Der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Zivilprozess: Dogmatik und Zukunftsperspektiven eines Verfahrensgrundsatzes im 21. Jahrhundert - zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Verfahrenslehre 9783161546754, 9783161546686

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz zählt zu den traditionellen Verfahrensgrundsätzen der ZPO. Dennoch ist sein dogmatischer G

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German Pages 427 [428] Year 2016

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Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
§ 1: Einführung
I. Themenstellung
II. Begrenzung des Untersuchungsgegenstands
III. Ziel der Untersuchung
IV. Gang der Darstellung
Teil 1: Grundlagen
§ 2: Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze
I. Terminologische Vorfragen
1. Etymologische Begriffsklärung
2. Philosophischer Sprachgebrauch
a) Prinzip
b) Maxime
c) Grundsatz
3. Allgemeiner Sprachgebrauch
4. Zwischenergebnis
II. Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze
1. Der Begriff der Verfahrensgrundsätze
2. Dogmatische Einordnung
a) Verfahrensgrundsätze als normative Grundsätze
b) Dispositivität der Verfahrensgrundsätze
c) Ausnahmen und Durchbrechungen von Verfahrensgrundsätzen
d) Die Erkennbarkeit von Verfahrensgrundsätzen
e) Die Rechtsnormqualität von Verfahrensgrundsätzen
3. Verfahrensgrundsätze und der Zweck des Zivilprozesses
4. Verfahrensgrundsätze und Verfahrensziele
5. Kritik an den Verfahrensgrundsätzen
a) Falk Bomsdorf
b) Johann Josef Hagen
c) Rudolf Wassermann
d) Dieter Leipold
e) Zusammenfassung
6. Sinn und Zweck der Verfahrensgrundsätze
a) Rechtsstaatliche Funktion
b) Rechtspolitische Funktion
c) Heuristische Funktion
d) Rechtspraktische Funktion
e) Rechtsvergleichende Funktion
III. Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz
1. Normierung im Gesetzestext
2. Verfahrensgrundsätze als überkommene Grundsätze
3. Verfahrensgrundsätze und Grundgesetz
4. Die Konzeption der dialektischen Regelungsmodelle
5. Prinzipientheorie
a) Starke Trennungsthese
aa) Josef Esser
bb) Ronald Dworkin
cc) Robert Alexy
dd) Joachim Englisch
b) Schwache Trennungsthese
c) Kritik an der Prinzipientheorie
aa) Kritik an der starken Trennungsthese
bb) Kritik an der Prinzipientheorie als solche
d) Übertragung der Prinzipientheorie auf das Zivilprozessrecht?
aa) Verfahrensgrundsätze als Optimierungsgebote?
bb) Unterschiede zwischen Grundrechten und Verfahrensgrundsätzen
cc) Verfahrensgrundsätze als Strukturprinzipien?
dd) Allgemeine Bedenken
6. Die „Wichtigkeit“ als vorzugswürdiges Kriterium
a) Faktoren für die Bestimmung der „Wichtigkeit“
aa) Qualität und Quantität
bb) Regel-Ausnahme-Verhältnis
cc) Anwendung in der Praxis
dd) Verfassungsrechtliche Verankerung
ee) Gesetzgeberische Regelungsintention
b) Vorzüge dieses Ansatzes
IV. Die Verfahrensgrundsätze als „Säulen des Verfahrens“
V. Zusammenfassung
§ 3: Rechtsvergleichende Grundlagen
I. Inländische Verfahrensordnungen
1. Strafprozessordnung
a) Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme
aa) Formelle Unmittelbarkeit
bb) Materielle Unmittelbarkeit
cc) Ratio und Vorteile des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
b) Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen
aa) Audiovisuelle Vernehmung (§ 247a StPO)
bb) Verständigung im Strafverfahren (§ 257c StPO)
c) Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafverfahren
d) Reformdiskussionen und Perspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafprozess
aa) Stärkung des Ermittlungsverfahrens
bb) Modifikationen in der Hauptverhandlung
cc) Vorbehalte gegen eine Schwächung der Unmittelbarkeit
2. Verwaltungsprozessordnung
a) Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme
aa) Formelle Unmittelbarkeit
bb) Materielle Unmittelbarkeit
cc) Zeitliche Unmittelbarkeit
b) Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
c) Videokonferenzen im Verwaltungsprozess (§ 102a VwGO)
II. Ausländische Verfahrensordnungen
1. Österreich
a) Gesetzliche Verankerung und Reichweite
aa) Persönliche Unmittelbarkeit
bb) Sachliche Unmittelbarkeit
cc) Zeitliche Unmittelbarkeit
dd) Verfassungsrechtliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes?
b) Folgen von Verstößen gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz
c) Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen
2. England
a) Verfahrenstrennung in Vorverfahren und Hauptverhandlung
b) Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme
aa) Ablauf der Beweisaufnahme
bb) Sonderformen der Beweisaufnahme
cc) Best Evidence Rule
III. Principles of Transnational Civil Procedure
1. Grundzüge und Ablauf des Verfahrens
2. Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
IV. Zusammenfassung
Teil 2: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der ZPO
§ 4: Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
I. Die Epoche des Gemeinen Prozesses
1. Wesensmerkmale des Gemeinen Prozesses
2. Charakterisierung des Gemeinen Prozesses
a) Bewertungen in der Literatur
b) Stellungnahme
3. Vorzüge des Gemeinen Prozesses
4. Kritik am Gemeinen Prozess
II. Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert
1. Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793
a) Verfahrensablauf
b) Formen von Unmittelbarkeit
2. Zivilprozessordnungen im Königreich Hannover
a) Allgemeine bürgerliche Proceßordnung von 1847
aa) Verfahrensablauf
bb) Formen von Unmittelbarkeit
b) Bürgerliche Proceßordnung von 1850
aa) Verfahrensablauf
bb) Formen von Unmittelbarkeit
cc) Die Bedeutung der Unmittelbarkeit nach damaligem Verständnis
3. Bayerische Prozeßordnung von 1869
a) Verfahrensablauf
b) Formen von Unmittelbarkeit
III. Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877
1. Die Entwürfe vor Erlass der Reichs-Civilprozeßordnung
a) Bundesstaaten-Entwurf von 1866
b) Norddeutscher Entwurf von 1870
c) Preußischer Justizministerial-Entwurf von 1871
2. Die Entwicklung von 1871 bis 1877
3. Unmittelbarkeit in der Reichs-Civilprozeßordnung
IV. Die Entwicklung von 1877 bis zur Zeit des Nationalsozialismus
1. Bedeutungsverlust des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
2. Gesetzgebungsakte im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik
3. Die „Wiederentdeckung“ der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zur NS-Zeit
V. Gesetzgebungsakte seit 1945
1. Einzelrichternovelle (1974)
2. Vereinfachungsnovelle (1976)
3. Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz (1990)
VI. Zusammenfassung
§ 5: Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
I. Überblick über den bisherigen Meinungsstand
1. Komponenten der Unmittelbarkeit
a) Formelle Unmittelbarkeit
aa) Inhalt und Reichweite
bb) Die Folgen eines Richterwechsels
b) Materielle Unmittelbarkeit
c) Zeitliche Unmittelbarkeit
2. Unmittelbarkeit und Mündlichkeit
3. Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
4. Einlegung von Rechtsmitteln und Dispositionsbefugnisse der Parteien
II. Kritik und Auffälligkeiten
III. Methodische Vorgehensweise und Vorüberlegungen
IV. Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO
1. Die Parteien und das Gericht
2. Die Parteien und die Beweismittel
3. Die Beweismittel und das Gericht
a) Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 355 ZPO)
aa) (Neu-)Interpretation des Wortlauts
bb) Systematische Überlegungen
cc) Zwischenergebnis
b) Ausnahmen
aa) Delegation der Beweisaufnahme beim Augenscheinsbeweis (§ 372 Abs. 2 ZPO)
bb) Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis (§ 375 ZPO)
(1) Sinn und Zweck der Vorschrift
(2) Besonderheiten der Beweiswürdigung beim Zeugenbeweis
(a) Kriterien zur Beurteilung von „Glaubwürdigkeit“ und „Glaubhaftigkeit“
(b) Erkenntnisse der neueren Aussagepsychologie
(c) Erfordernis eines persönlichen Eindrucks?
(d) Zwischenergebnis
(3) Delegation der Beweisaufnahme nach § 375 Abs. 1 ZPO
(4) Delegation der Beweisaufnahme nach § 375 Abs. 1a ZPO
cc) Delegation der Beweisaufnahme beim Sachverständigenbeweis (§ 402 ZPO)
dd) Delegation der Beweisaufnahme beim Urkundenbeweis (§ 434 ZPO)
ee) Delegation der Beweisaufnahme bei der Parteivernehmung (§ 451 ZPO)
ff) Eidesleistung vor einem beauftragten oder ersuchten Richter (§ 479 ZPO)
c) Sonstige Fälle
aa) Verweisung bei Unzuständigkeit (§ 281 ZPO)
bb) Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen (§ 349 ZPO)
cc) Schriftliche Zeugenaussage (§ 377 Abs. 3 ZPO)
dd) Verfahren nach billigem Ermessen (§ 495a ZPO)
ee) Der vorbereitende Einzelrichter im Berufungsverfahren (§ 527 ZPO)
ff) Amtliche Auskünfte (§§ 273 Abs. 2 Nr. 2, 358a S. 2 Nr. 2 ZPO)
d) Konsequenzen für die Auslegung von § 355 Abs. 1 ZPO
e) Zusammenfassung
4. Das Verhältnis der Parteien untereinander
5. Das Verhältnis der Beweismittel untereinander
a) Schriftliche Zeugenaussage (§ 377 Abs. 3 ZPO)
b) Amtliche Auskünfte (§§ 273 Abs. 2 Nr. 2, 358a S. 2 Nr. 2 ZPO)
c) Freie richterliche Beweiswürdigung (§ 286 Abs. 1 ZPO)
d) Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis (§ 375 Abs. 1 und 1a ZPO)
e) Besondere Verfahrensarten
aa) Glaubhaftmachung (§ 294 ZPO)
bb) Urkunden- (§ 592 ZPO) und Restitutionsprozess (§ 580 Nr. 7b ZPO)
f) Zusammenfassung
6. Die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung
7. Die Verhandlung und die Beweisaufnahme
a) Mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme (§ 279 Abs. 2 und 3 ZPO)
b) Verhandlung nach Beweisaufnahme (§ 285 ZPO)
c) Fortsetzung der mündlichen Verhandlung (§ 370 ZPO)
d) Zusammenfassung
8. Die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung
a) Meinungsstand zu § 279 Abs. 3 ZPO
b) Stellungnahme
c) Zusammenfassung
9. Die Verhandlung und das Urteil
V. Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
1. Komponenten eines Unmittelbarkeitsgrundsatzes
a) Personelle Komponente
aa) Inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede
bb) Verknüpfung der personellen Verhältnisse
(1) Zur Geltung des Mündlichkeitsgrundsatzes im Rahmen der Beweisaufnahme
(2) Konkretisierung des Anwesenheitserfordernisses
(a) Die Parteiöffentlichkeit als „Seitenstück“ zur (formellen) Unmittelbarkeit
(b) Der „Vorhangsfall“ aus dem älteren Schrifttum
(c) Zwischenergebnis
(3) Sinn und Zweck der Anwesenheit
b) Sachliche Komponente
aa) Materielle Unmittelbarkeit und freie Beweiswürdigung
(1) Die Ansicht Krügers: Materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung
(2) Stellungnahme
bb) Materielle Unmittelbarkeit als Grundsatz für besondere Verfahrensarten?
cc) Materielle Unmittelbarkeit als Grundsatz mit Verfassungsrang?
c) Zeitliche Komponente
aa) Inhaltliche Gemeinsamkeiten
bb) Zeitliche Unmittelbarkeit als Komponente eines Unmittelbarkeitsgrundsatzes?
cc) Zeitliche Unmittelbarkeit als Komponente des Konzentrationsgrundsatzes
d) Ergebnis
2. Definition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
3. Vorzüge der hier vertretenen Ansicht
4. Konsequenzen
a) Die Behandlung des Richterwechsels in der ZPO
aa) Der Richterwechsel während der mündlichen Verhandlung
(1) Berücksichtigung der rechtsvergleichenden Untersuchung
(2) (Neu-)Interpretation von § 309 ZPO
(3) Ergebnis
bb) Der Richterwechsel nach der Beweisaufnahme
(1) Auseinandersetzung mit dem bisherigen Meinungsspektrum
(2) Analoge Anwendung von § 285 Abs. 2 ZPO
(3) Teleologische Reduktion von § 398 Abs. 1 ZPO bei Verwertung persönlicher Eindrücke
(4) Ergebnis
cc) Probleme und Lösungsansatz
b) Die Heranziehung mittelbarer Beweismittel
aa) Beweisaufnahme und Beweisantragsrecht
bb) Richterliche Hinweispflicht (§ 139 Abs. 1 ZPO) bei mittelbarer Beweisaufnahme?
c) Die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
d) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Berufungsinstanz
aa) Die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz
(1) Die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§ 522 Abs. 2 ZPO)
(2) Der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts (§ 529 ZPO)
(3) Ergebnis
bb) Die Überprüfbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz
VI. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfassung
1. Der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz
2. Der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz
3. Ergebnis
VII. Zusammenfassung
Teil 3: Gegenwart und Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
§ 6: Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart
I. Zivilprozessreformgesetz (2001)
1. Ziele und Motive des Gesetzgebers
2. Relevante Änderungen
a) Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung (§ 128a ZPO)
aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen für die Durchführung
(1) Videokonferenz (§ 128a Abs. 1 ZPO)
(2) Audiovisuelle Vernehmung (§ 128a Abs. 2 ZPO)
bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz
cc) Auswirkungen auf die Beweiswürdigung
dd) Systemkonformität von § 128a ZPO
(1) Wechselwirkungen zwischen § 128a ZPO und § 355 Abs. S. 1 ZPO
(2) Auslegung und neues Verständnis von § 355 Abs. 1 S. 1 ZPO
(3) Ergebnis
b) Originärer und obligatorischer Einzelrichter (§§ 348, 348a ZPO)
aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen
bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz
c) Beweisaufnahme durch beauftragten oder ersuchten Richter (§ 375 ZPO)
d) Neuregelung des Rechtsmittelrechts (§§ 511 ff. ZPO)
aa) Grundzüge des neuen Berufungsrechts
bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz
3. Bewertung
II. Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004)
1. Ziele und Motive des Gesetzgebers
2. Relevante Änderungen
a) Zulassung des Freibeweises (§ 284 S. 2–4 ZPO)
aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen
bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz
cc) Kritik
(1) Generelle Bedenken gegenüber dem Freibeweis
(2) Kritik an der Neuregelung
dd) Systemkonformität von § 284 S. 2–4 ZPO
(1) Das Verhältnis von § 284 S. 2 ZPO zu § 295 ZPO als Auslegungsproblem
(a) Grammatikalische Auslegung
(b) Systematische Auslegung
(c) Historische Auslegung
(d) Teleologische Auslegung
(e) Zwischenergebnis
(2) Die Rangfolge der Auslegungsmethoden
(3) Ergebnis
b) Verwertung von gerichtlichen Sachverständigengutachten (§ 411a ZPO)
aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen
bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz
3. Bewertung
III. Zweites Justizmodernisierungsgesetz (2006)
IV. Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013)
V. Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
1. Tendenzen in der Gesetzgebung
2. Tendenzen in Literatur und Rechtsprechung
3. Tendenzen in anderen Verfahrensordnungen
4. Konsequenzen
a) Der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart
b) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Verfahrensgrundsatz der ZPO?
aa) Prüfung anhand des Kriteriums der „Wichtigkeit“
(1) Erfüllte Faktoren
(2) Nicht erfüllte Faktoren
(3) Die Anwendung in der Praxis als (noch) „offener“ Faktor
bb) Ergebnis
c) Neudefinition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
VI. Zusammenfassung
§ 7: Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
I. Die zukünftige Entwicklung der ZPO
1. Gegenwärtige Herausforderungen für das nationale Zivilprozessrecht
a) Finanzielle Rahmenbedingungen
b) Justiz und Wettbewerb
2. Handlungsoptionen des Gesetzgebers
a) Generelle Überlegungen
b) Aktuelle und geplante Reformvorhaben
3. Veränderungen im Zivilprozessrecht
a) Justiz als Dienstleistung?
b) Effizienz als (neuer) eigenständiger Prozesszweck?
4. Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz
5. Ergebnis
II. Kritik an der aktuellen Entwicklung
1. Sinn und Nutzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses
a) Generelle Erfahrungen mit den jüngsten ZPO-Reformen
b) Konkrete Beispiele mit Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz
c) Auswirkungen auf andere Grundsätze des Verfahrensrechts
2. Grenzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses
a) Rechtsstaatliche Vorgaben
b) Das Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht
c) Formalismus im Verfahrensrecht
3. Ergebnis
III. Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
1. Bürgernahe Ziviljustiz als Konzept für die Zukunft
a) Begriffsklärung
b) Grundpfeiler einer bürgernahen Ziviljustiz
aa) Verfahrensbeschleunigung
bb) Unmittelbarkeitsgrundsatz
cc) Prozessökonomie
dd) Mündlichkeitsgrundsatz
2. Der Gerechtigkeitswert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
3. Rückgriff auf Lösungswege in anderen Prozessordnungen?
4. Ergebnis
IV. Zusammenfassung
Teil 4: Schluss
§ 8: Ergebnisse
I. Zusammenfassung in Thesen
1. Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze (§ 2)
2. Rechtsvergleichende Grundlagen (§ 3)
3. Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 4)
4. Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 5)
5. Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart (§ 6)
6. Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§ 7)
II. Kernforderungen
1. Stärkere Orientierung an den Verfahrensgrundsätzen bei Gesetzesreformen
2. Konsolidierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes
3. Konsolidierung der ZPO
§ 9: Ausblick
Literaturverzeichnis
Sachregister
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Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 131 herausgegeben von Rolf Stürner

Matthias Wallimann

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Zivilprozess Dogmatik und Zukunftsperspektiven eines Verfahrensgrundsatzes im 21. Jahrhundert – zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Verfahrenslehre

Mohr Siebeck

Matthias Wallimann, geboren 1988; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Augs­ burg; 2013 Erste Juristische Prüfung; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürger­ liches Recht, Zivilverfahrensrecht, Unternehmensrecht, Europäisches Privat- und Internationales Verfahrensrecht an der Universität Augsburg; 2016 Promotion; seit 2016 Rechtsreferendar am Landgericht Ulm.

Zugleich Dissertation, Universität Augsburg, 2016. e­ISBN PDF 978­3­16­154675­4 ISBN 978-3-16-154668-6 ISSN 0722-7574 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­biblio­gra­ phie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und gebunden.

Meinem Großvater zum Gedenken

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Universität Augs­ burg im Wintersemester 2015/2016 als Dissertation angenommen. Für die Druck­ fassung wurde sie aktualisiert, sodass sich Rechtsprechung und Literatur auf dem Stand von Dezember 2015 befinden. Im Frühjahr 2016 erschienene Literatur konnte nur noch teilweise berücksichtigt werden. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Rapha­ el Koch, LL.M. (Cambridge), EMBA, für seine stete Förderung und sein Vertrauen in meine Fähigkeiten, für die Freiräume, die er mir zur Bearbeitung dieses Themas gewährt hat, sowie dafür, dass er mir frühzeitig die Möglichkeit zum eigenständi­ gen wissenschaftlichen Arbeiten und Forschen gegeben und mich in Publikations­ projekte eingebunden hat. Herrn Professor Dr. Christian Gomille danke ich für die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens und seine wertvollen Hinweise. Ferner danke ich meinen Freunden und Kollegen Eva Gofferjé, Maximilian Kum­ mer, Lukas Peltsarszky und Marc Zimmermann für die schöne Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren und die gegenseitige Unterstützung während unserer Pro­ motionszeit. Daniela Titz und Marc Zimmermann danke ich dafür, dass sie die Mü­ hen des Korrekturlesens dieser Arbeit auf sich genommen haben. Die Hanns-Seidel-Stiftung e.V. hat sowohl mein Studium als auch die Entstehung dieser Arbeit durch ein Begabtenstipendium aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert, wofür ich herzlich danke. Der Stu­ dienstiftung ius vivum, insbesondere dem Stiftungsvorstand Herrn Professor Dr. Haimo Schack, danke ich für die Übernahme eines großzügigen Druckkostenzu­ schusses. Der Kanzlei ARNECKE SIBETH und der Juristischen Fakultät der Uni­ versität Augsburg danke ich für die Verleihung des ARNECKE SIBETH Disser­ tationspreises 2016. Mein Dank gilt auch Herrn Dr. Franz-Peter Gillig vom Verlag Mohr Siebeck für die reibungslose Betreuung der Veröffentlichung sowie Herrn Professor Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner für die Aufnahme der Arbeit in die Schriften­ reihe „Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht“. Schließlich danke ich meiner gesamten Familie – insbesondere meinen Eltern Karin Lutzkat-Wallimann und Rudolf Wallimann sowie meinem Stiefvater Hans Helmut Lutzkat –, auf deren Rückhalt ich in jeder Phase meiner schulischen und universitären Ausbildung zählen konnte. Ganz besonders möchte ich meiner Mutter danken, da ohne ihre Unterstützung viele meiner Träume nicht in Erfüllung gegan­ gen wären. Ihr Zuspruch gibt mir Kraft und Mut in jeder Lebenslage. Zu guter Letzt

VIII

Vorwort

danke ich meiner Freundin Jennifer Falkner, die mich stets in Liebe durch Rat und Tat und der erforderlichen Mischung aus Geduld und Ungeduld bei der Erstellung dieser Arbeit begleitet hat. Meinem Großvater Alois Riedel war es leider nicht mehr vergönnt, den Abschluss meines Studiums und meiner Promotion zu erleben. In Dankbarkeit für alles, was er mir mit auf den Weg gegeben hat, ist ihm diese Arbeit gewidmet. Ulm, im Juni 2016

Matthias Wallimann

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

§  1: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Themenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 II. Begrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . 4 III. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 IV. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Teil 1 Grundlagen §  2: Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Terminologische Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 III. Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz . . . . . . . . . . . . 41 IV. Die Verfahrensgrundsätze als „Säulen des Verfahrens“ . . . . . . . . . . 64 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

§  3: Rechtsvergleichende Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 I. Inländische Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 II. Ausländische Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 III. Principles of Transnational Civil Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . 101 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Teil 2 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der ZPO §  4: Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . 109 I. II. III. IV.

Die Epoche des Gemeinen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 116 Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Die Entwicklung von 1877 bis zur Zeit des Nationalsozialismus . . . . . 138

X

Inhaltsübersicht

V. Gesetzgebungsakte seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

§  5: Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . 151 I. Überblick über den bisherigen Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . 151 II. Kritik und Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Methodische Vorgehensweise und Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . 172 IV. Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO . . . . . . . 174 V. Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . 228 VI. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 257 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Teil 3 Gegenwart und Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes §  6: Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart . . 265 I. Zivilprozessreformgesetz (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 II. Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . 283 III. Zweites Justizmodernisierungsgesetz (2006) . . . . . . . . . . . . . . . 300 IV. Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) . . . . . . . 301 V. Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . 303 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

§  7: Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . 315 I. Die zukünftige Entwicklung der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 II. Kritik an der aktuellen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 III. Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . 338 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Teil 4 Schluss §  8: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 I. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 II. Kernforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

§  9: Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

§  1: Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Themenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 II. Begrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . 4 III. Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 IV. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Teil 1 Grundlagen §  2: Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Terminologische Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Etymologische Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Philosophischer Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 a) Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 b) Maxime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 c) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Allgemeiner Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Der Begriff der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 a) Verfahrensgrundsätze als normative Grundsätze . . . . . . . . . . 17 b) Dispositivität der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . 20 c) Ausnahmen und Durchbrechungen von Verfahrensgrundsätzen . . 21 d) Die Erkennbarkeit von Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . . . . 22 e) Die Rechtsnormqualität von Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . 25 3. Verfahrensgrundsätze und der Zweck des Zivilprozesses . . . . . . . 26 4. Verfahrensgrundsätze und Verfahrensziele . . . . . . . . . . . . . . 28 5. Kritik an den Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 a) Falk Bomsdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Johann Josef Hagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Rudolf Wassermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I.

XII

Inhaltsverzeichnis

d) Dieter Leipold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6. Sinn und Zweck der Verfahrensgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . 33 a) Rechtsstaatliche Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Rechtspolitische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 c) Heuristische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 d) Rechtspraktische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 e) Rechtsvergleichende Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 III. Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz . . . . . . . . . . . . 41 1. Normierung im Gesetzestext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Verfahrensgrundsätze als überkommene Grundsätze . . . . . . . . . 41 3. Verfahrensgrundsätze und Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4. Die Konzeption der dialektischen Regelungsmodelle . . . . . . . . . 42 5. Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) Starke Trennungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 aa) Josef Esser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 bb) Ronald Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 cc) Robert Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 dd) Joachim Englisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Schwache Trennungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 c) Kritik an der Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 aa) Kritik an der starken Trennungsthese . . . . . . . . . . . . . 49 bb) Kritik an der Prinzipientheorie als solche . . . . . . . . . . . 51 d) Übertragung der Prinzipientheorie auf das Zivilprozessrecht? . . . 52 aa) Verfahrensgrundsätze als Optimierungsgebote? . . . . . . . . 52 bb) Unterschiede zwischen Grundrechten und Verfahrensgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 cc) Verfahrensgrundsätze als Strukturprinzipien? . . . . . . . . . 55 dd) Allgemeine Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 6. Die „Wichtigkeit“ als vorzugswürdiges Kriterium . . . . . . . . . . . 56 a) Faktoren für die Bestimmung der „Wichtigkeit“ . . . . . . . . . . 58 aa) Qualität und Quantität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 bb) Regel-Ausnahme-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 cc) Anwendung in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 dd) Verfassungsrechtliche Verankerung . . . . . . . . . . . . . . 61 ee) Gesetzgeberische Regelungsintention . . . . . . . . . . . . . 61 b) Vorzüge dieses Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 IV. Die Verfahrensgrundsätze als „Säulen des Verfahrens“ . . . . . . . . . . 64 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

§  3: Rechtsvergleichende Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 I.

Inländische Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme . . . . . . . . . 68 aa) Formelle Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 bb) Materielle Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

Inhaltsverzeichnis

XIII

cc) Ratio und Vorteile des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . 73 b) Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . 74 aa) Audiovisuelle Vernehmung (§  247a StPO) . . . . . . . . . . . 75 bb) Verständigung im Strafverfahren (§  257c StPO) . . . . . . . . 77 c) Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 d) Reformdiskussionen und Perspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 aa) Stärkung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . 81 bb) Modifikationen in der Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . 82 cc) Vorbehalte gegen eine Schwächung der Unmittelbarkeit . . . . 83 2. Verwaltungsprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 a) Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme . . . . . . . . . 84 aa) Formelle Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 bb) Materielle Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 cc) Zeitliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 b) Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 87 c) Videokonferenzen im Verwaltungsprozess (§  102a VwGO) . . . . . 88 II. Ausländische Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Gesetzliche Verankerung und Reichweite . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Persönliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Sachliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 cc) Zeitliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 dd) Verfassungsrechtliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 b) Folgen von Verstößen gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . 94 c) Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . 95 2. England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Verfahrenstrennung in Vorverfahren und Hauptverhandlung . . . . 97 b) Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme . . . . . . . . . 98 aa) Ablauf der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Sonderformen der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . 100 cc) Best Evidence Rule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 III. Principles of Transnational Civil Procedure . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Grundzüge und Ablauf des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 103 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Teil 2 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der ZPO §  4: Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . 109 I.

Die Epoche des Gemeinen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Wesensmerkmale des Gemeinen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . 110

XIV

Inhaltsverzeichnis

2. Charakterisierung des Gemeinen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Bewertungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Vorzüge des Gemeinen Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4. Kritik am Gemeinen Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793 . . 117 a) Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Formen von Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Zivilprozessordnungen im Königreich Hannover . . . . . . . . . . . . 120 a) Allgemeine bürgerliche Proceßordnung von 1847 . . . . . . . . . . 120 aa) Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 bb) Formen von Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Bürgerliche Proceßordnung von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 bb) Formen von Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 cc) Die Bedeutung der Unmittelbarkeit nach damaligem Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Bayerische Prozeßordnung von 1869 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Formen von Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 III. Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Die Entwürfe vor Erlass der Reichs-Civilprozeßordnung . . . . . . . . 131 a) Bundesstaaten-Entwurf von 1866 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Norddeutscher Entwurf von 1870 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 c) Preußischer Justizministerial-Entwurf von 1871 . . . . . . . . . . 133 2. Die Entwicklung von 1871 bis 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 3. Unmittelbarkeit in der Reichs-Civilprozeßordnung . . . . . . . . . . 136 IV. Die Entwicklung von 1877 bis zur Zeit des Nationalsozialismus . . . . . 138 1. Bedeutungsverlust des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . 138 2. Gesetzgebungsakte im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3. Die „Wiederentdeckung“ der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zur NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 V. Gesetzgebungsakte seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Einzelrichternovelle (1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Vereinfachungsnovelle (1976) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz (1990) . . . . . . . . . . . . . . . 147 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

§  5: Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . 151 I.

