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German Pages 280 Year 2014
Wolfgang Hoops Pflege als Performance
Wolfgang Hoops (Dr. phil. des.) lehrt Pflegewissenschaft und Pflegedidaktik an der Technischen Universität Dresden und ist Schulleiter der Berufsfachschule für Altenpflege WBS Training gGmbH in Dresden.
Wolfgang Hoops
Pflege als Performance Zum Darstellungsproblem des Pflegerischen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Geleitwort | 9 Vorwort | 15 1 Einleitung | 17
1.1 Problemaufriss | 19 1.2 Gegenstandsauffassungen im wissenschaftlichen Pflegediskurs | 24 1.2.1 Bedürfnistheorien: Die Pflegerin als stellvertretender Darsteller | 24 1.2.2 Interaktionstheorien: Die Performativität des Pflegerischen | 29 1.2.3 Transformationen | 32 1.3 Zur Pflegewissenschaft in Deutschland | 37 1.3.1 Zur Genese des deutschen pflegedidaktischen Diskurses zwischen 1970 und 1990 | 37 1.3.2 Zur Schlüsselposition Wittnebens | 50 1.3.3 Zum Konzept des Pflegerischen Handelns | 52 1.3.4 Ausgangspunkte dieser Untersuchung | 59 1.4 Klärung der Fragestellung, des Gegenstandes, des Untersuchungsganges und des möglichen Ertrages | 64 1.4.1 Konstellativer Ansatz | 67 1.4.2 Darstellung | 69 2 Bildanalyse: Zur Darstellung des Pflegerischen | 75
2.1 Exposition: Lesarten des Bildes | 79 2.1.1 Bild, Darstellung, Bilddiskurs | 80 2.1.2 Ableitung, Konkretion, Position | 82 2.2 Wie ich fragen möchte | 88 2.3 Zeit(un)gemäße Betrachtungen: Ansichten des Pflegerischen | 89 2.3.1 Hände: Zur Symbolisierung des Anderen | 89 2.3.2 Dunkle Seiten des Pflegerischen | 96 2.3.3 Handlungsbilder aus dem (vermeintlichen) Stationsalltag | 101
2.3.4 Wissenschaft und Nächstenliebe – und was dazwischen? | 107 2.3.5 Ergebnisse der Bild-Analyse | 112 3 Zuschnitt als Tableau | 119
3.1 Das Tableau | 119 3.1.1 Zum nosologischen Tableau (Foucault) | 120 3.1.2 Im Tableau – gespalten (Lacan) | 122 3.1.3 Zur Mimesis des pflegerischen Tableaus | 123 3.1.4 Das pflegerische Tableau | 131 4 Historische Diskursanalyse: Zur Funktion der absoluten Metapher | 135
4.1 Gründungsdiskurs: Zur Einschreibung der Imago Nightingale | 135 4.1.1 Parallelisierung | 138 4.1.2 Zur absoluten Metapher | 140 4.1.3 Zum Wunsch der Metapher nach Normativität | 143 4.1.4 Ausschluss der Sexualität | 145 4.1.5 Wirkungen, Blendungen, Frauenherrschaft | 147 4.2 Noch einmal Gründung: Wiederholung einer Fiktion | 151 4.2.1 Prima Pflegewissenschaft | 152 4.2.2 Verödung lebensweltlicher Wissensformen | 156 4.2.3 Verlust des Bildsignifikanten | 159 4.2.4 Ausgangspunkt Pflegeschülerinnen | 161 4.2.5 Nightingale reloaded gescheitert | 163 4.2.6 Der Traum der Metapher, ihr Zentralismus und das pflegerische Tableau | 164 4.2.7 Zusammenfassung | 166 5 Systematische Untersuchung: Zur Möglichkeit einer pflegerischen Mimesis | 169
5.1 Zur Rekonstruktion einer pflegerischen Mimesis | 171 5.2 Eröffnung: Über Mimesis oder ihr Verhältnis zum Verhältnis | 180 5.3 Ur-Schriften der Mimesis: Ihre Grundgestalten – erläutert, überführt | 183 5.3.1 Mimesis als Praxis (Mime, Magier) | 184 5.4 Zur Kritik eines darstellenden Tableaus | 199
5.4.1 Über Horkheimer: Mimesis als kritische Sozialisation | 199 5.4.2 Der kritische Mimesisdiskurs | 202 5.4.3 Die Switch-Logik: Zu den drei Stockwerken im Oeuvre Adornos | 203 5.4.4 Mimesisdenken aus dem „Geist“ des Ästhetischen | 212 5.4.5 Das geheime Modell „Proust“: Der sich schließende Kreis | 213 5.4.6 Der sich schließende Kreis in der Ästhetik: Die Monade | 219 5.4.7 Die Monade öffnen | 226 5.4.8 Charakteristika eines pflegerischen Tableaus aus Sicht der Darstellungstheorie Adornos | 233 5.5 Systematische Konsequenzen für das pflegerische Tableau | 236 5.5.1 Grenzen der Darstellbarkeit | 238 5.5.2 Zur Frage der Aisthesis | 239 6 Blick aus dem pflegerischen Tableau | 241
6.1 Zum Verlauf der Untersuchung | 241 6.2 Zusammenfassung der Studienergebnisse | 246 6.3 Zum Darstellungsproblem des Pflegerischen | 247 6.4 Grenzen: Limitationen des pflegerischen Tableaus | 248 6.5 Desiderat I: Möglichkeit einer relationalen Pflegedidaktik | 249 6.6 Desiderat II: Weitere Wahrnehmungsqualitäten | 249 6.7 Desiderat III: Das Pflegerische und Kunst | 250 6.8 Desiderat IV: Zum pflegerischen Unverhältnis und Übertragung | 251 Literatur- und Quellenverzeichnis | 253 Abbildungsverzeichnis | 275
Geleitwort
Das Ästhetische ist der Pflege eigentlich nicht fremd. Krankheiten, Verletzungen, Gestank, Siechtum, Krusten, Schreie, Schlummern, Verbände, Prothesen, Ruhe, Genesung rufen Ekel, Angst, Mitleid, Widerwillen, Sanftmut hervor. Viele Aspekte hat schon Theweleit beschrieben1 In dieser Arbeit „Pflege als Performance“ von Wolfgang Hoops geht es auch darum. Es geht aber noch viel grundsätzlicher um eine ästhetische Herangehensweise. Er nutzt also Forschung aus der Kunst für die Forschung in der Wissenschaft. Danach werden Bildtheorien so hilfreich für die Pflege, wie pädagogische oder medizinische Theorien. Angesichts einer unübersehbaren Fülle von Bildtheorien beschränkt sich die Arbeit interpolativ nachvollziehbar auf die Positionen von Boehm, Mitchell, Lacan und Rancière. Die Positionen werden ausprobiert an einem in einer Informationsbroschüre gefundenen Bild mit der Unterschrift „Zur Pflege gehört auch Zuwendung, Bundesregierung“ (2005-2009) auf dem mehrere Hände, junge und alte, zu sehen sind, oder an einem Bild aus der „Welt“ vom 31.08.2008, in dem Pfleger und Verbrechen in einen Zusammenhang gebracht werden. An einem Foto einer Pflegeszene aus dem Klinikalltag ergibt sich ein weiterer Durchlauf durch die genannten theoretischen Zugänge. Ein letzter Durchgang ist dem Bild von Pablo Picasso „cienca y caridad“ von 1897 gewidmet. Die Pflegerische Fragestellung erschließt die Bilder und von diesen fließt Aufmerksamkeit und strukturelles Wissen zurück in die Pflege und ihre Didaktik. Durch die Doppelbelichtung der bildtheoretischen Zugänge und die konkrete Analyse von Bildern erschließt sich Pflege als eine äußerst komplexe Handlungssituation, die in vielen Verweisen auf die sozialen und psychologischen und institutionell zur Pflege zugehörigen anderen Diskurse hindurchläuft. Fazit: „die Darstellung des Pflegerischen zeigt oftmals etwas genau nicht. [...]
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Theweleit, Klaus: Männerphantasien 2 Bde., Frankfurt am Main: Verlag Roter Stern/ Stroemfeld 1977, 1978
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Zuwendung, Gewalt und Tod sind jeweils die Themen, die nicht dargestellt werden aber durch die Darstellung als Thema ausgewiesen werden. Sie werden gleichsam durch die Darstellung des Pflegerischen als undarstellbar dargestellt, als Darstellungsgrenzen.“ (S. 114) und es entsteht durch das Tableau, hier in der Darstellung als Bild, auch durch Reflexion ein Ort, der in Spuren auf den Bildern erkennbar ist. Das Tableau wird charakterisiert als eine Schaltfläche zwischen verschiedenen Diskursen, als ein Instrument der Untersuchung, als Fläche für Einschreibungen, präzisiert durch Bezug auf die wissenschaftsarchäologischen Arbeiten Foucaults, eine Ordnungsfläche, die ohne historische Dimension in immerwährender Gleichzeitigkeit fungiert. Mit Lacan wird Tableau als ein Ort für Spaltprozesse charakterisiert. In seinem Gebrauch lässt sich eine Differenz von Ich und Subjekt deutlich machen. Fasst man das Tableau als Bühne auf, kommt ein energetischer und zeitlicher Aspekt in den Blick, der als Prozess erst zu einer Darstellung und immer wieder flüchtigen Wahrnehmbarkeit führen kann. Deshalb braucht es unterschiedliche Medien der Darstellung. Begrifflichen Sensorien werden an einzelne Szenen aus der pflegerischen Praxis, aus der Bildenden Kunst an sie Abschlussszene aus „La Traviata“ herangebracht. Spätestens von hier aus wird deutlich, dass Erfahrungsberichte, Vignetten aus der Pflegepraxis, gleichzeitig auch Skizzen des Konzeptes „Tableau“ sind. D. h. das Konzept des Tableaus wird nicht als fertiges angewendet, sondern entwickelt sich mit aus den Beispielen im Buch. Der Leser muss mit ins Bild und auf die Bühne! Aber nicht nur ein gewagtes, ungewohntes Dispositiv zum Betrachten und Abhören, was denn Pflege und das Pflegerische sei, finden sich in der Arbeit. Gegenstand ist die Analyse der gegenwärtig tragenden Konzepte des Pflegens: die Bedürfnis- und Interaktionstheorien und eine Bestandsaufnahme zur Genese des deutschen pflegedidaktischen Diskurses zwischen 1970 und 1990 wird unternommen. Die Differenz zwischen handlungswissenschaftlich notwendigen Regelwissen und Vollzug wird als Darstellung, bzw. als Darstellungsproblem charakterisiert. Diese Differenz wird zur Produktion des Pflegens, zu dessen Treibsatz, nicht zu einem Defizit, das zu vermeiden sei. Das, was das Pflegerische sei, wird dementsprechend als Grenzbegriff charakterisiert, als etwas, das nicht direkt als schon positiv Vorhandenes oder Zuhandenes angegangen werden kann: Es tritt in Existenz im Tableau. Pflege wird zu einer Darstellung einer verändernden Beziehung, alle Beteiligten in Mitleidenschaft ziehende Tätigkeit. Das Pflegespezifische sind die Erfindungen zur Überbrückung des Hiatus. Dies selber generiert erst die pflegerische Wirklichkeit und Wirksamkeit.
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Die historische Begründung des Pflegediskurses zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eines emanzipativen Diskurses wird gleichzeitig als die Konstruktion einer Metapher dargestellt. Und dies nicht nur rhetorisch, sondern tatsächlich: Die Metapher trägt etwas herüber, übersetzt. Die absolute Metapher (Blumenberg) ist „The Lady with a Lamp“ (Longfellow). Die Untersuchung legt nahe: „die alte religiöse Macht vom Pflegediskurs abzutrennen, [das, KJP] bedeutet eine ungeheure chirurgische Leistung, die durch das Vorbild der Nightingale ermöglicht wird. Diese Ablösung geschieht in der Logik der Imitatio aber primär inhaltlich, indem sie als Metapher ein neues Bild kreiert und überträgt, aber sie geschieht unter Aufrechterhaltung der alten formalen Struktur“ (S. 147). In der Folge der Pflegepolitik wird aus dieser Metapher eine Art Arbeitsprogramm: 1. Gedächtnis Florence Nightingales, 2. Forderung der Schwesternfortbildung, 3. Anregung zum Schreiben pflegewissenschaftlicher Arbeiten und 4. Einrichtung eines Fonds, um Preise für pflegewissenschaftliche Arbeiten und Stipendien zu vergeben (S. 153). Die Abhandlung zeigt, dass es schließlich unter der Last der Anforderungen einer ausdifferenzierenden, kontrollierbaren, messbaren, markbestimmten und spezialisierenden Klinik zum Verlust eines organisierenden Zusammenhangs des Pflegediskurses kommt. Das Tableau zerfällt scheinbar, die Szene wird aufgelöst, das Ästhetische wird zur Funktionsmusik wie im Aufzug von Kaufhäusern. Es bleibe von der Metapher lediglich ein Traum. Die absolute Metapher wird also zunächst genutzt, zu verkörpern versucht, als Vorbild aufgerichtet und dann als Bild gestürmt. So sind die im pflegewissenschaftlichen Diskurs gegenwärtig bevorzugten „Bilder“ eher formale Abstraktionen des pflegerischen Handlungsfeldes, bloße Illustration. Zur Präzisierung folgt die systematische Untersuchung der Möglichkeit einer pflegerischen Mimesis. Ausgehend von aktuellen Pflegediskursen von HülskenGiesler (Leibbezogener Zugangsweg zur Pflegepraxis) und Greb (Strukturbegriff für die pflegedidaktische Reflexion) wird deren gemeinsames, der Anschmiegecharakter hervorgehoben. Mimesis wird in ihren Momenten Freiheit und Unfreiheit als großes Potential für die Pflege herausgearbeitet. Fazit der Überlegungen ist: Es kommt darauf an, Mimesis als Relation zu betrachten. Diese Differenzierungen laufen auf eine Rezeption der Mimesis bei Adorno zu, u. z. derjenigen, wie sie vornehmlich in der ästhetischen Theorie entfaltet wird. Der Weg dahin führt über die Rezeption und Kritik des magischen Anteils der Mimesis bei Freud, der Magie als Beherrschungsversuch und damit auch immer in der Gefahr einer Herrschaftsausübung. Der magischen Mimesis (nachahmend) wird differenzierend die künstlerische Mimesis (darstellend) entgegengesetzt. Das wird trefflich am Beispiel einer Szene rund um das Anlegen einer „Schniedelbinde“ herausgearbeitet.
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Hoops gerät nicht in die Position des kritischen Kritikers. Auch denkend und schreibend ist er schon involviert. Das resultiert aus dem ästhetischen Charakter dieser Forschung, die ihn auch zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos führt. Das mimetische Denken bilde das Skelett einer philosophischen Beweglichkeit und Motorik. Hoops kann aus der so konfigurierten Aufmerksamkeit vier ästhetische Kategorien herausschälen, die für das Pflegerische, aber nicht nur für da, charakteristisch werden können: Rationalität, Ausdruck, das Alberne und der Tod, bzw. die Versöhnung. Damit gelingt es, das Gewalt- und Herrschaftsverhältnis zwischen Mimesis und Ratio heraus zu präparieren: „Das heißt, jeder Begriff abstrahiert demnach ein in Bewegung befindliches Terrain des menschlichen Bewusstseins und schneidet sich daraus frei. Diese psychische Chirurgie, die Adorno mit Hegel vielleicht immer noch Selbstbewegung nennen würde, sorgt in rationalistischer Perspektive für eine nahe liegende Plausibilität oder Stimmigkeit des begrifflichen Sprachgebrauchs. Andererseits ist das für Adorno noch nicht alles. Aus diesem Eingriff bliebe am Begriff selber etwas haften, nämlich etwas von dem, wovon er sich entfremdet hat bei Hegel, wovon er geboren wurde. Dieses adhäsive Element, seien es Schmerzäußerungen durch den Eingriff, seien es Wünsche oder Begehrungen, seien es lustige oder andere Stimmungen, blieben jedem Begriff eingeschrieben als sein Nichtidentisches, als seine verdeckte und unzugängliche Sphäre. Jeder Begriff ist in seiner Differenz zum Bewusstsein also auch ein Darsteller eines anderen, wovon das Bewusstsein, das sich in der begrifflichen Sphäre Gewissheit verschaffen möchte, in der Regel nichts weiß.“ (S. 224, hvg. KJP). Zum Ende und nicht zum Schluss finden sich gegenüber dem Anfang und wohl auch dem Gängigen neue, deutliche Unterscheidungen zwischen Pflegewissenschaft, Pflegebildung und Pflegepraxis. Es wird die Grenze des Konzeptes und des Verfahrens „Tableau“ benannt: Zuwendung gerät in Abwesenheit, Tod ist die Grenze des Pflegerischen und die Grenzen selber werden Anstoß für die Suche. Vier Desiderate zur erneuten Öffnung der vorliegenden Untersuchung werden aufgeführt; die ersten beiden bilden Anschlüsse an vorhandene Ansätze, die relationale Pflegdidaktik (Greb) und die Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit (Hülsken-Giesler), das dritte verweist auf eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Pflegerischem und Kunst und das vierte auf einen Ausbau in Richtung des psychoanalytischen Übertragungsbegriffes, wie er auch in Bezug auf das Lehren schon vorformuliert ist. Die Untersuchung wird mit Eigenwilligkeit, Mut, Witz und Entschlossenheit durchgeführt.
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Da die Arbeit von den Forschungen in den Künsten lebt, da ihr Forschungszentrum auch im Singulären des forschenden Subjektes liegt, das selber in Pflege involviert war und ist, kann sie nicht gleichzeitig allen vielleicht auch berechtigten Ansprüchen einer Wissenschaft genügen, die den Stil der Objektivität pflegt (im Übrigen auch eine ästhetische Haltung). Es mussten viele Entscheidungen gefällt werden, die als verkürzend erscheinen könnten. Diese sind aber der Endlichkeit der Arbeit an einer Dissertation, dem Material selber, das in seinen Bezügen in unterschiedliche wissenschaftliche Diskurse (Bezugswissenschaften) ausgreifen muss und in einer fast mimetisch zu nennenden Annäherung ans Pflegehandeln geschuldet. Man könnte es auch anders sagen: Nach strengen wissenschaftlichen Kriterien könnte kein ordentlicher Wissenschaftler alleine eine solche Arbeit geschrieben haben, obwohl die Problemstellung selber von wissenschaftlicher Brisanz ist und untersucht werden muss. Würde man sich sklavisch an eben jenen Kriterien orientieren, käme man weit ab von einer anregenden Arbeit, vom Praxisfeld, von der Lehre und nicht zuletzt von dem nötigen Biss für die Forschung. Hoch anzurechnen ist der Arbeit ferner, dass sie auf unterschiedliche Weise empirisch verfährt: Notizen aus der Pflege, Beispiele aus Lehrbüchern, Akte aus Opern, Tagebucheinträgen von Pflegern, Tabellen, Fotos, Gemälden und Geschichten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Berlin, Januar 2013
Karl-Josef Pazzini
Vorwort
Diese Studie wurde an der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft an der Universität Hamburg als Promotion eingereicht, angenommen und verteidigt. Sie leistet vornehmlich aber nicht ausschließlich einen Beitrag zur Disziplin Pflegewissenschaft und deren Didaktik. Eine alte Frage des Pflegediskurses ist die nach dem Verhältnis von „nursing“ und „art“. Oft wird dieser Zusammenhang beschrieben, gesehen, behauptet. Und reflektiert? Ich versuche mitunter auch diese alte Frage nach dem – für mich immer wieder neu merkwürdigen – Gegenstand „Pflege“ in dieser Studie zu bearbeiten. Dabei richte ich die Perspektive auch auf die Performativität und Differenz des Pflegerischen. Ist dieser Gegenstand darstellbar? Wie denn wenn er selber Darstellung ist? So einfach oder gar transparent erscheint die Sache also nicht – herzlich willkommen im pflegerischen Tableau! Als Impulsgeber und Motor dieser Arbeit möchte ich folgenden Personen und Personengruppen besonders nennen: Manfred Hülsken-Giesler für seine Dissertationsschrift „Der Zugang zum Anderen“, dem Doktorandenkolloquium von Ulrike Greb und dem Examens- und Doktorandenkolloquium „Grenzen der Darstellbarkeit“ von Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer. Ohne die Unterstützung und Begleitung der folgenden Personen gäbe es dieses Buch nicht: Zu nennen ist vornehmlich meine Betreuerin Ulrike Greb für die jahrelange gute Zusammenarbeit und die stets vorbildliche Begleitung und Förderung meiner wissenschaftlichen Arbeit. Bei meinem Doktorvater Karl-Josef Pazzini möchte ich mich für vieles bedanken, insbesondere seien genannt die Hilfe, Annahme und Arbeit am Anderen, der Mut zur Erforschung von Unbekanntem und die wirkliche Fähigkeit das Zentrale eines Textes zu erkennen und zu besprechen. Meinem mündlichen Gutachter Michael Wimmer danke ich für seine Diskussionsbeiträge im Kolloquium und im Seminar, die mich oft zum Weiterdenken anregten. Etliche wichtige Hinweise gab Magdalene Artelt. Ich danke Dir!
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Für die formale Seite eines solchen Projektes wie die Besorgung der Druckfassung etc. konnte ich mich auf Babette Felsner, Jonas Hänel und Carsten Schmidt verlassen. Das Pflegewissenschaftliche Seminar an der TU Dresden gab mir Gelegenheit für spannende Auseinandersetzungen. Manchmal waren meine Studierenden die ersten aktiven Hörer des Ausgedachten und gaben gute Impulse einiges zu überdenken. Das Kollegium sowie die SchülerInnen der WBS Berufsfachschule(n) für Altenpflege haben mich direkt oder indirekt immer wieder motiviert, das Projekt zu realisieren. In diesem Sinne: Pflege als Performance! Dresden, April 2013
Wolfgang Hoops
1 Einleitung
Nehmen wir an, eine Gesundheits- und Krankenpflegerin betritt ein Patientenzimmer mit dem Ziel den Patienten zu waschen. Sie wird sich zuvor in der Dokumentation vergewissert haben, dass der Patient tatsächlich gewaschen werden muss. Sie bereitet für ihre Pflegehandlung alles nötige vor: Waschschüssel, Lappen, Handtücher, Waschlotion. Und sie sagt sicher etwas zur Begrüßung des Patienten. Nehmen wir dazu an, wir könnten die gleiche Szene noch einmal aus Sicht des Patienten sehen. Der Patient sieht diese Pflegerin, die offenbar einiges tun möchte. Vielleicht ist der Patient aber auch noch „woanders“ und denkt über seinen Traum nach. Dann schrickt er auf und es entstehen Fragen, zum Beispiel dazu was als nächstes passiert. Werde ich heute untersucht? Kommt eine Visite? Was hat diese Pflegerin genau mit mir vor? Das könnten Themen sein, die den Patienten beschäftigen. Man merkt nach dieser kurzen Beschreibung: Die Wahrnehmung der Pflegeperson und die Wahrnehmung des Patienten ist offenbar nicht die Gleiche in Bezug auf das, was zwischen ihnen stattfindet. Zwischen ihnen stellt sich etwas dar oder soll sich darstellen, was wir als Pflegehandlung kennen. Diese Pflegehandlung wird sich für die Beteiligten unterschiedlich, das heißt als Differenz darstellen. Ich werde vor allem diese Ansicht auf den Gegenstand „Pflege“ weiter entfalten. In dieser Szene möchte die Pflegerin vielleicht einfach die Grundpflege übernehmen. Der Patient signalisiert der Pflegerin die Bereitschaft mitzuhelfen, soweit es ihm möglich ist. Gleichzeitig kann man generell wahrnehmen, dass der Patient größtenteils gewaschen werden muss. Er ist zurzeit selbstständig nicht dazu in der Lage, das zu leisten. Was wird sich zwischen Pflegeperson und Patient nun konkret während des Waschvorgangs abspielen? Nehmen wir an, die Pflegeperson wäscht den linken Arm zuerst, wie wird das der Patient wahrnehmen? Ist es ihm eventuell unangenehm, wie die Pflegeperson ihn an der Hand oder am Arm berührt? In diesem Fall kann es sein, dass er kurz zuckt oder etwas verkrampft oder eine spontane Entgegnung äußert. Die Gesundheits- und Kranken-
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pflegerin wird wohl folgendes sagen, „ich wasche jetzt ihren linken Arm, so“. Vielleicht ist dem Patienten nun genau das, was die Pflegerin sagt oder gar wie sie das sagt, nicht recht. Es kann ihn auch an etwas aus seiner Vergangenheit erinnern. Auch kann es sein, dass das Gesagte und das, was die Pflegerin tut, dem Patienten Vertrauen schenken, um sich auf die weitere therapeutische Behandlung an diesem Tag einzulassen. Es gibt in diesem Vorgang wiederum noch weitaus mehr Möglichkeiten, woran die Differenz zwischen den Wahrnehmungsbereichen der beiden Personen sichtbar werden kann. Beispielsweise wäscht die Pflegeperson nämlich zuerst das Gesicht und der Patient reagiert irritiert, weil er sich zeitlebens das Gesicht zum Schluss des Waschvorgangs gewaschen hat. Oder der Patient möchte mithelfen, weiß aber nicht genau wie und berührt die Pflegeperson auf für sie merkwürdige Weise. Oder eine der beiden Personen sagt Dinge, die die andere Person nicht gut versteht. Das Problem was ich sehe, hat mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der Beteiligten auf den Pflegevorgang zu tun. Genauer gesagt hat es zum einen damit zu tun, dass es unterschiedliche Wahrnehmungen gibt – und dass es zum anderen diese Wahrnehmungen auf ein Objekt gibt, das erst gemeinsam zur Darstellung gebracht wird. Dieses Objekt ist allgemein und pflegewissenschaftlich gesprochen die Pflege. Das, was den Gegenstand Pflege hinsichtlich dieser Wahrnehmungsdifferenz und ihrer darstellenden Handlungsweise diskursiv problematisiert, thematisiert und reflektiert, nenne ich in dieser Untersuchung im Anschluss an Greb (2003: 261) das Pflegerische. Den Diskurs, der sich auf den Gegenstand Pflege bezieht und dazu arbeitet, nenne ich den Pflegediskurs. Der Pflegediskurs beinhaltet wissenschaftliche, wie zum Beispiel pflegewissenschaftliche oder pflegedidaktische Erkenntnisperspektiven, aber auch weniger wissenschaftliche Perspektiven. Ich möchte zunächst dezidierter prüfen, ob und wie diese unterschiedlichen Wahrnehmungen auf die Pflege, die ich die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen nenne, in der Gegenstandskonstitution der Pflegewissenschaft und der Pflegedidaktik berücksichtigt werden. Im Fortgang der weiteren Untersuchung wird es mir darum gehen eine Möglichkeit und Begrifflichkeit in den Diskurs zu bringen, welche die beschriebene Ausgangsdifferenz in der Wahrnehmung auf den Pflegevorgang behält und gleichsam neue Untersuchungsperspektiven dazu anbietet. In meiner Arbeit behaupte ich, dass der pflegerische Vorgang von den Beteiligten stets unterschiedlich wahrgenommen wird. Der Pflegevorgang enthält und produziert meines Erachtens viele Lücken, gerade weil er sich unterschiedlich
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darstellt. Diese Lücken werde ich zunächst anhand von zwei empirischen Beispielen aus dem Pflegediskurs genauer nachzuweisen versuchen.
1.1 P ROBLEMAUFRISS Zum Beispiel erfahren wir aus der rekonstruktiv angelegten Studie der Pflegewissenschaftlerin Zielke-Nadkarni (2009), dass die Pflegesituation, aufgenommen durch die Brille einer Pflegenden, oft sehr schwierig zu entschlüsseln sein kann: „Ich hab’ einmal einen Fall erlebt, als Pflegerin. Da war eine Frau, die ziemlich unerträglich war. Die lag alleine im Zimmer, ein Pflegefall, und die wollte mit keinem etwas zu tun ham. Die ließ sich von keinem ein Zäpfchen machen, wenn sie eins brauchte. Und da sind eines Tags mal zwei Schwestern rein gekommen, die wollten das Bett frisch beziehen. Das ham die bei der nicht jeden Tag gemacht, weil die nicht voll bettlägerig war. Die hatten schon zwei Tage vorher gesagt, das riecht da so komisch im Zimmer und keiner kam recht dahinter. Ich hab das auch gerochen. Und dann sind sie am nächsten Tag noch mal da rein mit frischem Bettzeug. Und dann ham sie die Matratze hoch gemacht. Da war dort jede Menge verschimmeltes Brot und Wurstscheiben und so weiter, unter der Matratze versteckt. Und dann ham die die Frau regelrecht zur Sau gemacht. Sie wär ein Schwein, und wie hätte man nur! Und ich hab’ dann damals schon gesagt: „Ach Gott, Vielleicht hat die Frau schon Hunger gehabt in ihrem Leben und denkt, was ich jetzt nicht ess’, das ess’ ich morgen.“ Denn so ein ganz bisschen war die auch verwirrt. Das wär’ egal, das wär’ trotzdem ein Schwein und die müsste in ein anderes Zimmer rein. Und ich hab’ dann draußen mit der Stationsschwester gesprochen und hab’ gesagt, man sollte doch mal in den Unterlagen gucken, wo die herkommt, die Frau. Überhaupt, warum macht die das? Und die ham dann rausgefunden, dass die in Ravensbrück1 war.“ (Zielke-Nadkarni u.a. 2009: 48f.)
Eine Pflegerin blickt im Interview zurück auf eine Szene. Aus ihrer Perspektive erfahren wir etwas über eine Bewohnerin, die im Pflegeteam als ,schwierige Patientin‘ gilt. Zunächst beschreibt die Pflegende, dass die Bewohnerin vom Pfle-
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Zu Ravensbrück findet sich bei Zielke-Nadkani folgende Fußnote: „Ravensbrück war das einzige Frauenkonzentrationslager des NS-Lagersystems und wurde 1938/39 im Norden Berlins errichtet. Man geht heute davon aus, dass dort etwa 132.000 weibliche Häftlinge bis 1945 inhaftiert waren. 91.000 Frauen kamen um.“ (Vgl. Strebel 2003, zit. n. Zielke-Nadkarni u.a. 2009: 49).
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geteam über eine längere Zeitdauer als relativ ablehnend und distanzierend wahrgenommen worden ist. Der konkreten Situation des Bettenmachens gingen auf der Wahrnehmungsebene unangenehme Gerüche voraus. Im Zuge des Pflegerituals „Bettenmachen“ durchsuchen daraufhin zwei Pflegepersonen das Bett der Bewohnerin genauer. Sie entdecken unter der Matratze schließlich ältere Essensreste, was für Sie eine Zumutung bedeutet. Für die beiden Pflegepersonen hat sich diese Situation zu diesem Zeitpunkt, also ohne das biografische Wissen, als ein institutioneller Regelverstoß und als eine Verletzung der gesellschaftlich erwartbaren Verhaltensregeln dargestellt – woraufhin die Pflegenden die Bewohnerin offenbar stark beschimpfen. Aus Sicht dieser Pflegenden ist es angesichts regelmäßiger Mahlzeiten nicht einzusehen und auch nicht nachvollziehbar, warum Nahrung unter dem Bett aufgehoben werden muss. Eine weitere Pflegeperson, sie wird später von diesem Vorgang im Interview berichten, nimmt den Vorgang zum Anlass nachzufragen, woher die Bewohnerin denn käme. Die leitende Stationsschwester beschäftigt sich nach dieser Frage offenbar genauer mit der Bewohnerakte und findet heraus, was das unsinnig Erscheinende am Verhalten der Bewohnerin bedeuten könnte. Sie entdeckt den biografischen Zusammenhang zu einem früheren Aufenthalt in dem Konzentrationslager Ravensbrück. Vor dem Hintergrund dieses Wissens erscheint der dargestellte Vorgang dem Leser in einem ganz anderen Licht. Die durchsuchenden Pflegepersonen in dieser Szene erscheinen dem Leser fortan eher als gefühlskalt, polizeihaft und verletzend – und die Bewohnerin als Opfer eines Übergriffs in einer totalen Institution. Wie sich die Bewohnerin nun im Fortgang dieser Szene verhalten hat, erfahren wir allerdings nicht. Auch wissen wir nicht, ob die Pflegepersonen die Bewohnerin nach diesem Vorfall auf ihre Vergangenheit angesprochen haben oder in ihren weiteren Pflegehandlungen biografieorientierter vorgegangen sind. Ich möchte folgendes festhalten: In Pflegesituationen ereignen sich Dinge, die vordergründig zunächst keinen Sinn für die Beteiligten ergeben. Oft muss man erst Informationen und Wissen neben der oder durch die Pflegeinteraktion herausfinden und ans Licht bringen. So entfaltet das Wahrgenommene nämlich in dieser Szene erst einmal einen anderen Sinn. Das, was sich pflegerisch darstellt, enthält die Aufforderung interpretiert und als Problem verstanden zu werden. Die Darstellung erschließt sich nicht von selbst und wenn, dann zunächst oft als Täuschung. Diese Interpretation der sich darstellenden Pflegerealität geschieht zumindest meines Erachtens immer von zwei Seiten, von Seiten des Gepflegten und von Seiten der Pflegeperson. Bislang habe ich anhand einer reduzierten strukturellen Betrachtung auf den Pflegevorgang und nun anhand eines empirischen Beispiels versucht zu belegen,
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dass unterschiedliche Sichtweisen auf die darstellende Pflegerealität existieren, die sich aus den unterschiedlichen Positionierungen des Pflegenden und des Pflegebedürftigen ergeben. Eine Erweiterung dieser Positionsmöglichkeiten ergibt sich durch das Arbeiten in einem Pflegeteam, wozu auch andere Pflegepersonen, Angehörige und wie in dem folgenden Beispiel Pflegeschüler gehören. Diese unterschiedlichen Positierungen erlauben wiederum recht unterschiedliche Wahrnehmungen. Oft erfahren Auszubildende die Pflegesituation ganz anders als erfahrene Pflegende. Ich möchte dazu zwei Beispiele anführen: Pflegerin: Guck mal, was Du da für eine Schweinerei gemacht hast? Komm steh auf, raus aus dem Bett. Bewohnerin: Das ist mir noch nie passiert; ich weiß gar nicht, wie das kommt. Pflegerin: Ha, noch nie passiert. Du reißt Dir die Einlage ab und pinkelst ins Bett, das weißt Du ganz genau. Bewohnerin: Du bist sehr frech. Das ist mir noch nie passiert. Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Pflegerin: (lacht laut) Dann hör auf, ins Bett zu pinkeln. (Gesprächsprotokoll einer Szene in der Nacht, beobachtet von einer teilnehmenden Pflegeschülerin: vgl. Böhnke/Straß 2006: 201)2
In dieser nächtlichen Szene, die eine Pflegeschülerin den Pflegewissenschaftlerinnen Ulrike Böhnke und Katharina Straß berichtete, wird die Kommunikation einer Nachtwache gegenüber einem Inkontinenzvorfall wiedergegeben. Die Pflegende unterstellt der Bewohnerin, dass sie mit Absicht oder bewusst ins Bett gemacht hat, vielleicht um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie behandelt die Bewohnerin strafend und barsch. Die Bewohnerin sagt, dass ihr das zum ersten Mal passiert sei und dass die Pflegende ihr mit der Unterstellung unrecht tue. Der Blick auf das was sich darstellt, ist also abhängig von der Positionierung. Die Schülerin erhält auf diese Szene eine ganz andere Perspektive als die Pflegeperson. Offenbar ist die Pflegeschülerin in einer ambivalenten Entscheidungssituation. Entscheidet sie sich dafür, dass der Bewohnerin Unrecht und Gewalt
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Raven (2009b) untersucht diese Sequenz von Böhnke und Straß aus objektiv hermeneutischer Sicht und kommt zu folgenden Schluss: „Diese […] vollzogene sequenzielle Rekonstruktion der Interakte offenbart eine zutiefst gestörte Beziehungspraxis. Die diese Beziehungspraxis generierende Fallstrukturgesetzlichkeit ist in ihrem Kern bestimmt durch ihren Algorithmus von einerseits Herabwürdigung und Infantilisierung (Aberkennungsverhältnis) sowie andererseits verzweifeltem Behaupten von (Rest) Autonomie (Kampf um Anerkennung).“.
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angetan wird oder übt sie Solidarität mit der ihr vorgesetzten Pflegerin und spricht sich dafür aus, dass die Bewohnerin die Pflegenden versucht an der Nase herumzuführen und über die Kreation von Pflegeereignissen Aufmerksamkeit, Nähe und Zuwendung erheischen möchte. Eine Pflegeschülerin aus der Studie des Pflegedidaktikers Benjamin Kühme berichtet folgendes Erlebnis: E.: So zum Beispiel beim Kaffeekochen, äh, ein Patienten, ehm Patient bat mich um Kaffe und es war ehm, schon nach neun Uhr ehm, es wird Kaffee nur bis, äh so um acht gemacht, äh, so gekocht. Und dieser Patient bat darum und, ehm (…) und ich dachte noch, äh, mach es heimlich und äh (…) wurde dann auch zur Rede gestellt, im scharfen Ton, „Warum ich denn jetzt Kaffe kochen würde?“. (…), ehm „Ja, weil mich der Patient darum gebeten hat.“ (…) und das wurde mir negativ ausgelegt, ähm (…) könnte den Arbeitsablauf nicht einhalten und so (…) I.: Sie wurden also, äh, kritisiert weil sie etwas taten, äh, worum der Patient sie gebeten hat (…) E.: Ja, genau! Also, äh es gibt diese, äh halt diese Regelzeiten und die hatte ich nicht, äh, nicht eingehalten. Da wurde, äh, dann halt auch hinter meinem Rücken, ehm, da wurde dann auch drüber gelästert, ehm, mit den andren Examinierten. Die Stationsschwester sagte dann noch barsch: „Ja, (…) man sollte die Patienten ja, nicht zu sehr verwöhnen!“ Es sei hier halt nicht Gang und Gebe dass es, äh, dass es hier Kaffe geben würde und überhaupt, äh, ich sei ehm, (…) begriffsstutzig und würde es nicht hinkriegen. Das war äh, in der ersten, äh, Woche auf dieser Station. Habe eigentlich schon alle, äh (…) ja falsch gemacht bevor ich es angefangen habe und wurde, ehm nur geschickt, äh ohne das man mir erklärte warum ich etwas tun sollte und wozu, äh es eben, ja, äh, eben gut ist, was ich machen sollte. Sie hat mich äh, ja auch nie verstanden, äh (…) ja verstehen wollen wenn ich sie etwas gefragt habe oder gesagt, äh, habe. Alles wurde falsch ausgelegt und dargestellt. Na wenn ich halt, ja, wenn ich etwas, äh, ja gefragt habe bekam ich zur Antwort: „Das brauchst du nicht wissen!“ und ziemlich im heftigen Ton und so, äh, wenn ich versuchte mal, äh, ja freundlich zu sein und lächelnd sagte. „Oh, gehst du jetzt frühstücken?“ bekam ich ganz aufgebracht, ehm zur Antwort: „Ja, natürlich! Meinst du ich brauche nicht frühstücken? Oder gestehst du das examinierten Kräften nicht zu?“. Da bin ich oft mit Bauchschmerzen hin gegangen. (Interviewmaterial aus Kühme, Benjamin/ Balzer, Sabine 2009)
In diesem Interview beschreibt die Pflegeschülerin, dass die dargestellte Pflegerealität in der Pflegepraxis von den Akteuren der Praxis selber dargestellt wird. Das, was Pflege ist und was Pflege sein darf, unterliegt über institutionelle Sachzwänge augenscheinlich einer starken Normierung: Das zusätzliche Kaffee-
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kochen wurde offenbar anders gedeutet und dargestellt als es die Pflegeschülerin meinte. Wir sind kein Hotel! ist ein Satz, den man oft von Pflegepersonen in einem Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung hört. Die dargestellte Pflegehandlung der Schülerin, das Kaffeekochen, wird also noch einmal anders, in diesem Fall sprachlich dargestellt. Und zwar wird das Verhalten der Pflegeschülerin in der Weise dargestellt, dass die Schülerin einen Pflegefehler begangen habe, weil sie auf das als unangemessen beurteilte Bedürfnis des Patienten eingegangen sei. Dieses Verhalten der Pflegeperson hat unter anderem auch die Funktion, die Zuständigkeit von Pflege auf notwendige Tätigkeiten zu beschränken und nicht auf Dinge, die als Sonderbedürfnis im Sinne einer „Extrawurst“ beurteilt werden.3 Die sich in diesem Beispiel spiegelnde Sichtweise der Pflegenden scheint mir auch für eine Dominanz von bedürfnistheoretisch vorentschiedenen Perspektiven in der pflegerischen Praxis zu sprechen. Die empirischen Beispiele unter Beteiligung einer Schülerperspektive sprechen meines Erachtens dafür, dass es in der Wahrnehmung des Gegenstandes Pflege ein grundlegendes Darstellungsproblem gibt. So wird beispielsweise die Fragestellung, wie diejenige, welcher Darstellung man denn folgen möchte – der des Pflegenden, der des Patienten, der des Schülers oder der eines anderen Außenbeobachters? – immer noch maßgeblich von der Vorstellung geleitet, dass es eine bestimmte Perspektive im Sinne der „richtigen“ oder „verlässlichen“ auf den Gegenstand Pflege gäbe.
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Die nordamerikanische kritische Pflegetheoretikerin Penny Powers (1999: 39) hat für den Pflegediskurs im Anschluss an Nancy Fraser die Unterscheidung in thick- (selbstverständliche) und thin-Bedürfnisse (spezielle) vorgeschlagen: Das Kaffee-Kochen wäre also aus Sicht der anderen Pflegekräfte ein thin-Bedürfnis, also ein spezielles oder zusätzliches Bedürfnis. Offenbar hat die Schülerin es als ein selbstverständliches Bedürfnis gedeutet, was ihr den Widerstand und die Korrektur der anderen eingebracht hat. Die Deutung und die Sicht auf die sich darstellende Pflegerealität wird – wie das Beispiel zeigt – allerdings nicht mit der Schülerin thematisiert, sondern das Pflegeteam setzt seine Deutung mit Macht gegenüber der Schülerin durch. Die Beschreibung dieses durch Macht erzeugten Anpassungsdrucks, den die deutschen Pflegeteams auf die Schülerinnen ausüben, ist das kritische Ergebnis der Studie von Kühme und Balzer (2009).
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1.2 G EGENSTANDSAUFFASSUNGEN IM WISSENSCHAFTLICHEN P FLEGEDISKURS Ich möchte zunächst danach fragen, wie und ob diese Perspektivität auf den Gegenstand Pflege von dem wissenschaftlich arbeitenden Pflegediskurs selber reflektiert worden ist. Die Frage ist also, wie das beschriebene Darstellungsproblem der Pflege im bisherigen wissenschaftlichen Pflegediskurs berücksichtigt worden ist. 1.2.1 Bedürfnistheorien: Die Pflegerin als stellvertretender Darsteller Zunächst werde ich die in der pflegerischen Praxis bis heute sehr stark wirksamen bedürfnistheoretischen Konzepte daraufhin untersuchen, welche Gegenstandsauffassungen in diesen Konzepten vorliegt. Bedürfnistheoretische Ansätze entstanden ab den 1950er Jahren. Damit bilden sie gewissermaßen den Beginn des im engeren Sinne als wissenschaftlich beurteilbaren nordamerikanischen Pflegediskurses (Friesacher 2008: 49). Zu den ersten Bedürfnistheoretikerinnen muss man nach Meleis (1999: 302-305) neben Virginia Henderson vor allem Faye Glen Abdellah und Dorothea Orem zählen. Als eine wichtige englische Vertreterin darf Nancy Roper gelten (Roper/Logan/Tierney 1987). Im deutschsprachigen Pflegediskurs tradieren sich die Bedürfnistheorien in der Ausgestaltung von Liliane Juchli (1997), der berühmten Lehrbuchautorin, als Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL). Generationen von Pflegeschülern in Deutschland haben Pflege in der Ordnung dieser Aktivitäten des täglichen Lebens erlernt und lernen es noch. Die Pflegeprofessorin Monika Krohwinkel (2008: 206) transformiert den Bedürfnisansatz in ihrem Prozessmodell zur Pflege bei Apoplexie in Form der Aktivitäten und Beziehungen des täglichen Lebens (ABEDLs: A = Aktivitäten, B = Beziehungen, E = Existentielle Erfahrungen, DLs = des Lebens). In Deutschland wird heute der Großteil der klinischen4 Pflegeplanung, das ist die in Form von Schrift vorliegende Darstellung der Pflegehandlungen durch Pflegende, auf Basis von Bedürfnistheorien vorgenommen. Die Pflegewissenschaftlerin Virginia Henderson (1897-1996) markiert in gewisser Hinsicht den theoretischen Ausgangspunkt der Bedürfnistheorien im
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Der Begriff klinisch umfasst alle Formen versicherungsorganisierter Pflegehandlungen, also sowohl die ambulante pflegerische Versorgung als auch die stationäre Versorgung.
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nordamerikanischen und damit internationalen Pflegediskurs.5 Ich möchte das Pflegemodell von Henderson exemplarisch für andere, hinsichtlich der Gegenstandsauffassung untersuchen. Ich möchte zeigen, dass in diesem Modell die Bedürfnispräsentation der pflegerischen Handlung über den Mechanismus der Stellvertretung mit einer abwesenden Bedürfnishandlung des Anderen in Verbindung gebracht wird. Zentrales Element des Hendersonschen Modells ist der Begriff des Bedürfnisses: „Vielleicht ist es jedem klar, dass die Krankenpflege in den fundamentalen menschlichen Bedürfnissen wurzelt.“ (Henderson 1960: 12). Als fundamentale oder anders übersetzt als grundlegende Bedürfnisse werden vierzehn Bedürfnisse unter folgenden Bezeichnungen eingeführt (ebd.: 51): • • • • • • • • • • • • • •
Atmen Essen und Trinken Ausscheiden Bewegung Ruhen und Schlafen passende Kleidung Körpertemperatur sauberer Körper und geschützte Haut sichere Umgebung Kommunikation Gebet Arbeit Spiel Lernen
Diese als Grundbedürfnisse verstandenen Bereiche bilden sozusagen das Strukturgerüst des Hendersonschen Modells. Henderson beschreibt diese vierzehn Grundbedürfnisse erstmalig in dem Textbook of the Principles and Practice of Nursing (1955). Abdellah wird später von 21 grundlegend gedachten Pflegebe-
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Die Datierung der universitären Pflegeausbildung ist genau belegt. Die erste universitäre Pflegeausbildung ist ab 1923 möglich an der Yale School of Nursing. Die erste Leiterin war Annie Goodrich (1866-1954). Das bedeutete einen weiteren Professionalisierungsschub durch das Wirken dieser „zweiten Generation“. Henderson, kann eher zur dritten Generation gerechnet. Erst ab dieser war es dann selbstverständlicher möglich, den Doktorgrad (Ed. D.) zu erwerben (Wittneben 1995: 20ff.).
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dürfnissen (Marriner-Tomey 1992: 157) ausgehen, Roper ist wieder näher bei Henderson und geht von zwölf Bedürfnisebenen beziehungsweise „Lebensaktivitäten“ aus (Roper/Logan/Tierney 1987: 22ff.). Yura und Walsh, die den Pflegeprozess als Problemlösungsprozess definieren, gehen später von 35 menschlichen Bedürfnissen aus (Fortin 1999: 67), Juchli (1997: 86) von 12 Aktivitäten des täglichen Lebens und Krohwinkel (2008: 318) von 13 Aktivitäten und existentiellen Erfahrungen des Lebens. Grundlegend betrachtet muss bei einem Bedürfnismodell am Pflegebedürftigen ein Bedarf oder ein konkreter Mangel erhoben beziehungsweise sichtbar werden. Dieser sichtbar werdende Bedarf schafft die Grundlage für das Antworten der Pflegepersonen in Form von Pflegehandlungen. Pflegehandlungen werden demnach konkret als Folge eines erhobenen Bedarfs definiert. Die Bedarfsanalyse geschieht demnach vor der Pflegehandlung. Es ist so, dass die Wahrnehmung und Einschätzung der Pflegeperson den „Pflegebedarf “ des „ Pflegebedürftigen“ und auch den Umfang der Pflegehandlungen definiert. Powers spricht davon, dass die Pflegepersonen nach diesem Modell die Hauptpersonen sind (Powers 1999: 43). Kritik am universalistischen Bedürfnisbegriff dieser Ansätze übt Fortin (1999: 59). Holmes und Warelow (1997: 469) arbeiten die gesellschaftliche Konstruktion von Bedürfnissen im Anschluss an Adorno, Fromm und Habermas heraus und resümieren: „Needs, and our conceptions to them, are always socially constructed.“6 Dieser Aspekt der Konstruiertheit auch der Bedürfnisansätze selber, wie Holmes und Warelow deutlich machen, wird von der pflegerischen wie pflegedidaktischen Praxis heutzutage häufig noch übersehen. Bedürfnismodelle gehen überdies von der aus sozial- wie erziehungswissenschaftlicher Sicht problematischen Hypothese aus, dass in einem lebensweltlichen Sinn jedes Individuum autonom für seine Bedürfnisse sorgen kann. Diesen autonom durchführbaren Bedürfnishandlungen des Anderen wird durch den Mechanismus der Stellvertretung eine große Präsenz unterstellt. Ich glaube folgendes Beispiel illustriert, was mit der Rede von autonom durchführbaren Bedürfnishandlungen gemeint ist: Das beschreibt der Begriff der Aktivitäten des täglichen Lebens: Jeder, so die Unterstellung, könne diese Aktivitäten wie Atmen oder Kommunizieren selbstständig und ohne pflegerische Hilfe ausüben. Im Falle einer Erkrankung oder einer Störung muss dieses hinter der Aktivität stehende Bedürfnis entweder durch selbst organisierte oder durch professionelle Hilfe übernommen werden. Die Pflegeperson übernimmt zum Beispiel das Anziehen der Kleidung, was der Andere aufgrund von Alter, Schwäche oder Erkrankung
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„Bedürfnisse und unsere Theorien dazu, basieren immer auf sozialen Konstruktionen.“ (Übersetzung: W. H.).
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nicht bewältigen kann. Das Bedürfnismodell geht davon aus, dass man dieses Anziehen der Kleidung normalerweise “ selbstständig und ohne Hilfe leistet. ” Die pflegerische Bedürfnishandlung vertritt also die Stelle der in der Vergangenheit situierten und autonom durchgeführten Bedürfnishandlung. Nach diesem Modell vertreten die Bedürfnishandlungen der Pflegenden lediglich und zeitlich befristet die Stelle der „eigentlichen“ Bedürfnishandlungen des Pflegebedürftigen und zwar genau solange, bis der Pflegebedürftige diese wieder selber übernehmen und ausführen kann (Meleis 1999: 200). Henderson schreibt: „Sie [Die Pflegende: W. H.] ist vorübergehend das Bewußtsein des Bewußtlosen, die Liebe zum Leben für den selbstmordplanenden Menschen, das Bein des Amputierten, die Augen des plötzlich Erblindeten, ein Fortbewegungsmittel für das Kind, Wissen und Zuversicht der jungen Mutter, ein ‚Mundstück‘ für jene, die zu schwach und hinfällig zum Sprechen sind und anderes mehr.“ (Henderson 1960: 11)
In dieser Definition bekommt in eindeutiger Weise die Pflegende die Funktion einer Stellvertreterin zugewiesen. Den darin wirksamen Mechanismus der Stellvertretung möchte ich genauer hinsichtlich seiner Konsequenzen für die Darstellung der Pflegehandlung befragen. Dieser Mechanismus bindet vergangene und gegenwärtige Bedürfnishandlungen über eine bestimmte Darstellungslogik des Bedürfnisses zusammen. Das, was jetzt geschieht, der beantwortete Pflegebedarf des Anderen, vertritt nur „vorübergehend“ das Bedürfnis das unterstelltermaßen alleine, selbstständig und autonom befriedigt werden soll. Pflege wird nach diesem Modell zu einer Ersatzhandlung. Nach der darin wirksamen Logik hat Pflege keinen von diesem „Vorbild“ unabhängigen Realitätsstatus. Das bedeutet streng genommen auch, die Pflegehandlung stellt in dieser Darstellungsordnung nichts Eigenes oder Differentes dar. Ich halte diese Ordnung insofern für problematisch, als sie der abwesenden Bedürfnishandlung eine größere Präsenz einräumt als der performativ sichtbaren. Beziehungsweise wird in diesem Modell die performativ sichtbare Pflegehandlung durch die „Brille“ der abwesenden und autonom unterstellten Pflegehandlung gelesen. Die Lesart der performativen Ebene erhält nach diesem Modell also einen untergeordneten und nachrangigen Status gegenüber der „eigenlicheren“ und „echteren“ Bedürfnishandlung. Das performative Pflegegeschehen mitsamt der Vorstellung der Stellvertreterin bekommt eben vom Pflegediskurs selber nur einen vorübergehenden und eng limitierten Status zugesprochen. Im Zeitalter der chronischen Erkrankungen und der Überalterung der Gesellschaft im Zuge der demografischen Entwicklung bleibt diese abwesende oder als auto-
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nom durchgeführte Bedürfnishandlung im Pflegegeschehen oft genug dauerhaft abwesend. Eine andere Beobachtung ergibt sich aus der merkwürdigen sprachlichen Codierung Hendersons. Das, was nach Henderson substituiert werden soll, ein „Bewusstsein“, eine „Liebe zum Leben“, ein amputiertes Bein oder Augen des Erblindeten, kennzeichnen nämlich offenbar a priori unmögliche Bestandteile für die stellvertretende Pflegehandlung. Drückt diese metaphorische Sprache vielleicht den Zweifel Hendersons aus, ob die Darstellung der Bedürfnisse des Anderen pflegerisch überhaupt gelingen kann? Es entbehrt ja nicht einer gewissen Komik, sich die Krankenschwester tatsächlich als das Bein des Amputierten vorzustellen genauso wenig wie als das Fortbewegungsmittel für das Kind oder als ein „Mundstück“. Wenn man sich ernsthaft vorzustellen versucht, wie die Krankenschwester zum Beispiel das Bewusstsein des Bewusstlosen stellvertretend zeigen oder ausdrücken soll, steht man wirklich vor einem Rätsel. Sorgt Henderson mit dieser Rhetorik nicht gar für eine Überbeanspruchung der Bedürfnispräsentation der Pflegenden, wenn sie den Anderen und seine Handlungen aus dem Pflegehandeln von vornherein herausdividiert? Impliziert Henderson dadurch nicht geradewegs, dass es dem Pflegebedürftigen lediglich so vorkommen muss als ob das eigene Bedürfnis ihm vor Augen geführt worden sei? Der wissenschaftlich orientierte Pflegediskurs erwirbt sich meines Erachtens mit Henderson den Mechanismus der Stellvertretung. Dieser Mechanismus kehrt im Pflegediskurs beständig wieder. Solange dieser Mechanismus unreflektiert bleibt, hat er aus systematischer pflegewissenschaftlicher Perspektive fatale Folgen für die Gegenstands- und Subjektauffassung von Pflegenden. Wie schreibt sich dieser Mechanismus schließlich im Pflegediskurs fort? Die Pflegeperson leistet das Substitut des Mangels bei einem anderen. Dieser Gedanke findet sich auch bei Hildegard Peplau und bei Nancy Roper (vgl. Peplau 1997 [1952/54]; Roper/Logan/Tierney 1987). Die Pflegeperson wird zu einem teilweise oder vollständig kompensatorischen Teilsystem in dem Pflegemodell der strukturfunktionalisch arbeitenden Dorothea Orem (1997). Nach dem Paradigma der Evidenzbasierung, wie es in Deutschland gegenwärtig vor allem durch die Hallenser Pflegewissenschaft begründet worden ist, soll die Pflegeperson auf Basis externer und interner Evidenz die stellvertretend Handelnde im zuvor hergestellten „Arbeitsbündnis“ (Behrens/Langer 2006; vgl. Oevermann 1996) sein. Bei der Habilitation des Osnabrücker Pflegewissenschaftlers und Pflegeethikers Hartmut Remmers handelt es sich um eine normative Grundlegung der Pflegewissenschaft. Sie läuft inhaltlich auf das Konzept der Advocacy zu. Da-
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rin – so das Konzept – spricht die Pflegeperson für den anderen nach einer advokatorischen Rollenübernahme (Advocacy) (Remmers 2000: 376-383; vgl. Brumlik 1992). Bedürfnisansätze gehen davon aus, dass die Pflegenden zu dieser Darstellung des Bedürfnishandelns des Anderen in der Lage sind. In der konkreten Vorgehensweise folgen diese kurz gesprochen aber allein der Wahrnehmung und somit der Darstellung der Pflegenden und berücksichtigen die Wahrnehmung des Betroffenen auf die Pflegehandlung nicht explizit. Auch ist die Wahrnehmung der Pflegenden auf die Pflegehandlung durch die Unterstellung der autonom und selbstständig durchführbaren Bedürfnishandlung des Anderen stark beeinflusst. Somit, wie ich exemplarisch zeigen wollte, zielt die Gegenstandsauffassung bedürfnistheoretischer Konzeptionen darauf ab, die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen tilgen zu können. 1.2.2 Interaktionstheorien: Die Performativität des Pflegerischen Die Pflegetheorie Hildegard Peplaus (1909-1999) bekommt insofern für diese Untersuchung eine entscheidende Bedeutung, als sie innerhalb des Pflegediskurses am Beginn eines Theoriezweiges steht, welcher die pflegerische Interaktion (Interpersonal Relations) in das Zentrum pflegewissenschaftlicher Erkenntnis stellt. Zu Peplau existieren mittlerweile diverse Arbeiten, welche die Besonderheit der Interaktionsorientierung betonen (vgl. Forchuk 1993; Sills/Beeber 1995: 37-49; Simpson 1991; Fawcett 1999: 148-174). Weitere Vertreterinnen, bei denen die Interaktion zwischen Pflegenden und Patienten im Zentrum steht, sind Ernestine Wiedenbach, Ida Orlando, Joyce Travelbee und Josephine Paterson/Loretta Zderad. Das Hauptwerk „Interpersonale Beziehungen in der Pflege“ erschien bereits 1952. Obgleich man Peplau auch als Vertreterin des Bedürfnisansatzes lesen kann (Powers 1999: 36), lese ich die Bedürfnistheorie Peplaus als nachrangig zu ihrer Interaktionstheorie. Bei Peplau finden sich sehr viele Perspektiven und Ansätze die für diese Untersuchung wichtig sind. So geht Peplau grundsätzlich davon aus, dass das, was die Pflegeperson als Pflege tut und dem, was der wahrnimmt der Pflege erhält, nicht das Gleiche sein müssen. Demnach wäre die Frage nach dem, was sich zwischen beiden denn darstellt auf Basis von Peplaus Ansatz zu stellen („[…] performances that occur between the individual who does the nursing and the person who is nursed.“7 Peplau 1952: 5; Auslassung: W. H.).
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Ins Deutsche ist die Konnotation des Wortes „performance“ leider nicht übertragbar. Mit Verrichtung würde man beispielsweise gerade die angedeutete Performativität des
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Was die Perspektivität auf den Gegenstand Pflege angeht, markiert diese Einsicht einen wichtigen Unterschied zwischen Peplaus Ansatz und vielen bedürfnisorientierten Pflegetheorien. Peplaus Pflegedefinition bestimmt Pflege vom Interaktionsgeschehen zwischen Pflegenden (nurse) und Klienten (client) aus: „Pflege ist ein bedeutsamer, therapeutischer, interpersonaler Prozess.“8 (Ebd.: 16) Zunächst möchte ich Peplaus Gegenstandsauffassung genauer wiedergeben und anschließend einige Problematisierungen dazu leisten: Peplau unterscheidet bei dem Begriff „Pflege“ zunächst zwischen dem kulturellen Bedeutungs- und Verweisungszusammenhang von Pflege („Referenz“) und dem konkret wahrnehmbaren Vorgang der Pflege („Referenten“). Peplau gibt ein Beispiel zu den kulturellen Vorstellungen über Pflege, der Referenz die zum Beispiel für einen Patienten Anlass bieten können anzunehmen, dass die Pflegerin ihn baden solle. Auf der anderen Seite stehe als Referent oder als Bedeutendes der wahrnehmbare Vorgang des Badens (ebd.: 5). Nehmen wir an, der von Peplau eingeführte Patient äußert das Bedürfnis, gebadet werden zu wollen. Enthält dann die Wunschäußerung „Ich möchte gebadet werden“9 nicht einen impliziten Gestus das Baden gemeinsam mit der Pflegeperson zur Darstellung zu bringen? Und wird dann der reale Badevorgang das sein, was zu dem Ausgangswunsch gebadet werden zu wollen passt? Nach meiner Auffassung entsteht dem Pflegerischen, so wie es sich in diesem Beispiel Peplaus darstellt, genau dadurch ein Darstellungsproblem, weil es im Pflegevorgang stets darum geht, etwas mit dem Anderen gemeinsam konkret zeigen zu wollen. Zum Beispiel beim gemeinsamen Bad oder beim anschließenden Abtrocknen oder beim Anziehen eines Kleidungsstücks. Stets muss dabei beispielsweise eine sprachliche Darstellung wie eine explizite oder implizite Wunsch- oder Bedarfsäußerung in eine präsentische Pflegehandlung überführt werden.
Pflegevorgangs ausschließen. Deshalb verzichte ich an dieser Stelle auf eine Übersetzung. Rätselhaft bleibt mir der Unterschied zwischen Individuum und Person, den Peplau hier verwendet. Ob damit die Differenz in der Pflegeinteraktion betont werden soll oder ob dem Anderen nicht der gleiche Status eines Individuums zugesprochen wird, bleibt unklar. 8
Im Englischen: Nursing is a significant, therapeutic, interpersonal process.
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Ich möchte darauf hinweisen, dass auch bei einer aktivischen Wunschäußerung wie „Ich möchte baden“ oder „Lassen Sie mir bitte ein Bad ein“ eine zweite Person beteiligt ist an der gemeinsamen Realisation dieses Wunsches.
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Es ist pflegewissenschaftlich bislang überdies nicht geklärt, wie man in der Pflegesituation die Elemente „per Bedürfnishandlung etwas gemeinsam zur Darstellung bringen zu wollen“ bei „gleichzeitiger Wahrnehmung dieser Darstellungsambition“ bewerkstelligen kann. Vor allem, wenn man berücksichtigt was Peplau über den Gegenstand „Pflege“ zu allererst („first of all“) annimmt, nämlich dass es sich dabei um ein prozesshaftes Geschehen handelt. Die Handlung, die performativ als Pflege von beiden Protagonisten erzeugt wird, wird sich also in einem stark veränderlichen und prozessualen Setting zeigen (ebd.). Somit ereignet sich das Pflegerische in der Regel nicht aus der Sicht eines ‚unbeteiligten Zuschauers‘ (Husserl), sondern setzt eine Beteiligungsperspektive voraus. Ich möchte die Hypothese aufstellen, dass diese pflegerische „Performance“, wie Peplau (1952: 5) sagt, zu dem Ausgangswunsch gepflegt zu werden und zu dem Vorhaben die Pflege bei jemand anderem zu leisten, in eine befragbare Differenz tritt. Inwiefern der Pflegevorgang sogar stets etwas Spezifisches und Anderes zeigen wird, danach wird im Rahmen dieser Studie noch genauer zu fragen sein. Ich fasse die auf Basis von Peplaus Theoremen entwickelten Thesen noch einmal hinsichtlich des eigenen Erkenntnisinteresses der Darstellung des Pflegerischen zusammen: Vor dem Hintergrund der Ausführungen Peplaus wird ein Darstellungsproblem auf der Ebene der Wahrnehmung erkennbar: Es liegt darin begründet, dass unterschiedliche Wahrnehmungen auf den Pflegevorgang existieren − in anderen Worten, wer das pflegerische Geschehen wie wahrnimmt und deutet. Darüber hinaus wird ein Darstellungsproblem des Pflegerischen auf der Ebene des Pflegerischen Handelns erkennbar, das daraus erwächst so etwas wie ein Baden realisieren und damit gemeinsam zur Darstellung bringen zu wollen. Das Darstellungsproblem liegt also in der Herstellungsweise des Pflegerischen. Das Pflegerische wird demnach mit einer Bedarfsäußerung verbunden gedacht, durch ein wechselseitig bezogenes Handeln dieser zur Darstellung zu verhelfen. Mit Peplau darf man demnach annehmen, dass die Performanz des Pflegerischen in Differenz zu den Vorstellungen tritt, die sich die beteiligten Individuen über das, was zwischen Ihnen passiert machen. Auf Basis dieser Annahme lässt sich meines Erachtens auch die Differenz zwischen der Vorstellung über Pflege, der Repräsentation und dem konkreten Pflegegeschehen, der Präsentation plausibel machen. In der Sprache Peplaus wäre das die Unterscheidung zwischen Referenten und Referenz der Pflege. Diese Unterscheidung wirft die schwierige Frage nach dem Verhältnis von Repräsentation und Präsentation auf und auf welcher Ebene sich der Gegenstand „Pflege“ wie darstellt. Damit meine ich, wäre mit Peplaus Unterscheidung in Referenz und Referent ganz generell gespro-
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chen, die Darstellung im Sinne der Repräsentation der Pflegenden und der Patienten von der präsentischen Darstellung des realen Pflegegeschehens unterscheidbar geworden. Wie sich der angesprochene Bedeutungs- und Verweisungszusammenhang von Pflege in der Kultur darstellt, untersucht Peplau noch nicht genauer. Allerdings folgt ihre Forschung keinem rein klinischen oder engen Verständnis von Pflege. Ihr lebensweltliches sowie kulturelles Grundverständnis von Pflege wird beispielhaft deutlich in einer kurzen Erläuterung ihrer Methodik: „Ich habe in privater Pflege gesammelte Daten über Pflegesituationen auf Erwartungen hin durchgesehen, die Pflegende und Patienten aufgrund früherer Erfahrungen mit Pflegenden oder Spitälern hegen.“ (Ebd. 1997: 33) Nach Peplau ist es nicht die Aufgabe der Pflegewissenschaft nur über das, was Pflege ist nachzudenken, sondern auch über das, was Pflege sein sollte und sein könnte (ebd. 1952: 4). Das, was in einer Kultur als Pflege bedeutsam und auffällig ist, wäre mit Peplaus Ansatz ausdrücklich be- und hinterfragbar geworden – auch hinsichtlich seiner Auswirkungen für das konkrete Feld beruflicher Pflegevorgänge. 1.2.3 Transformationen Bereits in den 1980er Jahren gab es innerhalb des internationalen wissenschaftlichen Pflegediskurses Versuche, einerseits Engführungen von behavioristischen oder strukturfunktionalen oder technokratischen Pflegeverständnissen aufzudecken und andererseits Pflege anders zu beschreiben und zu erforschen. Ich versuche diese pflegewissenschaftlichen Ansätze an zwei Beispielen zu belegen: an dem kulturtheoretischen Ansatz Madeleine Leiningers und an dem empirischinterpretativen Ansatz Patricia Benners. Die Pflegetheoretikerin Madeleine Leininger stellt beispielsweise nicht mehr den Begriff nursing ins Zentrum ihrer Betrachtung, sondern den Begriff caring. Caring wird von Leininger in ihrer Theorie der kulturspezifischen Fürsorge (Transcultural Nursing) als universelles Sorgephänomen bestimmt, das in verschiedenen Ethnien unterschiedliche Ausprägungsformen annehmen kann (Leininger 1988: 11). Leiningers Forschungen sind qualitative Forschungen. Sie rekonstruieren das international stark divergierende Pflegehandeln in unterschiedlichsten kulturellen Settings (ebd. 1995 & 1998). Das vorliegende Untersuchungsvorhaben schließt weniger an die Idee an, Pflege als ein universales Phänomen zu verstehen, sondern an die Methodik Leiningers bei der Beantwortung pflegewissenschaftlicher Fragen auch auf Wissen und Perspektiven der Kulturtheorie zurückzugreifen. “Understanding our multicultural world and ways of knowing people
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in different frames of reference is challenging researchers and calling for new research methods and paradigms.“ (Ebd. 1985: 1) Die amerikanische Pflegewissenschaftlerin Patricia Benner vollzieht mit ihrer Studie „From novice to expert“ (1984) im Diskurs der Pflegetheoretikerinnen eine kleine paradigmatische Wende: Von einem mechanistisch-technokratischen Verständnis, wie man es noch bei den Pflegetheoretikerinnen Dorothea Orem (vgl. Friesacher 2008: 57-65) und bei Dorothy Johnson vorfindet, hin zu einem interpretativen Verständnis von Pflege (Benner 1994: 58). In dieser Studie zeigt Benner, dass sich das Pflegerische zwischen beteiligten Pflegepersonen ganz unterschiedlich darstellt. Benner arbeitet dezidiert zu den Wahrnehmungen der Pflegenden und nicht zu den Wahrnehmungen der zu Pflegenden. Sie zeigt, dass der Einfluss des praktischen Lernens und des klinisch erworbenen Wissens von Pflegenden nach der Ausbildung im pflegewissenschaftlichen Diskurs zu wenig Berücksichtigung findet. „Was fehlt, sind systematische Beobachtungen dessen, was Pflegende bei der praktischen Ausübung ihrer Tätigkeit an Kenntnissen hinzugewinnen.“ (Ebd.: 25) Benner beobachtet und befragt Pflegende die im Handlungsfeld tätig sind. Diese Pflegenden sollen sich im Interview an schwierige Begebenheiten und Vorkommnisse (‚critical incidents‘) erinnern und versuchen, diese möglichst detailliert zu beschreiben. Mit den sogenannten paradigmatischen Fällen sind nicht besonders kritische Fälle, sondern subjektiv bedeutsame Fälle gemeint, in denen ein hohes Ausmaß an krankenpflegerischem Handeln und Können sichtbar wird (ebd.: 31). Benner geht es in ihrer Deutung des Materials grundsätzlich darum, verschiedene Kompetenzstufen innerhalb des klinischen Wahrnehmungskontextes Pflegender aufzuzeigen. Dabei handelt es sich um Kompetenzen die wirksam sind, um die Problematik in diesen komplexen und unübersichtlichen Pflegesituationen zu erfassen. Die Bereiche in denen Pflegende diese Handlungen leisten, wurden von Benner von anfänglich 31 Kompetenzen auf sieben reduziert: 1) Helfen, 2) Beraten und Betreuen, 3) Diagnostik und Patientenüberwachung, 4) Wirkungsvolles Handeln bei Notfällen, 5) Durchführen und Überwachen von Behandlungen, 6) Überwachung und Sicherstellung der Qualität der medizinischen Versorgung und 7) Organisation und Zusammenarbeit (ebd.: 64).10
10 Im Englischen (Benner 1984) lauten die Termini folgendermaßen: The Helping Role, The Teaching-Coaching Function, The Diagnostic and Patient-Monitoring Function, Effective Management of rapidly changing Situations, Administering and Monitoring Therapeutic Interventions and Regimens, Monitoring and Ensuring the Quality of Health Care Practices und Organizational and Work-Role Competencies.
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Benner kann in ihrer Studie konkret zeigen, dass Pflegepersonen die in derselben Pflegesituation handeln, diese Pflegesituation höchst unterschiedlich wahrnehmen. Ich zitiere dazu das folgende Beispiel: Eine erinnerte Pflegesituation die von einem Pfleger, einem „fortgeschrittenen Anfänger“ (ebd. 1994: 40), im Interview nachträglich beschrieben wurde, wird auf diese Weise dargestellt: „Der Mann ist sehr nett, sehr intelligent und bei klarem Bewußtsein, aber leider mußte ihm ungefähr alle ein bis zwei Stunden etwas Trachealsekret abgesaugt werden, das relativ zähflüssig und weiß bis gelblich war. Leider hat er das Absaugen nicht gut ertragen. Es war ihm sehr unangenehm und verursachte Husten und Würgereflex bei ihm, wodurch sich vorübergehend sein Blutdruck erhöhte. Einmal nach dem Absaugen, als ich gerade seine Inhalationsmaske wechselte, fing er plötzlich an, hellrotes Blut in großen Mengen auszuhusten. Ich geriet in Panik, rief nach der Schwester im Nachbarzimmer, brachte ihn in eine Trendelenburg-Lage, erhöhte die Durchlaufgeschwindigkeit der Infusion und war immer noch in Panik. Oder sogar ziemlich in Panik.“ (Ebd.)
Die andere Pflegerin, nach Benner handelt es sich um eine „Pflegeexpertin“, beschreibt die gleiche Situation wie folgt: „Ich hatte im Spätdienst gearbeitet und wollte gerade nach Hause gehen, als ich von der Praxisbegleiterin gerufen wurde: ‚Jolene, kommst du bitte einmal!‘ Man konnte ihr anhören, dass es dringend war, aber nicht unbedingt um Reanimation ging. Ich ging ans Bett des Patienten, und der hatte eine Herzfrequenz von 120 und wurde beatmet. Ich fragte: ‚Was ist los?‘ Ein frisch examinierter Pfleger war bei ihm. Dieser zeigte nur auf den Patienten herunter, der in einer Blutlache lag. Ihm kam unheimlich viel Blut aus dem Mund. Seine Diagnose war Unterkieferkrebs, der Tumor war reseziert [herausgeschnitten] worden, und eine Woche vorher hatte er eine Blutung der Karotis externa (äußere Halsarterie) gehabt. Die Wunde war septisch geworden, es hatte Komplikationen mit der Atmung gegeben, weswegen er jetzt auf der Intensivstation lag. Deshalb habe ich mir erst einmal den Verband angeguckt, aber der war trocken, das Blut kam aus dem Mund. Es war bei dem Mann wegen der Operation eine Tracheotomie [Luftröhrenschnitt] gemacht worden. Er hatte auch eine Magensonde, und ich dachte mir, dass vielleicht die Karotis oder der Truncus brachiocephalicus [gemeinsamer Stamm der Schlüsselbeinschlagader und Kopfschlagader der rechten Körperhälfte] geplatzt war. Wir nahmen ihn also vom Beatmungsgerät ab, um sehen zu können, ob Blut aus der Luftröhre kam. Da kam auch etwas Blut, aber es sah eher so aus, als wäre es vom Rachen in die Lunge gekommen. Wir fingen an, ihn mit dem Ambubeutel zu beatmen, und überlegten, woher denn wohl um alles in der Welt das ganze Blut kommen konnte, das ihm aus dem Mund lief […] Jetzt war der Blut-
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verlust das größte Problem, und ich habe gesagt: ‚Okay, jetzt muss jemand bei der Blutbank Bescheid sagen und Blut besorgen.‘ Und da meinte der Pfleger: ‚Wir haben gerade angerufen, da unten ist keins.‘ Niemand hatte mitgekriegt, dass für den Patienten gar kein Blut in der Blutbank war. Deshalb haben wir etwas arterielles Blut genommen und es zur Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe nach unten geschickt. In der Zwischenzeit habe ich schon mal mit Plasmaersatz und Ringer-Lactat angefangen, denn der mittlere Blutdruck war schon runter auf 30 und das Blut strömte ihm nur so aus dem Mund. Interviewer: Waren zu dem Zeitpunkt schon irgendwelche Ärzte da? Pflegeexpertin: Nach ihnen war gerufen, aber es war noch niemand gekommen. Doch in dem Moment kam der Stationsarzt zur Tür rein und machte ein ziemlich erschrockenes Gesicht, als ob er dachte: ‚Was machen wir jetzt bloß?‘ Er fragte, ob wir einen Zugang hatten. Ich sagte: ‚Ja, einen zentralvenösen Zugang, aber ich glaube, das reicht nicht.‘ Er sagte: ‚Das ist nicht nötig, glaube ich; ich schaffe das schon.‘ Und ich habe eine Venenverweilkanüle intrakubital gelegt. Da liefen jetzt zwei Einheiten Plasma rein. Er hat gefragt: ‚Was soll ich machen?‘ Und da habe ich ihm gesagt: ‚Bitte gehen Sie runter zur Blutbank und besorgen Sie Blut für den Patienten, wir können das nicht. Sie sind der einzige, der passendes Blut besorgen kann.‘ Ich sagte: ‚Holen Sie zwei Einheiten; Sie bekommen nur zwei auf einmal, egal, was los ist. Aber holen Sie die zwei, und kommen Sie dann so schnell wie möglich zurück.‘ Und dann ist er losgegangen.“ (Ebd.: 38f.)
Nach Benner nimmt ein „Anfänger“ in der Pflegesituation sehr stark selektiv wahr und ist abhängig von dem, was die erlernte Regel ihm aufgibt. Benner (1994: 40) schreibt über die obige Situationsschilderung des Pflegers: „Die Beschreibung des Pflegers riecht förmlich nach Lehrbuch […]“. Der Anfänger oder Neuling in der Pflege sei noch verstärkt abhängig von klaren Regeln und schablonenhaftem Handeln, während eine erfahrene Pflegende oder eine Pflegeexpertin, wie es diese Situation mit der plötzlich auftretenden Blutung auch zeigt, sehr viel stärker den Überblick bewahren und in dieser Notfallsituation einfach das Richtige tun kann − zum Beispiel „bei der Mobilisierung der verfügbaren Mittel und dem Umgang mit den dringendsten Problemen“ (ebd.: 41). Pflegeexperten tun dies meist ohne aufwendig nachzudenken oder lange zu reflektieren, sie handeln auf Basis eines impliziten Wissens. Benner greift für diese Deutung auf das Konzept des Naturwissenschaftlers und Wahrnehmungstheoretikers Michael Polanyi zurück. Dieses Konzept bezeichnet Benner auch als das intuitive Wissen. Benner entwickelt also eine Theorie der Wahrnehmung der Pflegenden, die ihre Differenzierungen nach der pflegerischen Erfahrung vornimmt. Krankenpflegeexperten (experts) verfügen in einem hohen Maß über Erfahrungen und implizite Wissensspeicher (z. B. verkörperlichte Intelligenz). Im Unterschied zu dieser differenziertesten Form der Wahrnehmung auf das Pflegegeschehen, baue
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sich dieses Wissen über die Stufen Berufsanfänger (novice), Beginnende (beginner), Kompetente (competent) und erfahrenes Krankenpflegepersonal (proficient) nach und nach auf. Benners Beispiel zeigt meines Erachtens noch mehr als Benner in ihrer Deutung berücksichtigen kann. Es zeigt, dass bei den meisten Aussagen eine nachträgliche Deutung vorgenommen wird und dass auch Lücken der Erklärung mit Wissen aus dem Krankheitsverlauf gefüllt werden können. Es zeigt aber auch, dass Pflegende in der Situation gleichzeitig Handeln und Wahrnehmen und dass die Spezifik der Wahrnehmung der Pflegeexperten dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Fähigkeit haben nicht nur in der Situation zu sein, sondern auch außerhalb. Die Pflegeexpertin kann sich offenbar situativ spalten, sie kann den Patienten beatmen, nach der Blutungsquelle suchen, Blutungsquellen ausschließen und gleichzeitig kann sie den hereinkommenden Arzt wahrnehmen, seine Überforderung erkennen und ihm eine klare Anweisung zum Blut holen geben. Es wäre meines Erachtens wichtig danach zu fragen, was in solchen Pflegesituationen genau gesehen geschieht und was in der Präsenz des Pflegerischen vorliegt. Die nachträgliche Rekonstruktion aus der Sicht der Pflegenden zeigt, dass derlei Situationen bereits ein Darstellungsproblem aufweisen, denn welcher Darstellung folgt man? Der des Anfängers oder Neulings, der der Pflegeexpertin oder der des Arztes? Ich denke, dass Benners Studie den Schluss nahe legt, dass die Sicht der Pflegeexperten eine bevorzugte Sicht auf die Pflege darstellt. Der Gegenstand Pflege zeigt sich auf Basis der Perspektivität der Berufsangehörigen als heterogen und different. Wenn man sich dazu vergegenwärtigt, dass diese Darstellung ins-gesamt vollständig ohne eine Beschreibung des Patienten auskommt, wird man feststellen, dass das, was Pflege und welcher Darstellung man folgen soll, als relativ beliebig erscheint. Der Patient ist vermutlich in dieser Situation bewusstlos, wurde aber offenbar auch nachträglich nicht zu seiner Sicht des Vorfalls befragt. So darf man festhalten, dass Benners Auswahl nicht die interaktionelle Perspektivität Peplaus berücksichtigt oder auch die Perspektive der zu Pflegenden auf die darstellende Pflegerealität. Wer ist aber eigentlich Experte der Pflege und wer nicht? Die Auswahl der teilnehmenden Personen erfolgt in dieser Studie Benners unter intransparenten Bedingungen, was von verschiedenen Pflegewissenschaftlern kritisch angemerkt wurde: Klinische Pflegende würden nämlich hiernach entscheiden, wer im Handlungsfeld Expertenstatus habe und wer nicht (English 1993: 392; Paley 1996: 669). Benners Ansatz macht also das Darstellungsproblem der Pflege innerhalb der Profession deutlich. Es bliebe aber danach zu fragen, wie das Wahrnehmungsproblem, worauf Benner gestoßen ist, weiter interpretierbar ist.
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1.3 Z UR P FLEGEWISSENSCHAFT
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D EUTSCHLAND
Die jüngere Entwicklung der deutschsprachigen Pflegewissenschaft seit den 1980er Jahren scheint eng gekoppelt an den amerikanischen Pflegediskurs und wird gekennzeichnet durch eine anfänglich starke Orientierung an amerikanischen Pflegetheorien (Müller 2001: 49-58). Diese Orientierung an amerikanischen Theoriemodellen wie auch die Tendenz zu ihrer Überwindung in eine theoretische Eigenständigkeit, lässt sich meines Erachtens an der pflegewissenschaftlichen wie pflegedidaktischen Arbeit von Karin Wittneben verdeutlichen. Wittneben arbeitet eine erste deutschsprachige Pflegedidaktik aus. Zu Beginn dieses Vorhabens stellt sie allerdings fest, dass eine pflegedidaktische Bezugsdisziplin, wie beispielsweise eine deutschsprachige Pflegewissenschaft, nicht ausgebildet ist (Wittneben 1994). Die Gründe dafür werden in dem folgenden Exkurs genauer untersucht. Dabei sollen die spezifischen Bedingungen des Pflegediskurses in Deutschland zwischen 1970 bis zu der Arbeit Wittnebens betrachtet werden. Insbesondere gehe ich von einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive aus und rekonstruiere, wie die Pflegedidaktik sich schrittweise als eigenständige Disziplin begründet. Im Anschluss an den Exkurs widme ich mich dem Modell multidimensionaler Patientenorientierung von Wittneben aus der Perspektive der Darstellungsproblematik des Pflegerischen. 1.3.1 Zur Genese des deutschen pflegedidaktischen Diskurses zwischen 1970 und 1990 11 „Man hat sich in der Überspitzung der Pflichtethik daran gewöhnt, es als besonders wünschenswert anzusehen, dass man ganz in seinem Beruf aufgehe und pflegt diese völlige Hingabe an den Beruf noch besonders zu loben. In Wirklichkeit kann niemand ganz in seinem Beruf aufgehen, ohne in seinem Menschentum zu verkümmern [...]. Wer nur in seinem Beruf aufgeht, verfehlt allzu leicht die Aufgabe seines Berufes.“ (Erich Weniger 1954) „Wenn es unserer Gesellschaft nicht gelingt, den Pflegeberuf so lohnend zu machen, wie er sein kann, so dass das freiwillige Interesse und Engagement eines Teiles der Bevölke-
11 Dieses Unterkapitel ist in geänderter Form veröffentlicht in Ertl-Schmuck/Fichtmüller (2009) Pflegedidaktik als Selbstdisziplin unter dem Titel „Entwicklungslinien des bundesdeutschen pflegedidaktischen Diskurses“ (vgl. Hoops 2009: 164-196).
