einzelne Kapitel von Kollegen Grotjahns verfasst wurden. 13 Es zeigte sich durchaus bei Krebs eine Zunahme der Krankheits- und Todesfälle, was der verbesserten Diagnostik geschuldet war. Die Zunahme der Krebskrankheiten war zwar unbestreitbar, jedoch der Einfluss von sozialen Faktoren auf deren Entstehen wie auf die Ätiologie der Geschwülste überhaupt – mit Ausnahme der sogenannten Gewerbekrebskrankheiten – noch weitgehend ungeklärt. 125

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doch unheilbar (Grotjahn 1923: 446). Die Prophylaxe von Krankheiten war deshalb mit allen Mitteln individuell und sozial zu betreiben. Das umfasste die weitgehend vernachlässigte individuelle Gesundheitspflege, die er Orthodiätetik nannte, dann Maßnahmen, die der sozialen Umwelt alle jene Bedingungen entziehen, die krankheitserregend, verkümmernd und entartend einwirken, schließlich die hygienische Überwachung der Fortpflanzung im Rahmen der Familie (Grotjahn o.J.: 8; ders. 1923: 446). Der damit verbundene Verhaltens- und Maßnahmenkatalog umfasste für die individuelle Hygiene neben der Aufklärung, sportlicher Betätigung und hygienischer Bekleidung wie richtiger Ernährung die Forderung nach alkoholfreier und völlig ‚narkotinfreier‘ Kultur. Das sah Grotjahn als Möglichkeit, dass „eine Unzahl von chronischen Schwächezuständen und Kränklichkeiten verschwinden, wenn man grundsätzlich sich auf die echten Genüsse der Sinne und des Geistes beschränken und die lebenden Körperzellen nicht tagtäglich durch chemische Reizmittel des Alkohols, Nikotins und Koffeins in unnatürlicher Weise überschwemmen würde. Die ungeheuerlichen Summen, die wir diesen absurden Surrogatgenüssen opfern – sie betragen allein in Deutschland mindestens sieben Milliarden jährlich – könnten anstatt dessen für echte Genüsse ausgegeben werden. Wenn auch dieses Ziel in weiter Ferne liegt, so hindert nichts irgendjemanden, einmal für seine Person mit der Enthaltsamkeit nicht nur vom Alkohol, sondern auch vom Tabak, dem Koffein und dem Tee einen Versuch zu machen.“ (Grotjahn 1929: 119)

Der Erfolg der Prophylaxe ansteckender Krankheiten ermöglichte es, als Ziel der Hygiene zu definieren: „Der gesunde Mensch – nicht mehr bloß eine möglichst ansteckungsfreie Umgebung – muss das Ziel sein, nach dem sich in Zukunft die Hygiene zu orientieren hat.“ (Grotjahn 1923: 450) Dieser Ansatz unterstrich auch die Bedeutung der Gesundheitspflege der heranwachsenden Kinder. Zudem stellte für Grotjahn das demographische Phänomen Geburtenrückgang, das die Sicherstellung der Quantität der Kulturvölker des europäischen Kulturkreises notwendig mache, die Hygiene vor neue Aufgaben: „Was für die Hygiene des neunzehnten Jahrhunderts, die im wesentlichen der Bekämpfung der Volksseuchen galt, der Choleraschrecken war, das wird für die Hygiene des zwanzigsten Jahrhunderts das Gespenst des Geburtenrückganges werden“ (Grotjahn o.J.: 229). Hier war es nun Aufgabe der Sozialen Hygiene, die „Rationalisierung der menschlichen Fortpflanzung aus der verhängnisvollen Übergangszeit herauszuführen und sie aus einem Instrument der Selbstvernichtung des physischen Substrats unserer Kultur […] zu einem solchen der Läute126

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rung der menschlichen Art von Minderwertigen umzubilden“ (Grotjahn 1923: 532). Das nun gab innerhalb seines Ursachenkatalog der Bedingungen, die auf die körperliche und geistige Gesundheit des Menschen Einfluss nehmen, – (a) Gruppe der spezifischen Ursachen (unter anderem Unfall oder Ansteckung), (b) Gruppe der sozialen Faktoren (Umwelt, Ernährung, Beruf), (c) Gruppe der erblich überkommenen Anlagen von Belastungen und Begabungen – der Prophylaxe dieser Ursachengruppe eine unterschiedliche Bedeutung. Die Prophylaxe oder Minderung des negativen Wirkens auf die körperliche und geistige Gesundheit der Menschen der ersten beiden Ursachengruppen oblag unter anderem der Wohnungs- Bildungs-, Gesundheits-, Arbeitschutz-, Kinder- und Wöchnerinnenschutzpolitik. Einem solchen Zugriff entzog sich aber weitgehend die Gruppe mit erblich überkommenen Anlagen, die Gegenstand von Grotjahns Fortpflanzungshygiene (Eugenik) war. Mit dieser zeigte er die Möglichkeit auf, durch „Änderungen sozialer Faktoren indirekt auch […] Einfluss auf das granitfeste Anlagematerial“ auszuüben (Grotjahn 1926: 7f) und zwar durch eine (selektive) Fortpflanzungspolitik: Prophylaxe gegen die „Erzeugung und Fortpflanzung von körperlich und geistig Minderwertigen“ bei gleichzeitiger Förderung der Erzeugung und Fortpflanzung „der Rüstigen und Höherwertigen“ (Grotjahn 1929a: 65f.). Das stand aufgrund des Geburtenrückgangs unter dem Gebot (rationeller) quantitativer und qualitativer Fortpflanzungshygiene (Bevölkerungspolitik). Die Sicherung einer ausreichenden Quantität (Bevölkerungszahl) verdichtete Grotjahns (geburtenpolitischer) Regelkatalog zur Prävention von Entvölkerung (Grotjahn 1915: 508ff.; ders. 1926: 127ff.). Dieser trug den hygienisch-medizinischen, kulturellen und privatwirtschaftlichen Interessen der Elternpaare ebenso Rechnung wie dem nationalen und zielte auf den Volkserhalt (ausreichender ‚Geburtenüberschuss‘ oder ‚optimale‘ Bevölkerungszahl). Dazu hatte Grotjahn eine Bestandserhaltungsziffer von durchschnittlich drei Kindern pro Eltern errechnet (Grotjahn 1926: 128ff.).14 Dem Regelkatalog stellte Grotjahn zudem die Idee der Elternschaftsversicherung zur Seite (Grotjahn 1930a; ders. o.J.a; ders. 1926: 204ff.; ders. 1928). Aufgabe dieser Versicherung war, ein Überhandnehmen individuell geübter Geburtenprävention durch materielle Anreize zur Geburt von Kindern (pronatalistische Politik) zu begegnen. Sie zielte prospektiv ebenso wie Beratungs- oder Fürsorgeinstitutionen und Aufklärungskampagnen auf die Veränderungen individuel14 Diese entlieh er dem Bevölkerungsstatistiker Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931) (Grotjahn 1926: 128ff.). Heute wird regelmäßig die Ziffer von 2,1 Kindern je Frau genannt. 127

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ler Verhaltensnormen entsprechend dem Motto „Du sollst nicht Geburtenverhütung treiben an falscher Stelle oder in falschem Ausmaße“. Zugleich sollte damit selbstredend das ‚eugenische Gewissen‘ und Verhalten gestärkt werden (Grotjahn 1926: 245ff.). In Grotjahns Sozialhygiene bildete die Prophylaxe gegen Entvölkerungstendenzen jene Voraussetzung für eine nachhaltige krankheitsorientierte Prophylaxe gegen ‚Entartungstendenzen‘. Die qualitative Seite der Fortpflanzungshygiene (Eugenik) ergänzte die individuelle und ärztliche um die soziale Fortpflanzungshygiene, die die (nachhaltige) Prävention der ‚konstitutionellen Entartung‘ der Bevölkerung bezweckte: Als Instrument der ‚Prophylaxe gegen erbliche Belastungen‘ hatte sie prospektiv die „Armee der Minderwertigen“ durch eine Verhinderung ihres „frischen Zuzug[s]“ zu vermindern: „Ist es doch schon schlimm genug, dass sie [die Armee der Minderwertigen] imstande ist, sich durch Erbgang selbst zu ergänzen.“ (Grotjahn 1912b: 268; ders. 1915: 487) Das bezog Grotjahn auf Nerven- und Geisteskrankheiten wie auf Tuberkulose. Für ihn gehörten beispielsweise Personen, die aus Familien kamen, in denen Lungentuberkulose vorkommt, nicht „zu den Fortpflanzungstüchtigen“. Da diese Kranken oft auch an „Regelwidrigkeiten am Brustkasten, der Drüsen oder des Herzens leiden“, sollte deren Fortpflanzung durch Eheverbote oder – bei Verehelichung – durch ärztliche Verordnung von Verhütungsmitteln unterbunden werden (Grotjahn o.J.: 148; ders. 1923: 73ff.). In Grotjahns Fortpflanzungshygiene bewertet der generative Aspekt die physische und geistige Gesundheit potentieller Nachkommenschaft am Wert der ‚Erbqualität‘ gegenwärtiger Eltern‚anwärter‘. Diese schied Grotjahn über keimschädigende Krankheitsgruppen in Individuengruppen, die für die Fortpflanzung geeignet, bedingt geeignet oder ganz ungeeignet waren. Langfristig keimschädigend wirkten umwelt- oder verhaltensbedingte Krankheiten – etwa Malaria, Alkoholismus, Bleikrankheiten – ebenso wie lebenslange Unterernährung, erworbene chronische Krankheiten, Überanstrengungen oder ‚überstürzende Wochenbetten‘ – eine Faktorenzusammenstellung, die heute überrascht. Sie schwächten nicht die Zeugungsfähigkeit rüstiger Individuen, beeinflussten sie jedoch insofern, „als die erzeugten oder geborenen Nachkommen schlechter ausfallen als die Eltern“. Auch hier oblag deren Prävention dem Aufgabenbereich der Sozial-, Gesundheits- und Hygienepolitik. Sie hatten mit entsprechenden sozial- und gesundheitspolitischen Maßnahmen solche Missstände kurz- und mittelfristig zu beheben. Diese wirkten langfristig durchaus dem Umsichgreifen degenerativer Tendenzen (nachhaltig) entgegen: „Es ist wohl denkbar, dass eine weit getriebene Sozialpolitik und eine Verallgemeinerung der öffentlichen 128

SOZIALHYGIENE ALFRED GROTJAHNS

Gesundheitspflege diese Wurzeln der Entartung nahezu völlig auszurotten imstande ist.“ (Grotjahn 1912b: 268; vgl. ders. 1915: 488) Doch zeigte deren Wirken auf körperliche und geistige Gesundheit der Bevölkerung Grenzen: Sozial- und Gesundheitspolitik wie Hygiene beseitigten nicht alle Wurzeln der Minderwertigkeit, vor allem nicht „die unendlichen Reihen der schwachen Konstitution, die in der Vergangenheit aus unbekannter Ursache entstanden sind und ihre Minderwertigkeit in eine ferne Zukunft weitergeben können“ (ebd.). In diesen Fällen wirkten die sozialpolitischen Maßnahmen im Sinne einer nachhaltigen Prophylaxe kontraproduktiv: Anders als jene Krankheiten, „die unmittelbar eine Entartung rüstiger Personen hervorrufen und deren Beseitigung auch entartungsverhütend wirkt“, haben diese (weitverbreiteten) Krankheiten, „zu denen die Individuen infolge ihrer schwachen Konstitution veranlagt sind“, die Neigung „derartige Individuen aus der Fortpflanzung auszuschalten, und dass wir daher diese ungünstig beeinflussen, wenn wir durch Heilkunde, Hygiene und soziale Fürsorge derartige Krankheiten zurückdämmen oder beseitigen. Das gilt namentlich von den Nerven-, Herz- und Lungenkrankheiten.“ (Ebd.)

Der Weg, den Rassenhygieniker vielfach vorschlugen, diesen Menschen die Fürsorge zu entziehen, erschien Grotjahn inhuman und fragwürdig im Ergebnis: Eine Prophylaxe durch die Erhöhung ihrer Sterblichkeit zum Zwecke einer quantitativen Minderung ihrer Nachkommen sah er keineswegs als erfolgversprechend an. Zeigte doch der in seiner Zeit recht mangelhafte Schutz der Schwachen, dass trotzdem „massenhaft minderwertige Nachkommen in die Welt“ kommen. Das Instrument einer (nachhaltigen) Prophylaxe gegen diese Entartungserscheinungen lag für Grotjahn in der direkten Beeinflussung ihrer Fortpflanzung über die ‚generative Hygiene‘ (Eugenik) – in Maßnahmen der Geburtenprävention zur Verhinderung der „Erzeugung unerwünschter Nachkommen“ dieser ‚Minderwertigen‘ (Grotjahn 1915: 488f.; ders. 1912b: 269). Da man aber über den Erfolg dieser prophylaktischen Maßnahme aufgrund mangelnder Kenntnisse der Vererbungsgesetze keine sicheren Prognosen abgeben konnte, blieb für Grotjahn die ärztliche und hygienische Überwachung der Fortpflanzung dieser Subpopulationen ein dringliches und notwendiges Instrument. Diese angewandte Geburtenprävention, die von der medizinischen Indikation der Unfruchtbarkeit über das freiwillige Zölibat bis zur Asylierung reichte (Grotjahn 1912b: 269; vgl. ders. 1912c; ders. 1908), war die eigentliche nachhaltige Prävention in Grotjahns Sozialer Hygiene zwecks günstiger Beeinflussung des menschlichen Artprozesses. 129

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Fazit Grojahns subjektiver Beweggrund, den er in seiner Autobiographie nennt, der ihn zur Sozialen Hygiene geführt hat, war das Ziel, „den Einfluss von Not, Elend und Armut auf Leib und Leben, Krankheit und Tod nachzuweisen“ (Grotjahn 1932: 280). Im Zuge seiner Ausgestaltung der Sozialen Hygiene hatte er die Eugenik beziehungsweise die Fortpflanzungshygiene als ergänzenden Teil der Hygiene, deren Aufgabenbereich Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung umfasste, integriert. Diesen Aufgabenbereich sah er eng verknüpft mit den Herausforderungen der demographischen Entwicklungen (Geburtenrückgang). Dabei hatte Grotjahn mit der Aufnahme des generativen Aspektes die ‚Prophylaxe gegen Entartung‘ den Aufgabenbereich der Sozialen Hygiene erweitert: Soziale Hygiene bezweckte „nicht nur die Verallgemeinerung hygienischer Kultur auf eine Gruppe von gesellschaftlich zusammengehörigen Individuen, sondern auch auf deren Nachkommen“ (Grotjahn 1912b: 266; ders. 1926: 97). Die teleologische Ausrichtung der Sozialhygiene bestimmte hier seinen Blickwinkel auf Gesundheit und Krankheit, deren auf das Ganze (Bevölkerung) gerichtete Normengebäude. Das integrierte eine zukunftsgerichtete eugenische Fortpflanzungspolitik unter ärztlicher und hygienischer Überwachung in eine aktive Gesundheits- und Sozialpolitik. Nachhaltige Prophylaxe von Krankheit ist so gebunden an eine prospektive generative Verantwortung, die das ‚Ganze‘ (Bevölkerung) ins Zentrum der Betrachtung stellt. Falls man den Begriff überhaupt zur Charakterisierung Grotjahns verwenden kann, dann ist das ‚präventive Selbst‘ bei ihm eng verbunden mit dem weiten Begriff der Bevölkerung innerhalb einer Utopie der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einer Gesellschaft aus (erb-)gesunden Individuen. Das unterstellt individuelle Menschenrechte auf Gesundheit und reproduktive Freiheit diesem ‚präventiven Selbst‘ von ‚Bevölkerung‘ als Geschlechterfolge. Die nachhaltige ‚Prävention von Entartung‘ des ‚Ganzen‘ (Bevölkerung) negiert individuelle reproduktive und sexuelle Menschenrechte. Grotjahn war durchaus kein Antidemokrat. Er begrüßte die sich allgemein „durchsetzende Entwicklung des neuzeitlichen Staates vom Zwangs- und Polizeistaat zum Wohlfahrtsstaat“, die sich auf dem Gebiet der Gesundpflege durch niedrige Sterblichkeit dank Minderung der Säuglings-, der Tuberkulosesterblichkeit sowie der deutlichen Abnahme der Geschlechtskrankheiten niederschlug. „Wenn die Todesfälle an Krebs eine Zunahme erhalten haben“, so lag das für Grotjahn an längerer Lebensdauer dank hygienische Fürsorge (Grotjahn 1930: 183). Aber es ist der Staat, der sich um die Wohlfahrt kümmert. Im Zentrum der 130

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Maßnahmen steht nicht die Wohlfahrt des Einzelnen, sondern des Ganzen. Die Soziale Hygiene sieht nicht nur die möglichen Ursachen von Krankheiten im gesellschaftlichen Leben, sondern misst auch ihren Erfolg jenseits vom Individuum an Populationsparametern. Das eigentliche Problem, das Grotjahns Soziale Hygiene hinterließ, ist somit eng an seine Erfassung eines ‚präventiven Selbst‘ durch dessen Anbindung an den weiten – Generationen einbeziehenden – Bevölkerungsbegriff gebunden. Dieses, seinem nachhaltigen Präventionsverständnis immanent, gestaltet eine Sozialhygiene, die mit elementaren individuellen Menschenrechten in Widerspruch steht – somit Gesundheit als Menschenrecht ebenso wenig wie individuelle Freiheit für alle Menschen als unteilbare Güter kennt.

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Die Pf li cht zur Ge sundh eit: Chronisch e K rankh eit en d e s H e rzkr ei sl a uf syst em s zwis ch en W is sen s chaf t , Po p u lär wi ss ens ch af t u n d Öf f en t lich ke it , 19 18- 19 45 1 JEANNETTE MADARÁSZ

Einleitung In der vorliegenden Studie sollen langfristige Entwicklungslinien in der Wahrnehmung der chronischen Erkrankungen des Herzkreislaufsystems rekonstruiert werden. Dabei werden speziell die Unterschiede zwischen Wissenschaft, Populärwissenschaft und Öffentlichkeit nachgezeichnet. Es wird argumentiert, dass die zunehmende Verbreitung der Herzkreislauferkrankungen durch verschiedene Interessengruppen in eine breite Zivilisationskritik eingebunden wurde. Besonders in Krisenzeiten, zum Beispiel nach den Weltkriegen, wenn wirtschaftliche und politische Gegebenheiten Deutschland zu einer Neuorientierung zwangen, nutzten Politiker im Zusammenspiel mit der Ärzteschaft und den Massenmedien Krankheitsdiskurse, um den Sozialen Vertrag zur Diskussion zu stellen. Exemplarisch für die Tendenz, Krankheiten als Reflexion nationaler Verfasstheit zu politisieren und daraus eine Pflicht zur Gesundheit abzu1

Dieser Artikel wurde im Rahmen des vom BMBF geförderten Verbundprojektes „Präventives Selbst – interdisziplinäre Untersuchung einer emergenten Lebensform“ erarbeitet. Ich danke Martin Lengwiler und Rolf Rosenbrock für ihre hilfreichen Kommentare, die in diesen Text eingeflossen sind. Jedwede Verantwortung für den Inhalt liegt bei der Autorin. 137

JEANNETTE MADARÁSZ

leiten, soll die Wahrnehmung der chronischen Krankheiten des Herzkreislaufsystems untersucht werden. In der derzeitigen Forschung ist die institutionelle und legislative Geschichte des deutschen Gesundheitswesens gut aufgearbeitet (Moser 2002; Lindner 2004; Rosenbrock/Gerlinger 2004). Insbesondere die Gesundheitspolitik des Dritten Reiches wurde von einigen informativen und aufschlussreichen Untersuchungen ausgeleuchtet (Proctor 1999; Süß 2003). In der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde speziell die Präventionspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert (Rosenbrock et al. 1994). Außerdem gibt es umfassende Studien zur Prävention epidemischer Krankheiten (Baldwin 1999; Evans 1987). Die historische Genese und Entwicklung des modernen, auf chronische Krankheiten des Herzkreislaufsystems ausgerichteten, Präventionsmodells wurde in der historischen Forschung jedoch noch kaum besprochen. Die Wahrnehmung entsprechender Krankheitsbilder symbolisierte das Ende des bakteriologischen Paradigmas. Insbesondere Theodore Porter und Matthews Rosser verdeutlichen in ihren Arbeiten zur Geschichte der Risikokalkulation und deren Beziehung zur Medizingeschichte die Bedeutung des Risikokonzepts und der Epidemiologie für die Entwicklung einer bevölkerungswirksamen Prävention chronischer Krankheiten (Matthews 1995; Porter 1995). Dieser Wandel läutete ein qualitativ neues Verständnis von Krankheit ein, welches das enge Verhältnis zwischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen betonte. Die Verwissenschaftlichung rahmte die gegenseitige Inanspruchnahme von Wissenschaft und Öffentlichkeit (Raphael 1996; Vogel 2004). Sie schaffte Räume für die Politisierung wissenschaftlichen Wissens, wie schon Baldwin anhand des Umgangs mit Infektionskrankheiten im Europa des 19. Jahrhunderts gezeigt hat (Baldwin 1999). In Bezug auf chronische Krankheiten bedeutete das vor allem eine medizinisch und politisch begründete individuelle Pflicht zur Gesundheit. Arne Schirrmacher konstatiert den Übergang von der Wissenspopularisierung zur Wissensvermittlung ab 1900. Wissensvermittlung geht nach Schirrmacher über die Popularisierung im Sinne einer Darreichung von Wissen hinaus, indem Produktionsprozesse und Normen der Wissenschaft thematisiert werden. Wissenschaftliches Wissen stellt sich damit der öffentlichen Debatte, die sich vor allem in den seit Anfang des 20. Jahrhunderts entstehenden Massenmedien etablierte (Schirrmacher 2008: 81, 84-88; Kohring 1997). Konzeptionell betont Schirrmacher auf der Grundlage eines Stufenmodells der Öffentlichkeit im Begriff der Wissensvermittlung Transferprozesse, die vor allem auf einen Austausch von Ressourcen zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeit beruhten (Schirrmacher 2008: 86, 88-90). Mit der Offenlegung wissenschaftlicher 138

PFLICHT ZUR GESUNDHEIT

Methoden wurde die Frage nach bisher primär wissenschaftsinternen Zweifeln an produziertem Wissen seit der Zwischenkriegszeit in den öffentlichen Raum getragen und durch zivilgesellschaftliche Initiativen wie die Naturheilbewegung verschärft. Dieser Bruch mit dem vorangegangenen alleinherrschaftlichen Anspruch der Naturwissenschaften auf Wahrheitsfindung beherrschte den wissenschaftlichen Diskurs und zeitigte Auswirkungen in der populärwissenschaftlichen Darstellung medizinischen Wissens und dessen öffentlicher Wahrnehmung.2 Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwieweit Transferbeziehungen zwischen Wissenschaft, Populärwissenschaft und Öffentlichkeit die Politisierung des Krankheitsdiskurses stützten. Anhand der Darstellung chronischer Herzkreislaufkrankheiten soll dieser Austausch zum Beispiel in populärwissenschaftlichen Ausstellungen der Zwischenkriegszeit und der Berichterstattung und den Kleinanzeigen in Massenmedien untersucht werden. In der Gegenüberstellung mit wissenschaftlichen Ansätzen soll versucht werden, Transferprozesse zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu verdeutlichen. Es wird angenommen, dass die Bemühungen der Wissenschaft vor allem durch die Beständigkeit traditioneller Krankheitsdiskurse, alternativer Ansätze und der im Alltag begründeten Erfahrungswerte nicht nur auf Widerstände traf, sondern sich mit Gegendiskursen konfrontiert sah. Darauf aufbauend wird nach der Wirkung solcher Gegendiskurse auf Wissenschaft und Populärwissenschaft gefragt. Es wird vermutet, dass im Rahmen übergreifender gesellschaftlicher Veränderungen langfristig eine gegenseitige Anpassung bzw. Annäherung der Krankheitsdiskurse zu verzeichnen war. Im Rahmen langwieriger Aushandlungsprozesse und struktureller Veränderungen stellte die Politisierung von Krankheit (bzw. Gesundheit) einen wichtigen Bestandteil des Wissenstransfers dar und wirkte langfristig auf die Entwicklung der Prävention in Deutschland. Die institutionelle Verankerung der Prävention und deren Auswirkung auf die Bevölkerung werden in den folgenden Ausführungen aus Platzgründen nur kurz angedeutet.3 Die folgende Studie agiert quellenorientiert, wobei insbesondere in der Untersuchung zur Öffentlichkeit explorativ vorgegangen wird. Der ausgewertete Quellenbestand setzt sich zusammen aus wissenschaftlichen Zeitschriften und Monographien aus der Zwischenkriegszeit und dem Dritten Reich, die herangezogen werden, um den komplexen Wis2

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Zur Forderung nach einer „positiven Wissenschaft“ im Sinne einer deterministischen „physiologischen Medizin“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Coleman (1987) . Hier S. 205. Zur medizinischen Geschichte der Herzkreislauferkrankungen vgl. die herausragende Untersuchung von Aronowitz (1998) . 139

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senschaftsdiskurs nachzuzeichnen. Dieses Material war nicht nur geprägt von wissenschaftlichen Debatten, sondern auch von der politischen Dimension des Themas Krankheit. Insbesondere das Deutsche Ärzteblatt fungierte als ein Spiegel standespolitischer Interessen. Anhand zweier Auflagen der Soziale Pathologie des Sozialhygienikers Alfred Grotjahn (1869-1931) soll ergänzend die Entwicklung wissenschaftlicher und sozialpolitischer Ansichten festgestellt werden. Ausstellungskataloge und führer der Dresdner Hygiene-Ausstellungen und der Düsseldorfer Ausstellung zur Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen (GESOLEI) erlauben Einblicke in die populärwissenschaftlichen Interessen der Organisatoren. Im Kontrast zu diesen Veröffentlichungen wurden Massenmedien, wie die Berliner Illustrirte Zeitung4 sowie die Grüne Post5 eingesehen, um Überschneidungen verschiedener Krankheitsdiskurse zu verfolgen. Die Zeitschriften wurden ausgewählt aufgrund ihrer öffentlichkeitswirksamen redaktionellen Methoden und Auflagenhöhe. Die Analyse konzentriert sich auf die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus.

Ch r o n i s c h e Kr a n k h e i t e n d e s He r z k r e i s l a u f s y s t e m s : D e r W e g zur „Volkskrankheit“ In der epidemiologischen Transition gingen Infektionskrankheiten zurück und wurden zunehmend von chronischen Krankheiten ersetzt. Höhere Lebenserwartungen infolge verbesserter Arbeits- und Lebensbedingungen sowie des medizinischen Fortschritts führten zu neuen Konstellationen in der Verbreitung von Krankheit. Gleichzeitig konstituierte die Professionalisierung der Ärzteschaft eine sowohl individualisierte als auch objektivierte Sichtweise auf Krankheit, die sich deutlich von der auf Erfahrungswerten beruhenden Laienheilkunde abzugrenzen suchte. 4

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Die aktuelle Bild- und Unterhaltungszeitschrift BIZ erschien wöchentlich von Dezember 1891 bis April 1945 im Ullstein-Verlag. In der Themenwahl und visuellen Konzeption stellte sich der Verleger auf die Interessen und den Geschmack des Publikums ein. Er setzte auf Bildberichterstattung zu einem günstigen Preis, eine Entscheidung die durch Auflagenhöhen von einer Million Exemplaren im Jahre 1914 und knapp zwei Millionen Exemplare im Jahre 1932 bestätigt wurde. Die Grüne Post erschien von April 1927 bis August 1944 als Sonntagszeitung im Ullstein-Verlag. Sie war ein bis dahin unbekannter Zeitungstyp. Es ging ihr nicht um politische Berichterstattung oder Meinungsbildung, sondern um Unterhaltung. Mit ihrem beschaulichen Stil richtete sie sich ursprünglich an Leser in Kleinstädten und auf Dörfern. Im Juli 1931 erreichte sie mit 1 Million Exemplaren ihre höchste Auflage.

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Die professionalisierungs- und arbeitsmarktstrategischen Bemühungen der approbierten Ärzte bestimmten den medizinischen Expertendiskurs des 20. Jahrhunderts (Huerkamp 1985; Huerkamp/Spree 1982). Der standespolitisch unterlegte Kampf um Verwissenschaftlichung veränderte den Umgang mit Krankheit und forcierte die wissenschaftliche Entwicklung. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert, und verstärkt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, schälten sich zwei konkurrierende, aber keineswegs völlig voneinander losgelöste, Sichtweisen auf den menschlichen Körper und dessen Krankheiten heraus. Naturwissenschaftliches Wissen, insbesondere beruhend auf den Erkenntnissen der Physiologie, prägte zunehmend die an den Universitäten gelehrte Medizin.6 Dieser moderne Fokus auf die physiologischen Funktionen des Körpers stand einem traditionellen, ganzheitlichen Verständnis von Körper und Krankheit kritisch, teilweise sogar feindlich, gegenüber (Spree 1989: 103-112; Merta 2003; Regin 1995). Insbesondere die Naturheilkunde setzte sich gegen die naturwissenschaftlich begründete Wahrnehmung des Menschen als „Maschine“ und der Krankheit als individualistisch bedingter Funktionsstörung zur Wehr (Spree 1989: 113; Sarasin 2001). Chronische Krankheiten waren jener Bereich der Medizin, in dem vor allem die Naturheilkunde mit ihrem zivilisationskritischen Ansatz Erfolge aufzuweisen hatte (Lienert 2002; Wirz 1993). Die Ursachen kardiovaskulärer Erkrankungen wurden in der Lebensweise des Einzelnen gesehen, wobei insbesondere der Ernährung und der Vermeidung von Stressfaktoren wie Hektik und unzureichender Erholung eine wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Die Sanatorien in und um Dresden zum Beispiel erreichten eine Blütezeit um die Jahrhundertwende. Der naturheilkundige Arzt Maximilian Bircher-Benner (1867-1939), Erfinder des Bircher-Müslis, proklamierte seine Ansichten zu einer gesunden Lebensweise als Vorbeugung und Therapie seit dem späten 19. Jahrhundert. Sein Fokus auf Ernährung, körperliche Bewegung und vor allem, im Gegensatz zur Hektik der industrialisierten und urbanisierten modernen Gesellschaft, auf Ruhe entsprach weitgehend den zivilisationskritischen Ansätzen, welche die Naturheilbewegung in Deutschland bis in die Zwischenkriegszeit vertrat.7 In der Schulmedizin hingegen wurden 6

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Die approbierte Ärzteschaft war eine sehr heterogene Gruppe, auf deren Komplexität hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden kann. Siehe dazu Jütte (1997) . Siehe dazu den Beitrag von Eberhard Wolff: Moderne Diätetik als präventive Selbsttechnologie: Zum Verhältnis heteronomer und autonomer Selbstdisziplinierung zwischen Lebensreformbewegung und heutigem Gesundheitsboom. 141

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chronische Krankheiten des Herzkreislaufsystems, wie zum Beispiel die Arteriosklerose, vor allem als das Ergebnis von Alterungsprozessen, die nicht zu verhindern seien, verstanden (Canstatt 1839: 11; Hinneberg 1915: 93f.). Die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit in diese Prozesse regulierend einzugreifen, ergaben sich aus der quantitativ aber auch qualitativ verstärkten Wahrnehmung chronischer Krankheiten seit der Jahrhundertwende, die durch eine zunehmend zivilisations- und auch gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit Krankheit sowie durch diagnostische und therapeutische Fortschritte in der Wissenschaft geprägt war.

Wissenschaftlicher Fortschritt Entscheidend für das schulmedizinische Wissen ist die durch die Statistik gestützte Wandlung der chronischen Herzkreislaufkrankheiten von der Alterskrankheit über ein gruppenspezifisches Krankheitsbild zu einer „Volkskrankheit“, die nicht mehr nur bestimmte Schichten oder Altersgruppen betraf. Eine wichtige Grundlage dafür war die methodische Entwicklung und Anwendung der Krankheits- und Todesfallstatistik. Nach einer Erweiterung der Todesursachenstatistik im Jahr 1905 wurden nun auch bösartige Tumore (Krebs) und Krankheiten des Herzkreislaufsystems als Todesursachen gezählt. Daraufhin erschienen letztere als häufigste Todesursache, noch vor der damals primär wahrgenommenen Tuberkulose. Dadurch rückten Krankheiten in den Vordergrund, die lange als nur vereinzelte Fälle von Alterskrankheit ohne weitergehende gesellschaftliche oder medizinische Bedeutung abgetan wurden (Schwalbe 1909: VIIf.). Seit Anfang des 20. Jahrhunderts war jedoch eine steigende Anzahl immer jüngerer Menschen von entsprechenden Krankheitsbildern betroffen (Schwalbe 1909: Vorwort). Letztendlich verwandelte diese Erkenntnis, im Zusammenhang mit der in der Zwischenkriegszeit eskalierenden Zivilisationskritik, vormalige Alterskrankheiten in Zivilisationskrankheiten.8 Allerdings war die Medizin aufgrund fehlender wissenschaftlicher Instrumente in der Zwischenkriegszeit kaum in der Lage, chronische 8

Mortalitätsstatistiken sind problematische Quellen, da es einen gesetzlichen Zwang zur Angabe einer Hauptdiagnose gab, die andere kausal wirkende Krankheiten vernachläßigte. Die Diagnosen wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ausschließlich von Ärzten gestellt, und selbst diese agierten aufgrund des damaligen Wissensstandes und verließen sich auf ungenaue Konzepte wie das der Alterskrankheiten. Damit expandierten die Alterskrankheiten zu einem Sammelbegriff für eine ganze Reihe chronischer Krankheiten des Herzkreislaufsystems (vgl. Lewinsohn 1923: 138; Gottstein 1928: 228f., 240-242; Grotjahn 1923: 152).

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Krankheitsbilder wissenschaftlich genau zu bestimmen (Timmermann 2001: 466). So bestand in Deutschland zum Beispiel erst seit den 1920er Jahren die Möglichkeit, den Blutdruck auch in den Arztpraxen bequem und zuverlässig zu messen. Erst dann konnte der Blutdruck zu einem Risikofaktor für chronische kardiovaskuläre Krankheiten avancieren. Ausschlaggebend waren auch die Fortschritte in der Ernährungswissenschaft, die seit der Entdeckung der Vitamine 1912 vor allem in den USA große Fortschritte machte (McCollum 1957: 92). Gleichzeitig führten wissenschaftliche Forschungen in der Physiologie und den Ernährungswissenschaften zu einem gesteigerten Interesse der Ärzte und Naturwissenschaftler an der Verbindung zwischen chronischen Krankheiten des Herzkreislaufsystems und Ernährungsverhalten (Appel 1953: 497). Damit verbunden war eine schichtspezifische Kategorisierung von Krankheit im Wissenschaftsdiskurs der Zwischenkriegszeit, da zum Beispiel Ernährung in der Weimarer Republik zu einem großen Teil immer noch eine einkommensabhängige Variable darstellte. Trotz großer Fortschritte fehlten weiterhin grundlegende wissenschaftliche Methoden, die Standardisierungen ermöglicht hätten und damit denjenigen Krankheiten auf die Spur hätten kommen können, deren kausale Zusammenhänge und Verlauf am effektivsten in Populationen zu verfolgen waren. Die Entwicklung klinischer Versuche und statistischer Analyse als Grundlage rationaler Therapie waren zu dieser Zeit noch nicht ausreichend voran getrieben, um die medizinische Praxis ausreichend zu beeinflussen (Marks 1997: 17). Außerdem arbeiteten Ärzte nicht unbedingt mit statistischer Evidenz und lehnten diese sogar ab als eine Methode, welche die durch den individuellen Fall geformte spezielle Beziehung zwischen Arzt und Patient gefährdete (Matthews 1995: 68). Medizinische Praxis blieb eingeengt von traditionellen Werten und Methoden, die nicht geeignet waren, die Wahrnehmung chronischer kardiovaskulärer Krankheiten voran zu treiben. Die Versicherungsindustrie hingegen thematisierte chronische Krankheiten vergleichsweise früh (Lengwiler 2006). Basierend auf ihrem Interesse an Bevölkerungsstatistik und deren Bedarf an der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, nahmen Versicherungsgruppen kardiovaskuläre Krankheiten nicht nur wahr, sondern versuchten, die Lebensweise ihrer Klienten zu beeinflussen. Veränderungen in der Wissenschaftslandschaft, methodische und praktische Entwicklungen, sowie die zunehmende Einbindung wissenschaftlichen Wissens in politische und wirtschaftliche Interessen verstärkten die Auseinandersetzung mit chronischen Krankheiten seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei ermöglichte die Interaktion zwischen wissenschaftlichem Fortschritt, standespolitischen Interessen der Ärzte 143

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sowie die im Zuge zivilisationskritischer Ansätze auf chronische Krankheiten fokussierte Wahrnehmung die Politisierung, und darauf aufbauend auch die Annäherung verschiedener Krankheitsdiskurse.

P o l i t i s c h e E i n b i n d u n g v o n Kr a n k h e i t i n d e r Weimarer Republik Eine an Krankheitsthemen orientierte Zivilisationskritik erlebte in der Weimarer Republik einen Aufschwung und reichte tief in die Politik hinein. Insbesondere die Diskussion um den kranken „Volkskörper“, der durch eugenische Maßnahmen aber auch durch Instrumente der Für- und Vorsorge geheilt werden sollte, stammte aus dieser Zeit und prägte den Wissenstransfer. Dieser erfolgte in den verschiedensten Konstellationen, von denen einige der wichtigsten näher betrachtet werden sollen. Dazu gehörten unter anderem die Verflechtungen verschiedener Fachdisziplinen, wie in der Sozialen Hygiene, die von der Populärwissenschaft getragenen Transferleistungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie der seit Anfang des 20.Jahrhunderts zunehmend in den Massenmedien verankerte Wissenstransfer zwischen Öffentlichkeit, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.

Grotjahn versus Grotjahn: Soziale Pathologie 1912 und 1923 In den 1920er Jahren zeigte sich in Deutschland eine wachsende Konsumkultur. Speziell die kulturelle wie auch wissenschaftliche Amerikanisierung konfrontierte Ärzte mit den gesundheitlichen Folgen des Massenkonsums zu einer Zeit, als die Soziale Frage noch vehement diskutiert wurde und ein schichtenspezifischer Krankheitsdiskurs das politische Denken prägte (Gottstein 1928: 253). Insbesondere die Vertreter der Sozialen Hygiene befassten sich mit gesellschaftspolitischen Konstellationen, die durchaus als politisch geladenes Konfliktpotential erkannt wurden, aber nicht mit politischen, sondern sozialen Maßnahmen zu kontrollieren waren. Alfred Grotjahns bekanntes Buch Soziale Pathologie stellte einen im Untertitel so benannten Versuch einer Lehre von den sozialen Bedingungen der menschlichen Krankheiten dar und adressierte spezifisch auch die sozioökonomischen Grundlagen der damaligen Gesellschaft, ohne diese jedoch reformieren zu wollen. Grotjahn vermittelte hygienisches Wissen. Ziel seiner Ausführungen war die individuelle Disziplinierung, die Kreation des Homo Hygienicus, d.h. unter anderem auch die Lösung der Sozialen Frage mithilfe medizinischer Ansätze (Labisch 1985). Damit legte auch er eine Grundlage für die Pflicht zur 144

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Gesundheit, die die individuelle Lebensweise den gesellschaftlichen Interessen unterordnete. Soziale Pathologie behandelte Gesundheit als politisches Thema und reflektierte mit diesem Verständnis grundlegende Entwicklungen der Weimarer Republik. Grotjahn argumentierte mit dem für die Sozialhygieniker typischen schichtspezifischen Krankheitsbegriff, wobei allerdings bemerkenswerte Unterschiede in den verschiedenen Auflagen der Sozialen Pathologie auftraten. Während die erste Auflage von 1912 allein von Grotjahn verfasst wurde (Grotjahn 1912), erklärte er in der 1923 herausgebrachten dritten Auflage, dass er es angesichts der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin für nötig erachtet hätte, Mitautoren einzubeziehen (Grotjahn 1923: III). Um die Auswirkungen politischer und soziokultureller Umbrüche auf die Wahrnehmung chronischer Herzkreislaufkrankheiten nachzuzeichnen, sollen im Folgenden relevante Textstellen der ersten und dritten Ausgabe miteinander verglichen werden. Eine spezielle Aufmerksamkeit gilt dabei den Veränderungen im schichtspezifischen Verständnis entsprechender Krankheitsbilder. Es soll gezeigt werden, dass die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der Industrialisierung und Urbanisierung sowie die damit eng verbundene Demokratisierung und erste Ansätze der Konsumgesellschaft in der Zwischenkriegszeit dazu führten, dass ein neuer Krankheitsdiskurs der Wahrnehmung chronischer Herzkreislaufkrankheiten Vorschub leistete. Grotjahn behandelt die Krankheiten des Herzens und der Blutgefässe im Jahr 1912 anders als sein späterer Mitautor Richard Lewinsohn. Zum Beispiel machte Grotjahn wiederholt Angaben zu Krankheitstagen und Invalidität als Folge von kardiovaskulären Erkrankungen. Die ökonomische Argumentation strukturierte sein Interesse an diesen Erkrankungen, während dieser Aspekt bei Lewinsohn eine Dekade später zu Gunsten eines einseitig nationalistisch argumentierenden Ansatzes in den Hintergrund rückte (Grotjahn 1912: 175f.; Lewinsohn 1923: 136f., 140). Beide betonten jedoch die Verbreitung von Krankheiten des Herzkreislaufsystems, etwa der Arteriosklerose, speziell in „wohlhabenden Kreisen“ (Grotjahn 1912: 175, 202; Lewinsohn 1923: 138). Die schichtspezifische Verbreitung dieser Erkrankungen wurde mit Verweis auf medizinische Statistiken angenommen, obwohl Lewinsohn in diesem Bereich zurückhaltender argumentierte. Grotjahn stellte fest, dass besonders die „Mittelschichten“ zu „Fettsucht“ neigten und damit „mehr Schäden für den Körper und für die Lebensdauer [verursacht werden] als die Mehrzahl der Bevölkerung annimmt“ (Grotjahn 1912: 203). Er ging noch einen Schritt weiter und bezeichnete die Fettsucht, trotz der von ihm festgestellten schichtspezifischen Ursachen, als eine „überaus verbreitet[e] [...] Nationalkrankheit“ (Grotjahn 1912: 204). Allerdings bewertete er 145

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die Unterernährung in ihrer Bedeutung „für das Volksganze“ deutlich höher (Grotjahn 1912: 208). Die Betonung der Überernährung als Ursache chronischer Krankheiten existierte in der dritten Auflage nicht mehr, obwohl Lewinsohn seine Beiträge stark an die früheren Ausführungen Grotjahns anlehnte. Er bewertete die Bedeutung sozialer Faktoren für die Entstehung kardiovaskulärer Erkrankungen geringer als Grotjahn (Lewinsohn 1923: 140). Diese Umorientierung kann einerseits mit der Mangelerfahrung am Ende des Ersten Weltkrieges erklärt werden. Mangel erschien weitaus gravierender als Überschuss, obwohl einige Wissenschaftler an dieser Erfahrung die enge Verbindung zwischen chronischen Krankheiten und Überernährung fest machten (Aschoff 1930: 8). Andererseits begannen in der Zwischenkriegszeit nationalistische Argumente das Konzept einer alle Schichten umfassenden „Volksgesundheit“ zu entwickeln und damit den früheren Fokus auf schichtspezifische Krankheiten zu überlagern. Die inhärenten Probleme der Konsumgesellschaft und deren enge Verflechtung mit dem Krankheitsgeschehen kündigten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg an. Besprochen wurden sie in diesem Sinne jedoch vor allem außerhalb der standespolitisch organisierten Ärzteschaft, die auch Grotjahns Fokus auf die soziale Bedingtheit von Krankheit lange misstrauisch beobachtete (Labisch/Woelk 1998: 66). In Bezug auf chronische Krankheiten des Herzkreislaufsystems befürwortete Lewinsohn Zurückhaltung in der Vorbeugung chronischer Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, gab aber seiner Besorgnis in Bezug auf die zunehmende Verbreitung entsprechender Krankheitsbilder Ausdruck. Er empfahl eine regelmäßige ärztliche Untersuchung der gesamten arbeitenden Bevölkerung (Lewinsohn 1923). Lewinsohns Ausführungen reflektierten damit nicht nur zeitgenössische wissenschaftliche Kontroversen sondern standespolitische Interessen (Schloßmann 1927: 533). Mit der sozialen Hygiene verfolgte Grotjahn ein erzieherisches Anliegen. Lewinsohns Ausführungen wiesen darüber hinaus auf einen nationalistischen Ansatz hin, der die „Volksgesundheit“ in die Dienste der Politik stellte. Letztendlich unterstützte die Soziale Pathologie die staatlichen Bemühungen um die Erziehung der Bevölkerung zu pflichtbewussten Individuen, die im Staatsinteresse selbstregulierend agieren.

Populärwissenschaft: Jahrmärkte der Volksbelehrung Popularisierungsmaßnahmen waren ein wichtiger Bestandteil staatlicher Gesundheitspolitik. Letztlich handelte es sich um den Versuch, mit selektiertem Wissen den eigensinnigen Massen staatsbürgerliche Werte und Normen zu vermitteln. Eine diesem Anliegen entsprechende, in der 146

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Zwischenkriegszeit sehr oft angewandte Transfermethode – neben zum Beispiel Pamphleten und der Ratgeberliteratur – waren meist groß angelegte populärwissenschaftliche Ausstellungen. Deren Organisatoren bemühten sich darum, in Zusammenarbeit mit der gleichfalls an der Lenkung der konsumierenden Bevölkerung interessierten Industrie, durch Unterhaltungsangebote und beeindruckende Displays sowie gestaffelte Eintrittspreise Besucherinnen und Besucher aller Schichten anzulocken und mit dem offerierten Wissen zu vereinnahmen. Walter Benjamin beschrieb diese Konstellation, die institutionalisierte Volkshascherei kritisierend, als „Jahrmarkt“ (Benjamin 1972: 530). Vor dem Ersten Weltkrieg war von der Ärzteschaft noch versucht worden, die Verbreitung naturwissenschaftlich begründeten medizinischen Wissens zu beschränken (Lorentz 1953: 14). In den 1920er Jahren wurde die Verbreitung naturwissenschaftlichen Wissens in einem kontrollierten Rahmen auch von ärztlichen Standespolitikern unterstützt. Die Gründung des Reichsausschusses für hygienische Volksbelehrung 1921 unter dem Generalsekretär Curt Adam war bezeichnend für diese Zeit, in der sich viele neu gegründete Gesellschaften bemühten, das Wissensbedürfnis der breiten Bevölkerung entsprechend ihrer eigenen Ansichten zu befriedigen und weiter zu stärken. Insbesondere die Grosse Ausstellung Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen (GESOLEI) entsprach dem Anspruch der „Volksbelehrung“. Sie verband politische und wirtschaftliche Intentionen mit dem Gedanken der durch Krieg und Besatzung notwendig gewordenen körperlichen und seelischen Heilung des „deutschen Volkes“. Die GESOLEI zog 7,5 Millionen Besucher an und war damit die wohl erfolgreichste Ausstellung der Zwischenkriegszeit (Schaible 1999: 145). Düsseldorf war als Veranstaltungsort gewählt worden, da der Abzug der französischen Besatzungstruppen für Ende 1925 angesetzt war und die Ausstellung als ein Symbol der „nationalen Selbstbehauptung“ wirken sollte (Stöckel 1991: 31-38). Neben dieser offensichtlich politischen Einbindung veranschaulichte die GESOLEI den aktuellen Wissensstand, vorhandene Strukturen und gesellschaftliche Tendenzen in den Bereichen Gesundheit, Soziale Fürsorge und Leibesertüchtigung. Die GESOLEI bot ein Nebeneinander neuer und alter Ansätze. Die Bereiche Soziale Fürsorge durch Versicherung sowie Gesundheitsfürsorge zum Beispiel fokussierten ausschließlich auf die immer noch als „Volkskrankheiten“ bezeichneten Krankheitsbilder wie Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Alkoholkrankheiten und Fürsorgebereiche wie die Mütter-, Säuglings- und Kleinkinderfürsorge, die Psychopathen- und Geisteskrankenfürsorge sowie die Schulgesundheitspflege und -fürsorge. In den Sektionen der Krankenversicherungen wurden vor allem Kos147

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ten thematisiert. Infektionen wurden als häufigste Krankheitsursache festgestellt (Schloßmann 1927: 786). Ähnlich gelagert waren die Darstellungen im Bereich der Invalidenversicherung; thematisiert wurden speziell die Tuberkulose und die Geschlechtskrankheiten (Schloßmann 1927: 790-792). Außerdem wurde zunehmend die individuelle Verantwortung für die Gesunderhaltung des eigenen Körpers in den Vordergrund gestellt. Gerade in der Sektion Ernährung kam dieser Gedanke zum Tragen (Schloßmann 1927: 528, 940f.). Hans Murschhauser, der Verfasser des Beitrages zum Thema Ernährung im Ausstellungskatalog, fand es nur „selbstverständlich, dass auf einer Ausstellung, welche sich die Behandlung der Gesundheitspflege zur Aufgabe gemacht hat, der Ernährung des Menschen ein besonders breiter Raum zugewiesen werden musste“ (Schlossmann 1927: 525). Ihm lag spezifisch daran, die Möglichkeiten individueller Gesundheitspflege zu veranschaulichen. Sowohl in der GESOLEI als auch in anderen Gesundheitsausstellungen der Zeit, zum Beispiel der Hygiene-Ausstellung 1930 in Dresden, klangen die ersten Noten jenes Themas an, das in den 1930er Jahren dominant werden sollte: Das Individuum wurde verpflichtet, sich im Interesse des „Volkskörpers“ leistungsfähig zu erhalten. Individuelle Lebensweise wurde thematisiert; kausale Beziehungen wurden speziell zwischen chronischen Herzkreislaufkrankheiten und Ernährung sowie körperlicher Aktivität beschrieben (Schloßmann 1927: 533, 939). Die zunehmende Verortung von Lebensweise und Gesundheit als politische Themen trat in der Zwischenkriegszeit deutlich hervor, nicht zuletzt auch in der Arbeiterbewegung. Zum Beispiel veröffentlichte die Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) im Jahr 1926 den Artikel Rundgang durch die GESOLEI. Dieser übte scharfe Kritik an der Kommerzialisierung der Ausstellung und verband dies mit dem Vorwurf, die GESOLEI diene letztlich nur als Werbeträger für den Hindenburgischen Staat und für Unternehmen, die in der „untergrabenen Volksgesundheit“ eine „Quelle ungeheurer Profite“ sehen würden (AIZ 1926: 6). Trotz vehementer Kritik an Staat und Kommerz nutzte selbst diese linkspolitisch orientierte Zeitung den nationalistisch aufgeladenen Volksbegriff, hier jedoch im Zusammenhang mit grundlegenden sozialpolitischen Forderungen der Arbeiterbewegung. Die Politisierung des Themas Gesundheit und dessen durchaus unterschiedliche Einbindung in die Metapher eines nationalistisch verstandenen Volksbegriffs prägte die Öffentlichkeit über die Grenzen des Wissenschaftsdiskurses hinaus.

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Öffentlichkeit: Wissen in den Medien Der Transfer von Wissen sowie dessen politische Interpretation erfolgten unter anderem über Massenmedien. So wurden zum Beispiel Kleinanzeigen genutzt, um auf Krankheiten und die entsprechenden Gegenmittel aufmerksam zu machen. Oft erklärten die jeweiligen Anzeigen die funktionalen Zusammenhänge von Krankheit, Körper und Lebensweise detailliert und durchaus marktorientiert. Eine Lenkung der Konsumenten findet sich hier ebenso wie die Anpassung der Industrie an eine wissbegierige und zunehmend gesundheitsorientierte Klientel. In der AIZ wurde zum Beispiel deutlich mehr Werbung für Naturheilmittel, insbesondere homöopathische Produkte, abgedruckt als in der Berliner Illustrirten Zeitung (BIZ); eine Tendenz, die auf die Orientierung an den Interessen der potentiellen Käufer schließen lässt. Der Beginn einer interdependenten Beziehung zwischen Konsum, Wissen und Gesundheit zeichnete sich in diesen Anzeigen ab. Die in der BIZ veröffentlichten Kleinanzeigen thematisierten Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, oft unter Bezug auf Ernährung und körperliche Bewegung, proportional häufiger und ausführlicher als zum Beispiel die sich an die linksorientierte Arbeiterschaft wendende AIZ. Generell unterstellten die Anzeigen ein Interesse der Leserschaft an bestimmten Krankheiten sowie an relevantem naturwissenschaftlichem Wissen und an – das wurde oft in den Mittelpunkt der Anzeigen gestellt – „natürlichen“ Therapien. Im Jahre 1924 zum Beispiel wurde eine „Künstliche Höhensonne. Bei Herzleiden“ beworben. Die Lichtbestrahlung sollte gegen Bluthochdruck helfen. Diese Anzeige wurde begleitet von ausführlichen Erläuterungen über die Wirkungsweise und den Erfolg der Methode und verwies auf die „Aufklärenden Schriften“ verschiedener medizinischer Autoritäten. Noch drei Jahre später findet sich eine ähnliche Anzeige für die Bewerbung der Höhensonne, diesmal unter der Überschrift „Herzleiden“. Inzwischen wurde nicht mehr nur eine Senkung des Blutdrucks versprochen, sondern mehr Leistungsfähigkeit sowie ein längeres Leben für Herz- und Gefäßkranke (BIZ 1927a: 14). Gerade der Verweis auf die Wirkung des Sonnenlichtes erinnert an die Prinzipien der Lebensreform-Bewegung aber auch an die Lehren von Bircher-Benner. Außerdem priesen die Anzeigen auch immer verschiedene Pharmazeutika an. So war zum Beispiel die Efucsa Kur zur Verminderung übermäßiger Korpulenz einzusetzen (BIZ 1924a; BIZ 1924b).9 Daneben 9

Siehe auch Anzeige für „unschädliche“ Boxbergers Kissinger EntfettungsTabletten (BIZ 1936). 149

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wurden oft mechanisch wirkende Erzeugnisse angeboten, wie das Massagegerät Punkt Roller im Jahre 1927. Durch Massage mit dem Punkt Roller sollte eine bessere Durchblutung des Herzens verursacht werden, die wiederum, so wird es angezeigt, zu einer Lösung des Fettes führen würde (BIZ 1927a: 26). In einer späteren Ausgabe des gleichen Jahres wurde versprochen, dass man nach der Anwendung des Massagegerätes nicht nur zehn Jahre länger leben, sondern sogar zehn Jahre jünger erscheinen würde. Es wurde gleichzeitig darauf hingewiesen, dass diese Massage anstrengende „Körperübungen“ ersetzen könne (BIZ 1927b). Zehn Wochen später enthielt die Anzeige zusätzlich noch ausführliche Erläuterungen zu Anatomie und Stoffwechsel sowie Abbildungen zum Blutkreislauf (BIZ 1927c). Teilweise wurde behauptet, dass entsprechende Geräte effektiver und gesünder seien als beispielsweise körperliche Bewegung, schädliche Tabletten sowie lästige Diäten und damit gewissermaßen einen dritten Weg zwischen modernen Pharmazeutika und traditionellem Verständnis von „vernünftiger“ Lebensführung eröffneten (BIZ 1925; BIZ 1927d; BIZ 1927e). Auf die Verbindung zwischen modernen Pharmazeutika und traditionellen Naturprodukten wurde in einigen Fällen direkt eingegangen. In einer Anzeige für Lukutate wurde dieses „Naturprodukt zur Neubelebung des ganzen Menschen, seines Blut-, Verdauungs-, Organ- und Drüsensystems“ empfohlen. Es sollte verjüngend und entgiftend wirken, eine Behauptung, die in späteren Ausgaben durch Aussagen von in den Anzeigen zitierten Ärzten gestützt wurde (BIZ 1927f; BIZ 1927g). Diese bestätigten die Wirkung des Mittels auf den Stoffwechsel, die Herztätigkeit und Blutzirkulation. Sogar gegen Arteriosklerose sollte sich Lukutate bewährt haben (BIZ 1927h). Naturwissenschaftliches Wissen wurde mit Ansätzen der Naturheilverfahren verbunden und durch autoritative Expertenaussagen gestützt. Die breit gefassten, detaillierten Beschreibungen der Anzeigen fungierten gleichzeitig als eine Art Ratgeberliteratur für Leserinnen und Leser. Krankheiten wurden ausführlich beschrieben, wobei Informationen naturwissenschaftlicher und traditioneller Provenienz eine enge Verknüpfung eingingen. Diese Art des Wissenstransfers entsprach durchaus dem Zeitgeist, in dem Technikbegeisterung und Zivilisationsangst ineinander übergingen, und unterscheidet sich deutlich von der Nachkriegszeit, in der krankheitsbezogenes Wissen zu einem großen Teil bereits voraus gesetzt wurde.10 Moderne Probleme – Erkrankungen des Herzkreislaufsystems aufgrund von Alterungsprozessen und den von Zivilisierungsprozessen verursachten Vergiftungen – sollten durch die Einnahme eines

10 Vgl. dazu Anzeige für „Kaffee HAG“ in BIZ (1921) 30.49, S. 795 und Anzeige für „Hämoskleran“ in Die Bild, 30.6.1955, S. 2. 150

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natürlichen Präparates, ohne großen Eigenaufwand, gelöst werden. In der Wissensvermittlung zeichnete sich ein Diskurs ab, der sich an den zeitgenössischen Überschneidungen von Moderne und Tradition orientierte. Gleichzeitig reflektierten die Kleinanzeigen die Profitorientierung der Branche. In der Grünen Post erschien z.B. im Jahr 1927 ein Artikel zur Arteriosklerose. Arteriosklerose wurde darin als primäre Todesursache der über 40-jährigen bezeichnet. Es wurde darauf verwiesen, dass die Angst vor einem frühzeitigen Tod durch Arterienverkalkung verbreitet sei. Obwohl nur der Arzt situativ über eine Behandlung entscheiden könne, so der Artikel, würden „marktschreierische“ Institute versuchen, den Leuten mit allerlei unseriösen Wundermitteln das Geld aus der Tasche zu ziehen (Grüne Post 1927). Diese Warnung vor der fehlenden Seriosität alternativer Methoden hinderte den Ullstein-Verlag jedoch nicht daran, in der Grünen Post sehr ähnliche, marktschreierische Kleinanzeigen zu drucken. Zusätzlich erschienen in der BIZ Artikel, die medizinisches Wissen zu den chronischen Krankheiten des Herzkreislaufsystems, speziell der Arteriosklerose, verbreiteten. Im Jahre 1929 wurde zum Beispiel die Serie Was Wissenschaft und Technik uns noch schuldig sind veröffentlicht. Der erste Teil stellte Ziele und Grenzen der Medizin in den Mittelpunkt der Diskussion. Einleitend stellte der Autor ein gestiegenes medizinisches Interesse in den letzten Jahren fest und resümiert: „[...] beigetragen hat dazu sicherlich eine durch die Presse vermittelte medizinischhygienische Volksbelehrung“ (BIZ 1929). Vorwärtsblickend benannte der Artikel die Heilung von Infektionskrankheiten und Rheuma als große Aufgabe der Medizin, ebenso die Krebsbekämpfung und die Arteriosklerose. Ziel und Aufgabe der Ärzte sei die „Gesunderhaltung des Volkskörpers“ (BIZ 1929). Der Hinweis auf die Rolle des Arztes als kontrollierende und regulierende Instanz stand den in den Kleinanzeigen vertretenen alternativen Methoden gegenüber. Die mit der ärztlichen Standespolitik angestrebte Verwissenschaftlichung stand einem breitem Spektrum an im Alltag verankerten populären Überzeugungen gegenüber, die von den vielfältigen, konsumentenorientierten Angeboten des Marktes weiterhin bedient wurden. In der Auseinandersetzung mit der institutionellen und politischen Macht des naturwissenschaftlichen Paradigmas erwies sich Laienwissen als langlebig und sogar widerspenstig. In der öffentlichen Wahrnehmung von Krankheit trafen sich modernes Wissen und traditionelle Erfahrungswerte noch lange nachdem die naturwissenschaftlich begründete Sicht auf den menschlichen Körper institutionell und politisch etabliert war.

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Zusammenfassend kann für den Wissenstransfer in der Weimarer Republik festgestellt werden, dass die Politisierung von Gesundheit von verschiedenen Akteuren durch den Verweis auf individuelle Lebensweise an den chronischen Krankheiten und deren Prävention festgemacht wurde. Wissenschaftler, Politiker, die Medien und wirtschaftliche Interessengruppen nutzten den Wissenstransfer, um eine Pflicht zur Gesundheit im Interesse der Gemeinschaft, zu etablieren. Mit diesem Ansatz avancierte die private Lebensweise in den 1920er Jahren von einem gesundheitspolitischen Problem, das es im Interesse der sozialen Befriedung zu lösen galt, zu einem ideologisch unterlegten politischen Anspruch an den Einzelnen. Reagierend auf den in Folge des verlorenen Ersten Weltkrieges eminent diskutierten nationalen Niedergang sowie die als erfolglos und sogar als schädlich empfundenen Initiativen des Wohlfahrtsstaates, führte die Auseinandersetzung mit der nationalen Gesundheit auf Wege, die in den theoretischen Ansätzen international nicht einmalig waren, aber in der praktischen Umsetzung im Nationalsozialismus erschreckende Ausmaße annehmen sollten.

Krankheit und Gesundheit i m Na t i o n a l s o z i a l i s m u s Weder Rassenhygiene noch Überlegungen zu bevölkerungsbezogenen Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge waren neue Erscheinungen, als Hitler an die Macht kam. Beides war bereits in den Debatten der Weimarer Republik um den Wohlfahrtsstaat angelegt und wurde multidimensional diskutiert (Hong 1998). Alle Parteien der Weimarer Republik banden das Konzept des „kranken Volkskörpers“ in ihre jeweilige politische Argumentation ein (Föllmer 2005). In der Auseinandersetzung mit Krankheit knüpfte das nationalsozialistische Regime einerseits an langfristige Entwicklungslinien an. Andererseits wurden die verschiedenen Krankheitsdiskurse der Zwischenkriegszeit ideologisch überlagert und rassenhygienisch gebündelt. Das primäre staatliche Interesse lag in der Gesunderhaltung bzw. einer schnellen Genesung im Krankheitsfall; der Wandel von der primären Thematisierung von Krankheit zu einem neuen Fokus auf den Erhalt der Gesundheit fand hier deutliche Anhaltspunkte. Im Vordergrund der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik stand die Rassenhygiene. In deren Rahmen wurden neben Themen wie Rassentrennung, Geburtenrückgang und Körperbehinderungen zum Beispiel der Alkoholismus und Geschlechtskrankheiten als vererbbar und wiederum Auslöser von Behinderungen angesehen und entwickelten damit 152

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eine moralisierende Kraft. Außerdem bestand die Gesundheitsvorsorge als zweiter Pfeiler der „Gesundheitsführung“ des Dritten Reiches. In diesem Sektor achteten Gesundheitsexperten vor allem auf die gesunde Lebensweise der „arischen“ Bevölkerung. Zum Beispiel wurde Krebs hier in Fortführung früherer Ansätze mit ungesunder Lebensweise in Verbindung gebracht. Auch die Gesundheitsvorsorge erhielt durch den Fokus auf die individuelle Ernährung, physische Aktivität und Stress einen stark moralisierenden Impetus. Das Konzept der Zivilisationskrankheit wurde weiter ausgebaut und durchaus auch auf chronische Krankheiten bezogen. Im Jahre 1940 veröffentlichte zum Beispiel Hugo Otto Kleine, Chefarzt der Städtischen Frauenklinik Ludwigshafen, ein Buch mit dem Titel Ernährungsschäden als Krankheitsursachen (Kleine 1940). Kleine bezog sich direkt auf die fortschreitende Urbanisierung und Industrialisierung (Kleine 1940: 35). Er bekundete seine Überzeugung, „daß Umweltschäden als Krankheitsursachen in außerordentlichem Ausmaße verantwortlich gemacht werden müssen, hauptsächlich infolge der falschen Lebensweise der heutigen Generation, insbesondere der Großstadtbevölkerung“ (Kleine 1940: 58). Er rückte die Krankheitsverhütung in den Vordergrund und befand, dass unter anderem die Zunahme der Krankheiten des Herzkreislaufsystems dafür sprach, dass „Krankheitsbehandlung allein nicht ausreicht, sondern daß unser Volk nur durch eine in denkbar größtem Umfang betriebene Krankheitsverhütung gesunden kann“ (Kleine 1940: 62). In diesem Sinne nutzten die Nationalsozialisten Zivilisationskritik als politisches Instrument, die eine staatliche Intervention im Interesse der „Volksgesundheit“ legitimierte. In der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ wurde das vormals breite Konzept der Prävention zu einem radikalen und gewalttätigen Experiment zugespitzt, das die „arische Rasse“ vor einer Kontaminierung mit, so das damalige Vokabular, „minderwertigen Erbanlagen“, dem Niedergang und letztendlichem Aussterben bewahren sollte. Nationalsozialistische Ideologen nutzten diese radikale Interpretation von Prävention, um die vormalige Wahrnehmung von Krankheitspathologien zu überlagern bzw. zu verschieben. Rassenhygiene bot jedoch keine neuen Erklärungen, ganz zu schweigen von Lösungen, für den endemischen Anstieg chronischer Krankheiten. Es war vor allem die Gesundheitsvorsorge, die diese Aspekte ansprach. Gesundheitsvorsorge im Dritten Reich befasste sich mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der arischen Bevölkerung. Ziel war deren Gesunderhaltung durch die Beeinflussung einerseits des individuellen Verhaltens, insbesondere der Ernährung, der physischen Aktivität und der Vermeidung der sogenannten Genussgifte wie Alkohol und Tabak, sowie andererseits der Verhältnisse 153

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zum Beispiel von Arbeitsbedingungen durch betriebszentrierte Prävention. Im folgenden Abschnitt soll diese Konstellation kurz im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Erkrankungen des Herzkreislaufsystems beschrieben werden, um die Verquickung von Gesundheit und Politik im Dritten Reich sowie deren Folgen für den Umgang mit diesen Krankheiten zu verdeutlichen.