Überblick über den bisherigen Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Komponenten der Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Formelle Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 aa) Inhalt und Reichweite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Die Folgen eines Richterwechsels . . . . . . . . . . . . . . . 154

Inhaltsverzeichnis

XV

b) Materielle Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Zeitliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Unmittelbarkeit und Mündlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 162 4. Einlegung von Rechtsmitteln und Dispositionsbefugnisse der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 II. Kritik und Auffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Methodische Vorgehensweise und Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . 172 IV. Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO . . . . . . . 174 1. Die Parteien und das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Die Parteien und die Beweismittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Die Beweismittel und das Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§  355 ZPO) . . . . . . . . . 178 aa) (Neu-)Interpretation des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . 179 bb) Systematische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 b) Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Delegation der Beweisaufnahme beim Augenscheinsbeweis (§  372 Abs.  2 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 bb) Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis (§  375 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (1) Sinn und Zweck der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . 183 (2) Besonderheiten der Beweiswürdigung beim Zeugenbeweis 183 (a) Kriterien zur Beurteilung von „Glaubwürdigkeit“ und ­„Glaubhaftigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 (b) Erkenntnisse der neueren Aussagepsychologie . . . . . 186 (c) Erfordernis eines persönlichen Eindrucks? . . . . . 189 (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (3) Delegation der Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1 ZPO . . 193 (4) Delegation der Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1a ZPO . 197 cc) Delegation der Beweisaufnahme beim Sachverständigenbeweis (§  402 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 dd) Delegation der Beweisaufnahme beim Urkundenbeweis (§  434 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 ee) Delegation der Beweisaufnahme bei der Parteivernehmung (§  451 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 ff) Eidesleistung vor einem beauftragten oder ersuchten Richter (§  479 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Sonstige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Verweisung bei Unzuständigkeit (§  281 ZPO) . . . . . . . . . 202 bb) Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen (§  349 ZPO) . 202 cc) Schriftliche Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO) . . . . . . . . 203 dd) Verfahren nach billigem Ermessen (§  495a ZPO) . . . . . . . . 205 ee) Der vorbereitende Einzelrichter im Berufungsverfahren (§  527 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 ff) Amtliche Auskünfte (§§  273 Abs.  2 Nr.  2, 358a S.  2 Nr.  2 ZPO) 206

XVI

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d) Konsequenzen für die Auslegung von §  355 Abs.  1 ZPO . . . . . . 208 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 4. Das Verhältnis der Parteien untereinander . . . . . . . . . . . . . . . 210 5. Das Verhältnis der Beweismittel untereinander . . . . . . . . . . . . 211 a) Schriftliche Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO) . . . . . . . . . . . 211 b) Amtliche Auskünfte (§§  273 Abs.  2 Nr.  2, 358a S.  2 Nr.  2 ZPO) . . . 213 c) Freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) . . . . . . 213 d) Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis (§  375 Abs.  1 und 1a ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 e) Besondere Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 aa) Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . 217 bb) Urkunden- (§  592 ZPO) und Restitutionsprozess (§  580 Nr.  7b ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 6. Die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung . . . . . . . . . 219 7. Die Verhandlung und die Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme (§  279 Abs.  2 und 3 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Verhandlung nach Beweisaufnahme (§  285 ZPO) . . . . . . . . . . 221 c) Fortsetzung der mündlichen Verhandlung (§  370 ZPO) . . . . . . . 222 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 8. Die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . 224 a) Meinungsstand zu §  279 Abs.  3 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . 224 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 9. Die Verhandlung und das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 V. Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . 228 1. Komponenten eines Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 229 a) Personelle Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 aa) Inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . 229 bb) Verknüpfung der personellen Verhältnisse . . . . . . . . . . . 230 (1) Zur Geltung des Mündlichkeitsgrundsatzes im Rahmen der Beweisaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 (2) Konkretisierung des Anwesenheitserfordernisses . . . . . 231 (a) Die Parteiöffentlichkeit als „Seitenstück“ zur (formellen) Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 (b) Der „Vorhangsfall“ aus dem älteren Schrifttum . . . . 232 (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 (3) Sinn und Zweck der Anwesenheit . . . . . . . . . . . . . 233 b) Sachliche Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Materielle Unmittelbarkeit und freie Beweiswürdigung . . . . 234 (1) Die Ansicht Krügers: Materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung . . . . . 234 (2) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

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XVII

bb) Materielle Unmittelbarkeit als Grundsatz für besondere Verfahrensarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 cc) Materielle Unmittelbarkeit als Grundsatz mit Verfassungsrang? 237 c) Zeitliche Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 aa) Inhaltliche Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Zeitliche Unmittelbarkeit als Komponente eines ­Unmittelbarkeitsgrundsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 cc) Zeitliche Unmittelbarkeit als Komponente des Konzentrations­ grundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Definition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . 241 3. Vorzüge der hier vertretenen Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 a) Die Behandlung des Richterwechsels in der ZPO . . . . . . . . . . 243 aa) Der Richterwechsel während der mündlichen Verhandlung . . 243 (1) Berücksichtigung der rechtsvergleichenden Untersuchung . 243 (2) (Neu-)Interpretation von §  309 ZPO . . . . . . . . . . . . 244 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 bb) Der Richterwechsel nach der Beweisaufnahme . . . . . . . . 245 (1) Auseinandersetzung mit dem bisherigen Meinungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (2) Analoge Anwendung von §  285 Abs.  2 ZPO . . . . . . . . 246 (3) Teleologische Reduktion von §  398 Abs.  1 ZPO bei Verwertung persönlicher Eindrücke . . . . . . . . . . . . 247 (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 cc) Probleme und Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Die Heranziehung mittelbarer Beweismittel . . . . . . . . . . . . 249 aa) Beweisaufnahme und Beweisantragsrecht . . . . . . . . . . . 249 bb) Richterliche Hinweispflicht (§  139 Abs.  1 ZPO) bei mittelbarer Beweisaufnahme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 c) Die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . 252 d) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Berufungsinstanz . . . . . . 253 aa) Die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (1) Die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (2) Der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts (§  529 ZPO) . 255 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 bb) Die Überprüfbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 VI. Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 257 1. Der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . 258 2. Der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . 258 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

XVIII

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Teil 3 Gegenwart und Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes §  6: Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart . . 265 Zivilprozessreformgesetz (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 1. Ziele und Motive des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Relevante Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung (§  128a ZPO) . 266 aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen für die Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (1) Videokonferenz (§  128a Abs.  1 ZPO) . . . . . . . . . . . . 267 (2) Audiovisuelle Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) . . . . . . 269 bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . 269 cc) Auswirkungen auf die Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . 271 dd) Systemkonformität von §  128a ZPO . . . . . . . . . . . . . . 273 (1) Wechselwirkungen zwischen §  128a ZPO und §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (2) Auslegung und neues Verständnis von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 b) Originärer und obligatorischer Einzelrichter (§§  348, 348a ZPO) . . 277 aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . 278 bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . 279 c) Beweisaufnahme durch beauftragten oder ersuchten Richter (§  375 ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 d) Neuregelung des Rechtsmittelrechts (§§  511 ff. ZPO) . . . . . . . . 280 aa) Grundzüge des neuen Berufungsrechts . . . . . . . . . . . . 280 bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . 281 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 II. Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Ziele und Motive des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 2. Relevante Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Zulassung des Freibeweises (§  284 S.  2–4 ZPO) . . . . . . . . . . 284 aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . 285 bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . 286 cc) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 (1) Generelle Bedenken gegenüber dem Freibeweis . . . . . . 287 (2) Kritik an der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 dd) Systemkonformität von §  284 S.  2–4 ZPO . . . . . . . . . . . 291 (1) Das Verhältnis von §  284 S.  2 ZPO zu §  295 ZPO als ­Auslegungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 (a) Grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . 292 (b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 293 (c) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 (d) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 294 (e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 I.

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XIX

(2) Die Rangfolge der Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . 294 (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 b) Verwertung von gerichtlichen Sachverständigengutachten (§  411a ZPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Anwendungsbereich und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . 297 bb) Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . 298 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 III. Zweites Justizmodernisierungsgesetz (2006) . . . . . . . . . . . . . . . 300 IV. Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) . . . . . . . 301 V. Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . 303 1. Tendenzen in der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 2. Tendenzen in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . 304 3. Tendenzen in anderen Verfahrensordnungen . . . . . . . . . . . . . . 305 4. Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 a) Der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart 306 b) Der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Verfahrensgrundsatz der ZPO? . 308 aa) Prüfung anhand des Kriteriums der „Wichtigkeit“ . . . . . . . 308 (1) Erfüllte Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 (2) Nicht erfüllte Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 (3) Die Anwendung in der Praxis als (noch) „offener“ Faktor . 310 bb) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 c) Neudefinition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 311 VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312

§  7: Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . 315 Die zukünftige Entwicklung der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 1. Gegenwärtige Herausforderungen für das nationale Zivilprozessrecht . 316 a) Finanzielle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 b) Justiz und Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 2. Handlungsoptionen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 a) Generelle Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 b) Aktuelle und geplante Reformvorhaben . . . . . . . . . . . . . . . 321 3. Veränderungen im Zivilprozessrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 a) Justiz als Dienstleistung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 b) Effizienz als (neuer) eigenständiger Prozesszweck? . . . . . . . . . 324 4. Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . 325 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 II. Kritik an der aktuellen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 1. Sinn und Nutzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses . . . . . . 326 a) Generelle Erfahrungen mit den jüngsten ZPO-Reformen . . . . . . 326 b) Konkrete Beispiele mit Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . 328 c) Auswirkungen auf andere Grundsätze des Verfahrensrechts . . . . 329 2. Grenzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses . . . . . . . . . . 330 a) Rechtsstaatliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 b) Das Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht . . . . . . 333 I.

XX

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c) Formalismus im Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 III. Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . 338 1. Bürgernahe Ziviljustiz als Konzept für die Zukunft . . . . . . . . . . 338 a) Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 b) Grundpfeiler einer bürgernahen Ziviljustiz . . . . . . . . . . . . . 339 aa) Verfahrensbeschleunigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 bb) Unmittelbarkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 cc) Prozessökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 dd) Mündlichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 2. Der Gerechtigkeitswert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . 343 3. Rückgriff auf Lösungswege in anderen Prozessordnungen? . . . . . . 344 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

Teil 4 Schluss §  8: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 1. Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze (§  2) . . . . . . . . . . . . . 349 2. Rechtsvergleichende Grundlagen (§  3) . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 3. Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§  4) . . 351 4. Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§  5) . . . . . . . . . 352 5. Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart (§  6) . 355 6. Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§  7) . . . . . 357 II. Kernforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 1. Stärkere Orientierung an den Verfahrensgrundsätzen bei Gesetzesreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 2. Konsolidierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . 360 3. Konsolidierung der ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 I.

§  9: Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

§  1:  Einführung Ein Sprichwort besagt: „Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen.“ Angesichts der Tatsache, dass es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine zivilprozessuale Untersuchung handelt, könnte man diese Frage vor dem Hintergrund der zunehmenden Europäisierung des Rechts eigentlich für die gesamte ZPO aufwerfen. Die „Zeitgemäßheit“ einer ganzen Prozessordnung lässt sich im Rahmen einer einzelnen Monographie allerdings nur schwer beantworten. Will man ein solches Unterfangen dennoch angehen, so sollte dieses bei einer Untersuchung der Verfahrensgrundsätze der jeweiligen Prozessordnung ansetzen. Dementsprechend wird im Folgenden von der Prämisse ausgegangen, dass sich die Frage nach der „Zeitgemäßheit“ eines Gesetzes am besten beantworten lässt, wenn man einen Blick auf seine Grundstrukturen und deren „Zeitgemäßheit“ wirft. Dies wird zumeist im Zusammenhang mit bevorstehenden Gesetzesreformen relevant. Gerade das Zivilprozessrecht steht aktuell vor der Herausforderung, mit den spezifischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts mithalten zu müssen.1 Der Gesetzgeber muss entscheiden, wie er sowohl auf prozessrechtsimmanente als auch auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren will.2 Damit ist die Brücke zur Gesetzgebung geschlagen. In ihrem nunmehr weit über hundertjährigen Bestehen war die ZPO immer wieder Gegenstand von Reformen.3 Dies wirft naturgemäß die Frage nach deren Auswirkungen auf die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses auf. In diesem Kontext gilt der Verhandlungsgrundsatz als das wohl prominenteste Beispiel. So wurde in den 1970er Jahren intensiv darüber diskutiert, ob dieser nach wie vor als prägender Verfahrensgrundsatz der ZPO existiere oder ob er nicht zwischenzeitlich von einer „Kooperationsmaxime“ abgelöst wurde.4 Auch in den vergangenen Jahren hat die Diskussion um den Verhandlungsgrundsatz nicht abgenommen. Vielmehr wird diese jüngst – bedingt durch eine Vielzahl von Reformen der ZPO seit der Jahrtausendwende5 – wieder 1 

Siehe hierzu später unter §  7 I. 1. Ähnlich Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 26. 3  Gerhardt, JR 1998, 133; ähnlich Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchungen, S.  15 („Geschichte von Reformversuchen und Reformen“). 4  Hierfür Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  97 ff., 109; zur damaligen Diskussion über die möglichen Veränderungen hinsichtlich des Verhandlungsgrundsatzes siehe Prütting, NJW 1980, 361 ff. m. w. N. 5  Siehe hierzu den Überblick bei Musielak/Voit/Musielak, Einleitung Rn.  77. In der Literatur wird daher teilweise von einer „Reformpermanenz im Justiz- und Verfahrensrecht“ gesprochen; 2 

2

§  1:  Einführung

von Neuem geführt.6 Ausschlaggebend hierfür war insbesondere das Zivilprozessreformgesetz aus dem Jahre 2001,7 welches unter anderem zu einer Zurückdrängung der Parteifreiheit bei gleichzeitiger Stärkung der Richtermacht führte.8 Aufgrund der dadurch bewirkten Änderungen der ZPO wird teilweise für eine Bezeichnung als „geleiteter Verhandlungsgrundsatz“ plädiert.9 Diejenigen Fragen, welche für den Verhandlungsgrundsatz diskutiert werden, lassen sich freilich auf andere Verfahrensgrundsätze übertragen bzw. verallgemeinern. Konkret geht es darum, inwieweit sich moderne Gesetzgebungsakte auf die Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses auswirken: Sind diese mit den bisherigen Strukturen vereinbar? Welche Veränderungen ergeben sich in Bezug auf die Verfahrensgrundsätze? Müssen etablierte Grundsätze unter Umständen gar aufgegeben oder zumindest modifiziert werden um „mit der Zeit gehen zu können“?10

I. Themenstellung Diese Fragen sollen am Beispiel des Unmittelbarkeitsgrundsatzes untersucht werden, dessen Gehalt geläufig wie folgt definiert wird: „Die Verhandlung der Parteien und die Beweisaufnahme sollen unmittelbar vor dem (voll besetzten) erkennenden Gericht erfolgen, also ohne das Dazwischentreten richterlicher Mittelspersonen. Nur wer das gesamte Verfahren miterlebt, selbst die Vorträge der Parteien gehört und der Beweisaufnahme beigewohnt hat, ist am besten in der Lage, den Rechtsstreit sachgerecht zu entscheiden.“11

Wirft man einen Blick auf die neuere Gesetzgebung, so scheint auch der Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht unangetastet geblieben zu sein. Die ZPO-Reformen der vergangenen Jahre erwecken den Eindruck, dass dieser immer mehr zugunsten anderer Grundsätze des Verfahrensrechts – insbesondere Verfahrensbeschleunigung und Prozessökonomie – zurückgedrängt wurde.12 Diese Tendenz, welche freilich noch Fischer, KritV 2006, 43; ähnlich Calliess, NJW-Beilage 2014, 27 („Zivilprozess als gesetzgeberische Dauerbaustelle“).   6  Zur grundsätzlichen Berechtigung einer Geltung des Verhandlungsgrundsatzes im Zivilprozess siehe Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  98 ff.   7  Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001, BGBl. I, S.  1887. Siehe hierzu später unter §  6 I.   8  Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  98. Zum Verhältnis von Parteifreiheit und Richtermacht siehe ferner Baur, in: FS Kralik, S.  75 ff.; Stürner, ZZP 123 (2010), 147 ff.; Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (242 ff.); aus rechtsvergleichender Perspektive Hess, in: Richterbild und Rechtsreform, S.  1 (10 ff.).   9  Hierfür Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  349. 10  Ähnlich hinsichtlich der Auswirkungen des Einsatzes von modernen Kommunikationstechnologien im Zivilprozess Fischer, Justiz-Kommunikation, S.  68 f.; siehe auch Gaier/Freudenberg, ZRP 2013, 27 (29); Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28). 11  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  80 Rn.  1. 12  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (370); siehe auch Kern, ZZP 125 (2012), 53 (70 f.).

I. Themenstellung

3

näher untersucht werden muss,13 ist eigentlich wenig überraschend. Wenn man mit Gottwald davon ausgeht, dass das Prozessrecht „Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft“14 ist, so wäre es letztendlich nur konsequent, dass auch die ZPO in zunehmendem Maße von Schnelligkeit sowie ökonomischen Aspekten überlagert wird. Schließlich kann der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts durchaus ein gewisser Hang zur Beschleunigung, (Lebens-)Optimierung und Ökonomisierung attestiert werden.15 Ob diese Entwicklung tatsächlich auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz zutrifft oder nicht, kann nur nach einer genauen Untersuchung der jüngsten Gesetzesreformen beantwortet werden. Neben dem bereits angesprochenen Zivilprozessreformgesetz (2001) hat die ZPO insbesondere durch die beiden Justizmodernisierungs­ gesetze von 200416 und 200617 wichtige Änderungen erfahren. Alle genannten Gesetzesnovellen enthalten Einzelregelungen, welche einen (vermeintlichen) Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz aufweisen. Hierzu zählen insbesondere die Einführung der Videotechnik im Zivilprozess mit der Möglichkeit zur audiovisuellen Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und Parteien (§  128a ZPO), die Zulassung des Freibeweises im Einverständnis mit den Parteien (§  284 S.  2 ZPO) sowie die Verwertbarkeit von Sachverständigengutachten aus anderen Verfahren (§  411a ZPO). All diese Neuerungen lassen den Unmittelbarkeitsgrundsatz möglicherweise in ein neues Licht rücken.18 Dementsprechend muss gefragt werden, ob sich die jüngsten Gesetzesreformen mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz vereinbaren lassen oder ob diese weitere Ausnahmen und Friktionen geschaffen haben, sodass dieser das Prädikat „Verfahrensgrundsatz“ überhaupt nicht mehr verdient. Dies führt unweigerlich zu der Frage nach der generellen Berechtigung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und dessen Zukunftsperspektiven: Ist dieser nach wie vor ein wichtiger Bestandteil des Zivilprozesses? Oder muss er sich dem „Wandel der Zeiten“19 beugen? Dabei handelt es sich um kein rein zivilprozessuales Problem. Vielmehr wird dieselbe Problematik auch in anderen Verfahrensordnungen – insbesondere der StPO – virulent.20 Während die strafprozessuale Diskussion bereits fortgeschritten 13 

Siehe hierzu später unter §  6 V. 1. Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (259). 15  Siehe zu diesem Gedanken bereits Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  83: „Als höchste Prozeß­ idee schwebt einer demokratisch-industriellen Zeit instinktiv nur die der Schnelligkeit, Billigkeit und Massenhaftigkeit vor. Ungehemmt wie die gewerbliche Produktion müssen die Prozesse zunehmen, so will es das Fatum der wirtschaftlichen Entwicklung; dann aber heißt es die Masse schnell bewältigen.“. 16  Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004, BGBl. I, S.  2198. Siehe hierzu später unter §  6 II. 17  Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22. Dezember 2006, BGBl. I, S.  3416. Siehe hierzu später unter §  6 III. 18  Zum Bewertungswandel des Unmittelbarkeitsgrundsatzes siehe Kern, ZZP 125 (2012), 53 (70 f.). 19  Gerhardt, JR 1998, 133. 20  Radtke, GA 159 (2012), 187: „Die Tragfähigkeit des Unmittelbarkeitsprinzips in konzeptioneller Hinsicht und seine Kompatibilität mit den heutigen Realitäten des Strafverfahrens werden allerdings zunehmend bezweifelt.“. 14 

4

§  1:  Einführung

ist,21 finden sich diesbezüglich im zivilprozessualen Schrifttum nur stellenweise Auseinandersetzungen. Ein einheitliches Meinungsbild ergibt sich nicht. Während manche Autoren dem Unmittelbarkeitsgrundsatz positiv gegenüberstehen,22 finden sich ebenso Stimmen, welche dessen grundsätzliche Eignung als Verfahrensgrundsatz der ZPO im 21. Jahrhundert in Frage stellen, wenn dieser beispielsweise als „Idee aus einer vergangenen Zeit“23 bezeichnet wird. Die aktuelle Entwicklung in der Gesetzgebung und deren Kompatibilität mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz muss daher einer kritischen Bewertung unterzogen werden. Ungeachtet der gesetzgeberischen Tätigkeiten in den letzten Jahren und unabhängig von seinem derzeitigen Stellenwert zeigt sich ein sehr differenziertes Meinungsbild 24 hinsichtlich Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes.25 Folglich ist eine alleinige Auseinandersetzung mit der aktuellen Gesetzgebung für die Bearbeitung dieses Themas nicht ausreichend. Die Untersuchung muss ebenso die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in den Blick nehmen und damit auf der sachlichen Ebene ansetzen.

II.  Begrenzung des Untersuchungsgegenstands Die Arbeit beschränkt sich auf das nationale Zivilprozessrecht und damit auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz in der ZPO.26 Ausgeklammert werden die Untersuchung der mittlerweile im FamFG27 geregelten freiwilligen Gerichtsbarkeit28 sowie die Fra­ge nach der Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Bereich der alternativen Streitbeilegung.29 Ferner befasst sich die Untersuchung mit rein nationalen Sachverhalten, weshalb grenzüberschreitende und europäische Aspekte des Unmittelbarkeitsgrundsatzes außer Betracht bleiben. Hierzu zählt zum einen die Problematik einer Beweisauf21 

Zum Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafprozess siehe später unter §  3 I. 1. c). Kern, ZZP 125 (2012), 53 (71 ff.); siehe auch Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (383 f.). 23  Geiger, ZRP 1998, 365 (367). 24  Ausführlich hierzu später unter §  5 I. 25  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (68) spricht aus diesem Grund von einer „grundlegenden wissenschaftlichen Kontroverse“; ähnlich Krüger, Unmittelbarkeit, S.  132 f., wonach „die Meinungen über Inhalt und Umfang eines zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auseinander“ gehen. 26  Zur Unterscheidung von „Zivilprozess“ und „Zivilprozessrecht“ siehe Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, §  1 Rn.  1 ff. 27  Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) vom 17. Dezember 2008, BGBl. I, S.  2586. 28  Zum Unmittelbarkeitsgrundsatz im FamFG siehe Krüger, Unmittelbarkeit, S.  248 ff. Zum Unmittelbarkeitsgrundsatz unter der Geltung des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG) siehe Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  127 ff.; Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181 (186 ff.). 29  Zum Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Mediation siehe Bargen, Gerichtsinterne Mediation, S.  315 f. 22 

II.  Begrenzung des Untersuchungsgegenstands

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nahme im Ausland, welche mittlerweile durch das Nebeneinander von nationalen Vorschriften (§  363 ZPO) und der Europäischen Beweisaufnahmeverordnung (EuBewVO)30 gekennzeichnet ist. Letztere ist dabei aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht vorrangig, sofern es um die Aufnahme eines Beweises in einem EU-Mitgliedsstaat geht.31 Im Anwendungsbereich der EuBewVO bestehen zweierlei Möglichkeiten der Beweisaufnahme: Entweder das inländische Gericht ersucht das zuständige ausländische Gericht im Wege aktiver Rechtshilfe um die Durchführung der Beweisaufnahme (Art.  1 Abs.  1 lit.  a, 10 ff. EuBewVO) oder es ersucht passive Rechtshilfe, sodass es die Beweis­ aufnahme im Ausland unmittelbar selbst vornehmen kann (Art.  1 Abs.  1 lit.  b, 17 EuBewVO).32 In beiden Fällen ließe sich untersuchen, ob und inwiefern der Unmittelbarkeitsgrundsatz verwirklicht wird.33 Mehr oder weniger dieselbe Frage stellt sich im nationalen Recht. Hier ist umstritten, ob und wie sich der Unmittelbarkeitsgrundsatz auf die Anwendung internationaler Rechtshilfe (§  363 Abs.  1 ZPO) auswirkt.34 Teilweise wird unter Hinweis auf die Souveränität des ausländischen Staates vertreten, dass dieser im Falle einer Beweisaufnahme im Ausland zurücktreten müsse.35 Nach der Gegenansicht sei zur Wahrung der Unmittelbarkeit vorrangig auf die Möglichkeit der Beweisbeschaffung ins Inland zurückzugreifen.36 Als mittlerweile wohl herrschend kann eine vermittelnde Ansicht bezeichnet werden, welche unter Hinweis auf die zwischenzeitliche Geltung der EuBewVO die Wahl zwischen der Rechtshilfe einerseits und der Beweisbeschaffung andererseits in das Ermessen des Prozessgerichts stellt.37 Gestützt wird dies durch die Rechtsprechung des EuGH, wonach es dem Gericht eines Mitgliedsstaates unabhängig vom europäischen Prozessrecht nicht verwehrt sei, einen Zeugen nach dem nationalen Recht vorzuladen und zu vernehmen.38 Darüber hinaus wäre auf europäischer Ebene noch an die Ver30  Verordnung (EG) Nr.  1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (EuBewVO), ABl. EU 2001 Nr. L 174/1. 31  Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  58 Rn.  17; Vorwerk, in: FS Krämer, S.  551 (555). 32  Siehe hierzu Rauscher/von Hein, Art.  1 EuBewVO Rn.  11. 33  Zu dieser Frage aus österreichischer Sicht siehe Rechberger/McGuire, ZZPInt 10 (2005), 81 (92 ff.). Ausführlich zum Verhältnis des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zur EuBewVO siehe Vorwerk, in: FS Krämer, S.  551 ff. 34  Zum Streitstand siehe Rauscher/von Hein, Art.  1 EuBewVO Rn.  33 ff. m. w. N.; ausführlich auch Daoudi, Extraterritoriale Beweisbeschaffung, S.  57 ff. m. w. N. 35  Musielak/Voit/Stadler, §  363 ZPO Rn.  1; siehe auch PG/Lindner, §  363 ZPO Rn.  2; ähnlich Leipold, ZZP 105 (1992), 507 (509 f.). 36  Daoudi, Extraterritoriale Beweisbeschaffung, S.  66 ff., 75 f.; Musielak, in: FS Geimer, S.  761 (764 f.); MünchKommZPO/Heinrich, §  363 ZPO Rn.  1; ebenso Rechberger/McGuire, ZZPInt 10 (2005), 81 (90) zum österreichischen Recht. 37  Rauscher/von Hein, Art.  1 EuBewVO Rn.  39; Stein/Jonas/Berger, §  363 ZPO Rn.  5; Niehr, Zivilprozessuale Dokumentenvorlegung, S.  147 f.; Müller, Grenzüberschreitende Beweisaufnahme, S.  159. 38  EuGH NJW 2012, 3771 f. – C-170/11 („Lippens“); ähnlich EuGH EuZW 2013, 313 (314 f.) – C-332/11 („ProRail“); siehe hierzu Sujecki, EWS 2013, 80 ff.

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§  1:  Einführung

ordnung zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EuBagatellVO)39 zu denken. Auch hier könnte der Frage nach den Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz nachgegangen werden.40 Die Beantwortung dieser lediglich grob skizzierten Fragen würde indes den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Der Thematik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im grenzüberschreitenden und europäischen Kontext sollte sich eine eigene Untersuchung annehmen.

III.  Ziel der Untersuchung Diese Arbeit versteht sich als Grundlagenarbeit.41 Aus diesem Grund widmet sie sich nicht nur dem Unmittelbarkeitsgrundsatz im Besonderen, sondern auch den Ver­fahrensgrundsätzen im Allgemeinen. Zwar ist im jüngeren Schrifttum eine zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Verfahrensgrundsätzen zu konstatieren.42 Jedoch kommen die einschlägigen Untersuchungen teilweise zu unterschiedlichen Ergebnissen, beispielsweise hinsichtlich der Bedeutung der Verfahrensgrundsätze für die dogmatische Durchdringung des Zivilprozessrechts.43 Ferner lässt sich feststellen, dass die – angesichts der vielen Gesetzesänderungen in der jüngsten Vergangenheit praktisch bedeutsame – Frage, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um einen prozessualen Grundsatz als „Verfahrensgrundsatz“ bezeichnen zu können, in der Literatur erstaunlicherweise nur selten aufgeworfen wird.44 In den letzten Jahren wurde zur Lösung dieser Problematik verstärkt auf die aus dem Bereich der Grundrechte stammende Prinzipientheorie Robert Alexys zurückgegriffen,45 welcher Prinzipien als Optimierungsgebote be39  Verordnung (EG) Nr.  861/2007 des Europäischen Parlaments und das Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EuBagatellVO), ABl. EU 2007 Nr. L 199/1. 40  Darauf hinweisend Kern, ZZP 125 (2012), 53 (71). 41  Interessanterweise wurde auf der Tagung der Vereinigung der Zivilprozessrechtslehrer in Freiburg (2014) die vermehrt fehlende Auseinandersetzung mit grundlegenden Themen aus dem Bereich des Zivilprozessrechts angemahnt; siehe Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (274). 42  Siehe etwa Krüger, Unmittelbarkeit, S.  26 ff.; Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 ff.; Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 ff.; Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (99 ff.). 43  Positiv in diesem Sinne Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (66 f.); a. A. Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (249 f.). Zur Prinzipiendiskussion siehe ferner Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (286 ff.). 44  Zuletzt Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (99 ff.); ferner Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  60 ff.; Holzlöhner, Grundsätze, S.  29 ff.; Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (82 f.) wirft diese Frage kurz auf, ohne sie jedoch eingehend zu beantworten; siehe auch Buhlmann, Täter-Opfer-Ausgleich, S.  123, 154, wonach ein Verfahrensgrundsatz voraussetze, dass er zur Erreichung des Prozessziels geeignet ist und eine Eigenständigkeit im Verfahrensrecht aufweist; schließlich Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (384), welcher die Zuordnung eines Grundsatzes zu den Verfahrensgrundsätzen von „pragmatischen Gesichtspunkten“ abhängig machen will; ähnlich Oberheim, Zivilprozessrecht, Rn.  26 („reine Wertungsfrage“). 45  Hierfür Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103 f.) hinsichtlich der Prozessökonomie; ebenso

III.  Ziel der Untersuchung

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greift.46 Problematisch bei einer Anwendung der Prinzipientheorie, welche eine Unterscheidung von Regeln und Prinzipien im Wesentlichen anhand der Normstruktur vornehmen will, ist jedoch, dass diese nur schwer eine inhaltliche Aussage über die Verfahrensgrundsätze treffen kann.47 Es soll daher kritisch hinterfragt werden, ob dieser Ansatz für das Zivilprozessrecht fruchtbar gemacht werden kann oder ob nicht nach alternativen Möglichkeiten gesucht werden muss. Insofern besteht der Bedarf nach einer eingehenden dogmatischen Untersuchung der Verfahrensgrundsätze.48 Die Arbeit hat sich daher zum Ziel gesetzt, neue Erkenntnisse über die Grundlagen des Zivilprozesses zu gewinnen und dadurch einen Beitrag zur allgemeinen Verfahrenslehre zu leisten. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet freilich der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Dieser hat in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit in der Literatur erfahren,49 wenngleich dies nicht zu einer Bereinigung der bisherigen Streitstände geführt hat. Nach wie vor fehlt es an einer monographischen Untersuchung,50 welche zum einen den dogmatischen Gehalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes umfassend herausarbeitet und zum anderen auf dieser Basis die jüngsten Gesetzesreformen auf ihre Systemkonformität und ihre Auswirkungen auf das geltende Zivil­ prozessrecht untersucht. Diese Lücke soll durch die vorliegende Untersuchung geschlossen werden. Die Arbeit hat den Anspruch, eine grundlegend dogmatische Fragestellung (Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes) mit aktu­ ellen rechtspolitischen und gesetzgeberischen Entwicklungen (Stellenwert und ­Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes) zu verknüpfen. An der Kwaschik, Parteivernehmung, S.  116 ff. für die prozessuale Waffengleichheit; ferner Koch, Prozess­ ökonomie, S.  35 („Teilausschnitt der Rechtsprinzipien“); für eine Anwendung der Prinzipientheorie wohl auch Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  20; ferner Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen, S.  103 ff. 46  Ausführlich zur Prinzipientheorie unter §  2 III. 5. 47  Siehe hierzu für den Bereich der Grundrechte Klement, JZ 2008, 756 (757). 48  Siehe zu dieser Notwendigkeit Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (Fn.  2): „Das neuere Schrifttum erörtert zwar vielfach die einzelnen Prozeßmaximen (Prozeßgrundsätze) verhältnismäßig ausführlich, läßt aber in der Darstellung ihrer allgemeinen Bedeutung eine deutliche Zurückhaltung erkennen.“; ähnlich zuvor bereits Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  13; a. A. Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (250): „Sich mit den herkömmlichen Maximen des deutschen Zivilprozesses aus rechtsdogmatischer Sicht näher zu befassen, ist im Zeitalter des richterzentrierten Verfahrens weitgehend sinnlos geworden.“. 49  Aus dem Schrifttum seit dem Jahre 2000 siehe insbesondere Kern, ZZP 125 (2012), 53 ff.; ferner Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 ff.; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 ff.; monographisch Krüger, Unmittelbarkeit, S.  132 ff., 198 ff.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  294 ff.; schließlich Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 ff. mit rechtsvergleichenden Ausführungen zum Unmittelbarkeitsgrundsatz im europäischen Zivilprozessrecht. 50  Die letzten monographischen Untersuchungen zum Unmittelbarkeitsgrundsatz reichen in die 1990er und 1970er Jahre zurück; siehe – ausnahmsweise als Vollzitat genannt – in chronologischer Reihenfolge Reichel, Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Zivilprozeßordnung (1971); Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme – ein Prinzip der StPO wie der ZPO? (1972); Koukouselis, Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Zivilprozeß, insbesondere bei der Zeugenvernehmung (1990); Pantle, Die Beweisunmittelbarkeit im Zivilprozeß (1991).