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rung nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken, dann stellt sich für unsere Gesellschaft ein Armutszeugnis aus, das für alle gilt.“ (Grauhan 1969: 650)
Versucht man nun die Ausdifferenzierung des fachdidaktischen Diskurses aus dem allgemeinen Pflegediskurs nachzuzeichnen, muss man sich klarmachen, dass erste öffentliche Forderungen zur Verbesserung der Qualifikation von Pflegelehrern in die beginnenden sechziger Jahre fallen und die seit 1957 so genannten Unterrichtsschwestern immer deutlicher als Sondergruppe innerhalb der Pflegeberufe ausweisen. Dieser Sonderstatus der „Lehrschwester“ besteht in Folge der staatseinheitlichen Krankenpflege-Gesetzgebung von 1938 (Wanner 12 1987). Der Terminus „Unterrichtsschwester“ wird seit 1958 in dem Zentralorgan des Pflegediskurses der Deutschen Schwesternzeitung ganz explizit geführt. Es gibt zum Beispiel eine vierteljährlich erscheinende, zusätzliche Beilage zur Deutschen Schwesternzeitschrift: die Unterrichtsschwester. Sie trägt den Untertitel „für die Lehrschwestern der Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen“ (vgl. DSZ 1958). Darin stehen nicht nur mögliche Prüfungsaufgaben oder neue Lernmethoden für den Unterricht, sondern auch bestimmte Problemthemen wie sie zum Beispiel im Zusammenhang mit der praktischen Anleitung von Schülerinnen auftreten. Durch den erworbenen Sonderstatus ändert sich auch peu à peu der Blick auf die zuvor dominierende „Allroundqualifizierung“ der Oberin (Wittneben 1995: 268). Eine Oberin übte im Schulischen und im Stationären wesentliche Leitungsfunktionen aus und das oftmals ohne Ausbildung für diese Handlungsbereiche. Beispielsweise kommt diese Änderung des Blicks im Rahmen der Internationalen Schwesterntagung vom 28.8.-7.9. 1962 in Frankfurt am Main deutlicher zum Ausdruck. Dort geht es unter anderem um die gegenseitige Anerkennung der Berufsausbildungen und es wurde bereits die Überlegung nach einer grundständigen Qualifizierung für Pflegelehrerinnen laut: „Gefordert wurde außerdem eine berufspädagogische Ausbildung der Unterrichtsschwestern, die an Krankenpflegeschulen die Schülerinnen zu unterrichten haben […]“ (Internationale Schwesterntagung 1962: 541). Ein weiteres Beispiel ist Günzel. In einem Vortrag zur Eröffnung des Münchener Ausbildungszentrums spricht sie sich 1963 für eine grundständige berufspädagogische Qualifizierung aus. Interessanterweise hält sie
12 Gertrud Stöcker gibt die Relevanz der Lehrschwester ab 1943 an (vgl. Stöcker 2001: 224).
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in diesem Vortrag die Grundsätze Kerschensteiners in den Fortbildungskursen 13 der deutschen Schwesternschaften aber für gewährleistet (Günzel 1964). Eine nächste Stufe der Ausdifferenzierung einer Pflegedidaktik wird in dem Bedürfnis nach separaten Treffen erkennbar, also solcher, die unabhängig vom sonstigen Pflegediskurs stattfinden. Diese Treffen beginnen ebenfalls in den sechziger Jahren: interessanterweise nicht nur von Seiten der Unterrichtsschwestern, sondern auch von Seiten der PflegeschülerInnen. Man besucht sich, macht Exkursionen und (internationalen) Austausch. So bezahlt die Bundesregierung beispielsweise gemeinsam mit der WHO ein Zusammentreffen von 30 Leiterin14 nen von Schwesternfortbildungsschulen vom 24.08.1964-2.9.1965. Fachdidaktische Inhalte die dort besprochen werden, sind Lehrplangestaltung, Vorbereitung der Lehrkräfte sowie die Ziele der Schwesternfortbildung. Daneben ging es explizit um eine von Lehrern wie von Pflegelehrern bis heute zumeist vernach15 lässigte Frage, nämlich um die der Teilnahme an Forschung. Aus diesen Separationstendenzen der sechziger Jahre heraus, entwickelt sich seit 1972 die bundesweit pflegespezifische Lehrervereinigung. Bis 2009 ist das der Bundesausschuss der Lehrer und Lehrerinnen für Pflegeberufe e.V. (BA). Seither trägt dieser Verband den Namen Bundesverband Lehrende Gesundheits- und Sozialberufe. Laut seiner Satzung ist es „die handlungs- und durchsetzungsstarke, einzige Stimme, die sich konsequent und kompetent für die Interessen der Bildung in der Pflege einsetzt.“ (BA 2008) Zeitgleich zu diesen ersten Ausdifferenzierungstendenzen wuchsen die objektiven Außenanforderungen an das Berufsfeld der Unterrichtsschwestern. Es ist zu beobachten, dass unterrichtliche Aspekte auf dem Feld der Pflegebildung weder fachdidaktisch legitimiert noch curricular sortiert werden können, wie
13 Eine Diagnose, die vor dem Hintergrund gegenwärtiger berufspädagogischer Aussagen eher verwundert, denn dort wird die Krankenpflegeschule als Ort der Berufsbildung noch voll anerkannt. Ob diese Aussagen auch für und nicht nur gegen eine gute Ausbildungsqualität an den Weiterbildungsstätten, gerade im Verhältnis zu dem damaligen Quidproquo in der Berufspädagogik zu sehen sind, möchte ich offen lassen. Man kann sich in diesem Zusammenhang vor Augen führen, dass zu der Weiterbildung zur Unterrichtsschwester mindestens 1250 Unterrichtsstunden gehörten. Fächer waren beispielsweise Fachdidaktik, Allgemeine Didaktik und Psychologie. 14 Schwesternfortbildungsschule war der gängige Name für die Weiterbildungsschulen (Grauhan 1964: 459). 15 Ob es hier um fachdidaktische oder um pflegewissenschaftliche Forschung gehen sollte, konnte dem Text nicht entnommen werden.
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Fricke im Zusammenhang mit der Debatte um den Status der Krankenpflegeschulen im deutschen Bildungssystem erwähnt: „Die Form der Berufsfachschule und die von den Kultusbehörden zu erwartenden Richtlinien in formeller Hinsicht machen es nach meinem Urteil immer dringender eine Didaktik des Krankenpflegeunterrichtes zu entwickeln. Neben der Frage nach einem selbstständigen Tätigkeitskonzept der Krankenpflege scheint mir hier die schwächste Stelle aller bisherigen Diskussionen zu liegen. Was hier zu lesen war, stellte bisher nahezu ausschließlich Lernstoffkataloge dar. Was völlig fehlt, ist eine Reflexion auf die Organisation des Lernens und den Zusammenhang von unterschiedlichen Lernzielen mit den Formen der Unterrichtsveranstaltung. Hier ist es eben nicht mit einem Zuwachs an sozialwissenschaftlichen Stoffen und Inhalten im Unterricht getan.“ (Fricke 1976: 16)
Das ist umso bedauerlicher, als in dem Zeitraum im erziehungswissenschaftlichen Diskurs eine allgemeindidaktische Neuorientierung bemerkbar wird. Beispielsweise dadurch, dass Didaktik in ihrer allgemeinen Form offen problematisiert und erweitert wird. In kritisch-kommunikativer Ausrichtung leisten dies 1972 Schäfer/Schaller und in der Fortsetzung einer pädagogisch-geisteswissenschaftlichen Traditionslinie Klafki (z. B. in den berühmten Berliner Funk16 Kollegs 1970-71). Die von Fricke attestierten schwerwiegenden Mängel an fachdidaktischer wissenschaftlicher Kompetenz, kann man in diesem Zeitraum unter anderem auch an den „Bildungszielen für die Weiterbildung zur Unterrichtsschwester/ zum Unterrichtspfleger“ der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schwesternverbände (ADS) ablesen (ADS 1978: 384ff.), die den Aussagestatus bloßer Setzung nicht überwinden. Ähnliches gilt zu diesem Zeitpunkt für den gesamten deutschen Pflegediskurs: Zur vernünftigen Urteilsfindung dringend erforderliche klinisch orientierte pflegewissenschaftliche und pflegedidaktische Studien bleiben in der Bundesre17 publik unverwirklicht. Vereinzelt und sukzessive werden englischsprachige Studienergebnisse übersetzt (vgl. Wittneben 1976). Die von Fricke angemerkten fachdidaktischen Defizite zu beheben, dazu sehen sich weder die Vertreter der Schwesternverbände noch die über Weiterbildung qualifizierten Lehrpersonen im Stande. Vereinzelte positive Entwicklungen
16 Vgl. Klafki 1970-71 und Schäfer/Schaller 1976; dazu Illich 1972 und Schaller 1974. 17 Es gibt einzelne soziologische Studien in dieser Zeit (vgl. Hagemann 1968 und Sandrock 1968).
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finden sich aber dennoch in der Weiterbildung, wie zum Beispiel in Heidelberg: Sie liegen in den bis dato lang erkämpften, ab 1978 schließlich implementierten zweijährigen Weiterbildungslehrgängen. Bei diesen zweijährigen Weiterbildungslehrgängen in Heidelberg wurde auch die Stundenzahl auf 2500 Theorie18 stunden erhöht (Amman 1978: 158). Das ist insofern bemerkenswert, da der durchschnittliche Weiterbildungszeitraum zur Unterrichtsschwester in anderen Städten und Standorten bei einem Jahr oder bestenfalls bei anderthalb Jahren stagniert. Dieses Qualifikationsniveau erweist sich schließlich als zu gering für die objektiven Berufsfeldanforderungen, gerade angesichts der zunehmend an Bedeutung gewinnenden Legitimation didaktischer Entscheidungen nach außen. Dieses Argument erfährt eine weitere Begründung in der unprofessionellen Orientierung der Pflegelehrer, die weiterhin stark an den Rollenerwartungen der Pflegenden und kaum an denen eines Pädagogen partizipieren. Über den Stand des bundesrepublikanischen Krankenpflegeunterrichts in den 1970er Jahren sollte man sich nicht allzuviel vormachen: Es galt als normal, wenn die (üblicherweise weibliche) Unterrichtsschwester die Palette, die der (üblicherweise männliche) internistische oder chirurgische Chefarzt in der Unterrichtsstunde zuvor doziert hatte, noch einmal „übersetzte“ und mit Pflegebeispielen ausgeschmückt wiedergab. Die Ausdifferenzierung des Fachdidaktikdiskurses läuft in dieser gesellschaftlichen Rahmung, soviel bleibt festzuhalten, nicht mehr allein über die Gründung eines eigenen Berufsverbandes, bestimmte Fachzeitschriften oder durch Abhalten internationaler Kongresse, sondern diese Ausdifferenzierung bedarf, um als Diskurs mit erkennbarem Eigenstatus gelten zu können, einer theoretischen und einer institutionellen Stütze: eine „Fachdidaktik der Krankenpflege“ wird gesucht und bedarf bis zu ihrer ersten Verwirklichung einiger Versu19 che. Institutionelle Unterstützung kommt durch den Berliner Modellversuch „Lehrkräfte der Kranken- und Kinderkrankenpflege“ von 1979-1982 in Sicht, der das erste Mal seit dem ersten Versuch an der Frauenhochschule in Leipzig (1912) Pflegelehrer auf universitärem Niveau und sechssemestrig qualifiziert. Der LGW-Studiengang in Osnabrück wird ab WS 1980/81-1998 dafür Sorge
18 Drei Leistungsscheine mussten bereits an der Pädagogischen Hochschule (BadenWürttemberg) absolviert werden: in Erziehungswissenschaft/Allgemeine Pädagogik, Schulpädagogik und Pädagogische Psychologie. Es handelt sich hier um die zu diesem Zeitpunkt einzige Berufsfachschule in Deutschland (Schwarz 1980). 19 Eine Diskurserzeugung allein über politische Interessengruppen bleibt defizitär (vgl. Kristeva 1978: 68).
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tragen, über Weiterbildungsmaßnahmen ausgebildete Pflegelehrer universitär zu 20 qualifizieren. Der Arbeitssoziologe Axmacher hatte 1991 in einer Rezension über Wittnebens „kritisch-konstruktive Didaktik der Krankenpflege“ in der Frage nach der Qualifikation der Pflegelehrer eine „gewisse Lokomotivfunktion“ für die Professionalisierung des Pflegeberufs insgesamt gesehen. Aus pflegefachdidaktischer Perspektive lässt sich in dieser Lokomotive zunächst einmal eine, meines Erachtens die wesentliche Metapher befestigen, die den Fachdidaktikdiskurs aus dem orientierungslos und widersprüchlich erscheinenden Umsteigebahnhof des pluralen Pflegediskurses der siebziger Jahre nach und nach hinausfährt und seither mal stet, mal unstet auf Reisen hält. Höhere Qualifizierungsanforderungen an Pflegelehrer beeinflussen auch die Theoriebildung der Fachdidaktik Pflege. 1.3.1.1 Pflegedidaktische Theoriebildung – Erster Versuch Es dauert nicht allzu lange, bis wir drei Jahre nach Frickes Diagnose eine erste fundierte Analyse zum Stand der bundesdeutschen Fachdidaktik in der Deutschen Krankenpflegezeitschrift lesen können: „Ausschlaggebend für die Entwicklung einer Theorie ist die Existenz eines Gegenstandes. Weiter ist ein Instrumentarium von Methoden, mit dem der Gegenstand erforschbar wird, erforderlich. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, muß zuerst die Theorie über den Gegenstand ‚Krankenpflege‘ vorliegen. Aus ihr lässt sich dann eine Fachdidaktik entwickeln. Tatsache ist aber, dass wir weder eine Theorie noch eine Didaktik der Krankenpflege haben. Folglich müssen wir in umgekehrter Richtung denken: Wir haben das Fach Krankenpflege und die Praxis. Ausgehend von der Praxis, die unter systematischen Fragestellungen zu erforschen ist, ist eine Theorie der Krankenpflege zu entwickeln, die die Grundlagen unseres Handelns reflektiert, korrigiert und ergänzt mit dem Ziel, die Praxis zu verbessern. [...] Fachdidaktik ist die Wissenschaft von den Zielen und Inhalten eines bestimmten Unterrichtsfaches. Sie klärt die Fragen nach dem ‚Wofür‘ und ‚Wozu‘. Fachdidaktische Aufgaben sind, u.a. festzustellen, welche Erkenntnisse, Denkweisen und Methoden der wissenschaftlich erforschten ‚Krankenpflegelehre‘ zu Lernzielen des Krankenpflegeunterrichts werden sollen. Zweitens soll sie die Lerninhalte ständig daraufhin kritisch überprüfen, ob sie denn den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft entsprechen – gegebenenfalls sind überholte Inhalte durch neue zu ersetzen. Eine dritte Aufgabe ist, fächerübergreifende Gesichtspunkte zu kennzeichnen.“ (Gottberg 1977: 212)
20 Weiterbildendes Studium für Lehrpersonen 1981.
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Abgesehen von einer für die 1970er Jahre typischen Lernzielfixierung und Wissenschaftsidealisierung beinhaltet diese frühe und konzise Reflexion über den Stand und die Aufgabe einer wissenschaftlich ausgerichteten Fachdidaktik erste deutliche Hinweise auf die nächsten Schritte ihrer Theoriebildung, wie sie Wittneben im Rekurs auf angloamerikanische Pflegetheorien zwölf Jahre später tatsächlich gegangen ist. Kennzeichen sind demnach: •
Fragen nach Sinn und Zweck aufzunehmen und theoretisch zu klären
•
eine wissenschaftliche und das heißt auch eine forschende Ausrichtung auf das Handlungsfeld der Pflege
•
Überprüfung des gelehrten und curricular transportierten Wissens anhand des Forschungsstandes
•
Pflegewissenschaft als ausgewiesene Bezugsdisziplin
•
sowohl curricular zu arbeiten als auch nach fächerübergreifenden Anknüpfungsmöglichkeiten mit anderen Handlungsfeldern beziehungsweise Berufen zu suchen
Die Diplompädagogin von Gottberg sieht hinsichtlich der pflegetheoretisch unbefriedigenden Situation in der Bundesrepublik einen induktiven, über empirische Berufsfeldanalysen betriebenen Abstraktionsprozess vor, wie ihn Port 1960 bereits anvisiert hat und wie ihn in Ansätzen wohl Darmann (2000) und Fichtmüller/Walter (2007) gegangen sind. Ich schlage vor, ausgehend von diesen fachdidaktischen Aufgabenbeschreibungen fortan zwei Orientierungen im theoriegeleiteten fachdidaktischen Diskurs der Bundesrepublik zu unterscheiden: einen Strang primär curricularer Orientierung, wie es Gottberg unter Drittens gefordert hat und welcher verstärkt ab den 1990er Jahren sichtbar wird sowie eine theoriebildende Orientierung über den Stand der Fachdidaktik, ihr Warum und Wozu. Zur curricularen Orientierung Von Gottberg hatte unter ihrer dritten These 1977 curriculare Aufgaben für eine Fachdidaktik Pflege bestimmt. Die Curriculumarbeit schritt in den folgenden 1980er Jahren parallel zur Theoriebildung voran, wurde indessen aber erst in den 21 neunziger Jahren sichtbar. Ich möchte diese Entwicklung kurz skizzieren. Ent-
21 Es gibt auch etliche graue Literatur in der Pflegecurriculumtheorie, die einmal systematisch erhoben werden müsste: zum Beispiel das APOC-Curriculum (Arbeitskreis
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scheidende Stationen der Curriculumentwicklung in der Pflege sind das Hessische Curriculum, das AKOD-Curriculum, das Curriculum der schweizerischen Kaderschule Aarau (1991) und das Oelke/Menke-Curriculum „Gemeinsame Pflegeausbildungen“ (2002), das eine Vorform, das Oelke-Curriculum (198522 1991), weiterentwickelt hat. Das zweibändige Hessische Curriculum wurde ab 1990 an den hessischen Krankenpflegeschulen eingeführt. Ausgehend von dem Fach Pflege ist das halboffene Curriculum fächerübergreifend strukturiert. Pflegetheoretisch weiß es sich dem Lebensaktivitäten-Ansatz von Roper/Logan/Tierney (1991) verpflichtet. Im Zuge der gesetzlichen Veränderungen durch das Krankenpflegegesetz 1985 sah sich die Arbeitsgemeinschaft Krankenpflegender Ordensleute Deutschlands (AKOD) aufgefordert, ein Curriculum für die theoretische Ausbildung auf Basis der neuen rahmengesetzlichen Vorgaben (theoretische Stundenzahl ist auf 1600 gewachsen) zu konzipieren. Eine erste Version wurde bereits 1988 veröffentlicht und eine – nach Evaluation und Überarbeitung – zweite Auflage bereits 1993. Dieses ebenfalls halboffene Curriculum versteht sich als christlichhumanistischer Beitrag. Allgemeindidaktisch knüpft es an die heuristische Matrix des Hamburger Modells von Schulz (1980) an, pflegerisch u.a. an das „Paradigma des Samariters“. Das fächerintegrative AKOD-Curriculum hat in vielen Schulen Anwendung gefunden. Sein Beitrag für ein professionelles Berufsbild ist indessen durch seinen Verzicht auf pflegewissenschaftliche Bezüge als gering einzuschätzen. Ein weiteres ist das von Oelke 1991 im Rahmen ihrer Dissertation veröffentlichte fächerintegrative Curriculum, das die Autorin 2002 gemeinsam mit Menke unter dem Titel „Gemeinsame Pflegeausbildung“ vollständig erneuert hat. Gemeinsame Pflegeausbildungen Das Oelke-Menke-Curriculum von 2002 greift nun als erstes seiner Art diese Ansprüche vor den systematischen Ergebnissen aus einem BLK-Modellversuch auf. Dabei handelt es sich um ein komplexes Curriculum mit vier Lernbereichen. Es orientiert sich theoretisch an dem Konzept der Schlüsselqualifikationen und der kritisch-konstruktiven Didaktik Klafkis. Pflegefachdidaktisch sucht es neben Wittneben eine breite Auseinandersetzung (Oelke/Menke 2002).
Pflege Osnabrücker Curriculum), das im Zusammenhang mit dem Osnabrücker LGWStudiengang entstanden ist (vgl. Schusser/Pötzsch-Dröse/Dittrich/Schreiber 1999). 22 Vieles verdanke ich in dieser Frage dem gemeinsam mit Studierenden erarbeiteten Beitrag von Greb 2001.
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1.3.1.2 Erste Ansätze zur Theoriebildung Neben von Gottberg gab es weitere Vorläufer der pflegefachdidaktischen Theoriebildung, die von Wittneben in ihrer Dissertation ebenso knapp aufgenommen wie kritisch verworfen werden: sie alle trügen noch deutliche Züge des Didaktistischen. Man braucht zum Beispiel Vogels „Krankenpflegeunterricht. Didaktik und Methodik“ von 1979 nur kurz durchzulesen um zu verstehen, was Wittneben mit der Konstruktion des Didaktistischen meint. Neben den offensichtlich abbildtheoretischen Vorstellungen von dem Gegenstand „Pflege“ im Unterricht ist das Buch Vogels eigentlich vollkommen krankenpflegeunspezifisch und läuft somit konträr zu jeglichen fachdidaktischen Überlegungen. Es handelt didaktische Überlegungen summarisch ab, verbleibt dabei aber unwissenschaftlich, ohne Anschluss an Allgemeindidaktische Theoriebildung wie überhaupt ohne Reflexion auf Bildungstheorie, Gesellschaftstheorie oder Wissenschaftstheorie. Daneben trügen auch die „Didaktik des Krankenpflegeunterrichts“ von Bäuml/Rossnagel (1981) und das „Strukturmodell des Unterrichts“ von Sennewald (1988) deutlich das „Merkmal des Didaktistischen“ (Wittneben 1994: 264). Der erste Ansatz, der die Züge des Didaktistischen abgeschüttelt hat, ist der von Dielmann, Bögemann-Grossheim und Stiegler 1988 öffentlich vorgestellte − das sogenannte Duisburger Modell. Diese, im Zusammenhang mit der ÖTV organisierten Lehrerweiterbildung am Institut in Duisburg entstandenen und zusammengefassten fachdidaktischen Überlegungen, halten für ihre Nutzer neben pragmatischen Hilfestellungen wie einem Unterrichtsplanungsschema vor allem ein Strukturmodell des Pflegewissens parat. Diese Strukturen des Pflegewissens folgen einer strengen Inhaltslogik, wie sie aus dem Allgemeindidaktischen Diskurs der 1950er Jahre von Klafki her bekannt ist. „Unsere erste Regel lautet: Bevor der Lehrer zum Lehrer werden kann, muss er Experte des Pflegewissens, im Falle eines konkreten Pflegethemas, Experte des Pflegethemas sein.“ (Bögemann-Grossheim 1994: 59) Diese erste Prämisse ist didaktisch schon fragwürdig, denn warum soll ein Lehrer ein Experte des Wissens sein?23 Diese Forderung steht auch im Widerspruch zu den heuristischen und provozierenden Anliegen dieses „Modells“. Diese Setzung und die sich daraus ergebenden Widersprüche – was mache ich, wenn ich als
23 Ranciére (2009) hat zum Beispiel insbesondere das (im Falle Jacotots) sicher gewusste Nichtwissen des Lehrmeisters als Grundlage einer emanzipativen Erziehung hervorgehoben.
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Lehrer eine neue Thematik unterrichte? – sind so gelagert, dass sie sich mit dem Duisburger Ansatz selbst kaum problematisieren und denken lassen. Eine Würdigung dieses Ansatzes könnte hingegen sicherlich bei seiner Öffnungsperspektive im Hinblick auf andere pflegerelevante Diskurse, bei seiner Möglichkeit einem pflegedidaktisch verstärkten Szientismus in den Pflegeausbildungen kritisch vorzubeugen und bei seiner reflexiven Berücksichtigung der 24 „institutionellen Rahmenbedingungen“ ansetzen. Letzteres ist ein erster früher Hinweis den Greb (2003) dezidierter aufnehmen und durch einen Strukturgitteransatz der Pflege hochschul- wie fachdidaktisch sichtbar machen wird. 1988 konzipiert „[...] als ein kurz- und mittelfristig möglicher Ersatz für eine systematische fachdidaktische Theorie [...]“ (Bögemann/Dielmann/Stiegler 1988: 21), muss das Duisburger Modell nicht allzu lange auf seine Ablösung warten. 1.3.1.3 Wittnebens Entwurf einer kritisch-konstruktiven Didaktik der Krankenpflege Entgegen Axmachers These, Wittnebens Entwurf sei eben nicht der Versuch ein großer, alles umfassender Theorieentwurf zu sein, „der alles bisher Gewesene und Gesagte in den Schatten stelle“, sondern zeichne sich eher „über das bedächtige, genaue Umwenden der vielen Steine, die ihr Feld übersäen“ aus, ergibt der historische Befund bei Wittneben die deutliche Zäsur (Axmacher 1991: 5). Wittnebens kritisch-konstruktive Fachdidaktik bedeutet in vielerlei Weise den Point of no Return der bundesdeutschen Fachdidaktik Pflege: •
Sie unternimmt eine kritische Analyse des Handlungsfeldes (Berufswirklichkeit), bestimmt das Verhältnis zur (in Deutschland erst noch zu entwickelnden) Bezugswissenschaft, verortet die Fachdidaktik Pflege nachvollziehbar erziehungswissenschaftlich und ermittelt Instrumente zur Problemfindung in der Unterrichtsplanung.
•
Er ist deshalb nicht nur ein theoretisches Gebäude (Konstrukt), sondern analysiert inhaltsanalytisch die Möglichkeiten und mehr noch die Grenzen der herrschenden Pflegepraxis anhand ihrer immanenten Pflegeverständnisse.
24 Ausführlicher dazu: Ertl-Schmuck 2000: 180-192.
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•
In Bezug auf die reale sozialhistorische Entwicklung der beruflichen Pflege bedeutet es den (vorläufigen) Abschluss einer schwierigen Entwicklung zwi25 schen den pflegerischen Protesten 1970 und 1989.
•
In Bezug auf die wissenschaftliche Ausdifferenzierung der Fachdidaktik Pflege markiert sie das Ende der Ausdifferenzierungsbewegung. Mit ihm beginnt ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Selbstbezüglichkeit der bundesdeutschen Fachdidaktik Pflege, die sich deutlich von anderen Berufen des Gesundheitswesens und des Berufsbildungssystems unterscheidet.
•
Der Entwurf verbindet Bildungstheorie und Krankenpflegetheorie auf eigenständige Weise, das heißt in einer eigenständigen Sprache.
•
Aus der in dieser Arbeit obwaltenden Urteilsfähigkeit spricht das alte Professionsinteresse, Aufklärungsinteresse und Emanzipationsinteresse des Gründungsdiskurses in neuer, wissenschaftlich fundierter Form.
Dadurch, dass Wittneben an die kritisch-konstruktive Didaktik Klafkis „anschließt“ und damit implizit an die Sozialphilosophie von Habermas, bahnt sie einer wissenschaftstheoretischen und bildungstheoretischen Perspektive den Weg. Von Seiten Wittnebens wird nämlich eine erste bildungstheoretische Fundierung der Pflegedidaktik geleistet. Zusammengefasst liest sich ihr Bildungsverständnis folgendermaßen: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der hier vorgelegte Begriff einer Bildung weder in der Theologie noch in Formen des arbeitgeber-/arbeitnehmerbezogenen Arbeitskampfes und auch nicht vorrangig in einer wie auch immer gearteten Allgemeinbildung oder in jenen von Ärzten eher willkürlich erteilten positiven Sanktionen, auf die Krankenschwestern noch immer für ihre Identitätsbildung angewiesen zu sein scheinen, fundiert ist, sondern zentral in dem Fachgebiet der Krankenpflege wurzelt, dessen multidimensionale Theorie und Praxis kritisch-konstruktiv denkend und handelnd durchdrungen werden soll.“ (Wittneben 1994: 338)
Wittneben erarbeitet ein pflegespezifisches Bildungsverständnis in kritischer Auseinandersetzung mit bestimmten Institutionen, die die Pflegeausbildungen bis 1990 weitgehend dominiert haben. Erkennbar wird das in diesem Ausschnitt an der Kritik von Theologie und Kirchen, Gewerkschaften, Allgemeinbildung
25 Die zweiten Proteste sind auch der Ausdruck dafür, dass die seit den ausgehenden 1960er Jahren betriebene massive Funktionalisierung des Handlungsfeldes, inklusive ihrer eindimensional verobjektivierenden Perspektive im Sozialen scheitern müssen.
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oder Medizin. Wittneben geht es darum, die Bildungsgehalte der Krankenpflege selber in den Blick zu bekommen. Dazu versucht sie quasi bestehende Ummantelungen abzuwerfen. Bildung ermögliche eben auch die Selbstbildung der Pflegepersonen. „Diese Kategorie der Bildung ist dem theoretischen und praktischen Unterricht und der praktischen Ausbildung übergeordnet.“ (Ebd.) Seither ist Krankenpflege in Deutschland als ein eigenes und autonomes Bildungsfach begründet. Man kann seit diesem Ansatz Wittnebens von einer eigenen berufspädagogischen Profilbildung der bundesdeutschen Pflegedidaktik sprechen. Darin gelingt Wittneben auch die selbständige Aufhängung einer Fachdidaktik Pflege: in der Verhältnisbestimmung zur Tradition (Weiterbildung), zur Pflegepraxis, zur Unterrichtspraxis, zur Berufspädagogik und zur Allgemeinpädagogik (sowie später zur Sozialphilosophie). Eine wissenschaftlich gebundene Didaktik der Pflege besteht seither aus mehreren theoretischen Kreuzungslinien. Exkurs: Über die Schweizer Situation und die Verhältnisse an deutschen Hochschulen In der Schweiz lässt sich eine deutliche Wende in der paradigmatischen Ausrichtung der Pflegeausbildungen erst in den 1990er Jahren feststellen: 1992 erfolgte eine Überarbeitung der Richtlinien des Roten Kreuzes, die eine Autonomiebewegung des Pflegewissens gegenüber dem medizinischen Wissen nach sich zog. Zeitgleich wurde das Aarauer Fachdidaktikmodell Pflege (FDMP) veröffentlicht, das auch in Deutschland in der Pflegelehrerinnenbildung und Pflegebildungspraxis aufgegriffen wurde (vgl. Ertl-Schmuck 2000; Fichtmüller/Walter 1998).
„Es eignet sich als Strukturierungshilfe bei der Vorbereitung von Unterricht. Es kann im schulischen wie im klinischen Unterricht sowie zur Curriculumgestaltung benutzt werden. [...] Als Strukturierungshilfe verstanden, zwingt es zu einer bewussten Auswahl und Reduktion von Inhalten und Methoden. [...] Es soll das pflegerische Handeln im Berufsfeld als Ziel der Pflegeausbildung in den Mittelpunkt stellen.“ (Schwarz-Govaers 1999: 293)
Es folgten 1993 wichtige institutionelle Stützen in Lausanne (gemeinsam mit amerikanischer Universitätskooperation) und 1996 an dem Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe (WE’G) in Aarau selbst (gemeinsam mit der Pflegewissenschaft der Universität Maastricht). 1999 konnten die ersten auf schweizerischem Boden ausgebildeten PflegewissenschaftlerInnen graduiert werden. In Aarau wird das FDMP seit 1991 in den grundständigen Pflegeausbildungen eingesetzt:
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„Theoretischer Hintergrund für das FDMP findet sich in der Pflegewissenschaft, in der Unterrichtstheorie und in der Unterrichtspraxis. Innerhalb der Pflegewissenschaft auf der ersten Ebene erfolgt eine Beschreibung der Situation anhand von Pflegethemen und Pflegekonzepten. Auf der zweiten Ebene werden übergeordnete pädagogische und zugleich pflegerische Ziele gesetzt. Die klassischen Bedingungs- und Entscheidungsfaktoren des Unterrichts (Wer, Wann, Was, Wozu, Wie, Wieviel) bilden die dritte Ebene. Durch die auf jeder Ebene spezifischen Kriterien kann eine Situation aus der Pflegepraxis analysiert und weiter bis zur Planung und Umsetzung im Unterricht bearbeitet werden. Lehrende und Auszubildende können dieses Instrument gleichermaßen anwenden.“ (Ludwig/Spurek 2001: 115)
„Es gibt mehr als 1000 Universitäten, in denen der Magistergrad in Krankenpflege erworben werden kann und zahlreiche, an denen der Doktorgrad in Krankenpflege verliehen wird.“ (Grauhan 1984: 2) − nur in der Bundesrepublik nicht. Deutschland tat sich und tut sich trotz der institutionellen Vorreiter und eines an dem Handlungsfeld der nichtärztlichen Heilberufe interessierten Wissenschaftsrates schwer mit der Etablierung von Pflegestudiengängen, was natürlich auch mit den Machtstrukturen der Hochschulen, respektive der Universität selber zu 26 tun hat. Eine institutionelle Wende aber keineswegs das Heil in den Pflegeberufen brachten zwei parallel ablaufende gesamtgesellschaftliche Entwicklungen: die Vereinigung von Ostdeutschland und Westdeutschland, von DDR und BRD, und damit die Konfrontation mit einer vermeintlich professionelleren, da höherqualifizierten Pflegelehrerausbildung im eigenen Land. Auch dokumentiert die interdisziplinäre Denkschrift der Stuttgarter Robert Bosch Stiftung von 1992 mit dem Titel „Pflege braucht Eliten“ ein neues, ernstzunehmendes gesellschaftliches Interesse an den hochschulischen Weiterqualifizierungsoptionen für die Pflegeberufe. Dieses Interesse verdankt sich der bundesdeutschen „Krise in den Pflegeberufen“ (Robert Bosch Stiftung 1992: 5). Diese kann beschrieben werden als Mischung aus Stellennotstand, Überforderung und berufssozialisierter Blind-
26 „Und so wird man trotz der mittlerweile international etablierten pflegewissenschaftlichen Studiengänge in den Evaluationsgremien deutscher Hochschulen noch immer mit der Frage konfrontiert, wozu es denn einer Pflegewissenschaft bedürfe. Es gäbe doch auch keine ,Kühemelk- oder Autofahrwissenschaft‘. Soviel demonstratives Unverständnis lässt – vor allem angesichts der akademischen Entwicklung von Pädagogik, Psychologie, Gerontologie, Medizin und anderer Handlungswissenschaften – an irrationale Berührungsängste denken, die vermutlich im intimen Charakter des Pflegens selbst ihre Wurzeln haben.“ (Greb 2003: 16).
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heit im Handlungsfeld. Auf Basis dieser Denkschrift entspringen wichtige Impulse aus denen erste grundständige Modellstudiengänge in der Pflegeausbildung folgen (u. a. FH Darmstadt/FH Frankfurt/FH Fulda). Seit 1995 gibt es also die Bezeichnung der LehrerInnen für Pflegeberufe. 1.3.2 Zur Schlüsselposition Wittnebens Wittneben löst dieses wesentliche Problem eines fehlenden Bezugswissens, indem sie Modelle amerikanischer Pflegetheorie rekonstruktiv liest und pflegefachdidaktisch interpretiert. Aus dieser pflegewissenschaftlichen Relektüre arbeitet Wittneben verschiedene Grundorientierungen des beruflichen pflegerischen Handelns heraus: Handlungsorientierung, Verhaltensorientierung, Symptomorientierung und Verrichtungsorientierung. Diese Grundorientierungen werden zwischen einer Differenz aufgespannt: Wittneben geht in ihrem Modell der Multidimensionalen Patientenorientierung nämlich davon aus, dass das pflegerische Handeln entweder auf eine Patientenorientierung oder auf eine Patientenignorierung hin ausgerichtet sein kann (s. Abb. 1): Abbildung 1: Wittnebens (1994:151) Modell der multidimensionalen Patientenorientierung
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Dabei wird offenbar – ähnlich wie in den Bedürfnistheorien – davon ausgegangen, dass darstellende Pflege über die Pflegepersonen darzustellen ist. Wittneben scheint es zunächst um die Konstruktion einer heuristischen Perspektive für Pflegekräfte zu gehen. Diese Pflegepersonen sollen sich anhand des Modells vergewissern können, welche Orientierungen ihr Handeln aufweist. Dabei wird die Beteiligung des Patienten indirekt mitberücksichtigt. Mein Problem, wie die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen in die Gegenstandskonstitution integriert wird, wird von Wittneben über die Perspektive der Pflegepersonen versucht zu lösen. Ihnen ermöglicht das heuristische Modell multidimensionaler Patientenorientierungen eine Einschätzung und Urteilsfindung, in Bezug auf die Zentralkategorie Pflege. Das heißt, mit diesem Modell (als Lehrer oder als Schüler oder als Pflegender) lässt sich herausfinden, welche Orientierung dem eigenen Handeln zugrunde liegt. Eine weitere wichtige und viel beachtete wissenschaftliche Arbeit war Axmachers Aufsatz vom „Heimatverlust der Krankenpflege“. Dieser Beitrag setzt sich differenziert mit den Konsequenzen einer Verwissenschaftlichung der Pflege auseinander. Eine Konsequenz sei, dass Verwissenschaftlichung und wissenschaftliche Betrachtung zu Fragen führe, die in der Praxis so niemand gestellt habe. Die wissenschaftliche Darstellung des Pflegerischen – so lässt sich Axmacher reformulieren – sei eben nicht ohne Verlusterfahrung der sich darstellenden Pflege zu haben oder im Zuge der Verwissenschaftlichung des Pflegediskurses komme es zu einer neuen „Leitdifferenz“ (Axmacher 1990: 127). Axmacher geht ferner davon aus, dass der einzelne Pflegende durch die Pflegewissenschaft ein „,Laie‘ im eigenen Haus“ werde (ebd.) − vor allem darum, weil die Pflegewissenschaft den Gegenstand aus der „wissenschaftlich-systematischen Beobachterposition“ aufgreife und das Praxisfeld eben zu einem (distanzierbaren) Gegenstand mache. Diese Entfremdung von der eigenen Wissenschaft nennt Axmacher „Heimatverlust“. Übersetzt auf das Problemspektrum dieser Arbeit fällt auf, dass Axmacher hier auf verschiedene Metapher des Raumes zurückgreift, wie zum Beispiel Heimat oder Haus. Die Leitdifferenz entsteht also wie beschrieben durch die Entstehung eines neuen Raumes, durch die „Theoriedynamik“ (ebd.) in der Pflege und dieser Raum behält ein Verhältnis zu der pflegerischen Handlung und den Pflegenden − nämlich den eines Unterschiedes. Es stellt sich aber die Frage, ob diese Darstellungsproblematik zwischen dem, was Pflege als Diskurs ist und dem, was Pflege als Präsenz ist nicht genauer untersucht werden kann. Meines Erachtens behauptet Axmacher diese Leitdifferenz zwischen Diskurs und Pflegepersonen, macht sich aber nicht klar, dass das Pflegerische in seinem Vollzug bereits (zumindest) eine Leitdifferenz hat, nämlich die zwischen Pflegenden und Patienten.
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Axmacher grenzt sich kritisch ab von bisherigen Pflegetheoretikern, wie der ersten Professorin für Pflegewissenschaft Ruth Schröck (1988), die seinerzeit eine Normativität vor eine Erkenntnisperspektive gesetzt hat. Ähnlich wie Wittneben geht auch Axmacher in seiner Vision für einen pflegewissenschaftlichen Diskursaufbau davon aus, dass dieser Diskursaufbau über pflegerische Selbstbeschreibungen stattfinden solle. Er nimmt also hinsichtlich der Ausgangsdifferenz des Pflegerischen auch eine Perspektive der Pflegenden ein. Die Pflegenden sollen über eine Verschriftlichung ihrer Erfahrungen diesen Diskursaufbau leisten. Diese ersten bundesdeutschen Versuche zeigen meines Erachtens, dass das Problem, wie und auf welche Weise die wechselseitige Darstellungsform des Pflegerischen Berücksichtigung finden können, nicht gelöst ist. 1.3.3 Zum Konzept des Pflegerischen Handelns Wenn man sich die Frage vorlegt, wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Akteure in die Gegenstandskonstitution aufgenommen werden, muss man festhalten, dass Pflegewissenschaft von dem Gros des deutschen Pflegediskurses als Praxis- und Handlungswissenschaft gelesen wird (Dornheim 1999; Remmers 2000; Hülsken-Giesler 2008: 47; Friesacher 2008: 239). Wesentlicher Bezugsdiskurs für die deutsche Pflegewissenschaft sind die Sozialwissenschaften. Axmacher hat diese Verortung im Zuge der Transformation von einem vorwissenschaftlichen in einen pflegewissenschaftlichen Diskurs als „Versozialwissenschaftlichung“ der Pflege beschrieben. In den Sozialwissenschaften selber sprechen wir seit den 1980er Jahren von einer handlungstheoretischen Wende (Bubner 1982; Habermas 1995 [1981]; Joas 1992). Sie geht einher mit einer verstärkten wissenschaftlichen Hinwendung zu dem Feld des menschlichen Handelns. Diese Wende fungiert als ein wichtiger Impulsgeber für die Pflegewissenschaften in Deutschland. Derzeit lassen sich im Pflegediskurs meines Erachtens vier sozialwissenschaftliche Erklärungsansätze unterscheiden. Ich untersuche diese Ansätze hinsichtlich ihrer Gegenstandsauffassung. Diese Ansätze möchte ich vor dem bereits entfalteten Problemhintergrund der Darstellung des Pflegerischen reformulieren: Ein professionssoziologischer Erklärungsansatz gibt die von Dewe/Ferchhoff ins Spiel gebrachte und in der Sozialethik für Berufe entwickelte doppelte Handlungslogik in den Pflegediskurs weiter (Weidner 1995; Remmers 2000; Haas 2005). Das professionelle Pflegehandeln charakterisiere demnach ein Zugleich zweier Logiken oder auch ein „doppeltes Mandat“ (Rabe-Kleberg 1996). Die genauesten Ausführungen dieser Hypothese finden sich bei Remmers. Dort
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wird beispielsweise die erste „Logik“ des pflegerischen Handelns unter Verweis auf eine naturwissenschaftlich medizinische Rationalität eingeführt. Ihr sei im Gesundheitswesen und den Gesundheitsfachberufen eine entscheidende Definitionsmacht zuzusprechen: „Unbesehen dessen erfordert die normative Diskussion pflegerischer Arbeitsvollzüge die Unterscheidung zweier Handlungslogiken. Diese selbst konstituieren sich in einer Doppelseitigkeit des Berufs- und Handlungsbezuges, die nicht selten von den beruflichen Akteuren als ein Konflikt erlebt wird: Auf der einen Seite steht der biophysikalische Radius des Medizinsystems, dem operationelle Einstellungen der Optimierung somatischer Regelabläufe mit entsprechenden technisch-therapeutischen Empfehlungen korrespondieren.“ (Remmers 2000: 169)
Remmers transformiert die Perspektive der Lebenswelt, die immer durch eine spezifische Fremdheit und Andersartigkeit gekennzeichnet ist. Die Berücksichtigung der Ansprüche aller beteiligten Individuen bildet bei Remmers die zweite Logik des pflegerischen Handelns: „Auf der anderen Seite sind jeweils individuelle Ansprüche aller Beteiligten auf Wahrung, Schonung und Wiederherstellung einer persönlichen und integralen Lebensform (IchIdentität) zu berücksichtigen.“ (Ebd.)
Remmers stellt diese Logiken bildlich als zwei Seiten des pflegerischen Handelns vor Augen: Auf der einen Seite seien die Imperative des medizinischtherapeutischen Systems, das einer Ursache-Wirkungs-Logik mit dem Ziel der Gesundung folge und auf der anderen Seite sei das pflegerische Handeln einer Logik des Individuellen und der Lebenswelt unterworfen. Das pflegerische Handeln wird von Remmers in der doppelten Handlungslogik also konstellativ konzipiert. Das durch die Vermittlung beider Logiken dargestellte Pflegerische wird meines Erachtens auf Basis dieses Ansatzes lesbar als etwas Drittes. Demnach wäre also das sichtbar werdende Pflegerische Handeln stets als etwas Drittes zu denken. Nach diesem Dritten wird aber bei Remmers nicht weiter gefragt. Insofern bleibt der Ansatz der doppelten Handlungslogik bei Remmers meines Erachtens innerhalb der Habermasschen Argumentationsfigur von System und Lebenswelt. Diese vorgestellte professionstheoretische Annahme erkennt also im pflegerischen Handeln ein Darstellungsproblem, obgleich das nicht genau in dieser Terminologie formuliert wird. Das Darstellungsproblem, das sich dem pflegeri-
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schen Handeln stellt und welches laut Remmers nicht selten von den beteiligten Subjekten als ein Konflikt erlebt wird, entstehe aus dem Versuch, diese zwei Logiken im pflegerischen Handeln zu verbinden. Obwohl dieser Ansatz eine Differenz (Regelwissen versus Fallbezug) aufbaut, fragt er jedoch nicht weiter, wie diese Differenz in einem Dritten oder durch etwas Drittes darstellbar werden kann. Diese Problemstellung wird in dieser Studie weiter entfaltet. Ein weiterer methodischer Erklärungsansatz gewinnt seine Dynamik über die „objektive Hermeneutik“ des Sozialwissenschaftlers Ulrich Oevermann. Dieser Ansatz hat im Pflegediskurs eine gute Resonanz gefunden und ist bereits kontrovers diskutiert worden (Weidner 1995: 126; Friesacher 2008: 261, Raven 2009a, Raven 2009b, Darmann 2009). Ich versuche anhand der Prämissen des Oevermannschen Forschungsansatzes zu zeigen, welche Konsequenzen das Vorgehen der objektiven Hermeneutik für eine Pflegeforschung und ihren Gegenstand hat. Oevermanns Forschungsansatz (2002) möchte möglichst nah an der „Ausdrucksgestalt“ der sozialen Realität ansetzen. Er möchte die Realität so freilegen, wie sie sich zeigt. Ist das gewährleistet spricht Oevermann von authentisch. Das bedeutet aber eine Realitätsauffassung, wonach sich weder Perspektiven oder Deutungen darin einmischen dürfen. Von daher untersucht Oevermann soziale Wirklichkeit über authentische Protokolle. Dem Protokollverständnis Oevermanns nach gibt es im Forschungsprozess keine Differenz zwischen der performativen Sprechhandlung und der performativen Sprechhandlung als Text. Insofern können Oevermanns (2002) methodologische Prämissen in gewisser Hinsicht als radikal gelten. Das Oevermannsche Protokoll muss „authentisch“ sein und soll keinerlei Konstruktionen aufweisen. Zum Beispiel könne diese Herstellung von Authentizität gelingen, wenn man als Forscher technische Aufzeichnungsgeräte verwendet. Oevermann akzeptiert nur die nach diesem Kriterium ausgewählte soziale Realität als Gegenstand der Sozialforschung. Objektiv nennt Oevermann seinen Ansatz, weil es ihm um soziale Realität geht, die durch das Aufzeichnungsgerät für Dritte wahrnehmbar werden kann. Oevermann grenzt seinen methodologischen Ansatz beispielsweise gegenüber gestalteten Protokollen stark ab, wie sie zum Beispiel bei teilnehmenden Beobachtungen der Ethnografie üblich sind (vgl. Koch-Straube 1997). Auf den Pflegevorgang übertragen, bedeutet der Oevermannsche Forschungsansatz auf der Ebene der Datenerhebung stets eine uneingestandene Simplifizierung des Gegenstandes Pflege. Oevermanns Kriterium der Authentizität folgt einer übersetzten Form des performativen Geschehens (z. B. durch ein Medium). Die aus der Datenauswertungsmethode herleitbare Handlungsvorstellung lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Nach Oevermann entspreche diese
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protokollierte Sequentialität dem Ablauf menschlicher Handlungen. In dieser Sichtweise auf die Einzelhandlung gehe eine Sequenz immer mit der „[...] Schließung vorausgehend eröffneter Möglichkeiten und Öffnung neuer Optionen in eine offene Zukunft [einher].“ (Oevermann 2002: 7) Die von Oevermann unterstellte Sequenz bedeutete auf den Gegenstand Pflege übertragen, dass das Pflegerische Handeln in Gestalt eines Protokolltextes identisch wäre mit der Gestalt seiner Präsenz. In der Textgestalt hebe sich demnach das Darstellungsproblem des Pflegerischen quasi von selber auf. Auch wenn diese Vereinseitigungen sicher nicht als plausibel erscheinen können, so möchte Oevermann doch an die Ausdrucksgestalt der Sache heran. Allerdings problematisiert er das eigene Ansinnen zu wenig und arbeitet mit starken Setzungen und Ausschlüssen. Im Unterschied zu seiner Forschungsmethode argumentiert Oevermann professionstheoretisch interessanterweise nicht strikt auf Basis seiner Forschungsmethode, sondern mit Begriffen wie Stellvertretung beziehungsweise „stellvertretendes Handeln", „Arbeitsbündnis“ und „doppelte Professionalisierung“. Darmann-Finck (2009) hat die Prämissen dieser Terminologie für Pflegehandlungen als unzureichend beurteilt, denn Spezifika der empirischen Pflege, wie der flüchtige Kurzkontakt, blieben bei Oevermann unberücksichtigt. Auch müsse die Voraussetzung des Pflegerischen Handelns von denen des psychotherapeutischen Settings nach Darmann-Finck unterschieden werden. Darmann-Finck warnt pflegewissenschaftlich davor, dass Oevermann implizit die Logik eines therapeutischen Settings voraussetzt. Weitere Erklärungsansätze versuchen, beispielsweise bei dem Beitrag des Systematischen Erziehungswissenschaftlers Michael Wimmer, zur pädagogischen Profession anzuknüpfen (Wimmer 1996: 404-447; vgl. Stemmer 2001: 311-314; Friesacher 2008: 263f.). Es handelt sich um den Ansatz der Pflegewissenschaftlerin und Vorsitzenden der deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft Renate Stemmer und den des Pflegewissenschaftlers Heiner Friesacher, welcher einen kritischen pflegetheoretischen Ansatz auf Basis des pflegerischen Handelns formuliert hat. Das professionelle pflegerische Handeln sähe sich hiernach immer auch, analog zum pädagogischen, konfrontiert mit der Voraussetzung eines Nicht-Wissens und damit einer prinzipiellen Unbestimmbarkeit. Dieses Analogieverhältnis zum pädagogischen Handeln ist bemerkenswert und lässt sich im deutschsprachigen Pflegediskurs des Öfteren nachweisen.27 Ich untersu-
27 Ich denke diese Tendenz liegt in der schwierigen Zuordnung der Pflegewissenschaft an deutschen Universitäten. Meistens wird sie als Bezugswissenschaft im Rahmen der Lehrerbildung für das Höhere Lehramt an berufsbildenden Schulen „benötigt“, also im Rahmen der Lehrerbildung. Inhaltlich bemerkt man dieses Verhältnis zum pädago-
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che, inwiefern die beiden Ansätze von Stemmer und Friesacher Theoreme aus der Erziehungswissenschaft transformieren, um dadurch neue Perspektiven auf den Gegenstand Pflege zu gewinnen. Stemmer interpretiert Wimmers Dekonstruktion der Vorstellung eines allgemeinen Wissenscorpus als Grundlage für rationales pädagogisches Handeln, auch hinsichtlich eines Wegfalls des (einst) sicheren Wissenserwerbs von NochNicht-Wissen: „Mit dem Wissen um das Nichtwissen ist diese Sicherheit verloren gegangen.“ (Stemmer 2001: 314) Das hat für das pflegerische Handlungsfeld enorme Auswirkungen. Damit wäre nämlich die sichere medizinisch-naturwissenschaftliche Grundlage, die Remmers (2000: 169) der einen Seite des pflegerischen Handelns unterstellt, zu bezweifeln. Die daraus resultierende Irritation, welche Ordnung des Wissens für die Pflegebildung eigentlich gelten solle, korrespondiert auch mit einer theoretisch „unbestimmten Grundlage“ (in der Postmoderne). Sie macht es schwer zu entscheiden, welche Zugänge und welche Methodik dem Gegenstand gegenüber angemessen sind. Gerade für Pflegelehrer führt dies zu Konflikten und zu Unsicherheit. Auf der anderen Seite wird von Stemmer aber eine zu diesen Thesen in Widerspruch geratende Option zur Schließung dieser unbestimmten Grundlage vorgeschlagen: „Es stellt sich die Aufgabe, Ungewissheiten zu ertragen und einen Umgang zu finden mit den verbleibenden Erkenntnisfragmenten […].“ (Stemmer 2001: 314) Damit führt Stemmer meines Erachtens das Pflegerische eher auf eine alte Spur des „Erduldens“ und „Ertragens“. Wimmer verfolgt mit MeyerDrawe eine andere Spur, nämlich die jener „unnachgiebigen Theorie“. Darunter wird eine spezifische Variation der Bildungstheorie verstanden, die „ohne im Besitz der Wahrheit zu sein“ ihre Voraussetzungen als Setzungen „hinterfragt“ (Wimmer 1996: 437). Möglicherweise in einem analogen Verständnis zu Umberto Eco, der vorgeschlagen hat von dem künstlerischen Produktionsprozess zu erzählen. „Der Autor darf nicht interpretieren. Aber er kann erzählen, wie und warum er geschrieben hat.“ (Eco 1984: 17-19) Diesen Gedanken übertragend auf die Pflegerische, könnte eine Pflegerin von ihrer Herstellung des Prozesses erzählen, aber nicht unbedingt ihr Ergebnis interpretieren. Während Stemmer aufgrund ihrer Fragerichtung nach Sexualität und der damit verbundenen „Grenzkonflikte" vor allem die dunklen und limitierenden Momente von Wimmers Professionsthesen im Auge hat, fokussiert Friesacher
gischen Diskurs beispielsweise dadurch, dass viele Konzepte wie das ethische Konzept der Advocacy sowohl im erziehungswissenschaftlichen Diskurs (z. B. von Brumlik) diskutiert werden als auch später im pflegewissenschaftlichen Diskurs (z. B. von Remmers).
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eher die handlungstheoretisch relevanten Spannungsbezüge zwischen Wissen und Können. „Das von Wimmer angeführte Menon-Paradox, die scheinbar unbeantwortete Frage nach der Umsetzung von Wissen in Können, löst sich teilweise auf, wenn zwischen Wissen und Nicht-Wissen, zwischen Können und Nicht-Können, ein Schwebezustand eingeführt wird, den wir als Ahnung beschrieben haben und der eine Art Heraufdämmern darstellt.“ (Friesacher 2008: 264)
Friesachers Erkenntnisinteresse geht ähnlich wie das Stemmers, auf die Suche nach Überwindung des von Wimmer rekonstruierten Spalts zwischen Wissen und Können beziehungsweise zwischen Sokrates und Menon (vgl. Wimmer 1996: 445). Friesacher möchte in seiner Begründung einer kritischen Pflegewis28 senschaft die hart gezeichnete Differenzfigur „teilweise“ wieder auflösen, indem er aus der Rekonstruktion bestimmter Intuitionstheorien ein als darstellbar beschriebenes „Ahnen“ und eine „Art Heraufdämmern“ für das pflegerische Handeln zurückgewinnt. Friesacher positioniert ähnlich wie Benner (1994) eine intuitive Ahnung zwischen Wissen und Nicht-Wissen beziehungsweise zwischen Können und Nicht-Können. Das für diese Untersuchungsmethodik entscheidende Ergebnis von Friesacher liegt in seiner Beobachtung einer Paradoxie, wonach das Pflegerische einer „paradoxale(n) Grundstruktur des professionellen Handelns“ unterworfen sei (Friesacher 2008: 264). Implizit gestützt wird mit dieser von Wimmer gewonnenen und von Friesacher bekräftigten These der hochschuldidaktische Entwurf von Greb einschließ29 lich seiner Handlungsimplikationen. Greb arbeitet mit einem konstellativen Ansatz − Konstellationen trügen in Form begrifflicher Korrelate solchen Paradoxieanforderungen Rechnung.
28 Vgl. Wimmer 1996: 446: „Der Unmöglichkeit, das Reale, auf das sich Handeln seiner Struktur nach immer bezieht, als solches zu erfassen, und der Unmöglichkeit, die irreduzible Kluft zwischen dem Realen und dem Symbolischen mittels Wissen zu überbrücken. Die wegen dieser Kluft entstehenden Fiktionen und Mythen immer wieder als illusorische Sicherheiten aufzulösen, das Wissen einem ständigen Revisionsprozess zu unterwerfen, ist dann unumgänglich […].“. 29 Vgl. Greb 2003, 2005, 2009, 2010, Greb/Hoops 2008: Greb hat den Blankertzschen Strukturgitteransatz genau um das Verfahren des Konstellativen (als eine das Handlungsfeld Pflege widersprüchlich lesende Denkfigur) konstruktiv erweitert.
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Dennoch ist das Erkenntnisinteresse zwischen Konstellation und Paradoxon keineswegs das Gleiche, gleich ist nur der Befund. Während das Paradoxon davon ausgeht, dass die widersprüchlichen Handlungsstrukturen unauflösbar sind, da sie sich situativ und spontan ausbilden, geht der auf der älteren kritischen Theorie basierende Ansatz von Greb davon aus, dass sich der Bannspruch der gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Knoten und Widersprüche bewirken, doch eines Tages lösen lasse. Der Unterschied zwischen Paradoxon und Konstellation liegt also zum einen in der Zuschreibung der Widersprüche und zum anderen in der Einschreibungsweise der Zukunft. Bei Greb werden die Widersprüche des Handlungsfeldes als objektiv (d. h. unabhängig vom Handlungssubjekt) gelesen. Mit Wimmers These des Wegfalls eines Allgemeinen kann man davon so nicht mehr ausgehen. Man kann sagen, dass Grebs Ansatz die Konstellationen mit dem Preis einer Konstruktion bezahlt, während Wimmers Ansatz der Dekonstruktion mit einer Form der Unbestimmbarkeit und Paradoxen einher geht. Unabhängig davon, ob sich Widersprüche durch gesellschaftliche Transformationsprozesse auflösen oder umgestalten, liegt in der Negativität der Grebschen diskursanalytisch gewonnenen Konstellationen eine (auch paradoxaler Logik zugängliche) Denkfigur. Es wird nämlich eine prinzipielle Uneinsehbarkeit und damit Undarstellbarkeit des Handlungszusammenhangs unterstellt. Lediglich durch die begriffliche Auseinandersetzung, durch die Arbeit am Begriff wie Hegel sagte, öffnete sich demnach der Zugang zur Pflege. Die konkreten Schwierigkeiten des Gegenstandes Pflege werden von Greb insofern unter Verweis auf ein Übersetzungsproblem konsequent herausgearbeitet. Pflege habe hiernach ein sprachliches Darstellungsproblem, insofern diese body to body-Tätigkeit Erfahrungen produziere, die sich begrifflich nur schwierig übersetzen lassen. Dabei gehe es aber andererseits um solche Erfahrungen, über die paradoxerweise genau zu sprechen wäre. „Die in langjähriger Berufserfahrung immer wieder erfahrene leibliche Nähe zu pflegebedürftigen Menschen begünstigt unter Umständen eine Art Perspektivenübernahme, durch die Leid und der Schmerz in Krankheit, Behinderung oder Alterungsprozessen wenigstens für einen Augenblick aus dem Körper des anderen heraus nachempfunden werden können. Eine Erfahrung, in der die Chiffren des eigenen Körpers das Erleben des anderen unmittelbar aufschließen, um des Nichtbegrifflichen gewahr zu werden. […] Diese Eigenart der Generierung eines Großteils der pflegerischen Wissensbestände würde zumindest erklären, warum sich die Berufsgruppe so schwer damit tut, ihre spezifischen Erkenntnisse zu dokumentieren – was die fachdidaktischen Schwierigkeiten bereits erahnen lässt. Dass die Krankenpflege keine Sprache habe, um ihre Erfahrungen auf den Begriff zu bringen, wird
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in der Pflegewissenschaft generell beklagt und ist seit Beginn der Professionalisierungswelle ein bedeutender Forschungsgegenstand.“ (Greb 2003: 198)
Greb weist darauf hin, dass das Pflegerische auch vor der Aufgabe steht, eine Übersetzung dieser leiblichen Begegnungen zu leisten. Mit der leiblichen Dimension pflegerischen Handelns werden Grenzerfahrungen wie Kranksein, Schmerz oder Leiden abgerufen, die von Pflegenden oftmals nur sehr schwer in einer begrifflichen Sphäre der Sprache darstellbar sind. Um diese Ebene des Darstellungsproblems auch fachdidaktisch zu reflektieren, schlägt Greb eine konstellative Methodik vor, die im Strukturgitteransatz konkretisiert wird (s. Abb. 2). Darin arbeitet Greb mit konstellativen Begriffen wie Leibentfremdung und Leiderfahrung, deren Konstellation selber bereits eine Ähnlichkeit mit der im Handlungsfeld begegnenden Schwierigkeit aufweist, das sich darin darstellende Krankheitserleben zu übersetzen. Abbildung 2: Basisstrukturgitter Ulrike Greb (2003)
1.3.4 Ausgangspunkte dieser Untersuchung Nach der Sichtung des Pflegediskurses stelle ich die wesentlichen Ausgangspunkte dieser Untersuchung zusammen. Diese Untersuchung hat auf Basis einer
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strukturellen Annahme zum Pflegevorgang und über einige empirische Beobachtungen pflegerischer Interaktionen zeigen wollen, dass sich das, was sich als Pflege darstellt, unterschiedlich wahrgenommen wird. Zum Beispiel nimmt eine Pflegende den Pflegevorgang anders wahr als der Betroffene. Diese Unterschiede in der Wahrnehmung auf den Pflegevorgang wurden auch anhand der Positionierung, zum Beispiel durch die Perspektive des Pflegeschülers spezifiziert. Die „Ausgangsdifferenz des Pflegerischen“ ist eine Bezeichnung dieser Untersuchung für dieses beschriebene Phänomen. Dabei geht diese Untersuchung davon aus, dass das Darstellungsproblem der Pflege ein empirisches Problem ist, weil es aus Erfahrungen der Beteiligten herleitbar ist. Gleichwohl betrifft diese Problemstellung aber systematische Fragestellungen, wie die nach der Gegenstandskonstitution des Gegenstandes „Pflege“ im Pflegediskurs. Das heißt die Frage nach dem Darstellungsproblem des Pflegerischen berührt wesentlich auch das Erkenntnisinteresse der systematischen Pflegewissenschaft, weil es um das Gegenstandsverständnis geht. Um diese Gegenstandsauffassung zu untersuchen, wurde der Begriff des Pflegerischen von Greb (2003: 231ff.) übernommen und für diese Studie wie folgt eingeführt: Der Begriff des Pflegerischen meint Pflege in ihrer reflexiven und diskursiven Gestalt − die Repräsentation der praktisch-empirischen Pflege. Es ist eine Konstruktion, die ähnlich wie das Politische (im Unterschied zur Politik) oder das Pädagogische (im Unterschied zur Pädagogik) darauf abzielt, sich diskursiv über Pflege verständigen zu können, ohne sie stets und als verstanden voraussetzen. Es ist insofern eine begriffliche Konstruktion, die erst einmal offen lassen muss, ob und wie und wo und als was sich Pflege ereignet, darstellt oder nicht darstellt. Die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen wurde von mir zum Anlass genommen, Gegenstandsauffassungen des internationalen und des bundesdeutschen Pflegediskurses exemplarisch darauf zu untersuchen, inwiefern die Darstellungsproblematik des Gegenstandes „Pflege“ auf Basis von einschlägigen Pflegetheorien reformuliert werden kann. Dabei konnte sowohl die wahrnehmungsbezogene Darstellungsproblematik der Pflege im Fortgang weiter entfaltet werden als auch der Begriffsumfang des Pflegerischen kulturell und lebensweltlich erweitert werden. Die Rede von einer Darstellungsproblematik des Pflegerischen konnte in Auseinandersetzung mit dem Pflegediskurs weiter plausibilisiert werden. Die wesentlichen Aspekte, an die diese Studie methodisch oder inhaltlich anschließen möchte, sind: Gegenüber bedürfnistheoretischen Ansätzen und ihrem Mechanismus der Stellvertretung ist vor allem das Argument stark gemacht worden, dass die Performanz des Pflegerischen unter die Verpflichtung eines abwesenden Bedürfnis-
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handelns konzipiert wird. Diese Bedürfnishandlung des Anderen, der unterstellt wird dass sie in der Vergangenheit stattfand, soll demnach in der Gegenwart durch Pflege zur Darstellung gebracht werden. Dieses abwesende Bedürfnishandeln des Anderen beruht auf den voraussetzungsreichen Vorstellungen eines autonomen und selbstpflegekompetenten Subjekts. Die Pflegenden werden im Rahmen dieser Modelle zum Hauptakteur des Pflegerischen ernannt (vgl. Powers 1999). Somit entscheidet letztlich die zur Zentralperspektive gewordene Perspektive der Pflegenden, was sich als Pflege darstellt. Diese Perspektive der Pflegenden bekommt dadurch eine große Macht zugesprochen. Eine Differenz der Wahrnehmungen auf den Pflegevorgang kommt dabei nicht in den Blick. Das bedeutet sowohl für die heutigen Ausbildungen als auch für das Verständnis von Pflege ein großes Problem, denn man muss davon ausgehen, dass die meisten Pflegeausbildungen und Pflegeeinrichtungen in Deutschland auf Basis bedürfnistheoretischer Modelle arbeiten. Meines Erachtens tritt mit Peplaus Ansatz der Interaktionsorientierung deutlicher eine Perspektive der Differenz in den Pflegediskurs ein, die ich versucht habe für diese Untersuchung, über die Darstellung des Pflegerischen folgendermaßen zu reformulieren: Die Darstellungsproblematik des Pflegerischen lässt sich mit Peplau nicht nur auf der Ebene der Wahrnehmung des Pflegerischen aufzeigen, sondern wäre auch auf der Ebene der Durchführung und Herstellung der konkreten beruflichen Pflegehandlung lokalisierbar. Also die Frage wie handeln Pflegekraft und Patient so, dass sie gemeinsam beispielsweise ein Baden zur Darstellung bringen, ist von der Frage separierbar, wie man das wahrnimmt, was sich hinter der Bezeichnung des Baden verbirgt. Die Problemstellung die Pflege mit ihrer Darstellung hat, wäre also als eine sehr komplexe zu beschreiben. Es wäre nämlich zu fragen, wie und ob Handeln und Wahrnehmen im Prozess des Pflegerischen zusammengehen. Wenn man pflegerisch handelt, partizipieren auf der Ebene der pflegerischen Handlung und auf der Ebene der Wahrnehmung zumindest meist zwei Personen miteinander. Die Mitte, um die es dabei gehen könnte, wäre so eine Hypothese dieser Untersuchung, eine pflegerische Darstellung oder die Darstellung des Pflegerischen. Das Interessante an Peplaus Gegenstandsauffassung ist, dass der Gegenstand „Pflege“ nicht allein in klinischen Settings vermutet wird. Dadurch kommen verborgenere Pflegeformen mit in den Blick, beispielsweise aus Bereichen der familialen oder freundschaftlichen Pflege. Diese Sicht kann etwas irritieren. Folgt der Pflegediskurs doch traditionellerweise eher einem Paradigma des klinischen Pflegeverständnisses (vgl. Fawcett 1996; Fawcett 1999; Marriner-Tomey 1992, Roper u. a. 1987; Moers/Botschafter 1993; Moers/Schaeffer 1997; Schaef-
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fer 1999). Demnach findet Pflege in einem beruflichen Handlungsfeld statt und wird durch Versorgungsstrukturen beeinflusst. Bei einem klinischen Pflegeverständnis geht es um diejenigen Gegenstandsbereiche, die sich durch gesellschaftlich definierte Handlungsbereiche als Pflege zeigen. In Deutschland wären das beispielsweise über SGB V und SGB XI organisierte soziale Felder. Man kann sagen, dass das kulturell und lebensweltlich geweitete Pflegeverständnis von Leininger klarer ausformuliert worden ist als von Peplau. Methodisch integrieren sowohl Peplau als auch Leininger theoretische Ansätze aus der Kommunikationsforschung, Psychologie, Psychoanalyse oder Ethnografie. Diese Studie teilt diese geweitete Gegenstandsauffassung und wird an diese Vorgehensweise methodisch anknüpfen, indem sie beispielsweise nach Pflegedarstellungen in der Kultur fragt. Benners Studie From Novice to Expert ist grundlegend für die Explikation des Darstellungsproblems des Pflegerischen, weil sie gezeigt hat, dass die Wahrnehmungen bereits innerhalb der Berufsgruppe der Pflegenden stark variieren und abhängig sind von praktischen Lernerfahrungen. Ich nehme in dieser Studie die Spur auf, die Benner hinsichtlich der Wahrnehmungsdifferenz auf den Pflegevorgang gelegt hat. Darüber hinausgehend möchte ich aber auch nach einer Möglichkeit suchen, die Betroffenenperspektive bei der pflegewissenschaftlichen Theoriebildung mit zu berücksichtigen. Auch glaube ich nicht, dass die Sicht von Experten auf den Gegenstand Pflege eine privilegierte Sicht bedeutet, wie Benners Untersuchungen das nahelegen. Vielmehr gehe ich in dieser Studie davon aus, dass die Differenz der Perspektiven auf den empirischen Gegenstand Pflege, die sich durch unterschiedliche Positionierungen ergeben können, momentan von Seiten einer systematischen Pflegewissenschaft nicht konsequent genug gedacht werden kann. In dem deutschsprachigen Pflegediskurs findet sich zu Beginn der 1990er Jahre eher eine Lesart des Gegenstandes „Pflege“, die durch die Perspektive der Pflegenden bestimmt ist. Dieser Schluss ergibt sich sowohl aus den Rekonstruktionen zu Wittneben als auch zu Axmacher. Die Einschränkung hat mit dem jeweiligen Erkenntnisinteresse zu tun: Wittneben geht es als Fachdidaktikerin vorrangig um die Verbesserung der beruflichen Bildung von Pflegeschülern und Axmacher hat die emanzipative Entwicklung der Pflegenden im Blick und möchte die Professionalisierung der Pflege in Deutschland befördern. Eine andere Qualität und Vertiefung erfährt der Pflegediskurs über die Kategorie des Pflegerischen Handelns. Die grundlegende Hypothese ist, dass dem Pflegerischen Handeln nicht mehr eine einfache, sondern eine doppelte Handlungslogik (Remmers) zugrunde liege. Das Darstellungsproblem, dass sich aus der doppelten Handlungslogik reformulieren lässt, ist darin zu suchen, dass hier
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die Vorstellung zweier autonomer Logiken eingeführt wird, die dem konkreten pflegerischen Handeln eine Eindeutigkeit unterstellen. Das pflegerische Handeln ist aber nicht doppelt im Sinne von zweimal einfach, sondern bezieht etwas anderes mit in seine Darstellung ein. Die Darstellung des Pflegerischen zeigt eine Differenz. Die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Stemmer und Friesacher macht deutlich, dass der Gegenstand Pflege aus der Perspektive des pflegerischen Handelns durch einen Bereich gekennzeichnet wird, der mit Begriffen wie „Nichtwissenkönnen“, „Ungewissheit“ und „Unbestimmtheit“ chiffriert wird. Diesem Bereich wird damit auch eine gewisse Uneinsehbarkeit von Seiten der Forscher unterstellt. Die sich daraus ergebende Darstellungsproblematik des Gegenstandes Pflege bezeichne ich zum Beispiel als eine diskursive, weil sie die Übersetzung des realen Pflegegeschehens in einen Diskurs deutlich macht. Weder kann demnach nämlich eine Pflegerin auf die reale Pflege schulisch vollständig vorbereitet werden, noch ist alles, was Pflegende und Betroffene in der Pflegesituation erleben, durch Pflegeforschung sichtbar zu machen und in einen Diskurs überführbar. Diese Darstellungsproblematik ist vor allem für pflegepädagogische und auch pflegewissenschaftliche Arbeitsprozesse sehr wichtig, weil die Sprachlichkeit als Basis von Lehr-Lernprozessen und Studien auch eine Wirklichkeit der sich darstellenden Pflege abzuschneiden scheint. Die Autoren fragen aber nicht danach, ob die Wahrnehmung auf die sich darstellende Pflegerealität nicht stets etwas Spezifisches in die Unsichtbarkeit drängen muss, sprich, ob dadurch, dass sich Pflege darstellt, etwas anderes zugleich nicht darstellbar ist. Dieses Andere kann aber offenbar spürbar bleiben. Des Weiteren sind die Ausführungen von Friesacher für diese Untersuchung insofern wichtig, als die Ebene der Vermittlung der pflegerischen Handlungsparadoxien, die sich seiner Arbeit zufolge zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Können und Nichtkönnen ergeben, mit Begriffen wie „Ahnen“ und „Heraufdämmern“ beschrieben werden. Für diese Untersuchung und ihr Erkenntnisinteresse wird es daher entscheidend sein, diesem Hinweis auf das Andere des Pflegerischen methodisch Rechnung zu tragen. Das geschieht in dieser Arbeit aber nicht in der gleichen Weise wie bei Friesacher, nämlich unter Rückgriff auf Intuitionstheorien, sondern durch Berücksichtigung von Theoremen und Vorgehensweisen der Psychoanalyse (wie z. B. das Unbewusste).30
30 Psychoanalyse ist dem Pflegediskurs seit Peplau und damit zumindest der psychiatrischen Pflege nicht mehr unbedingt fremd (z. B. ist die Phase der „Identifikation“ im Peplauschen Modell mit einem psychoanalytischen Begriff bezeichnet). In der Studie
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Die schwierig zu übersetzende Sphäre des Pflegerischen wird von Greb mit dem Argument der leiblichen Nähe in der pflegerischen Interaktion hergeleitet. Greb begründet somit sowohl den konstellativen Untersuchungsansatz als auch ihr didaktisches Modell handlungsfeldlogisch. Der Frage nach der Darstellung des Pflegerischen wird auch hier eine gewisse Nichtmöglichkeit und Dunkelfeldlogik unterstellt. Diese Untersuchung greift diese Anliegen auf, geht aber auch von der Vorstellung aus, dass das Pflegerische dadurch gekennzeichnet werden kann, dass Pflege zur Darstellung gebracht wird.
1.4 K LÄRUNG DER F RAGESTELLUNG , DES G EGENSTANDES , DES U NTERSUCHUNGSGANGS UND DES MÖGLICHEN E RTRAGES Durch die Analyse des Pflegediskurses ist deutlich geworden, dass die zentrale Darstellungsart des Gegenstandes „Pflege“ im Pflegediskurs zunächst mit der Perspektive der Pflegenden gleichgesetzt worden ist. Dabei existiert, wie beispielsweise Benner (1994) gezeigt hat, auf dieser Ebene der Wahrnehmung von Pflegenden auf den Pflegevorgang ein manifestes Darstellungsproblem, das sich aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen Pflegender ergibt. Benner löst dieses Darstellungsproblem, indem sie der Expertenperspektive auf den Gegenstand „Pflege“ das Primat zuspricht. An dieser Zentralisierung der pflegerischen Darstellung auf eine Perspektive hegt diese Studie Zweifel. Im Pflegediskurs insgesamt gibt es keine Konzepte, welche die differente Wahrnehmung in ihrer Gegenstandsauffassung explizit machen. Diese Untersuchung möchte auf die Suche nach einem Konzept und einer Gegenstandsauffassung gehen, die der differenten Wahrnehmung auf den Gegenstand „Pflege“ Rechnung tragen kann. Der erste Untersuchungsabschnitt in Kapitel 2 wird sich daher der grundlegenden Frage nach dem Gegenstand „Pflege“ widmen. Dabei wird das Pflegerische nicht als Text untersucht, sondern als Bild. Ist das Pflegerische auf Bildern überhaupt ein differentes Phänomen, wie diese Studie von Beginn an behauptet hat? Wie stellt sich das Pflegerische im Bild dar? Gibt es bei der Darstellung der Pflege überhaupt ein Problem? Um diese Fragen nicht unter einem Apriori für klinische Pflegeauffassungen anzugehen, möchte ich Pflege im Anschluss an Peplau und Leininger als kulturelles Phänomen verstehen. Diese Gegenstandsauffassung sorgt für eine Öffnung
von Koch-Straube (1997) belegt sich meines Erachtens am deutlichsten der Ertrag einer in diesem Fall ethnopsychoanalytischen Perspektive und Methodik.
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in die Kultur hinein und damit auch in den öffentlichen Raum. Diese Gegenstandssicht entspricht dem Begriffsverständnis von Pflege in ihrem alltagspraktischen Wortsinn, das ich kurz genauer ausführen möchte: Was wird gepflegt? − Gegenstände wie Möbel, Autos, Computer, Wäsche und Technik, Organisches wie Blumen, Tiere, die Haut, die Zähne oder auch Freundschaften, Gewohnheiten, Beziehungen, Sprache, Kunstwerke oder eine Kultur. Dieses weite Alltagsverständnis von Pflege hat seinen Ursprung in einer interessanten Etymologie: Danach verweist Pflege auf das althochdeutsche Wort „pflegan“ (syn.: flegan, plegan) und bedeutet ursprünglich am ehesten „sich für etwas einsetzen“ (Kluge 2002). Im Frühneuhochdeutschen differenziert sich dann aber bereits ein doppelter Bedeutungsgehalt heraus, wonach Pflege erstens im Sinne von Gepflogenheit, als einem gewöhnlichen Tun und Umgang haben, und zweitens im Sinne eines fürsorgenden Handelns gegenüber einem Anderen, beispielsweise im Sinne von Verpflegung eines Waldes, Ackers, Guts, einer Jagd oder eines Kranken verwendet wird (Zedler 1997 [1741]: Sp. 1585-1592; Allgemeine Encyclopädie der Künste 1846: 169). Kulturwissenschaftlich wird das Verständnis „Pflege“ oft implizit vorausgesetzt: Unter Hinweis auf die Etymologie von cultus oder cultura mit den möglichen Übersetzungen „Pflege, Abwartung, Anbau“ (Georges 1976: Sp. 1793f.) wird beispielsweise von Kulturwissenschaftlern auf die Herkunft von Kultur hingewiesen (vgl. Böhme 2000: 356-359; Hetzel 2002: 14). Insofern folgt diese Arbeit einer Gegenstandsauffassung von Pflege als kulturellem Phänomen und sieht dadurch auch die Möglichkeit gegeben, einer pflegewissenschaftlichen Fragestellung im Rekurs auf verschiedene kulturwissenschaftliche Ansätze nachzugehen. Diese Ansätze werden zu Beginn des jeweiligen Untersuchungsabschnitts dargelegt. Im Anschluss an die Bildanalyse und deren Fragestellungen, versuche ich die Gegenstandsauffassung dieser Studie zu bündeln. Dabei geht es mir darum, das Pflegerische aus der differenten Ordnung, die sich im Darstellen begründet, zu zeigen. Die in der Darstellung wahrnehmbaren Differenzen haben einen Ort − den nenne ich das pflegerische Tableau. Es soll theoretisch rekonstruiert und anhand von verschiedenen Beispielen näher erläutert werden. Mit dem pflegerischen Tableau wäre also diejenige Gegenstandsauffassung angesprochen, die es erlaubt Darstellungsprobleme, wie sie sich aus einer differenten Wahrnehmung des Gegenstandes „Pflege“ ergeben, sichtbar werden zu lassen. Im Fortgang der Studie untersuche ich in zwei grundsätzlich unterschiedliche Richtungen: Aus historischer Perspektive gehe ich der Fragestellung nach, inwiefern man am Beginn der deutschen Diskursbildung den Einfluss einer für den deutsch-
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sprachigen Pflegediskurs problematischen Darstellung erkennen kann. Dieser Beitrag untersucht die dunklen Seiten der oftmals positiv dargestellten Imago Nightingales. Des Weiteren untersuche ich aus systematischer Perspektive, ob es eine bestimmte Form der Darstellung auf dem pflegerischen Tableau gibt, die man als pflegerische Mimesis bezeichnen kann. Dabei gehe ich von Ansätzen zur pflegerischen Mimesis im Pflegediskurs aus (Greb 2003, Hülsken-Giesler 2008). Diese Ansätze werden ergänzt durch eine Untersuchung zu einigen zentralen Grundmodellen der Mimesis und deren für eine pflegerische Mimesis abduzierbaren Darstellungsoptionen. Um den Ertrag dieser Studie zu skizzieren, lege ich drei verschiedene Perspektiven zugrunde: die des Diskurses der Pflegewissenschaft, die der Pflegebildung und schließlich die Perspektive einer pflegerischen Praxis. Der pflegewissenschaftliche Beitrag bezieht sich auf die Forschungen zu dem Feld der Pflege. Die Pflegebildung schließt für mich sowohl die Perspektive von Lehrern und Lehrerinnen als auch die Lehre vom Gegenstand Pflege (wie er neben der Schule auch in der pflegerischen Praxis auftreten kann) als auch den fachdidaktischen Diskurs ein. Unter die Perspektive einer pflegerischen Praxis fallen für mich Pflegende, zu Pflegende, aber auch andere im Handlungsfeld der Pflege begegnende Gruppen (z. B. Ärzte, Angehörige). Darüber hinaus meine ich, dass mit der pflegerischen Praxis die Pflegewirklichkeit, wie sie in der Kultur auftritt, angesprochen ist: Die Perspektive Pflegewissenschaft: Ich möchte auf Basis einer deskriptiven Untersuchung eine Gegenstandsaufassung für den Pflegediskurs vorschlagen, die den Gegenstand „Pflege“ über die Wahrnehmung bestimmt. In der Folge hoffe ich durch die Logik und die Beispiele eines Tableaus einen systematischen Ansatz vorzustellen, wodurch der Gegenstand „Pflege“ differenter lesbar wird. Dieser Ansatz eines pflegerischen Tableaus möchte die Ausgangsdifferenz der Pflegesituation, die sich stets nur transformieren kann und somit bestehen bleibt, als Basis seiner Gegenstandskonstitution das heißt als Differenz begründen. Die Perspektive Pflegebildung: Mir ist es in dieser Studie grundsätzlich wichtig, an den fachdidaktischen Diskurs anzuknüpfen, weil ich glaube zeigen zu können, dass die pflegewissenschaftliche Entwicklung historisch eng mit der der Pflegebildung und damit der des pflegedidaktischen Diskurses verzahnt ist. Des Weiteren möchte ich pflegedidaktisch eine neue Untersuchungsmethode vorschlagen und durch die konkrete Bildanalyse aufzeigen, dass Pflege als Bild ein ganz eigenes und neues Forschungsfeld bedeutet. Schließlich meine ich, dass der pflegefachdidaktische Strukturgitteransatz (Greb 2003, 2006, 2008, 2009) sowie weitere pflegetheoretische Ansätze einer Logik der Übersetzung bedürfen,
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um nach der notwendigen Abstraktion wieder näher an das Handlungsfeld zu rücken. Durch die Konstruktion eines pflegerischen Tableaus versuche ich einen Ansatz vorzustellen, der die Performativität des Pflegerischen mit einer theoretischen Perspektive, wie er sich beispielsweise aus den Konstellationen der Strukturgitterkategorien ergibt, in eine gemeinsame Lesbarkeit bringen kann. Insofern hoffe ich, dass der Ansatz eines pflegerischen Tableaus auch für andere Forschungen Anknüpfungspunkte bieten kann. Die Perspektive Pflegepraxis: Diese Studie möchte die Wirklichkeit des Pflegerischen, den Gegenstand „Pflege“, vor allem aus einer Wahrnehmungsdifferenz der beiden unterschiedlichen Akteure in der Pflegesituation herleiten. Dabei ist es mir wichtig, dass die Pflegepraxis nicht mehr von einer Einheit ihres Gegenstandes ausgehen kann, sondern sich des Darstellungscharakters ihres Gegenstandes bewusster wird. Die Lesart auf den Gegenstand Pflege möchte ich komplexer gestalten und damit gerade Pflegenden mehr Mut machen, ihre Wahrnehmungen ernster zu nehmen und auszusprechen. Ich glaube auch aus meiner eigenen Pflegeerfahrung heraus, dass das pflegerische Tableau so wie ich es in dieser Studie herleite und begründe, dem, was Pflegende und was Betroffene während des Pflegevorgangs empfinden und wahrnehmen, eher entspricht als andere Gegenstandsauffassungen. Ich hoffe also, dass diese Thematisierung des Gegenstandes Pflege eine andere Wahrnehmungsbezogenheit im Pflegerischen Handlungsfeld befördern kann. Ich meine, diese Wahrnehmungsbezogenheit wird auch abhängig sein von einer Anerkennung der Darstellungsgrenzen des Pflegerischen. 1.4.1 Konstellativer Ansatz Diese Studie folgt in methodischer Hinsicht einem konstellativen Ansatz. In diesem Abschnitt geht es mir darum zu beschreiben, worum es bei der Konstellation als Methode geht. Die Konstellation stammt etymologisch betrachtet von dem Lateinischen constellatio und meint eine Gruppierung, ein Zueinander (vgl. Ritter/Gründer 1976: Sp. 988-992). Ihr erster Diskurs in dem sie eine begriffliche Funktion eingenommen hat, war die Sternenkunde (Astronomie) des Altertums. Darin bezeichnet sie sowohl die Gruppe die beispielweise Fixsterne durch die Position bilden, die sie zueinander einnehmen als auch die Lesbarkeit dieser Konstellation als Bild. Das Lesen der Sterne setzt einen bestimmten Zeitpunkt der Beobachtung voraus, während der fixen Konstellation eine gewisse Dauer zugesprochen wird. Ein neuzeitlicher Diskurs in dem die Konstellation eine wichtige Rolle spielte, war die Assoziationspsychologie, die vor dem Paradigmenwechsel zur Gestaltpsychologie wichtigste psychologische Ausrichtung. Hier geht man bei einer
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Konstellation grundsätzlich von einem organisierten Zueinander bewusster und unbewusster psychischer Inhalte aus (z. B. Lewin: Zusammenhang psychologischer Gesetze). In der Psychologie des 20. Jahrhunderts wird der Begriff der Konstellation verschwinden und schließlich taucht er in der kognitiven Psychologie gar nicht mehr auf (Ritter/Gründer 1976: Sp. 988-992). Diese Studie arbeitet auf Basis des konstellativen Ansatzes der kritischen Theorie Adornos. Adorno exemplifiziert diesen Ansatz in der Negativen Dialektik. Dabei geht es ihm in der Begründung für ein konstellatives Vorgehen um ein „Drittes“ (Adorno 1966: 166). Adornos Lesart der Konstellation richtet den Fokus auf das, was vom Sternenbild aus gedacht zwischen den zwei leuchtenden Fixpunkten entsteht. Er erkennt bei Max Weber beziehungsweise in seinen Studien zur Religionssoziologie diese Fähigkeit, in Konstellationen zu denken. Weber habe in diesen Untersuchungen zu dem Ursprung des Kapitalismus weder einem Positivismus noch einem Idealismus gefrönt, sondern einem geschichtsphilosophischen Befund: „der reale Gang der Geschichte nötigt zum Aufsuchen von Konstellationen“ (ebd.). Inhaltlich plausibilisiert Adorno diesen Ansatz unter Verwendung der Metapher „Kassenschränke“. Dazu darf man vielleicht so viel assoziieren wie „Tresor“, „Schatz“, „Verbergung“, „Sicherheit“, „Reiz und Ritual des Öffnens“. Er verwendet wohl relativ bewusst ein Wort wie „Kassenschränke“. Solche Schränke seien eben, wie die soziale Erscheinungswelt überhaupt, weder durch einen schlichten „Einzelschlüssel“ (= Begriff) noch durch eine „Einzelnummer“ (= Statistik) zu öffnen, sondern nur durch eine „Nummernkombination“ und ganz verschiedene, einzeln zu bewegende Drehrädchen (ebd.). Greb (2003) hat die konstellative Methodik in ihrer Dissertation sowohl für die Pflegewissenschaft als auch für die Pflegedidaktik gegenstandslogisch von Adorno her begründet. Diese Untersuchung versucht diesen komplexen Anspruch, wie er sich aus einem konstellativen Ansatz ergeben muss, auf verschiedene Weise nachzukommen: Diese Studie interessiert der Gegenstand Pflege vor allem als Konstellation, das heißt in der Verflochtenheit und Beziehung. So kann Pflege auf Darstellungen recht unterschiedlich gelesen und wahrgenommen werden. Gerade diese konstellative Lesart des Pflegerischen macht es möglich, Pflege als ein kulturelles Phänomen zu verstehen und interdiskursiv zu erforschen. Des Weiteren versuche ich an verschiedenen Stellen dieser Arbeit auch gezielt Konstellationen zu erzeugen: Zum Beispiel indem ich in Kapitel 2 Bilder aus verschiedenen Sphären (Politik, Zeitung, Werbung, Kunst) betrachte. Außerdem werden von mir sowohl bei der Bildanalyse als auch bei den theoretischen Ansätzen zum pflegerischen Tableau in Kapitel 3 stets verschiedene theo-
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retische Ansätze konstelliert (z. B. Lacan, Foucault). Des Weiteren setzt sich die historische Analyse (Kapitel 4) inhaltlich und auf der Darstellungsebene mit Darstellungen Nightingales auseinander. Ich hoffe in dieser Studie die in der Sache liegenden disparaten Sachverhalte in unterschiedlichen Perspektiven zur Sprache bringen zu können. Ich möchte die Zwischenergebnisse auch kritisch dahingehend prüfen, ob sie sich tatsächlich als „Nummern“ für eine weitere systematische Öffnung des Gegenstandes Pflege eignen werden − das bedeutet methodologisch ein Risiko einzugehen. Man hat mit einem konstellativen Ansatz eben nicht die eine, immer schon richtige Gangart gewählt, vielmehr geht eine konstellative Methodik mit einem für den Leser sichtbaren Prozess des Abwägens einher. Das bedeutet also die Konfrontation mit einem Selbstzweifel. 1.4.2 Darstellung Um die Konstellationen pflegerischer Darstellung zu erforschen, bedarf es meines Erachtens in einer systematisch angelegten geisteswissenschaftlichen Untersuchung einer genaueren Klärung des vorliegenden Darstellungsverständnisses. Diese Klärung erfolgt in dieser Studie in Auseinandersetzung mit kritischgeisteswissenschaftlichen Grundpositionen. Der Darstellungsbegriff ist eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters, wie Menninghaus durch eine Rekonstruktion dieses Terms seit Kloppstock gezeigt hat (Menninghaus 1994: 205-226). Ich orientiere mich grundsätzlich an der Menninghausschen Thematisierung dieses Terminus, bringt sie die Darstellung doch in die Nähe des Epochenbruchs, wodurch der Mensch als solcher in die Ordnung des Wissens eintritt (vgl. Foucault 1974: 373). Die für diese Untersuchung zentralen Positionen verbinden sich mit den Namen Freud, Benjamin, Auerbach, Gadamer und Derrida. Ich möchte nun ihre darstellungstheoretischen Perspektiven in konziser Weise referieren. Dazu spitze ich deren Positionen etwas zu. Psychoanalyse Sigmund Freud geht es in der Traumdeutung (1900) darum, die Darstellung des Traums in der Sprache der eigenen Seele wiederzuerkennen. Die Traumebene ist nicht gleich der sprachlichen, ist nicht eins zu eins zu erreichen. Dazwischen schieben sich latente und manifeste Sinngefüge, die den Trauminhalt dem Bewusstsein nachträglich entfremden.