Gesundheitsvorsorge in populärwissenschaftlichen Ausstellungen Eingebunden in die nationalsozialistische Propaganda entwickelten Ärzte, Politiker und populärwissenschaftliche Institutionen, wie zum Beispiel das Deutschen Hygiene-Museums in Dresden (DHMD), eine allgemeine Gesundheitslehre, welche die Auseinandersetzung mit chronischen Erkrankungen des Herzkreislaufsystems untergrub. Ziel war die Verbreitung einer gesunden Lebensweise im Interesse des langfristigen Leistungsvermögens, nicht die spezifische Diskussion entsprechender Krankheitsbilder. Die ausführliche Debatte blieb dem Krebs vorbehalten, der als aggressiver interner Feind dargestellt wurde und als Metapher für das „Judentum“ Eingang in die rassistische Propaganda des Drittes Reiches fand.11 Demgegenüber erschienen die langsam fortschreitenden, meist unsichtbaren kardiovaskulären Krankheiten erstens wenig bedrohlich und zweitens propagandistisch kaum verwertbar. Die Ausstellungen des DHMD reflektierten dieses Verständnis chronischer kardiovaskulärer Krankheiten. Bei der Ausstellung „Heilkräfte der Natur“ zum Beispiel handelte es sich um eine Wanderausstellung, die 1933 eröffnet wurde und zwischen 1934 und 1938 unter dem neuen Titel Leben und Gesundheit rund eine Million Besucher anzog. Die Ausstellung wurde vor der Machtübernahme Hitlers konzipiert. Die propagandistische Vereinnahmung der Ausstellung erfolgte ohne inhaltliche Veränderungen. In Heilkräfte der Natur wurden Herzkreislaufkrankheiten als häufigste Todesursache besprochen und verschiedene Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge vorgestellt, die sich primär auf Fragen der individuellen Lebensweise bezogen. Die Ausstellung sprach unter anderem die Ernährung, physische Aktivitäten, die Vermeidung von Stress sowie die Bedeutung von Licht und Luft an und stand damit lebensreformerischen Ansätzen nahe. Sie fügte sich leicht in die von den Nationalsozialisten propagierten Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge ein,

11 Die Ausstellung „Kampf dem Krebs“ war überaus erfolgreich und erreichte mindestens eine Million Besucher (vgl. Ludwig 1986: 459-474; Sontag 1978). 154

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nur die Rassenhygiene wurde nicht angesprochen (Dresdner Anzeiger 1933a; 1933b). Eine Weiterführung erfuhr der hier dargestellte Ansatz in der Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“, die 1938 in Berlin statt fand und in die Wanderausstellung „Gesundheit im Alltag“ überging. Wichtiger Teil von „Gesundheit im Alltag“ war die Rassenhygiene. Der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik entsprechend stellten sich die zwei Aspekte, Rassenhygiene und Vorsorge, als Einheit dar, obwohl deren Zusammenlegung in einer Ausstellung auch praktische Gründe gehabt haben könnte. Schon 1936 wurde verschiedentlich eine zurückhaltende Reaktion der Öffentlichkeit auf singulär rassenhygienisch ausgerichtete Ausstellungen konstatiert (Tröscher 1936). Möglicherweise half die Propagierung von Gesundheitsvorsorge, Rassenhygiene effektiv zu transportieren. In „Gesundheit im Alltag“ zum Beispiel wurde eine allgemeine Gesundheitsvorsorge dargestellt und als Teil dessen auch die Neue Deutsche Heilkunde propagiert. Die Neue Deutsche Heilkunde wurde in Zusammenarbeit von Schulmedizinern und Naturheilkundigen ab 1933 im Rahmen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik durchgeführt. Wesentliche Elemente waren die Kritik an einer rein naturwissenschaftlichen Medizin und die Betonung der „Volksgesundheit“ sowie der Prävention (Bothe 1991). In der Ausstellung zeigte sich eine Verschiebung hin zu einer allgemeinen Gesundheitslehre ohne einen konkreten Hinweis auf die chronischen Krankheiten des Herzkreislaufsystems. Dieser unspezifische Gesundheitsdiskurs bezog das arische Individuum umfassend in die Leistungsorientierung und Selektion der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik ein. Chronisch Kranke jedweder Art entsprachen weder den Leistungsansprüchen im Dritten Reich noch den rassischen Vorstellungen vom gesunden „arischen Volkskörper“. Sie waren aus ökonomischen und ideologischen Gründen unerwünscht. Dementsprechend erschienen chronische kardiovaskuläre Krankheiten in populärwissenschaftlichen Ausstellungen ab Mitte der 1930er Jahre wieder vor allem als Alterskrankheiten. Das Herz wurde als Motor und der Kreislauf als mechanischer Ablauf dargestellt; im Sinne einer physiologischen Sicht auf den Körper, die bis in die Zeit der Aufklärung zurück reichte und auf Leistung fokussierte (Sarasin 2001: 20). Die Auseinandersetzung mit Krankheit wurde durch eine Thematisierung von Gesundheit und deren Bedingungen, zu denen auch die Rassenhygiene zählte, ersetzt. Der „arische Volkskörper“ unterlag einem ideologisierten Gesundheitsdiskurs, in dem Krankheit letztendlich zum politischen Vergehen an der Gemeinschaft stilisiert wurde. 155

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Die staatliche Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung vermittelte, trotz der primären Orientierung an erhöhter Leistung, den Eindruck fortschrittlicher Ansätze. Aufgrund der rassistischen Ideologie des Regimes wurden jedoch viele Menschen von diesem Fortschritt ausgeschlossen. Zusätzlich isolierte die Leistungsorientierung durchaus auch „arische Volksgenossen“ (Stargardt 2005). Eine Ausweitung eugenischer Argumentation auch auf ‚arische‘ Herzkranke klang schon in zeitgenössischen Diskussionen an. So wurde im Öffentlichen Gesundheitsdienst 1936 auf den eingeschränkten Nutzen einer Rekrutierung Herzkranker hingewiesen (Breckenfeld 1936; Pfotenhauer 1936). Weitergehend wurde vorgeschlagen, dass Herzkranke unter bestimmten Umständen nicht heiraten sollten (Stift/Tönniges 1937: 75-77). In den Kriegsjahren debattierten Ärzte, ob Diabetiker ihre Extrarationen an Fett und Eiweiß wirklich benötigten. Dies geschah zwar unter wissenschaftlichen Vorzeichen, doch ein wichtiges Element der Argumentation stellte der Verweis auf die „augenblickliche Ernährungslage“ dar, die eine „Sonderbehandlung“ der Diabetiker falsch erschienen ließe (Falta 1943; Nonnenbruch 1943; Wolff 1943). Ein Arzt, gleichfalls in dieser Tonlage argumentierend, schlug 1941 für die Krebstherapie eine „Verknappung“ der Nahrung und „Einstellung auf ein Lebensminimum“ vor (von Roques 1941: 289).12 Die Tendenz zur Exklusion derjenigen, die sich entweder der Gesundheitsvorsorge entzogen oder dennoch krank wurden und damit den „Volkskörper“ schwächten, scheint offensichtlich. Die individuelle Verantwortung für die eigene Gesundheit, die es im Interesse der Nation zu schützen galt, stand im Mittelpunkt des populärwissenschaftlichen Gesundheitsdiskurses und prägte den Wissenstransfer. Mit dieser Ausrichtung waren massive Eingriffe in die Alltagswelten der Bevölkerung verbunden.

Praxis der Gesundheitsvorsorge Bestimmte Präventionsmaßnahmen stießen durchaus auf Gegenliebe in der Bevölkerung. Gesetzliche Regelungen zur Nahrungsmittelzubereitung und Konservierung (Proctor 1999: 160) sowie die betriebszentrierte Prävention, etwa Initiativen zur Vermeidung von Unfällen, ergonomisch angelegte Arbeitsplätze, Reduktion der Lärmbelästigung und eine verbesserte Massenverpflegung kam den Interessen der Arbeiterschaft entgegen und entsprach dem von Bernd Stöver für diese Zeit konstatierten unpolitischen Rückzug in das Private (Stöver 1993: 42). Die Propagierung physischer Fitness, unterstützt durch Organisationen wie die Hitler12 Zum Umgang mit Krebs im Dritten Reich, siehe Proctor (1999). 156

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jugend und die Deutsche Arbeitsfront, sowie entsprechende Kampagnen wie Kraft durch Freude und Schönheit der Arbeit standen im Zeichen der Leistungssteigerung.13 Dennoch war gesundheitliche Vorsorge und auch soziale Fürsorge Teil dieser Initiativen und entsprach den Bedürfnissen der Bevölkerung nach Sicherheit und Ordnung (Stöver 1993). Allerdings ist zu fragen, inwieweit diese Entwicklungen Einfluss nahmen auf den Alltag im Dritten Reich. Diesbezüglich soll kurz auf eines der bevölkerungsbezogenen Gesundheitsprogramme der Nationalsozialisten eingegangen werden: die Vollkornbrotpolitik. Sie entstand lange vor dem Dritten Reich, wurde aber von den Nationalsozialisten ausgebaut und genutzt, um den staatlichen Gesundheitsdiskurs zu verbreiten sowie militärisch motivierte Autarkiebestrebungen zu legitimieren. Zivilisationskritische und nationalistische Argumente verbindend unterstützte die Vollkornbrotpolitik einen Gesundheitsdiskurs, der sich unter anderem an der Zahngesundheit fest machte und eine staatlich forcierte Präferenz für die Verwendung des billigeren, einheimischen Roggens gegenüber Weizen legitimierte (Spiekermann 1999; Spiekermann 2001b: 102ff.). Wie schon Ende der 1930er Jahren festgestellt wurde, war die Vollkronbrotpolitik allerdings nur bedingt erfolgreich. Ein Hauptkritikpunkt war, dass Vollkornbrot schwerer zu verdauen sei und die Bevölkerung mit unangenehmen Blähungen zu kämpfen hatte. Das ärztliche Gegenargument der Gewöhnung zielte darauf, etablierte Ernährungsgewohnheiten, welche die körperlichen Vorgänge langfristig geprägt hatten, zu unterlaufen um einen gesünderen und kräftigeren „Volkskörper“ zu schaffen. Generell setzte die von den Nationalsozialisten unterstützte Neue Ernährungslehre, in deren Rahmen auch die Vollkornbrotpolitik propagiert wurde, auf Aufklärung und die Regulierung des Angebotes. Ab 1939 verschärfte sich jedoch der Ton: Ärzte und Politiker verurteilten Kritik und Verweigerung in der Bevölkerung als moralische Fahnenflucht an der Heimatfront sowie Untergrabung des Kriegsaufgebotes (Ertel 1939: 22). In der nationalsozialistischen Vollkornbrotpolitik verbanden sich staatliche Interessen mit einem Gesundheitsdiskurs, der individuelle Anliegen rigoros ablehnte – nicht im Interesse einer eindeutigen gesundheitlichen Verbesserung, sondern primär getrieben von militärischen Zielen. Gleichzeitig wurde erkennbar, dass staatliche Vorgaben keineswegs direkt zu deren bevölkerungsweiten Akzeptanz und Umsetzung 13 Die Aktionen des Amtes für Schönheit der Arbeit (1933-39) standen unter jährlich wechselnden Mottos. 1934: Entrümpelung der Betriebe, 1935: Kampf dem Betriebslärm, 1936: Gutes Licht, gute Arbeit, 1937: Saubere Menschen im sauberen Betrieb, 1938: Gesunde Luft im Arbeitsraum, 1939: Warmes Essen im Betrieb. 157

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führte. Die totalitäre Vereinnahmung stieß gerade in Bezug auf Maßnahmen der bevölkerungsbezogenen Prävention, die das individuelle Alltagsgebaren zu verändern suchten, an Grenzen.

Öffentlichkeit Wie anhand der populärwissenschaftlichen Ausstellungen des DHMD gezeigt wurde, war der Gesundheitsdiskurs ein wichtiger Teil der gesundheitspolitischen Strategien im Dritten Reich, die darauf ausgerichtet waren, den gesunden „Volkskörper“ zu einem zentralen Wert der nationalsozialistischen Ideologie auszubauen. Chronische Krankheiten band dieser Gesundheitsdiskurs nur bedingt ein. Dennoch scheint es ein öffentliches Interesse an den chronischen Krankheiten des Herzkreislaufsystems gegeben zu haben, das über die gesundheitspolitischen Vorgaben des Regimes hinausging. Die 1937 in der dritten Auflage erschiene, populärwissenschaftlich angelegte Veröffentlichung Wie wird das kranke Herz gesund? bescheinigte den chronischen kardiovaskulären Krankheiten eine steigende öffentliche Aufmerksamkeit trotz der von den Autoren bedauerten geringen Beachtung in der staatlichen Gesundheitspolitik. Zusätzlich verwiesen die Autoren auf das kontinuierliche wissenschaftliche Interesse an kardiovaskulären Krankheiten (Stift/ Tönniges 1937: 8). Dieser Befund wird bestätigt, wenn man die Zeitung Grüne Post, eine auf Unterhaltung ausgerichtete Sonntagszeitung, näher betrachtet. Vor allem Fragen der Ernährung wurden in Bezug auf Gesundheit wiederholt besprochen und die Lehren der Naturheilkunde verbreitet. Im Anzeigenteil wurden Mittel gegen Arteriosklerose und andere Krankheiten des Herzkreislaufsystems beworben. Im Gegensatz dazu fand der Leser der auflagenstarken Berliner Illustrirten Zeitung, die u.a. für ihre Bildberichterstattung bekannt wurde, nur sehr wenige Beiträge zur Prävention oder den Umgang mit chronischen kardiovaskulären Krankheiten, deutlich weniger als noch in den 1920er Jahren. Dafür erschien 1939, also bei Ausbruch des Krieges, eine Werbeanzeige des Pharmakonzerns Bayer, die Lebensweise und Gesundheit im Stil einer Mobilisierungskampagne miteinander in Verbindung brachte und damit die eigentlichen Anliegen der zeitgenössischen Gesundheitspolitik illustrierte. Der jeweils in den zwei Zeitungen und in der Veröffentlichung Wie wird das kranke Herz gesund? präsentierte Umgang mit Krankheit unterschied sich deutlich. Während der Eindruck entsteht, dass die Grüne Post sich entschiedener mit den alltagsrelevanten Interessen ihrer Leser auseinandersetzte und in diesem Rahmen chronische Krankheiten eine wichtige Rolle spielten, vermittelte die BIZ eine effektive politische In158

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strumentalisierung der Gesundheitsthemen sowie wenig konkrete Thematisierungen spezifischer Krankheiten. Das entspricht den Befunden in Bezug auf die Ausstellungen des Hygiene-Museums. Beide Zeitungen stammten aus dem Ullstein-Verlag, der seit 1934 von den Nationalsozialisten kontrolliert wurde. In der Grünen Post wurden jedoch bis 1939 Fragen zu chronischen Erkrankungen des Herzkreislaufsystems angesprochen und auch in Leserbriefen diskutiert. Damit setzte die Zeitung sich von der allgemein gehaltenen und politisierten Gesundheitslehre der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik ab. Ähnlich gelagert war der Ansatz in Wie wird das kranke Herz gesund?: Schon der Titel indizierte einen positiven Umgang mit Krankheit, der dem eindimensionalen Gesundheitsdiskurs der Nationalsozialisten entgegen stand. Die Gegenüberstellung von Gesundheitspolitik, Populärwissenschaft und Öffentlichkeit ergibt ein facettenreiches Bild, das verschiedenartige Sichtweisen auf chronische kardiovaskuläre Krankheiten beinhaltet. Ein Grund für diese Vielfalt war möglicherweise die Kontinuität wissenschaftlicher und standespolitischer Ansätze aus der Weimarer Republik auch nach der politischen Gleichschaltung. Ergänzend soll deshalb im folgenden Abschnitt auf die Einbindung der Fachöffentlichkeit in den nationalsozialistischen Gesundheitsdiskurs eingegangen werden.

Reaktion der Fachöffentlichkeit Strukturelle und gesetzliche Veränderungen, wie die Zentralisierung des Gesundheitswesens und die Einführung des Heilpraktikergesetzes 1939, wirkten langfristig zum Vorteil der ärztlichen Standespolitik.14 Im Deutschen Ärzteblatt, dem Standesorgan der Ärzteschaft, wurden chronische Krankheiten, wenn überhaupt, vor allem im Sinne eines Leistungsverlustes und ökonomischer Belastung referiert. Einige Artikel zur Neuen Deutschen Heilkunde und der Ernährungsreform vertraten Schwerpunktthemen der staatlichen Gesundheitspolitik. Der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ wurde Rechnung getragen, indem ein moralisierender Krankheitsdiskurs die Zuspitzung auf individuelle Leistung im Dienste der arischen „Volksgemeinschaft“ stützte. Allerdings orientier-

14 Das Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung vom 17. Februar 1939 regelte die Voraussetzungen zur Führung der Berufsbezeichnung „Heilpraktiker“. Für eine Genehmigung zur Arbeit als Heilpraktiker wurde unter anderem die amtsärztliche Überprüfung eingeführt. Damit beschränkte das Heilpraktikergesetz die Kurierfreiheit und entsprach damit wenigstens teilweise den langjährigen Forderungen der approbierten Ärzteschaft. 159

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ten sich Ärzte ihrem standespolitischen Interesse entsprechend an Krankheiten, weniger an der Gesundheitsvorsorge. Im Gegensatz dazu bemühte sich die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) durchaus um Gesundheitsvorsorge. Der Dermatologe und Leiter der Hauptstelle Volksgesundheit im Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP, Franz Gerhard Maria Wirz (18891969), zum Beispiel kritisierte den rasch ansteigenden Verbrauch an Fleisch, Fetten und Zucker als pathologisch. Er brachte diese Entwicklung unter anderem in Verbindung mit dem Anstieg von chronischen Erkrankungen des Herzkreislaufsystems (Wirz 1938: 8f., 11, 17). Im Einklang mit diesem Argumentationsansatz warnte der Ernährungswissenschaftler und Verfechter der Vollwerternährung Werner Kollath (1892-1970) im Jahr 1942 vor der Überflussernährung. Mitten im Zweiten Weltkrieg, drei Jahre nach dem Beginn der Rationierung, prangerte Kollath Überfluss als gesundheitsschädlich an, obwohl er lange Jahre vor allem die Folgen der Mangelernährung erforscht hatte (Kollath 1942: 73f.). Sicherlich muss diese Position mit der Verschärfung der Rationierung im selben Jahr in Verbindung gebracht werden, die er mit seinen Thesen wissenschaftlich unterfütterte. Dieser Verschiebung von der Mangel- zur Überflussforschung lagen aber auch wissenschaftliche Überlegungen zugrunde, die frühere Debatten zum Beispiel zur Bedeutung der verschiedenen Vitaminen oder von tierischem Eiwei für die menschliche Ernährung einbanden und zukünftige Forschungsfelder der Humanbiologie andeuteten. Diese Ansätze passten sich politischen Vorgaben an und stützten staatliche Anliegen.15 Im Vergleich dazu soll kurz die Darstellung chronischer Krankheiten des Herzkreislaufsystems in der Zeitschrift einer privaten Versicherung vorgestellt werden: In Gesundheit und langes Leben gab es insgesamt wenige Artikel, die sich ausdrücklich mit chronischen Herzkreislauferkrankungen beschäftigten. Im Jahr 1938 erschien ein Artikel zur Arterienverkalkung, in dem das öffentliche Interesse an diesen Krankheiten betont wurde. Hypertonie zum Beispiel sei „besonders gefürchtet“. Als „weitverbreitet“ wurde der Zusammenhang zwischen Alter und Arteriosklerose angesehen. Im Gegensatz zu diesem Verständnis wurde Arteriosklerose als Ende einer chronischen Entzündung, also als Heilungsprozess, beschrieben. (Kaufmann 1938: 12) Einerseits zeigen sich hier die bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheiten und andererseits ein deutlich positiveres Verständnis von Krankheit als es von der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik vertreten wurde. 15 Die Verstrickungen der Ärzteschaft wie auch der Naturheiler in die politische Agenda der Nationalsozialisten wurden erst in den letzten Jahren eingehend untersucht. Siehe zum Beispiel Spiekermann (2001a). 160

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Während die standespolitisch organisierte Ärzteschaft ihren traditionellen Krankheitsdiskurs zwar an gesundheitspolitische Vorgaben anpasste, gab sie diesen keineswegs völlig auf. Manchen Wissenschaftlern kamen die von der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik eröffneten Möglichkeiten entgegen, vor allem der Gesundheitsvorsorge verschafften die zentralisierenden Vorgaben des Regimes neuen Raum. Die Ernährungswissenschaft und deren Vertreter, wie zum Beispiel Kollath, profitierte von den politischen Gegebenheiten. Allerdings beendeten die Kriegsvorbereitungen jegliche langfristige Präventionsbestrebungen. Mit Kriegsbeginn nahmen die Diskussionen um Infektionskrankheiten wieder zu. Die Rassenhygiene wurde weniger besprochen. Zu vermuten ist einerseits eine Anpassung an die Kriegssituation. Andererseits ist in Betracht zu ziehen, dass das Euthanasie-Programm 1939 begann und damit eine dramatische Radikalisierung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik eingeleitet wurde. Die zwei Seiten der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik verbanden rassistische Gewalt mit dem Streben nach gesunder Lebensweise, beides implementiert durch staatliche Behörden im Rahmen bevölkerungsbezogener Gesundheitsprogramme. Die Vermengung von Politik, Wissen und Wissenschaft ermöglichte die totale Unterordnung des Einzelnen unter die (angeblichen) Interessen des „arischen Volkskörpers“ und prägte den Wissenstransfer. Die extreme Politisierung von Gesundheit stieß allerdings in der Wissenschaft und der Öffentlichkeit an Grenzen, vor allem in der Auseinandersetzung mit etablierten Diskursen und Alltagswelten.

Zusammenfassung Anhand der Beschreibung langfristiger Entwicklungslinien in der Wahrnehmung chronischer Erkrankungen des Herzkreislaufsystems wurde deutlich, dass nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg Gesundheit und Krankheit zunehmend als Reflexionen nationaler Verfasstheit gedeutet wurden. Unterschiedliche Akteure aus den Bereichen der Wissenschaft, Populärwissenschaft und Öffentlichkeit nutzten speziell chronische Krankheiten im Rahmen einer breiten Zivilisationskritik, um eine Pflicht zur Gesundheit diskursiv zu etablieren. Dieser übergreifende Gesundheitsdiskurs stützte Transferprozesse zwischen den verschiedenen Bereichen, womit wiederum die Politisierung von Gesundheit voran getrieben wurde. In der Weimarer Republik konnte zum Beispiel verfolgt werden, wie der epistemologische Fortschritt im Zusammenhang mit populären De161

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batten zu einer Umdeutung der chronischen Herzkreislaufkrankheiten von schichtspezifischen Alterskrankheiten zu einer verbreiteten Zivilisationskrankheit führte. Trotz deutlicher Grenzen wissenschaftlichen Wissens nutzten populärwissenschaftliche Medien und Institutionen diesen Ansatz, um allgemein gehaltene, das Individuum ansprechende Anweisungen zur gesunden Lebensweise zu verbreiten. Im Vergleich dazu zeichnete sich das Dritte Reich durch eine Radikalisierung der Pflicht zur Gesundheit aus. Die Auseinandersetzung mit Krankheit verwandelte sich in einen idealisierten Gesundheitsdiskurs, der ideologisch verbrämt Krankheit weitgehend negierte. Die Verbreitung einer allgemeinen Gesundheitslehre zielte nicht auf einen bewussten und informierten Umgang mit Krankheiten und deren Prävention, sondern versuchte Selektion im Interesse des „arischen Volkskörpers“ und ohne Rücksicht auf die darin aufgehenden Individuen weitgehend und umfassend zu implementieren. Obwohl Diskurs und Praxis teilweise enorm voneinander differierten, wie anhand der Vollkornbrotpolitik veranschaulicht wurde, wirkte der politisierte Gesundheitsdiskurs der Nationalsozialisten nachhaltig auf den Umgang mit Prävention in der Bundesrepublik. Die Bundesrepublik setzte auf Individualmedizin; ein Fokus, der zentralistische Radikalisierungen wie im Nationalsozialismus zu verhindern versprach. Aus dieser Konstellation entwickelte sich ein Dilemma, das seit den 1970er Jahren verstärkt thematisiert wurde, aber bis heute nicht grundlegend gelöst ist: Prävention wurde medizinisch gedacht und institutionalisiert während bevölkerungsbezogene Ansätze der Primärprävention, wie sie von Public Health vertreten werden, vernachlässigt wurden. Strukturelle Gegebenheiten und Akteurskonstellationen, vor allem die starke Position der standespolitisch organisierten Ärzteschaft, stützten diese Trennung der Ansätze und hemmen die Entwicklung der Gesundheitsvorsorge bis heute.

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Moderne D iäteti k als prä v entive Selb sttechno logie: Zu m V erh ält nis heteronom er und autonom er Selb st disz iplini erung z wis ch en Leben sr eformbe wegung und heutigem G esundh eitsboo m 1 EBERHARD WOLFF

Madonnas „Waschbrettstruktur“ und der heutige Gesundheitsboom „Sie fühlt sich an wie ein Stück Knorpel“ – mit diesen Worten soll Madonnas Noch-Ehemann Guy Ritchie in der Endphase seiner Ehe mit dem Pop-Idol laut Süddeutscher Zeitung vom Herbst 2008 gemäß gut unterrichteten Kreisen seine Gattin beschrieben haben: „Madonna widmet sich täglich mehrere Stunden lang ihrem Körper, mit immer härteren Methoden konserviert sie ihre Waschbrettstruktur, und ebenso halsbrecherisch sind ihre Konzertauftritte als stählerne Amazone.“ (Mayer 2008) Durchtrainiert zu sein und im Alter von fünfzig Jahren einen Körper wie eine Zwanzigjährige zu haben, ist bekanntlich mehr als Madonnas Spleen. Es ist essentieller Teil des systematisch konstruierten PopIdols „Madonna“. Und ihr Erfolg zeigt, dass dieses vom Publikum 1

Der Beitrag wurde verfasst im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts „Gesunde Lebensführung im 20. Jahrhundert. Anspruch und Wirklichkeit moderner Diätetik im Spiegel der Patientendossiers der Bircher-Benner-Klinik (Zürich)“. 169

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durchaus goutiert wird. Das Marketing-Modell „Madonna“ ist nicht zuletzt erfolgreich, weil es diese Inkarnation von Fitness darstellt, ebenso diesseits wie jenseits des Atlantiks. Madonna ist allerdings kein Einzelfall. So meinte die Süddeutsche Zeitung im zitierten Artikel über den „Fitnesswahn“ unter Pop- und Filmstars: „Sogar nach der Babypause sehen die Stars aus wie nach einem Trainingscamp für Marathonläufer“. Hollywood-Stars und Pop-Größen fielen heute weniger durch Randale und Skandale auf als durch Disziplin und Dauerlauf. Nicht nur körperliche Fitness stellt heute ein verbreitetes gesellschaftliches Leitbild dar, das von Idolen vorgelebt und von empfänglichen Teilen der Gesellschaft nachgelebt wird (Schwab 2003; als Polemik gegen diesen Trend: Lütz 2007; Dekkers 2008). Populär ist in unserer Gegenwart das breitere Konzept einer „gesundheitsorientierten Lebensführung“ als Leitkonzept von Prävention und als Teil dessen, was in diesem Band das „präventive Selbst“ genannt wird und sich in der Moderne nahezu selbsttätig ausbreitet (Bröckling 2008: 40). Zukunftsforscher sprechen von einem entstehenden Megamarkt Gesundheit auf der Basis eines neuen Verständnisses von Gesundheit als Lebenssinn mit einem Übergang vom passiven zum aktiven Gesundheitsverständnis.2 Dazu gehört essentiell der Verzicht auf das Rauchen und ein Übermaß von Alkohol sowie das, was jeweils unter einer gesunden Ernährung verstanden wird, seien es nun makrobiotische Kost, Low-Fat-Produkte oder Rohkost. Die Breitenwirkung der Idee einer „gesundheitsorientierten Lebensführung“ spiegelt sich aber nicht allein im Boom von Fitnessstudios und den Bio-Abteilungen der Supermärkte. Die letzten Jahre sahen eine Vielzahl von öffentlichen Debatten und Bewegungen im Zusammenhang mit dem gesunden Leben. Antiraucherkampagnen und die Antiraucherbewegung sind eine von ihnen. Rauchen entwickelt sich zunehmend zum Negativsymbol. Gesetzliche Zwangsmaßnahmen, die das Rauchen an öffentlichen Orten verbieten oder den Zugang zu Tabakwaren erschweren, finden eine bemerkenswerte gesellschaftliche Zustimmung. Ein anderer dominanter Diskurs betrifft das Thema Übergewicht, das eng mit dem Thema der „gesunden Ernährung“ verknüpft ist. Als Dystopie wurde der aktuelle Gesundheitsboom von Juli Zeh in Form einer imaginierten Gesundheitskontroll-Gesellschaft gerade literarisch verarbeitet (Zeh 2009). Eine wichtige Eigenschaft dieses Gesundheitsbooms besteht darin, dass an ihm die verschiedensten gesellschaftlichen Akteure beteiligt sind: „Medizin“, „Politik“, „Wirtschaft“, Vereinigungen, gesellschaftliche Interessengruppen (z.B. Duttweiler 2008a). Und mehr noch: Die 2

Vgl. die Debatte im Umfeld von www.zukunftsinstitut.de.

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Bewegungen der gesundheitsorientierten Lebensführung werden von großen Teilen der Bevölkerung als Individuen aktiv mitgetragen. Ratgeberliteratur zur Gewichtskontrolle, zur Rauchentwöhnung und anderen Formen gesunder Lebensführung stellen etwa einen kaum überschaubaren Markt dar (vgl. Heimerdinger 2008). In neueren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wird der Gesundheitsboom häufig und mit einigem Recht im Rahmen des Gouvernementalitätskonzepts als ein Regieren der Bevölkerung aus der Ferne durch Selbsttechnologien interpretiert. Dieser Beitrag fragt skeptisch nach, ob bei der Deutung solcher Phänomene als heteronome, von außen gesteuerte Selbstkontrolle nicht der Eigenanteil der Adressaten, die autonomen Gehalte ihrer Anstrengungen zur Selbstkontrolle, je nach Feinverortung innerhalb der Theorie ganz oder zu weit in den Hintergrund geraten. Er fragt, wie weit die Individuen selbst freiwillig, aktiv und im eigenen Interesse am Aufbau von eben jenen Strukturen menschlicher Disziplinierung von außen beteiligt sind, die dann wiederum auf sie zurückwirken. Hierfür greift der Beitrag nicht nur auf aktuelle Debatten, sondern auch auf ein historisches Beispiel aus der ähnlich gelagerten Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts zurück: die Ordnungstherapie von Max Bircher Benner. Er fokussiert somit parallel auf zwei Untersuchungszeiträume und oszilliert zwischen den sich gegenseitig befruchtenden Perspektiven auf die Gegenwart sowie das frühe 20. Jahrhundert.

Ko n j u n k t u r e n g e s u n d h e i t s o r i e n t i e r t e r Lebensweise Die Idee einer gesundheitsorientierten Lebensweise ist bereits in der Antike unter dem Begriff der „Diätetik“ in einer weiten Bedeutung dieses Wortes wohlbekannt (Schäfer 2008; Bergdolt 1999; von Engelhardt 2005). Und doch hat die Medizingeschichte verschiedentlich Konjunkturen solcher Diätetik ausgemacht. In der Aufklärungszeit blühte die Gattung der „Gesundheitskatechismen“ (Sahmland 1991), etwa derjenige von Simon André Tissot (Barras/Courvoisier 2001). Christoph Wilhelm Hufelands „Makrobiotik oder Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“ (zuerst 1796) wird als Steady-Seller seit über zwei Jahrhunderten immer wieder neu aufgelegt. Diätetische Veröffentlichungen dieser Art reihen sich ein in eine Tradition unzähliger, häufig auch medizinischer Ratgeberliteratur bis in die Gegenwart, die auf die gesundheitliche Selbstformierung des Körpers und der Lebensgewohnheiten abzielt (Sarasin 2001). Das subjektive Leitbild des präventiven Selbst ist also nicht 171

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erst kürzlich und vor allem als Folge von modernen Herrschafts- und Verwaltungstechniken „interiorisiert“ worden, wie die Einleitung dieses Bandes nahe legt. Gerade im 20. Jahrhundert lebte der alte Gedanke in neuem Gewande einer, wie ich es nennen will, „modernen Diätetik“ wieder besonders auf. Greifen wir etwa die vielgestaltige Lebensreform-Bewegung heraus. (Buchholz et al. 2001; Fritzen 2006) Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Konzepte gesunder Lebensführung zunehmend im Zusammenhang mit nicht akademisch anerkannten Heilmethoden, etwa der Naturheilkunde (vgl. Heyll 2006), entworfen, propagiert und praktiziert. Da sich diese Heilmethoden häufig in Laienbewegungen manifestierten, konzentrierte sich bewusst praktizierte Diätetik im 20. Jahrhundert zu einem beachtlichen Teil auf diese „alternativen“ Bewegungen. Sie vertraten zum Teil sehr selektive Konzepte, etwa die Wasserkur, LichtLuft- und Sonnentherapien, den Vegetarismus oder die Alkoholabstinenz, zum Teil entsprachen sie in ihrer Breite den Vorstellungen der aus der Galenischen Medizin übernommenen Diätetik der sex res non naturales, welche Luft und Licht, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Affekte umfasste. Auch „Übergewicht“ war in der Lebensreform durchaus bereits ein Thema (Merta 2003). Hier zeigt sich eine Reihe von Parallelen zum heutigen Gesundheitsboom, etwa hinsichtlich des Charakters als vielfältige, populäre Bewegung moderner Diätetik mit einer großen thematischen und organisatorischen Vielfalt sowie mit einer starken Nachfrage in Teilen der Bevölkerung, die auf ein entsprechendes Bedürfnis schließen lässt. Ähnlich der heutigen Gesundheitsbewegung ging es in vielen Bereichen der Lebensreform um Praktiken einer individuellen gesundheitsorientierten Lebensführung, was natürlich mit einer starken Selbstkontrolle des Gesundheitsverhaltens verbunden war. Gemeinsam ist beiden auch die starke Moralisierung individuellen Lebensführung in der öffentlichen Debatte (allgemein dazu Brandt/Rozin 1997; speziell zum Übergewicht Gilman 2008; Forth 2005). Unterschiede liegen aber zum Beispiel darin, dass die Lebensreform keine so umfassende Verbreitung in gesellschaftlichen Interessengruppen hatte wie der heutige Gesundheitsboom und weniger offizielle Anerkennung besaß. Sie hatte statt dessen noch eher Merkmale einer gesellschaftlichen Teilkultur. In der älteren Fachgeschichtsschreibung wurde das komplexe Phänomen der Lebensreformbewegung noch eher als Ausdruck einer modernitätskritischen Gegenkultur gesehen, etwa mit Blick auf „barfüßige Propheten“, welche das ursprüngliche, natürliche Leben abseits der entstandenen Industriestädte zelebrierten – oder mit Blick auf ihre Kritik an 172

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einer zunehmend wissenschaftlich-technisch orientierten und akademisch abgegrenzten so genannten „Schulmedizin“.3 In den letzten Jahren ist der Forschung verstärkt aufgefallen, dass diese Bewegungen hinsichtlich ihrer Bestrebungen zur gesunden Lebensführung auch eine Art Einübung in Verhaltensweisen der Moderne waren (vgl. Fritzen 2006), ähnlich wie etwa Bade- und Kurorte (und Sanatorien) schon früher als „Laboratorien der bürgerlichen Gesellschaft“ fungierten (Lotz-Heumann 2003: 15, 25ff.). Wenn man die Entwicklung von Prävention zu einem der medizinischen Leitkonzepte des 20. Jahrhunderts verstehen will, kommt man um das Phänomen der Lebensreform im weitesten Sinne nicht herum. In gewisser Weise haben diese Bewegungen den Boden für den heutigen individuellen Umgang mit Gesundheit, Prävention und Lebensführung mit bereitet.

„Selbstmanagement“ mit Rohkost und M o r g e n s p a z i e r g a n g : M a x Bi r c h e r - Be n n e r s „ O r d n u n g s t h e r a p i e “ a l s Be i s p i e l Im Folgenden soll das Phänomen „Lebensreform“ weiter fokussiert werden auf ein einzelnes, aber sehr aussagekräftiges Beispiel: Die so genannte „Ordnungstherapie“ des Arztes Max Bircher-Benner in Zürich (1867-1939) (Abb. 1) (Wirz 1993; Melzer et al. 2004; Eklöf 2008; Widmer/Zatti 2008; Wolff 2010), einem der europaweit populärsten Vertreter der naturheilkundlich orientierten Gesundheitsbewegungen im frühen 20. Jahrhundert. Auf ihn geht das so genannte „Birchermüesli“ zurück. Im Zentrum von Bircher-Benners Lehre standen die (vegetarische) Rohkost-Ernährung, der Verzicht auf „Genussgifte“ wie Alkohol, Tabak oder Kaffee, körperliche Bewegung in frischer Luft und ein streng strukturierter Tagesablauf. Die Ordnungstherapie zählt zu den umfassendsten und im europäischen Maßstab breitenwirksamsten diätetischen Konzepten ihrer Zeit. Mittels einer vielfältigen Medienpalette wurden die Ideen in eine internationale Öffentlichkeit vermittelt (Wolff 2009). Den materiellen Kern von Birchers Ideengut stellte sein Sanatorium „Lebendige Kraft“ (nach seinem Tod: „Bircher-Benner-Klinik“) dar, in dem die Lebensweise der „Ordnungstherapie“ angenommen, eingeübt und verinnerlicht werden sollte (Abb. 2).

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Differenzierter zur Forschungsgeschichte Wedemeyer-Kolwe (2005) S. 236f. 173

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Abbildung 1: Max Bircher-Benner Mitte der 1920er Jahre.

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

Das Sanatorium entwickelte sich im frühen 20. Jahrhundert zu den weltweit erfolgreichsten und berühmtesten Einrichtungen seiner Art und wurde zu einem der Produktionsräume paradiesischer Gesundheitssehnsüchte in der Schweiz (Graf/Wolff 2010: 9). Gäste kamen aus der ganzen Welt nach Zürich, häufig jedoch aus dem naturheilbegeisterten Deutschland.

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Abbildung 2: Das Sanatorium „Lebendige Kraft“ in den 1920er Jahren.

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

Der Sanatoriumsalltag bestand aus einem strengen diätetischen Reglement (Wirz 1993: 127), dem sich die Patienten freiwillig unterzuordnen hatten. Berühmt-berüchtigt war der obligate Morgenspaziergang, den die Gäste noch vor dem frühen Frühstück absolvieren sollten (Abb. 3). Thomas Mann, der 1909 „bei Dr. Bircher“ kurte, bezeichnete die Einrichtung denn auch als „hygienisches Zuchthaus“ (Virchow 2002: 190). Vom heutigen Gesundheitsboom unterscheidet sich das „Modell Bircher-Benner“ vor allem durch die fehlende Unterstützung von Seiten des Staates und akademisch anerkannter Experten4 sowie durch die damals im Vergleich zu heute begrenztere Rezeptionsbreite. Dominant sind allerdings die auffälligen Übereinstimmungen weit über konkrete Themen wie „gesunde Ernährung“, körperliche Bewegung und Vermeidung gesundheitsschädliche Praktiken wie das Rauchen hinaus. Gemeinsam ist die generelle Orientierung an individueller Diätetik bis hin zum „Selbstmanagement“, in gewisser Weise der Diskurs- oder Bewegungscharakter, getragen vor allem durch Mittel- und Oberschichten, die prinzipielle Freiwilligkeit der Teilhabe an der Bewegung, die breite Bereitschaft der Betroffenen, äußere Zwänge oder zumindest Anforderun-

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Diese kam erst durch das nationalsozialistische Deutschland (Spiekermann 2010). 175

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gen zu akzeptieren und das Ziel, auf eine gesundheitliche Selbstkontrolle bzw. -disziplinierung des Individuums hinzuarbeiten. Auch und gerade in Birchers Denkwelt wurde „Gesundheit“ zum beinahe einzigen und absoluten Wert des Daseins stilisiert und mit ihm die Forderung nach einer Lebensweise legitimiert, welche die Genusswelt vieler Menschen mittels individueller Selbstkontrolle empfindlich einschränkte. „Uns muss immer nur eines beschäftigen: Gesundheit“ lautete die Überschrift eines kurzen Textes in dem Kurvorschriftenheft, das allen Patienten des Sanatoriums bei ihrem Eintritt überreicht wurde.5

Abbildung 3: Versammlung der Sanatoriumsgäste zum obligaten Morgenspaziergang vor dem Frühstück. Aus einem Sanatoriumsprospekt ca. 1913.

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

De u t u n g s m o d e l l e v o n G e s u n d h e i t s b e w e g u n g e n Wie lässt sich die zeitspezifische Popularität von Bewegungen wie dem heutigen Gesundheitsboom oder der „Ordnungstherapie“ nach BircherBenner deuten? Der Medizinhistoriker Charles Rosenberg (1997) wies vor einigen Jahren darauf hin, dass die professionelle Medizin im Laufe des 19. Jahrhunderts mit ihren Erkenntnissen über die Krankheitsverursachung die alte, bis in die Frühe Neuzeit gültige Diätetik zunächst 5

Kurvorschriftenheft. Unveröffentlichter Druck. Vielfach zu finden in den Patientendossiers des Sanatoriums in Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

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weitgehend obsolet machte. Galt bislang die Lebensweise im Allgemeinen als zentrales Mittel der Krankheitsverhütung, konnten etwa durch die Bakteriologie und Immunologie sowie deren jeweilige praktische Umsetzung vor allem Infektionserkrankungen spezifisch verhindert oder behandelt werden. Gemeinsam mit pharmakologischen Innovationen wurden viele akute Krankheiten in den Hintergrund gedrängt. Dies aber führte wiederum zu einer relativen Bedeutungszunahme chronischer, degenerativer Krankheiten. Im Umgang mit diesen Krankheiten wurde die alte, bis ins 19. Jahrhundert gültige Diätetik der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für seinen Gesundheitszustand im neuen Gewand wieder in ihre Rolle eingesetzt. Die Auswirkungen dieses Revivals seien laut Rosenberg gerade in den letzten Jahrzehnten in Form spezifischer Trends zu gesundheitsorientiertem Verhalten ablesbar, etwa in den „Light-Produkten“ und der Fitness-Bewegung. Rosenberg deutet den Trend zu vermehrter gesundheitsorientierter Lebensführung als eine Art natürlicher Reaktion auf objektive epidemiologische Entwicklungen. Sicherlich wohnt solchen Bewegungen eine gewisse medizinisch-rationale Logik inne. Rauchen kann bekanntlich ungesund sein, Bewegung und eine bewusste Ernährung sind der individuellen Gesundheit eher dienlich. Für das öffentliche Gesundheitssystem zählen chronisch-degenerative Krankheiten, die in einem Zusammenhang mit der Lebensführung stehen, heute als eine der großen Herausforderungen. Doch können Trends zu gesundheitsorientierter Lebensführung auch viele bedeutende andere Gründe als diejenigen einer rationalen Entscheidung auf der Basis objektiven medizinischen Wissens haben. Gerade an der gegenwärtigen Übergewichtsdebatte lässt sich das zeigen. Das Thema eines verbreiteten Übergewichts in westlichen Gesellschaften etwa hat in den letzten Jahren bekanntlich eine ganz gewaltige Aufmerksamkeit in populären wie in Fachmedien erhalten. Tenor der Debatte ist, dass wir mitten in einer Übergewichts-Epidemie stehen, die unsere Gesellschaft zunehmend krank mache und unser Gesundheitssystem ohne eine radikale Umkehr unweigerlich daran zugrunde gehen lassen würde. Schuld daran sei die zunehmende Vernachlässigung einer „gesunden Lebensführung“, konkret: gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung. Eine neuere kritische Analyse der gegenwärtigen Übergewichts-Debatte unter dem bezeichnend doppeldeutigen Titel „Der Kreuzzug gegen Fette“ (Schmidt-Semisch/Schorb 2008, Schorb 2009) hat nun auf eine Reihe von Ungereimtheiten in ihr hingewiesen, die auf eine Begrenztheit ihres medizinischen Rationalität hindeuten. Einige ihrer Schlussfolgerungen sind:

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• •

Der Umfang des Übergewichtsproblems werde übertrieben. Mit dem statistischen Material würde unsauber umgegangen. Gängige Definitionen von Übergewicht und Adipositas seien fragwürdig. Das Problem werde mit unzulässigen Mitteln dramatisiert und skandalisiert. Unseriöse Interpolationen in die Zukunft etwa brächten Horrorszenarien hervor. Es sei überhaupt nicht definitiv geklärt, welche Formen von Übergewicht für welche Erkrankungsraten verantwortlich seien. Die Korrelation von Übergewicht und Erkrankungsraten sei nicht so eindeutig, wie sie vorgegeben würde. Der Zusammenhang zwischen individuellem Gesundheitsverhalten und Übergewicht werde übertrieben, und Faktoren wie eine genetische Disposition würden übersehen. Das Problem werde zudem ganz auf das Verhalten des Individuums reduziert und blende äußere, z.B. soziale Einflussfaktoren auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten aus.

Viele dieser Vorwürfe könnte man im Übrigen problemlos auch auf die gesundheitliche Propaganda-Tätigkeit von Max-Bircher-Benner übertragen, vor allem die Skandalisierung und Dramatisierung des Ernährungsproblems und die Reduktion vieler Gesundheitsprobleme auf eine Ursache, in diesem Falle die mangelnde „Rohkost“-Ernährung. So machte er den Genuss tierischer Eiweiße zum Beispiel nicht nur monokausal für Bluthochdruck, Arteriosklerose sondern in der Folge auch für „Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Verarmungsangst“ etc. verantwortlich (BircherBenner 1932: Tafel XVI) (Abb. 4). Aufgrund dieser Ungereimtheiten muss es auch andere als rein medizinisch-rationale Gründe für den heutigen medialen „ÜbergewichtsHype“ (wie auch die öffentliche Präsenz und Akzeptanz anderer, ebenso historischer Gesundheitsbewegungen) geben. Der vorliegende Band mit seinem Schwerpunkt auf die Herausbildung des Primats von Prävention vom späten 19. Jahrhundert bis in die Jetztzeit bietet verschiedene Antworten an, etwa die direkte Einwirkung staatlicher, politischer oder wirtschaftlicher Akteure aufgrund ihrer spezifischen Interessen (vgl. Madarász 2010). So ließe sich denken, Anbieter der freien Wirtschaft hätten ein Interesse, gesundheitsorientierte Lebensführung zu fördern, um Absatzmärkte für Fitness-Studios, hochpreisige gesundheitsorientierte Lebensmittel oder auch präventive Pharmazeutika wie etwa BlutdruckSenker zu schaffen. Breiter angelegt als primär politisch-ökonomische Deutungen solcher Gesundheitsbewegungen und insgesamt verbreiteter sind allerdings eher kulturelle Erklärungen der derzeitigen Prominenz von gesundheits178

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Abbildung 4: Verschiedenste Krankheitssymptome werden auf Ernährung mit tierischem Eiweiß zurückgeführt.

Quelle: Bircher-Benner (1932), Tafel XVI. Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

orientierter Lebensführung. Aus zwei Gründen lohnt es sich, solche Erklärungen gegenwärtiger Phänomene für die medizinhistorische Arbeit darzustellen. Zum einen können sie als eine Art Steinbruch Anregungen für die historische Behandlung des Themas liefern. Zum anderen sehen diese kulturellen Deutungen die gegenwärtigen Phänomene in der Regel als Produkt historischer Prozesse, und argumentieren damit auch selbst 179

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historisch. Auch der genuin historischen Forschung sind diese Deutungen nicht fremd, und so bietet sich das Thema an, parallel aus gegenwartsbezogener und historischer Perspektive betrachtet zu werden. Sie sind ein Überschneidungsbereich historischer und gegenwartsbezogener Herangehensweisen, und beide können wechselseitig für einander nutzbar gemacht werden.

Selbstdisziplinierung und Technologien des Selbst Ein in der Palette kulturwissenschaftlicher Deutungen gegenwärtiger Gesundheitsbewegungen zur Zeit sehr verbreitetes Konzept steht im Zusammenhang mit dem auf Michel Foucault zurückgehenden Konzept der Gouvernementalität (Nadesan 2008; Bröckling 2004a). Auch Phänomene im weiteren Themenfeld „Prävention“ werden mit ihm gedeutet (z.B. Bröckling 2004b). Es geht in besagtem Modell bekanntlich um eine zunehmende Selbstdisziplinierung des Menschen und um die Technologien, mit denen diese Formen von Selbstkontrolle durchgeführt werden. Diese würden nicht einfach vom Individuum selbst angestoßen. Extrem holzschnitthaft vereinfacht: In foucaultscher Tradition sind sie Ausdruck von Machtausübung. Moderne Gesellschaften zeichnen sich allerdings dadurch aus, dass Macht hier viel weniger als direkte, etwa staatliche Disziplinierung von Seiten der Regierenden und ihrer Instanzen ausgeübt wird (Überwachen und Strafen). Macht wird auch nicht nur z.B. über Institutionen ausgeübt, sondern ebenfalls über Wissenssysteme bzw. Diskurse. Anstelle einer direkten Disziplinierung der Bevölkerung durch Machthabende funktionieren moderne Technologien des Regierens für Foucault sozusagen „aus der Ferne“, indem die Subjekte sich den Normen eigenaktiv unterwerfen und sich selbst disziplinieren mittels so genannter Selbsttechnologien bzw. Technologien des Selbst. Der Umstand, dass diese Form indirekter Machtausübung besonders im Umgang mit dem Körper und nicht zuletzt mittels Fragen der Gesundheit des Menschen diagnostiziert wird, steht ebenfalls in foucaultscher Tradition (Stichwort Bio-Politik). Auch im Bereich der Prävention werden nach Bröckling derzeit „die traditionellen Mechanismen des Überwachen und Strafen [...] durch ein Regime des Monitoring und freiwilliger Selbstkontrolle“ ersetzt (Bröckling 2008: 46). Aus dieser Sicht ließen sich Madonnas Knorpel, Fitnessstudios, Anti-Rauch-Kampagnen, die Übergewichts-Debatte, aber auch Bircher-Benners „Ordnungstherapie“ als Ausdruck einer Praxis der (Selbst-)Disziplinierung des Körpers und als Form des Regierens „aus 180

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der Distanz“ deuten, bei denen das Individuum Umgangsweisen mit dem Körper in Form von „Technologien des Selbst“ verinnerliche und damit sozusagen ferngesteuert regiert werde. Wenn heute immer mehr Menschen in den Fußstapfen Madonnas wandeln und versuchen, an Leibesumfang abzunehmen oder sich das Rauchen abzugewöhnen, wenn sie sich an der Ernährungspyramide orientieren und fünf Mal am Tag oder ausschließlich Obst und Gemüse essen, wenn sie vor dem Frühstück joggen oder nach der Arbeit ins Fitnessstudio gehen, dann sind sie aus gouvernementalitätstheoretischer Sicht Teil und Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung hin zur Gegenwart, in der Individuen sich mittels Selbsttechnologien zunehmend eigenständig regieren und disziplinieren. Aktuelle, von Foucault inspirierte Kritiker des „Kreuzzugs gegen Fette“ sehen speziell in der Übergewichts-Debatte ein typisches Beispiel eben dieses gouvernementalistischen Regierens aus der Ferne (Schmidt-Semisch/Schorb 2008). Eine traditionelle Lösung des Übergewichtsproblems wären im Sinne des ‚frühen‘ Foucault direkte disziplinierende Maßnahmen von politischen oder gesellschaftlichen Eliten gewesen, etwa gesetzliche Regelungen, Verbote, Strafen. Dies wird natürlich auch in der aktuellen Übergewichtsdebatte diskutiert, entscheidend ist allerdings, dass die Bewegungen in großen Teilen gerade ohne direkten Zwang auskommen, mittels Schaffung öffentlichen Bewusstseins und auf der Basis freiwilligen Mitmachens. In einem benachbarten Forschungsbereich haben entsprechende Ansätze zur Zeit ebenfalls Konjunktur. Der aktuelle Boom von Ratgeberliteratur (etwa Erfolgs-, Glücks- oder Zeitmanagement-Ratgeber) und deren gegenwärtiges Erscheinungsbild stellen Lieblingsfelder gouvernementalistischer Forschung dar (vgl. Duttweiler et al. 2010; Duttweiler 2007). Moderne Ratgeber fordern von den Rezipienten heute autonome Problemlösungen, Selbstkontrolle und eigenständigere Disziplinierungsleistungen. Sind historische Ratgeber, etwa Anstandsbücher oder Haushaltsratgeber, noch als autoritative Regelwerke formuliert mit klaren Anweisungen, wie die Leser sich zu verhalten hätten, geben moderne Ratgeber immer weniger klare Anweisungen, sondern nur noch Hilfen für eigenständige Entscheidungen der Adressaten. Das Individuum, so die Ratgeber-Forschenden, ist damit auf einer noch weiteren Stufe darauf angewiesen, eigenständig Techniken der Lebensführung, in foucaultscher Diktion „Technologien des Selbst“, zu entwickeln. Auch die Praxis der Ordnungstherapie Bircher-Benners, obgleich ein knappes Jahrhundert älter, lässt sich als ein Mikrokosmos von Selbsttechnologien grundsätzlich sehr gut in dieses Interpretationsmodell einbetten. Das System Bircher-Benner besteht wie auch heutige Gesundheitsbewegungen aus einer klaren kollektiven Formierung des individu181

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Abbildung 5: Direkte Disziplinierung: Ausschnitt aus einem Prospekt des Sanatoriums von 1935.

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

ellen präventiven Gesundheitsverhaltens. Bereits der Name „Ordnungstherapie“ zeigt an, dass die starke Regelhaftigkeit des diätetischen Systems eines seiner vorherrschenden Merkmale ist. Der Sanatoriumsalltag bedeutete für viele Patienten eine große Herausforderung in Form einer erheblichen Verhaltenskontrolle und einer immer wieder auch konfliktreichen Umstellung der Lebensgewohnheiten. Sicher gab es im Sanatorium Ansätze einer klassischen, direkten Disziplinierung der Patienten (Abb. 5). Dies zeigt das „Kurvorschriftenheft“, das den neu eingetretenen Patienten spätestens seit Mitte der 1920er Jahre als eine Art Eintrittsritual und Initiation in das Sanatorium bzw. die Ordnungstherapie übergeben wurde (Abb. 6). Das zunächst unscheinbare Heftchen enthielt allgemeine und personalisierte „Vorschriften“ für das Leben im Sanatorium. Es war gedacht als materialisiertes Symbol für den Geist des Sanatoriums, als Mittel der Enkulturation in das dortige Denksystem und als Pflichtenheft. Es hatte eine gewisse Funktionsähnlichkeit mit einem Katechismus. Bereits der Titel „Kurvorschriften“ hatte einen autoritären Klang. Der 182

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Abbildung 6: Titelseite des „Kurvorschriftenhefts“ einer Patientin des Jahres 1933.

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

eintretende Patient, so steht es in dem Heft geschrieben, solle sich in das Regelwerk des Sanatoriums „einfügen“, d.h. letzten Endes sich den „Anordnungen“ des Personals völlig unterordnen. Die Ärzte würden die Kur „überwachen“. Im Gegenzug wird dem Patient dafür Gesundheit zumindest in Aussicht gestellt. Doch die Ordnungstherapie war im Kern kein Modell direkter Disziplinierung der Bevölkerung in Gesundheitsfragen, sie war nicht mit Geboten und Verboten staatlich verordnet. Die Teilnahme basierte auf 183

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einem Angebot des Gesundheitsmarktes, dem man sich anschließen oder auch entziehen konnte. Wenn Thomas Mann als einer der berühmtesten Patienten der Klinik das Sanatorium gegenüber seinem Bruder Heinrich als „hygienisches Zuchthaus“ bezeichnete, hatte er in einem wesentlichen Aspekt nicht recht. Die Patienten waren hier nicht eingeschlossen, sondern freiwillig anwesend. Sie konnten dieses „Zuchthaus“ jederzeit verlassen. Im Nachhinein fasste der Schriftsteller exakt dies in seine eigenen Worte: Er schrieb einem Kollegen anlässlich seiner Kur im Jahre 1909 aus dem: „jetzt sehr gepriesenen Sanatorium des Dr. Bircher, [...], wo man um 6 Uhr aufstehen, um 9 Uhr das Licht löschen muss und den Tag unter Luft- und Sonnenbädern, Wasseranwendungen und Gartenarbeit verbringt. Das ist hart, zu Anfang und während der ersten fünf Tage stand ich beständig mit trotzigen Entschlüssen ringend vor meinem Koffer [...]“ (Virchow 2002: 191).

Doch der Schriftsteller blieb, freiwillig. Die Ordnungstherapie war ein Modell zur Erlangung von Gesundheit, das mehrheitlich auf der freiwilligen Selbstkontrolle ihrer Anhänger aufbaute. Bircher-Benner fasste dies unter dem Stichwort „Selbstüberwindung“ (Bircher-Benner 1938: 110f.). Die stark geregelte Kur im Sanatorium, vor allem der stark formalisierte und auch ritualisierte Tagesablauf, hatte das Ziel, dass die Patienten die Lebensführung der „Ordnungstherapie“ einüben, annehmen und verinnerlichen sollten, damit sie diese auch nach der Abreise aus dem Sanatorium in ihrem gewohnten Lebensumfeld, also ohne die äußeren Zwänge des Sanatoriums, freiwillig weiterführten. Sie sollten ihre gesundheitliche Lebensweise individuell und selbstständig kontrollieren und regeln. Um dies zu beschreiben, verwendete Bircher-Benner die Metapher der „Induktion“: „Disziplin ist Gewalt, geistige Induktion ist Nicht-Gewalt aber Liebe, jene Liebe, die nicht zur Lust, sondern durch mühevolle Tat zur Freude führen will“ (Bircher-Benner 1933: 246; Schwab 2010: 22). Bezeichnend war auch die Praxis des Sanatoriums, an jedem der Esstische des Speisesaals eine Mitarbeiterin zu platzieren. Explizit sollte sie die Patienten nicht in ihrem Ernährungsverhalten kontrollieren bzw. bevormunden. Sie war stattdessen angewiesen, lediglich den Vorteil der Rohkostnahrung zu erklären (Trumpp 1937: 25) (Abb. 7). Auch wurden immer wieder Geschichten kolportiert, dass BircherBenner den Patienten, welche sich den Regeln des Hauses nicht unterwerfen wollten, keinen direkten Druck aufsetzte, sondern sie beharrlich so lange von seinen Ideen zu überzeugen versuchte, bis diese die Regeln von selbst akzeptierten. (vgl. Bircher 1959: 79f.) „Einsicht paarte sich 184

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Abbildung 7: „Induktion“ mit dem Ziel der Selbstkontrolle. Ausschnitt aus einem Prospekt des Sanatoriums von 1935.

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

der Unterordnung“, summierte ein Arzt der Klinik 1937 rückblickend (Maeder 1937: 31). Die Ordnungstherapie bestand zu großen Teilen aus Techniken des Einübens gesundheitsorientierter Selbstkontrolle: Dazu gehörte nicht nur der Besuch des Sanatoriums mit seinen praktischen Übungen, sondern auch die diskursive Rezeption der vielfältigen Schriften der Bewegung, etwa des Frage-und-Antwort-Kastens in der Hauszeitschrift Der Wendepunkt, und sogar die ritualisierten Praktiken der Ordnungstherapie wie der Morgenspaziergang oder das regelmäßige Essen von Birchermüesli, die auch fern des Sanatoriums weiterpraktiziert werden konnten (Wolff 2009). Bircher Benners Sohn brachte die spezielle Form von Führung in der Biographie seines Vaters in seinen Worten auf den Punkt. Ordnungstherapie habe „nichts mit Menschenordnung zu tun, wie die strengen Erzieher, die Obrigkeit und der Gesetzgeber sie verlangen, sondern etwas

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Zarteres, Unaufdringlicheres und dennoch Unerbittliches [...]“6 (Bircher 1959: 26). Wenn die Ordnungstherapie nun ein Paradebeispiel für die Entwicklung gesundheitlicher Selbstkontrolle, und Selbsttechnologien ist, ist sie dann auch ein Beispiel für das „Regieren aus der Ferne“ im gouvernementalistischen Sinn? An dieser Stelle müssen wir uns entsprechend orientierte Literatur genauer ansehen. So ähnlich die Argumentation von „Gouvernementalisten“ in der Grundstruktur ist, so sehr divergiert sie in einem, meines Erachtens zentralen Punkt, nämlich der Frage, wo die Triebkräfte solchen „Regierens“ zu finden sind, von wo diese Formen von Macht und Einfluss ausgehen und ganz speziell welchen Einfluss das Individuum bei der Entwicklung von Selbsttechnologien hat. Diese Frage erscheint mir auch als ein wichtiger Gradmesser, um die analytische Reichweite dieses Modells einzuschätzen.

Regiert werden aus der Ferne? Werden die Menschen im Zeitalter der Gouvernementalität einfach von „außen“ geschickt dazu gebracht, sich im Sinn fremder Interessen zu disziplinieren? Manche Autoren vertreten, einmal expliziter, einmal impliziter, dieses reine „Fernsteuerungs“-Modell, wonach die Gouvernementalität lediglich ein Trick sei, die Menschen dazu zu bringen, freiwillig das zu tun, was fremde Machteliten von ihnen wollen. Dieses Fernsteuerungs-Modell wird für die Gegenwart hauptsächlich von Kritikern an einem neoliberalistischen Wirtschaftsmodell vertreten. Ihnen zufolge sind die Technologien des Selbst vor allem ein Mittel der geschickten Beeinflussung des Volks durch einflussreiche politischwirtschaftliche Eliten gegen ihre eigenen Interessen. Auch die Gesundheitsbewegungen seien ein Teil des Trends, Risiken der Reproduktion zunehmend von der Gesellschaft auf das Individuum zurückzuverlagern. Gesundheitliche Phänomene würden als Folge individueller Verhaltensweisen und Verantwortungen gedeutet, so dass die Lösung ebenso dort gesucht werde und der Staat von seiner gesellschaftlichen Verantwortung entbunden sei. Ganz bewusst werde etwa das medizinische Problem „Übergewicht“ in dieser Debatte auf ein Problem des individu6

Bircher fährt an gleicher Stelle verheißungsvoll fort: „Diese Ordnungen des Lebens [...]. Niemand schreibt sie vor. Der Mensch ist frei, sie zu verkennen. Aber wer den Sinn auf sie richtet und sein Leben in dem Maße nach ihnen richtet, als er sie wahrnimmt, dem wachsen Kraft und Gesundheit zu und seine Lebensfülle beginnt neu anzuschwellen.“ (Bircher 1959, S. 26)

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ellen Verhaltens reduziert und so dem Einzelnen die Verantwortung für seine Gesundheit komplett übertragen (‚Responsibilisierung‘). Die Akteure werden dabei in der Regel nicht explizit genannt, nicht zuletzt, weil das Konzept des „Diskurses“ keinen einzelnen oder keine konkret definierten Akteure vorsieht. Eine relative Ausnahme macht die österreichische Politologin Eva Kreisky in einer Interpretation der heutigen Fitness-Bewegung, das den gouvernementalitätstheoretischen Denkkosmos in der explizit politischen Variante plastisch spiegelt, indem sie den postindustriellen Konsumentenkörper dem disziplinierten gebrochenen Arbeitskörper des Industriezeitalter gegenüberstellt: „Der Konsumentenkörper des postindustriellen Zeitalters zeichnet sich dagegen weniger durch körperliche Arbeitsfähigkeit als durch beständige Konsumfähigkeit aus. Seine Reglementierung obliegt den Körperbesitzern und äußert sich in der Responsibilisierung durch eine neue Körperkultur des gesundheitsförderlichen Konsums, repräsentiert im ‚fit for fun‘. Die Regierungstechniken, die auf den Konsumentenkörper einwirken, sind Manuals zur Förderung des unternehmerischen Selbst‚ die das Feld des eventuellen Handelns anderer strukturieren [...]. Der Konsumentenkörper wird durch Akteure in den Verbraucherschutzministerien, der Fastfood-Industrie, den Redaktionen der Massenmedien regiert, indem sie den Körperentrepreneuren Möglichkeitsfelder nahe legen, sie auf ihre ‚Aufgaben‘ hinweisen und Anreize oder Beratungshilfe anbieten [...].“ (Kreisky 2008: 153f.)

Zugespitzt ausgedrückt heißt das: Der schlanke, neoliberale Staat braucht Bürger, die sich aus eigenem Antrieb schlank und fit für den Kampf im neoliberalen Haifischbecken des Lebens halten. Auch die heutigen Ratgeber repräsentieren in dieser Sichtweise die im Neoliberalismus politisch verordnete Aufgabe, sich mit Fitness, Schlankheit, Zeitmanagement, höchster Entscheidungseffizienz und klaren Karrierestrategien selbst effizient zu vermarkten. In dieser Lesart von Technologien des Selbst kommt dem Individuum, dessen Gesundheitsverhalten herausgefordert ist, praktisch keine aktive Rolle als Triebkraft des „Regierens“ zu, es ist passiv, weil vor allem fremdgesteuert. Seine Anstrengungen der Selbststeuerung sind kein eigenständiges Handeln, sie sind eher eine Art Reflex. Entsprechend erscheint dieses Individuum nur dann als aktiv, wenn es sich diesen Einflüssen, etwa Forderungen nach einer gesunden Ernährung, widersetzt. (Schorb 2008: 114-118) Lässt sich diese Sichtweise auch auf das historische Beispiel „Ordnungstherapie“ übertragen? Waren die Patienten des Sanatoriums „Lebendige Kraft“ von einem äußeren System gegen ihre eigenen Interessen fremdgesteuert? Allein schon der Umstand, dass es sich bei der Ord187

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nungstherapie zu diesem Zeitpunkt um eine von politischen und medizinischen Eliten keinesfalls allgemein anerkannte Methode des gesundheitsförderlichen Verhaltens handelte, widerspricht dieser These auf gesamtpolitischer Ebene. Immerhin aber baute das Modell der Ordnungstherapie durchaus auf einer Art „Regierens aus der Ferne“ im Kleinen auf. Das Modell war durch Bircher-Benner selbst darauf angelegt, das Gesundheitsverhalten aus einer mehr oder weniger großen Distanz in einer Art Fremdsteuerung zu kontrollieren. Die Methoden des sanften Überzeugens wurden oben schon erwähnt. Geradezu paradigmatisch für ein „Regieren aus der Ferne“ ist das erwähnte „Kurvorschriftenheft“. In ihm stand, die Patienten sollten es nach dem Sanatoriumsaufenthalt mit nach Hause nehmen, offensichtlich um den Geist der Ordnungstherapie und die Regeln der Kur auch in der Distanz, am Heimatort, nicht in Vergessenheit geraten zulassen. Auch die im Heft formulierte Aufforderung, drei Monate nach der Rückkehr einen Bericht über den „Erfolg der Behandlung“ zu verfassen, war offensichtlich durch den Wunsch beeinflusst, einen „langen Zügel“ bis in den Heimatort der Patienten zu haben, ganz zu schweigen von den anderen Medien und Praktiken, die das Ziel hatten, die Lebensweise der Ordnungstherapie im Bewusstsein zu halten. Mit sichtlich schlechtem Gewissen schrieb eine ambulante Patientin 1929 in einem Post Scriptum an Bircher Benner: „N.B: Wir leben nicht ganz nach Ihren Grundsätzen, aber wir essen viel Früchte, auch Gemüse, wenig Fleisch, u. mein Mann trinkt so gern Milch. Alkohol trinkt er fast gar nicht.“7 Die Vorstellung einer ausschließlichen Fremdsteuerung der Sanatoriumspatienten würde diese allerdings in die Rolle einer Art Opfer eines Rattenfängers zwängen. Die Anhänger der Ordnungstherapie unterwarfen sich diesem System jedoch nicht nur freiwillig, sondern auch im eigenen Interesse sowie aktiv und mehr noch: kreativ. Eine deutsche Patientin vermochte durch den Anstoß der Ordnungstherapie ihr voriges, durch Depression geprägtes Leben neu aufzugleisen, lebte die Ordnungstherapie aktiv und siedelte von einer Großstadt in den Tessin über (Wolff 2009). Andere bauten sich soziale Netzwerke, mit welchen sie weitergehende Ziele erreichten als nur die Verbreitung der Ordnungstherapie. Die Anhängerschaft und Orientierung an der Ordnungstherapie bedeutete auch nicht notwendigerweise deren sklavische Befolgung. Die „Fremdsteuerung“ durch Bircher-Benner setzte gleichzeitig die eigene Kreativität frei, ein System gesunder Lebensweise weiter zu denken, zu variieren, den eigenen Wünschen anzupassen, und sei es zum Beispiel 7

Quellen-Zitate stammen aus dem Bircher-Benner-Archiv des Medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich. Hier ein Brief der Patientin Elsa Gr. vom 16.9.1929.

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nur durch die Integration der geliebten Bratkartoffeln in den eigenen Rohkost-Speiseplan (Wolff 2009).

„Subjektivierung“ im „Möglichkeitsraum“? Das historische Beispiel der Ordnungstherapie zeigt also, dass das individuelle Gesundheitsverhalten hier durchaus unter dem Einfluss einer Außensteuerung stehen konnte, dass man das Modell eines „Regiertwerdens aus der Ferne“ aber nicht zu eng als nur reflexhaftes Ferngesteuertsein verstehen darf. Auf die Enge dieses Ansatzes angesprochen, weisen Foucault-Anhänger auch immer wieder darauf hin, dass der späte, der „gouvernementale“ Foucault und seine Gemeinde das simple Modell überwunden haben, nach dem es einfach staatliche oder gesellschaftliche Eliten seien, die hier Macht von oben nach unten ausübten. Gouvernementalität sei stattdessen ein komplexes System von Fremdsteuerung und Selbststeuerung. Fremdkontrolle und Selbstkontrolle könnten nur zusammen gedacht werden, sie stünden in einem engen Wechselverhältnis zueinander. Hierfür hat Foucault den Begriff der „Subjektivierung“ eingeführt. Ganz bewusst benützt er dabei die Doppeldeutigkeit des Begriffes „Subjekt“, einerseits im eigentlichen lateinischen Wortsinn als etwas Unterworfenes, andererseits in der Bedeutung von Subjekt als etwas Persönlichem, Eigenem, Individuellem, wie es im Begriff „subjektiv“ zum Tragen kommt: „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein.“ (Foucault, zitiert nach Duttweiler 2008b: 61) „Subjekt zu werden ist ein paradoxer Vorgang, bei dem aktive und passive Momente, Fremd- und Eigensteuerung unauflösbar miteinander verwoben sind.“ (Bröckling 2007: 19) Das „Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es sich erkennt, sich formt und als eigenständiges Ich agiert; es bezieht seine Handlungsfähigkeit aber von ebenjenen Instanzen, gegen die es seine Autonomie behauptet. Seine Hervorbringung und Unterwerfung fallen ineins.“ (Butler, zitiert nach Duttweiler 2008b: 48) Aus diesem Grund etwa seien moderne Ratgeberbücher so offen formuliert. Sie überließen dem Leser eine große Freiheit, selber zu entscheiden, wie das Problem zu lösen sei, und gleichzeitig werde der Leser in einem Normensystem, einem „Möglichkeitsraum“ geführt. In dieser Sichtweise von Gouvernementalität sind die Rollen anders verteilt als bei einem eindeutigen „Fernsteuerungs“-Modell. Das Individuum hat hier eine aktivere Rolle, indem es selbst handelt und zum Teil selbst entscheidet. Ihm bleibt aber nur eine Aktivität zweiter Ordnung, 189

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eine, die der Fremdsteuerung untergeordnet ist, weil es lediglich einen begrenzten Freiraum nutzen kann und in diesem System auch lediglich zu sich selbst, nicht aber zum Ganzen beiträgt, das Ganze nicht mitgestaltet. Wendet man das Konzept der „Subjektivierung“ auf das System Bircher-Benner an, trifft es schon eher zu als das enge Modell der reinen „Fernsteuerung“. In der Tat wurden die Patientinnen und Patienten in dem Sinne „subjektiviert“, als ihre Praxis einer gesunden Lebensweise viel eigenes Engagement erforderte und in einem gewissen Umfang auch eigene Entscheidungen ermöglichte, wie sie ihre „Ordnungstherapie“ durchführten. Alles dies spielte sich jedoch in einem Rahmen eines „Möglichkeitsraums“ ab, der das gesamte Konzept nicht in Frage stellte. Und doch greift das Konzept der „Subjektivierung“ hier zu kurz, zum einen weil die Patientinnen und Patienten eine Wahl hatten, den „Möglichkeitsraum“ zu überschreiten, sei es mit abgebrochenen Kuren, sei es damit, zu anderen Therapien überzuwechseln oder, wie es am häufigsten der Fall gewesen sein dürfte, das Ziel einer gesundheitsorientierten Lebensweise aufzugeben und mit Fleisch-, Alkohol- und Zigarettenkonsum weiterzumachen. Zum anderen greift die Vorstellung einer Subjektivierung zu kurz, weil sie nicht davon ausgeht, dass das Individuum das Gesamte mitgestaltet. Die Anwender gestalteten das System der Ordnungstherapie durchaus mit. Durch seine Anwendung machten sie es erst zu einer ausgeübten Methode (Abb. 8). So schrieb eine Patientin 1934. „Seit dem Erscheinen des ‚Wendepunktes‘ habe ich Heft für Heft eifrig studiert und seit 11 Jahren versuche ich, die neuen Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Auf dem Gebiet der Ernährung haben wir es fast erreicht“.8 Indem die Patienten das Gesundheitsregime variierten, trugen sie ihren Teil zu ihm bei. Eine begeisterte Patientin etwa warb bei Bircher-Benner mit einem eigens verfassten zweieinhalbseitigen Gedicht für die von ihr favorisierten Bürstentherapie, bei der die Haut regelmäßig zu bürsten sei.9 Nicht zuletzt durch Subversion feilten Patienten am Image der Ordnungstherapie. Gerade von prominenten Patienten der Klinik wurden immer wieder Geschichten kolportiert, wie sie deren strengen Regeln

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So die ambulante Patientin Erika Fl. In einem Brief vom 26.11.1934. Bircher-Benner-Archiv, Patientenjournal Nr. 22957. Textbeispiel zum Thema „Haut“: „Fühle, wie sie danach dürstet, dass sie täglich wird gebürstet“.