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§  1:  Einführung

Schnittstelle zwischen Dogmatik einerseits und Rechtspolitik bzw. Gesetzgebung andererseits will diese Arbeit einen Beitrag zur Frage nach der Ausgestaltung des Zivilprozessrechts im 21. Jahrhundert leisten.

IV.  Gang der Darstellung Werden aktuelle Entwicklungen in der Gesetzgebung zum Anlass dieser Untersuchung genommen, so bieten sich zwei Vorgehensweisen an: Zum einen können aktuelle Entwicklungen in der Gesetzgebung anhand des Unmittelbarkeitsgrundsatzes untersucht werden. Zum anderen könnte man – als exakt gegenteilige Methode – den Unmittelbarkeitsgrundsatz anhand aktueller Entwicklungen in der Gesetzgebung untersuchen. Je nachdem, wofür man sich entscheidet, muss die methodische Vorgehensweise unterschiedlich ausfallen. Gegebenenfalls kann auch eine Kombination beider Varianten denkbar sein. Um hier Klarheit zu schaffen, sollen im ersten Teil der Arbeit die Grundlagen für die weitere Untersuchung gelegt werden. Daher wird zunächst in einem rechtstheoretischen Kapitel ein abstrakter Blick auf die Dogmatik und das Wesen der Verfahrensgrundsätze geworfen (§  2), ehe anschließend der Blick auf die Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in anderen inländischen und ausländischen Verfahrensordnungen gelenkt wird (§  3). Der zweite Teil der Arbeit widmet sich dem Unmittelbarkeitsgrundsatz im geltenden Zivilprozessrecht. Hier wird zunächst die historische Entwicklung der Unmittelbarkeit ausgehend vom Gemeinen Prozess über die Reichs-Civilprozeßordnung (CPO) von 1877 bis hin zu den wichtigsten Gesetzgebungsakten nach 1945 nachgezeichnet (§  4). Im Anschluss daran folgt eine eingehende Untersuchung der ZPO, um die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes – insbesondere Anknüpfungspunkte, Inhalt und Reichweite sowie verfassungsrechtliche Verankerung – zu Tage zu fördern (§  5). Die Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes werden im dritten Teil der Arbeit herausgearbeitet. An dieser Stelle geht es somit erstmals um die Frage nach dessen „Zeitgemäßheit“. Dafür muss in einem ersten Schritt der gegenwärtige Stellenwert der Unmittelbarkeit anhand der jüngsten Gesetzesreformen geklärt werden (§  6). Ausgehend von der zukünftigen Entwicklung der ZPO im Allgemeinen sowie einer kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen in der Gesetzgebung kann dann in einem zweiten Schritt ganz konkret der Frage nach der Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Zivilprozessrecht nachgegangen werden (§  7). Die Arbeit endet mit einem Schlussteil, in welchem die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung thesenartig zusammengefasst werden (§  8). Schließlich wird ein kurzer Blick auf die zukünftige Entwicklung von anderen Verfahrensgrundsätzen geworfen (§  9).

Teil 1

Grundlagen

§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze Bei näherer Befassung mit dem Wesen der Verfahrensgrundsätze fällt auf, dass der Begriff „Verfahrensgrundsatz“ in der Wissenschaft nicht klar umrissen ist.1 In der Literatur zum Zivilprozessrecht findet nur selten eine inhaltlich-abstrakte Auseinandersetzung hiermit statt.2 Der Befund geht sogar so weit, dass man die Gedanken, die einst Schumann hinsichtlich der Prozessökonomie geäußert hat, auf den Umgang mit Verfahrensgrundsätzen übertragen kann: Der Begriff der Verfahrensgrundsätze wird verwendet, „als ob klar wäre, was unter ihm zu verstehen sei“3. Problematisch daran ist jedoch, dass je „enger ein Begriff mit Allgemeinvorstellungen zusammenhängt, umso weniger regt sich das Bedürfnis nach einer exakten ­Definition.“4 Daher soll im folgenden Abschnitt geklärt werden, worum es sich bei Verfahrensgrundsätzen handelt und anhand welcher Kriterien man diese ausmachen kann. Schließlich gilt es, den Sinn und Zweck der Verfahrensgrundsätze vor dem Hintergrund immerwährender Kritik zu hinterfragen.

I.  Terminologische Vorfragen In der zivilprozessualen Literatur herrscht eine nur schwer durchschaubare Ter­ minologie, wenn unterschiedliche Begrifflichkeiten teilweise für eine und dieselbe Sache verwendet werden. So existieren beispielsweise die Begriffe „Verfahrens­ regel“, „Wertentscheidung“, „Grundsatz“, „Regelungsmodell“, „Verfahrensgrundsatz“ und „Prozessmaxime“.5 Vor allem die beiden letztgenannten Begriffe werden 1  Deutlich Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  13: „Weder das Gesetz noch das Schrifttum kennt einen allgemeingültigen Begriff der Prozeßmaxime. […] Es fehlt eine klare Definition, folglich ist eine Subsumtion nicht möglich.“; ähnlich Reimer, Verfahrenstheorie, S.  215: „Die rechtswissenschaftstheoretische Stellung der Verfahrensmaximen ist weithin ungeklärt.“; auf die mangelnde Klarheit ebenfalls hinweisend Kwaschik, Parteivernehmung, S.  116. 2  Ausführlicher zum Wesen der Verfahrensgrundsätze jüngst Krüger, Unmittelbarkeit, S.  26 ff.; Reimer, Verfahrenstheorie, S.  199 ff., 215 ff.; aus dem älteren Schrifttum Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 ff.; Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  7 ff. 3  Schumann, in: FS Larenz I, S.  271 (275). 4  Schumann, in: FS Larenz I, S.  271 (277). 5  Zu den Begriffen siehe nur Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (99). Zur semantischen Vielfalt bei der Bezeichnung von Prinzipien siehe Schilcher, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  153 (155); ferner Nowrot, Republikprinzip, S.  69 ff. zu Verfassungsprinzipien.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

regelmäßig synonym verwendet.6 In der älteren Literatur findet sich schließlich noch der Terminus „Verfahrensprinzip“.7 Andere differenzieren dagegen zwischen Verfahrensgrundsätzen im weiteren Sinne und Verfahrensgrundsätzen im engeren Sinne (= Prozessmaximen).8 Es verwundert daher nicht, dass diese terminologischen Unklarheiten kritisiert werden.9 Für diese Arbeit soll jedoch eine einheitliche Terminologie gefunden und verwendet werden. Als Ausgangspunkt dient eine Untersuchung der Etymologie, des philosophischen sowie des gegenwärtigen Sprachgebrauchs der gängigen Begriffe (Prinzip, Maxime, Grundsatz).

1.  Etymologische Begriffsklärung Der Ausdruck „Prinzip“ bedeutet Anfang, Ursprung, Grundlage oder Grundsatz.10 Er geht zurück auf den lateinischen Begriff „principium“ (Anfang, Ursprung, Grundlage, erste Stelle, Vorrang), welcher wiederum an „princeps, -ipis“ (die erste Stelle einnehmend, Erster, Vornehmster, Fürst) angelehnt ist.11 Das lateinische „principium“ entwickelte sich wiederum aus dem griechischen „arché“, welches jedoch verschiedene Bedeutungen hatte.12 Der Begriff „Grundsatz“ ist etymologisch im Sinne von „Fundament“ zu verstehen.13 Unter einer „Maxime“ versteht man geläufig einen obersten Grundsatz, einen   6  In zivilprozessualen Lehrbüchern Adolphsen, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  2; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  635; Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5; Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  98; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  76 Rn.  1 f.; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  338. In der Kommentarliteratur Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Einleitung III Rn.  23; HkZPO/Saenger, Einführung Rn.  44, 62; PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  3. Im übrigen Schrifttum Hagen, Elemente, S.  84; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  27; Nolte, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz, S.  143; Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292); Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330); Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (84); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  505; Geerds, SchlHA 209 (1962), 181; Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (78 f.); Volk/Engländer, Grundkurs StPO, §  18 Rn.  1. Auf die Synonymität weist auch Engelmann, Prozeßgrundsätze, S.  19 (Fn.  1) hin, wobei er dieser Terminologie keine weitere Bedeutung beimisst.   7  So beispielsweise Kip, Mündlichkeitsprinzip, passim; Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 ff. („Mündlichkeitsprincip“); für den Bereich des Strafrechts unter anderem Mehle, in: FS Grünwald, S.  351 ff. („Unmittelbarkeitsprinzip“). In der verfassungsrechtlichen Literatur werden teilweise auch die Begriffe „Rechtsprinzipien“ und „Rechtsgrundsätze“ synonym verwendet; so Di Fabio, Jura 1996, 566 (571).   8  MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  287 f.   9  Zu Recht Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (408); a. A. Grunsky, Grundlagen, S.  17, wonach die Terminologie letztendlich weniger wichtig sei. 10  Duden, Herkunftswörterbuch, S.  655; Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  590. Ausführlich zu den Wurzeln des Prinzipienbegriffs Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  146 ff.; siehe auch Böhm, Strafrechtliche Gesetzlichkeit, S.  16 ff. 11  Duden, Herkunftswörterbuch, S.  655. 12  Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  49; ausführlich hierzu Lumpe, ABG 1 (1955), 104 ff. 13  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  156.

I.  Terminologische Vorfragen

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Leitsatz oder eine Lebensregel.14 Der Begriff stammt aus dem Lateinischen (lat. „maxima regula“ oder „maxima sententia“) und bedeutet „höchste Regel, oberster Grundsatz“.15

2.  Philosophischer Sprachgebrauch a) Prinzip In der Philosophie wird „Prinzip“ gleichbedeutend mit dem von Aristoteles geschaffenen Begriff des „Axioms“ verwendet. Dieser verstand unter einem Prinzip „ein Erstes […], wovon her etwas ist, wird oder erkannt wird.“16 In der Scholastik verwendet man den Ausdruck „Axiom“ schließlich für diejenigen Prinzipien, welche a priori bekannt sind und damit als erste und von sich selbst aus dem Geiste einleuchten.17 Der Begriff der „Rechtsprinzipien“ wurde schließlich von Cicero geprägt, wenn dieser den Ausdruck „principium iuris“ verwendet. Diese Terminologie lässt sich mit Ciceros Bemühungen um die Ordnung und Systematisierung des Rechts erklären. Einen klaren Prinzipienbegriff kannte das römische Recht dagegen allerdings nicht.18 Eine Fülle an möglichen Bedeutungen erlangte der Prinzipienbegriff schließlich im Mittelalter insbesondere durch Thomas von Aquin, welcher allein über 140 verschiedene Wortkombinationen, unter anderem die Begriffe „principium actionis“, „principium cognitionis“ und „principium iuris naturae“, schuf.19 In der Neuzeit wurde der Prinzipienbegriff von Descartes weiterentwickelt. Nach ihm müssen Prinzipien zum einen „klar und evident sein“ und zum anderen „eine deduktive Erkenntnis von anderen Dingen ermöglichen“.20 Auch Kant verwendete den Ausdruck „Prinzip“ für oberste Grundsätze21 – allerdings gleichbedeutend mit „Grundsatz“.22 Seit dem 19. Jahrhundert hat das Prinzipiendenken in der Philosophie schließlich mit der Hinwendung zur Wissenschaftstheorie immer mehr an Bedeutung verloren.23 14 

Duden, Herkunftswörterbuch, S.  552. Duden, Herkunftswörterbuch, S.  552. Das hierzu gehörende Adjektiv „maximus“ bedeutet „größter, wichtigster, bedeutendster“, woraus sich das deutsche Adjektiv „maximal“ entwickelte; siehe auch Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  472 (lat. „propositio maxima“, oberster Satz). 16  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  149. Diese Bedeutung hatte der Terminus „Prinzip“ noch bis zur Neuzeit; Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (410). 17  Halder, Philosophisches Wörterbuch, S.  259. 18  Siehe hierzu Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  151 f. 19  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  153. 20  Prechtl/Burkard, Lexikon Philosophie, S.  482. Als erstes Prinzip ergebe sich dasjenige, welches nicht mehr methodisch sinnvoll hinterfragt werden könne. Daraus leitete Descartes letztendlich den berühmten Satz „cogito, ergo sum“ ab; Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  590. 21  Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  590. 22  Prechtl/Burkard, Lexikon Philosophie, S.  482. 23  Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  590. 15 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

b) Maxime „Maxime“ war ursprünglich ein Begriff der Logik. Ab dem Mittelalter verwendete man den Terminus dann für allgemeine Sätze, welche eine Lebensregel oder eine moralische Vorschrift beinhalteten.24 In der Philosophie wurde der Maximen-Begriff vor allem durch Kant geprägt, welcher unter einer Maxime das „subjektive Prinzip des Wollens“25 versteht. Regeln, die man als Handelnder aus subjektiven Gründen zum Prinzip erhebe, seien Maximen.26 Dies kommt schließlich im kategorischen Imperativ zum Ausdruck:27 „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“28 Maximen sind im kantianischen Denken somit „subjektive Grundsätze des Handelns“, wobei sich die Subjektivität darin offenbart, dass jeder Mensch eigene und damit persönliche Grundsätze haben kann.29 c) Grundsatz Auch der Terminus „Grundsatz“ findet in der Philosophie Verwendung und wurde schließlich durch Christian Wolff als Übersetzung des lateinischen Begriffs „Axiom“ in Deutschland eingeführt.30 Generell versteht man in der Philosophie hierunter Sätze oder Aussagen, welche aufgrund ihrer herausragenden Stellung zur Begründung anderer Sätze und Aussagen herangezogen werden können.31

3.  Allgemeiner Sprachgebrauch Heutzutage versteht man unter einem Prinzip eine „allgemeine oder allgemein ­g ültige Regel“32. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Grundsatz“. Ein solcher ist nach allgemeinem Sprachgebrauch ein „Prinzip, das [jemand] für sich zur Richtschnur gemacht hat“ oder ein „allgemeingültiges Prinzip, das einer Sache zugrunde liegt“.33 Beide Begriffe weichen in ihren Bedeutungen somit kaum voneinander ab.34 Dennoch werden die Begriffe im gegenwärtigen Sprachgebrauch unter24 

Siehe hierzu Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  472. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.  20 (Fn.  1). Das objektive Prinzip des Wollens sei dagegen das praktische Gesetz. 26  Kant, Metaphysik der Sitten, S.  331. 27  Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (409). 28  Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S.  45. Dies ist nur eine Formulierung Kants. Daneben existieren noch Weitere; siehe z. B. Kant, Metaphysik der Sitten, S.  331. 29  Prechtl/Burkard, Lexikon Philosophie, S.  364. 30  Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  287; Prechtl/Burkard, Lexikon Philosophie, S.  227. 31  Siehe Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, S.  287. 32  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  156. 33  Duden, Bedeutungswörterbuch, S.  460. 34  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  156; für eine völlige Gleichsetzung Henke, JZ 1981, 249 (250): „[…] ein Prinzip, auf deutsch: ein Grundsatz.“. 25 

I.  Terminologische Vorfragen

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schiedlich verwendet, je nachdem, ob man mit ihnen eine absolute oder relative Geltung zum Ausdruck bringen will. Diese Ambivalenz zeigt sich ganz plastisch am Beispiel der Ausdrücke „im Prinzip“ oder „prinzipiell“, welche einerseits im Sinne von „immer und in jedem Fall“ (absolute Geltung) oder andererseits im Sinne von „im Regelfall, meist“ (relative Geltung) verstanden werden können. Selbiges gilt für das Wort „grundsätzlich“.35 Der Terminus „Maxime“ wird im heutigen Sprachgebrauch im Wesentlichen im Sinne seiner Etymologie und seinen philosophischen Wurzeln verwendet. Seine Bedeutung ist immer noch die eines „Leitsatzes“.36 Entsprechend seiner Synonyme – unter anderem „Devise“, „Leitgedanke“ und „Richtschnur“37 – wird damit letztendlich immer auch eine subjektive Komponente zum Ausdruck gebracht, beispielsweise wenn man sagt, jemand „folgt einer Maxime“.

4.  Zwischenergebnis Aus dieser kurzen Darstellung können bereits erste Feststellungen getroffen werden. Die etymologische Betrachtung ergibt, dass „Prinzip“ und „Maxime“ in ihrer Wortherkunft unterschiedliche Bedeutungen haben. Während der Ausdruck „Prinzip“ auf etwas Ursprüngliches verweist, soll unter einer „Maxime“ vielmehr die Bedeutung und Wichtigkeit einer Sache zum Ausdruck gebracht werden. Dies spiegelt sich teilweise in der Philosophie wider, wenn man „Axiomen“ einen a priori-Charakter zuschreibt und Kant ferner davon spricht, dass Maximen zu allgemeinen Handlungsgrundsätzen werden sollten und dadurch eine hohe Bedeutung einnehmen würden. Eine Gleichsetzung von „Prinzip“ und „Maxime“ ist daher verfehlt. Ebenso sind „Maximen“ und „Grundsätze“ nicht identisch. Während ein „Grundsatz“ als Fundament für die Bildung von anderen Vorschriften dient, setzt eine „Maxime“ begriffsnotwendig ein ihr untergeordnetes Regelwerk voraus.38 Die Begriffe „Prinzip“ und „Grundsatz“ haben zwar unterschiedliche etymologische Wurzeln, werden heutzutage inhaltlich jedoch mehr oder weniger gleichgesetzt. Eine rein isolierte Betrachtung von Etymologie, Philosophie und aktuellem Sprachgebrauch kann jedoch keine abschließenden Ergebnisse für eine juristische Terminologie liefern. Es muss auch das Wesen der Verfahrensgrundsätze an sich berücksichtigt werden. Erst wenn man den Charakter der Verfahrensgrundsätze geklärt hat, kann abschließend eine überzeugende Terminologie festgelegt werden. Die bisherigen Ergebnisse können und werden sodann Verwertung finden. Für die folgenden Ausführungen soll der Einfachheit halber der Terminus „Verfahrensgrundsatz“ gewählt werden. 35 

Die genannten Beispiele stammen von Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  158 f. Duden, Fremdwörterbuch, S.  669. 37  Duden, Synonymwörterbuch, S.  628. 38  Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (76 f.). 36 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze Die dogmatische Natur der Verfahrensgrundsätze und die damit verknüpften Folgefragen bestimmen sich im Wesentlichen danach, ob man diese als bloße gesetzgeberische Modellvorstellungen oder als Grundsätze mit normativem Charakter verstehen will.

1.  Der Begriff der Verfahrensgrundsätze Eine einheitliche Definition für den Begriff „Verfahrensgrundsatz“ existiert nicht. Einigkeit herrscht jedoch insofern, als es sich bei den Verfahrensgrundsätzen um „Regelungen von prinzipieller Bedeutung“39 handeln muss, welche das zivilprozessuale Verfahren prägen.40 In der Literatur wird daher immer wieder von den „Grund­ entscheidungen“41 des Gesetzgebers gesprochen. Verfahrensgrundsätze sind die „Strukturmerkmale“42 des Verfahrens, sie stellen – um es mit Stürner bildlich auszudrücken – den „Bauplan des Gesetzes“43 dar. Sie beziehen sich somit in erster Linie auf die Ausgestaltung des Verfahrens.44 Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass eine Begrenzung erforderlich sei, da andernfalls der Begriff seine Konturen verliere und „zu einem Begriff der Grundlagen des Zivilprozesses“ mutiere.45 Daher empfiehlt es sich, die Verfahrensgrundsätze auf den Ablauf des Verfahrens sowie die Aufgabenverteilung zwischen dem Gericht und den Parteien zu begrenzen.46 Insofern können nicht alle „Grundentscheidungen“ des Gesetzgebers zu den Verfahrens39  Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  98; siehe auch Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14.  Aufl. 1986, S.  450, welche nur „besonders wichtige Entscheidungen des Gesetzgebers“ als Verfahrensgrundsätze verstehen wollen. 40  MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  288; Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  3; PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; ähnlich zum Verwaltungsprozessrecht Nolte, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz, S.  144 („Zusammenfassung von prägenden Verfahrensstrukturen“). 41  Adolphsen, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  1 f.; Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5; PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (100); Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (15); Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331), welcher von den „grundlegenden Entscheidungen“ spricht; ebenso Zöller/Greger, vor §  128 ZPO Rn.  2; Schöpflin, JR 2003, 485. 42  PG/Prütting, Einleitung Rn.  23. 43  Stürner, Richterliche Aufklärung, S.  15; ders., in: FS Baur, S.  6 47; ähnlich Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (15) [„prozessuale Architektur“]. 44  Auf das Merkmal der „Ausgestaltung“ hinweisend Hk-ZPO/Saenger, Einführung Rn.  43; ähnlich Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (91). Die „Ausrichtung“ des Verfahrens an den Verfahrensgrundsätzen betonen Zöller/Greger, vor §  128 ZPO Rn.  2; Schreiber, Jura 2007, 500. 45  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  3 f., wo insoweit von einem engen Begriff der Verfahrensgrundsätze ausgegangen wird. Nicht dazugehören sollen insbesondere die Unabhängigkeit des Richters sowie der Anspruch auf den gesetzlichen Richter; siehe auch Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331); ebenso Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (15) [„feste inhaltliche Begrenzung“]. 46  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  3; Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331); MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  288; ähnlich Greger, in: Dogmatische Grundfragen, S.  77 (78): „[E]s sind die Grundideen, die den Ablauf und den Charakter eines Gerichtsverfahrens ins-

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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grundsätzen gezählt werden. Als Definition lässt sich somit festhalten: Verfahrensgrundsätze sind diejenigen Grundsätze, welche den Ablauf, die Gestaltung, die Struktur sowie die Aufgabenverteilung innerhalb des Verfahrens widerspiegeln.

2.  Dogmatische Einordnung a)  Verfahrensgrundsätze als normative Grundsätze Verfahrensgrundsätze können zunächst als Modellvorstellungen oder Zielbeschreibungen begriffen werden.47 Dieser Gedanke klingt an, wenn in der Literatur von bloßen „Orientierungspunkten“48 oder „Wert- und Richtungsentscheidungen“49 gesprochen wird. Ähnliche Überlegungen finden sich im Bereich der Rechtstheorie: Verstünde man Verfahrensgrundsätze als Modelle, dann ließen sich die einzelnen Bestimmungen der Zivilprozessordnung danach systematisieren, welchem Modell sie zugeordnet sind. Folgen relativ viele Bestimmungen ein und demselben Modell, könne man das Verfahren mit Hilfe dieses Modells charakterisieren.50 Dieser Ansatz geht davon aus, dass sich Verfahrensgrundsätze als Gegensatzpaare erfassen lassen.51 Schließlich werden Verfahrensgrundsätze als „Schablone[n] zur Darstellung der Einzelheiten des positiven Rechts“52 bezeichnet. Eine solche Deutung würde die Verfahrensgrundsätze letztendlich auf eine deskriptive Natur reduzieren.53 Hiergegen spricht jedoch, dass gewisse Verfahrensgrundsätze bereits durch das Grundgesetz vorgegeben sind und damit Geltung im Zivilprozess entfalten müssen.54 Hierzu zählen der Anspruch auf rechtliches Gehör, der Anspruch auf ein faires Verfahren sowie die prozessuale Waffengleichheit.55 gesamt bestimmen und dem Verhalten aller Beteiligten die Richtschnur setzen.“; siehe hierzu auch Engelmann, Prozeßgrundsätze, S.  20 f. 47  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  284. 48  Geerds, SchlHA 209 (1962), 181 (für das Strafprozessrecht). 49  Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  49. 50  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  284. 51  Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (286) [„Ordnung nach Gegensatzpaaren“]. Zur Dialektik der Verfahrensgrundsätze siehe später unter §  2 III. 4. 52  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  505. 53  Hierfür Hagen, Elemente, S.  84; ferner Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrens­ maximen, S.  73 (82 f.); siehe hierzu auch Geerds, SchlHA 209 (1962), 181: „Derartigen Maximen eignet also nicht begriffsnotwendig Rechtssatzcharakter, vielmehr verkörpern sie als solche nur Orientierungsmittel, die es uns als programmatische Hilfsbegriffe erleichtern sollen, den sowohl für die Anwendung de lege lata als auch für die Ausgestaltung de lege ferenda notwendigen Überblick über die Materie des Strafprozeßrechts zu erlangen.“. 54  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330). Zur Verortung der zivilprozessualen Verfahrensgrundsätze im Grundgesetz siehe Stürner, in: FS Baur, S.  647 ff.; zum „Verfassungsbezug“ der Verfahrensgrundsätze siehe Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, S.  63 f.; ferner Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  32 ff. 55  Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (36). An anderer Stelle werden dagegen nur zwei der drei Grundsätze angesprochen oder auch noch weitere Grundsätze zu den verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundsätzen des Zivilprozesses gezählt; siehe hierzu Musielak, in: GS Kopp, S.  56 ff.;

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art.  103 Abs.  1 GG ist nach der Rechtsprechung des BVerfG als „prozessuales Urrecht“ ein unabdingbares Element eines rechtsstaatlichen Gerichtsverfahrens,56 wobei Art.  103 GG als allgemeiner Grundsatz für alle Verfahrensarten gilt.57 Zwar ist er in der ZPO selbst nicht ausdrücklich normiert, wird aber durch bestimmte Normen konkretisiert und näher ausgestaltet.58 Der Anspruch auf ein faires Verfahren wird als „allgemeines Prozessgrundrecht“ aus Art.  2 Abs.  1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip aus Art.  20 Abs.  3 GG abgeleitet.59 Dieser gehört zu den „wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens“60. Zudem wird es durch Art.  6 Abs.  1 EMRK garantiert.61 Die prozessuale Waffengleichheit entspringt schließlich dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art.  3 Abs.  1 GG).62 Wenn aber das Grundgesetz bestimmte Verfahrensgrundsätze vorgibt, welche über Art.  1 Abs.  3 GG die Legislative, Exekutive und Judikative binden,63 können diese nicht als bloße Modelle begriffen werden. Zudem würde bei einer solchen Einordnung das Wesen der Verfahrensgrundsätze mit ihrer Funktion verwechselt. Sicherlich dienen diese der Beschreibung des Verfahrens und erleichtern damit das Verständnis und die Systematisierung des Prozessrechts. Dies ist aber nur eine ihrer Funktionen, mithin eine Folge, die sich aus ihrem Wesen erst ergibt.64 Die Vorstellung von Verfahrensgrundsätzen als Modellvorstellungen oder Zielbeschreibungen ist folglich abzulehnen.65 Mit der herrschenden Meinung sind die Verfahrensgrundsätze als normative Grundsätze zu verstehen,66 wobei der Terminus „normativ“ einer kurzen PräzisieMusielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  99 ff.; Stürner, in: FS Baur, S.  647 (648); Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  106 ff.; a. A. Reimer, Verfahrenstheorie, S.  213, wonach insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zu den Verfahrensgrundsätzen gezählt werden sollte. 56  BVerfGE 55, 1 (6) = NJW 1980, 2698; Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  106; ausführlich hierzu Baur, AcP 153 (1954), 393 ff. 57  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  82 Rn.  1. 58  Hk-ZPO/Saenger, Einführung Rn.  4 4; Musielak, in: GS Kopp, S.  56 (57); Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  99. 59  BVerfGE 57, 250 (274 f.) = NJW 1981, 1719 (1722); siehe hierzu Vollkommer, in: GS Bruns, S.  195 ff. 60  BVerfGE 38, 105 (111) = NJW 1975, 103. 61  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  1 Rn.  30. Zum Einfluss der EMRK auf den Zivilprozess siehe Matscher, in: FS Henckel, S.  593 ff. 62  Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (37); siehe hierzu Vollkommer, in: FS Schwab, S.  503 ff. m. w. N. 63  Baur, AcP 153 (1954), 393 (395); siehe auch Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (649); Maurer, in: FS BVerfG II, S.  467 (469); a. A. Detterbeck, AcP 192 (1992), 325 (330 f.), wonach „wertentscheidende Grundsatznormen“ des Grundgesetzes letztendlich nur über eine mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Zivilprozessrecht Berücksichtigung finden können. 64  Zur heuristischen Funktion der Verfahrensgrundsätze siehe später unter §  2 II. 6. c). 65  Zutreffend Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330). 66  Hierfür Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330); Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  5; Kern, ZZP 125 (2012), 53 f.; ähnlich Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  98, wo von „Rechtsgrundsätzen“ die Rede ist; ebenso MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  287; so wohl auch Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (90), wenn er untersucht, ob ökonomische Effizienz Bestandteil der Wertordnung des „geltenden Rechts“ ist; siehe zudem Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (413); so auch ausdrücklich Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  174 m. w. N. für die verfassungs-