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„Die Patienten […] erzählten mir ihre Träume und lehrten mich so, dass ein Traum in die psychische Verkettung eingeschoben sein kann, die von der pathologischen Idee her nach rückwärts in der Erinnerung zu verfolgen ist. Es lag nun nahe, den Traum selbst wie ein Symptom zu behandeln und die für letztere ausgearbeitete Methode der Deutung auf ihn anzuwenden.“ (Freud 1999 [1900]: 105)
Die zentrale Aufgabe einer gemeinsamen Deutungsarbeit zwischen Analysant und Analytiker läge nun darin, diese erzählte Darstellungsebene des gesprochenen Seelischen mit dem seelischen Ich im Traum wieder in Verbindung zu bringen. Die Darstellung des Traums zeigt sich bewusst als ent- beziehungsweise verstellt. Von daher geht die Deutungsarbeit ähnlich wie bei einem „Symptom“ nicht von einem theoretischen Standort aus. Sie beginnt bei dem, was sich zeigt, das heißt sie geht vom Material, von der konkreten Erzählung oder eben von der Darstellung aus. Die Deutung gelingt nur stückweise durch ein Erraten der im Traum begegnenden Motivik und den dahinter wirksamen Mechanismen des Primärvorgangs (Verdichtung/Verschiebung). Der Darstellungsbegriff zeigt sich aus der Lesart der Traumanalyse heraus als intersubjektive Reflexion über die Momente in der Traumdarstellung. Von diesem Konzept einer gemeinsamen reflexiven Arbeit an der Darstellung, welches eine andere Sichtbarkeit und die Erschließung eines neuen Sinns ermöglicht, ist meine Studie im Weiteren deutlich beeinflusst. Der neue Sinn geht einher mit dem Vorgang der Ent-Deckung, das 31 heißt der Freilegung der Überblendungen oder Entstellung. Erkennbar wird dieser neue Sinn meist durch Abbau der durch die Zensur festgelegten Grenzen, also den auf der Darstellungsebene wirksamen Widerstandselementen oder durch Einsichtigwerden in die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Darstellbarkeit eines psychischen Phänomens. Auch scheint es wichtig zu betonen, dass der neue Sinn – er ist weder der Sinn im Traum, noch der Sinn, den man anfänglich über den Traum annimmt – keineswegs ein sicherer Sinn sein muss. Man kann also an dieser Stelle weder von einem Diltheyschen Sinnbegriff im Sinne der Kongenialität noch von einem Heideggerschen ausgehen. Der psychoanalytische Sinn ist etwas Drittes.
31 Ein Beispiel findet sich auch in der Verneinung: Der Analysant erkennt seinen Einfall nicht an, nur durch einen Abwehrvorgang, durch seine Verneinung, wird selbiger sichtbar. Er sagt: „’[…] Die Mutter ist es nicht.’ Wir berichtigen: Also ist es die Mutter.“ (Freud 1999 [1925]: 11 [Hervorh. i. Orig.]). Freud meint hier nicht die Lösung für den Analysanten gefunden zu haben, sondern beschreibt, wohin man die gemeinsame Arbeit zu treiben hat.
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Kritische Theorie Walter Benjamin leitet seine Begründung der argumentativen Gangart zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1972 [1926]) direkt aus einer Reflexion des immanenten Darstellungsproblems der Philosophie ab. Wie ein Denken nach außen trete sei dieser Disziplin eben nicht sekundär, sei nicht einfach „bloße“ Methode. Benjamin formuliert im Anschluss an Platon und Hegel: das Problem liege in der Darstellung ihres Wesens begründet. Diese zweite Ebene der Darstellung bleibe wiederum einer ersten Ebene der Ideen verhaftet. Diese erste Ebene wird bezeichnet als „[…] im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist“ (Benjamin 1972: 18). Die Eigenkonstitution des Denkens bilde demnach gradewegs die Notwendigkeit ihrer Darstellung. Wie gelänge die der Philosophie? Eine dieser sprachlichen Repräsentation der Ideen angemessenen Darstellungsart sei zum Beispiel ein „zurückgehendes Erinnern“ (ebd.). Diese aus einer Darstellungsperspektive abgeleitete methodische Variation einer Anamnesis begründet Benjamins Mnemotechnik. Sie könnte man insofern strukturverwandt zu Freuds Vorstellungen über die Traumarbeit nennen. Literaturwissenschaft Erich Auerbach (2001 [1946]) ging es in seiner literaturtheoretischen Arbeit erst einmal nüchtern betrachtet um Aufhellung der Verhältnisrelation zwischen Literatur und Wirklichkeit. Die durch Schrift sichtbar werdende Ebene der Literatur könne als „dargestellte Wirklichkeit“ der historischen Realität betrachtet werden. In ihrer Darstellung wird durch ihre Analyse hindurch eine andere Ebene sichtbar. Für Auerbach ist es die einer historischen Wirklichkeit. Darin scheint sie wiederum der psychoanalytischen Traumarbeit in Bezug auf das Verhältnis Traumerzählung und Trauminhalt nicht unähnlich. In epochenspezifischen Vergleichsanalysen macht Auerbach auf Verwandtschaften und graduelle Unterschiede der Wirklichkeitsbezüge in der abendländischen Literaturgeschichte aufmerksam: beispielsweise im ersten Kapitel „Die Narbe des Odysseus“ differenziert er konkret zwischen der Sprache Homers und 32 der Erzelternerzählungen aus der Thora. Die Darstellungsebene folge jeweils ganz bestimmten Konstruktionsprinzipien, die zu beschreiben, zu analysieren selber etwas aussagt über die dargestellte Wirklichkeit und eben nicht primär über einen ästhetischen Mangel der Autoren. Das war noch das Argument Goethes und Schillers gegenüber der Undramatik von Homers Epen gewesen. Dieses
32 Gemeint sind damit die Erzählungen von Abraham/Sara bis Josef in der Genesis 1245 (50).
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klassische Argument erweise sich zum Beispiel als äußerlich. Homers aperspektivische und unzuspitzende Art des Schreibens sei so Auerbach, gerade Voraussetzung für eine in der Neuzeit und Moderne unbekannt gewordene Freude an der reinen Sinnlichkeit der wirklichen Welt. Dagegen folge die Erzelternerzählung keinem ästhetischen, sondern dem normativen Konzept eines fokussierenden, von außen aufruhenden, aber durchgängig im Hintergrund versteckt bleibenden Erzählers (was von Auerbach stark kritisiert wird). Er versucht zusammengefasst über die Darstellungsebene der Literatur immer wieder hindurchzuschauen auf etwas anderes, indem er ihre Satzkonstruktionen als Verhältnisbezüge vergegenwärtigt. In dieser Durchschau der textuellen Struktur entblättert er auf stets überraschende, mehr oder weniger evidente Weise historische Wirklichkeitsbezüge. In dieser Hinsicht konkretisiert Auerbach unter darstellungstheoretischen Prämissen auf literaturwissenschaftlichem Terrain das geschichtsphilosophische Projekt Hegels (und seiner Nachfolger) das unter anderem darin liegt, der (fiktionalen) Literatur eine bestimmte Öffnung zur „realen“ Geschichte 33 nachzuweisen. Hermeneutik Hans Georg Gadamers Darstellungsbegriff führt nicht wie bei den drei vorhergehenden, von einer darstellenden Ebene zurück auf eine erst im Denkprozess aufzuspürende wahrhaftigere Ebene. In „Wahrheit und Methode“ begründet er die Wahrhaftigkeit der Ebene der Darstellung als solche und zeigt, dass ihr bereits einiges vorausgehen muss: „Das mimische Urverhältnis […] enthält also nicht nur, dass das Dargestellte da ist, sondern auch, dass es eigentlicher ins Da 34 gekommen ist.“ (Gadamer 1999 [1960]: 120) Radikalisierter: Die Darstellung hole das Wesentliche erst hervor. Er reflektiert (ähnlich wie Schiller in den ästhetischen Briefen) über das, was im einfachen „Spiel“ passiert, über das bloß Dargestellte hinaus. Indem er methodisch nah bei Auerbach, inhaltlich nah bei
33 An dieser Stelle sei bereits erwähnt, dass der ästhetische Theoretiker Theodor W. Adorno diese Verhältniskonstruktion zwischen historischer Wirklichkeit und Kunstwerk unter der Doppelperspektive eines negativ-dialektischen und materialistischen Gesellschaftsansatzes aufgenommen hat. Ich werde mich dem im 5. Kapitel dieser Untersuchung genauer zuwenden. 34 Zum “eigentlich” vgl. Adornos Kritik vom „Jargon der Eigentlichkeit“ (1966: 133f.): „Das existentiale Denken verkriecht sich in die Höhle der vorvergangenen Mimesis.“ Gadamer verkriecht sich meines Erachtens nicht in diese Höhle, sondern versucht die Darstellung der Höhlenbilder performativ lesbar zu machen.
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Benjamin fragt, wie dies Spiel konstitutiv zustande kommen kann. Dieser Konstitutionsvorgang des Spiels bedeutet für Gadamer nicht weniger als die geschichtliche Konstruktion einer neuen Präsenz (Gadamer 1990 [1960]:113). Dieses Prinzip zur Selbstdarstellung entstamme der „Natur“. Wie angreifbar diese schillersche (und darin kantische) Begründung Gadamers erst einmal erscheinen mag, sei dahingestellt. Das Spiel öffnet die Perspektive auf die Darstellungsebene menschlicher (inklusive pflegerischer) Handlungen, insofern alle Handlungen zwischen Menschen immer auch Spielanteile haben, das heißt nach Gadamer sich selbst darstellen wollen. Poststrukturalismus Mit Jacques Derrida wird die Reflexion über Darstellung, verstanden als Repräsentation, komplexer. Dadurch, dass sich das Dargestellte mit dem Darzustellenden mischt, ergibt sich eine Verflechtung die von Derrida mitreflektiert wird. In seiner Grammatologie heißt es: „Die Repräsentation verflicht sich mit dem, was sie repräsentiert […]“ (Derrida 1983 [1967]: 65). Die Vernunftkonzeptionen der Neuzeit und Moderne haben versucht diese Verflechtung analytisch zu trennen, was eben nach Derrida nicht mehr gelingen könne. Schließlich erfährt man nämlich einige Konsequenzen aus diesem Versuch: „dies geht so weit, dass man spricht wie man schreibt, dass man denkt, als wäre das Repräsentierte lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden.“ (Ebd.) Die Begriffe Schatten und Reflex deuten bereits die Richtung an, in die Derrida argumentiert. Eine vollkommene Entflechtung der Ebene 1 (das Dargestellte), Ebene 2 (das Darzustellende) und der dadurch sich konstituierenden Ebene 3 (das Verhältnis zwischen Ebene 1 und 2) kann mit Derrida nicht mehr angenommen werden. Diese (platonische) Grundordnung der Repräsentation zwischen Urbild und Abbild oder Darzustellendem und Dargestelltem wird grundsätzlich angefragt. Sie folgt wohl eher einem verheimlichten Begehren, das unter dem Primat einer überheblichen Vernunftkonzeption seine Spuren versucht zu tünchen: „Gefährliche Promiskuität, unheilvolle Komplizenschaft zwischen Reflex und Reflektiertem […]. In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprungspunkt ungreifbar.“ (Ebd.) Wer dieses Spiel mit Derrida begonnen hat und sich fragt, wohin die Entflechtung der Garne führt, wird nicht in den einen sicheren Ausgangspunkt fliehen können. Die Ent-Flechtung oder Ent-Faltung einer Darstellung wird statt der Sicherheit ihrer Übersichten weit eher die mit Unsicherheit beschenkte Sicherheit produzieren, die darin liegen wird, selber, das heißt in der eigenen Darstellung weitere Flechten zu produzieren:
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„Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz. Was sich betrachten lässt, ist nicht Eins, und es ist das Gesetz der Addition des Ursprungs zu seiner Repräsentation, des Dings zu seinem Bild, dass Eins plus Eins wenigstens Drei machen.“ (Ebd.)
Zusammenfassung des kritisch-geisteswissenschaftlichen Bezugshorizonts Durch die Erfordernisse der Fragestellung dieser Studie wurden verschiedene Ansätze rekonstruiert: Psychoanalyse (Freud), Geisteswissenschaft (Auerbach, Gadamer) und Kritische Ansätze (Benjamin, Adorno, Derrida). Zu der Frage nach der Darstellung des Pflegerischen ergibt sich auf Basis dieser Ansätze ein kritisch-geisteswissenschaftlicher Bezugshorizont. Der Darstellungsbegriff kann zu der pflegeberuflichen Handlung also verschiedentlich positioniert werden. Mit dem Darstellungsbegriff kann die Pflegehandlung angesprochen werden oder ihre Repräsentation im Bild oder in der Narration. Darstellung kann bezogen werden auf die Darstellung der pflegeberuflichen Handlung im Sinne ihrer Realisierung. Oder es kann eben auch die symbolische Repräsentation der pflegeberuflichen Handlung im Medium von Sprache, Bild oder Musik gemeint sein. Auf der einen Seite böte also der Darstellungsbegriff die Möglichkeit, wissenschaftlich auf die Situationsspezifik der Pflege zu reagieren. Auf der anderen Seite bietet er die Möglichkeit, die Grenzen der wissenschaftlichen Darstellbarkeit zu thematisieren. Vielleicht ahnt man bereits, was passiert, sobald man nach Darstellung fragt: nämlich dass man sich immer zumindest gleich zwei Probleme einhandelt. Es ist diese Faltung, die im bisherigen Pflegdiskurs kaum größere Beachtung gefunden hat. Sie übersetze ich nun in zwei Fragestellungen, die ich stets gleichzeitig und gleichrangig in ihren Impulsen aufnehmen werde, wenn ich Überlegungen zu der darstellungstheoretischen Öffnung des Pflegerischen anstelle: Wie stellt sich das Pflegerische kulturell dar und wie stelle ich das Pflegerische dar?
2 Bildanalyse: Zur Darstellung des Pflegerischen
Auch wenn es im Pflegediskurs einige Untersuchungen gibt, die den Bildbegriff thematisieren, so fehlt doch bislang eine systematische Untersuchung zu Pflegebildern. Das markiert nicht nur hinsichtlich des eingangs betonten Wahrnehmungsaspekts vom Gegenstand „Pflege“ für die Pflegewissenschaft eine erhebliche Forschungslücke, sondern lässt auch negative Auswirkungen für die Lehre von Pflege und somit für die Pflegedidaktik erwarten. Gerade vor dem Hintergrund der meines Erachtens ungeklärten Frage, wie man als Pflegender und Pflegeschüler eine Haltung zu der Ausgangsdifferenz des Pflegerischen entwickeln soll, bieten Bilder gute und anschauliche Möglichkeiten zur didaktischen Problematisierung, Thematisierung und Bearbeitung an. Indessen gibt es aber bereits einige pflegewissenschaftliche und pflegedidaktische Studien, die mit dem Bildbegriff arbeiten. Auf die Wichtigsten möchte ich im Folgenden näher eingehen. Dabei nehme ich die Perspektive aus der eigenen untersuchungsleitenden Fragestellung auf: Zunächst möchte ich auf die Arbeit Nursing the Image von Hallam (2000) aus dem englischsprachigen Pflegediskurs verweisen. Bereits der Titel legt nahe, dass es zwischen Pflege und Bild eine interessante Verbindung geben könnte. Denn es geht hierbei nicht nur um das Image von Pflege, sondern ganz offensichtlich auch darum, welches Image pflegen Pflegende? Hallam hat unter Aufnahme einer kritisch-feministischen Perspektive gesellschaftliche Diskurse in England seit den 1950er Jahren hinsichtlich ihrer Ideologiebildung befragt. In ihrer Studie wird also eine ideologiekritische Perspektive auf Berufsbilder und Rollenbilder gelegt. Gegenstand der Untersuchung bilden primär Texte, aber auch Bilder und Filme. Diese stammen sowohl aus dem öffentlichen als auch aus dem klinisch-pflegerischen Diskursrahmen. Hallam interessiert sich vor allem für die diskursiven Ursachen der Identitäts-, Selbst- und Habitusausformung der Pflegenden. Konkrete Bilder dienen Hallam immer wieder zur Illustration be-
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stimmter gesellschaftlich vermittelter Selbstkonzepte, wovon eines zum Beispiel die Konstruktion der „proper nurse“ (die sittsame/ordentliche/schickliche Krankenschwester) ist. Hallam legt mit ihrer Studie den Gedanken nahe, dass Pflegende in der englischen Gesellschaft vor massiven Identitätsproblemen stehen. Im deutschsprachigen Diskurs sei die pflegewissenschaftliche Studie „Leitbilder in der Pflege“ von Elke Müller (2001) erwähnt. Diese Studie macht den Bildbegriff bereits im Titel stark: Basis ihrer empirischen Studie sind problemzentrierte Interviews mit Pflegenden. Aus diesen Interviews rekonstruiert sie drei Leitkategorien: 1. „Pflege ist (auch) Beziehungsarbeit“, 2. „Was Pflege nicht mehr sein soll, was Pflege noch nicht ist“ und 3. „Hat das noch mit Pflege zu tun?“ (Müller 2001: 159f.) Die Studie von Müller gibt durch das differenziert aufbereitete Interviewmaterial eine gute Einsicht in die Einstellungen und Perspektiven von Pflegenden zu dem Gegenstand „Pflege“. Beispielsweise äußert eine Pflegende im Interview: „Also das ist eine schwierige Sache, das wirklich deutlich zu machen, zu definieren: Was ist Pflege eigentlich? […].“ (Ebd.: 164) Dabei stehen neben der Beziehungsfähigkeit Fragen nach der Abgrenzung des eigenen Handlungsfeldes im Vordergrund. Da diese Grenzen im Pflegeberuf von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle erheblich variieren können, bilden Pflegekräfte, wie Müller zeigt, dazu konkrete Konzepte. Hinsichtlich der Darstellung der eigenen pflegerischen Arbeit wird von einer Pflegenden auch konkret ein oftmals empfundenes Darstellungsproblem benannt. Darunter versteht sie das Problem, den Wert, den Umfang und die Leistung der eigenen Arbeit nach außen darzustellen: „Ja das ist eben dieser Punkt Darstellung. […] dass ich, glaube ich, gar nicht so in der Lage wäre, das so gut darzustellen. Ich meine, ich mich jetzt hier irgendwie (…), aber ich denke, dass wir oder ich auch ‚ne ganze Menge leisten, aber ich kann das, glaube ich, ganz schlecht rüberbringen.“ (Ebd.: 269)
Wenn diese Äußerung ein im pflegerischen Handlungsfeld übliches Verständnis von Darstellung enthält, so zeigt sich das Darstellungsverständnis hier als reduziert. Denn es geht diesem Verständnis nach nur um die Darstellung der Pflegearbeit nach außen. Das Verständnis, wie ich es in dieser Untersuchung zeigen möchte und wonach Pflege als Gegenstand ohne Darstellung nicht vorkommt, unterscheidet sich sehr stark von der Voraussetzung dieser Äußerung. Demnach wäre das Dargestellte (die Pflege also) als sicher anzunehmen. Laut dieser Aussage bedeutet Darstellung im pflegerischen Handlungsfeld nämlich erst dann ein Problem, wenn die eigene Pflegearbeit nachträglich im Team, gegenüber den
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Vorgesetzten oder gegenüber Dritten anders thematisiert wird, als es im Sinne derjenigen Pflegenden ist, die diese Pflegearbeit tatsächlich geleistet haben. Die Pflegenden fühlen sich oftmals nicht in der Lage ihre Arbeit gut „rüberzubringen“. Die Pflegearbeit zeigt sich offenbar als schwer übersetzbar. Ich glaube aber, dass dieses formulierte Darstellungsproblem deutlich macht, dass Pflegenden oftmals nicht klar ist, dass ihre Arbeit mit Darstellung und zur Darstellung bringen zu tun hat. Zudem denke ich, dass dieses Darstellungsproblem auf ein grundsätzlicheres Darstellungsproblem verweist, das mit dem Darstellungscharakter des Pflegerischen selbst zu tun hat. Insofern beträfe das angesprochene Darstellungsproblem der Pflegerin nämlich bereits die Darstellung einer Darstellung. Ich möchte also zeigen, dass Pflegearbeit als eine Darstellung zu lesen ist. Dafür bedarf es eines Gegenstandsverständnisses von Pflege, das es zulässt, Pflege als Darstellung sichtbar werden zu lassen. Bilder sind als solche wie gesagt kaum als Gegenstand pflegewissenschaftlicher Analysen auffindbar. Auch im pflegedidaktischen Diskurs stehen Bild wie auch Medium sowie die Begriffe des Bildes und des Mediums bislang eher im Dunklen. Ein weiterer öffnender Umgang mit dem Bildbegriff findet sich im Pflegediskurs zu der Frage nach dem Körperbild. Bei dem Begriff des Körperbildes wird vor allem versucht diejenigen Phänomene, wie sie im Zuge starker Veränderungen des Körpers und damit einhergehend auch der Körperwahrnehmungen von Betroffenen vorkommen, besser zu verstehen (vgl. Salter 1998): Beispielsweise können diese Veränderungen durch Operationen (z. B. Anlage eines Stomas oder Entfernung einer Brust bei Mamma-CA) bedingt sein, nach akuten Erkrankungen in Folge eines Schlaganfalls (z. B. beim Neglect) auftreten oder durch chronische Erkrankungen wie Essstörungen (z. B. Anorexia nervosa) hervorgerufen werden. Meist lässt sich das Bild in diesen Fällen im Sinne einer statischen Bewertungsfolie charakterisieren, vor deren Hintergrund eine realistische Sichtweise auf den eigenen Körper massiv erschwert beziehungsweise verunmöglicht wird. Die Pflegedidaktikerin Ulrike Greb (2003: 169) rekonstruiert die Kategorie der Leibentfremdung aus der Sicht Betroffener auf ihren Körper. Angesprochen werden darin Erfahrungen, wie sie sich durch extreme körperliche Veränderungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Anlage eines Stomas, ergeben können. Greb schreibt: „Es gibt Körperfunktionen, die jeder gesunde, erwachsene Mensch beherrscht; büßt er diese Kontrolle ein, so erleidet er einen objektiven Verlust, der sein Körperempfinden beeinträchtigen wird. Doch daraus folgt keineswegs, dass sein Körperempfinden vor dem Verlust weniger entfremdet gewesen ist. Ein Körperbild, das ausschließlich auf Beherrschbar-
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keit und Optimierung aller Körperfunktionen ausgerichtet ist, jenes Bild also, das in den industrialisierten Gesellschaften mehr und mehr zum Leitbild wird, ist weit davon entfernt, ‚natürlich‘ zu sein: es ist im Gegenteil das Ergebnis eines gesellschaftlichen Vermittlungsprozesses, der zu extremen Formen der Entfremdung führen kann, bis hin zu einem vollständig verinnerlichten Herrschaftsverhältnis.“ (Ebd.: 166)
Das Bild bekommt in diesem Zusammenhang die Funktion, das gesellschaftlich Sozialisierte zu repräsentieren: es erscheint wie eine Folie oder ein gesellschaftlicher Bezugshorizont, dem sich die reale Körperwahrnehmung unterzuordnen hat. Insofern deutet sich dadurch ein Verhältnis von Herr (gesellschaftliches Körperbild) und Knecht (individuelle Körperwahrnehmung) an. Dieses Verhältnis reproduziert eine Herrschaftsstruktur, wobei gerade das individuelle Erleben enteignet erscheint. Aus der Enteignung resultiert eine Entfremdung des Leibes. Neben dem Diskurs zum Körperbild begegnet das Bild dem Leser in der pflegedidaktischen Arbeit Grebs (2003) auch – ähnlich wie bei Hallams Nursing the Image und Müllers Leitbild – im Zusammenhang mit „Berufsbildern“ und „Rollenbildern“ der Pflegenden. Zu dieser Frage nach der Darstellungsproblematik der Pflege im öffentlichen Raum hat Grebs Arbeit einen grundlegenden Beitrag geleistet: Ihre Analyse des gesellschaftlichen Berufsbildes führt im Rahmen ihres hochschuldidaktischen Ansatzes zur Begründung der Widerspruchskategorie „Tradition und Emanzipation“ (vgl. ebd.: 219-255). Im Rahmen dieser Kritik an Berufsbildern der Pflegenden bekommt der Bildbegriff gegenüber dem Gesagten zwar keinen neuen Bedeutungsgehalt, aber das Bild wird inhaltlich konkretisiert und präzisiert. „Das geschichtliche Bild“ der Pflege erhält in der Argumentation Grebs die Funktion des Statischen (ebd.: 223), das Pflegende einzwängt in das gesellschaftliche Klischee eines im Grunde von Jedermann zu bewerkstelligenden Handlungsgefüges. Dieses Handlungsgefüge bestehe aus gesellschaftlicher Sicht aus lauter banalen Tätigkeiten wie ankleiden, waschen, anziehen etc. Dieses Bild persistiere in der deutschen Gesellschaft, verhindere die Professionalisierung und – wie Greb deutlich macht – eine reflektierte Identitätsbildung von Pflegenden. Von Letzterer wäre zu sprechen, wenn Pflegende in Aus- und Weiterbildungen ein Berufsbild erwerben könnten, das ohne die Introjektion der gesellschaftlichen Abwertungsmechanismen auskommt. Es wird also deutlich, dass im Zusammenhang mit dem Bildbegriff im Pflegediskurs in zwei Richtungen Darstellungsprobleme in den Blick kommen: zum einen durch die ideologiekritische Betrachtung von Berufsbildern und den damit einhergehenden Klischees der Pflegeberufe (z. B. Die kaffeetrinkende Krankenschwester im Dienstzimmer) und zum anderen durch das Körperbild, was ein
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Problem für das pflegerische Verhältnis zum Betroffenen bedeutet. Sowohl Berufsbild als auch Körperbild werden von den meisten Autoren als gesellschaftlich bedingt angenommen. Somit wird auch eine Diskrepanz zur individuellen Situation spürbar. Das Bild steht aus ideologiekritischer Perspektive also oftmals für die negative Einflusssphäre und das, was es durch eine aufklärerische Form der Kritik zu überwinden gilt. Die pflegewissenschaftliche und pflegedidaktische Thematisierung des Bildes macht deutlich, dass die Pflege im Verhältnis zum sozialen Raum ein Darstellungsproblem hat. Vor allem betrifft das die Position der Pflegenden und ihren Beruf in der Gesellschaft. Es wird also deutlich, dass das Bild stets die Dimensionen des Gesellschaftlichen beziehungsweise Kulturellen mit ins Spiel bringt. Es ist meines Erachtens wichtig, diese Dimensionen bei einer Analyse der Darstellungen zu berücksichtigen (z. B. durch Aufnahme der Frage nach der Politik des Bildes). Ich möchte im Folgenden Pflegebilder daraufhin untersuchen, welche Spuren sie vom Pflegerischen enthalten. Was lässt sich vom Pflegerischen an, durch oder in den Bildern erkennen? Insofern suche ich zunächst nach Bildverständnissen, die einen Zugang für eine kritisch-geisteswissenschaftliche Analyse des Problems Wie stellt sich das Pflegerische dar? ermöglichen. Ich denke, dass die Analyse der Bilder die Frage nach dem Gegenstand "Pflege" weiter stützen kann. Dabei geht es mir im folgenden Untersuchungsabschnitt zunächst einmal primär um die Untersuchung der Wahrnehmungsqualität des Sehens, während die anderen Wahrnehmungsqualitäten (Hören, Riechen, Schmecken, Tasten), die mir für die Realität des Pflegerischen zumindest als ebenso wichtig erscheinen, über den Zugang des Bildes weniger zugänglich sind. Die folgenden exemplarischen Analysen versuchen also in der Beschreibung von den Spuren des Pflegerischen im Bild auszugehen. Dabei wird die Darstellung des Pflegerischen dem Blick zugänglich.
2.1 E XPOSITION : L ESARTEN
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Bevor konkret einige Bilder des Pflegerischen einer Bildanalyse unterzogen werden, scheint es mir darum zunächst einmal ratsam, sich auf den neueren Bilddiskurs und einige seiner Theoreme einzulassen. Dieser Diskurs bietet die Möglichkeit, sich über das „Bild“ als Gegenstand und dessen Befragungsmöglichkeiten genauer zu informieren. Die Vergegenwärtigung zentraler Positionen dieses Diskurses wird die eigene bildanalytische Methodik anleiten, begründen und absichern.
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2.1.1 Bild, Darstellung, Bilddiskurs Pauschal betrachtet darf ein „Bild“ als Darstellung oder Repräsentation eines an1 deren gelten. Zu dem „Bild“ formiert sich seit geraumer Zeit ein eigener Dis2 kurs. Angesichts der Vielzahl der Bilder ist es diesem Diskurs allein nicht möglich sämtliche Bilder zu repräsentieren. Diese „Flut“ bleibt ein, aber nicht das einzige Faktum zum Bild, dass manche Autoren veranlasst hat von einem Leben 3 nach den Bildern zu sprechen (vgl. Rancière 2005 26-31). Ein wissenschaftlich
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Nüchtern betrachtet: „Was (Re-)Präsentationen leisten, ist Stellvertretung in Vorstellungen und/oder Darstellungen. Dass sie das leisten ist nicht umstritten. Fraglich ist, wie sie es leisten.“ (Sandkühler 2009: 61) Kritisch betrachtet: „Bilder waren immer nur Denkmäler, Gedächtnisstützen für die Zeit nach dem Untergang der Dinge. […] Das Entscheidende bleibt vor lauter Transparenz verborgen, es sei denn, man lernt zusammenzusehen […]: die biopolitische Enteignung der Körper, die Entmachtung der sublunaren Symbolik durch binäre Codierung, die Pornographie als visuelle Banalisierung des weiblichen Geschlechts und den Rückblick vom Mond als eine suggerierte Gleichgültigkeit. Das sind Grundzüge einer weitausgreifenden Kalifornisierung der Welt, die sich als Abschied von der Erde, als Praxis einer Himmelfahrt inszenieren.“ (Kamper 1997: 50) Ablehnend betrachtet: Brandt lehnt den Begriff der Repräsentation für das Bild strikt ab, definiert aber in einer kriminologisch gefärbten Sprache des Tatbestands folgendes: „Das Wort ,Bild‘ soll demnach vornehmlich so verwendet werden, daß ,Bild‘ einen anschaulichen Tatbestand bezeichnet, der für die Betrachter in und durch seine Farben und Formen und Helligkeiten einen Sachverhalt sichtbar macht und zu erkennen gibt, der er selbst nicht ist.“ (Brandt 1999: 12, 20f.).
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Dieser wissenschaftliche Diskurs des Bildes ist klassischer Weise die Kunstgeschichte. Sie ist im Gegensatz zu ihrem Objekt der Kunst noch sehr jung („Verspätung von 165 Jahrhunderten“, Didi-Huberman 1990: 9). Dieser kunstgeschichtliche Diskurs wird durch den Bilddiskurs stark erweitert beziehungsweise interdisziplinär aufgebrochen (vgl. Sachs-Hombach 2005).
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Rancière leistet eine Kritik an dieser semiotischen Haltung (Barthes, Breton) zum Bild, die in einer Sackgasse einer verstetigten „Trauerarbeit um das ,Ende der Bilder‘, der verlorenen Kunstformen und der Lebensformen“ festgefahren sei. „[…] Trauerarbeit macht müde, so wie jede Arbeit“ (Rancière 2005: 30). In neuer Stoßrichtung buchstabiert Kruse (2007: 166, 180) den Gedanken „nach den Bildern“ aus: Dank Klontechnik sei offenbar das „Bildsein der Bilder“ überwunden. Die Klonschafe „Dolly und Polly sind deshalb weder Natur noch Kunst. Sie sind auch kein Bild mehr nach der Definition des Bildes als Differenzbegriff. Als wahrgewordene Phantasmen sind sie Kulturprodukte nach den Bildern.“ Die Bilder beherbergen im Unterschied zu
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ausgerichteter Bilddiskurs kann also nur immer einige Bilder thematisieren und analysieren. Insofern bedeutet es auch eine wichtige Aufgabe von Forschern Bilder auszuwählen, um die sich herum oder zu denen sich ein Diskurs formieren 4 kann oder soll. Ein wissenschaftlicher Diskurs zum Bild thematisiert Bilder im Medium der Sprache. In dieser Hinsicht haben wir also immer zwei Repräsentationsformen des Bildes zu bedenken: das Bild als Begriff (vgl. Belting 2007: 15) und das Bild 5 als Bild (vgl. Rancière 2005: 18). Man kann sagen, wer dieses Verhältnis zwischen sprachlicher und ikonischer Repräsentation problematisiert, thematisiert 6 oder differenziert befindet sich im Bilddiskurs. Von diesem Diskurs im Singular zu sprechen, sitzt aber schon einem Risiko auf. Die Einzahl riskiert die mannigfachen Perspektiv- und Gegenstandsunterscheidungen in diesem Diskurs zu Gunsten einer begrifflich erheischten Einheitlichkeit zu unterschätzen. Gegenwärtig trifft man in diesem Bilddiskurs auf etliche unterschiedliche, indessen mit einer jeweilig legitimierten Autonomie ihrer Perspektiveinnahme ausgestatteten Richtungen: kunstgeschichtliche (vgl. Kaemmerling 1987), religionsgeschichtliche (vgl. Blasche, Gutmann, Weingarten 2004), anthropologische (vgl. Didi-Huberman 1999; Sloterdijk 1998, 1999; Belting 2001; Brändle 2007), psychoanalytische (vgl. Tisseron 2007; Meyer-Kalkus 2007; Pazzini 2005: 241-280), naturwissenschaftliche, hermeneutisch-sinnbe-
„Dolly und Polly“ aber ein Versprechen darauf, dass etwas zurückkommen könnte. Während Klone im Grunde nichts versprechen, außer sich nicht wirklich zu realisieren, wobei es ihnen genau nicht gelingt, das zu halten. Ihr Leben scheint als Nachleben schon gelebt. Ihre Zukunft hat eine Gegenwart im Gestern. Es ist jetzt abgeschlossen. Das Bild der Klone hat aber sehr wohl die Option auf etwas anderes. Es zeigt nicht nur auf das Leben davor, sondern versteckt auch auf ein Leben danach, in dem das Objekt (in diesem Fall der Klon) sich gegenüber seinem Diskurs emanzipiert hat. Wetzel (2004: 186) hat für diesen Komplex eine offene Abrundung gefunden: „Es gibt kein letztes Bild. […] Es gibt nur Bilder nach Bildern – unberechenbar, unvorhersehbar, unlesbar.“. 4
Das kann den Anlass bieten, das Verhältnis zwischen Diskurs und Bild als Gewaltverhältnis zu denken. „Zwischen Bild und (philosophischem oder theoretischem) Diskurs gibt es eine lange Tradition von Gewalt und Gegengewalt“ (Nancy 2006b: 39).
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Rancière (2005: 18) nimmt von daher zwei „Vermögen“ des Bildes an: „das Bild als
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Belting (2007: 22): „Die Bildwissenschaften sind zu einer Orchestrierung verschiede-
rohe sinnliche Präsenz und das Bild als Diskurs, der eine Geschichte verschlüsselt.“. ner Fachdisziplinen aufgerufen, um sich dem Thema ,Bild‘ in einem methodischen Lernprozess zu nähern.“.
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zogene (vgl. Gadamer 1999; Boehm 2007), ideologiekritische (vgl. Diers 1997; Mitchell 2007a, b) und zeichen- beziehungsweise medientheoretische (vgl. Flusser 2000), um nur einige und die auch nur vergröbert (d. h. ohne ihre inneren 7 Verwicklungen oder Ausdifferenzierungen) zu nennen. Parallel zu der Perspektivenvielfalt zeigt sich auch eine Gegenstandsvielfalt. Diese ist derzeit wohl einzig in der vergleichsweise dünnen These vereint, dass das Bild zumindest für die außerhalb eines kunstgeschichtlichen Erkenntnisinteresses operierenden Disziplinen ein relativ neues wissenschaftliches Erkenntnisobjekt markiert. Ein Grund für die Neuheit ist, dass das Bild erst aus verschiedenen Zusammenhängen befreit werden musste: so spricht man von der kultischen, religiösen, philosophischen, kunstästhetischen und sprachwissenschaftlichen Befreiung des Bildes. Seither ist als Bild vom Gemälde bis zum Filmstill, vom sonografisch erzeugten Digitalbild (z. B. von Föten) bis zum retuschierten „Schlagbild“, vom materiellen Bildträger (eng. picture) bis zum inneren Wahrnehmungsbild (fr. image; lat. imago) alles im Spiel (vgl. Belting 2007: 14-20). 2.1.2 Ableitung, Konkretion, Position Man kann aus diesen ersten Diskursbeobachtungen nun schon zwei Thesen für eine Analyse von Diskursen unter bildtheoretischen Gesichtspunkten entwickeln: Die eine wirkt beruhigend und besagt, dass es für eine systematisch orientierte Analyse wegen dieser Vielfalt primär darauf ankommt, eine Untersuchungsperspektive und einen Untersuchungsgegenstand jeweils genau auszuweisen und zu begründen. Mit der bekannten Folge: Jedes untersuchte Bild bedeutet, sagt, zeigt aus einer bestimmten Perspektive das oder eben das und das nicht. Die andere These wirkt beunruhigend und besagt, dass das Bild bei der Ausformung dieser diskursiven Perspektive schon da ist und dass das, was man
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Sachs-Hombach (2005: 5-7) unterscheidet zwischen Grundlagendisziplinen (Kognitionswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Kunstgeschichte, Mathematik und Logik, Medienwissenschaft, Neurowissenschaft, Philosophie, Rhetorik […]), Historisch orientierten Bildwissenschaften (Archäologie und Prähistorie, Ethnologie, Geschichtswissenschaft, christliche Theologie), Sozialwissenschaftlichen Bildwissenschaften (Erziehungswissenschaft, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie), Anwendungsorientierten Bildwissenschaften (Computervisualistik, Kartografie, Typografie […]) und der Praxis moderner Bildmedien (Bildende Kunst, Kommunikationsdesign, Bildsystem Fotografie […]). Diese Unterteilung zeigt mehr den Wunsch nach Orientierung im Diskurs um die Bildwissenschaften als dass sie orientiert.
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sieht, nicht unbedingt etwas mit dem Bild zu tun haben muss. Dass eben die Konstitution einer wissenschaftlichen Perspektiveinnahme nicht gänzlich frei zu machen ist vom Bild (wie es beispielhaft Hegels Logik intendierte), haben die beiden Forscher Boehm und Mitchell in dem von Belting herausgegebenen Band „Bilderfragen“ unter Bezugnahme auf unterschiedliche Begründungstheorien versucht zu belegen. Ich folge diesem Diskurs, um dieses Moment der Beunruhigung zu klären. Boehm geht es seit 1994 erklärtermaßen darum, Gadamer und Blumenberg weiterdenkend, den von Rorty (1967) bezeichneten linguistic turn (ausgehend von Wittgensteins unscharfen „Familienähnlichkeiten“) in einer Konsequenzlogik zum Bild hin zu bestimmen: Diese These einer neuartigen Hinwendung des modernen turns zur Sprache enthalte bereits eine immanente Konsequenz für eine Wendung zum Bild. Boehm schreibt: „Das Bild als Logos, als einen sinnstiftenden Akt zu verstehen: diese Vision eines nonverbalen, eines ikonischen Logos war, kurz gesagt, meine Motivation, dem verstärkten Interesse am Bild […], an Bildern, eine paradigmatische Bedeutung zuzumessen […].“ (Boehm 2007a: 29)
Diese neue Lesart des Bildes als Logos meint den sogenannten iconic turn. Die durch diesen Turn bedingte Verständnisänderung hat eine Neuausrichtung einer sprachzeichen- und zahlendominierten Logozentrik zur Konsequenz. Boehm spricht angesichts seines mit dem Logosbegriff weit gewählten Bezugsrahmens zu Recht von „einem Projekt mit langer Perspektive“ (ebd.). Die von Boehm be8 vorzugte differentia spezifica „ikonisch“ meint genau nicht das bildliche Zei9 chen, das „Icon“ von Peirce , indem es nämlich „das Bild zugleich als Gegenstand wie als Verfahren“ verstanden wissen möchte (ebd.: 32). Damit grenzt er sich auch ab von der Tradition einer klassisch hermeneutisch orientierten Ikono10 graphie im Sinne eines Panofsky (1980: 30-41). Boehm folgt als Kunstge-
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Dieses Adjektiv findet sich auch schon bei Peirce. Zur Erinnerung: „Ein Zeichen ist entweder ein Ikon, ein Index oder ein Symbol. Ein Ikon ist ein Zeichen, das auch noch dann die Eigenschaft besitzen muß, die es zu einem Zeichen macht, wenn sein Objekt nicht existiert, so wie ein Bleistiftstrich, der eine geometrische Linie darstellt.“ (Peirce 1898/99, 1901/02: 375).
10 Inwiefern sich diese Grenze angesichts der Panofskyschen Ikonologie als so besonders zwingend erweisen kann, überlasse ich dem kunstgeschichtlichen Diskurs. Vgl. z. B. die Positionen zur Ikonologie (Panofsky/Liebmann/Pächt/ Gombrich/Bätschmann)
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schichtler einem neueren hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Hintergrund (Habilitation bei Gadamer 1974). Im Unterschied zu dem iconic turn Böhms arbeitet Mitchell seit den 1990er Jahren an einem pictorial turn. Neben der Auseinandersetzung mit Panofsky verortet Mitchell seinen turn mit Bezug auf amerikanische Autoren der Medienwissenschaft, wie McLuhan oder Irvins, französische Denker wie Foucault, Derrida und Deleuze, die Ideologiekritik (Frankfurter Schule, Althusser) und analytische beziehungsweise Sprachphilosophie (Peirce und Goodman) (vgl. Mitchell 2007a: 41f.). Mitchell konfrontiert verschiedene Denkstile, beispielsweise durch die bewusste Konstruktion einer Begegnung zwischen Erwin Panofsky und Louis Althusser. Damit „[…] wollte ich nicht nur eine ideologische Kritik Panofskys, sondern auch eine solche Althussers in dem Sinne entwickeln, dass schon der Begriff der Ideologie in einem Bildrepertoire wurzelt“ (ebd.: 45). Die beiden haben insofern unterschiedliche Begründungsfiguren für die systematische Betrachtung von Bildern. Zudem findet man bei ihnen unterschiedliche Herangehensweisen an die beschriebene Differenz zwischen Bild als Bild 11 und seinem Begriff. Während Boehm durch die Sinnverpflichtung eigentlich
bei Kaemmerling (1987) oder Grave (2009). Didi-Huberman setzt sich durch Aufnahme der psychoanalytisch durch Freuds 6. Kapitel der Traumdeutung formulierten Grenzen der Darstellbarkeit im vierten Kapitel seiner kunstgeschichtlichen Auseinandersetzung „Das Bild als Riß und der Tod des Fleisch gewordenen Gottes“ von Panofsky deutlich ab (Didi-Huberman 1990: 146-230, hier insbesondere 147f.). Es liest sich als ein begründetes Adieu, nicht nur von der Panofskysche Dreistufen-Analyse, die aus vorikonografischer Beschreibung, ikonographischer Analyse und ikonologischer Analyse besteht: Als Korrektive der eigenen Interpretation auf der jeweiligen Stufe dienen Panofsky die Stilgeschichte, die Typengeschichte und die Geschichte kultureller Symptome beziehungsweise Symbole (vgl. Kaemmerling 1987: 500). Wobei Panofsky von Didi-Huberman auch ein besonderes Wissen unterstellt wird (, das allerdings wesentliches übersehe). 11 Türcke (2005: 241) schießt ein wenig an der Problematik vorbei, wenn er diesen turn als etwas Abgeschlossenes versteht und in diesem Diskurs eine paranoide Verhaltensstruktur aufzudecken meint. Anhand einer kleinformatigen Imitation der HeideggerKritik Adornos werden vermeintliche Gespenster vertrieben, wobei Türcke die Imitation weitaus wichtiger ist, als den Gegenstand der Kritik in den Blick zu nehmen: „Die iconic turn hat weniger zu einer Abkehr vom Text zugunsten des Bildes geführt als zu einem Sieg des Textes im Bild. Der kulturwissenschaftliche Jargon hallt davon wider. Wer auf sich hält, ,liest‘ Bilder selbstverständlich, ermittelt, was in ihnen ,codiert‘ ist, und ,decodiert‘ die seinerseits, wie überhaupt reichlich kulturwissenschaftliche Detek-
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bei hermeneutischen Gepflogenheiten verbleibt , arbeitet Mitchell, wie die Konstruktion zu Althusser und Panofsky zeigt, eher überschreibend durch Neusetzung. Interessant scheint mir die Beobachtung, dass Mitchell wie auch Boehm ganz offen einem Begehren am Bild nachgehen: Boehm stellt die Frage, wie erzeugen Bilder Sinn?, Mitchell, what do pictures want? (vgl. Boehm 2007a: 29; Mitchell 13 2007a: 46). Wir sehen meines Erachtens auf der einen Seite ein Konstruktionsinteresse, auf der anderen Seite ein Provokationsinteresse am Bild. Ihre Argumentation geht einher mit einer Personifikation des Bildes. Das Bild erhält quasi 14 den Status wie eine Person. Das Bild kann einmal hervorbringen, einmal wünschen beziehungsweise wollen. Es kann in einen Dialog treten. Dahinter scheint der methodische Hinweis zu liegen, dass man sich für einen wissenschaftlichen Umgang mit Bildern nicht beruhigen kann, indem man mit ihnen zu Ende kom15 men will; das Bild zum Schweigen in der Sprache bringen möchte. Insofern wählen Bilder auch ihren Diskurs und nicht umgekehrt.
tive unterwegs sind, die überall Spuren entdecken, die ,sich eingeschrieben‘ haben und unentwegt dekonstruieren und dechiffrieren, auch wo gar nichts konstruiert und dechiffriert wurde, als seien sie von Geheimcodes und Feindbotschaften umzingelt.“. 12 Dafür spricht auch eine parallele Begriffsgebung: Die „hermeneutische Differenz“ zwischen Text und Ausleger (vgl. Danner 1998: 58f.) taucht bei Boehm (2007a, b) in Form einer „ikonischen Differenz“ wieder auf. „Was wir ,ikonische Differenz‘ nennen, umschreibt die Relation einer anschaulichen Bedeutungsgenerierung, in der die Kontinuität eines Grundes als ein unbestimmter Horizont figuriert, auf den hin sich Etwas als Etwas determiniert.“ (Boehm 2007b: 79). 13 Der Begriff des Begehrens ist hier im Lacanschen Sinn als „nichtrepräsentativer Repräsentant“ (Lacan 1978: 229) verstanden: „Für uns wird das Privileg des Blicks fassbar in der Funktion des Begehrens, indem wir […] die Adern entlanggleiten, über die der Bereich des Sehens dem Feld des Begehrens integriert worden ist.“ (Ebd.: 91). 14 Darin könnte die Projektion einer in der Realität abhanden gekommenen, im Sinne dieser Autoren aber wünschenswerten autonomen Subjektvorstellung in das Erkenntnisobjekt liegen (vgl. Adorno 1966: 30, 33). 15 Reck (2007: 11) möchte für diesen Gedanken offenbar Vokabular aus der Ästhetik von Lukács reaktivieren, wenn er vom Eigensinn der Bilder spricht: „Der Eigensinn der Bilder markiert einen Reichtum offener Signifikanten, die über jede Täuschung durch Ort, Zeit und Bedeutung hinaus den poetologischen Prozeß der Visualisierung als Problemerfahrung offen halten. An der Eigensinnigkeit der Bilder endet jede wissenschaftliche Paradigmatik und beginnt die Leidenschaft der Kunst […].“
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Diese theoretischen Ansätze gewinnen meiner Ansicht nach an Plausibilität durch die Aufnahme psychoanalytischer Theoreme, dass ein Bild etwas Allgemeines beherbergt, zu dem sich nachträglich die Position eines Subjektes einstellt. Mit Lacan (1978: 79): „es ist das, was Blick heißt“. Jedes Bild erzeugt aus 16 dieser Perspektive heraus gedacht ein Blickverhältnis, das zur Vereinfachung auf zwei Ebenen beschrieben werden kann: auf der bewussten Ebene des Haltgebens und auf der unbewussten Ebene des Blicks. Zum einen geben Bilder dem 17 betrachtenden Auge einen „Halt“, indem sie einen bestimmten Blick anhalten. 18 Indem sie ihn überhaupt anhalten können, haben sie Macht (ahd. bilidi). Unser äußeres Sehen ist allein durch den blinden Fleck nicht fest, muss sich folglich 19 ständig und widerständig vergewissern. Diese Differenz aus Fixation (BildAußen) und Pulsation (Bild-Innen) kann im betrachtenden Blick eine Angst hervorrufen, wodurch den Bildern eine besondere Macht eingeräumt wird, beispielsweise indem das Bild vortäuscht genau der Halt zu sein, den die durch das Bild hervorgerufene Angst sucht. Zum anderen haben Claudia Blümle und Anne von der Heiden ihren Band zu Lacans Bildtheorie eben nicht umsonst mit jener berühmten Definition des Blicks aus dem Seminar XI begonnen, die zeigt, dass Lacan den Blick als flexible wie unbewusste Struktur konzipiert hat (vgl. Blümle/von der Heiden 2005: 7). Er „gleitet, läuft und überträgt sich von Stufe zu Stufe“ (Lacan 1996: 79). Aus den durch Sehordnungen gebahnten Akten unserer Wahrnehmung wird der Blick „bis zu einem gewissen Grade“ verdrängt, indem er „umgangen“ wird (ebd.). Bilder verfahren ähnlich wie das menschliche Sehen. Sie machen sichtbar und drängen so (d. h. gewaltsam) etwas anderes aus dem Bild heraus. Dieses Andere bleibt aber über das Bild hinaus erfahrbar. Dies Andere trägt in der Lacanschen Terminologie den Namen „Objekt klein a“ und verwirrt das Sehen, das als ein wechselseitiges Sehen gedacht wird, nachhaltig (vgl. ebd.: 89). Das Bild sagt:
16 „Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer ein Blickhaftes“ (Lacan 1996: 107). 17 Belting (2001: 145) hat die aus der Religionswissenschaft übernommene alte These, wonach der ursprüngliche Entstehungshintergrund der Bilder in ihrer Funktion liege, dem Toten zu einer neuen Anwesenheit verhelfen, wieder stark ins Spiel gebracht. Sie wird von Macho (2007: 182) weiter aufgenommen: „Denn der Tod produzierte die ersten Bilder: die Leichen“. 18 „Es scheint festzustehen, dass ahd. bilidi zunächst stets ›Macht‹ bedeutet“ (Gadamer 1999: 147). Gadamer ist sich an dieser Stelle des Bedeutungsursprungs nicht ganz sicher. 19 „[…] das Bild hört nie auf, sich auf sich zusammenzuziehen. Aus diesem Grunde ist es unbeweglich […]“ (Nancy 2006a: 22).
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„Du erblickst mich nie da, wo ich dich sehe“ (ebd.: 109; vgl. Cremonini 2005: 235). Über das Bild entsteht nach Lacan also eine doppelte Struktur des Blick20 verhältnisses. Sowohl die bewusste als auch die unbewusste Seite dieses Verhältnisses bilden den Ausgangspunkt einer Täuschung über die vorausgesetzte Ordnung des Sehens und der darauf aufbauenden Struktur eines Subjekts (vgl. 21 Siegert 2005: 113-120). Beide Ebenen zu berücksichtigen, böte eine wichtige Anforderung an meine Untersuchung zu Bildern des Pflegerischen. Das geschieht zum Beispiel methodisch durch Aufnahme der Fragestellung: was stört unser Sehen? Nachdem ich das Moment der Beunruhigung unter Rückgriff auf die Lacanschen Ausführungen zu den Blickverhältnissen des Bildes zu klären versucht habe, wende ich mich noch einmal etwas genauer dem Bild zu. Eine weitere Anforderung befestigt sich meines Erachtens an einer bislang zurückgeschobenen Frage, was ein Bild eigentlich ausmacht. Abgesehen von der Komplexität dieser Fragestellung, die immer nur vorläufig zu klären ist, zeigt sich das Bild in einer
20 Man denke bei diesem Blickverhältnis auch an Hegels Metapher: „so ... macht die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde“ (Hegel 1997: 203). Das Auge ist Hegels Metapher für den Umschlagpunkt von Geistigkeit in die Erscheinung, von Seele in den beseelten Blick. Das Kunstbild wiederum spiegelt auf seiner Oberfläche eine dahinterliegende Struktur; die einer freien, das heißt für Hegel in sich unendlichen Seele (vgl. ebd.: 204). Diese Figur bildet meines Erachtens eine Analogie zu Freuds (1999: 85) zweiter Topik des psychischen Apparats mit der Öffnung im Es zum Unendlichen. Der Blick aus dem Argus auf das Innere scheint bei Hegel aber absolut konzipiert und substituiert offenbar auf der Ebene des Kunstwerks den Blick eines personalen Gottes. Das äußere Unendliche und das innere Unendliche bilden die Analogiestruktur, die hiernach durch das Kunstschöne in der Schwebe gehalten werden soll. Lacan liest diese Struktur eher disharmonisch unter Betonung triebtheoretisch begründeter Aspekte der visuellen Täuschung (zeichenhafte Täuschung, Augentäuschung, Blickzähmung), Mimikry (camouflage, travestie, intimidation) oder Paranoia („Ich werde ständig gesehen/erblickt.“). Es geht Lacan um das Bemerken eines Fehlens, eines Mangels oder einer Störung (vgl. Blümle/von der Heiden 2005: 19-22). In den beschriebenen Blickverhältnissen reaktivieren sich so möglicherweise diejenigen Ungleichverhältnisse zum anderen, die einst im Spiegelstadium introjiziert worden sind. Was fortan fehlt, ist z. B. der stützende Blick der Mutter (vgl. Tisseron 2007: 314). Ihn sucht und findet und verliert das Auge im Bild, während das Bild das betrachtende Auge zum Bild macht (vgl. Lacan 1973: 113). 21 Ausführlicher als in diesem Zusammenhang auch bei Berz (2005).
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Zwischenstruktur. Darauf kann man ganz unterschiedlich anspielen: Das Bild bewegt sich zwischen innerem und äußerem Bild, zwischen Kontext und materiellem Bildobjekt, zwischen Geschichte und Präsenz, zwischen Sozialem und Singularität. Rancière hängt es noch woanders auf: zwischen verschiedenen Realitäten, „dem Sagbarem und dem Sichtbarem“ (Rancière 2005: 12). Seine ontologische Zwischenstruktur inszeniere jeweils ein „Regime der Bilder“ (ebd.: 14). Jegliche Ordnung des Bildes ist damit befragbar auf eine Politik. In all diesen Varianten konfrontiert das Bild zwei Bereiche miteinander und versetzt sie in eine Spannungsbeziehung. Es beherbergt eine Differenz als Zugleich unvereinbarer Positionen. Man kann sagen, dass damit auf die spezifisch paradoxe Eigenschaft des Bildes hingewiesen wird.
2.2 W IE
ICH FRAGEN MÖCHTE
Aus den bislang angedeuteten Möglichkeiten des Bilddiskurses lassen sich meines Erachtens vier Fragestellungen ableiten, unter denen ich die ausgewählten Bilder genauer untersuchen werde. Es sind folgende: (1) (2) (3) (4)
Wie erzeugt das Bild Sinn? (Boehm) Was will das Bild beziehungsweise was wünscht es sich? (Mitchell) Was stört das Bild und was stört unser Sehen? (Lacan) Was ist die Politik des Bildes oder das Regime hinter dem Bild? (Rancière)
Mir geht es darum, die Darstellung des Pflegerischen im Bild genauer zu untersuchen. Wenn meine Hypothese richtig ist, werden sich im und durch das Bild Spuren des Pflegerischen finden und für die Untersuchung aufnehmen lassen. Die Darstellung des Pflegerischen als Bild hat allerdings eine kenntlich zu machende Konsequenz, was die primäre Wahrnehmung angeht. Das Bild zeigt das Pflegerische stets in einer Visualität. Andere Wahrnehmungsqualitäten, die für die Freilegung des Pflegerischen ebenso wichtig sein können, kommen hier somit eher sekundär oder gar nicht in den Blick. Ich nehme also in dieser Studie den Angang über die optische Wahrnehmung des Sehens, möchte damit aber keineswegs behaupten, dass dies die einzige Möglichkeit ist das Pflegerische aus einer Wahrnehmungsdifferenz herzuleiten. Ich glaube aber anhand von exemplarischen Analysen beschreiben zu können, dass das Bild und dessen Spuren einen neuen und wichtigen Zugang bieten zur Untersuchung der Darstellung des Pflegerischen.
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2.3 Z EIT ( UN ) GEMÄSSE B ETRACHTUNGEN : A NSICHTEN DES P FLEGERISCHEN Bisher habe ich noch nichts darüber gesagt, welche Bilder ich als konkrete Gegenstände auswähle und wie ich fragen möchte. Ich glaube mit Verweis auf das angesprochene gesellschaftliche Phänomen der „Bilderflut“ nicht, dass eine wissenschaftlich ausgerichtete Bildanalyse von Pflegebildern dem Kriterium einer erschöpfenden Behandlung genügen kann. Es kommt also auf die genaue Auswahl an. Die Auswahl für die Bilder folgt in dieser Untersuchung dem Prinzip einer größtmöglichen Kontrastierung, die zum Beispiel bei Fallanalysen üblich ist (vgl. Oevermann 2002: 18). Ich möchte mich zunächst auf konkrete Bilder aus dem öffentlichen Raum konzentrieren und diese befragen. Im ersten Bild erkennt man berührende Hände. Oftmals wird der Gegenstand „Pflege“ mit berührenden Händen dargestellt. Auf das zweite Bild bin ich durch eine Zeitungsmeldung aufmerksam geworden. Es konturierte eine Meldung über Misstände im Pflegeheim. Darauf wird eine alltägliche Pflegeszene angedeutet. Durch das dritte Bild wird der Blick auf eine Pflegesituation in einer Klink gelenkt. Es soll eine typische, aber gelungene Pflegesituation darstellen. Im vierten Bild lässt sich eine Grenzsituation erkennen. Es gilt als Kunstwerk und zeigt eine Sterbesituation unter Beteiligung der verschiedenen Perspektiven. 2.3.1 Hände: Zur Symbolisierung des Anderen Ein Pflegemotiv das im öffentlichen Raum ständig wiederkehrt, ist das der berührenden Hände. Alte, meist kleinere Hände werden von jungen, meist größeren Händen berührt oder umfasst. Das Bild variiert, bald ist es nur eine Hand die umfasst wird, bald ist es eine die berührt. Ich habe hier ein Bild ausgewählt, das nicht aus einem genuin pflegepraktischen Kontext stammt, obgleich man dessen Motiv darin reichhaltig antrifft. Diese Fotografie stammt von der deutschen Bundesregierung (2005-2009) und ist unterschrieben mit einer nicht zu vernachlässigenden Kurzformel „Zur Pflege gehört auch Zuwendung“.
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Abbildung 3: Zur Pflege gehört auch Zuwendung, Bundesregierung (2005-2009)
(1) Wie erzeugt dieses Bild Sinn? (Boehm) Dieses Bild scheint mir stark auf seine Unterschrift verwiesen zu sein. Der Sinn des Bildes ist ein anderer Sinn, als der Sinn des Bildes mit seiner Unterschrift. Dieser textlichen Untermalung und seiner Sinn-Determinierung für das Bild gehe ich jetzt weiter nach. Das Bild soll aus dieser Perspektive gesprochen einen relativ zugespitzten Sinn erzeugen. Sein Text enthält eine normative Zuschreibung „zur Pflege“. Der Autor des Textes weiß offenbar ganz genau, dass auch Zuwendung zur Pflege gehört und er weiß, dass sich diese Zuwendung auf dem Bild befindet. Man kann nun zumindest auf zwei unterschiedlichen Wegen vorgehen: Zum einen kann man die Sinnbezüge im Bild suchen, zum anderen kann man die Sinnelemente des Textes etwas genauer befragen. Zunächst bleibe ich noch beim Text. Er erklärt nicht, was er unter Pflege genau versteht. Offenbar denkt er Pflege als den weiteren Terminus, Zuwendung als den engeren. Demnach könnte in einer Formel gedachte Pflege = x + Zuwendung sein. Das ist das Postulat, das gegen ein anderes Postulat Pflege = x, wobei x [Zuwendung] opponiert. Demnach liegt der Sinn dieses Bildes aus Sicht seiner Unterschrift in einem Kampf gegen ein auf x verengtes Pflegeverständnis.
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Fragt man mit Böhm wie dieses Bild seinen Sinn erzeugt?, muss man auf die Komposition des Bildes genauer eingehen. Schauen wir auf dieses Bild. Was bei Variation dieses Motivs der berührenden Hände gleich bleibt ist die spezifische Disposition der alten und jungen Hände. In diesem Fall befinden sich die alten Hände übereinander im Bildzentrum. Was erkennt man genau zwischen den Händen? Pflege? Ist das tatsächlich Zuwendung? Die rechte junge Hand berührt die älteren von unten. Sie tut das scheinbar ganz seicht, nicht so sehr in einem kräftigen oder zeigenden Gestus des Haltgebens. Vielmehr obwaltet hier eine zurückhaltende Vorsicht deren Begründung offen bleibt. Ich denke das Bild blendet jegliches Extrem des Pflegerischen aus. So legt sich die linke jüngere Hand in einer höchst merkwürdigen, vielleicht atopischen Weise von oben her auf den unteren Handrücken der älteren. Dort streift sie leicht den Daumen mit ihrem Mittelfinger. Offenbar möchte das Bild für ein harmonisches Generationenverhältnis werben, indem die Hände der Generationen ein Näheverhältnis eingehen, das sich vor allem einem Verdacht nicht aussetzen möchte, wonach das Pflegerische auch dunkle Seiten kennt, was beispielsweise durch Begriffe wie Missverständnis, Gewalt, Ekel, Drohungen oder Krisen angedeutet werden kann. Ein zentrales Merkmal ist die strikte Vermeidung des Aufkommens dieses genannten Verdachtsmoments. Nimmt man jetzt die eindeutige Sinnzuschreibung des Subtextes hinzu, erkennt man, dass das Bild der Versuch ist die gemeinte Zuwendung zu definieren. Positiv definiert das Bild eine Vorsicht und ein in Ruhe lassen der selbstbezüglicheren älteren Hände. Die jungen Hände mischen sich in Angelegenheiten der älteren nicht ein. Es herrscht eine vorsichtige Distanz zwischen den Händen. Dieses Motiv der Vorsicht kann aus einer Einsicht in die Verletzlichkeit des anderen herrühren oder aus einer sprachlosen Ethik auf Basis einer gegenseitigen Unterstellung. Dieses Unausgesprochene der gegenseitigen Unterstellung wäre das Tabu oder das Nolimetangere dieses Bildes und dessen Sinnkonstruktion. Die berührenden Hände zeigen sich beispielsweise auch auf dem englischen zwei Pfund-Stück vor dem Hintergrund von Strahlen. Das Bild erzeugt ein Motiv zu dem Namen Nightingale. Die Überschrift signiert auch in diesem Fall das Bildmotiv. In dem Motiv der berührenden Hände verrät sich somit der Zusammenhang zu einer alten Struktur.
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Abbildung 4: Englisches Zwei-Pfund-Stück, Florence Nightingale gewidmet
(2) Was will das Bild beziehungsweise was wünscht es sich? (Mitchell) Die Unterschrift möchte nicht nur den Sinn, sondern auch den Wunsch des Bildes formulieren: „Zur Pflege gehört auch Zuwendung“. Die Unterschrift ist in dieser Hinsicht „verräterisch“ und determiniert beziehungsweise überblendet das Bild. Umgekehrt erkennt man aber bereits, dass es dem Bild nicht gelingt, das, was es durch den Text zeigen will oder soll, tatsächlich zu zeigen. Es gelingt ihm schlechthin nicht, Pflege und auch Zuwendung konkret zu zeigen. So muss es einen traditionellen Umweg einschlagen: über die Symbolik. Dieser Umweg verweist auf ein Ressentiment, denn das Bild traut sich zwar nicht zu Zuwendung offensiv zu zeigen, aber es traut sich durchaus zu die Zuwendung als Teil der Pflege symbolisch anzudeuten. Das versucht es unter Rückgriff auf wirkungsgeschichtlich stark aufgeladene kulturelle Codierungen. Die Handhaltung der älteren Hände assoziiert zum anderen auch das Gebet. Sie zeigt aber in diesem Fall eher seine Vorstufe an, nämlich eine prinzipielle Bereitschaft dazu. Das Bild zeigt sich also in zweifacher Hinsicht christlichabendländisch codiert. Diese kulturellen Codierungen versuchen eine Lösung des Problems, das Undarstellbare der Pflege darzustellen, und zwar durch eine Abstraktion und durch Produktion eines Ausschlusses. Die Abstraktion funktioniert bildanalytisch betrachtet primär durch den unnatürlich geschwärzten Hintergrund und das Rätselhafte der Handhaltung. Der Ausschluss, den das Bild produziert, betrifft vor allem den „normalen“ beziehungsweise selbstverständli-
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chen Teil der Pflege. Andersherum: Das, was das Bild zeigt, ist das Selbstverständliche der Pflege genau nicht. Es möchte nicht verletzen – beispielsweise dadurch, dass es Zuwendung allzu konkret zeigt. Von daher bleibt es bei der Behauptung und Andeutung. Der Betrachter wird automatisch hineingezogen in einen kontrollierten Zauber einer harmonischen Pflegesphäre. Dieses Bild ist in seinem Anspruch also nicht bloß ein Bild, sondern gleichsam auch eine Beschwörung seiner Möglichkeit als Bild. (3) Was stört das Bild und was stört unser Sehen? (Lacan) In seiner Symbolik behält das Bild trotz seiner starken Codierungen, die damit auch eine starke Normierung bedeuten, aber durchaus etwas Projektionsoffenes. Das gilt vor allem, wenn man sich auf das Bild ohne seinen Text einlässt. Man kann die gezeigten Berührungen dementsprechend als liebevoll, zärtlich, unsicher, abweisend, kalt oder als überflüssig lesen. Diese Lesarten verbleiben für sich immer in einem gewissen Status des wenig Aussagekräftigen und des für den anderen Nichtnachvollziehbaren. Diese Beliebigkeit in seinen Lesarten hat meines Erachtens etwas mit dem heimlichen Wunsch des Bildes zu tun. Zwischen den Händen scheint eine Art totaler Waffenstillstand zu herrschen: Die Älteren wollen die Jüngeren nicht „betatschen“ oder „begrabschen“, die Jüngeren wollen die Älteren nicht „erdrücken, „abwürgen“ oder „gängeln“. Der Generationenvertrag des Bildes läuft offenbar nicht nur unter Ausschluss des Gewaltverdachts, sondern auch unter Ausschluss des Eros aus dem Zuwendungsverständnis. Die von dem Bild evozierte Zuwendung darf Nähe erzeugen, aber eben keine stärkere Form der Zuwendung. Das ist umgekehrt auch die Bredouille beziehungsweise das Dilemma des Bildes. Das hier definierte Verständnis von Zuwendung muss quasi ganz ohne die offensichtlich als bedrohlich unterstellte Libidoenergie auskommen. Das böte die Erklärung dafür, warum diese Form der Zuwendung nicht überzeugen kann beziehungsweise warum sie nichts überträgt. Vielleicht ließe sie sich als eine asthenische oder blutarme Form der Zuwendung beschreiben. Es wäre wohl eine, die auf die Übertragung zu Gunsten einer sterilen Empathiemethode verzichtete. Eine merkwürdig passive wie auch unemotionale Form der Beteiligung und gleichzeitigen Nichtbeteiligung. Diese Form der Zuwendung agierte also auf Basis eines zwanghaften Apriori: der Zwang besteht aus der Vermeidung einer Konfrontation.
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(4) Was ist die Politik des Bildes oder das Regime hinter dem Bild? (Rancière) Die haltenden Hände sind natürlich ein durch und durch politisches Symbol. Es ist vor dem Hintergrund des Zweipfundstücks leicht in ihm die Reaktivierung der Imitatio Nightingale auszumachen. Das Motiv ist aber älter, es ist bereits von den Freimaurern überliefert. Von dort ist es avanciert bis hin zur Staatsflagge der SED. Dort greifen zwei „gleiche“ Hände nacheinander. Sie halten sich fest und plädieren für eine Unerschütterlichkeit brüderlicher Kraft. Das vorliegende Bild setzt sich von derartiger Kraftstrotzerei natürlich vollkommen ab. Es versucht diese politische Assoziation geradezu zu vermeiden: Es darf auf ihm nicht der Eindruck eines festen Handzusammenhangs entstehen. Die politische Botschaft des Bildes will anno 2007 offensichtlich keine neue DDR und ihren kräftigen brüderlichen Händedruck. Von daher darf vielleicht nur ein sichtbar lascher, waschlappenartiger Kontakt zwischen den Händen entstehen. Es ist einer der Andeutung eines Besonderen, das sich wiederum nicht ereignen wird. Das Bild dieser einseitigen Berührung ruft uns zum anderen auch die Assoziation einer sachten transformierten Blutspende auf (vgl. Didi-Huberman 2002: 21). Von jung zu alt. Die jungen Hände sollen offenbar den Mangel des abgebil22 deten Inkarnats kompensieren. Das Problem jedes Bildes, wie lebendig werden lassen, was doch unlebendig ist, wird in diesem Bild „gelöst“ durch den Verweis auf eine simplifizierende naturalistische Gerechtigkeitslogik. Das Inkarnat bezeichnet im kunstwissenschaftlichen Diskurs den Mangel jedes Bildes, Fleisch zu sein. In diesem Fall wird es an den beiden nackten Händen konkret gezeigt und gezielt pflegepolitisch funktionalisiert. „Das Inkarnat zielt also darauf ab, in zweifacher Weise bemerkenswert zu sein: weil es eine Unterworfenheit [sous-jacence] suggeriert (die Adern und Muskelfasern […], die sich unter ... verschlingen), und weil es eine ins Extrem gespannte Oberfläche nahe legt, wie die Silberfläche eines Spiegels, poliert, aber transparent. (,... der Ambraschimmer der Schläfen und der Brust‘).“ (Ebd.: 25)
Die alten Hände sind demonstrativ fleischlos. Hinter dem Bild wird meines Erachtens ein Wille erkennbar der sagt: Diese älteren Hände sollen kein Fleisch sein und daraus erwächst der Eindruck, sie können kein Fleisch sein. Jemand
22 „Und all das macht das Inkarnat aus, das heißt ,Die Stimme des Fleisches‘ (la voce della carne), entsprechend dem Ausdruck, den Fulvio Pellegrino Morato in seiner Abhandlung Del significato de colori (Venedig 1535). […].“ (Didi-Huberman 2002: 25).
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muss die alten Hände „inkarnieren“, das heißt ihre Oberfläche straffen. Dieses Bild verlässt sich demnach auf das „Regime“ der Bilder in der Hoffnung, es habe den Blick des Betrachters ordentlich erzogen: Das, was sich sperrt nicht als Fleisch zu sehen. Durch diese Erziehung des Auges übersetzt der Blick des Bildes hinüber in den Begriff „Lebendigkeit“ (vgl. ebd.: 28f.). Lebendigkeit ist das, was durch die Schulung des Blicks automatisch den jungen Händen, ihrer glatten Oberfläche zukommt und es ist genau das, was den alten Händen fehlt. Die Politik des Bildes erzeugt eben keineswegs Wohligkeit oder Zufriedenheit. Man stelle sich vor was passierte, wenn die jungen Hände losließen. So würden die alten Hände ins schwarze Nichts hinabsinken. Dieses Bildes enthält die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit, denn es spielt recht sublim mit dem Sprichwort, wonach bekanntlich die eine Hand die andere wäscht. Hier wäscht sozusagen die junge Hand die alte, aber ohne dass sie sich schmutzig machen möchte. Das Bild ist nicht nur wegen des stilisierten und stabilisierenden Hintergrunds reiner Schein. Sein Schein überblendet gemeinsam mit der Unterschrift die Überforderung die zwischen junger und alter Hand steht, den Generationenkonflikt: Das Unverstehbare zwischen den Händen, wie es der Faltenwurf oder der Farbkontrast mit sich bringt. Der Farbkontrast zwischen bläulich und rosig ist denkbar unterschiedlich. Und da wo die eine Hand Falten wirft, hat die andere eine reibungslose Fläche zu bieten. Die junge Hand kann im Zweifelsfall die Falten gar nicht fühlen. Die Falten, das bedeutet für mich genau auch die Sprache einer mimetischen Relationalität, die sich in ihre Ritzen eingeschrieben hat. Diese Interpretation zu dem Bild der berührenden Hände liefert erste Ansätze zur Beschreibung einer Darstellung des Pflegerischen. Dieses Bild versucht das Besondere des Pflegerischen zu thematisieren. In der Öffentlichkeit und der Alltagskultur begegnen einem oftmals eher die dunklen Seiten des Pflegerischen. Ich wähle als nächstes also ein Bild, das sich stark unterscheidet von dem ersten. Die Reihenfolge der Bilder ist für die Bildanalyse dieser Untersuchung meines Erachtens nicht sonderlich entscheidend und sind lediglich Vorschläge. Ich bin mir sicher, dass andere Forscher andere Motive und Bildfolgen als weitaus zwingender ansehen können. Die hier geleisteten konkreten Sehvorschläge und ihre Interpretationen liefern ja jede für sich Erträge über die Darstellung und haben exemplarischen Charakter.
23 „Man kennt das Schicksal dieser Problematik im Text Diderots: ,Das Fleisch ist schöner als die schönste Draperie‘, schreibt er am Anfang, was heißt, das man das Inkarnat als Aufhebung, als organische Aufhebung des figuralen Problems der umhüllenden Oberfläche begreifen muß.“ (Didi-Huberman 2002: 25).
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2.3.2 Dunkle Seiten des Pflegerischen Im öffentlichen Raum wird Pflege des Öfteren im Kontext des Verbrechens, der Gewalt oder von Missständen thematisch. Der journalistische Blick enthüllt beispielsweise den Zeitungslesern die vermeintlich harmlose pflegerische Tat als Untat. Sei es, dass die Organisation der Pflegehandlungen an dem Durchliegen oder Wundliegen Schuld trägt, sei es, dass Bewohner laut Skala als pflegebedingt unterernährt gelten oder sei es, dass Pflegende gewalttätige Übergriffe wie Schlagen, provozierte Stürze oder nacktes Strafsitzen verantworten müssen. Sei es noch extremer, dass Pflegende ihre zu Pflegenden ermordet haben. Diese Fälle kommen turnusmäßig in den juristischen und damit auch in den journalistischen Fokus. Abbildung 5: Schlagbild aus der Zeitung „Die Welt“ vom 31.08.2008
Ich möchte den Versuch leisten, exemplarisch auf das Bild zu dem journalistischen Bericht einzugehen.24 Dieser Bildsinn, nicht der Textsinn ist das, was mein Interesse jetzt auf sich ziehen soll. Solch ein Bild ist nämlich selber oftmals ein Bild das versucht, Spekulationen über die Ursachen von Missständen zu ermög-
24 In dem Artikel kommen verschiedene Missstände in deutschen Pflegeheimen auf Basis einer Erhebung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen zur Sprache. Jeder zehnte Pflegedürftige sei demnach von einem akut unzureichenden Pflegezustand betroffen. Erhebliche Mängel bestünden vorrangig im Bereich von Essen und Trinken.