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umgangen haben, etwa mit dem heimlichen Fleischverzehr im nahe gelegenen Restaurant.10

Abbildung 8: Zwischen Fremd- und Selbstkontrolle: Ganzkörperwickel im Sanatorium (um 1910).

Quelle: Bircher-Benner-Archiv, Universität Zürich.

Ein Gleichgewicht von Unterwerfung u n d Be f r e i u n g ? Liest man dies als Kritik an der Theorie, haben Vertreter des Gouvernementalitätskonzepts auch auf diese eine Antwort: Foucault selbst weist darauf hin, dass Selbsttechniken auch das blanke Gegenteil einer „Fernsteuerung“ bedeuten können: Technologien des Selbst ermöglichen es Individuen, „mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und zu einem bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen“ (Foucault, zitiert nach Kreisky 2008: 146). Die diätetische Praxis des Yoga etwa ist in 10 So etwa über den französischen Schauspieler Michel Simon als Patient der Bircher-Benner-Klinik. Vgl. Tagblatt der Stadt Zürich vom 5. März 2004, S. 1. Vgl. auch Wirz (1993) S. 134. 191

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diesem Verständnis von Gouvernementalität als Selbstfindung durch individuelle Selbstdisziplinierung interpretiert worden (Hoyez 2007: 114). Doch wie mit solchen offensichtlichen Gegensätzen umgehen? Als Lösung wird in der Forschung ein Paradoxie-Modell bemüht. Moderne gesellschaftliche Entwicklungen im Rahmen der Gouvernementalität und der Technologien des Selbst seien weder nur Unterwerfung noch ausschließlich Befreiung, sondern beides gleichzeitig. Auf der einen Seite bedeuteten die Technologien des Selbst eine Fremdsteuerung des Menschen. Auf der anderen Seite seien Selbsttechnologien auch eine Möglichkeit des Menschen, zu sich selbst und zur Freiheit zu finden. Sabine Maasen etwa schreibt in Bezug auf Ratgeber: „Sind diese flexiblen Individuen, die sich selber managen, nun Ausdruck neuer Freiheiten, neuer Kompetenzen, mit immer mehr Anforderungen zurecht zu kommen? Oder sind sie Ausdruck eines wild gewordenen Kapitalismus, der alle Gefährdungen der Moderne dem Individuum zur Bewältigung überlässt, und zwar im Modus des Selbstmanagements, des Beziehungsmanagements, des Karrieremanagements? Max Weber hielt dies schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts für eine zentrale Paradoxie. Ich meine, sie ist es noch.“ (Maasen 2006: 233)

Foucault selbst benützt auch die Metapher des „Gleichgewichts“: „In der zweiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Ergänzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert oder modifiziert wird.“ (Foucault, zitiert nach Maasen/Wellmann 2008: Abs. 30)

Diese Lesart einer gleichzeitigen aktiven Selbstfindung des Menschen durch Technologien des Selbst neben aller Fremdbestimmung weist dem Individuum nochmals eine andere Rolle zu. Es steht als sozusagen gleichwertiger Akteur neben Kräften, die von außen auf den Menschen einwirken. Allerdings werden sie immer noch als getrennte Bereiche beziehungsweise als Gegensatz gedacht.

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Die Rolle des Individuums und das Wechselverhältnis aus autonomer und h e t e r o n o m e r ( S e l b s t - ) Di s z i p l i n i e r u n g Nun geht es aber um etwas anderes als darum, Widersprüche oder Beliebigkeiten in unterschiedlichen Zugängen zu Fragen der Gouvernementalität aufzudecken, hier speziell im Themenbereich gesunder Lebensführung. Es geht stattdessen darum, den analytischen Gehalt dieser Ansätze für die Untersuchung gegenwärtiger und historischer Phänomene gesunder Lebensführung auszuloten. Der große Vorteil dieses Ansatzes besteht zunächst darin, Phänomene von Selbstdisziplinierung oder Selbsttechnologien als in der Moderne verbreitet auftretende Handlungsweisen im Zusammenhang mit gesunder Lebensführung nicht einfach vom Individuum allein aus zu denken. Die Entscheidung eines Individuums zur gesundheitsorientierten Lebensweise ist nicht einfach eine individuelle Entscheidung und auch mehr als ein einfaches kollektives Phänomen, ja vielleicht eine Mode, als die sie bei oberflächlicher Betrachtung erscheinen mag. Das Phänomen ist in seiner Kollektivität etwas, dass von außen mit konstituiert wird. Das Individuum handelt in dieser Hinsicht nicht autonom, sondern beeinflusst von äußeren Kräften, es muss ja nicht gleich ein als neoliberal gedachter Staat sein. Die Forschung zum parallelen Beispiel der Ratgeberliteratur argumentiert hier sehr ähnlich: Sich beraten zu lassen ist nicht einfach ein individueller Akt, der die Autonomie des Individuums vergrößert. „Diese Effekte der Autonomie bringen jedoch, wie schon Max Weber wusste, neue Momente der Heteronomie mit sich: den Zwang zur permanenten Selbstsorge.“ (Maasen/Wellmann 2008: Abs. 36) Die Loslösung vom Blick auf das Individuum erweist sich jedoch umgekehrt gleichzeitig als ein relativer Nachteil: Wer in den Gesundheitsbewegungen vor allem äußere Kräfte eines „Regierens aus der Ferne“ am Werk sieht, vernachlässigt die Rolle, die das Individuum bei der Konstituierung solcher Trends besitzt. Hinter der Vorstellung einer weitgehenden Fernsteuerung des Individuums zugunsten äußerer Interessen steckt die Vorstellung eines abhängigen, manipulierbaren Individuums ohne eigene Interessen und die Fähigkeit, diese auch durchzusetzen. Selbst in der weniger plumpen, verfeinerten Vorstellung von „Möglichkeitsräumen“, in denen sich das Individuum bewegt, ist dessen Rolle darauf reduziert, aus vorgegebenen Verhaltensvarianten auszuwählen, letztlich aber doch gezwungen zu sein, dem großen Trend zu folgen. Ausschließlich in einer expliziten „Paradoxie“-Variante wird dem Individuum und seinen Fähigkeiten explizit Rechnung getragen. Doch bleibt dieses in der Forschung merkwürdig schematisch oder blass und erhält 193

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keine gleichwertige Aufmerksamkeit der Analyse. Wenn ein fließendes Gleichgewicht von Selbst- und Fremdsteuerung proklamiert wird, gilt der Fremdsteuerung die analytische Aufmerksamkeit, die Frage, wie die Selbststeuerung funktioniert, gerät aus dem Blick. Auch dies kann die Ratgeberforschung illustrieren: Die Frage nach Rezeption und Aneignungsweisen von Ratgeberliteratur steht in der gouvernementalistisch orientierten Forschung zumindest sehr im Hintergrund. Die Proklamation eines Paradoxes gleichzeitiger Autonomie und Heteronomie, so wichtig das Aufzeigen eines solchen Widerspruches ist, hinterlässt den Verdacht, damit eine Analyse zu beenden, die eigentlich weitergeführt werden müsste. Man könnte auch vermuten, dass das Interesse der Gouvernementalitätsforschung gar nicht so sehr auf einer Analyse der Selbststeuerungskräfte liegt und es eigentlich vor allem um ein Aufdecken von Fremdsteuerungskräften geht, also eine Art „Enthüllungsforschung“. Möglicherweise erklärt sich damit auch der Umstand, dass die Forschung über Gouvernementalität sehr stark mit normativen Deutungen arbeitet, auch weil zum Teil deutliche politische Motive hinter ihnen stehen. „Fremdsteuerung“ ist in unserer Gesellschaft ein, subtil oder explizit, deutlich negativ besetzter Wert, Autonomie, Selbstverwirklichung, Befreiung hingegen ein ausgesprochen positiv besetzte Termini, um so mehr sind es die Foucault-Begriffe „Vollkommenheit“, „Glück“ bzw. „Reinheit“. Dies mag eine nüchterne Analyse zusätzlich erschweren. Dabei geht es hier um wesentliche Fragen: Wie wollen wir die heutigen Gesundheitsbewegungen in ihren kulturellen Gehalten von Selbstkontrolle und Selbstführung interpretieren? Sind sie Ausdruck zunehmender Versklavung durch Disziplinierungs- oder Ausbeutungsprozesse, sind sie Akte der individuellen Befreiung des Menschen oder weniger normativ: sind sie originäre Modernisierungsleistungen der Bevölkerung? Verliert das Gouvernementalitätskonzept umso mehr an analytischer Kraft, je mehr dem Individuum eine Rolle in den untersuchten Prozessen zugestanden wird? Oder sind dessen Möglichkeiten hier einfach noch nicht ausgereizt, und es fehlt einfach eine ernsthaftere Beschäftigung mit der Rolle des Individuums bei der Herausbildung von Technologien des Selbst? Das müssten einschlägige Analysen erweisen. Die bereits angesprochene Forschung über die Rezeption von Ratgeberliteratur und Umgangsweisen mit ihr könnte ein solcher Weg sein (vgl. Heimerdinger 2009). Die Analyse von Systemen der Selbstkontrolle müsste, so das Fazit dieses Beitrags, um einen ernsthafteren Blick „von unten“ erweitert werden. Wie stark ist ein originäres Bedürfnis des Individuums nach 194

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Selbstkontrolle? Wie weit war zum Beispiel die Ausbreitung der Lebensreform-Bewegung Ausdruck einer breiteren gesellschaftlichen Nachfrage? Welchen Beitrag leisteten die Anwender von Technologien des Selbst zu deren Etablierung durch Ausüben von Praktiken oder durch Teilhabe an entsprechenden Diskursen? Wie weit sind sie über den Diskurs selbst ein aktiver Teil eines Systems des Regierens, ja sogar der Kräfte des „Regierens aus der Ferne“? In einem weiteren Schritt müsste das Verhältnis von heteronomer und autonomer Selbstdisziplinierung genauer untersucht werden, nicht einfach nur als eine Art variablem Gleichgewicht (s.o.), sondern als Wechselwirkung zwischen Fremdkontrolle, heteronomer und autonomer Selbstkontrolle. Eine solche Sichtweise könnte aufzeigen, wie die Individuen selbst am Aufbau von eben jenen Strukturen menschlicher Disziplinierung beteiligt sind, die dann wiederum auf sie zurückwirken. Die Frage nach der zunehmenden „Expertisierung“ von „Laien“ etwa könnte einen Baustein für ein solches Modell abgeben, das auch in der Ratgeberforschung bereits ein Thema ist. Anhänger der Ordnungstherapie etwa wurden durch eine breite Medienpalette darin geschult, gesundheitsorientiert zu leben und sich selbst entsprechend zu beobachten.

Jenseits der Gouvernementalität Schließlich ist das Modell der Gouvernementalität nicht das einzig ertragreiche theoretische Konzept, mit dem gegenwärtige oder historische Gesundheitsbewegungen untersucht werden können. Eine ganze Palette von bourdieuscher Distinktion bis zu freudscher Sublimation listet Christoph Klotter (2008) auf. Sander L. Gilman (2008) entdeckt hinter der Übergewichtsdebatte eine zunehmende Moralisierung des Körpers. Eine weitere Erklärung könnte in um sich greifendem Alarmismus gesucht werden (Horx 2007). Dem Modell der Gouvernementalität einigermaßen verwandt ist die Vorstellung eines Zivilisationsprozesses im Sinne von Norbert Elias mit einem historischen Übergang von der Fremd- zur Selbstkontrolle (Baumann 2008: 314). Schließlich könnte auch der Aspekt der Triebkontrolle weiterhelfen. Nach der Idee BircherBenners sollte die Lebensumstellung vor allem an der Änderung der folgenden diätetetisch relevanten Verhaltensweisen ansetzen: Fleischgenuss, Genuss von koffein- und alkoholhaltigen Getränken, sowie beim Tagesablauf vor allem beim späten Aufstehen und Zubettgehen. Beim Zeitpunkt des Essens sticht das durch den Morgenspaziergang verzögerte Frühstück ins Auge. In der Denkwelt der Ordnungstherapie wird die Wahl dieser Verhaltensweisen praktisch ausschließlich mit dem Argu195

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ment ihrer Gesundheitsschädlichkeit bzw. -förderlichkeit begründet. Es dürfte aber kein Zufall ist, dass die Selbstkontrolle der Patienten speziell an solchen Verhaltensweisen ansetzen soll, die für eine große Anzahl Menschen hochgradig mit Lebensgenuss verbunden sind. (Das Thema der Sexualität im Denkkosmos von Bircher-Benner wäre ein eigenes Kapitel.) Ich gehe davon aus, dass zwischen den Zeilen das Ziel der Ordnungstherapie nicht zuletzt in der partiellen Gefühls-, Lust- oder Triebkontrolle bestand. In Briefen von ehemaligen Patienten an BircherBenner finden sich denn auch immer wieder Hinweise auf ein „schlechtes Gewissen“, die Regeln nicht konsequent eingehalten zu haben (zum „schlechten Gewissen“ als Konstitutivum moderner Prävention vgl. Bröckling 2008). Auf jeden Fall ist die Genese des „präventiven Selbst“, besser: des Vordringens gesundheitsorientierter Lebensführung im Kleide moderner Diätetik, kein Produkt des 21. Jahrhunderts und schon gar nicht des Neoliberalismus, sondern ein längerfristiger Prozess. Gerade das erste Drittel des 20. Jahrhunderts zeigt einen deutlichen Trend ähnlicher Bewegungen, deren großer Unterschied zur Gegenwart darin besteht, dass die heutigen Gesundheitsbewegungen eine wesentlich umfassendere Trägerschaft hinsichtlich Anwendern und unterstützenden Institutionen und damit auch eine größere gesellschaftliche Bedeutung haben.11 Qualitativ zeigt sich jedoch die Gemeinsamkeit einer ausgesprochenen Orientierung an Fragen der gesundheitlichen Verhaltenskontrolle, bei dem immer mehr Bevölkerungsteile gesunde Lebensweise in Form eines Selbstzwangs verinnerlicht haben, der letztlich dazu führte, dass sie ein immer ausgefeilteres gesundheitliches Selbstmanagement betreiben. Ob es sich um einen kontinuierlichen Prozess zunehmender Selbstdisziplinierung handelt, sei allerdings erst einmal dahingestellt. Zukünftige PopIdole haben vielleicht wieder weniger die „Waschbrettstruktur“ einer Madonna, sondern mehr die antidiätetische Lebensführung etwa einer Amy Winehouse.

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T EIL III: S ICHERHEIT IM K ALTEN K RIEG : P RÄV ENT ION SM O DELL E UND - PRAKTIKEN IN D ER FRÜHEN N ACHKRIEGSZE IT

Medizin, Publi c H ealth und d ie Med ien in Großbritanni en von 19 50 bis 19 8 0 1 VIRGINIA BERRIDGE

Im April 2006 erschien der damalige Premierminister Tony Blair in einem Trainingsanzug auf einer Pressekonferenz, um die Notwendigkeit sportlicher Betätigung und gesunden Essens publik zu machen. In einer Serie von Abschiedsreden im Sommer desselben Jahres erging er sich über die Probleme, mit welchen sich Politiker bei gesundheitspolitischen Interventionen konfrontiert sehen.2 Blairs eigenes Engagement in solchen Diskussionen – ebenso wie PR-Strategien wie die des Trainingsanzugs – versinnbildlichen den Wandel des öffentlichen Gesundheitswesens –, wie er sich in den Nachkriegsjahren vollzogen hatte. Ende des 20. Jahrhunderts gehörten diese gesundheitspolitischen Taktiken zum festen Repertoire. Wir erwarten mittlerweile von Politikern, dass diese darüber sprechen, was die Bevölkerung essen und trinken soll, ebenso wie wir von Ärzten erwarten, dass sie in Gesundheitsfragen einem vitalen Lebensstil und gesundheitsbewussten Verhaltensweisen das Wort reden. Auch erwarten wir landesweite Werbekampagnen, die die Wichtig-

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Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache als „Medicine, public health and the media in Britain from the nineteen-fifties to the nineteenseventies“. In: Historical Research 82 (2009), S. 360-373. Der Beitrag wurde für diesen Sammelband übersetzt von Philipp Reick und Christian Sammer. http://www.number10.gov.uk/output/Page9921.asp (zuletzt eingesehen am 3.9.2008). Im Englischen spricht die Autorin von „interventions in public health matters“; der Begriff des „public health“ wird im Folgenden meist mit „öffentlichem Gesundheitswesen“ oder „Gesundheitspolitik“ übersetzt. 205

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keit von gesundheitsbewussten Verhaltensweisen herausstellen. Werbung insgesamt hat heute eine zentrale Funktion in der öffentlichen Gesundheitspolitik Großbritanniens übernommen, wobei ihre Kontrolle, die im Verdacht steht auch der Volksgesundheit schaden zu können, eine wichtige Strategie darstellt. Beispiele dafür finden sich jüngst in den erfolgreichen Bemühungen um ein britisches Tabakwerbeverbot,3 in den Diskussionen um an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung und in einer Anti-Alkoholkampagne des Jahres 2008.4 Die Massenwerbung übernimmt eine paradoxe, zweischneidige Funktion im öffentlichen Gesundheitswesen. Einerseits ist sie ein wesentlicher Grund zur Beunruhigung, andererseits stellt sie auch eine wichtige Ressource und Strategie dar, der sich gesundheitspolitische Interessen und die Regierung bedienen. Gesundheitskampagnen benutzen eindrucksvolle visuelle und verbale Bilder und zählen auf die geballte Kraft der Massenmedien. Jeder erinnert sich an die AIDS-Kampagnen der 1980er Jahre, die exemplarisch für diese Entwicklung stehen (Berridge 1996). Derartige Taktiken scheinen heute wenig aufsehenerregend. In den 1950ern und 1960er Jahren allerdings waren sie neuartig und ungewöhnlich. Ich werde im Folgenden nachzeichnen, wie sich dieser Wandel vollzogen hat. Meine These lautet, dass die Umdeutung der Rolle, die den Medien in diesem Bereich zugedacht wurde, Teil einer größeren Bewegung innerhalb des öffentlichen Gesundheitswesens war: des Aufstiegs einer neuen Ideologie, die die individuelle Verantwortung zur Gesundheit, den ‚lifestyle‘ und das Verhalten betonte – und letztlich eine Umdeutung dessen vollzog, was Bürgerschaft und Gesundheit bedeuteten. Die aus solch einer Zuschreibung resultierende Gesundheits-Agenda legte besondere Betonung auf das Visuelle und auf Techniken der kollektiven Überzeugung. Dabei offenbarte sie gegenüber den Kriegszeiten ein grundsätzlich neues Verständnis von Öffentlichkeit. Ihre unmittelbaren Wurzeln lagen im transatlantischen Einfluss, im Aufkommen eines Massenkonsums in der Nachkriegszeit, genauso wie in strukturellen Veränderungen der Verantwortlichkeit für Gesundheit und dem Spannungsverhältnis zwischen lokaler und zentraler Ebene, das einen Großteil britischer Gesundheitspolitik charakterisiert. In Einklang mit Me-

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„Campaigners hail tobacco ad ban“. In: The Guardian, 14. Feb. 2003 http://www.guardian.co.uk/2003/feb/14/advertising.smoking (zuletzt eingesehen am 3.9.2008). So wurde eine Kontrolle oder ein Verbot von Werbung für Süßigkeiten während des TV-Kinderprogramms diskutiert („Curb on junk food adverts to combat child obesity“. In: The Guardian, 1. Dec. 2003 http://www. guardian.co.uk/politics/2003/dec/01/ofcom.media [zuletzt eingesehen am 3.9.2008]).

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dienwissenschaftlern und -theoretikern, die den sogenannten „Kreislauf der Massenkommunikation“ als Wechselwirkung von Produktion, Inhalt und Rezeption von Medienkommunikation hervorheben, werde ich mich auf den strukturellen Wandel konzentrieren, der zu einer Veränderung im Kommunikationsstil beigetragen hat (Miller et al. 1998). Sowohl das Rauchen als auch die Entwicklungen, die dessen Umdeutung als Gesundheitsrisiko begleiteten, waren der Schlüssel zu diesem Wandel und stehen hier im Mittelpunkt. Die Wurzeln des skizzierten Wandels reichen weit in die Zwischenkriegs- und Kriegszeit zurück. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Regierung den Wert der Öffentlichkeit bereits erkannt, zögerte jedoch diesen auch auszuschöpfen. Dem gerade eingerichteten Gesundheitsministerium wurde 1919 die Verantwortung für die Verbreitung gesundheitsrelevanter Informationen übertragen. Sir George Newmann, der Chief medical officer des Ministeriums, hatte zwar erkannt, dass eine bessere Gesundheit durch die Belehrung der Massen erreicht werden könnte. Eine öffentlichkeitswirksame Gesundheitswerbung wurde vor den 1930er Jahren trotzdem nicht als legitimer Bereich zentralstaatlicher Regierungsverantwortlichkeit anerkannt (Grant 1994). Der Ansatz des Ministeriums zeichnete sich eher dadurch aus, dass die gesundheitspolitischen Maßnahmen von der freiwilligen Spendentätigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen wie des Central Council for Health Education (CCHE) oder von der Arbeit der Kommunalbehörden abhängig waren, als durch ein zentral koordiniertes Vorgehen – ein Spannungsverhältnis, das bis in die heutigen Tage seine Spuren hinterlässt. Kommerzielle Methoden wurden zwar diskutiert, jedoch kaum umgesetzt. Medical Officers of Health, die kommunalen Amtsärzte Großbritanniens, waren verantwortlich für lokale Gesundheitskampagnen und erzeugten geradezu eine Publicity-Lawine in den 1930er Jahren. Dieser dezentrale Ansatz wurde während des Zweiten Weltkrieg, als ein nationales Informationsministerium errichtet wurde, durch eine stärkere Zentralisierung ersetzt. Die Konfliktlinien zwischen lokalen und zentralen Interessen blieben jedoch bestehen. Das Kriegsinformationsministerium wurde von Historikern für dessen „ungeschickte und herablassende“ Behandlung der Öffentlichkeit kritisiert (Grant 1994: 245). Der Großteil der Mitarbeiter bestand aus Beamten, die über wenig Erfahrung in Öffentlichkeitsarbeit verfügten (Taylor 1981a: 291f.; Taylor 1981b). Dennoch erhöhten einige Entwicklungen während des Krieges die Bedeutung der Medien für die Gesundheitspolitik der Nachkriegszeit. Wie Siân Nicholas gezeigt hat, war die BBC im Krieg von größter Bedeutung für die Formung der öffentlichen Meinung, nicht zuletzt auch zu Gesundheitsfragen wie etwa im Fall der kontroversen Kampagne ge207

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gen Geschlechtskrankheiten von 1943. Ebenso wuchs ihr durch die einsetzende Forschung zu Fragen der öffentlichen Meinungsbildung und der Hörergewohnheiten sowie durch die frühe Meinungs- und Marktforschung eine wichtige Rolle zu (Nicholas 1996). Das Ministerium selbst entwickelte unter Brendan Bracken eine andere, ausgewogenere Beziehung zur Bevölkerung, in deren Folge die Kommunikation gesundheitspolitischer Anliegen sich stärker erklärend statt ermahnend, deutend statt anweisend vollzog (McLaine 1979). Und schließlich verzahnte sich, wie Mark Harrison in seiner Geschichte der Militärmedizin im Zweiten Weltkrieg dargelegt hat, die Semantik der Gesundheit und Staatsbürgerschaft mit jener der Sozialhygiene und Sozialmedizin. Dies fand den deutlichsten Ausdruck in der citizen army des Zweiten Weltkriegs. Sir Ronald Adam, der sowohl hinter der Gründung des Army Education Corps als auch des Army Bureau of Current Affairs stand, erkannte die Verbindung zwischen Gesundheitsförderung und der Förderung demokratischer Staatsbürgerschaft. Soldaten wurden ermuntert, Verantwortung für ihre eigene Gesundheit zu übernehmen. Mehr als je zuvor wurden sie über die Verhütung von Krankheiten informiert (Harrison 2004). Einige der Elemente dieser neuen Rolle der Medien in Sachen Gesundheit waren also bereits während des Zweiten Weltkriegs in Stellung gebracht. Doch in den Nachkriegsjahren kamen weitere Veränderungen hinzu, deren Anstöße anfänglich von der lokalen Ebene ausgingen. Am Beispiel des Rauchens, eines Vorboten einer neu definierten Gesundheitspolitik, soll im Folgenden gezeigt werden, wie sich dieser Wandel vollzog. Als das British Medical Journal seine Forschung zum Zusammenhang von Rauchen und Lungenkrebs 1950 veröffentlichte, war die Verantwortung für die Gesundheitserziehung bereits zur lokalen Ebene zurückgefallen. Zuständig waren die Medical Officers of Health, die innerhalb der lokalen Verwaltungsstruktur arbeiteten – in der Tat eine jener Verantwortungen, die im kommunalen Zuständigkeitsbereich verblieben war, nachdem der ursprüngliche Plan scheiterte, die Gesundheitserziehung im Rahmen des neuen National Health Service zu begründen. Die Reaktion auf die ‚Entdeckung‘ des Zusammenhangs zwischen Rauchen und Lungenkrebs fiel in Großbritannien zunächst schwach aus (Webster 1984). Doch war dies nicht einfach eine Folge einer verzögerten Wirkung der Öffentlichkeitsarbeit. Vielmehr bestanden Verbindungen zwischen dem auf Tabaksteuereinnahmen angewiesenem Finanzministerium und der Tabakindustrie, die die Gesundheitsforschung unter der Schirmherrschaft des Medical Research Council (MRC) finanzierte (Berridge 1998).

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Diese Aushandlungsphase war im Allgemeinen eine Zeit des Paradigmenwechsels und der Veränderung. Der öffentliche Gesundheitsdienst hatte als Berufsfeld nicht nur viel von seiner Rolle auf lokaler Ebene eingebüßt; die gesamte Erscheinung des Gesundheitswesens stand im Wandel, was sowohl Auswirkungen auf die Art der Kommunikation als auch auf den gesamten Fokus der Gesundheitspolitik zeitigte. Dieser Fokus bewegte sich weg von ansteckenden und seuchenartigen Erkrankungen hin zu chronischen Leiden, und damit weg von biomedizinischen, laborgestützten hin zu epidemiologischen Ansätzen zur Begründung der Kausalitäten von Krankheitsphänomenen (Burnham 1989; Brandt 1990). Ebenso war der Zeitabschnitt gekennzeichnet durch den Konflikt zwischen verschiedenen statistischen Ansätzen sowie zwischen der in Großbritannien vorherrschenden Tradition, die Gene und Erbanlagen als Bedingungen von Krankheit zu betonen, und einem neuen Ansatz, der Gesundheitsgefährdungen als relative Risiken herausstrich (Berlivet 2005a; Parascandola 2001). Es war daher kaum überraschend, dass Politiker die Implikationen dieser Entwicklung aufmerksam verfolgten. R.A. Butler, Lordsiegelbewahrer in der konservativen Regierung, kommentierte im Mai 1956: „Vom Standpunkt der Sozialhygiene aus ist Lungenkrebs keine Krankheit wie die Tuberkulose; ebenso wenig sollte sich die Regierung allzu leichtfertig dazu hinreißen lassen, die Öffentlichkeit im Hinblick auf persönliche Geschmäcker und Angewohnheiten zu beraten, wenn es keinen zwingenden Beweis für daraus resultierende Schädigungen gibt.“5 Auch aus der Perspektive der Beamten im staatlichen Gesundheitsministerium hatten die gesundheitspolitischen Verschiebungen Auswirkungen für die öffentliche Gesundheitserziehung. So erklärte das Gesundheitsministerium im Mai 1956, dass eine zentralisierte Öffentlichkeitsarbeit nicht der richtige Schritt sei: „Die Überlegungen zur Publicity im Hinblick auf Rauchen und Lungenkrebs unterscheiden sich insofern leicht von der generellen Krebsinformation, dass es bei der Besonderheit hier – dass die Menschen das Rauchen aufgeben sollen – nicht um ein Bemerken von Symptomen geht. Dennoch handelt es sich um eine individuelle Entscheidung, die andere weitaus weniger einschließt als die Adressaten früherer zentraler gesundheitspolitischer Kampagnen.“6

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Rauchen sei, so die Argumentation, keine ‚Krankheit‘ in dem Sinne wie es der Krebs oder gar ansteckende Krankheiten seien. Es könne zwar zu Krankheiten führen, aber nicht über lange Zeit. Denn der Begriff des Langzeit-Risikos hatte in den 1950er Jahren noch keinen Eingang in die Gesundheitspolitik gefunden. Umfassende Gesundheitserziehungskampagnen würden den Menschen aber abverlangen Gewohnheiten aufzugeben, die zu diesem Zeitpunkt tief in der Alltagskultur verwurzelt waren. Ebenso könnten solche Anstöße die öffentliche Furcht vor Krebs anheizen, die das Ministerium gerade zu dämpfen bemüht war. Eine grundlose Phobie im Hinblick auf den Krebs könnte so Forderungen nach Leistungen der Gesundheitsversorgung nach sich ziehen, und das zu einer Zeit, in der sich die Kosten des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS (für National Health Service) zu einem politischen Streitpunkt entwickelt hatten (Cantor 2002; Webster 1984; Toon 2008). Schließlich wollte das Ministerium die Hauptorganisation zur Gesundheitserziehung, den CCHE, nicht wieder zentral finanzieren. Nach dem Krieg war die finanzielle Zuständigkeit von der Zentralregierung zurück an die lokale Ebene übertragen worden; und erstere hegte, wie zeitgenössische Diskussionen belegen, nicht den Wunsch, diese Zuständigkeit wiederzuerlangen.7 Insgesamt spielten somit politische, praktische, strukturelle und theoretische Gründe eine Rolle dabei, dass Aktivitäten ausblieben. Betrachten wir nun die Art und Weise, wie die Botschaften der damaligen öffentlichen Gesundheitserziehung vermittelt wurden. Eine vom CCHE im Jahr 1957 herausgegebene Broschüre handelte unter dem Titel What – no smoking von den Abenteuern der fiktionalen Familie Wisdom (wörtlich übersetzt: Weisheit). Sohn und Mutter drängen in diesem Comic-Streifen die Aufmerksamkeit des rauchenden Vaters auf die Risiken, die er damit eingeht. Besorgt sucht der Vater den Allgemeinmediziner Dr. Brain (wörtlich: Dr. Gehirn) auf, der die Fakten präsentiert: Er erzählt dem Familienvater, dass einer von 300 Rauchern Lungenkrebs bekomme. Wenn er das Rauchen nun aufgebe, sei seine Wahrscheinlichkeit an Lungenkrebs zu erkranken dreimal so hoch; wenn er weiter rauche siebenmal. Dr. Brains Rat ist maßvoll und bedacht: „es klingt trotzdem nicht als ob das Risiko sehr groß ist; deshalb gibt es keinen Grund zur Panik, wofür immer Sie sich entscheiden“.8 Dieser Austausch liefert ein interessantes Beispiel für die Kommunikation und den Erzie7 8

T.N.A.: P.R.O., MH 55/2203, public health propaganda, smoking and lung cancer, publicity policy, 1957-60. Broschüre des Central Council for Health Education, „The adventures of the Wisdom family“,‚What – no smoking‘ (1957), in: Health Education Authority leaflet archive (zur Zeit für die Forschung nicht zugänglich; vgl. Loughlin/Berridge 2008).

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hungsstil der 1950er Jahre, der davon ausging, dass die Rezipienten die Information der Botschaft einzuordnen in der Lage waren und sich ihre eigenen Gedanken zu ihr machen konnten. Der Gedanke, direkte Handlungsanweisungen zu geben, war einer Gesellschaft ein Gräuel, in der öffentliche Erziehungsdiskurse durch die Kriegszeit mit ‚Propaganda‘ und somit mit zentraler Weisung und Nationalsozialismus assoziiert waren. Gesundheitserziehung wollte zu diesem Zeitpunkt informieren und hoffte auf staatsbürgerliche Einsicht und Verantwortungsbewusstsein ihrer Adressaten. Der Zeitraum der 1950er Jahre könnte als Periode der Aushandlung zwischen widerstrebenden Positionen beschrieben werden, als Konstruktionsphase eines stabilen Konsenses für die öffentliche Kommunikation, in der eine wissenschaftliche Aussage zum Rauchen noch nicht ‚erhärtet‘ war.9 In den späten 1950ern lag die Verantwortung für die Gesundheitsaufklärung über das Rauchen bei den Lokalbehörden und den Medical Officers of Health, denen es nicht an Interesse mangelte. Auf ein Rundschreiben des Gesundheitsministeriums von 1958, das an alle 129 Lokalbehörden Englands ergangen war, reagierten 127, von denen 118 den Bedarf an lokaler Initiative bestätigten.10 Dennoch wurden, mit Ausnahme Edinburghs, nur bescheidene Kampagnen initiiert. Die Einstellung und Persönlichkeit der örtlichen Medical Officers of Health schienen die lokalen Initiativen maßgeblich zu beeinflussen. Detaillierte Berichte über die lokalen Reaktionen wiesen eine Vielfalt aus, die von prompten Reaktionen einzelner Behörden bis hin zu Kommunen reichte, in denen das zuständige Komitee Aufrufe zum Nichtrauchen inmitten einer Wolke von Zigarettenrauch diskutierte oder in denen der für die Gesundheitserziehung zuständige Direktor selbst starker Raucher war. Auch sind Ortschaften überliefert, die eine Gesundheitserziehung an Schulen verhinderten.11 Daneben fanden sich auch landesweite Kampagnen, bei denen die ökonomische Dimension des Rauchens in den Vordergrund trat. Reginald Mount produzierte beispielsweise in den frühen 1960er Jahren ein Doppelposter für das Central Office for Information. Eines zeigte eine rauchende Frau, das andere bildete einen Mann ab:

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Zu den performativen Praktiken, unter denen wissenschaftliche Äußerungen gegenüber einem nicht-wissenschaftlichen Publikum getätigt werden vgl. Hilgartner (2000). 10 T.N.A.: P.R.O., MH 55/2225, summary of local health authority replies to circular 17/58. 11 T.N.A.: P.R.O., MH 55/2228, health education publicity: action taken by local authorities 1957-8. 211

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„Also sagte sie, dass sie das Rauchen aufgeben wolle um so Geld zu sparen und ich antworte, sei nicht albern, du sparst dadurch keinen Pfennig und mein Norman sieht das auch so. Doch ehe du dich versiehst hat sie eins von diesen ausgeschnittenen Kleidchen und einen Hosenanzug und ein Paar von diesen weißen Stiefeln und dazu ist sie auch noch diesen Husten losgeworden und jetzt geht sie auch noch mit meinem Norman aus. Ehrlich: Manchen Menschen kann man einfach nicht vertrauen!“12

Dies war eine Zeit der Überschneidungen, als neuere Methoden parallel zu älteren eingesetzt wurden. Das CCHE lancierte 1962/63 eine Buskampagne, die Nichtraucherpropaganda im ganzen Land verbreitete.13 Vier männliche, nichtrauchende Absolventen wurden dazu rekrutiert, die in Schulen offener aufgenommen wurden als in Jugendclubs und Fabriken. „Die Mädchen fanden es toll; schließlich waren sie [die vier Absolventen] so reizende junge Männer!“, schrieb der Direktor einer Schule 1963. Das Busprogramm, in dessen Rahmen Missionare von einer Region zur nächsten reisten, basierte auf einer seit langem etablierten Kampagnentradition. Es rief Erinnerungen wach an die missionarische sozialistische Zeitschrift The Clarion, die Robert Blatchford nach 1900 herausgab. Der Fokus lag dabei immer noch auf der Ebene der Lokalverwaltung – auf der einige der Amtsärzte das Anliegen enthusiastisch aufnahmen. Dennoch untersagte es das Erziehungskomitee von Devon, Broschüren, die von den Popstars Cliff Richard und Frankie Vaughan unterstützt wurden, in den Schulen zu verteilen. Diese stünden im Gegensatz zu dem, was unterrichtet werde, und seien in einer Sprache der Beatniks abgefasst, urteilte ein Lehrervertreter: Always puffin’ a fag – squares, Never snuffin’ the habit – squares, Drop it, doll, be smart, be sharp! Cool cats wise, And cats remain, Non-smokers, doll, in this campaign . . .14

Die Dinge begannen sich jedoch zu ändern. Mediziner fingen an, ihre Haltung gegenüber der Gesundheitserziehung zu verändern, was mit ei12 Wellcome Library for the History and Understanding of Medicine, iconographic collection, Fotographie L24904. 13 T.N.A.: P.R.O., MH 82/205, 206, 207, 208, 209, files on the mobile unit campaign. 14 T.N.A.: P.R.O., MH 151/18, smoking and health campaign policy, Daily Mail report, 22. Februar 1963. 212

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nem Wandel der Medizin und der gesundheitspolitischen Agenda einherging. Sowohl Inhalt als auch Form der Gesundheitserziehung veränderten sich: hin zu einem massenmedial fokussierten, schlankeren, von der Marktforschung vorher getesteten Produkt eines Werbeträgers einerseits, weg von der neutralen Präsentation von Informationen und weg von der Risikoreduzierung hin zu direkterem Rat über die zu befolgende, richtige Linie andererseits. Der aus Kriegzeiten stammende Glaube an das staatsbürgerliche Verantwortungsgefühl machte der Idee eines passiven Konsumenten von massenhaft produzierten Gesundheitsbelehrungen Platz. Zentrale Meilensteine in diesem Kommunikationswandel bildeten in den 1960er Jahren der Bericht zum Rauchen des Royal College of Physicians (RCP), der Cohen Report zur Gesundheitserziehung 1964, und die Ablösung des CCHE durch den Health Education Council (HEC) 1968/69. Doch schon vor dem RCP-Bericht gab es erste Anzeichen für einen Gesinnungswandel innerhalb des Gesundheitsministeriums. Ein internes Papier vom Frühjahr 1960 prognostizierte vorausschauend: „Inzwischen scheint es klar, dass die lokalen Gesundheitsbehörden nicht die wirksamsten Akteure in der Informationsvermittlung an die erwachsene Bevölkerung zum Thema Rauchen und Lungenkrebs sind. Zeitungen, Magazine, Radio und Fernsehen sind die Hauptinstrumente, um die Öffentlichkeit zu informieren, und diese halten sich auf der Suche nach Quellen entweder an Regierungsverlautbarungen oder an akademische Studien, die Wissenschaftler auf diesem Feld vorgelegt haben.“15

Dieser neue Ansatz wurde auch durch Entwicklungen außerhalb des Gesundheitswesens gestützt. Eine über die Weihnachtszeit 1964 vom Central Office for Information betriebene landesweite Kampagne für das Verkehrsministerium sollte die öffentliche Meinung zum Thema Trinken und Fahren beeinflussen, indem sie die Menschen über Gefahren und Strafen informierte. Diese kurzlebige Kampagne (sechs Wochen) benutzte die Presse, das Fernsehen sowie die Kanäle der Post und wurde durch Evaluationen zur öffentlichen Meinung und Reaktion vor, während und nach der Kampagne flankiert.16 Trunkenheit am Steuer wurde hier gewissermaßen zur Vorlage für spätere mediale Strategien zum Thema Rauchen und zur Gesundheitspolitik; man kann durchaus von ei15 Bericht an Mr. Galbraith über Rauchen und Lungenkrebs, 15. März 1960, in: T.N.A.: P.R.O., MH 55/2226. 16 Die Forschung wurde vom Road Research Laboratory durchgeführt und die Kampagne von der Werbeabteilung des Central Office of Information organisiert, das sich die Dienste kommerzieller Werbeagenturen sicherte (vgl. Clark 1970). 213

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nem Einsickern, beziehungsweise einem Transfer politischer Modelle aus den USA in die britische Gesundheitserziehung sprechen. Hier beeinflusste eine vom Verkehrsressort entwickelte Initiative das in Entwicklung begriffene Modell jenes Ressorts, das für Gesundheitsfragen zuständig war. Die Veröffentlichung des Berichts Smoking and Health des Royal College of Physicians 1962 führte anfänglich lediglich zu kleineren Anzeichen eines praktischen Wandels. Die Art und Weise der Produktion und Präsentation des Berichts war jedoch bedeutend für den Meinungswandel von Medizin und Gesundheitspolitik gegenüber den Medien. Der Bericht legte großen Wert auf die mediale Präsentation seiner Schlussfolgerungen, um besonders modern zu wirken und der Regierung mögliche politische Schlussfolgerungen vorzulegen.17 Anders als frühere Berichte des RCP richtete sich dieser eher an die Öffentlichkeit und die Medien denn an ein medizinisches Fachpublikum. Der Bericht war Teil einer breiteren Umorientierung der Medizin und des RCP in den 1960er Jahren, um die eigenen Positionen zu stärken und sie enger mit der Gesellschaft zu verzahnen. Diese Umorientierung war Teil des Projekts, die Medizin zu ‚modernisieren‘, eingefädelt durch den neuen RCP-Präsidenten Sir Robert Platt, und stand auf Augenhöhe mit anderen Entwicklungen in der Medizinerziehung. Diese Umorientierung war auch Teil der allgemein reduzierten medizinischen Obsession auf Vertraulichkeit im Arzt-Patienten-Verhältnis und der professionspolitischen Strategie, Publizität zu vermeiden. Noch in den 1950ern konnte die namentliche Erwähnung eines Arztes in der Presse zu Anschuldigungen eines unfairen Wettbewerbs führen, was wiederum eine Anhörung vor dem General Medical Council (GMC) über die Verletzung ethischer Richtlinien auslösen konnte. In der Auseinandersetzung mit den Medien mussten die Ärzte Anonymität bewahren, daher auch die anonyme Radio Doctor Serie auf BBC. Wie Kelly Loughlin gezeigt hat, spitzten sich die Richtlinien zum beruflichen Arztgeheimniss und zur Vertraulichkeit gegenüber Patientinnen und Patienten Mitte der 1950er Jahre zu, dies im Zusammenhang mit der Berichterstattung über chirurgische Eingriffe in zwei Fällen zusammengewachsener Zwillinge (Loughlin 2005a). Die BMA hatte in jener Zeit zwar dem Vertraulichkeitsgebot Nachdruck verliehen, tatsächlich aber war ihre Haltung hinsichtlich der Art und Weise, wie sich der Berufsstand als Ganzes der Öffentlichkeit präsentiert werden solle, bereits im Wandel begriffen.

17 Royal College of Physicians, committee to report on smoking and atmospheric pollution, Protokoll der vierten Sitzung vom 17. März 1960. 214

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Die medizinischen und politischen Schlachten um den NHS waren in den Medien ausgefochten worden und hatten dazu geführt, dass die BMA eine professionelle Presse- und PR-Maschinerie aufbaute. Eine aktive und zielgerichtete Pressearbeit wurde als Weg gesehen, die öffentliche Wahrnehmung der Organisation, die allgemein schlicht als eine Gewerkschaft der Medizinerinteressen galt, neu zu justieren. Diese Verschiebung verband sich mit Entwicklungen der Medienlandschaft, die zunehmend über Gesundheit und Medizin berichteten und eigenständige Gesundheitskorrespondenten beschäftigten – angefangen mit John Prince, einem früheren Korrespondenten der Times, der 1957 Redakteur für das Gesundheitswesen beim Telegraph wurde (Loughlin 2005b; Loughlin 2005c). Fortschrittlicher eingestellte Mediziner, im Besonderen jene mit einem Interesse am öffentlichen Gesundheitswesen oder mit einer sozialmedizinischen Qualifikation, vertraten ebenfalls die Haltung, den Medien eine gewichtige Rolle in der Gesundheitserziehung einzuräumen. Der Sekretär des RCP-Raucher-Komitees, Dr. Charles Fletcher, kann als Schlüsselbeispiel dieser Entwicklung gesehen werden. Er war als Pioneer der medialen Präsentation der Medizin bekannt, besonders durch seine berühmte Fernsehserie Your Life in their Hands in den späten 1950er Jahren. Als Sohn des ehemaligen Sekretärs des MRC, Walter Morley Fletcher, hatte Charles Fletcher, wie es ein Interviewer ausdrückte, „das Selbstvertrauen eines ehemaligen Etoniers [eines Absolventen des elitären Eton Colleges]“ und die Fähigkeit, die Geringschätzung seiner Berufskollegen für sein mediales Engagement zu ignorieren. Dr. Jerry Morris war ein weiteres Mitglied des RCP-Komitees, und er ist mit seinen 98 Jahren nach wie vor mein Kollege an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM). Auch er betont seit langem die Bedeutung der Gesundheitsdiskussionen in den Medien (Booth 1991; Loughlin 2000). Die Medien wurden im positiven Sinne als modern angesehen, und diese Haltung setzte sich in seiner Generation gesundheitspolitischer Spezialisten weiter fort. Im Jahr 2000, im Rahmen der Konferenz anlässlich des 90. Geburtstags von Morris an der LSHTM, bemerkte der führende Epidemiologe Sir Michael Marmot, dass „Jerry [Morris] mir jeweils sagte, ich solle lieber mehr Fernseh schauen als weniger“. 18 Als Effekt dieser Einstellung gegenüber den Medien engagierte der RCP 1962 einen PR-Berater, um die Lancierung des Berichts aus demselben Jahr zu organisieren. Sogar eine der ersten Pressekonferenzen des 18 Unveröffentlichtes Transkript des Zeitzeugenseminars zum 90. Geburtstag von Jerry Morris, 21. Juli 2000, London School of Hygiene and Tropical Medicine. Siehe auch Berridge (2001a) S. 1145; Loughlin (2001). 215

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RCP wurde in diesem Zusammenhang abgehalten.19 Dass den Medien und der Werbung in diesem Report eine wichtige Rolle beigemessen wurde, lässt sich an der Empfehlung ablesen, Werbung einzuschränken und nicht zu verbieten.20 Nach der Veröffentlichung des Berichts beraumte die Regierung eine Kabinettssitzung ein, auf der ebenso massenmediale Kampagnen diskutiert wurden. In der Agenda der Regierung zur Tabakprävention wurden die Medien zunehmend wichtiger. Die Tabakindustrie stimmte einem freiwilligen Verbot der Zigarettenwerbung im Fernsehen sowie von Werbung vor neun Uhr abends, die besonders junge Leute ansprechen könnte, zu und erklärte sich einverstanden, die Presse- und Plakatwerbung mit Einschränkungen zu belegen.21 All diese Schritte zusammen verdeutlichen den neuen doppelten Fokus jener Zeit auf die landesweiten Medien einerseits und die lokalen Aktivitäten andererseits.22 Das Cohen Komitee von 1964, das aus der Initiative von Gesundheitserziehern hervorging, die eine bessere nationale Organisation und Koordination anstrebten (Blythe 1987), trieb diese Entwicklung weiter voran.23 Diese hatten 1962 das Institute of Health Education gegründet, das Cohen mit Expertisen ausstattete, die belegten, dass Techniken der Gesundheitserziehung eine Synthese aus „formaler Ausbildung, Werbung und Public Relations “ darstellten (Health Education 1964: 95, vgl. Anm. 22). Darin wurden Werbeaktivitäten und PR-Abteilungen kommerzieller Organisationen als modellhaft dafür bezeichnet, wie Gesundheitserziehung effektiv und effizient zu betreiben waren. Das Bild entsprach dem der ausgebufften Medienprofis, die ihren Markt kannten. Die 1960er Jahre waren eine Boom-Phase für die Werbung und die Marktforschung im Vereinigten Königreich. Die Anzahl der Mitgliedschaften bei der Market Research Society wuchs zwischen 1947 und 1972 von 23 auf 2000 an (Williams 1998: 217). Diese Aktivitäten waren während des Krieges zurückgefahren und aufgrund der Rationierung von 19 Interview von Virginia Berridge mit einem beteiligten PR-Berater, 1995. 20 Royal College of Physicians, Smoking and Health (1962). 21 Diese Vereinbarung wurde durch das Büro des Postmaster-General erreicht, der für die Regulierung der Fernsehwerbung zuständig war. 22 In den 1960er Jahren hatte das Fernsehen in Großbritannien die Presse als zentralen Medienakteur eingeholt. Zum öffentlich-rechtlichen Kanal der BBC gesellte sich 1955 ein zweiter, kommerzieller Sender. Die BBC gewann 1963 einen zweiten, nicht-kommerziellen Sender hinzu. Im Jahr 1958 überstiegen die Fernsehwerbeeinnahmen erstmals die der Presse (vgl. Williams 1998: 217-219). 23 Ministry of Health, the Central Health Services Council and the Scottish Health Services Council, Health Education: Report of a Joint Committee of the Central and Scottish Health Services Councils (1964) (im Folgenden Health Education). 216

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Gütern und des Zeitungspapiers bis in die 1950er Jahre behindert worden. Mit der Geburt des kommerziellen Fernsehens 1955 und dem Ende der Rationierungen im Jahr 1956 trat dann Großbritannien in eine Ära des medialen Massenkonsums ein. Das Cohen Komitee selbst verfügte über enge personale Verbindungen zu den Medien. Der Vizevorsitzende kam von der Consumer Association und hatte bei der BBC gearbeitet, daneben waren Mitarbeiter einer Werbeagentur und der Gesundheitseditor des Magazins Woman im Komitee vertreten. Der Bericht wollte den traditionellen Blick auf die Gesundheitserziehung aufgeben, der sich im Wesentlichen auf individuelle Ratschläge an Mütter und auf bestimmte Handlungen wie Impfungen bezog. Er ging davon aus, dass mehr zum Thema menschlicher Beziehungen – Sexualkunde, geistige Gesundheit, die Risiken von Rauchen und Übergewicht, die Notwendigkeit sportlicher Betätigung – getan werde müsse. Dies waren schwierige Bereiche, in denen so genannte „Selbstdisziplin“ von Nöten war. Die starke Betonung der individuellen Risikovermeidung vermischte medizinische und moralische Imperative: Krankheiten wie die chronische Bronchitis konnten verhindert werden, wenn der Einzelne seine individuellen Gewohnheiten, etwa das Rauchen, ändern und die Regierung ihre Gesundheitsförderungskampagnen beschleunigen würde. Was man dazu brauche, so die Argumentation, sei ein größerer Grad an öffentlicher Wahrnehmung, die sich auf Kampagnen zur Verhaltensänderung und Sozialstudien stützen und die neue Berufsgruppe der Gesundheitserzieher stärken würden. Als Vorbild galt die amerikanische Sozialpsychologie. Die neue Generation Gesundheitserzieher sollte in den Bereichen Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit, den Verhaltenswissenschaften und Didaktik ausgebildet sein. Gesundheitserziehung sollte sowohl Wissen und Fertigkeiten vermitteln als auch Formen der Selbstdisziplin einschärfen – eine aufschlussreiche Formulierung. Der neue Gesundheitserzieher sollte zu einem gewissen Teil einen Verkäufer verkörpern, der die Menschen davon überzeugte gesundheitsbewusst zu handeln. Das reine Wissen um die Risiken des Zigarettenrauchens war nicht genug. Cohen nannte die Zigarettenwerbung ‚Propaganda‘ und dieser musste in gleicher Weise entgegen getreten werden (Health Education 1964: 14, 46). Dies stellte einen einschneidenden Wandel von der ausgewogenen Reaktion der Gesundheitserziehung in den 1950er Jahren dar und entsprach einer Abkehr von der Propaganda der Kriegszeit. Der Königsweg bestand nun darin Überzeugungsarbeit zu leisten. Der Cohen Report unterstrich die Rolle der Massenmedien für die Gesundheitserziehung – ein Fernsehprogramm konnte fünf Millionen Menschen erreichen, während es 250.000 Gruppendiskussionen à 20 217

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Teilnehmerinnen und Teilnehmer bräuchte, um das gleiche zu erreichen. Der Bericht führte 1968 dazu, dass die Regierung den staatlich finanzierten Health Education Council einrichtete, der in den frühen 1970er Jahren umgebaut wurde.24 Bis in die späten 1960er Jahre, als Folge dieser Entwicklung, änderten sich die gesundheitspädagogischen Ansätze grundlegend. Im Oktober 1969 wurde eine große Posterkampagne gegen das Rauchen gestartet. In sie flossen Forschungsergebnisse, Pre-Tests, Marktevaluierungen und das professionelle Design einer Werbeagentur mit ein: Die Kampagne wurde an einer statistisch ausgewählten Gruppe vorgetestet und basierte auf Forschungen des Gesundheitsministeriums, die 1967 veröffentlicht worden waren. Wir wissen durch die Arbeiten von Richard Cockett über die Presse in den 1930er Jahre und von Lawrence Jacobs über die politischen Parteien der Kriegszeit und den NHS, dass Werbung und der Einsatz von Maßnahmen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung wichtig waren für die politischen Parteien, insbesondere für die Konservativen (Cockett 1988; Cockett 1991; Jacobs 1993). Doch für den Bereich der Gesundheit beschritten diese PRMethoden neue Wege. Nach einem weiteren Bericht des RCP aus dem Jahr 1971, Smoking and Health Now, und der Umbildung des HCE selbst verdoppelten sich in den frühen 1970er Jahren die Ausgaben des HEC für Anti-RaucherKampagnen nahezu. TV-Kampagnen und Presseanzeigen zeichneten sich als Wachstumsbereiche aus. Insgesamt 413.899 £ wurden 1972/73 ausgegeben; 702.292 £ in den Jahren 1973/74.25 Auch wurden Forschungen zu Design und Evaluation der Kampagnen wichtiger. Die quantitativ arbeitende Soziologin Ann Cartwright hatte eine Kampagne evaluiert, die 1959 in Edinburgh durchgeführt worden war, in den frühen 1960er Jahren kam eine weitere Evaluation für Hertfordshire durch die Soziologin Margot Jeffreys hinzu. Im Laufe der 1960er Jahre weitete sich dieses Forschungsfeld konsequent aus: Das Office of Population Censuses and Surveys forschte zum Rauchen, genauso wie der Pädagoge John Brynner zum Thema Jungen und Rauchen sowie der Gesundheitspolitik-Experte Walter Holland zum Einfluss der Gesundheitserziehung

24 Ein Überblick über die Geschichte der Gesundheitserziehung vom Zweiten Weltkriegs bis in die 1980er Jahre findet sich bei Smith (1987) S. 121; vgl. auch Blythe (1987). 25 H.E.A. information centre collection, H.E.C. smoking and health campaign activities, um 1975 (Typoskript, derzeit in Yorkshire am National Institute for Clinical Excellence archiviert). 218

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auf Schulkinder (Bynner 1967; Bynner 1969).26 Durch die Tabakdebatte erhielt die Sozialstatistik eine neue Rolle in der Gesundheitspolitik. Die neuartigen Werbekampagnen wurden für das HEC von der 1970 gegründeten Werbeagentur Saatchi and Saatchi durchgeführt, die von den US-amerikanischen Entwicklungen beeinflusst und aus der Neuordnung der britischen Werbelandschaft in den 1960er Jahren hervorgegangen war. 1957 war Vance Packards The Hidden Persuaders veröffentlicht worden, und Charles Saatchi besuchte die USA in den frühen 1960ern. Saatchi selbst betonte im Nachhinein, wie die Pressewerbeleute, die über wenig Wissen um das Potential des Fernsehens verfügten, die damalige britische Werbeszene dominierten (Packard 1957; Fendley 1995). Die neuartigen Agenturen veränderten das Bild der Werbung und begannen, Akademiker zur Hilfe zu rufen – hier entstand ein zunehmend verwissenschaftlichter Ansatz, der typischerweise Humor und das harte Verkaufen zu kombinieren wusste. Zigarettenwerbungen gehörten zu den ersten, die diesen Ansatz einsetzten, so etwa im Rahmen der Benson and Hedges Gold Box Werbung der Agentur Collett, Dickinson, Pearce. Der Auftrag der HEC war Saatchi and Saatchis erster große Streich und markierte den Import dieser neuen Werbestrategien in den Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens. Zunächst beschränkte sich die Arbeit auf Poster und Broschüren, später wurden immer mehr werbetechnische Register gezogen. Saatchi produzierte in den frühen 1970er Jahren eine Reihe von Anzeigen mit markigen Slogans wie etwa „Teer und Ablagerungen, die sich in der Lunge eines durchschnittlichen Rauchers ansammeln“ und „Deine Lungen kannst Du nicht sauber bürsten“. Die begleitenden und assoziierten Bilder erschufen eine Antiästhetik des Rauchens – sichtbare Effekte wie etwa hässliche Nikotinspuren an den Fingern dienten als Zeichen für den schwerwiegenden Schaden. Der Rest der Medien begann Interesse zu entwickeln. Die Zeitung The Sun schrieb über die Anti-Raucher-Kampagne und berichtete, wie dynamisch und geradezu brutal effektiv der Werbetext sei. Frühere Bedenken, ob es Sinn mache, die öffentliche Angst vor Krebs anzuheizen, wurden beiseite geschoben. Anschauliche Bilder von kranken Lungen wurden in Postern eingesetzt, versehen mit Fragen wie „Weshalb müssen wir die Wahrheit über Lungenkrebs auf die harte Tour lernen?“. Erstmals wurde die Anti-Raucher-Kampagne, die auch hier im Auftrag des HEC von Saatchi betreut wurde, auf das Fernsehen übertragen. 1971 zeigte eine TV-Werbung Raucher, die die Londoner Waterloo 26 Vgl. auch Interviews von Michael Ashley Miller mit Walter Holland von Mai bis Dezember 1976 (Oxford Brookes University/Royal College of Physicians video interviews) und Interview von Virginia Berridge mit Walter Holland, März 1997. 219

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Bridge überquerten, und versah dies mit Zwischenschnitten aus Filmmaterial über Lemminge, die sich ein Kliff hinunter stürzten. Dazu pointierte der Begleitkommentar: „Es gibt einen seltsamen arktischen Nager, der Lemming genannt wird und sich jedes Jahr selbst von der Klippe stürzt. Es ist, als ob er sterben wollte. Jedes Jahr rauchen in Großbritannien tausende von Männern und Frauen. Es ist, als ob sie sterben wollten…“ (Fendley 1995: 35) Vermehrt gerieten Frauen, insbesondere Schwangere, in den Blick. Noch 1957 wurde die Tatsache, dass sich Bemühungen der Gesundheitserziehung an die Hauptgruppe der Raucher – nämlich Männer – richten müsse, vom Gesundheitsministerium als Grund aufgefasst, das Rauchen nicht zum Thema einer großen Kampagne zu machen; es passte schlicht nicht zum Bild der Gesundheitspolitik und der Gesundheitserziehung.27 Frauen aber standen seit langem im Fokus gesundheitspolitischer Kampagnen und entwickelten sich in den 1970er Jahren, als Ausdruck der vermehrten Betonung individueller Verhaltensweisen, erneut zur Hauptzielgruppe für die neuartigen Gesundheitskampagnen. Die Anti-Raucher-Kampagnen reproduzierten die Sorge um die Gesundheit von Frauen, worauf schon die Tradition der Sozialhygiene siebzig Jahre früher hingewiesen hatte, und ergänzten diese Sicht um neue Befürchtungen über die Bevölkerungsreproduktion im Zeitalter der Pille.28 Das eindringlichste Bild einer Kampagne, die in den Jahren 1973/74 lief, war das einer nackten, schwangeren und rauchenden Frau: „Ist es richtig, sein Baby zu zwingen, Zigaretten zu rauchen?“ lautete die rhetorische Frage. Die Evaluation ergab, dass die Variante mit einer bekleideten Frau als Kampagnemittel weniger effektiv sei.29 Der Hauptteil der evaluativen Forschung des HEC war auf die bekleidete Variante gestützt und hatte die nackte Option nicht einbezogen. Der Vorsitzende des HEC, Alistair Mackie, erklärte später, dass die nackte Version aus einem Gespräch hervorgegangen war, das er mit dem Chief Medical Officer geführt hatte: „Ich kann mich erinnern, dass ich auf krude Art und Weise darüber nachdachte, was dies für ein gewaltiges Thema für die PRArbeit war.“ (Jacobson 1981: 72) Bilder weiblicher Nacktheit waren unüblich in der damaligen Werbekultur, und das Bild einer nackten Schwangeren verfügte offensichtlich über eine Schockwirkung. Das 27 T.N.A.: P.R.O., MH 55/2220, publicity, statement by the M.R.C. and ministry of health, 1955-8, Bericht an Hr. Pater, 1. April 1957. 28 Vgl. Lewis (1980); siehe auch Marks (2001), Kapitel 8. 29 Evidence by department of health witnesses to the select committee on preventive medicine, 1976, in: First Report from the Expenditure Committee. 1976–7 Session. Preventive Medicine (Parl. Papers 1977 (169), xxvi), S. 457. 220

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Poster verstärkte diesen Effekt noch durch die Darstellung der Frau als heiter, gelassen oder möglicherweise schlicht unwissend. Würde man das Bild auf Kopf und Schultern reduzieren, wäre die Frau in der Tat auch in einer Zigarettenwerbung nicht fehl am Platze gewesen. Die Werbung mit der schwangeren Frau glich Saatchis Kampagne für den HEC zur Empfängnisverhütung, die das Bild eines trübsinnigen, schwangeren Mannes mit der Überschrift „Würdest Du vorsichtiger handeln, wenn Du selber schwanger wärst?“ versehen hatte. Rauchen wurde in den 1970er Jahren als Problem für die reproduktive Rolle der Frauen definiert, obwohl es kaum Beweise dafür gab, dass dies wirklich die Hauptursache wäre. Das Rauchen wollte unter Frauen und jungen Mädchen, und nicht nur Schwangeren, nicht zurückgehen (Berridge 2001b). Auch wenn die inhaltliche Ebene der Werbung durch die Betonung der „Frauen als Mütter“ traditionell war, beschritt man mit Stil und Charakter dieser Anzeigen und Poster sowie dem gleichzeitigen Einsatz im Fernsehen neue Wege. Die Botschaft der Werbung nahm ebenfalls eine neue, härtere Linie ein. Die Wisdom-Broschüre der 1950er Jahre hatte die Entscheidung nicht zu rauchen noch dem Einzelnen überlassen. Gegen Ende der 1970er begann der HEC, die individuelle Verhaltensänderung dezidiert zu propagieren. 1978 antwortete der HEC auf einen Bericht, der vom Independent Scientific Committee on Smoking and Health der Regierung produziert worden war. Der Bericht des Komitees handelte von veränderten Rauchprodukten, von Zigaretten mit niedrigerem Risiko (die mitunter als „sicherer“ bezeichnet wurden). Die Anzeige des HEC nahm dem Thema gegenüber eine andere, schärfere Linie ein, die auf der These gründete, dass der Austausch einer Zigarette durch eine andere so sei als springe man vom 36. anstelle des 39. Stockwerk eines Gebäudes. Diese Metapher des Risikos kündigte das Ende einer liberaleren politischen Linie an, wie sie seit den 1950er Jahren verfolgt worden war (Health Education Council 1978: 11). Dieser Wandels des ‚Blicks‘ auf die Gesundheitserziehung kann mit zwei Entwicklungen verbunden werden; mit einer spezifischen Veränderung des Rauchens und einem grundsätzlichen Wandel in der gesundheitspolitischen Theorie und Praxis. In der Tabakfrage waren die 1970er Jahre auf Regierungsebene durch den Versuch geprägt, in Zusammenarbeit mit der Industrie entweder einen Tabakersatz zu entwickeln oder schädliche Stoffe aus dem Tabak zu entfernen, um so eine ‚sicherere Zigarette‘ herzustellen. Die Veröffentlichung des Berichts von 1978 löste eine Flut von Kritiken aus. Erfahrene Forscher argumentierten, dass der Vorschlag von teer- und nikotinreduzierten Zigaretten zu einem ‚Kompensationsrauchen‘ führe, bei dem der Raucher nicht weniger, sondern mehr Schadstoffe einatme. Dies setzte den Ansatz Schadstoffe zu redu221

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zieren Ende der 1970er Jahre unter Druck (Berridge 1998; vgl. Berridge/Starns 2005). In den späten 1970er Jahren änderte sich aber auch die gesundheitspolitische Agenda insgesamt. Das Rauchen versinnbildlichte diesen Wandel. Auf internationaler Ebene hatten Dokumente wie etwa der Lalonde Report (1974) das Denken über Public Health neu angeregt, am Ende der Dekade unterstrich dies die britische Regierungsveröffentlichung Prevention and Health: Everybody’s Business (Petersen/Lupton 1996). Everybody’s Business unterstellte dabei die individuelle und kommunale Verantwortung und nicht mehr die staatliche Intervention oder die klinischen Einrichtungen oder Dienstleistungen. Dies kam im Vereinigten Königreich nur kurz nachdem die praktizierenden Amtsärzte auf lokaler Ebene entfernt und in die klinischen Gesundheitsdienste integriert wurden (Lewis 1986). Das alte Modell der lokalen, vom Medical Officer of Health dominierten Gesundheitserziehung wurde auf struktureller Ebene zu eben jener Zeit untergraben, als die Gesundheitspolitik selbst sich zu verändern begann. Obwohl das Cohen Komitee die Bedeutung der neuen Generation von Gesundheitserziehern betonte, standen auf lokaler Ebene davon zunächst nur wenige zur Verfügung – um die 50 Erzieher Mitte der 1960er Jahre (Blythe 1986). Die neue politische Agenda – für das Rauchen ebenso wie für eine Reihe anderer Gesundheitsthemen (darunter Diät und Herzerkrankungen) – wurde normalerweise abgesichert durch epidemiologische Forschungen und sozialstatistische Erhebungen und setzte ihren Schwerpunkt auf die Verhaltensänderung, auf die schuldhafte Rolle der Industrie sowie auf den Einsatz von fiskalischer oder anderer wirtschaftlicher Anreize als Mittel der Gesundheitspolitik. Auch betonte sie – auf der Basis der epidemiologischen Theorie von Geoffrey Roses Arbeiten zur Rolle der Gesamtbevölkerung, dem sogenannten präventiven Paradox – das individuelle Verhalten, hier jedoch auf der Ebene der Gesamtbevölkerung (Rose 1985). Darüber hinaus ergab sich eine Agenda für die Medien – mit einem zweifachen Fokus. Werbung war ein zentraler Ort der Auseinandersetzung mit der industriellen ‚Opposition‘. Die Medien begannen, einen neuen Stil des Gesundheitsaktivismus zu verwenden, was zu einem Merkmal der 1960er und 1970er Jahre werden sollte. Emm Barnes’ Studie über Leukämie bei Kindern zeigt, dass die traditionellen Krebsstiftungen eine Zusammenarbeit mit den Medien vermieden hatten (Barnes 2008). In den 1960er Jahren jedoch hofierten neuere aktivistische Organisationen wie etwa der Leukemia Reserach Fund aktiv die Medien, um öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Arbeit zu erlangen. Für die Tabakprävention verdeutlicht dies exemplarisch die 1971 gegründete Action on Smoking and Health (ASH). 222

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Dies führte zu einigen anfänglichen Problemen für die neuen Organisationen. In ihrer Startbroschüre hatte die ASH anvisiert, selbst eine Anzeigenkampagne durchzuführen. Dazu wollte sie den Ansatz der ‚Schwarzen Witwe‘ aus den Kampagnen zu Verkehrsunfällen vermeiden, der Autofahrer mittels Schockwirkungen zu verantwortungsbewusstem Verhalten bewegte. Stattdessen fasste die ASH ins Auge, gesellschaftliche Akzeptanz zu vermarkten. Finanzielle und materielle Anreize sollten ebenso hervorgehoben werden wie der Fokus auf Gruppentherapie im Sinne der Weight Watchers, sowie auf Kinder und jugendliche Menschen. „Vor allem will die Kampagne das gesellschaftliche Prestige des Rauchens auf den Kopf stellen“, so die Aussage.30 Doch die Pläne mussten Federn lassen, denn sie überschnitten sich mit dem Aufgabenbereich des Health Education Council; und der HEC war ungehalten über diese Überschneidung. Folglich definierte die ASH ihre öffentliche Rolle als Medienberatung, die sich nicht mehr direkter Marketingmethoden bedienen musste (Berridge 2005). Doch die Tatsache, dass sowohl sie als auch der HEC in den frühen 1970er Jahren zu ähnlichen Schlüssen über die Öffentlichkeitsarbeit zur Gesundheitsförderung gekommen waren, verdeutlicht den grundsätzlichen Wandel der Zeit und den Glauben an die hohe Überzeugungskraft der Medien. Verdeckte Verführungstechniken wurden aus feministischer Perspektive kritisiert, weil sie Frauen zu ‚Opfern‘ der Massenwerbung machten. Der stellvertretende Direktor des ASH, Bobby Jacobson, stellte Frauen in einem einflussreichen gesundheitspolitischen Text der frühen 1980er Jahre – The Ladykillers: why Smoking is a Feminist Issue – als passiv ‚Übertölpelte‘ der massenmedialen Botschaft des Rauchens dar (Jacobson 1981). Dies implizierte ein Verständnis der Medienrolle, das an die Mediensoziologie der Frankfurter Schule anknüpft, die die Bevölkerung als Empfänger des massenmedialen Einflusses interpretierte (Curran Seaton 1991). Dieses Medienverständnis fügte sich aber auch in die neuen, bevölkerungsbasierten epidemiologischen Theorien zu gesundheitspolitischen Fragen ein. In einer Zeit des strukturellen Wandels entfalteten in Großbritannien amerikanische Techniken der Erziehung und Überzeugung einen bedeutenden Einfluss auf das öffentliche Gesundheitswesen, insbesondere hinsichtlich des Einsatzgebiets und der Rolle der Beschäftigten. Wie Luc Berlivet und Martin Lengwiler gezeigt haben, wuchs auch in Frankreich und der Schweiz die Bedeutung von psychologischen und massenmedialen Modellen; auch Frankreich setzte in den späten 1960er Jahren eine

30 T.N.A.: P.R.O., MH 154/169, Brief von Dr. John Dunwoody an Dr. Julia Dawkins, 5. Januar 1971. 223

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zentrale Behörde ein.31 In der Schweiz wurde dieser Wandel initiiert durch die Verkehrssicherheit und der Betriebssicherheit; auch in Großbritannien scheint die Verkehrssicherheit eine Vorläuferfunktion ausgeübt zu haben. Die Massenmedien waren ‚modern‘ und dadurch für das britische Gesundheitswesen und die Medizin insgesamt ein Teil des Modernisierungsprojektes, das sich auf die klinische und sozialwissenschaftliche Forschung stützte und später als evidenzbasiert reüssieren sollte. Dieses Projekt verfügte noch über Elemente aus dem Konzept der verantwortungsbewussten Staatsbürgerschaft aus Kriegszeiten, kombinierte dieses jedoch mit der Überzeugung, Botschaften zum Gesundheitsverhalten einem passiven Massenpublikum einimpfen zu können. Individuelle Verantwortlichkeit verband sich mit passivem Massenkonsum in einer Weise, die aufkommende epidemiologische Argumente reflektierte. Dieses Projekt war auch Teil einer neuen Konsumkultur, die Verbindungen zu Entwicklungen in der gesundheitsorientierten Öffentlichkeitsarbeit aufwies. Daneben hing es auch mit der strukturellen Neuverortung des Gesundheitswesens zusammen, das seinen Schwerpunkt vom Lokalen zum Zentralen und von der Kommune hin zum NHS und anderen zentralisierten, technokratischen Organisationen wie etwa dem HEC verschob. Gesundheitspolitische Aktivitäten nahmen eine neue Rolle an, die Inhalte durch Massenmedien und Massenwerbung vermittelte; dies nachdem die lokalen Verantwortlichkeiten und die kleinräumigen Initiativen wie etwa örtliche Gesundheitswochen oder Jahresberichte der Gesundheitsbehörden an die Lokalbehörden übertragen wurden. Schließlich verlor auch die Regierung ihre frühere Zurückhaltung im Hinblick darauf, die Bevölkerung über Langzeitrisiken massenmedial aufzuklären. Dass Tony Blair 2006 einen Trainingsanzug auf einer Pressekonferenz trug, liegt genau in dieser Entwicklung des Gesundheitswesens der 1960er und 70er Jahre begründet.