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rung bedarf. „Normativ“ meint eine Bedeutung im Sinne von „als Norm wirkend, also regelnd, bindend“67 und ist damit der Gegenbegriff zu „deskriptiv“.68 Eine normative Geltung nach Larenz/Canaris bedeutet „die Maßgeblichkeit oder Verbindlichkeit einer Verhaltensanforderung oder eines Maßstabes, an dem sich menschliches Verhalten messen lassen muß.“69 So verstanden handelt es sich bei Verfahrensgrundsätzen um „Grundsätze des geltenden Rechts“70 – mit anderen Worten: Verfahrensgrundsätze sind rechtliche Grundsätze, die eingehalten werden müssen.71 Hierfür spricht, dass das Gesetz selbst bestimmte Grundsätze vorgibt – insbesondere die zuvor genannten verfassungsrechtlichen Maßstäbe sowie die Verankerung des Mündlichkeitsgrundsatzes in §  128 Abs.  1 ZPO.72 Würde man dagegen auf einem eher deskriptiven Charakter der Verfahrensgrundsätze beharren wollen, käme man um eine differenzierte Betrachtungsweise – letztendlich eine Trennung zwischen Verfahrensgrundsätzen, welche aus dem Grundgesetz herrühren und solchen, die der ZPO selbst entstammen – nicht herum. Eine derartige „Aufspaltung“ der Verfahrensgrundsätze macht jedoch wenig Sinn.73 Überzeugend kann nur ein einheitliches Verständnis der Verfahrensgrundsätze sein. Eine Differenzierung kann allenfalls dort erforderlich sein, wo es um die Klärung der Frage geht, welche „Herkunft“ und welches „Gewicht“ die einzelnen Verfahrensgrundsätze haben.74

rechtlichen Prinzipien; a. A. Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (82) [Fn.  19]; Reimer, Verfahrenstheorie, S.  218 f., welcher von einem „außerpositive[n] Wesen“ der Verfahrensgrundsätze ausgeht. 67  Schroeder, JZ 2011, 187 (188). 68  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  59. 69  Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  17. Zur Etymologie des Begriffs „Norm“ siehe Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  94 f. 70  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330); Bargen, Gerichtsinterne Mediation, S.  297; ebenso für Prinzipien Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S.  59. 71  So Böhm, Strafrechtliche Gesetzlichkeit, S.  17 in Bezug auf Prinzipien. Dieser Ansatz kann und soll freilich auf die Verfahrensgrundsätze übertragen werden. 72  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330). 73  Hierfür aber Krüger, Unmittelbarkeit, S.  38 f., welcher zwischen „klassischen Verfahrensgrundsätzen“ und „verfassungsrechtlichen Verfahrensgrundsätzen“ differenziert; ebenso Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (386 ff.); siehe auch Musielak, in: GS Kopp, S.  56 (57); Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (29); zum englischen Zivilprozessrecht siehe Andrews, Civil Procedure, Rn.  3.01, wo zwischen den verfassungsrechtlich garantierten Fundamental Procedural Guarantees und den zivilprozessualen Leading Principles unterschieden wird. Stellenweise findet sich auch eine Aufteilung in verschiedene Kategorien; siehe aus dem älteren Schrifttum Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S.  63 ff., welcher zwischen Sachgestaltungsgrundsätzen, Rechtsverfolgungsgrundsätzen sowie Verfahrensgrundsätzen differenziert. 74  Siehe hierzu Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (30 ff.). In diese Richtung geht der Ansatz von Reimer, Verfahrenstheorie, S.  211, welcher zwischen „großen“ und „kleinen“ Verfahrensgrundsätzen differenziert. Der Unterschied zwischen beiden Kategorien soll darin bestehen, dass die „kleinen“ Verfahrensgrundsätze über kein Gegenmodell verfügen und sich daher nicht zur Charakterisierung eines Verfahrens eignen würden. Dieser Ansicht ist jedoch insofern nicht zu folgen, als die Konzeption der dialektischen Regelungsmodelle nicht zur dogmatischen Erfassung der Verfahrensgrundsätze herangezogen werden sollte; siehe hierzu später unter §  2 III. 4.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

Hieraus sollte jedoch nicht auf eine unterschiedliche – entweder deskriptive oder normative – Geltung geschlossen werden. b)  Dispositivität der Verfahrensgrundsätze Die Beantwortung der Frage, ob die Verfahrensgrundsätze zur Disposition des Gesetzgebers stehen, muss differenziert ausfallen: Grundsätzlich kann dieser das Verfahren nach seinen (rechtspolitischen) Vorstellungen ausgestalten und demnach über die Verfahrensgrundsätze disponieren. Die Dispositionsfreiheit findet allerdings ihre Grenzen in den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes.75 Der bereits angesprochene Anspruch auf rechtliches Gehör, der Anspruch auf ein faires Verfahren sowie die prozessuale Waffengleichheit binden den Gesetzgeber über Art.  1 Abs.  3 GG als sog. Verfahrensgrundrechte und „sichern in Form eines grundrechtsgleichen Rechts die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards.“76 Insofern sind bestimmte Grundsätze aufgrund ihrer rechtsstaatlichen Bedeutung für den Zivilprozess unabdingbar und können nicht nach Belieben ausgewechselt werden.77 Für nicht unmittelbar in der Verfassung geregelte Verfahrensgrundsätze beurteilt sich deren Dispositivität somit danach, ob sich diese innerhalb der Normen des Grundgesetzes verorten lassen.78 Anerkannt ist dies für den Dispositionsgrundsatz. Die Eigentumsgarantie (Art.  14 GG) sowie die allgemeine Handlungsfreiheit (Art.  2 Abs.  1 GG) gewährleisten dem Einzelnen eine materielle Verfügungsbefugnis über vermögensrechtliche und personenrechtliche Ansprüche, sodass der Dispositionsgrundsatz nur als Ausprägung und Konsequenz jener grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte verstanden werden kann.79 Die Befugnis, über das Verfahren verfügen zu können, entspricht der Verfügungsbefugnis auf materieller Ebene.80 Ebenso ist ein wichtiger Bestandteil des Verhandlungsgrundsatzes – nämlich das Recht, die Tatsachen in den Prozess einzubringen – über Art.  103 Abs.  1 GG verfassungsrechtlich verankert.81 Umstritten war die verfassungsrechtliche Verankerung bislang für den Öffentlichkeits75 

Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5. BVerfGE 107, 395 (407) = NJW 2003, 1924 (1926); siehe hierzu Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (6 ff.). 77  Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (32); Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  338. 78  Stürner, in: FS Baur, S.  6 47; ferner Adolphsen, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  5; zum Strafrecht siehe auch Eser, ZStW 104 (1992), 361 (384 f.). 79  Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (651). 80  BVerfGE 52, 131 (153) = NJW 1979, 1925 (1927); MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  290; ferner Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  1 Rn.  28. Der Dispositionsgrundsatz wird daher als „prozessuale Seite der Privatautonomie“ verstanden; Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  52; ähnlich Grunsky, Grundlagen, S.  18, welcher den Dispositionsgrundsatz als „Korrelat der materiellrechtlichen Ausübungs- und Verfügungsfreiheit“ interpretiert. 81  Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (657); Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (59). Nicht verfassungsrechtlich garantiert sei dagegen das Recht der Parteien, über Tatsachen und Beweismittel – insbesondere im Sinne eines Ausklammerns – frei verfügen zu dürfen; siehe Stürner, in: FS Baur, S.  647 (658). 76 

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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grundsatz (§  169 GVG). Während das BVerfG in seiner früheren Rechtsprechung den Verfassungsrang der Öffentlichkeit noch verneint hatte,82 hat es diesen durch eine Entscheidung aus dem Jahre 2001 in den Rang eines Verfassungsgrundsatzes gehoben, da der Öffentlichkeitsgrundsatz als eine Ausprägung des Rechtsstaats­ prinzips (Art.  20 Abs.  3 GG) zu verstehen sei.83 Keinen Verfassungsrang genießen nach Ansicht der Karlsruher Richter dagegen der Mündlichkeitsgrundsatz84 sowie die Unmittelbarkeit.85 Beide stünden folglich zur Disposition des Gesetzgebers. c)  Ausnahmen und Durchbrechungen von Verfahrensgrundsätzen Im unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Disponibilität steht die Problematik der Zulässigkeit von Ausnahmen der Verfahrensgrundsätze. Eine volle und reine Verwirklichung der Verfahrensgrundsätze ist letztendlich aus praktischen Gründen kaum möglich.86 Die Tatsache, dass im Gesetz einzelne Durchbrechungen der Verfahrensgrundsätze geregelt sind, beseitigt indes nicht deren Charakter als Verfahrensgrundsatz, da diese Ausnahmen vertragen.87 Verfahrensgrundsätze haben keinen absoluten Charakter.88 Dennoch ist das Hinzufügen von einzelnen Durchbrechungen in zweierlei Hinsicht nicht unproblematisch: Zum einen wirft es die Frage auf, ob und inwieweit eine Ausnahme einer Rechtfertigung bedarf. Zum anderen muss ermittelt werden, wie viele Ausnahmen von einem Verfahrensgrundsatz tatsächlich zugelassen werden können. Für die grundgesetzlich vorgegebenen Verfahrensgrundrechte ist für den Fall ihrer Durchbrechung durch den Gesetzgeber eine Rechtfertigung unerlässlich.89 Dies muss für die Verfahrensgrundrechte gleichermaßen gelten wie für die „normalen“ Grundrechte.90 Diffiziler verhält es sich bei den nicht verfassungsrechtlich garantierten Verfahrensgrundsätzen. Geht man allein von deren Dispositivität aus, müss82  BVerfGE 15, 303 (307). Kritisch hierzu vor dem Hintergrund von Art.  6 Abs.  1 EMRK Stürner, in: FS Baur, S.  647 (659 ff.). 83  BVerfGE 103, 44 (63) = NJW 2001, 1633 (1635) [„Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips“]; siehe hierzu Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (60 f.). 84  BVerfGE 5, 9 (11); BVerfGE 25, 352 (357) = NJW 1969, 1895; BVerfGE 36, 85 (87) = NJW 1974, 133; kritisch wiederum Stürner, in: FS Baur, S.  647 (661 ff.). 85  Siehe hierzu später unter §  5 VI. 86  Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  636; Brüggemann, Judex, S.  102 („[…] scheint zu ihrem Wesen gerade eine gewisse Breite der Toleranz zu gehören.“). Für eine möglichst reine und exakte Realisierung der Verfahrensgrundsätze plädiert dagegen Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (33 f., 38). 87  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331); Stickelbrock, Kollision, S.  62; siehe ferner Schönfeld, Verhandlungsmaxime, S.  7. 88  Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  69; ferner Canaris, Systemdenken, S.  53: „Die Prinzipien gelten nicht ohne Ausnahmen und können zueinander in Gegensatz oder Widerspruch treten.“. 89  Piekenbrock, ZZP 126 (2013), 131 (133). 90  Ipsen, Staatsrecht II, Rn.  171. Die Beschränkbarkeit von Grundrechten ist allein deshalb erforderlich, da „ihre Schutzgüter untereinander oder mit anderen ebenso schützenswerten Gütern kollidieren können“; Raue, AöR 131 (2006), 79 (83).

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

te man eine Rechtfertigungspflicht eigentlich verneinen. Steht die Ausgestaltung des Verfahrens – innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen – zur Disposition des Gesetzgebers, liegt der Schluss nahe, dass eine Durchbrechung keiner Rechtfertigung bedürfte.91 Dabei wird jedoch der normative Charakter der Verfahrensgrundsätze verkannt. Wenn man diese richtigerweise als Grundsätze des geltenden Rechts begreift, muss konsequenterweise eine Rechtfertigungspflicht angenommen werden.92 Dieses Ergebnis wird nicht zuletzt durch die Praxis gestützt, da regelmäßig eine Begründung durch den Gesetzgeber erfolgt.93 Wie viele Ausnahmen ein Verfahrensgrundsatz verträgt, lässt sich pauschal nicht sagen. Eine absolute Zahl, ab welcher die Grenze der Zulässigkeit überschritten wäre, kann nicht einheitlich festgelegt werden. Das Vorliegen eines Verfahrensgrundsatzes muss jedenfalls dann verneint werden, wenn seine Ausnahmen und Durchbrechungen dasselbe Gewicht innehaben wie der eigentliche Grundsatz selbst.94 Wann dies der Fall ist, kann erst beantwortet werden, wenn man sich über die (Mindest-)Anforderungen eines Verfahrensgrundsatzes im Klaren ist.95 Wird die Untergrenze – beispielsweise aufgrund zu vieler Ausnahmen – unterschritten, würde ein Grundsatz seinen Charakter als „Verfahrensgrundsatz“ verlieren. d)  Die Erkennbarkeit von Verfahrensgrundsätzen Zur Herausbildung der Verfahrensgrundsätze bieten sich mehrere Optionen an. Die einfachste und offenkundigste Möglichkeit wäre, dass das Gesetz selbst die Verfahrensgrundsätze ausdrücklich benennt.96 Dies kann auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen. Einmal könnte der Gesetzgeber einen Katalog der Verfahrensgrundsätze aufstellen – wie beispielsweie in der Zivilprozessordnung der (ehemaligen) DDR 97 oder wie im französischen Code de Procédure Civile (CPC) von 197698. Der deutsche Gesetzgeber hat sich indes gegen eine solche Vorgehensweise entschieden.99 Ebenso könnte das Gesetz eine einzelne Regel ausdrücklich als Grundsatz – und 91  So wohl Piekenbrock, ZZP 126 (2013), 131 (133), wenn er eine Rechtfertigung nur im Falle von verfassungs- oder völkerrechtlich vorgegebenen Grundsätzen verlangt. 92  Hierfür auch Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  6; Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331); Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (56); Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (15); Roth, JZ 2014, 801 (802). 93  Zu den diesbezüglichen Besonderheiten im Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz siehe später unter §  6 V. 1. 94  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331). 95  Siehe hierzu später unter §  2 III. 6. 96  Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (58). 97  Darauf hinweisend Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  635. 98  Siehe hierzu Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (297 ff.). Ausführlich zu den Verfahrensgrundsätzen („principes directeurs“) des französischen Zivilprozesses Schilling, Principes directeurs, S.  45 ff. 99  Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (298); gegen die Notwendigkeit eines solchen Kataloges Geerds, SchlHA 209 (1962), 181 (182) [für den Bereich des Strafprozessrechts].

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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damit für den Bereich des Prozessrechts als Verfahrensgrundsatz – bezeichnen.100 Problematisch daran ist jedoch, dass nicht zwangsläufig jeder „Grundsatz“ zugleich ein „Verfahrensgrundsatz“ ist,101 da es – wie bereits ausgeführt – einer Eingrenzung der Verfahrensgrundsätze bedarf. In aller Regel müssen die Verfahrensgrundsätze mittels einer Analyse des positiven Rechts festgestellt werden.102 Dies geschieht regelmäßig im Wege der Induk­ tion, indem aus Einzelbestimmungen deren Gemeinsamkeiten deduziert werden.103 Die Verfahrensgrundsätze müssen insofern – meist mittels „schlichter Gesetzes­ lektüre“104 – aus den einzelnen Regelungen der ZPO herausdestilliert werden.105 Dies geht zurück auf eine bereits in den Digesten des Corpus Iuris Civilis angesprochene Grundregel: „Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat.“106 100 

Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (58). Siehe nur Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (99) mit Hinweis auf den „Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung“, welcher zweifelsfrei kein Verfahrensgrundsatz sein soll. 102  Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (59); Piekenbrock, ZZP 126 (2013), 131 (133); Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (149); Koch, Prozessökonomie, S.  33 („aus Gesetz und Recht ermittelt“); siehe auch Grunsky, Grundlagen, S.  16; Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S.  53 f. 103  Ausführlich zur Induktion Canaris, Feststellung von Lücken, S.  97 ff.; ferner Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  756a. Daneben existieren nach Hahn noch zwei weitere Möglichkeiten zur Feststellung und Herausbildung von Verfahrensgrundsätzen. Zum einen ließe sich die Existenz eines Verfahrensgrundsatzes losgelöst vom positiven Recht anhand von rechtspolitischen und ideologischen Vorstellungen begründen („rechts- bzw. prozeßpolitische Deduktion“). Zum anderen soll bereits die rein praktische Eignung eines Verfahrensgrundsatzes – regelmäßig aus organisatorischen und prozessökonomischen Gründen – für das jeweilige Verfahren als Begründungsansatz ausreichen können („pragmatisch-strategische Deduktion“); siehe Hahn, Kooperationsmaxime, S.  37 ff. m. w. N. Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Herausbildung bzw. Anerkennung von Rechtsprinzipien siehe Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S.  91 ff.; Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S.  53 ff. 104  Stürner, Richterliche Aufklärung, S.  15. 105  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  5; Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (413); Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (89 f.); Bargen, Gerichtsinterne Mediation, S.  297; Hahn, Kooperationsmaxime, S.  38 („aus dem Gesetz extrahiert“); Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (16) [„Zusammenschau von Einzelregelungen mit größerer Prägnanz und Detailtiefe“]; ferner Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (59); Engelmann, Prozeßgrundsätze, S.  22. Diese methodische Vorgehensweise wird teilweise kritisiert, sofern „aus besonderen Regelungen abstrakte Grundsätze destilliert werden, die dann ohne weiteres auf von der Regelung nicht erfasste Fälle erstreckt werden.“ Eine solche Vorgehensweise sei „mit dem methodischen Risiko des Inversionsschlusses behaftet“; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (147). In ähnlicher Weise behauptet auch Krüger, dass einzelne Gesetzesvorschriften „allenfalls bedingte Rückschlüsse für allgemeine Prozessrechtsgrundsätze zulassen“ und dass Einzelvorschriften kein „schlagkräftiges Argument“ für oder gegen einen Verfahrensgrundsatz bilden könnten; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  208, 213. Er widerspricht sich allerdings selbst, wenn an anderer Stelle gesagt wird, dass für einen Verfahrensgrundsatz – für den Fall, dass sich für diesen im Gesetz keine „ausdrückliche Vorschrift ausfindig machen lässt“ – die Möglichkeit verbleibt, diesen „einer Vielzahl von normativen Regelungen“ zu entnehmen; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  226. Das „Entnehmen“ eines Grundsatzes aus diversen Normen ist aber nichts anderes als ein „Herausdestillieren“ eines Grundsatzes aus den Einzelregelungen der ZPO. 106  Zitiert nach Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (147) [Digesten 50, 17, 1]. 101 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

Im Anschluss daran hat Gaul betont, dass „die Prozeßrechtslehre bei ihrem Maximendenken noch heute beachten [muss], daß das Recht nicht axiomatisch aus Prinzipien erwächst, sondern umgekehrt Rechtsprinzipien nur aus den einzelnen Rechtsregeln des positiven Rechts gewonnen werden können.“107 Verfahrensgrundsätze sind – in Anlehnung an die Formulierung von Aristoteles – kein schaffendes „Erstes“, welches neue Rechtsregeln schafft, vielmehr ergeben sie sich erst aus diesen.108 Damit wird zugleich deutlich, dass Verfahrensgrundsätze keinen a priori-Charakter besitzen. Verfahrensgrundsätze sind weder Axiome noch Dogmen.109 Sie können daher nach Ansicht von Piekenbrock nicht als Prämissen vorausgesetzt werden, sondern bedürfen zu ihrer Ermittlung erst einer Analyse des Verfahrensrechts. Es stelle sich daher immer die Frage, inwiefern die ZPO einen Grundsatz realisiert habe.110 Der Vorwurf, Verfahrensgrundsätze würden als Prämissen a priori vorausgesetzt, wurde schon bereits kurz nach Inkrafttreten der Reichs-Civil­ prozeßordnung namentlich von Koffka erhoben: „Die bisherige Auslegung der […] Bestimmungen aus allgemeinen Grundsätzen krankt an dem Fehler, daß man nicht den Versuch gemacht hat, diese [= die Verfahrensgrundsätze] erst aus den Spezialvorschriften des Gesetzes zu gewinnen, vielmehr sie als a priori feststehend angesehen hat und so mit ihnen an das Gesetz und seine einzelnen Vorschriften herangegangen ist.“111

Hierdurch entwickelte sich eine terminologische Unklarheit, was sich insbesondere am Beispiel von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gezeigt habe.112 Zusammenfassend kann demnach erst eine Untersuchung der ZPO deren tragende Verfahrensgrundsätze zu Tage fördern. Die Frage, welche (Verfahrens-)Grundsätze der ZPO zugrunde liegen, kann die ZPO nur selbst beantworten. Dies unterstreicht einmal mehr den normativen Charakter der Verfahrensgrundsätze. Indem die Verfahrensgrundsätze induktiv den Einzelregelungen des positiven Rechts entnommen werden, sind die Verfahrensgrundsätze bereits in der ZPO angelegt und damit ihrerseits Bestandteil des geltenden Zivilprozessrechts.113 Durch die Rückführbarkeit der Verfahrensgrundsätze auf die einzelnen Normen der jeweiligen Verfahrensordnung hat ihre Herausbildung stets eine dogmatische Komponente.114 107 

Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (147 f.). Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (413). 109  Brüggemann, Judex, S.  101; Rödig, Theorie, S.  105 f.; Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  16 ff.; Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (382); Fasching, in: Verfahrensgrundsätze, S.  53 (54); siehe hierzu auch die Kritik bei Henckel, in: GS Bruns, S.  111 (122 ff.). 110  Piekenbrock, ZZP 126 (2013), 131 (133). 111  Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (185 f.). 112  Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (187) spricht insofern von einem „Dunstkreis“. Zur Abgrenzung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit siehe später unter §  5 I. 2. 113  So Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S.  56 f. für Rechtsprinzipien; siehe auch Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S.  94: „Induktiv aus dem positiven Recht gewonnene Prinzipien lassen sich letztlich auf den Willen der Gesetzgebung zurückführen. Sie nehmen an deren Autorität teil und können somit die Verbindlichkeit des Gesetzes für sich beanspruchen.“. 114  Siehe hierzu Reimer, Verfahrenstheorie, S.  214 f., welcher zwischen einem dogmatischen 108 

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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Der dieser Arbeit zugrunde gelegte Begriff der Verfahrensgrundsätze ist demnach ein normativ-dogmatischer. Letztendlich liegt der Vorteil einer Verdichtung von Einzelbestimmungen zu einem übergeordneten Gedanken auch darin, dass durch die ausdrückliche Betonung eines Grundsatzes dessen Beachtung und Akzeptanz gestärkt wird.115 e)  Die Rechtsnormqualität von Verfahrensgrundsätzen Die Frage, ob die Verfahrensgrundsätze eine Rechtsnormqualität besitzen, wird uneinheitlich beantwortet. Teilweise wird behauptet, Verfahrensgrundsätze stünden in Wechselwirkung zu „herkömmlichen“ Normen und seien daher gleichfalls „normativ verbindliche Sollenssätze“ und damit Normen.116 Die überwiegende Ansicht spricht den Verfahrensgrundsätzen dagegen eine Rechtsnormqualität ab, da sie nur durch andere Verfahrensnormen realisiert werden.117 Die Rechtsnormqualität von Verfahrensgrundsätzen könnte man zunächst deshalb bejahen, da sie – wie bereits gezeigt – einen normativen Charakter besitzen. Wenn man normativ allerdings im Sinne von „als Norm wirkend, also regelnd, bindend“ versteht, so besagt dies nur, dass beide Erscheinungsformen eine ähnliche Wirkung besitzen. Allein aus der Tatsache, dass zwei Dinge auf bestimmte Weise regelnd und bindend sind, kann nicht gefolgert werden, dass es sich zwangsläufig um dasselbe handelt. Berücksichtigt man, dass die Verfahrensgrundsätze zu ihrer Bestimmung einer Analyse des Verfahrensrechts bedürfen, mithin einer Unter­ suchung der Normen der ZPO, so kann man die Normsätze der ZPO nicht mit den Verfahrensgrundsätzen gleichsetzen. Letztere müssen gerade erst aus den Vorschriften der ZPO gewonnen werden. Richtigerweise sollte daher folgendermaßen differenziert werden: Die Normen der ZPO und die Verfahrensgrundsätze sind insofern ähnlich, als sie normative Geltung beanspruchen. Dennoch können beide Erscheinungsformen nicht gleichgesetzt, sondern müssen voneinander abgegrenzt werden. Die im Schrifttum vertretene Ansicht, wonach die Verfahrensgrundsätze keine Rechtsnormqualität besäßen, trifft den wahren Kern daher nur bedingt. Wenn man so will, haben Verfahrensgrundsätze hinsichtlich ihrer Geltung dieselbe Qualität wie die „übrigen“ Normen der ZPO ohne jedoch mit diesen identisch zu sein. und einem verfahrenstheoretischen Maximenbegriff unterscheidet und sich dabei für Letzteren ausspricht. 115  Greger, in: Dogmatische Grundfragen, S.  77 (81). 116  Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (414). 117  MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  289; PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz, S.  179, 337 ff.; Brüggemann, Judex, S.  101; Reimer, Verfahrenstheorie, S.  215 ff.; ebenso Engelmann, Prozeßgrundsätze, S.  148 für die Verfahrensgrundsätze im Verfassungsprozessrecht; so wohl auch Bathe, Verhandlungsmaxime, S.  20, wenn er sagt, der Verhandlungsgrundsatz gelte „nicht als Rechtsnorm“; siehe schließlich Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  21 ff., welcher die Rechtsnormqualität der Verfahrensgrundsätze verneint, da diese im Gegensatz zu Rechtsnormen kein Verhaltensgebot enthielten. Anderes solle nur für den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.  103 Abs.  1 GG) gelten.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

3.  Verfahrensgrundsätze und der Zweck des Zivilprozesses Bei Betrachtung der unterschiedlichen Auffassungen über den Zweck des Zivilprozesses118 werden immer wieder vier klassische Prozesszwecke genannt: Schutz und Durchsetzung subjektiver Rechte, Bewährung des objektiven Rechts, Sicherung des Rechtsfriedens und Rechtsgewissheit.119 In neuerer Zeit werden ferner die soziale Funktion des Zivilprozesses120 sowie dessen Rechtsfortbildungszweck121 betont. Bei dieser Vielzahl von Prozesszwecken geht die herrschende Meinung zu Recht davon aus, dass der Schutz und die Verwirklichung der subjektiven Rechte des Einzelnen als primärer Prozesszweck anzusehen sind.122 Diese Deutung ergibt sich zum einen aus dem Verbot der Selbsthilfe123 und zum anderen aus verfassungsrechtlichen Überlegungen, da nach der Judikatur des BVerfG die Möglichkeit der zivilprozessualen Durchsetzung der Privatrechte für jeden Bürger verfassungsrechtlich garantiert ist.124 Der Schutz und die Durchsetzung subjektiver Rechte kön118  Ausführlich zum Zweck des Zivilprozesses in jüngerer Zeit Diakonis, Beweiserhebung von Amts wegen, S.  5 ff.; Koch, Prozessökonomie, S.  198 ff.; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S.  238 ff.; Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (325 ff.) [sowohl für das Erkenntnis- als auch das Rechtsmittelverfahren]. Zum derzeitigen Meinungsstand siehe Münch, in: Zukunft des Zivil­ prozesses, S.  5 (11 ff.); prozessübergreifend zum Zweck von Verfahrensordnungen siehe Reimer, Verfahrenstheorie, S.  180 ff. 119  Gaul, AcP 168 (1968), 27; Stürner, in: FS Baumgärtel, S.  545; Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (31); Musielak/Voit/Musielak, Einleitung Rn.  5. Umstritten ist, ob der Schutz von Allgemeininteressen ein selbstständiger Zweck des Zivilprozesses ist; hierfür unter anderem Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, §  1 Rn.  8; Schönke, AcP 150 (1949), 216 (218); a. A. Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  10. 120  Siehe hierzu statt vieler Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  49 ff.; Grunsky, Grundlagen, S.  12 ff.; zur Entwicklung des sozialen Zivilprozesses siehe Leipold, in: Globalisierung und So­ zialstaatsprinzip, S.  235 (239 ff.). 121  Grundlegend Lames, Rechtsfortbildung, S.  28 ff.; Brehm, in: FS Schumann, S.  57 ff. 122  BGHZ 10, 350 (359) = NJW 1953, 1826 (1828); MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  8; Hk-ZPO/Saenger, Einführung Rn.  3; PG/Prütting, Einleitung Rn.  3; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann, Einleitung III Rn.  9; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  48 ff.; ders., in: FS Baumgärtel, S.  545 (546); Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S.  250; Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  1; Grunsky, Grundlagen, S.  3; Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (326 f.); Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (83); Münch, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  5 (22 ff., 35); Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  5; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  10; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, §  1 Rn.  7; ähnlich Henckel, Prozessrecht, S.  63 f., wonach Zweck des Prozesses die qualifizierte Rechtsausübung sei; siehe auch Gaul, AcP 168 (1968), 27 (46 ff.); a. A. Schönke, AcP 150 (1949), 216 (217), welcher den Schutz subjektiver Rechte generell nicht als Zweck des Zivilprozesses ansehen will, da dieser nur aus dem auf Bewährung des objektiven Rechts gerichteten Zivilverfahrens folge; schließlich Rimmelspacher, Prüfung von Amts wegen, S.  23, wo zwischen dem idealen Ziel des Prozesses (Wahrung des Rechtsfriedens) und dem realen Ziel (Schutz subjektiver Rechte) differenziert wird. 123  Hk-ZPO/Saenger, Einführung Rn.  3; kritisch dazu Diakonis, Beweiserhebung von Amts wegen, S.  18 ff. 124  BVerfGE 54, 277 (291) = NJW 1981, 39 (41); BVerfGE 85, 337 (345) = NJW 1992, 1673; BVerfGE 97, 169 (185) = NJW 1998, 1475 (1478). Dies ist letztendlich eine „Konsequenz und Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols“; Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (33).