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lichen. Für diese Gattung von öffentlichen Bildern hat Diers – parallel zum „Schlagwort“ – den Begriff des „Schlagbildes“ eingeführt (vgl. Diers 1997: 725 13). Man sieht, es kann also wehtun. (1) Wie erzeugt das Bild Sinn? (Boehm) Der Sinn des Bildes ist in diesem Fall keineswegs einfach zu bestimmen. Von den Lichtverhältnissen her bereits dunkel gehalten, lassen sich aber leicht Mutmaßungen anstellen, wie etwa die, dass es hier um etwas Illegales oder mehr noch um etwas Böses gehen könnte. Die Inszenierungstechniken des Bildes, wie Verdunkelung und die asymmetrische Konstellation der Charaktere, scheinen sich klar in Dienst zu stellen für diesen Zweck. Man sieht auf diesem Bild, es war das Schlagbild zu einem Bericht aus der Welt vom 31.08.2008, einen liegenden Menschen und eine Nahrungreichende Pflegeperson. Dieser Mensch liegt im Halbdunkel. Diese Dunkelheit vermittelt den Anschein einer Pflegerealität, so als habe die Kamera keine spezifische Zutat geleistet. Das Zimmer weist rückseitig Fenster auf, die keinen freien Blick nach außen oder von außen in das Zimmer hinein gewähren. Was diesen freien Blick verhindert sind die halb geschlossenen, halb offenen Jalousien. Im Unterschied zum Blick über das Fenster, den Bildhintergrund, hat der Betrachter aber den freien Seitenblick in dieses Tableau. Diesem Seitenblick wird eine alltägliche Pflegehandlung, ähnlich wie beim Filmstill dargeboten. Damit wir eine alltägliche Pflegehandlung erkennen können, zeigt uns das Bild demonstrativ einen Teller und einen Löffel. Wir sehen neben diesen Gegenständen zwei Personen. Diese haben augenscheinlich unterschiedliche Funktionen und stehen offenbar in einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Die jüngere, trotz Zopf als Mann erkennbare Person, verfügt über die Nahrung. Dieser junge Mann hält den Löffel und den Teller. Er führt einen Löffel in Richtung des Anderen. Dieser Andere muss vermutlich wegen einer Bettlägerigkeit im Bett sitzend die Nahrung zu sich nehmen.26 Ob diese pflegebedürftige Person nicht alleine im Bett
25 Diers beschreibt das anhand einer Transgressionsbewegung: „Das Interesse gilt dabei vorrangig dem Übertritt des Bildes in die Sphäre des politischen Alltags“ (Diers 1997: 7-13). 26 Zegelin (2010) hat 2005 in ihrer Studie das Pflegephänomen Bettlägerigkeit eingeführt und in einer Rekonstruktion von 49 Einzelfällen gezeigt, dass überlicherwiese vier Phasen bis zur Bettlägerigkeit durchlaufen werden: Instabilität, Ereignis, Immobiltät im Raum und Ortsfixierung. Pflegende und Mediziner und das Fehlen rehabilitativer Versorgungsansätze in Deutschland zeigen sich in den Berichten Zegelins als
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essen kann, erfahren wir auf dem Bild selber nicht. Das Bild unterstellt dieser Pflegehandlung einen Sinn. Es möchte entschieden sagen, es gebe Menschen die ihr Essen gereicht bekommen müssen. Es möchte offenbar aber nicht nur das sagen und auch nicht auf eine so vordergründige Harmlosigkeit hinaus. (2) Was will das Bild beziehungsweise was wünscht es sich? (Mitchell) Ein Wunsch des Bildes ist es, das Pflegerische als gefährlich zu zeigen. Es steht also vor dem Problem, einen Moment der Gefahr lokalisieren zu müssen innerhalb des Vorgangs der Pflege. In diesem Fall versucht das Bild das Problem zu lösen, indem es eine Gefahr andeutet und keineswegs eindeutig zeigt. Das Bild erwartet von dem Betrachter, dass er die Szene als bedrohlich empfindet. Die Pflegeperson wird in einer Dunkelheit gezeigt, die wiederum einen realen Eindruck eines dunklen Ambientes – vielleicht wie man es aus Seniorenstiften vermutet – wiederspiegelt. Das Bild gibt sich große Mühe, den Eindruck der Asymmetrie zwischen den Personen zu betonen. Die pflegende Person sitzt nicht am Bett oder auf dem Bett, sondern sie erscheint in einer unbequemen und etwas drängenden Haltung am Bett. Das lässt sich als eine ambivalente Haltung charakterisieren, die einen mit dem Inhalt der Pflegehandlung in Widerspruch stehenden Eindruck des Beeilens trägt. Offenbar ist die pflegende Person nicht richtig da und noch nicht wieder fort. Es kann sein, dass das Bild den Eindruck der Gefahr bereits durch den mitlesenden Blick auf diese Essensgabe vermittelt. Demnach ginge die Zeitungsredaktion davon aus, dass für den Blick des Lesers jedwede Abhängigkeit bereits eine manifeste Bedrohung bedeutet. Es ist die Drohung die zwischen den Bezeichnungen „Füttern“ und „Nahrung reichen“ steht. Was hinsichtlich des Vorgangs schwerer wiegt, die Raubtierkäfigassoziation oder der die störende Empfindung neutralisierende Euphemismus, ist nicht leicht zu entscheiden. Man weiß zum Beispiel auch nicht genau, was der geschlossene Mund der im Bett etwas niedrig sitzenden Person bedeuten soll. Seine Schließung suggeriert aber einen manifesten Konflikt. Es kann sein, dass die Person die Nahrung verweigert (vgl. Borker 2002), es kann sein, dass sie das Tempo des Pflegenden verweigert oder dass sie einfach noch mit dem Kauen des vorherigen Happens beschäftigt ist, unterdessen ihr schon der nächste bereitgestellt wird. Aus dieser
maßgeblich mitverantwortlich für die massenweise Produktion dieses Phänomens der Bettlägerigkeit auf Basis nichtiger Anlässe (z. B. Harnwegsinfekt). Zegelins Arbeit ist meines Erachtens wegweisend für eine klinische und anwendungsorientierte Pflegeforschung in Deutschland.
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Aufnahmeposition hinterlässt die Mundhaltung den Eindruck einer Unzufriedenheit, einer Negation. Die Mundhaltung ist also die zweite Ambivalenz des Bildes. Sie kann nicht aufgelöst werden. Der Betrachter empfängt also einerseits die Bedrohung der Pflegehandlung aus dem simplen Faktum einer Abhängigkeit vom anderen, die er auf Basis seines unabhängigen Subjektverständnisses als bedrohend lesen gelernt hat. Andererseits hinterlassen bestimmte Lichtverhältnisse und bestimmte Motive den Eindruck einer Ambivalenz. Das Bild arbeitet mit seiner Macht, kein Film zu sein und somit die Szene vorher und hinterher zu verweigern. In diesem Filmstill sind bestimmte Fragen nicht zu klären und das vor allem hinterlässt den imaginär evozierten Eindruck der Gefahr und auch den Eindruck der Drohung. (3) Was stört das Bild und was stört unser Sehen? (Lacan) Auf zwei Störgrößen, den geschlossenen Mund und die ambivalente Haltung des Pflegenden, wurde bereits hingewiesen. Ich möchte mich nun auf einige weitere scheinbare „Kleinigkeiten“ des Bildes konzentrieren. Ich erkenne solche Kleinigkeiten in dem Namensschild, der Uhr der Pflegeperson und in dem Blumenstrauß auf der Fensterbank, der zwischen Löffel und Teller sichtbar wird. Diese Kleinigkeiten sind semantisch aufgeladen und sie treiben ein besonderes Spiel auf diesem Bild. Das Namensschild des Pflegenden ist gar nicht einfach zu erkennen, es strahlt einfach weiß. Es demonstriert die Macht einer Ordnung. Durch das Schild (und durch die Kleidung) des Pflegenden denkt man mit Sicherheit schnell an eine totale Institution wie Seniorenresidenz oder Krankenhaus. Das Schild konstruiert zumindest zwei Seiten der Befugnis: Schildträger und -nichtträger. Das Schild räumt seinem Träger eine gewisse Macht ein, die auf dem Bild spürbar wird. Sie erzeugt eine Angst davor, kein Schild zu haben und zu tragen. Das hieße auch, ohne den Schutzraum einer institutionell-hierarchischen Ordnung und damit ohne den Garanten, den jede Schildordnung verleiht, auskommen zu müssen. Die Uhr des Pflegers entfaltet indirekt eine sublime Wirkung. Sie reflektiert das wenige Licht des Raumes. Ihr silbernes Band spricht nicht von besonderem Reichtum. Die Uhr sagt, dass Zeit eine gewisse Rolle spielt. Sie arbeitet für das Moment, dass die ambivalente Haltung hinsichtlich der Zeitvorstellung befördert. Der Blumenstrauß, der allein und abseits steht, verweist auf ein höchst sublimes Mittel dieses Bildes etwas auszusprechen, was den Schluss des Betrachters bekräftigt, dies sei der pflegerische Alltag und die ungeschminkte Normalität. Der Blumenstrauß sagt Eingeweihten, dass schon einmal Besuch da war. Vielleicht war es die Verwandtschaft (Ehemann, Kinder, Enkelkinder etc.), vielleicht
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waren auch Nachbarn oder Freunde da. Der Blumenstrauß spricht in diesem schmerzlichen Präteritum und sagt dadurch, dass der Besuch gegenwärtig fort ist. Er enthält eine ungesagte Enttäuschung die nur der Betrachter und sein Seitenblick wahrnehmen. Dieser Blumenstrauß macht das sichtbare Pflegegeschehen zu einem Kontakt zweiter Ordnung. Die Pflegehandlung wird dadurch zu einem schlechteren, aber alltäglichen Ersatz der wünschenswerten, aber nur selten möglichen Begegnung. Ihr Substitut. In diesem Blumenstrauß wird der obsolete und veraltete, aber immer noch wirksame bedürfnistheoretische Anspruch die Pflegehandlung könne Ersatz für andere Näheverhältnisse sein, auf bittere Weise desillusioniert. Dieser Strauß enthält zugleich auch die implizite Wertung der drängelnden Haltung des Pflegers. Durch die Blume gesprochen präsentiert das Bild professionelle Pflege als gestört. Insgesamt wird erkennbar, welche Bedeutung diese kleinen und erst einmal fast unsichtbaren Dinge auf dem Bild haben können, wie sie das Blickverhältnis beeinflussen und welch mulmige Wirkungskette sie entfalten können. (4) Was ist die Politik des Bildes oder das Regime hinter dem Bild? (Rancière) Auf der Ebene seiner Öffentlichkeitswirkung muss man dieses Schlagbild ebenfalls noch einmal durchspielen. Offenbar ist das pflegerische Handeln wie Nahrung-Verabreichen nicht das alleinige Gefahrenpotential, das hier zur Wirkung gebracht wird. Einer metapherologischen Lesart folgend lässt sich ein Verständnis entwickeln, wonach durch den Pflegevorgang etwas Unter-der-Decke gehalten werden möchte. Demnach bestünde eine Intention dieses Bildes in dem Versuch, diese Verhüllungen oder heimlichen Wahrheiten der Pflegehandlungen zu enttarnen. Eben vielleicht dadurch, dass es genau diese Hüllen zeigt. Man kann die politischen Aussagen des Bildes nun in dieser desillusionierenden Richtung weiter verfolgen. Demnach tut jedes Pflegeimage nach außen nur so und so gut, aber sobald man unter die Decke schaut, was dem Journalisten als selbstverständliche Kompetenz unterstellt zu werden scheint, sieht es ganz anders aus. Inhaltlich kann man unter dieser Decke des pflegerischen Handelns zumindest Gewalt, Bedrohung, Unmenschlichkeit, Unrecht, Ekel oder noch anderes vermuten. Jede caritativ oder normativ ausgerichtete Pflege handelt demnach höchstens auf Basis einer Philosophie des „als ob“ (Vaihinger): Ihr Gutes, ihre Mitmenschlichkeit, ihre Humanität ist, wenn sie überhaupt existiert, nur die Oberfläche – ihre eingefaltete Struktur erscheint als das Verbrechen. Das Verbrechen beziehungsweise seine Drohung wird überdies als der selbstverständliche Teil des pflegerischen Alltags vorgestellt. Das zur Sprache bringen und das ins Bild setzen dieses Pflegekerns ist geradewegs die politische Aufgabe des
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Journalisten. Pflegende wiederum kennen oder erkennen das Unrecht das sie tun anscheinend nicht selber beziehungsweise partizipieren daran heteronom (Arbeit nach Uhr etc.). Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit kehrte nach dieser Logik in die Pflege nur zurück, indem man dem öffentlichen Blick, in diesem Fall den Blick einer Zeitung lesenden Masse, einen privilegierten Zugang zur normalen Pflegerealität ermöglicht. Das Schlagbild soll natürlich empören und es möchte in den Blick auf die normalen pflegerischen Vorgänge ein Verdachtsmoment hinein transplantieren. So wird der alltägliche Blick auf die Pflege journalistisch als das zu Verdächtigende geschult. Insofern ist das Schlagbild auch ein didaktisches Bild in dem Sinne, dass es durch Zeigen erziehen möchte. Der Zeuge des Bildes soll ungefähr denken: „Sie machen das nicht richtig. Ja, wie so viele, wissen sie gar nicht, was sie tun.“ Man kann so weit gehen zu sagen, dass der Blick des Zeugen wichtiger für das Schlagbild ist als die betroffene Person, die auf dem Bild zu einer Funktion der Anklage geworden ist. 2.3.3 Handlungsbilder aus dem (vermeintlichen) Stationsalltag Bilder des Pflegerischen können als ein selbstverständlicher Teil von Pflegediskursen angesehen werden. Viele Bilder sind integraler Bestandteil und kommen genau besehen nicht von außen. Natürlich üben diese Bilder aber jeweils recht unterschiedliche Funktionen aus. Das geht vom Bild auf Werbeflyern oder Broschüren bis hin zu Lehrbüchern. Mal sollen sie für „gute“ Pflege einstehen, sie sollen die Aufmerksamkeit auf die „positiven“ Wirkungen eines neuen Verfahrens lenken und manchmal wollen sie auch von der Schuld des eigenen NichtPflegenkönnens entlasten. Wenn beispielsweise die Kinder pflegebedürftiger Eltern auf das Bildrepertoire einer Pflegeeinrichtung sehen, denken sie zwar weiterhin: „Ich kann das nicht selber leisten“, aber sie spüren beim Bild einen entlastenden Gedanken, der ungefähr so lauten könnte: Wenigstens, so sagt mir das Bild, ist die Mutter (der Vater) hier gut aufgehoben. Mir geht es jetzt primär um solch ein Bild positiver Selbstrepräsentation. Die meisten Einrichtungen im Gesundheitswesen werben für sich und setzen sich dafür auch selbst gerne ins Bild. Ich möchte den Vorschlag machen den im Sinne dieses Aussagenstatus verbleibenden Bilder, vermeintliche Handlungsbilder des Stationsalltags zu nennen. Dafür möchte ich exemplarisch das nachfolgende Beispiel analysieren.
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Abbildung 6: Foto einer Pflegeszene
(1) Wie erzeugt das Bild Sinn? (Boehm) Auf den Handlungsbildern der Pflege fallen ganz unabhängig von dem Einzelmotiv einige Charakteristika ins Auge: das ist zunächst und zuerst das in der hervorstechenden Farbe der Dienstkleidung befindliche Pflegepersonal und der im Nachthemd der Klinik oder in Privatkleidung befindliche andere Mensch. Auf dem von mir ausgewählten Bild agieren zwei Pflegepersonen an einer im Rollstuhl sitzenden älteren Frau. Ich schätze die linksseitige Person als Schülerin ein. Sie sieht jünger aus und steht überdies in einer leicht ungelenken Haltung, die sinnfälliger Weise die Haltung einer Lernenden sein kann. Das bleibt allerdings eine Vermutung. Auch was sie genau tut, weiß ich nicht. Ich ahne, dass die gepflegte Person etwas angezogen bekommen hat und vom Bett in den Rollstuhl überführt wurde. Es kann sich von diesem Blickpunkt aus aber auch umgekehrt darstellen, dass sie vom Rollstuhl in das Pflegebett erst überführt werden wird. Des Weiteren kann man erkennen, dass der hier sichtbar werdende Teil der Pflegehandlung nur das Resultat des unsichtbaren pflegerischen Handlungsablaufes ist beziehungsweise auf diesen referiert. Die gepflegte Person fasst nach den Händen, der ihr gegenüber auf dem Bett sitzenden Pflegerin. Ich schätze sie als eine ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin ein. Gehe ich richtig, ist das eine morgendliche Pflegeszene und das Bild charakterisiert genau den Zeitpunkt, an dem sie gerade beendet ist. Lediglich die Füße müssen noch auf die nach außen geklappte Fußstütze gebracht werden und dann kann die Dame ihr Frühstück am Tischchen bekommen, das heißt sie wird es im Rollstuhl sitzend einnehmen.
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Die Bildmitte wird durch eine interessante „Brücke“ gebildet, die zwischen Pflegeperson und Pflegender durch die Arme der Pflegerin entsteht. Offenbar haben die beiden der älteren Frau eine Strickweste angezogen und beim Zuknöpfen hat diese Dame nun spontan – vielleicht auch für den Anlass der Fotografie – die Hände der Schwester festgehalten. Das Bild spielt also in einem komödiantischen Stil an auf das symbolische Pflegemotiv der berührenden Hände. Diese personale Konstellation des Bildes beschreibt nunmehr die eine Seite, während die Szene auch durch Gegenstände angereichert wird, die wiederum nicht unterschätzt werden dürfen. Denn dieses klinische Material stiftet in gewis27 sem Sinn eine glänzende Ordnung. Vergewissern wir hinsichtlich der Gegenstände unseren Blick: Man sieht diese für das pflegerische Setting charakteristischen Dinge, wie Pflegebett mit Bettgitter, Klingel mit Schnüren, Rollstuhl und Wandkonstruktionen. Ihre Beteiligung auf dem Bild scheint erst einmal passiv und rein funktional zu sein. Denkt man sich die Personen auf dem Bild fort, so kommuniziert der Rollstuhl mit dem Pflegebett. Es gibt unabhängig der Handlungsteilnehmer eine Sprache des Sinns in der Klinik, die zu entschlüsseln etwas mit dem Durchschauen dieser materialen Anordnungen zu tun hat. Ein wesentlicher Sinn dieser werbestrategischen Darstellung wäre es zu sagen, es ist in dieser Institution auch eine Pflege des Spiels, des Witzes, der Pause, der Spontaneität und der Abweichung möglich. Ich möchte diesem unterstellten Sinn auf dem Bild im Zuge der weiteren Fragestellungen dezidierter nachgehen. (2) Was will das Bild beziehungsweise was wünscht es sich? (Mitchell) Das Bild wünscht sich eine Realität, die anders ist als die offenbar als bekannt unterstellte Pflegerealität. Es zeigt bewusst nicht die Arbeit der Pflege, die diesem Bild voraus oder nachgeht, es zeigt die Pause oder besser ein Happening. Dieses Moment entfaltet eine eigene Dynamik auf dem Bild. Man kann sie als Dynamik aus der pflegerischen Übertragung lesen. Jemand, der (beim Transfer etc.) eigentlich festgehalten werden und gepflegt werden soll, kehrt die Ordnung des Haltens um und greift die Hände der Schwester für diesen Moment. Diese Geste sagt ungefähr so viel wie, schau, was du noch tun kannst, wenn ich deine Hände festhalte. Es ist eine Geste, der wiederum einiges vorausgegangen sein kann. Sie kann zum Beispiel in eine Erzählung eingebunden sein. Die ältere Dame amüsiert sich genauso wie die rückseitig stehende pflegende Person, die ich als Pflegeschülerin gedeutet habe. Die scheinbar plötzlich „angegriffene“
27 Vgl. zum Glanz auf Bildern den Beitrag Cremoninis (2005: 217-248).
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Schwester versteht den Sinn des Witzes, ohne dass sie sich diesem Gelächter aber vollständig hingibt. Etwas in ihr erzeugt vielleicht einen Widerstand, denn es scheint so, als wolle sie die Arme zurückziehen. Vielleicht sollte man an dieser Stelle zwei Wünsche unterscheiden: einen Wunsch für das Bild und einen Wunsch des Bildes. Der Wunsch für das Bild möchte das Bild vermutlich als eine Art Lockerungsübung aus dem ansonsten eng reglementierten Klinikalltag verstanden wissen. Die Aussagen verliefen vielleicht in der folgenden Art: Diese Klinik ist locker, spontan und damit zeitgemäß human. Die Menschen fühlen sich in ihr wohl. Zumindest auf dem Bild. Demgegenüber zeigt der Wunsch des Bildes aber eine Variante der künstlerischen Form der Mimesis. Jemand spielt mit den Händen der Schwester. Dieses scheinbar machtvollste Instrumentarium jeder Pflegerin, welches sämtliche Pflegeleistungen bis zu diesem Zeitpunkt vollzogen hat, wird durch das Festhalten kurzzeitig in Frage gestellt, im Grunde sogar negiert und dadurch gleichsam karikiert. Für den Moment ist die gepflegte Person die Hauptperson und sie macht die anderen zu Nebenspielern beziehungsweise zu Bespielten. Die Spiel- und Gestaltungsfläche die hier entsteht ist interessant: wie kann man sie bezeichnen? In diesem Bild enttarnt sich das Pflegerische gerade als das paradoxe Zugleich aus funktional und dysfunktional, professionell und nichtprofessionell, symmetrisch und asymmetrisch und Spiel und Ernst. (3) Was stört das Bild und was stört unser Sehen? (Lacan) Um auf die Störgrößen zu kommen, möchte ich zunächst etwas auf die Farbgebung dieses speziellen Interieurs der Klinik eingehen. Ich sprach bereits davon, dass es sich um eine glänzende Ordnung handelt. Die Farbe des Glanzes ist Weiß. Aber wie man „weiss“, ist Weiß gar keine Farbe. Die Anordnung dieses Bildes scheint demnach in farbtheoretischer Hinsicht erst einmal streng binär zu verlaufen: zwischen Weiß und Farbe. Das würde bedeuten zwischen einer Nichtfarbe und Farbe, allgemeiner würde das heißen zwischen Nichts und Etwas oder mathematisch gesprochen zwischen Null und Eins. Cremonini hat wiederum deutlich gemacht, dass das Weiße einerseits eine Farbe ist, andererseits darauf hingewiesen, dass das Weiße zu seinem anderen nicht so sehr in der meist simplifizierenden Verhältnisfigur des Binären zu begreifen ist: „Die Farbe Weiß […] ist eine Farbe, die die Welthaltigkeit von Farbe (colour) auszulöschen und darin dem Licht am nächsten zu kommen scheint, sie liegt in Aufbau und Wahrnehmung einer Bildfläche nicht nur meist zuvorderst, sie scheint sich auch in ihrer Wirkungsweise über die anderen Farben zu legen.“ (Cremonini 2005: 247)
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Offenbar können wir mit Cremonini das Weiße auf dem Bild als das Dominante begreifen. Diese Dominanz könnte darin liegen, andere Farben automatisch in die Position des Heterogenen zu bringen. Die Fläche der pflegerischen Kleidung ist also nicht nur die einfache Projektionsfläche für den anderen, sie ist auch die konkrete Verlängerung der Ästhetik der Klinik. Ihre Ästhetik wäre eine, die mit dem universalen Weiß an dem Aufbau des Glanzes beteiligt ist. Diese Präferenz der Nichtfarbe operiert also nicht nur mit der Macht einer Ästhetikvermeidung, sie operiert mit der Faszinationskraft des Glanzes beziehungsweise setzt sie in Gang. Das Paradox dieser geweißten „Cleanik“ wäre beschreibbar als eine Unentschiedenheit zwischen der Bedeutung des Faszinierenden, das das Heilungsritual umgibt und das der „Einrollung“ einer, wie Cremonini herausgearbeitet hat, signifikanten Ordnung, die das Sichtbare einschränkt auf das in diese Ordnung eingelassene Subjekt. Das Bild bringt seinen Betrachter in eine Position begrifflicher Unentscheidbarkeit gegenüber diesem Happening. Jede Bedeutungszuschreibung und damit das Offene des pflegerischen Setting zu schließen. Meines Erachtens erfahren wir aber aus der Ordnung dieses Bild auch etwas Sicheres. Es zeigt, dass das Pflegerische sich nicht von der Seite der Pflegenden aus aufbauen kann. Die ältere Dame die spielt, überführt viele professionszentrische Perspektiven des Pflegediskurses als vorläufig. Sie öffnet eine Spiel- und Gestaltfläche, für die es im Pflegediskurs keine Bezeichnung gibt. Sie bringt in ihrem Gestus auch eine Möglichkeit über eine Unmöglichkeit des Pflegerischen in den Blick, nämlich sich darstellen zu können. (4) Was ist die Politik des Bildes oder das Regime hinter dem Bild? (Rancière) Es mutet vielleicht merkwürdig an, dass ich einfach wie ein Post-Pythagoreer anfange zu zählen, aber auf den Handlungsbildern die den Alltag der Pflege „hautnah“ präsentieren möchten, sind in den meisten Fällen mehr Pflegende als Pflegebedürftige abgebildet. Das macht zumindest stutzig und lässt nach dem Sinn dieser Scheinerzeugung forschen. Am Häufigsten findet man das Verhältnis 2:1, was zunächst nur so viel heißen soll, dass zwei Pflegende und ein Pflegebedürftiger abgebildet sind. Diese Verhältnisformation bedeutet einerseits, dass sich die Pflegenden auf dem Handlungsbild in einer relativen Mehrheit und damit in einem definitionsmächtigeren Status befinden. Das bedeutet andererseits aber auch ein allzu offenkundig irreales Verhältnis, insofern nämlich als es kontrafaktisch zur seit Jahrzehnten unter chronischem Personalmangel leidenden Pflegeberufswirklichkeit steht. In der deutschen Berufswirklichkeit beobachtet man in quantitativer Hinsicht eher Verhältnisse, bei denen eine Pflegende auf 6 bis 18 oder mehr
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Pflegebedürftige kommt. Diese Bilder möchten also mit einer gewissen Mutwilligkeit eine andere Ordnung etablieren, eine, die eine Unterstellung mit sich führt und die wiederum sicher nicht unproblematisch zu bewerten ist. Demnach hätte die Anzahl an Pflegenden den Eindruck einer wünschenswerten und besseren Pflege zu hinterlassen. Auf diesem spezifischen Handlungsbild hat diese Verhältnisform aber etwas reales, solange man hier eventuell eine informelle Anleitungssituation vorfindet, bei der eine Schülerin von der ausgelernten und kompe28 tenten Gesundheits- und Krankenpflegerin etwas lernt. Offenbar harmoniert die Dreierkonstellation auf diesem Bild. Das Pflegerische erweist sich dadurch als ein Ort, an dem sich mehrere Personen positionieren können. Gleichzeitig besteht eine Hauptachse zwischen Pflegerin und Pflegeperson und diese Hauptachse macht die Schülerin zu einer Nebenfigur. Diese Rangordnung verhindert auch die Möglichkeit einer Partizipation oder Teilhabe. Man kann spekulieren, inwieweit sich nachrangige Teilhaben als nicht vollgültig regulativ in das Setting einschreiben: So darf die Schülerin von hinten das Revers „zurecht zuppeln“ und sie darf mitlachen, aber sie darf offenbar nicht im Vollstatus einer Pflegeperson auftreten. Auf diesem Handlungsbild des vermeintlichen Stationsalltags kann man zumindest erkennen, dass die Personen, ähnlich wie bei den symbolischen Händen, eine Ordnungsstruktur haben. In diesem Bild ist die Pflegehandlung keine eindeutige und dennoch könnte sie eine Politik des Pflegerischen begründen, wenn man die Nichteindeutigkeit der Aussage als Kennzeichen des Pflegerischen unterstellt. Das Pflegerische stellt sich aus bildtheoretischer Perspektive eher als ein offenes Konsortium dar – und wäre meines Erachtens polymimetisch auch als solches begründbar. Es macht aus dieser Perspektive keinen Sinn, das Pflegerische als geschlossenes Handlungsszenario zu konzipieren. Vielmehr erscheinen mir auch die angesprochenen und sichtbaren Schließungsmechanismen aus den Mechaniken, Apparaturen und Räumen der Klinik selber nicht mehr als eine (freilich in dominantem Weiß erscheinen könnende) Relation an dem Ort des Pflegerischen, wo sie mit anderen Formen konkurrieren (im Sinne eines Zusammenlaufens). Die Politik dieses Bildes lässt die Darstellung dieser pflegerischen Interaktion mit der des pflegerischen Ablaufs kollidieren und als Hintergrund drücken 29 sich die Mechanismen der Cleanik ein. Diese Kollision überträgt das notwen-
28 Nach dem Bennerschen Phasenmodell entspricht das der Stufe 3 Kompetente Pflegende beziehungsweise Stufe 4 Erfahrene Pflegende (Benner 1994). 29 In meinen Augen beschriebe der Begriff der Cleanik die Ablösung in der Moderne von der neuzeitlichen Klinikstruktur, die sich vor allem durch das Primat des Hygie-
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dige Spannungsmoment, das im dargestellten Happening durch Humor in eine lösbare Form übergeht, das heißt indem sich die unterschiedlichen Mimetiken auf einer entstehenden Fläche zueinander relativieren. 2.3.4 Wissenschaft und Nächstenliebe – und was dazwischen? Abbildung 7: Pablo Picasso Cienca y caridad, 1897, Museu Picasso
(1) Wie erzeugt das Bild Sinn? (Boehm) Das Bild erzeugt natürlich einerseits Sinn über seinen Titel, anderseits über die auf ihm gezeigten Beschäftigungen. Der Sinn dieses Bildes ergibt sich, wie ich zeigen möchte, erst aus einer genaueren Analyse des Aufbaus dieser Differenzspannung zwischen Text und Bild. Der Text ordnet nämlich ciencia – nach der in diesem Fall historisch orientierte Lesart – dem ärztlichen Handeln auf dem Bild zu und caridad dem Handeln der Ordensschwester. Die Begriffe des Bildti-
neparadigmas auszeichnet und sich einem mikrobiologisch begründeten Gesetz eines unsichtbar drohenden Außenfeindes unterworfen hat.
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tels stehen zu den Handlungen auf dem Bild in einer Abstraktion und Verkürzung. Was sieht man auf dem Bild, wenn man nicht durch die Brille dieser Begriffe darauf schaut? Auf dem Bild erscheinen vier Personen. Im Zentrum liegt eine kranke Frau und offenbar steht auf der einen Seite eine Ordensschwester und sorgt sich um das Kind der Kranken. Gleichzeitig reicht sie der Kranken eine Tasse mit einem Getränk. Die Kranke macht keinerlei Anstalten nach der Tasse zu greifen, offenbar erreicht sie der Wunsch zu trinken von außen. Warum gehe ich wie selbstverständlich davon aus, es handele sich hier um eine Kranke? Natürlich wird man als Argument dieser Annahme bereits die Pflegemaßnahme der Ordensschwester deuten. Warum sollte sie der liegenden Frau eine Tasse reichen, wenn sie sich selber Tee eingießen könnte? Da ist zum anderen der Arzt. Man erkennt den Arzt weniger an seinem Aufzug als vielmehr an seiner Tätigkeit. Er fühlt den Radialpuls und er scheint vollständig in diesen Prozess vertieft. Sein Blick ist auf die Uhr gerichtet. Der Ausdruck der Kranken erklärt sich aber nicht nur mit Blick auf die beiden Helfenden. Die bettlägerige Frau hat selbst Zeichen des Kranken an sich. Picasso hat sie erschöpft liegend und blass gemalt. Das, was man sieht ist weniger die schöne Kranke im Sinne des alten Ideals der Romantik, denn die realistisch und um die vitale Kraft ihres Somas beraubte Kranke. Ihre rechte Hand, an deren Gelenk der Puls getastet wird, ist bereits von der Sorte Blässe wie das kommende Stadium ihrer Krankheit. Picasso hat mit der Hand einen Vorboten des Todes gemalt. Lässt man diese Deutung zu, handelt es sich eben nicht primär um eine Kranke, sondern um eine Sterbende. Beide Deutungsmöglichkeiten Kranke – Sterbende lassen sich aber nachvollziehen. Sie bilden die Grundlage für ein oszillierendes Moment des Bildes zwischen vitalistischer und realistischer Lesart. Erstere ließe eine Heilung in der Zukunft möglich werden, letztere nimmt den Tod der Frau als Faktum an. Der Sinn des Bildes scheint die Darstellung einer Differenz zu sein: Auf der einen Seite wird der Anspruch sichtbar, der aus der Hilfsbedürftigkeit der finiten Ordnung des Menschen spricht und auf der anderen Seite erblickt man das System der umfassenden Hilfe aus Wissenschaft (Medizin) und Nächstenliebe (Pflege). Umfassend ist die Hilfe, die sich zwischen medizinischer beziehungsweise wissenschaftlicher Hilfe und realistischer, pflegender, konkreter Hilfe aufspannt. Das Feld dieses Hilfesystems wäre hinsichtlich seines Relationsaufbaus zwischen den Polen Nähe und Distanz aufgespannt: Die Wissenschaft baut trotz körperlicher Nähe maximale Distanz zu der Kranken auf, um eine Ordnung des Wissens nach Hilfsmöglichkeiten zu befragen. Die alltagsnah vorgehende Ordensschwester kümmert sich offenbar um die konkreten Dinge, wie das Kind der
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Kranken und die leiblichen Bedürfnisse. Sie baut also ein nahes oder konkretes Verhältnis auf, wirkt durch ihre Haltung und ihren Blick aber distanziert. Das Bild bringt beide Hilfeleistungen in eine gewisse Harmonie zu der Kranken, aber der Sinn des Bildes erschöpft sich nicht darin das System der Hilfe affirmativ zu bestätigen. Denn das Bild sagt andererseits in aller Deutlichkeit, dass beide Modi der Hilfe zwar nicht gänzlich umsonst sind, aber dass jedes Helfen begrenzt ist. Der Anspruch der Kranken trägt etwas unerfüllbares, einen Rest und einen Riss, den auf dem Bild anscheinend niemand wahrnimmt, der aber für den Betrachter sichtbar wird. Dieser Anspruch tritt in Differenz zu den Möglichkeiten. Die thematisierte Grenze beim Helfen ist meiner Auffassung nach der Sinn des Bildes. Dieser Riss zwischen Bedarf und Stillung wird nicht im Bild geschlichtet, vielmehr wird er als offenes Problem in den Betrachter verlagert. (2) Was will das Bild beziehungsweise was wünscht es sich? (Mitchell) Der Sinn des Bildes ist es meiner Auffassung nach die Grenze der Wissenschaft, die Grenze der Nächstenliebe, die Grenze zwischen den Wörtern und dem Sichtbaren zu thematisieren und das alles ohne das Pathos einer demonstrativen Kritik abzurufen. Der Sinn bestünde demnach auch darin, die Sinnlosigkeit eines selbstverständlich unterstellten (lebensweltlichen) Sinns grundsätzlich anzuzweifeln. Das Bild scheint in dieser Skepsis radikal zu sein, denn es glaubt vielleicht nur dem was es sieht. Und was es sieht ist einen auszehrenden Prozess. Dieser Prozess wird unbestritten als ein besonderer Prozess dargestellt, er steht im Zentrum, er wird strahlend beleuchtet, ihn umgibt eine Aura der Stille und einen Moment – der vielleicht im Leben der Kranken abwesend war – des Friedens. Daran lässt sich erkennen, dass Picasso durchaus noch an den klassischen Mitteln der Euphemisierung des sterbenden Anderen orientiert ist. Er zeigt die andere Seite der Krankheit und er zeigt diese Seite mit den indirekten Mitteln der Erhöhung, um wiederum auch die Ferne dieser Situation anzudeuten, die vielleicht schon die Ferne aus der Differenz zwischen materiellem Bild und Betrachter reflektiert. Scheinbar bekommt man von außen einen direkten Zugang zu diesem Raum des Leidens, zu diesem Raum des Finiten. Es handelt sich um einen Zugang den die beiden großen helfenden Systeme nicht haben. Doch offenbar geht es sehr genau um diesen einen Zugang zu diesem letzten Bezirk, der weder durch Medizin noch durch Nächstenliebe (Religion/Pflege) auffindbar oder linderbar ist. Dieser Bezirk, den das nicht mehr (Leben) und noch nicht (Tod) markiert. Offenbar trägt dieser Zugang aber einen nicht eindeutig gekennzeichneten elitären Zug. Das Bild verschafft ihn und nutzt seine Macht, indem es den Betrachter zu einem Zeugen, zu einem Dritten macht. Was deutet darauf hin, dass
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das Bild um diese Dinge weiß und mit der Präsenz vor ihm spielt? Die Szene ist zum Betrachter hin geöffnet. Sein Platz ist im Bild festgehalten, durch die Öffnung zu ihm. Er ist der Gast. Dabei wird nicht ganz klar, ob die sterbende Frau den Blick aus dem Bild heraus zu dem Gast direkt wagt. Diese Unwahrscheinlichkeit würde auch eine Form der Blick-Aggression mit sich führen, die mit einer Transgression einher ginge die ihr etwas von dem Ausdruck des Leidens 30 nehmen würde. Andererseits würde das auch heißen, dass sie einen Kontakt zu diesem Dritten und anderen sucht. Fast scheint es, als könne sie diese Quelle eines verbindenden und stumm bleibenden Blicks vor dem Bild halb sehen und das Verbindende erspüren: die Evokation des Mitleids des Anderen oder besser gesagt, der anderen Variante des Mitleids die das Bild sich wünscht. Umgekehrt spiegelt das Bild dem Betrachter seine Möglichkeit durch die Unmöglichkeit, sich aus dem Bild wieder als einfach davor stehend zu sehen, zurück. Hier findet sich schwerlich eine einfache Achse Leiden – Mitleiden, wie man sie aus der ikonographischen Tradition des Kreuzes kennt. Die klare Ortsangabe wo Leiden und wo Mitleiden und wie sie zuordbar sind, eventuell gar zwischen Bild und Betrachter, misslingt. Die Ethik dieses Bildes wäre nicht mehr in einem stummen oder passiven oder Schopenhauerschen Mitleiden für den Anderen zu sehen, vielmehr wäre ihre conditio sine qua non die Erkenntnis, dass Krankheit ein Anderes hat die beim Pflegerischen wirkmächtig ist, auch wenn es nicht wahrgenommen werden kann von den an ihm teilhabenden Professionen. Das Bild stellt über die Etablierung eines Blickverhältnisses eine Verbindung her zu einem universalen Moment des Erkennens und Wiedererkennens eines Rätselbezirks, von dem seit der Feinzeichnung von Sokrates Tod in der Apologie immer auch ein Lustmoment oder ein Begehren ausgeht. Das Bild nimmt also unter den Bedingungen der Darstellung Momente des Todes vorweg, wie zum Beispiel durch die Stillstellung oder der Überraschung, dass es nicht das zeigt was man zunächst erwartet hat. (3) Was stört das Bild und was stört unser Sehen? (Lacan) Offenbar verbietet uns das Bild eine gewisse Lust zu empfinden. Es erotisiert uns nicht, jedenfalls nicht offenkundig. Weder bekommt man Lust bei der Sterbenden noch bei sonst wem unter die Decke zu schauen. Das heißt dieses Bild arbeitet nicht mit offenen Anreizen. Es ist in gewisser Weise schwierig sich ihm zu nähern. Und doch kann ich nicht behaupten, das Bild ziehe mich nicht an. Was bannt meinen Blick, was stört ihn also? Ist es die vergangene Schönheit der
30 Vgl. zum Blick aus dem Bild Siegert (2005: 103-126).
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Sterbenden, ihre Vanitas, deren weißliche Tönung ihr Sterbeelend versüßen soll? Wird man durch die Perspektivität des Blicks zum Voyeur am Rand des Lebens des Anderen? Genießen wir als Betrachter diesen existenziellen Rand als ein Ereignis, das uns offenbar von diesem Rand distanziert und uns verspricht, wir werden verschont? Offenbar kommt man dieser Grenze nicht in der Weise nah. Bekommt hier aber der eigene Blick einen ungewöhnlichen Zugang? Dieser Blick auf das Tableau ist sicher nicht ohne. Er kann alles ganz genau einsehen und bleibt dennoch fern genug, um nicht so schnell gesehen zu werden. Auch wird diesem Blick die Szene getreu bis auf die Faltungen der Oberdecke gemalt. Bisher habe ich über vieles gesprochen und dabei Überlegungen zu dem Blickverhältnis zwischen Kind und vermeintlicher Mutter des Kindes vollständig vermieden. Dieser Aspekt meiner Verdrängung lässt einen Verdacht aufkommen. Ich nehme an, das Kind schaut seine sterbende Mutter an. Was könnte das für eine Sicht sein? Der Blick des Kindes erscheint mir fasziniert und schüchtern zugleich zu sein. Es ist auch ein singulärer Blick, der jenseits von Mitleid, Überbau oder professionellen Systemen ein Verhältnis zu der Sterbenden hat. Vielleicht ist es dieser Blick, der das Verhältnis des Bildes zum Betrachter nachhaltig (ver-)stört, weil er als der Blick angenommen wird der sich das Bild wirklich merkt. (4) Was ist die Politik des Bildes oder das Regime hinter dem Bild? (Rancière) Man kann das Bild schlecht für eine Politik vereinnahmen und andererseits lässt sich eine Politik des Bildes schlecht leugnen. Es ist nicht das Atelier einer Reichen, das man hier einsehen kann. Das Zimmer ist schlicht und erzählt eher sublim von einer Armut, die außerhalb des Zimmers real existiert. Hier scheint die Frau an einem Ort zu sein, wo sie und ihr Kind Pflege und medizinische Betreuung bekommen. Die politische Kritik des Bildes äußert sich im Bild nie in der offenen Konfrontation eines Agitprop – und doch werden alle Professionen nicht bloß gezeigt, sondern in der Darstellung zugleich auch kritisiert: Der Arzt schaut die Kranke gar nicht an und wird als jemand gezeigt der Messwerte ermittelt und prüft. Ihnen vertraut er anscheinend mehr als seinem Blick und seiner Erfahrung. Die Ordensschwester wirkt ebenso innerlich unbeteiligt und hält eine spürbare Distanz zu der Kranken. Sie scheint mit ihr kommunikativ keine Ebene zu suchen. Zu dem Kind der Frau verhält sie sich anders – vielleicht weil das Kind nach dem Tod der Frau in die Klosterschule käme und eine potentielle Nachfolgerin bedeutete. Die „Nächstenliebe“ des Bildes wäre also versteckt und doch in realistischer Manier enttarnt. Aber es fällt schwer die Professionen mit dem Bild anzuklagen. Das Bild weiß, dass es zeigt wo die Professionen ihre Grenze haben.
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Es macht ihnen keinen Vorwurf außer vielleicht den, dass sie diese Grenze und ihre Auswirkung niemals offen thematisieren. Auch der gesellschaftliche Vorwurf beziehungsweise die Kritik an das Soziale wäre hier zu formulieren. Denn die Gesellschaft hat diese Frau und ihr Kind offenbar bereits abgeschrieben. Wo sind die Eltern der Frau oder ihr Mann (beziehungsweise der Erzeuger des Kindes)? Vielleicht handelt es sich um eine Frau, die die gesellschaftlichen Normvorstellungen gebrochen hat? Demnach kritisierte ihr in diesem Bild eingefangener Sterbeprozess bestimmte Formen gesellschaftlicher Teilhabe, wie Familie und öffentliche Institutionen. Mit Philippe Ariès (2009) darf man überdies annehmen, dass die normale Todesvorstellung am Ausgang des 19. Jahrhunderts die war, dass man im Kreis der Familie und der seinigen stirbt. Man verabschiedet sich von allen und stirbt öffentlich. Auf dem Bild sieht man nur auf Basis von Unterstellungen eine Sterbende und sie stirbt offenbar nicht nach der damaligen Norm. Andererseits stirbt sie auch nicht allein. Allerdings sehe ich sie allein. Ich bin auf eine Paradoxie gestoßen. Die Sterbende ist nicht allein und doch ist sie in ihrem Sterben allein. So allein, dass der Betrachter in ihrem Sterben an seine eigene Einsamkeit im Bann des Sozialen gemahnt wird. Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, dieses Bild als einen Mahnruf der eigenen Einsamkeit zu lesen, die im Tod ohnehin entstehen wird. Dieses Bild bietet dem Betrachter die paradoxe Möglichkeit an, die Andersheit des Anderen im Eigenen zu erfahren. Das wäre seine vielleicht nur apolitisch formulierte Politik. 2.3.5 Ergebnisse der Bildanalyse Eines der Anliegen der Bildanalyse war, den Gegenstand „Pflege“ und dabei insbesondere wie er über die visuelle Wahrnehmung hergestellt wird zu thematisieren und zu problematisieren. Wichtig schien mir den Spuren nachzugehen und genauer zu betrachten, die sich konkret auf der bildlichen Darstellung zeigen. Dabei wurde deutlich, wie wichtig es ist gerade die Differenz zwischen Bild und seiner textlichen Sinnzuschreibung zu beachten. Mich interessierten vor allem diese erkenntnisleitenden Fragestellungen: Wie stellt sich das Pflegerische in Bildern dar? Welche Probleme zeigen sich bei der Darstellung von Pflege? Was wird sichtbar von dem Gegenstand „Pflege“? Was bleibt unsichtbar? Wie lassen sich diese Fragen nun beantworten? Die Analysen zum Bild zeigen auf Basis der Spuren, die vom Pflegerischen erkennbar werden, ein pflegerisches Tableau. Es stellt das Pflegerische als different dar. Dabei gehe ich bei diesen Differenzen primär von unterschiedlichen visuellen Wahrnehmungen aus. Durch diese Konzeption eines Tableaus, wie sie durch die exemplarische Bilda-
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nalyse entstehen, wird meines Erachtens die These deutlich, dass die Darstellung des Pflegerischen immer eines pflegerischen Tableaus bedarf. Insofern kann man das pflegerische Tableau im Verhältnis zum Bild als eine Entfaltung des Bildes verstehen. Was ist das pflegerische Tableau im Verhältnis zum Ort? Es ist ein Ort, der das Spezifische des Pflegerischen sichtbarer werden lässt. Zum Beispiel erkennt man, dass das erste symbolische Bild der berührenden Hände das Besondere der Pflege und dass das zweite Bild eher etwas Alltägliches der Pflegerealität zeigen möchten. So entsteht dem Pflegerischen bei seiner Darstellung eine Konstellation: Sie spannt sich auf zwischen dem (jeweils unterstellten) Selbstverständlichen und Besonderen − das Besondere zeigt sich verwickelt mit dem Selbstverständlichen und umgekehrt. Beispielswiese erscheint dem Zeitungsleser der bedrohliche Pfleger mit dem Löffel als etwas Besonderes inmitten des Alltäglichen. Auch die Statusproblematik die der Pflegeberuf in der Gesellschaft hat, kann auf den Bildern zwar nicht vollständig erklärt, aber doch thematisiert werden. Es besteht nämlich ein erheblicher Unterschied zwischen der Darstellung der Pflegenden und der Darstellung des Pflegerischen. Die Darstellung der Pflegenden ist an bestimmte Personen gebunden, wie die Schwester in der Klinik oder die Nonne im Spital. Die Pflegenden selber sind aber offenbar nur ein Teil der Darstellung des Pflegerischen. Man kann auf den Bildern gut erkennen, dass sich an diesem Ort des pflegerischen Tableaus ganz unterschiedliche Positionierungsmöglichkeiten ergeben, zum Beispiel die des Betroffenen, der Schülerin, der Pflegenden oder auch die eines Beobachters. Das Bild „Wissenschaft und Nächstenliebe“ zeigt diesen Ort des Tableaus als Darstellung des Pflegerischen am deutlichsten und wie ich meine bereits in einer Reflexivität. Aber auch auf dem Handlungsbild aus dem Stationsalltag wird deutlich, dass sich die Darstellung des Pflegerischen als ein Tableau aufspannt zwischen Pflegeschülerin, Patientin und Pflegender. Dieser Ort des Tableaus erzeugt meines Erachtens eine eigene Form der Sichtbarkeit. Das Pflegerische erscheint auf dem Handlungsbild beispielsweise konkret als ein Ort, der als das Dritte zu beschreiben ist, das sich aus einer doppelten Handlungslogik – in diesem Fall die aus Funktionalität versus Spiel – heraus entwickelt. Das Pflegerische wird auf dem einzelnen Bild unter einem jeweils anderen Motiv eingeführt. Diese Motive erscheinen aus Sicht von Pflegenden sicher eher als normal und alltäglich, vor allem wenn man bedenkt was sich auf den ersten Blick zeigt: berührende Hände, Nahrung-Anreichen, Helfen bei der Mobilisation und eventuell beim Anziehen im Rahmen einer großen Morgentoilette und schließlich eine palliative Pflegesituation. Dennoch spiegeln diese Motive eine
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kulturelle Breite und verdanken sich ihrer Herkunft nach ganz verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Das erste Bild ist aus einer politischen Kampagne, das zweite illustriert eine reißerische Zeitungsmeldung, das dritte stammt von einer Internetseite einer Klinik und ist als eine Art Imagewerbung zu werten und das vierte Bild ist ein früher Picasso, damit ein Kunstwerk aus der Malerei. Die Herkunft der Bilder macht also deutlich, dass sich Pflegemotive in vielen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen auffinden lassen. Zwei Beobachtungen lassen sich auf Basis der Bildanalyse genauer unterscheiden: Die Darstellungen zeigen oft nicht das was ihr Thema ist, sondern verweisen auf etwas das eventuell undarstellbar ist. Die Darstellungen zeigen einen Ort, für den ich den Begriff des pflegerischen Tableaus einführe. 2.3.5.1 Grenzen der Darstellbarkeit Die einzelne Darstellung des Pflegerischen zeigt oft nicht nur etwas Konkretes, sondern verweist auch oftmals auf etwas Anderes, wie zum Beispiel auf eine Limitierung des Pflegerischen oder auf eine Forderung an das Pflegerische. Das bedeutet die Darstellung des Pflegerischen zeigt oftmals etwas genau nicht. Dass die bildliche Darstellung nicht alles zeigt oder gerade dadurch zeigt, in dem sie etwas genau nicht zeigt und in eine spezifische Abwesenheit zu sich bringt, bedeutet für die Darstellung des Pflegerischen eine zentrale Erkenntnis. Zuwendung, Gewalt und Tod sind jeweils die Themen, die nicht dargestellt werden aber durch die Darstellung als Thema ausgewiesen werden. Sie werden gleichsam durch die Darstellung des Pflegerischen als undarstellbar dargestellt, als Darstellungsgrenzen. Diese, durch die Bildanalyse sichtbarer werdenden Grenzen der Darstellbarkeit sind meines Erachtens entscheidend für die derzeitige kulturelle Konturierung des Pflegerischen. Anhand dieser drei Darstellungsgrenzen Zuwendung, Gewalt und Tod lässt sich zeigen, dass das Pflegerische nicht vollständig darstellbar ist, sondern dass jeweils die Darstellung und ihr Anderes betrachtet werden muss: Eingangs wurde ein Bild thematisiert, das zwei berührende Hände als „Symbol des Pflegerischen“ zeigt (Greb 2003: 231, 236). Das Bild und sein Titel „Pflege braucht auch Zuwendung“ waren Teil einer gesundheitspolitischen Kampagne. Die genauere Analyse ergab eine deutliche Kluft zwischen den Händen. Diese Kluft bekommt durch die Berührung den Schein einer Aufhebung oder Schließung. Sie wird auf mehreren Ebenen des Bildes über Vermeidung hervorgerufen: Zum einen wird eine Konfliktperspektive sowie jeglicher Verdacht einer Gewalt zwischen den Generationen vermieden, zum anderen aber auch jegliche libidinöse oder kraft-
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volle (i. S. einer brüderlichen) Form einer Berührung. Es lässt sich feststellen: Erst durch die Vermeidung jeglichen Extrems wird versucht das zu zeigen, was der Text als Mehrwert des Pflegerischen ausweist − Zuwendung. Die Analyse ergab aber, dass Zuwendung genau nicht dargestellt wird. Insofern behauptet das Bild durch Rückgriff auf eine kulturelle Codierung und in seiner symbolischen Bedeutung das zu zeigen, was – so die Unterstellung des Bildes – offenbar in der normalen oder alltäglichen Pflegerealität nicht zeigbar ist. Was ist das Besondere des Pflegerischen? Zuwendung, so behauptet es meines Erachtens das Bild und dessen Text, sei dem Pflegerischen nur als Besonderes zeigbar. Zuwendung markiert eine Grenze der Darstellbarkeit für das Pflegerische. Man kann sie nicht zeigen, soll sie aber zeigen, so die paradoxale kulturelle Forderung an das Pflegerische. Es ist also offenbar mit Zuwendung die Form der Liebe gemeint, die kulturgeschichtlich das „Konzept der Nächstenliebe“ abgelöst hat, die sanft allen Seiten gerecht werden muss und nicht extrem wirken möchte. Von daher habe ich kontrastierend dazu als nächstes Bild ein „Schlagbild“ ausgewählt, eines das die Drohung realer pflegerischer Gewalt aussprechen möchte. Das Schlagbild aus der Zeitung „Die Welt“ suggeriert, anders als das vorhergehende Bild, etwas Alltägliches und Selbstverständliches der Pflege zu zeigen. Während das erste Bild der berührenden Hände das unterstellte Besondere der Pflege, die Zuwendung mit einer Haltung der Vermeidung untermalt, so arbeitet dieses Bild eher daran eine besondere Perspektive auf das Alltägliche der Pflege zu etablieren, in Form einer Verdachtsperspektive. Das Bild zeigt die Pflegehandlung bereits in ihrem unterstellten Alltag als gestört und es zeigt des Weiteren, dass humanistische und bürgerliche Normen und Werte in der realen Pflegesituation auf dem Spiel stehen. Diese Drohung erzwingt, dass gerade das Alltägliche der Pflege nicht ohne Zeugen auskommt. Dieser Zeuge in Form des Zeitungslesers wird als ein Blick von außen etabliert, der bestimmte Auswüchse wie das gewaltsame Nahrungsverabreichen in der Pflege korrigieren kann und soll. Dieser Blick von außen ist diesem Bild wichtiger als der Blick der Betroffenen, die in diesem Fall zu einer Funktion des Zeugen wird. Das Handlungsbild aus dem vermeintlichen Stationsalltag zeigt das Pflegerische gerade als paradoxale Mischung, beispielsweise aus Spiel und Ernst. Die Analyse des Bildes macht deutlich, dass im pflegerischen Tableau verschiedene Mimetiken zusammen kommen die sich im Tableau schneiden. Vieles bleibt auf dem Bild unklar und muss geraten werden. Des Weiteren wird auch auf diesem Bild deutlich, wie sehr Gegenstände (Bett, Rollstuhl, Kleidung etc.) zu beachten sind und dass diese eine ganz eigene Sprache und eine eigene Weise des Blicks im Tableau entfalten.
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Auch künstlerisch gibt es diese Verbindung zu einer Sphäre des Undarstellbaren. Das Bild der Sterbenden thematisiert sowohl die Grenzen der auf Wissenschaft basierenden Berufe als auch der auf Nächstenliebe aufruhende Berufe. Die Handlungen aus beiderlei Systemen erweisen sich als begrenzt angesichts der Situation, die der Tod hervorruft. Das Bild zeigt eine Sterbende und weniger den Tod. Doch ist der Tod offenbar das spezifisch Ausgeschlossene, der Blickpunkt des Bildes. 2.3.5.2 Zum Ort der Darstellung des Pflegerischen Das Pflegerische stellt sich konkret dar. Den Ort dieser Darstellung bezeichne ich als pflegerisches Tableau. Der Begriff „Ort“ ist im Sinne eines Topos gemeint und topologisch zu verstehen. Dieses Tableau lässt insofern auch Probleme mit der Darstellung deutlich werden, denn es handelt sich offensichtlich um einen Ort, an dem sich unterschiedliche Wahrnehmungen schneiden und gegenseitig bedingen. Interessanterweise geht es aber auf dem Tableau stets auch um konkrete Möglichkeiten zur Gestaltung. Beispielsweise führt die Berührung der Hände eine politische Möglichkeit zur Verbindung zwischen Pflegenden und Betroffenen (der Ausgangsdifferenz des Pflegerischen) und allgemeiner zwischen den Generationen vor Augen. Diese Verbindung ergibt sich aber lediglich auf Basis eines Scheins. Tatsächlich bleibt die Differenz des Pflegerischen zwischen den Händen bestehen: ich meine diese Kluft ist auch durch die weiteren Bildanalysen deutlich geworden. Das bliebe entscheidend für mich festzuhalten, dass die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen auf Bildern und wie diese sich also über die Wahrnehmung darstellt, nicht nivelliert wird, sondern lediglich auf Basis eines zum Teil sehr wirkmächtigen und wie in diesem Fall diskursiv erzeugten Scheins über das Pflegerische behauptet wird. Dieser Ort des Tableaus ist definierbar als ein durch die Darstellungssphäre des Pflegerischen eröffneter Raum, in dem Differenzen und Problematiken dieser Darstellung, wie sie sich beispielsweise auch im Zusammenhang mit Darstellungsgrenzen zeigen, sichtbarer werden können. Dieses sichtbar werden können des Pflegerischen setzt, wie dieses Bildkapitel gezeigt hat, eine Reflexivität und darin eine Differenz voraus: „Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz. Was sich betrachten lässt, ist nicht Eins, und es ist das Gesetz der Addition des Ursprungs zu seiner Repräsentation, des Dings zu seinem Bild, dass Eins plus Eins wenigstens Drei machen.“ (Derrida 1983 [1967]: 65)
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Das pflegerische Tableau ist also auch ein durch die Reflexion des Pflegerischen entstehender Ort, dessen Spuren man auf den Bildern des Pflegerischen als Bild nachweisen kann.
3 Zuschnitt als Tableau
Das Pflegerische zeigt demnach Auffälligkeiten, die ich mit Hilfe der entfalteten Bildanalyse und der Konzeption eines pflegerischen Tableaus sichtbarer werden lassen möchte. Doch was ist ein Tableau?
3.1 D AS T ABLEAU Der französische Term Tableau hat seinen Ursprung in dem lateinischen Wort tabula, der Tafel oder dem Tisch. In dieser Herleitung wäre es begreifbar als ein Ort an dem sich etwas darstellen oder zeigen kann. Das Tableau sieht sich etymologisch im engeren Sinn verwiesen auf Bedeutungen wie Gemälde, Landkarte, Brett, Tafel, im weiteren Sinn auf Liste, Archiv, Täfelung und Bretterboden. Tabula und im kulturhistorischen Fortgang das französische table erfasst auch 1 den Resonanzraum musikalischer Instrumente, ihren corpus. Zedler reduziert das Tableau 1744 vornehmlich auf das „Gemählde“ (oder fr. peinture) mit wiederum drei Konstituenten: „Composition“, „Dessein“ und „Colorit“. Dabei bleibt aber beispielsweise das Verzeichnis (fr. Tableau de la Cour) der Berufstätigkeit der Beamten nicht unerwähnt, als eine polizeiliche Funktion des Regimes (Zedler 1997 [1744]: Sp. 1307). Das Grand Dictionnaire von 1894 beschrieb das Tableau in seiner Vielfältigkeit und Interdiskursivität. Seine Kernbedeutungen lassen sich wie folgt zusammenfassen (Larousse 1894: 1374-1376): In naturwissenschaftlichen Diskursen wie dem der Physik und dem der Anatomie wird es unterschiedlich erwähnt. Als Tableau magique bezeichnet es einerseits die Verdoppelung durch das Glas, während andererseits 1850 der Histo-
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Vgl. z. B. zum Verhältnis von Resonanz und Corpus Nancy (2002, 2010).
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loge Charles Robin seine Tableaux d’anatomie veröffentlichen wird, die bereits 2 die Zelllehre beinhalten (vgl. Dhom 2001: 42). In Kunstdiskursen wird das Tableau sowohl in der bildenden Kunst für das Bild oder das Gemälde verwendet als auch in der darstellenden Kunst des Theaters für die Bezeichnung der Bühnenkulisse beziehungsweise des theatralisch gestalteten Raum (Tableau vivants, historische Tableaus). Im vom Dictionnaire zitierten geistesgeschichtlichen Diskurs referiert es auf drei weitere französische Terme: répresentation (Darstellung), reproduction (Abbildung/Nachbildung/Vervielfältigung) und exposition (Ausstellung/Darlegung/Ausrichtung/Schau/Belichtung). Das Tableau wäre hiernach grundsätzlich als Raum beschreibbar, in den etwas konkret eingeschrieben wird und sich dadurch zeigt. Außerdem scheint das Tableau eine Eigenschaft inne zu haben, differente Diskurse zu eröffnen oder zu verbinden. Diese Eigenschaft macht es für eine mehrperspektivische und interdiskursive Thematisierung des Pflegerischen besonders wertvoll. Auch kann man demnach in einem Tableau im Sinne eines Bildes sein oder sich auf einem Tableau im Sinne einer Bühne befinden. Weitere Theoretisierungsmöglichkeiten dieses Terms möchte ich anhand von zwei geisteswissenschaftlichen Positionen (Foucault und Lacan) vergegenwärtigen. 3.1.1 Zum nosologischen Tableau (Foucault) Foucault beispielsweise hat eine umfassende Kritik an dem (nosologischen) Tableau der Medizin der Neuzeit geleistet. Er verstand unter einem Tableau eine ziemlich simple Raumvorstellung, etwas tischartiges, etwa wenn er zu diesem „Projektionsraum ohne Tiefe“ folgende Struktur in der Genese eines medizinischen Diskurses herausstellt: „Die erste Struktur der klassifizierenden Medizin ist der flache Raum des Immerwährend-Gleich-zeitigen – das Tableau.“ (Foucault 2002: 22) Wie man sieht, entbehrt das Wörtchen „Tableau“ nicht einer gewissen Simplizität der Raumvorstellung. Für mein Vorhaben, den Raum, in dem sich Pflegerisches darstellt als ein Tableau zu bezeichnen, wird dieser Term vermutlich nicht gerade für eine Überhöhung dieser Sphäre sorgen können. Doch wird man das Tableau mit Foucault
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Heute findet man beispielsweise das Tableau auch als Term der Mathematik, wo es die Darstellung von Baumkalkülen bezeichnet. Es wird in dem mathematischen Diskurs vornehmlich auch als didaktische Methodik verstanden, automatische Beweise (Beweisketten, Kalküle) in reduzierter und anschaulicher Form zu demonstrieren (Beckert 1998: 5f.).
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sicher nicht nur simpel verstehen können (vgl. Ruoff 2007: 203f.). Etwa wenn er das Tableau als universales und technisch erzeugtes Machtinstrument zur Lösung des Ordnungsproblems des 18. Jahrhunderts begreift. Durch diese Herstellung einer Seite der Ordnung und der Übersichtlichkeit bekommt das Tableau eine Doppelseitigkeit, die auch eine dunkle Seite hat. Demnach charakterisierte die andere Seite des Tableaus die Kantsche und Hegelsche Vielheit, postmodern gesprochen eine Pluralität oder mit Agamben eine Form der Beliebigkeit, während das Tableau diesseitig eine übersichtliche Ordnung präsentiert und diese auch mit einer Portion Macht ein- und durchsetzt. Es wäre also mit Foucault gedacht bei einem pflegerischen Tableau stets auch die andere Seite oder das Ausgeschlossene mitzudenken. Um die Folgen solch einer über das Tableau strukturierten Wissensmacht deutlich zu machen, bietet Foucault Erweiterungsperspektiven an, wie zum Beispiel die Möglichkeit ökonomische Sachverhalte, die Zirkularität der Waren und den Kreislauf des Geldes über das Tableau zu verstehen. Des Weiteren kann auch eine Disziplinarordnung im Rekurs auf das Tableau thematisiert werden. Dieses aus der militärischen Logik entsprungene Tableau der Disziplinierung konstituierte beispielsweise ein eigenes Subjekt. Und zwar weist dieses Tableau stets ein Verhältnis zu einem idealen Führerbild auf.3 Außerdem arbeitet Foucault in Auseinandersetzung mit dem (Universal-)Naturwissenschaftler Cuvier in „ Die Ordnung der Dinge “ heraus, dass die neue Tableau-Sprache ein Verschwinden der Natur bedingt. Das bedeute ein universelles und diskursives Tableau-Regime, das sich im Medium der Sprache als neues Räumlichkeits- und Ordnungsdispositiv über das Lebendige Macht verschaffe (Foucault 1974: 3224 341).
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Vgl. dazu Freuds (1999 [1921]) Nachweis der Identifizierung bei „Kirche“ und „Heer“ in Massenpsychologie und Ich-Analyse. Vgl. zum Beispiel auch Kapitel 4 und den Einfluss der Imago Nightingale auf den Pflegediskurs.
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Ich kann auf die differenzierte Analyse Foucaults zum Epochenbruch mit dem „immensen Tableau“ an dieser Stelle nur bedingt eingehen, weise aber auf folgende Strukturen deutlich hin, nämlich die der Einhüllung und die der „einheitlichen Steuerung“: „Seit Cuvier hüllt sich das Lebendige in sich selbst ein […] und errichtet sich einen […] doppelten Raum, […] es ist der innere, der anatomischen Kohärenzen und der physiologischen Kompatibilitäten und der äußere, der der Elemente, in denen das Lebendige ruht, um daraus seinen eigenen Körper zu machen. Aber diese beiden Räume haben eine einheitliche Steuerung, nicht mehr die Möglichkeit des Seins, sondern die der Lebensbedingungen. Das ganze historische Apriori einer Wissenschaft der Lebewesen wird dadurch umgestürzt und erneuert.“ (Foucault 1974: 334, 335).
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Das Pflegerische hat meines Erachtens keine Entsprechung in einem klassifizierenden Akt, wovon beispielsweise die Medizin dominiert ist. Das pflegerische Tableau wäre vielmehr als abhängig von seinen konstellativen, bislang vielfach dunkel gebliebenen Darstellungsformen und Darstellungsweisen zu denken. Ich gehe also bei einem Tableau von einer nicht per se gegebenen Raumvorstellung aus und bin gleichzeitig mit Foucault insofern gewarnt, als das Pflegerische – ähnlich wie eine klassifizierende Medizin – bisweilen ein recht simples Tableau abgeben kann. 3.1.2 Im Tableau – gespalten (Lacan) Jacques Lacan (1996 [1964]) hat das Tableau insofern äußerst ernst genommen, als es mit einer Spaltung zwischen Auge und Blick, einer Spaltung innerhalb der Wahrnehmung prinzipiell zu rechnen habe. Demnach sei ein Tableau immer als ein Ort zu denken, an dem Spaltprozesse vorliegen. Das Tableau zeigt sich demnach unbedingt in einer Struktur, die sich im Zeigen zugleich zu entziehen weiß. „Für uns sind die Dinge nicht im Gleichgewicht […]. Wir für unser Teil gehen aus von der Tatsache, dass da etwas ist, das einen Bruch, eine Zweiteilung, eine Spaltung des Seins bewirkt […]. Diese Tatsache ist der Beobachtung zugänglich in einer abgewandelten Reihe von Erscheinungen, die sich letzten Endes unter dem Haupttitel der Mimesis zusammenfassen lassen.“ (Lacan 1996 [1964]: 113)
Das, was sich auf Basis einer Mimesis entzieht, könne jedoch einen TableauBetrachter von dorther mit etwas konfrontieren. Im berühmten Seminar XI Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, verwendet Lacan für diesen Ort außerhalb des Tableaus die Formulierung Blick-Punkt (fr. le point de regard). Die Konfrontation mit diesem Blickpunkt wirft das Subjekt ähnlich wie durch ein Juwel in eine prismatische Brechung hinein, weshalb sich eine übliche 5 autonome Subjektkonstitution mit Lacan ausschließen muss. Für Lacan geht es in diesem Abschnitt primär darum seinem Seminar zu demonstrieren, dass das Ich des Sehens (das moi im Gegensatz zum je des Sprechens und Schreibens) nicht außerhalb des Tableaus zu denken ist und dass jedes Ich, insofern es Subjekt ist, auch auf den Schirm „blicken“ kann (ebd.: 103). Dieser Blick-Punkt sei mit dem Tableau über den Schirm verbunden:
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„Um alles zu sagen: Diesem Blick-Punkt eignet stets etwas von der Ambiguität eines Juwels.“ (Lacan 1996 [1964]: 103).
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„Die Vermittlung beider, also das, was zwischen beiden ist, ist anderer Natur als der geometrale Raum der Optik, es spielt exakt die umgekehrte Rolle, da es nicht durchlässig, traversierbar ist, sondern ganz im Gegenteil opak – es ist der Schirm (fr. écran).“ (Ebd.: 102f.)
Die Differenz von Ich und Subjekt in Lacans Argumentation ließe sich vielleicht auf diese Weise zuspitzen: Das Ich ist im Tableau, das Subjekt konstituiert das Tableau als Beständiges; das Ich muss sehen, weil es gesehen wird, das Subjekt blickt, weil es begehrt, das Ich (moi) ist im Feld des Sehens und der Vorstellung, das Subjekt ist im Feld der Sprache; das Ich ist folglich da, das Subjekt immer zugleich nicht. Demzufolge hat Lacan begründet davon abgeraten, zwischen Tableau und Repräsentation/Mimesis die Eindeutigkeit einer Unterscheidung zu behaupten. „Liegt da etwa der Unterschied, auf den ich Sie hinführen möchte, der Unterschied von Bild/tableau und Vorstellung/représentation? Sicher nicht […].“ (Ebd.: 117) Ein Tableau kann also wie die Represantation inneres und äußeres verweisen. Ein pflegerisches Tableau entsteht also mit Lacan gedacht bereits durch das Ich/Moi der Pflegerin und das Ich/moi der Betroffenen und symbolisch durch das Sprechen der beiden Ich/je und dieses Tableau bringt ein spezifisches pflegerisches Subjekt erst hervor, welches zum Teil im Tableau sichtbar würde, zum Teil aber auch abgespalten davon wäre. Dieses pflegerische Subjekt wäre auf Basis der Annahmen der strukturalen Psychoanalyse Lacans aber über die Sprache und das Sprechen zugänglich. 3.1.3 Zur Mimesis des pflegerischen Tableaus Bei dem Sprechen von einem pflegerischen Tableau ließe sich zunächst in räumlicher Hinsicht von einer Fläche ausgehen, auf der Dinge in eine andere Sichtbarkeit gelangen können. Das Tableau bildete dabei eine Art Oberbegriff. Ein Tableau ermöglicht verschiedene Zugänge: Das Bild ist für die bisherige Studie der wichtigste Zugang. Über das Bild erscheint das pflegerische Tableau in räumlicher Hinsicht als etwas Statisches, wie bei einem Tisch oder der Fläche eines Tisches. Bewegungen und das Moment der Zeitlichkeit kommen dadurch eher weniger in den Blick. Es bleibt im Folgenden zu untersuchen, welche Spuren des Pflegerischen über die Zugänge der Bühne oder der Falldarstellung sichtbar werden.
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3.1.3.1 Das pflegerische Tableau als Bühne: Der traurige Anlass Eine sterbende Frau beauftragt kurz vor ihrem Tod ihre Hauspflegerin, die Hälfte ihres letzten Geldes für wohltätige Zwecke zu spenden. Noch einmal kommt der Arzt zu ihr. Er lügt sie an und verspricht ihr alsbaldige Gesundheit. Sie verzeiht ihm diese Lüge. Noch einmal begegnet ihr auch die Familie. Gemeint ist die Familie des geliebten Mannes, die ihr die Ehe mit ihm versagt hat. Ein wenig Zeit bleibt noch, um im Schmerz einer Versöhnung Abschied zu nehmen. Sodann bricht die Frau leblos und mit verklärtem Blick zusammen. Eine Musik endet und der Vorhang fällt.
Was soeben in Form einer nüchternen Beschreibung eines letzten Opernaktes vorgestellt wurde, erhebt keinen Anspruch darauf, die gesamte Wirklichkeit einer Szene wiederzugeben (vgl. Verdi 1999). Lediglich schwenkt sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein Tableau ein, das normalerweise nicht in die Kategorie des Pflegerischen eingeordnet wird. Die Gebrauchsweise eines Wortes wie „normalerweise“ setzt das Moment einer Gewöhnung im Verständnis des Pflegerischen voraus. Gleichzeitig bringt solch eine Behauptung, es lasse sich in dieser Darstellung etwas wie ein pflegerisches Tableau sichtbar machen, den Autor natürlich auch in einige Verlegenheit. Denn wodurch soll das Pflegerische in der Szene eigentlich hervortreten, zwischen welchen Bereichen wird es sich aufspannen können? Vielleicht ist bis hierhin schon deutlich geworden, dass dieser dritte Akt aus Verdis „La traviata“ den Fall einer sterbenden Konkubine aus der Pariser Demimonde verhandelt, die erst sechs Jahre vor Entstehung der Oper auf dem Père Lachaise beerdigt wurde. Sehen wir auf das Verhältnis von Kunstwerkrealität und historischer Realität, so besteht das pflegerische Tableau wohl primär dazwischen. Insofern würde das Musiktheater ein pflegerisches Tableau spielen und pflegende Tätigkeiten gegenüber der scheinbaren Protagonistin, die einer „wirklichen“ Marie Duplessis (1824-1847, Geburtsname: Alphonsine Plessis) von ihrer Umwelt versagt oder auch verweigert wurden, nachträglich zur Bezugswirklichkeit darstellen. Es führte diese Leistungen sogar in einer scheinbaren Präsenz und sozusagen „leibhaftig“ vor Augen. Das würde für Leser mit Schließungswillen bedeuten, dass ein pflegerisches Tableau vor allem dann existierte, wenn es sich auf einer zweiten Darstellungsebene (Roman, Drama oder Oper) realisiert und auf dieser Ebene an eine erste erinnert. Damit bestünde die Aufgabe einer Pflegewissenschaft in der Aufdeckung dieser Verhältnisbezüge. Sie wäre eine Art untersuchte Historie und methodisch wäre ihre Arbeit mit einer „Rekonstruktion“ getan.
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Man könnte dem vielleicht ohne weiteres zustimmen, würde man nicht in dem dritten Akt der Oper selber reichlich Anlässe ausmachen, die für diese Studie zum Ausgangspunkt für ein weiteres Nachdenken über das pflegerische Tableau werden. Gemeint sind diejenigen Sichtbarkeiten, die sich ohne ein Wissen darüber mitteilen, warum Marie Duplessis in der Oper Violetta Valery heißt. Sie zeigen sich auf einer performativen Ebene. Aber man kommt mit derlei Behauptungen wieder in die gleiche Verlegenheit wie eben. Denn wo in dieser Szene wären genau diese performativen Pflegehandlungen auszumachen? Vielleicht zwischen der Haushälterin Annina und Violetta. Annina kümmert sich ja als 6 Letzte und durchaus aufopferungsvoll um die Sterbende. Vielleicht auch zwischen Violetta und Alfredo oder gar seinem Vater, dem alten Georg Germont, wenn die beiden Abschied von der Sterbenden nehmen. Vielleicht aber am ehesten zwischen Violetta und Violetta, wenn sie alleine auf der Bühne zu sich selber spricht wie in der Briefszene. Oder doch zwischen Violetta und einer Musik, welche vielleicht im Stande ist die Gefilde einer pathologischen Chronizität, ein Kranken an der Zeit, im ersten und dritten Aktvorspiel zu Gehör zu bringen. Vermutlich findet sich in all diesen Verhältnissen mehr oder weniger etwas, das Pflegehandeln ausmacht oder auch wiederum nicht ausmacht. Ich sage aber vermutlich, weil ich der darin implizit unterstellten Sicherheit des eigenen Blicks auf dieses Tableau misstraue. Ich bezweifle, ob Pflegehandlungen primär auf einer ersten Darstellungsebene der szenischen Realisation stattfinden, sich auf dem Tableau in einer wirklich klaren Präsenz darstellen und von dieser unterstellten 7 Präsenz aus einem weiteren Diskurs dargestellt werden müssen. Jedoch könnte man diesem Ansinnen durchaus zustimmen, zumindest so lange bis nicht auch etwas über die Ordnung der Blick- und Hörverhältnisse gesagt wurde, die man nicht selbstverständlich oder allgemein voraussetzen kann. Denn wesentlich zu erwähnen scheint mir, wie das geordnete Blick- und Hörverhältnis des Guckkastens aus der Opernkonvention es ermöglicht, dass man einer scheinbar sterbenden Frau frontal zusieht und dass vermutlich ganz ohne das Bedürfnis zu verspüren in die Szene einzugreifen oder gar auch nur in Ansätzen diesem zudringlichen Zwang ausgesetzt zu sein, das tun zu müssen. Man ist in dieser Ordnung komplett handlungsentlastet. Von der juristischen Sicht auf das Stück ist das we-
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In Differenz zu der wirklichen, die vereinsamt beziehungsweise in Anwesenheit der Gerichtsvollzieher starb.
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Derridas Projekt einer Grammatologie (1983 [1967]) böte ein systematischeres Unternehmen, meinen Zweifel zu stützen. Darin verortet er das Problem der Präsenz im phonologisch ausgerichteten Logozentrismus, der bekanntlich auf einer gewaltsamen Abwertung der Schrift basiert.
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nig anderes als die Konstruktion einer passiven Sterbehilfe oder einer unterlassenen Hilfeleistung. Daher reizt ein Nachdenken darüber, warum dem so einfach nicht ist. Man hat eine Eintrittskarte bezahlt, um sich nicht um die „vom Weg abgekommene“ (it. traviata) zu kümmern, sie nicht auffangen, sie nicht betten etc. zu müssen. Das, was eine Pflegehandlung ausmachte, vor allem das et cetera, wird in einem Bühnenwerk wie „La traviata“ offen gehalten, indem es sich nicht endgültig realisiert. Vielmehr wird sie als offenes Problem in den Zu-Schauer, in den Blick des Betrachters verlegt. Seit der Antike ist das auch der genuine Ort von Theorie (gr. theoria: zuschauen, betrachten). Im Gegensatz zu dieser dramaturgischen Konzeption eines geordneten Blickund Objektverhältnisses scheinen mir wiederum die Prozesse, mit welchen Pflegende in der direkten Begegnung zu sterbenden, kranken, hilflosen Menschen konfrontiert sind, das opernhaft geplante Geschehnis noch um ein Vielfaches zu übersteigen. Wäre dem so, müsste ich gegenüber dem pflegerischen Tableau ein Eingeständnis und eine Unsicherheit formulieren: nämlich dass man schon nicht allzu genau wissen kann, was im letzten Akt „La traviata“ auf der Bühne eigentlich passiert. Ihn umgibt ein „Rätselcharakter“ (Adorno 1973: 192f). 3.1.3.2 Frau Meiers Stürze: Das pflegerische Tableau als Fläche der Sinnfindung In der Studie von Angelika Zegelin zum Pflegephänomen Bettlägerigkeit lese ich: „Frau Meier berichtet, dass sie seit einigen Jahren nicht mehr alleine gehen kann: Im Rollstuhl sitze ich praktisch nach meines Mannes Tod, und das werden jetzt vier Jahre. Seitdem bin ich eigentlich ständig im Rollstuhl. Bin erst noch im Rollator gelaufen, aber das wurde dann immer schlechter und unsicherer, ich bin oft gestürzt. Benommenheit und Schwindel seien Auslöser für zahlreiche Stürze auch mit Knochenbrüchen und Krankenhausaufenthalten gewesen; die genaue Ursache konnte nicht abgeklärt werden, ‚irgendwas Neurologisches, das vom Kopf ausgehe‘, meinte Frau Meier. Sie sagt, dass es ihr nach jedem Krankenhausaufenthalt ‚durch das Liegen‘ schlechter gegangen ist. Sie sei mit dem Rollator aber noch draußen herumgegangen, davor habe jahrelang ein Gehstock als Stütze ausgereicht. […] Sie sieht einen Zusammenhang zwischen der Verschlechterung ihres Zustandes mit dem Tod ihres Ehemannes: Mein Mann war ja auch krank. Ob mir das nun den Rest gegeben hat […] als plötzlich der Tod kam. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mir auf einmal umkippt […] das ist ja doch ein Schock.“ (Zegelin 2010: 101f.).
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Frau Meier berichtet gegenüber der Interviewerin Zegelin einen Zusammenhang: der Verlust des Mannes und des eigenen Bewegungsspielraums verweisen in der Darstellung aufeinander. Die Zunahme ihres Pflegebedarfs sei also auch als direkte Folge eines Verlustes zu verstehen, für den sie unter anderem auch den Begriff des Schocks verwendet. Überhaupt fallen in ihrer Schilderung Begriffe wie „Benommenheit“, „Schwindel“, „Sturz“, „auf einmal umgekippt“ auf. Zegelin nennt die dritte Phase entstehender Bettlägerigkeit „Instabilität im Raum“. Frau Meier ist der obigen Darstellung nach nicht mehr stabil in der Welt. Diese Instabilität wird zum Ausgangspunkt des Pflegerischen. Das traumatisch erlebte Ereignis vom plötzlichen Tod ihres Ehemannes bekommt auf diese Weise eine Verbindung zu den eigenen Stürzen und den damit verbundenen Einschränkungen des Bewegungsradius sowie der Erhöhung ihres Pflegebedarfs. Auf Basis der Annahme eines pflegerischen Tableaus ergeben sich bei Frau Meier verschiedene Sichtbarkeiten zur gleichen Zeit: es wird deutlich, dass die Pflegeperson die Frau Meier täglich pflegt, nur eine sehr viel eingeschränktere Perspektive in diese Situation von Frau Meier erhalten wird als die Pflegewissenschaftlerin und der Leser dieser Darstellung. Auch kann es sein, dass Frau Meier eventuell noch andere Einstellungen hat als diese Darstellung wiedergibt, die wiederum aber eventuell der Pflegenden von Frau Meier bekannt sind. Diese Narration macht deutlich, wie wichtig und entscheidend es ist auf die Suche nach dem zu gehen, was sich durch die sich darstellende Situation der Stürze Frau Meiers für ein versteckter pflegerischer Sinnzusammenhang ergibt. 3.1.3.3 Einige vermeintliche, noch dazu unpraktische Anlässe Das Pflegerische wird beispielsweise über „Selbstbeschreibungen“, wie Axmacher (1990: 122) das genannt hat, in einen Diskurs überführbar. Drei eigene Erfahrungen werden nachfolgend in Form solcher Selbstbeschreibungen präsentiert. Anhand dieser Selbstbeschreibungen sollen auch einige Darstellungsprobleme des Pflegerischen konkreter verdeutlicht werden. Diese Erfahrungen werden über die Annahme eines pflegerischen Tableaus bearbeitbarer und für eine wissenschaftliche Betrachtung zugänglicher.
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Erfahrung mit „Schokolade“ Eine meiner bleibenden pflegerischen Erfahrung geht auf den Beginn meines Zivildienstes zurück. Es ging um das Umsetzen eines älteren Mannes von der Toilette zurück in den Rollstuhl. Er, ein alter Landwirt, regenerierte sich von einem schwereren Apoplex. Für diese Fälle mit Halbseitenlähmung gab es eine klare Handlungsroutine auf der Station, sofern wie in diesem Fall zwei Pflegepersonen beteiligt waren. Die eine Pflegeperson hilft in diesem Fall dem Patienten beim Festhalten und unterstützt sein Stehen, die andere kümmert sich um das Säubern und das Anziehen. Normalerweise wischt die kleinere Pflegeperson und es hält die Kräftigere. Als Mann ist man meist größer und somit in der vermeintlich formidableren Lage des Stützenden, nicht des Wischenden. Nun kam es diesmal aber so, dass die erfahrene Schichtleitung Schwester W. festhielt und ich wischen „musste“. Zwischendurch blickte ich die Vorgesetzte wohl etwas verunsichert an. Ich erinnere mich an die ganze Szene nicht mehr in allen Details, an eines erinnere ich mich aber genau, nämlich wie sie unterdessen zu mir sagte: „Man muss sich immer vorstellen, es sei Schokolade.“
Irgendwie ist dieser Satz bei mir haften geblieben. Er entbehrt sicher nicht einer gewissen Absurdität, denn woran soll man erst denken, wenn man Schokolade isst? Vielleicht ist dieser Satz gerade wegen dieser Tendenz zum Absurden haften geblieben oder weil er natürlich auf ein Problem anspricht, das mit dem Unbehagen des Kotabwischens bei anderen und bei fremden Menschen zu tun hat. Denn liegt hier in dem Vorschlag nicht der Versuch, eine Kompensationsstrategie für dieses Unbehagen anzubieten? Nimmt man ihren Satz ernst, wollte mir Schwester W. wohl schlicht helfen 8 über dieses Unbehagen des Neulings hinweg zu kommen. Es geht konkret darum, dass ich Unangenehmes auf dem pflegerischen Tableau mit Mitteln der Verschiebung gezielt überblenden lerne. Laut der Schwester sollte das Spiel der eigenen Vorstellung gleichzeitig zur Handlung stattfinden, was zu diesem Zeitpunkt eine Spaltung der Pflegeperson in Vorstellende und Ausführende impliziert. Die Formel dieser Überblendung lautet: Schokolade überschreibt Scheiße, oder: das gewünschte Repräsentamen das unerwünschte Bezeichnete. Die Schwester geht aus ihrer Erfahrung offenbar davon aus, dass die Realität des pflegerischen Tableaus mit einer im Imaginären geöffneten Darstellung überwunden oder vielleicht zumindest neutralisiert werden kann. Könnte die Schwester allgemeingültige Regeln aufstellen würde eine entschieden lauten können: Das, was sich in der Handlungssituation zeigt darf nicht das sein, was
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Vgl. zum Begriff des Neulings, des Novizen wie es bei Benner (1994) heißt.