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31 Zur französischen Gesundheitserziehung siehe Berlivet (2005b); zur Schweiz siehe Lengwiler (2005). 224

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Sich erh eit s- und Prä v entionskonz epte i m Umbruch: von der Grupp en v orsorge zur individu ali si erten mediz inis c hen R isi koprä ve nt ion f ür S chw an gere ULRIKE LINDNER

Einleitung Schwangerenvorsorge ist als ein traditionelles Feld der Prävention einzuordnen, das man in Westeuropa seit Beginn des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern in mehr oder weniger ausgeprägten Formen findet. Die Auswirkungen des generellen Trends der Individualisierung von Gesundheitsleistungen sowie der Einfluss der sich bildenden Interessengruppen und Patientinnenorganisationen sollen für die Zeit der 1950er und 1960er Jahre in diesem Bereich der Prävention untersucht werden. Schwangerenvorsorge wurde bis in die 1950er Jahre als eine Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens interpretiert, das Präventionsmaßnahmen für gefährdete Gruppen anbieten sollte, die gleichzeitig mit erheblichen Kontrollfunktionen verbunden waren. Diese Form der Prävention entstand in den westeuropäischen Ländern meist aus bevölkerungspolitischen Überlegungen heraus. Politiker begannen sich – alarmiert von einem generellen Geburtenrückgang in Europa – auch um die „schlechte Qualität“ des Nachwuchses zu sorgen. In Großbritannien war es nicht zuletzt die mangelnde Gesundheit und Belastbarkeit der Rekruten während des Burenkriegs in Südafrika (1899-1902) gewesen, die die Sorgen über den Gesundheitszustand der Nation befördert. Dies führte zu dem bekannten Bericht über die „physical deterioration“ der briti229

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schen Nation aus dem Jahr 1904, in dem umfangreiche präventive Maßnahmen für Mütter, Säuglinge und Kleinkinder gefordert wurden. Dies kann als typisch für die damalige Entwicklung in Europa gelten (vgl. Szreter 1996: 203-218; Michel/Koven 1990: 1095-1099). Die meisten Nationalstaaten wollten mit Maßnahmen wie Mutterschutz, Säuglingsvorsorge und Stillpropaganda vor allem erreichen, dass eine wachsende, gesunde und wehrhafte Bevölkerung dem Staat zur Verfügung stand.1 Gleichzeitig ließen sich mit diesen Formen der Prävention auch deviante Gruppen besser überwachen, was sich etwa bei der Konzentration fürsorgerischer Maßnahmen auf die Gruppe der ledigen Mütter zeigt. In der Geschichtswissenschaft ist dies in den letzten Jahrzehnten umfassend untersucht worden und die vielfältigen Aspekte des Prozesses der Medikalisierung der Gesellschaft und der „fürsorglichen Belagerung“ – wie Ute Frevert es zutreffend genannt hat (Frevert 1985) – gerade der schwangeren Frauen und der Mütter gründlich analysiert und debattiert worden.2 Das Vordringen der medizinischen Kontrolle bis weit in die persönliche Sphäre der Menschen wurde als ein typisches Phänomen für Westeuropa identifiziert. Allerdings hat die neuere Forschung auch hervorgehoben, dass medizinische Angebote durchaus von Frauen selbst nachgefragt wurden, so dass den Frauen und Müttern im Prozess der Medikalisierung eine gewisse agency konzediert werden kann. Der reine Zwangscharakter mancher medizinischer Maßnahmen wurde dadurch wieder in Frage gestellt (Ellerbrock 2002: 124). Ich möchte diesen Bereich der Gesundheitsvorsorge nun in einer anderen Zeitperiode in den Blick nehmen und anhand von zwei westeuropäischen Ländern – an Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland – zeigen, wie sich die Schwangerenvorsorge in der Nachkriegszeit bis zu Beginn der 1960er Jahre entwickelte. Es soll zunächst untersucht werden, inwieweit sich hier Individualisierungstendenzen durchsetzten und welche Konsequenzen dies für die Patientinnen hatte. Zweitens soll analysiert werden, welche Anbieter von Gesundheitsleistungen innerhalb der Gesundheitssysteme von diesen Prozessen profitieren und den Bereich der Vorsorge für sich reklamieren konnten. Drittens ist zu klären, ob und inwieweit sich Interessengruppen der werdenden Mütter formierten und die Entwicklung beeinflussen konnten.3 1 2 3

Vgl. zu Deutschland die neue Studie von Silke Fehlemann (2009). Vgl. grundsätzlich zu Ausprägungen der Medikalisierung bzw. medizinischen Vergesellschaftung: Honegger (1983) S. 203-213 und Loetz (1993). Mein Artikel stützt sich im Wesentlichen auf die Forschungen zu meiner 2004 veröffentlichten Dissertation: Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München 2004; unter den seitdem zum Thema erschienenen

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RISIKOPRÄVENTION FÜR SCHWANGERE

Au s g a n g s l a g e E n d e d e r 1 9 4 0 e r J a h r e Betrachtet man die Situation in beiden Ländern, so zeigen sich Ende der 1940er Jahre sehr unterschiedliche Ausgangslagen. In Großbritannien hatte sich bis dann ein relativ gut funktionierendes System der Schwangerenvorsorge mit vielfältigen präventiven Leistungen durch den öffentlichen Gesundheitsdienst etabliert. Die Schwangeren konnten Vorsorgeuntersuchungen beim Medical Health Officer, einer Art Amtsarzt, oder bei der Hebamme, die beide in den lokalen Gesundheitsbehörden tätig waren, wahrnehmen sowie an Geburtsvorbereitungskursen teilnehmen. Koordiniert wurden diese Einrichtungen durch das 1919 geschaffene Gesundheitsministerium, das damals auch die Verantwortung für den sogenannten Maternity and Child Welfare Service übernahm.4 Diese Formen der Prävention für Schwangere etablierten sich in den 1920er Jahren landesweit und die ante-natal-clinics, also Sprechstunden für Schwangere, wurden in den meisten Ortschaften Englands eingerichtet (Oakley 1982: 8f.). Da das Präventionsangebot im Gegensatz zu Besuchen bei niedergelassenen Ärzten kostenlos war und die meisten Frauen vor der Einführung des staatlichen Gesundheitsdienstes, des National Health Services (NHS) im Jahr 1948 nicht versichert waren, wurde diese Form der Prävention von den Frauen stark nachgefragt. Bis 1948 waren die örtlichen Verwaltungen zuständig für die Vorsorge und Fürsorge der Schwangeren sowie der Kinder bis zu fünf Jahren.5 Im Jahr 1947 erhielten über 70 Prozent der Mütter in den Local Health Authorities Schwangerenvorsorge (Oakley 1984: 133). Die seit 1920 stetig steigende Anzahl der Sprechstunden für Schwangere sowie die wachsende Zahl der Hausbesuche durch die so genannten Health Visitors, (die nicht ganz mit deutschen Fürsorgerinnen zu vergleichen sind, da sie eher beratend und weniger überwachend auftraten) zeigten, dass sich die Schwangerenvorsorge als allgemein akzeptierte Form der Gesundheitsvorsorge etabliert hatte. Die Qualität der Vorsorge blieb allerdings, wie verschiedene zeitgenössische Studien deutlich machten, regional sehr unterschiedlich und hing stark vom Engagement der jeweiligen Gesundheitsbehörde ab (Winter 1979: 459).

4

5

Arbeiten ist vor allem die Dissertation von Marion Schumann (2009) hervorzuheben. The National Archivs, Public Record Office, Kew, Ministry of Health (TNA, PRO, MH) 55/992 Ministry of Health, Maternity and Child Welfare, England and Wales, Februar 1958. TNA, PRO, MH 58/693, Entwurf für Antwort auf eine Anfrage der United Nations 1947. 231

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In Deutschland existierte dagegen eine ausgeprägte Vorsorge für Schwangere kaum. Anders als in Großbritannien waren zwar in Deutschland die meisten Frauen über ihren Mann krankenversichert; allerdings konzentrierten sich die staatlichen Krankenversicherungen auf Therapie und zahlten für die Behandlung im Rahmen der Geburt, nicht jedoch für die Vorsorge. Durch diese Ausrichtung des Gesundheitswesens bestanden in Deutschland wesentlich schärfere Grenzen zwischen den Bereichen Therapie und Prävention als in Großbritannien (Lindner 2004: 126). Vorsorge wurde durch das kommunale Gesundheitswesen abgedeckt, das allerdings in den 1920er und 1930er Jahren den Schwerpunkt auf die Säuglingsvorsorge legte (vgl. Fehlemann 2000). Lediglich in wenigen größeren Städten, wie etwa in Berlin, gab es engagierte Kommunalärzte und -ärztinnen, meist politisch links stehend, die Vorsorgeeinrichtungen für Schwangere und Familienberatungen aufbauten (Grossmann 1986: 194f.; Usbome 2002). Diese Traditionen kommunaler Gesundheitsfürsorge wurden unter der nationalsozialistischen Herrschaft stark beschnitten. Viele der ehemals in solchen Bereichen tätigen Ärzte und Ärztinnen wurden entlassen, verfolgt und vertrieben, womit das entsprechende Engagement des öffentlichen Gesundheitsdienstes weitgehend zum Erliegen kam (Eckart 1989: 217f.). Eine gut koordinierte Schwangerenvorsorge richteten die Nationalsozialisten, obwohl sie ideologisch eigentlich einen Mutterkult propagierten, nicht ein. Die Betreuung von Säuglingen und Schwangeren wurde vielmehr mit selektiven rassistischen Maßnahmen verbunden und entfernte sich sehr weit von einer präventiven, zugehenden Vorsorge für alle Gruppen der Gesellschaft (Czarnowski 1991: 265-270). Nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft und in den Notlagen der direkten Nachkriegszeit standen dann zunächst andere gesundheitliche Probleme im Vordergrund.

Praxis der Schwangerenvorsorge in den 1950er Jahren In den 1950er Jahren bestand Schwangerenvorsorge in der Regel aus einer regelmäßigen Gewichts- und Blutdruckkontrolle, hinzu kamen eine oder zwei Urinuntersuchungen – in Großbritannien war seit Anfang der 1950er Jahre auch eine Blutuntersuchung Vorschrift (Lindner 2004: 480). Das gesundheitspolitische Interesse richtete sich vor allem darauf, Mütter- und Säuglingssterblichkeit weiter zu senken, da man diese inter-

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RISIKOPRÄVENTION FÜR SCHWANGERE

national im Rahmen der WHO als Indikatoren für die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitswesens wertete.6 Nach dem damaligen Stand der Wissenschaft konnte vor allem eine Schwangerschaftskomplikation durch Vorsorge vermieden werden, die sogenannte Präklampsie, ein Vorläufer der Eklampsie. Als Eklampsie bezeichnet man schwere krampfartige Anfälle mit Nierenversagen, Blutungen, Hirnödem und Thrombosen, die meist zum Tod der Mutter führen (Loudon 1992: 85-96).7 Bei einer ausreichenden Schwangerenvorsorge mit regelmäßigen Blutdruck- und Urinkontrollen ließen sich Vorformen der Eklampsie rechtzeitig erkennen und durch Diät und vorbeugende Maßnahmen unter Umständen erfolgreich behandeln. Während im Hinblick auf die Eklampsie zeitgenössisch Einigkeit herrschte, wurde damals – vor allem in Großbritannien und den USA – debattiert, inwieweit Schwangerenvorsorge ansonsten die Müttersterblichkeit senken könnte. Bei anderen Komplikationen wie Blutungen war in erster Linie schneller Transport in ein Krankenhaus sowie generell die Verfügbarkeit von spezialisierter medizinischer Hilfe entscheidend. Hier hatte die Schwangerenvorsorge kaum Effekte. Generell hat Majorie Tew in ihren epidemiologischen Studien immer wieder hervorgehoben, dass der Rückgang der Schwangerschaftskomplikationen und der Säuglings- und Schwangerensterblichkeit kaum direkt auf medizinische Vorsorgemaßnahmen zurückzuführen sei (Tew 2007). Allerdings weist Marion Schumann in ihrer neuen Studie zu Hebammen in der Bundesrepublik zu Recht darauf hin, dass gerade in Ländern, wo sich medizinische Schwangerenvorsorge mit einer besseren sozialen Betreuung verband, untere Schichten, bei denen die Gefahr von ernsthaften Problemen während der Schwangerschaft wesentlich höher lag, besser angesprochen werden konnten. Sie nennt hier insbesondere das Beispiel Schwedens mit einer relativ engmaschigen Betreuung, die vor allem von Hebammen geleistet wurde. Dort konnte schwangeren Frauen in prekären Situationen in vieler Hinsicht geholfen werden. Solche Möglichkeiten hatten offenbar doch einen gewissen Einfluss auf die Mütter- und Säuglingssterblichkeit, die in Schweden in den Nachkriegsjahrzehnten besonders niedrig lag (Schumann 2009: 92f.). 6

7

Dies kann man besonders deutlich an der Bundesrepublik zeigen. Hier lagen sowohl die Zahlen für die Säuglings- als auch die Müttersterblichkeit im europäischen Vergleich sehr hoch, die Bundesrepublik stand in Statistiken mit 12 anderen europäischen Ländern zwischen 1955 und 1970 stets am unteren Ende der Skala. Deswegen wurde in Westdeutschland die Einführung einer besseren Schwangerenvorsorge stets mit dem Argument der Senkung der Sterblichkeitszahlen verknüpft (vgl. Lindner 2004: 419). Vgl. auch den Artikel „Eklampsie“, in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch, S. 404. 233

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Ein weiteres medizinisches Interesse bestand darin, durch bessere Schwangerenvorsorge die Frühsterblichkeit von Säuglingen zu senken. Die Aufmerksamkeit richtete sich damals auf das Problem des RhesusFaktors, der in Großbritannien ebenfalls seit den 1950er Jahren routinemäßig überprüft wurde,8 in der Bundesrepublik allerdings erst deutlich später. Bei Rhesus-negativen Müttern war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie Rhesus-positive Kinder austrügen und während der Schwangerschaft Antikörper gegen das Blut ihrer Kinder entwickelten. Um die daraus folgende Erythroblastose zu vermeiden, die zu einer schweren Erkrankung der Kinder, zu deren Behinderung oder Tod führen konnte, versuchte man bei diesen Müttern zumindest eine Klinikgeburt zu arrangieren, auch wenn dies wegen mangelnder Kapazitäten oft nicht gelang.9 Auch dieses Problem konnte bei einer Schwangerenvorsorge mit Blutuntersuchung erkannt werden.

Ne u o r d n u n g i n d e r N a c h k r i e g s z e i t : Bundesrepublik Deutschland Generelle Präventionsangebote für schwangere Frauen und ihre Betreuung durch Ärzte oder öffentliche Einrichtungen waren in der Bundesrepublik Deutschland Anfang der 1950er Jahre auch nach den damaligen Maßstäben nicht ausreichend. Der Bundestag verabschiedete zwar im Januar 1952 ein im europäischen Vergleich sehr fortschrittliches Mutterschutzgesetz, allerdings betrafen die finanzielle Unterstützung und die Arbeitsschutzmaßnahmen lediglich einen kleinen Teil der Schwangeren, die abhängig arbeitenden schwangeren Frauen (Lindner 2004: 423). Als alarmierend wurde seit Beginn der 1950er Jahre in der Gesundheitsabteilung des Innenministeriums wie auch in Fachkreisen die im europäischen Vergleich hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit empfunden. Besonders nach dem Eintritt Westdeutschlands in die WHO im Jahr 1961 trat dieser Vergleichsaspekt noch stärker hervor (Faerber 1966: 356). Dennoch entwickelte sich dieser zentrale Bereich der Gesundheitsvorsorge nur sehr langsam weiter. Die Schwangerenberatung durch das öffentliche Gesundheitswesen, die in der Weimarer Zeit zumindest in manchen Städten einen größeren Teil der Schwangeren angesprochen hatte, funktionierte in der Bundesrepublik kaum noch. 1952 erhielten in Niedersachsen beispielsweise nur 8

9

Ministry of Health, Neonatal Mortality and Morbidity (= Reports on Public Health and Medical Subjects 94, HMSO) London 1949, S. 83; vgl. auch TNA, PRO, MH 137/185, Vermerk über Diskussion, 5.10.1953. TNA, PRO, MH 137/185, Vermerk über Diskussion 5.10.1953.

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vier Prozent der Schwangeren in den Beratungsstellen der Gesundheitsämter Vorsorgeleistungen, lediglich in urbanen Zentren war der Prozentsatz höher. Die Gründe für die geringe Akzeptanz dieser Angebote sind sicherlich auch in der starken Involvierung der Gesundheitsämter in die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Rassenpolitik zu suchen, die das Vertrauen der Frauen nicht gerade gefördert hatte.10 Hebammen waren damals in der Vorsorge kaum tätig, da sie diese Leistungen nicht abrechnen konnten. Sonst wies die Versorgung der Schwangeren schichtspezifische Unterschiede auf: Es suchten eher Frauen aus den gehobenen Schichten aus eigenem Antrieb einen niedergelassenen Arzt in der Schwangerschaft auf, während werdende Mütter unterer Schichten, wenn überhaupt, dann eher öffentliche Schwangerenberatung bevorzugten.11 Dies lag auch an den unklaren finanziellen Folgen, da die Kassen eigentlich keine Vorsorge übernahmen (Beske 1957: 145). Verschiedene strukturelle Probleme im Gesundheitswesen, vor allem jedoch die konkurrierenden Systeme des öffentlichen Gesundheitsdienstes auf der einen und der gesetzlichen Krankenversicherung mit der freien Ärzteschaft auf der anderen Seite verhinderten eine rasche Lösung. Konzepte, die die Vorsorge dem öffentlichen Gesundheitsdienst zuweisen wollten, scheiterten Mitte der 1950er Jahre bereits am politischen Widerstand innerhalb der Ministerien, da die damals regierende CDU/FDP-Koalition auf keinen Fall in die Nähe einer sogenannten „Staatsmedizin“ geraten wollte, wie damals das zum Feindbild stilisierte DDR-Gesundheitssystem bezeichnet wurde (Lindner 2004: 37). Die FDP verstand sich außerdem stets als Klientelpartei der freien Ärzteschaft. Das öffentliche Gesundheitswesen verlor dagegen zunehmend an Einfluss. Die Belange des öffentlichen Gesundheitsdienstes waren zudem auf Bundesebene nur schwach repräsentiert, mit lediglich einer Abteilung im Innenministerium – ein Gesundheitsministerium wurde erst 1961 eingerichtet. Mittlerweile versuchten vor allem die niedergelassenen Kassenärzte, Schwangerenvorsorge für sich zu reklamieren und das 10 Bundesarchiv Koblenz (BAK), B 142/647, Bericht über das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik. Es lagen der Gesundheitsabteilung des Innenministeriums 1952, als der Bericht zusammengestellt wurde, lediglich aus zwei Ländern Daten vor. 1951 gab es in Schleswig-Holstein nur 421 Erstuntersuchungen Schwangerer in 101 Beratungsstellen bei ca. 38.000 Lebendgeburten, in Niedersachsen immerhin 4.701 Erstuntersuchungen, allerdings bei 112.010 Lebendgeburten. 11 BAK, B 142/369, Bericht über eine Aussprache über aktuelle Fragen der Schwangerenbetreuung am 23.6.1955 in Mainz; BAK, B 142/4042, Bericht von Curt Meyer, Leiter der Abteilung Sozialhygiene in der Senatsverwaltung für Gesundheitswesen in Berlin, über den Demonstrationsdistrikt Neukölln 1953. 235

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öffentliche Gesundheitswesen und die Hebammen aus diesem Feld gänzlich zu verdrängen. Als Argumente kehrten sie stets das besondere Vertrauensverhältnis der Patienten zum freien Arzt im Gegensatz zur überwachenden Staatsmedizin heraus und betonten den modernen, zeitgemäßen Vorsorgeansatz der individuellen medizinischen Untersuchung. Im Bereich des öffentlichen Gesundheitswesens wurden noch einige regionale Versuche gestartet, um die Vorsorge für Schwangere zu verbessern, so etwa die verschiedenen „Mutterpass“-Aktionen. Mit Hilfe dieser Pässe, die den Schwangeren ausgehändigt wurden und in die Untersuchungen und deren Ergebnisse eingetragen wurden, versuchten Gesundheitsämter, Vorsorgeleistungen zu koordinieren und eine geregelte Prävention zu institutionalisieren (Gedicke 1964). Dies wurde von der freien Ärzteschaft, die jegliche Kontrolle ihrer Tätigkeit durch das Gesundheitsamt ablehnte, vehement bekämpft. Gleichzeitig tauchten Argumente auf, die sich gegen eine bessere Information der Patientinnen richteten. Hier soll eine beispielhafte Aussage des bayerischen Ärztefunktionärs Hans Joachim Sewering12 aus dem Jahr 1964 zitiert werden: „So ist es uns jetzt gelungen, alle Bestrebungen – sie sind von der Sozialdemokratischen Landtagsfraktion ausgegangen – nach Einführung eines Mütterpasses in Bayern zu unterbinden. [...] Wir haben den Standpunkt vertreten, dass ärztliche Daten und Untersuchungsergebnisse in die Kartei des Arztes, aber nicht in die Handtasche der Frau gehören: Wenn sie in der Handtasche der Frau sind, werden sie Gegenstand von Unterhaltungen beim Kaffeeklatsch und bei sonstigen Gelegenheiten und führen nur zu einer unnötigen Beunruhigung der Frauen, die mit diesen nichts anzufangen wissen. [...] Die Angaben über die Untersuchungsergebnisse gehören in die Kartei des Arztes.“ (Sewering 1964: 752)

Viele Ärzte waren nicht bereit, ihre durch Fachwissen verstärkte Dominanz gegenüber ihren Patientinnen preiszugeben. Die Expertenstellung des Arztes sollte von keinerlei Kontrollen beeinträchtigt werden, weder durch die Frauen selbst, noch durch den öffentlichen Gesundheitsdienst, der Daten überprüfte und Qualitätsstandards einforderte (vgl. Rodenstein 1984). Den Ärzten ging es um eine individuelle medizinische Behandlung in ihrer Praxis mit möglichst guten Verdienstmöglichkeiten. Sie 12 Sewering, der als NSDAP- und SS-Mitglied erheblich in die Machenschaften des NS-Staates verstrickt war, erhielt gerade (2008) die Auszeichnung des Bundes deutscher Internisten. In der Begründung heißt es, er habe sich wie kaum ein anderer um die Freiheit des ärztlichen Berufsstandes, die Unabhängigkeit der ärztlichen Selbstverwaltung und um das nationale Gesundheitswesen verdient gemacht. 236

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lehnten ein Präventionsangebot, das auch den Patientinnen bessere Informationen und somit Entscheidungsspielräume zubilligte, meist ab. Nach langem Streit zwischen Sozial- und Innenministerium, Kassenverbänden und Ärzteverbänden wurde schließlich 1965 die Schwangerenversorgung in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen. Damit wurde die Schwangerenvorsorge dem Aufgabenbereich der freien Ärzteschaft überantwortet, da diese in der Bundesrepublik bereits in den 1950er Jahren das Monopol jeglicher ambulanter Behandlung erkämpft hatten. Mit dem Gesetz von 1965 und dem Ende der Mutterpassaktionen war der öffentliche Gesundheitsdienst endgültig aus der Betreuung von Schwangeren ausgeschieden. Auch eine von den Hebammen angestrebte Integration ihrer Leistungen in die Schwangerenvorsorge war mit der Übertragung an die niedergelassenen Ärzte gescheitert (Korporal 1991: 283; Rodenstein 1984). Von vielen Seiten war gefordert worden, die Hebammen stärker in die Vorsorge einzubeziehen, da über sie die Verknüpfung von sozialen und medizinischen Leistungen besser gelingen würde als in einer Arztpraxis und da sie gerade Frauen in problematischen Verhältnissen besser erreichen könnten. Zwischen 1955 und 1965 wurden zahlreiche Vorschläge von den Hebammenorganisationen ausgearbeitet, wie Marion Schumann in ihrer Studie ausführlich dargelegt hat, die aber letztlich am Widerstand der Ärzteschaft und ihrer Lobby scheiterten (Schumann 2009: 110-119). Die Ärzte konnten so den gesamten Bereich der Schwangerenvorsorge für sich reklamieren. Die Institutionalisierung der Schwangerenvorsorge als Leistung der Krankenversicherung führte allerdings keineswegs sofort zu einer umfassenden prophylaktischen Versorgung der Schwangeren. Die Vorsorgeleistungen der niedergelassenen Ärzte passten sich nur allmählich dem damals in der medizinischen Wissenschaft geforderten Standard an (Keding 1988: 58; Bundesministerium 1971: 41-43). Das Konzept der individualisierten medizinisch ausgerichteten Betreuung der Schwangeren durch den Arzt hatte noch weitere Nachteile: Gerade bei den Angehörigen der unteren Schichten waren die öffentlichen Beratungseinrichtungen eher akzeptiert gewesen als ein selbständiger Besuch beim niedergelassenen Arzt. Nach Einführung der gesetzlichen Leistungen wurde daher auch beklagt, dass gerade Frauen, die eine besonders intensive Beratung brauchten, von der rein medizinisch orientierten Vorsorge nicht erreicht wurden (vgl. Arnold 1969: 438-440; Müller 1976: 122; Tietze 1979: 140). Das von den Ärzten stets angeführte Vertrauensverhältnis war für einen Erfolg der Vorsorge nicht genug. Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass die Qualität der Vorsorge, die im Wesentlichen dem einzelnen Arzt überlassen war, stark schwankte und kaum statis237

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tisch zu erfassen oder kontrollierbar war (Aiach/Carr-Hill 1989). Alternative Konzepte der Schwangeren- und Säuglingsvorsorge mit einer stärkeren Einbeziehung von Hebammen oder Fürsorgerinnen konnten sich in der Bundesrepublik also nicht durchsetzen.

Ne u o r d n u n g i n d e r N a c h k r i e g s z e i t G B In Großbritannien übernahm der 1948 neu eingeführte staatliche National Health Service (NHS) zunächst das bestehende System der Schwangerenvorsorge der lokalen Gesundheitsbehörden. Da der gesamte Gesundheitsdienst nun kostenlos war, nahmen deutlich mehr Schwangere Untersuchungen beim niedergelassenen Arzt wahr oder meldeten sich zur Geburt im Krankenhaus an. Der Maternity Service war, wie der gesamte NHS, in drei Teilbereiche aufgespalten: der Krankenhausbereich und dessen Personal unterstanden den Regional Hospital Boards; die Angebote/Dienste der Hebammen und Amtsärzte wurden von den lokalen Gesundheitsbehörden überwacht; die Versorgung der Schwangeren durch die niedergelassenen Allgemeinärzte war wiederum einer weiteren Behörde unterstellt. Die Koordinierung dieser drei Bereiche, die nun alle in die Vorsorge für Schwangere involviert waren, erwies sich als höchst problematisch. Für die Schwangeren waren die aufgeteilten Zuständigkeiten ebenfalls kompliziert. Mitunter wussten die Frauen selbst nicht, ob sie sich für ihre Geburt nun bei einer Hebamme oder bei einem Arzt vorgemerkt hatten, ähnliche Verwirrungen gab es bei der Vorsorge.13 Der Informationsfluss zwischen den einzelnen Sparten war schlecht.14 In der Praxis ging der Trend bei den Müttern dahin, sich mehr und mehr bei ihrem eigenen niedergelassenen Arzt untersuchen zu lassen, weil generell für Arztbesuche unter dem NHS keine Kosten mehr entstanden (Bent 1982: 188).15 In den offiziellen Äußerungen des Gesundheitsministeriums unterstützte man diese Entwicklung, da die Schwangerenvorsorge in den 1920er und 1930er Jahren durch die angeblich unzureichende Ausbildung des Personals der lokalen Gesundheitsbehörden nicht die erwartete starke Reduzierung der Müttersterblichkeit erreicht hatte. Die Amtsärz13 PRO, MH 137/262, Oral Evidence from the Association of Supervisors of Midwives, 22.11.1956. 14 PRO, MH 137/257, Eric C. Downer Medical Officer of Health, Middlesborough, an Dr. Chamberlain, Ministry of Health, 29.1.1958. 15 Vgl. detailliert Oakley (1984) S. 133. 72,9 Prozent der Mütter erhielten 1946 ihre Ante-natal Care von den Local Health Authorities, entweder über Sprechstunden oder über die dort angestellten Hebammen. 238

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te, die die Vorsorgestunden in den meisten Sprechstunden der LHAs abhielten, wären, da sie bei Geburten selbst nie anwesend seien, mit der neuesten geburtshilflichen Praxis nicht vertraut. Auch aus Sicht der britischen Gesundheitspolitiker entsprach die Untersuchung durch einen niedergelassenen Arzt eher dem Gedanken einer modernen, individuellen medizinischen Vorsorge. Allerdings waren viele niedergelassene Ärzte gar nicht für Schwangerenvorsorge ausgebildet, so dass sich der Standard in der Vorsorge keineswegs verbesserte, wie vor allem die lokalen Gesundheitsbehörden monierten. Man hätte auch die Dienste der lokalen Gesundheitsämter ausbauen können, dies entsprach aber nicht der vom Ministerium gewählten Ausrichtung es Gesundheitsdienstes. Gesundheitserziehung für Mütter und andere Schwangerschaftsvorbereitungskurse fanden aber weiterhin bei den lokalen Gesundheitsbehörden statt, die sich nun eher auf ein soziales Begleitprogramm in der Schwangerschaft konzentrierten. Insgesamt litten die Betreuungsangebote sowohl bei den Ärzten als auch in den lokalen Zentren vor allem an der chronischen Unterfinanzierung des NHS, die stets zu Überfüllung und zu langen Wartezeiten für die Patientinnen führte. Im NHS wurde den niedergelassenen Ärzten also ebenfalls ein großen Teil der Schwangerenvorsorge überantwortet, obwohl ein relativ gut funktionierendes System der örtlichen Gesundheitsbehörden bestanden hatte, das man auch ausbauen bzw. verbessern hätte können. Koordinationsprobleme zwischen den Teilbereichen des NHS traten auch in den nächsten Jahren andauernd und zahlreich zu Tage.16 Daher beauftragte das Gesundheitsministerium 1956 ein Komitee, den gesamten Maternity Service zu evaluieren. Die Vorschläge für die Schwangerenvorsorge lassen sich knapp zusammenfassen: Das Cranbrook Committee hielt daran fest, den niedergelassenen Ärzten den Hauptteil der Vorsorge zu übertragen, forderte dafür aber eine bessere Ausbildung der Ärzte. Für die sogenannte Obstetric List, die für die Schwangerenvorsorge qualifizierte, sollten Allgemeinärzte nur dann zugelassen werden, wenn sie bestimmte Ausbildungen und Erfahrungen nachweisen konnten. Auch die Dreiteilung des Gesundheitsdienstes wurde nicht in Frage gestellt, vielmehr zahlreiche Vorschläge zur besseren Koordination gemacht. Das Ministerium versuchte zunächst, die Forderungen hinsichtlich der Ausbildung der Ärzte umzusetzen, stieß allerdings auf den Widerstand der mächtigen Ärztevertretung, der British Medical Associati-

16 TNA, PRO, MH 137/185, Memorandum Ante-natal Care, Juni 1955; PRO, MH 133/408, Follow-Up Enquiry into Conferences on Ante-natal Care Related to Toxaemia, Meeting Standing Advisory Committee Maternity and Child Welfare, 6.3.1959. 239

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on.17 Auch in Großbritannien wollten die Ärzte jegliche Einmischung des Gesundheitsministeriums in die Ausbildung verhindern und erreichen, dass alle niedergelassenen Ärzte Vorsorge betreiben konnten.18 Im Laufe der Diskussionen wurden die Bedingungen für die Aufnahme in die Obstetric List immer weiter abgeschwächt. Ende der 1950er Jahre richtete das Ministerium zumindest Auffrischungskurse für Ärzte ein, in denen diese ihre Kenntnisse in Geburtshilfe und Schwangerenvorsorge vertiefen konnten. 19 1961 befanden sich dann 80 Prozent aller niedergelassenen Ärzte in Großbritannien auf der Obstetric List – was eigentlich nicht im Sinne der Empfehlungen des Cranbrook Reports gewesen war – und betreuten 97 Prozent der Schwangerschaften.20 Auch in Großbritannien setzte man also in den 1950er Jahren verstärkt auf individuelle, medizinische Betreuung durch den Arzt. Im Gegensatz zur Bundesrepublik versuchte man aber zumindest, Umfang und Qualität dieser Untersuchungen zu beeinflussen und zu kontrollieren, auch wenn dies kaum gelang. Zudem gab es ein großes und wachsendes Ergänzungsangebot der lokalen Gesundheitsbehörden, das den sozialen Bereich der Vorsorge stärker abdeckte. Früher als in Deutschland wurden in der britischen Gesundheitspolitik außerdem merkliche Veränderungen in der Haltung der Schwangeren selbst wahrgenommen. Offenbar gaben sich zunehmend selbstbewusste und informierte Frauen immer weniger mit lapidaren Erklärungen in den Vorsorgesprechstunden zufrieden. In einem Memorandum des Gesundheitsministeriums von 1960 hieß es: „In the last few decades there has been a striking change in the knowledge of the mothers and of their attitude to the medical and nursing profession. Mothers are far better informed about the functions of their bodies and they will no longer blindly follow the advice given. They wish to know the reason why certain instructions are given and if any abnormality arises, they want to have an explanation of its meaning.“21

Nimmt man die weitere Entwicklung in den Blick, so ging in Großbritannien die medizinische individualisierte Form der Schwangerenvorsorge, die sich zunächst bei den niedergelassenen Ärzten etabliert hatte, 17 TNA, PRO, MH 137/186, Minute an Dodds, 23.6.1959. 18 TNA, PRO, MH 137/254, Ausschnitt aus Sunday Dispatch, 25.1.1959. 19 TNA, PRO, MH 137/187, Vermerk: Refresher Courses for GPs, 15.3.1960. 20 TNA, PRO, MH 137/187, Vermerk: Refresher Courses for GPs, 15.3.1960. 21 TNA, PRO, MH 133/409, Memorandum Human Relations in Obstetrics 1960, Standing Advisory Committee Maternity and Child Welfare. 240

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dann stärker auf die Ambulanzen der Krankenhäuser mit den dort arbeitenden Gynäkologen über. Dies entsprach in Großbritannien dem Trend zu einer immer größeren medizinischen Spezialisierung; dies musste in den Krankenhäusern stattfinden, da es keine niedergelassenen Fachärzte gab. In Deutschland übernahmen in den nächsten Dekaden nicht mehr niedergelassene Allgemeinärzte, sondern vor allem niedergelassene Gynäkologen Prävention für Schwangere (Oakley 1984: 144f.).

Die Reaktion der Frauen und die Rolle von Pati enti nnengruppen und Int eressengruppen i n der Umgestaltung der Schwangerenvorsorge In beiden Ländern individualisierten die Gesundheitssysteme die Prävention für Schwangere und richteten sie stärker medizinisch aus, was zu Lasten einer besseren Verknüpfung sozialer und medizinischer Dienste ging. Allerdings nahmen viele Frauen die neuen Möglichkeiten einer ärztlichen Versorgung auch gerne an. Gerade in England bevorzugten viele Schwangere die niedergelassenen Ärzte in der Vorsorge, da sie zu ihnen ein vertrauteres Verhältnis entwickeln konnten als zu einer wechselnden Belegschaft in den Sprechstunden der lokalen Gesundheitsbehörden.22 Dieser Trend, der sich bereits nach 1948 anbahnte, da ja nun Arztbesuche für alle Bürger kostenfrei waren, wurde vom NHS unterstützt. Freie Arztwahl war im NHS, wo sich jeder bei einem Arzt registrieren lassen musste, allerdings nur sehr bedingt gegeben, so dass die Frauen bei ihren Vorsorgeterminen meist zu dem Allgemeinarzt gingen, bei dem sie bereits registriert waren. In der Bundesrepublik Deutschland waren Frauen aus den gehobenen Schichten sowieso schon vor der offiziellen Übernahme der Vorsorgeleistungen durch die Kassen während der Schwangerschaft zu ihrem Arzt gegangen und hatten sich betreuen lassen. Für sie stellten die nun durch die Kassen angebotenen, neuen Möglichkeiten wohl eine befriedigende Leistung des Gesundheitswesens dar. Vorsorgeleistungen im Gesundheitsamt mit wechselndem Personal hätten auch die deutschen Frauen einem Angebot der Ärzte sicherlich nicht vorgezogen. In der Bundesrepublik bestand außerdem die Möglichkeit, in einem gewissen Rahmen den Arzt frei zu wählen und sich bei einem bestimmten Allgemeinarzt bzw. niedergelassenen Gynäkologen untersuchen zu lassen. Insofern hatten die Frauen hier auch Möglichkeiten einer selbst bestimm-

22 PRO, MH 137/274, Maternity Services Committee, Evidence from the Mother’s Union, 23.10.1956. 241

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ten Wahl und konnten eine begrenzte Eigenverantwortung übernehmen, was wohl von vielen als positiv empfunden wurde. Defizite entstanden vor allem für Frauen, die während der Schwangerschaft nicht nur medizinische, sondern dringend soziale Hilfen benötigten, die über einen Arztbesuch kaum abrufbar war. In beiden Ländern verstärkte sich jedoch durch die Individualisierung der Vorsorge die Dominanz der meist männlichen Ärzte über ihre weiblichen Patientinnen; ein Problem das besonders seit den 1970er Jahren von verschiedenen feministischen Gruppen scharf kritisiert wurde. Wenn man nun betrachtet, wie sehr sich die Schwangeren als Gruppe in diese Veränderungen einmischten, so sind erneut große Unterschiede zwischen den beiden Ländern zu beobachten. Kennzeichnend für die Bundesrepublik ist, dass sich in der Zeit, als die Schwangerenvorsorge zunächst vernachlässigt und dann den Ärzten übergeben wurde, Interessenverbände der Frauen nicht zu Wort meldeten. In Großbritannien beteiligten sich dagegen nicht nur die professionellen Akteure an der gesundheitspolitischen Diskussion, sondern auch zahlreiche interest groups, die die Debatte um die Säuglings- und Schwangerenvorsorge vorantrieben. Hier zeigte sich in der Bundesrepublik Deutschland ein ganz anderes Bild: Die einflussreichen Interessengruppen der Weimarer Zeit, von denen man hätte annehmen können, dass sie sich auch in der Nachkriegszeit für die Belange von Schwangeren und Müttern eingesetzt hätten, waren unter der Herrschaft der Nationalsozialisten aufgelöst bzw. deren wichtigste Protagonisten vertrieben worden.23 Erst in den 1970er Jahren formierten sich dann im Rahmen der Neuen Frauenbewegung auch in der Bundesrepublik Gruppen, die eigene Vorstellungen von Schwangerschaft und Geburt formulierten und vertraten (vgl. Geyer-Kordesch/Kuhn 1986). In Großbritannien existierten demgegenüber verschiedene Interessengruppen von Frauen die versuchten, das neue System des NHS mitzugestalten und bestimmte Formen von Schwangerenvorsorge und Geburt für sich einforderten. Der National Birthday Trust Fund24 etwa entwickelte sich unter dem NHS zu einer wichtigen Gruppe, die sich für Verbesserungen im Maternity Service einsetzte (Williams 1997: 17223 Vgl. zu Helene Stöcker und dem Bund für Mutterschutz ausführlich Wickert (1991) und Usborne (1994) S. 27, 154-159; sowie übergreifend Allen (1991). Als symptomatisch für die Bundesrepublik der 1950er Jahre muss man wohl eher sehen, dass Frauen ab dem dritten Monat der Schwangerschaft aus Berufen, in denen sie in der Öffentlichkeit auftraten, entfernt wurden. Eine Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Frauen selbst fand nicht statt (vgl. Niehuss 2001: 97f.). 24 Vgl. zum National Birthday Trust Fund ausführlich Williams (1997) S. 19. 242

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183). Die Mitglieder plädierten vor allem für ein früheres Einsetzen der Vorsorge, bessere Kooperation der einzelnen Dienste des Maternity Service mit verstärktem Austausch der Befunde. Damit hatte man durchaus Einfluss auf die Gestaltung der Gesundheitspolitik; ein 1960 vom Gesundheitsministerium herausgegebener Bericht über „Human Relations in Obstetrics“ ging genau auf die vom Trust aufgezeigten Probleme ein. Der Trust engagierte sich zudem stark für das psychische Wohlergehen der Schwangeren. Allerdings muss man auch hier anfügen, dass die Anliegen von Patientinnengruppen zwar gehört wurden, aber deren Umsetzung meist an finanziellen Problemen scheiterte. Eine andere Richtung verfolgte der 1956 gegründete National Childbirth Trust, der sich ebenfalls vehement in die Diskussion um die Neuordnung des Maternity Service einmischte und zahlreiche Eingaben machte (vgl. Kitzinger 1990: 92). Die Mitglieder dieser Organisation wollten vor allem erreichen, dass Frauen ihre Kinder möglichst „natürlich“ zur Welt bringen konnten, ohne Schmerzmittel und in Anwesenheit des Ehemannes (Durward/Evans 1990: 257f.). Im Gegensatz dazu wurde im Jahr 1960 die Association for Improvements in the Maternity Service ausdrücklich mit der Zielrichtung gegründet, die Ausstattung mit Betäubungsmitteln und Anästhetika zu verbessern und die Geburtenrate in den Krankenhäusern zu erhöhen (Beinart 1990: 119; Durward/Evans 1990: 257-260). So gab es in Großbritannien ganz unterschiedliche Gruppen, die versuchten für die Belange von Frauen innerhalb des Gesundheitssystems kämpfen. Sie versuchten eine sich ausdifferenzierende Vielfalt von Patientinnenwünschen zu vertreten. Diese für die Gesundheitspolitik ganz typische Entwicklung trat im Bereich der Schwangerenvorsorge in Großbritannien wesentlich früher auf als in der Bundesrepublik. In beiden Ländern wurde dann seit den 1970er Jahren das Recht der Selbstbestimmung der Frau über diesen integralen Teil ihres Lebens wichtiger. Gleichzeitig entwickelte sich die medizinische Vorsorge immer mehr zu einem technisierten Prozess, der eine Geburt im Krankenhaus zur Selbstverständlichkeit machte (vgl. Oakley 1984: 155-170; Schenk 1992: 84-103). Feministinnen setzten sich nun sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland im Rahmen der Frauengesundheitsbewegung mit der unterschiedlichen gesellschaftlichen Perzeption von Schwangerschaft und Geburt auseinander. Der Wahrnehmung der Frauen selbst wurde dabei die Sicht der behandelnden Ärzte gegenübergestellt, die diese Ereignisse als rein medizinisches Problem definierten

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und die soziale Seite von Schwangerschaft und Geburt vernachlässigten.25

Ab s c h l i e ß e n d e B e m e r k u n g e n In der Schwangerenvorsorge setzte sich also in beiden Ländern eine medizinische, individuelle Behandlung durch, zunächst in der Praxis der niedergelassenen Ärzte. Diese Entwicklung ist für die Bundesrepublik leicht nachvollziehbar, weil es hier den Ärzten gelang, während der Ausdifferenzierung des Gesundheitswesens in der Nachkriegszeit eine Lücke zu finden und diese für sich zu reklamieren. Auch politisch ist dies wenig überraschend, da die CDU/FDP-Regierung den Ausbau eines vermeintlich sozialistischen staatlichen Gesundheitswesens verhindern wollte und ihr außerdem die niedergelassenen Ärzte als Klientel nahe standen. Ungewöhnlich erscheint lediglich, dass in den 1950er Jahren, als sich die Bundesregierung so sehr der Förderung der Familie verpflichtet fühlte, eine gesetzliche Regelung der Schwangeren- und Säuglingsfürsorge nicht mit mehr Nachdruck verfolgt wurde, obwohl dieses Problem doch einen Kernbereich der Familienförderung darstellte. Dass auch in Großbritannien die Schwangerenvorsorge unter dem NHS den niedergelassenen Ärzten übergeben wurde, ist dagegen wesentlich erstaunlicher. Denn der NHS war als Staatsgesundheitsdienst konzipiert, der sehr viel Wert auf eine umfassende Vorsorge für die gesamte Bevölkerung legte und sich deutlich von einem auf Therapie fokussierten Kassensystem unterschied. Außerdem bestand im Gegensatz zur Bundesrepublik keine Lücke im Gesundheitsangebot, sondern eine funktionierende Prävention durch die lokalen Gesundheitsbehörden. Ein wichtiger Faktor war hier die Stellung der niedergelassenen Ärzte innerhalb des neuen Staatsgesundheitsdienstes. Sie hatten als wichtigste Expertengruppe, ohne deren Mitarbeit der neue Gesundheitsdienst scheitern musste, bereits zahlreiche Sonderkonditionen herausgehandelt. Durch die British Medical Association verfügten sie über eine mächtige Interessenvertretung, der das Gesundheitsministerium oftmals nachgab. Den Bereich der Schwangerenvorsorge vermochten sie ohne größere Zusatzqualifikationen für sich zu gewinnen. Aber auch die Gesundheitsverwaltung selbst sah die Entwicklung positiv, das Argument der modernen, individuellen, medizinischen Vorsorge hatte offenbar auch in

25 Vgl. z.B. die verschiedenen Arbeiten von Ann Oakley in den 1970er und 1980er Jahren; besonders Oakley (1980); dies. (1979); dies. (1983), vgl. für die Bundesrepublik Vogt (1998). 244

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Großbritannien großes Gewicht, so dass sich diese Form der Vorsorge unabhängig vom Systemcharakter durchsetzte. In beiden Ländern profitierten zunächst die niedergelassenen Ärzte. Allerdings ging die immer hochtechnisiertere medizinisch ausdifferenzierte Schwangerenvorsorge in den 1970er Jahren in Großbritannien auf die Krankenhausambulanzen mit ihren Fachärzten über – dort gab es keine niedergelassenen Fachärzte – während sie in der Bundesrepublik zu einer der wichtigsten Einnahmequellen der niedergelassenen Gynäkologen wurde und dies bis heute ist. Der Einfluss von Frauen- und Patientengruppen auf die Präventionsmaßnahmen und generell der Aspekt der Mitbestimmung und Selbstverantwortung der Patientinnen, der alle Bereiche der Prävention in der westlichen Welt in den letzten Dekaden ganz wesentlich geprägt hat, ist in Großbritannien sehr viel früher als in der Bundesrepublik zu spüren. Nicht nur eine wachsende Zahl an Interessengruppen versuchte, die Angebote zu beeinflussen; auch von einer veränderten, selbstbewussteren Haltung der Patientinnen wird eher berichtet. Der höchst autoritäre Umgang von Ärzten mit ihren Patientinnen, der von Sewerings Zitat sehr schön illustriert wird, hielt sich offenbar in der Bundesrepublik deutlich länger als in Großbritannien. Dass diese Prozesse in Großbritannien früher abliefen, scheint auf das traditionelle Bild des britischen Vorreiters und deutschen Nachzüglers hinzudeuten. Es bestätigt aber wohl eher den Befund, dass die Zeit des Nationalsozialismus viele soziale und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland unterbrochen hat, die erst nach einigen Dekaden wieder Anschluss an die westeuropäische Entwicklung fanden. Dies zeigt sich zumindest ganz deutlich bei der Bildung zivilgesellschaftlicher Gruppen bei der der Mitbestimmung von Gesundheits- und Präventionsleistungen. Insgesamt kann man also den zumindest für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Trend hin zu einer individualisierten, medizinischen Prävention auch im traditionellen Bereich der Schwangerenvorsorge finden, und zwar sowohl in einem sozialistisch geprägten Staatsgesundheitsdienst als auch in einem Kassensystem.

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R isi kof akt or en: D er s cheinb ar unaufhalt s am e Erfolg ein e s Ansat ze s aus der am erik ani sch en Epide mi ologie in der deut sch en N ach kri egs med izi n CARSTEN TIMMERMANN

„Manche Seiten der Hygiene sind in Deutschland in bewunderungswürdiger Weise ausgebaut. Namentlich gilt das für die Erforschung der Lebensbedingungen der Seuchenerreger und von den chemischen und bakteriologischen Untersuchungsmethoden des Bodens, des Wassers und der Luft. Dagegen sind andere Seiten der Gesundheitspflege vernachlässigt worden, und zwar vorwiegend solche, die sich nicht im Laboratorium pflegen lassen. Hierher gehört vor allem die individuelle Gesundheitspflege, jene Wissenschaft, die Antwort gibt auf die Frage des Einzelnen: Was soll ich tun, dass ich gesund bleibe?“ Alfred Grotjahn (1917: 6)

Was soll ich tun, dass ich gesund bleibe? Führten wir eine Passantenbefragung in einer beliebigen Fußgängerzone durch, welche Antworten wären wohl die wahrscheinlichsten? Das Rauchen aufgeben. Nicht so fett essen. Etwas gegen meinen hohen Cholesterinspiegel tun. Mehr Sport treiben. Beta-Blocker nehmen, damit mein Blutdruck nicht so hoch wird. Diese imaginären aber durchaus realistischen Antworten 251

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richten sich auf die Kontrolle von sogenannten Risikofaktoren. Risikofaktoren wurden in den 1950er Jahren in den USA erfunden. In diesem Aufsatz soll es um die Frage gehen, wie ein importierter Ansatz, das Risikofaktorenkonzept, in beiden deutschen Staaten rezipiert wurde, vor dem Hintergrund verschiedener Gesundheitsleitbilder und längerfristiger Entwickungen in den Einstellungen der Deutschen zu Gesundheit und medizinischer Wissenschaft. Ich interpretiere die Risikofaktorenmedizin dabei als eins der jüngsten Kapitel in der Geschichte des „Homo Hygienicus“, der Mentalitätsgeschichte des Menschen in der Moderne, der sich an die Wissenschaft und speziell die Medizin wendet, wenn er nach Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben sucht (Labisch 1992). Ich werde die Rezeptionsgeschichte der Risikofaktorenmedizin in beiden deutschen Staaten schlaglichtartig anhand von Fallstudien beleuchten. Anfangs geht es um die DDR, wo ich anhand von Quellen aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften relativ genau dokumentieren kann, wie der Pharmakologe und Kreislaufforscher Albert Wollenberger den neuen Ansatz bei seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten 1954 nach Berlin mitbrachte und eine Diskussion in der Fachzeitschrift Das Deutsche Gesundheitswesen initiierte. Die neuen Methoden aus der Epidemiologie chronischer Krankheiten wurden dann in den sechziger und siebziger Jahren von Klinikern an der Charité und später dem Zentralinstitut für Herzkreislaufforschung in Berlin-Buch in großem Stil eingesetzt. Kritik an den neuen Ansätzen und am Risikofaktorenmodell kam vor allem von den Sozialhygienikern um Kurt Winter, die sich auf medizinisch-statistische Traditionen beriefen, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von Alfred Grotjahn begründet wurden. Während im relativ stark zentralisierten DDR-Gesundheitswesen einige „verschüttete Alternativen“ aus der Weimarer Republik zum Einsatz kamen, gab es in den Strukturen der westdeutschen Medizin, die wesentlich dezentraler organisiert war, stärkere Kontinuitäten mit dem nationalsozialistischen Deutschland und mit bürgerlichen Traditionslinien (vgl. Hansen et al. 1981; Süß 1998; Ernst 1997). Die Sozialhygiene war im Westen marginalisiert und fast vergessen. Für die Bundesrepublik werde ich untersuchen, wie Risikofaktoren und die amerikanisch geprägte Epidemiologie chronischer Krankheiten in den sechziger Jahren am neugegründeten Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Heidelberg unter Hans Schaefer und Maria Blohmke ihre Anwendung fanden und dabei interessante Allianzen mit älteren, bürgerlichen und spezifisch deutschen Konzepten eingingen. Ich werde auch hier auf Kritik am Risikofaktorendenken eingehen, die in der Bundesre252

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publik in den siebziger Jahren aus dem Umfeld der linken Zeitschrift Das Argument stammte und von Anhängern einer neuen, ausdrücklich kritischen Medizin. Aus diesen einleitenden Sätzen ist hoffentlich klar geworden, dass es sich bei diesem Aufsatz nicht um eine vergleichende Geschichtsschreibung im engeren Sinne handelt – dafür sind die Fallstudien zu knapp und zu unterschiedlich. Vielmehr geht es mir darum, die Rezeption dieser zunächst amerikanisch geprägten Ansätze in verschiedenen Zusammenhängen zu beleuchten, die ich für exemplarisch für die beiden deutschen Staaten halte. Während ich mich in diesem Text auf Konvergenzen konzentriere – trotz der verschiedenen Vorzeichen hat sich die Risikofaktorenmedizin in beiden deutschen Staaten auf breiter Basis durchgesetzt – gibt es zu viele Divergenzen, um sie in diesem Rahmen im Detail zu besprechen. Bevor ich mich im folgenden der Rezeption der Epidemiologie chronischer Krankheiten und der Riskofaktorenmedizin in Deutschland zuwende, zunächst aber ein paar Worte zu deren Ursprüngen in den Vereinigten Staaten.

Risikofaktoren und die Epidemiologie chronischer Krankheiten Risikofaktoren sind ein relativ junger Ansatz (vgl. Rothstein 2003). Es gibt sie erst seit den 1950er Jahren und sie sind Produkte einer neuen Forschungsrichtung in der Medizin, der Epidemiologie chronischer Krankheiten (englisch: chronic disease epidemiology). Traditionell versteht man unter Epidemiologie die Lehre vom Verlauf ansteckender Krankheiten. Der Begriff leitet sich vom griechischen epidemios ab, im Volke vorkommend, oder „am Volke beobachtbar“ (Schaefer 1965: 15). Die Epidemiologie chronischer Krankheiten entwickelte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den USA, mit dem Ziel, die Ätiologie, das heisst Ursachen und Verlauf vor allem der immer sichtbarer werdenden Herzkreislauferkrankungen aufzuklären. Ob diese zunehmende Sichtbarkeit der Ausdruck einer zunehmenden Häufigkeit dieser Krankheiten war, für die es Gründe geben musste, oder ob die Menschen in den USA und anderen entwickelten Ländern nur einfach nicht mehr so häufig an Tuberkulose starben, dafür, weil sie länger am Leben blieben, häufiger an Herzkreislaufproblemen, das gehörte zu den Fragen, die die neuen Epidemiologen beantworten mussten. Die klassische Epidemiologie beschäftigte sich mit Krankheiten, deren Inkubationszeiten relativ kurz waren. Die neuen Epidemiologen konzentrierten sich dagegen auf Erkrankungen, die sich oft über Jahre oder sogar Jahrzehnte entwickeln, und 253

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für die es schwer war, einen genauen Erkrankungszeitpunkt zu bestimmen (vgl. Dawber et al. 1962). Seit dem neunzehnten Jahrhundert gehörte es zu den Hauptzielen einer zunehmend reduktionistisch ausgerichteten wissenschaftlichen Medizin, für jede Krankheit ein spezifisches Merkmal und, wo immer möglich, ein erregendes Prinzip zu isolieren, sei dies eine Organläsion, die sich in der Autopsie nachweisen ließ, ein Mikroorganismus, der sich in Gewebeproben fand, oder eine physiologische Fehlfunktion, die sich im Labor rekonstruieren ließ (vgl. Gradmann/Schlich 1999). Zunehmend wurden Krankheiten um diese erregenden Prinzipien herum und immer weniger aufgrund klinischer Beobachtungen an individuellen Patienten klassifiziert.1 Das neue, ontologische Krankeitsmodell, mit Krankheiten die unabhängig von Patienten existieren, löste als dominanten, medizinwissenschaftlichen Ansatz das ältere, biographisch orientierte ab, das auf „Verhandlungen“ zwischen Ärzten und ihren Patienten-Patronen beruhte (vgl. Jewson 1976). Das biographisch orientierte, individuelle Krankheitsmodell verschwand dabei nicht, hat seine Nische aber vor allem im Bereich der Alternativmedizin gefunden. Herzkreislauferkrankungen spielten seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert eine zunehmend prominente Rolle in den Todesstatistiken, während Sterbefälle durch Infektionskrankheiten seltener wurden. Vielfach, in den USA vor anderen Industriestaaten, war von einer Epidemie der Herzerkrankungen die Rede. Für diese Erkrankungen erwies es sich als schwierig, wie bei den Infektionskrankheiten spezifische Erreger in den Körpern der Patienten nachzuweisen, obwohl es durchaus Verdachtsmomente gab. Die vermuteten Erreger der Herzkreislauferkrankungen, auf die sich die neue Epidemiologie konzentrierte, gehörten vor allem in den Bereich der sozialen Umwelt: Ernährung (Cholesterin), Genuss (Rauchen), Arbeit, Stress, Bewegungsarmut (Bluthochdruck und Übergewicht). Die Befürworter der neuen Epidemiologie nahmen an, dass Kombinationen dieser Faktoren über Jahre zur Krankheit führten. Die Urheber des Risikofaktorenansatzes kamen in ihrer Mehrzahl aus der konventionellen, klinisch oder physiologisch orientierten medizinischen Forschung, fanden sich aber im Feld der Sozialmedizin wie-

1

Diese Entwicklung, die im nachrevolutionären Paris des frühen 19. Jahrhunderts begann, dauert bis heute an. Sie nahm ihren Verlauf über die physiologischen Labore an deutschen Universitäten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, und wird in der jüngeren Vergangenheit vor allem von den USA dominiert, von wo seit der Zwischenkriegszeit und vor allem seit dem Ende des zweiten Weltkriegs die zell- und molekularbiologischen Ansätze der modernen Biomedizin ihren weltumspannenden Siegeszug antraten.

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der, wenn sie die Ergebnisse von Laborstudien auf den Menschen zu übertragen suchten oder sie gar für die Krankheitsprävention anwendbar machen wollten. Ein gutes Beispiel ist Jeremiah Stamler, der seine Karriere mit einer ernährungsphysiologischen Studie in den späten 40er Jahren begann, in der er die Auswirkungen einer fettarmen Diät auf Versuchs-Hühner untersuchte, die spontan zur Arteriosklerose neigten (Mitka 2004). Wir werden Stamlers Hühnern wiederbegegnen wenn wir uns anschauen, wie das Risikofaktorenmodell in der DDR rezipiert wurde. Auch der ähnlich einflussreiche Ancel Keys war Biochemiker und Physiologe, bevor er in den 50er Jahren die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerungen, vor allem hinsichtlich des Fettanteils im Essen, mit den Herzerkrankungsraten in verschiedenen Ländern verglich. Keys und seinen Studien verdanken wir es, dass die Ernährung der Mittelmeervölker und Japaner als besonders gesund gilt, während die Finnen in den Ruf gerieten, außergewöhnlich ungesund zu essen (Hoffmann 1979). Neben Stamler und Keys gehörten die Organisatoren der bekannten Framingham-Herz-Studie um Thomas Dawber zu den wichtigsten Urhebern des Risikofaktorenansatzes. Framingham ist eine Kleinstadt in Massachusetts, an deren Bewohnern die Entwicklung von Herzkreislauferkrankungen über Jahre hinweg beobachtet wurde. Die Framingham-Herz-Studie war eine sogenannte prospektive Studie, das heisst, dass bei Mitgliedern einer zu Anfang des Projektes gesunden (und möglichst repräsentativen) Versuchsbevölkerung regelmäßig Proben genommen und Messungen durchgeführt wurden und die Messwerte dann nach Jahren statistisch daraufhin ausgewertet wurden, ob sich Zusammenhänge mit der Entwicklung von Herz- und Kreislauferkrankungen zeigen ließen. Die Träger der Studie, die 1947 begann, waren ursprünglich das Departement für Präventivmedizin der Harvard Medical School, das Gesundheitsamt des Staates Massachusetts und die Sektion für Herzund Kreislauferkrankungen des US Public Health Service. 1949 wurde die Verantwortung für die Studie an das neue National Heart Institute übertragen, eine Abteilung der National Institutes of Health (NIH) in Bethesda bei Washington (vgl. Oppenheimer 2005; Dawber 1980). Framingham war nicht das einzige derartige Projekt, das in den Vereinigten Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit verwirklicht wurde, aber das bekannteste, und die Studie mit der längsten Laufzeit. 2 Die Framingham-Studie läuft noch immer und hat bis zum Jahr 2005 die Daten für 1200 wissenschaftliche Veröffentlichungen produziert. Wie Keys

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Andere Beispiele finden sich in „Measuring the Risk of Coronary Heart Disease: A Symposium“, American Journal of Public Health, 47 (1957), Nr 4. 255

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und Stamler auch, sahen es Dawber und seine Kollegen als Teil ihrer Aufgabe an, die Ergebnisse ihrer Forschung nicht nur in Fachpublikationen, sondern auch in Form von Büchern und Aufsätzen für ein weiteres Publikum zu veröffentlichen, um durch Aufklärung zur Prävention von Herzkrankheiten beizutragen (vgl. Keys/Keys 1960; Blakeslee/Stamler 1963; Dawber 1965). Ancel Key’s Gesicht zierte sogar am 13. Januar 1961 die Titelseite der Illustrierten Time. Es ist hilfreich, einen genaueren Blick auf den historischen Hintergrund dieser teuren und aufwendigen Studien zu werfen, wenn wir verstehen wollen, warum ihre Ergebnisse einen derart großen Einfluss auf das Körperverständnis zunächst der Amerikaner und zunehmend auch im Rest der Welt ausüben konnte. Die Nachkriegszeit in den USA war gekennzeichnet von zunächst fast grenzenlosem Vertrauen in die medizinische Wissenschaft und von dem Willen, gewaltige Summen von Steuermitteln für die Forschung auszugeben. Das Budget der NIH wuchs in diesen Jahren in beispiellosem Ausmaß. Ein starker Befürworter sowohl der Framingham-Studie als auch der epidemiologischen Projekte und Aufklärungskampagnen von Keys und Stamler war der Mitbegründer der American Heart Association und eminente Kardiologe Paul Dudley White (vgl. Hurst 1991). Im Unterschied zu vielen anderen amerikanischen Kardiologen war White lange davon überzeugt, dass Herzkrankheiten besser über Prävention als Intervention beizukommen war. White war auch eine treibende Kraft bei der Gründung des National Heart Institute. Als junger Arzt hatte er in London bei Thomas Lewis studiert und auch James MacKenzie kennengelernt, einen schottischen Arzt und Forscher, der in den 20er Jahren in St Andrews eine Studie begonnen hatte, die den Organisatoren von Framingham als Vorbild diente (Dawber et al. 1951). In der neuen Epidemiologie der chronischen Krankheiten vereinigten sich die Interessen der kardiologischen Elite mit den Ideen junger Physiologen, unter dem Einfluss der Gesundheitsaufklärer und finanziert von der amerikanischen Regierung. Eine überzeugende kritisch-historische Bewertung des Risikofaktorenkonzepts in seinem Ursprungsland hat der Arzt und Historiker Robert Aronowitz von der University of Pennsylvania in seinem Buch Making Sense of Illness vorgelegt (Aronowitz 1998). Aronowitz argumentiert, dass der Risikofaktorenansatz deswegen so erfolgreich war, weil er so flexibel – fast schon ambivalent – war. Risikofaktoren konnten wie Erreger interpretiert werden (auch wenn sie natürlich nur auf statistischen Korrelationen beruhten). Damit waren sie interessant für amerikanische Ärzte, die als selbständige Kleinunternehmer traditionell mehr an Interventionen interessiert waren, die sie in Rechnung stellen konnten, als an Prävention. Ein hoher Cholesterinspiegel lässt sich eben nicht nur mit 256

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einer veränderten Lebensweise angehen, man kann ihn auch mit Pillen behandeln. Auf der anderen Seite konnten sich auch Anhänger eines ganzheitlichen Körperverständnis mit Risikofaktoren anfreunden, die sich über Stress und die Belastungen der Moderne für den Menschen Sorgen machen. Der Risikofaktorenansatz betonte die individuelle Verantwortung für die eigene Gesundheit, das passte zur Konsumkultur der Nachkriegszeit. Klassische Ansatzpunkte der Sozialhygiene, wie zum Beispiel die Wohnungssituation oder Armut waren dagegen schwerer zu handhaben und verschwanden aus der Diskussion, obwohl statistische Korrelationen mit Herz- und Kreislauferkrankungen durchaus nachgewiesen werden konnten. Sie waren zu unspezifisch, konnten nicht direkt mit physiologischen Wirkungsmechanismen zur Deckung gebracht werden, und es gab auch keine Pillen gegen Armut. Soviel zum Hintergrund. Wir werden uns nun ansehen, wie der Risikofaktorenansatz in Deutschland ankam. Dazu wenden wir uns zunächst nach Osten.