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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nen von Verfassungs wegen mithin nicht eine bloße „Reflexwirkung“ eines auf öffentliche Interessen gerichteten Zivilprozesses sein.125 Die übrigen Prozesszwecke sind damit letztendlich Folge des beabsichtigten Individualrechtsschutzes.126 Umstritten ist die Frage, ob die Wahrheitsfindung als Zweck des Zivilprozesses anzuerkennen ist,127 was die herrschende Ansicht verneint.128 Im Gegensatz dazu ist im Strafprozess die Ermittlung der (materiellen) Wahrheit gerade oberster Prozesszweck.129 Für die Nichtanerkennung der Wahrheitsermittlung als Prozesszweck im Zivilprozess mag man anführen können, dass in der StPO der Untersuchungsgrundsatz gilt, in der ZPO dagegen nicht.130 Generell enthält die ZPO diverse ­Mechanismen, welche einer uneingeschränkten Wahrheitsermittlung entgegen­ stehen.131 Insbesondere ermöglicht der Verhandlungsgrundsatz den Parteien (weitestgehend) selbst darüber zu entscheiden, welche Tatsachen sie dem Gericht zur Entscheidung des Rechtsstreits vortragen wollen und welche nicht, was nicht zwangsläufig den „wahren“ Sachverhalt beinhaltet.132 Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass der Wahrheitsermittlung im Zivilprozess keinerlei Bedeutung beigemessen wird.133 Zum einen gilt der Verhandlungsgrundsatz nicht uneingeschränkt, sondern er erfährt insbesondere durch die prozessuale Wahrheitspflicht der Parteien (§  138 Abs.  1 ZPO) eine Begrenzung.134 Zum anderen wird insbesondere der Kläger ein Interesse an der zutreffenden Tatsachenermittlung haben, da er in diesem Fall von der Durchsetzung seiner Ansprüche ausgehen kann. Die Wahrheitsfindung ist mit den Worten Gauls daher als „Mittel zum Zwecke des Rechtsschutzes“ anzusehen, da ohne die Ermittlung der Wahrheit die subjektiven Rechte des Einzelnen nicht bzw. nur schwer durchgesetzt werden können.135 125 

Stürner, in: FS Baumgärtel, S.  545 (546). Stürner, Aufklärungspflicht, S.  51 ff.; ders., in: FS Baumgärtel, S.  545 (546); siehe zur Rangfolge der Prozesszwecke Koch, Prozessökonomie, S.  230 ff. m. w. N. 127  Siehe hierzu jüngst Diakonis, Beweiserhebung von Amts wegen, S.  37 ff.; Prütting, in: FS Gottwald, S.  507 (510 ff.); ferner Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (36 ff.). 128  Grunsky, Grundlagen, S.  4; Brehm, Bindung des Richters, S.  21 ff., 28; Gaul, AcP 168 (1968), 27 (49 f.); Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (89); siehe zudem Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  25 m. w. N. 129  Siehe hierzu später unter §  3 I. 1. a) cc). 130  Zur darauf basierenden Unterscheidung von formeller und materieller Wahrheit siehe später unter §  5 II. 131  Siehe hierzu Gilles, in: FS Gottwald, S.  189 (190 f.). 132  Lorenz, ZZP 111 (1998), 35 (37). 133  Ähnlich Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  25. 134  Ausführlich zu den Grenzen des Verhandlungsgrundsatzes Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  110 ff. 135  Gaul, AcP 168 (1968), 27 (49 f.); ähnlich Stürner, Aufklärungspflicht, S.  48 ff., welcher den Schutz und die Durchsetzung subjektiver Recht mit der Wahrheitsfindung verknüpft („Individualrechtsschutz durch Wahrheitsfindung“); ferner Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  3; Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (89); Prütting, in: FS Gottwald, S.  507 (510 ff., 515); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  77 Rn.  6; Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  25; ähnlich Diakonis, Beweiserhebung von Amts wegen, S.  44; aus dem älteren Schrifttum Wach, Grundfragen, S.  26. 126 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

Die Verfahrensgrundsätze sind stets im Zusammenhang mit den Prozesszwecken zu sehen, denn sie dienen letztendlich deren Verwirklichung.136 Beide Kategorien sind mithin nicht identisch: Die „Grundsätze“ des Verfahrens treffen in erster Linie eine Aussage über den Weg zur Erreichung der „Zwecke“ des Prozesses.137 Das Verfahren muss derart ausgestaltet sein, dass es den maßgeblichen Prozesszweck – den Schutz und die Durchsetzung subjektiver Rechte – tatsächlich verwirklichen kann.138 Da gerade die Verfahrensgrundsätze den Ablauf und die Struktur des Verfahrens bestimmen, muss von einer Beeinflussung durch die Prozesszwecke ausgegangen werden. Der Prozesszweck beeinflusst somit den Inhalt der Verfahrensgrundsätze,139 weil jener sich auf die Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Verfahrensgrundsatz auswirken kann.140 Man spricht daher vom „instrumentalen Charakter“141 der Verfahrensgrundsätze.

4.  Verfahrensgrundsätze und Verfahrensziele Verfahrensgrundsätze sind von Verfahrenszielen abzugrenzen. Bedeutung erlangt diese Differenzierung vor allem bei der umstrittenen Frage, ob die Prozessökonomie als eigenständiger Verfahrensgrundsatz zu qualifizieren ist.142 Diskutiert wird dies auch für den Beschleunigungsgrundsatz.143 Der Terminus „Verfahrensziel“ ist in der Literatur nicht etabliert, klingt aber an manchen Stellen an. Mit Leipold kann man als Verfahrensziele diejenigen Ziele begreifen, die das Verfahren generell anstrebt, ohne dass es sich dabei um einen einzuschlagenden Weg handelt, mithin also um keinen Rechtsgrundsatz hinsicht136  MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  289; Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  5; Koch, Prozessökonomie, S.  36; Fricker, Umfang und Grenzen, S.  77; Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5; siehe auch Baur, in: Summum ius, S.  97 (104); Sauer, Grundlagen, S.  664; ähnlich auch Schöpflin, JR 2003, 485, wobei dieser offenbar die Prozesszwecke meint, wenn er von den „Verfahrenszielen“ spricht; ebenso Eser, ZStW 104 (1992), 361 (363) für den Bereich des Strafrechts. 137  Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen, S.  102 f. 138  Maurer, in: FS BVerfG II, S.  467 (468); Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (382). 139  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  5. 140  MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  289. Anders dagegen die Vertreter der „Lehre von der Unabhängigkeit der Prozessmaximen von Verfahrenszwecken“, wonach die Geltung der Verfahrensgrundsätze nicht auf Zweckmäßigkeitserwägungen beruhe, sondern vielmehr aus dem Wesen des Verfahrens folge; siehe hierzu Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, S.  71 ff. m. w. N. 141  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  5; Fricker, Umfang und Grenzen, S.  77. 142  Deutlich Hütten, Prozeßökonomie, S.  141: „Die Prozeßökonomie ist ein Verfahrensgrundsatz, der jedoch im Gesetz keine spezielle gesetzliche Regelungen erfahren hat.“; hierfür ferner Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (107 f.); Schöpflin, JR 2003, 485 (490); Koch, Prozessökonomie, S.  41; Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28) [„Grundsatz der Prozeßökonomie“]; tendenziell auch Reimer, Verfahrenstheorie, S.  213; a. A. Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  4; Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  354 f.; Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (25); Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  338; Berchtold, NZS 2011, 401 (408) [für das sozialgerichtliche Verfahren]; hierfür wohl auch Wigginghaus, Synergieeffekte, S.  27. 143  Gegen eine Einordnung als Verfahrensgrundsatz Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (332 f.).

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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lich der Ausgestaltung des Verfahrens.144 Verfahrensziele sind „Zielvorgaben, die bei der Überprüfung der Geltung und der inhaltlichen Reichweite der einzelnen Verfahrensgrundsätze zu berücksichtigen sind.“145 Verfahrensziele sind damit nicht identisch mit den Verfahrenszwecken.146 Zwar werden durch die Verfahrenszwecke auch Ziele verdeutlicht, wobei es bei diesen zugleich um die Frage des „Warum“ des Zivilprozesses geht. Dies zeigt sich anhand der Verfahrensbeschleunigung und der Prozessökonomie sehr plastisch: Der Zivilprozess ist nicht dazu da, nur damit es ein Verfahren gibt, welches schnell, zügig und ökonomisch ablaufen kann. Das Verfahren ist nicht Selbstzweck,147 sondern dient in erster Linie dem Schutz und der Durchsetzung subjektiver Rechte. Freilich soll nicht unerwähnt bleiben, dass eine Beschleunigung des Verfahrens der Realisierung der Prozesszwecke dienlich ist.148 Umgekehrt kann es ebenso Situationen geben, in denen ein einzelner Verfahrens­ abschnitt im Sinne der Prozessökonomie verlängert werden muss, um hierdurch das Verfahren als Ganzes rationalisieren zu können.149 Die Prozessökonomie kann daher als ein Verfahrensziel begriffen werden.150 Der Prozesszweck fordert nicht automatisch ein prozessökonomisches Verfahren, woraus folgt, dass die Realisierung des Prozesszwecks nicht durch eine zu stark ökonomische Verfahrensweise beeinträchtigt werden darf.151 Der Prozesszweck kann durch die Verfahrensziele gefördert werden, darf aber nicht durch diese eingeschränkt werden.152 Verfahrensziele stehen somit eine Ebene unter den Verfahrenszwecken. Terminologisch sollte daher klar zwischen den Prozesszwecken, den Verfahrensgrundsätzen und den Verfahrenszielen differenziert werden.

5.  Kritik an den Verfahrensgrundsätzen Wenngleich die Existenz von Verfahrensgrundsätzen im Schrifttum überwiegend positiv bewertet wird,153 gibt es dennoch Stimmen, welche hieran Kritik üben. Der 144 

Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (332); siehe auch Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  4. Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (332); ähnlich Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (90), welcher von „Zielvorgaben“ spricht. 146  A. A. Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen, S.  108 (Fn.  60), welcher die Begriffe „Verfahrensziele“ und „Verfahrenszwecke“ als Synonyme versteht; ihm folgend Reimer, Verfahrenstheorie, S.  180 (Fn.  86). 147  Hk-ZPO/Saenger, Einführung Rn.  16. 148  Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  117; Mettenheim, Prozeßökonomie, S.  27. 149  Mettenheim, Prozeßökonomie, S.  26; ähnlich Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (97) zur Abgrenzung der Prozessökonomie von der Verfahrensbeschleunigung. 150  Hierfür wohl auch Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  4; siehe auch Glunz, Psychologische Effekte, S.  346 („Hilfsprinzip im Dienste anderer Prozesszwecke“); Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  354 („ein wünschenswertes Ziel“). 151  Wigginghaus, Synergieeffekte, S.  29 f. 152  Wigginghaus, Synergieeffekte, S.  30; siehe auch Mettenheim, Prozeßökonomie, S.  13, wonach die Prozessökonomie dem Begriff nach eine dienende Funktion im Zivilprozessrecht einnehme. 153  Siehe nur Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (286 f.); Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 145 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

„Wert und Unwert des Maximendenkens“154 ist immer wieder Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. a)  Falk Bomsdorf Wohl der prominenteste Vertreter der „Maximenkritik“ ist Falk Bomsdorf. In seiner Dissertation „Prozeßmaximen und Rechtswirklichkeit“ (1971) beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der Maximenschöpfung155 durch Nikolaus Thaddäus von Gönner, welcher als Schöpfer der Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime gilt.156 Gönner gewann seine Prozessmaximen über einen Dreischritt:157 Zunächst wurden diese „aus der Vernunft“ oder aus „reinen Prinzipien“ entwickelt.158 In einem zweiten Schritt wurden dann die einzelnen Bestimmungen des positiven Rechts auf die zuvor konstruierten Maximen zurückgeführt, ehe abschließend in einem dritten Schritt einerseits diverse mit den Maximen unvereinbare Abweichungen ausgemacht wurden und andererseits durch ein „Weiterschließen“ von den Maximen das positive Recht auf eine neue theoretische Grundlage gestellt wurde. Die Kritik Bomsdorfs entzündet sich im Wesentlichen an der von Gönner gewählten Methodik, welche eine „einzigartige Fehlabstraktion“159 und einen „Verstoß gegen die allgemeinen Grundsätze der Regelbildung“160 darstelle.161 Neben der Missbilligung (66 f.); Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (26 ff.). Zum Erfordernis einer Prinzipienbildung im Zwangsvollstreckungsrecht siehe Stamm, Prinzipien und Grundstrukturen, S.  64 ff. 154  Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292); auch Leipold, in: FS Fasching, S.  329 weist darauf hin, dass der Sinn und Zweck der Verfahrensgrundsätze heute nicht mehr unumstritten sei. 155  Siehe hierzu Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz, S.  38 ff.; Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  106. 156  Gönner, Handbuch, S.  175 ff. Gönner verwendete den Terminus „Maxime“ dabei bewusst – wohl in Anlehnung an Kant; siehe hierzu Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (77 f.). 157  Ausführlich zur Methodik der Maximenschöpfung Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  125 ff.; ferner überblicksartig Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  8 ff. 158  Gönner, Handbuch, S.  190, wonach sich sowohl die Verhandlungs- als auch die Untersuchungsmaxime aus Vernunftgründen rechtfertigen lasse. 159  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  146; zu demselben Urteil kamen zuvor auch schon Hippel, Wahrheitspflicht, S.  165; Jonas, DR 1941, 1697. 160  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  191; kritisch zu dieser „Dogmenbildung“ auch Hippel, Wahrheitspflicht, S.  165 ff.; siehe zudem auch Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (147). 161  Auch andere Stimmen in der Literatur sehen diese Vorgehensweise, bei der letztendlich vernunftrechtlich begründete Grundsätze als a priori vorausgesetzt werden, kritisch. Hierzu zählt insbesondere Mittermaier, AcP 12 (1829), 133 (134): „Statt zu erforschen, wie aus den gemeinrechtlichen Quellen die processualischen Begriffe fließen, construirte sich v. Gönner willkührlich allgemeine Begriffe und folgerte daraus weiter, und so laufen gewisse Grundirrthümer durch seine Werke hindurch, […]. Auch da, wo er die Quellen anführt, bemerkt man leicht, daß er mit einer vorgefaßten Meinung und mit dem Wunsche, seine a priori construirte Ansicht darin zu finden, an die Rechtsquellen ging, und sie daher drehte und aus dem Zusammenhang riß, wie es ihm eben taugte, […].“; siehe ferner Puchta, Dienst, S.  66 f., welcher sich gegen das Philosophieren im Zivilprozess ausspricht; kritisch auch Brüggemann, Judex, S.  101. Umfassend zur Kritik der damaligen Zeit Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  182 ff. m. w. N.

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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der Maximenschöpfung wendet sich Bomsdorf aber auch in der Sache gegen die Verfahrensgrundsätze. Für den Verhandlungsgrundsatz führt er an: „Abseits vom geltenden Recht schließlich muß ein Übel beseitigt werden, das sich als für die wissenschaftliche Diskussion überaus schädlich herausgestellt hat: die Lösung von Einzelfragen durch bloßen Hinweis auf die Verhandlungsmaxime. Es sollte endlich eingesehen werden, daß dieser Prozeßgrundsatz gerade kein Argument, sondern ein inhaltsloses Schlagwort ist, mit dem sich nichts dartun läßt. Die Verhandlungsmaxime im theoretischen Meinungsstreit zur Begründung der eigenen Ansicht benutzen heißt, etwas als wahr zu unterstellen, dessen Unwahrheit nun erwiesen ist. Nur aus der Sache selbst kann künftig argumentiert, nur vom Standpunkt der Zweckgemäßheit die Lösung einer offenen Frage versucht werden.“162

Diese ablehnende Haltung gegenüber dem Verhandlungsgrundsatz lässt sich damit erklären, dass Bomsdorf jenen nicht als obersten Grundsatz der ZPO anerkennen will, sondern ihm gar jegliche Eigenschaft als Verfahrensgrundsatz abspricht.163 Letztendlich will Bomsdorf das Zivilprozessrecht mit Hilfe von Zweckmäßigkeitserwägungen erschließen und nicht über Verfahrensgrundsätze oder Maximen.164 b)  Johann Josef Hagen Die Ansicht, dass die Verfahrensgrundsätze ihrer Funktion nach rein deskriptiver Natur seien,165 wird von Johann Josef Hagen vertreten. Die Beschreibung des zivilprozessualen Verfahrens anhand von Verfahrensgrundsätzen führe zu einer „bedenklichen Simplifizierung der Darstellung“166. Verfahrensgrundsätze besäßen eine „typische Unschärfe“167, weshalb sie letztendlich nicht mehr als zur bloßen Orientierung dienten. Dieses Problem spricht Hagen ausdrücklich für den Unmittelbarkeitsgrundsatz an. Dieser bekäme nur dann einen relativ deutlichen Inhalt, wenn man ihn – wie §  412 Abs.  1 öZPO – mit dem Mündlichkeitsgrundsatz verbinde. Werde dagegen von „unmittelbar schriftlich“ gesprochen, führe dies zu einer völligen Unbestimmtheit des Begriffs der Unmittelbarkeit.168 Schließlich wird an162  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  283; kritisch auch Hippel, Wahrheitspflicht, S.  71 (Fn.  52), wenn er sagt, dass sich aus dem Begriff der Verhandlungsmaxime „Nichts und Alles“ ableiten lasse. 163  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  282. 164  Ähnlich schon Jonas, DR 1941, 1697; ferner Schneider, MDR 1970, 727 (729), wonach sich prozessuale Lagen nur von der Interessenlage und vom Prozesszweck her verstehen und meistern ließen, nicht aber mit Hilfe von theoretischen Maximen. Die Ansicht von Bomsdorf über den Wert von Verfahrensgrundsätzen wurde immer wieder kritisiert; siehe Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz, S.  337 f.; Brehm, Bindung des Richters, S.  19 ff.; Bathe, Verhandlungsmaxime, S.  44 ff.; PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; deutlich auch Bettermann, ZZP 88 (1975), 347 (348), welcher die Ansicht Bomsdorfs gar als „peinlich“ betitelte. 165  Hagen, Elemente, S.  84. 166  Hagen, Elemente, S.  85 f., wo als Beispiel der Untersuchungsgrundsatz genannt wird. Ein Ver­ fahren lasse sich nicht allein mit diesem Begriff charakterisieren, da selbst bei dessen Geltung Situationen denkbar seien, in denen das Gericht von der Mitwirkung der Parteien abhängig sein könne. 167  Hagen, Elemente, S.  87. 168  Hagen, Elemente, S.  87 f. mit Verweis auf Holzhammer, Zivilprozeßrecht, S.  107.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

geführt, dass Verfahrensgrundsätze von außerprozessualen Grundsätzen ableitbar seien und damit nicht Determinanten, sondern vielmehr selbst determiniert seien. Jeder Verfahrensgrundsatz ließe sich auf außerprozessuale Sachverhalte zurückführen, beispielsweise der Verhandlungsgrundsatz auf bürgerlich-rechtliche Vorstellungen oder der Unmittelbarkeitsgrundsatz auf organisatorische Überlegungen.169 Damit will Hagen letztendlich seine These, Verfahrensgrundsätze hätten nur deskriptiven Wert, stützen. Deshalb würden sie „nur in verfahrenstechnischer Weise die rechtspolitischen Motive des Gesetzgebers“ umschreiben.170 Im Ergebnis spricht Hagen den Verfahrensgrundsätzen eine normative Geltung ab. c)  Rudolf Wassermann Die Tendenz, den Wert der Verfahrensgrundsätze gering zu schätzen, kommt schließlich bei Rudolf Wassermann deutlich zum Ausdruck, wenn dieser vom „Abschied vom Maximendenken“171 spricht. Ebenso wie Bomsdorf knüpft Wassermann beim zivilprozessualen Verhandlungsgrundsatz an. Für ihn habe dieser mittlerweile keine herausragende Bedeutung mehr172 – im Gegenteil: Angesichts der Veränderungen des Zivilprozessrechts durch die Stärkung der materiellen Prozessleitung in §  139 ZPO führe das begriffliche Festhalten am Verhandlungsgrundsatz zu einem „Verständnis vom Zivilprozeß […], das seiner heutigen Struktur nicht mehr angemessen ist.“173 Überhaupt sei eine klare Abgrenzung des dogmatischen Grundgehalts des Verhandlungsgrundsatzes und seiner Ausnahmen kaum mehr möglich.174 Dementsprechend stehe die Lösung praktischer Fragen – beispielsweise diejenige nach der Reichweite der richterlichen Frage- und Hinweispflicht – im Vordergrund, nicht dagegen die Frage nach der Realisierung von Verfahrensgrundsätzen.175 Wassermanns Überlegungen sind insofern stark von seinen Erfahrungen im konkreten Umgang mit der ZPO geprägt. Infolgedessen räumt er den Verfahrensgrundsätzen eine lediglich untergeordnete Rolle im geltenden Zivilprozessrecht ein. d)  Dieter Leipold Schließlich hat sich jüngst Dieter Leipold kritisch mit den Verfahrensgrundsätzen auseinandergesetzt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Tatsache, dass im deutschen Zivilprozessrecht in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Ausweitung 169 

Hagen, Elemente, S.  88. Hagen, Elemente, S.  88 f. 171  Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  108. 172  Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  103. 173  Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  108; kritisch hierzu Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  351; Henckel, in: GS Bruns, S.  111 (124 f.). 174  Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  97: „In der Tat fällt es schwer, die zahlreichen Vorschriften, die die Verhandlungsmaxime […] wie Emmentaler Käse durchlöchert haben, in die Schablone von Regel und Ausnahme zu pressen.“. 175  Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  109. 170 

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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der richterlichen Befugnisse zu verzeichnen sei.176 Infolgedessen sei aus dem „maximenorientierten Parteiprozess“ der Reichs-Civilprozeßordnung von 1877 „ein weitgehend maximenfreier, richterzentrierter Prozess geworden.“177 Die Stärkung der Richtermacht habe dazu geführt, dass die Verfahrensgrundsätze sowohl für die gesetzgeberische Reformierung der ZPO als auch für die dogmatische Durchdringung des Verfahrensrechts deutlich an Stellenwert eingebußt hätten.178 Die tendenzielle Einschränkung der Parteirechte könne nur durch eine Akzentuierung der Verfahrensgrundrechte kompensiert werden.179 Somit konstatiert Leipold eine zunehmende „Ablösung“ der Verfahrensgrundsätze durch die Verfahrensgrundrechte.180 Seine Kritik entzündet sich jedoch weniger an den Verfahrensgrundsätzen selbst, sondern an der Haltung des Gesetzgebers. e)  Zusammenfassung Geht es um die Bedeutung der Verfahrensgrundsätze für das Zivilprozessrecht, so steht oftmals der Verhandlungsgrundsatz im Mittelpunkt der Diskussion. Allerdings ist dieser zusammen mit dem Dispositionsgrundsatz der wohl prägendste Verfahrensgrundsatz der ZPO.181 Insofern kann die Kritik am Verhandlungsgrundsatz gewissermaßen als stellvertretend für die übrigen zivilprozessualen Verfahrensgrundsätze betrachtet werden. Die Kritik an den Verfahrensgrundsätzen geht mit den Worten Stürners dahin, „das Maximendenken führe zur Verkrustung und Unbeweglichkeit, verfehle die Verfahrenswirklichkeit und sei zur Lösung konkreter Probleme nur eingeschränkt nützlich.“182 Dementsprechend verwundert es nicht, wenn die Zukunftsperspektiven der Verfahrensgrundsätze eher negativ eingeschätzt werden.

6.  Sinn und Zweck der Verfahrensgrundsätze Die Kritiker verkennen jedoch, dass die Verfahrensgrundsätze diverse Funktionen aufweisen,183 welche durch einen – im Sinne Wassermanns – „Abschied vom Maximendenken“184 nicht preisgegeben werden dürfen. Generell ist das Denken mit Hil176  Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (249) beschreibt dies plakativ mit dem Ausdruck „alle Macht dem Richter“. 177  Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (254). 178  Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (249 f.). 179  Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (251). 180  Ähnlich Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (55), wonach Leipold einen „Abschied von den Verfahrensmaximen“ ankündige. 181  Möller, JA 2010, 47 (49). 182  Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292). 183  Zu den Funktionen von Rechtsprinzipien im Allgemeinen siehe Monien, Prinzipien als Wegbereiter, S.  60 ff. 184  Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  108.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

fe von Begriffen, Prinzipien oder allgemeinen Grundsätzen der Rechtswissenschaft keinesfalls fremd.185 Im 19. Jahrhundert erlangte insbesondere die oft gescholtene Begriffsjurisprudenz186 große Bedeutung. Die Begriffsjurisprudenz als eine der „methodologischen Hauptströmungen“ des 19. Jahrhunderts ging davon aus, dass die Rechtsfindung auf logischem Wege mittels Subsumtion eines Sachverhalts (Untersatz) unter einen Obersatz möglich sei.187 Aufgrund der Lückenhaftigkeit des Rechts versuchten die damaligen Rechtswissenschaftler – als bedeutendste Vertreter der Begriffsjurisprudenz sind insbesondere Carl Friedrich von Savigny und Georg Friedrich Puchta zu nennen – das Recht mittels Begriffsbildungen immer mehr zu abstrahieren und dadurch in ein geschlossenes System zu bringen.188 Hieraus entwickelte sich eine „Begriffspyramide“, sodass es möglich war, stets einen Begriff aus einer niedrigeren Stufe unter denjenigen einer darüberliegenden Stufe zu subsumieren.189 Wenngleich diese methodische Vorgehensweise aus heutiger Sicht veraltet erscheinen mag, ist mit der Heranziehung von Verfahrensgrundsätzen im Zivilprozess kein Rückschritt in die alten Denkmuster der Begriffsjurisprudenz verbunden.190 Die generellen Vorteile einer Bildung von Verfahrensgrundsätzen können nicht von der Hand gewiesen werden.191

185  Das „Denken in Prinzipien“ ist aktuell im englischen Prozessrecht auf dem Vormarsch, nachdem dieses infolge der sog. Woolf-Reforms reformiert wurde; siehe hierzu Weller, in: Mindeststandards, S.  83 (92 f., 100); ähnlich Roth, ZZP 129 (2016), 3 (10), welcher in diesem Zusammenhang von einer „Wiederentdeckung der Prozessmaximen“ spricht. Zum englischen Zivilprozessrecht siehe später unter §  3 II. 2. 186  Der Ausdruck „Begriffsjurisprudenz“ ist dabei abwertend gemeint und geht zurück auf Rudolf von Jhering; siehe Schröder, Recht als Wissenschaft, S.  247. 187  Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  109 f. 188  Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  110. Ausführlich zur Methodik der wissenschaftlichen Rechtsfindung Schröder, Recht als Wissenschaft, S.  250 ff. m. w. N. 189  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  63 f.; siehe auch Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  460. 190  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  6; Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292); Henckel, Prozessrecht, S.  118; Nolte, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz, S.  144; ähnlich Althammer, ZZP 126 (2013), 3 (8) hinsichtlich der Herausbildung von Mindeststandards im europäischen Zivilprozessrecht; Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (26 f.), welcher diesbezüglich „Grundlagenorientierung statt Detailorientierung“ fordert; a. A. Hippel, Wahrheitspflicht, S.  189 f.: „Aber wir dürfen sie [= die Prinzipienlehre] nicht als eine Art von grundlegender Zauberformel auffassen, aus der die weiteren Entscheidungen und Erklärungen sich dann einfach ableiten lassen, die uns demnach ein weiteres Erforschen und Bewerten der besonderen Wirklichkeit zu ersparen vermöchte, wie dies die Begriffsjurisprudenz des 19. Jahrhunderts ihren Grundaxiomen nach irrtümlich voraussetzte.“; auf die Gefahr einer Überbewertung von Begriffen im Prozessrecht hinweisend Grunsky, Grundlagen, S.  16. 191  Zu den Vorteilen und Funktionen einer Begriffs- und Prinzipienbildung im Allgemeinen siehe Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (60 ff.); Raz, 81 Yale Law Journal (1972), 823 (839 ff.).