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sich im Pflegesubjekt repräsentiert oder nachträglich einschreibt, oder: das Dargestellte muss etwas Schöneres sein als das Darzustellende. Dieser strategisch eingesetzte Mechanismus funktioniert anscheinend immer genau so lange, wie man die Darstellung des pflegerischen Tableaus noch nicht bedacht hat. Insofern könnte man das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung durchaus auch als un9 praktisch bezeichnen. Die Praxis braucht offenbar Mechanismen, um das Darzustellende beispielsweise durch die sprachliche Darstellung zu verändern. Eine Theorie zur Darstellung des Pflegerischen darf wiederum den Wunsch aus der Erfahrung des Unerträglichen aussprechen und auch den Mechanismus aufzufinden suchen, in den diese Erfahrung eingesperrt wird. Das Wollknäuel und das „Übermaß an Ungleich“ – Der erste Tag auf dem pflegerischen Tableau Das Stichwort „Praxisschock“ wird oftmals von Pflegenden nach der Ausbildung beschrieben oder auch von Pflegeschülern, die in bestimmten Praxiseinsätzen ein Handlungsfeld der Pflege neu erfahren. Bereits Gerda Feldner berichtet in den 1920er Jahren von dem Unterschied zwischen sich darstellender Pflegerealität und der eigenen Vorstellung: „Ja wie anders ist das alles als es auf den ersten Blick erschien. Ganz anders, als die Träume und Vorstellungen es malten, zeigt sich das Bild in Wirklichkeit. … Die Verbindung zur persönlichen Pflege des Kranken besteht für sie (die Krankenschwester) zunächst, abgesehen von den gelegentlichen Handreichungen, durch die das Putzen und Scheuern eine unerwünschte Unterbrechung erfährt, in der Versorgung aller seiner Geschirre, die er zur Ausscheidung benötigt, im Reinigen von Urinflaschen und Steckbecken, von Speigläsern und Brechschalen.“ (Gerda Feldner 1928 in: Panke-Kochinke 2001: 187f.)
Vielleicht ist dieser Praxisschock oftmals nichts anderes das Betreten des undurchschauten Tableaus. Ich zitiere dazu folgende Passage aus meinem Tagebuch als Krankenpflegeschüler nach dem ersten Tag auf einer chirurgischen Station. Es war mein erster Praxiseinsatz:
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Habermas (1965) unterschied in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung bekanntlich drei erkenntnisleitende Interessen: das technische (im Sinne von naturwissenschaftlichen Disziplinen), das praktische (im Sinne von hermeneutischen Disziplinen) und das ideologiekritische oder emanzipatorische (im Sinne kritischer Theorie).
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Mein erster Ausbildungstag auf Station ist vorüber und schon kommen die alten, verdrängten und weggewunschenen Erinnerungen an die Arbeit im Gesundheitswesen wieder hoch, die doch den Menschen nur krank macht. Möchte doch hoffen, daß sich diese Erinnerungen die sich auf meine Erfahrungen in der anfänglichen Zivi-Zeit gründen nicht bestätigen, sondern dass die Streß-Momente heute aus einem Übermaß an Ungleich auf Station, aus dem Nicht-Kennen der Patienten und Räumlichkeiten und aus meinen falschen Erwartungen, dass Theorie und Praxis doch vielleicht nicht eine ganz so große Diskrepanz aufweisen mögen, erwachsen sind. Zur Situation lässt sich noch anmerken, dass die Patienten polymorbider (Scheißwort) sind, was natürlich zu einem witzigeren Stimmungsbild auf Station führt, da wohl doch kaum jemand Patienten ernster nimmt als sich selbst. Ich denke, ich kann aus diesem wirren Wollknäuel doch Farbe und Dicke erkennen und viel10
leicht kann ich es Tag für Tag ein wenig abwickeln.
Ich spreche in einer rätselhaften Formulierung von einem „Übermaß an Ungleich“ auf diesem Tableau. Sollte das Nichtgleiche gemeint sein, das sich auf dem Tableau in einer verdichteten Gestalt präsentiert? Im Vergleich wozu wäre weiter zu fragen? Zur Außenwelt der Klinik? Auch lasse ich offen, welche unbekannten Dinge neben den im Plural ausgewiesenen Patienten noch hinzutreten: In der Formulierung „Räumlichkeiten“ scheint vieles aufgehoben zu sein, was das Tableau charakterisiert: verschiedene Orte in der Klinik aber vermeintlich auch Gegenstände. Dieses angesprochene Nicht-Kennen der Räumlichkeiten und der daraus resultierenden Spannungen möchte diese Untersuchung in die Annahme eines pflegerischen Tableaus übersetzen und aufnehmen. Die Schauspieler Eine weitere Erfahrung resultiert aus meiner beruflichen Ausbildung und der anschließenden Tätigkeit als Krankenpfleger, genauer aus der Konfrontation mit einem „schwierigen Klientel“. Die dauerhafte Präsenz etlicher Grenzfälle stellte eine sichere oder dauerhafte Ordnung des pflegerischen Tableaus immer wieder in Frage. Jeder Einzug einer Handlungsroutine konnte an diesem Ort schnell ein wenig lächerlich wirken. Gewiss, es gab auch Routinen. Letztlich war aber auf 11 die damals noch in klinikweiten Arbeitsgruppen erstellten Pflegestandards und
10 Eigener Tagebucheintrag, 10/1995 (ungekürzt, einige orthographische Korrekturen). 11 Heute existieren zu relevanten Pflegeproblemen wie Dekubitus, Sturz, Ernährung, Entlassung, Schmerz etc. übergreifende Standards, so genannte Expertenstandards. Das war damals noch nicht so, sondern jede Klinik hatte ihre eigene Standardgruppe.
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ihre Arbeitsprodukte, die Zettelkästchen mit den Handlungsstandards, zu keinem Zeitpunkt verlass. Man musste eigentlich ständig auf Abweichung, nachhaltige Störungen oder Anlässe zum Alarm gefasst sein. Ja, die Abweichung war an diesem Ort der eigentliche Handlungsstandard. Man verhielt sich zu seiner Rolle des Pflegenden oftmals nicht als der Experte oder gar Profi, sondern ähnlich wie Brecht seine Schauspieler instruierte als ein „bloß Vorschlagender“: „Der Schauspieler lässt es auf der Bühne nicht zur restlosen Verwandlung in die darzustellende Person kommen. Er ist nicht Lear, Harpagon, Schwejk, er zeigt diese Leute. […] Da es sich nicht um seine eigene Rolle handelt, verwandelt er sich nicht völlig, er unterstreicht das Technische und behält die Haltung des bloß Vorschlagenden bei.“ (Brecht 1993: 109)
Dieser heimlich geschulte Pflegestandard war weder hoch noch niedrig, bloß verlangte er von einem gerade nicht Rollenkonform zu handeln, sondern Handlungen vorzuschlagen. Für uns Laiendarsteller glich diese Arbeit einer täglich bespielten Bühne und bedeutete insofern durchaus eine tragische Welt der Erkenntnis, des Leids, des Glücks und des Fluchs, deren Erfahrungen sich wiederum in Erzählungen übersetzten die nachträglich zum Teil noch lange kursierten oder nach langer Zeit wieder frisch aufgetischt wurden. Etwa erinnerte man in längeren Pausen, zum Frühstück oder nach Feierabend wieder an skurrile, witzige, verblüffende und oftmals die situative Rationalität überfordernde Geschichten der Abweichung, ihre Angst und Schauderwirkungen. Manchmal wurden diese Erzählungen auch szenisch nachgespielt, vor allem wurden die Sprachen, Stimmen und Gesten der anderen „imitiert“. Wir waren oft, ohne das zu wissen, pflegende Mimen. 3.1.4 Das pflegerische Tableau Nimmt man die Spuren des Pflegerischen von dem auf was sich auf Darstellungen, sei es an Bildern, Bühnenwerken oder Narrationen, sichtbar wird, komme ich über die Untersuchung dieser Spuren dazu einen Ort anzunehmen, der die Darstellung des Pflegerischen und dessen Problematik sichtbarer werden lässt.
Die heutigen Expertenstandards werden von der Fachhochschule Osnabrück (Prof. Schiemann) unter dem Namen DNQP (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege) ausgearbeitet. In den dortigen Standardgruppen arbeiten „Experten“ aus Praxis und Wissenschaft zusammen.
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Diesen Ort habe ich als pflegerisches Tableau konzipiert. Das Dargestellte dieses Ortes ist das Pflegerische. Dieses Pflegerische erweist sich aber wegen der Vielfalt und der Breite der Möglichkeiten nicht mehr als sicher. Somit mache ich den Vorschlag, jegliche pflegerische Handlung über das pflegerische Tableau und als Darstellung des Pflegerischen zu verstehen, das heißt nicht mehr davon auszugehen, dass sich Pflege „eigentlich“ oder „echt“ oder „einheitlich“ realisiert. Das Pflegerische bleibt als Differenz und wegen seiner Differenz verwiesen auf Darstellung. Diese Darstellung des Pflegerischen wird sichtbar an einem Ort. Aber wie ist das Verhältnis des pflegerischen Tableaus zum Raum beschaffen? Ich habe zunächst auf Basis der Bildanalyse das pflegerische Tableau als einen Ort begründet. Durch die Etymologie des Tableaus und durch Foucault tritt die Idee eines flächigen Raumes stärker hervor, auf dem etwas Konkretes in eine Sichtbarkeit gedrängt wird. Durch Lacan entsteht der Gedanke, dass die Sichtbarkeit der Fläche durch Schirm und Spaltungsvorgänge eine Beschränkung erfährt. Dadurch kommt es zu einem starken Bezug dieser Sichtbarkeit zu einem Bezirk, der erst in seinen Konturen herausgefunden werden muss. Die Beispiele des Pflegerischen als Bühne lassen das pflegerische Tableau stärker als das Bild auch als einen über die Fläche herausführenden Raum begreifen, in dem Bewegung und Spiel und Darstellungsgrenzen sichtbar werden. Die Spuren des Pflegerischen auf und in den Darstellungen legen den Gedanken nahe, dass die Beteiligten auf den Bildern auch darstellen und handeln, sodass man neben der Frage nach dem Verhältnis zum Raum auch die Frage stellen kann, wie denn das Verhältnis des pflegerischen Tableaus zur Zeit beschaffen ist. Es wird deutlich und ist spätestens seit Peplau im Pflegediskurs ausgesprochen, dass Pflege ein Prozess ist. Am Bild wird die Zeit eher indirekt thematisch. Oftmals erscheint die Zeit des Tableaus dann im Sinne eines „Immerwährend-Gleichzeitigen“ (vgl. Foucault 2002). Dennoch fragt man sich bei einigen Bildern, wie beispielsweise bei dem "Schlagbild" aus der Zeitung Die Welt, was war davor und was danach? Ferner gibt es häufig im Bild schon selber Spuren der Abstraktion von der Zeit. Als Spuren verweisen sie in der Wahrnehmung auf eine Vergangenheit, in der Spekulation und der Frage, wie es weitergeht, auf die Zukunft. Über die Handlung auf einer Fläche wie einer Bühne kommt das Pflegerische als Prozess stärker in den Blick. Dabei fällt zum Beispiel beim Blick auf Frau Meiers Stürze auf, dass durch die Darstellung und die Konstruktion eines pflegerischen Tabeleaus verschiedene Zeitebenen miteinander verbunden sein können und das pflegerische Tableau eben keiner linearen oder alltäglichen Zeitvorstellung unterworfen werden kann. Die hier vorgestellte Möglichkeit der nachträgli-
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chen Konstruktion eines pflegerischen Tableaus, dass verschiedene Zeitebenen berücksichtigt und bearbeitbar macht, ist meines Erachtens für die Lehre von Pflege von immenser Bedeutung. Mit Nancy (1994) lässt sich beispielsweise annehmen, dass das Pflegerische in einer eigenen Präsenz, in einer pflegespezifischen Darstellung erscheinen kann. Über wechselseitige Darstellungen hindurch ist das Pflegerische entschieden durch den Versuch charakterisierbar, zu einer intersubjektiven Darstellung zu gelangen. Die Annahme es gäbe ein pflegerisches Tableau, speist sich zunächst aus der wirklichkeitserzeugenden Präsenz des Pflegerischen, seines Darstellungscharakters, aus dem uneindeutigen Status seiner Rückführbarkeit auf eine alleinige Person (Pflegeperson oder Pflegebedürftiger) sowie aus dem diskursiv eingeschriebenen Anspruch das Bedürfnis des Anderen zu zeigen. Diese unterstellte und äußerst vage bezeichnete gemeinsame Darstellung auf dem Tableau erweist sich offenbar von den Protagonisten nur bedingt als einsehbar oder nachzeichenbar. Sie ist auch von außen, das heißt aus einer Beobachterperspektive nur bedingt einsehbar oder nachzeichenbar. Derjenige, der sie nachzeichnet, tritt automatisch in Differenz zu dem, was das Gemeinsame dieser Darstellung ausmacht. Die Frage nach der Darstellungsproblematik der beruflichen Pflegehandlung zu stellen, hinterlässt bei den beruflichen Akteuren eine sukzessive Verunsicherung darüber, wer eigentlich handelt und darüber, welche Ordnung des Blicks auf sie herrschen soll. Zur Verunsicherung kommt es meines Erachtens auch deshalb, weil die Pflegehandlung in der Pflegepraxis und in der didaktischen Vermittlung meist noch in der ordnenden Struktur eines simplifizierten Problemlösungsprozesses gedacht wird. Der Pflegeprozess, wie er im pragmatischen Pflegediskurs üblich ist und auch üblicherweise unterrichtet und dargestellt wird, verbindet zum Beispiel Pflegeanamnese/Pflegeeinschätzung, Pflegeprobleme, Pflegeziele, Pflegemaßnahmen und Auswertung/Evaluation oftmals einfach über das konsequenzlogische Symbol des Pfeils. Hülsken-Giesler (2008: 319) schätzt die Auswirkungen dieses Pflegeprozess-Denkens wie folgt ein: „Dies befördere eine fragmentierende und defizitorientierende Sicht sowie einen instrumentelltechnischen Zugriff auf den erkrankten Menschen.“ In dieser konstruierten Logik und ihrer Übersichtlichkeit sei eine berufliche Pflegehandlung zwar schlüssig zu begreifen, aber nur um den Preis, dass das Spezifische des Pflegerischen ausgeschlossen wird (ebd.: 331). Pflegehandeln stellt sich nicht auf einem einfach sortierbaren Feld aus Person, Wunsch und Regel dar. Auf einem pflegerischen Tableau fallen Blick, Handlungsakt, Respons, Imagination, Ansprache und anderes immer wieder
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durcheinander und ineinander. Das dargestellte Pflegerische wird eher über die Annahme eines diffus-osmotischen und morphologisch inkonsistenten Präsentationsfeldes lesbar (vgl. Rabe-Kleberg 1996: 293).12 Dieses Tableau entsteht quasi durch und zwischen Pflegendem und zu Pflegendem. Es ist zum Beispiel für Pflegende nicht einfach zu sagen, ob sie (mit Lacan gedacht) im pflegerischen Tableau sind oder (mit Foucault gedacht) auf dem pflegerischen Tableau. Wenn man Pflege leistet, hat man manchmal eher den Eindruck man ist Teil einer Bühne und kann auch anderen auf dieser Bühne zuschauen, mal überwiegt die Einstellung man ist im Tableau und wird eher gesehen als dass man selber sieht. Diese Verwicklung in und auf dem Tableau ist sprachlich nicht eindeutig zu lösen, denn Pflegende sind handlungspraktisch beteiligt an der Darstellung des Pflegerischen und dennoch sind sie gleichsam auch einfach Beobachter oder Zuhörer des Tableaus. Die sich daraus ergebende Unterscheidung beziehungsweise Spaltung ist für Pflegende und Pflegeschüler schwer einsehbar und auch schwierig zu vermitteln. Insgesamt bedeutet das pflegerische Tableau eine neue Lesart des Gegenstandes „Pflege“, die die Wahrnehmung der Beteiligten und deren Übersetzungsversuche aufnimmt. Ein pflegerisches Tableau ist also ein topologisch konzipierter Ort, an dem sich unterschiedliche Wahrnehmungen schneiden. Die Möglichkeit aus der Annahme eines pflegerischen Tableaus soll Pflegenden Mut machen, die eigene Erfahrung und die Performanz des Pflegerischen als ein Teil eines Darstellungsraums, an dem sich verschiedene Positionierungen ergeben, zu verstehen. Aus Sicht dieser Studie läge in der Aufnahme des Darstellungscharakters des Pflegerischen die Möglichkeit, objektivierende Tendenzen des Gegenstandes Pflege zu korrigieren und die Singularität des Pflegerischen systematisch zu verankern. Aus historischer Perspektive gehe ich der Fragestellung nach, inwiefern man am Beginn des modernen deutschsprachigen Pflegediskurses den Einfluss einer problematischen Darstellung erkennen kann.
12 „Die in den vorherigen Kapiteln rekonstruierten Dimensionen pflegerischen Handelns, die verschiedenen Situationstypen, Verlaufskurven und Wissensformen haben Pflegearbeit als komplexe, wenig standardisierbare Tätigkeit gezeigt.“ (Friesacher 2008: 262).
4 Historische Diskursanalyse: Zur Funktion der absoluten Metapher
Die historische Analyse geht auf Spurensuche nach einer Darstellung und deren Einflussnahme auf den deutschen Pflegediskurs von 1900 bis in die 1960er Jahre. Ich nenne diesen Diskurs um 1900 Gründungsdiskurs. Als wichtigste Quellen dienen mir für diesen Untersuchungsabschnitt vornehmlich Artikel aus dem ehemaligen wichtigsten Organ des bundesdeutschen Pflegediskurses: die Deutsche Schwesternzeitschrift. Die Darstellung der Diskursbildung wird mit heute gängigen Bildern von Florence Nightingale konstelliert.
4.1 G RÜNDUNGSDISKURS : Z UR E INSCHREIBUNG I MAGO N IGHTINGALE
DER
Den Zeiten, in denen die vornehmsten Frauen eines Landes das Protektorat über Krankenpflegevereine übernahmen oder selbst Krankenpflege betrieben haben, stehen andere gegenüber, in denen in einer Krankenordnung zu lesen war, dass ‚eine Pflegerin keine Diebin sein soll‘. (Oberschwester Gertrud Beer, 1960)
Bevor ich mich der diskursiven Funktion einer Imago Nightingales nähere, rufe ich zunächst den Gründungsdiskurs in Erinnerung: Der professionelle Pflegediskurs in Deutschland verdankt sich einer ersten ernsthaften Emanzipationsbestrebung, die im beginnenden 20. Jahrhundert eine Universalisierung und man kann
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sagen humane Globalisierung der weltweiten Pflegeberufe zum Ziel hatte (vgl. 1 Blunck 1949: 7-9).
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Der Vorschlag zur Gründung eines Weltbundes wurde von Ethel Bedford-Fenwick eingebracht. Die Statuten wurden am 5.7.1900 angenommen. Bereits im Rahmen eines ersten Kongresses in Buffalo gab es Vorträge zur Ausbildung und ihrer Organisation. Die Forderung des Weltbundes nach dreijähriger Ausbildung und staatlicher Prüfung fällt meines Wissens in das Jahr 1902. Auf dem 1. ordentlichen Kongress des Weltbundes am 17.6. 1904 in Berlin (Viktoria-Lyzeum), an dem 95 Schwestern aus 9 Staaten teilnehmen, verbinden sich drei Verbände zum Weltbund: USA (Vorsitzende: Thornton), Großbritannien (Vorsitzende: Stewart) und Deutschland (Vorsitzende: Karll). Auch auf diesem Kongress wird eine gründliche Ausbildung für die Pflegeberufe gefordert und eine staatliche Examensprüfung neben einer moralischen Eignung der Auszubildenden diskutiert. Außerdem werden „Schäden“, die wegen einer allzu frühen Ausbildungsaufnahme beobachtet werden, thematisiert. Ebenso kamen auf der 2. General-versammlung des Weltbundes im Jahre 1907 in Paris, die den 2. Kongress zwei Jahr später in London vorbereitete (auf dem Agnes Karll zur Präsidentin gewählt wurde), genuin fachdidaktische Fragestellungen auf die Tagesordnung: „Man hatte herausgefunden, dass Unterrichten eine Kunst sei und die Lehrschwestern einer besonderen Schulung bedürfen. Nicht jede gute Schwester ist auch eine gute Lehrerin“ (Blunck 1949: 7-9). Neben der leicht blumigen Formulierung ist vor allem diese frühe Feststellung des Bedarfs an erziehungswissenschaftlichem Wissen mehr als interessant, eine Feststellung die an dem damaligen Best-Practice-Beispiel, dem Teachers College an der Columbia Universität New York, diskutiert und umgesetzt wurde: beispielsweise in Form von Kursen im Unterrichten für die im Krankenhaus ausgebildeten Schwestern (ebd.; vgl. Wittneben/Mischo-Kelling 1995). Die Themen der Ausbildung ziehen sich leitmotivisch durch die 3. Generalversammlung 1912 und die Generalversammlung in Kopenhagen 1922. Weitere Themen sind hier die soziale Lage der Schwestern und 1922 die Verabschiedung einer Resolution in der die diplomierte Schwester mindestens eine dreijährige zusammenhängende Ausbildung an einer anerkannten Krankenpflegeschule durchlaufen haben sollte. Wenn man es recht betrachtet, bewegt sich in Deutschland die durchschnittliche und gesetzlich geforderte Ausbildungsdauer zu diesem Zeitpunkt im Bereich von einem Jahr plus einem weiteren praktischen Jahr. Anerkannt ist eine Krankenpflegeschule in diesem Sinne des Weltbundes, wenn die Leitung der Krankenpflegeschule eine ausgebildete Krankenpflegerin oder Berufsoberin ist und wenn ein maßgeblicher Lehrplan eingerichtet ist. Von Seiten des Weltbundes werden derlei fachdidaktisch hochrelevante Fragen zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht aus einer primär pflegefachdidaktischen Perspektive gestellt, sondern aus einer berufspolitischen und der des eigenen (!) Professionsanspruchs.
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1900 wird er durch die provisorische Gründung des Weltbundes für Krankenpflegerinnen, dem International Council of Nurses (ICN) beglaubigt. Der ICN bedeutet zunächst einen Diskursrahmen, den die deutsche Schwesternschaft ab 1904 unter ihrer ersten Vorsitzenden Agnes Karll (seit 1909 Präsidentin des ICN) gemeinsam mit den nationalen Schwesternverbänden England und den USA aktiv mitsetzen. Diese Gründung eines Weltbundes die der „tümelnden“ Vereinsmeierei des 19. Jahrhunderts relativ fern steht, ist die Erfindung und das Werk von Frauen − das zu einem Zeitpunkt als das weibliche Geschlecht kaum Zutritt zu Universitäten noch zu Berufen der öffentlichen Verwaltungen bekam. Eine Ausnahme bildete kurzzeitig die Frauenhochschule Leipzig (ab 1912) (vgl. Wanner 1987: 90; Wittneben/Mischo-Kelling 1995: 256-258). Jener Diskurs arbeitet beispielsweise inhaltliche Zielsetzungen aus, die die Selbstverwaltung, Berufsethik, Ausbildungsqualität und das gesellschaftliche Bild tangieren: „Die wesentliche Idee, für die der Weltbund der Krankenpflegerinnen eintritt, ist Selbstverwaltung der Schwestern in ihren Berufsverbänden mit dem Ziel, die Berufsausbildung, die Berufsethik, den Wert ihrer Arbeit das Volkswohl und den Geist seiner Mitglieder immer mehr zu vertiefen. Der Weltbund vertritt keinen engen Berufsstandpunkt, sondern setzt sich ein für die Entwicklung des Menschen in jeder Schwester, die sie befähigt, ihre beruflichen Kenntnisse und ihre Geschicklichkeit in der vielseitigen Arbeit zu verwerten, die die moderne Gesellschaft von ihr fordert.“ (Bedford-Fenwick zit. n. Blunck 1949: 7)
Dieser ideengeleitete Diskurs möchte primär die Selbstverwaltung der Schwestern stärken. Wenn man bedenkt, dass es real in Deutschland noch immer keine Pflegekammern (vgl. Ärzte- oder Handwerkskammern) gibt, so erhält diese alte Forderung nach Selbstverwaltung durchaus einen frischen Beiklang. Der
Dieser Zusatz soll das Kontrafaktische dieser Forderungen nicht abmildern die zum Beispiel aufscheinen, wenn man sich die Empfehlungen der Deutschen Krankhausgesellschaft zur gesetzlichen Neuregelung für die Aus- und Fortbildung der Krankenschwestern vom 22.5.1963 durchliest, wo es vierzig Jahre später auch „nur“ heißt, dass die Berufsbezeichnung „Krankenschwester“ (und „Krankenpfleger“) „erst nach einer dreijährigen Ausbildungszeit abgelegt werden soll“ – während dem nachkrieglich entstandenen Schwesternmangel dann wiederum mit im Hauruckverfahren ausgebildeten einjährigen „Pflegehelferinnen“ begegnet werden soll (vgl. Deutsche Schwesternzeitung 1963, 16. Jg., H. 12, S. 443-444). Eine Schallplatte übrigens, die berufspolitisch in Deutschland turnusmäßig wieder aufgelegt wird.
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Wunsch nach Autonomie wird zusammen gedacht mit einem Anerkennungsbestreben der Pflegeberufe in den jeweiligen Gesellschaften. Er wird mit einer gewiss erscheinenden Teleologie verbunden: wie zum Beispiel der Konstitution einer Berufsethik, internationale Beförderung des Ausbildungsniveaus, Weiterbildungsmöglichkeiten der in der Pflege Tätigen. Das erste Telos scheint mir durch ein Professionsinteresse gekennzeichnet zu sein und zwar eines das ein valides Professionswissen stützen soll. Dieses eingeschriebene Professionsinteresse möchte einen Ist-Zustand verändern. Man kann aus dem Weltbundprogramm noch ein weiteres Telos erkennen: aus dem Zitat spricht der Wunsch nach einer Form der Aufklärung. Offenbar möchte dieser Diskurs sich und seine (schwierige) Arbeit auf einer sprachlichen Ebene thematisieren, reflektieren und dadurch eben „keinen engen Berufsstandpunkt“ einnehmen. Das spricht meines Erachtens für ein starkes Aufklärungsinteresse. Demnach soll der eigene Beruf rational durchdrungen werden beziehungsweise im hermeneutischen Sinne besser verstanden werden. Beide Interessen, das Professions- und das Aufklärungsinteresse, lassen überdies ein Emanzi2 pationsinteresse erkennen. Ich möchte dahingehend versuchen zu argumentieren, dass die Bildung dieser in die Zukunft hinein verlagerten Interessen mit der Konstruktion einer Metapher zu tun hat, genauer mit dem Spitznamen Florence Nightingales und mit der Eingravierung dieser Metapher als Subtext dieses Diskurses. Natürlich ist diese Gravur selber nicht zu idealisieren. Vielleicht lässt sich darin auch eine Wunde erkennen. 4.1.1 Parallelisierung Die deutschen Pflegenden mit Weltbundzugehörigkeit wollen zu dieser Zeit nun ganz und gar kein reines Anpassungsdasein fristen. Ein solches erkennt man beispielsweise bei den Frauen in Paul Dukas 1907 uraufgeführter Oper „Ariane et Barbe-Bleue“. Auf Blaubarts Schloss leben Frauen die von Blaubart entführt worden sind. Dort eingesperrt richten sie sich aber in dieser Situation der Ab-
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Man kann dieses „zweite Niveau“ bereits mit einem Wissenschaftsbegriff belegen oder aber zumindest den deutlichen Wunsch nach paradigmatischer Fundierung daraus ablesen. „Jedes (dem Weltbund) angeschlossene Land arbeitet nicht nur für das eigene Volk, sondern unser Bund macht alles, was in unserem Beruf geschieht, allmählich der ganzen Welt nutzbar“ (Karll, Agnes zit. n. Blunck 1949: 9). Der Begriff der Emanzipation wird in letzter Zeit zum Beispiel von Rancière (2009: 23f., 119-162) stark gemacht.
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hängigkeit ein und lehnen das rationale Aufklärungsangebot der Ariane und ihre Befreiungsoption strikt ab. Dass Teile des damaligen Pflegediskurses zu einer Verhaltensnormalität, die auch von Dukas kritisch gelesen wird, eine Differenz aufbauen können, liegt eben nicht unwesentlich in der anderen Form ihres Vorbildes. Wie sieht das Vorbild aus? Während Ariane als siebte Gemahlin Blaubarts bekanntlich leibhaftig vor ihren Frauen steht und sie durch rationale Argumente versucht zu überzeugen, steht die Leitfigur der Pflege im Unterschied zu Ariane nicht unmittelbar leibhaftig vor ihnen, sondern kursiert und spricht sehr viel wirkmächtiger (und bereits zu Lebzeiten) als Metapher des kulturellen Gedächtnisses. Diese Metapher überträgt also kein typisches Bild, sie spricht vielleicht eher aus einer unterstellten diskursiven Präsenz heraus. Diese Metapher fungiert als ein Vorbild und schreibt sich auf diese Weise in den „modern“ und universalistisch ausgerichteten Weltbunddiskurs ein. Ja, sie dient diesem aufkeimenden Frauendiskurs in dem freilich immer auch Männer3 stimmen gehört wurden , zum einen als Ich-Schutz vor falschem, zu schnellem Rückzug und zum anderen als Leuchtfeuer hinsichtlich einer ungewissen Zukunft: The Lady with a Lamp ist und wird es bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg unhinterfragt und unproblematisiert bleiben, zweifellos auch die Metapher dessen Lichtreflexe das spezifische Professionsinteresse, Aufklärungsinteresse und Emanzipationsinteresse in den deutschsprachigen Pflegediskurs eingravier4 te.
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Zum Beispiel die für den deutschen Diskurs wichtige Stimme des Pädagogen und
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Das Professionsinteresse richtet sich vor allem auf die internationale Ebene, des Ken-
Theologen Prof. Dr. Friedrich Zimmer (1855-1919). nenlernens anderer Möglichkeiten seines Berufes und einer ethischen Tugendorientierung. Das Emanzipationsinteresse richtet sich ebenso wie das Professionsinteresse auf die Forderungen nach Selbstverwaltung und Emanzipations-forderungen des eigenen Geschlechts. Dabei handelt es sich um Forderungen, die älter und bereits seit 1834 von Mütterwohlfahrtsvereinen formuliert wurden. Das Aufklärungsinteresse geht in den Wohltätigkeits-kontexten häufiger mit (positiver) Erhebung von Sozialdaten o. ä. einher (z. B. Henriette Jean Brunhes). Dieses Aufklärungsinteresse erfährt aber durch Florence Nightingales Forderungen nach „Zugang zur Wissenschaft und zum Wissen“ eine deutliche Perspektivenweitung (Nightingale, Florence zit. n. Perrot 2006: 511).
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4.1.2 Zur absoluten Metapher Was ist in diesem Fall überhaupt die Metapher? Die Metapher die sich in und hinter der Formulierung The Lady with a Lamp verbirgt, wird nicht visuell erzeugt, sondern über einen Text. In ihm spricht eine Metapher die man mit einem Blumenberg-Terminus vor allem hinsichtlich der Auswirkungen auch als „absolute Metapher“ ansehen kann. Als Metapher erzeugt der Text also ein Bild beziehungsweise auch seinen Sinn. Tut er das denn? Was lesen wir? Eine Lady, eine Frau adeliger Herkunft hat eine Lampe. Wo? In der Hand. Darauf könnte man achselzuckend antworten: Ja und? Was soll das heißen? Offenbar macht diese Lesart keinen Sinn. Ja, im Grunde weiß man an dieser Stelle gar nicht, was man sich für ein Bild zu dieser Metapher machen soll. Ohne Beiwerk, ohne den Subtext fehlt etwas sehr wesentliches zu seiner Dekodierung. Offenbar ist die Metapher insofern nicht voraussetzungslos, denn sie kann aus sich heraus kaum Sinn erzeugen. Erst wenn man hermeneutisch nach dem äußeren Kontext fragt, wer diese anonyme Bezeichnung eigentlich einführte, erfahren wir mehr. Nämlich dass es sich um eine Frau auf einer Krankenstation, genauer in einem Militärlazarett, handeln soll, die des Nachts und mit dem Namen Nightingale eine Lampe hält und dass es ein Spitzname ist für die Frau Nachtigall. Das heißt diese Frau in deren Namen die Nacht präsent eingeschrieben ist, arbeitet tatsächlich des Nachts im Dunkeln und die Lampe beleuchtet ihr einen Bezirk, der einen Kontrast zur Dunkelheit setzt. Abbildung 8: Statue Nightingales auf dem Waterlooplatz
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Die Metapher tritt vehement als ein Bild für eine arbeitsame Schwester auf. Diesen Sinn überträgt sie nicht allein dadurch, dass sich jemand verantwortlich zeigt, sondern markiert das Arbeitsame primär über die Konstruktion eines besonderen Zeitpunkts, der das Helfen noch deutlich erschwert beziehungsweise unmöglich erscheinen lässt. Über das Detail der Lampe erfahren wir aus dem Bild nichts Genaueres. Das Denkmal der Nightingale am Waterlooplatz in London gibt darüber Aufschluss. Dort hält ihre Statue eine kleine Öllampe. Der Spitzname beinhaltet eine doppelte Besonderheit: eine Adelige, die es im Grunde nicht nötig hat Pflegetätigkeiten zu übernehmen und eine Uhrzeit, die eigentlich die eigene körperliche Regeneration im Schlaf anempfiehlt. Dieser Name verdankt sich, man ahnte das vielleicht schon, weniger dem Realen als der Lyrik. Keiner hohen Lyrik, im Kern bleibt sie wenig schöpferisch, aber einer populären wie sie der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow (18071882) schrieb. Er widmete Florence Nightingale (1820-1910) sein Gedicht „Santa Filomena“ (1857) (Longfellow 1951: 511f.) und dieses Gedicht verwendet die Metapher der Lady mit der Lampe gleich zweimal (Strophe 6 und 10). Ich zitiere das Gedicht zunächst einmal im Original: Whene’er a noble deed is wrought, Whene’er is spoken a noble thought, Our hearts, in glad surprise, To higher levels rise. The tidal wave of deeper souls Into our inmost being rolls, And lifts us unawares Out of all meaner cares. Honour to those whose words or deeds Thus help us in our daily needs, And by their overflow Raise us from what is low! Thus thought I, as by night I read Of the great army of the dead, The trenches cold and damp, The starved and frozen camp,
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The wounded from the battle-plain, In dreary hospitals of pain, The cheerless corridors, The cold and stony floors. Lo! in that house of misery A lady with a lamp I see Pass through the glimmering gloom, And flit from room to room. And slow, as in a dream of bliss, The speechless sufferer turns to kiss Her shadow, as it falls Upon the darkening walls. As if a door in heaven should be Opened and then closed suddenly, The vision came and went, The light shone and was spent. On England's annals, through the long Hereafter of her speech and song, That light its rays shall cast From portals of the past. A Lady with a Lamp shall stand In the great history of the land, A noble type of good, Heroic womanhood. Nor even shall be wanting here The palm, the lily, and the spear, The symbols that of yore Saint Filomena bore.
Im Kontext dieses Gedichts bekommt die Metapher beim ersten Mal den Akzent einer Überraschung (dass überhaupt noch jemand wach ist) und beim zweiten Mal einen etwas kämpferischen und pathetischen Akzent (als Heroine, die sich durch ihr Gutmenschentum in die Geschichte einschreibt). Besonders der zweite
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Aspekt kann einem etwas unangenehm werden. Die Metapher erzeugt vor dem Hintergrund des Gedichts einen deutlich anderen Sinn als ohne das Gedicht. Das Kämpferische richtet sich aber nicht an dem aus, was nahe liegend wäre, nämlich an der Art und Weise wie die Frau sich ihrer Arbeit zu stellen weiß, sondern es liegt in einer Beschwörung und Überhöhung des normativen Gehalts dieser Tätigkeit.
Abbildung 9: Florence Nightingale Memorial in der St. Paul’s Cathedral, London Demnach richtet es die Aufmerksamkeit auf etwas, das vielleicht, so meine bloße Mutmaßung, hinter der Tätigkeit dieser Frau liegen soll. Aber dieses Übersehen des Realen macht stutzig und lässt mich vermuten, dass es hier noch um etwas anderes geht. 4.1.3 Zum Wunsch der Metapher nach Normativität Die Metapher will offenbar nicht selber einen Wunsch klar ausdrücken, als vielmehr den Wunsch eines anderen thematisieren. Jemand „Erhabenes“, immerhin eine Lady, ist auf der Bildfläche des pflegerischen Tableaus sichtbar und
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– vielleicht noch wichtiger – wird darauf gesehen. Die Blickordnung des Bildes sagt: Dieses Bild ist ein Männerphantasma (vgl. Theweleit 1995: 131-145). Abbildung10: Darstellung Nightingales bei der Pflegearbeit
Das gilt insbesondere für das gedichtunterlegte Bild. In der siebten Strophe möchte der Beobachter immerhin ihren entfliehenden Schatten an der Wand küssen. Die Metapher möchte offenbar eine normative Grundlage der Pflege sein. Die Zeiten des Flittchenhaften sind mit Nightingale vorbei, nun soll es ernster werden (und ist es seither auch geworden). Lese ich das Bild wieder imaginär ohne seine Gedichtunterlage, rein als Bild, so komme ich zu folgenden Gedanken: Die Lampe ist Zeichen eines klaren Bezirks (wie auf Bildern Goyas), sie wirft zumindest Licht auf etwas, vielleicht reinigt sie aber auch etwas was bislang im Dunkeln war. Die Frau in ihm ist vor allem nicht nur Zeichen der Erlösung (wie im romantischen Gedicht), sie ist vielmehr auch Zeichen der Verlässlichkeit und vor allem Zeichen für die Kompetenz einer angemessenen Begegnungsform gegenüber den Schwächsten, den Elenden und denen, die die bewusste Welt bald verlassen werden. Sie ist eine Nachfolgerin und verlangt durch ihre inszenierte Messianität auch von ihren Betrachtern nichts anderes als die Imitatio. Auf diese Weise fasst das Bild auch die Zeit in Schranken, indem es sie negiert. Sein Wunsch scheint darin zu liegen, die Zeit vollkommen gefangen zu nehmen in diesem Augenblicksmoment des Bildes der in dem Schein einer Anwesenheit liegt. Die Anwesenheit bleibt aber wesentlich imaginär. Die Lampe, die aus der Ferne gesehen wird, steht symbolisch auch für den Augenblick des Wiederauffindens der eigenen Heimat in nächtlicher Heimkehr: das Licht am ei-
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genen Hof. Auf diese Weise gibt jemand ohne Worte jemand anderem Orientierung in einer ungewissen Situation. Insofern kann man den Schluss ziehen, dass der pflegerische Diskurs hier in einer imaginären Ordnung eines Phantasmas etabliert wird. In dieser Metaphorisierung Nightingales lässt sich also eine ganz eigene Verhältniskonstellation nachweisen, insbesondere wenn man das heimliche Begehren in dieser Metapher genauer betrachtet. 4.1.4 Ausschluss der Sexualität Diese Metapher bleibt zumindest in einer gewissen Schwebe über ihre eigene Anzüglichkeit, denn die Lady mit der Lampe kann man als harmlose Erscheinung einer Schwester oder als Sexualobjekt lesen. Es schließt durch seine Abstraktion nichts aus. Erst der dichterische Zusammenhang tut das. Er stilisiert die Frau zu einer Asketin, aber das ist leicht zu durchschauen. Damit wird die positionsbedingte Enthaltsamkeit des Betrachters relativ gewaltsam, quasi abrupt in das Objekt des Sehfeldes hinein verlagert. Darum ist der Blick des Gedichts ein Blick der Überhöhung. Durch die Positionierung zur Statue im Text wird die durch unterdrückte Libido aufgekommene Aggression versucht zu hemmen. Abbildung 11: Statue Nightingales in Derbyshire
Ich hege den Verdacht, dass die einseitige Überhöhung des Dichters in gewissem Sinn eine Erniedrigung voraussetzt, die man nicht sieht. Die Erniedrigung ver-
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dankt sich offenbar dem starken Begehrensmoment, welches aus einer vorherigen Begegnung mit der Lady resultieren könnte. Der Betrachter hielte sich durch die Konstruktion dieses metaphorischen Bildes offenbar das eigene Begehren ein wenig vom Leib. Insofern unterliegt dieser Metapher auch eine Distanzierungsstrategie. Die konkreten bildlichen Darstellungen zu der Metapher statten die Lady auch keineswegs mit üblichen Requisiten aus. Was könnte man da als üblicherweise erwarten? Einen Rosenkranz (van Hermessen, ca. 1550), einen blauen Umhang (Gainsborough), einen Fächer (Velázquez), ein Schirmchen (Degas), ein Hündchen, eine Maske oder eine Harfe? Die Lampe ist offenbar ein spezielles Requisit. Symbolisiert sie nicht für sich bereits einen Wunsch? Wer die Lampe reibt, darf sich etwas wünschen, heißt es im orientalischen Märchen. Gemeint scheinen mir in diesem Fall diese Kombination aus verstecktem Wunsch und offenem Wunsch und das durch diese Kombination geöffnete Spiel. Denn offenbar kommt die Frau mit der Lampe um Wünsche in der Nacht zu erfüllen – aber eben nicht jeden Wunsch. So wird sie ein Engel, keine Hure. Sie ist das, was das Ich des Sehens heimlich will und darf dieses Ich nicht selber sein. Also muss sie den Blick auf sich spalten. Man darf sie ansehen, ihr nachsehen und auch träumen, aber man darf das Begehren gegenüber dieser Lady nicht erwähnen. Wenn man sich vor Augen hält, dass diese Metapher – vielleicht wegen ihrer offenen Projektionsmöglichkeit die sie dem Betrachter anbietet – sich so erfolgreich in den deutschen Pflegediskurs einschreiben konnte und damit zugleich etwas anderes mit einschreibt, über das Cecile Dauphin berichtet hat: „Alle diese Formen des Aufbegehrens fanden in den sozio-ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts einen fruchtbaren Boden für eine wahrhaft kulturelle und politische Bewegung zugunsten einer weiblichen Autonomie, die auf Eheverzicht basieren sollte.“ (Dauphin 2006 [1985]: 495)
Dieser Zwangsmechanismus des Eheverzichts erscheint mir keineswegs zufällig. Der Zusammenhang mit weiblicher Autonomie liegt offensichtlich genau darin begründet, dass der Zwangsmechanismus das, was er ablösen möchte überbieten muss und dass das, was er erreichen will, ein autonomes Subjekt, nicht als Fiktion erkennen kann.
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Abbildung 12: Fotografie
Die alte religiöse Macht vom Pflegediskurs abzutrennen bedeutet eine ungeheure chirurgische Leistung, die durch das Vorbild der Nightingale ermöglicht wird. Diese Ablösung geschieht in der Logik der Imitatio aber primär inhaltlich, indem sie als Metapher ein neues Bild kreiert und überträgt, aber sie geschieht unter Aufrechterhaltung der alten formalen Struktur. Das bedeutet unter Aufrechterhaltung einer Logik der Nachfolge und ihren Zwang zu einer besonderen Form der Nachahmung und Wiederholung, die das Ideal, auf den die Nachahmung gerichtet ist, nie erreichen kann. Diese alte caritative Struktur hat durch die Transformation ihr Kleid nicht geändert, sie hat sich einfach den Beinamen Nightingale mit dazugeschrieben. 4.1.5 Wirkungen, Blendungen, Frauenherrschaft Dieses metaphorologische Ur- und Vorbild Florence Nightingale (1820-1910) ist – und vor allem in Deutschland – wesentlich historisch konstruiert und ist in seinen Auswirkungen weitaus leichter zu beschreiben als in seinen Entstehungsbedingungen. Schaut man darauf, was es im Deutschen Reich bis zum Ersten Weltkrieg bewirkte: neben der Ablösung vom alten, mit einem pejorativen Pflegeverständnis ausgestatteten Diskurs (den eine Mischung aus Frauendemut, Sakralmysterium und Medizinherrschaft charakterisiert), was wie gesagt schon viel
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bedeutet, bewirkte es auch eine ganz neue Form kollektiver Identität, wie sie der Weltbund (ICN) zeigt. Mit dem Weltbund verbanden sich zum Teil sehr konkrete und funktionierende transnationale Bezüge. Diese Metapher übt überdies – in einem Land wie Deutschland mit unterschiedlich ausgerichteten Schwesternverbänden umso wichtiger – ganz wesentlich eine Synthesefunktion zwischen den primär weltlich orientierten und den primär religiös motivierten Schwesternschaften aus. Man kann dahinter einen Wunsch nach Macht vermuten, beide zu beerben, indem man ein neues Regime schafft: das der „freien“ Schwestern. Abbildung 13: Nightingale auf dem Titelblatt des Daily Mirror
Die Darstellungen der Lady machen auf der subjektiven Ebene ein Identifikationsangebot. Bei Annahme dieses Angebots entsteht daraus fortan eine unbewusste Bewertungsfolie oder auch ein innerer Kompass zur Richtungsanzeige der Einzelhandlung. So bildet sich aus den Darstellungen ein Ich-Ideal der Schwestern.
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Abbildung 14: Fotografie des Grabsteins in Derbyshire
Durch den diskursiven Status dieser absoluten Metapher sowie ihrer Idealisierung erwächst beispielsweise ein ständiger Movens, trotz Müdigkeit und 60 5 Stunden-Woche die Professionalisierung zu unterstützen. Offenbar schreibt sich dadurch auch eine konstitutive Ruhelosigkeit ein. Es ist natürlich keine neue Ruhelosigkeit, sondern in ihr erkennt man den ererbten Wiederholungszwang aus dem Imitatio-Mechanismus. Er depotenziert das Reale und muss immer wieder abgerufen werden, um das anfängliche Fehlurteil über die eingefasste Zeitillusion nicht zu bestätigen. Hinterfragt man die Ewigkeitsform, die die Aktualität vor der Spontaneität schützt, kann man natürlich konstatieren, dass gerade das Spiel mit der Zeit in der Imitatio arg destruktive, wenn nicht gar mörderische Folgen 6 für viele Schwestern (und Betroffene) zeitigte. Ihr nicht zur Ruhe kommen gerade wenn alles schweigt, bedeutet eines der nachhaltigsten Symptome für den Pflegediskurs. Auf der anderen Seite hat die Politik dieser Metapher eine neue Herrschaft und Emanzipation in Deutschland begründet, weil es ein Gefühl sicherer externer Evidenz erzeugt: die Logik der Metapher gibt eine Bestätigung
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Vgl. Rafferty/Boschma 1999: 54f.: „Nightingale was characterized as being above nationality, belonging to every age and country, and endowed with the genius to realize that nursing must follow scientific medicine as its handmaid. “
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Die Diskussionen um das Ausgebranntsein oder die „Überarbeitung der Krankenpflegerin“ beginnt ab 1912 und hält – bis auf die faschistische Pause – seither bis heute an. Dieses Es-auf-sich-selber-Nehmen wird spätestens im Zeitalter der massenweisen Produktion objektiver Widersprüche wie in den sechziger Jahren sinnlos und wird für die Sprengung des alten Pflegediskurses sorgen (vgl. Blunck 1949: 7).
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und sagt, dass es wirklich geht, wenn man will. Das stimmt natürlich nur für die absolute Metapher. Sie blendet. Abbildung 15: Darstellung der absoluten Metapher
Nicht nur mit ihrer Lampe und ihrer Schönheit blendet diese Lady, der man doch Vornehmheit unterstellen möchte. Und in dieser Blendung blendet es natürlich aus. Wie stellt so eine Lady Ordnung her? Was sind ihre Mechanismen? Man wusste vielleicht noch nicht, dass die „Lady“ eine Anti-Nurse ist: „Im Krimkrieg gab es in dem von Florence Nightingale geführten Grüppchen von Pflegekräften dauernd Streit zwischen ladies und nurses; die Nurses beanspruchten als entlohnte Krankenschwestern gleiche Rechte und weigerten sich, die Ladies zu bedienen, die obendrein noch über ihre Freizeit bestimmen wollten. Das brachte ihnen einen strengen Ordnungsruf von Florence ein: ‚Sie müssen einfach begreifen, dass Sie genau in derselben
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Auch, dass es lange geht, Nightingale wurde 90 Jahre: „[…] so empfand die britische Nation, ja die ganze Menschheit, als Florence im Jahre 1910 sanft verlöschte, dass mit ihr eine legendäre großartige Persönlichkeit zwar dem Irdischen entrückt, aber für immer als Unsterbliche in die Geschichte der Krankenpflege eingegangen war“ (Strecker 1949: 10-11). Das auch altersmäßige Vorbild wirkte faktisch oft destruktiv: Besonders im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts starben viele Krankenschwestern in der Klinik in jungem oder mittlerem Alter, unter anderem in Folge von Überarbeitung auftretenden Infektionserkrankungen.
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Lage sind wie in England, also der Frau Oberintendantin oder ihrer Stellvertreterin gehorchen müssen.“ (Perrot 2006 [1985]: 518)
Die Lady ist eben genau keine Nurse, will genau das nicht sein, sondern die Vorgesetzte der Nurses. Diese militärische oder, wie Nightingale argumentiert, gesellschaftlich notwendige Herrschaftsstruktur hält sich implizit durch: Die Nurse hat der Lady zu dienen. Warum hat man nach den Weltkriegen und der NS-Schwesternpolitik wieder versucht das verblasste Vorbild aufzurichten? Um den inzwischen rassistisch entarteten Pflegediskurs durch Rekurs auf das Bild hin zu restabilisieren?
4.2 N OCH EINMAL G RÜNDUNG : W IEDERHOLUNG EINER F IKTION 8 In ihrer Funktion als Vorsitzende des Ausbildungsausschusses des ICN (International Council of Nurses) spricht Isabel M. Stewart zur mythischen „Stunde Null“ im ersten Jahrgang der neu gegründeten Deutschen Schwesternzeitung 1949 über „Bildung und Ausbildung“ in der Krankenpflege: „Je mehr wir uns in die pädagogische Wissenschaft vertiefen, desto deutlicher erkennen wir, dass die Krankenpflegeschülerinnen Lernende wie andere sind und dass die pädagogischen Methoden, die für die Ausbildung von Lehrerinnen, Fürsorgerinnen usw. maßgebend sind, auch für die Vorbereitung der Krankenpflegerinnen Geltung haben. […] in jedem Dienst, der, wie die Krankenpflege, nicht auf totes Material, sondern auf menschliche Substanz gerichtet ist, kann die Individualität nicht unterdrückt und die Arbeit nicht schablonisiert werden, ohne dass sich schädliche Wirkungen auf die Arbeitskräfte selbst geltend machen.“ (Stewart 1949: 13)
In diesem Zitat wird man, liest man es gründlich, bereits auf sämtliche Problemfelder stoßen, die bis 1970 in der Bundesrepublik ungelöst bleiben beziehungsweise eher noch sozialpolitisch verschärft werden. Sie führen zu einer, wie ich sagen möchte, Sprengung des sich in dem Zeitraum 1950-1970 noch weitgehend einheitlichen, am Weltbund (ICN) Orientierung suchenden bundesdeutschen
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Dieser Untersuchungsabschnitt ist in geänderter Form veröffentlicht in ErtlSchmuck/Fichtmüller (2009) Pflegedidaktik als Selbstdisziplin unter dem Titel „Entwicklungslinien des bundesdeutschen pflegedidaktischen Diskurses“ (vgl. Hoops 2009: 164-196).
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Pflegediskurses. Eine pädagogische Fundierung, also eine nachvollziehbare Partizipation an dem Diskurswissen der Pädagogik, bleibt in der oftmals konfes10 sionell organisierten Weiterbildung zur Unterrichtsschwester und zum Unterrichtspfleger in diesem Zeitraum genauso aus wie eine pädagogische Fundierung der an der Krankenpflegeausbildung überdies beteiligten akademischen Berufe wie beispielsweise Mediziner, Juristen etc. (vgl. Wittneben 2000: 8). Von daher kommt es im Zuge des Krankenpflegegesetzes von 1965 und seiner massiven curricularen Veränderungen (von 400 auf 1200 Theoriestunden) zu einer endgül11 tigen Dominanz der erklärenden, verobjektivierenden Wissensform (und Prü12 fungsverfahren) in der Krankenpflegeausbildung. Aus dieser krankenpflegegesetzlich verordneten Medizinmimikry resultiert eine Dominanz der einseitig verobjektivierenden Perspektive in den Pflegeberufen, insbesondere der Kranken- und Kinderkrankenpflege, die sich seit Ende der 1960er Jahre, verstärkter noch in den 1970er Jahren, zu der vorerst schwersten Orientierungskrise der bundesdeutschen Pflegeberufe auswachsen wird (Ganzheitlichkeit vs. Technokratie). 4.2.1 Prima Pflegewissenschaft Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man – in der Bundesrepublik, nicht in der DDR – versucht den Gedanken und die Erfahrungen des Weltbundes der ausge-
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Einheitlich meint natürlich nicht einstimmig.
10 Wittneben (1995: 262, 266) schlägt für diese Nachkriegsepoche den Begriff der „evangelischen Konfessionalisierung der Weiterbildung“ vor. Ich halte das für übertrieben, denn es gibt der kirchlichen Macht eine begriffliche Macht, die von den säkularen Trägerverbänden (Rotes Kreuz, Deutsche Schwesternschaft) und den Inhalten der Weiterbildung genauso absieht wie von der Konfessionswirklichkeit nach dem NS-Staat. Man sollte die Weiterbildung in eine professionelle, am Weltbund partizipierende und eine deprofessionalisierende, partiell am eigenen Standort ausgerichtete unterteilen und die verschiedenen Orte jeweils für sich prüfen. 11 Im Vergleich dazu wird Darmann später auf den 11. Hochschultagen Berufliche Bildung 2000 im Anschluss an Habermas (und Klafki) vier Wissensformen für die Pflegeberufe als relevant vorschlagen: empirisch-theoretisches, methodisches, moralischethisches und selbstbezogenes Wissen (vgl. Darmann 2000: 120). 12 „Die Stundenzahl für die meisten Fächer wurde (nach 1965; W. H.) weitgehend erhöht, ohne dass eine neue, am Ausbildungsziel orientierte Konzeption für die Theorie entwickelt wurde. [...] Bei den vorgeschriebenen Fächern überwiegt der naturwissenschaftlich-medizinische Anteil.“ (Katscher 1976: 251).
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henden zwanziger Jahre wieder aufzunehmen und man hat auch versucht diese 13 zu erweitern. Das wird nicht nur durch einen Blick in die Artikel aus der Anfangszeit der Deutschen Schwesternzeitung ersichtlich, sondern ganz wesentlich auch aus den konstitutiven Gründungsabsichten des Florence Nightingale Komitees innerhalb der Deutschen Schwesterngemeinschaft e.V. 1953. Dieses Komitee hatte sich neben der Arbeit am eigenen Bild insbesondere folgendes vorgenommen: • • • •
Gedächtnis an Florence Nightingale Förderung der Schwestern-Fortbildung Anregung zum Schreiben pflegewissenschaftlicher Arbeiten Einrichtung eines Fonds (um Preise für pflegewissenschaftliche Arbeiten zu vergeben oder auch Stipendien zum Studieren im Ausland)
Bemerkenswert ist neben der Wiedererrichtung des alten Leit-Bildes einer modernen Pflege, Florence Nightingale, der Ausdruck pflegewissenschaftlich. Das bedeutet eine klare und eindeutig wissenschaftliche Verortung, die man zur sel14 ben Zeit auch in Amerika oder England beobachten kann. In der Bundesrepublik vollzieht sich eine Verwissenschaftlichungstendenz des Pflegediskurses in den 1950er Jahren somit recht konkret aus „pflegerischen Selbstbeschreibungen“ (Axmacher 1990: 122), denn in der Pflege tätige Schwestern werden in den Folgejahren Essays zu einem vom Florence Nightingale Komitee ausgelobten 15 pflegespezifischen Themenkomplex schreiben. Von 1953 bis zum Ausscheiden seiner Vorsteherin 1960, der Oberin Cläre Port, vergab das Komitee jährlich einen ersten bis dritten Preis für die gelungensten Arbeiten. In dem Zeitraum von 16 1954-1959 entstanden so sechzig Essays, von denen jeweils zumindest zwei
13 Agnes Karll ist 1927 verstorben und damit eine der wichtigsten Gallionsfiguren des deutschen und internationalen Pflegediskurses. 14 Müller (2001) beschäftigt sich empirisch mit den Leitbildern und erwähnt unter anderem auch Nightingale und ihre Metapher. 15 Ich würde die These wagen, dass es sich bei diesen Essays bereits um theoretische Rekonstruktionen handelt und dass diese Essays gerade vor dem Horizont der sozialwissenschaftlichen Realität zu diesem Zeitpunkt das Kriterium ‚wissenschaftlich’ im Sinne Axmachers erfüllen können. Über diesen Frühdiskurs sollte man etwas genauer forschen. 16 „Das (60) scheint vielleicht nur eine kleine Zahl. Wir Komiteemitglieder hingegen halten es für eine erstaunliche Leistung, wenn auch nur eine völlig mit laufender Ar-
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oder drei prämiert worden sind. Die Nummer eins erschien jeweils in dem Jahrgang nach seiner Auslobung in der Deutschen Schwesternzeitung. Die Themenkomplexe waren: • • • • • •
Was hat Florence Nightingale für die Krankenpflege geleistet? (1954) Deutsche Krankenpflege im 20. Jahrhundert (1955) Das Krankenhaus der Zukunft zum Wohl des kranken Menschen aus Sicht der Krankenschwester (1956) Das Wandelbare und das Unwandelbare in der Krankenpflege (1957) Krankenbeobachtung (1958) Die Eigenständigkeit des Berufs der Krankenschwester (1959).
Die Verwissenschaftlichung der deutschen Pflege vollzieht sich in ihrer Tendenz also weitaus früher und grundständig anders als manchem Pflegewissenschaftler bekannt sein dürfte und sie formiert sich gegen oder trotz Widerstand von außen. „Wegen des Ausdrucks ‚pflegewissenschaftlich‘ sind wir in den letzten Jahren mehrfach angegriffen worden. Ganz auffallend ist, dass derartige Einwände niemals aus der Reihe der Krankenschwestern kamen [...].“ (Port 1960: 239) Die Art, wie den theoretisch nicht nur interessierten, sondern für ihr theoretisches Interesse sich handlungspraktisch engagierenden Schwestern aus dem universitä17 ren Milieu ihr Wissenschaftsbegriff abgesprochen wurde, deutet auf eine paternalistische wie gleichsam expertokratisch eingerichtete Sozialwissenschaft hin, die noch gänzlich frei ist von den „Grundzügen einer neuen Universität“ (Schelsky 1967). Auffällig bei diesem pflegegenuinen Wettbewerb ist, dass alle Beiträge von Frauen verfasst worden sind. Vor dem Hintergrund der zeitüblichen Verfasserschaft in der Deutschen Schwesternzeitung, wo doch recht häufig Männer (Ärzte, Theologen, Volkswirte usw.) sich für Artikel verantwortlich
beit belastete Krankenschwester sich in solch ein Thema vertieft und schriftlich ihre Gedanken in einer 20 Schreibmaschinenseiten umfassenden pflegewissenschaftlichen Abhandlung systematisch ordnet zu einer geschlossenen Arbeit, die termingerecht eingereicht wird.“ (Port 1960: 239). 17 Verwiesen sei auf den Beitrag „Pflegewissenschaft oder Pflegekunde“ des Sozialwissenschaftlers Boesler von 1958, der in der Schwesternzeitung für eine Krankenhauswissenschaft argumentiert, unter deren Dach sich eine „Pflegekunde“ (und eben nicht Pflegewissenschaft) wiederfinden könne. Diese Erfahrung einer pejorativen Behandlung der Pflegenden bezüglich ihrer Wissenschaft persistiert im Pflegediskurs bis heute.
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zeichnen, bedeutet dies ein, wie ich meine, sehr früh wirksames, emanzipatives Bestreben des Pflegediskurses: „Die Arbeiten ergeben in jedem Jahr einen höchst interessanten Querschnitt über das zeitbedingte Berufserleben der Krankenschwestern. Hieraus lassen sich konkrete Folgerungen für notwendige Reformen in unserem Beruf ziehen. In dieser Tatsache liegt vielleicht das wertvollste Ergebnis der Abhandlungen. [...] daraus zu lernen und Folgerungen anzuregen, ist und bleibt unsere Aufgabe.“ (Port 1960: 240 [Hervorh. d. Verf.])
Diese „notwendigen Reformen“ von denen Port hier spricht, aufgrund gezielter Berufsfeldanalysen vorzunehmen, blieb eine der unverwirklichten Utopien des bundesdeutschen Pflegediskurses. Reformen wurden erst teilweise, seit Mitte der sechziger Jahre dann vollständig entkoppelt von den realen und argumentativrational vorgetragenen Belangen (der Patienten, der Pflegenden, der Pflegeorganisationen) und auf Basis politischer Eigeninteressen getroffen. Auch die anvisierte Lernchance blieb dem bundesdeutschen Pflegediskurs nicht länger als bis 1960 vergönnt, denn dann trat Cläre Port den Vorsitz ab und ließ in ihrem Abschlussbericht über die Leistung des Komitees deutlich erkennen, dass diesem Komitee die finanzielle Basis fehle, nicht nur um einen derartigen Wettbewerb zukünftig aufrechterhalten, sondern auch um weitere pflegewissenschaftliche Forschungen betreiben oder Stipendien (für Auslandsstudien) vergeben zu kön18 nen. Dass weder Staat oder Kirchen, noch Universitäten oder Gesellschaften, noch etwaige andere Förderinstitutionen an dem Ausbau oder einer Weiterfinanzierung des bestehenden wissenschaftlichen Arbeitens im Pflegediskurs sonderliches Interesse zeigten, spricht sicher dafür dass Pflegende im Spiegel ihrer Au19 ßenrepräsentanz sich und ihr Handlungsfeld nicht erforschen sollen. Pflegefor-
18 Das Florence Nightingale Komitee hatte sich zum Beispiel lange Jahre durch den Verkauf von Nightingale-Postkarten beholfen. 19 Der 5. Bericht des Expertenkomitees für Krankenpflege der WHO von 1965 gibt der frühen pflegewissenschaftlichen Entwicklung natürlich recht: „Durch systematische Untersuchungen wäre es jedoch möglich, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, damit die praktische Krankenpflege entsprechend den allgemeinen Veränderungen verbessert wird.“ (WHO 1965) Der Bericht fordert offensiv eine verstärkte Ausstattung mit Geldmitteln für pflegerelevante Forschungsprojekte. Die Forderung kommt für die Arbeit des pflegewissenschaftlichen Frühdiskurses bekanntlich zu spät: „Für die Durchführung der Studien müssen vor allem Geldmittel vorhanden sein.“ (Die Krankenpflege 1968: 149).
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schung und (universitäre) Weiterqualifizierung von Pflegekräften (gegebenenfalls durch ein Studium im Ausland) sind in der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt unerwünscht. Dies ist der gleiche Zeitpunkt in dem der bundesdeutsche Pflegediskurs seine besondere Qualität, ein Gegendiskurs zum Öffentlichen zu sein, vollständig einbüßt. Sicht-bar wird das in dem Grad seiner Forderungen: Es kommen keine mehr, die über das Pragmatische oder Beratende von Politik hinausgehen. Man verbleibt zunehmend in einer Anpassungsstrategie (der Imitatio) und der Formulierung von „Mindeststandards“. 4.2.2 Verödung lebensweltlicher Wissensformen Unter der systemimperativischen Bedingungsoffensive der 1960er Jahre: Maschinisierung, Totalinstitutionalisierung, Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der damit protegierten Wissensformen erscheinen die lebensweltlichen 20 Wissensbestände der Pflege selbst den Pflegenden als obsolet. Die Strategien des Pflegediskurses durch Beratung und Kommentierung auf gesetzliche Ent21 scheidungen Einfluss auszuüben, zeigen sich immer weniger als produktiv: Der Ertrag, ein neues Krankenpflegegesetz 1965, erweist sich aus zwei Gründen
20 Man müsste wohl mit Blick auf die Pflegegeschichte sagen, erneut obsolet: „Die Hebammen waren nicht die einzigen Opfer des medizinischen Fortschritts. Auch andere traditionelle Pflegekräfte mussten erleben, wie ihr Wissen und ihre praktische Erfahrung entwertet wurden. Nonnen, Krankenpflegerinnen, Naturheilkundige wurden seit der Ära Louis Pasteur den Ärzten untergeordnet und von diesen regelrecht domestiziert.“ (Kniebiehler 2006: 382) Ob in Zeiten besonderen medizinischen Fortschritts diese Verdrängungsbewegung im medizinischen Handlungsfeld eine wiederkehrende systemische Aggression der Innovation ist und als eine Struktur erkennbar wird, wäre meines Erachtens einmal genauer zu untersuchen. 21 Die Rationalität, die die Pflegenden in ihren Papieren voraussetzen, argumentiert angesichts der Opfer der sozialpolitischen Entscheidungen zu passiv. Sie formulieren Mindestforderungen, anstatt Forderungen aus Sicht der Patienten und aus Sicht der strapaziösen Pflegerealität heraus zu formulieren. In einem „Memorandum über die Ausbildungsbedingungen in den europäischen Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (1966) war Deutschland bei der Formulierung dieser Mindestforderungen die Bremse: „Zwei Vertreterinnen der Deutschen Schwesterngemeinschaft e. V. haben an der Besprechung in Brüssel am 28. und 29.4.1966 teilgenommen. Von den Teilnehmerinnen anderer Länder wurden noch höhere Mindestforderungen vorgeschlagen. Das vorliegende Ergebnis ist bereits ein Kompromiss auf die deutschen Einwände hin.“ (Memorandum 1966: 275).
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wohl eher als Desaster und als Endmarke des traditionellen Pflegediskurses denn als Fortschritt in der Sache. Zwar scheint darin die Festschreibung einer dreijährigen Ausbildungszeit wie eine Einlösung der frühesten Vorstellungen über eine professionelle Ausbildung, gehörte dies nicht zu den frühesten Wünschen des Weltbundes? Es lohnt sich darauf zu blicken, was das Gesetz real bedeutet: Erstmals wird offiziell ein Pflegehilfsberuf eingeführt, der eine Unterstellung zwischen dem pflegerischen Tableau und der gesetzlichen Disziplinarmacht festschreibt. Derart fest, dass der Pflegediskurs diese Unterstellung bis in die Gegenwart nicht mehr losgeworden ist. Als sein wesentlichster Nebensinn bezeugt und legitimiert das Gesetz auf dem Tableau der Pflege Handlungen, die mit einer einjährigen Ausbildung und mit einer Volksschulvorbildung ausreichend ausführbar sind. Es stellt sie indirekt als in gewissen Sinne professionell dar. Damit überschreibt das Gesetz das pflegerische Tableau mit einem anderen Sinn. Auch wenn damals darüber kontrovers – und von Unterrichtsschwesternseite überwiegend ablehnend – diskutiert wurde, bleibt dieses ein aus dem Einsatz Ungelernter in der Praxis geschuldetes Vorurteil gegenüber dem pflegerischen Handlungsfeld, welches eines rationalen Nachweises entbehren muss. Die Komplexität der pflegerischen TechnƝ bei gleichzeitiger Verödung lebensweltlicher Pflegeformen macht die Herstellung einer Beruflichkeit in kurzer Zeit überdies schwer vorstellbar. Es erscheint also interessant, dass in dem gleichen Zeitraum in dem die Klinik sich in eine maschinelle Totalinstitution transformiert hat und ihre Unterschrift zur Fortschrittsgesellschaft mit exponentiell steigenden Spezialisierungswissen gegeben hat, dieselbe Klinik quasi Unwissende oder Schnellausgebildete an kranke, schwache oder altersbedingt hilfsabhängige Menschen herantreten lassen wird. Vielleicht ist die Fiktion der neuen Klinik der 1960er Jahre, dass es in ihr keinerlei Pflege mehr bedarf. Sofern man, wie es das Krankenpflegegesetz von 1965 tut, das pflegerische Tableau rahmengesetzlich überschreibt, bedeutet das berufsbildungspolitisch stark deprofessionalisierende Auswirkungen. Wobei sich interessanterweise nicht unbedingt diejenigen Handlungen, die Hilfspflegende ausführen können, zu dem wesentlichen Professionsproblem fortschreiben werden, sondern die, die sie nicht ausführen können. Diese werden fortan den Handlungsradius der dreijährig ausgebildeten Pflegenden nicht unwesentlich festlegen − zum Beispiel auf Verwaltungstätigkeiten, auf medizinische Tätigkeiten, auf „Behandlungspflege“ etc. Hiermit tritt ein Zusammenhang an die Oberfläche, der selten in dieser Deutlichkeit angesprochen wird: eine durch die Hilfsberufe eingeflossene Heteronomie des pflegerischen Handlungsfeldes. Denn aufgrund der meist minderen sprachlichen Vorbildung der in den pflegerischen Hilfsberufen Tätigen werden
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die dreijährig ausgebildeten Pflegenden vom Patientenbett auf das Verwaltende, auf den legitimatorischen Hintergrund der Pflege verdrängt. Der zweite Grund für diese destruktiven Auswirkungen des Krankenpflegegesetzes von 1965 findet sich mit Blick auf seinen formalen Fortschritt, der wie sich zeigt tatsächlich bloß formal ist: Das, was daran oft gelobt wird, die Zunahme der theoretischen Anteile von 400 auf 1200 Stunden, erweist sich bei genauer Sicht als Seifenblase. Faktisch wird bloß eine massive Zunahme und Anhäufung naturwissenschaftlichen Wissens in der grundständigen dreijährigen 22 Pflegeausbildung erreicht. Diese Vereinseitigung der Wissensform ist aus erziehungswissenschaftlicher Sicht zu dem Zeitpunkt nicht legitimierbar. Dass sie das nicht ist, hat zu tun mit dem hinterwäldlerischen Stand der Pflegelehrerbildung (eine günstigstenfalls einjährige Weiterbildung) in der Bundes23 republik (vgl. Wanner 1987; Wittneben 1995: 265). Folglich entsteht in der Pflegeausbildung ein sozialpolitisch konstruierter entpädagogisierter Unterrichtsraum. Dieser Raum kann sich gerade durch die in der medikalen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts spezifische Abwesenheit didaktischer Reflexion und durch die von diesem Diskurs favorisierte analytische Methode mit einer Vielzahl von Inhalten anfüllen. Diese Inhalte werden als maßgeblich für das pflegerische Tableau erachtet werden, obwohl sie hinsichtlich der realen Problematiken auf dem Tableau wenig Relevanz aufweisen. Sie zeitigen fortan manifeste und latente Auswirkungen auf die berufliche Sozialisation von Krankenpflegeschüle24 rinnen. Wegen der mit diesen Wissensformen korrespondierenden Handlungstypen kommt es zu einer Verschiebung von der traditionellen wertrationalen Ausrichtung des alten, letztlich am Weltbund orientierten professionellen Pfle25 gediskurses in Richtung einer zweckrationalen oder auch strategischen Grund-
22 Die dreijährige Ausbildung wurde seit dem Krankenpflegegesetz 1957 durch zwei Jahre Schule und ein praktisches Jahr an den meisten Krankenpflegeschulen bereits praktiziert. Bei Ausnahmeschulen wie der Heidelberger ohnehin. 23 Implizit schleifte sich darin eine, vom damaligen Pflegediskurs durchaus geteilte ideologieverdächtige allgemeine These über das Lehren fort, die sich eigentlich seit ihrer ersten europäischen Bearbeitungsschicht, in Platons „Menon“ nicht mehr als haltbar erwiesen hat: dass Menschen mit gutem Fach- oder Praxiswissen vorzüglich in der Lage seien, dieses Wissen auch gut zu vermitteln. 24 „Bei den vorgeschriebenen Fächern überwiegt der naturwissenschaftlich-medizinische Anteil.“ (Katscher 1976: 251). 25 Es gab zu der Weltbundorientierung immer auch Paralleldiskurse, die z. T. sogar in der Mehrheit waren, die aber für die Professionalität der Pflege keinen Geltungsanspruch erheben können.
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ausrichtung des beruflichen Handlungstypus, ein Sachverhalt der mit einer noch zu explizierenden objektiven Verschiebung des beruflichen Habitus des Pflegeberufs vollständig d’accord geht. Diese reine Präsentation verobjektivierender Wissensformen kompensiert ihre mangelhafte pädagogische Legitimation durch Orientierung am Objektivitätsideal der Naturwissenschaften, etwa bis zum Aufkommen einer breiteren Medizinkritik wie sie sich systematisch seit 1977 in den Jahrbüchern für kritische Medizin artikuliert. Unter den Bannern: „Ganzheitlichkeit“, „Patientenorientierung“, „Ablehnung medizinischer Tätigkeiten“ und dem Aufkommen einer bundesdeutschen „Pflegelehrerprofilierung“ in den 1980er Jahren (vgl. Wanner 1987). Im Gegensatz zu dieser realgeschichtlichen Entwicklung sei noch einmal betont, dass die Vorgehensweise in Form von Essays unter dem NightingaleKomitee Cläre Ports, also der ersten deutschen Pflegewissenschaft, wissenschaftstheoretisch gesprochen hermeneutisch angelegt war (was bekanntermaßen eine Integration empirischer Daten keineswegs ausschließt). Die beschriebenen Problematiken des Durchschlags eines objektivierenden Blicks der Pflege und des Wegfalls eines angemessenen Lernortes Pflegepraxis bleiben nicht ohne Rückwirkung auf den Pflegediskurs. Der bundesdeutsche Pflegediskurs wird zum Abbild einer deprofessionalisierenden Zuschreibung von Seiten einer kurz26 schlüssigen Löcherstopfpolitik. Mit dem Krankenpflegegesetz von 1965 (inklusive seiner Einrichtung einer Pflegehilfe) erfolgte unter anderem die strukturelle Beförderung unprofessioneller Pflegebedingungen. 4.2.3 Verlust des Bildsignifikanten Es kommt schließlich unter dieser Last von Anforderungen (handlungspraktisch in der sich ausdifferenzierenden und vielseitig spezialisierenden Klinik, diskursiv unter der bundesdeutschen Politik einer Professionsvermeidung, gesellschaftlich durch Transformation der habituellen Geschlechterlogik), aber auch durch den Verlust seines Einheit erzeugenden Bildes zu einem inneren Zerfall im Pflegediskurs: sowohl vertikal als auch horizontal. Dieser Zerfall wurde schon damals als Sprengung wahrgenommen. Sie entlädt sich durch eine an der beruflichen Realität ansetzenden Kritik, eine Kritik, die die Schwesternschaften durch ihre – dank einem auf Selbstopfer und Eigenkompensation diskursiv vererbten Handlungsverständnis und einem naiven, dem alten Gemeindebegriff geschuldeten Gesellschaftsverständnis – scheiternde Anpassungsstrategie auf Basis der
26 Beglaubigt durch die Empfehlungen der deutschen Krankenhausgesellschaft von 1963 (vgl. Empfehlungen 1963: 443f.).
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diskursiv eingeschriebenen Imitatio in die Defensive bringt. Ab 1969 kommt es zu ersten (wirkungslosen) Demonstrationen in der Pflege. Der Austritt des Deutschen Berufsverbandes Pflegeberufe (DBFK) aus der gesamtbundesdeutschen Arbeitsgemeinschaft mit den übrigen Schwesternschaften (Rotes Kreuz, Caritas und Diakonie) 1973 ist eine Folge dieser Krise. Das, was vorher eine Stimme für den öffentlichen Raum anstrebte, eine repräsentative Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Schwesternschaften (ADS) war seither passé. Dass der bundesdeutsche Pflegediskurs nicht mehr in einer auf das Internationale ausgerichteten Stimme spricht, liegt wesentlich an einem Verlust beziehungsweise der Transformation der Paradigmen aus seinem Gründungsdiskurs: sein ehemals ausgeprägtes Professionsinteresse, Emanzipationsinteresse und Aufklärungsinteresse sind unter dem realen Notstand und den objektiven gesellschaftlichen Veränderungen zu Gunsten einer chronischen Wundversorgung des Pflegeberufs aus dem Blickfeld geraten. Einfache Anknüpfungen an die Tradition verbieten sich seither. Neue Schritte wie alternative Lebensentwürfe (Männer in der Pflege, Protestbiographien), Massenuniversität, Ausbau des zweiten Bildungswesens und Fachhochschulplanungen eröffnen nun gänzlich neue Möglichkeitsbezirke und Probleme. Die in der Imitatio-Nightingale geeinte Stimme löst sich auf in eine Polyphonie der (Einzel-)Interessen. Eine neue, die Differenz der Pluralität übersetzende Stimme, zum Beispiel die einer Profession auf Basis einer bundesdeutschen Pflegewissenschaft, war rechtzeitig verhindert worden und ist somit 28 nicht aufgebaut. Der Pflegediskurs musste erleben, dass er weder die eigenen Problematiken im Handlungsfeld oder Unterricht noch die sozialpolitisch fremdbestimmten Probleme seiner Praxis lösen, sondern bestenfalls noch benennen kann: „Ein einheitliches Berufsbild der Schwester und des Pflegers existiert nicht mehr.“ (Grauhan 1969: 650).
27 Es kann auch mit der Präambel des Weltbundes selbst zu tun haben, die ausdrücklich vorsieht, dass die beitretende „Organisation“ unpolitisch sein muss: inwiefern dieses Diktat in sozialpolitisch aufgeheizten Zeiten zu einer Defensivstrategie und damit zu Diskursspaltungen führt, überlasse ich späteren Untersuchungen (vgl. Bennett 1965: 49). 28 Das hatte auch Auswirkungen auf die Weiterbildungsangebote, die wie eine Flut anwachsen und Unübersichtlichkeit erzeugen. Es sind nicht immer schlechte Ansätze, aber sie folgen jetzt Einzelinteressen und nicht mehr der Pflegeprofession im Ganzen: „Es gibt eine ganze Reihe ... Fortbildungsangebote durch einzelne Schwesternschaften, die Berufsverbände und durch die Krankenpflegehochschulen.“ (Katscher 1976: 252 [Hervorh. d. Verf.]).
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4.2.4 Ausgangspunkt Pflegeschülerinnen Bereits 1949 wollte Stewart das Interesse und den Blick auf die Pflegeschülerinnen lenken, welche zu dieser Zeit noch Lernschwestern genannt werden: Sie sollen als Lernende wahrgenommen werden, will heißen, sollen statusmäßig Schülerinnen sein dürfen und demgemäß nicht während ihrer Praxiseinsätze auf den Krankenstationen anteilig auf den Stellenplan angerechnet werden. Mit diesem Topos wird der Beginn einer Debatte über den Schülerstatus gesetzt, die sich aus Sicht der Pflegenden und ihrer Schülerinnen leit(d)motivisch durch das zwan29 zigste Jahrhundert zieht. Diese Frage wird bis 1969 nicht gelöst und wird noch verquickt mit dem „Schlagwort“ Schwesternmangel: „Eine ganze Weile lang ist versucht worden, Angebot und Nachfrage nach Pflege dadurch zu lösen, dass man die Pflegenden überforderte. Als ich vor 18 Jahren (1951, W.H.) Examen machte, bekam ich 250,- DM
30
brutto pro Monat und arbeitete, wie es damals hieß
‚nach Möglichkeit nicht mehr als 60 Stunden pro Woche‘. Es waren selten weniger. Als man merkte, dass Schwestern weder Engel noch Arbeitsbienen waren, sondern Menschen, und als man diesem Umstand durch Verkürzung der Arbeitszeit und bessere Bezahlung Rechnung trug, entstand das Schlagwort vom Schwesternmangel (…).“ (Grauhan 1969: 649)
Die Nichtbeantwortung dieser hier explizierten doppelten sozialen Frage der Pflegeberufe, der des Schülerstatus in der praktischen Pflegeausbildung und eines auf Dauer installierten Pflegenotstands im Handlungsfeld, erweist sich als
29 Beispielsweise in der Form wie Oberin Ruth Elster es 1965 formuliert: „Es muß in aller Deutlichkeit einmal ausgesprochen werden, dass wir in Deutschland so lange Schwierigkeiten mit dem Aufbau unserer Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen und mit einer guten und systematischen Ausbildung unseres Nachwuchses haben werden, bis man endlich überall begreift, dass Schülerinnen keine Arbeitskräfte sind, die man im Verhältnis 1:2 oder 1:3 auf den Stellenplan der ausgebildeten Schwestern anrechnet.“ (Elster 1965: 425) „Unabhängige Krankenpflegeschulen sollten angestrebt werden, damit die Schülerinnen nicht als Arbeitskräfte eingespannt und dadurch überfordert werden.“ (Wassner/Ffitch 1968: 22) Ein Gegenentwurf: „Die Schwesternschule der Universität Heidelberg die jetzt zehn Jahre besteht, proklamiert durch ihre damalige Oberin Olga von Lersner auf vielen Tagungen von Anfang an: ‚Die junge Schwester hat ein Recht, Schülerin zu sein, und an zweiter Stelle ist sie Arbeitskraft!“ (Günzel 1964: 74). 30 Deutsche Mark: Deutsche Währung von 1949-2002.
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das gängig praktizierte Machtmittel der deutschen Sozialpolitik das nicht ohne Auswirkungen auf den Innenraum des bundesdeutschen Pflegediskurses geblieben ist. Diese sozialpolitisch evozierte und determinierte Einrichtung der pflegerischen Praxis verändert den Lernort Praxis in den 1960er Jahren ebenso maßgeblich wie nachhaltig. Praxisanleitung im Kontext ökonomischer ZweckMittel-Relation, das heißt eines erfolgsdominierten strategischen Handlungstypus, lässt wenig an offenen Lernformen zu, die in einem freieren Interaktionskontext eine Begegnung zwischen Pflegenden und Betroffenen auf dem pflegerischen Tableau einüben oder gar verstetigen ließe. Aus dieser Situation heraus resultiert durch Zunahme der Gehälter, Verkürzung der Arbeitszeit, Zunahme des naturwissenschaftlichen Wissens, Wegfall zweckfreier Lernorte eine vollkommen andere Habitusausformung des Krankenpflegeberufes im sozialen Raum der Bundesrepublik (vgl. Bourdieu 1987: 195ff.). Die angesprochene Verkürzung der Dienstzeiten und die Zunahme der Ausbildungsgehälter gestattet zwar durchaus die Hypothese von einer Zunahme des ökonomischen Kapitalvolumens 31 aufzustellen , zugleich nehmen aber traditionelle Wertepolster durch wegbrechende Mutterhaus- oder Kollektividentitäten (wie dem Weltbund) und damit ethisch-moralische Wissensbestände ab. Durch einen weiterhin nicht bestehenden Zugang zu akademisch-reflexivem Wissen korrespondiert diese Abnahme – insbesondere durch Berücksichtigung der faktischen Veränderungen – mit einer gleichzeitigen Abnahme des sozialen und des kulturellen Kapitalvolumens. Die Zunahme der ökonomischen Kapitalform sorgt einerseits strukturell positiv für eine Humanisierungsoption, also dafür dass Krankenpflegeschülerinnen sich während der Ausbildung von ihren Familien und sozialen Bezugssystemen emanzipieren könnten. Andererseits kommt es durch Wegfall eines zweckfreien Lernortes Praxis, einer zeitadäquaten normativen Außenrepräsentanz, welche die verlorenen Mutterhausidentitäten kompensiert oder transformiert und durch die unreflektierte Übernahme eines strategischen beziehungsweise zweckrationalen Handlungstypus tendenziell zu einer deutlichen wie spürbaren Abnahme der so-
31 Die hier, auch durch die Aussagen Grauhans (1969) unterstellte Zunahme der ökonomischen Kapitalform ist, wenn man es vor dem Hintergrund der Veränderungen des Bruttosozialprodukts in dem Zeitraum 1950-1970 betrachtet, bereits wieder mehr als fragwürdig. Ich kann allerdings im Rahmen dieses Textes nicht zu einer Prüfung kommen und mir sind auch aus dem Bereich Pflegemanagement keine Studien bekannt geworden, die den Sachverhalt einmal aufgenommen oder geklärt haben.