Risikofaktoren, Sozialhygiene und die neue E p i d e m i o l o g i e d e r c h r o n i s c h e n Kr a n k h e i t e n i n der DDR In der DDR kam die neue Epidemiologie aus den USA schon im Jahr 1954 an, noch vor der Veröffentlichung der ersten FraminghamPublikationen, und zwar im Gepäck des in Amerika ausgebildeten Albert Wollenberger, der gerade zum Direktor der neuen Arbeitsstelle für Herz- und Kreislaufforschung der Akademie der Wissenschaften ernannt worden war. Wollenberger war als Medizinstudent in Berlin Anfang der 30er Jahre der KPD beigetreten und 1933 aus Deutschland emigriert, erst in die Schweiz und nach Frankreich, und später über Dänemark in die USA. Er studierte Medizin und Biologie an der Harvard-Universität und promovierte sich am pharmakologischen Institut, wo er mit Fritz Lipmann und Otto Krayer über die Biochemie des Herzversagens forschte. 1951 verließ er die USA, wo Kommunisten zunehmend mit Schwierigkeiten rechnen mussten (vgl. Rapoport 1997). Er arbeitete zunächst in Kopenhagen, London und Uppsala, bevor er 1954 als Oberassistent an die Humboldt-Universität kam, schon mit dem Versprechen in der Tasche, dass ein Akademie-Institut für Herz- und Kreislaufforschung eingerichtet werden würde, für dessen biochemische Abteilung er dann zuständig sein sollte. Wollenbergers wissenschaftlicher Werdegang, als Physiologe und Pharmakologe, der sich auch für die weiteren Zusammenhänge interessierte, war also nicht grundsätzlich anders als

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die frühen Karrieren von Keys und Stamler (Kutschmar/Hoffmann 1983; Timmermann 2005). Im Oktober 1956 veröffentlichte die Zeitschrift Das Deutsche Gesundheitswesen in einem Themenheft mit Beiträgen von Mitgliedern des noch relativ jungen Arbeitskreises für Kreislauffragen zwei Aufsätze Wollenbergers, in denen er Ansätze aus der neuen chronic disease epidemiology auf DDR-Bedingungen anwendete. Der erste Artikel folgte unmittelbar auf das Vorwort des Vorsitzenden des Arbeitskreises, A. Krautwald, und war der Verbreitung der Herz- und Kreislaufkrankheiten in der Deutschen Demokratischen Republik gewidmet; der zweite behandelte das Problemfeld Kreislaufkrankheiten und Ernährung (Wollenberger 1956a; Wollenberger 1956b). 3 Die Herz- und Kreislaufkrankheiten waren zu diesem Zeitpunkt auch schon auf dem Radar der Gesundheitspolitik erschienen. So war der Arbeitskreis für Kreislauffragen auf Anregung des Ministeriums für Gesundheitswesen ins Leben gerufen worden. Ein Beschluss des Ministerrates über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung am 8. Juli 1954, sah zudem unter anderem die Einrichtung eines Institutes für Kreislaufforschung vor, neben einem Pawlow-Institut, und von Instituten für Hygiene, Kinderschutz, Sportmedizin, und Blutforschung und Blutspendewesen. Vorgesehen waren überdies die Errichtung weiterer Polikliniken, Landambulatorien und Einrichtungen des Betriebsgesundheitsschutzes und die Fortführung des „kämpferischen Meinungsstreit[es] zwischen der fortschrittlichen humanitären Lehre Pawlows und dualistischen Theorien der Psychosomatik sowie anderen idealistischen Auffassungen“ (Fischer et al. 1979, 86). Der Beschluss forderte auch eine gründlichere medizinische Aufklärung der Bevölkerung: „Die Bevölkerung wird noch zuwenig für den Kampf um die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und für die eigene Mitarbeit an der Festigung ihrer Gesundheit mobilisiert“ (Fischer et al. 1979: 87). Hier scheint sich schon klar zu entfalten, was Niehoff und Schrader in einem interessanten Aufsatz über Gesundheitsleitbilder in der DDR als „Pfadfinderideologie“ beschreiben, eine Mentalität, die sich langfristig gut mit Risikofaktorenansätzen vereinbaren ließ (Niehoff/Schrader 1991: 54). Das Gesundheitswesen in der DDR sei verwurzelt in der gesundheitspolitischen Ideengeschichte der deutschen Arbeiterbewegung, schreiben Niehoff und Schrader, zentralisiert und verstaatlicht, einseitig ausgerichtet auf Erhaltung der Arbeitskraft. „Das politische Leitbild für den Umgang mit der Gesundheit war deshalb fast unausweichlich hochgradig medizinisch besetzt und ent3

Vgl. auch: 7 Jahre Arbeitsstelle für Kreislaufforschung, Tätigkeitsbericht, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, FG 79.

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sprach in den politischen Sinngebungen am ehesten einer Pfadfinderideologie vom ‚richtigen‘ Leben“ (Niehoff/Schrader 1991: 54). Allerdings hielten zu diesem Zeitpunkt in der DDR noch die Sozialhygieniker die Deutungsmacht in Fragen der präventiven Medizin in ihren Händen, und Wollenberger sah sich mit ausgesprochen kritischen Reaktionen auf seine Aufsätze konfrontiert. Mit seinen Artikeln hatte er sich auf das Gebiet der Sozialhygiene gewagt. Die Kritik des Sozialhygienikers Kurt Winter soll mir hier dazu dienen, Licht auf die Verteilung der Deutungsmacht in der DDR in diesen Jahren zu werfen, im Bereich dessen was wir heute als Präventivmedizin bezeichnen und was dort als Prophylaxe bekannt war. Kurt Winter war 1956 gerade zum Professor und kommissarischen Direktor des Instituts für Sozialhygiene der Humboldt-Universität ernannt worden. Winter berief sich bewusst auf die Traditionen, die Grotjahn dort begründet hatte.4 Der Rheinländer hatte, wie Wollenberger, Anfang der 30er Jahre sein Medizinstudium in Deutschland begonnen und im Exil beendet, in Winters Fall in der Schweiz. Winter arbeitete danach einige Jahre weiter in der Schweiz, ging 1937 als Arzt der Internationalen Brigaden nach Spanien und dann über Paris und Oslo nach Schweden, wo er bis 1946 blieb. Er arbeitete unter anderem als Assistent in der zellphysiologischen Abteilung des Werner-Grens-Institutes an der Universität Stockholm und als wissenschaftlicher Assistent beim Sozialarzt der schwedischen Hauptstadt. Nach seiner Rückkehr war er zunächst Amtsarzt in Teltow, bekleidete dann eine Reihe von Ämtern in der Gesundheitsverwaltung bis hinauf zum Vizepräsidenten der Deutschen Zentralverwaltung für Gesundheitswesen. Ab 1950 war er am Institut für Sozialhygiene der Berliner Humboldt-Universität tätig, zunächst als wissenschaftlicher Assistent, Oberarzt und Dozent (Schagen/Schleiermacher 2005; Schorr 1987). Die enge Verbindung mit der Gesundheitsverwaltung ist bezeichnend für die Sozialhygiene. Nicht nur die deutschen, auch die amerikanischen Epidemiologen arbeiteten eng mit staatlichen Stellen zusammen. Wollenbergers Aufsatz zur Verbreitung der Herz- und Kreislaufkrankheiten basierte vor allem auf Statistiken, für die sich der Autor bei der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (als Teil der Staatlichen Plankommission), der Abteilung Statistik beim Magistrat von GroßBerlin und dem Referat Statistik der Versicherungsanstalt Berlin bedankte. Seine Anleihen bei der amerikanischen chronic disease epidemiology sind allerdings auch unübersehbar. Die Literaturliste umfasst insgesamt nur zwei Einträge, von denen einer auf einen Vortrag von An4

Wie bei Traditionen oft der Fall, ist die Rede hier von einem idealisierten Grotjahn, bereinigt um seine diskreditierten rassenhygienischen und sozialdarwinistischen Ansichten. 259

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cel Keys im Jahre 1954 hinweist. In seinem Aufsatz bescheinigt Wollenberger der DDR eine epidemiologische Transition: Chronische Krankheiten wie Krebs und eben die Herzkreislauferkrankungen hätten wie in anderen technisch entwickelten Ländern ansteckende Krankheiten als Hauptursachen für Tod und Arbeitsunfähigkeit abgelöst, und die Tendenz sei steigend. Da jedoch bisher in der Deutschen Demokratischen Republik Sterblichkeitsziffern nicht veröffentlicht worden seien und nur spärliche Informationen über den Krankheitsstand der Bevölkerung zur Verfügung stünden, sei diese Tatsache der Ärzteschaft in nur unzureichendem Maße bewusst geworden (Wollenberger 1956b). Auch im zweiten Aufsatz, den Wollenberger für das Themenheft schrieb, zur Rolle der Ernährung (einem klassischen Risikofaktorenterrain!), beruft er sich mehrfach auf Arbeiten von Keys. Die zentrale These ist, dass die „noch immer weitverbreitete Auffassung, daß das Gros der Herz- und Kreislauferkrankungen unabwendbare Altersschäden darstellt, [...] heute wissenschaftlich nicht mehr vertretbar“ sei (Wollenberger 1956a). Vielmehr seien die wichtigsten dieser Krankheiten, nämlich Arteriosklerose und Hypertonie, „weitgehend umweltbedingt“, und der wichtigste Umweltfaktor in diesem Zusammenhang sei „die tägliche Nahrung“ (ebd.). 1955 führte Wollenberger selber Experimente zu diesem Thema durch, während derer er die Effekte cholesterinhaltigen Futters auf die Gesundheit von Hähnen untersuchte.5 Diese Experimente ähnelten denen Stamlers, bevor dieser sich epidemiologischen Studien zuwandte. Im Text bezieht sich Wollenberger allerdings nicht auf seine eigenen Experimente, sondern vor allem auf amerikanische Veröffentlichungen. Im Mittelpunkt steht Wohlstand und nicht mehr Mangel: Fett und Kochsalz seien die Hauptverdächtigen. Eine statistische Untersuchung anhand von New Yorker Lebensversicherungsdaten, die auch zur Begründung der Framingham-Studie herangezogen wurde, diente Wollenberger als Beleg dafür dass eine geringere Lebenserwartung bei Menschen mit Übergewicht „in erster Linie der Neigung des fettleibigen Menschen zu Kreislauferkrankungen mit tödlichem Ausgang zuzuschreiben ist“ (Wollenberger 1956a). Die gleichen Statistiken zeigten, so Wollenberger, dass Gewichtsverminderung zu erhöhter Lebenserwartung führe. Zum Zwecke der Prophylaxe erscheine also eine generelle Kontrolle der Kalorienund Fettzufuhr, wie sie auch Keys angeregt habe, „durchaus nicht ungerechtfertigt“ (Wollenberger 1956a: 1415). Winter hielt es für „sehr verdienstvoll, dass Wollenberger sich mit der sozialhygienischen Problematik der Herz- und Kreislaufkrankheiten

5

Bericht über Cholesterol-Versuche mit Hähnen, 1.8.1957, Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, AKL 57.

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in der Deutschen Demokratischen Republik erstmalig befasst hat“ (Winter 1957: 327). Allerdings bedürften einige Fragen, die dabei aufträten, einer weiteren Diskussion. Winter stellte vor allem infrage, ob es sich bei dem Mortalitäts- und Morbiditätsanstieg, den Wollenberger in den Statistiken fand, um eine „echte Zunahme“ handelte, oder ob diese nicht vielmehr auf veränderte Sterblichkeit allgemein und eine veränderte Praxis der Diagnosestellung seit den 30er Jahren zurückzuführen sei. Mit anderen Worten: er hielt die Daten für nicht verlässlich genug, um zu den weitreichenden Schlüssen zu kommen, die Wollenberger zog. „Nur eine sehr umsichtige und detaillierte Bearbeitung des vorliegenden Zahlenmaterials, mit der wir uns z.Z. beschäftigen, wird zeigen, ob die aufgeworfenen Fragen mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit beantwortet werden können“ (Winter 1957: 331). Winters Beschäftigung mit diesen Fragen führte zur Veröffentlichung eines kleinen Buches über Die Bedeutung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Winter 1962). Auch hier rief er weiter zur Vorsicht im Umgang mit Statistiken auf und warnte vor Fehlurteilen aufgrund allgemeiner Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur und einer veränderten diagnostischen Praxis. Zur Diagnosepraxis, vor allem aufgrund der zunehmend weiteren Verbreitung neuer Technologien, zitiert er den Arbeitskreisvorsitzenden Krautwald mit der Bemerkung, dass „die Elektrokardiographie sich in gleicher Weise bei Arzt und Patienten einer relativen Beliebtheit erfreut, da jener nicht selten erhofft, ohne Aufwand einiger Mühe und gedanklicher Arbeit eine Beurteilung des Herzens und damit eine Diagnose zu erhalten, und dieser wenigstens gewiss ist, durch die Art der Untersuchung nicht sonderlich belastet oder gar gefährdet zu werden.“ (Winter 1962: 25)

In seiner Antwort auf Winter äußert sich Wollenberger erfreut darüber, dass seine Zusammenstellung von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten „die Sozialhygieniker dazu veranlasst hat, sich mit diesem Problem zu beschäftigen“ (Wollenberger 1957: 781). Im Wesentlichen bleibt er aber dabei: der Anstieg sei echt, und wahrscheinlich hätte er mit Ernährung zu tun. Dennoch folgte Wollenberger nicht dem Beispiel von Keys. Vielmehr wandte er sich von der epidemiologischen Forschung ab, widmete sich vollständig der Zellbiologie des Herzens und erreichte mit seinen Arbeiten, die er vor allem auf Englisch publizierte, internationales Ansehen. Wollenberger war einer der Gründer und der zweite Präsident (1973-1976) der International Society for Heart Research. In der DDR war er eher unbekannt und wesentlich weniger präsent in der Pres-

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se als andere Akademie-Wissenschaftler6, bis er in den 70er Jahren eine neue – nicht ganz unverwandte – öffentliche Rolle spielte, als Waldläufer und Schirmherr der „Lauf Dich Gesund!“-Kampagne. Wie Niehoff in mehreren Aufsätzen anmerkt, verloren die Sozialhygieniker seit den späten 60er Jahren zunehmend an Einfluss auf die Gesundheitspolitik in der DDR (z.B. Niehoff 1999). Stattdessen etablierte sich eine klinisch orientierte Epidemiologie der chronischen Krankheiten nach amerikanischem Modell, und die verhaltensorientierte Prävention, die sich auf das Risikofaktorenkonzept berief, nahm die Stelle der vor allem verhältnisorientierten Prävention ein, der sich die Sozialhygiene verschrieben hatte. Winter und seine Mitarbeiter und Schüler blieben auch weiterhin skeptisch, so zum Beispiel in einem 1967 veröffentlichten Aufsatz. Er und seine Mitautoren fanden an einem Artikel von Hinkle über „Some social and biological correlates of coronary heart disease“ in Social Science and Medicine „vor allem interessant, dass er nichts neues mitteilt, was in mancher Hinsicht die derzeitige Lage charakterisiert“ (Winter/Lemke/Kreuz 1967: 19). Sie warnten auch weiterhin vor leichtfertigen Schlussfolgerungen aufgrund unverlässlicher (Sterbe-)Statistiken und vor dem Hintergrund schlecht definierter und unspezifischer diagnostischer Kategorien. Allerdings wären gut organisierte und geplante epidemiologische Studien zu begrüßen. Jens-Uwe Niehoff kritisierte 1978 als junger Mitarbeiter an Winters Hygieneinstitut an der Humboldt-Universität die Hinwendung zum Risikofaktorenkonzept in einem zweiteiligen Aufsatz in der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung (Niehoff 1978). Niehoffs Kritik brachte ihm nach eigenen Angaben zwar über 250 Sonderdruck-Anfragen ein, aber auch eine Rüge durch den Minister und Misstrauen von Seiten der „HerzKreislauf-Leute“ – letztlich blieb sie jedoch fruchtlos. „Wer 1978 gegen Risikofaktoren war,“ sagte Niehoff im August 2001 in einem Gespräch mit dem Autor, „der stand völlig quer zum Mainstream“. In seinem kritischen Aufsatz hatte er geschrieben, dass Risikofaktoren keine solide theoretische Basis hätten; sie suggerierten kausale Zusammenhänge, wo diese nicht unbedingt vorlägen und seien intellektuell unlauter. Viele Experten waren sich dessen allerdings durchaus bewusst; Risikofaktoren waren für sie ein nützliches heuristisches Werkzeug, ein Provisorium, das es erlaubte, statistische Korrelationen zu diskutieren, für die kausale Erklärungen – noch – nicht vorlagen. Allerdings gab es Unschärfen, und manche nahmen diese gerne in Kauf. So schrieb der (westdeutsche) 6

Hier ist zum Beispiel Rudolf Baumann zu nennen, der Direktor des Pawlov-Institutes, das während der Akademiereform mit Wollenbergers Institut zum Zentralinstitut für Herzkreislaufforschung zusammengelegt wurde (vgl. Timmermann 2005).

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Bluthochdruckspezialist Klaus Dieter Bock 1982, dass Risikofaktoren „Haupt- oder Teilursachen von Krankheiten und Krankheitskomplikationen“ seien (Bock 1982: 7). Und natürlich waren die Risikofaktoren vor allem deshalb so wirkungsmächtig, weil sie von den Massenmedien als Quasi-Krankheitsursachen diskutiert wurden, und weil sich Resonanzen mit archaischen Erklärungen ergaben, nach denen Krankheiten Bedeutung trugen und durch unmoralisches Verhalten erzeugt wurden, und nicht etwa durch weiter bestehende soziale Ungleichheiten (vgl. Labisch 1992). Im Gegenzug konnte man sich Gesundheit durch Askese erwerben, durch fettarmes Essen, Sport und Genussverzicht. Dieser Ansatz vertrug sich nur schlecht mit Winters (und Niehoffs) Denken, wonach Gesundheit auch Genussfähigkeit war. Die Wende hin zum Risikofaktorendenken und zur neuen chronic disease epidemiology in der akademischen Medizin in der DDR hatte viele Gründe und begann schon Mitte der 60er Jahre mit einer Reihe von Bevölkerungsstudien (Straube 1967; Knappe et al. 1971; Böthig et al. 1972). Eine der ersten war die von Siegfried Böthig organisierte epidemiologische Herzkreislauf-Studie in Berlin-Mitte (Böthig et al. 1970). Epidemiologische Untersuchungen wie die Berlin-Mitte-Studie folgten nicht nur inhaltlich amerikanischen Modellen, viele wurden auch – wie Framingham – von Medizinern organisiert, die sich der Klinik wesentlich stärker verbunden fühlten als den Sozialwissenschaften. In dieser Hinsicht standen sie vollständig im Einklang mit den Idealen der Framingham-Studie. Deren Direktor, Thomas Dawber, ein Internist, betrachtete Epidemiologie als „clinical observation on a community level“ (Oppenheimer 2005: 608). Die Studie sollte von Ärzten kontrolliert werden; die Einbeziehung von Sozialwissenschaftlern hielt er nicht für nötig (vgl. Aronowitz 1998: 135). Ein weiterer entscheidender Schritt hin zur vollständigen Dominanz solcher Ansätze war die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Weltgesundheitsorganisation im Jahre 1973. Hatte die DDR schon seit den frühen 1960er Jahren Beobachter nach Genf geschickt, so konnte sie jetzt an den Initiativen der Organisation aktiv teilnehmen. Niehoff weist in einem Aufsatz von 1999 darauf hin, „daß das internationale Anerkennungsstreben der DDR immer auch die Tendenz erzeugte, Musterschüler in internationalen Projekten, z.B. solchen der WHO zu sein“ (Niehoff 1999: 113). So waren DDR-Vertreter zum Beispiel aktive Teilnehmer der WHO-MONICA- Herz-Studie (MONItoring Trend and Determinants of CArdiovascular Diseases), und sowohl Böthig als auch seine Ehefrau, mit der er eng zusammenarbeitete, waren zeitweise in Genf im Hauptquartier der Organisation tätig (vgl. Tunstall-Pedoe 2003).

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Die neuen Epidemiologen kamen aus der Charité, aus dem Umfeld von Harald Dutz, einem einflussreichen Kardiologen. Mit der Akademiereform und der Einrichtung des Zentralinstitutes für Herzkreislaufforschung in Berlin-Buch im Jahre 1972, zog die neue Epidemiologie auch dort ein (vgl. Timmermann 2005; zur Akademiereform: Reindl 1999; Bielka 1997). Das ganze Institut wurde wesentlich stärker klinisch ausgerichtet, und die Epidemiologie der chronischen Krankheiten vertraten dort fortan vor allem Hans Dieter Faulhaber und Lothar Heinemann. Faulhaber war ursprünglich Pharmakologe, hatte an der Charité mit Dutz gearbeitet und sich auf Hypertonie spezialisiert. Er war nach abgeschlossener zweiter Facharztausbildung, für klinische Medizin, 1972 an das Zentralinstitut nach Buch gekommen, wo er relativ schnell Chef der Poliklinik wurde und als stellvertretender Institutsdirektor unter Rudolf Baumann eine Gruppe für Epidemiologie bildete. Er koordinierte unter anderem eine Studie in Berlin-Pankow, in Abstimmung mit der WHO. Das Hypertonie-Programm unter Faulhaber drehte sich vor allem um „die Erkennung und effektive Langzeitbetreuung, also die sogenannten sekundäre Prophylaxe der Hypertonie“ (Faulhaber/Manke 1981). Es ging um Prävention durch Intervention beim Individuum, Behandlung, Überwachung, Betreuung. In einer Zwischenbilanz der Aktivitäten im Rahmen des WHOMONICA-Projektes, die Faulhabers Bucher Kollege Lothar Heinemann 1987 für Spectrum, das populärwissenschaftliche Magazin der Akademie der Wissenschaften verfasste, ist von Verhältnisprävention und Sozialumwelt nicht die Rede. Heinemann hatte sich 1972 an der Charité als Facharzt für innere Medizin qualifiziert, und 1976 für Kardiologie. Er besaß auch Qualifikationen in Psychologie und hatte mit Böthig an der Studie in Berlin-Mitte gearbeitet. 1982 bis 1984 koordinierte er das MONICA Projekt in der DDR und wirkte in mehreren anderen WHOProjekten mit. Heinemann erklärte in seinem Spectrum-Artikel, dass in allen industrialisierten Staaten und damit auch in der DDR ein gesteigertes Gefährdungspotential von chronischen Erkrankungen ausgeht, betonte dass diesen vorgebeugt werden könne, und verortete die Verantwortung für diese Vorbeugung vor allem beim einzelnen Bürger, der entsprechend aufgeklärt werden müsse (Heinemann 1987). Abgesehen von einem gehörigen Maß sozialistischer Rhetorik im Text war der Ansatz nicht wesentlich anders als im Westen. Und in der Tat ist Heinemann nach der Wende gut im Kapitalismus angekommen. Heute führt er das private Zentrum für Epidemiologie und Gesundheitsforschung in Berlin,

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das im Auftrag öffentlicher Körperschaften aber auch privater Firmen epidemiologische und klinische Studien durchführt.7

„Sozialmedizin ist nicht sozialistische Medizin“ – Ri s i k o f a k t o r e n i n W e s t d e u t s c h l a n d Anders als in der DDR spielte die Sozialhygiene in der Bundesrepublik eine untergeordnete Rolle und geriet nach dem Krieg in Vergessenheit. Eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, war Hans Harmsen, Professor für Allgemeine und Soziale Hygiene in Hamburg, der sich schon vor 1945 als Rassen- und Sozialhygieniker profiliert hatte (vgl. Schleiermacher 2004). Für Hans Schaefer allerdings, dem Autor des ersten westdeutschen Lehrbuchs für Sozialmedizin und Leiter des Heidelberger Institutes für Sozial- und Arbeitsmedizin von 1960 bis 1974, waren die Wurzeln der Sozialmedizin amerikanisch: „Die Entwicklungsgeschichte in Deutschland ist rasch erzählt. Soziologische Arbeiten im strengeren Sinn gab es vor 1960 bei uns kaum“ (Schaefer 1986: 263). Manfred Pflanz sei „der einzige wissenschaftlich ernst zu nehmende Vertreter dieser Forschungsrichtung“ (Schaefer 1986: 263). In seinen Memoiren erwähnte Schaefer die Sozialhygiene nicht und berief sich stattdessen auf die Soziologie Talcott Parsons’. Der Physiologe Schaefer hatte bis kurz nach Ende des Krieges kommissarisch das Kerckhoff-Institut für Herzkreislaufforschung in Bad Nauheim geleitet und war dann einem Ruf nach Heidelberg gefolgt. 1960 fragte das baden-württembergische Parlament bei ihm an, ob er Pläne für ein arbeitsmedizinisches Institut entwickeln könnte. Schaefer entgegnete, dass die Sozialmedizin wichtiger sei als die Arbeitsmedizin, aber anders als diese institutionell „noch gar nicht existiere“ (Schaefer 1986: 263). Die Lehre von der Krankheitsvorsorge habe zu dieser Zeit in den Händen der Hygieniker gelegen, aber die fühlten sich nicht für chronische Krankheiten zuständig. Schaefer erinnert sich: „Ich werde nie vergessen, wie noch etwa um 1970 in einer Konferenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwei namhafte Vertreter der Hygiene es sich verboten, Epidemiologie woanders als in der Seuchenlehre beheimatet zu sehen und die Konferenz verließen, als ich sie auf den Fortschritt in den USA hinwies“ (Schaefer 1986: 227). Das Heidelberger Institut wurde 1962 gegründet, mit Schaefer als geschäftsführendem Direktor und Maria Blohmke als wissenschaftlicher Mitarbeiterin.

7

Vgl. ZEG-Website, http://www.zeg-berlin.de/ (zuletzt eingesehen am 8.5.2009). 265

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Sozialmedizin war für Schaefer ein „ökologisches Fach“ und ihn interessierten vor allem physiologische Zusammenhänge – die Mechanismen, über die die Umwelt den Menschen krankmachen konnte – und weniger die Statistik. Nur weil statistische Zusammenhänge festgestellt worden seien, dürfe man nicht auf eine kausale Erklärung verzichten. Die Umwelt wirke auf die emotionale Sphäre des Menschen, vermittelt durch Hormone und das vegetative Nervensystem, und solche Einflüsse seien durchaus benennbar. Bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten in den 50er Jahren wurde Schaefer in die Stress-Theorien Hans Selyes eingeführt und er begann sich für die Regulation des Herzens und für psychosozialen Stress als Ursache von Herzkrankheit zu interessieren. Neben Talcott Parsons und Selye bezog sich Schaefer auch auf Pfarrer Kneipp, Erich Fromm und Konrad Lorenz (Schaefer 1986: 268). Im Allgemeinen berief man sich in der BRD in der Gesundheitsfürsorge und Präventivmedizin auf bürgerliche Traditionen (und gentrifizierte Figuren der Alternativmedizin wie Kneipp), aber nicht auf die „verschütteten Alternativen“ der Zwischenkriegszeit (Hansen et al. 1981). Schaefer war praktizierender Katholik, die Wertvorstellungen des gebürtigen Rheinländers waren christlich-katholisch geprägt, er engagierte sich gegen Atomwaffen und für den Dialog zwischen Kirche und Wissenschaft sowie für eine offene Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Schon in den frühen 60er Jahren galt er als „das Gewissen der deutschen Medizin“ (Schipperges 1986: 127). Schaefer betonte allerdings auch, dass Sozialmedizin und medizinische Soziologie nicht gleichzusetzen seien mit Medizinkritik. Dass sie oft so interpretiert würden, sei erklärbar sowohl durch die Ablehnung des Faches durch „das medizinische Establishment“, als auch durch „die erhebliche Unterwanderung [...] mit linken Ideologen“ (Schaefer 1986: 263). Seine Haltung sei immer gewesen, „jede Ideologie von diesem Fach fernzuhalten und es streng wissenschaftlich zu begründen, d.h. es mit Physiologie zu sättigen“ (Schaefer 1986: 263). Das Fach Sozialmedizin orientierte sich in Westdeutschland ansonsten stark in Richtung psychologischer Erklärungen und philosophischer Anthropologie. Manfred Pflanz zum Beispiel, von 1967 bis 1980 Professor für Epidemiologie und Sozialmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und neben Schaefer wohl der wichtigste Vertreter des Faches, hatte nach dem Medizinstudium in den 40er Jahren Psychologie studiert und sich auch einer psychoanalytischen Lehranalyse unterzogen. 1961 hatte er sich in Gießen bei Thure von Uexküll – einem bekannten Befürworter ganzheitlicher Ansätze in der Medizin, den auch Schaefer zu seinen Freunden zählte – für innere und psychosomatische Medizin habilitiert (Schagen/Schleiermacher 2005). Maria Blohmke, Schaefers 266

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Mitarbeiterin in Heidelberg und Ordinaria ab 1975, die mit ihm das dreibändige Handbuch der Sozialmedizin herausgab, berief sich auf die philosophische Anthropologie Arnold Gehlens, der uns Menschen als nicht angepasste „Mängelwesen“ ohne Instinkte beschrieb. Da der Mensch mangelhaft angepasst sei, seien wir in der Natur nicht lebensfähig und müssten das durch Anpassung der Umwelt, also durch Kultur kompensieren. Es mangele uns allerdings auch an angeborenen Bewertungsmaßstäben zur Einordnung von Umweltreizen, und das könne zu Reizüberflutung führen. In Anlehnung an Gehlen und Alfred Weber argumentierte Blohmke, dass es die industrielle Revolution, die zunehmende Industrialisierung auch geistiger Arbeit und die resultierende Entfremdung war, die – auf dem Umweg über physiologische Prozesse – Menschen am Herzen erkranken ließ (Blohmke 1966). Herzerkrankungen waren Zivilisationsfolgen. Blohmke, Tochter eines Professors der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, war eigentlich Internistin, konnte aber wegen einer schweren Tuberkulose-Erkrankung in den 50er Jahren nicht mehr in der Klinik arbeiten. Während ihrer Krankheit begann sie sich für die Geisteswissenschaften zu interessieren. 1955 bekam sie eine Stelle bei der Hoechst AG angeboten, zunächst als medizinische Beraterin des chemischen Direktoriums, später als Direktionsassistentin in der Pharma-Sparte. Bei Hoechst sammelte sie Erfahrungen im Umgang mit Großrechnern, die ihr in ihrer späteren Forschung nützlich wurden. 1958 wurde sie Referentin bei der DFG in Bonn. Schaefer bat ihr eine Stelle am neuen Institut in Heidelberg an, nachdem er sie bei einer Sitzung des DFG-Arbeitskreises HerzKreislauf kennengelernt hatte. In einem Gespräch mit dem Autor im März 2001 betonte Blohmke immer wieder, wie wichtig in ihren Augen Computer für die neue Epidemiologie und damit die Sozialmedizin seien. Sie habe die Framingham-Veröffentlichungen gelesen und rezipiert und sei 1964 in die USA gereist. Epidemiologie war für sie zu diesem Zeitpunkt offensichtlich primär eine technische Herausforderung; an sozialen Dimensionen war sie weniger interessiert. Das wichtigste erfuhr man, so erinnerte sie sich, von Leuten, die Computer-Ausdrucke lasen. Sie verschaffte dem Institut Zugang zu einem Großrechner im Institut für theoretische Physik, den sie nachts benutzten durfte, und stellte einen Physiker und einen Soziologen ein, der bei Dahrendorf studiert hatte. 1966 habilitierte sie sich für Arbeitsphysiologie; Sozialmedizin sei nicht durchsetzbar gewesen. Im folgenden Jahr, 1967, erhielten Schaefer und Blohmke eine halbe Million Mark von der Volkswagen-Stiftung, um in einer eigenen Bevölkerungsstudie, der sogenannten Heidelberger Studie, den Einfluss sozialer Faktoren bei der Entstehung koronarer Herzkrankheiten zu erfor267

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schen. Unterstützt wurden sie auch von der Heidelberger Stadtverwaltung, die ihre Angestellten dazu abordnete, an der Studie teilzunehmen. Allerdings fehlte es ihnen in Schaefers Worten an „methodischem Rüstzeug“ und sie kannten die internationale Literatur nicht gut genug (Schaefer 1986: 304). „Die Studie,“ so Schaefer, „war dennoch eine erste Chance, in Deutschland Epidemiologie zu lernen“ (Schaefer 1986: 304). Die Ergebnisse nebst philosophischer und ätiologischer Rahmenerwägungen und Schlussfolgerungen veröffentlichten sie zehn Jahre später in einer Monographie, einem „rasanten Buch“, so Schaefer, „das von Jahr zu Jahr mehr Recht behält“ (Schaefer 1986: 304): Herzkrank durch psychosozialen Stress (Schaefer/Blohmke 1977). Bei Blohmke und Schaefer sind Risikofaktoren mehr als nur heuristische Krücken (vgl. Abb. 1). Risikofaktoren seien „solche und nur solche den Menschen beeinflussenden Prozesse, welche Krankheit selber hervorrufen (Faktor von facere!)“ (Schaefer/Blohmke 1977: 18). Zudem gebe es Risikoindikatoren, die von Risikofaktoren nicht immer klar zu unterscheiden seien. Wiederkehrende „Bündel von Risikofaktoren [...], die bestimmten Lebenssituationen eigentümlich sind“, bezeichnen die Autoren als „Risikosituationen“ (Schaefer/Blohmke 1977: 18). Da nicht jeder auf Umwelteinflüsse gleich reagiere, sei es sinnvoll, die jeweiligen persönlichen Eigenschaften als „Risikopersönlichkeit“ zusammenzufassen. Bei der Definition von Risiko beriefen Schaefer und Blohmke sich auf die lateinischen Wurzeln: risicare, ein Riff umschiffen. Risiko bedeute in diesem Zusammenhang eine unsichtbare Gefahr, ein Riff im Wasser, dem durch Umfahren entgangen werden könne: „Risikoerkennung ist die Grundlage der Prävention“ (Schaefer/Blohmke 1977: 18). In den frühen siebziger Jahren, nach den gesellschaftlichen Umbrüchen von 1968, änderte sich auch das Umfeld der Sozialmedizin. Soziologie wurde politischer – oft mit Tendenz nach links – und gewann eine Deutungsmacht, die heute nur noch schwer vorstellbar ist. Blohmke überwarf sich mit Schaefer und bewarb sich in der Folgezeit auf verschiedene Stellen, doch „immer saß die gleiche linke Gruppe in der ersten Reihe“.8 1975, erinnert sie sich, nachdem sie Rufe aus Mainz und Gießen erhalten habe, habe sich der Dekan dafür eingesetzt, dass die politisch konservativ eingestellte Blohmke als Institutsdirektorin in Heidelberg blieb, „sonst wäre ein Linker gekommen“.9 Dass sich in der Sozialmedizin um diese Zeit tiefe Gräben zwischen links und rechts auftaten, wurde auch auf der Linken kommentiert (vgl. Haug 1972).

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Gespräch mit dem Autor, München, 18.03.01. Gespräch mit dem Autor, München, 18.03.01.

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Abbildung 1: Das Risikofaktorenmodell nach Schaefer und Blohmke.

Quelle: Schaefer, Hans/ Blohmke, Maria (1977): Herzkrank durch psychosozialen Stress, Heidelberg: Dr Alfred Hüthig Verlag, S. 176.

Die Kluft hatte vermutlich sowohl mit der politischen Situation in der Bundesrepublik nach 1968 zu tun, als auch mit medizin- und psychiatriekritischen Stimmen, wie der Ivan Illichs, die sich speziell gegen die etablierte wissenschaftliche Medizin richteten. Viele der Kritiker wendeten sich von der bürgerlichen Medizin ab, die für sie Teil eines umfassenden Überwachungsstaates war. Eine Gruppe von Medizinern und Sozialwissenschaftlern vom linken Flügel des politischen Spektrums, im Umfeld des Jahrbuches für Kritische Medizin, gehörte zu den Hauptkritikern des Risikofaktorenmodells und seiner immer breiteren Anwendung in der Bundesrepublik. Das Jahrbuch erschien seit 1976 unter diesem Titel im linken ArgumentVerlag und wurde 1970 unter dem Namen Kritik der bürgerlichen Medi269

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zin als eine lose Folge von Themenbänden der Zeitschrift Das Argument ins Leben gerufen. Besonders Dieter Borgers, Heinz Harald Abholz – beide jetzt in der Abteilung Allgemeinmedizin des Uniklinikums Düsseldorf beschäftigt – und Rolf Rosenbrock (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, WZB) sind in diesem Zusammenhang zu nennen, alle um 1945 geboren, in den 60er Jahren akademisch sozialisiert und in den 70er Jahren mit dem damaligen Zentrum für soziale Medizin an der Freien Universität Berlin verbunden (vgl. Abholz et al. 1982; Abholz et al. 1991; Borgers 1993; Borgers 1999). Borgers und Abholz sind Mediziner, Rosenbrock ist Sozialwissenschaftler. Die Kritik dieser Autoren, besonders Borgers, an der Risikofaktorenmedizin richtete sich vor allem – und richtet sich noch immer – gegen die Medikalisierung von Menschen, die sich gesund fühlen, bei denen aber ein physiologischer Messwert – Blutduck oder Cholesterinspiegel – eine mehr oder weniger zufällig bestimmte Schwelle überschreitet. Damit werde ein großer Teil der Bevölkerung für potentiell krank und behandlungsbedürftig erklärt und in die medizinische Überwachung überführt (Borgers 1982). Risikofaktorenmedizin lasse Krankenbehandlung und Prävention als dieselbe Sache erscheinen, mit der Konsequenz dass in Industriestaaten heute die Behandlung von Risikofaktorenträgern oft die von manifest Erkrankten überwiege.10 Borgers weist darauf hin, dass epidemiologischen Ergebnisse den Erfolg des Risikofaktorenkonzeptes eigentlich nicht rechtfertigen. Der Erfolg von auf diesem Ansatz beruhenden Präventionsstrategien sei schwierig zu evaluieren. „Aber in der medizinischen Behandlung greift man gerne nach jedem Strohhalm, wenn man sonst nichts hat“ (Borgers 1999: 9).

Schluss und Ausblick Die Behandlung von physiologischen Störungen wie Bluthochdruck oder hohen Cholesterinwerten allein zum Zweck der Prävention hat nur wenig gemein mit den verhältnisorientierten Präventionsmodellen der Sozialhygiene. Das heißt allerdings nicht, dass solche Ansätze präzedenzlos wären. Prävention durch Behandlung ist uns durchaus aus ande10 Galt zum Beispiel noch in den 50er Jahren nur als Hochdruck, was zu deutlich beobachtbaren pathologischen Veränderungen führte, so sanken die Grenzwerte kontinuierlich seit erstens Epidemiologen Bluthochdruck als Risikofaktor für Schlaganfall und Herzinfarkt identifiziert haben und zweitens effektive blutdrucksenkende Medikamente mit überschaubaren Nebenwirkungen verfügbar wurden (vgl. Timmermann 2006a; Timmermann 2006b). 270

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ren historischen Zusammenhängen vertraut: es gibt Verbindungen zur Lebensreform, zur Volksmedizin, und zur Angst vor den verweichlichenden Konsequenzen der Zivilisation (vgl. Timmermann 2001). Asketische Lebensformen, gesundes Essen, Kräutertoniken, die wir nehmen, um unser Herz zu stärken, oder physikalische Behandlungen, mit denen wir uns abhärten wollen, befriedigen die gleichen Bedürfnisse, auch wenn die statistische Sprache der Risikofaktoren fehlt. Auch hier ist der Einzelne gefragt, oft geht es um Selbstdisziplinierung. Wir wollen uns gegen potentielle Gefahren für unsere Gesundheit versichern. Auf der Ebene der Mentalitäten und ihrer Bedeutung im Alltag sind Risikofaktoren und „Vitalstoffe“ nicht sehr weit von einander entfernt. Allerdings bringt die Einnahme blutdruck- oder cholesterinsenkender Medikamente mit ihren oft komplexen und nicht ganz verstandenen Wirkungsmechanismen ihre eigenen Risiken mit sich. Die Kritik am Risikofaktorenmodell in Ost- und Westdeutschland entzündete sich an jeweils anderen Punkten, und sie war jeweils spezifisch für die beiden deutschen Staaten. Ein zentraler Kritikpunkt im Westen war die Überwachung durch die Medizin, die immer weitergehende Medikalisierung. Autoritätskritischen 68ern stellten sich Risikofaktoren als ein weiteres Werkzeug eines gefürchteten Überwachungsstaates dar. In der DDR waren Staat und Medizin wesentlich enger verflochten und die Kritik an der Risikofaktorenmedizin richtete sich vordergründig vor allem gegen wissenschaftliche Ansprüche, die die Kritiker für unerfüllbar hielten. Eine wichtige Rolle spielte auch die Auseinandersetzung zwischen Sozialhygienikern und Klinikern um die Deutungshoheit. Wie im Westen glaubten die Autoritäten im Zweifelsfalle lieber den „echten“, klinischen Medizinern. Wie im Westen war auch in der DDR ein Teil der Kritik durch die Sorge motiviert, dass Risikofaktoren ein bequemes Vehikel waren für soziale Kontrolle, Medikalisierung und Verschuldensdiskussionen. Trotz vieler Kritikpunkte und allgemein eingestandener Unzulänglichkeiten und Unschärfen, hat sich das Risikofaktorendenken weitgehend durchgesetzt, mit zum Teil verwirrenden Konsequenzen. Die Risikofaktoren begannen ihren Aufstieg als heuristische Krücken, die problematisch wurden, wenn sie unkritisch rezipiert und verbreitet wurden, als Antwort auf die Frage „Wie soll ich leben?“ und als Leitbilder der Gesundheitspolitik. Im Osten wie im Westen begünstigte die Risikofaktorenmedizin die Etablierung eines Präventionsmodells, das die Verantwortung für Gesundheit und Krankheit an den einzelnen Bürger übertrug. Herzkrankheiten wurden mit Wohlstand assoziiert, Nebenwirkungen des Wirtschaftswunders, denen die Bürger und Bürgerinnen mit einer Anpassung ihrer Konsumgewohnheiten entgegentreten sollten. Taten 271

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sie das nicht, so war es auch ihre eigene Schuld, wenn sie krank wurden. Allerdings ist die Debatte über Verhaltens- und Verhältnisprävention noch nicht entschieden, und auch die Antworten der neuen Epidemiologen sind bei weitem nicht so eindeutig, wie sich das mancher wünschen mag. So hat die Epidemiologie chronischer Krankheiten speziell in Großbritannien zum Beispiel seit den 50er Jahren auch eine Reihe von Studien hervorgebracht, die zeigen, dass Ungleichheit weiterhin krank macht, auch in wohlhabenden Staaten, wo nur wenige hungern (Marmot 2004; Smith 2003).

Da n k Ich danke den Herausgebern und den Teilnehmern der Tagung in Berlin im August 2007 für ihre Kommentare zu dieser Arbeit sowie einigen meiner ‚historischen Akteure‘ für Interviews und Hinweise. Den Archivaren der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften danke ich für ihre Hilfe. Die Forschung für diese Arbeit wurde durch eine Wellcome Trust Research Fellowship ermöglicht.

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Eine n eu e So rge u m s ich? A usdau er sport im „Zeitalt er de r Ka lo r ien ang st “ TOBIAS DIETRICH

Am Samstag, den 15. September 1979 nahm US-Präsident Jimmy Carter an einem öffentlichen Rennen über die Distanz von zehn Kilometern teil. Als einer von rund 900 Läufern startete er beim Catoctin Mountain Park Run. Als einer von sehr wenigen Beteiligten erreichte er das Ziel nicht. Stattdessen kollabierte er nach circa der Hälfte der zu bewältigenden Strecke bei dem Versuch, einen Anstieg zu bewältigen. „Though it was a cool day, he showed signs of heat exhaustion: His gray T-shirt was drenched in sweat, his face ashen, his eyes vague and unfocused. As he pushed up the hill, his legs went rubbery, and he began to stagger.“ (McCarthy 1979: 22) Rasch kamen ihm zwei Mitglieder des Secret Service zu Hilfe. Sie besorgten Wasser und verschafften dem Präsidenten eine Sitzgelegenheit. Carter selbst regenerierte sich schnell, so dass er noch am gleichen Tag den Gewinner des Rennens ehren konnte. Gleichwohl sorgte sein Zusammenbruch für erhebliche Schlagzeilen. Die eine Hälfte der Berichterstatter in den Fachzeitschriften beurteilte Carters Schwäche als Beleidigung für die Läuferschaft und forderte den Präsidenten auf, sich bei den Läufern zu entschuldigen. Andere wiederum feierten „Jogging Jimmy“ als Paradebeispiel dafür, dass endlich auf präsidiale Worte über die Fitness der Nation Taten gefolgt seien, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg (vgl. Ayres 1979: 25). Neben dieser moralischen Dimension diskutierten Berichterstatter kontrovers, was den Präsidenten zur Teilnahme an der Laufveranstaltung veranlasst hatte. „Obviously, this was a media event designed for the front page of the Sunday papers“ mit dem Ziel, zu Zeiten bevorste279

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hender Wahlen auf Stimmenfang zu gehen. Jetzt habe sein sportlicher Misserfolg seinen politischen Niedergang vorhergesagt. Colman McCarthy urteilte, „whether running for reelection, or out for his maiden 10km, it wasn’t a race to be celebrated“ (McCarthy 1979: 23). Dagegen argumentierte der Herausgeber der Zeitschrift Running Times, Ed Ayres, dass Carter nur durch das Laufen einmal nicht mit seinen präsidialen Aufgaben beschäftigt war. „When Jimmy Carter is jogging, he feels better, perhaps a bit closer to himself, than when he is sitting in the hot seat of the world’s most impossible job.“ (Ayres 1979: 25) Die sportliche Praxis des Präsidenten sowie die Debatte über seine Aktivität demonstrieren, dass der Dauerlauf in den 1970er Jahren weit mehr als eine alltägliche, unhinterfragte sportliche Übung war. Er fand erhebliche mediale und politische Aufmerksamkeit. Der Dauerlauf avancierte zu einer in Diskussionen über Gesundheitsprävention propagierten Praxis. Aus historischer Perspektive kann er deshalb als ein Maßstab dafür dienen, welche gesundheitlichen Präventionskonzepte gesellschaftlich artikuliert und realisiert wurden. Belegt er die für die 1970er Jahre diagnostizierte zweite Public Health Revolution? Dahinter verbarg sich das demokratische Gesundheitsprogramm, welches auf individuelle Gesundheitsförderung zielte und dazu die Mechanismen der Marktgesellschaft zu nutzen gedachte (Kühn 1993: 43, 52). Und schwappte demnach das Jogging als Beispiel für eine konsumgesellschaftliche Amerikanisierungswelle von den USA auf Deutschland über? Oder entstand das Jogging als körperliche Sorge um sich selbst jenseits der öffentlichen Gesundheitsdebatten als dezentrale und transnationale Initiative einzelner Vorreiter, welche ihre Ideen verbreiteten und vermarkteten? Fest steht, dass der Dauerlauf seit dem Ende der 1960er Jahre als eine körperliche Übung befürwortet wurde, um sogenannten Zivilisationskrankheiten vorzubeugen. Mitte der 1970er Jahre durchgeführte Umfragen ergaben, dass rund fünf Prozent aller US-Amerikaner und Deutschen joggten. Ihre Anteil stieg innerhalb eines Jahrzehnts um mehr als das Doppelte.1 Beachtet man in diesem Zusammenhang das Scheitern des Präsidenten, dann stellt sich die Frage nach den Grenzen individuellen präventiven Handelns. Kann eine Praxis gesundheitsfördernd wirken, welche augenscheinlich krank macht? Welche Antworten auf diese

1

Vgl. die EMNID-Daten für 1974 nach Ronald Lutz (1989) S. 22; Neumann/Piel (1983) S. 72; Goldstein (1992) S. 83f. und Higdon (1986) S. 41. Vgl. die Daten in den Statistical Abstracts of the United States. The National Data Book. Hg. vom US Bureau of the Census unter www. census.gov (zuletzt eingesehen am 1.7.2009).

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Abbildung 1: Jimmy Carter nimmt am Catoctin Mountain Park Run teil.

Quelle: Bettmann (November 1979), Corbis/Specter (Ringier AG).

Frage ersannen die zeitgenössischen Befürworter? Welche Gegenbewegungen wandten sich gegen den Dauerlauf? Über diese gesundheitliche Dimension hinaus schrieben Zeitgenossen dem Jogging körperpolitische Bedeutung zu. Zahlreiche Politiker 281

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setzten darauf, ihre Wähler durch sportliche Aktivitäten zu beeindrucken (Kleinfeld 1978: 22-28). Auf den hinter der sportlichen Praxis steckenden Politisierungsgrad weist das Fallbeispiel Carter hin. Noch allgemeiner kann das Jogging als Indikator dafür betrachtet werden, welchen symbolischen und wirtschaftlichen Marktwert die Beschäftigung mit dem eigenen Körper in der sogenannten Zeit „nach dem Boom“ besaß (Doering-Manteuffel/Raphael 2008; vgl. Dietrich 2011). Trachteten die Läufer danach, sich gesellschaftlich durch ihre Praxis abzugrenzen oder zu integrieren? Nutzten sie die vielfältigen kommerziellen Angebote zwischen Laufratgeber und Turnschuh oder traten sie als konsumkritische Minderheit auf, die ihre sportliche Praxis als elitären Asketismus (Bourdieu 1987: 340f.) verstand? Praktizierten sie das Jogging als Gemeinschaft oder agierten sie als Vorboten einer zeitgenössisch diagnostizierten Individualisierung? Ordnet man das Jogging in den aktuellen Stand der Forschung ein, dann steht fest, dass es im Rahmen einer Sozialgeschichte in der Erweiterung am Schnittpunkt von Wissenschafts-, Konsum-, Körper- und Sportgeschichte steht, ohne dass diese Teildisziplinen dem Nischenphänomen Dauerlauf bislang Aufmerksamkeit geschenkt haben. Aus gesundheitspolitischer Perspektive ist der Befund besonders wichtig, dass nach 1945 eine Umorientierung stattfand. Statt etatistischen gelang nun individualistischen Präventionsansätzen der Durchbruch. Diese wiederum dachten Mediziner und Politiker fort im Konzept der Gesundheitsförderung, das seit den 1980er Jahren einen Siegeszug startete (vgl. Lengwiler/Beck 2008). Damit ging eine ansteigende Kommerzialisierung der Gesundheit einher, die sich etwa an der steigenden Zahl von Fitnessstudios belegen lässt (Dilger 2008). Die Entstehung des Dauerlaufs fiel mit der Karriere der Salutogenese und mit einer von Wolfgang König ermittelten konsumhistorischen Wende seit den 1970er Jahren zusammen. Dennoch ist es in den entsprechenden zeitgenössischen und historischen Diagnosen unbeachtet geblieben. Daher eignet sich das Jogging gut als Prüfstein für eine historische Sekundäranalyse der 1970er Jahre. Belegt oder widerlegt es den Übergang von der Prävention zur Salutogenese? Beglaubigen oder widerlegen die Befunde zum Konsumverhalten der Läufer die These einer „konsumgeschichtlichen ‚Sattelzeit‘“ (König 2008: 87)? Keine Aufmerksamkeit hat der Dauerlauf bislang aus körperhistorischer Perspektive erhalten, da dieselbe sich zugunsten eines sehr hohen Erkenntnisgewinns auf die Zeit bis 1945 konzentriert hat (vgl. Ellerbrock 2004; Park 1994). Die transatlantische Körpergeschichte seit den 1960er Jahren ist ein bisher kaum erforschtes Gebiet. Allenfalls Ergebnisse zur veränderten Sexualität in Deutschland und den USA sowie 282

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Untersuchungen zum Wandel des Geschlechterverhältnisses liefern diesbezüglich Anhaltspunkte (vgl. Stearns 2008; Herzog 2005). Erste Hinweise enthalten die wissenschaftshistorischen Arbeiten von Moulin und Martin. Demnach stieß die Forschung und Begriffsbildung durch Immunologen einen Wandel des körperlichen Leitbildes an, der im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit AIDS einen Durchbruch erlebte (vgl. Moulin 1989; Martin 1994; Jones 1992; Eitz 2003). Die Läufer erschienen in diesem Zusammenhang als Vordenker der neuen körperlichen Leitvorstellung. Sie dynamisierten die herkömmliche Deutung des Körpers als Maschine und ersetzten diesen schrittweise durch einen ‚fitten, flexiblen Körper‘, ohne diese Neudeutung programmatisch zu verbreiten (vgl. Baumann 2003: 82, 94; Dietrich 2011). Zur Geschichte der Fitness selbst haben sich bislang wenige Sporthistoriker geäußert. Während Erika Dilgers Arbeit positivistisch eine diffus bleibende Fitnessbewegung untersucht (Dilger 2008), ohne zu neuen Ergebnissen zu gelangen, leisten die Beiträge von Rader und Eisenman/Barnett Pionierarbeit (Rader 1991; Eisenman/Barnett 1979). Rader demonstriert anhand der Fitnessgeschichte seit 1960 das Streben nach einer „new strenuosity“. Eisenman/Barnett erklären, warum die staatlichen Bemühungen in den 1950er Jahren scheiterten, die USAmerikaner zu mehr sportlicher Aktivität zu motivieren. Dagegen gelang dies in den 1970er Jahren erfolgreich, weil die Angst vor den neuen Zivilisationskrankheiten für eine höhere Bereitschaft sorgte, sich mit der Fitness des eigenen Körpers zu beschäftigen. Ferner kam es zu einer Umbewertung der sportlichen Praxis, da aus dem Kampf gegen die Stoppuhr das Streben nach „positive addiction“ wurde. Diese auf William Glasser zurückgehende positive Verstärkung der Fitnesspraxis hat Darcy C. Plymire für das Jogging untersucht (Plymire 2004). Sie stellt heraus, dass der erreichte sportliche Erfolg von den Zeitgenossen nicht nur als Gehorsam gegenüber der staatlichen und gesellschaftlichen Biomacht verstanden wurde, sondern dass sich die Läufer als glückliche Mitglieder einer unglücklichen Gesellschaft verstanden. Mit ihrem Aufsatz ragt Plymire heraus aus einer Vielzahl an sporthistorischen Publikationen, die sich mit dem Langlauf beschäftigt haben. Üblicherweise schreiben die Autoren Siegergeschichte, indem sie Laufveranstaltungen chronologisch darstellen oder die Ergebnisse der Akteure miteinander vergleichen. Manche Sporthistoriker und Anthropologen haben sich dem Dauerlauf als einem Phänomen langer Dauer gewidmet (vgl. Krise/Sqires 1982; Lennartz 2005-2007). Schließlich haben Läufer der 1970er Jahre ihre Erinnerungen retrospektiv aufgezeichnet. Zumeist interpretieren sie die Geschichte des Joggings von ihren sportlichen oder organisatorischen Leistungen her. Dies gilt auch für die Vielzahl der lau283

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fenden Zeitgenossen, welche sich mit der soziologischen oder medizinischen Dimension ihres bevorzugten Sportes beschäftigten (vgl. Shorter 1984; Burfoot 2000; Lutz 1989). Trotz der methodischen Kenntnisse ihrer Autoren gelangen diese Arbeiten über dichte Beschreibungen nicht hinaus. Gleichwohl sind sie durch ihre Detailkenntnisse von Bedeutung. Ferner demonstrieren sie den sozialen Status der laufend Aktiven in den 1970er Jahren, von denen viele als Mediziner oder Sozialwissenschaftler arbeiteten. Fließend ist demnach der Übergang zwischen den historischen Publikationen über den Dauerlauf und den zeitgenössischen Quellen. Die Zahl der Artikel in Läuferzeitschriften und die Menge an Laufratgebern oder medizinischen Gutachten ist kaum überschaubar2. Dies resultiert aus vier Gründen. Erstens konkurrierten zahlreiche Läufer und Trainer um die richtigen Übungs- und Sinnstiftungsansätze für das Jogging. Zweitens entdeckten Läufer schnell den Läufer als Käufer und Leser. Drittens fand das Laufen unter Nichtläufern hohe Aufmerksamkeit aufgrund des exklusiven Anspruchs, den die Aktiven erhoben. Viertens zeichneten sich die Jogger durch eine hohe Selbstreferentialität aus, die Wert darauf legten, ihren eigenen Deutungsstandpunkt der sportlichen Praxis und der Gesellschaft insgesamt darzulegen. Begrifflich werden „Dauerlauf“ und „Jogging“ nachfolgend synonym verwendet3. Unter Dauerlauf beziehungsweise Jogging wird die körperliche Technik verstanden, mindestens drei Kilometer am Stück schneller als gehend zurückzulegen. Diese Technik wird mit Pierre Bourdieu als körperliche Praxis bezeichnet, wenn sie wirtschaftlich, kulturell oder symbolisch begründet betrieben wird. Wenn Akteure sie im engern Sinn aus gesundheitlichen Gründen betreiben (sollen), dann ist das läuferische Tun im Sinne Michel Foucaults als „Übung“ zu betrachten. Die Unübersichtlichkeit der mit dem Laufen praktisch oder diskursiv beschäftigten Akteure legt es nahe, diese im ersten Kapitel in Form eines transnational konzipierten, analytischen Feldes zu ordnen (Bourdieu 1986; Maguire 2002). Eine nationale Beschränkung würde die entscheidenden Schnittstellen ausblenden, die zeigen, dass das Jogging kein deutscher Import aus Amerika war, sondern in einem transatlantischen Netzwerk entstand. Zuvor ist ein Blick auf die körperhistorischen Um2

3

Wichtigste Fundorte für diese Publikationen sind die Library of Congress, Washington D.C. und die Zentralbibliothek der Deutschen Sporthochschule, Köln. Zeitgenossen debattierten umfassend über die Abgrenzung zwischen Jogging und Running, weshalb in diesem diskursiven Zusammenhang die genannten Begriffe differenziert werden.

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stände seit 1960 und auf die Erfindung des Dauerlaufs zu werfen. Im zweiten Kapitel gelangen die Debatten um den Zusammenhang zwischen Dauerlauf und Prävention in den Blick. Hierauf wird untersucht, auf welche Weise der Diskurs die Praxis des Laufens beeinflusst und an welche Grenzen er stößt? Abschließend steht zur Diskussion, ob das Jogging als neue Sorge um sich selbst betrachtet werden kann.

Da s F e l d d e r L ä u f e r i m Z e i t a l t e r der Kalorienangst Im Herbst 1975 lag der Illustrierten Quick ein Sonderteil mit dem Titel „Der deutsche Mann“ bei. Ein Diagramm veranschaulichte die Veränderungen des idealtypischen Mannes zwischen 1950 und 1975. Fünf Jahre nach Kriegsende hatte seine Durchschnittsgröße 173 Zentimeter betragen, er hatte 66 Kilo gewogen. Nur neun Prozent der Männer waren zu dick gewesen. 25 Jahre später stieg die Körpergröße um drei Zentimeter, das Gewicht um drei Kilogramm. Der durchschnittliche deutsche Männerbauch umfing Mitte der 70er Jahre statt 88 nunmehr 96 Zentimeter. Jetzt galten 44 Prozent aller männlichen Deutschen als zu dick (Quick 1975: 60; vgl. Time Magazine 1978). Dieser vergleichende Befund überraschte die meisten Zeitgenossen wenig. Den Trend zur wachsenden Leibesfülle hatte die Öffentlichkeit seit dem Ende der 1950er Jahre kontinuierlich wahrgenommen. Dagegen fiel die Beilage auf, weil sie dem männlichen Geschlecht Aufmerksamkeit schenkte, das in den illustrierten Debatten um Körperleitbilder bislang stark vernachlässigt worden war. Übergewicht galt nach 1970 als gravierendes gesellschaftliches Problem. Dies dokumentiert auch die veränderte Sprache, mit der es öffentlich thematisiert wurde. Während Experten in den 1950er Jahren nur Missstände beklagten, so standen später die inzwischen bekannten Abhilfemaßnahmen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Vor allem ersetzten Ablehnung und Unverständnis jetzt die vormaligen Sympathiebekundungen mit Übergewichtigen oder zumindest das Verständnis für sie. „Noch vor anderthalb Jahrzehnten wurden den Dicken auch positive Eigenschaften zugeschrieben“, schrieb das Nachrichtenmagazin Spiegel 1985. Im letzten Jahrzehnt habe dagegen eine „regelrechte Treibjagd“ und „Hatz auf die Dicken und auf jedes ihrer Kilo“ eingesetzt (Der Spiegel 1985: 37, 41). Lapidar stellte das Time Magazine am 2. Januar 1978 fest, dass „the struggle against excess flab is not only uphill but getting steeper all the time.“

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Den Betroffenen selbst bezeugten die von der deutschen Gesellschaft für Ernährung veröffentlichten Berichte bis 1972 vor allem Unkenntnis. Danach wiesen sie vermehrt auf die fehlende Motivation zum Abnehmen hin. 1980 gelangte man dann zu einem unbefriedigenden Fazit: „obwohl sich die Bürger nicht gesünder ernährten, wussten sie besser über Diät Bescheid und hatten sich vielfach selber schon im Maßhalten geübt“ (Grauer/Schlottke 1987: 19; vgl. Goldstein 1992: 48-64). Fest steht: Zwischen den 1950er und 1970er Jahren änderte sich das Selbstbewusstsein und die Fremdzuschreibung in Bezug auf den Körper und seine Gesundheit erheblich. Die Zeit des Wirtschaftswunders mutierte zu einem „Zeitalter der Kalorienangst“ (Theodore vanItallie). Otto Neuloh und Hans-Jürgen Teuteberg schrieben in ihrer empirischen Studie noch 1979 davon, dass das Ernährungsfehlverhalten „zu einer gesamtgesellschaftlichen bzw. neuen Sozialen Frage herangewachsen“ sei. Als Gegenmittel hätten von ihnen Interviewte „gewöhnlich FdH“ („Friss die Hälfte“) erwähnt (Neuloh/Teuteberg 1979: 12). Bei der Suche nach den Hintergründen für das weit verbreitete Übergewicht stieß man sehr schnell auf den Konsum von „junk food and quick lunches, eaten hastily“ (Time Magazine 1978). Darüber hinaus wurde die Bewegungsarmut während der Freizeitgestaltung dafür verantwortlich gemacht. Zum Antagonisten der gesunden Lebensführung wurde der Football fernsehende, Bier trinkende Couch-Potatoe stilisiert (vgl. Mingo 1983; Ritzer 2006). Griff dieser noch zur Zigarette oder erfuhr er während seiner Arbeitszeit Hektik und Stress, dann litt er schnell unter sogenannten „Zivilisations- bzw. Managerkrankheiten“, die sein Lebensgefühl und seine Lebenserwartung einschränkten. Besonders eindeutig wiesen Zeitgenossen die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens nach. In den USA rauchten statistisch gesehen zwischen 1945 und 1960 rund 40 Prozent der Bevölkerung. Deren Zahl nahm bis 1970 geringfügig ab, stieg erneut kurzfristig an, um anschließend signifikant zurückzugehen. Dies ließ sich auf umfassende Präventionsmaßnahmen zurückführen, angefangen bei Entwöhnungsprogrammen über die Besteuerung bis hin zu Werbeeinschränkungen und Rauchverboten (Kühn 1993: 228). Im Umgang mit dem Übergewicht fehlten im Vergleich zur Vorbeugung und Bekämpfung der Tabaksucht gleichermaßen Ideenreichtum und Zielstrebigkeit. Zwar wurde in den USA etwa 1973 die verpflichtende Kennzeichnung von Nahrungsmitteln mit ihrem Kalorien- und Fettgehalt diskutiert, jedoch war dieses Verfahren zu aufwendig und infolge fehlender Anreize für die Rechnenden wenig attraktiv. Größere Aufmerksamkeit fanden etwa im Gefolge der Weight Watchers Diätempfehlungen (Goldstein 1992: 51, 66). Dagegen hatten Experten und Politiker den Aspekt „Bewegung“ als Gegenmittel 286

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gegen Übergewicht lange Zeit vernachlässigt. Noch oberflächlicher thematisierte die populäre Ratgeberliteratur der späten 1950er und frühen 60er Jahre die sportliche Übung zur Gewichtsregulierung. Während Diätempfehlungen bezüglich Originalität und Wissenschaftlichkeit einander überboten, blieb der Bereich „Bewegung“ lange unbestimmt und pauschal. So hieß es in einer Handreichung der hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung noch 1967 ganz lapidar, dass „zwischen dem gesundheitsfördernden Schweißausbruch [...] und der Schlaflosigkeit [...] die erholsame sportliche Anstrengung liege“ (Grebe 1967: 8). Augenscheinlich bestand nach dem Zweiten Weltkrieg eine Wissens-, Deutungs- und Marktlücke bezüglich der richtigen Form der körperlichen Übung jenseits von Lebensreform und Wehrsport. Der Ausdauersport, insbesondere das Jogging füllte seit circa 1970 dieses Loch. So widmete die erste Monographie, die sich ausdrücklich mit dem Jogging beschäftigte, der Gewichtsfrage ein eigenes Kapitel. Pauschal stellten die Autoren William J. Bowerman und Waldo E. Harris fest: „Jogging is an excellent exercise to aid in losing weight. By walking and running, you consume calories at a rapide rate“ (Bowerman/Harris 1967: 8). Wurde der Dauerlauf als Heilmittel gegen die Folgen des Wirtschaftswunders oder zur Vorbeugung der noch unbekannten Gesundheitsgefahren der Zeit „nach dem Boom“ erfunden? War das Jogging ein Vorreiter der „Gesundheitsförderung“ oder belegt es eine Hochphase der Prävention? „Das Jogging wurde nicht in Amerika erfunden, sondern 1947 in Waldniel, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Mönchengladbach, wurde dann als ‚amerikanisch‘ ausgegeben und in Deutschland Traben genannt.“ (van Aaken 1984: 22) Mit diesen Worten wies der deutsche Sportler und Sportmediziner Ernst van Aaken in seinem Lauflehrbuch selbstherrlich darauf hin, dass er das Jogging erfunden habe. Auch wenn die historisierenden Debatten über van Aakens Biographie noch nicht geführt wurden, so steht doch sicher fest, dass seine Behauptung nur insofern zutrifft, als das Jogging keine exklusive amerikanische Erfindung ist. Interessiert man sich für die läuferische Praxis langer Dauer, dann hat das athletische Rennen bereits antike Wurzeln. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit pflegte man diese Sportart in Europa nicht. Dafür haben Anthropologen die Dominanz des christlich-asketischen Körperleitbildes sowie die militärische und politische Bedeutung des Läuferseins als Botenläufer-Sein ausfindig gemacht. Hinweise gibt es dagegen auf läuferische Sportarten in indianischen Kulturen. Das öffentliche Interesse im 19. Jahrhundert eröffnete den durch neue Kommunikations287

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mittel arbeitslos gewordenen Läufern eine Möglichkeit, ihren Unterhalt als Schauläufer zu erwerben. In den USA und in Deutschland erlebten vor allem in den 1820er bis 1840er Jahren einzelne Läufer eine erfolgreiche Karriere, indem sie gegen die Uhr liefen (vgl. Krise/Squires 1982; Dahms 2001; Oxendine 1995; Bauch/Birkmann 1996). Da sie sich weder im Wettbewerb untereinander maßen noch Amateurgedanken hegten, haben sie mit den Joggern der 1970er Jahre einen Teil der läuferischen Technik gemeinsam, sind jedoch weder sozial noch kulturell mit diesen zu vergleichen. Mit dem Aufkommen des olympischen Gedankens und der Erfindung des Marathonlaufs vor der Jahrhundertwende erlebte das ausdauerende Rennen zeitgleich eine Umdeutung und einen Aufschwung. Gleichwohl blieb die Zahl der Leichtathleten in den Langlaufdisziplinen bis nach 1945 überschaubar, woran auch die Lebensreformbewegungen der 1920er Jahre nichts veränderten. Während der nationalsozialistischen Zeit erhielt der Dauerlauf seine Bedeutung als körperliche Auxiliartechnik für militärische Zielsetzungen zurück, welche ihn vor 1800 entsportlicht hatte (Lennartz 2005: 94). Nach dem zweiten Weltkrieg blieb der Dauerlauf die Domäne einer kleinen Zahl von Leichtathleten. Ein von van Aaken behauptetes Epochenjahr 1947 hat es nicht gegeben. Vielmehr begannen einzelne Sportler, allen voran der Neuseeländer Arthur Lydiard ein Lauftraining, das sich von den früheren Übungsformen unterschied. Sie trainierten seit den 1960er Jahren erfolgreiche Spitzenathleten, etwa Peter Snell. Ende der 60er Jahre legten sie ihre Trainingserfahrungen vor. Der Ratgeber von William J. Bowerman, Leichtathletiktrainer in Oregon, fand das größte Interesse, weil er das Lydiard’sche System vereinfachte und ein „Lauftraining für jedermann“ entwarf. Bowerman schrieb zusammen mit dem Arzt Harris „das erste ‚Jogging‘-Buch mit genau diesem Titel“. Es erschien erstmals 1967 und mit ihm der Begriff, welcher sich zuvor in keinem Sportlexikon nachweisen lässt. Das „Jogging“ als Text war erfunden worden, während der genaue Anfang der Praxis undatierbar bleibt. Als Terminus ante quem kann das Jahr 1967 gelten. Als Terminus post quem lässt sich das Jahr 1962 betrachten, in welchem Lydiard und Bowerman sich in Neuseeland kennen lernten. Warum erhielt Bowerman die Aufmerksamkeit vieler Leser? Er wählte einen Schreib- und Darstellungsstil, der eigene Erfahrungen in den Mittelpunkt rückte. So stellte er eine dialogische Beziehung zu seinen Lesern her, indem er als motivierend und mitleidend auftrat. Er erweckte den Eindruck, dass ihm keine sportliche Höchstleistung fremd, aber auch kein Anfängermissgeschick unbekannt sei. So gelang es ihm, eine sehr große und vielfältige Leserschaft anzusprechen, zumal er sich in einem separaten Kapitel speziell Frauenfragen widmete. 288

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Abbildung 2: Titelbild des Buches „Jogging“ von Bowerman.

Quelle: Bowerman, William J./Harris, Waldo Evan (1967): Jogging. New York: Grossets and Dunlap.