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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a)  Rechtsstaatliche Funktion Ausgehend von der Kritik an den Verfahrensgrundsätzen hatte sich Baur darüber Gedanken gemacht,192 ob es nicht sinnvoller wäre, auf Verfahrensgrundsätze zu verzichten und die konkrete Ausgestaltung und den Ablauf des Verfahrens in das Ermessen des Richters zu stellen. Zwar würde eine derartige Vorgehensweise mehr richterliche Flexibilität und damit eine Berücksichtigung der jeweiligen Umstände eines Falles erlauben. Indes sind einer Stärkung der Richtermacht durch diverse Möglichkeiten der freieren Verfahrensgestaltung Grenzen gesetzt. Zur Verhinderung richterlicher Willkür wird insbesondere eine Schranke durch den Gleichbehandlungsgrundsatz gezogen.193 Die Einhaltung von verfahrensrechtlichen Vorschriften garantiert, dass sich das materielle Recht unter jeweils denselben Voraussetzungen durchsetzen kann.194 Insofern sichern die Verfahrensvorschriften im Allgemeinen und damit die Verfahrensgrundsätze im Besonderen nicht zuletzt die Durchsetzung der subjektiven Rechte als primärem Prozesszweck.195 Nur derjenige Prozess, welcher sich an festen Grundsätzen orientiert, eine richterliche Willkür verhindert und den Prozesszweck hinreichend verwirklicht, kann rechtsstaatlichen Anforderungen genügen.196 Die Verfahrensgrundsätze besitzen daher eine rechtsstaatliche Funktion. Betrachtet man dieses Ergebnis aus einer soziologischen Perspektive, so lässt sich sagen, dass die Verfahrensgrundsätze dem Zivilprozess als solchem eine legitima­ tionsstiftende Wirkung geben. Niklas Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Legitimation durch Verfahren“. Luhmann kritisiert im Ausgangspunkt seiner Rechtssoziologie197 die Vorstellung, dass eine gerichtliche Entscheidung nur durch die Ermittlung der Wahrheit und den dadurch erstrebten individuellen Rechtsschutz akzeptiert werden könne.198 Da aber in keinem Verfahren eine absolute Wahrheit garantiert werden könne, versteht er unter „Akzeptanz“ nicht die individuelle Überzeugung von der inhaltlichen Richtigkeit der getroffenen Entschei192  Siehe zum Folgenden Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (28 ff.). Zur Richtermacht im Verfahrensrecht siehe auch ders., in: Summum ius, S.  97 (100 ff.); ferner Troller, Zivilprozessualer Formalismus, S.  31 ff. 193  Baur, in: Summum ius, S.  97 (108); ders., in: FS Carnacini, S.  25 (29); Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (313); ferner Troller, Zivilprozessualer Formalismus, S.  98: „Durch das straffe Einordnen des Verfahrens in das gesetzliche Formgefüge wird sich der Richter das sicherste Fundament für den Nimbus der Unparteilichkeit bauen.“. 194  Baur, in: Summum ius, S.  97 (106 f.). 195  Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (29); Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn.  8. Zum Verhältnis der Verfahrensgrundsätze zum Prozesszweck siehe oben unter §  2 II. 3. 196  Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (29), welcher dies als „Typizität“ des Prozesses bezeichnet; ähnlich Troller, Zivilprozessualer Formalismus, S.  11 („Rückgrat des Prozesses“). 197  Zu Luhmanns Rechtssoziologie siehe Röhl, Rechtssoziologie, S.  400 ff.; ferner Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S.  42 ff.; zu deren Bezug zur Prozessökonomie siehe Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  19 ff. 198  Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S.  17 ff.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

dung.199 Vielmehr vertritt Luhmann einen formalisierten Akzeptanzbegriff. Die Akzeptanz komme über einen sozialen Lernprozess zustande, in welchem der Einzelne seine Erwartungshaltung vom Ausgang des Verfahrens derart ändert, sodass er die abschließende Entscheidung zur Grundlage seines weiteren Handelns machen kann.200 Demnach wird die Akzeptanz einer gerichtlichen Entscheidung dadurch gesichert, dass diese auf verfahrensmäßigem Wege ergangen ist.201 Insofern erleichtert gerade die Einhaltung bestimmter Verfahrensgrundsätze und Verfahrensvorschriften die spätere Akzeptanz der richterlichen Entscheidung durch die Parteien.202 Dennoch hat Luhmanns Theorie im zivilprozessualen Schrifttum viel Kritik erfahren, insbesondere da es für eine Legitimation der gerichtlichen Entscheidung mehr bedürfe als deren bloßes Zustandekommen in einem nach vorgegebenen Regeln abgelaufenen Verfahren.203 Allerdings darf nicht vergessen werden, dass Luhmann eine soziologische, nicht aber eine juristische Theorie des Verfahrens entwickelt hat.204 Aus diesem Grund soll an dieser Stelle nicht von einer „rechtssoziologischen Funktion“ der Verfahrensgrundsätze gesprochen werden. Dennoch lässt sich bei Zugrundelegung von Luhmanns „Legitimation durch Verfahren“ eine soziologische Komponente der Verfahrensgrundsätze nicht leugnen. b)  Rechtspolitische Funktion Den Verfahrensgrundsätzen kommt ferner eine rechtspolitische Bedeutung zu. Insbesondere bei der Schaffung einer neuen Verfahrensordnung muss sich der Gesetzgeber zunächst Klarheit über den wesentlichen Aufbau des zu entwerfenden Ver­ fah­rens verschaffen.205 Dies ist aber nur mit Hilfe von Verfahrensgrundsätzen ­möglich.206 Dementsprechend stand bei den Beratungen über den Erlass der 199 

Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S.  32. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S.  33 ff. 201  Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, S.  62; Röhl, Rechtssoziologie, S.  410. 202  Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, S.  62 f.; ähnlich Rödig, Theorie, S.  105, welcher die „legitimierende Funktion“ des gerichtlichen Verfahrens betont. 203  Siehe hierzu Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  29 m. w. N.; Röhl, Rechtssoziologie, S.  418 ff.; Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S.  52 ff.; ferner Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (258); Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (80 ff.); aus der Perspektive des Strafrechts Duttge, ZStW 115 (2003), 539 (547 ff.); positiver dagegen Prütting, in: LA Henckel, S.  261 (264 f.). Zu den weiteren Anforderungen an die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung siehe später unter §  7 III. 1. b). 204  Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S.  12: „Das legt es nahe, den umgekehrten Weg zu gehen und sich an die Soziologie zu wenden und nach einer soziologischen Theorie des Verfahrens (nicht: des Verfahrensrechts!) zu fragen.“; darauf ebenfalls hinweisend Röhl, Rechtssoziologie, S.  418; ferner Börner, Legitimation durch Strafverfahren, S.  42. 205  Hütten, Prozeßökonomie, S.  13 f.; Braun, Lehrbuch, S.  70; Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28) [„Vorstufe“]; Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (383) spricht insofern von einer „rechtsgestaltenden Funktion“; zustimmend Krüger, Unmittelbarkeit, S.  27. 206  Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28); Reimer, Verfahrenstheorie, S.  222; siehe hierzu auch Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  11 ff., welcher von den „verfahrensgestaltenden Grundgedanken“ spricht. 200 

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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Reichs-Civilprozeßordnung am Anfang die Überlegung, nach welchen Grund­ sätzen das Verfahren ausgerichtet sein sollte.207 Eine solche Vorgehensweise ist letztendlich unerlässlich. Denn erst wenn man sich über die Eckpfeiler geeinigt hat, kann man sich anschließend Gedanken über Detailfragen machen. Die Methodik ist somit immer nach dem Prinzip „von Groß nach Klein“ aufgebaut. Bei der Schaffung einer Verfahrensordnung hat der Gesetzgeber aber stets eine Wahl zwischen diversen Gestaltungsmöglichkeiten.208 Deshalb ist die Entscheidung für die Verwirk­ lichung eines bestimmten Verfahrensgrundsatzes stets eine rechtspolitische Entscheidung.209 Verfahrensordnungen sind folglich rückführbar auf rechtspolitische Prinzipien, mit der Folge, dass Einzelregelungen kritisch hinsichtlich ihrer rechtspolitischen Richtigkeit gewürdigt werden können.210 Aber nicht nur bei der Schaffung eines neuen Gesetzes, sondern auch im Rahmen von Reformarbeiten spielen Verfahrensgrundsätze eine wichtige Rolle. Reform­ diskussionen sind oftmals Prinzipiendiskussionen.211 Bei der Frage, ob sich eine neue Regelung in das bestehende System der ZPO einfügt, dienen die Verfahrensgrundsätze gewissermaßen als „Kompass für den Gesetzgeber“212. Im Interesse der Rechtssicherheit ist daher vor dem Erlass einer Vorschrift stets deren System­ konformität zu hinterfragen.213 Wenn man nun aber – wie oben dargelegt – Verfahrensgrundsätzen keinen a priori-Charakter beimessen darf, stellt sich unweigerlich die Frage, wie dies mit ihrer rechtspolitischen Funktion in Einklang zu bringen ist. Wenn sich der Gesetzgeber bei der Schaffung eines Gesetzes zuerst Gedanken über dessen Grundzüge und Grundsätze macht, könnte man durchaus von a priori vorgegebenen Grund­sätzen sprechen. Diese beiden Feststellungen stehen indes nur scheinbar im Widerspruch. 207 

Schubert, Protocolle Bundesstaaten-Entwurf, Bd. 1, S.  12. MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  289; Menger, in: Staatsbürger und Staatsgewalt, S.  427 (433) spricht insofern von einem „Material im Arsenal des Gesetzgebers“; zustimmend Brüggemann, Judex, S.  101. 209  Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  338; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  636; Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn.  10; Koch, Prozessökonomie, S.  36; ähnlich Geerds, SchlHA 209 (1962), 181 (182); Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292). 210  Weber, Studium Generale 13 (1960), 183 (185). 211  Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (293); Reimer, Verfahrenstheorie, S.  222 („Folie für Vorschläge zur Änderung des Verfahrensrechts“); siehe auch Bettermann, ZZP 88 (1975), 347 (348): „Vor allem sind die rechtspolitischen Probleme aufzuzeigen, vor denen der Gesetzgeber steht, und die verschiedenen Alternativen ihrer Lösung.“; zurückhaltender dagegen Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (24 ff.), wonach eher die Prozesszwecke als Leitlinie für eine mögliche Reformierung des Verfahrensrechts dienen können. 212  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (106); ähnlich Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28) [„Richtschnur“]. Dasselbe meinte Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (64), wenn er von einer meta-normativen ex-ante Funktion (programmierende Funktion) spricht. 213  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (106); Krüger, Unmittelbarkeit, S.  37; ähnlich Fasching, in: Verfahrensgrundsätze, S.  53: „Das Reformwerk muß auf die Grundprinzipien des Gesetzes Bedacht nehmen und in erster Linie darauf achten, die Leitgedanken des Gesetzes nicht zu verwässern oder zu verändern, sondern zu verbessern.“. 208 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

Nur weil der Gesetzgeber von bestimmten Grundstrukturen einer Verfahrensordnung ausgeht, ist damit noch keine Aussage darüber getroffen, in welcher Form, Ausprägung und genauen Reichweite ein Verfahrensgrundsatz letztendlich ausgestaltet sein wird. Diese Fragen können erst nach dem Abschluss des Gesetz­ gebungsverfahrens beantwortet werden.214 c)  Heuristische Funktion Ferner weisen Verfahrensgrundsätze eine heuristische Funktion auf.215 Die Arbeit mit Verfahrensgrundsätzen fördert zum einen das Verständnis des Prozessrechts.216 Insbesondere kann man Einzelbestimmungen der ZPO besser verstehen, wenn man sich die dahinterstehenden Grundprinzipien vergegenwärtigt.217 Zum anderen ermöglichen die Verfahrensgrundsätze eine Systematisierung des Prozessstoffs, was zu einer leichteren Orientierung innerhalb der vielen prozessualen Einzelregelungen führt.218 Den Verfahrensgrundsätzen kommt daher in der juristischen Ausbildung eine didaktische Komponente zu, da sowohl in Lehrbüchern und Skripten als auch in den Vorlesungen diese gerne an den Anfang gestellt werden, um hierdurch den Einstieg in die Rechtsmaterie zu erleichtern.219 Durch die Möglichkeit, das Recht mit Hilfe von Verfahrensgrundsätzen systematisieren zu können, ergeben sich noch andere Konsequenzen: Erst durch die Strukturierung und die Übersichtlichkeit des Rechts kann Rechtssicherheit gewährleistet werden, welche wiederum unentbehrlich für das effektive Funktionieren einer Gesellschaft ist.220 Zudem können Verfahrensgrundsätze eine gemeinsame Hand­

214  Ähnlich Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (412), wonach sich der historische Wille des Gesetzgebers nur in begrenztem Umfang zur Erkenntnis des geschaffenen Rechts eigne, insbesondere da die historische Auslegung keinen Vorrang gegenüber den übrigen Auslegungsmethoden genieße. 215  Die Terminologie ist entnommen von Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (60); siehe auch Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz, S.  179. Dieser will die Bedeutung der Verfahrensgrundsätze – dargestellt am Beispiel des Untersuchungsgrundsatzes – allerdings auch nur auf eine „Systematisierungs- und Verdeutlichungsfunktion“ reduzieren; Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz, S.  447. 216  Grunsky, Grundlagen, S.  16; Hütten, Prozeßökonomie, S.  14; Adolphsen, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  2; Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5; für Henckel, Prozessrecht, S.  118 sind Verfahrensgrundsätze daher in erster Linie ein „Mittel zur Darstellung unseres geltenden Prozeßrechts“. 217  Adolphsen, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  2; ähnlich auch Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (105). 218  Schöpflin, JR 2003, 485; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  636. Dies wird auch ausdrücklich betont von Geerds, SchlHA 209 (1962), 181 (182), wenn er den „programmatischen Charakter“ der Verfahrensgrundsätze anspricht und diese als „Hilfsbegriffe“ bezeichnet; ähnlich Kaufmann, Untersuchungsgrundsatz, S.  344, welcher für den Untersuchungsgrundsatz von einer „Sammelbezeich­ nung der einschlägigen Normen und Verfahrensfragen“ spricht. 219  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (105); Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (27); a. A. Piekenbrock, ZZP 126 (2013), 131 (133), wonach die Verfahrensgrundsätze in Lehrbüchern gerade aus didaktischen Gründen erst am Ende dargestellt werden sollten. 220  Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (60 f.).

II.  Zum Wesen der Verfahrensgrundsätze

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habung der Gerichte gewähren und wahren damit letztendlich die Rechtseinheit und die Rechtsgleichheit.221 d)  Rechtspraktische Funktion Nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – dem alltäglichen Umgang mit dem Prozessrecht – ist ein Rekurs auf die Verfahrensgrundsätze hilfreich. Man kann dies als deren rechtspraktische Funktion bezeichnen.222 Im Zivilprozess gelten grundsätzlich die allgemeinen Auslegungskriterien der juristischen Methodenlehre.223 Besondere Bedeutung kommt der teleologischen Auslegung zu, welche den Sinn und Zweck der prozessualen Normen hinterfragt und damit im engen Zusammenhang zum Zweck des Zivilprozesses an sich steht.224 Diese Zweckorientierung führt zum Grundsatz der materiellrechtsfreundlichen Auslegung des Verfahrensrechts.225 Wenn aber der Prozesszweck maßgeblich für die Auslegung der ZPO ist und die Verfahrensgrundsätze wiederum von diesem beeinflusst werden bzw. sich an diesem orientieren müssen, folgt daraus logischerweise, dass die Verfahrensgrundsätze in Zweifelsfällen als Auslegungshilfe herangezogen werden können.226 Sie erlangen damit wesentliche Bedeutung bei der Gesetzesinterpretation im Sinne von „Argumentationsmaterial“227, insbesondere wenn sich zwei mögliche Aus­ legungen widersprechen: In diesem Fall ist diejenige Auslegung vorzuziehen, welche am ehesten mit den Verfahrensgrundsätzen konform geht.228 Da das Verfahrensrecht nicht sämtliche Einzelfragen abschließend regeln kann, können gesetzlich nicht geregelte Fälle unter Rückgriff auf die Verfahrensgrund­ sätze gelöst werden, was methodisch einem Lückenschluss durch Analogie gleichkommt.229 Ebenso wie sich im materiellen Recht eine Lücke mittels Rückgriffs auf 221  Hütten, Prozeßökonomie, S.  15; Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292 f.) stellt daher die These auf, dass jedes Recht ohne Prinzipien zum Unrecht degeneriere. Das Niveau eines Rechtssystems spiegle sich in seinem Verhältnis zu Maximen wieder. 222  Ähnlich Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (383), welcher in diesem Zusammenhang zwischen der „systematischen Funktion“ und der „interpretatorischen Funktion“ unterscheidet; ebenso Krüger, Unmittelbarkeit, S.  28. 223  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  7 Rn.  8; Zöller/Vollkommer, Einleitung Rn.  92. Ausführlich zur Auslegung des Zivilprozessrechts Koch, Prozessökonomie, S.  46 ff. 224  PG/Prütting, Einleitung Rn.  56. 225  Grundlegend Schumann, in: FS Larenz II, S.  571 ff. 226  Hierauf wird in der Literatur nahezu immer hingewiesen; siehe Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  636; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  7 Rn.  14; Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  49; Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5; MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  289; Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331); Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (15); Schöpflin, JR 2003, 485; Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (91); ebenso für Prinzipien im Sinne der Rechtstheorie Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  307; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  756; Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen, S.  104; a. A. Rödig, Theorie, S.  106; zurückhaltend auch Reimer, Verfahrenstheorie, S.  220. 227  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (105). 228  Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (61). 229  Grunsky, Grundlagen, S.  17. Auf die Möglichkeit des Lückenschlusses mittels Verfahrens-

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

den Telos des Gesetzes schließen lässt, muss sich im Zivilprozess die Lückenfüllung an den immanenten Leitgedanken und Grundlagen orientieren.230 Diese Funktion ergibt sich letztendlich aus dem oben festgestellten Wesen der Verfahrensgrundsätze als normative Grundsätze.231 Der Umgang mit Verfahrensgrundsätzen ermöglicht Einzelentscheidungen und stellt eine „unverzichtbare Hilfe sachgerechter Interessenabwägung“232 dar. Für den Bereich der Rechtsfortbildung bedeutet dies, dass die methodische Fortentwicklung des Verfahrensrechts immer auch auf den Verfahrensgrundsätzen basiert.233 Dies gilt nicht nur für die ZPO selbst, da ebenso andere Rechtsgebiete hiervon beeinflusst werden können. In der Literatur wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass zivilprozessuale Verfahrensgrundsätze auch im Bereich der außergerichtlichen Streitbeilegung – vor allem der Mediation – prägende Wirkung entfalten können.234 e)  Rechtsvergleichende Funktion Zu guter Letzt erleichtern die Verfahrensgrundsätze die Rechtsvergleichung auf dem Gebiet des Verfahrensrechts.235 Über einen Vergleich der prägenden Verfahrensgrundsätze können Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den jeweiligen Verfahrensordnungen ausgemacht und analysiert werden.236 Dies betrifft jedoch nicht nur die Rechtsvergleichung mit ausländischen Verfahrensordnungen, sondern auch die inländische Rechtsvergleichung. Schließlich sind ZPO, StPO und VwGO nicht durchweg auf denselben Grundsätzen aufgebaut. Die rechtsvergleichende Funktion der Verfahrensgrundsätze erschöpft sich freilich nicht in der bloßen Gegenüberstellung von unterschiedlichen Regelungsmöglichkeiten. Darüber hinaus können die aus dem Vergleich gewonnenen Ergebnisse im Bereich der Rechtsvereinheitlichung fruchtbar gemacht werden und beispielsweise als Wegweiser für die Herausbildung eines einheitlichen europäischen Zivilprozessrechts dienen.237 grundsätzen weisen unter anderem auch hin Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  6; Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (39 f.); Schöpflin, JR 2003, 485. 230  Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (40). 231  Siehe hierzu auch Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331). 232  Stürner, ZZP 99 (1986), 291 (292), welcher zugleich auf die Bedeutung von „fundamental principles“ für das anglo-amerikanische Rechtssystem hinweist. 233  PG/Prütting, Einleitung Rn.  23. 234  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (106). 235  Siehe Adolphsen, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  3; Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  5; PG/Prütting, Einleitung Rn.  23. 236  PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; ähnlich Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (63), welcher von einer „Brückenfunktion“ spricht. 237  Deutlich Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (4 f., 28 f.) hinsichtlich einer Herausbildung von European Principles of Civil Procedure; ders., ZZP 126 (2013), 3 (8, 24); siehe auch Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (66 f.); Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28); ferner Weller, in: Mindeststandards, S.  83 (114): „Im europäischen Gerichtsverbund dient die rechtsvergleichende Fotografie

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz An das Wesen der Verfahrensgrundsätze knüpft die Frage an, anhand welcher Kriterien man diese ausmachen kann – mit anderen Worten: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit man einen Grundsatz des Zivilprozessrechts als „Verfahrensgrundsatz“ bezeichnen kann?238

1.  Normierung im Gesetzestext Die bloße Nennung eines Grundsatzes in der ZPO kann als Kriterium jedenfalls nicht herangezogen werden. Einen Katalog der Verfahrensgrundsätze enthält die ZPO bekanntlich nicht. Ausdrücklich genannt wird beispielsweise der Mündlichkeitsgrundsatz in §  128 ZPO. Dagegen ist etwa der Dispositionsgrundsatz nicht expressis verbis normiert, sondern er ergibt sich erst aus verschiedenen Einzel­ vorschriften.239 Eine Anknüpfung an die gesetzliche Normierung muss daher ausscheiden.240

2.  Verfahrensgrundsätze als überkommene Grundsätze In der Prozessrechtswissenschaft wird häufig von den sog. überkommenen Grundsätzen oder Maximen gesprochen. Hierzu werden allerdings nur die Verhandlungsund Dispositionsmaxime gezählt.241 Andere nennen dagegen die Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime als die „ursprünglichen Prozessmaximen“242 – wohl deshalb, da diese beiden Grundsätze historisch als erstes von Gönner entwickelt wurden.243 Eine solche Vorgehensweise hilft hier allerdings nicht weiter. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass durch ein solch „statisches Maximendenken“ neuere Entwicklungen in der Prozessrechtswissenschaft nicht berücksichtigt werden können.244 des mitgliedsstaatlichen Prozessrechts zugleich der Architektur des Verfahrensrechts der Europäischen Union.“. 238  Siehe hierzu auch Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (99 ff.); Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  60 ff.; Holzlöhner, Grundsätze, S.  29 ff.; ferner Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (82 f.), welcher diese Frage allerdings nur kurz aufwirft, ohne sie eingehend zu beantworten. 239  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  76 Rn.  3; Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103 f.). 240  So zu Recht Holzlöhner, Grundsätze, S.  29 f.; Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  61. 241  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (100); Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330), welcher ferner den Mündlichkeitsgrundsatz nennt. 242  Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407. 243  Ausführlich hierzu Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  97 ff. 244  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (100 f.) mit Hinweis auf den Konzentrations- und den Beschleunigungsgrundsatz.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

3.  Verfahrensgrundsätze und Grundgesetz Eine andere Möglichkeit wäre, diejenigen Grundsätze als Verfahrensgrundsätze zu begreifen, welche von Verfassungs wegen geboten sind.245 Wie bereits gezeigt, ergeben sich manche Verfahrensgrundsätze als Verfahrensgrundrechte unmittelbar aus der Verfassung. Während sich andere Verfahrensgrundsätze (z. B. Dispositionsund Öffentlichkeitsgrundsatz) als Ausfluss verfassungsrechtlicher Bestimmungen deuten lassen, soll dies für Mündlichkeit und Unmittelbarkeit dagegen nicht gelten.246 Aufgrund dieser Uneinheitlichkeit bietet sich ein Rekurs auf das Grundgesetz nicht an. Die Verfassung kann nur einen Ausschnitt der Verfahrensgrundsätze erfassen, nicht hingegen sämtliche Strukturen der ZPO widerspiegeln.247

4.  Die Konzeption der dialektischen Regelungsmodelle In der Literatur wird immer wieder das Konzept der Verfahrensgrundsätze als „dia­ lektische Regelungsmodelle“248 genannt. Gemeint ist damit, dass sich die Verfahrensgrundsätze in gegensätzliche Begriffspaare einordnen lassen.249 In diesem Sinne konstatieren Grunsky/Jacoby für den Verhandlungsgrundsatz, dass dieser als Begriff nichtssagend sei und sein Inhalt erst dann deutlicher werde, wenn man den Untersuchungsgrundsatz als konträren Grundsatz gegenüberstelle.250 Ferner wird die Mündlichkeit geläufig als Gegenstück zur Schriftlichkeit und der Offizialgrundsatz als das Gegenteil des Dispositionsgrundsatzes verstanden.251 Es ließe sich demnach von einem Verfahrensgrundsatz sprechen, wenn der Gesetzgeber die Wahl zwischen zwei gegensätzlichen Grundsätzen hatte und sich dann für einen der beiden entschieden hat.252 Hofmann weist allerdings zu Recht darauf hin, dass bei einer solchen Vorgehensweise durch die bloße Negierung eines Grundsatzes dessen Charakter als Verfahrensgrundsatz ohne Weiteres begründet werden könnte: Die „Klarheit der Einteilung“ gehe verloren, wenn „das Gegenstück sich darin erschöpft, sein Vorhanden245 

Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (101). Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. b). 247  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (101). 248  Der Begriff stammt von Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (101); siehe auch Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (411) [„dialektische Begriffspaare“]. 249  Siehe nur Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  636 („Gegensatzpaare“); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  284 („Gegenprinzip“); Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (102) [„Gegenmodelle“]. Die dialektische Begriffsbildung kann dabei bis auf Immanuel Kant zurückverfolgt werden, welcher von „komparativen Prinzipien“ sprach; siehe hierzu Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (411). 250  Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn.  96; ebenfalls für ein Verständnis der Verfahrensgrundsätze als Gegensätze Reimer, Verfahrenstheorie, S.  200 f., 211; Henckel, in: GS Bruns, S.  111 (122). 251  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  284; Reimer, Verfahrenstheorie, S.  200. 252  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (101). 246 

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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sein zu negieren.“ Ansonsten ließe sich beispielsweie als Gegenbegriff zum Beschleunigungsgrundsatz der Grundsatz der „Nicht-Beschleunigung“ oder der „Langsamkeit“ aufstellen.253 Eine solche Einteilung ist als Kriterium zur Bestimmung der Verfahrensgrundsätze daher abzulehnen. Hiergegen spricht auch, dass durch die dialektische Begriffsbildung ein Modellcharakter betont wird, der mehr auf eine deskriptive Natur der Verfahrensgrundsätze schließen ließe. Deren eigentlich normativer Charakter käme hierdurch nicht hinreichend klar zum Ausdruck.254 Hinzu kommt, dass Verfahrensgrundsätze nicht immer in reiner Form verwirklicht werden können. Dementsprechend finden sich gewisse Mischformen: Grundsätzlich wird der Zivilprozess vom Verhandlungsgrundsatz beherrscht. Dennoch finden sich insbesondere bei Bestehen eines öffentlichen Interesses Formen des Untersuchungsgrundsatzes, etwa in den §§  26, 127 Abs.  1 FamFG.255 Würde man allein auf die Möglichkeit der gegensätzlichen Begriffsbildung abstellen, könnte man auch den Untersuchungsgrundsatz als Verfahrensgrundsatz der ZPO anerkennen. Aufgrund der untergeordneten Bedeutung erscheint es jedoch überzeugender, diese Bestimmungen eher als Ausnahmen vom Verhandlungsgrundsatz zu begreifen.256

5.  Prinzipientheorie Für Verfahrensgrundsätze wird zuweilen deren „Prinzipiencharakter“257 betont. In der Wissenschaft haben sich mittlerweile diverse Ansätze entwickelt, um Prinzipien rechtstheoretisch erfassen zu können.258 Den unterschiedlichen Auffassungen jener „Prinzipientheorie“, welche teilweise auf die Verfahrensgrundsätze der ZPO übertragen wird,259 liegt die sog. Trennungsthese zugrunde, wonach generell zwischen zwei Arten von Normen differenziert wird: Regeln und Prinzipien.260 Je nach Unter­scheidung zwischen beiden Erscheinungsformen wird von der starken und 253 

Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (102). Siehe hierzu oben unter §  2 III. 4. 255  Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  82. Zu den Unterschieden hinsichtlich des Beweisverfahrens in der ZPO und im FamFG siehe Gomille, NZFam 2014, 100 ff. 256  Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  104. 257  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  6; Bargen, Gerichtsinterne Mediation, S.  297. 258  Zur Entwicklung der Prinzipientheorie siehe Nowrot, Republikprinzip, S.  506 ff. 259  Hierfür Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103 f.) hinsichtlich der Prozessökonomie; ebenso Kwaschik, Parteivernehmung, S.  116 ff. für die prozessuale Waffengleichheit; ferner Koch, Prozess­ ökonomie, S.  35 („Teilausschnitt der Rechtsprinzipien“); für eine Anwendung der Prinzipientheo­ rie wohl auch Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  20; ferner Popp, Verfahrenstheoretische Grundlagen, S.  103 ff. 260  Üblich ist auch eine Differenzierung zwischen Normen und Grundsätzen, Normen und Prinzipien oder Rechtsregeln und Rechtsgrundsätzen; Calliess, Prozedurales Recht, S.  98. Die Vorstellung der Differenzierung zwischen Regeln und Prinzipien wendet sich letztendlich kritisch gegen den Rechtspositivismus, da die Rechtsordnung nicht nur aus Normen (positives, gesetztes Recht) bestehe, sondern zugleich auch „normative Maßstäbe und Elemente anderer Art“ enthalte; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  491a. 254 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

schwachen Trennungsthese sowie der Übereinstimmungsthese gesprochen:261 Vertreter der starken Trennungsthese behaupten, dass zwischen Regeln und Prinzipien ein qualitativer Unterschied bestehe, wohingegen dieser nach der schwachen Trennungsthese nur gradueller Natur sein soll. Die Übereinstimmungsthese besagt schließlich, dass zwischen Regeln und Prinzipien ein logischer Unterschied nicht bestehe, was bedeutet, dass Regeln und Prinzipien dieselben Eigenschaften aufweisen können.262 a)  Starke Trennungsthese Die Vertreter der starken Trennungsthese wollen zwischen Regeln und Prinzipien anhand der jeweiligen Normstruktur unterscheiden. Im Folgenden soll auf die wichtigsten Ansätze und Vertreter dieser Ansicht eingegangen werden.263 aa)  Josef Esser Eine erste rechtstheoretische Auseinandersetzung mit Prinzipien erfolgte durch Josef Esser.264 Dieser unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Arten von Prinzipien: axiomatische Prinzipien, Problemprinzipien und dogmatische Prinzipien.265 Darüber hinaus wird noch zwischen juristischen Prinzipien und Prinzipien des Rechts266 sowie Aufbau- und Wertprinzipien 267 differenziert. Prinzipien werden vom ihm negativ beschrieben, wonach „ein Rechtsprinzip kein Rechtssatz, keine Rechtsnorm im technischen Sinne ist, solange es keine verbindliche Weisung unmittelbarer Art für einen bestimmten Fragenbereich enthält, sondern die judizielle oder legislative Ausprägung solcher Weisungen verlangt oder voraus-

261  Siehe hierzu insbesondere Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59 (64 f.); ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (15); ferner Sieckmann, Regelmodelle, S.  53; Calliess, Prozedurales Recht, S.  98. Zu den sonstigen Unterscheidungskriterien zwischen Regeln und Prinzipien siehe Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  171 ff. 262  Hierfür zuletzt Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (54 ff.); ferner Aarnio, ARSP Beiheft 42 (1990), 180 (187 f., 192); ähnlich auch Soper, 75 Michigan Law Review (1976–1977), 473 (483 f.). 263  Neben den im Folgenden genannten Autoren sind zur starken Trennungsthese unter anderem noch zu zählen: Sieckmann, Regelmodelle, S.  74 ff.; ders., Normatives System, S.  24 ff.; ders., ARSP 97 (2011), 178 ff.; Canaris, Systemdenken, S.  57; Hain, Grundsätze, S.  99 ff.; Larenz, Richtiges Recht, S.  23 ff.; Borowski, Grundrechte, S.  134; Steiner, Fairneßprinzip, S.  134 ff.; siehe hierzu auch die Darstellung bei Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  9 ff.; ferner zur Entwicklung der starken Trennungsthese Reßing, ARSP 95 (2009), 28 ff. 264  Siehe zum Folgenden auch die Darstellung bei Kwaschik, Parteivernehmung, S.  118 f. 265  Esser, Grundsatz, S.  47 f. Zur Klassifikation von Prinzipien siehe ferner Peczenik, Rechtstheorie 2 (1971), 17 ff., welcher zwischen „principles of logic“, „principles of justice“, „semi-logical principles“, „instrumentally formulated legal principles“ und „similar to the instrumentally formulated principles“ differenziert. 266  Esser, Grundsatz, S.  90. 267  Esser, Grundsatz, S.  156.