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zialen und kulturellen Kapitalstruktur in der bundesrepublikanischen Gesell32 schaft. 4.2.5 Nightingale reloaded gescheitert Die drei der absoluten Metapher entsprungenen Interessen (Professionsinteresse, Emanzipationsinteresse und das Aufklärungsinteresse) wachsen sich zu den konstitutiven impliziten Paradigmen des beginnenden deutschen Pflegediskurses aus und tragen Sorge dafür, dass er sich aus dem toten Schlund des bloßen Abarbeitens entziehen lernt und dass er traditionelle (und damit konfessionell dominierte) Diskurse über den „Nichtberuf“ Pflege bereits durch seine Setzung überwin33 det (vgl. Mischo-Kelling/Wittneben 1995: 231). Diese Metapher der Nightingale, das lässt sich sagen, hat im deutschen Pflegediskurs Retard-Wirkung: sie wirkt durch die stellenweise sehr aktiv betriebene Erinnerungsarbeit bis in die späten sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Sie stellt eine Einheit her und
32 Mal abgesehen von diesem schwerwiegenden habituellen Wandel der Pflegeberufe, der sich bis in die siebziger Jahre vollzogen hat, lässt sich feststellen, dass man nach zwei Jahrzehnten Erfahrung unter Vorherrschaft der bundesdeutschen Variation des Social Managements heute mit Friesacher (2008) und Hülsken-Giesler (2008) wieder in einer einer ähnlichen Situation, wie seinerzeit den von Stewart prognostizierten „schädlichen Auswirkungen auf die Arbeitskräfte“, angekommen ist, nur mit der Gewissheit, dass vor ihr nicht mehr gewarnt werden muss, da sie empirisch, das heißt im Handlungsfeld selber nachgezeichnet werden kann. Auch sind im Nachkriegsdiskurs der bundesdeutschen Pflege für den sich seit den sechziger Jahren langsam ausdifferenzierenden Fachdidaktikdiskurs Pflege recht spezifische Problemfelder bezifferbar, denen die bundesdeutsche Sozialpolitik bis in die 1990er Jahre nicht bewusst genug begegnet ist. Die Krankenschwester wird in dieser Zeit des ökonomischen Primats einerseits kaum zufällig zur Projektionsfläche der ersten bundesdeutschen Schmuddelfilmära und andererseits zum Vermeidungsbild der (scheinbaren) Autonomiegesellschaft: Gepflegt werden will keiner, ja es entsteht sogar das kollektive Horrorbild des Überpflegtwerdens (durch die böse, nicht loslassende Mutter). 33 Das Bild wirkt auch synthetisch in religiöser Hinsicht: Zu einer Zeit als die faktische Religion neue Formen der Gegenaufklärung und des Spiritismus ausprägt – im katholischen durch das Aufkommen eines unbefleckt übersteigerten Marienkultes, im evangelischen Milieu durch die hybriden Ausläufer des Pietismus: eine (verblendete) Erweckungsbewegung – vertritt Nightingale, allerdings in predigender Weise, eher eine aufgeklärte religiöse Grundüberzeugung, die sich gleichsam tolerant gegenüber anderer Religionszugehörigkeit verhält.
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ihr Verlust, der durch das Verschwinden aus der Deutschen Krankenpflegezeitschrift leicht nachzuverfolgen ist, zeigt symptomatisch den Zerfall des bundesdeutschen Pflegediskurses. Bis heute verbleibt die Metapher aber eher als Spur des professionellen Pflegdiskurses: als eine Struktur bleibt sie ihm rückseitig eingeschrieben. 4.2.6 Der Traum der Metapher, ihr Zentralismus und das pflegerische Tableau Die Metapher entwirft einen Traum für das pflegerische Tableau: nach diesem Traum ist die Schwester eine stets verlässliche Ansprechpartnerin. Zu einem Zeitpunkt als Frauen genderstrategisch und damit machtstrategisch als das unwissende, unsichere, wankelmütige, ja als das „ewig kranke“ Geschlecht im Öffentlichen reinszeniert werden (Kniebiehler 2006 [1985]: 382). Worin hat sie diese Macht, um als historisches Bild kollektive Identitäten stiften zu können und damit als absolute Metapher wirksam werden zu können? Ist es nicht sein zum Bildnis wandelbarer Spitzname Die Lady mit der Lampe (vgl. Heinemann 1955: 235)? Dieses Longfellow-Phantasma ist vielleicht die entscheidende Voraussetzung dafür, dass der Pflegediskurs trotz seiner real meist scheußlichen sozialen Lage zu einem derartig offensiven Diskurs, zu einem Gegendiskurs werden konnte, wie es in den Anliegen des Weltbundes teilweise bis heute nachge34 zeichnet werden kann. Der Diskurs hat sich mit seiner Metaphernorientierung nicht nur ein neues Phantasma und einen normativen Ausschluss der Libido, sondern darin auch eine Widerständigkeit eingetragen. Denn sie impliziert ein Bild das über die Einzelexistenz in ein kollektives Pflegeideal nach vorn weist, ein Vorbild das zur eigenständigen Nachahmung (zur Imitatio Nightingale) aufruft. Überdies ein Bild das 1902 die Forderung nach dreijähriger Ausbildung formulieren lässt (die sich 63 Jahre später in Deutschland sozialgesetzlich und hinsichtlich der Nebenwirkungen recht unschön erfüllen wird) und es ist meines Erachtens eines das lange Zeit im Pflegediskurs zunächst weder hinterfragt noch offen problematisiert wird und somit auch ein Bild das bis zur Negation der Subjektivität den Dienst am Kranken als Zentrum des pflegerischen Tableaus einschreibt. Diese Schrift der Metapher ist vielleicht erst einmal nüchtern festzustellen, aus den Darstellungen zu filtrieren und näher zu betrachten, bevor man sich urteilend oder gar verurteilend dazu stellt. Die Gravur schließt viele Momente der Geschichte des pflegerischen Tableaus in sich ein. Bis heute überschwemmen sie
34 Vgl. Fußnote 1 in diesem Kapitel.
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das Tableau oder wiederholen sich auf ihm: professionszentrische, professionswachsende, deformierende oder selbstzerstörende Handlungsformen. Konzentrierte man den Fokus auf die Hauptfunktion der Nightingaleschen Paradigmenwechsel, man kann sie wohl als Verernstung des gesamten Pflegediskurses (deutschen und wohl auch internationalen) hin auf seine Zuständigkeit, seine Zielrichtung und sein Können bezeichnen, so kann man letztlich all das nicht allein an dem Verständnis ihrer Metapher befestigen ohne dieses überzustrapazieren. Diesem Moment der Spannung Rechnung tragend lässt sich sagen, 35 mit ihr, durch ihr Bildnis wurde es wieder ernst um das pflegerische Tableau: es wurde ethisch oder anders gesagt es kam wieder drauf an. Das Bild der Nightingale zeigt sich somit auch zentral verantwortlich für die Entstehung eines kollektiv wirksamen Ich-Ideals und damit einhergehend eines überindividuellen Schuldgefühls. Abbildung 16: Büste Nightingales
Sie hat in dieses Diskursfeld eine neue Grundlinie eingezogen beziehungsweise ist Nightingale die neue Grundlinie die den Schnitt vollzieht, aber sie ist auch die, die den Mechanismus der Imitatio behält. So bekommen Betroffene (wie lange Jahrhunderte zuvor nicht mehr) eine besondere Aufmerksamkeit auf dem
35 Die letzte Verernstung des Pflegediskurses brachte die monastische Pflegetradition im Zuge des europäischen Christentums.
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Tableau, wenn auch in der abgespaltenen Optik, wie sie Longfellows Blick verrät. Natürlich verläuft dieser Schnitt perkutan und ist entsprechend invasiv. Trotz dieses im großen außen verweilenden der Gesundheit, des gemeinsamen Dritten, ist es dieser Nightingalesche Schnitt der den professionellen Pflegediskurs endgültig von den Vätern Theologie und Medizin abgeschnitten hat: Das heißt, ihr Diskurs hat sich mit dieser Optik versucht zu öffnen. Dieser Schnitt tat vielleicht nicht sofort weh, weil er beispielsweise durch die verordnende und definitorische Macht des Arztes im Feld wie im Pflegeunterricht fast unbemerkt bleibt. Dennoch trennte er die Professionen dauerhaft und diese Trennung brachte den Mediziner in die Position eines Gastes im Pflegediskurs. Sozialhistorisch kann man festhalten, ist der Pflegediskurs sowohl inhaltlich als auch formal in seiner aus dem Bildnis Nightingales entkommenden Weise (es gibt und gab immer parallele Pflegediskurse die ich nicht angesprochen habe) von vornherein ein Gegendiskurs zum Öffentlichen gewesen und daher mit einem aus der Absonderung ausgestatteten Erkenntnisinteresse und Erkenntniswert versehen. Das in seiner gesellschaftlichen Machtposition öffentlich schwache Geschlecht erwies sich in diesem Pflegediskurs eher als das starke, die Forderungen an die Gesetzgeber waren pflegehistorisch betrachtet kritisch und auf Verbesserung abzielend, was Ausbildungsfragen anbelangt sogar avantgardis36 tisch. 4.2.7 Zusammenfassung Ich beabsichtigte auf Basis einer historischen Diskursanalyse zu zeigen, wie der Pflegediskurs durch eine absolute Metapher und ihrer idealisierten Darstellung beeinflusst worden ist. Gerade der deutsche Pflegediskurs kann dadurch besser verstanden werden. Die genauere Diskursanalyse – insbesondere der Nachkriegszeit – konnte zeigen, wie dieser Diskurs an der Wiederaufrichtung seines Vorbildes gescheitert ist und auch, wie er versucht hat dieses Bild zu stürmen. Doch ist der Pflegediskurs dem Bild meines Erachtens nicht unbedingt näher gekommen oder seiner Forderung entkommen. Die Frage ist auch, ob die Flucht vor dem Bild oder der Krieg gegen das Bild das Ziel dieses Diskurses sein sollte. Die in diesem pflegewissenschaftlichen Diskurs gegenwärtig bevorzugten „Bilder“ sind eher formale Abstraktionen des pflegerischen Handlungsfeldes, die
36 Vielleicht wirkt diese Schluss-These auch noch einmal anders im Lichtkegel der Benjaminschen Auffassung von Geschichte: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ‚Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“ (Benjamin 1977f: 254).
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meist im Tabellenformat des Microsoft Word-Programms und je unterschiedlich beispielsweise bei Wittneben (1994: 151), Remmers (2000: 172) und Greb (2003: 68, 69, 144) zu finden sind. Sie zentrieren den Diskurs um begriffliche Ordnungsgefüge, die sich jeweils visuell über die Tabelle vermitteln sollen. Die Logik der aus dem mathematischen Diskurs übernommenen Tabelle und damit ihres Tableaus ermöglicht im Grunde drei sinnvolle Lesarten: über die Spalte, über die Zeile und über die frontale Draufsicht beziehungsweise Perspektive. Liest man diese Tableaus als Bild können sie eine vierte Sicht ermöglichen, indem man diese Darstellungen mit der Darstellung ihres Textes konfrontiert.
5 Systematische Untersuchung: Zur Möglichkeit einer pflegerischen Mimesis
Diese Untersuchung geht davon aus, dass Darstellungen des Pflegerischen Spuren des Gegenstandes „Pflege“ zeigen. Diese Spuren in den Darstellungen lassen es zu, auf Basis der Analyse ein pflegerisches Tableau zu konzipieren. Das konzipierte pflegerische Tableau verweist darauf, dass sein Dargestelltes, das Pflegerische, selbst eines Tableaus bedarf und zur Darstellung gebracht werden muss. Weil das Pflegerische einen Darstellungscharakter hat stellt es sich als Differenz dar. Das heißt, das Pflegerische wird stets anders sichtbar. Das pflegerische Tableau versucht eine Gegenstandauffassung des Pflegerischen zu formulieren, die einerseits unterschiedliche Positionierungen zum Gegenstand "Pflege" thematisieren kann. Andererseits sucht das pflegerische Tableau der Komplexität gerecht zu werden, die das Pflegerische in der Kultur verkörpert. Zu dem pflegerischen Tableau bieten sich insofern verschiedene Zugänge an: Beispiele für Zugänge dieser Studie sind Darstellungen wie Bild, Bühne oder wissenschaftlich rekonstruierte Narrationen. Demnach stellen sich die Dinge im pflegerischen Tableau nicht nur unterschiedlich dar, sondern bauen auch ein Verhältnis zu etwas auf das nicht dargestellt wird oder durch die Darstellung in eine Abwesenheit gebracht wird. Eine Schwester die sich mit dem Patienten dafür entscheidet den roten Pulli anzuziehen, schließt alle anderen Pullis in diesem Vorgang aus. Und dieses Anziehen des roten Pullis bringt wiederum etwas gemeinsam zur Darstellung, was der Patient allein so nicht zeigen kann1: ich ziehe mir heute den roten Pulli allein an ist eben genau das, was das pflegerische Tableau nicht zeigen kann. Das pflegerische Tableau zeigt eben etwas anderes, nämlich: ich wähle hier mit dir den roten Pulli für den heutigen Tag, bitte hilf mir beim Anziehen.
1
Andernfalls würde er den Status des Patienten oder des zu Pflegenden verlieren.
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Inwiefern kann man aber von einer Darstellung des Pflegerischen auf dem Tableau ausgehen? Ist nicht jede Darstellung unterschiedlich lesbar? Was stellt sich dar? Was nicht? Aus systematischer pflegewissenschaftlicher Sicht stellt sich die Frage, wie eine pflegespezifische Mimesis im Verhältnis zum pflegerischen Tableau zu denken ist. Eine Übersetzungsmöglichkeit der Mimesis ist Darstellung. Darstellung ist der allgemeinere Begriff und Mimesis beschreibt meines Erachtens konkretere Darstellungsformen und -verhältnisse. Das pflegerische Tableau ist ein Ort an dem sich die Darstellung des Pflegerischen zeigt, doch bleibt die pflegerische Mimesis darin selber erst noch genauer zu entziffern. Die Thematisierung der Mimesis als Moment des Pflegerischen verdankt der internationale Pflegediskurs zwei deutschsprachigen Dissertationen: Das sind die hochschuldidaktische Grundlagenarbeit von Ulrike Greb (2003) und die pflegetheoretische Dissertation von Manfred Hülsken-Giesler (2008). Beide Arbeiten begründen die pflegerische Mimesis als eine Zugangsform von pflegender Seite und im Sinne eines spezifischen emphatischen Mechanismus, der an vorsprachliche Register heranreicht. Das Verhältnishafte dieser pflegegenuinen Relation zum Anderen ließe sich demnach als der Versuch beschreiben, mittels vorsprachlicher Anschmiegeformen und -praxen den Anderen trotz vorherrschender gesellschaftlich vermittelter Zweckrationalität zu erreichen. Darüber hinaus lassen sich schon jetzt weitere Einsatzstellen einer Mimesis benennen, denen ich aber erst im Fortgang dieses Kapitels weiter nachgehen kann: Mimesis wird kulturgenetisch verstanden als ein vor Einzug der Rationalität wirksames Konzept, um das Verhältnis von Welt und Geist zu beschreiben. Das bedeutet dass Mimesis in jedem Handeln bis heute wirksam ist, wenn man annimmt dass das menschliche Handeln nicht nur rational determiniert ist. Auch kann man Mimesis diskursiv untersuchen und schauen, welche Funktion ihr zugesprochen wird, zum Beispiel in der Argumentation für und wieder der Wahrheit von Kunst (Platon/Aristoteles). Dabei ist die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Kunst und Pflege zu beachten. Im Zusammenhang mit der Herstellung von Kunst geht es um mimetische Prozesse, im Sinne eines direkten Reagierens des Künstlers auf Veränderungen des Materials oder der Umgebung. Diese Art der Reaktionen sind meines Erachtens auch für das Pflegerische konstitutiv, zumal das Pflegerische nicht von Pflegenden, sondern auch von zu Pflegenden „erzeugt“ wird. Mimesis ist ein Moment auf das man bei der Darstellung des Pflegerischen stösst. Das ist sowohl bei der Nightingale spürbar als auch bei den Bildern.
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Für das Pflegerische, verstanden als Differenz, ist Mimesis auch unter dem Aspekt zu diskutieren, inwiefern die Differenzen durch mimetische Prozesse zusammenkommen, bestehen bleiben, aufgenommen werden und sich verändern können. Darüber hinaus ist eine Beobachtung, dass durch den Aufprall von Unterschieden im Pflegegeschehen auch eine Gewalt aufkommt die durch mimetische Prozesse zähmbar oder handhabbar werden kann. Insofern ist nicht nur die Mimesis im Prozess zu denken, sondern auch deren Resultat im pflegerischen Tableau. Es kann sein, dass das Resultat der pflegerischen Mimesis in einem anderen Medium erscheint als das Pflegegeschehen. Schon jetzt erfolgt der Nachweis der Pflegearbeit in einem Textformat, nämlich als Pflegedokumentation. Ich stelle abschließend die pflegerische Beschreibung als Möglichkeit zur Diskussion, um über mimetische Erfahrungen zu sprechen (vgl. 5.4.8). Ich gehe nun zunächst dem Pflegediskurs und seinen beiden Ansätzen genauer nach, um die Bezüge der pflegerischen Mimesis zu klären. Hülsken-Gieslers Ansatz möchte Mimesis als Umschreibung für einen leibbezogenen Zugangsweg der Pflegepraxis theoretisch rekonstruieren (vgl. Hülsken-Giesler 2008: 80-97; 110-141; 155). Der hochschuldidaktische Ansatz Grebs verwendet Mimesis als Strukturbegriff für die pflegefachdidaktische Reflexion (vgl. Greb 2003: 55-65, 121-128, 156, 188, 196-199). Die Figur der Mimesis, insbesondere ihr Anschmiegecharakter soll, darin bilden beide Positionen eine Schnittmenge, ein wichtiges Moment der pflegerischen Relation bezeichnen: die jeweilige Handlungsverwiesenheit auf den Anderen. Der Betroffene ist zur Realisierung des Pflegehandelns auf die Pflegeperson angewiesen und umgekehrt die Pflegeperson auf den Betroffenen.
5.1 Z UR R EKONSTRUKTION EINER PFLEGERISCHEN M IMESIS 2
Hülsken-Giesler geht es um „Das Originäre der Pflege“ und damit gleichsam um die Fragestellung, wie man die Spezifität einer Pflegewissenschaft – auch und gerade im Kampf um Anerkennung gegenüber anderen Disziplinen – theoretisch schlüssiger begründen kann. Um also das Originäre der Pflege zu finden rekonstruiert Hülsken-Giesler die pflegerische Mimesis in einer Doppellogik: so unterscheidet er eine wünschenswerte Mimesis von einer gefährlichen Mimesis.
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So verstand sich eine Fachtagung am 28.02.-01.03.2002 an der Berliner Humboldt Universität „Das Originäre in der Pflege entdecken. Pflege beschreiben, erfassen, begrenzen“ (vgl. Deutscher Verein für Pflegewissenschaft 2003).
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Erstere böte dem pflegerischen Diskurs „[…] die Hoffnung auf einen nichtverdinglichenden Zugang zum Anderen […]“ (Hülsken-Giesler 2008: 140). Diese positive Variante der pflegerischen Mimesis erscheint als Name für eine leibbezogene Annäherungsform, wie sie pflegerische Settings auszeichne (body-tobody). Letztlich geht es Hülsken-Giesler um eine leibtheoretische Relektüre der Mimesis-Diskurse. Das Pflegerische verfüge über ein „Leibwissen“ das in pflegerischen Handlungen performativ sichtbar wird. Gegen diese Hoffnung positioniere sich eine „gefährliche Mimesis“. Sie erzeugt wiederum einen quasi-verdinglichenden Zugang zur Pflege. Dieser resultiere aus einem Nachahmungshandeln. Nachgeahmt werde eine maschinelle Logik, die ein diskursives Konvolut aus funktioneller Sprache, apparativer Technik und instrumenteller Vernunft beschreibt. Ebenfalls auf Linie eines kritischen Begründungsrahmens bewegt sich seine Anregung zur Diskussion um die Einschränkung der Mimesis innerhalb der derzeitigen Institutionsgestalten der Pflege. Hier bekommt der Begriff eine normativ wertende Nachahmungs- beziehungsweise Anpassungsbedeutung: „Während eine Mimesis an das Lebendige, hier dem erkrankten Körperleib des Gegenüber, eine lebendige Erfahrung im Sinne der Bereicherung eines Erfahrungswissens ermöglicht, kann sich dagegen Mimesis auch auf das Erstarrte, Leblose richten und hier zu bloßer Anpassung an das Vorgegebene führen.“ (Ebd.: 157)
Die negative Form der Mimesis ist wiederum die Bezeichnung für eine Verdoppelung der Maschinenlogik in die pflegerische Interaktion. Sie wirke unter anderem auch über Wahrnehmungs- und Sprachprozesse. Letztere verschaffen sich zum Beispiel auch durch eine internationale Klassifikationssprache Raum, wie sie beispielsweise das Projekt einer ICNP (International Classification of Nursing Practice) forcierte (ebd.: 360). Die Grundthese Hülsken-Gieslers einer „Doppelnatur der Mimesis“ wird unter anderem auch von dem Bremer Literaturwissenschaftler Thomas Metscher (2004: 16) in seinem letzten Beitrag mit einiger Vehemenz vertreten: „Mimesis ist Bedingung der Freiheit wie der Unfreiheit.“ Und so Metschers Schluss: „Nur eine Theorie, die sich dieses Doppelcharakters der Mimesis bewusst ist, kann ihre historische Komplexität und Funktion angemessen begreifen.“ (Ebd.) In der Konsequenz setzt Metscher damit ein wissenschaftliches Subjekt als Zensor einer Mimesis ein. Dieser Zensor muss überprüfen, inwiefern die vorliegende Mimesis im jeweiligen Fall noch den Zug der Freiheit oder bereits den der Affirmation an das Unfreie trüge.
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Beispielsweise zeigt Grebs (2003) Ansatz einer pflegerischen Mimesis gerade in dieser Hinsicht einen anderen theoretischen Fluchtpunkt. Demnach wird das Verständnis von Mimesis bei Greb auf zwei unterschiedlichen Ebenen diskutiert: auf der erkenntnislogischen, das heißt einer begründungstheoretischen Ebene und als Strukturbegriff in ihrem hochschuldidaktischen Strukturgitteransatz der Pflege. Das Pflegerische wird darin – dank einer an Mimesis orientierten Logik – als prinzipiell übersetzbar zwischen Handlungsfeld und Diskurs angesehen. Dafür steht diesem Ansatz eine mimetische Rationalität Pate, die auch einen 3 Bezug zu Nebenrealitäten mit einschließt. Von diesen erkenntnislogischen Begründungen und ihrer Inanspruchnahme einer mimetischen Rationalität Adornos müsse man die Mimesis als Strukturbegriff und Gegenbegriff zu einer in die pflegerische Interaktion eingeschriebenen Projektion streng unterscheiden. „In wenigen Sätzen bündeln die Autoren (Adorno und Horkheimer, W. H.), was als Kern des ,Feldes 1.II. Mimesis und Projektion‘ auszuarbeiten ist. ‚Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit, gesetzt. Unbeherrschte Mimesis wird verfemt‘.“ (Horkheimer/Adorno 2001 [1944]: 189 zit. n. Greb 2003: 156)
Greb deckt also eine mimetische Ordnung auf, die um die kulturelle Veränderungsdynamik der mimetischen Praxis weiß. Das, was verfemt wird, hat sie unlängst als „mimetische Regression“ erkannt (ebd. 2009: 28). Es bezeichnet die Aspekte des Pflegerischen, die sich nicht in der Weise in eine offizielle oder gesellschaftlich akzeptierte Ordnung einfügen: Tabuthemen, Nebenrealitäten, Sonderbares und verdeckte Normalitäten.
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Es ist meines Erachtens neben der bildungstheoretischen Grundlegung Wittnebens (1994) für eine Pflegedidaktik und Remmers (2000) normativer Grundlegung des Pflegerischen Handelns der bislang reifste erkenntnislogische Zugangsweg zum pflegerischen Handlungsfeld. Für mich überraschend scheint Friesacher (2008) das anders einzuschätzen: Seine Osnabrücker Promotionsarbeit zur „Theorie und Praxis pflegerischen Handelns“ mit dem Untertitel „Begründung und Theorie einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft“ nimmt von der Begründung und Theorie einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft und Pflegebildung, wie sie Greb im Jahre 2003 unter dem Titel „Identitätskritik und Lehrerbildung“ in Osnabrück zur Promotion vorlegte, keine Notiz.
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Bei Greb findet sich beispielsweise auch eine Thematisierung des darstellenden Charakters des Pflegerischen durch die Integration von Karikaturen, literarischen Textauszügen und Bildern innerhalb des wissenschaftlichen Textes. Allerdings wird bei ihr der Zusammenhang zum Darstellungscharakter des Pflegerischen noch nicht eigens reflektiert, denn grundsätzlich geht es in ihrer Fragestellung um die Konstruktion eines bereichsdidaktischen Strukturgitters für die pflegerische Hochschulbildung. Dieses Projekt verwirklicht sie durch die Aufnahme und Variation des Ansatzes von Herwig Blankertz. Erkenntnislogisch begründet sie für diesen Zweck und vor dem Hintergrund der Spezifika des Pflegerischen eine Reflexion mittels des Instrumentariums der älteren kritischen Theorie (vor allem Identitätskritik, Subjektkritik, verwaltete Welt). Nach dem Selbstanspruch dieses Ansatzes soll er die zentralen Widersprüche des gesamten pflegeberuflichen Handlungsfeldes transformiert und in einer begrifflich konzipierten Konstellation nachbilden. Diese konstellativen entworfenen Nachbildungsfiguren öffneten durch ihre spezifische Handlungsfeldrelation, für die an ihnen curricular ausgerichteten demokratischen Bildungsprozesse die Aussicht auf eine kritisch bestimmte Möglichkeit der pflegerischen Lehre. Eine Emanzipationsbewegung aus der magischen Mimesis wird darin erkennbar und es wird angedeutet dass für eine Flexibilisierung der beruflichen Pflegehandlung freiere Darstellungsformen aus dem kulturellen Vorrat wieder entdeckt und pflegdidaktisch aufgefunden werden müssen. Es scheinen aus kritischer Perspektive auch solche gemeint, die den in konformistischen Arbeitszusammenhängen erlernten Nachahmungspraxen konträr zuwiderlaufen. Die reflexive Ebene zum Anderen wird bei Greb also nicht wie bei HülskenGiesler „gelöst“, sondern ausdrücklich offen gehalten und darin gleichsam problematisiert: „Im Gewahrwerden von Schmerz und Leid anderer sind die Pflegenden unvermeidlich auch auf eigene Leiderfahrungen zurückgeworfen und geraten damit in die Zwickmühle zwischen Mimesis und Projektion.“ (Ebd. 2003: 188)
Zusammenfassend kann man deutlich erkennen, dass die Auseinandersetzung mit Mimesis im Pflegediskurs keine Neuheit darstellt. Um die Erweiterungsmöglichkeiten beider Ansätze für diese Arbeit aufzuzeigen, sei noch einmal auf ihre Erkenntnisgrundlagen verwiesen: Greb arbeitet differenziert auf Basis der „Negativen Dialektik“ Adornos und setzt sich mit der Mimesistheorie Adornos, wie sie in der „Ästhetischen Theorie“ entwickelt worden ist, nicht auseinander. Außerdem hat sich Greb mit der Frage, welchen Beitrag die soziale Mimesis-
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Konzeption von Gebauer und Wulf haben kann, nicht dezidierter beschäftigt. Das hat inzwischen die Arbeit von Hülsken-Giesler umfassend nachgetragen. Die Konzeption Gebauers und Wulfs bildet ein, für sein pflegewissenschaftlich rekonstruiertes Mimesisverständnis wesentlichen Referenzrahmen. Er kombiniert deren Konzeption einer „sozialen Mimesis“ mit der von der Literaturwissenschaftlerin Veronica Schlör (1998) entborgten Konstruktion einer „Hermeneutik der Mimesis“: „Mit einer Hermeneutik der Mimesis wird ein Zugang zum Anderen eröffnet, der die ‚prinzipielle Unverstehbarkeit‘ des Gegenüber bewahrt und dabei über ein hermeneutisches Verstehen im Medium der Sprache hinausreicht. […] Insofern sind mimetische Prozesse im Kontext der Pflege einerseits von kognitiv inspirierten Modellen der Empathie abzuheben. Die mimetische Erfahrung des Anderen mündet in einem körper- beziehungsweise leibgebundenem Wissen, das als performatives Wissen unmittelbar handlungsrelevant wird.“ (Hülsken-Giesler 2008: 155)
Exkurs: Mimesis aus Sicht einer historisch-systematischen Vernunft Untersucht man die Terminologie bei den historischen Anthropologen Gebauer und Wulf (1998, 2003), so fällt grundsätzlich auf dass der Mimesisbegriff seinen ästhetischen Sonderstatus im Sinne eines „kunstästhetischen Begriffs“ vollständig verliert (Metscher 2004: 17). In ihrem Konzept steht eine alltagsnahe Mimesis zentral und kategorial: sie bestimmt sich ähnlich als anthropologische Konstante, die im historischen Wandel wiederum nicht konstant bleiben konnte. Problematisiert wird von den Autoren eine Verlustgeschichte der Mimesis durch die Kultur: von oraler Sprache zur Verschriftlichung und von der Verschriftlichung zur philosophischen Tradierung (z. B. durch Platon): „Das Paradigmatisch-Zeigende oraler Kommunikation, die zwar selbst schon in charakteristischer Weise normiert war (nämlich durch Sozialisationsprozesse W. H.), wird nun mit Hilfe der Schrift kodifiziert.“ (Gebauer/Wulf 1998: 74)
Diese Kodifizierung zeitige entscheidende Folgen für die Realität der Menschen wie gleichsam auch für jegliche pädagogischen Prozesse: „Dabei verliert zuerst einmal die Sprache ihren bildhaften Charakter.“ (Ebd.) Dennoch bleibe diese orale Dimension versteckt weiter wirksam: „Frühere Arten der Mimesis gehen nicht völlig verloren […]“ (ebd.). So gehen Gebauer und Wulf davon aus, dass Mimesis beim Aufbau von gegenwärtiger sozialer Wirklichkeit wirksam sei. Dafür setzen sie Mimesis in eine neue Variante einer Handlungstheorie um: Die
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Handlungspraxis sei stets auf eine Mimesis rückführbar. Gleichsam schrieben sich in diese praktischen Mimesisformen auch Einbildungskraft und Theorie mit ein: „Mimesis selbst ist an praktisches Handeln gebunden, an ein Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation, von fiktionalen Elementen und tätigem Eingreifen in Vorgänge der Welt. Sie ist also aus praktischem Wissen, Einbildungskraft und Theorie zusammengesetzt.“ (Ebd.: 35)
Mimesis wird nicht nur handlungstheoretisch verstanden, sondern bildet das Zentralgestirn ihrer Kulturtheorie, eine Kulturtheorie, welche Mimesis unter die Annahmen einer historisch-rationalen Vernunft gelegt hat. Ihr Mimesis-Konzept liest sich plural und setzt vieles miteinander in Beziehung: „Das Mimesis-Konzept vermag viele kulturelle, ästhetische und gesellschaftliche Erscheinungen miteinander in Beziehung zu setzen. Der Grund für diese Fähigkeit liegt darin, dass es auf einer tiefen, entwicklungsgeschichtlich frühen Stufe ansetzt. Hier sind sinnliche Wahrnehmung, Welterzeugen, Gestalten, praktisches Interpretieren, soziales Handeln noch eng miteinander verflochten und stehen in direkter Beziehung zur Materialität der Welt und zur Präsenz der Anderen. Aus diesem Geflecht gehen die drei großen Bereiche Kultur, Ästhetik und die soziale Welt hervor […].“ (Ebd. 2003: 9)
Die Autoren bleiben methodologisch ganz im Sinne historischer Anthropologie rekonstruktiv ausgerichtet. Ihre historische Lesart ist aber beispielsweise von Melberg (1995: 3) folgendermaßen kritisiert worden: „Gebauer and Wulf’s excellent analysis […] has some drawbacks. Historicity has its costs. The major one is, in this case, that every thinker before Lessing has to be allotted temporal innocence in order to give Gebauer and Wulf the chance of letting Lessing discover the importance of time for aesthetics. And this I would call a result of a combination of analytical blindness with historical construction: it is an observation and a thesis that should be difficult to combine with the analysis of historical texts. Time is, after all, a constant problem of aesthetics already discussed by Plato and Aristotle, not to mention Augustine. 4
Similar difficulties arise in the analysis of other concepts […]. (Melberg 1995: 3)
4
Ich teile diesen grundsätzlichen Eindruck eines Unbehagens bezüglich ihrer historischen Analysen, denen in gewissem Sinne allen ein Ausmaß des beliebigen und letzt-
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Offenbar mangelt es den historischen Analysen einer Detailgenauigkeit. Durch das Übersehen bestimmter Zusammenhänge setzen sich Gebauer und Wulf in eine nicht angemessene Entdeckerposition, die Melberg hier am Beispiel Lessings enttarnt. Trotz dieser in ihren Detailanalysen problematisch erscheinenden Aspekte gelangen sie aber immer wieder zu interessanten Diagnosen: So sei der Problemgehalt von Mimesis durch die unzähligen Einzelwissenschaften heute verstellt, ja die Vereinzelwissenschaftlichung „trennt“ Phänomene die von ihrem Ursprung her synthetisch betrachtet werden müssten. Deshalb ist es ihnen wichtig, den Lesern verschiedene Zugänge und Ansichten von Mimesiskonzepten vorzustellen. Die Autoren konstatieren Handelnden per se mimetische Handlungen. In Anlehnung an Polanyis Begriff eines impliziten Wissens wissen diese Handelnden 5 aber nicht beziehungsweise nur implizit, dass sie mimetisch handeln. Allerdings enthielte oder böte mimetisches Handeln in diesem Kontext kein Verhältnis zu 6 einer grundsätzlichen Freiheit mehr:
lich Gleichgültigen anhaftet, bin mir aber ob der Genauigkeit der Analyse Melbergs (1995: 3, Fußnote 3) unsicher geworden, weil er in dieser Fußnote ein Zitat, in dem Rousseau spricht, als eine Aussage über Lessings Ästhetik verstanden wissen will. 5
Vgl. Polanyi (1985:14). Der studierte Chemiker Michael Polanyi hat sein Konzept des Impliziten Wissens unter anderem mit der gestaltpsychologisch begründeten Lücke zwischen Wahrgenommenen und Wahrnehmung begründet. Der Mensch nimmt bereits mehr auf als ihm klar ist. Auf diese Weise entstehe eine Art Überschuss. Nach der Hauptthese Polanyis komme es nicht nur auf eine Performanz des Wissens im Sprechen an, als vielmehr auch auf das, was man durch die Sprache implizit weiß (vgl. ebd.). Das verborgene Wissen behalte mithin entscheidenden Einfluss.
6
Zur Erinnerung sei beispielsweise der Passus aus Kants (1984: 82ff. [Hervorh. i. Orig.]) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zitiert: „Dieses Prinzip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst (welche die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist), ist nicht aus der Erfahrung entlehnt, erstlich, wegen seiner Allgemeinheit, da es auf alle vernünftige Wesen überhaupt geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zureicht; zweitens, weil darin die Menschheit nicht als Zweck der Menschen (subjektiv), d.i. als Gegenstand, den man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objektiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen muß. […] Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die
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„Wenn man die kürzeste Formel für mimetische Handlungen sucht, könnte man sagen, dass diese die Welt noch einmal machen. Dieses Machen hat eine symbolische und eine materielle, praktische und körperliche Seite.“ (Gebauer/Wulf 2003: 8)
Statt einer freiheitsphilosophisch ausgerichteten, zukunftsoffenen Handlungskonzeption mache das Individuum in mimetischen Handlungen diese Welt also lediglich noch einmal. „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ entspräche insofern zusammengefasst dem Motto dieses, im Grunde genommen resignativen Mimesis-Konzepts Gebauers und Wulfs. Ich gehe im Folgenden genauer auf die Rezeption des Mimesis-Konzepts von Gebauer und Wulf im Pflegediskurs ein: Hülsken-Giesler (2008) zentriert den Mimesisbegriff sehr eng um das Begriffsverständnis von Gebauer/Wulf und ihrer „sozialen“ Mimesiskonzeption. Auf diese Weise entsteht meines Erachtens eine allzu strenge Anbindung seines Mimesisdenkens an eine reine Nachahmungssemantik. Die freieren Darstellungsvarianten, insbesondere ihre Abweichungslogik und ihr Mechanismus der Differenzbildung, kommen bei Hülsken-Giesler somit nicht ausreichend in den Blick. Gerade diese Momente wären für das pflegerische Tableau jedoch bedeutsam und zentral, weil diese erst für eine nötig Singularität und eine Einzelfalllogik Sorge tragen. Laut Hülsken-Giesler gibt es Mimesis an etwas Lebendiges und eine Mimesis an die Maschine. Beide Richtungen führen ihn aber genau besehen nur in eine gegenwärtige Aporie der Pflege, da Mimesis lediglich als Nachahmungshandeln konzipiert wird. Das heißt, dass sie ihr Vorbild immer schon hat. Die Pflegehandlung stelle demnach offenbar nichts Eigenes dar und dadurch auch keinen originären Wahrheitsbezug her. Fortsetzung (5.1) Zusammenfassend versuchen die dargelegten pflegediskursiven Positionen Momente aus dem Mimesisdenken zurückzugewinnen, um die rein logische Rationalität zur Beschreibung pflegerischer Handlungen zu übersteigen. Beiden Ansätzen ist es zu verdanken, auf dieses Residuum der Pflegehandlung zu verweisen. Greb arbeitet beispielsweise in ihrer Textgestaltung eher essayistisch und nimmt des Öfteren auf Literatur (z. B. Kafka oder Hofmannsthals ‚Chandos
Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, […].“.
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Brief‘) Bezug, um beispielsweise darstellend in die Kategorie des Krankheitserlebens einzuführen. Die Arbeit von Greb hat Brüche, Widersprüche und versucht sowohl auf der Darstellungsebene des Textes als auch auf der inhaltlichen erkenntnislogischen Ebene eine (leiblich ausgerichtete) Äquivalentbeziehung zum pflegerischen Akt aufzubauen. Hülsken-Giesler leistet keine ästhetische Begründung, verdankt jedoch seinen Ansatz einer „Hermeneutik der Mimesis“, das 7 heißt einer literaturtheoretischen Arbeit über die Gedichte Christine Lavants. Meine Überlegungen zur Konzeption des pflegerischen Tableaus versuchen an diesen Überlegungen anzuknüpfen. Insbesondere versuche ich zu prüfen, welche Bedeutung die Mimesis für den Pflegediskurs haben kann. Auch versuche ich der kritischen These, wonach die gesellschaftlichen Mechanismen einen Nachahmungszwang des Pflegerischen fördern im Rekurs auf die kritische Theorie genauer zu klären. Ich gehe der These weiter nach, wonach das pflegerische Tableau eine Darstellung charakterisiert. Das pflegerische Tableau ist auf Basis dieser Studie als ein Ort anzunehmen, der aus einem Spiel der Darstellung heraus begreifbarer wird.8 Ort bedeutet ein aus topologischer Sicht darstellbarer Raum. Stiften die Darstellungsverhältnisse vielleicht eine eigene Ordnung auf dem pflegerischen Tableau? Oder zeigt sich das pflegerische Tableau als ein Spiel oder Gemisch der im kulturellen Vorrat beheimateten Darstellungsformen? Diese Fragestellungen sind systematisch kaum anzugehen, ohne eine Untersuchung über die Modelle der Darstellungsverhältnisse. Ich gehe beim folgenden Untersuchungsabschnitt von der Hypothese aus, dass die Frage des bisherigen Pflegediskurses nach der Eigenart des Pflegerischen nicht so sehr in der Spezifik des Pflegerischen Handelns liegt als in der Spezifik der Wahrnehmung auf dieses Handeln.
7
Interessant ist dabei, dass sein rekonstruktiver Ansatz auch die Frage der Darstellung oder die Darstellungsweisen von Pflege selber, wie sie im Grebschen Ansatz durchklingen, nicht thematisiert hat. Auch die pflegedidaktische Schulung einer leiblichen Mimesis, wie sie sich Hülsken-Giesler vorstellt, wird durch Grebs konstellative Kategorie der Leibentfremdung bereits mitgedacht. Insofern nämlich als in jeder fundierten Unterrichtsplanung eine Näherung an das singulär und leiblich gedachte Krankheitserleben gebahnt würde. Beispielsweise über den Weg einer exemplarischen Narration (vgl. Greb/Hoops 2008: 127-144).
8
Vgl. zum Spiel in seinen unterschiedlichen Facetten die Arbeit von Wetzel (2005).
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5.2 E RÖFFNUNG : Ü BER M IMESIS ODER V ERHÄLTNIS ZUM V ERHÄLTNIS
IHR
Was ist Mimesis? Mimesis ist unabhängig von ihren Kontexten wohl immer ein 9 Verhältnisbegriff. Ihr Begriff sucht eine spezifische Beziehung, eine bestimmte Relation zu beschreiben und nicht versucht jener eine Sache, eine Kategorie oder 10 eine Handlung zum Sprechen zu bringen. Diese Relation, das Verhältnismäßi11 ge in seiner Verhältnishaftigkeit, wird gleichsam die Sache der Mimesis. In ihrer Eigenschaft eine Verhältnisformation auszudrücken, ähnelt ihr Begriff dem wofür Hegel (2000: 25) eine der wesentlichen Funktionen des Begriffs selber gesehen hatte. Nach der Hegelschen Logik ist es bekanntlich an dem Begriff sowohl die Cartesische Lücke zwischen den Substanzen der res cogitans und res extensa als auch die Kantische zwischen Verstandesurteil und Ding an sich zu füllen und somit die Beziehung zwischen Denken und Wesen der Sache her- und sicherzustellen. Versuchen wir also Mimesis als Begriff zu verstehen, ist nach Hegel der Begriff selber etwas, was zwischen unserem Denken über Mimesis und ihrem Wesen, ihrer „Natur“ vermittelt und in dieser Vermittlung verhält er sich bereits mimetisch, also verhältnisaufbauend. Das bedeutet, man hat es hiernach immer mit einer Tautologie zu tun zwischen der begrifflichen Beschreibung der Mimesis und ihrem Charakter Verhältnisse zu konstruieren, zu stiften oder einzugehen. Anders ausgedrückt, Mimesis ist schon, vielleicht darf man an dieser Stelle mit Husserl korrigierend sagen immer schon anwesend. Diese Anwesenheit kann nun wiederum im Zuge einer Handlung, einer Sache, einer Kategorie oder eben eines Begriffs relevant werden. Wenn wir wissenschaftlich ansetzend, bei dem Begriff beginnen, sind wir in gewisser Weise dem, was die
9
„Das Prinzip der Mimesis zielt auf ein in der Gegenwart herzustellendes Verhältnis zur gegebenen Natur.“ (Costa Lima 2002: 87); Mimesis sei ein „kunstphilosophischer, insbesondere literaturtheoretischer Begriff, der das grundlegende Verhältnis der Inhalte von Kunstwerken zur dargestellten Wirklichkeit erfassen soll“ (Lüthe 1999: 365).
10 Vgl. Melberg 1995: 3 [Hervorh. i. Orig.]: „Mimesis is never a homogeneous term, and if its basic movement is towards similarity it is always open to the opposite.” Mit dieser Öffnung, von der Melberg spricht und die sicher nicht nur zu ihrem Gegenteil besteht, werde ich mich noch eingehender beschäftigen. 11 Mimesis als Relation verstanden, hebt sich insofern zur relationalen Algebra, wie sie de Morgan, Peirce, Schröder oder Tarski ausgearbeitet haben, deutlich ab, da ihrem Relationsverständnis eine spezifische Wertungsperspektive auf diese Relation stets inhärent ist. Man kann auch sagen, die Relation der Mimesis ist von ihren Diskursen kaum sinnvoll zu trennen.
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Mimesis durch ihren Begriff hindurch gleichzeitig veranstaltet, sprichwörtlich auf den Leim gegangen. Sie klebt bereits fest auf der Rückseite unserer SchriftSetzung. „Das heißt, dass es von der Schrift und vom Spiel kein als solches gibt. Insofern sie keine Wesen haben, insofern sie die Differenz als Bedingung der Anwesenheit des Wesens einführen, insofern sie die Möglichkeit des Doubles, der Kopie, der Nachahmung, des Trugbildes eröffnen, ist der Gang von Spiel und Graphie ein unaufhörliches Verschwinden. Man kann sie nicht bejahen (affirmer), so die klassische Behauptung (affirmation), ohne sie zu verneinen. Platon spielt damit, das Spiel ernst zu nehmen.“ (Derrida 1995a [1972]: 175)
Implizit wird durch eine solche Setzung etwas vorausgesetzt. In diesem transzendentalen Denkmuster sprechend wird Mimesis und ihr Verhältnis bereits vorausgesetzt, während man sie diskursiv verhandelt. Das birgt meines Erachtens die Gefahr der Vermeidung, sich einer Mimesis auszusetzen. In welchen Modellen, auf welchen Ebenen Mimesis gedacht wird und zu denken ist, möchte ich zunächst einigen Raum widmen, bevor ich feststellen werde, dass Mimesis analytisch betrachtet in einen alltagsnahen praktischen Teil und in einen abstrakteren diskursiven Teil zerfällt. Aber auch das folgt einer Annahme über Mimesis, die erst Aristoteles versucht hat in seiner (wegen ihres vorlesungsmäßigen Skriptcharakters nicht leicht nachzuvollziehenden) Poetik synthetisch zu überwinden: auf Basis einer wirkmächtigen Spaltung. Widmen wir uns zunächst, das heißt konkret dem (imaginären) Verhältnis zwischen Leser und Autor, einigen Charakterisierungsweisen dieses Verhältnisbegriffs der Mimesis oder, wie Gadamer sagte, Vorurteilen, préjugés légitimes (Gadamer 1990 [1960]: 275). Oft ist Mimesis von einem ihrer „wirklichen“ Endpunkte aus betrachtet, selten nur als Relation aufgefasst worden. Das bedeutet nicht sofort die Qualifizierung dieser Endpunkte als bloße Fixpunkte des Blicks. Aber es bedeutet, dass dieser Blick von einem der Endpunkte aus selber der Blick ist, der mit der mimetisch erzeugten Spiegelung konfrontiert ist. Von daher ist dieser Blick vom Endpunkt aus immer zugleich auch ein abgelenkter Blick auf die Mimesis. Er ist umso ungenauer, je weniger er um seine Ablenkung weiß. Eine Leidensgeschichte der theoretischen Mimesis wäre wohl über ihre Lesart vom Standort aus zu schreiben und dass es selten nur eine Entlarvung des Standorts von ihrer Ver-
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hältnisbeziehung aus gegeben hat. Bei jener Betrachtungsweise konnte sich offenbar folgende Regel festigen: Ein Endpunkt dieser Relation hat als das Produkt menschlicher Tätigkeit offenbar direkt vor der Nase zu liegen, soll sinnlich, haptisch oder optisch da sein, der andere Endpunkt sollte im Drumherum, im Woanders oder gleich im Unsichtbaren sein. „Sollen wir also, sprach er, zwei Arten des Seienden setzen: sichtbar die eine und die andere unsichtbar?“ „Das wollen wir, sprach er.“ (Platon 1969a: 30 [Phaidon])
Lässt man die an diese Sequenz anschließenden Humoresken des Sokrates und das kriminologisch inspirierte Verwirrspiel zwischen sichtbar und unsichtbar beiseite, dann kann man ohne Weiteres aus dieser Zweiteilung ein Gesetz generieren, woraus sich unweigerlich eine Ordnung der Mimesis einstellt: Demnach schauen vielleicht alle zuerst auf das Sichtbare, die Darstellung (des Magiers, des Mimen, des Kunstwerks) und bemerken durch das Sichtbare hindurch eine andere Wirklichkeit, eine Bezugsgröße X, zu der ein spezifisches Verhältnis besteht, welches in der Präsenz der Darstellung aufgebaut wird. Meist sind es die Aspekte der Devianz in der Darstellung, die diesen Blick auf das Dahinter erst lenken. Manche blicken auch sofort durch die Darstellung auf das dahinter Liegende. Ihr Blick auf die Darstellung lebt von der Gewissheit des unsichtbaren Dahinter. Ihre Betrachtung sucht nun diesen anderen Standort auf, um von dort aus die Relation zu erkennen und die sich zeigende Seite quasi von der Rückseite aus zu durchschauen. So läuft die systematische Entscheidung, wenn man die Mimesis nicht als Relation, sondern vom bestimmten Standort aus anvisieren möchte, auf grundsätzlich zwei Standpunkt-Diskurse hinaus und durch die Entscheidung auf zwei konträre Beurteilungen der mimetisch erzeugten Differenz in diesen Diskursen: einer, der Mimesis vom Unsichtbaren aus gegenliest und das Wirkliche depotenziert (Platon-Lesart und die Folgen) und einer, der Mimesis vom Sichtbaren aus
12 Eine solche Entlarvung von der Relation aus hat Nietzsche (1964: 373-386) bezüglich des Wahrheitsbegriffs in „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ (1873) vorgelegt. Vgl. dazu auch von Wolzogen (1992: Sp. 602), der den Umschlagpunkt im Diskurs des 20. Jahrhunderts sieht, indem er das Verhältnis zwischen zwei Standpunkten selbst zum Thema werden ließ: „Rückblickend lassen sich in aller philosophischen Theorie zwei ,Grundweisen‘ des Denkens unterscheiden, wonach entweder ,die Dinge vor den Relationen‘ oder ,die Relationen vor den Dingen gelten‘; und eine der Grundtendenzen der Philosophie des 20. Jh. kann darin gesehen werden, dies selbst zum Thema zu machen.“
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zu bestimmen sucht und das Wirkliche potenziert (Aristoteles-Lesart und die Folgen) (vgl. Petersen 2000). Beide haben nach ihren Diskurssetzungen natürlich Recht und vom Gegenstandpunkt aus Unrecht. Vom Ort der unterstellten Relation aus haben beide Diskurse wesentliche Denkansätze zu ihrer Aufhellung geliefert. Bei Platon wird die Wirklichkeit bekanntermaßen zur Nachahmerin der Idee, die Zeit zur Nachahmerin der Ewigkeit, das Sichtbare zur Nachahmerin des Unsichtbaren und Kunstwerke gar zu Nachahmern des bloß Seienden, einem wiederum nur schlichten Nachahmer der wahrheitsnäheren Idee (Recki 1991). Die Relation der Endebenen wird aus dieser Sicht in der Figur einer Verwandtschaftsbeziehung konzipiert: Das (unsichtbare) Urbild zeugt das (sichtbare) Abbild, wie Uranos die drei einäugigen Kyklopen. Das Seinsniedere partizipiert am Seinshöheren. Bei Aristoteles ist das Sichtbare der Kunstdarstellung wiederum nicht zugleich das Täuschende, sondern das durch offensichtliche Täuschung Wahrheitstaugliche. In seiner Poetik gibt es grob betrachtet zwei Modi vom sichtbaren Ende aus auf die Relation zu schauen, einmal vom Künstler aus (TechnƝ) und einmal vom Kunstwerk aus (Aisthesis) (Rancière 2008: 17). Sein Unterscheidungskriterium erscheint uns folglich zeitlich differenziert in davor und danach, Schaffensprozess (unabhängig vom Werk) und Werkwirkung (unabhängig vom Künstler). Aus dieser Sicht heraus entsteht sowohl eine Ausdifferenzierungen der Kunstgattungen als auch die erkenntnistheoretische Unterscheidungsfigur einer Möglich- und Wirklichkeitsdifferenz (Aristoteles 1982: 5ff., 29f.).
5.3 U R -S CHRIFTEN DER M IMESIS : I HRE G RUNDGESTALTEN – ERLÄUTERT , ÜBERFÜHRT Diese Relation der „Mimesis“ wurde in der Frühgeschichte bis zur griechischen Antike in unterschiedlichen Gestalten vorgestellt. In der anthropologischen Alltags-Variante wird vom Mimen gesprochen, als der Darsteller auf der Spontanbühne mit dem besonderen Handlungskennzeichen eines „Verismus“ (Wüst 1942: 662). In der animistischen Variante – sei es als Tanz der Deliaden um die Götter durch Tanz nachzuahmen, sei es als Mimesis der Göttermahlzeit (Michae13 lis 1942: 664), die kulturgeschichtliche Grundlage des Opfers – führt die Relation auf einen frühgeschichtlichen magischen Zusammenhang verschiedener, 14 grundsätzlich aber als miteinander verbunden angenommener Sphären. Drit-
13 Vgl. zu der Rolle des Opfers die beiden Arbeiten von Girard (1987, 1988). 14 Zum Begriff der Sphäre vgl. Sloterdijk (2002a, 2002b): „Daß das Leben eine FormSache sei, das ist eine These, die wir mit dem altehrwürdigen Philosophen- und Geo-
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tens wird Mimesis in einem reflexiven Zusammenhang als Denkfigur des Philosophiediskurses thematisiert. Nach diesen ersten theoretischen Ausführungen widme ich mich nun der von mir so genannten Mimesis als Praxis, das heißt der anthropologischen und magischen Mimesis. 5.3.1 Mimesis als Praxis (Mime, Magier) Mimesis realisiert sich beispielhaft durch Handlungen in praxi. Zwei Grundgestalten mimetischen Handelns finden sich in denen des Mimen und denen der magischen Mimesis. Der Mime Was macht ein Mime? „Der Mimos stellt das Leben des Alltags mit scharfem Realismus dar, nach Inhalt und Sprache nur dem Belustigungsbedürfnis des niederen Volkes dienend, also grundsätzlich unliterarisch, in improvisierten, nur das Charakteristische, nicht das Dramatische betonende Soloszenen.“ (Wüst 1942: 662)
Wenn man diesem Zitat aus einem historisch-theologischen Wörterbuch für einen Moment Glauben schenkt, erfährt man daraus folgendes: In der antiken Tradition wählt der Mime aus der für die Betrachter erfahrbaren Realität ein Substrat, einen Kern oder eine Struktur aus und verfremdet diese zu einer Darstellung. Seine Darstellung ist nun nicht mehr diese Bezugswirklichkeit 1, sondern eine konstruierte Wirklichkeit. Der Mime entwirft diese zweite Wirklichkeit, indem er sie spielt. Dadurch, dass sie aber eine Auswahl und eine Variante einer ersten Wirklichkeit ist, enttarnt der Mime die erste Ebene ebenfalls als ein Konstrukt. Die erste Ebene erscheint demjenigen, der den Mimen gesehen hat, in der Rückerinnerung vollkommen anders als demjenigen, der den Mimen dazu nicht
meter-Ausdruck Sphäre verbinden. Sie suggeriert, dass Leben, Sphärenbilden und Denken verschiedene Ausdrücke für dasselbe sind. […] Eine ziemlich überspannte Konfiguration von Theorie und Leben – das sei zugegeben. Die Hybris dieses Ansatzes wird vielleicht erträglicher oder wenigstens verständlicher, wenn man sich erinnert, dass über der Akademie noch eine zweite Inschrift stand, okkult und humoristisch, die besagte, von diesem Ort sei ausgeschlossen, wer nicht bereit ist, sich in Liebesaffären mit anderen Besuchern des Theoretikergartens zu verstricken.“ (Ebd. 2002a: 11-14).
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erlebt hat. Schluss: Der Mime konstruiert eine zweite Darstellungsebene und dekonstruiert damit gleichsam im Nachhinein die Erinnerung der Teilnehmer an die erste Wirklichkeitsebene. Folgerung: Also weiß der Mime, wenngleich unbewusst, um die Macht der geschichtlichen Repräsentanz beziehungsweise ihrer Einschreibung gegenüber dem „bloß“ Geschichtlichen, beispielsweise wie Benjamin sie in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ entfaltete (Benjamin 1977g: 253). Erneute Vergewisserung: Der Mime besetzt selbst einen historischen Raum, erklimmt ein konkretes Tableau, indem er durch seine Darstellungswirklichkeit die historische Wirklichkeit um eine Ebene anreichert: ihre Wirklichkeit quasi verdoppelt. Erneuter Schluss: Seine Darstellung sorgt sobald sie wahrgenommen wird (Aisthesis), für eine andere Integration, für eine andere Einschreibung von Wirklichkeit in das kulturelle Gedächtnis. Vergleich: Man weiß unter anderem aus der neurobiologischen Lernpsychologie und ihrer These über die Beteiligung des limbischen Systems am Lernvorgang, dass das worüber Menschen stolpern, worüber sie irritiert sind oder was ihnen ambivalent erscheint, länger im Gedächtnis haften bleibt (vgl. Gudjons 2001: 223). Nutzen: Da „die Wirklichkeit“ meist schnell verloren ist und rasch historisch vorübergezogen ist, wird sie durch die Darstellung des Mimen auf einer zweiten Ebene quasi dokumentiert oder anders gesagt erneut thematisiert. Die erneute Thematisierung faltet sich mit der gewesenen. Beide bilden gemeinsam eine Falte. Verallgemeinerung: In ihrem verzerrten oder verborgenen Bezug zur historischen Wirklichkeit bilden aufwendigere Symbolisierungsformen wie Kunstwerke, wissenschaftliche Beiträge (Symbole, Begriffe, Zeichen) oder mediale Bilder durch ihre (problemhaltige) Konstruktion auch diese zweite Bezugsebene. Abgleich: Dies konkrete Verhalten des Mimen ist nicht nur in der Antike zu erleben: Bei einem der wichtigsten Mimesistheoretiker des 20. Jahrhunderts führte das Verhalten eines berühmten (wenn nicht gar des berühmtesten) Mimen dazu, ein bestimmtes Ereignis nicht mehr als einfachen Fauxpas verdrängen zu können. Im Gegenteil, durch das geschaffene Amüsement über das Ereignis besteht gar kein Wunsch mehr danach es noch verdrängen zu wollen. Worum geht’s? Jahrzehnte nach seiner Begegnung mit dem Mimen Charlie Chaplin lässt Theodor W. Adorno anlässlich dessen runden Geburtstages folgendes Erlebnis 15 noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren:
15 Bereits Habermas (1971: 26) hat diese Szene aufgegriffen. Er fragte sich in seinen Erinnerungen nach dem Tod Adornos, ob dieses Mimenspiel als ein psychologischer Auslöser für die Bedeutung der Mimesis im Tonfall der Texte Adornos verstehbarer wird: „Was die sprachlose Mimesis des großen Clowns für jenen flüchtigen Augen-
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„Daß ich von ihm rede, darf ich vielleicht mit einem Privileg rechtfertigen, das mir, ganz ohne mein Verdienst, zuteil wurde. Er hat mich nachgemacht; sicherlich bin ich einer der wenigen Intellektuellen, denen das widerfuhr, und die von dem Augenblick Rechenschaft zu geben vermögen. Wir waren, mit vielen anderen zusammen, in einer Villa in Malibu, am Strande außerhalb von Los Angeles, eingeladen. Einer der Gäste verabschiedete sich früher, während Chaplin neben mir stand. Ich reichte jenem, anders als Chaplin, ein wenig geistesabwesend die Hand und zuckte fast zugleich heftig zurück. Der Abschiednehmende war einer der Hauptdarsteller aus dem kurz nach dem Krieg berühmt gewordenen Film 'The Best Years of Our Life'; er hatte im Krieg die Hand verloren und trug an deren Statt aus Eisen gefertigte, aber praktikable Klauen. Als ich die Rechte schüttelte, und sie auch noch den Druck erwiderte, erschrak ich aufs äußerste, spürte aber sofort, daß ich das dem Verletzten um keinen Preis zeigen dürfte, und verwandelte mein Schreckgesicht im Bruchteil einer Sekunde in eine verbindliche Grimasse, die weit schrecklicher gewesen sein muß. Kaum hatte der Schauspieler sich entfernt, als Chaplin bereits die Szene nachspielte. So nah am Grauen ist alles Lachen, das er bereitet und das einzig in solcher Nähe seine Legitimation gewinnt und sein Rettendes. Meine Erinnerung daran, und der Dank, sollte mein Glückwunsch zum fünfundsiebzigsten Geburtstag sein.“ (Adorno 1998: 365f.)
Chaplins Verhalten ist in dieser Szene distanzlos und distanzvoll zugleich. Er fängt mit seiner spontanen Vorstellung erst an, als der Betroffene den Raum verlassen hat. Adorno ist ja auch derjenige der jetzt zum Gegenstand gemacht wird und zwar nicht im Ganzen, sondern nur seine „Grimasse“. Dabei fällt doch vielleicht auf, dass genau dasjenige Verhalten verbindlich zum Untersuchungsgegenstand des Mimen ernannt wird, welches Adorno rational nicht unter Kontrolle hatte. Sprich, was sich seiner situativen Kontrolle zu entziehen wusste. Hinter seiner entgleisten Reaktion auf die Klauenhand des Hauptdarstellers vermute ich – nicht nur, aber auch – einen Crash zweier unterschiedlicher Strebungen: Auf der einen Seite steht das Erschrecken über eine unerwartete körperliche Entstel-
blick vermocht hat, nämlich die Spannung des Erschaudernden und des nach Fassung Suchenden aufzulösen, dies mag ein Motiv für die Sprache Adornos und für seine beschwörenden Analysen geblieben sein.“ An dieser Stelle traut Habermas einer realen Begegnung mit einem Mimen wie Chaplin unter der Vorsicht des Konjunktivs sehr viel zu, indem er diese Begegnung karthatisch liest und ihr Auswirkungen auf sowohl die weitere Textgestaltung als auch die Positionierung der Mimesis im Denken Adornos zuschreibt.
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lung, auf der anderen Seite die soziale Norm einer Attitüde gegenüber einem 16 Kriegsversehrten. Ich schaue noch einmal genau auf die Szene: Die Wirklichkeitskonstruktion Chaplins rückt zugleich die schreckhafte Ausgangssituation in ein ganz neues Licht. Auf einmal erscheint sie dem Karikierten verzeihlich und geradezu unumgänglich. Die Verhältnisbeziehung der Mimesis beschreibt sich in dieser Gesellschaftsszene erneut als zugleich konstruktiv und dekonstruktiv hinsichtlich der Ausgangswirklichkeit. Das Interessante ist unter anderem darin zu sehen, dass eine Situation des Mimen durch seine Weise des Agierens, welches immer eine gezielte Verdoppelung historischer Wirklichkeit bedeutet, zu einer exemplarischen Situation geworden ist, zu einer, die gerade durch die Verdoppelung und dem ihr innewohnenden Verhältnis im Gedächtnis haften geblieben ist. Diese noch eng „mit der Alltagspraxis verbundenen, noch nicht zu Wissenschaft und Kunst differenzierten“ Formen nenne ich in Anlehnung an Lukács die alltägliche künstlerische Mimesis (Lukács 1963: 376). Ich untersuche nun die Gestalt des ebenfalls eng an der Alltagspraxis ansetzenden magischen Mimesisdiskurses, um in die Situation zu kommen die künstlerische mit der magischen Mimesis vergleichen zu können. Die magische Mimesis Fast scheint der gesamte magische Mimesisdiskurs auf den „Konstruktionen“ (Karl Kerényi) des Ethnologen, Anthropologen und Religionshistorikers Sir James George Frazer „The golden bough“ (Der goldene Zweig) zu fußen (vgl. 17 Frazer 1968). Seine historischen Rekonstruktionen rund um die Sinnsuche des Priesterkönigs von Nemi, der wie im Dauerstress unter dem heiligen Baum auf seinen Nachfolger wartet, sind offenbar zu Konstanten im psychoanalytisch-
16 Es sei daran erinnert, dass der Kriegsversehrte aus dem 2. Weltkrieg stammt, folglich dem Krieg mit demjenigen Land als dessen Emigrant Adorno in dieser Gesellschaftsszene erscheint. Adorno zeigt sich im Hollywood der frühen vierziger Jahre gegenüber dieser Differenz aus spontaner Empfindung und Zwang zur Contenance kurzzeitig überfordert. In der Retrospektive dieses Textes lobt er diese, durch ihr Telos legitimierte, Distanzlosigkeit und das Darstellungsspiel Chaplins. Beides habe ihm, indem er ihn in Form der eigenen Grimasse in Chaplins Gesicht gespiegelt bekommt, eine Einsicht, ein Lachen und damit eine Lösung seines aus der Entgleisung resultierenden Konflikts ermöglicht. 17 Karl Kerényi schrieb das Vorwort zu dieser Ausgabe. The golden bough wächst von Ausgabe zu Ausgabe stark an: 1890, ²1900 oder ³1911/1915.
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kritischen Diskurs des zwanzigsten Jahrhundert geworden. Im Dauerstress befindet sich der Priesterkönig von Nemi übrigens deshalb, weil er genau weiß dass sein Nachfolger ihn in der Ablösungsprozedur töten wird – andernfalls wäre 18 er eben nicht sein Nachfolger. Kleine Chronik einer beachtlichen Rezeption: Freud weist Frazer in „Totem und Tabu“ (1912/13) als seine Hauptquelle aus (vgl. Freud 1999 [1912/13]: 47), Horkheimer und Adorno nehmen neben den französischen Anthropologen Henri Hubert und Marcel Mauss an entscheidenden Stellen in der „Dialektik der Aufklärung“ auf Frazer Bezug und auch Lukács hält sich in den Explikationen zur magischen Mimesis im ersten Band seiner Ästhetik eng an die Ausführungen des Briten. Den magischen Zusammenhang sieht Lukács, einen Passus Frazers original zitierend, wesentlich noch an die gleichen zwei Vorstellungen gebunden wie sechzig Jahre zuvor Frazer. Diese Beiden lauten: „[E]rstens, dass der Magier ,durch Nachahmung jede Wirkung hervorbringen kann, die er hervorbringen will‘, zweitens, dass ,alles, was er einem stofflichen Gegenstand zufügt, ebenso auf die Person wirkt, die einmal mit diesem Gegenstand in Berührung gestanden hat, mag er nun ein Teil ihres Selbst gewesen sein oder nicht‘.“ (Frazer zit. n. Lukács 1963: 378)
Diese zwei Vorstellungen über den Ablauf der magischen Mimesis bringen zwei verschiedene Erklärungsmuster über ihren Mechanismus zum Vorschein. Ich bestimme diese etwas näher: das ist einerseits der Mechanismus einer einfachen Machtübertragung, andererseits hat man es mit dem Mechanismus eines stellvertretenden Mediums zu tun oder einer durch eine Zwischeninstanz vermittelt erfolgenden magischen Übertragung. Freud beispielsweise übernimmt diese zwei Erklärungsmuster, indem er ein Verständnis, das auf Ähnlichkeit gründet, von einem zweiten unterscheidet, das sich der Kontiguität (Berührung) verdanke (Freud 1999 [1912/13]: 100, 102). Für diese beiden, aufgrund ihrer differenten Zeit- und Raumvorstellungen gespaltenen Magieformen findet Frazer wiederum einen vereinheitlichenden Term: den der sympathetischen Magie. Diese sei zu denken als ein geheimer Zusammenhang oder im Bild als ein „unsichtbarer Äther“ (Frazer 1968: 17). Ihr
18 Vgl. zum Motiv des Mords in der Urhorde bei Freud (1999 [1912/13]: 171): „Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende.“ Der Vatermord wird für Freud zum rational nicht mehr zugänglichen Ursprung der Kulturentwicklung sowie jeder Ethik.
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ordnet Frazer zwei Magieformen zu: die imitative oder homöopathische auf der einen und die Übertragungsmagie auf der anderen Seite. Den Mechanismus der homöopathischen Magie macht man sich klar am Beispiel des Wodu, bei dem auf eine Puppe zurückgegriffen wird mit der man dem Feind schaden möchte. Wenn man einem Feind Schaden will, schadet man stattdessen seinem Bildnis beziehungsweise einer ihm ähnelnden Puppe. Diese Tat an der Puppe wird in dieser Logik den Feind ebenso wie sein Simulacrum unmittelbar treffen. Der Mechanismus der übertragenden Magie ist demnach nicht mehr in dieser Unmittelbarkeit zu denken. Unbefristet besteht darin nämlich diese dunkle Verbindung zwischen physisch getrennten Gegenständen. Objekte wie Haare, Nägel, Zähne oder Nabelschnur zum Beispiel bleiben mit dem einstmals verbundenen Körper in einem „magischen“ Kontaktverhältnis. Ein diesen Gegenständen zugefügter Schaden oder Einfluss wird auf den Körper zurückfallen, übertragen. „Wenn meine Analyse der Logik des Magiers richtig ist, so stellen sich ihre beiden großen Prinzipien als lediglich zwei verschiedene, falsche Anwendungen der Ideenassoziation heraus. Homöopathische Magie gründet sich auf die Verbindung von untereinander ähnlichen Ideen. Übertragungsmagie dagegen auf die Verbindung von Ideen durch unmittelbare Aufeinanderfolge.“ (Frazer 1968: 17)
Es macht vielleicht Sinn noch einmal zu sagen, dass – abstrakt gesprochen – eine magische Praxis Distinktes zusammenbinden möchte. Frazer verwendet für diesen Vorgang den Term der „Verbindung“. Dieser Verbindung liegt eine Annahme über einen Mechanismus zugrunde, nach dem etwas zu dieser starken Bindung prinzipiell zusammenziehbar ist. Der Mechanismus ist möglich, weil eine krasse Voraussetzung gegenüber dem mimetischen Verhältnis besteht: so ist die magische Verbindung nämlich dank massiver Gewalt erzeugt. Diese Gewalt, die dem magischen Diskurs diese Verbindung gewährleisten soll, nennt Frazer Ge19 setz. Er meint damit den mimetischen Mechanismus der Magie. Aufgrund seiner Unterteilung der magischen Mimesis ergeben sich zwei zentrale Gesetze: So folge die homöopathische oder imitative Magie dem Gesetz der Ähnlichkeit, dass Gleiches wieder Gleiches hervorbringe. Es handelt sich dabei meines Erachtens um eine unter dem Primat der Ähnlichkeitsvorstellung im Subjekt zu vollziehen-
19 Diese These von der Einschreibung einer Gewalt in die ursprünglichen Mimesisformationen hat insbesondere René Girard (1983) immer wieder gegenüber der Mimesis insgesamt vertreten.
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den Nivellierung von Ursache und Wirkung beim Objekt. Unterdessen folge Übertragungsmagie, darin das Gesetz der Ähnlichkeit voraussetzend, dem Gesetz der Berührung. Dabei folgt sie der Vorstellung eines konstanten Energieprinzips, was jederzeit und an jedem Ort wieder ausgelöst werden kann. Diesem Prinzip wird also bereits die Funktion einer überzeitlichen und überweltlichen Instanz zuerkannt. Betrachtet man die Magie noch ein wenig genauer unter energetischen Gesichtspunkten, ist es ratsam sich des magischen Vorgangs im Ritual selber zu vergewissern. Während der Ausführung eines Rituals soll eine Macht beherrschbar werden die offenbar unbeherrschbar ist. Das Ritual ist im Grundsatz wohl die Darstellung dessen, was energetisch zusammengezogen wird. Insofern entspricht die magische Darstellung immer einer machtvollen relationalen Unterstellung, die schließlich die Verbindung zwischen distinkten Seinsbereichen ermöglichen soll. Diese subjektiv angelegte Magieform, ich spreche von Frazers homöopathischer Magie, geht immer über diese zentrale Schnittstelle einer Absolutheit unterstellten Darstellung oder konkret: der Pose des Magiers. Dagegen macht die Berührungs- oder Übertragungsmagie eigentlich eine andere These stark. Die Energie konnte bei ihr nämlich in ein stellvertretendes Objekt abziehen und strahlt – unabhängig vom Subjekt oder seiner Darstellung – fortan von ihm aus. In zeitlicher Hinsicht sogar ewig, in energetischer Hinsicht konstant. Diese Vorstellung beinhaltet nicht weniger als die Annahme einer außersubjektiv wirksamen Instanz mit dem mimetischen Mechanismus der Stellvertretung. Die Stellvertretung wird darin nun wiederum eindeutig als ein unabhängig von Raum20 und Zeiteinflüssen statthabendes Kraftzentrum bestimmt. Die „Pose des Magiers“ ist in der über Stellvertretung funktionierenden Übertragungsmagie abstrakter und universeller geworden. Die Korrektur scheint mir eine kleine Verbesserung der an dieser Stelle etwas unscharfen Unterscheidungen Frazers, wie sie eventuell bereits in Spuren auch von ihm selber angedacht worden sein mag. „Wenn man genauer sein will, wird man allerdings gewöhnlich finden, dass Übertragungsmagie die Anwendung des homöopathischen oder nachahmenden Prinzips voraussetzt, während die homöopathische oder nachahmende Magie für sich allein geübt werden kann.“ (Ebd.) Ich halte fest: Schon bei Frazer wird das Epizentrum der magischen Mimesis durchweg im aufgeklärten Verdachtssystem der Täuschungsunterstellung gelesen. Durch diese in methodischer Hinsicht kritische Haltung fördert Frazer ihre
20 Hier läge also die Berechtigung für die in Totem und Tabu entwickelte „Allmacht der Gedanken“-These, die Freud auf Basis seiner Erfahrungen mit der Zwangsneurose entwickelt hat.
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Zusammenhang stiftende, problemorientierte Logik zu Tage. Über seine Reflexion ihrer Leistung, was ihren Beziehungsaufbau zu Ideen (Vorstellungen) angeht, wird die magische Mimesis zugleich auch als Vorform rationaler Erklärungssysteme mit Universalanspruch begründet und verstanden. Diese These Frazers bleibt philosophiehistorisch insbesondere hinsichtlich der Kulturphilosophie relevant, wenn man sich an eine der strukturalistischen Hauptthesen Cassirers aus dem zweiten Band seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ (Das mythische Bewusstsein) erinnern mag (Cassirer 2003 [1922]: 12; Cassirer 1958). Zur Erinnerung: Das Feindbild der neuen Disziplin Medizin, das beispielsweise Hippokrates in seiner Schrift „Von der heiligen Krankheit“ aufbaut, waren eben primär diese magischen Praktiken und die frühen religiösen Formen von Heilungszauber. Derlei „Reden und Machenschaften“ führt Hippokrates argumentativ ad absurdum, indem er ihnen scharfzüngig Vorwürfe entgegenhält, angefangen von einer Leichtsinnigkeit und groben Fahrlässigkeit im Umgang mit dem anderen Menschenleben bis hin zu der Unterstellung, ihre Handlungen ent21 sprächen ihrer Form nach der Blasphemie: „Denn ihre ängstliche Traurigkeit und Gottesfurcht ist in Wahrheit Gotteslästerung und der Tod aller Religion, wie 22 ich zeigen werde“ (Hippokrates 1955: 61). Durch die Reklamation einer Wahrheit wird die rituelle magische Praxis als das obsolete Paradigma revolutioniert.23 Je enger eine Pflegehandlung also auf das nosologische Handlungstableau verwiesen wird (z. B. OP-Pflege, Intensivpflege), umso eher baut jede Differenz erzeugende Handlung Angst auf. Das gilt vor allem, weil sie in dem Fall
21 Die meisten beschriebenen Fallgeschichten des Hippokrates enden übrigens ziemlich nüchtern mit dem Tod des Klienten, einige wenige mit spontaner Selbstheilung ohne erkennbaren Zusammenhang mit therapeutischer Einflussnahme. 22 Der Gestus in dieser Schrift ist vom Habitus des Autors her durch und durch aufgeklärt. Der Arzt ist der erste im rationalen Sinne konsequente Zweifler an dem Magier (und seiner Äquivalente wie Zauberer, Schamane und Priester) und ist gleichzeitig durch die Setzung seiner gesellschaftlichen Praxis die neue Form des Magiers. Bis heute gibt es aber gesellschaftlich neben der medizinischen auch andere Formen der Heilungspraxis, wie z. B. volkstradierte oder fernöstliche Formen des Heilens. 23 Durch diese immense Rationalisierungsleistung der Medizin scheint sich aber eine besondere Angst in den medizinischen Diskurs transformiert zu haben. Medizinische Handlungen sind seither durch eine enorme, aus der magischen Rituspraxis resultierende Angst vor einer Abweichung von einem als günstig beurteilten Heilungsprocedere bestimmt. Alles dazu Differenz aufbauende, wie mimische Darstellungsformen, zeigen sich auf dem medizinischen Feld in merkwürdiger Weise mit dem neuen Tabu des Schadenbringens verbunden und gehören dementsprechend „verboten“.