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Mit seiner Publikation feuerte Bowerman erstens den Startschuss ab für Tausende von Praktikern, sich nunmehr sportlich zu betätigen. Ferner gab er den Anstoß für eine Flut nachfolgender Ratgeber und Handbücher. In Deutschland machten die Zeitschriften Condition und Spiridon das Laufen bekannt. Die ersten Laufratgeber erschienen seit 1974. Gemeinsam priesen Ärzte und Sportler das Jogging als die Form der Bewegung, welche die vorherrschenden Zivilisationskrankheiten heilen würden. Diese Autoren erfanden den Dauerlauf keineswegs, aber sie erkannten die Tragfähigkeit dieser sportlichen Aktivität dafür, die bestehende Deutungs- und Marktlücke zu schließen. Daher operationalisierten sie das „Traben“ als eine schrittweise erlernbare Übung, der sie präventive und kurative Wirkungen zuschrieben. Organisatorisch blieben die Läufer noch ein kleiner Kreis, was etwa die niedrigen Auflagen der „Szene“-Magazine belegen beziehungsweise die zunächst nicht steigenden Mitgliederzahlen der ersten Interessengemeinschaften. Aber, es bestand durchaus das Bedürfnis zu einem überörtlichen Erfahrungsaustausch. Als erste neue Organisation rief der oberste Militärmediziner der USA, Generalleutnant Richard Bohannon, 1968 die National Jogging Association ins Leben mit dem Ziel, für das Dauerlaufen zu werben (www.americanrunning.org [zuletzt eingesehen am 15.10.2009]). In Deutschland fiel das Jogging dagegen mit der sogenannten Trimm-Bewegung zusammen. Zwischen 1975 und 1978 trimmte ein „Schlauer“ die „Ausdauer“, wie es im Titel der damaligen Kampagne des deutschen Sportbundes hieß (vgl. Mörath 2005). Fest steht, dass in beiden Ländern zahlreiche Aktive die in Texten geforderten und beschriebenen Bewegungsformen in die Tat umsetzten. In beiden Ländern nahm zu dieser Zeit die Zahl der regelmäßigen Treffen enorm zu, zu welchen sich Jogger zur gemeinsamen Praxis versammelten. Erstmals fanden sich 1974 um Enzio Busche 70 Läufer in Dortmund zu einem sogenannten Lauftreff zusammen. Im gleichen Jahr gründete Walter Schwebel den später größten und bekanntesten deutschen Lauftreff in Darmstadt. Bis 1976 war die Zahl dieser Gruppen, die jeweils von rund 70 Laufwilligen besucht wurden, bundesweit auf 790 angestiegen (Spiridon 1976: 13). In den USA existierten bereits 1958 Road Runners Clubs, die zunächst jedoch noch ein Sammelort für Leichtathleten waren. Seit den 1970er Jahren entstand im Kontext des gestiegenen Interesses am Dauerlauf eine Vielzahl dieser Vereinigungen. 1977 lag ihre Zahl bei 142 (http://www.rrca.org/rrca/about/history.pdf [zuletzt eingesehen am 15.10.2009]). In der Regel wöchentlich trafen sich diese Läufergruppen, um angeführt von erfahrenen Läufern eine von mehreren zur Auswahl stehenden 290

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Distanzen zu joggen. Zu Beginn wärmten sich die Teilnehmer gemeinsam auf. Hierauf wählten sie eine Distanz, die sie in einer für alle Akteure gleichen Zeit bewältigen konnten. In verschiedenen Gruppen lief man die gewählten Strecken, um am Ende des individuell bemessenen Trainingsaufwandes, wieder zusammen zu kommen. Innerhalb der einzelnen Gruppen konnten die Teilnehmer ihr Tempo selbst bestimmen. Gleichwohl tendierten die meisten Akteure zu einem gemeinsamen mittleren Tempo, wobei als Maßstab für die richtige Trainingsbelastung galt, dass man sich während des Laufens noch unterhalten könne.4 Individuell ließen sich auch die Streckenlänge und das Tempo festlegen. Gleichwohl stand im Mittelpunkt der Zusammenkunft das Interesse, gemeinsam sportlich tätig zu sein. Die Läufer beteiligten sich an einer Gemeinschaft, der das Geselligkeitserlebnis während des Laufens zweitrangig war. Das Erleben von Zusammengehörigkeit spielte dagegen eine wichtige Rolle, was auch das vielfältige, über die gemeinsame Praxis hinausgehende Angebot des Darmstädter Lauftreffs belegt.5 Diese Beobachtung widerspricht dem Verdacht, dass das Jogging eine einseitige gesellschaftliche Individualisierung in den 1970er Jahren unterstützte. Vielmehr fand die individualisierte Übung kommunitär statt. Eine gemeinschaftliche Praxis diente der individuellen Übung. Alternativ dazu suchten fortgeschrittenere Läufer den Wettbewerb mit Gleichgesonnenen. Neben der Erfolgsgeschichte der Lauftreffs kann die Genese von Stadt- und Volksläufen als Indiz für eine expandierende Massenbewegung mit einer Neigung zur Vergemeinschaftung und Differenzierung betrachtet werden. Der erste sogenannte Volkslauf in Deutschland fand 1963 in Bobingen mit 1654 Teilnehmern statt (Lutz 1989: 17). Diese ungewöhnliche hohe Zahl verfälscht die wahre Größenordnung. Die enorme Frequenz basierte darauf, dass die Veranstalter zahlreiche Vereine zur kollektiven Teilnahme aufgefordert hatten. Umgekehrt demonstriert dies erneut, dass der Dauerlauf im organisatorischen Rahmen sportlicher Gemeinschaften betrieben wurde. 1964 nahmen an zehn Veranstaltungen 18.000 Akteure teil, ein Jahrzehnt später liefen bei 401 Läu-

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Zur Organisation und Durchführung von Lauftreffs siehe die vielfältigen Publikationen des Deutschen Leichtathleik-Verbands, z.B. Arbeitsmappe Lauf-Treff. Hg. vom Deutschen Leichtathletik-Verband. Darmstadt 1982. Zur Dokumentation der Aktivitäten vgl. die Lauftreffzeitschrift Die Lichtwiese, Darmstadt seit April 1977. In: Archiv des Darmstädter Lauftreffs. Siehe die Newsletter des Greater Framingham Running Clubs, Framingham seit Dezember 1980 unter www.gfrc.org (zuletzt eingesehen am 15.10.2009). 291

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fen 320.853 Sportler mit. Die Zahl der Veranstaltungen stieg bis 1984 um das Dreifache, die Zahl der Teilnehmer verdoppelte sich.6 Fest steht, dass Zeitgenossen Mitte der 1970er Jahre zu Recht einen „Running Boom“ (Benyo/Henderson 2002: 312) diagnostizieren, den erhebliche sportliche Vergemeinschaftungseffekte kennzeichneten. Stellt man sich die Gemeinschaft derjenigen, welche sich mit dem Jogging beschäftigen, als soziales Feld im Sinne Pierre Bourdieus vor, dann lassen sich folgende Akteursgruppen differenzieren. Die erste Gruppe sind die sportlich tätigen Läufer. Um ihre mengenmäßig nur unzuverlässig taxierbare Zahl wissenschaftlich in den Griff zu bekommen, erstellten Zeitgenossen unzählige Typologien. Aus der historischen Rückschau liegt es nahe, die Läufer nach Alter und Geschlecht zu differenzieren. Quer zu diesen Variablen wurden die Jogger oft nach ihrem Leistungsvermögen klassiert, wobei dies je nach Typenbildung immer mit negativen und positiven Konnotationen verbunden war. Besonders stritten schreibende Laufexperten Ende der 1970er Jahre darum, wo die Unterschiede zwischen „Runner“ und „Jogger“ zu finden seien, ohne zu Lösungen oder Einigungen zu gelangen (Jütting 2004; vgl. Runner’s World 1976: 9). Erfolgreiche Langstreckenläufer hatten diese Debatte angestoßen, um sich als wettkämpfende Renner gegenüber den gesundheitsbewussten Trottern aufzuwerten. Gegenüber diesem ungelösten Konflikt um Zuschreibungen steht ein klarer Befund bezüglich der Läufer. Sie agierten fast alle an anderen Orten des Feldes. Zumindest handelten sie spätestens seit der Mitte der 1970er Jahre als Konsumenten auf einem neu entstandenen Markt, den sie zusammen mit Produzenten und Dienstleistern konstituierten. Sportartikelhersteller wie Uniroyal, Brütting oder Asics boten ihren Kunden seit dem Ende der 1960er Jahre Waren, mit denen sie das Laufen ermöglichen oder verbessern wollten. Gerade der Wettbewerb der inzwischen zu weltweit operierenden Konzernen angewachsenen Sportartikelhersteller Adidas und Nike schlug sich in einem hart geführten Kampf um den besseren Laufschuh nieder, den – folgt man Umsatzdaten – Nike in den 1980er Jahren für sich entscheiden konnte (vgl. Bieber 2000: 34f.). Neben diesen Basisprodukten für die läuferische Praxis gelangten teilweise kuriose Produkte für den konsumwilligen Jogger auf den Markt, etwa das Netzhemd oder der durstlöschende Kaugummi (Runner’s World 1975: 20f.; Runner’s World 1978: 109; Spiridon 1976: 17). 6

Siehe die Zusammenstellung unter www.leichtathletik.de (zuletzt eingesehen am 15.10.2009). Für die USA liegt kein umfassendes statistisches Material vor. Jedoch belegt die beachtliche steigende der Teilnehmer bei einzelnen Läufen insgesamt die für Deutschland beschriebene Konjunktur (vgl. Cooper 1998: 120, 126).

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Dienstleister offerierten den Läufern immaterielle Angebote (Massagen, Krankheitsdiagnosen, Trainingswissen) mit dem gemeinsamen Ziel, die Läufer unterstützen und auf diese Weise lenken zu wollen. Ferner versorgten Dienstleister die Produzenten mit Ideen für neue Warenangebote beziehungsweise mit Texten für Buchveröffentlichungen. Die Unternehmen erwiderten die Inspirationen mit pekuniären Gegenleistungen. Besonders gut veranschaulicht der Geschäftssinn des Dauerlaufpioniers William Bowerman diesen Zusammenhang. Als Dienstleister schrieb er den ersten Laufratgeber, welchem er mit der Autorität des internistischen Experten Harris versah. Beflügelt vom Erfolg der Publikation erfand Bowerman ein Jahr später eine neuartige Laufsohle, die er mit Hilfe des neu gegründeten Unternehmens Blue Ribbon Sports produzieren ließ, dessen erfolgreicher Teilhaber er wurde (Bieber 2000: 18). Gleichwertig mit diesem Marktgeschehen war die Konstitution von Wissen über das Jogging. Neben den Dienstleistern und den Läufern selbst nahmen Spezialisten an Joggingdiskursen teil. Diese drei Akteursgruppen handelten aus, auf welche Weise das Laufen richtig oder falsch sei. Insbesondere die Spezialisten und Dienstleister polarisierten und popularisierten das Wissen über den Sport. Fast alle unter ihnen waren Läufer, doch bestand eine auffällige Differenz zwischen beiden Gruppen. Spezialisten verknüpften ihre Kenntnisse über das Laufen mit wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen aus ihren Spezialdisziplinen. Auf dieser Grundlage führten sie über die Köpfe der Akteure hinweg Expertendebatten. Die Abgrenzung von den übrigen Läufern verwirklichten sie über ihren erweiterten Kenntnisstand. Sie versorgten die Aktiven über einen Umweg, den Markt, mit Informationen. Auf diesem Weg gelang es den Spezialisten, sich deutlich von den übrigen Mitgliedern des Feldes abzugrenzen und über dieselben Macht auszuüben. Umgekehrt waren sie auf die Hilfe von Dienstleistern und Produzenten angewiesen, welche das Spezialwissen verbreiten oder blockieren konnten. Die Dienstleister selbst verfügten über Erfahrungswissen zum Laufen, sei es, indem sie ihre eigenen Trainingspraktiken reflektierten, oder das Expertenwissen bewerteten und verbreiteten. Verbände und Politiker, aber auch Dienstleister und Läufer selbst vermittelten zwischen Diskurs und Markt. Sie waren die Säulen, auf denen das Feld des Joggings basierte. Um die Frage zu beantworten, wer das Jogging mit gesundheitlichen und präventiven Motiven auflud, liegt es nahe, sich den Akteuren zuzuwenden, die den Diskurs über das Jogging primär führten: Spezialisten und Dienstleister.

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Be w e g u n g u n d G e g e n b e w e g u n g : D a s J o g g i n g zwischen Therapie und Prävention Exemplarisch schlägt das weit verbreitete Hallwag Taschenbuch „Laufen“ mit dem vielversprechenden Untertitel „Länger leben durch Jogging“ Antworten vor. Die Autoren, der Sportler und Journalist Manfred Steffny und van Aaken, leiteten ihren Ratgeber mit einem fiktiven Dialog ein, den sie mit dem Leser führten: „Was soll eigentlich das ganze Getue um die Trimmerei? Arbeiten wir denn noch nicht genug, dass wir auch in der Freizeit schuften müssen? Von den 8760 Stunden, die das Jahr hat, arbeiten Sie durchschnittlich 1600 Stunden. Halten Sie es nicht für empfehlenswert, auch in den restlichen 7160 Stunden frischer und leistungsfähiger zu sein? [...] Bei meinem Gewicht schaffe ich ja noch nicht einmal die 20 Minuten in einem Stück! Dann machen Sie es am Anfang so, dass Sie abwechselnd immer etwa 350 m laufen und dann 50 m gehen. Wie lange muss ich das denn machen, damit ich die erste positive Wirkung spüre? Vier Wochen etwa. Wenn ihnen das lang vorkommt: Wie lange haben Sie denn eigentlich schon still vor sich hingerostet? Ja, aber ich habe zu hohen Blutdruck, zuviel Cholesterin, und mein Arzt sagt, eine Bandscheibenschwäche habe ich auch, ich dürfte eigentlich nur noch schwimmen. Bestellen Sie ihrem Arzt einen schönen Gruß, und er soll mal wieder die Schulbank drücken. Wahrscheinlich ist nur ihre Skelettmuskulatur zu schwach, kein Wunder, ihr Übergewicht kommt ja nicht von zuviel Muskeln, sondern von zuviel Fett. Dem Bluthochdruck bekommt das Laufen nur gut, dasselbe gilt übrigens für niedrigen Blutdruck. Und was glauben Sie, wer wohl in unserer Zeit die niedrigsten Cholesterinwerte aufzuweisen hat? Die Marathonläufer!“ (Steffny/van Aaken 1979: 6-7)

Die Autoren betonten erstens sekundärpräventive Effekte des Joggings. Krankhafte Blutdruckwerte ließen sich genauso wie ein zu hoher Cholesterinspiegel bekämpfen. So könnten Herzkreislauferkrankungen bereits in ihren Anfängen behandelt werden. Das Laufen galt als ideale sportliche Betätigung für eine optimale Herz- und Lungenleistung. Dies schloss für zahlreiche Ratgeberautoren ein, dass das Jogging zumindest indirekt gegen die gesundheitsschädlichen Folgen des Rauchens wirkt, indem es die Lust daran verleite und durch erhöhte Sauerstoffaufnahme eine Regeneration der Lunge bedingte (vgl. Glover/Shepherd 1979: 193203). Zweitens schrieben van Aaken und Steffny dem Dauerlauf mit 294

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Hilfe von Komparativen primärpräventive Wirkungen zu. Mit unbestimmtem Ziel würden die Jogger erstens „frischer“ und zweitens „leistungsfähiger“. Andere Autoren stellen diese „Frische“ in den Zusammenhang verjüngender Effekte, die das Jogging bewirke. So beschrieb Fixx einen 65 Jahre alten Läufer, der „enthusiastischer als mancher Teenager war“ (Fixx 1979: 149). Die zweitens genannte Leistungsfähigkeit wies auf eine enorme begriffliche Bandbreite zwischen sportlicher und beruflicher Aktivität hin, für welche man sich vorbeugend „fit“ machen sollte. Optimistische Autoren billigten dem Jogging sogar kurative Effekte zu. Vor allem als Behandlungsmethode im Fall von Übergewicht beziehungsweise Adipositas sollte es eingesetzt werden (Fixx 1979: 108-117). Die entsprechenden Heilungserfolge dokumentierten die Behandler bevorzugt statistisch und fotografisch, um die Überzeugungskraft dieses Ansatzes zu betonen. Van Aaken schließlich trat mit seiner unbelegten Behauptung hervor, der Dauerlauf könne Krebs heilen (van Aaken 1974: 114-116). Zeitgenössische klinische Studien bestätigten die sekundärpräventiven Kennzeichen, welche dem Laufen in den 1970er Jahren zugeschrieben wurden. Kontinuierlich zeigten Forschungen, dass das Jogging das Herzkreislaufsystem stärke. Beachtlich war, dass auch die primärpräventiven Effekte wenig Widerspruch fanden. Allenfalls äußerten Experten ihre Skepsis daran, dass die verjüngenden Effekte nur schwer nachweisbar seien. Gleichwohl betonten sie, dass das Jogging das Lebensgefühl steigere. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang die von van Aaken und Steffny genannte unbestimmte positive Wirkung, dann wird fassbar, dass die Debatten um das Laufen Vorboten eines gesundheitlichen Leitbegriffwandels enthielten, welcher weg von der Prävention hin zur Gesundheitsförderung führte. Als Therapeutikum setzte sich das Laufen weder gegen Fettleibigkeit noch gegen Krebs durch. Insofern belegt das Jogging die von Zeitgenossen und Historikern behauptete These nicht, dass die 1970er Jahre ein therapeutisches Jahrzehnt (Benjamin Ziemann) gewesen seien. Augenscheinlich boomte das Jogging nicht aufgrund der Zustimmung aller Experten, sondern es setzte sich trotz mancher Einwände und schlechter Erfahrungen durch. Was sprach gegen den Dauerlauf? Bereits die zwei genannten Ratgeberautoren van Aaken/Steffny bzw. Fixx straften ihre eigenen Lobeshymnen Lügen. Den deutschen Arzt fesselten seine Verletzungen an den Rollstuhl, welche er 1972 erlitten hatte, als er beim abendlichen Lauf mit einem Auto kollidierte. Fixx starb an den Folgen eines Herzinfarkts, was trotz aller Beteuerungen, er habe eine genetisch bedingte Herzschwäche gehabt, die Läuferwelt schockierte (The Runner 1984: 33-38). 295

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Insgesamt stritten Mediziner darum, ob das Jogging über die gewichtsreduzierende Wirkung hinaus überhaupt Hypertonie vorbeugen könne. Ferner wiesen Studien auf die Gesundheitsgefährdung hin, die dann bestünde, wenn Läufer nur unregelmäßig trainierten. Außerdem bewerteten Orthopäden das Jogging ambivalent (Achenbach 1989: 1320). Sogar die Ratgeberautoren gestanden gesundheitsschädliche Folgen des Dauerlaufs ein. Hinter Euphemismen oder unter irreführenden Überschriften verbargen sie Ratschläge, mit denen die Läufer selbst ihre Verletzungen und Erkrankungen behandeln sollten. Genannt wurden landläufig bekannte Begleiterscheinungen, zum Beispiel Muskelkater und Seitenstechen. Zudem entstanden spezielle Krankheitsbilder, etwa das sogenannte „Läuferknie“ oder eine umfassende Pathologie der Achillessehne. Gerade bezüglich dieser Fußverletzungen gab es eine Fülle von Ratschlägen zur Selbsthilfe, angefangen beim Ruhen und Kühlen über das Dehnen und Massieren bis zu aufwändigen Heilplänen mit 50 Grad heißen Fußbädern, dem Abkühlen mit Volon-A-Spray und anschließenden 1000 Schritten auf der Stelle. Noch mehr Raum nahmen vorbeugende Maßnahmen ein, die Läufern empfohlen wurden, um Verletzungen zu vermeiden. Genannt wurden: „Gute Schuhe tragen“, sich strecken, richtig essen, raue Lippen vermeiden und so weiter (vgl. Fixx 1979: 219238; Glover/Shepherd 1979: 163-192). Die Empfehlung, sich nicht zu überanstrengen schließlich zeigt: Das Jogging geriet in einen Teufelskreis der Prävention. Warum erfreute sich der Dauerlauf dennoch großer Beliebtheit? Kehren wir zurück zu dem Seitenhieb gegen den „Arzt“, der vom Laufen abriet. Die Fortbildungsempfehlung an den unwissenden Mediziner zielte vordergründig auf die soeben erörterte fachwissenschaftliche Konkurrenz ab, die den Laufförderer vom -gegner abgrenzte. Im Hintergrund stand die zeitgenössische Wahrnehmung, dass nur aktiv laufende Ärzte wirklich die Vorzüge des Laufen beurteilen könnten. Augenscheinlich hatte die erste Generation der Sportler und Trainer die zweite Generation der Ärzte und anderer Akteure vom elitären Charakter der Tatsache überzeugt, ein Läufer zu sein. So argumentierte Fixx folgerichtig: „Die Tatsache, dass viele Ärzte im Umgang mit dem eigenen Körper ziemlich schlechte Vorbilder sind, stellt ein großes Problem dar. [...] Der untrainierte Arzt, der selbst vom Herzinfarkt bedroht ist, hält sich in allen Gesundheitsfragen für die entscheidende Autorität.“ (Fixx 1979: 29) Es zeichnete sich ab, dass der Dauerlauf nicht von jedem Mediziner empfohlen werden sollte, sondern einzig von der elitären Gruppe jener, die aktiv selbst liefen. Diese Form eines elitären Bewusstseins prägte von Anfang an die Gruppe der Läufer. Gerade dadurch erwies sich das theoretisch allen Zi296

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vilisationskranken empfehlenswerte Heilmittel „Jogging“ in der Praxis als begrenzt auf Akteure, die bereit waren, „selbst etwas“ zu tun. Bei dieser Maxime handelt es sich, wenn man dem Zeitgenossen Foucault folgt, um den seit der Antike tradierten Willen zur Übung, mit der sich das „Individuum für die Vielfalt der möglichen Umstände“ (Foucault 1986: 137) rüsten will. Insofern war das Laufen kultursoziologisch gesehen nicht neu. Vielmehr aktualisierten die Jogger die sogenannte „Sorge um sich“. Doch stärker als zuvor übernahmen die Praktiker die Verantwortung für die Nebenrisiken ihrer Übung. Deshalb versahen Experten sie mit dem notwendigen Wissen über die mögliche Vermeidung beziehungsweise die erforderliche Behandlung erlittener Verletzungen. Weitere gravierende Wandlungen lassen sich aus historischer Perspektive für diese neue „Sorge um sich“ erfassen. Gegenüber vorherigen Übungen steigerte sich mit dem Jogging die Zahl der Personengruppen erheblich, die Experten und Praktiker als Aktive zuließen. So ungewöhnlich es war, 1975 die männlichen Körperideale zu thematisieren, so fern lag Zeitgenossen Ende der 1960er Jahre die Tatsache, dass Frauen dauerlauffähig seien. Hohe öffentliche Aufmerksamkeit fand in diesem Zusammenhang ein Zwischenfall beim Boston-Marathon des Jahres 1967. Der Rennleiter entdeckte eine heimliche Starterin, die er aus dem Teilnehmerfeld entfernen wollte. Allein, er scheiterte mit seinem Bemühen am Begleiter der Läuferin, dem Hammerwerfer Thomas Miller. Zu Beginn der 1970er Jahre dann akzeptierten Joggingexperten wie Laien die laufende Frau. Diskutiert wurde nun, wie die Frau sich ausrüsten könne. Runner’s World befand im August 1974, dass „finding readyto-wear women’s running clothes is as easy as finding gasoline on the weekend“. Daher regte der Autor des Artikels Frauen dazu an, Männersachen für sich zurecht zu schneidern. Sie dürften darin gut aussehen, doch müssten sie damit rechnen, dass die Männer ihnen vorwerfen würden, „overdressed“ zu sein (Runner’s World 1974: 28f.). Anfang der 1980er Jahre offerierten Sportartikelhersteller dann unzählige Trainingsund Kleidungsgegenstände für die laufende Frau. Bis heute dokumentiert die Trennung zwischen Frauen- und Männerlaufschuhen diese geschlechtliche Aufteilung und die damit einhergegangene Verdopplung der Vermarktungsmöglichkeiten. Dass die Fußbekleidung sich kaum anders als durch die Größenpalette und die Farbgebung unterscheidet, ist noch kein Gegenstand von Konsumkritik geworden. Läuferinnen und Läufer inszenierten sich körperlich und modisch als Angehörige ihres Geschlechts. Darin unterstützen sie nicht nur die Produzenten, sondern auch die Dienstleiter und Spezialisten. Erstere widmeten etwa in der Ratgeberliteratur den Frauen bis heute eigene Kapitel (vgl. Bower297

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man/Harris 1967). Die zumeist männlichen Autoren versuchten mit teils stilblütentreibenden Darstellungen ihre Autorität über die Läuferinnen aufrecht zu erhalten. Fixx etwa erachtete sich für kompetent genug, um den Frauen das Jogging während der Menstruation oder – falls sie zuvor schon trainiert habe – während der Schwangerschaft zu gestatten. Allein „aus dem großen Büstenhalter-Krieg sollte man sich als Mann wohl besser heraushalten“ (Fixx 1979: 142, 145). Spezialisten konstruierten ihre Untersuchungssamples zur Leistungsfähigkeit von Läufern in den 1970er und 1980er Jahren entlang der Geschlechtergrenze (Marti 1984), obwohl die Geschlechtszugehörigkeit zumindest der an olympischen Spielen teilnehmenden Sportler nicht mehr als fraglos gegeben galt. Seit den Wettkämpfen in Mexiko 1968 mussten sich die Athleten auf eine mögliche Intersexualität hin untersuchen lassen (Tolmein 2004: 44). Laufakteure und Experten trachteten weniger danach, geschlechtliche Grenzen aufzulösen als vielmehr danach, jenseits der Wettbewerbsklassen die altersneutrale positive Wirkung des Dauerlaufs für Männer und Frauen herauszuarbeiten. Ältere Menschen beiderlei Geschlechts sollten sich laufend betätigen. „Das Alter ist im Laufsport kein Hindernis“, schrieben Bob Glover und Jack Shepherd. Ganz im Gegenteil zeichne sich laut Fixx ab, „dass Laufen die Lebensdauer nicht verkürzt, sondern eher verlängert“ (Glover/Shepherd 1979:120; Fixx 1979: 85). Während der Wille zur Übung mithin elitenbildend wirkte, so resultierten aus dem Recht zur Übung gleichberechtigte und demokratische Beziehungen unter den Akteuren. Noch einschneidender wirkte sich aus, dass die Akteure und ihre Beobachter die Rolle des Wohlbefindens betonten, das aus dem Dauerlauf resultiere. Dadurch geriet der sportliche Wettkampfgedanke in den Hintergrund, der in den 1970er Jahren andere Formen des Breitensports durchaus kennzeichnete. Persönliche Leistungsfähigkeit und Lebensqualität standen im Vordergrund, was auch die Integration der Übung in das routinierte Leben der Laufwilligen erleichterte. Der seit dem Ende der 1960er Jahre feststellbare, auch von Steffny/van Aaken genannte Zugewinn an Freizeit für einen Großteil der deutschen und amerikanischen Bevölkerung begünstigte diese Entwicklung erheblich. Zwar nahm die Zahl der Aktiven nur linear zu, doch die Zahl der Marktteilnehmer stieg gewaltig (vgl. Kraus 1971; Opaschowski 1976; Giordano 2003: 171-200). So wurde etwa der Jogginganzug zu einem zentralen Bestandteil der Freizeitgarderobe für zahlreiche Konsumenten, welche die Praxis symbolisch jenseits der Übung zu kaufen versuchten. Ferner trat zur eigenen sportlichen Aktivität seit dem Ende der 1970er Jahre der Zuschauersport Running. Große Stadtläufe zogen Einheimische wie Touristen an, sei es, dass diese die Plackerei bejubelten

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oder verspotteten, sei es, dass sie ihren mitlaufenden Angehörigen applaudierten (The Runner 1982: 64; Cooper 1998: 39-156). Darüber hinaus explodierte das Angebot an Publikationen, die das Laufen betrafen. Zu den Ratgebern kamen Romane über das Laufen und vor allem Autobiographien bekannter Läufer. Jedes große Nachrichtenund Boulevardmagazin in Deutschland und den USA widmete mindestens einen Leitartikel dem Laufen. Auch die TV-Berichterstattung wandte sich verstärkt dem Phänomen Jogging zu. Auf diesen Kommunikationskanälen wurden inaktive Sportinteressierte genauso wie Akteure erreicht. Schließlich entfalteten Pharmazie und Medizin ein reichhaltiges Angebot an käuflicher Selbsthilfe- und Fremdhilfe (The Runner 1982: 70f.; Spiridon 1981: 5; Der Spiegel 1978: 221).

Die Laufbewegung als neue Sorge um sich Das Jogging war seit dem Ende der 1960er Jahre eine neue Form der Vorsorge, die auf eine große, sich elitär fühlende Gruppe eigeninitiativer Sportler beschränkt blieb. Diese betrieben das Laufen als Übung individuell, jedoch entstand erst aus dem „sekundären Vergemeinschaftungsprozess“ (Junge 2002: 94) des gemeinsamen Laufens die Praxis „Jogging“. Die laufenden Zeitgenossen nutzten es dazu, sich in einer Zeit der entstehenden ökologischen und gesellschaftlichen Nebenfolgengefährdungen des Wirtschaftswunders flexibel an diese riskanten Faktoren anzupassen. Medien verdichteten diese Praxis zu einer Form von Text, der die sozialen und kulturellen Lebensumstände der Zeit nach dem sogenannten Boom im Spiegel der Laufbewegung qualifizierte. Diese Texte sowie die entstandenen Produkte fanden eine weitaus größere Verbreitung als das Jogging selbst. Der entstehende Marktprozess widerlegt die These der konsumhistorischen Wende nach 1970. Am Beispiel Jogging lässt sich die Entstehung einer neuen Produktpalette aufzeigen. „Die Haltung vom Typ ‚Mein Körper, die belagerte Festung‘ führt nicht in die Askese, Abstinenz oder zum Widerruf, vielmehr fördert sie den Konsum und zwar von teuren, kommerziell angebotenen ‚gesunden Lebensmitteln‘“ und hochpreisiger Sportausrüstung (Baumann 2003: 98). Dadurch wurde die tatsächliche Übung überlagert und das Laufen seines präventiven Charakters entkleidet. In seiner diskursiven und medialen Artikulation war das Jogging als Laufbewegung ein Massenphänomen, das Fitness zum Ziel hatte. Es drückte eine neue symbolische Sorge um die eigene Gesundheit jenseits der Übung aus. Deshalb scheiterten damals wie heute Kampagnen, die das Laufen als Praxis gegen das Übergewicht nachhaltig als eine Massenbewegung 299

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etablieren wollten. Zu stark ist es mit kulturellen, sozialen und politischen Inhalten aufgeladen als das sich mit der Werbung für die Übung an sich eine große Zahl an Nachahmern finden ließe. Es zeigt sich, dass erstens das Jogging aus Sicht von Gesundheitsexperten eine Form der Prävention war. Die Läufer selbst gerieten in einen Teufelskreis der Prävention. Sie mussten als Nebenfolge ihrer Praxis sogar mit Verletzungen und Krankheiten rechnen. Zweitens wird klar, dass sich die Jogger als Elite mit eigenen Wahrnehmungen der Gesellschaft vergemeinschafteten. In ihrem sozialen Handeln schufen sie eine Form von nicht-hierarchischer, gleichwohl politisch instrumentalisierbarer Biomacht. Diese artikulierte sich diskursiv und medial verstärkt als neue symbolische Sorge um sich.

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T EIL IV: P RÄVEN TI ON I M Z EITA LTER VON B IO MEDIZIN UND G E NETIK

Über di e Sp annung en zw is ch en indi vidu ell er u n d koll ekt i ve r Int er v ent io n : H erzk rei sl auf prä vent ion z wi sch en Gouv erne ment alität und H yg ieni sieru ng JÖRG NIEWÖHNER

Einleitung Dieser Beitrag untersucht in einem ersten Schritt aktuelle biomedizinische Entwicklungen in der Herzkreislauf- und Stoffwechselforschung und identifiziert ein neues Körperverständnis: den eingebetteten Körper, der auf vielfache Weise durch seine eigene Vergangenheit und seine soziale und materielle Umwelt geprägt ist. In einem zweiten Schritt analysiert der Beitrag die Verbindung zwischen diesem Körperverständnis und einer neuen Unterschichtsdebatte und fragt, ob sich in den Präventionsbemühungen in Deutschland ein neuer Regulierungsstil durchsetzt, der den sozialhygienischen und lebensreformerischen Bewegungen des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts ähnlicher ist, als der aktivierenden Gouvernmentalität des späten 20. Jahrhunderts. Etwa die Hälfte aller Deutschen stirbt an Herzkreislauferkrankungen. Damit stellen Krankheitsbilder wie Herzinfarkt, Bluthochdruck oder Schlaganfall nach wie vor die häufigste Todesursache dar. Zu dieser Mortalitätsrate kommen die chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Übergewicht, die gerade in den letzten Jahren nicht nur als Einschränkung der Lebensqualität sondern auch als signifikante Belastung der Sozialsysteme diskutiert worden sind. Der Behandlung und vor al-

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lem der Prävention von Herzkreislauferkrankungen kommt daher wieder verstärkt medizinische wie gesundheitspolitische Aufmerksamkeit zu. Die Frage nach den genauen Ursachen von Herzkreislauferkrankungen bleibt allerdings weiterhin offen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts reichen die Befunde und Theorien von physiologischen Merkmalen bis hin zu Stress aufgrund der raschen Entwicklung der modernen Zivilisation (vgl. Fisk 1915). Biologische und soziale Ursachen gehen hier also von Beginn an Hand in Hand. Mit dem Fokus auf Risikofaktoren (Aronowitz 1998) setzte sich in den späten 1950er Jahren zunächst die Epidemiologie als Leitwissenschaft bei der Erforschung und Behandlung von Herzkreislauferkrankungen durch. Die großen USamerikanischen Studien – Framingham und Seven Countries (Kannel/McGee 1979; Keys 1953) – etablierten Alter, Rauchen, Geschlecht, Blutdruck und Rauchverhalten als wichtigste Risikofaktoren in der Ätiologie von Herzkreislauferkrankungen. In den 1960er Jahren wurden diese Faktoren auch in Westdeutschland und der DDR durch die jeweiligen Medizin- und Gesundheitssysteme angeeignet – wenn auch auf deutlich unterschiedliche Weise.1 Zumindest in Westdeutschland setzte sich das Konzept des Risikofaktors gerade für Herzkreislauferkrankungen auch zunehmend im populären Diskurs durch (Madarász 2010). Trotz der Bemühungen seitens einer ‚sozialen Medizin‘ im Westdeutschland vor allem der 1970er Jahre, das Risikofaktorenkonzept um eine soziale Dimension zu erweitern, setzte sich im Medizin- und Gesundheitswesen eine individualistische Lesart des Risikofaktorenmodells durch. Behandlung und vor allen Dingen Prävention von Herzkreislauferkrankungen erfolgte zunehmend auf der Basis von individuellen Risikoprofilen über die hausärztliche Versorgung. Public Health, öffentliche Gesundheitsvorsorge und Präventionsansätze, die auf Verhältnisse statt auf Verhalten zielen, spielten strukturell aus verschiedenen Gründen nur eine untergeordnete Rolle (Madarász 2010). Selbst Ansätze, die auf die so genannten settings zielten, konzipierten setting eher als Struktur, die den Zugriff auf Individuen ermöglicht, denn als Begriff für eine Form von Kollektivität, die über aggregierte Individuen hinaus ginge. Die westdeutschen Nachkriegsbemühungen im Bereich der Herzkreislaufprävention basieren also überwiegend auf einem Konzept des Individuums als körperlich wie geistig autonom. Dieses Konzept entspringt selbstverständlich nicht der Medizin. Es ist tief in der westlichen Kosmologie verankert und seine Ursprünge lassen sich bis zu den Anfängen des Christentums zurückverfolgen (Sahlins 1996). Wem dies zu 1

Vgl. den Beitrag von Carsten Timmermann in diesem Band

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spekulativ erscheint, der wird anerkennen müssen, dass spätestens seit Hobbes ein auf spezifische Art und Weise autonomes Individuum die Grundlage philosophischen, medizinischen und ökonomischen Denkens und Handelns in der westlichen Welt bildet: „[...] consider men as if but even now sprung out of the earth, and suddainly (like Mushromes) come to full maturity without all kind of engagement to each other [...].“ (Hobbes 1651/1983)

Als utopistische Idealvorstellung erscheint dieses Individuum im Präventionsdiskurs in der Form des präventiven Selbst: das sich selbst ständig beobachtende, autonome Individuum, das fähig und willens ist, auf der Basis medizinischer Informationen in sich selbst zu intervenieren, um langfristig eine bessere Gesundheit zu erzielen. Diesem Konzept folgt ebenfalls die staatliche Interventionslogik, die nicht mehr mit Zwang, sondern mit Aktivierung operiert. Prävention und zunehmend auch Gesundheitsförderung folgen vor allem in den 1990er Jahren einer Logik, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur häufig als gouvernemental bezeichnet wird (vgl. Bröckling et al. 2001), das heißt einer Logik, die auf Regulierung durch Selbstsorge setzt statt auf hierarchische Disziplinierung. Allerdings führen die vermehrten medizinischen wie politischen Bemühungen bisher nicht zu einer Minderung der Prävalenz von Herzkreislauferkrankungen. Besonders deutlich werden die Schwierigkeiten bei der Entwicklung effizienter und wirkungsvoller Interventionen im Feld des Übergewichtsmanagement und der Übergewichtsprävention. Übergewicht gilt schon seit den 1930er Jahren als wichtiger Faktor in der Entstehung von Herzkreislauferkrankungen. Ausgehend von einem vermehrten Interesse an den hormonellen Eigenschaften von Fettzellen (vgl. Bjorntorp/Furman 1962) entwickelte sich ab den 1960er Jahren ein zunehmend vernetztes, biochemisches Verständnis von Stoffwechsel in der Biologie. Wie häufig in solch expandierenden Forschungsfeldern schien eine technowissenschaftliche Intervention immer wieder greifbar (Brown/Michael 2003). Diese Annahme wurde ab den 1980er Jahren durch das Aufkommen der neuen Genetik selbstverständlich noch verstärkt. Klinisch anwendbare Interventionsmöglichkeiten blieben jedoch weitgehend aus. Dies stärkte schon früh denjenigen den Rücken, die Übergewicht auf einer Makroebene als Folge einer positiven Energiebalance verstanden und in einem ungesunden Lebensstil die Hauptursache sahen. Im Rahmen der Risikofaktorlogik setzte sich diese Sicht früh durch und blieb bis zum Ende der 1990er Jahre dominant. Übergewicht 309

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galt hier meist als individueller Risikofaktor, der aber, da für lebensstilabhängig gehalten, einfach modifizierbar erschien. Aufwendige und teure Therapien sind nicht nötig; lediglich eine Veränderung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens.

Eingebettete Körper Die gescheiterten Bemühungen der letzten Jahre zeigen jedoch, dass Lebensstil auf medizinischen Rat hin fast nie modifiziert wird. Die nahe liegende Erklärung, dass viele Menschen medizinischen Rat nicht annehmen, gar nicht umsetzen wollen und daher ihren Lebensstil nicht verändern, wird dadurch in Frage gestellt, dass selbst in Fällen, wo Arzt und Patient sich einig sind, dass Gewicht durch gesunde Ernährung und mehr Bewegung verloren werden soll, dies nur in sehr seltenen Fällen gelingt. Meist geschieht nach Diäten sogar das Gegenteil und der Patient legt an Gewicht zu. Aus sozialanthropologischer und soziologischer Sicht ist dieser Befund wenig erstaunlich. Hier geht man schon immer davon aus, dass soziale Ordnungen eine große Stabilität aufweisen und in dieser Stabilität auch auf individuelle Lebensweise oder -führung wirken. Verlassen wir also die Sicht der Medizin, die Lebensstil in Ernährung und Bewegung modularisiert, und integrieren wir diese Parameter in das wesentlich umfassendere Konzept der Lebensführung, dann wird sofort deutlich, dass Ernährung und Bewegung in mannigfaltigen Verbindungen mit anderen Elementen eines routinisierten Alltags stehen. Ernährung geschieht beim Essen und gegessen wird häufig in hochgradig ritualisierten Kontexten, die neben der Nahrungsaufnahme noch viele andere Funktionen mit übernehmen. Eine Änderung eines spezifischen Elements wirkt also sofort auf viele andere Bereiche und erzeugt dort häufig Effekte, die keinesfalls gewünscht sind. Essen ist also in vielerlei Hinsicht konstitutiv für eine spezifische Lebensweise und anders essen damit eine viel tiefgreifendere Veränderung, als das medizinische Konzept der Lebensstilveränderung dies sichtbar macht. Diese sozialanthropologische Perspektive ist zwar in der Praxis von Prävention und Primärversorgung als Erfahrungswissen mehr als präsent. Sie wird aber weder systematisch in die Forschung eingebracht, noch ist sie an strukturell wichtigen Punkten im offiziellen Diskurs präsent. Stattdessen lernt das Medizinsystem auf andere Weise aus der bisherigen Ineffektivität von Präventionsbemühungen und zwei Entwicklungstendenzen gewinnen an Boden: zum einen setzt sich in der molekularen Forschung zunehmend ein Körperkonzept durch, das in erhebli310

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chem Maße von den Vorstellungen individueller Autonomie abweicht. Zum anderen, und mit diesem neuen Körperkonzept in engem Zusammenhang, wird für spezifische Gruppen die Aktivierbarkeit durch gouvernementale Regierungsformen in Frage gestellt und damit eine neue Interventionslogik gerechtfertigt. Zunächst zum Körperkonzept der molekularen Lebenswissenschaften.

Soziale Fettzellen mit Erinnerungsvermögen Entscheidet sich ein Mensch, weniger Energie aufzunehmen, so werden durch dieses Energiedefizit nach einiger Zeit auch die Fettzellen an Größe, weniger an Zahl, abnehmen. Der Mensch nimmt ab, so die Logik der Diät. Nachhaltig sind diese Veränderungen allerdings nur in den wenigsten Fällen. Die aktuelle biomedizinische Forschung bietet für dieses Phänomen eine Erklärung auf molekularer und zellulärer Ebene. Die Fettzellen des menschlichen Körpers befinden sich laut gängiger Forschungsmeinung numerisch in einem dynamischen Gleichgewicht. Es werden kontinuierlich neue Zellen mit derselben Rate produziert, wie alte absterben. So erneuert der Körper seine gesamten Fettzellen in etwa alle zehn bis fünfzehn Jahre (Spalding et al. 2008). Neue Fettzellen verfügen nun anscheinend über die Fähigkeit, sich nicht nur ihre eigene Größe zum Reifungszeitpunkt zu merken. Vielmehr merken sie sich durch einen noch unverstandenen Mechanismus auch ihre Umgebung.2 Sozialanthropologisch gesprochen: Sie entwickeln eine Art zellulären Gemeinsinn. Eine solche Perspektive auf Fettgewebe als quasi-soziales Gebilde ist keineswegs neu. Von Nietzsches Zellstaaten bis hin zur aktuellen Altruismusforschung ist zellulären Verbänden aller Art immer wieder die Fähigkeit zugeschrieben worden, Kollektivität in verschiedenen Formen wahrzunehmen (vgl. Young 2010). Hier zeigt sich also auf zellulärer Ebene eine Form des metabolic memory, d.h. des Stoffwechselgedächtnisses. Dieses Erinnerungsvermögen für die eigene Gestalt und die Zugehörigkeit zu einem spezifischen Sozialverband hat nun gravierende Konsequenzen. Angenommen es gelingt einem Menschen, eine Diät mit signifikantem Energiedefizit einige Monate durchzuhalten. Seine Fettzellen werden langsam an Größe verlieren und eine messbare Gewichtsreduktion wird einsetzen. Kehrt dieser Mensch nach überstandener Diät zu seiner ursprünglichen Essweise zurück oder nimmt wieder deutlich mehr Energie auf, so werden die Fettzellen versuchen, die Diskrepanz zwischen aktueller Größe und der 2

Diese Perspektive entnehme ich einer Reihe von Experteninterviews sowohl in der klinischen wie der Grundlagen-Stoffwechselforschung, die Martin Döring (Universität Hamburg) und ich 2008 durchgeführt haben. 311

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im Stoffwechselgedächtnis gespeicherten ursprünglichen Größe zu beseitigen. Sie tun dies anscheinend im Verbund mit dem Zentralnervensystem über eine Steuerung der Energieaufnahme und -verteilung. Fettzellen verhalten sich demnach unter wechselnden Umweltbedingungen konservativ, das heißt sie versuchen ihren ursprünglichen Zustand einzeln wie im Verband wiederherzustellen. Als Jojo-Effekt ist dieses Phänomen auch im populären Diskurs angekommen. Allerdings wird die Ursache für diesen Effekt meist noch im Verhalten der Esser bzw. ihrer Willensschwäche gesehen und seltener dem Eigensinn und Gedächtnis einiger Zellen zugeschrieben. Sehen wir einmal von der Möglichkeit einer Art Gestalttherapie für übergewichtige Zellen ab, so wird deutlich, dass sich dieses dem Trauma nicht unähnliche Gedächtnisproblem nur lösen lässt, wenn die Energieaufnahme so lange reduziert wird, bis zumindest ein Großteil der Fettzellen bereits im neuen Energieregime gereift ist, also keine Erinnerung mehr an die fetten Jahre hat. Da die turnover Rate von Fettzellen bei zehn bis fünfzehn Jahren liegt, muss die Energiezufuhr sinnvoller Weise mindestens sieben bis acht, besser noch länger reduziert werden. Für eine acht Jahre dauernde Diät dürften die Wenigsten zu begeistern sein, selbst wenn sie mit einer Erfolgsgarantie verbunden wäre. In der Tat macht es bei acht Jahren einfach keinen Sinn mehr, von einer Diät zu sprechen. Es ist nicht plausibel, acht Jahre lang anders zu essen, denn dieses anders wird zwangsläufig zur Gewohnheit und zur neuen Normalität werden. So bekommt man im klinischen Betrieb immer wieder die Geschichten von den adipösen Menschen zu hören, die zu Marathonläufern werden. Allerdings sind dies wenige Einzelfälle und niemals verändern diese Leute nur ihre Essgewohnheiten ein wenig. Immer geht damit ein tiefer greifender Wandel der Lebensweise einher. Das metabolische Gedächtnis von Fettzellen bringt Zeit als eine relevante Dimension auf neue Weise ins Spiel. Während das Konzept des autonomen Individuums davon ausgeht, dass Körper willentlich verändert werden können und dass das Wollen der entscheidende Punkt ist, wird hier die Präsenz der Vergangenheit im gegenwärtigen Körper deutlich. Der Stoffwechsel erhält eine zeitliche Tiefe. Einer autonomen, individuellen Körperlichkeit steht hier also das Konzept eines Körpers gegenüber, der auf relevante Art und Weise in ein erweitertes Zeitregime eingebettet ist.

Der „Geist der vergangenen Weihnacht“ Diese zeitliche Tiefe, die im obigen Falle der Fettzellen noch auf das einzelne Individuum begrenzt ist, weitet sich in aktuellen entwicklungs312

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biologischen und epidemiologischen Befunden noch weiter aus. Zu einem metabolischen Zeithorizont treten zunächst ein generationaler und ein evolutionärer Zeithorizont. Mit dem Konzept des generationalen Zeithorizonts soll auf Befunde verwiesen werden, die die Ursachen von chronischen Erkrankungen wie Übergewicht und Herzkreislauferkrankungen in der frühen Kindheit und davor ansiedeln. Diese heute als developmental origin of adult disease (DOAD) (vgl. Gluckman et al. 2005) bekannte Hypothese geht auf die frühen Arbeiten von David Barker und Nicholas Hales zurück, die bereits Ende der 1980er Jahre darauf verwiesen, dass Unterernährung von Kindern in kritischen Entwicklungsfenstern sich langfristig auf Wachstum und Krankheitsrisiko der Betroffenen auswirkt (Hales/Barker 1992). Die DOAD Hypothese wurde in den folgenden Jahren immer wieder erweitert und umfasst nun sowohl eine wachsende Zahl perinataler und frühkindlicher Zeitfenster als auch ein Spektrum an Umwelteinflüssen in deren Zentrum allerdings immer noch Über- und Unterernährung sowie Stress stehen. Unterstützt werden diese entwicklungsbiologischen Befunde durch epidemiologische Studien zu den Effekten von sozialer Ungleichheit auf Morbidität und Mortalität. Die generelle Idee, die diesen Studien zugrunde liegt, trägt eine deutlich evolutionsbiologische Handschrift. Durch mütterliche Physiologie und Verhalten wird der Nachwuchs auf eine bestimmte Umwelt vorbereitet; nämlich die, in der die Mutter geprägt wurde. Ist dies nun eine Umwelt mit eher unsicherer Nährstoffversorgung, entwickelt die Mutter einen „sparsamen Phänotyp“ und gibt diesen an den Nachwuchs weiter. Wechselt dieser nun in eine Umwelt mit reichhaltigerem und konstanterem Nahrungsangebot, so wird ihm diese Prägung auf Sparsamkeit zum Verhängnis. Ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, Diabetes mellitus Typ 2 und Herzkreislauferkrankungen sind die Folge. Diese Argumentationslinie findet sich vor allen Dingen in den medizinischen Erklärungen von Krankheitsmustern in Gesellschaften auf dem Weg in eine westliche Moderne, beziehungsweise in Narrativen von sozialem Auf- und Abstieg (Cruickshank et al. 2001; Young et al. 2000). Epidemiologische Studien zu den Effekten von Hungersnöten während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Schweden und den Niederlanden zeigen ebenfalls, dass solche Prägungseffekte über mehrere Generationen fortwirken können. So weisen die Enkelkinder einer niederländischen Kohorte, die in den 1940er Jahren einer zeitlich klar begrenzten Hungersnot ausgesetzt war, ein erhöhtes Diabetesrisiko auf, obwohl weder ihre Eltern noch sie selbst jemals an Unterernährung gelitten haben (vgl. Kaati et al. 2002; Roseboom et al. 2006). Komplettiert werden diese Prägungseffekte durch das evolutionsbiologische Narrativ des sparsamen 313

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Genotypen (Neel 1962). Diese Hypothese geht davon aus, dass unser Genom bereits vor Millionen von Jahren in Zeiten mit schwankendem Nahrungsangebot auf Sparsamkeit programmiert wurde. Gute Fettverwertung war damals ein Selektionsvorteil. Diese Sparsamkeit wird uns nun in einer Gesellschaft des Überflusses zum Verhängnis – so die evolutionsbiologische Erzählung, die auf vielerlei Vorannahmen beruht, die hier nicht im einzelnen beleuchtet werden können (vgl. Lipphardt/Niewöhner 2008). Es lässt sich festhalten, dass der bereits in einen metabolischen Zeithorizont eingebettete Körper nun aus Sicht der Evolutions- und Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) und der Epidemiologie auch noch generationale und evolutionäre Zeithorizonte in sich trägt. Diese Einbettung verhindert nicht grundsätzlich eine Intervention zur Gewichtsreduktion. Sie bringt aber eine deutliche Trägheit ins Spiel, die mit zusätzlichem Aufwand überwunden werden muss. Sie ist vor allen Dingen zunehmend wirkmächtig im populärwissenschaftlichen Diskurs und birgt das Potential, sowohl die Frage von Schuld als auch die von Verantwortung und Solidarität im Kontext von Übergewicht neu zu definieren.

Frühkindliche Widrigkeiten Die oben diskutierten evolutionsbiologischen und epidemiologischen Befunde werden derzeit durch epigenetische Forschungsarbeiten mechanistisch, beziehungsweise molekular unterfüttert. Epigenetik bezeichnet in diesen Studien die Veränderung von Genexpressionsmustern durch Umwelteinflüsse. Untersuchbar wird dies durch Methoden, die zum einen Veränderungen in den Molekülen aufspüren, die für die Struktur der DNA-Doppelhelix verantworlich sind (Histonmodifikation). Zum anderen analysieren diese Methoden die Anhaftung bestimmter Moleküle, so genannter Methylgruppen, an speziellen DNAAbschnitten (Methylierung). Beide Mechanismen verändern die Ablesbarkeit der DNA und damit ihre Umsetzung in Eiweiße, ohne dabei die eigentliche Basensequenz der DNA zu verändern. Relevant für die oben genannten Befunde ist dies vor allem deshalb, weil epigenetische Markierungen an der DNA eine Möglichkeit darstellen, erworbene Eigenschaften an die nächste Generation zu vererben, ohne dass dafür DNA Mutationen notwendig wären. Entgegen der bisherigen Annahme, dass der Informationsfluss immer nur in eine Richtung von Gen zu Protein verläuft, mehren sich nun die Anzeichen, dass Information auch in die andere Richtung fließt. Das Genom scheint zu lernen. Experimentelle Arbeiten vor allem mit Ratten (z.B. Roth et al. 2009; Szyf 2009), aber auch am menschlichen Körper (McGowan et al. 2008; 314

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McGowan et al. 2009), ermöglichen nun einerseits eine genauere Untersuchung der molekularen Mechanismen. Andererseits machen sie aber auch eine genauere Spezifizierung und Kontrolle der Umwelteinflüsse möglich und nötig. Aus diesen Arbeiten kristallisiert sich das Konzept der early life adversity heraus, d.h. der frühkindlichen Widrigkeiten, die sich auf das epigenetische Profil auswirken und damit Krankheitsdispositionen verändern können. Von besonderem Interesse sind diese Arbeiten vor allem auch, weil sie das Forschungsinteresse nun auf die Umweltfaktoren selbst lenken. Welche Art von Umwelt verursacht welche Art von epigenetischen Veränderungen? Die Wissenschaftshistorikerin Hannah Landecker spricht im Zusammenhang ihrer Untersuchungen von Epigenetik im Feld der Ernährungsforschung von einer „Molekularisierung der Umwelt“ (Landecker 2010) und bezeichnet damit die aus einer molekularen Logik heraus angestellten Untersuchungen von Umwelt auf Substanzen, die beim Menschen epigenetische Veränderungen verursachen könnten. In der Verhaltensepigenetik setzt sich eine ähnliche Stoßrichtung durch. Hier geht es allerdings nicht nur um epigenetisch aktive Substanzen, sondern um das soziale und materielle Umfeld des Menschen insgesamt. Stress bildet hier das semantische Bindeglied zwischen epigenetischen Veränderungen im Hirn und spezifischen Lebensumständen. Als Konzept lässt sich Stress als Angriff auf das dynamische Gleichgewicht des Körpers mindestens bis zu den frühen Arbeiten von Walter Cannon in den 1930er Jahren zu Blutdruck und Kriegsneurosen (shell shock) verfolgen (Niewöhner 2008). In den letzten fünfzehn Jahren hat sich jedoch vor allem das Wissen über die neurobiologischen Grundlagen von Stresswirkung vervielfacht, so dass es momentan plausibel erscheint, dass die so genannte Stressachse aus Hypothalamus, Hirnanhangdrüse und Nebennierenrinde durch die Ausschüttung von Hormonen auf ungünstige Umwelteinflüsse reagiert (McEwen 1998; Rosmond 2005). Diese Hormonausschüttung wiederum kann als chronischer Zustand (Hypercortisolaemie) auch auf das Herzkreislaufsystem wirken und beispielsweise Übergewicht begünstigen (Rosmond 2005). Dieser Mechanismus, der auch epigenetisch regulierbar scheint, bietet nun ein molekulares Korrelat für die Suche nach Stressoren. Dabei sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt und die Forschungsdesigns und Hypothesen richten sich vor allem pragmatisch nach vorhandenen Datensätzen, beziehungsweise existierenden Theorien. Eine zentrale Rolle spielt daher weiterhin soziale Ungleichheit, die als „social positioning“ auf ihre moleku-

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larbiologischen Effekte hin untersucht wird.3 Aber auch Marker für Migration und „displacement“ oder mütterliches Fehlverhalten werden im Tiermodell untersucht. Diese Befunde bringen neben neuen zeitlichen Horizonten auch die soziale und materielle Umwelt mit ins Spiel. Die Haut ist keineswegs mehr die „last line of defense“, die den autonomen individuellen Körper sauber von seiner Umwelt trennt (Bentley 1941). Stattdessen erscheint der Körper aus molekularer Perspektive eingebettet in eine Lebenswelt aus sozialen Strukturen und materieller Umwelt. Die vielfach hervorgehobene Molekularisierung der Medizin (Franklin 2000; Rose 2001) schreitet also auch im Bereich der Herzkreislauferkrankungen voran. Sie führt aber keineswegs zu einem zunehmend reduktionistischen und hermetischen Körperverständnis. Im Gegenteil: es entsteht ein Körperkonzept, das auf vielfältige Weise in bestimmte Wahrnehmungen von Umwelt eingebettet ist und das zunehmend an Überlegungen anzuschließen scheint, die in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, zumindest aber vor der Genetisierung der Biologie in den 1960er und 70er Jahren präsent waren.

Zwischenbilanz In der aktuellen lebenswissenschaftlichen Forschung ist ein Körperkonzept im Entstehen begriffen, dass signifikant von den in der Biologie und der Medizin der Nachkriegszeit prägenden Vorstellungen individueller Autonomie abweicht. Dieser neue Körper ist sowohl in seine eigene Vergangenheit als auch in seine materielle und soziale Umwelt biologisch-mechanistisch eingebettet. Vergangenheit und Umwelt sind nicht nur symbolisch oder vermittelt über Verhalten präsent, sondern haben sich über die Justierung von Stellschrauben derart somatisch eingeschrieben, dass sie gegenwärtige physiologische Prozesse unmittelbar beeinflussen. Diese Verschiebung verändert die Beziehung zwischen Person und Körper. Zum einen stellt sich die Frage, ob nun auf neuartige Weise Verantwortung für das eigene biologische Substrat übernommen werden muss. Trans-generationale Verantwortung erweitert hier das romantische Konzept von Bildung als geistige Formung des Selbst um eine substantielle Dimension. Zum anderen, und wichtiger im Kontext dieses Aufsatzes, stellt das neue Körperkonzept die Formbarkeit von Soma grundsätzlich in Frage. Die bisherige Vorstellung, dass eine Person Kontrolle über ihren Körper hat und ihn damit auch durch Verhalten 3

Dieser Befund ergibt sich aus der noch unveröffentlichten Arbeit eines molekularbiologischen Labors in dem der Autor Anfang 2009 eine mehrmonatige Laborstudie durchgeführt hat.

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verändern kann, wird durch das Konzept des eingebetteten Körpers in Frage gestellt. Der aktivierende Staat samt seines gouvernementalen Regulierungsstils trifft auf einen für das Selbst nur noch zum Teil verfügbaren Körper. Das Dilemma ist offensichtlich. Es gilt zu beobachten – und die Entwicklung, die in den folgenden Abschnitten skizziert wird, lassen es ahnen – inwieweit diese Befunde einer Re-Naturalisierung und damit auch Reifizierung von Körperlichkeit Vorschub leisten. In jedem Fall haben sie das Potential, der viel beschworenen Verfügbarkeit von Biologie (Rose 2007) eine gegenläufige Dynamik zu unterlegen, die den Körper seiner ontologischen Verhandelbarkeit entzieht.

Interventionslogiken im Wandel: die neuen Unterschichten Die Gesundheitspolitik und die Medizin der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert haben nicht nur in Deutschland zunehmend auf den aktivierenden Staat und gouvernementale Reg(ul)ierungsformen gesetzt. Das neoliberale Credo von choice und participation, von Wahlmöglichkeit und Teilhabe, hat zwar in den sozialmarktwirtschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik nach 1989 nicht die gleiche Strahlkraft erreicht, wie in angloamerikanischen Breiten. Aber auch hierzulande ist shared decision-making als Richtschnur ärztlicher Beratungspraxis nicht mehr weg zu denken. Dies gilt auch für Prävention und Gesundheitsförderung. Wenn es gelingt, bei Ernährung und Bewegung die gesunde Wahl zur einfacheren Wahl zu machen und betroffene Individuen angemessen zu beraten, das heißt sie mit den neuesten Informationen zu versorgen, so steht einer Verschlankung der Bevölkerung nicht mehr viel im Weg. Das Scheitern der allermeisten Präventionsprogramme hat rasch Skepsis über die Wirksamkeit dieses Modells aufkommen lassen. Hinzu kommt ab dem Ende der 1990er Jahre die zunehmende Hysterie ob der im Entstehen begriffenen weltweiten Übergewichts- und Adipositasepidemie (James et al. 2001). Übergewicht wandelt sich vom persönlichen Gesundheitsrisiko zum nationalen ökonomischen Problem. Denn wenn zu viele Arbeitnehmer mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus von der Beiträgerseite auf die Empfängerseite der Sozialkassen wechseln, kann die Stabilität des Sozialsystems nur mit politisch hochgradig unpopulären Mitteln wie Beitragserhöhungen gewährleistet werden. Inwieweit die Zahlen, die diesen besorgten Rechnungen in Finanzund Gesundheitsministerien zu Grunde liegen, belastbar sind, sei hier dahingestellt. Denn die politische, medizinische und öffentliche Wahr317

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nehmung nimmt die Entwicklung als Krise wahr und damit wächst der Druck auf jeden Einzelnen und jede Einzelne, Gewicht als medizinischökonomisches Risiko wahrzunehmen und dementsprechend zu reagieren. Allein, das Fett zeigt sich unbeeindruckt von dieser Verschiebung und der Intensivierung der Bemühungen. Deshalb gewinnt etwa seit 2005 ein rauerer Ton und eine neue Logik in der Debatte zunehmend an Gewicht. „Aufsuchende Prävention“ als neues Credo signalisiert einen Wendepunkt. „Aufsuchend“ signalisiert zwar zum einen ‚sich Sorgen um‘ und mancher mag den ärztlichen Hausbesuch vergangener Tage mit diesem Begriff assoziieren. Zum anderen macht dieses Konzept aber deutlich, dass die Entscheidung für oder gegen Prävention jetzt nicht mehr bei den Betroffenen liegt. Sie werden aufgesucht – ob sie wollen oder nicht. Dies gilt selbstverständlich nicht für die gesamte Bevölkerung. Große Teile der bürgerlichen Mittelschichten sind von diesen Maßnahmen nicht betroffen. Bei ihnen greift ja auch das gouvernementale Regierungsmodell noch, wie volle Wellness-Center, Nordic Walking Kurse und Fitnessstudios beweisen. Die neuen Zielgruppen der Präventionsprogramme liegen in den unterbürgerlichen Schichten, von denen angenommen wird, dass sie erstens rapide an Gewicht zunehmen und zweitens auf Aktivierungsbemühungen herkömmlicher Art nicht reagieren. Diese Entwicklung lässt sich in Deutschland nur schlecht von einer neuen Unterschichtsdebatte trennen, die mit Beginn des neuen Jahrtausends aufkommt. Der Soziologe Robert Castel schreibt: „[Vielmehr] sieht [es] ganz so aus, als ob unsere Gesellschaft in ihrem Schoß das Profil einer Bevölkerungsgruppe wiederentdeckte, das man für verschwunden geglaubt hatte, ‚Nichtsnutze‘, die sich darin aufhalten, ohne wirklich dazuzugehören. Ihnen kommt die Position von Überzähligen zu, die in einer Art gesellschaftlichem no man’s land umhertreiben, die nicht integriert und zweifelsohne auch nicht integrierbar sind, zumindest in dem Sinne, in dem Durkheim von Integration als der Zugehörigkeit zu einer ein Ganzes bildenden Gesellschaft, bestehend aus voneinander abhängigen Teilen, spricht.“ (Castel 2000: 359)

Gesundheitspolitisch gelesen ist dies die Gruppe der mittels Präventionsprogrammen Nicht-Aktivierbaren; derjenigen, an denen gouvernementale Regierungsformen scheinbar spurlos vorübergehen. Aus epidemiologischer Perspektive zeichnet sich diese Gruppe durch deutlich erhöhte Mortalität und Morbidität aus. Traditionelle Risikofaktoren für Herzkreislauferkrankungen sind prävalent. Diese Gruppe von Präventionsresistenten wird im politisch-medizinischen Diskurs auf der Basis 318

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der vermuteten Resistenzmotive noch einmal in mindestens zwei Lager geteilt: Auf der einen Seite werden Menschen mit Migrationshintergrund ausgemacht, die aus kulturellen Gründen Präventionsangeboten nicht Folge leisten oder leisten können. So essen türkische Migrant_innen nun einmal aus kulturellen Gründen lieber „ungesundes“ Weiß- als „gesundes“ Vollkornbrot. Auf der anderen Seite finden sich die unteren Perzentile des deutschen sozio-ökonomischen Spektrums. Diesen schreibt der politisch-medizinische Diskurs als Motiv eher fehlende ökonomische Ressourcen zu und geht davon aus, dass drängendere Probleme im Alltag den Wunsch nach gesunder Lebensführung überlagern. Die präventiven Nichtsnutze sind also ausgemacht. Nun stellt sich aber das Problem, dass gerade in Deutschland aufgrund seiner jüngeren Vergangenheit Interventionen in Kollektive, beziehungsweise in Populationen gerechtfertigt werden müssen (vgl. Niewöhner et al. in Erscheinung). Wenn Interventionen von den individualmedizinischen Grundsätzen der informierten Zustimmung und der Wahrung der Autonomie abweichen, muss dies begründet werden. In bereits organisierten Kollektiven, wie beispielsweise der Arbeiterschaft eines Betriebs und damit der betrieblichen Vorsorge, ist dies weitgehend akzeptiert. Zunächst aber auf medizinisch-ökonomischer Basis eine Population zu kreieren und diese dann zum Ziel spezifischer Interventionen zu machen, bedarf spezieller Rechtfertigung. Es bedarf vielleicht nicht einer umfassenden Exklusionsstrategie, die nacktes Leben produziert (Agamben 1998). Die Logik des Lagers würde den Bereich der Herzkreislaufprävention sicherlich auf wenig hilfreiche Art und Weise dramatisieren und auch die Wissensarbeit, die diesen Regulierungsbemühungen zugrunde liegt, verkennen. Tatsächlich werden jedoch durch die Verbindung von Unterschichtsdebatte und biomedizinischem Diskurs spezifische Gruppen vom Aktivierungsdiskurs des gouvernmentalen Regierungsstils ausgeschlossen und damit gerechtfertigt, in diese Gruppen direkter und disziplinierender zu intervenieren. Mit dieser Verschiebung löst sich weder individuelle Autonomie im philosophischen Sinne auf, noch werden Grundrechte im juristischen Sinne aberkannt. Die neuen biomedizinischen Wissensbestände helfen jedoch, den eingebetteten Unterschichtenkörper zum legitimen Ziel medizinisch-politischer Interventionen zu machen. In dem Individuen die volle Kontrolle über und Verantwortlichkeit für ihre eigenen Körper streitig gemacht wird, wird es möglich und legitim, diese Körper direkt zu disziplinieren und nicht den „Umweg“ über die Regulierung des bürgerlichen Subjekts zu nehmen. Die Re-Naturalisierung von Körperlichkeit und Intervenierbarkeit ist hier bereits in vollem Gange. 319

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S c h l u s s f o l g e r u n g e n : Ne o - S o z i a l h y g i e n e So gelingt es unter anderem mittels biomedizinischer Argumente, spezifische Gruppen derart zu isolieren, dass Interventionen auf kollektiver Ebene und ohne Wahlmöglichkeit und Teilhabe legitim erscheinen. Diese Interventionen zielen zum einen auf settings, d.h. nicht auf Verhalten, sondern auf Verhältnisse. Aber auch hier bleiben meist Wahlmöglichkeiten offen. Man kann sich immer noch gegen gesundes Verhalten entscheiden und Parks und Sportmöglichkeiten nicht nutzen. Die Wahlmöglichkeit wird also aus volkswirtschaftlicher Sicht zum neuen Risiko, denn viele, die die Wahl haben, entscheiden sich konsequent „falsch“ und gefährden damit die Stabilität der Sozialsysteme. Daher gehen viele der neuen Interventionen noch einen Schritt weiter und setzen in der frühen Kindheit an. Die Parallele zum Konzept der frühkindlichen Widrigkeiten der molekularen Biologie ist mit Sicherheit keine Koinzidenz, sondern liegt in der gemeinsamen westlichen Kosmologie begründet, die holistische Konzepte von Kindheit, Entwicklung und bürgerlicher Identität transportiert und verfügbar macht. Schwangere Frauen, Kindergärten und Schulen sind daher die neuen Ziele von Prävention. Denn wenn Kinder erst einmal schlechte Gewohnheiten angenommen haben, werden sie diese nicht mehr ablegen, wie das Scheitern aktueller Präventionsbemühungen eindrucksvoll beweist. Kleine Kinder müssen also rechtzeitig an den richtigen Lebensstil gewöhnt werden. Diese Ansatzpunkte sind natürlich keineswegs neu. Bemühungen, Kindheit in welcher Weise auch immer erfüllt zu gestalten, hat es immer gegeben. Geistige und körperliche Gesundheit haben dabei schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch zeigen ethnographische Untersuchungen, dass viele Aspekte der neuen Präventionsprogramme nicht so heiß gegessen werden, wie sie gekocht sind. Es findet also keineswegs eine einfache Re-Territorialisierung von pädagogischen Räumen durch die Medizin statt. Vielmehr zeigen sich im Alltag vielfältige Widerstände gegen einfache Logiken der Prävention, so dass im Endeffekt immer nur einzelne Elemente von kompletten Programmen umgesetzt werden. Ebenfalls nicht neu ist die Logik, die hinter diesen neuen Formen der Prävention steht. Sie bricht zwar deutlich mit dem aktivierenden Staat und verändert gouvernementale Regulierungsformen insofern, als dass Handlungsträgerschaft anders verteilt wird als bisher. Sie greift damit aber zugleich althergebrachte Konzepte der Jahrhundertwende des vorigen Jahrhunderts auf. Die Bemühungen um gesunde Lebenswelten und frühkindliche Erziehung ohne Rücksicht auf die Vorstellungen der Betroffenen erinnern deutlich an die sozialhygienischen Bemühungen eines Virchow oder eines Grotjahn, beziehungsweise an die Lebensreformer 320

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der 1920er Jahre (Lengwiler/Beck 2008). Es bleibt abzuwarten, inwieweit Prävention sich tatsächlich wieder auf den Paternalismus des frühen 20. Jahrhunderts zu bewegen wird. Wahrscheinlicher als eine simple Rückkehr scheint die Entwicklung eines post-liberalen Paternalismus, der genau so sehr von einer Logik der Achtsamkeit geprägt sein kann (Mol 2008), wie von Überheblichkeit und Entmündigung.