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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setzt. Rechtsprinzipien im Gegensatz zu Rechtsnormen sind Inhalt im Gegensatz zur Form […].“268

Folglich geht Esser von einer Trennung von Norm und Prinzip aus: Während eine Norm durch die „Bestimmbarkeit der Anwendungsfälle“ gekennzeichnet sei, seien Prinzipien nicht selbst „Weisung“, sondern vielmehr „Grund, Kriterium und Rechtfertigung“ hierfür.269 Sie sind demnach Gründe für Regeln bzw. Normen.270 Entscheidend für die Abgrenzung sei dabei nicht der Grad der Generalität, sondern die Qualität.271 bb)  Ronald Dworkin Im anglo-amerikanischen Rechtsraum entwickelte schließlich Ronald Dworkin eine Prinzipientheorie des Rechts. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass zwischen Regeln und Prinzipien ein „logischer Unterschied“ (logical distinction) bestehe.272 Für Regeln postulierte er eine „Alles-oder-Nichts“-These (all-or-nothing fashion): Eine Regel sei entweder anwendbar oder nicht anwendbar, was bedeute, dass sie entweder eine richterliche Entscheidung bestimme oder ungültig sei und sich folglich auf die Entscheidung nicht auswirke. Regeln könnten dabei auch Ausnahmen haben, wobei Dworkin davon ausgeht, dass zumindest theoretisch alle Ausnahmen von einer Regel formuliert werden könnten. Je mehr Ausnahmen genannt werden, desto genauer sei die Regel.273 Die Funktionsweise eines Prinzips sei dagegen eine andere: „Ein Prinzip […] gibt nicht einmal vor, Bedingungen darzulegen, die seine Anwendung notwendig machen. Es gibt vielmehr einen Grund an, der ein Argument in eine bestimmte Richtung ist, der aber nicht eine bestimmte Entscheidung notwendig macht.“274

Prinzipien sind nach Dworkin demnach „Gründe für eine Entscheidung“275. Aus der Trennung von Regeln und Prinzipien folge weiterhin, dass Prinzipien im Gegensatz zu Regeln eine „Dimension des Gewichts oder der Bedeutung“ (dimension of weight or importance) besäßen:276 Kollidieren zwei Prinzipien miteinander, müsse bei der Auflösung dieses Konflikts das „relative Gewicht beider Prinzipien“ berücksichtigt werden. Regeln verhielten sich dagegen nicht dergestalt, dass eine Regel wichtiger 268 

Esser, Grundsatz, S.  50. Esser, Grundsatz, S.  51 f.; diesem Ansatz folgend Larenz, Richtiges Recht, S.  24 ff. 270  Kwaschik, Parteivernehmung, S.  118. 271  Esser, Grundsatz, S.  95. 272  Dworkin, Bürgerrechte, S.  58. Zu den englischen Originalbegriffen siehe Dworkin, Taking Rights Seriously, S.  24 ff. 273  Dworkin, Bürgerrechte, S.  58 f. 274  Dworkin, Bürgerrechte, S.  60. 275  Sieckmann, Regelmodelle, S.  54. 276  Diese bezeichnet auch Englisch in Anlehnung an Dworkin als das entscheidende normlo­ gische Unterscheidungskriterium zwischen Regeln und Prinzipien; Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  55. 269 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

als die andere sei. Im Konfliktfall könne nur eine Regel gültig, die andere ungültig sein.277 cc)  Robert Alexy Ein weiterer Vertreter der starken Trennungsthese ist Robert Alexy, welcher seine Prinzipientheorie auf den Überlegungen Dworkins aufbaute. Die „Alles-oderNichts“-These lehnt er als Unterscheidungskriterium ab und macht allein das unterschiedliche Kollisionsverhalten von Prinzipien und Regeln zum Kriterium.278 Für Alexy sind Prinzipien sog. Optimierungsgebote: „Der für die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien entscheidende Punkt ist, daß Prinzipien Normen sind, die gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsäch­ lichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird. Prinzipien sind demnach Optimierungsgebote, die dadurch charakterisiert sind, daß sie in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und daß das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt. […] Demgegenüber sind Regeln Normen, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Wenn eine Regel gilt, dann ist es geboten, genau das zu tun, was sie verlangt, nicht mehr und nicht weniger. Regeln enthalten damit Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen.“279

Für Alexy folgt daraus, dass „die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien eine qualitative Unterscheidung und keine Unterscheidung dem Grade nach ist. Jede Norm ist entweder eine Regel oder ein Prinzip.“280 Prinzipien seien „Gründe für Regeln.“281 Nach Alexy unterscheiden sich Prinzipien und Regeln in folgenden Punkten: Erstens sei die kennzeichnende Form der Anwendung für Prinzipien die Abwägung, für Regeln die Subsumtion.282 Zweitens zeige sich ein unterschiedliches Verhalten im Kollisionsfall. Kollidieren zwei Regeln miteinander, müsse mindestens eine der beiden Regeln ungültig sein, denn ein Richter könne nicht zwei Regeln mit unterschiedlichen Rechtsfolgen sowohl als zugleich gültig anerkennen als auch nicht 277 

Dworkin, Bürgerrechte, S.  61 f. Alexy, ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (19); ebenso Koch, ARSP Beiheft 37 (1990), 152 (153). Alexys Theorie folgen unter anderem Koriath, Grundlagen, S.  67 ff.; Couzinet, JuS 2009, 603 (607 f.); Steiner, Fairneßprinzip, S.  134 ff. 279  Alexy, Theorie, S.  75 f.; siehe auch ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (19 f.). Optimierungsgebote könnten nach Alexy auch als „ideales Sollen“ bezeichnet werden. Hierunter sei jedes Sollen zu verstehen, welches nicht voraussetze, dass das, was gesollt ist, in vollem Umfang tatsächlich oder rechtlich möglich ist, das dafür aber möglichst weitgehende oder approximative Erfüllung verlange. Der Gebotscharakter von Vorschriften, die entweder nur erfüllt oder nicht erfüllt werden können, könne dagegen als „reales Sollen“ bezeichnet werden. 280  Alexy, Theorie, S.  76 f. Auch Canaris betont, dass Prinzipien keine Normen seien; Canaris, Systemdenken, S.  57. Die Unterscheidung erfolgt somit „kategorial“; Unger, Verfassungsprinzip, S.  92. 281  Alexy, ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (21). 282  Alexy, ARSP Beiheft 37 (1990), 9 (21); ders., Rechtstheorie 18 (1987), 405 (408). 278 

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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gleichzeitig zur Anwendung bringen.283 Die Kollision zweier Prinzipien sei dagegen im Wege der Abwägung durch Festsetzung einer „bedingten Vorrangrelation“ zu lösen.284 Da Prinzipien in unterschiedlichem Maße erfüllbar sind, müsse im Kollisionsfall eines der beiden Prinzipien zurücktreten.285 Drittens besäßen Regeln einen wesentlich stärkeren prima facie-Charakter als Prinzipien.286 dd)  Joachim Englisch Ein neuerer Ansatz wurde in den vergangen Jahren von Joachim Englisch vorgelegt, welcher seine Überlegungen auf die Vorarbeiten Alexys und seiner Schüler stützt und deren Theorie weiterentwickelte. Englisch differenziert zwischen Struktur- und Wertprinzipien. Strukturprinzipien „charakterisieren regelmäßig einen gesetzgeberischen Grundansatz, der für eine bestimmte Rechtsmaterie prägend ist.“ Wertprinzipien dagegen seien solche Prinzipien, welche „rechtsethisch fundierte Werte bzw. Ideale verkörpern, also ein abstraktes Ziel mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit als erstrebenswert formulieren.“287 Die Beziehung beider Prinzipienarten sei dabei dergestalt, dass sich Strukturprinzipien „regelmäßig von einem oder mehreren Wertprinzipien ableiten lassen.“288 Strukturprinzipien könnten zudem konträr zu­ einander formuliert werden, als Strukturprinzip komme anstelle eines bestimmten Ansatzes häufig dessen Umkehrung in Betracht. Vor allem aber seien nur Wertprinzipien Rechtsnormen, Strukturprinzipien hingegen bloß deskriptive Sätze.289 b)  Schwache Trennungsthese Die Vertreter der schwachen Trennungsthese290 sehen ebenso wie die Anhänger der starken Trennungsthese zwischen Regeln und Prinzipien einen logischen Unter283 

Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59 (72 f.). Hierzu entwickelte Alexy ein Kollisionsgesetz: „Die Bedingungen, unter denen das eine Prinzip dem anderen vorgeht, bilden den Tatbestand einer Regel, die die Rechtsfolge des vorgehenden Prinzips ausspricht.“; Alexy, Theorie, S.  84. Zur Ermittlung dieser Vorrangrelation gelte das Abwägungsgesetz: „Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein.“; Alexy, Theorie, S.  146. 285  Dies bedeute aber nicht, dass das zurücktretende Prinzip ungültig werde. Vielmehr habe im Kollisionsfall ein Prinzip unter gewissen Umständen Vorrang vor dem anderen; Alexy, Theorie, S.  79. 286  Alexy, Theorie, S.  87 ff. Regeln würden daher den „harten Teil der Rechtsordnung“ darstellen. Je mehr die Rechtsordnung durch Regeln bestimmt werde, desto härter sei sie; Alexy, ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (20); kritisch hierzu Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  23 f. 287  Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  34 f. 288  So könne beispielsweise der Grundsatz der Typenfreiheit auf die Privatautonomie zurückgeführt werden oder der Grundsatz des Typenzwangs auf die Verkehrssicherheit; Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  35 f. 289  Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  36; siehe hierzu auch Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  284. 290  Hierzu zählen in der deutschsprachigen Literatur unter anderem Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  179 ff.; Heck, Begriffsbildung, S.  58; Wache, Begriff des Rechtsprinzips, S.  29; Bydlins284 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

schied. Dieser soll aber nicht normstrukturell bedingt sein, sondern die Unterscheidung soll dem Grade nach vorgenommen werden. Das hierbei am häufigsten verwendete Kriterium ist das der Generalität.291 Hiermit ist aber nicht die Generalität der Geltung oder des Adressatenkreises, sondern die Generalität des Inhalts gemeint.292 Eine Unterscheidung von Prinzipien und Regeln könne insofern getroffen werden, als „der Sinn von Prinzipien nach einer besonders offenen graduelle[n] Erfüllung verlangt, derjenige von Regeln eher nach einer definitiveren.“293 Nach Reimer kennzeichne daher die „Generalität und das mit ihr verknüpfte Fehlen einer Rechtsfolgenvorherbestimmung“ die Prinzipien. Ein Prinzip sei demnach eine „inhaltlich allgemeine und nichtkonditional formulierte, daher rechtsfolgenoffene Norm.“294 Zu den Vertretern der schwachen Trennungsthese sind ferner diejenigen Autoren zu zählen, welche als Unterscheidungskriterium auf die Abstraktionshöhe295 oder die Konkretisierungsbedürftigkeit296 abstellen. Beide Kriterien stellen nämlich letztendlich nur eine Folge der inhaltlichen Generalität dar.297 ki, Fundamentale Rechtsgrundsätze, S.  123; Schilcher, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  153 (164, 169); Di Fabio, Jura 1996, 566 (571); Penski, JZ 1989, 105 (107); Poscher, RW 2010, 349 (371) m. w. N. Zur anglo-amerikanischen Literatur siehe unter anderem Raz, 81 Yale Law Journal (1972), 823 (838); Hughes, 77 Yale Law Journal (1968), 411 (419); MacCormick, Legal Reasoning, S.  152 ff. 291  Alexy, Theorie, S.  73. Die Tatsache, dass Prinzipien einen hohen Grad an Generalität aufweisen, ließe sich nach Alexy damit erklären, dass sie noch nicht auf die Grenzen der Möglichkeiten der tatsächlichen und der normativen Welt bezogen seien; Alexy, Theorie, S.  92; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (21). Interessanterweise stellte früher aber auch Alexy selbst auf die Generalität ab, wenn er sagte: „Unter ‚Prinzipien‘ sollen hier normative Aussagen hoher Generalitätsstufe […] verstanden werden.“; Alexy, Juristische Argumentation, S.  299 (Fn.  81); a. A. Hain, Grund­ sätze, S.  98. Für eine inhaltliche Universalität als Differenzierungsmerkmal zwischen Verfassungsprinzipien und förmlichen Rechtssätzen Göldner, Verfassungsprinzip, S.  175. Ferner wird ein gradueller Unterschied zur Abgrenzung von Werten und Prinzipien herangezogen; siehe nur Canaris, Systemdenken, S.  51 f. 292  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  172. 293  Schilcher, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  153 (164); ähnlich Raz, 81 Yale Law Journal (1972), 823 (838): „Rules prescribe relatively specific acts; principles prescribe highly unspecific acts.“; siehe auch Hughes, 77 Yale Law Journal (1968), 411 (419): „Rules are fairly concrete guides for decisions geared to narrow categories of behavior and prescribing narrow patterns of conduct. Principles are vaguer signals which alert us to general considerations that should be kept in mind in deciding disputes under rules.“. 294  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  182. 295  Di Fabio, Jura 1996, 566 (571). 296  Poscher, RW 2010, 349 (371); Zuck, MDR 1989, 418 (419); siehe auch Canaris, Systemdenken, S.  57: „Die Prinzipien bedürfen schließlich zu ihrer Verwirklichung der Konkretisierung durch Unterprinzipien und Einzelwertungen mit selbständigem Sachgehalt.“; hierfür wohl auch Pfeifer, Untersuchungsgrundsatz, S.  69, wenn er vom „variablen und offenen Charakter“ der Verfahrensgrundsätze spricht. 297  Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  172 f. Als weitere Unterscheidungskriterien werden unter anderem noch angegeben: die Bestimmbarkeit der Anwendungsfälle, die Entstehungsweise, der Unterschied zwischen geschaffenen und gewachsenen Normen, die Explizitheit des Wertgehalts, der Bezug zur Rechtsidee oder zu einem obersten Rechtsgesetz sowie die Bedeutung für die Rechtsordnung; siehe zu diesen Kriterien Alexy, Theorie, S.  74 m. w. N.

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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c)  Kritik an der Prinzipientheorie Bei der Frage nach der Anwendbarkeit der Prinzipientheorie im Bereich des Zivilprozessrechts kommt man um eine Auseinandersetzung mit deren Schwachstellen nicht herum. Daher sollen im Folgenden kurz die wesentlichen Kritikpunkte und Nachteile der Prinzipientheorie genannt werden.298 aa)  Kritik an der starken Trennungsthese Wenngleich Josef Esser der Verdienst zukommt, sich als einer der ersten der rechtstheoretischen Differenzierung zwischen Regeln und Prinzipien gewidmet zu haben,299 liegt der Nachteil seiner Theorie darin, dass sie keine Methode beschreibt, anhand derer Prinzipien konkretisiert werden können.300 Zudem kann eine Differenzierung zwischen einer „Weisung“ einerseits und einem „Grund für eine Weisung“ nicht immer eindeutig getroffen werden, da Regeln selbst Gründe für andere Regeln sein können.301 Kritisiert an Dworkins Theorie wird hauptsächlich die „Alles-oder-Nichts“-These: Diese stehe und falle nach Alexy mit der These der theoretischen Aufzählbarkeit aller Ausnahmen einer Regel.302 Diese erweise sich insofern als nicht haltbar, da unter den Begriff der Ausnahmen nicht nur bereits formulierte, sondern ebenso erst zukünftig denkbare Ausnahmen fallen müssten. Wenn nämlich die Existenz einer Regel die Existenz aller zu ihr gehörenden Ausnahmen zur Voraussetzung erkläre, umfasse dies zwangsläufig Ausnahmen, welche erst in Zukunft getroffen werden müssen.303 Problematisch ist ferner, dass Regeln nicht stets eine statische „WennDann-Struktur“ aufweisen, sondern zur Erfassung neuer Fallkonstellationen oftmals eine am Normzweck orientierte erweiternde oder einschränkende Auslegung geboten ist.304 Alexys Prinzipientheorie hat – nicht zuletzt aufgrund der Auf- und Ausarbeitung durch seine Schüler – große Beachtung gefunden,305 jedoch auch Kritik hervorgerufen. Beispielsweise wird Alexys These, Prinzipien seien als Optimierungsgebote zu

298  Ausführlich zur Kritik an der Prinzipientheorie Unger, Verfassungsprinzip, S.  123 ff.; J­ estaedt, in: FS Isensee, S.  253 (260 ff.). Zur Kritik speziell an der starken Trennungsthese siehe Borowski, Grundrechte, S.  105 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  54 ff. 299  Darauf hinweisend Nowrot, Republikprinzip, S.  507, 510 f. 300  Kwaschik, Parteivernehmung, S.  119. 301  Reßing, ARSP 95 (2009), 28 (30). 302  Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59 (68); ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13 (16). 303  Siehe hierzu Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59 (69); kritisch zur „Alles-oder-Nichts“These auch Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (50 f.); Reßing, ARSP 95 (2009), 28 (32); Hain, Grundsätze, S.  107 f.; Borowski, Grundrechte, S.  76 ff.; Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  16. 304  Koch, ARSP Beiheft 37 (1990), 152 (153), weshalb auch die Anwendung von Rechtsnormen „unter dem Vorbehalt weiterer Normpräzisierung“ stehe. 305  In der Literatur wird Alexy daher auch als „Vater der Prinzipientheorie“ bezeichnet; Sieckmann, in: Prinzipientheorie, S.  271 (294).

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

verstehen, der Vorwurf unzureichender Begründung gemacht.306 Ferner hat insbesondere Sieckmann nachgewiesen, dass Optimierungsgebote definitiv erfüllt oder nicht erfüllt werden können. Sollten nämlich zwei verschiedene Lösungen ein Optimierungsgebot in unterschiedlichem Maße erfüllen, dann sei nur diejenige Lösung optimal, welche das Gebot in höherem Maße erfülle. Auch Optimierungsgebote seien daher Regeln.307 Wenn aber Prinzipien Regeln sind, so „bricht der normative Dualismus, auf dem die Prinzipientheorie beruht, in sich zusammen.“308 Bei Alexys Konzeption handle es sich demnach um eine „Prinzipientheorie ohne Prinzipien“309. Unglücklich ist ferner die übliche Definition des Begriffs „Optimierung“, worunter man „die bestmögliche Realisierung mehrerer, in der Regel kollidierender Ziele“310 versteht. Prinzipien nach Alexy sind aber nicht durch den Ausgleich verschiedener Ziele gekennzeichnet, sondern dadurch, dass gerade ein einzelnes Ziel erreicht werden soll.311 Gegen die Optimierung wird zudem von Habermas der sog. Teleologieeinwand vorgebracht, dass Prinzipien als Optimierungsgebote einen teleologischen Charakter hätten, welcher mit dem binären Charakter des Rechts – Normen sind entweder gültig oder ungültig – nicht zu vereinbaren sei. Prinzipien besäßen nach Habermas jedoch einen deontologischen Charakter, nur Werte hingegen einen teleologischen.312 Problematisch an der Auffassung von Prinzipien als Optimierungsgebote ist schließlich, dass die Formulierung „Erfüllung in höchstem Maße“ zu unbestimmt ist und keine Voraussetzungen dafür nennt, ab wann dieses Maß erfüllt sein soll.313 Auch Penski widerspricht daher Alexys Auffassung, da sowohl Regeln als auch Prinzipien einen Forderungscharakter besäßen, sodass der Unterschied zwischen beiden Maßstäben nur in der „Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit des geforderten Verhaltens“ bestehen könne.314 306 

Hain, Grundsätze, S.  115 ff., 159. Sieckmann, Regelmodelle, S.  65; siehe auch Buchwald, Begriff, S.  160 f.; Aarnio, ARSP Beiheft 42 (1990), 180 (187): „Either one does or one does not optimize. For example, in the case of conflict between two value principles, the principles must be brought together in the optimum manner, and only in the optimum manner.“. 308  Poscher, RW 2010, 349 (369); a. A. Unger, Verfassungsprinzip, S.  124. 309  Sieckmann, in: Prinzipientheorie, S.  271 (273); ähnlich Poscher, RW 2010, 349 („Theorie eines Phantoms“). 310  Sieckmann, Regelmodelle, S.  6 4. 311  Sieckmann, Regelmodelle, S.  6 4. Im Ergebnis spricht Sieckmann sich auch für die Aufgabe des Merkmals der graduellen Erfüllbarkeit zur Bestimmungen von Prinzipien aus. Entscheidend für die Charakterisierung als Prinzip sei vielmehr der Begriff der „idealen Zielbestimmung“ und damit das „ideale Sollen“. 312  Habermas, Faktizität und Geltung, S.  310 f.; Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (52 f.). Für die Grundrechte betont auch Klement deren binären Charakter und wendet sich damit ebenfalls gegen Alexys Prinzipientheorie; Klement, JZ 2008, 756 (758). Zur Verteidigung Alexys gegen den Teleologieeinwand siehe Alexy, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  31 (46 ff.). 313  Penski, JZ 1989, 105 (110); darauf ebenfalls hinweisend Reßing, ARSP 95 (2009), 28 (34). 314  Penski, JZ 1989, 105 (110); kritisch hierzu Borowski, Grundrechte, S.  106 f. 307 

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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Als Reaktion auf die Kritik hat Alexy seine Prinzipientheorie schließlich selbst dahingehend modifiziert, dass er nunmehr zwischen zu optimierenden Geboten und Geboten zu optimieren (Optimierungsgebote) differenziert.315 Zu optimierende Gebote seien Abwägungsgegenstände und auf der Objektebene angesiedelt, wohingegen Optimierungsgebote die Metaebene betreffen. Prinzipien seien „als Gegenstände der Abwägung keine Optimierungsgebote, sondern zu optimierende Gebote.“316 bb)  Kritik an der Prinzipientheorie als solche Auch die Prinzipientheorie als solche wird skeptisch betrachtet. Poscher setzt bei seiner Kritik am Ausgangspunkt der Prinzipientheorie an, nämlich der Unterscheidung zwischen Prinzipien auf der einen und Regeln auf der anderen Seite.317 Es zeige sich nämlich, dass es durchaus Normen gibt, die nicht ohne Weiteres subsumtionsfähig sind, sodass sie mit Alexy als Prinzipien bezeichnet und folglich als solche behandelt werden müssten. Als Beispiel hierfür wird Art.  1 Abs.  1 GG genannt, welcher streng nach der Prinzipientheorie mangels Subsumtionsfähigkeit ein Prinzip sei. Konsequenterweise würde sich damit die Abwägungsfähigkeit der Menschenwürde begründen lassen.318 Alexy greift dieses Beispiel selbst auf und will diesem Einwand dadurch begegnen, dass es zwei Menschenwürde-Normen gebe, eine „Menschenwürde-Regel“ und ein „Menschenwürde-Prinzip“. Das „Menschenwürde-Prinzip“ könne in unterschiedlichen Graden realisiert werden, absolut sei hingegen nur die „Menschenwürde-Regel“.319 Dies ist insofern widersprüchlich, wenn Alexy – wie oben gezeigt – selbst davon ausgeht, dass eine Norm entweder nur eine Regel oder ein Prinzip sei. Konsequenterweise müsste dies auch für Art.  1 Abs.  1 GG gelten.320 Die generelle Schwäche der Prinzipientheorie ist, dass eine klare Abgrenzung von Regeln und Prinzipien nicht ohne Weiteres möglich ist. Einer Norm kann man es nicht direkt ansehen, ob es sich bei ihr um eine Regel oder um ein Prinzip handelt.321 Der Wortlaut hilft regelmäßig nicht weiter.322 Für den Bereich des Verfassungsrechts wird daher der Wortlaut der grundgesetzlichen Normen im Sinne eines „Verlust[s] der Bindung an den Normtext“323 als Argument gegen die Prinzipien­ theorie ins Feld geführt. Der Charakter der Grundrechte als Optimierungsgebote 315 

Alexy, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  31 (38). Alexy, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  31 (38 f.). 317  Poscher, RW 2010, 349 (368 ff.). 318  Poscher, RW 2010, 349 (369). Zur Abwägungsfähigkeit der Menschenwürde siehe auch Teifke, ARSP Beiheft 103 (2005), 142 ff. 319  Alexy, Theorie, S.  97; siehe hierzu jüngst ders., AöR 140 (2015), 497 (508 f.). 320  Zu Alexys „Modell der doppelten Statuierung“ siehe Teifke, ARSP Beiheft 103 (2005), 142 (144 ff.). 321  Unger, Verfassungsprinzip, S.  144; ähnlich auch Jestaedt, in: FS Isensee, S.  253 (265) zur Unterscheidung von Prinzipien- und Regelkollisionen. 322  Siehe Unger, Verfassungsprinzip, S.  144 zum Wortlaut von Art.  5 Abs.  3 S.  1 GG. 323  Klement, JZ 2008, 756 (759). 316 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

lässt sich dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht ohne Weiteres entnehmen.324 Hinzu kommt, dass die Prinzipientheorie mittlerweile derart viele Einzelansichten ­hervorgebracht hat, dass man stellenweise – sprichwörtlich ausgedrückt – den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Selbst Borowski als Anhänger der Prinzipientheorie musste feststellen: „Bei aller weiteren, aus rechtstheoretischer Sicht zu begrüßenden Präzisierung der Prinzipientheorie darf jedoch nicht übersehen werden, daß mit steigender Kompliziertheit ein entscheidender Vorteil der Prinzipientheorie, ihre intuitive Plausibilität, zunehmend in den Hintergrund tritt.“325

Aufgrund der infolge der zahlreichen Meinungen und Strömungen auftretenden Komplexität muss die Eignung der Prinzipientheorie zumindest kritisch beäugt werden. d)  Übertragung der Prinzipientheorie auf das Zivilprozessrecht? Damit stellt sich abschließend das Problem der Übertragung der Prinzipientheorie auf das Zivilprozessrecht. Differenziert werden muss einerseits zwischen der Frage, ob die Prinzipientheorie auf das Zivilprozessrecht übertragen werden kann und andererseits, ob dies sinnvoll ist. aa)  Verfahrensgrundsätze als Optimierungsgebote? Die erste Frage soll danach beantwortet werden, ob die bisher in der Literatur anerkannten Verfahrensgrundsätze als Optimierungsgebote im Sinne Alexys begriffen werden können. Dies wird teilweise bejaht. Hofmann geht davon aus, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör, die Dispositionsmaxime, der Beibringungsgrundsatz, der Beschleunigungsgrundsatz sowie der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Optimierungsgebote verstanden werden könnten.326 Für den Beschleunigungs- oder Konzentrationsgrundsatz kann dem zugestimmt werden. §  272 Abs.  1 ZPO besagt, dass der Rechtsstreit in der Regel in einem umfassend vorbereiteten Termin zur münd­ lichen Verhandlung (Haupttermin) zu erledigen ist. Dieser Vorschrift kann ein Optimierungsgebot entnommen werden, wonach das Verfahren möglichst nur auf einen Termin zu konzentrieren ist.327 Bei anderen Verfahrensgrundsätzen bereitet diese Einteilung jedoch Probleme. Beispielsweise kann der Mündlichkeitsgrundsatz nur schwer als Optimierungsge-

324 

Raue, AöR 131 (2006), 79 (112). Borowski, Grundrechte, S.  105; siehe auch ders., JöR 50 (2002), 301 (313). Daher wird auch für den Bereich der Grundrechte die Eignung der Prinzipientheorie nach dem starren „Regel-Prinzipien-Schema“ hinterfragt; Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  132 f.; siehe hierzu insbesondere die umfangreichen Nachweise bei Klement, JZ 2008, 756 f. (Fn.  16). 326  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103 f.). 327  Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (421). 325 