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sehr strikt im wissenschaftlichen Erklärungssystem einer iatrotechnischen Medizin (Rothschuh) bestimmt und festgelegt wird. Im folgenden Vergleich der kulturgeschichtlich älteren praktischen Mimesisformen geht es mir darum, Elemente herauszuarbeiten die zeigen, dass das pflegerische Tableau auch als eine Kollision verschiedener Mimetiken verstanden werden kann. Vergleich der alltäglichen künstlerischen mit der magischen Mimesis Wenn ich nun im nächsten Schritt die magische Mimesis wie sie sich Frazer vorstellt mit der des Mimen vergleiche, fallen bestimmte Dinge zu ihrem Verhältnisaufbau auf. Erstens hinsichtlich der Motivierung der Nachahmungshandlung, zweitens hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der nachahmenden Handlung und ihrer unterstellten Wirkung, drittens hinsichtlich der Zeitvorstellung beziehungsweise -herstellung in der Nachahmungshandlung und viertens hinsichtlich der Frage nach ihrer Machtstruktur und dem Modus ihrer Aufspaltung in der Übertragungsmagie. (1) Ich schaue zunächst auf den Teil, der die Nachahmungshandlung motiviert beziehungsweise überhaupt in Gang setzt. Dazu lässt sich bemerken, dass ein Moment der Wahrnehmung beiden Nachahmungshandlungen, sowohl der künstlerischen als auch der magischen, vorausgeht. Allerdings ist das was wahrgenommen wird unterschiedlich. Bei der magischen Mimesis geht meist ein manifestes objektives Problem voraus, bei der künstlerischen handelt es sich erst durch ihren Prozess hindurch um eine Problematisierung. Die magische Mimesis will ein Problem lösen, dem vorbeugen, etwas Konkretes bekämpfen oder befördern. Die künstlerische Mimesis will Aufmerksamkeit für einen Sachverhalt, der vielleicht bislang nicht sonderlich auffällig geworden ist. Von daher ist die magische Mimesis als Antwortprocedere zu einem Problem zu verstehen, während die künstlerische eine Anfrage startet. Die magische Mimesis löst ein Problem, versucht es zu lösen oder „erklärt“ ein konkretes Leiden wie das eigene Rheuma beispielsweise dadurch, dass jemand einem offenbar Scherben (Quarz, Glas) in die eigene Fußspur gelegt habe (Frazer 1968: 63). Die Fußspur wurde mit Scherben verletzt und darum auch der Fuß, der diese Spuren gesetzt hat. Die Motivierung der magischen Mimesis bedingt meist immer auch ein allgemeineres existenzielleres Problem wie Dürre, Feinde, Schmerzen oder Kranksein, das der künstlerischen ist eine Problematisierung die ihren Ursprung meist aus den Konfusionen und Schwebezuständen im sozialen Miteinander gewinnt. (2) Der Zusammenhang zwischen nachahmender Handlung und intendierter Handlungswirkung wird bei der künstlerischen anders gedacht als bei der magischen. Die Wirkung wird erreicht, wenn die Zuschauer vergnügt sind über den
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Mimen. Wenn sie vergnügt sind wie Adorno gegenüber Chaplin, hat sich ihre Einstellung gegenüber der Bezugswirklichkeit des Mimen gelockert und entspannt. Die mimische Wirklichkeit erscheint ihrem Blick sofort als konstruierte Wirklichkeit und nicht wie in der magischen als wirkliche und durchaus seriöse Problemlösungshandlung. Der Aufbau einer zweiten Wirklichkeitsebene wird in dem magischen Mimesisdiskurs grundsätzlich auch konstruktiv gedacht, aber sehr viel ernster im Sinne von „gleich“ oder wie Freud herausarbeitet hat „ähnlich“ zwischen der dargestellten Wirklichkeit (Magie) und der Bezugswirklichkeit (Kraft der Magie). Gleichsam sei es nicht entscheidend dass die Dinge ähnlich sind, sondern als ähnlich unterstellt werden (Freud 1999 [1912/13]: 98). Es folgt der Annahme: Was der Magier oder der Magie Anwendende tut wird ohne Abweichung sofort eintreffen. Diese Annahme gründet in einem dynamistischen Weltverhältnis, „dass Gleiches wieder Gleiches hervorbringt“ (Frazer 1968:15), einer unmittelbaren Identität zwischen Bild eines Objekts und dem Objekt. Nach meinem Verständnis geht im magischen Mimesisdiskurs also die Pose des Magie-Anwendenden der bewirkten Wirklichkeitsebene voraus, also genau umgekehrt zu der alltäglichen Mimesis des Mimen, wonach der Handelnde sich durch seine Darstellung auf eine vorzeitige Wirklichkeit bezieht. Die künftige Wirklichkeit oder das intendierte Ereignis wird in der magischen Auffassung zur Resultante menschlichen Handelns, ist vorausgreifend oder prognostisch aber unter der zeitlichen Annahme eines zugleich. „Eine der verbreitetsten magischen Prozeduren, um einem Feind zu schaden, besteht darin, sich das Ebenbild von ihm aus beliebigem Material zu machen. […] Man kann irgendein Objekt zu seinem Bild ‚ernennen‘. Was man diesem Ebenbild antut, das stößt auch dem gehassten Urbild zu; an welcher Körperstelle man das erstere verletzt, an derselben erkrankt das letztere.“ (Freud 1999 [1912/13]: 98)
Dieses Beispiel für eine schwarze (schadende) im Gegensatz zu einer weißen (fördernden) Magie fasst noch einmal das gerade angesprochene Weltverhältnis zusammen. Blicken wir nun auf das darin sichtbar werdende Zeitverständnis. Die Zeit folgt nicht einer historischen Linearität wie bei der Mimesis des Mimen, der Chronologie im Sinne einer Nachzeitigkeit erst als solche entwirft, sondern die Zeitauffassung ist hierbei gleichzeitig oder simultan. Erst unser in Ursache und Wirkung unterscheidender Blick auf diesen Sachverhalt dividiert den empfundenen Hass, die Pose des Magiers und seine Wirkung auseinander. Diese simultane Zeitvorstellung findet sich sowohl bei der Übertragungsmagie, das heißt der medial vermittelten als auch bei der einfachen magischen Kraftübertragung. Ein Beispiel für eine einfache simultane Kraftübertragung zitiert Freud nicht oh-
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ne ein Schmunzeln, wonach javanesischer Reisbauer und Reisbäuerin nachts auf dem Feld kopulieren, um der Saat über das von ihrem Akt abgestrahlte Bild das vielleicht nötige Fruchtbarkeitsmodell zu injizieren (ebd.: 99). Ist die Wirkung einmal übertragen wirkt sie dauerhaft und in die Zukunft hinein. Die Saat bringt nach diesem Beispiel durch die unmittelbare Kraftübernahme später die Frucht. Das Pflanzenreich „ahmt“ also die konkrete Handlung der Menschen nach. Und zwar ist die Struktur der Nachahmung hierbei isomorph und geht klar in eine Richtung; von Geste/Gebärde/Handlungsbild zum Zielobjekt. (3) Es gibt auch das Moment der Nachzeitigkeit in der magischen Mimesis, nur ist das nicht denkbar durch Zauber, sondern nur über dingliche Zwischenstufen eines Mediums. Schauen wir um diese Zeitauffassung etwas deutlicher zu kontextualisieren, noch einen Augenblick auf den zweiten Erklärungsansatz zur Übertragungsmagie: Diese läuft nämlich über die Zwischeninstanz eines Mediums, dem die Macht einer Wirkung zugesprochen wird. Die in der ersten Variante beschriebene Kraftübertagung des Magiers ist an den Stoff selber übergegangen. Der Kontakt mit diesem Stoff bewirkt ohne Abweichung die Wirkung. Was herrscht ist ein Glaube: „Der Glaube an ein magisches Band, welches das Schicksal einer Wunde mit dem der Waffe verknüpft, durch welche sie hervorgerufen wurde […].“ (Ebd.: 101f.) Kühlt man die Waffe, die die Wunde schlug, erfährt auch die entzündete Wunde eine labende Kühlung. Die Wirkung zwischen berührtem magischen Medium und Berührendem ist unmittelbar, auch wenn sie auf Einbildung beruht wie bei den Ovambo. Um den Feind zu strafen schauen sie so lange in eine Schüssel mit Wasser bis sein Bild darin entsteht. Postwendend wird es bespuckt und mit Flüchen bedacht. Der Feind stirbt dadurch (Bertholet 1960: 597). Der größte Teil der Fruchtbarkeits- und Wetterriten gründet auf Übertragungsmagie. Diese Riten fußen auf Stellvertretungsdenken. So können Sünden auf einen Bock übertragen werden, der dann aus der Stadt gejagt wird (vgl. Girard 1988). Oder das Stellvertretende kann, um positive Wünsche zu formulieren, geopfert werden. Ein Opferzeichen für Fruchtbarkeit gaben die Römer ihrer Erdgöttin Tellus, indem sie ihr eine trächtige Kuh darbrachten. Das Opfer hat in diesem Fall das inkorporierte Ganze in sich. Es herrscht hier das Prinzip der Affinität, der Wesensgleichheit durch ein angenommenes Analogieverhältnis zwischen Geopfertem und Opferanlass: So entsteht ein mikrokosmisch-makrokosmisch geordneter Quidproquo-Zusammenhang. Beispielsweise wird der in Mittelmeerländern gefürchtete Blick aus dem blauen Auge mit einem Amulett aus blauen Perlen abgewehrt. Das stellvertretende Medium gibt die paradoxe Möglichkeit für einen nachzeitigen Einbruch innerhalb der simultan bestimmten Kraftordnung. Diese Nachzeitigkeit im Mechanismus der Stellvertretung behält trotzdem die Vorstellung einer absoluten
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Berührungsqualität oder Kraftqualität. Das Speichermedium unterliegt also nicht der Verlusterfahrung der Zeit. Die Nachzeitigkeit, welche sich die Stellvertretung über das konstruierte Medium einträgt, kann also die zeitliche Ordnung grundsätzlich in Flüchtigkeit beziehungsweise Augenblick und Dauer dividieren und kann gleichsam beide Zeitformen über ihre voll bestehende Wirkung dominieren. (4) Abschließend richte ich den Blick auf den Machtaspekt: Die magische Mimesis transformiert die ganze Macht. Zu ihr sind kein Rest und keine Differenz denkbar. Die Differenz zu denken ist in diesem System tabu wie über das Tabu geschützt. Freud charakterisiert den magischen Denkstil auch deshalb als „Allmacht der Gedanken“, weil es um diese in eine subjektive Absolutheit gebannte Macht geht (Freud 1999 [1912/13]: 105). Die Magie setzt diese Form der Macht als einheitliche Allmacht stets voraus und sie setzt sie über die Dingwelt. Daher bedeutet der Mechanismus der Stellvertretung in dieser Hinsicht für mich eine Öffnung des magischen Denkens, weil er stellvertretend und damit vollgültig Objekten eine absolute Macht zuschreibt beziehungsweise überträgt. In der Konsequenz heißt das, dass die absolute Macht durch den Mechanismus der Stellvertretung gespalten wird. Diese Objekte sind nämlich nicht mehr in der Weise verfügbar wie der subjektive Raum der ganzen Macht. Der Bedeutungsverschiebung von Macht im magischen Denken ist also eine Richtung eingeschrieben, die durch die Abspaltung der Zentralmacht hin zu einer stellvertretenden Machtinstanz führt. In der künstlerischen Mimesis wäre die Macht der Wirkung meines Erachtens abhängig von der Güte der Darstellung. Das heißt je besser und gezielter ein Mime mimt, umso machtvoller kann seine Darstellung sein. Letztlich bleibt aber der Blick, den der Mime auf sich gerichtet haben möchte und der Blick, den Magie voraussetzt unterschiedlich. Der festgelegte Blick auf den praktizierenden Magier ist der Auslöser einer Unterwerfung (lat. Subjekt), während der Mime eher mit dem Blick des anderen spielt und diesen versucht zu überraschen. Sein Blickverhältnis geht auf das eines erst zum Urteil findenden Gegenübers. Bei dem magischen Blickmodell geht es also um Machtabstrahlung in einen zu füllenden Bereich, während es bei dem künstlerischen Blickmodell eher um eine Machtinauguration des Blicks geht. Die Mechanismen praktischer Mimesisformen Zusammenfassend kann man in Abgrenzung zu der künstlerischen Mimesis sagen, dass die Mimesis im magischen Kontext eine Ähnlichkeitsbeziehung und eine Gleichheitsbeziehung markiert. Ihr Auslöser ist ein objektiv nachvollziehbares Problem und ihre Wirkung ist spontan und wirkt monokausal in eine Rich-
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tung. Die Nachahmungshandlung bleibt eng an diesem Problem ausgerichtet und in seinen Bannkreis eingespannt. Die magische Handlung setzt entweder den glaubenden Blick oder gar keinen Blick auf sie voraus. Ihr Mechanismus folgt einer Simultaneität deren Spaltung den nächsten machtvollen Mechanismus, den der Stellvertretung, hervorgebracht hat. Simultaneität fixiert Zeit und Raum in einem Punkt, während Stellvertretung die Geschichte beherrscht als den Zeitverlauf und auch den Raum der sich außerhalb des einsehbaren Punktes befindet. Der Stellvertretungsgedanke aus der Übertragungsmagie ist also offenbar eine Reaktion auf die erfahrbare Erkenntnis, dass die Magie an Ort und Stelle, im hic et nunc, scheitern kann. Die künstlerische Mimesis hingegen lebt weit eher von einem wahrnehmenden und zur Verbindung fähigen Blick als von einem glaubenden. Ihre Spezifik ist eine Wechselbeziehung aus Konstruktion und Dekonstruktion zwischen den Ebenen Darstellung und Dargestelltes. Ihre Relation lebt von einer Wechselhaftigkeit dieser Richtungen. Ihre Beziehung basiert nicht auf Gleichheit, sondern auf einer spezifischen Differenz hinsichtlich einer als besonders ausgemachten Bezugsquelle, eine Differenz die wiederum eine neue Nähe erzeugt. Die künstlerische Mimesis zielt auf Darstellung, die magische geht auf Nachahmung. Diese beiden Mimesisvarianten kommunizieren über ihren Relationsaufbau in unterschiedlicher Weise mit der Realität und setzen ihre Realität unterschiedlich. Lukács hatte gezeigt, dass die magische Nachahmung „[…] möglichst konkret sein muß“ (Lukács 1963: 379). Das wird sie, wenn die Handlungsdarstellung weitgehend ident zu den allgemeinen Vorstellungen einer Sache ausgerichtet wird. Diese Nachahmungsvariante der Magie ist in der Sache konservativ und wirkt dadurch integrativ. Die künstlerische Mimesis funktioniert in ihrer alltäglichen Form nur, wenn man in der Darstellung zugleich das Dahinterliegende mitsieht, die Differenz und die Identität zur Ausgangswirklichkeit herstellen kann. Genauso muss man auch in der Magie die gemeinte Realität mitsehen können. Das gelingt durch die Allmacht der Gedanken oder die Fiktion einer Identität. Dieses Zugleich-Mitsehen-Können in einem Vorgang charakterisiert das ontologische Moment von Mimesis, als einem durch eine Präsenz er24 zeugten Verhältnis zwischen distinkten Wirklichkeiten. Ohne jetzt die Aufgabe zu suggerieren den magischen Mimesisdiskurs vollständig abbilden zu können, möchte ich mir die bereits sichtbaren Kennzeichen dieses Diskurses zur Mimesis vor Augen führen. Das Verhältnis zwischen Nachahmungshandlung und Nachahmungswirkung erscheint mir hierbei im Vergleich mit der Mimesis des Mimen von den Füßen auf den Kopf gestellt. Es scheint mir
24 Zum Distinkten vgl. Nancy 2006a: 9-29.
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so, als sei die Mimesis des Mimen die Umkehrung der einfachen magischen Mimesis. Sie sind Kontrapunkte oder Gegenspieler. Während der Mime ein eher unbemerkt gebliebenes Erleben problematisiert, geht die Magie stattdessen nahezu immer auf reale Probleme ein. Magie ist in dieser Hinsicht ein Vorläufer des wissenschaftlichen Erklärungssystems, das in seinem Mechanismus die methodischen Schritte Problemerkennung, Problembenennung und Problemlösung deutlich vorzeichnet (ähnlich: Problembeschreibung, Fragestellung, Methode, Ergebnisse). Deshalb soll das nachahmende magische Handeln auch auf eine Lösung dieses Problems in der Zukunft abzielen. Der Regentanz soll die Dürre beenden, die Vernichtung des feindlichen Zaubers die eigenen Rheumaschmerzen. Was beiden Mimesisformen, der mimischen und der magischen, gleicht, ist ihr Eingebettetsein in den Alltag und das Soziale (ebd.). Die Beispiele aus Frazers Arbeit belegen, dass Magie nicht etwas Randständiges oder bloß die Sache einzelner Magier ist, sondern in der Mitte des Lebens stattfand. In der magischen Mimesis geht die konstruktive oder darstellende Handlung voraus und bezieht sich auf eine zukünftige Wirkung, die im magischen Denken im Modus eines zugleich gedacht wird. Bemerkenswert scheint mir darum das Auseinanderklaffen der Zeit und auch des Ortes in der Übertragungsmagie: die Transformation in der Übertragungsmagie, wonach bereits ein Ding verzaubert oder magisch aufgeladen ist und es bleibt, weil es einmalig in Kontakt zu dem bedeutungstragenden Objekt stand. Dieses stellvertretende Vehikel, Medium oder Symbol kann auf Basis dieses Kontakts nun auf immer Wirkungen erzeugen. Interessant ist hierbei das unterstellte Verhältnis der Mimesis, also dass der Blick auf die Täuschung durch die Nachahmung glauben macht und dass man umgekehrt den Opfergedanken in dieser Mimesisform vorgebildet findet: wonach man auf ein Ding etwas übertragen kann, um es an ihm vollgültig auszutragen, wie bei einem „Sündenbock“ den man aus der Stadt jagen kann und mit ihm, als das Fremde, das eigene Böse. Das magische Zeitalter geht von einer Universalisierung der Gleichheitsbeziehungen aus. Freud nannte dies die „Allmacht der Gedanken“. Die Dinge werden unter der Decke, welche dieser Diskurs erzeugt, unsichtbar. Hier wird eine Mimesis beschworen die rein praktisch sein soll und gerade deshalb rein auf dem Primat des Denkens beruht das gegenüber den Gegenständen, Objekten und Subjekten dominiert. Die nächsten historisch-gesellschaftlichen Strömungen, die dem Nachahmungsdenken eine ähnlich universale Bedeutung gegeben haben wie das magische Zeitalter, waren das Christentum im Verlauf seiner Wirkungs-
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geschichte und als sich das Christentum in Folge der europäischen Aufklärungs25 kritik zurückzog das positivistische Wissenschaftsverständnis. Das praktische Tableau? Das pflegerische Tableau würde in praktischer Hinsicht aus dem gleichzeitigen Konflikt unterschiedlicher mimetischer Logiken verstehbar, die sich selbst nie in der Reinform der besprochenen künstlerischen oder magischen Mimesisformen zeigen. Beide mischen sich beim pflegerischen Handeln, wie zum Beispiel der folgende zitierte Interakt auf einer urologischen Station deutlich macht: Pflegende So. Da’ n frischen drum. Patient ‚Ne Schniedelbinde? Pflegende Jaaa, oder Schlips wird’s auch genannt? Patient Ja, Schlips ist auch gut (Pflegende lacht) […] Pflegende Aber ist leider nur in weiß erhältlich. Patient Ja. Och, das ist doch auch schön, ja. Pflegende Ja, ne. Patient Bildet dann wenigstens ’n Kontrast, ne. Pflegende Doch (Pflegende und Patient lachen) […].26 In diesem Interakt lassen sich zwei mimetische Logiken analytisch unterscheiden, die sich in dieser pflegerischen Interaktion mischen. Zum einen der Handlungstypus der Probleme lösen möchte und deshalb möglichst im nachahmenden Stil eines prognostisch orientierten Blickverhältnisses verbleibt (mit dem Telos „Gesundheit“). „Bis dato verlief die Kommunikation relativ sachlich und regelorientiert, die Pflegende hat alle Schritte des Verbandswechsels angekündigt und teilweise erklärt“ (Darmann-Finck 2009: 14). Bis hierhin scheint also das Handeln recht einseitig und auf Basis einer strikten Problemlösung statt zu haben, bevor sich ein zweiter Darstellungsform einmischt, die man das Spiel der künstlerischen Mimesis nennen kann. Denn es geht um ein Handeln das Probleme herausfinden beziehungsweise Spannungen abbauen möchte und deshalb mehr im darstellenden Stil vorgeht („Lösung oder Auslösung von Spannungen“). Die
25 Dahingehend argumentiert zum Beispiel der Physiker Thomas Kuhn (2002 [1969]: 59f.) in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, wenn er auf die Nachahmung der wissenschaftlichen Routinen als Basis der normalwissenschaftlichen Diskurse insistiert. 26 Die gesamte Sequenz entstammt Datenmaterial von Darmann (2000).
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Auflockerung der nah am Liebesspiel entlang gleitenden Situation geschieht durch die Assoziation des Schlipsbindens, bei dem beispielsweise manche Frauen „ihren“ Männern behilflich sind. Durch diese Rückführung auf eine zivilgesellschaftliche Ordnung, die die Assoziationen des Phallus versucht zu unterbinden indem sie die Situation mit einem kulturellen Sinn überschreibt. Das Lachen sorgt für Entlastung von dem Krampf der Tätigkeit und dem Berührungstabu, mit dem dieses Organ besetzt ist. Gleichzeitig bleibt die Situation aber nicht „gelöst“ oder gar „bewältigt“.
5.4 Z UR K RITIK
EINES DARSTELLENDEN
T ABLEAUS
Ich möchte mich im kritischen Diskursrahmen zunächst mit dieser Position Horkheimers beschäftigen, um die Erweiterungsdimension zu den bisherigen Mimesislesarten zu verdeutlichen. 5.4.1 Über Horkheimer: Mimesis als kritische Sozialisation Beschreibt Horkheimer (1985 [1960/1963]: 150) etwas anderes als eine Imitatio mundi, wenn er sagt: „[…] der Mensch kommt als Echo-Apparat auf die Welt“? Von der Gesellschaft übernehme das Subjekt durch Sozialisation verschiedene Formen von Härten: „Daher die Forderung, sich weich zu machen“ (ebd. 1988 [1955]: 255). Insofern kann man bei Horkheimer den Versuch herauslesen, eine ältere Anthropologie mitsamt einem von ihr konstatierten Nachahmungstrieb gesellschaftskritisch zu transformieren. In diesem Begriffsverständnis des sich Angleichens, sich Anschmiegens, auch das „sich weich zu machen“ schlummern für Horkheimer Residuen,27 sich von zweckrationalen gesellschaftlichen Mechanismen und Praxen abzuheben. Das macht natürlich nur unter der Voraussetzung Sinn, dass man sich an etwas anderes als an die kritisierte Gesellschaft anschmiegt. Für die Klärung dieser Frage, was das andere denn sein könne, bleibe ich zunächst auf die Kritische Theorie, wie sie Horkheimer zu entwerfen versteht, konzentriert. Kritische Theorie kreist bekanntlich zentral um die Fragen des mit Kant eröffneten kritischen Diskurses: befragt sich selbstkritisch nach der Konstitutionsmöglichkeit ihrer Gegenstände, ihrer Erkenntnismodi und ihrem Verhältnis-
27 Offenbar hat Horkheimer (1988 [1955]: 255) insbesondere eine sprachlich-kommunikative Seite der Mimesis im Auge. Da geht zumindest aus der folgenden Gesprächsnotiz hervor, die Friedrich Pollock gesammelt hat: „Jede wirkliche Aufnahme einer Mitteilung beruht auf Mimetik.“
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aufbau. Vielleicht wird meine Entscheidung, die Untersuchung dezidierter auf den kritischen Theoriediskurs auszurichten, noch etwas nachvollziehbarer anhand folgender Überlegungen: Max Horkheimer hat sich in seiner Abhandlung „Über traditionelle und kritische Theorie“ (1937) die Frage nach einer prinzipiellen Unterscheidung einer kritischer Theorieperspektive gewidmet. Darin bestimmt er unter anderem auch die Ausrichtung eines kritischen Diskurses. Über die erkenntnistheoretische Subjekt-Objekt-Dialektik zitierende Formulierung findet er darin eine äußerst interessante Bemerkung: „Die Trennung von Individuum und Gesellschaft […] ist in der kritischen Theorie relativiert“ (ebd. 1988 [1937]: 181). Diese Relativierung zwischen Individuum und Gesellschaft könne demnach eine Reflexion dieser Verhältnisform selber einschließen. Man kann die Relationalitätsreflexion Horkheimers auch als die Einschreibung einer von ihm präferierten konstruktiven Verhältnisformation in den kritischen Diskurs lesen. Für Horkheimer sind nämlich offenbar jegliche Verhältnisse erzeugt, im Sinne von (künstlich) hergestellt. Genau darin wären sie gesellschaftlich vermittelt. Das wäre nun wiederum auch die wünschenswerter Weise einzunehmende Perspektive des kritischen Theoretikers. Warum wünschenswert? „Es gibt nun ein menschliches Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft.“ (Ebd.)
Durch diese Perspektiveneinnahme bekommen die gesellschaftlichen Verhältnisse für Horkheimer erst einen Anschein. Dieser Schein erweckt ihm einen strengen Verdacht auch gegenüber der „traditionellen Theorie“. Damit ist eine Kategorie angesprochen, die für Horkheimer sowohl die Hermeneutik als auch den Positivismus umfassen soll: „Was die traditionelle Theorie ohne weiteres als vorhanden annehmen darf, ihre positive Rolle in einer funktionierenden Gesellschaft, die freilich vermittelte und undurchsichtige Beziehung zur Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse, die Teilnahme an dem sich erneuernden Lebensprozeß des Ganzen, alle diese Erfordernisse, um die sich die Wissenschaft selbst gar nicht zu kümmern pflegt, weil durch die soziale Position des Gelehrten ihre Erfüllung belohnt und bestätigt wird, stehen beim kritischen Denken in Frage.“ (Ebd.: 170)
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Doch begeht Horkheimer meines Erachtens nachfolgend den Irrtum, dass er das Verhalten das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat, das wäre die Dialektik, an eine ihm unbewusste Verhältnisfigur koppelt. Ich lese diese Stelle in der sich ein problematischer Mechanismus breit macht: „Dafür jedoch, wie die Zukunft konsumiert wird, um die es dem kritischen Denken zu tun ist, gibt es keine solchen Beispiele. Trotzdem hat die Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist, einen Gehalt, dem bei allen Veränderungen die Treue zu wahren ist.“ (Ebd.: 191)
Da soll offenbar eine Treue bewahrt werden, bezüglich einer dank der technischen Entwicklung allen Menschen möglichen „Gemeinschaft freier Menschen“. Hier wird also ein Ideal errichtet dem es zu folgen gilt: Denn wer möchte nicht zu einer solchen künftigen Gesellschaft gehören? Warum sieht man sich hier überhaupt in so eine Entscheidungsposition gedrängt? Woran erinnert dies? Diese Idealbildung macht den kritischen Theoretiker zu einem Zeugen des NochNicht: Der kritische Theoretiker bezeugt demnach den Stand der Erwartung auf das Ereignis und übernimmt auch die Entfernungsmessung, wie weit es noch wäre bis das Ereignis eintreten könnte. Aus diesen Angaben entstünde für Gegenwartsdiagnosen auch eine Art Kompass, der anzeigt wie weit gegenwärtige Menschen von ihrer, besser aber der Freiheit entfernt sind. Wegen dieser künftig guten Zukunft einer Gemeinschaft die schon jetzt in die Reflexion voll eingerechnet werden darf, kann die kritische Theorie sich über die Empirie normativ erheben. Kann Horkheimer eine Differenzbeziehung, wie sie die krasse In-Fragestellung der sozialen Verflechtungen ermöglicht, in seinen Analysen durchhalten? Diese Anfrage kann von mir sicher nicht abschließend geklärt werden. Einerseits entwirft er den kritischen Theoretiker als eine Art Neo-Magier und seine Texte als Prophetien in der Moderne, welche das „Geheimnis“ der Realität ohne einen erkennbaren Bezug zu ihr finden und aussprechen können (was, wenn es keine Fiktion wäre, genau genommen ein Wunder ist). „Das Ziel, das es erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Not ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer schon vorhandenen Realität; sie spricht nur ihr Geheimnis aus.“ (Ebd.)
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Anderseits rührt Horkheimer in dieser Aussage daran, dass er die Not der Gegenwart in der Weise liest einen vernünftigen Zustand zu erreichen. Horkheimer gewinnt das kritische Moment kritischer Theorie also aus der Reflexion ihres Verhältnisses zur Gegenwart. Um eine Differenz zur Gegenwart zu bekommen (wie den vernünftigen Zustand) muss die Not beseitigt werden, allerdings ist das „Bild“ ihrer Beseitigung nicht in der Konfrontation der Not bereits mitgegeben. Nun kann man mutmaßen, ob Horkheimer diese Differenz zu der realen Notlage der Menschen mit einem Verkauf der Offenheit der Zukunft zur Maximierung des eigenen Begründungslevels bezahlt oder ob er die Differenz zu diesem anderen Zustand anerkennt, was meines Erachtens auch der Akzeptanz eines Spaltes bedarf. An den Ausführungen wird ersichtlich, dass die Reflexion kritischer Theorie von Beginn an um die Abschaffung der realen Not der Menschen kreist. Ich glaube, das bildet den Grund dafür, warum die kritische Theorie für weite Teile des Pflegediskurses paradigmatisch geworden ist (vgl. Greb 2003; Friesacher 2008). 5.4.2 Der kritische Mimesisdiskurs Wie stellt sich das mimetische Denken unter den übrigen Protagonisten kritischer Theorie dar? Am ausführlichsten entfaltet und theoretisch begründet findet sich das mimetische Denken bei Theodor W. Adorno. Ich werde versuchen anhand der „Ästhetischen Theorie“ Adornos sichtbar zu machen, wie es das Skelett seiner philosophischen Beweglichkeit und Motorik bildet. Aber man wird für diesen Nachweis nicht allein bei der Ästhetischen Theorie bleiben können. So hat sein Freund, der Literaturtheoretiker und Philosoph Walter Benjamin ausgewiesen konzise, eigenständige wie akribische Anstöße für die Theoriebildung Adornos über die Mimesismodelle geliefert. Zu denken ist zum Beispiel an Benjamins „Lehre vom Ähnlichen“ oder „Über das mimetische Vermögen“ mitsamt der (vor allem hinsichtlich des Projekts von Derridas Grammatologie) bahnbrechenden These, dass zwischen Gesprochenem (Phone) – Geschriebenem (Schrift, Signifikant) – Gemeintem (Hyle, Signifikat) eine versteckt wirksame Verhältnisfigur, eine „unsinnliche Ähnlichkeit“ (Onomatopoiesis) wirksam sei. Diese Untersuchung hat Benjamin bereits als eine Säule der darstellungstheoretischen Perspektive ausgewiesen und von daher werden dessen Ansätze über Mimesis zumeist nicht gesondert auf der Gegenstandsseite untersucht, sondern in der weiteren Analyse der Denkfiguren Adornos mit ins Spiel gebracht.28
28 Wer als Philosoph und Literaturtheoretiker immer ein wenig randständig im bundesdeutschen Intellektuellendiskurs war, ist der Ungar Georg Lukács (1885-1971). Er
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Bei Herbert Marcuse bin ich bislang nicht auf entscheidende Impulse gestoßen. Auch bei der unmittelbaren Nachfolgegeneration kritischer Theorie, vor allem bei Jürgen Habermas und Axel Honneth, findet sich kein erwähnenswerter 29 Bezug mehr zum ästhetischen Denken. Eine Theorie, die beispielsweise Mimesis und den in der Theorie kommunikativen Handelns unterbestimmten dramaturgischen Handlungstypus zusammenbringt, steht meines Erachtens noch aus 30 und bedürfte einer eigenen Arbeit. 5.4.3 Die Switch-Logik: Zu den drei Stockwerken im Oeuvre Adornos Ich beginne diesen Untersuchungsabschnitt mit einigen schutzlosen Behauptungen: Das Denken Adornos kreist zentral um den Aspekt der Mimesis in ihrer Relation. Ihre Relationalität stiftet ihm die Zusammenhänge zwischen dialektischen Disparitäten wie erster und zweiter Natur, Gegenstand und Bewusstsein, Geschichte und Kunstwerk oder Gesellschaft und Freiheit. Diese Spaltungen werden bei Adorno dialektisch und untereinander nicht als absolute Differenz gedacht. Demgemäß hat ein Spalt jeweils Ähnlichkeit mit anderen Spalten. Über
stand zeitlebens in kritischer Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule. Insbesondere der erste Band seiner Ästhetik, „Die Eigenart des Ästhetischen“, nimmt ihren zentralen Ausgang bei einem differenzierten Nachdenken über Mimesis. Ja man muss sagen, die Mimesis ist ihr Zentralbegriff. Deshalb werde ich nicht das ganze Werk systematisch aufgreifen können, denn das wäre eine andere Arbeit, aber ich werde es in Teilen und primär in Abgrenzung zu Adornos Ansatz einflechten. Das macht insofern Sinn, als die posthum veröffentliche, z. T. fragmentarische „Ästhetische Theorie“ Adornos unter anderem offenbar durch den Versuch gekennzeichnet ist, diese Vorlage (Lukács) „überbieten“ zu wollen. Weshalb man sich meines Erachtens angesichts der Vielfalt der Ansätze zunächst auf Adorno konzentrieren darf, liegt vor allem daran, dass er eine dialektische Spaltung der Hauptthese des dialektischen Materialismus (wie er u. a. bei Lukács aber auch bei Aristoteles geführt wird) vollzogen hat: der Annahme einer objektiven Ausgangsrealität jeder Darstellung. Seither steht spätestens, sobald man nach Darstellung fragt, Realität selber auf dem Spiel. 29 Habermas diskutiert den Mimesisbegriff kritischer Theorie in der Theorie des kommunikativen Handelns einmal marginal im Sinne seiner Analyse zur Vorstellung verschiedener Kritikoptionen an der instrumentellen Vernunft (vgl. Habermas 1995: 522526). 30 Axel Honneth scheint mir insofern in dieser Tendenz Habermas mit dem aus Hegels Ethik geborgten Anerkennungsverständnis zu folgen.
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diese relationale Angleichungslogik zwischen distinkten Spalten stellt sich verdeckt wieder Zusammenhang zwischen Phänomenbereichen her, nur ist jetzt ein Zusammenhang angesprochen der eine überraschende Ordnung stiftet. Das folgt einer Art Switch-Logik. Um diese unterirdische Ordnung sichtbar zu machen, restituiert Adorno verschiedene und in anderen Zusammenhängen bereits vorhandene (nicht nur) relationale Denkmodelle und kombiniert diese in freier Variation für (aus der Innenperspektive heutiger Universität heraus) getrennte Diskurse, wovon unzählige Essays über Kunstwerke, Ethik, Erkenntnistheorie, Mythologie und soziologischer Kulturkritik (Erziehung, Gesellschaft) Zeugnis geben. Diese Spielart allzu streng an etablierte Kategorien zurückzubinden, führt in die Irre und an dem spaltverbindenden Anliegen Adornos gänzlich vorbei, was Früchtl demonstriert: „The concept of mimesis, therefore, has primary significance for these (three) discourses (anthropology, drive theory, epistemology)” (Früchtl 1998: 23f.; vgl. Früchtl 1986). Seine kategoriale Herangehensweise interpretiert die jeweilige Relationsbeziehung der Mimesis nicht explizit, sondern sucht – ohne etwa die zentrale Verhältnischarakterisierung der Ähnlichkeit genauer zu beachten – einen etablierten Standort auf. Hinter diesen Beobachtungen kann also das Anliegen Adornos stehen etwas zu verstecken, aber auch die Einsicht dass der Zauber eines wirksamen Textes eben nur genau so lange dauert, bis man die Konstruktion des Verhältnishaften in ihm entzaubert hat. Ein Nolimetangere! Das Versteckspiel soll nun wiederum eine Warnung sein, es nicht mit denselben Mitteln wie alle anderen zu versuchen, sondern eher den Mut zu haben Adornos Verstecken tatsächlich auf die Schliche zu kommen. Kinder zählen meist bis zwanzig, bis sie anfangen die Versteckten zu suchen − zumindest die ehrlichen. Am Ende ihrer Zählung schreien sie laut „zwanzig“ und sprechen sich vielleicht dadurch das Quantum Mut zu das nötig ist, um auch etwas zu finden. Um die Verstecke der mimetischen Modelle Adornos zu suchen, unterscheide ich für die Suche zunächst ganz simpel drei Stockwerke. Diese Stockwerke bilden eine erste grobe und provisorische Ordnung über die vertikal wie horizontal sich verzweigende komplexe Mimesistheorie Adornos. Zunächst nehme ich die Machart dieser Stockwerke unter die Lupe, also weshalb die Stockwerke in relationaler Hinsicht voneinander unterschieden werden. Anschließend möchte ich die aufgefundenen mimetischen Modelle und ihre Mechanismen genauer bestimmen, welche auf diesen Etagen (an- und aus-) gespielt werden. Wenn man sie bei ihrem Namen ruft, hat man sie vielleicht schon gefunden. Immerhin: Dann wären sie dran! Der dritte Stock: Relation als identisch und nichtidentisch. Kunstwerke stellen (seit der Poetik des Aristoteles) eine spezifische Relation her zwischen Dar-
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stellung und Dargestelltem. Diese Relation ließe sich nach Adorno durch eine (wiederum mimetische) Reflexionsarbeit der identischen und nichtidentischen 31 Bezugsmomente im Kunstwerk selber charakterisieren. Das Verhältnis der Kunstwirklichkeit und Wirklichkeit „oszilliert“ ständig zwischen identisch und nichtidentisch (vgl. Adorno 1973: 173). In dem Nichtgreifbaren dieser Oszillation liege das Moment eines unstillbaren Spannungszustandes. In ihm zeigt sich dialektisch betrachtet die Idee des Freiheitsgedankens. Beides – Spannung und Freiheit in ihrer Konstellation – bewirke die Annahme über die Beteiligung eines aus der „vergesellschafteten Gesellschaft“ offenbar vollkommen entschwundenen Naturmoments (ebd.: 499). Diesem paradoxalen Gleichklang aus Differenz und Identität entstehe dem Werk aus der Relation zu einem Bereich des vollkommen Andersartigen. Diese Relation wiederum bewirke eine besondere Affinität des Kunstwerks zu dem Blick des betrachtenden Subjekts. Durch diese hergestellte Variante einer Intersubjektivität öffnete sich eine Perspektive, die hinüberführte zu einer frei von blind agierenden Herrschaftsformen konzipierten sozialen Wirklichkeit (ebd. 1969: 86, 204). Der zweite Stock: Relation als „nur“ identisch. Die in der Nachfolge der europäischen Aufklärung befindliche Rationalität der Neuzeit ist gekennzeichnet durch den Aufbau eines eindeutigen (und darin gleichsam verdächtig an den Satz der Identität von Parmenides erinnernden) Relationsverhältnisses zwischen Verstand (Begriff) und Sache (Gegenstand), zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit. Dafür wird die Erscheinungsseite des Gegenstandes als die Sache selbst identifiziert und mittels mathematischer, das heißt nach Kant und Schopenhauer konstruktiver Logik stillgestellt. „Sie [die Aufklärung, W. H.] setzt Denken und Mathematik in eins“ (Horkheimer/Adorno 2001 [1944]: 31). Damit dominierten in der Gesellschaft kategoriale Anschauungsformen der Wahrnehmung das relationale Verhältnis von Gegenstand und Bewusstsein. Diese reduktionistisch vorgehende, verstellte und als sekundäre Mimesis beschriebene Logik wirke (durch „Versagung“) handlungspraktisch destruktiv zurück auf die äußere und innere Bezugswelt des Menschen. Diese verschobene „Logik“ greift auf unterschiedlichen Ebenen das Erkenntnissubjekt an: Die für gewöhnlich zwischen Verstand und Wahrnehmung angesiedelte innere Geschmackswelt beziehungsweise Urteilkraft der Menschen nivelliere die Kulturindustrie, den Bezug zur äußeren Welt verregelte der globalisierte Warenfetischismus beziehungsweise das mit ihm einhergehende identische Verhältnisquantum des Geldes. Auf der Ebene der
31 „Kunstwerke synthetisieren unvereinbare, unidentische, aneinander sich reibende Momente; sie wahrhaft suchen die Identität des Identischen und des Nichtidentischen […].“ (Adorno 1973: 263).
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Selbstreflexion der Vernunft kann Mimesis insofern nicht nur das Mahnmal des Identischen bezeugen, sondern als ein kritischer Begriff darin eben negativ, gleichzeitig auch auf die Verlustseite der relationalen Schwingungsverhältnisse hinweisen. Konkret auf das relationale und damit freiheitstheoretische Schwingungsverhältnis, welches im Grunde jede Erkenntniskritik umgibt: Kant verortet es beispielsweise in der dialektischen Spannungsfigur zwischen Natur und Freiheit, Hegel entfaltet es zwischen Idee und Erscheinung, Husserl zwischen Eidos und Phainomenon, Heidegger zwischen Sein und Seiendem und Derrida zwischen (gesprochenem) Wort und Schrift. Solcherlei Denkfiguren, die im Einzelnen nicht unkritisch betrachtet werden dürfen, gingen mit einem universalen Positivismus mitsamt seiner fortschreitenden Auflösung an Reflexivität selber verlustig: mit der Folge eines universalen Pythagoreertums inklusive dessen Nachahmungszwang an die Zahl. Dieser identische Denkstil hat sich durch Marcuse das Adjektiv „eindimensional“ eingetragen und verläuft formal ähnlich wie die magische Mimesis in einer strengen Schließungslogik. Exkurs: Zur Kritikmöglichkeit einer unreinen mimetischen Rationalität Mimesis wird sowohl als soziologischer als auch erkenntnistheoretischer Kritik32 begriff zur Symptombeschreibung für ein einseitiges Verhältnis verwendet: Im
32 Die Kritikfiguren der kritischen Theorie sind recht simpel gestrickt, wenn man ihre zentralen Begründungen ansieht. Alle Verhältnisse des Menschen folgten einem Zwang zum alten Ideal des Parmenides, dem Zwang zur Identität mit ihrem Charakterzug des „ist dasselbe“: Dieser Zwang wirkt zwischen allen von Kant aufgerufenen Bezugsmöglichkeiten des Menschen und sorgte so für permanente Ausschlüsse: (1) zwischen Außenwelt und Anschauung, (2) zwischen Anschauung und Verstand und (3) zwischen Verstand und Verstand (= früherer Begriff der Spekulation oder Denken über Denken, heute Wissenschaftstheorie oder Metatheorie). Die Ursache für (1) sei die ökonomische Organisation der in der Marxschen Kapitalanalyse sichtbar gewordenen Tauschabstraktion der Ware. Waren werden zu fetischisierten Objekten und bringen eine Geisterwelt des Scheins hervor. Alles bildet mit allem ein Äquivalent über den Preis. Diese abstrakte Scheinwelt hat die Funktion einer neuen Religion und dient der Stillstellung der Massen. Die Ursache von (2) sei die in der „Dialektik der Aufklärung“ eingeführte Kulturindustrie, die durch die Steuerung der Massenmedien und über die technische Entfremdung dieser Medien, das Kantische „freie Spiel“ zwischen Einbildungskraft und Verstand (= Geschmacksbildung) zu einem unfreien macht und den Zuschauer in eine rezeptive und gleichgültig-konformistische Haltung versetze. Die Urteilsfähigkeit des
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Sinne eines sich Angleichens oder tierischer Mimikry an das Falsche, was man bei Adorno äquivok mit Gesellschaft lesen darf. So habe sich das Denken gerade wissenschaftlicher aber auch alltagspraktischer Couleur an das formallogisch Mathematische angeglichen. Bereits Edmund Husserl hatte, was häufig übersehen wird, 1936 in der Krisisarbeit den Begriff der Lebenswelt zuerst im Verhältnis zu einer Kritik an den so genannten objektiven Wissenschaften eingeführt. Jene wird darin als „vergessenes Sinnesfundament“ der Naturwissenschaft begründet (vgl. Husserl 1962 [1936]: 48). Der Nachweis dieser These erfolgt bei Husserl historisch. Seit Galilei werde die Anwendung mathematisch-physikalische Gesetze auf Erfahrung praktiziert, vornehmlich in Form der künstlichen Produktion von Erfahrung durch das Experiment (ebd. 1993 [1934-37]: 188). Diese Daten werden als „Sinnesdaten“ den wirklichen Daten und Gegebenheiten gleichgesetzt, was Husserl mit Verweis auf die Differenz in diesem Verhältnis selbst ablehnt. Statt einen Unterschied „[…] gründlich in seiner Eigenheit zu beschreiben […]“, werden „mathematisch-physikalische“ Sinneseindrücke auf die Gegenstände projiziert und damit blieben ursprünglichere „Füllen von Gestal-
kulturindustriell hergestellten Subjekts (das es so nicht gibt) zielt auf eine nichtunterscheiden-könnende Form der Gleichgültigkeit. Seit Simmel schließt diese Gleichgültigkeit Liebesfähigkeit aus. Die Ursache von (3) sei der durch den Blick auf den Leichnam inkorporierte methodische Positivismus der europäischen Wissenschaften, der zu einem ständigen Wiederholungszwang zur Vergewisserung der (eben nicht vorhandenen) Identität führe. Diese Identitätsprimate, die auch das Denken über das Denken dominiere, brächten jegliche Sache unter die Ordnung des halbierten Denkens. Alle drei Identitätszwänge sorgten für eine Relationssetzung der menschlichen Bezüge ans Tote und trügen das Motiv der Stillstellung, indem die möglichen zu den wirklichen Relationsbezügen keine Differenz mehr bildeten. Die historische Realisierung dieses Identitätszwangs ließe sich auf Basis der kritischen Theorie in sämtlichen sozialen Systemen wie beispielsweise das des realen Sozialismus, Faschismus und des Kapitalismus nachverfolgen Alle drei Zwänge bekommen auch ihre Notausgänge zugesprochen: Der Notausgang aus (1) wäre kollektiv die Enteignung der Betriebe und individuell das Schenken als Basis eines gerechten Tauschs, der Notausgang zu (2) wären Kunstwerke als Geschmacksbildner zu ermöglichen statt die Alleinherrschaft in Massenspeisungen einer Event- und Kulturindustrie zu überlassen und der Notausgang (3) wäre eine kritische, auf Freiheitsdenken basierende Wissenschaft und Philosophie.
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ten“ der Erkenntnis verborgen (ebd. 1962 [1936]: 27f.). Wodurch das „pragmatisierte Denken […] die Beziehung auf Wahrheit“ schließlich ganz einbüße (Horkheimer/Adorno 2001 [1944]: 3). Vor „solcher Mimesis“ wäre auch im Sinne kritischer Theorie Reißaus zu nehmen. Denken, das von dem Moment der Mimesis als eines paradoxalen Zugleichs zwischen Sein und Sein-können sich ablöse, sei nichts als „falsche Rationalität“ im Sinne Post-Baconscher Naturbeherrschung, die zunächst einmal eine Objektbeherrschung ist. Indessen sei dieses Streben nach Fest-Stellung die normale Ich-Reaktion aus dem „beschädigten Leben“. Soziogenetisch betrachtet scheint damit dasjenige Element angesprochen, welches durch die aristotelische Definition des animal rationale als das animal (= das Lebewesen) überhaupt abgrenzbar wird und schließlich peu à peu vergessen wird, da der differentia spezifica und damit dem Rationalen allein noch Geltung zugesprochen wird. Weil diese rationalistische These und ihr praktizierter Ausschluss nicht stimmt, sieht sie sich unter einem ständigen Wiederholungszwang beziehungsweise in einer Wiederholungs-Struktur. Man muss sich seiner Nicht-Tierheit immer wieder neu versichern. Der Mensch wird also nicht wie durch die Anthropotechnik Demokrits im Hinblick auf seine Tierheit34, sondern
33 „In unserer Lebensnot - so hören wir - hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach dem Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“ (Husserl 1962 [1936]: 4). Husserl beschreibt hier neben der existenziellen Not noch das Problem des Verwertungszusammenhangs von Erkenntnis. Die Anklage stammt aus der Zeit als sich der Großteil der Wissenschaft als technische Vernunft dem Deutschen Nationalsozialismus ganz in Dienst stellte und Husserl bereits die Lehrbefugnis in Freiburg entzogen worden war. Es wäre jedoch verfehlt sie nur als zeitspezifische Diagnose zu deuten, da sie zugleich auch als Gegenwartsdiagnose der Moderne insgesamt zu sehen ist. 34 Demokrit aus Abdera entfaltete in seinen Denksprüchen als erster Gedanken zum Ursprung der Zivilisation auf Basis eines spezifischen Nachahmungsverständnisses (vgl. Popper 2001: 376). „Die Menschen sind in den wichtigsten Dingen Schüler der Tiere geworden: Der Spinne im Weben und Stopfen, der Schwalbe im Hausbau und der Singvögel, des Schwans und der Nachtigall im Gesang und zwar auf dem Wege der Nachahmung“ (Diels 1957: 107). In dieser konstruierten Beziehungsstruktur zwischen gesellschaftlichen Arbeits- beziehungsweise Beschäftigungsformen und Tierreich erkennt man auf der Suche nach dem Mimesisverständnis, wie dieses mit der Erziehungsmetapher „Schüler" verbunden wird. Die Entwicklung zentraler Tätigkeitsvoll-
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aversiv dazu im Hinblick auf seinen Verstand gleichsam definitorisch anthropo35 logisiert. In diesem über Jahrtausende inszenierten Rationalisierungsprozess des Anthropos komme es zu einer Verdrängung des Vorbegrifflichen, Vorsprachlichen, Vorgeistigen, ja des Vorweltlichen. Denn Geist hat darin ratio rationalis, sobald er aus einem anderen, zum Beispiel magischen Weltzusammenhang entsprungen ist, die Spuren der in diesem Residuum obwaltenden Mimesisprozesse versucht zu verwischen – allerdings ohne dass ihm das vollends gelungen wäre. Nach Adorno wäre der Mensch als ein Tier bestimmbar, das sich mithilfe des Verstands selber austrickst, indem es sich fiktional definiert. Vernünftig wäre hingegen, würde der Mensch diese relationalen Bezüge in Form 36 „mimetischer Rationalität“ (vgl. Früchtl 1986: S. 241-257) (wieder) mitzuden-
züge zur Selbsterhaltung verdanke der Mensch einer Anthropotechnik, einem abschauenden Lernen am Tiermodell. Der Begriff stammt von Peter Sloterdijk (2001: 152) und wurde als Bezähmungs- und Behausungstechnik im Rahmen eines neuen ethischen Diskurses über die Möglichkeiten der biologischen Selbstversuche des Menschen eingeführt. Anthropotechnik wird in dem Sinne einer technischen (operativen, handwerklichen) Aneignung des Menschen durch sich selber verstanden. 35 Anthropologisch wird der Mensch also grundsätzlich in Tradition des Deutschen Idealismus Kants bestimmt: Als Wesen das sich mittels List in Form eines begrifflichen Verstandes in die Lage versetzt hat, ein Stück Welt aus dem Kuchenganzen herauszuschneiden, um – in der Erweiterungsperspektive der kritischen Theorie gesprochen – das Gefühl zu erheischen, dieses ausgeschnittene Stückchen beherrschen zu können, indem es sie seziert hat und die Protokolle seiner Sezierung verstanden hat. Trotz dieses globalisierten Erfolgsmodells bleibt der Anthropos unterdessen dank dieser Sezierungstätigkeit oder dank seiner Protokolltechnik in den Grenzen seines Rationalitätskonzeptes, des Kuchenstücks befangen, eingeschlossen und abgeschlossen. Die List, entsprungen aus einem Hang zur Hybris, trickst den Anthropos selbst aus, wie Odysseus vor den Sirenen so den Konzertbesucher vor dem „Bolero“ und sorgt für eine Abschließung des Bewusstseins von der eigenen Lust (und dem gleichzeitig dazu entstehenden Schmerz) des Kuchengenießens. Diese Abschließbewegung führt eine erkenntniskritische Verdrängungsbewegung mit sich, die Verdrängung vom Subjekt auf das Objekt. Gegenwärtig werden wir in der ökonomiekritischen Kollektivdiagnose Adornos von einer eindimensionalen Rationalität, einer Ratio, die sich nur im Hinblick auf sich selber ausweist, nicht auf ihr anderes, die ganze Torte (vgl. dazu Wimmer 1988). 36 Früchtl macht eben die in dem letzten Kapitel seiner klarsichtigen Dissertation stark, freilich in derart distanzierter Weise dass man sich fragt, ob diese sprachliche Form nicht den Inhalt wegpustet.
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ken erlernen. Nach Adornos Manier ließe sich sagen, seiner mutmaßlichen Abkunft und Zukunft versuchen im Denken eingedenk zu bleiben (vgl. Adorno 1966: 25). Kritische Erkenntnistheorie wäre hiernach diejenige, die auf dieses Residuum, das sich denkerisch weder einfach wiederherstellen noch ursprungsphilosophisch wirklich positiv dingfest machen ließe, bezogen bliebe und folglich die enorme „Anstrengung“ auf sich nehme, „[…] über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ (ebd.). Erkenntnistheorie und Logik zeige sich gegenwärtig zu allererst abhängig von der mimetischen Rettungsleistung autonomer Kunstwerke. „Kunst ist Zuflucht des mimetischen Verhaltens. In ihr stellt das Subjekt, auf wechselnden Stufen seiner Autonomie, sich zu seinem Anderen, davon getrennt und doch nicht durchaus getrennt. Ihre Absage an die magischen Praktiken, ihre Ahnen, involviert Teilhabe an Rationalität. Daß sie, ein Mimetisches, inmitten von Rationalität möglich ist und ihrer Mittel sich bedient, reagiert auf die schlechte Irrationalität der rationalen Welt als einer verwalteten. Denn der Zweck aller Rationalität, des Inbegriffs der naturbeherrschenden Mittel, wäre, was nicht wiederum Mittel ist, ein Nichtrationales also. Eben diese Irrationalität versteckt und verleugnet die kapitalistische Gesellschaft, und dagegen repräsentiert Kunst Wahrheit im doppelten Verstande; in dem, daß sie das von Rationalität verschüttete Bild ihres Zwecks festhält, und indem sie das Bestehende seiner Irrationalität: ihres Widersinns überführt.“ (Ebd. 1973: 86)
Im Kunstwerk – so Adorno – ist Wahrheit und Unwahrheit ineinander geschweißt wie bei eineiigen Zwillingen die Körper und Organe. Das macht es für eine Aisthesis quasi unmöglich aus einem Kunstwerk ein eindeutiges Urteil oder „die Moral von der Geschicht“ abzuleiten. „So gewiß Kunstwerke eine Weise von Erkenntnis sind, so gewiß enträt ihr Erkenntnischarakter insgesamt des Urteilscharakters“ (ebd. 1952: 507). Der erste Stock: Relation als Emanzipation einer magischen Mimesis. Dies Relationsverhältnis der Mimesis wird mitunter und insbesondere in der „Dialektik der Aufklärung“ in seiner kulturhistorischen Entwicklungsdynamik unter37 sucht und als epochaler Verhältnisbegriff reflektiert. Hier wäre also grundsätzlich die Perspektive aus der Grundgestalt des Demokrit zu Hause. Unter dieser Perspektive einer historischen Transformation wandeln sich die relationalen Ge-
37 Zum Beispiel als Fortschritt in der Naturbeherrschung fällt in der Theorie der Halbbildung die Formulierung „[…] einst durch Magie, schließlich durch strenge szientifische Objektivität […].“ (Adorno 1975: 69).
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füge deutlich, was Adorno veranlasst der Mimesis näher bestimmende Adjektive oder Substantive beizuordnen („Organisation von Mimesis“, „verdrängte“). Auf jeder Kulturstufe gäbe es spezifische Formen der Mimesis (magische Formen, kultische Formen, bürgerliche Kunstformen, alltägliche und öffentliche Formen). Alle Mimesisverständnisse resultieren, wie Lukács mit Frazer zeigte, selbst aus einem (dem Ursprungsdenken abgeschworenen) magischen Grund heraus. Im kritischen Theoriezusammenhang kann die Grundgestalt der magischen Mimesis selbst nicht frei von Herrschaftsgefügen gedacht werden. Mit Blick auf das Relationsverhältnis werden eben nicht nur die Freiheitsverhältnisse, sondern eben durch die spezifischen Normierungen des Blicks gleichsam auch die Herrschafts38 formen einer Epoche sichtbar. Andererseits formuliert jede Emanzipation durch ihren Prozess hindurch das Angebot einer Aufhebungsfigur. In diesem Prozess gelinge es vorherigen Figuren und Mechanismen in die Form der nächsten einzuziehen. Die Geschichtsteleologie Adornos geht prinzipiell davon aus, dass die Aufhebungsbedingungen der Relationsbezüge der einen Epoche zu Konstituenten der nächsten werden können. Gerade das total überwunden ge39 glaubte wirke adhäsiv nach. Eine Emanzipation der Emanzipation trüge durch die historischen Transformationen als Rest das Moment eines Unerfüllten. Diesen drei in relationaler Hinsicht unterschiedlichen Stockwerken werde ich nun systematischer im Oeuvre Adornos nachgehen. Insbesondere geht es mir darum die darin vorliegenden mimetischen Logiken genauer zu erfassen, um sie im Anschluss für die Analyse des pflegerischen Tableaus zur Verfügung zu haben. Dazu werde ich vor allem auf die konstruktiven Elemente, auf die theoretischen Hilfsgestelle achtgeben, also genau auf diejenigen Anteile die Adorno selber seit
38 Freud (1999 [1912/13]) interpretierte dies Phänomen, worauf das Kapitel 2.2.1 über Die magische Mimesis hinwies, bereits als einen Prozess zunehmender Rationalisierung oder „Entmythologisierung“ (Max Weber), angefangen bei dem animistischen über das religiöse bis hin zum wissenschaftlichen Zeitalter (vgl. dazu auch Cassirer 1958, 2003). 39 So hafte beispielsweise dem Bildungsbegriff unweigerlich auch etwas von den ihn legitimierenden Ungleichheitsverhältnissen und Machtverhältnissen an. Genauso wie ihm eine Kompetenz unterstellt werde, die er nicht hat: mit Adorno (1975: 71) hätte man zu erkennen, „[…] daß Bildung allein die vernünftige Gesellschaft nicht garantiert.“ Demnach gebe es eine „[…] von Anbeginn trügende Hoffnung, jene (Bildung, W. H.) könne von sich aus den Menschen geben, was die Realität ihnen versagt. Der Traum der Bildung, Freiheit vom Diktat der Mittel […] wird verfälscht zur Apologie der Welt, die nach jenem Diktat eingerichtet ist.“ – nach der Theorie der Halbbildung.
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einem Schönberg-Vortrag von 1963 mit dem Terminus „geheimes Modell“ be40 legt hat (vgl. Adorno 1978: 460). 5.4.4 Mimesisdenken aus dem „Geist“ des Ästhetischen Ästhetische Theorie bezeichnet im Oeuvre Adornos nicht nur die Fragment gebliebene, mitsamt der Paralipomena unterdessen über 500 Suhrkampseiten fassende Ästhetische Theorie. Zumindest zur Hälfte findet sie sich auch in etlichen Vorträgen, Essays über Literatur, Kunst und Kunstbetrieb bis hin zu den komplexen musiktheoretischen Monographien über Wagner, Mahler und Berg. Mimesisumschreibungen, offene und versteckte Anklänge, Metaphern kommen in diesen Schriften vielerorts vor, zum Beispiel in Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand wie der Analyse einer Mahlersinfonie oder in der Reflexion über eine Figur aus einer Wagneroper. Ein ganz eigenes Problemfeld schaffen die über Adornos schriftstellerischer Kompositionstechnik vermittelten Mimesisverständnisse oder -implikationen. Es ist ein Irrtum, wenn man wie Früchtl (1986) meint, man könne nur auf die Positivität des Textes Bezug nehmen um zu erfahren, was Adornos Mimesisdenken im Kern leitet. Die formale Anlage bestimmter Themen, welche unmerklich hinein gelangen und genauso unmerklich verschwinden, die nicht an bestimmte Signalwörter oder feste Termini gebunden werden, ist eine Grundcharakteristik seines Mimesisdenkens wie man es in allen seinen Texten finden kann − auch die Nietzsches und letztlich Wagners Musikdramen abgelauschten Verfahren, Gefühle als Subtext bewusst mit zu evozieren und für die Bewertung bestimmter Gegenstände gezielt einzusetzen (Wut/Entrüstung auf den Nazi oder den Szientisten; Liebe in Bezug auf Dorf, Waldeinsamkeit oder autonome Musik; Nostalgie auf gewesenes hohes Denken, Entsetzen/Schock gegenüber unbegreiflich und sinnlos zugefügtem Leid; Lachen bei gutem Witz, entlarvtem Ernst und erheischtem Pathos bei Gegnern). Erst durch diese eingesetzte Konstruktionsvernunft gegenüber dem sonst unbewussten Textgrund bekommen sein Begriffsverständnis und seine Art des Philosophierens das besondere Ambiente, welches eine besondere Differenz zum Denkgegenstand durch die Setzung seines Gegenteils aufbaut, „[…] eine Haltung äußerster Nähe – Mikrologie“ (Sloterdijk 1983:19). Das gelingt ihm, wie ich zunächst zu zeigen versuche, durch die Komposition eines inneren versteckten motivischen Zusammenhangs.
40 In der Ästhetischen Theorie bezeichnet Adorno – die Ausgangsthese Auerbachs generalisierend – die Geschichte als das „geheime Modell“ der Kunstwerke überhaupt (Adorno 1973: 276).
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5.4.5 Das geheime Modell „Proust“: Der sich schließende Kreis Die entscheidende Bedeutungsebene dieser geheimen Mimesisrelation, von einer sich selber undurchschaubaren Ähnlichkeitsrelation im an Husserl geschulten 41 Denken zwischen Noesis und Noema, erfasst man erst voll, wenn man auf das Modell blickt dem es entlehnt ist: Marcel Proust. Die Widmung und der Inhalt des ersten Aphorismus der „Minima Moralia“ sprechen für die prägende hohe Stellung Prousts für das Denken Adornos. Aus der Interpretationsperspektive seines Freundes und Kollegen Walter Benjamin, in einem literaturtheoretischen Essay Benjamins, heißt es unmittelbar nachdem zuvor erläutert wurde, dass Träume die Brücke zum Chef d’Œvre „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ seien (vgl. Szondi 1963: 241-256): „Da ist Prousts frenetisches Studium, sein passionierter Kultus der Ähnlichkeit. Nicht da, wo er sie in den Werken, Physiognomien oder Redeweisen, immer bestürzend, unvermutet aufdeckt, lässt sie die wahren Zeichen ihrer Herrschaft erkennen. Die Ähnlichkeit des Einen mit dem Andern, mit dem wir rechnen, die im Wachen uns beschäftigt, umspielt nur die tiefere der Traumwelt, in der, was vorgeht, nie identisch, sondern ähnlich: sich selber undurchschaubar ähnlich, auftaucht.“ (Benjamin 1977e: 313 f. [Hervorh. d. Verf.])
Von dieser wahren Idée fixe, dem nie versiegenden, nie identischen und gleichsam sich selber unerkannt Ähnlichen das traumgleich Verbindungen aufbaut, knüpft das Mimesis-Denken Adornos („Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nicht verstehen“) in der sprachlichen Repräsentation unmittelbar an: Mimesis aus dem Geist des Unbewussten ist vielleicht der beste Name für das versteckt und im geheimen wirksame Modell der wie aus einem Wiederholungstraume immer wieder auftauchenden Ähnlichkeitsverhältnisse in den Texten Adornos. Sie zeigt sich unter anderem auch daran, dass man – primär aber wohl in den Minima Moralia, der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie – nahezu beliebig irgendwo mit dem Lesen beginnen kann und dennoch scheinbar unterirdisch immer mit dem Kern der Sache verbunden wird. Der Komponist und Adornoschüler Dieter Schnebel hat sich seinerseits schon früh aufgemacht, um die Kompositionsstruktur von Texten wie „Schneewittchen“ und „Die Wunde Heine“ zu untersuchen. Schnebel schreibt:
41 Die Schrift heißt „Zur Metakritik der Erkenntnistheorie“. Darin schont Adorno (1990) diese Husserlschen Kategorien nicht.
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„Wie der ganze Text, ist auch sein Schlusssatz als Prozeß zu verstehen, dessen Sinn sich nicht in den einzelnen Momenten, sondern aus der Bewegung des Ganzen erschließt. In solcher Komposition von Inhalt und Sprachprozeß werden die Gedanken als die Vorgänge genommen, die sie sind, auch als eben solche zusammengefügt. Indem ihnen dermaßen freier Lauf gelassen ist, drängen sie weiter, schießen über sich hinaus. Da sich also ihre geheimen Tendenzen realisieren, werden oft weitreichende Beziehungen hergestellt. Das verschafft den Adornoschen Texten einen untergründigen Zusammenhang.“ (Schnebel 1971: 132 [Hervorh. d. Verf.])
Dieser, wie man nun sagen kann Proustsche Anlagecharakter, der wie Prousts Roman ohne einen allwissenden Erzähler auskommt, eine philosophische Variante der mémoire involonture in der Satztechnik Adornos, wird bei einer systematisch erschlossenen wissenschaftlichen Vorgehensweise rasch zerstört (vgl. Adorno 1973: 204f.). Allein dadurch dass bei einer wissenschaftlich-systematischen Vorgehensweise normalerweise nicht die Erinnerungsrezeption von Texten mitbedacht wird. Darüber hinaus sollte man sich vergegenwärtigen, dass Adorno auch Musik komponiert hat. Es wäre wohl einigermaßen naiv anzunehmen, dass Adorno in seinem Schreibstil nicht Gemische aus sinfonischen Themenexpositionen, Durchführungen und Reprisen oder Figuren aus der Reihentechnik immer wieder im Medium Sprache zu modulieren wusste. Insbesondere wenn man berücksichtigt, dass sich Adorno intensiv mit der zweiten Wiener Schule auseinander ge42 setzt hat und bei Alban Berg jahrelang Kompositionsunterricht hatte. Derlei mimetische Modelle bedürften für ihre schlüssige Freilegung einer ganz eigenen, komparativisch und sprachkritisch angelegten Arbeit. Solch eine Arbeit könnte vielleicht zeigen, dass die formale Anlage in Adornos Texten und das in ihnen wirksame Mimesisverständnis der Name für die Suche nach der durch Gesellschaft verdrängten, unaussprechlichen Seite der äußeren wie inneren Natur und zugleich das durch diese Verdrängungsbeziehung hindurch sichtbar gewordene principium individuationis durch ähnliche Devianz wäre. Ihrem Wirkungsprinzip und ihrem Gestus nach folgte diese Mimesislogik Adornos vielleicht am ehesten der Metapher Flaschenpost, die sich im offenen Ozean (der Sprache) treibend etwas anderem (dem Unbewussten) überlässt, wobei sie sich versucht abgeschlossen zu halten.
42 Adorno (1968: 39) über Alban Bergs Unterricht: „Den Lehrer zu schildern, wird mir schwer, weil, was ich von ihm empfing, so sehr mein musikalisches Dasein durchdrang, dass ich selbst heute, nach vierzig Jahren, noch keine rechte Distanz gewonnen habe.“.
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Für diesen Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass in den Texten Adornos ein innerer „Beziehungszauber“ vorherrscht, indem sie wie ein Stein im See 43 konzentrische Kreise bilden. Dieses Modell habe ich hier als das Modell Proust bezeichnet. Wenn man die Kompositionstechniken aus dem Zusammenhang der Wiener Schule etwas herab dimmt, ist es das Hauptsächliche. Es soll das sprachliche Kompositionsmodell und damit die Hintergrundfläche von Adornos Texten benennen. Diese Idee des sich schließenden Kreises charakterisiert den Wunsch nach einer einschließenden Form. Das Ideal von Adornos Kompositionstechnik wären eben zentrische Kreisstrukturen, die wiederum um ein Epizentrum kreisen. Texte sollen ein wenig gebaut sein wie eine Art Sonnensystem im Kleinen: „In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen“ (ebd. 2003a: 79). Allerdings scheint dieses Sonnensystem ohne aufwendige Ellipsenform auszukommen. Darin wäre das Ideal Adornos also anders als die Form seiner Texte. Bis hierhin reicht der Versuch die unbewusste, dem lesenden Bewusstsein verdeckte Seite des Relationsdenkens Adornos genauer zu beschreiben: Als das was zugleich mit da ist, unterschwellig wirksam, ohne das Bewusstsein willentlich zu passieren, im Tiefengrund. Sein Modell ist das des sich schließenden 44 Kreises.
43 Die Formulierung „Beziehungszauber“ ist das mimetische Modell das Thomas Mann (1983 [1937]: 144) in seinem berühmten Aufsatz über Wagners „Richard Wagner und ,Der Ring des Nibelungen‘“ lokalisierte. Dahinter steckt formal die Leitmotivtechnik Wagners, welche die bisherigen Formkonzeptionen der Oper (Opera seria, Nummernoper, Große französische Oper) durch das Musikdrama ablöste und die Charaktere der Oper über diese Zuordnung von musikalischen Motiven einer differenzierteren Psychostruktur überführte. Allerdings arbeitet Wagner im Ring (bis auf Siegfried) noch nicht so sehr mit der Variation oder Entwicklung dieser Motive, wie er es erst bei den Meistersingern und die Opernkomponisten vornehmlich nach ihm tun werden (Puccini, Debussy, Strauss). Dieser Beziehungszauber charakterisiert die unbewusste, durch die Musik aber bereits gewusste Strukturhälfte der Oper, die verstanden wird als Relationswerk zwischen Wort, Ton und Bild. Diese versteckte Seite der Musik markiert also in gefühlsrationaler oder wirkungsästhetischer Hinsicht die entscheidende Ebene in dieser für Adorno in gewisser Weise idealtypischen Kunstgattung (Adornos Mutter war Opernsängerin). 44 Ich möchte einen Nebengedanken dazu aussprechen: Weil Peter Sloterdijk (2002a, b) derjenige ist, der diese Formkomponente im deutschsprachigen Diskurs inhaltlich weiter aufgegriffen hat, wie beispielsweise durch die Figur des Anthropos als Sphären- und Blasenbildner, bedeutet seine Theorie eine konsequente im Sinne der schlüs-
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Exkurs: Mimesis als Emanzipation aus der magischen Mimesis Bereits in der Zeit der frühen „Dialektik der Aufklärung“ kann man dieses Strukturelement der sich schließenden Kreisform erneut wieder finden. Darin wird der Nachweis der Transformation der magischen Mimesis in das Kunstwerk am Beispiel des Zaubers angetreten. In dem Aufsatz „Begriff der Aufklärung“ von 1944 kann man beispielsweise auf einige zentrale Hinweise über den historischen Transformationsprozess der magischen Mimesis stoßen. „Magie ist blutige Unwahrheit, aber in ihr wird Herrschaft noch nicht dadurch verleugnet, daß sie sich, in die reine Wahrheit transformiert, der ihr verfallenen Welt zugrundelegt.“ (Horkheimer/Adorno 2001 [1944]: 15). In gewissem Sinn erscheint die Magie für Horkheimer und Adorno als eine ehrliche Mimesis, eine die die Macht des Versteckspiels noch nicht gelernt hat: „Es liegt im Sinn des Kunstwerks, dem ästhetischen Schein, das zu sein, wozu in jenem Zauber des Primitiven das neue, schreckliche Geschehnis wurde: Erscheinung des Ganzen im Besonderen.“ (Ebd.: 25). Im Kunstwerk vollziehe sich die Doppelstruktur von Mana, als eine übernatürliche, mit Welsch gesprochen einer transversalen Kraft, welche gleichzeitig „von unten nach oben“ und „von oben nach unten wirksam“ sei: „Das macht seine Aura aus“ (ebd.). Dieser etwas sprühende Gedanke einer Transformation der Magie in die Welt der Kunst verdankt sich ohne eine gesellschaftstheoretische Einfassung einem Nebengedanken Freuds in „Totem und Tabu“: „Nur auf einem Gebiet ist auch in unserer Kultur die ‚Allmacht des Gedankens‘ erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, dass ein von Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung ähnliches macht, und dass dieses Spielen – dank der künstlerischen Illusion – Affektwirkungen hervorruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer.“ (Freud 1999 [1912/13]: 111)
Was meint Zauberei? Freud erkennt einen Unterschied zur bedeutenderen Magie und legt Zauberei fest als „[…] im wesentlichen die Kunst, die Geister zu beeinflussen, indem man sie behandelt wie unter gleichen Bedingungen die Menschen, also indem man beschwichtigt, versöhnt, sich geneigt macht, sie einschüchtert, ihrer Macht beraubt, sie seinem Willen unterwirft, durch dieselben Mittel, die man für lebende Menschen wirksam gefunden hat“ (ebd.: 97). Diese, der magischen Phase abgelauschten anthropomorphen Handlungsstrukturen, er-
sigen Weiterentwicklung der älteren kritischen Theorie Adornos. Inwiefern auch sie eine Imitatiomechanik weiter fortschreibt, wäre genauer zu befragen.
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möglichen durch ihren „So-tun-als-ob–Charakter“ einen im Sinne der kritischen Autoren produktiven Glauben. Es geht hier zusammengefasst eben nicht „nur“ um die magischen Elemente, sondern auch um die Integration bestimmter Mimesispraxen in den Zweck dieser Darstellungspraxis. Zauber integriere freiere Darstellungsformen und erweitere die magische Praxis, ohne es ihr gleich zu tun. Horkheimer und Adorno verweisen mit dem darstellungstheoretischen Bezug zur Zauberei auf die konkrete Praxis des Medizinmannes, wo Gedanke und Realität nicht wie im wissenschaftlichen Arbeiten durch Distanzierung des Gegenstandes erfolge, sondern der Medizinmann verfolge seine Zwecke mittels frei gespielten Darstellungsformen im Kontext einer von den Autoren zwar kritisch, aber keineswegs pejorativ betrachteten „Welt der Magie“.45 Diese wäre wiederum so viel wie der nicht ursprungsphilosophisch gedachte Ursprung der Zivilisation (vgl. Horkheimer/Adorno 2001 [1944]: 17). Versucht man an dieser Stelle innezuhalten um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wer oder was in der „restlos“ aufgeklärten Welt zum einzig denkbaren Träger dieser Zaubereistruktur werden könnte, landet man bei einer abgeschlossen Struktur in der Ästhetischen Theorie, für die Adorno den Namen Monade vorschlägt: „Das Kunstwerk hat es noch mit der Zauberei gemeinsam, einen eigenen, in sich abgeschlossenen Bereich zu setzen, der dem Zusammenhang profanen Daseins entrückt ist“ (ebd.: 25). Die Magie ist in die Weise der Versuchsordnung transformiert, in die Trennung von Bühne und Zuschauerraum, von Betrachtungsobjekt und Betrachtungssubjekt. Kulturhistorisch habe sie sich abstrahiert in die Aufrechterhaltung einer Schwellen-Instanz zwischen Kunstwerk und Blick. Durch diese Schwelle entsteht gleichsam ein ästhetisches Gesetz: Es lautet aus Sicht der Monade „Nolimetangere“. Man kann in fast jeder Ausstellung neben den Bildern lesen: „Bitte nicht berühren!“ Es gilt für alle Kunstformen, vor allem auch für die darstellenden Künste und lautet in der ästhetischen Terminologie Adornos exakt „mimetisches Tabu“. Das Berührungstabu ist nicht das einzige mimetische Tabu des Kunstwerks, es ist jedoch ebenso für die Darstellungsebene eines pflegerischen Tableaus als relevant anzusehen. Denn jedes pflegerische Tableau hat auch ein solches Tabu, primär vielleicht zu einem Blick von außen, denn nicht jeder darf sehen was im pflegerischen Tableau geschieht oder darin eingreifen. Gleichsam bildet es sich paradoxerweise aber auf Basis
45 Die ursprüngliche medikale Kultur, die also an Figuren wie den Zauberer gekoppelt ist, kann ausdrücklich als Verbindung Pflege und Medizin vorgestellt werden. Diese Bereiche waren noch getrennt. Demnach sind Zauberer quasi auf der Grenze zwischen Pfleger und Mediziner.
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von (zum Teil grenzüberschreitenden) Berührungen und entsprechenden Berührungsverboten aus, denn auch die pflegerische Berührung unterliegt Tabus. Abschließend möchte ich danach fragen, wie der Zusammenhang im magischen Denken aus dieser Perspektive des kritischen Diskurses heraus gedacht wird. Primär soll das dazu dienen, einige Verweisungszusammenhänge dieses Diskurses offen zu legen. Der Zusammenhang innerhalb der Magie wird anschaulich von Ernst Cassirer beschrieben: „Nach der Grundvorstellung der ‚sympathischen‘ Magie besteht eine durchgängige Verknüpfung, ein echter Kausalnexus zwischen allem, was durch räumliche Nachbarschaft oder durch seine Verbundenheit zu demselben dinglichen Ganzen noch so äußerlich als ‚zusammengehörig‘ bezeichnet ist. Reste einer Speise, von der man gegessen, Knochen verzehrter Tiere stehen zu lassen, bringt schwere Gefahren mit sich: denn alles, was diesen Überresten durch feindliche zauberische Einflüsse widerfährt, widerfährt gleichzeitig auch der Speise im Körper und dem, der von ihr gegessen hat. Die abgeschnittenen Haare eines Menschen, seine Nägel oder Exkremente müssen durch Eingraben verborgen oder durch Feuer vernichtet werden, damit sie nicht in die Hände eines feindlichen Zauberers fallen.“ (Cassirer 1958: 68f.)
Im mythischen Bewusstsein bekommt das sympathische Denken bereits den Anhauch von negativer Utopie, der sich im ästhetischen Diskurs Adornos fortsetzen wird:
„Alles anschaulich-Wirkliche ist wie von einem Zauberhauch umwittert, ist in einem magischen Dunstkreis eingehüllt […]. Alles ist mit allem durch unsichtbare Fäden verknüpft; und diese Verknüpfung, diese universelle ‚Sympathie‘ behält selbst einen schwebenden, einen seltsam unpersönlichen Charakter […].“ (Ebd. 1972: 84f.)
Dieses mimetische Sympatheiaverständnis korrespondiert durch seine Einhüllung mit dem geheimen Modell „Proust“, welches zu Beginn angesprochen wurde. Hier stößt man auf den kulturhistorischen Grund seiner Einführung. Von Adorno selbst wird seine Idealvorstellung einmal fast gleichlautend am Ende eines Aphorismus, von Sur l’eau beschrieben. Erneut soll sich ein Kreis schließen und zwar indem etwas wieder in seinen Ursprung einmünden soll: „Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedliche in den Himmel schauen, ‚sein sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung‘, könnte an Stelle von
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Prozeß, Tun, Erfüllung treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden.“ (Adorno 2003a: 179 [Hervorh. d. Verf.])
5.4.6 Der sich schließende Kreis in der Ästhetik: Die Monade Diese Struktur des sich schließenden Kreises und ihre Wiederholung für das öffentliche Terrain: die Darstellungsebene des Kunstwerks − wo wird man sich darüber zu vergewissern haben? Die posthum veröffentlichte Fragmentschrift der Ästhetischen Theorie markiert genuin den Ort dieser Vergewisserung. Das ist der Ort, wo sowohl die ästhetische Anlageform der Mimesis offen reflektiert wird als auch die angewandten Mimesismodelle unter wahrheitsdiskursiven Gesichtspunkten zur Sprache kommen. Schlägt man sie auf finden sich vier, nimmt man das Adjektiv mimetisch oder die eingedeutschte Nachahmung mit dazu, sind es genau genommen sogar sechs Unterkapitelüberschriften, welche Mimesis offensichtlich als ihr Thema führen. Diese Stellen befinden sich in den inhaltlichästhetisch argumentierenden Kapiteln. Das ist eine irisierende Bezeichnung mit der ich Kapitel anspreche, die die besondere Ausstattung der Darstellungsebene des Kunstwerks bei Adorno begründen. Liest man diese Überschriften so fällt auf, dass Mimesis wörtlich nicht für sich allein steht. Sie bekommt begriffliche Begleiter an die Seite. Im Grunde wird Mimesis aber durch andere begriffliche Sichtbarmacher hindurch erschlossen. Daraus kann man eine These generieren: Die Verhältnisfigur der Mimesis erzwingt offenbar auf der Ebene ihrer methodischen Annäherung ein ihr ähnliches Instrumentarium. Für Adorno liegen ihre wesentlichen begrifflichen Sichtbarmacher zusammengefasst in bestimmten Kategorien, anhand derer eine Relation wie Mimesis sichtbarer werden kann. Diese ästhetischen Kategorien sind: Rationalität, Ausdruck, das Alberne und der Tod beziehungsweise Versöhnung. Die Bereiche der Aisthesis und der Poiesis sind für die Ästhetische Theorie Adornos nachrangig, vorrangig ist das Objekt: das Werk oder seine Darstellungsebene. Dieser von dort her entworfenen Logik werde ich folgen und mit der Analyse der Monadenunterstellung beginnen, um anhand dieser Annahmen einige zentrale Implikationen der Mimesistheorie Adornos offen zu legen. Diese Darstellungsebene des Kunstwerks wird in der Ästhetischen Theorie unter ein Paradigma der Unsichtbarkeit gestellt und beschreibt sich für Adorno (1973: 268) als ein grundsätzlich unzugänglicher Raum, als eine Monade. Dieser Raum der mehr eine Zone als ein Platz ist, sei überdies ebenso „fensterlos“ wie Leibniz (2000 [1714]: 407) das in Form einer einfachen Klarheit sagte: „Die Monaden haben keine Fenster“. Monaden negieren also keineswegs Öffnungen, sie verfügen bloß über keine. Diese Metapher impliziert aber schon bei Leibniz noch etwas mehr: „[…] da man in sie nichts übertragen noch sich irgendeine innere
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Bewegung in ihr vorstellen kann […]“ (ebd.). Offenbar scheint Leibniz eine Begründung dafür zu liefern, um eine bestimmte Sorte der Öffnung oder die Vorstellung einer planlosen und somit möglicherweise allzu spontan anflutenden Übertragung, wie sie beispielsweise bei einem pflegerischen Tableau angenommen werden kann, zu vereiteln. Leibniz hat offenbar etwas ziemlich konkretes vor Augen: eine unständische wie unanständige Eindringung in dem Sinn, wie sie aus der Spontaneität von Spaziergängen einer „species sensibilis“ erwachsen können. Dieser willentliche oder spontane Zutritt durch den anderen wird mit dem philosophischen Machtanspruch eines a priori untersagt, denn es gibt selbstverständlich auch keine Türen in einer Monade: „So kann weder Substanz noch Akzidenz von außen in eine Monade eingehen“ (ebd.). Vielleicht birgt die Offenheit der Kontaktflächen zwischen innen und außen der Monade eine gewisse Gefahr und ihre Uneinsehbarkeit soll einer gewaltsamen Form der Einmischung vorbeugen. Für die Begründung seines ästhetisch konstituierten Raums arbeitet Adorno also erst einmal mit einem mehr als merkwürdigen Modell für die Begründung einer Darstellungsebene. Es handelt sich scheinbar um eines, dem eine Angst, Abwehr und Offensivität eingeschrieben sind. Was restituiert diese Metapher der Monade aus kulturgeschichtlicher Perspektive? Ursprünglich stammt sie unabweisbar aus jener Zeit als das rationalistische Zeitalter (Französisch: „Les principes de la philosophie ou la monadologie“), wo sich also die Systemphilosophien (Descartes, Spinoza und Leibniz) und davon ungeschmälert die barocke Kunst auf ihrem Höhepunkt befanden. Dieses barocke wie synthetische Denkmodell bedeutet in der Lesart Adornos die Erklärung des Weltprinzips. Kulturgeschichtlich betrachtet seien bürgerliche Subjektkonstitution und Monade in- und miteinander verwickelt: die Monade gehe dem bürgerlichen Zeitalter denkerisch voraus. Doch bleibe sie dem bürgerlichen Zeitalter invers über die Kunstwerke und seinen Subjekten eingeschrieben. Hinter der Monade steht also ein absoluter Machtanspruch, der hinsichtlich seiner Funktion in der Ästhetischen Theorie sicher problematisch zu betrachten ist. Die Monade zeigt sich als das Principium individuationis der Darstellungsebene in seiner Ästhetischen Theorie. Warum scheint die Restitution eines derart problematischen Begriffs für Adornos Kunstwerkbegründung so wichtig? Und was ist das überhaupt für Adorno, ein Kunstwerk? Das Kunstwerk „ist, was die rationalistische Metaphysik auf ihrer Höhe als Weltprinzip proklamierte, Monade: Kraftzentrum und Ding in eins.“ (Adorno 1973: 268). Ein Kunstwerk ist für Adorno also auch erst einmal so eine konvulsive Mischung, ein Aggregat von Disparatem. Monaden sind also nicht primär auf ihre Vermögen zu trennen oder zu spalten reduzierbar. Adorno liest sie unter dem dialektischen Projekt, krasse Gegensätze (nicht) zu vereinen. Was finden sich da für Spannungen, die
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die Monadenmetapher im Kunstwerk verbinden könnte? Paradoxe Kategorien wie Energeia und Materie, Bewegung und Substanz. Adornos geschichtsphilosophische Begründung dazu läuft mehr behauptend 46 denn klar. Vor allem läuft sie aber nicht ohne den Spuk eines Geistes: „Als Moment eines übergreifenden Zusammenhangs des Geistes einer Epoche, verflochten mit Geschichte und Gesellschaft, reichen die Kunstwerke über ihr Monadisches hinaus, ohne daß sie Fenster hätten“ (ebd.). Wie soll also dieser übergreifende Zusammenhang, den Leibniz noch mit dem Verweis auf die prästabilierte Harmonie im Leib-Seele-Verhältnis garantieren konnte, gewährleistet werden? Adornos übergreifender Zusammenhang wiederum hängt an der These, wonach sich der Geist einer Epoche in das Werk materialisiert. Diese These basiert auf einer Annahme über das, was Geist ist. Geist und Schein Ich wähle zunächst diesen Weg über die Geistimplikationen der Monade und suche darauf nach weiteren Spuren. Dieser Weg geht über das „Geist“-Verständnis bei Adorno. Was wäre das? Geist bekommt bei ihm eine prominente Rolle zugesprochen. In seiner Ästhetik wird er ihm für den Aufbau von Schein konstitutiv, ja dieser sei dessen Ur-Sache. Dazu möchte ich etwas in Erinnerung rufen. Es betrifft diese große Verschiebung die Adorno leistet, indem er die alte abendländische Scheinkritik an der Kunst nicht mehr auf der Ebene einer Sinnlichkeit, der Phainomena, verankert oder austrägt. Denn: „Diese Ansicht vom Schein steht im Bann der traditionellen, Platonisch-Aristotelischen vom Schein der Sinnenwelt hier, dem Wesen, oder dem reinen Geist, als dem wahrhaften Sein dort“ (Adorno 1973: 165). Adorno fegt aus: Platon, Aristoteles und im Grunde auch Kant mit ihrer unterstellten Zweiteilung einer sichtbaren und unsichtbaren Sphäre werden vom Tisch gewischt. Das lange Modell aus konstruierter Binarität und die eigene
46 Vgl. Derrida 1995b: 86: Jacques Derrida hat in dieser auf zwei Vorträgen von 1993 basierenden Analyse „Marx’ Gespenster“ auf die Zusammenkunft des Spukelements, der Gespenster und der Beschwörung (= Verschwörung) sowie ihren Zusammenhang mit dem Geistbegriff deutlich hingewiesen – auf Basis einer Relektüre Hamlets und Marxens literarischem Aufriss in dem gemeinsam mit Engels verfassten Kommunistischen Manifest. Die Existenzaussage und das darin zugesprochene Sein bieten Derrida bereits Anlass, etwas inne zu halten. Der Geist, auch mit seinen ungewohnten Attributen (Spuk, Unsichtbarkeit, Schwur) ist schon da, im Sein selbst: „Sein und vor allem im Infinitiv, wenn man darunter präsent versteht – das ist kein Wort von Geist, sondern das ist das Wort des Geistes, das ist sein erster Wort-Leib.“.
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Position als neue Verbindung zu implementieren, funktioniert in der Philosophie offenbar nicht mehr. Die Lesart seiner Mimesistheorie scheint mir nun wiederum nur über diesen Punkt verstehbar: es ist der archimedische Punkt im Denken Adornos. Das bedeutet er ist sowohl für seine Ästhetische Theorie wie für seine Erkenntnistheorie in der Negativen Dialektik zentral: das Verhältnis von Geist und Schein. Der Schein entstünde nach Adorno aus der prekären Einschreibungssituation in der es zu einer Separation in der Rationalität komme, dem Riss im Ursprung als UrSprung: Der „Geist“ setzt (causa sui) etwas Geistiges in ein Differenzverhältnis zu sich, soweit war schon Hegel in seiner Phänomenologie, als sein anderes und baut darin gleichsam ein repräsentational organisiertes Verhältnis, eines der Darstellung, zu sich auf. Was heißt hier Verhältnis und „zu sich“? Die Tat-Sache des Geistes bringe durch einen Spaltungsvorgang zwischen Bewusstsein und Begriff das Scheinmoment mit ins Spiel. Mit der Folge, dass Begriffe dem Bewusstsein fortan als selbstständige Entitäten erscheinen, ja wie aus einer Außenwelt kommend. Der historische Umschlagpunkt für diese Transformation finde sich in philosophischer Retrospektion im Nominalismus (für Hegel im Stoizismus) des Hochmittelalters. Seither würden geistige Prozesse als selbstständige Entitäten in den Rang von wahren Vorstellungen gehoben. Im „Original“ liest sich dieser Nachweis bei Adorno keineswegs einfach: „Dem Geist selber, als einem von seinem Anderen Getrennten, ihm gegenüber sich Verselbständigenden und in solchem Fürsichsein Ungreifbaren, eignet ein Scheinhaftes“ (ebd.). Das Fundamentum dieses Vorgangs, bei dem ein Gehirn auf seine Idee hereinfalle und einen Gedanken als etwas strikt anderes zu sehen lerne, ist für Adorno philosophisch eben nicht adäquat zu beschreiben, ohne die ästhetische Kategorie des Scheins. Dasjenige Element, was in diese Verhältnisformation zum (aus sich selbst heraus entworfenen) anderen hereinscheinen kann, ist nicht allein als die „Lunte der Aletheia“ (Sloterdijk) beziehungsweise ein „Wahrheitsmoment“ beschreibbar. Die Trennung die der Geist vollzieht, behält immer eine rückseitige Einschreibung die er selber verdrängt, weil er begrifflich und sortiert spricht. Eine, die die Erinnerung oder Spur der Trennung als eine ursprüngliche Verbindung zu sich behält. Gerade dieses ursprüngliche Selbstverhältnis ist in seiner Offenheit verstellt, solange die Außenwelt als separiert „erscheint“. Diesem von seinem Grund gespaltenen „Geist“ muss sie eben durch seinen Kontext einer begrifflich eindeutigen Sphäre als Separée vorkommen. Das führt Adorno auf die Bahn einer psychoanalytischen Argumentation, also darauf den Mechanismus einer notwendigen Projektion im Weltverhältnis anzunehmen. Dieses Weltverhältnis folge einem aus seiner Konstitution heraus bedingten Ur-Sprung, einem Riss oder Spalt.