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Konzeptuali si erung(en) de s Metaboli sch en Syndro ms: Ver su ch ein er disku rshi st oris ch en A na ly se über ein zeitgenö ssi s che s Syndro mk onzept MARTIN DÖRING

1. Das Metabolische Syndrom: Zur Aktualität eines medizinischen Konzepts Am 21. Mai 2008 unterzog sich die bayerische Staatsministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, Christa Stevens (CSU), einem besonderen Gesundheitscheck. Die Staatsministerin ließ sich in der Münchener Rosen-Apotheke den Blutdruck, den Blutzucker und den Bauchumfang messen. Damit war der Startschuss für die bundesweite Aufklärungsaktion Rufzeichen Gesundheit! gegeben, mit der die Deutsche Herzstiftung und die Deutsche Diabetes Stiftung auf die neue Volkskrankheit Metabolisches Syndrom (MetSyn) aufmerksam machen wollten. Vorbereitet und medial unterstützt wurde diese Aktion durch die Apotheken Umschau1, die sich in ihrer Ausgabe vom 15. Mai 2008 1

Die Apotheken Umschau ist ein Gesundheitsmagazin in Deutschland, das als Kundenzeitschrift in Apotheken gratis ausliegt. Die Zeitschrift wird vom Wort und Bild Verlag (Baierbrunn) seit 1956 herausgegeben und durch Werbung sowie einen Eigenanteil der Apotheken (in der Regel 50 Cent pro Exemplar) finanziert. Jede Ausgabe widmet sich einem Themenschwerpunkt und hält darüber hinaus weitere Informationen über alle möglichen Fragen in Bezug auf Gesundheit und gesundheitsförderndes Verhalten bereit. Nach eigener Auskunft betreibt die Apotheken Umschau Gesundheitsaufklärung. 325

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dem Themenschwerpunkt MetSyn widmete (Abb. 1). Neben der Darstellung der krankheitsauslösenden vier Risikofaktoren – bauchbetontes Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und erhöhte Blutfette – unterstrich die Ausgabe der Apotheken Umschau auch die Relevanz präventiver Maßnahmen: Mehr Bewegung, eine gesündere Ernährung, der Verzicht auf den Konsum von Tabakwaren, mehr Zeit für Entspannung im anstrengenden Berufsalltag und vor allem genügend Schlaf sind die Eckpfeiler gesundheitsfördernder Maßnahmen, mit denen dem MetSyn begegnet werden könne. Anschaulich illustriert wurden diese Empfehlungen für eine gesündere Lebensführung mit Erfahrungsberichten von Betroffenen, die die erwähnten präventiven Anforderungen erfolgreich in ihren Alltag integriert haben. Abgeschlossen wurde die Titelgeschichte mit dem großen Risiko-Test, der die Leserinnen und Leser darüber informieren sollte, ob sie in Zukunft am MetSyn erkranken könnten. Damit wurde, so könnte man anhand einer Auflagenhöhe von rund 4 Millionen Exemplaren2 vermuten, das medizinische Konzept des MetSyn im Rahmen der Apotheken Umschau zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Historisch betrachtet handelt es sich beim MetSyn um das Konzept eines Symptomkomplexes, das seit den 1920er Jahren in der wissenschaftlichen Literatur vereinzelt anzutreffen ist. Grundlegend für dieses Konzept ist die Vermutung, dass den Risikofaktoren bauchbetontes Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes und erhöhte Blutfette eine verbindende pathophysiologische Ursache zugrunde liegt, die das Krankheitsbild des MetSyn auslöst und steuert, und als Ursache für kardiovaskuläre Erkrankungen interpretiert wird. Trotz der relativ früh entwickelten Hypothese einer möglichen gemeinsamen Ursache erreichte das Konzept des MetSyn erst in den 1980er Jahren mit den Publikationen von Hanefeld/Leonard (1981) und Gerald Reaven (1988) einen wissenschaftlich wachsenden Bekanntheitsgrad. Seit diesen Publikationen, die für eine konsequente Anwendung des Syndrombegriffs3 plädieren und das MetSyn als nosologische Entität 2

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Angaben zur Auflagenhöhe schwanken je nach Quelle zwischen vier und neun Millionen Exemplaren. Trotz dieser nicht unerheblichen Divergenzen bleibt festzuhalten, dass die Apotheken Umschau eine der wichtigsten medialen Informationsquellen für Fragen in Bezug auf Gesundheit darstellt. Der Syndrombegriff im Kontext des MetSyn fokussiert das parallele Vorliegen verschiedener Symptome, deren Ätiologie und Pathogenese mehr oder weniger bekannt oder als ursächlich zusammenhängend veranschlagt werden. Im vorliegenden Fall werden die vier Symptome als grundlegend angesehen, die angeblich in enger Verbindung mit kardiovaskulären Erkrankungen wie z.B. Herzinfarkt oder Schlaganfällen stehen.

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Abbildung 1: Der bayerischen Staatsministerin für Arbeit, Sozialordnung, Familie und Frauen, Christa Stevens (CSU), wird am 15.05.2008 in der Rosen-Apotheke in München der Blutdruck gemessen.

Quelle: Seite des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen. Internetadresse: http://www.arbeitsministerium.bayern.de/cgi-bin/pm.pl?PM=0805257.htm (zuletzt eingesehen am 2.7.2008).

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veranschlagen, entwickelt sich eine über mehr als zwei Jahrzehnte intensivierende und umfassende Forschungs- und Publikationstätigkeit: Ende 2009 verzeichnet die medizinische Literaturdatenbank PubMed unter dem Schlagwort „Metabolic Syndrome“ allein 29.141 Einträge zum MetSyn. Gekennzeichnet sind die umfangreichen Publikations- und Forschungsaktivitäten durch wiederkehrende und teilweise heftige Kontroversen bei Konferenzen und in Fachjournalen, in denen das MetSyn immer wieder als wissenschaftliches Konstrukt bezeichnet wird, das weder einen wissenschaftlichen noch einen klinischen Mehrwert hat. Trotz dieser wissenschaftlichen Konflikte und Kontroversen erhält das MetSyn in der 10. Ausgabe der International Classification of Disease internationale Anerkennung in Form eines eigenen Codes (ICD9CM), während es in Deutschland im Gesundheitsbericht des Bundes im Jahr 2006 eine nicht unerhebliche Rolle spielt, da „[…] [d]as frühe Erkennen, die Therapie und Prävention des metabolischen Syndroms […] zu den großen Herausforderungen im Gesundheitssystem“ gehöre (Robert Koch Institut 2006: 117-118). Zwei Jahre später, im Jahr 2008, folgt die erste Praxis-Leitlinie metabolisch-vaskuläres Syndrom der Fachkommission Diabetes Sachsen in Deutschland.4 Diese skizzenhafte Darstellung könnte dazu Anlass geben, die Entstehungsgeschichte des MetSyn als den Erfolg eines medizinischen Konzepts zu interpretieren, dessen Entwicklung trotz der für die Wissenschaft üblichen Kontroversen und Meinungsunterschiede kontinuierlich fortschreitet. Der Prozess könnte etwa so skizziert werden: Der wissenschaftlichen Erforschung folgt die institutionelle Verankerung und Vernetzung auf nationaler und internationaler Ebene, die vom Bemühen um eine Konkretisierung und einheitliche Definition des MetSyn gekennzeichnet ist. Wissenschaft schreitet also voran, entdeckt Phänomene, klärt deren Ursachen sowie Entstehungszusammenhänge und bietet Problemlösungen an. Diese Entwicklung stellt sich jedoch nicht so einfach wie vermutet dar, denn wissenschaftliche Phänomene werden nicht ent-deckt, sondern in komplexen wissenschaftlichen und sozialen Kontexten hergestellt. Dies macht für die hier nur andeutungsweise umrissene Forschung zum MetSyn eine theoretische Vorgehensweise notwendig, die Hans-Jörg Rheinberger (2007) als historische Epistemologie be4

An der Entwicklung der Praxisleitlinie waren Experten der Fachkommission Diabetes Sachsen zusammen mit Vertretern der Europäischen Kardiologen Gesellschaft, der Europäischen Arteriosklerose-Gesellschaft, dem National Cholesterol Education Program Adult Treatment Panel III, der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, der Deutschen Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdrucks, der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, der Bundesärztekammer (Versorgungsleitlinien) beteiligt.

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zeichnet. Anknüpfend an den französischen Sprachgebrauch des Begriffs Epistémologie und auf die umfangreiche Forschung von Gaston Bachelard (1984) Bezug nehmend, geht es im Ansatz der historischen Epistemologie um „[…] die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten […]“ wird (Rheinberger 2007: 11). Der vorliegende Beitrag nimmt die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, genauer unter die Lupe. Gegenstand der Analyse sind sprachliche Phänomene in wissenschaftlichen Publikationen zum MetSyn, deren konzeptuell-semantische Rahmung aus der Perspektive der historischen Diskursanalyse (Sarasin 2003; Landwehr 2008) und der historischen Semantik (Busse 1987) untersucht wird: Das „[…] Zusammenspiel von sozialen Praktiken, Bedeutungsproduktion und symbolischen Zuschreibungen […]“ soll im vorliegenden Beitrag in Bezug auf das MetSyn ein Stück weit offen gelegt und analysiert werden (Tanner 2004: 28). Die Untersuchung basiert auf der Analyse wissenschaftlicher Reviews, die methodisch dem Paradigma der Grounded Theory (Clarke 2005; Charmaz 2006) folgend für den vorliegenden Beitrag bearbeitet wurden. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Anschlussfähigkeit an die historische Diskursanalyse und die historische Semantik gewährleistet ist, da konstituierende, geteilte und stabilisierende Wissenselemente aus dem Datenmaterial herausdestilliert und so analytisch-konstruktiv verfügbar gemacht wurden. Ziel des Beitrags ist es, mit der Analyse wissenschaftlicher Reviews zum MetSyn Einblicke in die konstitutiven Elemente des synchronen Herstellungsprozesses eines medizinischen Konzepts zu ermöglichen, diese zu reflektieren und sie ein Stück weit auf ihre Anschlussfähigkeit an gesundheitsrelevante Vorstellungs- und Deutungshorizonte hin zu befragen. Oberflächlich betrachtet scheint diese Anschlussfähigkeit zu bestehen, denn derzeit wird das MetSyn als sinnvolles wissenschaftliches sowie klinisch-pädagogisches Begriffskonstrukt für Patienten verstanden, denn ansonsten hätte sich Staatsministerin Christa Stevens – wie im Eingangsbeispiel dargestellt – nicht derart öffentlichkeitswirksam im Rahmen der Aktion Rufzeichen Gesundheit! auf das MetSyn hin untersuchen lassen. Koalitionen von Wissenschaft und Politik machen jedoch stutzig und unterstreichen gerade im Hinblick auf den Herstellungsprozess von biomedizinischen Konzepten die Relevanz einer kritischen Ontologie (Foucault 2005: 700) oder so genannter ontological politics (Law 2004: 65-67), die helfen können, jenseits wissenschaftlich-autoritativen Wissens neue oder bestehende Perspektiven produktiv zu hinterfragen und damit zu präzisieren (Lemke 2007: 152-154). 329

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Ausgehend von diesen einleitenden Überlegungen wird im folgenden Abschnitt der Untersuchungsgegenstand – das MetSyn – holzschnittartig in seiner historischen Entwicklung skizziert, bevor ich in zwei weiteren Abschnitten die für die Untersuchung relevanten theoretischen und methodischen Aspekte darlege. Danach folgt die empirische Analyse von Kollektivsymbolen, die anhand repräsentativer Textbeispiele illustriert werden. Das abschließende Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen und versucht ein Stück weit die in den Reviews aufgeführten „Wissens-, Wirklichkeits- und Rationalitätsstrukturen“ einer Bewertung zu unterziehen (Landwehr 2008: 165).

2. Die Genese des Metabolischen Syndroms: Zur Geschichte eines weiten Forschungsfeldes In den vergangenen rund 30 Jahren hat sich in der biomedizinischen Forschung das Konzept des MetSyn in einer Weise etabliert, die zu einer wahren Flut an Publikationen geführt hat (Abb. 2). Ende 2009 verzeichnet die medizinische Bibliographie PubMed unter dem Begriff Metabolic Syndrome – wie erwähnt – knapp 30.000 Einträge. Damit reicht das MetSyn zwar nicht an Bestmarken so genannter Volkskrankheiten wie z.B. Alzheimer (knapp 69.000 Einträge), Herzinfarkt (rund 165.000 Einträge) oder Diabetes (rund 270.000 Einträge) heran, rangiert numerisch betrachtet jedoch auf Augenhöhe mit Krankheiten wie beispielsweise Schlaganfall (rund 35.000 Einträge). Der Begriff MetSyn bezeichnet eine Anhäufung prävalenter Fehlsteuerungen, die als wichtige Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen veranschlagt werden: Typ 2 Diabetes Mellitus, Dyslipidämie, bauchbetontes Übergewicht und deutlich erhöhter Bluthochdruck werden als entscheidende Indikatoren angesehen. Ihr kollektives Auftreten im Verbund mit Erkrankungen der Blutgefäße legt die Vermutung nahe, dass es einen gemeinsamen pathophysiologischen Hintergrund oder verbindenden Mechanismus dieser Faktoren geben könnte. Der biomedizinischen Forschung folgend scheint Insulinresistenz eine wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle bei der Ausprägung des MetSyn (Zimmet 1992) zu spielen, dessen Geburtsstunde fachhistorisch in vielen Publikationen in Gerald Reavens (1988) Konzept des Syndrome X gesehen wird. Genauer betrachtet war er jedoch nicht der Erste, der den möglichen Zusammenhang von Insulinresistenz und weiteren Risikofaktoren wie etwa Bluthochdruck in Betracht zog. Schon zu Beginn der 1920er Jahre stellten die österreichischen Ärzte Karl Hitzenberger 330

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Abbildung 2: Tabellarische Darstellung der Publikations- und Zitationsaktivitäten zum Metabolischen Syndrom aus dem ISI-Citation-Index bis zum Jahr 2008.

Quelle: Screenshot des ISI-Citation Index aus dem Fundus des Autors.

und Martin Richter-Quittner (1921a) Überlegungen über die funktionale Beziehung von Blutdruck und Diabetes Mellitus an (Hitzenberger 1921). Grundlage ihrer Arbeit waren klinische Untersuchungen in den Kriegsjahren 1915/1916, die aufgrund der Kriegswirren erst 1921 publiziert werden konnten. Unabhängig von der Arbeit der beiden Wiener Ärzte befassten sich auch der Schwede Eskil Kylin (1921) am städtischen Hospital in Jönkoping und der in Madrid geborene und praktizierende Endokrinologe Gregorio Marañon (1922) mit dem möglichen Zusammenhang von Diabetes Mellitus und Bluthochdruck. Beide publizierten im Jahr 1921 im Zentralblatt für innere Medizin Aufsätze über ihre jeweilige Forschung, in denen das gemeinsame Auftreten von Bluthochdruck und Diabetes Mellitus bei Erwachsenen anhand klinischer Studien beschrieben wird. Kylin und Marañon vermuteten also zeitgleich und unabhängig voneinander, dass beiden Erkrankungen ein gemeinsamer oder verbindender Mechanismus zugrunde liegt, den es zu finden und zu definieren galt. Wenige Jahre nach den Arbeiten von Kylin und Marañon bekam das, was später einmal das MetSyn werden sollte, zum ersten Mal einen Namen: Hypertoni-Hyperglycemi-Hyperurikemi-Syndrom (Kylin 1923). Aus heutiger Warte betrachtet war mit diesen ersten Arbeiten eine wichtige Voraussetzung für die anschließende Forschung geschaffen: Ein möglicher pathophysiologischer Zusammenhang der bis dahin als separat veranschlagten Symptome Diabetes Mellitus und Bluthochdruck – sowie später noch erhöhte Harnsäurewerte (Kylin 1923) – konnten im Kontext einer Syndromheuristik als verbunden konzeptualisiert und wissenschaftlich plausibel dargestellt werden. Dieser erste konzeptionelle Schritt in Richtung eines Syndromkonzepts führte forschungshistorisch betrachtet zur Fokussierung auf den Beitrag und die Relevanz einzelner Symptome sowie deren Rolle für den 331

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Symptomkomplex. So entwickelte Himsworth (1936) in seiner Forschung über Diabetes Mellitus eine Differenzierung von Patienten in insulinresistente und insulinsensitive Individuen, die er im Frühjahr 1939 in seinen Goulstonion Lectures at the Royal College of Physicians in London ausführlich einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellte (Himsworth 1939a; 1939b; 1939c; 1939d). Das Ergebnis seiner Forschung bestand im Kern darin, dass Diabetes Mellitus sowohl auf einen Mangel als auch auf eine Dysfunktion bereitgestellten Insulins zurückgeführt werden kann. Diese Einsicht war insofern für die spätere Entwicklung des MetSyn von Belang, weil sich durch die Arbeiten Himsworths die Gruppe potentiell Betroffener erweiterte: Diabetes konnte jetzt nicht mehr ausschließlich durch das Fehlen oder den Ausfall der Insulinproduktion erklärt werden (Reaven 2005), sondern durch eine Dysfunktion vorhandenen Insulins. Vergleichbares vollzog sich zeitlich leicht versetzt in Bezug auf die Rolle von Übergewicht und Adipositas. Jean Vague, ein Arzt an der Universität von Marseille, berichtete 1947 in einem Beitrag für La Presse Médicale (Vague 1947), dass Patienten mit Bluthochdruck, kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes Mellitus nicht unbedingt übergewichtiger als die Patienten waren, die nicht unter diesen Krankheiten litten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf deren körperliches Erscheinungsbild und im Besonderen auf die Verteilung körperlichen Fetts. Nach intensiven Forschungen, die mehr als zehn Jahre andauerten, publizierte er einen Aufsatz in Clinical Nutrition (Vague 1956), in dem er weibliche und männliche Typen der Fettverteilung und der Fettleibigkeit unterschied. Vague war der Überzeugung, dass Formen der männlichen Fettleibigkeit ein ausschlaggebender Faktor für die Entwicklung von Diabetes und Herzkreislauferkrankungen waren, während die weibliche Form der Fettleibigkeit aufgrund der chemischen Zusammensetzung des Fetts selten zu vergleichbaren gesundheitlichen Komplikationen führte. Neben Jean Vague beschäftigte sich auch Per Björntorp in den 1960er Jahren an der Universität von Göteborg mit der Morphologie menschlichen Fettgewebes (Björntorp/Martinsson 1966) und dessen Rolle für die Ausbildung von Diabetes Mellitus (Björntorp 1966; Björntop/Martinsson 1966). Björntorp rezipierte Vagues Arbeiten eingehend und zeigte in den 1980er Jahren zusammen mit seinem Kollegen Martin Krotkiewski und anderen (Krotkiewski et al. 1983; Seidell et al. 1989), dass neben der Morphologie des Fettgewebes Vagues Formen der bauchbetonten Fettverteilung einen wichtigen Risikofaktor für Herzerkrankungen und Diabetes Mellitus darstellen. Björntorp bestätigte damit Vagues Hypothese, dass die Art und Weise des Fetts und dessen Verteilung ein wichtiger Indikator für das Risiko von Herzkreislauferkrankun332

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gen darstellen (Björntorp 1990a; 1990b) und gleichzeitig leistete er entscheidende Vorarbeit für das Symptom bauchbetontes Übergewicht, dass später zum wichtigen Indikator für das MetSyn werden sollte. Neben diesen Forschungssträngen, die sich vornehmlich einzelnen Symptomen und deren eingehender Erforschung widmeten, entwickelte sich beginnend mit den 1960er bis zum Ende der 1980er Jahre ein Interesse für die funktionale Beziehung einzelner Symptome zueinander sowie für körperexterne Bedingungen wie beispielsweise Lebensstile. Diese Entwicklung ist durch eine terminologische Vielfalt gekennzeichnet, mit der unterschiedliche Konzepte erfasst und auf dem wissenschaftlichen Markt platziert wurden. So veranschlagte zum Beispiel der französische Rheumatologe Jean-Pierre Camus (Camus 1966) Gicht als Bestandteil seines trisyndrome métabolique, in dem neben besagter Gicht Diabetes Mellitus und Hyperlipidaemie wichtige Faktoren seines Konzepts darstellten. Die Italiener Avogaro und Crepaldi berichteten beim ersten Treffen der Association of the Study of Diabetes in Montecatini (Italien) 1965 über einen möglichen Zusammenhang von Hyperlipidaemie, Fettleibigkeit, Diabetes Mellitus, Bluthochdruck und dem Auftreten von Herzkreislauferkrankungen: Ihre Untersuchung basierte auf klinischen Studien und erhielt 1967 (Avogaro/Crepaldi 1967) wegen der sich numerisch recht komplex gestaltenden Symptomatik den Namen Plurimetabolic Syndrome. Nur ein Jahr später korrelierten Mehnert und Kuhlmann (1968) das vermehrte Auftreten der einzelnen Symptome mit westlich geprägten Ernährungs- und Lebensstilen. Ihr Konzept eines syndrome of affluence zeichnetE sich dadurch aus, dass sie dem Einfluss gesellschaftlicher und natürlicher Rahmenbedingungen eine maßgebliche Rolle für die Ausbildung und Entwicklung ihres Wohlstandsyndroms zuschrieben. Randle und Mitarbeiter (Randle et al. 1963) versuchten sich seit Beginn der 1960er Jahre an einer körperinternen Beschreibung des Glukose-Fett Wirkspektrums, mit dem die Relevanz von veresterten Fettsäuren für die Ausbildung von Insulinresistenz und Diabetes Mellitus erklärt werden sollte. Rund zehn Jahre später waren es dann Hanefeld und Leonard (1981), die als Erste den Begriff des MetSyn prägten. Ihr Konzept basierte auf der Korrelation epidemiologischer und pathophysiologischer Daten, die unter anderem Typ 2 Diabetes Mellitus, Hyperinsulänemie, Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Hyperlipidämie und eine Thromboseneigung umfassten. Wichtiger Bestandteil ihrer Überlegungen waren ungesunde Formen des Lebensstils, die der Ausbildung des MetSyn zuträglich waren, die nun allerdings um den Beitrag genetischer Prädispositionen erweitert wurden. Ende der 1980er Jahre publizierte dann der Endokrinologe Gerald Reaven (1988) in seinen Banting Lectures Forschungsergebnisse, die er unter dem Namen Syn333

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drome X zusammenfasste. Er vermutete in der Insulinresistenz den Auslöser für eine ganze Reihe von Nebenerkrankungen wie etwa Hyperinsulinämie, erhöhter Triglyzeride, niedrigem HDL-Cholesterin und Bluthochdruck und betonte – ähnlich wie Hanefeld und Leonard – die Relevanz genetischer und im weitesten Sinne umweltbedingter Faktoren. Reavens Ansatz der Insulinresistenz wurde auch von Norman Kaplan, einem Kardiologen an der Universität Texas, aufgenommen, jedoch um den zentralen Faktor des bauchbetonten Übergewichts ergänzt. Kaplan (1989) interessierte sich in Anlehnung an Vague und Björntorp vor allem für die Funktion von Fettablagerungen an Eingeweiden und im subkutanen Bauchbereich, denen er eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung eines Typ 2 Diabetes Mellitus zuschrieb. In seinem Deadly Quartet stellten bauchbetontes Übergewicht, Insulinresistenz, Bluthochdruck und Hypertriglyzeridämie entscheidende Faktoren dar, die zu arteriosklerotischen Komplikationen führen. Seit Beginn der 1990er Jahre verdichtete sich vor allem durch die Arbeiten von DeFronzo/Ferrannini (1991) sowie Haffner et al. (1992) der Fokus auf Insulinresistenz als dem zentralen Auslöser des MetSyn, das bei ihnen allerdings unter dem Namen Insulin Resistance Syndrome lief. Damit sind holzschnittartig die wesentlichen Linien der konzeptionellen Entwicklung, die das MetSyn von den 1960er bis zum Anfang der 1990er Jahre durchlief, dargestellt. Zusammenfassend betrachtet zeichnet sich diese Periode vor allem durch eine Intensivierung der Forschung in Bezug auf einzelne Symptome aus, die allerdings ab Anfang/Mitte der 1980er Jahre eine Erweiterung erfährt, indem vermehrt der Beitrag genetischer Dispositionen und umweltbedingter Einflüsse wie Lebensstile diskutiert werden. Auffallend ist über die Jahre auch die terminologische Heterogenität, die allerdings im Verlauf der konzeptionellen Fokussierung und der aus ihr resultierenden konzeptuellen Zusammenführung relevanter Symptome zu einer konsistenteren Verwendung der Bezeichnung MetSyn führte. Aktuell betrachtet spielt nach wie vor die Insulinresistenz im Verbund des MetSyn eine wichtige Rolle, die Typologie und der Einfluss abdominalen Fetts auf die Entwicklung des MetSyn wird nachhaltig beforscht (Björntorp 1992) und auch der Beitrag genetischer Einflussfaktoren (Gurnell et al. 2003) gerät immer wieder in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Diese bis hierher skizzierten Entwicklungen und die Vielfalt der als relevant erachteten Symptome resultiert heuristisch aus dem im Syndrombegriff implizit angelegten Systemkonzept, mit dem einzelne Entitäten als zusammenhängend gedacht oder auf ein gemeinsames Vielfaches bezogen werden können. Und genau an diesem Punkt setzt auch die anhaltende Kritik am MetSyn an: Denn was von Befürwortern des Met334

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Syn als wissenschaftliche Herausforderung angesehen wird, beurteilen Kritiker als zu komplex, nahezu unlösbar und vor allem im klinischen Kontext nicht umsetzbar. Titel von neueren Beiträgen in Fachzeitschriften wie etwa The Myth of the Metabolic Syndrome (Gale 2005) oder The Metabolic Syndrome: Resquiescat in Pace (Reaven 2005) stellen mehr als deutlich das MetSyn in Frage und verweisen im Kern immer wieder auf die Frage: Welchen Vorteil oder Sinn bietet ein integratives Syndromkonzept, das Symptome oder Krankheiten konzeptuell unter einem Dach vereint, deren Zusammenhang jedoch nach wie vor nicht erklärt und auch keine alternativen Therapieansätze jenseits der bereits bestehenden Therapien für die Einzelsymptome liefert?5 Erschwerend kommt hinzu, dass in den vergangenen Jahren nicht weniger als sechs Fachgesellschaften sieben Definitionen6 des MetSyn veröffentlicht haben, was einer konzeptuellen und vor allem auch konzeptionellen Klarheit nicht zuträglich war. Überlegungen im Kontext systembiologischer Ansätze (Lusis/Attie/Reue 2008) versprechen zwar auf längere Sicht betrachtet Abhilfe, da durch die informationstechnische Vernetzung genomischer, molekularer und physiologischer Daten die Simulation eines virtuellen MetSyn prinzipiell möglich wird. Die Frage aber danach, inwiefern diese Simulationen in ihrer Aussagekraft über bereits bestehende Ergebnisse epidemiologischer Studien hinausgehen, bleibt unbeantwortet. Die Fülle offener Fragen und die zumindest bisher ausbleibende Darstellung des wissenschaftlichen und klinischen Mehrwerts des MetSyn haben dazu geführt, dass sowohl die American Diabetes Foundation als auch die European Association for the Study of Diabetes dazu raten, das MetSyn diagnostisch nicht im klinischen Kontext zu verwenden. Dieser Entscheidung schloss sich auch Gerald Reaven, einer der Gründerväter des MetSyn, mit den Worten an: The Metabolic Syndrome: Is this diagnosis

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Damit eng verbunden ist die Frage, inwiefern das Konzept MetSyn einen Informationszugewinn gegenüber den bekannten Risikoalgorithmen wie dem Framingham Risk Score, PROCAM oder ESC Euroscore System enthält. Bisher haben sich unterschiedliche Fachgesellschaften mehr oder minder erfolgreich an Definitionen versucht, die sich zumindest bisher nicht durchgesetzt haben: Eine international anerkannte Definition des MetSyn gibt es bisher nicht, da trotz des ICD-Codes nach wie vor keine Einigung darüber erzielt werden konnte, welche Symptome in die Definition einbezogen werden sollen. Ein Consensus Workshop der International Diabetes Foundation (IDF) führte im Jahr 2005 zu einer vorläufigen Arbeitsdefinition, mit der internationale Kooperationen und der Forschungsaustausch vereinheitlicht und vereinfacht werden sollten. 335

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necessary? (Reaven 2006).7 Und dennoch, es gibt genügend Befürworter, die das MetSyn für ein sinnvolles klinisches und vor allem präventiv-pädagogisches Instrument halten. Insofern scheint es angebracht, zumindest ausschnittsweise die epistemischen Strukturen und Prozesse genauer in Betracht zu ziehen, mit denen die aktuelle Re- bzw. Neukombination von Symptomen unter dem Namen MetSyn stabilisiert wird. Unsere Vorgehensweise orientiert sich an den theoretischen und methodischen Ansätzen der historischen Diskursanalyse, mit der die sprachliche Form von Texten untersucht wird. Gegenstand der Untersuchung ist die Textsorte scientific review, deren Relevanz Adam Hedgecoe folgendermaßen zusammenfasst: „Scientific review papers can help shape disciplines and form conventional views about the history of particular discoveries […], and even the idea of a specific event, such as the discovery of a particular fact depends upon review papers to organise the claims and techniques.“ (Hedgecoe 2006: 725)

Bevor ich mich der Analyse repräsentativer Belege aus dem Datenkorpus widme, möchte ich im folgenden Abschnitt meine theoretischen und methodischen Aspekte erörtern, mit denen die epistemologischen Akte (Rheinberger 2006: 47) und legitimierende Sinnstiftungen des MetSyn auf synchroner Ebene ein Stück weit offen gelegt werden sollen. Das MetSyn ist für mich, das möchte ich an diesem Punkt noch einmal deutlich machen, kein gegebenes wissenschaftliches Faktum oder Ding an sich, das ent-deckt wird, sondern ein Gegenstand, der, wie wir gesehen haben, „unter vereinten Anstrengungen einer Gemeinschaft“ hergestellt worden ist (Rheinberger 2006: 9).

3 . H i s t o r i s c h e Di s k u r s a n a l y s e u n d Ko l l e k t i v s y m b o l e Die historische Diskursanalyse stellt laut Achim Landwehr (2008: 13) eine Forschungsrichtung innerhalb der Geschichtswissenschaft dar, die immer wieder oder auch immer noch der Erklärung und in vielen Fällen auch der Legitimation bedarf. Trotz einschlägiger Publikationen (Landwehr 2008; Sarasin/Tanner 1998; Sarasin 2003; Sarasin et al. 2007) handelt es sich bei der historischen Diskursanalyse um einen Ansatz, dessen Etablierung innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht unum7

Siehe auch die Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (2005), die sich ebenfalls vom MBS im Rahmen der Herzkreislaufprävention distanziert.

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stritten ist, auch wenn er zur theoretischen und methodischen Annäherung an diskursorientierte Ansätze in Nachbardisziplinen wie beispielsweise in der Ethnologie oder der Soziologie (Keller et al. 2001; Keller et al. 2003; Keller et al. 2005) geführt hat. Ausgangspunkt der historischen Diskursanalyse ist die anspruchsvolle Frage, wie vergangene und gegenwärtige Gesellschaften Sinn oder Bedeutungen hervorbringen, gestalten und erhalten: Es geht also um die Frage, wie durch den Sprachoder Zeichengebrauch Bedeutung hergestellt, stabilisiert, verändert, verhandelt und verbreitet wird.8 Gegenstand der Analyse können mündliche oder schriftliche Daten, größere Textkorpora, die Untersuchung von bildlichen Medien oder auch der Aufbau von Fachtexten sein. Ziel der Untersuchung ist es, semantische und formale Strukturierungen aufzudecken (Keller 2001: 9), um der Konstruktion und Konstitution von Welt im konkreten Zeichengebrauch (Keller 2004: 7) auf die Spur zu kommen. Zusammenfassend betrachtet geht es also um die Frage, wie sich im historischen Prozess unterschiedliche Wissensformen entwickeln können und bestehen, während sich andere nicht durchsetzen oder eine kurze Lebensdauer aufweisen. Das Ergebnis solcher Prozesse sind Wissensformen, die als gegeben veranschlagt und in vielen Fällen nicht mehr problematisiert werden. Gerade dieser Aspekt ist für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand des MetSyn von Relevanz, da es sich bei ihm um ein Syndromkonzept handelt, dessen Herstellungsprozess fachhistorisch noch nicht erforscht ist und das – wie bereits dargestellt – wegen seiner konzeptionellen wie konzeptuellen Offenheit innerwissenschaftlich immer wieder zu Kontroversen geführt hat. Analytisch bietet sich wegen dieser innerwissenschaftlichen Instabilität und der immer wieder aufflammenden Kontroversen die Möglichkeit, diskursive Strategien genauer unter die Lupe zu nehmen, mit denen die Existenz und die Relevanz des MetSyn legitimiert werden. Gegenstand der Untersuchung sind sprachliche Phänomene, die Elemente einer Gemeinschaft 8

Wir gehen in diesem Beitrag nicht auf die Auseinandersetzungen in der Geschichtswissenschaft über die angebliche Bedrohung durch das „neue“ Sprachparadigma und die damit verbundene Skepsis gegenüber der historischen Diskursanalyse ein. Eder (2006:9): „Geklagt wurde da über eine Auflösung des historischen Gegenstandes in rein sprachliche Zeichenoberflächen, über die Auslieferung historischer Akteure und Ereignisse an die Sprache bzw. den Diskurs, über das Ende objektiver und wirklichkeitsgetreuer Wissenschaftlichkeit und postmoderner Rattenfängerei.“ Vergleichbare Auseinandersetzungen hat es auch in der Linguistik gegeben. In den vergangenen Jahren haben sich diskursanalytische Ansätze – nicht zu verwechseln mit konversationsanalytischen Ansätzen – etablieren können. Fachzeitschriften wie z.B. Discourse and Society blicken auf eine länger Geschichte zurück, der in jüngerer Zeit z.B. die Critical Discourse Studies oder das Journal of Language and Politics folgten. 337

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stiftenden Sprechtätigkeit sind und als Artikulationen eine strukturierende Funktion haben: Denn Gegenstände an sich bedeuten nichts und der praktische wie sprachliche Bezug entwickelt sich erst, indem mit ihm – im vorliegenden Fall im Kontext der Textsorte scientific review – umgegangen wird (Busse 1987: 90). Die bis zu diesem Punkt aufgeführten Aspekte einer diskursanalytisch motivierten Vorgehensweise bedürfen einer analytischen Präzisierung, da im vorliegenden Beitrag der Fokus auf wichtigen Elementen liegen soll, die das Konzept MetSyn semantisch maßgeblich mitstrukturieren und stabilisieren. Als analytische Kategorie bietet sich hier das Konzept des Kollektivsymbols (Link 1999) an. Kollektivsymbole stellen Jürgen Link (1988: 286) folgend interdiskursive Netzwerke oder Kulminationspunkte dar, in denen zum Beispiel medizinische, ökonomische und juristische Wissenskomponenten diskursiv miteinander verwoben und konzeptuell integriert werden. In Kollektivsymbolen werden Spezialdiskurse miteinander verknüpft und auf einen begrifflich markierten Gegenstand wie etwa das MetSyn bezogen. Diese Begriffe stellen denjenigen, die mit diesem Gegenstand vertraut sind und mit ihm umgehen, ein vereinheitlichendes Referenzsystem zur Verfügung, das gemeinsames Denken, Sprechen und Handeln im Kontext differierender Theorien, Begriffe und Untersuchungsobjekte (Foucault 1997) ermöglicht. Im Kontext des MetSyn bedeutet dies zum Beispiel, dass unterschiedliche Symptome, Risikofaktoren oder Krankheiten als ursächlich zusammenhängend und damit nominell als Symptomkomplex verstanden werden. Im Sinne Hackings zeigt sich in diesen diskursive Praxen des Repräsentierens „das Reale als Eigenschaft von Darstellungen“ (1996: 229), und deswegen ist es nach Rheinberger notwendig „die Mittel in den Blick [zu nehmen], die in die Erzeugung des Wissens eingehen“ (2007: 115). Zusammenfassend betrachtet können Kollektivsymbole als Kumulationspunkte und Durchgangskonzepte unterschiedlicher Diskurse verstanden werden, die durch ihre robuste Plastizität eine notwendige semantische Offenheit zulassen, die es den an der Forschung beteiligten Fachrichtungen ermöglicht, jenseits disziplinärer Unterschiede gemeinsam am Konzept des MetSyn zu arbeiten. Aus dieser Perspektive betrachtet können die hier untersuchten scientific reviews als Kraftfelder im Sinne Greenblatts (1995: 32) verstanden werden, die als Orte des Meinungsstreits und vor allem der gegenseitigen Bestätigung das diskursive Gefüge in Bezug auf das MetSyn maßgeblich mitgestalten. Zielpunkt der Analyse sind sprachliche Kollektivsymbole, die regulieren, „[…] was gedacht, gesagt und getan werden kann […]“ (Stäheli 2000: 73). Das Ziel der Analyse von Kollektivsymbolen besteht im vorliegenden Fall darin, die konstitutiven Elemente des Diskurses über das Met338

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Syn zu identifizieren und in ihrer konstitutiven Funktion darzustellen. Bevor ich mich der Analyse repräsentativer Beispiele zuwende, stellt sich noch die Frage, wie die relevanten Daten für die Analyse aufgefunden und zusammengestellt wurden. Diese Frage soll im folgenden Abschnitt beantwortet werden.

4. Die Textsorte scientific review: Methoden der Datenerhebung Nachdem ich im vorherigen Kapitel die grundlegenden Elemente einer diskursiv ausgerichteten Analyse von Kollektivsymbolen dargestellt habe, stellt sich nun die Frage, wie die relevanten Daten aufgefunden und analysiert wurden. Grundsätzlich ist zu beachten, dass es sich bei der hier analysierten Textsorte scientific review um einen geschriebenen Text handelt, der in vielen Fällen in einem iterativen Prozesses hergestellt und in das vorgegebene Format einer Zeitschrift eingepasst wurde. Gerade die Textsorte scientific review bot sich für die Analyse von Kollektivsymbolen an, da es sich dabei in den meisten Fällen um eingeladene Publikationen führender Wissenschaftler eines Fachgebietes handelt, die durch ihre Forschung die behandelte Thematik entscheidend mitgestaltet haben (Myers 1991). Scientific reviews ermöglichen also einen schnellen Zugang zu zentralen Themen und Fragestellungen in Bezug auf einen Forschungsgegenstand. Das maßgebliche methodische Problem bestand jedoch darin, dass bei der Suche nach relevanten Publikationen in der Online-Datenbank Medline unter der Kategorie MetSyn mehr als 7562 reviews verzeichnet waren. Da eine solche Datenmenge qualitativ nur mit größtem Aufwand zu analysieren ist, wurde das Online-Werkzeug Pubmed PubReminer für die Untersuchung herangezogen. Der Vorteil dieser Suchmaschine besteht in einer themen- und personenbezogenen Suche, mit der man einen guten textsortenspezifischen Überblick über Publikationsaktivitäten in unterschiedlichen Fachjournalen bekommt. Insgesamt wurden 75 reviews führender Autoren9 für die Analyse der Texte aus den vergangenen 10 Jahren ausgewählt. Das auf diese Weise gewonnene Datenkorpus wurde im ISI-Citation Index zitationsbezogen und durch die Analyse so genannter Citation-Maps auf eine angemessene fachliche Verbreitung und Rezeption hin überprüft, um zumindest partiell deren Wirkspektrum nachvollziehen zu können. Diese quantitativ erstellte Datenbasis wurde in einem folgenden Schritt einer qualitativen Analyse unterzogen, indem entsprechend der Vorgehens9

Hier handelt es sich um Kardiologen, Diabetologen und Endokrinologen. 339

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weise der Grounded Theory (Clarke 2005; Charmaz 2006; Corbin/Strauss 2008) iterativ Textauszüge, einzelne Phrasen und Lexeme thematisch gruppiert wurden. Mit Hilfe dieser Vorgehensweise konnten zum einen semantische Verdichtungen aufgespürt und durch den Einbezug der Ko-Texte auf ihre Rolle als Kollektivsymbol hin überprüft werden. Zusammenfassend betrachtet handelt es sich bei der hier dargestellten Erhebung der Daten um eine Kombination aus quantitativ motivierten bibliometrischen und qualitativ begründeten sozialwissenschaftlichen Methoden, ohne die eine Analyse von Kollektivsymbolen auf textlicher Ebene nicht möglich gewesen wäre.10 Im folgenden Abschnitt werden nun anhand repräsentativer Beispiele die wichtigsten Kollektivsymbole dargestellt und in ihrem Wirkspektrum interpretiert. Der Fokus wird sich aus Gründen der Darstellbarkeit auf zwei Kollektivsymbole in den Einleitungen der Texte beschränken, da die Analyse aller ausgewählten Texte zeigte, dass sich diese Textsabschnitte durch eine thematische Kontextualisierung, das Bemühen eines Anschlusses an aktuelle Fragestellungen und das Anlegen einer Leserichtung für den Gesamttext auszeichnen.

5. Kollektivsymbole: Eine empirische Analyse textlicher Interpretationsangebote in scientific revi ews zum M et Syn Wie wir in den vorangegangen Kapiteln gesehen haben, wird für das MetSyn eine relativ lange und abwechslungsreiche Fachgeschichte veranschlagt, die sich durch eine iterative und von Forschungskonjunkturen beeinflusste Verbindung unterschiedlicher Symptome auszeichnet, die die Interaktion beispielsweise von Insulinresistenz mit dem Fettstoffwechsel oder Bluthochdruck in vornehmlich biomedizinischen Funktionskontexten zu erklären sucht. Dies hat dazu geführt, dass die Forschung zum MetSyn von einem heterogenen Netzwerk wissenschaftlicher Disziplinen und Akteure etwa aus der Kardiologie, der Endokrinologie oder Diabetologie vorangetrieben wird, die in unterschiedlichen wissenschaftlichen und institutionellen Kontexten arbeiten. Dies macht in einem besonderen Grad die Entwicklung und Verwendung Gemeinschaft stiftender Praxen und Symbole notwendig, mit denen feine disziplinäre Unterschiede (Bourdieu 2005) abgeschwächt werden und der 10 Vergleichbare Kombinationen quantitativer und qualitativer Methoden finden sich unter anderem bei Balmer/Martin (1991), Condit (1999a; 1999b), Condit/Ofulue/Sheedy (1998) und Hedgecoe (2003). 340

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Bezug auf einen geteilten Forschungsgegenstand sichergestellt wird. Die vermehrte Verwendung von Kollektivsymbolen und Grenzobjekten erscheint in diesem Zusammenhang strategisch konsequent, da sie auf eine Menge geteilten Wissens und konvergierende wissenschaftliche Praxen referieren, denen ein sozial verbindendes und für den Forschungsgegenstand konstitutives Moment innewohnt. Insofern zielt die hier durchgeführte Analyse von Kollektivsymbolen darauf ab, die Strukturen und Prozesse zumindest ansatzweise zu charakterisieren, mit denen die Existenz und Relevanz des Konzepts MetSyn synchron vor dem Hintergrund einer vermuteten Epidemie der Fettleibigkeit legitimiert und diachron aus einem reflexiv historisierenden Narrativ heraus entwickelt wird. Im vorliegenden Fall sind dies Lexeme und Phrasen, mit denen der weltweite Anstieg der Fettleibigkeit konstatiert und die damit verbundene Zunahme kardiovaskulärer Erkrankungen erklärt wird. Belege wie der folgende sind immer wieder in den Texten anzutreffen, in denen der Anstieg der Fettleibigkeit mit dem MetSyn in Zusammenhang gesetzt und als eine der größten Bedrohungen für die Gesundheit der Bevölkerung angeführt werden. (1) „Obesity and related components of the metabolic syndrome are the greatest future public health threats, as precursors of cardiovascular disease (CVD) – the leading cause of death in the developed world.“ (Samaras et al. 2006: 159)

Konzeptuell betrachtet werden hier vier Kollektivsymbole (Obesity, MetSyn, cardiovascular disease und future public health threats) kausal und temporal korreliert: Die ersten drei Lexeme können dem semantischen Feld Krankheit zugerechnet werden, während die Phrase future public health threats dem semantischen Feld des Gesundheitsmanagements angehört. Auf diese Weise verschränken sich zwei konzeptuelle Felder, mit denen der gegenwärtige Stand der Dinge diagnostiziert und im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen gleichwohl als bedrohlich bewertet wird. Ähnlich verhält es sich im folgenden Beispiel, in dem die ansteigende Prävalenz der Fettleibigkeit und die damit verbundenen gesundheitlichen wie ökonomischen Folgen thematisiert werden. (2) „The rising prevalence of obesity in the United States and worldwide render an increase in the metabolic complications of obesity. In the future, more and more medical resources will be committed to treating these complications.“ (Grundy 2000: 155)

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Hier werden allerdings im Gegensatz zum vorherigen Beispiel die semantischen Felder Krankheit und Gesundheitsökonomie mit dem semantischen Feld der räumlichen Ausbreitung in Relation gesetzt. Genauer betrachtet zeigt sich eine konzeptuell kausale Verdichtung des Zusammenhangs von zunehmender Fettleibigkeit und stoffwechselbedingten Krankheiten, die ein Gefahrenpotenzial nicht nur für Betroffene bereithalten, sondern durch räumlich generalisierende Lexeme wie worldwide eine allgegenwärtige und unausweichliche Bedrohung darstellen. Dieses implizit angedeutet Bedrohungspotenzial, das einer Logik eines überall und unausweichlich folgt, wird mit immer wiederkehrenden Kollektivsymbolen wie zum Beispiel epidemic of obesity oder auch pandemic of obesity zugespitzt. (3) „The emerging epidemics of obesity and its clinical complications threaten to reverse many of the advances in reducing the burden of cardiovascular disease and other chronic diseases.“ (Grundy 2007: 563)

Diese Symbole betonen das massenhafte Auftreten des Phänomens Fettleibigkeit, evozieren jedoch auf einer konnotativen Ebene durch den Begriff epidemics die semantischen Felder Infektionskrankheit und Seuche, denen ein hohes Bedrohungspotenzial innewohnt und die Notwendigkeit eines unmittelbaren Handelns implizieren. Deutlicher als im folgenden Beispiel kann dieses Bedrohungspotenzial kaum ausgedrückt werden, in dem das Verb rampant (grassierend) das semantische Feld Seuche deutlich betont. (4) „Obesity is rampant in the United States and is becoming increasing common worldwide.“ (Grundy 2004b: 2595)

Zusammenfassend betrachtet zeigt sich anhand der Kollektivsymbole, dass die Korrelation und Kombination der dargelegten semantischen Felder Kausalitäten und Erklärungen anbietet, die das Symptom des bauchbetonten Übergewichts als Fettleibigkeit prominent thematisieren und ihm durch seine veranschlagte Allgegenwart und das ihm inhärente Bedrohungspotenzial eine besondere Relevanz zuschreiben, die die Notwendigkeit eines unmittelbaren Handelns implizieren. Ein etwas präziserer Blick auf die aktuelle Forschung zum MetSyn verdeutlicht jedoch, dass ein Zusammenhang zwischen dem MetSyn sowie bauchbetontem Übergewicht oder Fettleibigkeit vermutet wird. Insofern stellt sich die Frage, inwiefern die Prävalenz des MetSyn in einer kausalen Relation zur veranschlagten Übergewichtsepidemie steht und ob es sich hier um wissenschaftlich nachgewiesene Einsichten oder einen ideolo342

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gisch gefärbten Kreuzzug gegen Fette (Gard/Wright 2005; SchmidtSemisch/Schorb 2008a; Schorb 2009) handelt, mit dem die Existenz und Relevanz des MetSyn synchron legitimiert und stabilisiert wird. Über die Existenz einer wie auch immer gearteten Epidemie der Fettleibigkeit hinaus finden sich in den Einleitungen Erklärungen, was das MetSyn sei, aus welchen konstitutiven Komponenten es besteht und auf welche Forschungsgeschichte es zurückblickt. Die Koordination zeitlicher Ebenen steht an diesen Punkten im Vordergrund und wird in vielen Fällen verbal mit entsprechenden Modalitäten versehen, die die Existenz des MetSyn synchron und diachron situiert. Dies zeigt sich in immer wiederkehrenden Referenzen und sprachliche Strukturen, mit denen die Existenz des MetSyn konstatiert und historisch situiert wird. Dabei ist im Auge zu behalten, dass die Koordination unterschiedlicher Ereignisse zeitlich indiziert und genealogisch zusammengezogen wird. Inhaltlich recht disparat und in vielen Fällen auch kausal nicht aufeinander bezogene Aspekte werden als zusammenhängend dargestellt. In fast allen Einleitungen findet sich an der einen oder anderen Stelle ein Kollektivsymbol wie das folgende, in dem die Existenz des MetSyn durch ein Verb im Indikativ Präsens dargestellt wird. (5) „The metabolic syndrome is a clustering of factors associated with an increased risk for atherosclerotic cardiovascular disease.“ (Grundy 2006: 295)

Variiert wird diese Aussageform in vielen Fällen mit weiteren Verben wie zum Beispiel to consist oder to represent, die ebenfalls eine existenzkonstatierende oder -legitimierende Funktion erfüllen. (6) „The metabolic syndrome consists of a clustering of metabolic risk factors that increase the risk for coronary heart disease (CHD) and other forms of atherosclerotic cardiovascular disease (CVD).“ (Alexander et al. 2006: 982) (7) „The metabolic syndrome represents a constellation of risk factors for cardiovascular disease (CVD).“ (Grundy 2004a: XI)

Interessanterweise finden sich nur in wenigen Fällen Modalverben wie zum Beispiel is supposed to be oder conceived as, mit denen der hypothetische Status des MetSyn hervorgehoben wird. Neben diesen auf die Gegenwart bezogenen Strukturen, mit denen das Hier und Jetzt strukturiert wird, finden sich spezifische diachrone Kollektivsymbole, mit denen eine Genese des MetSyn im Sinne einer linearen Entwicklung entworfen wird. Die in diesen Fällen verwendeten temporären Strukturen zeichnen sich maßgeblich durch zwei Eigenschaften aus: Sie sind kon343

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zeptuell offen – wie das folgende Beispiel – oder sie periodisieren durch die Korrelation von Jahreszahlen und die Nennung von Personen. (8) „The concept of the MBS [metabolic syndrome] has now been in existence for several decades […].“ (Cameron/Shaw/Zimmet 2004: 351)

Die Phrase several decades lässt in Bezug auf die Entwicklung des MetSyn einiges offen, verweist jedoch durch den Plural decades in Kombination mit dem Adjektiv several auf eine längere Zeitspanne, mit der der Existenzanspruch nicht nur dargestellt, sondern auch legitimiert wird. Neben diesen elliptischen Konstruktionen finden sich auch präzisere zeitliche Angaben, wie die folgende, mit denen explizit eine komplette Genealogie des MetSyn durch den sequenziellen Verweis auf unterschiedlichen Etappen der Erforschung entworfen wird. (9) „The combination of metabolic disturbances now known as the metabolic syndrome (MetS) was first described by Kylin in the 1920’s as the clustering of Hypertension, hyperglycaemia and gout. Two decades later, Vague noted that upper body adiposity (android or male-type obesity was most often associated with the metabolic abnormalities seen with diabetes and cardiovascular disease (CVD).“ (Alberti et al. 2006: 470)

Strategisch betrachtet wird dem MetSyn durch die Mittel der sprachlich temporären Strukturierung eine Forschungsgeschichte zugeschrieben, deren anhaltende Wiederholung dazu führt, dass solche Angaben nicht mehr hinterfragt werden. In vielen Fällen scheint mittlerweile ein bloßer Verweis auf den veranschlagten forschungshistorischen Anfang und seinen Fortgang zu genügen. (10) „The triad of hyperglycemia, hypertension, and hyperuricemia was described as early as 1923.“ (Ford 2004: 333) (11) „The metabolic syndrome has existed for at least 80 years.“ (Eckel et al. 2005: 1415) (12) „However, already in 1933 the clustering of hypertension, obesity and gout was described as an X syndrome.“ (Groop/Orho-Meander 2001: 105)

Dabei bestehen durchaus unterschiedliche Grade der Periodisierung, verbunden mit leicht variierenden Zeitpunkten der Entdeckung und der – wenn man es so ausdrücken möchte – Wiederentdeckung oder wissenschaftlichen Substantivierung durch Gerald Reaven:

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(13) „Although the association of several of these risk factors has been known for more than 80 years, the clustering received scant attention until 1988 when Reaven described syndrome X […].“ (Alberti et al. 2005: 1059)

Insgesamt betrachtet zeigen sich unterschiedliche Grade der Periodisierung in den untersuchten scientific reviews, mit denen aus der innerwissenschaftlichen Perspektive eine Entstehungsgeschichte des MetSyn entworfen wird.11 In einigen Fällen wird neben der fachhistorischen Betrachtung die historische Perspektive auch insofern noch erweitert, als dass auch vergangene Gesellschaften und Hochkulturen vom MetSyn betroffen waren. (14) „Bildliche Darstellungen und Beschreibungen von Facetten des MetS finden sich bereits in der Antike und in allen Hochkulturen, die für die Oberschicht ein Leben in Überfluss ohne körperliche Anstrengungen ermöglichte. Eine erste Beschreibung des Zusammengehens von Adipositas und erhöhten Blutfetten […] stammt von Nicolaes Tulp (1593–1674).“ (Hanefeld et al. 2007: 118)

Eine solche Argumentation ist problematisch, da sie auf einer Datengrundlage argumentiert, die nicht gesichert und vor allem auch historisch nicht verifiziert ist.12 Das Zitat ist darüber hinaus sehr interessant, da es die bis hierher getrennt analysierten Kollektivsymbole einer bestehenden Übergewichtsepidemie historisierend mit dem MetSyn verbindet, um es in eine moralisierende Semantik zu überführen, in der Überfluss und der Mangel an Bewegung ein historisch weit zurückreichendes Problem von Überflussgesellschaften sind. Insgesamt betrachtet zeigt die Analyse repräsentativer Kollektivsymbole der scientific reviews, dass durch die Korrelation und argumentative Verknüpfung unterschiedlicher semantischer Felder Zusammenhänge und Erklärungen entwickelt werden, die Übergewicht und Fettleibigkeit kausal im Konzept des MetSyn synchron koppeln. Damit erfolgt eine Integration des Konzepts MetSyn in den soziokulturellen Kontext einer aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion über Übergewicht und Fettleibigkeit, für das es als biomedizinisches Konzept trotz innerfachlich diskutierter Mängel und Inkonsistenzen Lösungsvorschläge anbietet. Damit ist zumindest rhetorisch ein zeitgenössisches Relevanzkriteri11 In den letzten Jahren kommt es auch vermehrt zur Verwendung tabellarischer Übersichten, mit denen die Forschungsgeschichte des MetSyn in konziser Form zusammengefasst wird (vgl. Hanefeld et al. 2007: 118). 12 Einen ersten Überblick über die Historizität zu wandelnden Konzepten von Übergewicht und Fettleibigkeit ermöglichen die Arbeiten von Klotter (1990), Stearns (1997) und Gilman (2004). 345

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um erfüllt, das in einem zweiten Schritt um das Moment einer Fachgeschichte erweitert wird. Die hier verwendeten sprachlichen Mittel erstellen in ihrer Gesamtheit einen diachronen self-assuring narrative, der durch permanente Wiederholung in den scientific reviews disparate und teilweise nicht aufeinander bezogene Entwicklungen zu einer Fachgeschichte verbindet. Durch die Kombination von Kollektivsymbolen werden diachrone und synchrone Aspekte verbunden, aus denen heraus und mit denen das Objekt MetSyn hergestellt, legitimiert und über disziplinäre Grenzen hinweg rezipiert wird. Diese Aspekte haben jedoch kaum etwas mit so genannten Evidenzen zu tun, sondern verweisen vielmehr auf den Herstellungsprozess eines Syndromkonzepts im Kontext einer Konsumgesellschaft, in der sich in den letzten Jahren Deutungshorizonte von Gesundheit verändern und so genanntes gesundheitsschädliches Verhalten als zunehmend unsozial angesehen wird (Schmidt-Semisch/Schorb 2008b: 13).

6. Vom Metabolischen Syndrom zur m e t a b o l i s c h e n F i t n e s s ? 13 Wie wir auszugsweise in den vorangegangen Kapiteln gesehen haben, stellt das MetSyn dank des massiven Einsatzes von Kollektivsymbolen ein sich innerwissenschaftlich stabilisierendes Syndromkonzept dar, das nach wie vor nicht unumstritten ist. Die hier durchgeführte diskurshistorisch motivierte Analyse von Kollektivsymbolen in den Einleitungen hat das fachliche Bemühen und die sprachlichen Strategien offen gelegt, mit denen Kausalitäten in Bezug auf das MetSyn synchron hergestellt und diachron situiert werden. Diese legitimierenden Strategien, die fast ausschließlich in den Einleitungen der scientific reviews zu finden sind, verweisen auf einen Herstellungs- und Legitimierungsprozess des MetSyn jenseits so genannter biomedizinischer oder wissenschaftlicher Evidenzen. Sie scheinen vielmehr durch Deutungshorizonte von Gesundheit und gesundheitsförderndem Verhalten geprägt, die im Kontext einer sich vermeintlich abzeichnenden Gesundheitsgesellschaft (Kickbusch 2006) Gesundheit als erstrebenswertes und – angesichts explodierender Kosten im Gesundheitssystem – zunehmend auch als sozialverantwortliches Gut ansehen. Und vielleicht liegt hier einer der zentralen Gründe, warum sich das MetSyn einer solchen Beliebtheit – man denke nur an die Anzahl der Publikationen! – erfreut: Als Syndrom und damit offenes Kon-

13 Den Hinweis auf den Aspekt der metabolischen Fitness verdanke ich Jakob Tanner. 346

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zept bietet es einen freien kognitiven wie praktischen Interpretationsrahmen an, in den neue Symptome oder Risikofaktoren relativ einfach integriert werden können. Inwiefern das Konzept des MetSyn einen Einfluss auf die Gesundheitspolitik, auf eine sich abzeichnende Gesundheits- und Wellnesskultur oder gar auf die Veränderung von Lebensstilen hat oder haben wird, ist derzeit schwierig zu beurteilen, da sich das Konzept wissenschaftlich wie gesellschaftlich noch nicht weit genug durchgesetzt hat (Moebus/Stang 2007: 538) – auch wenn, wie wir es gesehen haben, daran gearbeitet wird. Es wird sich also zeigen, ob sich durch den Symptomkomplex MetSyn ein neuer konzeptioneller Zugriff auf den Körper und den ihn konstituierenden beziehungsweise krankmachenden Metabolismus entwickelt. Sollte dies geschehen, so könnte sich die neue biopolitische Kategorie der metabolischen Fitness entwickeln, die aus der Tiefe des Körpers kommend selbigen kontrollieren und formen würde. Kultur würde dann unter die Haut (Niewöhner/Kehl/Beck 2008) und tief in den Stoffwechsel hineinreichen.

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Die V er mengung von R isi ko- und K ran khe it se rf ahr ung 1 ROBERT A. ARONOWITZ

Als Medizinstudent im zweiten Jahr schaute ich vor 25 Jahren einem Belegarzt dabei zu, wie er einen Assistenzarzt nach dem anderen um Namen von eingelieferten Patientinnen oder Patienten anfragte, damit seine Studierenden üben konnten, medizinische Vorgeschichten auf- und Untersuchungen vorzunehmen. Geeignete Patienten sollten mit einer noch undiagnostizierten Ansammlung von Symptomen und Anzeichen in das Krankenhaus aufgenommen worden sein (außerdem noch bei Bewusstsein sein und Englisch sprechen können). Jeder Assistenzarzt war für 30 bis 50 Patientinnen und Patienten verantwortlich, konnte aber nur je einen oder zwei geeignete Personen vorschlagen. Meine medizinischen Lehrer hatten in Vorlesungen und am Krankenbett das Bild eines kranken Patienten gezeichnet, der Krankheit unverfälscht durch medizinisches Wissen oder vorherige medizinische Eingriffe wahrnimmt. Dass im Krankenhaus nur wenige solcher Patienten existierten, konnte diesem Idealtypus wenig anhaben; seine Existenz wurde durch ältere Vorstellungen von klinischer Praxis und medizinischer Erziehung am Leben gehalten. In den zurückliegenden Jahren hat sich die Schere zwischen unserer idealisierten Vorstellung des kranken Patienten und dem tatsächlichen

1

Dieser Aufsatz erschien zuerst in englischer Sprache als „The Converged Experience of Risk and Disease“. In: The Milbank Quarterly 87, Nr. 2 (2009), S. 417-442. Die Übersetzung stammt von Philipp Reick und Christian Sammer. Wir danken dem Milbank Memorial Fund für die freundliche Genehmigung, den Beitrag in diesen Sammelband aufzunehmen. 355

ROBERT A. ARONOWITZ

Patienten, der unsere Krankenhäuser und Kliniken aufsucht, weiter geöffnet. Die klinische wie ambulante Versorgung dreht sich immer weniger um neue, undiagnostizierte, symptomatische Probleme, sondern zunehmend um bestehende chronische Krankheiten, insbesondere um den vorausschauenden Umgang mit Problemen, die durch andere Eingriffe oder frühere medizinische Überwachung vorhergesagt oder diagnostiziert wurden; beispielsweise um das Einsetzen von Herzschrittmachern bei Patienten, bei denen zuvor langsame oder irreguläre Herzschläge diagnostiziert waren, oder etwa um Darmspiegelungen, die nach Stuhlbluttests mit abnormalen Ergebnissen durchgeführt wurden. Die risikoorientierte Art und Weise, Gesundheit und Krankheit wahrzunehmen, ist bestimmt heute die Art und Weise, wie Patientinnen und Patienten ihre Gesundheitsbeschwerden vorbringen. Während viele Beobachter den zunehmenden Fokus der Medizin auf Krankheits- und Risikoprävention unter den bislang Gesunden verzeichnet haben, haben nur wenige die tiefschürfende parallele Entwicklung bei den bereits Erkrankten oder Diagnostizierten erkannt. Einige Beobachter haben betont, welch wichtige Rolle die pharmazeutische Industrie und die medizinische Forschung durch die gemeinsame Produktion oder Konstruktion von präventiver Medizin und von Risikofaktoren, auf die diese Medizin abzielt, einnehmen (Greene 2007). Andere haben einen neuen Stil der medizinischen Überwachung betont, in dem die gesamte und damit auch gesunde Bevölkerung beobachtet und einer wachsenden Anzahl von Forderungen, den medizinischen Direktiven zu entsprechen, ausgesetzt wird (Armstrong 1995). Obwohl sich diese Schilderungen auf die radikale Expansion von präventiver Medizin auf eine sonst gesunde Bevölkerung konzentrieren, wurde der parallelen Entwicklung unter den chronisch Kranken weit weniger Beachtung geschenkt. Zur Zeit findet ein tiefgreifender, weitgehend unbemerkter Wandel in der Wahrnehmung, wer als chronisch krank zu gelten habe, und in der Krankheitserfahrung2 selbst statt. In vielen Fällen haben sich chronische Krankheiten zu einer Art Risikozustand entwickelt, in dem sich Diagnose, Behandlung und „Krankheitsmanagement“ darauf richten, die Wahrscheinlichkeit von befürchteten Entwicklungen vorauseilend zu reduzieren.

2

Anmerkung der Übersetzer: Aronowitz spricht im englischen Original von experience, was im Deutschen sowohl als Erfahrung wie als Wahrnehmung übersetzt werden kann. Wir nutzen in der Regel den Begriff der Erfahrung, was zwar das semantische Feld von experience nur verkürzt widergibt, aber der patientenorientierten Perspektive des Autors meist besser entspricht.

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RISIKO- UND KRANKHEITSERFAHRUNG

Dieser Wandel führte zu einer Annäherung in der Erfahrung von Risiko und von chronischen Krankheiten. Auf der einen Seite dieser Konvergenz ist die Anzahl der eigentlich gesunden Individuen, die als „gefährdet“ oder als Träger von Risikofaktoren für eine bestimmte Krankheit gelten, deutlich angewachsen. Ihre Körper wurden einer intensivierten medizinischen Überwachung ausgesetzt, als deren Folge der Risikozustand nicht nur stärker in die Körper eingeschrieben, sondern auch – in anderer Weise – zu einer Krankheit an sich wurde. Größtenteils resultierten diese Veränderungen aus dem sich ausweitenden Prozess der Medikalisierung während der vergangenen Jahrzehnte, der auch von Soziologen und Anderen beschrieben wurde. Auf der anderen Seite ähnelt die Erfahrung chronischer Krankheiten zunehmend einer Erfahrung von Menschen mit Krankheitsrisiken. Ich werde mich hier auf letzteren Wandel konzentrieren, da dieser bislang weitaus weniger Beachtung gefunden hat als die verschiedenen Wege, durch die vormals gesunde Menschen in neue Risikokategorien aufgenommen und eingepasst wurden. Es ist schwierig, eine Krankheitserfahrung von einer Risikoerfahrung zu unterscheiden, da viele Entwicklungen diese Differenz aufweichen. Im Alltagsgebrauch wird Krankheit als pathologischer Prozess verstanden, der einen ungesunden Zustand mitsamt seiner Symptome produziert. Das Risiko einer Erkrankung ist dagegen eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein pathologischer Zustand vielleicht eintreten könnte. Als ein immanenter Zustand kann die Erfahrung von Krankheit niemals in irgendeiner direkten, physiologischen Weise aus dem Risiko der Erkrankung hervorgehen (auch wenn aus dem Wissen um oder dem Glauben an Risiken natürlich emotionale Leiden und andere psychologische Konsequenzen resultieren; vgl. Barsky 1988). Was ich im Folgenden beschreibe stimmt nicht mit diesen klassischen Definitionen überein. So können beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen und eine frühe HIV-Erkennung jemanden in sehr kurzer Zeit vom Gefühl gesund zu sein zum Selbstbild „HIV-positiv“ bringen, was wiederum präventive medikamentöse Behandlungen nach sich zieht, die ihrerseits Symptome verursachen. In diesem Artikel werde ich zunächst die Annäherung in der Erfahrung von Risiko und chronischer Krankheit in der modernen amerikanischen Medizin und Gesellschaft beschreiben. Danach werde ich einige der Gründe, warum die Erfahrung chronischer Krankheiten so risikofixiert geworden ist, analysieren und abschließend die Konsequenzen für Individuen und Bevölkerungen sowie einige klinische und politische Implikationen diskutieren. Die meisten meiner Beobachtungen beziehen

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ROBERT A. ARONOWITZ

sich dabei auf eine Reihe von kleinen aber verbreiteten Risiken oder Erkrankungen: Brustkrebs, Asthma, Diabetes und Bluthochdruck. Mein Fokus liegt auf der medizinischen Entwicklung und deren Auswirkung auf die Krankheitserfahrung von Patientinnen und Patienten. Diese Entwicklungen gingen nicht in einem Vakuum vonstatten, aber um jene Einflüsse hervorzuheben, die einer klinischen und politischen Reaktion unterworfen sind, werde ich nicht die größeren sozialen, wirtschaftlichen and politischen Veränderungen diskutieren, die Soziologen und Andere im Begriff der Risikogesellschaft zum Ausdruck bringen. Risikogesellschaften beschäftigen sich mit der Politik der Risikoverteilung und der Allokation von Ressourcen, sehen sich von grenzenlosen und häufig unsichtbaren globalen Bedrohungen gefährdet (Vogelgrippe, Terrorismus, äußerst resistente Tuberkulose, Erderwärmung), und wenden sich folglich – reflexiv – nach innen, um diesen Gefahren und den Reaktionen darauf Sinn zu verleihen (Beck 1992; Giddens 1990). Einige (wenn auch keineswegs alle; vgl. etwa Conrad 2007) Soziologen kritisieren, das Konzept der Medikalisierung habe in seiner engen Verbindung mit der Transformation der Risikoerfahrung seine Nützlichkeit verloren.3 Sie bemerken, dass der Begriff der Medikalisierung sich weit von seiner ursprünglichen Bedeutung und seinem originären Kontext entfernt habe – eine Bedeutung, die darin bestand, Abweichung als Krankheit zu definieren, um medizinische Autorität auszuweiten (Davis 2006). Der Begriff der Medikalisierung steht mittlerweile vielmehr für Handlungen vieler nicht-medizinischer Akteure (Patienten, Interessensvertretungen bestimmter Gruppen von Erkrankten, Bürokraten, Pharmaunternehmen etc.), die durch unzählige Prozesse zu einer Expansion medizinischer Kategorien und der darin integrierten Individuen geführt haben. Auch wenn ich die Dringlichkeit erkenne, eine gewisse konzeptionelle und begriffliche Genauigkeit sowie den „politischen Biss“ wieder herzustellen, wäre die Sozialwissenschaft und die Gesundheitspolitik schlecht beraten, wenn wir versuchten, die Uhr zurückzudrehen und den Bedeutungsrahmen des Begriffs einzuengen. Es ist auch nicht einfach so, dass sich nur die soziologische Begrifflichkeit in den vergangenen Jahren ausgeweitet hätte. Vielmehr reflektiert der Bedeutungswandel des Begriffs eine effektive Transformation in der Art und Weise, wie

3

Ich habe an anderer Stelle dargelegt, dass Medikalisierung und sozialkonstruktivistische Studien umfassender darauf eingehen sollten, wie verschiedene Krankheitsnamen, Kategorien und Klassifikationen einen materiellen Einfluss auf die Krankheitserfahrung von Individuen und Bevölkerungen ausüben (vgl. Aronowitz 2008).

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RISIKO- UND KRANKHEITSERFAHRUNG

schlechte Gesundheit hervorgerufen, gekennzeichnet, verwaltet und schließlich auch erfahren wird.

Was bedeutet die Vermengung von Ri s i k o - u n d Kr a n k h e i t s e r f a h r u n g ? Stellen Sie sich als Gedankenexperiment zwei Frauen vor, eine, die an Brustkrebs leidet, und eine, die „lediglich“ Risikoträgerin für die Krankheit ist. Die erste Frau ist 58 Jahre alt. Zwei Jahre zuvor entdeckte sie einen Knoten in ihrer linken Brust. Nachdem eine Aspirationsbiopsie Krebszellen entdeckt hatte, wurde eine Lumpektomie durchgeführt und Lymphknoten aus ihrer Achsel entfernt (die allerdings keinen Krebs hatten), gefolgt von einer Reihe lokaler Bestrahlungen und anschließender sechsmonatiger Chemotherapie. Nach dieser intensiven Behandlung wurde sie auf eine 5-Jahres-Behandlung mit dem „Anti-Östrogen“ Tamoxifen gesetzt. Selbstverständlich verfolgt diese Frau nun die Entwicklungen zum Thema Brustkrebs sehr genau. Momentan macht sie sich Gedanken, ob sie nach Ablauf der Tamoxifen-Phase eine andere hormonale Therapie beginnen und ob sie anfangen sollte, sich präventiven Brustkrebs-MRIs und/oder häufigeren Mammographien zu unterziehen. Für diese und andere Fragen sucht sie Antworten im Internet und nimmt an Treffen von Selbstbetroffenengruppen und Interessenverbänden teil. Die zweite Frau ist ebenfalls 58 Jahre alt. Sie nahm zwischen 20 und 30 Empfängnisverhütungsmedikamente, bekam ihr erstes Kind mit 34 und nahm ab 50 auf Anraten ihres Gynäkologen unterstützende Östrogenpillen, um Wechseljahrsymptomen zu begegnen und um Herzerkrankungen und Osteoporose vorzubeugen. Einige Jahre später riet ihr der Arzt, die Pillen nicht mehr einzunehmen, da neue medizinische Beweise endgültig gezeigt hätten, dass deren Risiken – besonders das erhöhte Brustkrebsrisiko – die vermuteten Vorteile überträfen. Seit dem Alter von 40 Jahren hat sie sich mammographischen Untersuchungen unterzogen. Eine abnormale Mammographie vor vier Jahren führte zu einer Aspirationsbiopsie, die keinen Krebs indizierte. Nun fürchtet sie aber, Brustkrebs zu entwickeln und verfolgt aufmerksam Medienberichte und durchstreift das Internet periodisch nach neuen Informationen zur Krebsvorsorge. Sie hat konsumentenorientierte Werbung für Tamoxifen als präventive Maßnahme für Frauen mit hohem Brustkrebsrisiko gesehen, und weiß auch, dass sie multiple Risikofaktoren für Brustkrebs aufweist: ein mittleres, postmenopausales Alter, die Geburt ihres ersten Kindes in einem Alter von über 30 Jahren, eine frühere Hormonersatztherapie und eine Vorgeschichte mit gutartiger Brustbiopsie. Rat hat sie 359

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bei Freundinnen und Freunden, Ärzten, und Brustkrebsgruppen gesucht, insbesondere zur Frage, ob sie Tamoxifen nehmen und/oder andere Wege zur Minimierung ihres Brustkrebsrisikos finden solle. Zu diesem Zeitpunkt weist die erste Frau keinerlei Symptome von Krebs auf, wird aber dennoch umfassend medizinisch überwacht, macht sich Sorgen über die Langzeiteffekte vorhergehender Behandlungen und ihrer Gesundheit in der Zukunft. Die Erfahrung der zweiten Frau ist davon nicht sehr verschieden. Sie mag sich dafür entscheiden, Tamoxifen zur Verhütung von Brustkrebs zu nehmen. Wie auch die erste Frau steht sie unter häufiger medizinischer Beobachtung und sieht sorgenvoll in die Zukunft. Beide Frauen sehen sich einem Spektrum ähnlicher Wahlmöglichkeiten gegenüber und suchen an ähnlichen Orten nach Orientierung. Sie teilen Zukunftsängste, Gefühle der Kontingenz und Unsicherheit und einen Druck zur Selbstbeobachtung. Beide suchen nach Wegen, ein Gefühl der Kontrolle wiederzuerlangen und beiden stehen schwierige Entscheidungen über präventive Behandlungen bevor. Sie sind Teil eines größeren Brustkrebs-Kontinuums, welches das wissenschaftliche Verständnis von Brustkrebs und die Mobilisierung der Betroffenen zur Interessensvertretung, Geldbeschaffung und für mediale Aufmerksamkeit umfasst (Klawiter 2002).

W a s h a t d i e c h r o n i s c h e n Kr a n k h e i t e n risikoreicher gemacht? Der Übergang von akuten zu chronischen Krankheiten im 20. Jahrhundert ist ein historischer wie epidemiologischer Gemeinplatz. Weniger offensichtlich hingegen ist die Art und Weise, in welcher die Handhabung von Risiken zu einem dominierenden Faktor in der Erfahrung von Krankheit wurde. Wie also ist diese Erfahrung chronischer Krankheiten so risikoreich geworden? Ich möchte im Folgenden diese Entwicklung auf fünf Faktoren zurückführen: (1) neue klinische Interventionen, die direkt den natürlichen Krankheitsverlauf verändert haben; (2) ein größeres biologisches, klinisches und epidemiologisches Wissen über Risiken chronischer Krankheiten; (3) die zahlenmäßige Ausweitung der Diagnosen chronischer Krankheiten durch neue Vorsorgeuntersuchungen, diagnostische Technologien und Krankheitsdefinitionen; (4) neue Wege, wie die Wirksamkeit von medizinischer Behandlung konzeptionalisiert wird; und (5) intensive diagnostische Tests sowie medizinische Interventionen.

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RISIKO- UND KRANKHEITSERFAHRUNG

Klinische Interventionen, die direkt den natürlichen Krankheitsverlauf verändert haben Die augenscheinlichste Art, in der chronische Krankheiten risikoreicher geworden sind, liegt in den direkten Auswirkungen neuer medizinischer Eingriffe auf den natürlichen Krankheitsverlauf begründet. Seit Beginn des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sind einige Krankheiten durch Eingriffe grundlegend verändert worden, die Anzeichen oder Symptome akuter pathologischer Prozesse beseitigten oder linderten, aber nicht die zugrundeliegende Krankheit heilten. Das vielleicht dramatischste und früheste Beispiel ist das Insulin, das die Erfahrung von Diabetes nachhaltig veränderte (Feudtner 1996). 4 Die Insulinbehandlung gab Ärzten und Patienten die Möglichkeit, Hyperglykämien zu kontrollieren. Für viele Kinder mit Typ 1 Diabetes änderte sich die Lebenserwartung von einigen Monaten oder Jahren nach Feststellung der Krankheit hin zu etlichen Jahrzehnten. Aber die Insulinbehandlung selbst ersetzte nicht einfach gewöhnliche Operationen der erkrankten Bauchspeicheldrüsen. Sie produzierte ihre eigenen lebensbedrohlichen Probleme, erforderte konstante Überwachung und Entscheidungsfindung und wurde häufig zur Arena für Konflikte zwischen Kindern, Eltern und deren Ärzten über die medizinisch-therapeutische Kontrolle und Verantwortlichkeit. Indem die Insulintherapie den Erkrankten ermöglichte, Jahrzehnte mit der Krankheit zu leben und diabetische Komata zu vermeiden, deckte die Therapie außerdem ganze Reihe metabolischer und anderer Abnormitäten auf, die von der Diabetes ausgingen, zugleich meist versteckt und noch schwieriger zu handhaben waren, so zum Beispiel Schäden an Nieren, Herz, Nerven und Augen. Die Krankheitserfahrung wandelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ähnlicher Weise auch beim Brustkrebs (Aronowitz 2007). Radikale chirurgische Eingriffe, für die sich beispielsweise William Halsted einsetzte, veränderten die Lebenserfahrung nachdrücklich: Viele Frauen litten nicht länger unter wachsenden und wiederkehrenden Tumoren in 4

Mein Fokus auf die risikoreiche Natur der chronischen Krankheiten ist angelehnt an Feudtners Konzept einer verwandelten chronischen Krankheit (Feudtner 1996). Feudtner betont den Wandel von der Wahrnehmung eines beständigen, externen und spezifischen „natürlichen Verlaufs“ hin zu einer dynamischeren, individuelleren und „ausgehandelten“ Wahrnehmung von chronischen Krankheiten. Für die Patienten mit der Diagnose einer chronischen Krankheit, denen eine „frühe“ Diagnose und die anschließende medizinische Intervention zumindest kurzzeitige Symptomfreiheit verschaffte, gab es eine paradoxe Rückkehr zum stabilen und natürlichen Verlauf, wenngleich dieser eher vorweggenommen wurde als tatsächlich erfahren. 361

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ihrer Brust. Ohne erkennbare „externe“ Krankheit und als Folge harter Behandlungsformen mit häufig ernsten Nebenwirkungen, glaubten diese Frauen oft, dass ihr Leiden ihre Überlebenschancen erhöht hatte. Aber die Radikalchirurgie änderte die Prognose der Patientinnen letztendlich nicht merklich. Halsted wusste um diese „unfertige“ und frustrierende Realität und gab widerwillig zu, dass die Radikalchirurgie kaum Auswirkungen auf die späte, Metastasen bildende Phase des natürlichen Krebsverlaufes hatte, die für die Mortalität der Krankheit verantwortlich war. Tatsächlich vermied es Halsted lange, die Möglichkeit zukünftiger Metastasenbildung mit seinen Patientinnen zu besprechen, bis er schließlich durch die Rückkehr des Krebses dazu gezwungen wurde. Obwohl er seine Brustkrebspatientinnen dazu anhielt, den Mut nicht zu verlieren, und sie ermunterte, ihr „normales“ Leben fortzuführen, folgten diese seinem Ratschlag meist nicht. Patientinnen, an denen eine Mastektomie (Entfernung der Brustdrüse) durchgeführt worden war, hatten verständlicherweise Angst, dass ihr Krebs zurückkehren könnte. Sie suchten daher bei Medizinern diagnostische Rückversicherung, beobachteten ihren Körper und fragten sich, welche Schritte sie unternehmen konnten, um zukünftige Krankheit zu vermeiden. Viele Frauen glaubten, ihre Krebsoperation sei deshalb effektiv gewesen, weil ihre eigene Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen des Körpers dazu geführte habe, dass sie im richtigen Moment medizinische Hilfe ersuchten. Nach der Operation beobachteten sie begreiflicherweise ihren Körper systematisch und ließen sich regelmäßig untersuchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auch neue Behandlungsmethoden wie die Bestrahlung und die Radiumtherapie entwickelt, um wiederkehrenden Krebserkrankungen zu begegnen. Auch wenn diese Eingriffe den Krebs kaum heilen konnten, brachten deren hohes wissenschaftliches Ansehen und deren gravierende Folgen die Patientinnen dazu, an deren therapeutische Wirksamkeit zu glauben. Dieser Prozess ließ wiederum die Patientinnen stärker darauf achten, wiederkehrende Tumore rechtzeitig zu erkennen und damit den Behandlungsmethoden zum Erfolg zu verhelfen. Zusammenfassend lebten viele der damaligen Patientinnen nach dem Eingriff ein „Leben auf Risiko“, ein Leben voller Angst, strenger Überwachung ihrer Körper und wachsendem Druck zu medizinischen Untersuchungen. Sie verzehrten sich nach irgendeiner Möglichkeit, die Kontrolle über ihre Angst vor einer Rückkehr des Krebses wiederzugewinnen. Patientinnen, bei denen der Krebs zurückgekehrt war, machten gegen Ende ihres Lebens eine höchst medikalisierte letzte Krankheitsphase durch. Die Erfahrung von Brustkrebs hat sich, ebenso wie jene vieler Diabetespatientinnen und -patienten, stark gewandelt. Dieser Wandel ist – 362

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weniger beim Diabetes, aber wohl eher beim Großteil anderer Krankheiten des zwanzigsten Jahrhunderts, für die neue Behandlungsmethoden gefunden wurden – auf viele indirekte und begleitende Effekte der neuen Behandlungsmethoden zurückzuführen, genauso wie auf die direkten Auswirkungen des natürlichen Krankheitsverlaufs.

Erhöhtes biologisches, klinisches und epidemiologisches Wissen über Risiken chronischer Krankheiten Ein zentraler Motor dafür, dass chronische Krankheiten neu als risikoreich erfahren werden, stellt die Explosion des Wissens über diese Krankheiten in biologischer, klinischer und epidemiologischer Hinsicht dar. Neue Details und Modelle zum natürlichen Krankheitsverlauf, Verknüpfungen von Labor-, radiologischen und anderen Testergebnissen für Ätiologie und Prognostik, neue Voraussetzungen zum Verständnis von Krankheiten, sowie molekulare und andere Einblicke in Krankheitsmechanismen sind hier zu nennen. Aus klinischen und epidemiologischen Studien wissen wir zum Beispiel, dass Patienten mit entzündlichem Reizdarm ein erhöhtes Risiko tragen, an Dickdarmkrebs zu erkranken. Das Wissen um dieses erhöhte Risiko hat zu Bemühungen in der Sekundärprävention des Krebses geführt (Sekundärprävention beinhaltet die frühzeitige Entdeckung einer Krankheit oder andere Bemühungen, schädliche Auswirkungen des Krankheitsverlaufs abzuwehren, Primärprävention bedeutet, eine solche Krankheit gar nicht erst entstehen zu lassen). Nahezu alle an entzündlichem Reizdarm leidende Patientinnen und Patienten werden dazu angehalten, jährliche Darmspiegelungen durchführen zu lassen und sich mitunter prophylaktischen Eingriffen zu unterziehen. Klinische und epidemiologische Studien und intensive diagnostische Testverfahren (auf die später zurückzukommen ist) haben zusammengenommen ein Wissensnetz erschaffen, in dem jegliche Abweichung in Labortests und bei physiologischen Parametern mit einem höheren Risiko widriger Entwicklungen verknüpft wurde. In zunehmendem Maße ist eine bestehende Krankheit gleichbedeutend damit, das Risiko für eine andere Erkrankung zu tragen. Beispielsweise könnten Routineblutuntersuchungen einen hohen Serumproteinspiegel aufdecken, was zur Serumelektrophorese (einer weiteren Laboruntersuchung) führt und letztendlich in die Diagnose einer monoklonalen Gammopathie münden könnte, worunter ein abnormales Muster in der Antikörperproduktion verstanden wird, das keine eigenen Symptome verursacht und bei zwei bis vier Prozent der Erwachsenen über 50 auftritt. Durch epidemiologische und klinische Studien sowie diagnostische Untersuchungen im Labor sind wir 363

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dazu übergegangen, diesen Zustand als Teil eines Kontinuums von Abnormalitäten zu verstehen, das auch ein höchst bösartiges multiples Myelom (eine Krebserkrankung des Rückenmarks) mit einschließt. Ein Individuum, bei dem eine monoklonale Gammopathie festgestellt wurde, betritt verständlicherweise eine Welt voller Zukunftsängste und strenger Überwachung, damit etwaige Eingriffe möglichst früh erfolgen können. Jedes Jahr werden dafür vollkommen neue Bedingungen geschaffen, die auf Beobachtungen von potentiellen klinischen Ergebnissen basieren, die wiederum auf abnormale Testergebnisse zurückgehen, die im Zuge von Routineuntersuchungen und Vorsorgeuntersuchungen erhoben wurden. Ein Beispiel dafür ist das Antiphospholipid-Syndrom (eine Autoimmunerkrankung). Ein Mehr an Wissen um die Risiken, das aus bestehenden oder neuen Diagnosen hervorgeht, führt begreiflicherweise zu Unsicherheiten und schwierigen Entscheidungen. Nach zufälligen Bluttests oder nach Blutspenden erfuhren Millionen von Amerikanern, dass sie eine stille Hepatitis C-Infektion hatten (National Digestive Disease Information Clearing House 2006). Klinische und epidemiologische Studien haben gezeigt, dass Hepatitis C-Infektionen durchaus asymptomatisch verlaufen können, dass aber einige der Betroffenen zu einem späteren Zeitpunkt ernste und potenziell tödliche chronische Lebererkrankungen entwickeln. Wie mit diesem Zusammenhang und den implizierten Unsicherheiten umzugehen sei, ist breit debattiert worden: Sollte die gesamte Bevölkerung Vorsorgeuntersuchungen unterzogen werden? Wer von denjenigen mit serologischem Infektionsbefund sollte erweiterte Tests und Verfahren erhalten (einschließlich Leberbiopsien)? Wer sollte mit teuren und gefährlichen Mitteln wie Interferon und Ribavirin behandelt werden? Wir stehen erst am Anfang eines Weges, der von dem außergewöhnlichen Anstieg der Korrelationen zwischen Veränderungen im menschlichen Genom und verschiedenen Gesundheits- oder Krankheitszuständen sowie dem wahrscheinlich tiefgreifenden Einfluss auf die Wahrnehmung von Risiko ausgeht und zu neuen und umdefinierten Krankheiten führt (Novas/Rose 2000). Im Ergebnis ist anzunehmen, dass die Zahl der Menschen ansteigen wird, die sich für längere Zeiträume über ihre mögliche schlechte zukünftige Gesundheit im Klaren sind, die dazu angehalten werden, ihren Lebensstil zu ändern, und die unterschiedliche Maßnahmen der Überwachung und medizinischen Prävention durchlaufen werden.

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Der Anstieg der Diagnosen chronischer Krankheiten durch neue Vorsorgeuntersuchungen, diagnostische Technologien und Krankheitsdefinitionen Eine wachsende Anzahl von Menschen erfährt chronische Krankheiten deswegen als risikoreich, weil zunehmend empfindlichere Vorsorgetechniken geschaffen und verbreitet, die Grenzwerte für klinische Diagnosen gesenkt und pathologische Zustände „früher“ definiert werden. Bei einigen Krankheiten wie etwa dem Brustkrebs ist die Zahl „früher“ Diagnosen, die häufig durch empfindlichere Vorsorgetest erkannt werden (wie etwa den vermehrten Gebrauch von MRIs zur Erkennung von Brustkrebs), nahezu unabhängig von Veränderungen bei der Anzahl von Frauen mit wiederkehrendem und häufig tödlichem Krankheitsverlauf angestiegen. Ich argumentiere, dass in solchen Fällen sich die Erfahrung von Krankheit als risikoreich zur spezifischen Krankheitserfahrung hinzugesellt, statt wie im Fall des Diabetes mellitus Typ 1 im frühen zwanzigsten Jahrhundert sie zu ersetzen. Mehr Menschen nehmen chronische Krankheiten als risikoreich wahr, wenn sie in neue Krankheitskategorien aufgenommen werden, die als Frühphase oder weniger prototypische Manifestationen von bereits existierenden Krankheiten gelten. Peter Kramer (1993) argumentierte, dass dabei sich sogar Vorformen psychischer Erkrankungen wie etwa geringes Selbstvertrauen, leichte chronische Depressionen, gesellschaftliche Hemmungen und Freudlosigkeit einstellen. Ein Großteil dieser schleichenden Diagnoseverschiebung wird durch pharmazeutische Unternehmen angetrieben, die ihre Märkte für Produkte erweitern wollen, unterstützt durch Mediziner und andere moralische Unternehmer, die die ausgeweiteten Krankheitskategorien verfechten. Ganz ähnlich bewegen sich etliche weitere Beispiele neu erkannter und definierter Vorkrankheitszustände auf der Grenze zwischen der Medikalisierung vormalig Gesunder und der Früherkennung bekannter Krankheitsvorstufen. Verschiedene Vorstufen des Gebärmutterhals- und Brustkrebses sind, von Pathologen definiert und durch Vorsorgekampagnen unterstützt, in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entdeckt und weithin diagnostiziert worden. Brustkrebs hat dabei einen außergewöhnlichen Anstieg solcher Präkanzerose erfahren, der größtenteils durch den weitverbreiteten Einsatz von Mammographien angetrieben war. Die Diagnoseraten labulärer und duktaler Karzinome in situ (mögliche Vorkrebsstadien des Brustgewebes) sind beispielsweise von 11,3 pro 100.000 Frauen im Jahr 1975 auf bemerkenswerte 91,2 pro 100.000 Frauen im Jahr 2002 angestiegen (Ries et al. 2005).

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Jedes Jahr wird bei drei Millionen Amerikanerinnen ein abnormaler Abstrich der Gebärmutterhals-Schleimhaut, typischerweise ASCUS, „atypische schuppenförmige Zellen unbekannter Bedeutung“, festgestellt. ASCUS gehört zu einem Kontinuum prekanzeröser Abnormalitäten, die im Laufe der vergangenen Dekaden beständig neu definiert und klassifiziert wurden. Im Ergebnis betreten Frauen mit dieser eigentlich sehr gewöhnlichen Abnormalität eine Risikowelt, die häufig zahlreichere Überwachung und invasivere diagnostische Maßnahmen nach sich zieht. Vorstufen des Bluthochdrucks und des Diabetes sind in gewisser Hinsicht simplere Phänomene. Sie werden durch niedrigere Grenzwerte entlang des gleichen Kriteriumskontinuum – Blutdruck beziehungsweise Blutzucker – bestimmt, das auch für die Definition der voll ausgeprägten Krankheit herangezogen werden. Ich sollte erwähnen, dass Bluthochdruck selbst ein symptomloser Risikofaktor für Herzerkrankungen und Schlaganfälle ist. Aber dessen lange Geschichte, dessen objektive Definition und medizinische Behandlung haben ihm den Status einer Grenzfallerkrankung in der herkömmlichen medizinischen Praxis verliehen. Im Falle des Krebs, der Hypertonie und des Diabetes kann die Erfahrung einer Frühformdiagnose der eigentlichen Krankheitserfahrung sehr nahe kommen. Beim Bluthochdruck und Diabetes mellitus können die ärztliche Diagnose und Behandlung sowohl für die tatsächliche Krankheit als auch die Vorform identisch sein – für die betroffenen Individuen fallen Erkrankungsrisiko und Krankheit in eins. In den meisten Fällen leiden die tatsächlich Erkrankten ebenso wenig wie die Gruppe mit Vorstadien der Krankheit an Symptomen, die auf die Krankheiten zurückzuführen wären. Es sollte auch nicht überraschen, dass diese vergrößerte Gruppe derjenigen, die mit Diabetes oder Bluthochdruck zu tun haben, zu einem breiteren Markt für neue präventive Medikamente und andere Eingriffe führt (Rosenthal 2006).

Neue Wege, wie Wirksamkeit konzeptualisiert wird Das Hervortreten risikoreicher chronischer Krankheit basiert auf den höchst subjektiven Herangehensweisen zur Evaluierung von Effektivität. So hängt zum Beispiel das individuelle Mitwirken bei Vorsorgeuntersuchungen und diagnostischen Test – eine Vorbedingung um Individuen in Risikogruppen einzuordnen –, vom individuellen Urteil ab, ob diese Tests „funktionieren“. Das gesamte zwanzigste Jahrhundert hindurch rangen Männer und Frauen mit verschiedenen Botschaften der Gesundheitsprävention, wie etwa jener, den eigenen Körper nach verdächtigen Anzeichen für Krebs zu untersuchen und sich ohne Verzögerung in medizinische Behandlung zu begeben, sobald etwas Verdächtiges gefunden 366

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würde. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wurden ähnliche individuelle Entscheidungen über die Wirksamkeit von Vorsorgeprogrammen für Krebs wie dem Gebärmutterhalsabstrich oder der Mammographie notwendig. In beiden Fällen wurde Wirksamkeit häufig in äußert individueller und psychologischer Hinsicht verstanden. Jene Frühentdeckungs- und Vorsorgeprogramme „funktionierten“ vor allem, weil sie Individuen eine Möglichkeit eröffneten, ein Stück weit ihre Angst vor dem Krebs kontrollieren zu können (Aronowitz 2001). Mit solchen sozialen Effektivitätskalkulationen lassen sich auch leichter aktuelle Daten erklären, die andeuten, dass viele Amerikaner, die die Erfahrung irrtümlich positiver Krebstest gemacht haben, überhaupt nicht der Ansicht sind, Schaden erlitten zu haben, und Vorsorgeuntersuchungen auch nicht skeptischer beurteilen. Stattdessen fühlen sie sich dem Paradigma der Vorsorge üblicherweise sogar noch mehr verpflichtet. Eine Interpretation dieses Phänomens geht dahin, dass die Befreiung auch von einer falschen Krebsdiagnose als Sieg über den Krebs wahrgenommen wird, was zu einem größeren Gefühl von Kontrolle über den Krebs und über die Angst vor dem Krebs führt (Schwartz et al. 2004). Risikoreduzierende Medikamente versprechen auf ähnliche Weise, Ängste, Unbehagen und Bedrängnisse, die mit dem Risiko assoziiert werden, zu beseitigen oder unter Kontrolle zu bringen. Diese Begründung wird zwar nicht oft herausposaunt, aber wenn sie doch expliziert wird, ist sie mit objektiveren Behauptungen über die Wirksamkeit gegen Krankheit verbunden. Wir haben uns daran gewöhnt, die Wirksamkeit vieler Eingriffe als Verminderung der Wahrscheinlichkeit dieses oder jenes schlechten Befundes zu akzeptieren – ob nun zur Kontrolle unserer Ängste oder für andere Zwecke. Mein Vater litt in seinen letzten Lebensjahren unter Gedächtnisverlust, Verwirrung und Desorientierung. Aus Angst, dass er sich selbst oder andere verletzen könnte, haben wir ihn in eine Klinik einweisen lassen, die sich auf die Evaluierung des mentalen Leistungsabfalls älterer Menschen spezialisiert hatte. Nach einer Reihe von neurophysiologischen und radiologischen Untersuchungen wurde bei ihm Alzheimer diagnostiziert, vom Autofahren abgeraten und Aricept verschrieben. Eine Diagnose und eine Verschreibung zu erhalten sind die erwarteten Folgen eines medizinischen Vorgangs, aber dies verdunkelt die historisch gesehen neue Bedeutung des Risikokalküls, das hinter so vielen Entscheidungen im Bereich der chronischen Krankheiten liegt. Wie bei so vielen anderen Medikamenten gegen chronische Krankheiten, die darauf abzielen, den natürlichen Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen, weisen klinische Tests für Aricept eine gewisse statistische 367

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Verbesserung der Symptome für diejenigen auf, die das Medikament nehmen. Keine einzige Alzheimererkrankung wurde dabei besser; eher verlief die gesundheitliche Abwärtsentwicklung bei denjenigen, die das Medikament nahmen, im Durchschnitt weniger steil als bei denjenigen, die ein Placebo erhielten. Eine Person, die Aricept einnimmt, erfährt die Wirksamkeit des Medikaments niemals wie jemand, der ein Schmerzmittel, eine kurative Krebstherapie oder ein Antibiotikum erhält, das zu einer gesundheitlichen Besserung führt. Wirksamkeit ist hier vielmehr die Verheißung einer positiven Abweichung von der vorgezeichneten Abwärtsspirale. Diese Art von Wirkungskalkül ist zu einem Gemeinplatz geworden und hat zur Akzeptanz vieler Risikoeingriffe und -zustände beigetragen.

Risiken der intensiven diagnostischen Tests und der Behandlung Schließlich ist die Erfahrung chronischer Krankheit auch deshalb risikoreich, weil die Intensität moderner medizinischer Eingriffe, sowohl diagnostischer wie therapeutischer, besonders hoch ist. Das Netz aus mutmaßlichen Verbindungen zwischen verschiedenen Markern klinischer Abweichung (Bluttests, Röntgen etc.) und der Wahrscheinlichkeit für eine Krankheit wurde durch die Zunahme diagnostischer Tests in der Behandlung von Patienten immer engmaschiger. Assistenzärzte und Ärzte im Praktikum laufen in weißen Kitteln durch amerikanische Krankenhäuser, die mit Handbüchern und Spickzettel beschwert sind in denen Listen über mögliche Ergebnisse eines jeden nur erdenklichen abnormalen Bluttests, Röntgenbildes, EKG-Musters, Urintests und so weiter enthalten sind. Dieses intensive Testen hat zu dem bereits diskutierten Netz an Wissen beigetragen. Ebenso gilt es als Ausgangspunkt für die Karriere eines Patienten mit neu entdeckter Abnormalität (adaptiert von Goffman 1961). Eine völlig neue, zentrale Kategorie der Krankheitserfahrung, nämlich die des Überlebens einer Krebserkrankung, illustriert die doppelte Rolle der therapeutischen Eingriffe. Krebs ist seit langem als eine Begegnung mit zunehmenden Gefährdungen für die Gesundheit – gipfelnd in Schmerz, Verfall und Tod – verstanden und wahrgenommen worden. Als solcher ist er sowohl sehr gefürchtet als auch medizinischen wie öffentlichen Routinen unterzogen worden, die darauf abzielten, diese oder jene Krankheitsfolge zu vermeiden. In dieser Hinsicht stellt Krebs das ultimative Krankheitsrisiko dar, das Patient und Arzt in einen realen und potentiellen Konflikt mit einer umfassenden und verheerenden Narration setzt. Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg ist das Wissen um die 368

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Lebensrisiken – so wie sie sowohl dem natürlichen Krankheitsverlauf als auch den unterschiedlichen Modalitäten der Behandlung entspringen – mit einer Generation der Krebsüberlebenden explodiert. Die Dimensionen der Transformationen sind gewaltig, zum Teil da die Anzahl der Krebsüberlebenden beständig anwächst. Laut Schätzungen der USRegierung ist die Anzahl von wenig mehr als zwei Millionen 1971 auf mehr als zehn Millionen 2005 angewachsen (Ries et al. 2008; für eine interessante Diskussion über das, was er als „Remissionsgesellschaft“ bezeichnet, vgl. Frank 1995). Einerseits stellt das Überleben eines Krebses jene Art der direkten und erfolgreichen Konsequenz eines Eingriffs in den natürlichen Krankheitsverlauf dar, der oben bereits diskutiert wurde. Andererseits wurde jedoch das Überleben des Krebses ebenso, wenn nicht sogar mehr, durch die möglichen Langzeitkonsequenzen der medizinischen Behandlung als durch die veränderte Krankheit selbst dominiert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine der 28 Kategorien des allgemeinen medizinischen Umgangs mit Krankheiten, die in einem höchst geachteten, gegenwärtigen medizinischen Text aufgelistet sind, das Überleben einer Krebserkrankung ist (Rakel/Bope 2007). Für Krebsüberlebende beinhaltet das Management ihrer Krankheit die Überwachung von 24 verschiedenen Spätfolgen, die mit neun gebräuchlichen Klassen von Chemotherapien assoziiert sind. Zum Beispiel sollten Patientinnen und Patienten, die in der Vergangenheit Anthracycline erhalten haben (eine gewöhnliche Chemotherapie, die Medikamente wie Doxorubicin einschließt, das Brustkrebspatientinnen oder -patienten verabreicht wird), jährlich auf ihr kardiotoxisches Risiko hin untersucht werden, was eine sorgfältige herzbezogene Anamnese und Diagnostik (Echokardiogramm oder nuklearmedizinische Tests der Pumpenfunktion, EKG) einschließt. Ähnliche Vorsorgeuntersuchungen für ernsthafte Langzeiteffekte folgen aus dem Wissen, dass Chemotherapie und Bestrahlung Endokrinopathien (z.B. Nebenniereninsuffizienz aufgrund von Schädelbestrahlungen), neurologische Krankheiten (z.B. Neuropathien), Lungenerkrankungen, Nierenerkrankungen und Hörprobleme verursachen können. Am meisten gefürchtet sind vermutlich neue Krebserkrankungen, die durch frühere Krebsbehandlungen verursacht werden. Darüber hinaus können Transfusionen, die häufig während der Behandlung verabreicht werden, zu chronischen Infektionen (z.B. Hepatitis C) und Steroide zu grauem Star und anderen Folgekrankheiten führen. Das Überleben selbst setzt die Menschen verspäteten und/oder chronischen psychischen Erkrankungen, besonders Depressionen, aus. Empfehlungen, Vorsorgeuntersuchungen für all diese Spätfolgen durchzuführen, bilden eine über369

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wältigende Herausforderung für die Pflege und den Seelenfrieden von Krebsüberlebenden – und dies zusätzlich zu den Ängsten und den Maßnahmen, um den Körper auf jedwede Wiederkehr des ursprünglichen Krebses hin zu überwachen und letztendlich eben dieses erneute Auftreten zu verhindern oder möglichst früh zu behandeln. Für Menschen, die an anderen chronischen Krankheiten mit großer Eingriffsintensität leiden, die zwar nicht so tödlich verlaufen wie unbehandelter Krebs, aber dennoch konstante Behandlung erfordern, sind die Risiken der Medikation ebenfalls gleichbedeutend mit Sorgen, Screenings und einer Änderung der Lebensführung. Heutzutage nehmen viele Patientinnen und Patienten mit akuter rheumatoider Arthritis Medikamente wie Plaquenil, Methotrexate und Enbrel, um den natürlichen Verlauf der Krankheit positiv zu beeinflussen. Plaquenil ist ein AntiMalaria-Mittel, dem eine modifizierende Wirkung auf die Erkrankung zugesprochen wird. Leider besteht jedoch eine weit gefürchtete, seltene Nebenwirkung der Netzhautschädigung. Wegen der Sorge über diese Komplikation werden die Patienten angewiesen, Routineuntersuchungen durch einen Augenarzt durchführen zu lassen. Methotrexat ist ein FolatAntagonist, das häufig als chemotherapeutisches Mittel gegen Krebs zum Einsatz kommt. Auch ihm wird eine krankheitsverändernde Wirkung auf die rheumatoide Arthritis zugesprochen. Eine der Nebenwirkungen besteht in der möglichen toxischen Wirkung auf die Leber. Daher verschreiben Ärzte häufig Leberfunktionsbluttests und warnen Patienten vor exzessivem Alkoholkonsum oder allem anderen, was die Leber weiter gefährden könnte. Enbrel ist ein sehr neuartiges rekombinantes DNA-Produkt, das zwei immunologisch aktive Proteine enthält. Leider aber kann derselbe immun-verändernde Effekt, der bei der Stabilisierung oder Modifizierung eines Autoimmunerkrankungsprozesses wie der rheumatoiden Arthritis hilft, auch die Immunreaktion des Patienten gegenüber Infektionen verändern, was diese Patienten besonders anfällig für einige Infektionskrankheiten macht. Im Ergebnis wird Patientinnen und Patienten geraten, beim ersten Anzeichen einer infektiösen Erkrankung Enbrel abzusetzen, besondere Vorsichtsmaßnahmen zur Verhütung von Infektionen zu treffen und Antibiotika zu nehmen, sobald sie Husten, Fieber oder ähnliches entwickeln. Kürzlich wurde berichtet, dass mit der generellen Klasse der immun-verändernden Medikamente, die zur Regulierung des Verlaufs chronischer entzündlicher Krankheiten wie der rheumatoiden Arthritis eingesetzt werden, sogar ein erhöhtes Krebsrisiko assoziiert wird, was erschwerend zur ohnehin schon äußert risikoreichen chronischen Krankheitserfahrung hinzu kommt (Pollack 2008a).

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Ko n s e q u e n z e n u n d F o l g e r u n g e n Die veränderte Erfahrung chronischer Krankheiten, verbunden mit der wachsenden Anzahl Menschen, die in Risikogruppen eingeteilt werden, hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Gesundheit von Individuen und der Bevölkerung im Allgemeinen verbessert hat. Dies beispielsweise durch dramatische Verbesserungen der Überlebenschancen dank der Insulinbehandlung für Kinder mit Diabetes mellitus Typ 1 und durch die Rolle, die die Gesamtheit der Diabetesrisiken in der Bündelung einiger gesundheitspolitischer Bemühungen gegen das Übergewicht im Kindesalter gespielt hat. Gleichzeitig sind daraus aber auch einige beunruhigende und zumeist unterschätzte Konsequenzen erwachsen, die wir aus klinischer wie gesundheitspolitischer Perspektive stärker reflektieren und angehen sollten. Chronische Krankheiten ziehen heute eine Vielzahl antizipierender Behandlungen und Überwachungen anderer Krankheiten und Komplikationen nach sich. Ärzte verschreiben routinemäßig zu inhalierende Steroide, um die Verschlimmerung von Asthma zu verhindern und lipidsenkende Medikamente, Betablocker und Aspirin, um einen zweiten Herzinfarkt zu vermeiden. Der Glaube an die Wirksamkeit solcher Sekundärprävention dient gleichzeitig als Anreiz, häufigere und frühere Diagnosen eines Zustandes zu treffen, dem man sekundärpräventiv begegnen kann. Zum Beispiel treibt der Glaube an die Effektivität früher Eingriffe die frühere Diagnose von kindlichem Autismus und des Asperger Syndroms voran. Diese Wechselwirkung zwischen intensiven sekundärpräventiven Maßnahmen und der Expansion von Krankheitsdiagnose sowie dem veränderten Charakter der Erfahrung chronischer Krankheiten, ist bislang wenig beachtet worden. Die Intensität des Testens, vorgreifende Behandlungsformen und der Glaube an die Wirksamkeit solcher Manöver haben zu verstärkten Bemühungen im Krankheitsmanagement geführt. Die Idee hierbei ist, dass es genug frühdiagnostische Tests, präventive Schritte, Überwachungsmöglichkeiten und weitere Praktiken gibt, so dass Managementsysteme – Fallarbeiter, Belehrungsmaterial für Patienten, Erinnerungssysteme – die Patientinnen und Patienten, besonders durch die Vermeidung oder Verzögerung von Krankenhausaufnahmen, gesünder halten und Kosten reduzieren werden. Diese Elemente konstituieren den Werdegang eines bürokratisierten Patienten oder einer bürokratisierten Patientin (vgl. Rosenberg 2002; Rosenberg 2003; Rosenberg 2009). Im Falle des Asthmas wurden Patientinnen und Patienten zum Beispiel dazu gedrängt, in Zusammenarbeit mit ihren Ärztinnen und Ärzten „Aktionspläne“ zu entwickeln, die detaillierte, individuelle Pläne zur 371

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Anpassung der Medikation und zum Aufsuchen medizinischer Behandlung festlegen, sobald sich durch heimische Überwachungstechniken eine Veränderung der Symptome oder ähnliche Anzeichen beobachten lassen. Solche Pläne listen diverse, auch umweltbedingte Auslöser für die Verschlechterung von Asthma auf. Ein solch detailliertes, entschiedenes Management verändert die Wahrnehmung von Asthma grundlegend. Mitunter vermehren diese Pläne die Knotenpunkte, an denen klinische Situationen bemessen und Managemententscheidungen getroffen werden müssen. Für viele Patientinnen und Patienten wird die Wahrnehmung chronischer Krankheit nicht von den Symptomen des pathologischen Prozesses beherrscht, sondern von der Betrachtung körperlicher Anzeichen für zukünftige Probleme – von Verhandlungen und Entscheidungen über verschiedene Maßnahmen der Sekundärprävention und damit auch der individuellen Zukunft. Die Diagnose eines Diabetes mellitus Typ 2 basiert häufig alleine auf abnormalen Laborergebnissen. Viele andere Patientinnen und Patienten mit Symptomen wie exzessivem Durst und Harndrang werden bald nach der Diagnose und dem Einsetzen einer Veränderung in der Lebensführung und/oder medizinischen Behandlung asymptomatisch. Asymptomatik bedeutet jedoch nicht, dass sie über keine Erfahrung der Krankheit verfügten. Die Patienten verstehen, dass sie einem höheren Risiko von Herzerkrankungen ausgesetzt sind und umfassend auf bekannte Herzrisikofaktoren hin untersucht werden müssen. Es ist anzunehmen, dass sie Schmerzen in der Brust als möglicher Angina pectoris besondere Beobachtung schenken. Sie werden nicht nur dazu angehalten, Ernährungs- und Diabetesschulungen zu absolvieren, sondern werden wahrscheinlich regelmäßig auf verschiedene Diabeteskomplikationen hin untersucht: Nierenerkrankungen, Augenprobleme und so weiter. Medikamente zeitigen Nebenwirkungen, – besonders Unterzuckerungen – die der Kontrolle und Aufmerksamkeit bedürfen. Viele neue Medikamente und Interventionen werden sowohl beworben als auch entwickelt und dann auf den Gesundheits- und Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen sowie in den lokalen und nationalen Nachrichten besprochen. Patienten verfolgen die bedeutsame mediale Berichterstattung über die zahlreichen Kontroversen um Wirksamkeit und unvermeidliche Nebenwirkungen genau, die aus Masseneinsatz und -studien hervorgehen. Da ein wachsender Anteil der Menschen mit chronischen Krankheiten ihre Krankheitswahrnehmung eher mit Sekundärprävention und medizinischer Überwachung als mit Symptomen verbindet, da außerdem mehr Menschen innerhalb der Krankheitspopulation gar keine oder nur minimale Symptome durch die Krankheit selbst wahrnehmen, wird auch die Erfahrung von Krankheit gleichförmiger. Damit wird auch die 372

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Krankheitserfahrung eines Einzelnen lesbarer für Dritte. Diese Umwälzungen gestatten eine rationalisierte, externe Kontrolle über Prozesse der Entscheidungsfindung, etwa durch praktische Richtlinien und Protokolle. Eine explizite evidenzbasierte Evaluation von bestimmten Maßnahmen und Praktiken – an sich ein wichtiges und notwendiges Vorgehen – bedeutet häufig, dass jenen Aspekten der Krankheitserfahrung, die nicht uniform oder vorhersagbar genug verlaufen, um mit Hilfe von Protokollen und Standardroutinen behandelt werden zu können, weniger Beachtung geschenkt wird. Angesichts der Grenzen unserer materiellen und immateriellen Ressourcen, konzentrieren wir uns auf das, was lesbar und messbar ist, wie etwa das Messen von Hämoglobin A1C-Raten oder den Einsatz von sekundärpräventiver Asthmamedizin, und belohnen oder bestrafen einerseits die Anbieter im Gesundheitswesen oder ganze Gesundheitssysteme auf der Grundlage, inwiefern sie solche Messverfahren anwenden. Andererseits ignorieren wir dadurch weniger lesbare aber folgenschwere eigentümliche Praktiken und deren Resultate. Die Vermengung von Risiko und Krankheit hat noch subtilere Auswirkungen auf den individuellen Entscheidungsprozess, die für die betroffenen Menschen wichtig sind und weitreichende Folgen zeitigen. Es ist verständlich, dass die Muster der Entscheidungsfindung und des Handelns von Personen mit symptomatischen und ernsten Erkrankungen von solchen Personen aufgegriffen werden, die an unterschiedlichen Stellen des Risikokontinuums stehen. Beispielsweise entscheiden sich einige Frauen mit metastasierendem Brustkrebs für Behandlungen, denen medizinische Studien eine heilsame Wirkung insgesamt absprechen, etwa für hochtoxische Chemotherapien mit Knochenmarktransplantationen. Konfrontiert mit der an Sicherheit grenzenden Gewissheit über das Fortschreiten der Krankheit und den nahenden Tod, ist es nachvollziehbar, dass manche Frauen gegen jede Wahrscheinlichkeit wetten und hoffen, dass ein gewagter Schachzug vielleicht das Überleben ermöglicht. Immerhin werden sie auch den nachträglichen Selbstvorwurf zu vermeiden suchen, nicht alles Erdenkliche getan zu haben, um das Fortschreiten der Krankheit und den Tod abzuwenden. Dieses „Spielen mit dem Gesetz der kleinen Zahlen“ und die Heuristik des „vorgreifenden Bedauerns“ kommen vermehrt in Risikoentscheidungen zum Einsatz (Aronowitz 2007). Einige Frauen und Ärzte beschwören zum Beispiel eine solche Heuristik, um Vorsorgemammographien für Frauen unter 50 zu fordern, obwohl die vorliegende Datenlage zeigt, dass sich daraus bei hohen finanziellen und personellen Kosten kein oder kaum ein Gesamtvorteil erzielen lässt. Sie fürchten den Krebs so sehr, dass das Wetten gegen alle Chancen als vernünftig erscheint. Frauen dürften damit auch dem Bedauern vorgreifen wollen, das sie 373

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entwickeln würden, wenn sie später Brustkrebs bekämen und nicht von den Vorsorgeuntersuchungen Gebrauch gemacht hätten. Der jüngste Bericht über steigende Zahlen von kontralateralen prophylaktischen Mastektomien in den Vereinigten Staaten legt nahe, dass der Einfluss dieser Grundlagen für die Entscheidungsfindung signifikant ist. Die Anzahl der Frauen, bei denen Krebs in einer Brust festgestellt wurde und die eine prophylaktische Mastektomie der nicht betroffenen Brust vornehmen ließen, stieg von 1,8 Prozent im Jahr 1998 auf 4,5 Prozent im Jahr 2003 (Tuttle et al. 2007). Obwohl genaue Statistiken bisher noch nicht vorliegen, gibt es Grund zur Annahme, dass der Anteil prophylaktischer Mastektomien bei Frauen, für die „lediglich“ ein hohes Brustkrebsrisiko vorliegt – ob mittels genetischer Screenings oder auf anderer Grundlage identifiziert – mit dem Anteil der Frauen mit diagnostiziertem Brustkrebs angewachsen ist.5 Mit anderen Worten spiegelt sich die Überschneidung von Risiko und Krankheit in einer parallelen Entscheidungsfindung von Menschen mit einem Krankheitsrisiko oder mit manifesten aber unterschiedlichen Stadien von Krankheit wider. In meinen Augen treiben weder Verbesserungen in der Chirurgie noch neue biomedizinische Einsichten alleine einen solchen raschen Wandel voran. Es ist erhellend zu sehen, dass prophylaktische Eingriffe bei Brustkrebs für Frauen in allen Krankheitsphasen mit einer nahezu identischen Rate6 angewachsen sind (vgl. Abb. 1). Entscheidungen über einen prophylaktischen Eingriff scheinen nicht allein auf klaren Kalkulationen über veränderte Krebswahrscheinlichkeiten basiert gewesen zu sein, denen Frauen mit unterschiedlichen Risiko- und Krankheitsgraden ausgesetzt waren. Aus einer Perspektive rationaler Entscheidungsfindung würden wir erwarten, dass Frauen mit einem niedrigeren Risiko eines erneuten Auftretens eine niedrigere medizinische Interventionsrate aufweisen, da diese weniger von dieser verstümmelnden Operation zu erwarten haben (ihre absoluten Raten sind in der Tat niedriger).

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Ich war bisher nicht in der Lage, gute (will sagen bevölkerungsgestützte) Daten für temporäre Trends zur prophylaktischen bilateralen Matesktomie bei Frauen ohne Brustkrebs auszumachen. Eine Studie stützt sich auf eine Datenbank von Frauen, die Mutationen von BRCA1 und BRCA2 hatten, und berichtet, dass amerikanische Frauen die höchste Rate an prophylaktischen Eingriffen (36,3 Prozent) unter den neun Industriestaaten, die sie verglichen hatten, aufwiesen (Metcalfe et al. 2008). In Phase 1 des Brustkrebses ist der Krebs noch nicht über die Brust hinaus gestreut und ist nicht mehr als 2 cm breit; in Phase 2 ist der Krebs zwischen 2 und 5 cm breit; und in Phase 3 ist der Krebs größer als 5 cm und bereits auf Lymphknoten oder das lokale Gewebe gestreut.

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Abbildung 1: Trend in der Verteilung von allen chirurgisch behandelten Personen, die sich einer kontralateralen prophylaktischen Mastektomie (CPM-A) unterzogen haben, unterteilt nach der Phase der Krebsentwicklung zum Zeitpunkt der Diagnose.7

Quelle: Tuttle 2007. Reproduziert mit Genehmigung des Journal of Clinical Oncology (Reprinted with permission. © 2008 American Society of Clinical Oncology. All rights reserved.). Y-Achse: Prozent-Anteil aller chirurgisch behandelter Brustkrebse.

Die Tatsache, dass sich Frauen aus allen Krankheitsphasen aber gleichmäßig über die steigende Rate der prophylaktischen Eingriffe verteilen, legt nahe, dass sie einem gemeinsamen externen Einfluss ausgesetzt sind. Einige Beobachter haben sich bei der Erklärung dieses Anstiegs auf dessen Ursachen festgelegt, wie zum Beispiel auf den Einsatz sensiblerer Diagnose- und Vorsorgetechnologien (z.B. Brust-MRIs), die auch ich für entscheidend halte (Pollack 2008b). Ebenso wichtig ist jedoch die Beobachtung, dass Menschen an verschiedenen Punkten des aktiv konstruierten Risikokontinuums Risiko in ähnlicher Weise wahrnehmen und ähnliche Entscheidungsstrategien und Ausdrucksformen relativ autonom von den objektiven Wahrscheinlichkeiten negativer Resultate anwenden. Auch wenn ich nicht die jeweilige Entscheidung eines Individuums im Nachhinein kritisieren will, halte ich es für problematisch, dass die 7

Die Cochran-Armitage Tests waren im Trend für CPM-A Gesamtraten und Raten per Krebsphase (Stage) signifikant (p< .001). 375

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Anzahl prophylaktischer Eingriffe an allen Punkten des Risikokontinuums schnell und gleichförmig angestiegen ist. Klinische oder politische Reaktionen darauf sollten die aktive Rolle der Produktion risikobezogenen Wissens und die Wirksamkeit risikoreduzierender Maßnahmen beachten, welche Ängste generiert und in meinen Augen die Wirksamkeit von gegenwärtigen Bemühungen zur Risikoreduktion über Wert verkauft. Das Aufweichen der Grenzen im Entscheidungsprozess zwischen Risiko und Krankheit wird unterstützt durch die Art und Weise, wie wir Risiko und Krankheit benennen und klassifizieren. Viele Kliniker erkennen nun, dass die pathologische Diagnose eines labulären Karzinoms in situ nach einer Brustbiopsie im Grunde kaum mehr als die Entdeckung eines unterschwelligen Risikos bedeutet. Aber die Krebsterminologie, und das was sie benennt, baut ein Mehr an Ängsten auf und begünstigt Entscheidungsfindungen, das typischerweise bei symptomatischem und fortgeschrittenem Krebs zu finden ist. Dieses semantische Gleiten könnte zusammen mit weiteren negativen Aspekten der angenäherten Erfahrung von Krankheit und Risiko – wie etwa dem Aufbauschen von Ängsten und angstreduzierenden Interventionen durch die Pharmaindustrie und andere Akteure – gelindert werden. Dafür müsste man kritischer betrachten, wie wir Krebs und andere Krankheiten definieren, benennen und klassifizieren. Die Annäherung von Risiko und Krankheit hat auch zu einer größeren und mobilisierten Krankheits-/Risiko-Population geführt, womit ein expandierter Markt für medizinische Interventionen genauso einher ging wie eine größere Schlagkraft der beteiligten Interessensvertreter. Weiter oben habe ich bereits den erweiterten Medikamentenmarkt erwähnt, der aus der Vermengung von Vorformen des Bluthochdrucks mit tatsächlichem Bluthochdruck und von Vorformen des Diabetes mit Diabetes herrührt. Der größere Umfang der Risiko/Krankheitspopulation kann zu sichtbarerer und effizienterer Interessenvertretung führen, was größeren politischen Druck auf die Finanzierung der Grundlagen- und der klinischen Forschung aufbauen kann, die wiederum – mittels expandierender Definitionen von Risiko und Krankheit – zu einem Anstieg der mobilisierten Population beitragen kann. Dies zeigt sich in den USA am deutlichsten am Beispiel des Brustkrebses. Ganz ähnliche Trends sind aber auch in anderen Risiko/Krankheitspopulationen zu beobachten wie etwa jener, die sich durch eine Vermengung von Übergewicht und Typ 2-Diabetes ergeben hat. Angesichts der Tatsache, dass diese mobilisierten Risiko/Krankheitspopulationen häufig durch das Marketing von Tests und Produkten konstituiert werden, was von ökonomischen Sonderinteressen pharmazeutischer Unternehmen und beeinflusster Ärzte angetrieben wird, bedürfen wir einer energischeren und kritischeren Antwort auf sol376

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che Versuche, Individuen an unterschiedlichen Stellen des Risikokontinuums zusammen auf Märkte für Eingriffe und Produkte zu drängen. Dass die Erfahrungen von Risiko und Krankheit sich angeglichen haben, hat ebenfalls zu dramatischen Verschiebungen in der Art und Weise geführt, wie die Schwere und das Spektrum einer Krankheit wahrgenommen wird, mit Folgewirkungen für den Modus, wie Menschen ihre Krankheit wahrnehmen und verstehen. Die erweiterte Risikogruppe macht Menschen mit einer schlechten Prognose und einem schnell voranschreitenden Krankheitsverlauf deutlich häufiger als früher zu einer Art Minderheit, lässt das Angesicht einiger transformierter Krankheiten in der Öffentlichkeit weitaus weniger gefährlich erscheinen und trägt dadurch ganz grundsätzlich dazu bei, jener erweiterten Gruppe der Bedrohten oder Kranken eine optimistische Fassade zu verpassen. Eine meiner Studentinnen mit langjährigem Typ 1-Diabetes war über Medienberichte bestürzt, denen zufolge sich eine berühmte Schauspielerin, die sich vormals als öffentliche Botschafterin der Krankheit engagiert hatte, von Insulin habe entwöhnen können. Sie hegte, ob zutreffend oder nicht, den Verdacht, dass die ursprüngliche Diagnose der Schauspielerin auf eine Ausweitung der Kategorie des Typ 1-Diabetes zurückzuführen gewesen sei – auf Wegen, die ich den gesamten Artikel hindurch beschrieben habe. Meine Studentin machte sich Sorgen darüber, dass die oberflächliche Botschaft der Medien über Krankheitskontrolle oder eine vermeintliche Selbstheilung unerfüllbare Erwartungen bei den meisten Typ 1-Diabetikern schüren und das öffentliche Wissen um die Ernsthaftigkeit der Herausforderungen für Typ 1-Diabetiker unterminieren könnte. Für die vielen Fälle, bei denen die Ausweitung des Risiko/Krankheitskontinuums die eigentliche Erfahrung von hochgradig symptomatischen Individuen überlagerte, dürfte es daher angemessen sein, striktere Trennlinien zwischen Risiko und hochgradig symptomatischer Krankheit aufrecht zu erhalten oder neu zu begründen. Eine letzte Konsequenz aus der Vermengung von Risiko und Krankheit ergibt sich aus der Ausweitung von Eingriffen, die sowohl Risikominderung als auch Effektivität bei symptomatischen Erkrankungen versprechen. Bevor Daten der Women’s Health Initiative erschienen, wurden viele Frauen dazu ermuntert Sexualhormone zu nehmen, um einerseits menopausale Symptome zu kontrollieren und andererseits das Risiko späterer chronischer Erkrankung zu reduzieren. Die Menopause wurde zum einen als ein symptomatischer Zustand, zum anderen als ein weiterer „Risikozustand“ konstruiert. Die Bündelung von Risikoreduktion und Behandlung der Krankheit wird ebenso in der Marktnische deutlich, in der sich viele neue Medikamente tummeln, deren einziges oder hauptsächliches Verkaufsmerkmal das Versprechen ist, Patientinnen und Pati377

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enten einem geringeren Risiko durch Nebenwirkungen auszusetzen als dies konkurrierende Medikamente tun. Beispielsweise wurde die Cox-2Hemmstoffklasse der nichtsteroidalen entzündungshemmenden Medikamente, wie etwa Vioxx und Celebrex, damit beworben, dass sie ebenso effizient seien wie existierende Schmerzmittel und Entzündungshemmer, dabei die Patienten aber einem geringeren Risiko gastrointestinaler Blutungen aussetzten. Deren erstaunlicher Markterfolg ergab sich aus dieser Kombination von Wirksamkeit gegen die Krankheit und die Symptome sowie der Aussicht darauf, weniger risikoreich als konkurrierende Medikamente zu sein. Aber Risikoreduktion unterliegt einem „wie gewonnen, so zerronnen“-Prinzip. Das Wissen um die aufgebürdeten Risiken kann schnell die risikoreduzierende Grundlage des Medikaments unterminieren. So schnell die Cox-2-Hemmstoffe den Markt der Entzündungshemmer dominierten, so schnell brachen ihre Anteile an dem Markt wieder ein, sobald nachgewiesen worden war, dass sie ein kardiovaskuläres Risiko erhöhten. Denn es dürfte schwierig sein, risikoverändernde Medikationen oder Interventionen als Möglichkeit, Ängste und Unsicherheit zu vermindern, zu verkaufen, wenn eben diese Eingriffe selbst Ängste und Unsicherheiten hervorrufen. Eine Risikoreduzierung mit der Reduktion von Symptomen zu kombinieren stellt eine Unterart davon dar, wie Risikoreduktion nicht nur die Krankheitsprävention im Hinblick auf Gesunde, sondern auch im Hinblick auf die Wahrnehmung und das Management von Krankheiten durchdrungen hat. Die Bündelung von Risikoreduzierung und Symptomentlastung mag an und für sich ein guter Schritt sein, aber in vielen Fällen stellt sie einen Teil eines problematischen, sich selbst bestärkenden Kreislaufes der Förderung von Ängsten dar, begleitet von der Werbung für Tests und Produkte, die eine gewisse Rückeroberung von Kontrolle über die Angst versprechen. Diese Kreisläufe der Risikoproduktion und Risikoreduktion innerhalb unserer Bemühungen in der Primär- und Sekundärprävention haben finanzielle wie psychologische Kosten. Sollten wir eine höhere Messlatte für die Akzeptanz neuer Praktiken und Produkte anlegen, deren primäres Ziel es ist, die Risiken anderer Praktiken und Produkte zu reduzieren? Jüngere Argumente zur Kosteneffektivität neuer HPV-Impfungen zeigen, dass die beträchtlichen Einsparungen bei Gebärmutterhalskrebs und anderen HPV-bedingten Krankheiten weniger aus der Reduktion in Morbidität und Mortalität folgen könnten, denn aus der Reduktion von HPV-bedingten Abnormalitäten bei Abstrich-Tests und den teuren sowie eingriffsintensiven Folgeeingriffen, die diese auslösen. Es handelt sich hier um eine reale und wichtige Einsparung. Aber diese Art der MetaWirkung hat insofern auch etwas Nutzloses und Problematisches an 378

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sich, dass solche Risikointerventionen die Kosten und Schädigungen anderer Risikointerventionen reduzieren soll. Und das ist vor allem dann besonders nutzlos und problematisch, wenn solche risikoreduzierende Eingriffe zweiter Ordnung in unserer klinischen und gesundheitspolitischen Arbeit vorherrschend werden.

Fazit Ich habe die wenig beachteten und häufig beunruhigenden Konsequenzen einer veränderten Erfahrung chronischer Krankheiten und deren Annäherung an Risikoerfahrungen betont. Weder können wir die Uhr zurückstellen, noch sollten wir dies wollen. Wir können aber mehr tun um die finanziellen Kosten, die Verunsicherung des Seelenfriedens und die Ablenkung von anderen Gesundheitszielen, die die Kehrseite jener sich überschneidenden Wahrnehmungen darstellen, zu reduzieren. Viele der Veränderungen, die ich beschrieben habe, sind das Resultat von spezifischen Formen von Wissensproduktion, besonders im Bereich der Erforschung des natürlichen Krankheitsverlaufs und der Konstruktion neuer Risikostadien für existierende chronische Krankheiten. Zusätzliche Einflüsse ergaben sich aus sekundären Effekten oder Nebenwirkungen unserer Definition und Behandlung chronischer Krankheiten. Doch werden üblicherweise weder diese Wissensproduktion noch jene späten Effekte bestehender klinischer Praktiken als zentrale Probleme in der Policyanalyse oder -reaktion verstanden. Unsere gegenwärtige Strategie reagiert im Großen und Ganzen auf verschiedene risikoreduzierende Eingriffe, Vorsorgeuntersuchungen oder diagnostische Tests, präventive Medikationen und Veränderungen der Lebensführung, die als jeweils singulär, voneinander isoliert und erst dann betrachtet werden, wenn sie festen Fuß in der klinischen Praxis gefasst haben. Politische Entscheidungsträger fragen zum Beispiel in der Regel nicht, warum gerade diese und nicht andere Risiken erforscht und propagiert werden. Wir evaluieren gemeinhin nicht die kumulativen Effekte verschiedener Präventionspraktiken oder die Wege, durch welche neue Behandlungs- oder Überwachungssysteme eben jene Risikozustände, auf die sie abzielen, erweitern und legitimieren. Ebenso haben wir, verglichen mit der Primärprävention, kaum evidenzbasierte Aufmerksamkeit für die Überwachung bestehender Krankheiten und für die „Sekundärprävention“ übrig. Gegenwärtige Analysen zur Kosteneffizienz von, sagen wir, einem neuen Asthma- oder Diabetesdiagnosetest oder einem Diabetesmedikament, die darauf abzielen, die Auswirkung der existierenden Krankheit – wie evidenzbasiert auch immer – zu reduzie379

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ren, reflektieren gewöhnlich weder die kumulativen Effekte für den Seelenfrieden oder die Patientenidentität (patienthood) vieler dieser Praktiken mit, noch messen sie Auswirkungen einer Krankheit, wie etwa die gesteigerte Furcht, die sich in größerer sozialer Reichweite abspielen. Die veränderte Erfahrung von Krankheit legt eine vom gegenwärtigen status quo abweichende Art der Evaluation und politischen Reaktion nahe; eine, die die „stromaufwärts fließenden“ Prozesse untersucht, die in der Wissensproduktion um Risiken und neue präventive Maßnahmen und Produkte resultiert (Aronowitz 2006). Unsere Handlungsstrategien müssen den Prozess beurteilen und regulieren können, nach dem Risiken benannt, identifiziert und erforscht werden; sie müssen beantworten können, wie die Nachfrage nach Interventionen produziert wird; und was die vielen Überlaufeffekte für unsere Risikointerventionen bedeuten. Wir könnten beispielsweise die gegenwärtige Regulierungsaufsicht über Direktwerbung verschreibungspflichtiger Medikamente ausweiten und auf Bewertungen über den Einfluss der weitaus größeren Märkte, die sowohl aus „Risikoträgern“ als auch aus bereits Erkrankten bestehen, erstrecken. Wir könnten darauf bestehen, dass Marktteilnehmer eine strengere Grenze zwischen Risiko und Krankheit bei der Kennzeichnung und Werbung beachten. Wir könnten durch Forschungsfinanzierung und die Formulierung der besten klinischen Praktiken kritischer auf Forschung, Produktentwicklung und auf Appelle an die klinischen wie verhaltensbezogenen Änderung reagieren, die einen uneingeschränkten Gewinn durch „frühe“ Krankheitseingriffe unterstellen. Derartige Prüfungen bestehen bereits in Form von Aufsichtsbehörden wie etwa der U.S. Preventive Task Force, die Forderungen nach Primärprävention beurteilt. Das Bewusstsein ist jedoch schwächer ausgebildet, wenn es um die Beurteilung „risikoreduzierender“ Interventionen bei bereits bestehender Krankheit geht. Es ist natürlich schwierig, Auswirkungen wie Angst, Störungen des Seelenfriedens und die Genese einer Patientenidentität zu messen und diese Effekte gegenüber dem gesundheitlichen Profit durch neues Wissen und neue Praktiken abzuwägen. Aber den Fokus nur darauf zu legen, was einfach zu messen und zu bewerten ist, wird die Herausforderungen nicht verdrängen, die die Vermengung von Risiko- und chronischer Krankheitswahrnehmung darstellt.

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Da n k Dieser Artikel wurde finanziell gefördert durch einen Investigator Award in Health Policy der Robert Wood Johnson Foundation und durch das Stipendium 1G13LM009587-01A1 der National Library of Medicine, der National Institutes of Health und des Department of Health and Human Services. Die in schriftlichen Veröffentlichungen oder anderen Medien ausgedrückten Ansichten entsprechen nicht unbedingt der offiziellen Politik des Department of Health and Human Services; auch impliziert die Nennung von Markennamen, kommerzieller Praktiken oder Organisationen keine Unterstützung durch die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Charles Rosenberg und David Asch haben einen frühen Entwurf dieses Artikels gelesen und wertvolle Kommentare geliefert.

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Autorinnen und Autoren

Aronowitz, Robert A., geb. 1953, ist Professor für Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie an der University of Pennsylvania, USA, und Leiter des dortigen „Robert Wood Johnson Foundation Health and Society“ Programms. Seine Forschungen und Publikationen beschäftigen sich mit Risikowahrnehmungen und Krankheitserfahrungen in der klinischen Medizin und in modernen Gesundheitssystemen. Berger, Silvia, geb. 1973, lebt in Zürich und forscht am Zentrum Geschichte des Wissens der ETH und Universität Zürich. Sie veröffentlichte mehrere Arbeiten zur Geschichte der Bakteriologie als Leitwissenschaft der Moderne. Berridge, Virginia, geb. 1946, ist Professorin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine und Leiterin der dortigen „Center for History in Public Health“. Sie lehrt und forscht zur Geschichte des modernen Gesundheitswesens und zur Entwicklung der Gesundheitspolitik, der Gesundheitsprävention und der Drogenpolitik. Dietrich, Tobias, geb. 1972, lehrt Neueste Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Universität Trier. Er ist Fachleiter für Geschichte am Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Koblenz. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen vorgelegt zur transatlantischen Sozial- und Körpergeschichte sowie zur europäischen Religionsgeschichte. Döring, Martin, geb. 1966, lebt in Hamburg und forscht am Forschungsschwerpunkt Biotechnologie, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg. Veröffentlichungen zur soziokulturellen Konzeptuali385

DAS PRÄVENTIVE SELBST

sierung von ‚Natur‘ im Naturschutz, zur gesellschaftlichen Rahmung der Maul- und Klauenseuche in Großbritannien sowie Arbeiten zur wissenschaftlichen und medialen Konstruktion von embryonalen Stammzellen, Herzkreislauferkrankungen und Fettleibigkeit. Ferdinand, Ursula, geb. 1951, lebt in Münster und Berlin und arbeitet am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin des Universitätsklinikums Münster. Sie veröffentlichte mehrere Arbeiten zur Geschichte der Bevölkerungswissenschaften, insbesondere über Geburtenrückgangstheorien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Lengwiler, Martin, geb. 1965, arbeitet als Professor für Neuere allgemeine Geschichte an der Universität Basel. Er lehrt und forscht zu Themen der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Sozialstaatsgeschichte und zur Wissensgeschichte. Lindner, Ulrike, geb. 1968, arbeitet an der Fakultät Geschichtswissenschaften der Universität Bielefeld. Sie hat stets zu komparativen Themen geforscht und sich seit einigen Jahren verstärkt der transnationalen und globalen Geschichte zugewandt. Zum Thema der Sozialpolitik und Gesundheitspolitik in Westeuropa hat sie zahlreiche Arbeiten veröffentlicht. Madarász, Jeannette, geb. 1973, hat sich in verschiedenen Veröffentlichungen mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der DDR auseinandergesetzt. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung bearbeitet sie derzeit das Forschungsprojekt „Genese und Entwicklung präventiver Gesundheitsvorsorge in Deutschland (1918-1995)“. Niewöhner, Jörg, geb. 1975, forscht und lehrt am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Als ethnographischer Wissenschaftsforscher beschäftigt er sich vor allem mit den Lebenswissenschaften und ihren Auswirkungen auf und Prägungen durch gesellschaftliche Alltage. Porter, Theodore M., geb. 1953, ist Professor für Wissenschaftsgeschichte am History Department der University of California, Los Angeles (UCLA). Seine Arbeiten beschäftigen sich mit der modernen Wissenschaftsgeschichte, insbesondere mit der Verwendung von mathematisch-statistischen Objektivitätstechniken in staatlichen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen moderner Gesellschaften. 386

AUTORINNEN UND AUTOREN

Tanner, Jakob, geb. 1950, ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Ko-Leiter des dortigen „Zentrums Geschichte des Wissens“. Er lehrt und forscht zu Themen der Kulturgeschichte, der Historischen Anthropologie, der Wissenschaftsgeschichte und der Wirtschaftsgeschichte. Timmermann, Carsten, geb. 1966, forscht und lehrt am Centre for the History of Science, Technology and Medicine der Universität Manchester. Er hat mehrere Arbeiten zur Sozial- und Kulturgeschichte der Herzkreislaufkrankheiten und des Krebses veröffentlicht. Wolff, Eberhard, geb. 1959, Medizinhistoriker an der Universität Zürich und Kulturwissenschaftler an der Universität Basel. Arbeitet im Bereich Gesundheit und Kultur in Forschung, Lehre, Museum und Journalismus.

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VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper Juli 2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0

Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? Juli 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1

Thomas Mathar Der digitale Patient Zu den Konsequenzen eines technowissenschaftlichen Gesundheitssystems Oktober 2010, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1529-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8

Sonja Palfner Gen-Passagen Molekularbiologische und medizinische Praktiken im Umgang mit Brustkrebs-Genen. Wissen – Technologie – Diagnostik 2009, 390 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1214-1

Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3

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