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Grob schafft Kunst das umgekehrte der Begriffsbildung auf der Darstellungsebene ihrer Werke zu zeigen und zwar paradoxerweise, indem sie es so nicht zeigt. Dass die Trennung und der Riss zu sich selbst nicht total, nicht absolut sind, sprich, dass etwas durch sie hindurch haften bleibt was, wenn auch versteckt, Verbindung hält: Mimesis und ihre Geheimsprache. Der Ur-Sprung hat bei Adorno ein rückseitiges Seil dabei, behält eine Nabelschnur. Dieser Vorgang der Verräumlichung eines inneren Geschehens unterscheidet sich durch eine Art bewusster Projektion gegenüber diesem innerlichen Spaltungsvorgang und setzt sich in eine deutliche (nicht totale) Differenz zur notwendigen, das heißt für Adorno gesellschaftlich in einer recht sehbehindert beschriebenen Weise „blind“ agierenden und der Subjektkonstitution selbst eingeschriebenen Projektion. Diese Dialektik bleibt festzuhalten: Erkenntnistheorie stelle sich diesem Differenzverhältnis im Bewusstsein jedoch unter deutlich anderen Gesichtspunkten als Kunst. Jene folge einer Bewegung der Verinnerlichung und Kunst einer Tendenz zur Veräußerlichung. Beide verbindet also eine Tendenz zur Verräumlichung. Ich bleibe einen Moment bei dieser zweiten Bewegungsrichtung. Die Richtungsaufnahme in der Kunst sich verräumlicht, beschriebe sich für Adorno nun als ein vollkommen offenes Experimentierfeld. Insofern als auf diesem etwas versucht wird, ohne dass man wissen kann, ob das Vorhaben sich in diesem Raum überhaupt zeigen wird. In anderen Worten: „Kunst macht auf die Scheinhaftigkeit des Geistes als eines Wesens sui generis die Probe“ (ebd.). Kunst probiert also den Geist und das wird in einem doppelten und durchaus etwas irisierenden Sinn lesbar von versuchen und ausprobieren. Wie soll denn Kunst dieser Konstruktion nach ihre Probe organisieren? „Indem sie den Anspruch des Geistes, Seiendes zu sein, beim Wort nimmt und ihn als Seiendes vor Augen stellt“ (ebd.). Dieses Experiment der Kunst besteht für Adorno konkret in einer paradoxen Leistung: Etwas, was der geistigen Repräsentation ihren Schein einer Autonomie spendet, soll Kunst empirisch einem Blick öffnen. Adorno setzt dabei voraus, dass Kunst und ihr Impetus zu einer Verräumlichung aus einem Moment des Zeitlichen, eines Zuhörens, resultieren. Das beim Wort nehmen durch ein genaues Zuhören, was Zeit erfordert, gibt den Anlass für die Probe ab. Aus einer Probe (Experiment), einer Art Acting out eines geistigen Repräsentationsmechanismus, bei dem bekanntlich wiederum die Begriffe unlängst ein Spiel begonnen haben: nämlich dieses, sich von ihrer bewussten wie unbewussten Grundmasse zu emanzipieren. Dieses Differenzmoment übertrügen nun Kunstwerke plastisch in ihre Gebilde. Erst diese Außeninszenierung einer offensichtlich aus gewissen Gründen misslungenen Form geistiger Repräsentation beziehungsweise deren räumlicher Wiederholung „[…] nötigt sie
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zum Schein“ (ebd.) und eben nicht, dass die Kunstwerke, wie es vorklassische Kunsttheorien wahrhaben wollten, etwas Sinnliches nachahmen wollen. Soweit reicht der Versuch den Zusammenhang von Geist und Schein in der Ästhetischen Theorie zu durchdringen. Insofern ist das seit Platons Ideenlehre mit dem schnöden Index „Schein“ tätowierte Kunstwerk für Adorno kein Schein im sinnlichen, sondern im geistigen, das heißt im nichtsinnlichen Sinn: eine sinnliche Versuchsanordnung, die mit dem (bewussten) Mittel des Scheins operiert, um einen geistigen (insofern wahrheitsmöglichen) Schein zu versuchen zu probieren. Durch diesen Versuch hindurch scheint eine Wahrheitsmöglichkeit genauso auch in diese künstlerischen Erzeugnisse. Gleichsam eröffnet diese ästhetisch erzeugte Differenz auch die nachträgliche, im Sinne einer Zeitlichkeit eingeräumte Möglichkeit einer neuen Sinngebung. Zum Nichtidentischen Das Verhältnis zwischen Bewusstsein/Unbewusstsein und der geistigen Sphäre des Begriffs ist nicht identisch und für Adorno haften an jedem Begriff Momente ehemaliger (oder gegenwärtiger) psychischer Besetzungsenergien (vgl. Freud 47 1999 [1925]: 15). Das heißt jeder Begriff abstrahiert demnach ein in Bewegung befindliches Terrain des menschlichen Bewusstseins und schneidet sich daraus frei. Diese psychische Chirurgie, die Adorno mit Hegel vielleicht immer noch Selbstbewegung nennen würde, sorgt in rationalistischer Perspektive für eine nahe liegende Plausibilität oder Stimmigkeit des begrifflichen Sprachgebrauchs. Andererseits ist das für Adorno noch nicht alles. Aus diesem Eingriff bliebe am Begriff selber etwas haften, nämlich etwas von dem, wovon er sich entfremdet hat bei Hegel, wovon er geboren wurde. Dieses adhäsive Element, seien es Schmerzäußerungen durch den Eingriff, seien es Wünsche oder Begehrungen, seien es lustige oder andere Stimmungen, blieben jedem Begriff eingeschrieben als sein Nichtidentisches, als seine verdeckte und unzugängliche Sphäre. Jeder Begriff ist in seiner Differenz zum Bewusstsein also auch ein Darsteller eines anderen, wovon das Bewusstsein, das sich in der begrifflichen Sphäre Gewissheit verschaffen möchte, in der Regel nichts weiß. Für die Kunstherstellung wie für die Logik des pflegerischen Tableaus ist dieser Gedankengang mehr als interessant: Die Verbindungsoption (Mimesis) der Kunstwerke impliziert für Adorno immer eine Beteiligung der nichtidenti-
47 Freud hat zum Beispiel in der „Verneinung“ den Versuch unternommen, die Urteilsfähigkeit und überhaupt das philosophische Urteil aus dem „Spiel der primären Triebregungen“ heraus zu begründen.
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schen Sphäre, weil jene ja gerade auf dieses nicht-aufgehende Verhältnis die Probe machen. Kunst glaubt etwas nicht oder stellt etwas unter Verdacht. Das heißt ihr Misstrauen oder ihre Skepsis dem gegenüber, dass der innere Repräsentationsmechanismus aufgeht, sorgt gerade für die Provokation dieses Nichtidentischen in das (gelungene) Kunstwerk. Adorno war also kein Philosoph der dem „Geist“ traut, sondern der in der Form des Geistaufbaus der begrifflichen Konstruktion zugleich eine Sphäre ausmacht, die sich dieser offiziell am Werk be48 findlichen Rationalität konsequent entzieht. Das (Mit-)Bedenken dieses Moments hat nun wiederum für Adorno – da liegt für mich übrigens die zwingenste différance zu Derrida – immer etwas zutiefst Nähebedürftiges, Regressives oder eben Mimetisches. Das Geistige, welches sich in die Verräumlichung durch das Kunstwerk materialisiert, kann bei Adorno nicht ohne ein unausgesprochenes Begehren gedacht werden. Gemeint ist das, was diesen Wunsch nach einer Veräußerlichung in Angriff nimmt. Also was diesen Mut zur Aggression hat. Gleichzeitig wird dieses Begehren aber von Adorno in eine Unmöglichkeit gebannt. Es darf einerseits nämlich keineswegs beliebig ansetzen, sondern muss dieser geistigen Scheinerzeugung gegenüber reflexiv sein. Andererseits hat es mit dem Bewusstsein einer Aporie zu leben. Denn es ist klar, dass die geistige Differenz (Bewusstsein/Begriff) sich vermutlich so nicht künstlerisch aufzeigen lässt. Auch kann dieses in Angriff nehmen die Einheit einer Monade nicht apriorisch in ihren Handlungen voraussetzen: „Nichts aber garantiert dem Kunstwerk vorweg, […] dass es überhaupt sich schließe, das seine membra disiecta irgend zusammenfinden.“ (Adorno 1973: 165) Diese Monade bleibt immer wieder offen. Gleichzeitig wirke die Oberfläche eines Kunstwerks aber erst einmal geschlossen. „Innen“ nur seien diese als heterogen anzunehmen: „Jedes Kunstwerk, und präsentierte es sich als eines vollkommener Harmonie, ist in sich ein Problemzusammenhang.“ (Ebd.: 532) Adorno hat nicht den Begriff einer Differenz entfaltet, wie man ihn von Heidegger, Levinas, Derrida oder Deleuze her kennen mag, sondern nur die Aussicht einer definiten Differenz, also eine die den Schein einer Differenz erzeugt, indem sie sich selbst austrickst und das Produkt ihrer Herkunft durchstreicht. Jede Differenz ist für Adorno bereits Blendung und Überspielung dessen, dem es sich verdanke. Dennoch bleiben für ihn Begriffe im Zeitalter eines ideologisch total gelenkten Bewusstseins interessant, weil an ihnen etwas haften geblieben sei, was das normale Bewusstsein dank seiner Entfremdungsgeschichte nicht
48 Dazu kann man auch das Projekt der Negativen Dialektik (Adorno 1966) hinzuziehen. Vgl. dazu die pflegedidaktische Arbeit von Greb (2003).
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mehr habe. Diese adhäsive Seite sei den Begriffen selber nicht klar, aber für den Prozess der Kunstwerkentstehung, welcher auf die Konstruktionstauglichkeit der Repräsentationslogik die Probe mache, seien diese Momente umso relevanter. An Kunstwerken klebe demnach etwas zutiefst Außerlogisches und das erzeugt eine Lücke. 5.4.7 Die Monade öffnen Adornos ästhetische Konzeption führt einen strengen materialistischen, keineswegs aber einen kohärenten Werkbegriff. Überhaupt mag man ihm vorhalten dieser Terminus sei ad quem, nicht a quo gewählt, sei also in Hinblick auf den 49 Stand der Kunstentwicklung bereits obsolet. Das wäre ein auf eine gewisse Faktizität sich berufen könnendes Gegenargument, welches allerdings übersieht, dass das Werkverständnis von Adorno in gewissem Sinn auch eine Neuheit für den ästhetischen Diskurs bedeutet. Primär bedeutet dieses Werkverständnis ein Novum hinsichtlich der theoretischen Ausstattung der Darstellungsebene. Nicht allein weil Adorno diese als ein Tableau der Spannung kreiert, dem Spaltungsprozesse, Konfliktstrukturen und Widersprüche inhärent sind, sondern da er von einer prinzipiellen Unzugänglichkeit dieser Darstellungsebene ausgeht. Ja, dass die Monade nur die vormalige Struktur des sich schließenden Kreises imaginiert, dass sie aber de facto nicht so sei: „Kein Kunstwerk hat ungeschmälerte Einheit […].“ (Adorno 1973: 160) Die Aufdeckung dieser scheinbar einheitlichen, de facto aber gespaltenen Darstellungssphäre bedarf für den Aufschluss weiterer Analysen. Diese Verborgenheit, wie die Unterstellung einer Spaltung, hat meines Erachtens vornehmlich mit dem unterstellten Verhältnis der Selbstreferenzialität der Darstellungsebene zu tun. Ich gehe davon aus, dass die Mimesistheorie seiner Ästhetik nur über das Durchschauen der Verhältnisformationen dieser (als unzugänglich attribuierten) Monade möglich werden kann − also indem man die Monade öffnet. Was wird man darin erblicken? Ich habe behauptet, Adornos Ästhetische Theorie versteht den Inhalt der Werke als ein experimentell angelegtes Visualisierungsunternehmen geistiger Darstellungsprozesse. Das war für Adorno nicht immer so: Mimesis sei aus kulturgenetischer Sicht vor langer Zeit an ihrer ersten Unmöglichkeit gescheitert und untergegangen. Mehr noch, Mimesis habe sich
49 Man denke beispielsweise an John Cage und seine Auseinandersetzung mit Pierre Boulez über die Rolle des Zufalls und des Zufälligen in der Musik (Boulez/Cage 1997). Cage bereitet in den frühen 1950er Jahren eine größere Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Werkdenken vor (vgl. dazu Schäfer: 1997: 9-30).
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rein praktisch betrachtet als Quatsch herausgestellt. Jedenfalls wenn man sie an ihrem unterstellten Anspruch bemisst, etwas genauso nachzumachen. Natürlich haben sich auch Künstler immer wieder an diesem alten Anspruch der magischen Mimesis der Identität von Pose und Wirkung versucht. Dann hat man bloß einzusehen und nüchtern einzugestehen, dass dasjenige „was sich gleichmacht, nicht gleich wird“, ergo: „dass der Eingriff durch Mimesis misslang“ (ebd.: 169). Jeder Zuschauer sieht bei diesen nachahmungsparadigmatischen Erzeugnissen eine offensichtliche Differenz zu den geistigen Darstellungen dieser Prozesse. Das ist aber nicht das Problem, das Problem ist, dass das Werk diese Differenz noch nicht angefangen hat zu denken: das heißt seine Relationslogik in sich zu 50 spiegeln. Die Kunstwerke existieren für Adorno erst seit es ihre Erkenntnis über eine Differenz gibt und seit das Kunstwerk die Fähigkeit erlangt hat, sie integral in sich aufzunehmen. Seither erst könne man den Begriff des Kunstwerks unterstellen. Seit es das Kunstwerk in dieser Integralität einer Differenz gibt, gibt es vice versa auch einen dadurch erzeugten Ausschluss, ein Tabu: Adorno bezeichnet neben dem Berührungstabu auch das Nachahmungsparadigma als mimetisches Tabu. Es liege schlichtweg darin, die alte Form einer identitätslogisch agieren51 den Nachahmungsmimetik zu meiden, sprich: den Quatsch zu lassen. Kunst kann Wirklichkeit nicht nachahmen, sondern nur darstellen. Die Mimesis des Kunstwerks hat sich für Adorno also mit dem Begriff des Kunstwerks etwas verschoben, ist theoretischer geworden. Mimesis habe sich als Mimesis selber erkannt, ist seither „[…] die zum Bewußtsein ihrer selbst getriebene Mimesis […]“ (ebd.: 384f.). Wo aber hält sie sich nun unter den Bedingungen der Kunstwerke versteckt? 5.4.7.1 Die Negativität der Darstellung in der Monade Der Riss in allen Dingen, der Ur-Sprung im Ganzen, er sei für alle Gegenstände der Welt konstitutiv und bilde damit Ursache für die strenge Selbstverpflichtung Adornos auf dialektisches Denken. Die Art und Weise wie die als Monade bestimmte Darstellungsebene des Kunstwerks auf diesen Riss antworte, mache sie nicht identisch mit den Reaktionsweisen des Subjekts, der Gegenstände oder philosophischer Werke. Das Kunstwerk ermögliche durch die Herstellung einer
50 Vgl. dazu die Analyse Foucaults zu Velázquez’ Bild „Las meninas“ (Die Hoffräulein), mit der er die Kritik der Repräsentation in „Die Ordnung der Dinge“ (1974: 31-45) beginnen lässt. 51 Vgl. Adorno 1973: 159: „Die ästhetischen Bilder stehen unterm Bilderverbot.“.
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selbstbezüglichen Verhältnisform eine Metaebene, die es in einer Transsubjektivität gegenüber diesem Riss in einer Differenz neu aufstelle. Die Monade des Kunstwerks trägt für Adorno somit als ein anderes, genau genommen als negative Darstellung das Moment einer neuartigen, dem Riss antwortenden Verbindungsmöglichkeit heran. Seine lebenslange Suche nach Realisierungsmöglichkeiten für das Reich des Nichtidentischen, endet in der Ästhetischen Theorie in einer Vorstellung über eine Verbindungsfigur. Das Selbstverhältnis der Darstellungssphäre ist für Adorno eine Bedingung der Möglichkeit für die an dieser Stelle erst einmal nur behauptete Transsubjektivität der Monade. Wie wird nun dieses Selbstverhältnis im Kunstwerk überhaupt vorstellbar? Dieser Aufbau einer Darstellungssphäre gelinge ihm über Verzicht, weil das Kunstwerk sich nicht primär (sekundär oder tertiär schon) aus diesem Füranderessein (= Für-den-Betrachter-Sein oder Für-den-Diskurs-Sein) heraus versteht. Primär sei der Aufbau eines Selbstverhältnisses. Insofern kann jedes Kunstwerk als narzisstisch angenommen werden, denn es betrachte sich im Spiegel, aber nicht passiv wie Narziss am Fluss, im Bann seines Bildes verharrend, sondern es betrachte zugleich die Spiegelhaftigkeit in diesem Moment – aktiv, in einer Sprache. Adorno unterstellt dieser unsichtbaren Ebene der Darstellungsebene im Kunstwerk eine Reflexivität seiner Verhältnishaftigkeit, das heißt eine theoretische Ebene seiner Mimesis. Das Kunstwerk vermittle sein Denken über Verhältnisse mit seinem Aufbau von Verhältnissen. Das schaffe ihm seine Differenz nach außen, die Adorno als Selbstbezüglichkeit oder Herstellung eines Selbstverhältnisses bezeichnet. Man kann es als das zentrale Anliegen von Adornos Ästhetik ansehen, den Nachweis dafür zu erbringen wie und warum das Kunstwerk auf seiner Darstellungsebene die Art von Selbstverhältnis eingehen und auch diese ihm eigene Form der Selbstreferenzialität, einer Mimesis zur Mimesis, herstellen kann. So etwa, wenn er folgende Kurzformel für das Selbstverhältnis entwickelt. Es charakterisiere eine „[…] Ähnlichkeit mit sich selbst“ (Adorno 1973: 159). Diese Ähnlichkeit zwischen reflexiver und vollzogener Mimesis trägt Sorge für eine Synthese der durch unterschiedliche Mimesisformen aufgespannten Darstellungsebene des Werks. Es ist wohl zugleich die kürzeste geistesgeschichtliche Definition für ästhetischen Schein. Diese Ähnlichkeit ist bereits eine Antwort auf die Verdoppelung, die Entstehung einer Faltung und, wie ich behaupte, die Entstehung eines Tableaus. In topologischer Hinsicht kann man sagen, dass sich im Werk ein eigener Raum aufspannt, zumindest wenn man das Werk nicht auf den Bilderrahmen begrenzt. Die in dieser Definition angesprochene ästhetische Ebene ist die im Kunstwerk eingeschlossene innere Darstellung. Wie Lyotard (1994:
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170-173) sagen wird, die „negative Darstellung“. Diese Ebene wird von Adorno grundsätzlich eng mit dem Begriff des Kunstwerks assoziiert. Wie es in der Ästhetischen Theorie zu dieser Enge kommt, bedarf einiger weiterer Erläuterungen: Jedes Kunstwerk wird in Analogie zu Kants Prüfkriterium für moralisch gute Handlungen – in einer ästhetischen Variation des kategorischen Imperativs – recht apodiktisch auf diese Mimesis zur Mimesis im Sinne einer Ähnlichkeit im Selbstverhältnis „verpflichtet“. „Jenes Gesetz wird, einoder mehrdeutig, vom Ansatz eines jeglichen Werkes gestiftet; ein jegliches ist, vermöge seiner Konstitution, darauf verpflichtet.“ (Adorno 1973: 159) Die aus dieser Verpflichtung herauslesbare Pflicht bezeugt die Normativität, mit der Adorno die Konstitution des Selbstverhältnisses erstens auf Ähnlichkeit festschreibt und zweitens zu einem ästhetischen Gesetz für jegliches Werk erhebt. Das Werk wird somit das Nolimetangere seiner Ästhetischen Theorie. Exkurs über Ähnlichkeit: Das Modell Benjamins In diesem Exkurs stelle ich die Frage danach, wie die Ähnlichkeit des ästhetischen Gesetzes, das über dem Selbstverhältnis schwebt, eigentlich zu lesen ist. Ich versuche diese Fragestellung unter dem Namen „Modell Benjamin“ zu rekonstruieren, indem ich mich über den Begriff der Ähnlichkeit anhand einiger Schriften Walter Benjamins verständige. Dieser Exkurs wird meines Erachtens helfen, Adornos strenge Verpflichtung der Darstellungsebene des Kunstwerks auf dieses ästhetische Gesetz hin nachzuvollziehen. Benjamin verfasste seinerseits zu Beginn der dreißiger Jahre einen Essay namens „Lehre vom Ähnlichen“, wozu auch eine zweite Fassung unter dem Titel „Über das mimetische Vermögen“ existiert. In dieser Form zeigt die Schrift eine vergleichbare Duplizität, quasi ein Verhältnis zu sich selbst, wie die berühmteren ästhetischen Abhandlungen über die Bedeutung und Auswirkung der Kunstwerkreproduktion (Zer52 trümmerung der „Aura“). Anders als in allen bisherigen Konzeptionen denkt Benjamin Mimesis und ihre Verlängerung auf ein Subjekt – das mimetische Vermögen – darin als Ähnlichkeit. Der Ursprung der Ähnlichkeit wird von Benjamin recht eindeutig bestimmt: Ähnlichkeit sei ein Prinzip aus der Natur (vgl. Benjamin 1977a: 204). Folglich wäre sie auch Teil der menschlichen Natur. Nach Benjamin lebe jedes Kinderspiel von dieser Ähnlichkeit. Anders als zum Beispiel Piaget, der kindliches Ler-
52 Gemeint ist der Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1977f.).
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nen lediglich in Modi der Nachahmung deutet, vermag Benjamin mittels einer dialektischen Ähnlichkeitslogik das Kinderspiel performativ und ich würde sagen darstellungstheoretisch zu erklären. Nehmen wir kurzerhand sein eigenes Beispiel auf, das Kleinkind, das einen Kaufmann spielt: In seinem Anblick werde ein gesellschaftlich adaptiertes Bild eines Kaufmanns sichtbar vor Augen gestellt (Aisthesis). Aber das Kind mache sich (Poiesis) diesem Bilde nur ähnlich, nicht gleich. Dieser Ähnlichkeit zum Kaufmann sei ferner eine spezifische Abwandlung, eine Differenz zum Kaufmann inhärent und zwar – dialektischerweise – je mehr es sich dem gesellschaftlich normalen Kaufmannsbild anzuähneln versteht. Das heißt der vom Kind vollzogene Anschmiegeprozess zum Kaufmannsbild in seiner Poiesis dient dem Aufbau einer Differenzbeziehung für eine Aisthesis, welche wiederum erst die Grundlage dieser hergestellten Ähnlichkeit ist. Das Kind verhält sich mimetisch und bildet damit eine Ähnlichkeit zur reflexiven Mimesis des Betrachters, der zwei Kaufleute zugleich sieht. Das führt ferner zu der Feststellung, dass eine Gleichzeitigkeit vorliegt, eine Gleichzeitigkeit in die sich disparates einmischen kann. Man sieht aus einer imaginären Beobachterperspektive das Kind dem Kaufmann ähnlich und bekommt darin gleichzeitig das Gefühl etwas anderes über diese Einzelwahrnehmung hinausgehendes, nämlich jeden „wirklichen“ Kaufmann, mit zu sehen. Dieses andere der Wahrnehmung des einzelnen Kindes ist aber in dem Spiel selbst offenbar schon anwesend. Das Spiel aus ähnlich und unähnlich öffnet ein eigenes Tableau, dass eines Darstellungsraums. Dieses Paradox eines Spielmoments, seine Verdoppelung, ist in seiner dialektischen Logizität in ganz verschiedene Diskurse eingewandert (vgl. Wetzel 2005: 11-15): Zweiwertigkeit des Einen. Aber nicht so sehr unter dem Aspekt der Problematisierung des Verhältnisaufbaus, sprich in relationaler Hinsicht, als vielmehr hinsichtlich der Verdoppelungslogik im Betrachter. Das verschiebt diese Relationsfigur auf die Seite der Aisthesis und führt zu einer Machtausstattung des Blicks der das Bild erkennt, nicht aber seine topische Verhältnisdisposition. Dieser nach dem Natur-Modus der Ähnlichkeit praktizierte Beziehungsaufbau mag wiederum für Adorno ein entscheidendes Motiv geboten haben, diese
53 Piaget/Inhelder (2000: 64) vereinheitlichen die frühkindliche Entwicklung unter dem Begriff der Nachahmung und sprechen hinsichtlich ihrer fünf Grundmodi von einer „Tatsache“: Die Aneignung sprachlicher Formen „… wird durch die Tatsache vereinfacht, dass die ersten vier der fünf Verhaltensformen auf der Nachahmung beruhen und dass die Sprache selbst, die im Gegensatz zu den anderen vier Verhaltensweisen nicht vom Kind erfunden wird, notwendig in einem Nachahmungskontext erworben wird …“.
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relationale Kategorie für das zentrale Bezugsverhältnis im Kunstwerk anzunehmen. Gesellschaftstheoretische Prämissen (Totaler Verblendungszusammenhang, Warenfetischismus, Verdinglichung, Schlimmer als der Tod) dienen Adorno überdies zur rationalen Begründung, wonach derlei ursprünglichere Verhaltensformen „notwendig“ auf das Gebiet der Kunst beziehungsweise auf die Verhaltensform des Künstlers im Schaffensprozess verlagert seien. In anderen Worten: „Nur“ auf dem Gebiet der Kunst überwintere die Erfahrung aus einer Berliner Kindheit um 1900, das Spiel der Mimesis. 5.4.7.2 Selbstverhältnis in der Struktur der Ähnlichkeit „Ähnlichkeit“ bedeutet demnach in einem darstellenden Spiel die Eigenschaft eine Differenz zu sich selber aufzubauen. Wobei diese Differenz in der Ähnlichkeit keine absolute oder finite sein kann, da sie immer als verbunden mit dem Spiel angenommen wird. Es wäre also nicht der gleiche Differenzbegriff anzusetzen, wie man ihn von Derrida oder Deleuze her annehmen müsste (vgl. Kerber 2000). Diese formale Struktur des Selbstverhältnisses, wie sie jetzt aus der Ähnlichkeitslogik Benjamins heraus entwickelt worden ist, bekommt auch eine neue Inhaltlichkeit. Deren Zugang verläuft über den Begriff „Ausdruck“. Adorno hebt den Ausdruck mit Verweis auf die Vortragsbezeichnung in der Musik streng ab von Ausgedrücktem (vgl. Adorno 1973: 160). Der Ausdruck, um den es beispielsweise in einer konkreten Musik ginge, bestünde in der Differenz zu dem ausgedrückten Erwartungsbild, das sie als „schmerzvoll“, „leidend“, „stürmisch“ oder „fröhlich“ festlegen möchte. Mit dieser Trennung schützt Adorno den Ausdruck vor Lesarten, die darin bereits mit einem Verhältnis zur Außenwelt rechnen und insofern einen Beobachter stillschweigend in die Monade integrieren möchten. Wie entsteht nun der Ausdruck? Die Inhaltlichkeit des Selbstverhältnisses auf der Darstellungsebene erwachse aus ihren spezifischen „Gebilden“. Gemeint sind damit recht konkrete Bestandteile, Materialien, Motive oder Medien, die im Kunstwerk vielfältig angelegt sein können. Zwischen diesen Bestandteilen denkt sich Adorno ein Netz aus Verbindungen, Wechselwirkungen, Relationen oder Bezügen. Solch ein Netz kann folglich unzählige Relationen zueinander beinhalten. So entsteht für Adorno ein unendlicher Möglichkeitsspielraum des Relationalen. Dieser garantiert dem Kunstwerk die Individualität und Singularität des Ausdrucks. Wir haben die Individualität des Ausdruck beispielsweise auf den Bildern im 2. Kapitel gesehen: auf dem pflegerische Tableau entsteht eine Art netzwerkartige Amalgamstruktur, die sich zwischen Gegenständen (Uhr, Spie-
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gel, Blumenstrauß, Bett) und zwischen Personen (Schülerin, Pflegende, zu Pflegende, Blick) aufspannt. Mit der Einsicht in die Individualität des Ausdrucks sind wir meines Erachtens bei dem inhaltlich konstitutiven Moment angelangt, der wiederum in der Figur des ähnlichen Selbstverhältnisses, der Mimesis zur Mimesis, für Antrieb sorgt. 5.4.7.3 Ausdruck und Sprache Der Begriff Ausdruck reflektiert sich für Adorno unbedingt als ein Prozess der Versprachlichung. Der Ausdruck ist als eine Sprache zu denken, mittels derer er auf diesen Ur-Riss bezogen bleibe. Aus dem Grund, weil jeder Ausdruck auf einen ursprungsphilosophisch bestimmten Spalt, Riss beziehungsweise Ur-Sprung antwortet. Dieser Riss ist die Ur-Sache für jedes Kunstwerk und diese Annahme weiterdenkend für jedes Subjekt. „Wodurch aber die daseienden Kunstwerke mehr sind als Dasein, das ist nicht wiederum ein Daseiendes sondern ihre Sprache“ (Adorno 1973: 160). Die Synthese der Monade wird als eine neue, vielleicht darf man mit Derrida sagen als eine grammatologische Sprache begriffen, eine die spricht, aber nicht durch empirisch zugängliche Worte, sondern durch die Relationen die ihre Gebilde zueinander eingehen. „Sprachähnlich wird das Kunstwerk im Werden der Verbindung seiner Elemente, eine Syntax ohne Worte noch in sprachlichen Gebilden. Was diese sagen, ist nicht, was ihre Worte sagen“ (ebd.: 274f.). Diese Sprache entziffert für Adorno quasi das Medium des Ausdrucks. Der Ausdruck bespielt in dieser anderen Sprache oder Sprache des anderen das versteckte Tableau der Kunstwerke und begründet damit auch ihren 54 „Rätselcharakter“. Diese Sprache, die teleologisch als vollkommen frei von Zweckrationalität wie von dem Wunsch nach Darstellung postuliert wird, liefert, weil sie ursprungstheoretisch und damit normativ streng auf einen Ur-Sprung, einen Riss, einen Spalt bezogen gedacht wird, der Monade konkrete darstellende Impulse. Diese Monade in ihrer Reflexivität der Mimesis und der dadurch bewirkten Singularität bekommt unter dem Dach dieser Sprache eine Option zur Synthese. Das Dach dieser Synthesis bleibt allerdings einsturzgefährdet. Insofern bedeutet
54 Vgl. Adorno (1973: 182): „Bedingung des Rätselcharakters der Werke ist weniger ihre Irrationalität als ihre Rationalität; […] Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache. Er äfft clownshaft […]“.
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Adornos Mimesistheorie eine konsequente wie problematische Fortsetzung der Mimesis als Synthese (Aristoteles, Imitatio): „In der intentionslosen Sprache erben die mimetischen Impulse an das Ganze sich fort, welches sie synthesiert“ (ebd.). Die Sprache der Kunstwerke erzeugt also ihre eigene Räumlichkeit. Ein Tableau aus sichtbar und unsichtbar, ein Tableau, das in einer Sprache spricht die hinter dem Ausgedrückten in Form eines Selbstgesprächs auftaucht. Diese Sprachähnlichkeit des Ausdrucks in der die Gebilde des Kunstwerks miteinander kommunizierten mache das Kunstwerk immun, die Monade autonom. In seiner Sprache schütze sich das Kunstwerk davor, einen Zweck außer in der Aussprache der mimetischen Impulse selber zu haben, das heißt außerhalb der Aussprache seiner Relationalität. Diese Sprache wird wiederum in der Figur eines Selbstverhältnisses gedacht. Diese negative Seite des Ausdrucks mache sich in gewissem Sinn für eine Aisthesis unsichtbar: „Durch den Ausdruck sperrt sich Kunst dem Füranderessein […] und spricht an sich: das ist ihr mimetischer Vollzug.“ (Ebd.: 171) Der modus vivendi dieses Darstellungsaufbaus, der ein eigenes Tableau begründet, besteht für Adorno in einer geheimen, anderen und man kann sagen singulären Sprache, was zugleich bedeutet eine Sprache des Geheimnisses, des Anderen, des Singulären − sprich eines Nicht-Identischen. 5.4.8 Charakteristika eines pflegerischen Tableaus aus Sicht der Darstellungstheorie Adornos Pflegehandlungen werden über Adornos Darstellungstheorie grundsätzlich neu und anders lesbar. Die Darstellungsebene des pflegerischen Tableaus unterscheidet sich aber vor allem von der Darstellungsebene eines Kunstwerks durch den Nichtwerkcharakter und durch eine andere Gesetzmäßigkeit wie der, dass das Kunstwerk ein mimetisches Berührungstabu hat und die Pflegehandlungen maßgeblich aus Berührungen entstehen. Das pflegerische Tableau ist ästhetisch schwerer zu fassen und zeigt sich, obgleich artifiziell wiederum schwer vergleichbar mit Kunst. Für diese Arbeit habe ich versucht Theoreme und Modelle Adornos herauszuarbeiten, die ich für die Beschreibung des Pflegerischen im Tableau für wichtig erachte. Im Folgenden diskutiere ich diese Theoreme in Auseinandersetzung mit der Schilderung einer pflegerischen Szene. Eine Studentin hält in ihrer pflegewissenschaftlichen Seminararbeit eine konkrete Erfahrung fest. Sie schreibt:
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Eine Begegnung war Folgende: Als studentische Aushilfskraft ist es originär, dass die Pflegedienstleistung nachmittags anruft und einen bittet einen Spätdienst zu übernehmen. Ich betrete gegen 17 Uhr eine internistische Station mit vierzig Betten. Keiner der Patienten ist mir bekannt. Aus diesem Grunde helfe ich den Auszubildenden das Abendbrot auszuteilen. Ich trage das Tablett in ein Zimmer, in dem drei ältere, bettlägerige Damen auf mich warten. Schon bei betreten des Zimmers ruft eine Frau: „Noli, wo bist du? Noli [...]“ Die anderen zwei sind still und reagieren nicht auf die Rufende. Ich gehe zur Rufenden und erkläre ihr, dass ich gleich bei ihr bin, nur dass zunächst den beiden anderen Damen das Essen vorbereiten werde. Sie scheint mich nicht zu verstehen. Sie ruft weiter: „Noli, wo kommen wir hin, wo sind wir? Noli, wo kommen wir hin, wo sind wir? Noli [...]“ Ich bereite das Essen vor und widme mich der Rufenden. Bevor ich mich vorstellen kann, begrüßt sie mich erleichtert: „Noli endlich bist du da“. Einen Moment war es still, als ich ihre Hand nahm und sie sich beruhigte. Auf die Frage wer ich [gemeint Noli, A.K.] sei, antworte sie: „Kennst du mich nicht mehr, ich bin deine Mutter“. Sie war empört, dass man seine eigene Mutter nicht kenne. Ich forderte sie auf aus meiner frühen Kindheit zu erzählen. Ich fühlte mich unsicher, weil sie mich nicht verstand. In der Tat kommunizierten wir, jeder auf seine Art, doch haben wir nicht interagiert. Dass Menschen anders sind, ist im Krankenhaus nicht vorgesehen. Ein Dialog fand erst statt, als ich mich zu der älteren Frau bewegte. Nicht nur physisch sondern auch psychisch. Erst nachdem ich meine Realität verlassen hatte und in ihre eintauchte, beruhigte sie sich. Ich musste mich ganz auf sie einlassen und löste mich von einer Erwartung, wie eine Begegnung stattfinden soll. Es hätte sie weiter verunsichert, indem ich ihre Situation erklärt hätte, dass ich nicht Noli sei und sie in einem Krankenhaus ist. Inzwischen fühlte ich mich ängstlich, hilflos und fragte mich, wer hier verwirrt ist. (Köhler 2010:1). 55
Eingangs beschreibt die Pflegerin, wie sie spontan von der Pflegedienstleiterin gebeten wird noch zur gleichen Stunde zum unlängst begonnenen Spätdienst zu kommen. Irritierend ist das Wort „originär“ an dieser Stelle. Vermutlich deutet das daraufhin, dass es im Grunde typisch ist und dass das spontane Einspringen als völlig normal gelten kann. Angesprochen wird darin der Warencharakter dem Pflegearbeit unterworfen wird und insbesondere wie dieser sich subjektiv
Diese Beschreibung stammt aus der Hausarbeit von Antje Köhler Das „Anders sein“ verwirrter Menschen. Noli, wo kommen wir hin, wo sind wir? Noli, wo kommen wir hin, wo sind wir? Noli… zur Veranstaltung Einführung in die Pflegewissenschaft, die ich im Sommersemester 2010 an der TU Dresden gegeben habe.
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darstellt. Diese Schilderung der Pflegenden zeigt, dass man spontan zu 40 unbekannten Patienten geschickt werden kann, ohne eingearbeitet worden zu sein. Die Erzählung macht aber auch deutlich, wie es trotz dieser Überforderung in diesem Geschehen zu einer mikrostationären „Begegnung“ kommt. Diese entsteht in dieser Szene eben nicht sofort, sondern aus der Sicht der Pflegenden erst nach einem kurzen Prozess. Interessant ist die Schilderung: Obwohl nämlich bereits eine längere Phase der Kommunikation vorliegt, gibt die Pflegende dem Leser die Auskunft, dass es bislang keine Interaktion gegeben habe, sondern zuvor offenbar eine Art monadologisches voneinander Abgeschlossenbleiben vorliegt. Erst als die Pflegerin in ihren eigenen Worten ihre Realität verlassen hat und in die Realität der Rufenden eintaucht, entsteht mit Adorno gesprochen eine Art Transsubjektivität im pflegerischen Verhältnis. Es wird somit wechselseitig und dadurch bekommt es mit Adorno gedacht auch ein Verhältnis zu sich selbst. Dieses Selbstverhältnis entsteht nach dieser Schilderung dadurch, dass die Pflegerin sich einlässt auf die ihr begegnende Realität und auf die Andersheit der rufenden Person. Sie setzt sich zu der Frau und hört auf, ihr Nicht-Noli-sein zu spielen. Die Pflegerin stellt die Tochter für die Rufende dar und lässt sich aus der Kindheit erzählen. Darin geht sie ein ungewohntes und neuartiges Verhältnis ein. Die Erzählerin sagt nämlich gleichsam auch indirekt, dass diese Form des Verhältnisaufbaus in der pflegerischen Realität nur manchmal stattfindet und kritisch schreibt sie, dass das Fremde und Andersartige im Krankenhaus gar nicht vorgesehen sei. Diese Form der erfahrenen Andersheit ist für die Pflegende in diesem Fall schwer aushaltbar. Die Pflegerin beschreibt, wie diese Erfahrung mit ihrem Realitätskonzept kollidiert und dass sie sich sehr unsicher fühlt. Die Pflegerin musste sich nach ihrem Erklärungskonzept erst von einem gesellschaftlich erzeugten Erwartungssoll an eine Begegnung lösen, um diese Begegnung eingehen zu können. Für Adorno gibt es in Kunstwerken durch den Ausdruck eine in einer anderen Sprache oder Sprachlichkeit kommunizierende Form der Mimesis. Diese andere Sprache ist in dieser Beschreibung der Pflegerin indirekt spürbar, zum Beispiel wenn man sich vorstellt wie Pflegende und Rufende beieinander sitzen und ein Verhältnis eingehen. Dieses Beieinandersitzen ist auch für andere wahrnehmbar (z. B. für die Zimmernachbarn).56 Das Selbstverhältnis erzeugt mit
56 Dieses Verhältnis zwischen der Pflegerin und der Mutter von Noli wird noch von zwei weiteren Personen begleitet, den Zimmernachbarn, die den Vorgang anscheinend ignorieren, aber angesichts der Vehemenz des Rufens dennoch mitbekommen müssen. Diese Perspektive der Nachbarn die den Vorfall offenbar ignorieren, macht deutlich, dass bei einem pflegerischen Tableau die Positionierung eine wichtige Rolle spielt.
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Adorno gedacht eine Negativität und dadurch bereits eine Reflexivität: Der pflegerische Ausdruck steht demnach für eine eigene Sprache, in der die Pflegende mit der Rufenden in einen spürbaren Kontakt kommt. Wenn ein Tableau ein Selbstverhältnis hat, was angesichts der pflegerischen Relationalität und Beziehung zwischen diesen zwei sich begegnenden Personen plausibel ist, so ist die Frage, ob es auch ein eigenes pflegerisches Subjekt gibt, das durch die spezifische und Differenz haltende Verbindung die das pflegerische Tableau bedeutet, entsteht. Ich schlage vor, das sich im pflegerischen Tableau gleichsam verbergende und findende Subjekt das pflegerische Subjekt zu nennen. Dieses Subjekt ist nicht zu verwechseln beziehungsweise gleichzusetzen mit dem Individuum der Pflegenden beziehungsweise des Betroffenen. Vielmehr wäre dieses Subjekt das aus der Relationalität des Pflegerischen entstehende Subjekt. Es ist in meinen Augen erkennbar, dass es der Studentin schwer fällt diese pflegerische und auf der Relationalität beruhende Form der Subjektivität einzugehen und auszuhalten. Die offen bleibende Frage „wer hier verwirrt ist“, macht die Schwierigkeit von Pflegenden in pflegerischen Prozessen deutlich. Diese Schwierigkeit hängt sicher mit dem wirksamen autonomen Subjektkonzept zusammen beziehungsweise damit, sich als autonom behaupten zu müssen.
5.5 S YSTEMATISCHE K ONSEQUENZEN PFLEGERISCHE T ABLEAU
FÜR DAS
Eine objektive Ausgangsrealität kann als Referenz eines darstellenden pflegerischen Tableaus auf Basis der Ästhetischen Theorie Adornos meines Erachtens 57 nicht mehr als sicher angenommen werden. In der untersuchten Szene mit der nach Noli rufenden Frau, ist ebenfalls schwer zu entscheiden was das Objektive ist, zumal uns eine Beschreibung der Rufenden nicht vorliegt. Das was sich darstellt, eine Frau die nach Noli ruft, ist nicht unbedingt das was das Wirkliche ist. Eher kann man sagen, dass diese Notlage einer rufenden Frau zu der Darstellung in Form einer Beschreibung geführt hat, die wiederum zu einer Darstellung in der vorliegenden Studie geführt hat. Das heißt man hat es bei der Beschreibung der Studentin bereits mit einer Darstellung zu tun. Ich möchte genauer verdeutlichen, welche systematischen Konsequenzen sich aus den Überlegungen für das pflegerische Tableau ergeben können. Beim
Das pflegerische Tableau ist neben der Psychologik auch immer einer Soziologik unterworfen. 57 Anders impliziert für mich beispielsweise Darmanns (2000a: 32) Realitätsverständnis die Vorstellung einer einheitlich konzipierten und strukturierten Pflegewirklichkeit.
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pflegerischen Handeln hat man es nämlich grundsätzlich mit einer nicht- oder wenig kalkulierbaren Erzeugungssituation zu tun (Friesacher 2008: 262). So versuchte ich zu zeigen, dass das pflegerische Tableau erst eine gemeinsam zu organisierende Bedürfnishandlung in die Präsenz holt. Die Frage aber, was sich im pflegerischen Tableau eigentlich genau darstellt, ist eine stets offene Frage jeder Pflegesituation: Was ereignet sich tatsächlich? Das pflegerische Tableau ist kein Kunstwerk, allerdings existiert zwischen Kunstwerk und pflegerischem Tableau eine strukturelle Ähnlichkeit. Das pflegerische Tableau wird beispielsweise durch Kunstwerke (vgl. Picasso, Verdi) darstellbar. Das Pflegerische unterscheidet sich (in der Poiesis) aber deutlich von der Herstellung eines Kunstwerks (zwischen Künstler und seinem „Material“). Eher existiert eine Handlungssituation, die von zumindest zwei Individuen in Gang gesetzt wird. Auch kann ein pflegerisches Tableau meines Erachtens nicht im Sinne einer abgeschlossenen Entität gedacht werden. Bislang ist das Pflegehandeln aber meist linear und in einer Form der Totalität (Handlungsprodukt, Werk) konzipiert worden. Dadurch wird das Pflegerische Handeln einer bestimmten Raum- und Zeitvorstellung unterworfen (z. B. im Pflegeprozess, Evidence-based Nursing). Es geht dann immer konkret darum, eine bestimmte Pflegearbeit wie die Nahrungsgabe oder eine Prophylaxemaßnahme abzuschließen. Dieser eingeschliffene Ansatz wäre mit der Aufnahme eines pflegerischen Tableaus grundsätzlich zu durchbrechen. Für die linearen Ansätze schlage ich den Begriff der Behandlung vor. Behandelnde Pflege geht von dem Primat der Pflegenden und ihrer Perspektive aus (Expertokratischer Ansatz). Eine Tendenz im heutigen medizinischen Gesundheitssystem ist sicher die komplette Abschaffung des Pflegerischen Handelns zu Gunsten einer anonymen Behandlung zwischen sich fremd bleibenden Personen. Gerade die Aufnahme darstellender Handlungsformen bieten dazu meines Erachtens vielfältige Möglichkeit, den präskriptiven Handlungsdeterminanten, wie sie die Pflegeversicherung oder Krankenkassen beispielsweise im unlängst kritisierten Modus der „Minutenpflege“ kontrollgesellschaftlich setzen, konstruktiv und dekonstruktiv zu begegnen (Greb 2003; vgl. Stemmer 2001). Wenn das Pflegerische dadurch charakterisiert ist, dass es gar nicht abschließend darstellbar ist, so bleibt im pflegerischen Tableau stets etwas offen oder leer. Wichtig dabei ist das Pflegende lernen damit umzugehen, dass ihre Handlungen in dem Tableau Teil eines Darstellungsraums werden über den die Pflegenden nicht die alleinige Deutungsmacht haben. Das ist eine maßgebliche Voraussetzung für das Offene und die Möglichkeit von Pflege. Und über diese Deutungsohnmacht entsteht dem Pflegerischen aber wiederum ein produktiver Zwang zur Deutung. Das heißt, das Pflegerische bleibt auf Deutungen angewie-
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sen. Durch diese Deutungen entsteht dem Pflegerischen etwas, das seiner Möglichkeit und Wirklichkeit nach mit dem künstlerischen wie mit dem forschenden Handeln verwandt ist, insofern es einen ähnlichen Bezug zur Ungewissheit und damit zu etwas Unverfügbarem aufweist. 5.5.1 Grenzen der Darstellbarkeit Dieser Aspekt bemerkt das Hineinragen einer Grenze als obligatorisch für das pflegerische Tableau. Sicherlich hätte man sogar verschiedene Grenzen in ihrer Auswirkung zu unterscheiden: primär scheinen mir die Grenzen der Bedürfnisdarstellung beider Seiten, die Grenzen der Darstellung für die Pflegenden und die Limitation durch den Tod. Alle drei tragen etwas grundsätzlich Nichtbeherrschbares in das Tableau. Eine Grenze des pflegerischen Tableaus entsteht aus der Unmöglichkeit der Bedürfnispräsentation. Das was sich von dem Bedürfnis des anderen zeigt, ist nie das was den Anspruch, der hinter dem Bedürfnis steht, stillen kann. Zwischen Bedürfnisartikulation im pflegerischen Tableau und seinem anderen, der Bedürfnisrepräsentation, erwächst immer eine Kluft, die durch die Darstellung des Pflegerischen nicht in der Weise lösbar werden kann. Weder ist das Bedürfnis überhaupt von vornherein zugänglich, noch ist es einer pflegerischen Handlung möglich, ein Bedürfnis zu substituieren beziehungsweise zu zeigen. Das pflegerische Tableau stellt nach meinem bisherigen Verständnis vielmehr eine eigene Weise des Bedürfnisses und seiner Reaktion(en) dar. Das pflegerische Tableau bringt etwas Eigenes performativ hervor. Das was es genau zeigt, muss allerdings erst wahrgenommen werden und auch versprachlicht werden. Wegen der Beteiligung mehrerer Individuen haben die beteiligten Pflegenden als Berufsgruppe stets nur eine begrenzte Macht über die Darstellung des pflegerischen Tableaus. Der pflegerische Diskurs müsste diesem Phänomen meines Erachtens stärkere Aufmerksamkeit widmen, insofern das pflegerische Tableau etwas anderes zeigen wird als das was man in der konkreten Situation beabsichtigt hat. Diese Abweichungslogik, die ich am Typus des Mimen ausführlicher dargelegt habe, wird von identitätsdominierten Diskursen (z. B. Klassifikationsdiskurse) gleichsam negiert beziehungsweise als Fehler gewertet und das wiederum hat entsprechende affektive Rückwirkungen (Angst, Schuld, Hyperaktivität) für die Pflegenden zur Folge. Die Frage die sich im Rahmen dieser Untersuchung stellt ist, ob sich nicht jede beruflich und nicht beruflich organisierte Pflegehandlung an einer existenziellen Grenze, die durch den Tod determiniert ist, ereignet. Krankheit, Alter und Sterben verweisen stets auf diese Grenze des Lebens. Diese Konfrontation mit einer Grenze verschafft dem pflegerischen Tableau selber eine Grenze der Dar-
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stellbarkeit, die über etwas Verfügbares oder Bewältigbares deutlich hinausgeht, denn diese Grenze bleibt in bestimmter Hinsicht doch unhintergehbar und ist als solche „bloß“ bezeugbar. So verstanden legt das pflegerische Tableau immer auch Zeugnis ab über ein Geschehen an dieser Grenze (z. B. durch die Pflegedokumentation). Für diese Zeugenschaft benötigt das pflegerische Tableau aber zum Beispiel auch konkretere Möglichkeiten der Symbolisierung (vgl. Greb 2003). Dieser Sachverhalt bedeutet nämlich meines Erachtens eine wichtige Funktion des pflegerischen Tableaus, welches sich scharf vom medizinischen Paradigma unterscheidet und dessen Leistung von Pflegenden oft negiert wird. Im Zeitalter totaler Versicherungsregime wäre diese kulturelle wie individuelle „Leistung“ des pflegerischen Tableaus künftig vielleicht deutlicher herauszustellen. Unstrittig kann die Bezeugung dieser Grenze als eine zentrale Kulturfunktion angenommen werden, zumal der Tod als Konzept in der Kultur nicht selbstverständlich voraussetzbar ist, sondern die Erfindung des Todes hat die Geburt 58 der Kultur erst notwendig gemacht. In der Übernahme der Kulturfunktion einer Zeugenschaft durch das pflegerische Tableau liegt also gewiss eine seiner Leistungen. 5.5.2 Zur Frage der Aisthesis Die Darstellung im pflegerischen Tableau realisiert etwas, das in seiner Anwesenheit ein Verhältnis aufbauen kann zu einer abwesenden Struktur. Auf dem Tableau realisiert sich etwas, das man, wenn man sich als einzelner im Tableau befindet, nicht unbedingt wahrnehmen kann. Dennoch lassen sich wie das Beispiel von Noli zeigt, Spuren dazu finden. Für diese Entzifferungen hat der Osnabrücker Berufssoziologe Dirk Axmacher (1990: 135f.) ziemlich zu Beginn des sich konstituierenden bundesdeutschen pflegewissenschaftlichen Diskurses einen Prozess fortschreitender pflegerischer Selbstbeschreibungen vorgeschlagen. Demnach nähme der Verwissenschaftlichungsprozess des Pflegerischen seinen Ausgang aber allein von den Beobachtungen der Pflegenden, die diese Beobach-
58 Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho (2000: 98) wirft die Problematik der Kulturnotwendigkeit post mortem durch eine Frage auf, die man meines Erachtens übersetzen kann in Was tun mit dem Leichnam? – also dem Objekt, das mit dem Eintritt des Todes nicht einfach verschwindet, sondern „verwest“: „Worin besteht die Gemeinsamkeit aller sogenannten ,Todesfälle‘? Sie ergibt sich schlicht daraus, dass ein Lebewesen nicht einfach verschwindet, wenn es stirbt, sondern ,bleibt‘ (als Leichnam); sie ergibt sich ferner daraus, dass dies Bleibende nicht dauert, sondern eine Reihe von Veränderungsprozessen durchläuft (,Verwesung‘).“
240 | P FLEGE ALS P ERFORMANCE
tungen nachträglich in Protokolle überführen. Im Sinne Axmachers entstünde so ein fortschreitender Prozess der Versprachlichung des Pflegegeschehens und damit auch eine pflegewissenschaftliche Diskursbildung. Dieser Prozess fände seinen Ursprung in der Aisthesis der Pflegenden. Das Problem, das sich hierbei stellt, wäre meines Erachtens das einer einseitigen Entzifferungsform des pflegerischen Tableaus aus der Perspektive von Pflegenden. Oft ist eine Aisthesis der Gepflegten nicht direkt zugänglich. Anderswahrnehmende Gruppen beispielsweise wie als dement geltende Menschen oder in sich eingeschlossene Menschen (Locked-in-Syndrom) wären in ihrer Art Wahrnehmung von Seite der Pflegenden mit zu bedenken. Es bliebe aber auch die Grenze zu beachten, die sich hier wissenschaftlich ergibt. Ein Anliegen dieser Untersuchung läge in einer Impuls59 setzung, die pflegewissenschaftliche Forschung dazu weiter zu vertiefen. Darüber hinaus wäre zu überprüfen, ob man bei diesen Vergewisserungen von mikrostationären Amalgamierungen ausgehen kann die situationale Verbindungsund Verstehenszusammenhänge ermöglichen.
59 Damit hat meines Erachtens beispielsweise Doris Arnold (2008) unter Aufnahme eines ethnografischen Blicks auf den Alltag der stationären Pflege bereits begonnen.
6 Blick aus dem pflegerischen Tableau
Ich fasse zunächst den Verlauf der Untersuchung zusammen und stelle im Anschluss einige Desiderate zur Diskussion.
6.1 Z UM V ERLAUF
DER
U NTERSUCHUNG
Die vorliegende Untersuchung nimmt folgenden Verlauf: Anhand einer strukturellen Betrachtung des Pflegevorgangs entwickele ich eingangs die These einer grundlegenden Differenz in der Wahrnehmung des Gegenstandes „Pflege“ und des Weiteren wird eine solche Differenz auch im pflegerischen Handeln erkennbar. Strukturell nenne ich die Betrachtung, weil ich zunächst von einer auf die wesentlichen Bestandteile abstrahierten Konstellation des Pflegevorgangs (Pflegende – Pflegebedürftiger) ausgegangen bin. Anhand von einigen genauer beschriebenen Pflegesituationen aus pflegewissenschaftlichen Studien lässt sich im Fortgang die Vermutung stärken, dass es grundlegend ein Darstellungsproblem des Pflegerischen gibt. Es kommt jeweils anders zum Tragen, je nachdem welcher Darstellung des Gegenstandes „Pflege“ man folgt. Die Rekonstruktionen des empirischen Materials belegen, dass die Darstellung von Pflege über die Wahrnehmung Pflegender oftmals in Differenz tritt zu der Wahrnehmung von Pflegeschülern oder auch zu Pflegebedürftigen. Die Art der Positionierung zum Gegenstand "Pflege" zeitigt im Handlungsfeld offenbar immer auch Folgen für die weitere Deutung des Pflegevorgangs. Als Arbeitsbegriff scheint mir aus systematischer Sicht die Ausgangsdifferenz des Pflegerischen eine schlüssige Bezeichnung für diese Problematisierung des Gegenstandes „Pflege“. Darstellung wird in dieser Arbeit nicht lediglich als Akzidenz des Pflegeprozesses aufgefasst, sondern als Performanz. Erst aus den in Erscheinung tretenden Differenzen ergibt sich das, was Pflege ist. Das was Pflege ist, ist sie als Darstellung. Diese ist nie ohne Friktionen. Nach dem Problemaufriss interessierte mich, wie der Pflegediskurs in einigen seiner bisherigen Gegenstandsannahmen auf diese Problematik der differen-
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ten und die Pflegesituation konstituierenden Wahrnehmung eingeht. Dafür wählte ich anfänglich den älteren amerikanischen Theoriediskurs und anschließend den deutschen Pflegediskurs als Referenzrahmen. Bei der genaueren Beschäftigung mit dem Pflegediskurs ergaben die Rekonstruktion einige interessante Beobachtungen, aus denen ich weitere Darstellungsprobleme beispielsweise im pflegerischen Handeln herausarbeiten konnte: Aus der Analyse des Pflegediskurses geht grundsätzlich hervor, dass die meisten Gegenstandsauffassungen zum Gegenstand „Pflege“ über die Sicht der Pflegenden begründet werden. Ein bedeutender und verbreiteter Ansatz dieser Sichtweise ist der Bedürfnisansatz. Demnach übernehmen die Pflegenden stellvertretend das Bedürfnis des Anderen. Genauer gesprochen gehen Bedürfnisansätze davon aus das Pflegende die Realisierung dieses Bedürfnisses übernehmen. In Auseinandersetzung mit den bedürfnistheoretischen Annahmen Virginia Hendersons konnte ich exemplarisch darlegen, dass diese Darstellung des Bedürfnisses im Pflegevorgang über den Mechanismus der Stellvertretung erklärt wird (S. 25). Die Pflegehandlung vertritt demnach die Stelle einer „eigentlicheren“, „ursprünglicheren“ und autonom ausführbaren bedürfnisbefriedigenden Handlung. Pflegende werden auf Basis dieser Struktur in der Gegenwart zu Darstellern der in der gesunden Vergangenheit situierten und somit abwesenden bedürfnisbefriedigenden Handlung des Anderen. Dieser Mechanismus der Stellvertretung wurde von mir hinsichtlich seiner Setzungen, Implikationen und diskursiven Fortschreibungen hinterfragt und problematisiert. Die These, dass Pflegende und zu Pflegende gemeinsam etwas zur Darstellung bringen (performances, S. 27) was als Pflege wahrnehmbar werden kann, wurde in Auseinandersetzung mit interaktionstheoretischen Ansätzen, insbesondere dem von Hildegard Peplau, reformuliert. Ein durch diese Auseinandersetzung hervortretendes Darstellungsproblem habe ich auf der Ebene der Herstellungsweise des Pflegerischen lokalisiert (S. 29). Die besondere Schwierigkeit des Pflegerischen ist demnach darin zu suchen, dass es mit den Mitteln eines wechselseitig bezogenen Handelns zu einer Darstellung des Hilfeanliegens und der Umsetzung dieses Anliegens kommen möchte. Peplau hat überdies die Ebene der Referenz (z. B. die kulturell geprägte Vorstellung des Patienten zum Hilfeanliegen) von der des Referenten (konkret wahrnehmbare Umsetzung und Durchführung des Hilfeanliegens) unterschieden, was meines Erachtens die Frage nach der Verortung des Pflegerischen zwischen Repräsentation und Präsentation aufkommen lässt. Aus dieser Frage wird das Pflegerische als kulturelles sowie vielfältiges Phänomen (Leininger) bestimmt und verstanden.
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Pflegewissenschaftliche Konzepte des pflegerischen Handelns gehen beispielsweise von der Hypothese zweier Handlungslogiken aus, die jeweils eindeutig bestimmt werden. Im Gegensatz dazu habe ich dafür argumentiert, dass das Pflegerische nicht zwei eindeutige Handlungslogiken hat, sondern in seiner Darstellung auf eine Differenz verweist die bislang nicht genauer erforscht wurde. Diese Differenz des Pflegerischen wird von einigen Positionen im Pflegediskurs dadurch angedeutet (Stemmer, Friesacher, Greb), dass das pflegerische Handeln mit einer gewissen Schwierigkeit seiner Übersetzung zu rechnen hat. Allerdings wird in diesen Fällen das Dargestellte, das Pflegerische noch als sicher unterstellt. In dieser Studie habe ich von daher konkret nach Spuren des Pflegerischen in Darstellungen im Allgemeinen beziehungsweise in Bildern im Besonderen untersucht. Anhand der Interpretationen zu den in Bildern sichtbaren pflegerischen Prozessen bin ich zu der Auffassung gelangt, dass man nicht mehr davon ausgehen kann, das Dargestellte des Pflegerischen ginge in der Darstellung auf oder sei darin ohne Differenz abschließbar. Das Dargestellte des Pflegerischen beziehungsweise dessen Spuren wären, wie ich es in den Bildanalysen (Kapitel 2) angedeutet habe, erst analytisch zu entfalten. Als Darstellungen des Pflegerischen wurden von mir in dieser Studie verschiedene eingeführt und untersucht: Anfänglich habe ich Bilder aus dem öffentlichen Raum ausgewählt, im Anschluss auch ein Beispiel der Bühne (La Traviata) bis hin zu pflegewissenschaftlichen Beschreibungen (Frau Meier, „Noli“). Die Analyse dieser Darstellungen macht deutlich, dass das Pflegerische und seine Spuren sich an einem Ort zeigen, den ich als pflegerisches Tableau konzipiere. Das pflegerische Tableau beschreibt also den Versuch die Spuren des Pflegerischen an dem Ort zu thematisieren, wo sie sich konkret zeigen. Dieser Ort eines pflegerischen Tableaus ist im Sinne einer topologischen Konzeption zu verstehen. Das pflegerische Tableau und die Entfaltungen die diese Studie dazu leistet, machen deutlich, dass das Pflegerische selbst Darstellung ist. Für die theoretische Plausibilisierung der Rede von einem Tableau beruft sich die Untersuchung sowohl auf diskursanalytische Annahmen Michel Foucaults als auch auf die Blicktheorie aus der strukturalistisch und linguistisch erweiterten Psychoanalyse Jacques Lacans. Erstere legen eher nahe, dass man sich auf einem diskursiv ableitbaren Tableau, letztere, dass man sich in einem Tableau befindet. Dass das pflegerische Tableau grundsätzlich als Zwischenraum zwischen Diskurs und Blick oder des Sowohl-als-auch zu denken ist, habe ich mehrfach exemplarisch zu zeigen versucht: Die Darstellung der sterbenden Traviata auf der Bühne beschreibt keine berufliche Pflegehandlung im engeren Sinne. Dennoch wird etwas über das pflegerische Tableau gesagt. Sie sagt, dass
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Pflegehandlungen nicht eine bloße Gabe von Person zu Person sind, sondern vielmehr als ein pflegerisches Tableau gedacht werden können, auf dem letzten Endes drei Dinge existieren die über das, was die meisten Gegenstandsauffassungen fassen können, hinausgehen: der Schein, der Blick und der Tod. Das pflegerische Tableau bleibt also stets ein konzipierter oder konstruierter Ort, der räumlich grundsätzlich als eine Fläche vorstellbar wird auf der sich das Pflegerische darstellt beziehungsweise in der sich das Pflegerische abzeichnet und in eine Sichtbarkeit gelangt. Dadurch dass etwas in eine Sichtbarkeit gebracht wird, wird gleichsam auch eine spezifische Abwesenheit oder Unsichtbarkeit deutlich. Zum Beispiel bringen die Sturzerfahrungen Frau Meiers die Frage nach dem Sinnzusammenhang ihrer Stürze erst hervor. Allgemeiner gesprochen kann man einen Ausgangspunkt des Pflegerischen an dem instabilen In-der-Welt-sein von Frau Meier befestigen. Das pflegerische Tableau thematisiert das Pflegerische aber auch in einer anderen Zeitlichkeit als es im Pflegeschehen möglich ist: Das Prozessuale des Pflegerischen wird beispielsweis auf dem Bild quasi eingefroren und festgestellt. Die zweite Zeit des Tableaus entsteht durch die Spuren der Wahrnehmungen auf den Pflegevorgang. Diese Spuren der Wahrnehmung werden im Tableau nur weiter entfaltet. Bei der Thematisierung des pflegerischen Tableaus als Bühne kann man Aspekte der Zeitlichkeit noch deutlicher erkennen. Dieser Ort des pflegerischen Tableaus zeigt das Pflegerische stets als Differenz: sprachlich tritt diese Differenz auf zwischen der Tätigkeit ich pflege und ich werde gepflegt als auch subjektiv zwischen dem Ich (des Pflegenden) und dem Ich (des zu Pflegenden). Die Annahme eines einheitlichen Gegenstandes „Pflege“ ist damit meines Erachtens an die Akzeptanz und Anerkennung einer konstitutiven Differenz gebunden. Die Studie hat dabei zwei viertiefende Untersuchungsabschnitte: Eine historische Diskursanalyse zum modernen Pflegediskurs und dessen Verhältnis zum Bild der Nightingale (Kapitel 4) und einen systematischen Abschnitt der sich die Frage nach einer Darstellungsvariante des Pflegerischen stellt, wie sie sich durch eine pflegerische Mimesis ergeben (Kapitel 5). In der historischen Diskursanalyse wird die Konstruktion und Auswirkung einer Zentralperspektive im Pflegediskurs nachgezeichnet. Diese Zentralperspektive einer Imago Nightingale verdankt ihre Popularität einer Metapher. Mir ging es in diesem Abschnitt darum, die Folgen dieser Darstellung Nightingales für die Diskursbildung in Deutschland auf Basis einer konstellativ arbeitenden Diskursanalyse aufzuzeigen. Die Funktion ihrer Metapher zeigt prekäre Auswirkungen zu Beginn eines bundesdeutschen Pflegediskurses seit 1900. Es ist ein Diskurs, dem durch das
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konstruierte und idealisierte Vorbild ein Zwang zur Unruhe eingeschrieben bleibt. Auch nach dem zweiten Weltkrieg findet diese Metapher eine Fortsetzung. Die kritisch angelegte Diskursanalyse kann zeigen und den bislang einzigartigen Nachweis für den deutschsprachigen Pflegediskurs erbringen, dass es zu Beginn der 1950er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland einen Diskurs gegeben hat, der das Wort „pflegewissenschaftlich“ für sich reklamierte (vgl. 4.2.1). Bislang wurde die Verwendung des Begriffs „pflegewissenschaftlich“ in Deutschland sehr viel später angenommen. Dieser Pflegediskurs formuliert gleichzeitig zu seinem wissenschaftlichen Professionsanliegen den Wunsch nach der Wiederaufrichtung des Bildes von Florence Nightingale. Dieser Untersuchungsabschnitt weist am Beispiel Nightingales nach, dass die Struktur einer Darstellung in Form der konkreten Metapher A Lady with a lamp eine nachhaltige Bedeutung für den deutschen Pflegediskurs hat. Der systematische Untersuchungsabschnitt geht von Ausführungen einer pflegerischen beziehungsweise pflegespezifischen Mimesis im Pflegediskurs aus und untersucht, welche Darstellungsmöglichkeiten sich aus den Spuren der Darstellung des Pflegerischen für eine pflegerische Mimesis ergeben können. Dazu habe ich versucht an die Konzepte einer pflegerischen Mimesis im bestehenden Pflegediskurs anzuknüpfen. Die Rekonstruktion der Positionen dieses Diskurses ergab, dass bislang eine Auseinandersetzung mit der Ästhetik Adornos im Pflegediskurs ausgeblieben ist. Durch die eingehende Relektüre der Ästhetik Adornos wird gezeigt, dass dessen kritische Figuren zur systematischen Begründung der Darstellungsebene zur Verfügung stehen und nunmehr in den Pflegediskurs übersetzt werden können (vgl. 5.4.8). Das pflegerische Beispiel zeigt, wodurch sich eine pflegerische Mimesis die sowohl gesellschaftskritisch als auch auf der konkreten Handlungsebene sicht-bar wird, erkennen kann. Sie ermöglicht eine Erfahrung der Differenz mit einer der Verbindung und einer des Kontaktes zusammenzudenken. In diesem Beispiel berichtet eine Pflegerin von ihrer Erfahrung im Tableau: auf Basis einer aus der Ästhetik Adornos entwickelten negativen Topik lässt sich gut verstehen, warum der Realitäts- und Wahrheitsstatus der Pflegerin unsicher wird. Das pflegerische Subjekt ist auf Basis der vorherrschenden Rationalität selbst nicht mehr sicher und muss seinen Subjektstatus im Verhältnis zum hilfebedürftigen Anderen erst wieder finden und erkennen. Gleiches gilt meines Erachtens auch für das Forschungssubjekt, das durch die Annahme eines Tableaus immer auch in eine sich selbst problematisierende Position gerät.
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6.2 Z USAMMENFASSUNG
DER
S TUDIENERGEBNISSE
Das Pflegerische, worunter jene Gegenstandauffassung von "Pflege" verstanden wird, die Pflege nicht bereits voraussetzt, realisiert sich an einem Ort, den ich als pflegerisches Tableau bezeichne. Das pflegerische Tableau wird durch Interpretationen entfaltet. Diese Entfaltungen verweisen darauf, dass das Pflegerische sich stets darstellt und damit einer Darstellungslogik unterliegt. Das Pflegerische unterliegt also umgekehrt weder einer Logik des "Echten" noch einer des "Einheitlichen", sondern der Gegenstand "Pflege" stellt sich stets dar und zwar als Differenz. Diese Erkenntnis zeitigt Auswirkungen für die Pflegewissenschaft, für die Lehre von Pflege beziehungsweise der Pflegebildung und für Pflegende in der Pflegepraxis. Ich führe die Auswirkungen zusammen: Pflegewissenschaft: Die vorliegende Untersuchung bietet dem wissenschaftlichen Pflegediskurs mit der Konzeption eines pflegerischen Tableaus einen systematischen Ansatz an, der der Komplexität, der Perspektivität und den Differenzen im Pflegerischen besondere Beachtung schenkt. Das pflegerische Tableau wird von mir konzipiert, um die Fläche, auf der die Spuren des Pflegerischen in Darstellungen (z. B. im Bild, in Narrativen) sichtbar werden, zu bezeichnen. Insofern ist es ein topologischer Ort, der nicht nur die Darstellungen jeweils different lesbar werden lässt, sondern auch darauf verweist, dass die Spuren des Pflegerischen stets von dem Ort aus aufzunehmen sind, wo es sich darstellen − vom Charakter einer Darstellung her. In seiner Darstellung und als Darstellung wird das Pflegerische different lesbar. In zeitlicher Hinsicht sorgt das Tableau zumindest für eine zweite Zeitlichkeit und unterliegt damit nicht einem einfachen linearen Zeitverständnis: Durch seine Darstellungsform und in den Spuren der Wahrnehmung kreiert das pflegerische Tableau eine zeitliche Lücke und sorgt damit für eine Vergewisserungs- und Befragungsmöglichkeit des Pflegerischen. Insofern bedeutet das pflegerische Tableau auch eine nachträgliche Bearbeitungsmöglichkeit zum prozessualen Pflegegeschehen. Pflegebildung: Diese Untersuchung bietet dem erziehungswissenschaftlichen ausgerichteten Pflegediskurs der Pflegedidaktik spezifische Einsichten an: Einmal wurden Bezüge des bundesdeutschen Pflegedidaktikdiskurses diskursanalytisch rekonstruiert, wodurch etliche neue Thesen zur Diskursbildung erarbeitet worden sind. Diese Arbeit ist in Auszügen bereits Teil einer fünfbändigen Reihe zur „Pflegedidaktik als Selbstdisziplin“ (1.3.1, 4.2). So wird im ersten Hauptkapitel dieser Untersuchung endlich der Zugang zu einer Thematisierung des Bildes geöffnet, welche bislang im Pflegedidaktikdiskurs nicht explizit aufgenommen worden ist. Die Bildanalysen geben direkten Aufschluss über eine Bearbeitungsmöglichkeit in pflegedidaktischen oder hochschuldidaktischen Settings. Ich denke aber primär auch schon an zukünftige Un-
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tersuchungsmöglichkeiten zum Medium des Bildes, beispielsweise in Lehrbüchern oder zur Leistungsmessung im Pflegeunterricht, die hier durch eine differenzierte Betrachtung des zeitgenössischen Bilddiskurses zumindest konstruktiv vorbereitet worden sind. Drittens bedeutet das pflegerische Tableau eine neuartige Lesart des Pflegerischen, die auch für andere pflegedidaktische Konzepte, wie das szenische Spiel (Oelke/Scheller/Ruwe) oder das mimetische Lernen (Böhnke), produktive Anschlüsse bereitstellen kann und soll. Das heißt es handelt sich bei dem pflegerischen Tableau um eine Gegenstandauffassung von Pflege, die für den Pflegeunterricht eine neue Weise der Betrachtung bereithält. Das pflegerische Tableau bietet über die Spurensuche in Darstellungen eine eigene Bearbeitungsmöglichkeit an. Gleichsam sorgt die Entfaltung dieser Darstellungen in Form einer Bearbeitung für die Erfahrung einer anderen Zeitlichkeit, die Zeiterfahrungen im Pflegegeschehen korrigieren und für eine realitätsbezogene Auseinandersetzung der Schüler mit dem Gegenstand „Pflege“ sorgen kann. Pflegepraxis: Pflegende selber äußern oftmals ein Darstellungsproblem, welches sie mit der Darstellung ihrer Pflegearbeit haben. Die eigene Arbeit werde eben nach außen falsch oder anders dargestellt. Darin wird ein Darstellungsverständnis in Anspruch genommen, welches von einem schon vorhandenen Dargestellten und dann Darzustellenden des Pflegerischen ausgeht. Diese Sicherheit des Dargestellten ist meines Erachtens zu bezweifeln. Deshalb hat diese Untersuchung zwischen der Darstellung Pflegender und der Darstellung des Pflegerischen unterschieden. Die Darstellung des Pflegerischen ereignet sich an einem Ort, der von mir pflegerisches Tableau genannt wird und topologisch konzipiert ist. Die Positionierungsmöglichkeiten an diesem konzipierten Ort sind verschieden. Die Position „Pflegender“ ist nur eine unter vielen, die das pflegerische Tableau bietet (zu Pflegender/Patient/Betroffener, Schüler, Arzt etc. sind weitere). Pflegende sind also im Tableau etwas unterworfen, worüber sie nicht die alleinige Macht haben können und was sich ihrem subjektiven Sinnkonzept immer wieder entzieht. Dieser Umstand der Differenzerfahrung bildet gerade die Voraussetzungen dafür, dass Pflege als Gegenstand existieren kann.
6.3 Z UM D ARSTELLUNGSPROBLEM
DES
P FLEGERISCHEN
Die Darstellungsprobleme des Pflegerischen, auf die ich in dieser Studie aufmerksam wurde, sollen im Folgenden zusammengefasst wiedergegeben werden. Somit besteht meines Erachtens ein Darstellungsproblem des Pflegerischen:
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•
a. hinsichtlich der Wahrnehmungsdifferenz auf den Gegenstand „Pflege“ (Ausgangsdifferenz des Pflegerischen): Wer nimmt Pflege wie wahr? Und wer stellt Pflege wie dar?
•
b. hinsichtlich der Herstellungsweise oder Realisierung des Pflegerischen (Interaktionsgeschehen des Pflegerischen): Wie kann man so etwas wie ein Bedürfnis oder Wunsch nach Hilfe gemeinsam und pflegerisch zur Darstellung bringen?
•
c. hinsichtlich der Perspektive Pflegender im Handlungsfeld (Darstellerproblem): Was an meiner Pflegearbeit wird anderen gegenüber wie dargestellt?
In der Auseinandersetzung mit dem deutschen Pflegediskurs und seiner Konzeption des Pflegerischen Handelns ließen sich weitere Darstellungsproblem des Pflegerischen rekonstruieren: •
d. hinsichtlich der Grenzen der Übersetzbarkeit des pflegerischen Handelns in Sprache (diskursives Darstellungsproblem): Wie und was kann man von dem performativen Geschehen des Pflegerischen in einen Diskurs übersetzen?
6.4 G RENZEN : L IMITATIONEN DES PFLEGERISCHEN T ABLEAUS In dieser Studie war es mir wichtig das pflegerische Tableau einerseits als eine Möglichkeit vorzustellen, die konkrete Erweiterungsperspektiven zum Gegenstand Pflege“ anbieten kann, andererseits ist es mir immer wieder auch wichtig gewesen, Limitationen in der Darstellung des Pflegerischen erkennbar werden zu lassen. Mit dem pflegerischen Tableau kann man gerade nicht alles zeigen oder darstellbar werden lassen. Das pflegerische Tableau erweist sich in der Darstellung nicht als abschließend darstellbar. Die Bildanalyse machte deutlich: Vieles kann das pflegerische Tableau eben nicht darstellen, beispielsweise wird Zuwendung in der Darstellung nämlich nicht gezeigt, sondern durch die Darstellung in eine spezifische Abwesenheit gebracht. Das pflegerische Tableau unterliegt Limitationen die zu seiner Konturierung beitragen: der Tod bedeutet in dieser Hinsicht sicherlich die entscheidende Grenze des Pflegerischen. Mit Lacan lässt sich beispielsweise annehmen, dass das Tableau gar nicht vollständig einsehbar ist. Eher kann man davon ausgehen im Tableau immer auch gespalten zu sein, von dem was man gemeinsam zur Darstellung bringt. Das pflegerische Tableau stellt das Bedürfnis des Anderen
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eben in einer eigenen Weise und als Differenz – gerade auch zu den Wahrnehmungen der beteiligten Individuen – dar. Die Grenze der Darstellbarkeit in der Darstellung des Pflegerischen sorgt überdies für einen heuristischen Impuls: Was zeigt sich, was nicht? Dieser Impuls zur Entdeckung und Entfaltung des pflegerischen Tableaus ist für eine Pflegeforschung und meines Erachtens auch für Prozesse der Pflegelehre wichtig und förderlich.
6.5 D ESIDERAT I: M ÖGLICHKEIT EINER RELATIONALEN P FLEGEDIDAKTIK Eine relationale Pflegedidaktik, wie sie diese Untersuchung vorbereiten und stützen möchte, würde versuchen das Dargestellte des pflegerischen Tableaus unter deren immanenten Bedingungen in den Status einer eigenen Bearbeitungsmöglichkeit zu bringen. Das hieße das Wagnis mit der Erfahrung aufzunehmen, dass das pflegerische Tableau in seiner Darstellung etwas zur Erscheinung bringt, das sich gerade weil es sich darstellt, nicht in der Weise einer eindeutigen Tatsache wird zeigen können. Dennoch ist das was sich erfahrbar zeigt, zweifelsohne empirisch und weil es einen darstellbaren Aspekt des Pflegerischen zeigt, wird es etwas anderes in eine konkrete und spezifische Abwesenheit bringen. Den Bezug zu diesem konkret und spezifisch Abwesenden anzubahnen beziehungsweise zu ermöglichen, beschriebe sicherlich eines der Hauptanliegen einer relationalen Pflegedidaktik wie sie beispielsweise die konstellative Pflegedidaktik Grebs vertritt und dezidiert ausgearbeitet hat. Das pflegerische Tableau bildet insofern auch einen pflegedidaktischen Versuch, den Darstellungsraum, der sich zwischen konstellativen Strukturen des Pflegerischen und performativem pflegerischem Handeln aufspannt, kritisch-dekonstruktiv zu erschließen.
6.6 D ESIDERAT II: W EITERE W AHRNEHMUNGSQUALITÄTEN Auf der Ebene der Wahrnehmung Pflegender liegen heute vermutlich die größten Probleme des pflegerischen Handelns, weil diese Ebene auf Basis der dominierenden Gegenstandsauffassungen von Pflege überhaupt nicht adäquat ge1 schult werden kann. Die vorliegende Studie geht oftmals von der Visualität der
1
Man vgl. dazu die Beschreibungen Doris Arnolds über ihre Probleme eines Feldzugangs und der heimlichen Versuche einiger Pflegender, sich ihrem ethnografischen Blick zu entziehen (vgl. Arnold 2008: 187, 189-193).
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pflegerischen Darstellung aus, es bliebe aber ebenso entscheidend künftig auch andere Wahrnehmungsqualitäten verstärkt einzubeziehen: zum Beispiel akustische oder leiblich-sensorische. Ein wichtiges Verdienst der Studie von HülskenGiesler liegt meines Erachtens darin, eine leiblich-sensorische Ebene als Lesart für den Pflegediskurs begründet zu haben. Für Hülsken-Giesler bedeutet der leibtheoretische Ansatz einen konstitutiven Zugang für die Pflegewissenschaft 2 (vgl. Hülsken-Giesler 2008: 99-154). Die Erforschung anderer Wahrnehmungsqualitäten, die Suche nach weiteren Lesarten und die Schulung (beispielsweise der leiblich-körperlichen Wahrnehmung Pflegender) böten dem künftigen Pflegediskurs meines Erachtens wichtige Aufgabenfelder.3
6.7 D ESIDERAT III: D AS P FLEGERISCHE
UND
K UNST
Das pflegerische Tableau macht deutlich, dass das Pflegerische eine strukturelle Ähnlichkeit mit Kunst hat. Die weitere Forschung könnte sich dazu auf verschiedenen Ebenen bewegen: Die pflegewissenschaftliche und pflegedidaktische Analyse von Kunstwerden die das Pflegerische thematisieren und befragen, steht erst am Anfang und böte für die Lehre und die kulturelle Deutung des Pflegerischen meines Erachtens wichtige Erkenntnisse und Perspektiven. Zum Beispiel thematisieren Filme, Theaterstücke oder Opern das Pflegerische auf ganz eigene und verschiedene Weisen. Zu diesen Thematisierungen fehlt es im jetzigen Pflegediskurs aber oftmals an Deutungen. Auf der Ebene des künstlerischen Prozesses wären Kooperationsprojekte zwischen Künstlern, Betroffenen und Pflegenden wünschenswert und weiter zu vertiefen. Hier zeigt sich bereits, dass durch diese Kooperation ein anderer Zugang und eine andere Methodik entstehen kann (vgl. beispielsweise das Projekt am Schlosstheater Moers, in: Hoops 2009: 27). Es wäre auch von Pflegeforschungsseite wünschenswert, die Darstellungssphäre des Pflegerischen weiter zu erforschen und zu entziffern. Das Performative des Pflegerischen beispielsweise auch durch verschiedene gesellschaftliche Räume hindurch sichtbar werden zu lassen, beschreibt eine wichtige Herausforderung künftiger Pflegeforschung (vgl. Mol/Moser 2010).
2
Vielleicht muss man genauer sagen, erneut hingewiesen zu haben, denn Dorothea Goller hat bereits 2001 von einer Ethik des pflegerischen Blicks gesprochen und diese aus einer ästhetischen Perspektive heraus zu begründen versucht.
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Vgl. dazu auch Grebs (2003: 196-198) Reflexion zum Chandos-Briefs.
B LICK
$86 DEM PFLEGERISCHEN
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Das Pflegerische unterliegt seit Nightingale auch einem Mythos, denn seit Nightingale wird Pflege oft auch als Kunst bezeichnet − wie man eben auch von ärztlicher Kunst spricht. Es bliebe aber zu fragen, was das Künstlerische des Pflegerischen ist und sein soll und vielleicht wird es dazu nötig sein, das Pflegerische aus dem gesellschaftlichen Sonderstatus zu befreien. Kunst will gezeigt sein! Phänomene des Erotischen und des Schönen sollten hinsichtlich ihres Zusammenhanges mit dem pflegerischen Tableau breiter thematisiert werden. Schönheit spielt beispielsweise bei vielen Pflegeinterakten eine wesentliche Rolle: beim Anlegen des Verbandes, beim Haare waschen oder bei der Rede von der schönen Narbe während der Körperpflege. Offener und genauer, als es in diesem Rahmen möglich ist, wäre auch die Erotik und Attraktivität des Pflegens zu diskutieren und zu beschreiben.
6.8 D ESIDERAT IV: Z UM PFLEGERISCHEN U NVERHÄLTNIS UND Ü BERTRAGUNG Diese Untersuchung versucht aus einer Interaktionsperspektive das Pflegerische als Differenz zu entfalten. Grundsätzlich fällt immer wieder auch die Äquvalentbeziehung zwischen pflegerischem Tableau und anderen Tableaus auf, zum Beispiel zum Tableau der Lehre. Inwiefern zum Beispiel Nora Sternfelds Ansatz eines pädagogischen Unverhältnisses (Sternfeld 2009) oder der von Meyer/ Crommelin/Zahn (2010) herausgegebene Band zur psychoanalytischen und (kunst-)pädagogischen Übertragung weitere Ansätze einer Deutung des pflegerischen Verhältnisses bieten können, wäre künftig genauer zu prüfen. Weitere Studien zum pflegerischen Übertragungsverhältnis könnten meines Erachtens auch konkret an bestehende Pflegeforschung anknüpfen (vgl. Greb 2004). Ich hoffe, dass diese Entfaltungen zum pflegerischen Tableau die Komplexität und Differenz des Pflegerischen haben deutlich werden lassen. Darin hoffe ich eine konkrete und systematische Möglichkeit anbieten zu können, welche die weitere Deutungsarbeit am Pflegerischen befördert.
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Abbildungsverzeichnis
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276 | P FLEGE ALS P ERFORMANCE
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)
Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012
2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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