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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bot aufgefasst werden.328 Wenn §  128 Abs.  1 ZPO besagt, dass die Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich verhandeln, so kann dies kaum dergestalt gedeutet werden, dass die Verhandlung möglichst mündlich sein soll. Eine Verhandlung ist entweder mündlich oder sie ist es nicht.329 Dementsprechend werden in §  128 Abs.  2–4 ZPO Ausnahmen vom Grundsatz der mündlichen Verhandlung aufgestellt. Auch kann §  128 Abs.  1 ZPO nicht so gelesen werden, dass möglichst nur das in der Verhandlung mündlich Vorgetragene bei der Urteilsfällung berücksichtigt werden soll.330 Entscheidungsgrundlage – abgesehen von ein paar Ausnahmen – ist nur dasjenige, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.331 Ferner wird in der Literatur der Prinzipiencharakter des Verhandlungs- und Untersuchungsgrundsatzes verneint. Ein Optimierungsgebot, wonach der Tatsachenstoff möglichst durch die Parteien und nicht durch das Gericht ermittelt werden soll (Verhandlungsgrundsatz), sowie das Optimierungsgebot, die relevanten Tat­ sachen sollen möglichst durch das Gericht erforscht werden (Untersuchungsgrundsatz), gibt es nicht.332 Allein diese kurze Übersicht zeigt, dass zumindest nicht alle Verfahrensgrundsätze als Optimierungsgebote verstanden werden können. Die Frage, ob die Prinzipientheorie auf die Verfahrensgrundsätze übertragen werden kann, lässt sich insofern nicht mit einem klaren „Ja“ beantworten. bb)  Unterschiede zwischen Grundrechten und Verfahrensgrundsätzen Entscheidend ist daher die Frage, ob eine Übertragung überhaupt sinnvoll wäre. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen muss sein, dass die Prinzipientheorie Alexys als Theorie für die Grundrechte des Grundgesetzes entwickelt wurde.333 Freilich schließt dies eine Übertragung auf andere Materien nicht aus. Die Prinzipientheorie wurde etwa im Bereich des Strafrechts,334 des Bauplanungsrechts,335 des allgemeinen Verwaltungsrechts,336 des Staatsorganisationsrechts337 328  Gegen eine Bejahung des Prinzipiencharakters im Sinne der Prinzipientheorie ist auch Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (416 f.); a. A. Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (104) mit Verweis auf Stackmann, JuS 2011, 1087 (1088), wonach im Berufungsrecht nach §  522 ZPO ein gebundenes Ermessen bestehe, ob mündlich verhandelt werden soll. 329  Zu einem ähnlichen Urteil kommt Klement, JZ 2008, 756 (758) für die Grundrechte. Eine Grundrechtsnorm könne nicht „mehr oder weniger“ befolgt oder verletzt werden. Ein Verhalten sei nicht „ein bisschen rechtswidrig“, es sei rechtswidrig oder rechtmäßig. 330  Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  84. 331  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  79 Rn.  30. 332  Schinkels, Rechtstheorie 37 (2006), 407 (417); a. A. wiederum Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (104). 333  Alexy, Theorie, S.  21; Couzinet, JuS 2009, 603. 334  Koch, ZStW 104 (1992), 785 (801 ff.). 335  Hoppe, DVBl. 1992, 854 ff.; Koch, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  245 ff. 336  Koch, in: Abwägung im Recht, S.  9 (22 f.). 337  Mehde, Die Verwaltung 34 (2001), 93 ff.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

oder für objektiv-rechtliche Verfassungsgrundsätze338 fruchtbar gemacht. Eine Übertragung auf die ZPO würde jedenfalls dann überzeugen, wenn die Grundrechte und die Verfahrensgrundsätze vergleichbar wären. Dies ist jedoch nicht ohne Weiteres der Fall. Dies zeigt sich zum einen daran, dass die Grundrechte wesentlich stärker positiviert sind als die Verfahrensgrundsätze. Das Grundgesetz enthält in den Art.  1 ff. GG einen Grundrechtskatalog, die ausdrücklich genannten Grundrechte werden daher als „Nominat-Grundrechte“ bezeichnet.339 Einen solchen enthält die ZPO gerade nicht. Die Verfahrensgrundsätze müssen vielmehr erst aus den einzelnen Vorschriften der ZPO abgeleitet werden.340 Die Verfahrensgrundsätze weisen somit schon allein deshalb keine einheitliche Normstruktur auf, da sie nicht wie die Nominat-Grundrechte in einem einzelnen Normsatz geregelt sind. Ferner muss berücksichtigt werden, dass die einzelnen Normen der ZPO keine einheitliche – in Anlehnung an Dworkin – „Wenn-Dann-Struktur“ aufweisen, sodass eine klare Abgrenzung zwischen den „normalen“ Vorschriften der ZPO und den Verfahrensgrundsätzen nicht möglich ist. Eine normstrukturelle Abgrenzung von Regeln und Prinzipien im Sinne der starken Trennungsthese stößt daher an ihre Grenzen.341 Die Grundrechte sind in erster Linie subjektive „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.“342 Daher kommt es immer wieder zu typischen Grundrechtskollisionen, welche im Wege der Abwägung aufgelöst werden müssen:343 Was der Staat einem Grundrechtsträger gibt, muss er einem anderen im Gegenzug nehmen.344 Hierfür kann sich die von Alexy entwickelte Abwägungs- und Gewichtsformel freilich anbieten.345 Dann kann es aber durchaus Sinn machen, die Grundrechte als Prinzipien im rechtstheoretischen Sinne zu begreifen, wenn man Alexy folgend die Abwägung als den typischen Anwendungsbereich eines Prinzips ansieht. Einen „status negativus“346 wie die Grundrechte besitzen die Verfahrensgrundsätze hingegen nicht, bei 338  Morlok, in: FS BVerfG II, S.  559 (562 ff.) für den Grundsatz der Volkssouveränität; zum Demokratieprinzip siehe Unger, Verfassungsprinzip, S.  104 ff. 339  Manssen, Staatsrecht II, Rn.  43. 340  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. d). 341  Bezüglich der Unterscheidung von Regeln und Prinzipien gesteht Dworkin selbst sogar ein, dass diese oftmals schwierig sei. Ob eine Regel oder ein Prinzip vorliege, ergebe sich nicht immer anhand der äußeren Form. Diese könne jedoch Bedeutung erlangen, wenn Regel und Prinzip mehr oder weniger „dieselbe Rolle spielen“; Dworkin, Bürgerrechte, S.  62 f.; zustimmend Raz, 81 Yale Law Journal (1972), 823 (836). 342  Manssen, Staatsrecht II, Rn.  4 4; siehe auch Ipsen, Staatsrecht II, Rn.  91. 343  Dabei wird nicht einem der beiden Grundrechte generell der Vorrang eingeräumt, sondern es kommt zu einem Ausgleich beider Grundrechte im Wege der sog. praktischen Konkordanz; siehe hierzu aus der Rechtsprechung BVerfGE 41, 29 (51) = NJW 1976, 947 (948 f.); BVerfGE 83, 130 (143) = NJW 1991, 1471 (1472 f.). Dem entspricht auch das von Alexy entwickelte Abwägungsmodell bei Prinzipienkollisionen; Alexy, Theorie, S.  152. 344  Koch, in: Regeln, Prinzipien und Elemente, S.  245 (246). 345  Siehe hierzu Couzinet, JuS 2009, 603 (605 f.). 346  Diese Terminologie geht zurück auf Georg Jellinek, welcher auch die Begriffe „status positivus“ und „status activus“ prägte; siehe Jellinek, System, S.  87, 94 ff.

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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ihnen handelt es sich nicht um subjektive Rechte.347 Ein subjektives Recht des einzelnen Bürgers wird beispielsweise beim Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt, da es sich um ein Grundrecht handelt.348 Öffentlichkeit oder Mündlichkeit stellen dagegen keine subjektiven Rechte dar. Sie spiegeln – wie die Verfahrensgrundsätze im Allgemeinen – vielmehr den Ablauf, die Gestaltung, die Struktur sowie die Aufgabenverteilung innerhalb des Zivilverfahrens wider. Insofern ist die Abwägung gerade kein typischer Anwendungsbereich der Verfahrensgrundsätze. cc)  Verfahrensgrundsätze als Strukturprinzipien? Denkbar wäre noch eine Einordnung der Verfahrensgrundsätze als Strukturprinzipien im Sinne Englischs. Dies läge insofern nahe, als die Verfahrensgrundsätze mitunter die Struktur des Zivilprozesses widerspiegeln. Jedoch soll dieser Ansatz für den Bereich des Prozessrechts nicht verwendet werden. Englisch begreift die Strukturprinzipien letztendlich als dialektische Regelungsmodelle. Die Eignung dieser ­Methode zur Bestimmung von Verfahrensgrundsätzen wurde jedoch bereits zuvor verneint. Insbesondere käme hierdurch mehr ein deskriptives Verständnis zum Ausdruck. Diese Schwäche spricht Englisch letztendlich selbst an, wenn seiner Ansicht nach Strukturprinzipien „bloß deskriptive Sätze“ seien.349 Verfahrensgrundsätze sind daher nicht als Strukturprinzipien im Sinne der Prinzipientheorie zu begreifen. dd)  Allgemeine Bedenken Generell muss der Anwendungsbereich der Prinzipientheorie nicht auf subjektive Rechtspositionen reduziert werden, wenngleich dies ihrer Entwicklungsgeschichte entsprechen würde.350 Alexy selbst wollte seine Prinzipientheorie nicht auf individuelle Rechte beschränken, sondern vertrat einen weiten Prinzipienbegriff, denn es sei „weder erforderlich noch zweckmäßig, den Begriff des Prinzips an den Begriff des individuellen Rechts zu binden.“351 Angesichts dessen wäre die Prinzipientheorie dem Zivilprozessrecht nicht a priori verschlossen. Ungeachtet der bereits aufgezeigten Divergenzen zwischen Verfahrensgrundsätzen und Grundrechten bestehen jedoch allgemeine Bedenken gegen eine Übertragung auf die ZPO. Für die Grundrechtsdogmatik wird zu Recht betont, dass die Prinzipientheorie keine inhaltlichen

347  Allgemein versteht man unter subjektiven Rechten „klagbare Ansprüche, deren Ausübung von dem Willen des Berechtigten abhängt“; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  355. 348  BVerfGE 7, 275 (278) = NJW 1958, 665; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  82 Rn.  1. 349  Englisch, Wettbewerbsgleichheit, S.  36. 350  So hatte Dworkins Prinzipientheorie in erster Linie „Bürgerrechte“ zum Gegenstand; siehe hierzu Unger, Verfassungsprinzip, S.  100. 351  Alexy, Theorie, S.  99.

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

Aussagen über die Grundrechte treffen kann.352 Funktionale353 oder institutionelle354 Grundrechtstheorien könnten nicht ersetzt werden.355 Mit Klement ergibt sich für die Grundrechtsdogmatik weiterhin folgendes Problem: „Folgt man der Prinzipientheorie, kann eine Grundrechtsnorm – auch dann wenn sie fertig ausgelegt ist – niemals für sich allein darüber entscheiden, was in einem bestimmten Fall von Verfassungs wegen gesollt ist. Das Sollen ist nur ein Prima-facie-Sollen, das unter Vorbehalt eines jenseits der Norm liegenden ‚besseren verfassungsrechtlichen Grundes‘ steht.“356

Diese Überlegungen gelten ebenfalls für die Verfahrensgrundsätze. Begreift man diese als rechtstheoretische Prinzipien und damit als Optimierungsgebote, so wird hierdurch nichts über ihren Inhalt, ihre Bedeutung oder ihren Stellenwert innerhalb des Zivilverfahrens ausgesagt.357 Das Wesen der Verfahrensgrundsätze käme bei einer solchen Deutung zu kurz. Insbesondere könnte ihren wichtigen Funktionen nicht ausreichend Rechnung getragen werden.358 Ferner kann die Geltung der Verfahrensgrundsätze nicht im Sinne eines auf Optimierung angelegten prima-facie-Sollens verstanden werden. Die Tatsache, dass ein Verfahrensgrundsatz gilt, kann – in Anlehnung an Klement – nicht unter dem Vorbehalt eines „besseren zivilprozessualen Grundes“ stehen. Als Ergebnis kann daher festgehalten werden, dass eine Anwendung der Prinzipientheorie für den Bereich der Verfahrensgrundsätze nicht sinnvoll und daher abzulehnen ist.359

6.  Die „Wichtigkeit“ als vorzugswürdiges Kriterium Die bisherigen Ansätze haben sich als nicht tragfähig erwiesen, sodass im Folgenden ein vorzugswürdiger Lösungsweg aufgezeigt werden soll. Zunächst muss festgehalten werden, dass die Anzahl der Verfahrensgrundsätze begrenzt und überschaubar sein muss. Nicht alles, was von Bedeutung für das zivilprozessuale Ver352 

Klement, JZ 2008, 756 (757). Hierzu zählen beispielsweise die liberale sowie die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie; siehe hierzu Böckenförde, in: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S.  221 (224 ff., 235 ff.). 354  Siehe hierzu Häberle, Wesensgehaltgarantie, S.  70 ff.; Böckenförde, in: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S.  221 (228 ff.). 355  Klement, JZ 2008, 756 (757). 356  Klement, JZ 2008, 756 (759). 357  Siehe auch Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S.  463, wonach die Bezeichnung als „Prinzip“ bzw. „Optimierungsgebot“ zunächst nur eine Begrifflichkeit sei, welche noch nichts über die Reichweite des Prinzips selbst sage. 358  Ebenso Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  20. 359  Freilich soll damit nicht eine Geringschätzung der Prinzipientheorie an sich zum Ausdruck gebracht werden. Diese ist nach wie vor allein schon aufgrund ihrer starken Rezeption von rechtstheoretisch großer Bedeutung; siehe hierzu die Überlegungen von Jestaedt, in: FS Isensee, S.  253 (275) zur Zukunft der Prinzipientheorie. Hier wird mitunter davor gewarnt, dass eine universelle und flächendeckende Anwendung der Prinzipientheorie mehr Schaden als Nutzen hervorbringen würde. Insofern komme es immer auf die „Dosierung“ und den „Kontext“ an. 353 

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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fahren ist, darf zum Verfahrensgrundsatz erhoben werden.360 Andernfalls bestünde das gesamte Zivilprozessrecht aus Verfahrensgrundsätzen.361 Ausgangspunkt nachfolgender Überlegungen soll der Ansatz Jakabs sein, welcher Prinzipien als „sehr wichtige (oder grundlegende, grundsätzliche) allgemeine Regeln (schöner ausgedrückt: Strukturentscheidungen)“ ansieht. Bei einer bloß „minuziös konkreten Regel“ könne dagegen eine „grundlegende Wichtigkeit“ nicht angenommen werden.362 Das relevante Kriterium für die Annahme eines Verfahrensgrundsatzes soll daher die „Wichtigkeit“ sein.363 Ein Verfahrensgrundsatz soll dann angenommen werden, wenn ein in der ZPO zum Ausdruck kommender Gedanke oder eine bestimmte Regelung als „wichtig“ einzustufen ist. Dabei sind zweierlei Einschränkungen zu berücksichtigen: Erstens muss es sich um eine Bestimmung oder mehrere Vorschriften handeln, welche den Ablauf, die Gestaltung, die Struktur sowie die Aufgabenverteilung innerhalb des Verfahrens widerspiegeln.364 Andernfalls wäre der Begriff der Verfahrensgrundsätze inhaltlich nicht gewahrt. Zweitens ist mit der Verwendung des rechtstheoretischen Ansatzes von Jakab keine prinzipientheoretische Begründung der Verfahrensgrundsätze verbunden, da die Prinzipientheorie – wie soeben gezeigt – nicht zur Grundlage der Bestimmung der Verfahrensgrundsätze des Zivilprozesses gemacht werden sollte.365 Vielmehr wird ein eigenständiger Begriff der „Wichtigkeit“ entwickelt und mit Inhalt gefüllt.

360  So bezeichnet etwa Riecke, MDR 1999, 81 den (ungeschriebenen) Grundsatz sparsamer Prozessführung ausdrücklich als „Verfahrensgrundsatz“; siehe hierzu allgemein Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (99); Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (150) für den Bereich der Zwangsvollstreckung. 361  Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (82). 362  Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (56 f.). 363  Hierfür wohl auch Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  62; Holzlöhner, Grundsätze, S.  38 f. stellt dagegen auf die „Bedeutung“ eines Grundsatzes für ein Teilgebiet des Prozesses ab; ähnlich Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (333), welcher von einer „zentralen Bedeutung“ spricht; siehe auch Buhlmann, Täter-Opfer-Ausgleich, S.  123, wo unter anderem auf das Kriterium der „Eigenständigkeit“ im Gesamtgefüge des Verfahrensrechts abgestellt wird. Das Kriterium der „Wichtigkeit“ klingt darüber hinaus noch bei anderen Autoren an. Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14.  Aufl. 1986, S.  450 wollen etwa als Verfahrensgrundsätze nur „besonders wichtige Entscheidungen des Gesetzgebers“ verstehen; dieser Ansicht folgend Ottomann, in: Prinzipiennormen und Verfahrensmaximen, S.  73 (82); ähnlich Kwaschik, Parteivernehmung, S.  116; Bargen, Gerichtsinterne Mediation, S.  297. Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (109) meint schließlich, dass „zu den Verfahrensgrundsätzen die (wichtigen) Prinzipien des Verfahrensrechts zu zählen sind.“ Hiermit ist zur Bestimmung der Verfahrensgrundsätze jedoch ein prinzipientheoretischer Ansatz im Sinne Alexys gemeint. 364  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 1. 365  Aus diesem Grund handelt es sich bei dem Kriterium der „Wichtigkeit“ auch nicht um eine Übernahme bzw. Fortführung der Prinzipientheorie von Dworkin, welcher Prinzipien eine „Dimension des Gewichts oder der Bedeutung“ zuspricht. Gerade in der Formulierung „Bedeutung“ (importance) kommt freilich eine gewisse „Wichtigkeit“ zum Ausdruck. Siehe hierzu oben unter §  2 III. 5. a) bb).

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

a)  Faktoren für die Bestimmung der „Wichtigkeit“ Zweifelsfrei mag das Kriterium der „Wichtigkeit“ zunächst recht unbestimmt sein. Entscheidender Kritikpunkt an diesem Ansatz ist daher, dass die „Wichtigkeit“ im Einzelfall nur schwer ermittelt werden könne.366 Indes lassen sich diverse Faktoren zur Bestimmung der „Wichtigkeit“ ausmachen. aa)  Qualität und Quantität Zunächst kann die qualitative und/oder die quantitative Realisierung eines Grundsatzes als Faktor herangezogen werden. Bei einer quantitativen Betrachtung würde man darauf abstellen, ob eine Regel in vielerlei Hinsicht zu beachten ist. Bei der qualitativen Betrachtung käme es dagegen darauf an, ob eine Regel für das gesamte Verfahren bedeutsam ist oder nur stellenweise Einfluss besitzt.367 Die Heranziehung eines qualitativen Elements wird in der Literatur regelmäßig nicht befürwortet. Voraussetzung für eine Anerkennung als Verfahrensgrundsatz ist nicht, dass eine bestimmte Regel „während des gesamten Verfahrens Wirksamkeit entfaltet“368. Angenommen werden könnte dies im Bereich des Zivilprozesses für die Mündlichkeit des Verfahrens, welche – bis auf das Mahnverfahren – grundsätzlich in allen Verfahrensstadien Bedeutung erlangt.369 Gegen diese Qualifizierung wird zu Recht vorgetragen, dass hierdurch der typische Regel-Ausnahme-Charakter der Verfahrensgrundsätze verkannt wird.370 Wie bereits oben dargestellt, ist eine reine Verwirklichung der Verfahrensgrundsätze nicht immer möglich.371 Dass ein Grundsatz ausnahmslos in allen Verfahrensabschnitten gilt und wirksam ist, ist eher untypisch. Eine rein qualitative Bestimmung der Verfahrensgrundsätze ist daher abzulehnen. An anderer Stelle wird dagegen die Quantität zum entscheidenden Faktor erhoben.372 Ein Verfahrensgrundsatz soll vorliegen, wenn „die hinter der Regel stehende Idee in vielfacher Weise zu beachten ist […].“373 Problematisch hieran ist, wo man die erforderliche Grenze ziehen will: Wie oft muss ein bestimmter Gedanke zum Ausdruck kommen, damit man von einem Verfahrensgrundsatz sprechen kann? 366  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103). Selbst Jakab gesteht ein, dass es keine einheitliche Antwort gebe, wann ein Prinzip als wichtig zu zählen sei, weshalb er keine konkreten Faktoren zur Bestimmung der „Wichtigkeit“ benennt. Diese komme vielmehr in der Benenung „Prinzip“ zum Ausdruck. Ob man demnach eine allgemeine Regel als Prinzip bezeichnet, sei nur ein rhetorischer Kunstgriff; Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (56 f.). 367  Siehe zu beiden Elementen Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103). 368  Holzlöhner, Grundsätze, S.  30; Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  61 f. 369  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103). 370  Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  61 f., wonach es teilweise gar zur Verwirklichung des jeweiligen „theoretischen Gegenprinzips“ komme. 371  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. c). 372  Geerds, SchlHA 209 (1962), 181 (182 f.); ebenso Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  62, jedoch ohne nähere Begründung. 373  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103); siehe auch Engelmann, Prozeßgrundsätze, S.  22.

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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Daher wendet sich insbesondere Hofmann gegen die Heranziehung des Kriteriums der „Wichtigkeit“. Begründet wird dies unter anderem damit, dass nicht alle überkommenen Grundsätze ausdrücklich normiert wären. Der Dispositionsgrundsatz ergebe sich nur mittelbar aus der ZPO. Aus Normen wie §§  253 Abs.  1, 269, 306, 307 oder 308 ZPO könne er aber ohne Weiteres entnommen werden.374 Hier wird verkannt, dass die bloße Nicht-Kodifizierung allein nichts über die „Wichtigkeit“ oder „Unwichtigkeit“ eines Grundsatzes aussagt. Würde man allein auf eine ausdrückliche Benennung der Verfahrensgrundsätze abstellen, würden sich nur sehr wenige Verfahrensgrundsätze ausmachen lassen. Einen Katalog der Verfahrensgrundsätze enthält die ZPO schließlich nicht. Das Beispiel des Dispositionsgrundsatzes zeigt aber, dass die „Wichtigkeit“ eines Gedankens – hier, dass die Parteien die „Herren des Verfahrens“375 sind – gerade darin zum Ausdruck kommen kann, dass sich ein Grundsatz aus vielerlei Normen bestimmen lässt. Eine quantitative Bestimmung ist daher sinnvoll. bb) Regel-Ausnahme-Verhältnis Herangezogen werden kann auch der Regel-Ausnahme-Charakter der Verfahrensgrundsätze. Dabei stellt sich die allgemeine Frage, was die Tatsache besagt, dass von einem Grundsatz Ausnahmen im Gesetz vorgesehen sind: Einerseits ließe sich vertreten, dass durch die Schaffung von Ausnahmen eine bestimmte Regel gerade nicht „wichtig“ ist. Andererseits können Ausnahmen auch derart begriffen werden, dass erst hierdurch die prinzipielle „Wichtigkeit“ einer Bestimmung erkennbar wird. Gerade durch die Statuierung einer Ausnahme bringt man zum Ausdruck, dass eine Regel „wichtig“ und grundsätzlich zu beachten ist.376 Andernfalls bräuchte man die Ausnahme nicht. Dann stünde schlichtweg eine Regel neben einer anderen Regel. Die Anzahl und der Umfang von Ausnahmen lassen daher einen Rückschluss auf die „Wichtigkeit“ eines Grundsatzes bzw. einer Bestimmung zu. Ein entscheidender Faktor für die Bejahung eines Verfahrensgrundsatzes ist das Regel-Ausnahme-Verhältnis:377 Da gerade durch die Schaffung von Ausnahmen die grundsätzliche Be374  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (103 f.); siehe ferner zu den Normen, aus denen der Dispositions­ grundsatz abgeleitet werden kann Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  76 Rn.  3 f.; Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  54 ff.; MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  296 ff. 375  Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  52. 376  Ähnlich Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1291); Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (104), wonach die Existenz von §  308 Abs.  2 ZPO als Ausnahmevorschrift für die Existenz des Dispositionsgrundsatzes spreche; ferner Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  308: „Zu den rechtssatzförmigen Prinzipien kann man zunächst diejenigen rechnen, die im Gesetz zwar nicht direkt ausgesprochen, aber insofern in ihm enthalten sind, als das Gesetz Ausnahmen von ihnen statuiert.“. 377  Hierfür auch Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  69 („Verhältnisgrad von Regel und Ausnahme“), allerdings ohne tiefergehende Begründung. Als weitere Faktoren werden noch die „Frage [der] Nutzbarkeit für die bestmögliche Verfahrensgestaltung“ sowie die „Kategorien rechtspolitischer Zielsetzung und Zweckmäßigkeit“ genannt; siehe auch Plötz, Fürsorgepflicht,

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

deutsamkeit einer Bestimmung zu erkennen gegeben wird, impliziert das Vorliegen einer Ausnahme zu einer bestimmten Regel das Vorliegen eines Verfahrensgrundsatzes.378 Je weniger Ausnahmen von einer Regel bestehen, desto eher liegt eine Qualifizierung als Verfahrensgrundsatz nahe. Umgekehrt wird ein Verfahrensgrundsatz durch die Statuierung von immer mehr Ausnahmen abgeschwächt. Im Extremfall degeneriert er mit den Worten Jakabs zur bloß „minuziös konkreten Regel“379. Die Überlegung, auf das Regel-Ausnahme-Verhältnis abzustellen, klingt stellenweise – wenn auch nicht ausdrücklich – in der Literatur an. So lässt sich dieser Gedanke bereits in der Rechtstheorie von Canaris finden: „Die Prinzipien entfalten ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung. […] So läßt sich die Bedeutung des Prinzips der Selbstbestimmung in unserer Rechtsordnung erst dann voll beurteilen, wenn man die entgegenwirkenden und einschränkenden Prinzipien und den ihnen jeweils zugewiesenen Anwendungsbereich in die Betrachtung einbezieht […]. Anders gesprochen: das Verständnis eines Prinzips ist stets zugleich das seiner Schranken.“380

Weiterhin plädiert in der zivilprozessualen Literatur namentlich Baur für eine möglichst reine Verwirklichung der Verfahrensgrundsätze.381 Leipold mahnt ferner an, dass „Ausnahmen nicht in dem Sinn überhandnehmen [dürfen], daß sie selbst zur Regel bzw. dieser jedenfalls gleichwertig werden.“382 Ebenso stellen diejenigen Stimmen, welche – freilich als Mindermeinung – den Verhandlungsgrundsatz nicht mehr als Verfahrensgrundsatz anerkennen wollen, zu ihrer Begründung auf diverse Gesetzesnovellen und die hierdurch geschaffenen Ausnahmen ab.383 Schließlich wird für den Bereich des Strafprozessrechts betont, dass sich der rechtsstaatliche Wert der Verfahrensgrundsätze erst am Regel-Ausnahme-Verhältnis zeige.384 cc)  Anwendung in der Praxis In engem Zusammenhang mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis steht die praktische Anwendung und Umsetzung der betroffenen Verfahrensgrundsätze. Je mehr Ausnahmen von einem Grundsatz bestehen, desto höher ist die Gefahr, dass immer mehr dessen Ausnahmen angewandt werden und der eigentliche Grundsatz kaum

S.  25, welcher darauf hinweist, dass die Daseinsberechtigung eines Prinzips davon abhänge, was es leiste; ebenso für Begriffe Goldschmidt, Prozeß, S.  4. 378  A. A. Krüger, Unmittelbarkeit, S.  37. 379  Jakab, Rechtstheorie 37 (2006), 49 (57); siehe hierzu auch Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (107); ähnlich Krüger, Unmittelbarkeit, S.  37. 380  Canaris, Systemdenken, S.  55 f. 381  Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (33 f., 38). 382  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (331). 383  Kraemer, ZZP 64 (1951), 159 (160). 384  Volk/Engländer, Grundkurs StPO, §  18 Rn.  1.

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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mehr zur Verwirklichung gelangt. Insofern hat Böhm für Prinzipien zutreffend festgehalten: „Selbst wenn ein Prinzip mit diesem Verständnis keine strikte Befolgung fordert, so ist dennoch im Umkehrschluss festzuhalten, dass nicht von einem Prinzip gesprochen werden kann, wenn es faktisch nicht befolgt wird.“385

Befolgt wird ein Prinzip faktisch gerade dann nicht, wenn nur noch dessen Ausnahmen zum Tragen kommen. Dies gilt freilich nicht nur für Prinzipien, sondern in gleichem Maße für die Verfahrensgrundsätze. Wird vermehrt auf Ausnahmen zurückgegriffen, mag ein Grundsatz rechtlich zwar weiterhin existent sein, faktisch degeneriert er jedoch zu einem „toten Verfahrensgrundsatz“386. Die Anwendung in der Praxis zur Auslotung einer möglichen Diskrepanz zwischen zivilprozessualer Normativität und verfahrensrechtlicher Faktizität dient daher ebenfalls zur Bestimmung der „Wichtigkeit“. dd)  Verfassungsrechtliche Verankerung Als weiterer Faktor zur Ermittlung der „Wichtigkeit“ bietet sich als Maßstab die Verfassung an.387 Schließlich lassen sich mehrere Verfahrensgrundsätze auf Bestimmungen des Grundgesetzes zurückführen.388 Insofern lässt sich all das, was von Verfassungs wegen geboten ist, grundsätzlich als „wichtig“ einstufen. Dies zeigt sich allein schon daran, dass der Gesetzgeber über verfassungsrechtlich garantierte Vorgaben nicht ohne Weiteres disponieren kann.389 Eine verfassungsrechtliche Verankerung spielt daher bei der Beurteilung der „Wichtigkeit“ eine mitentscheidende Rolle. ee)  Gesetzgeberische Regelungsintention Schließlich könnte sich eine Qualifizierung als Verfahrensgrundsatz anbieten, wenn die wesentlichen Funktionen der Verfahrensgrundsätze durch einen bestimmten Grundgedanken erfüllt werden. Damit ist eine teleologische Argumentation gemeint: Ein Verfahrensgrundsatz würde vorliegen, wenn er die verschiedenen Funktionen der Verfahrensgrundsätze erfüllt. Eine solche Vorgehensweise sieht sich allerdings dem Vorwurf eines Zirkelschlusses ausgesetzt.390 Aus diesem Grund muss 385 

Böhm, Strafrechtliche Gesetzlichkeit, S.  17. Der Ausdruck ist angelehnt an Böhm, Strafrechtliche Gesetzlichkeit, S.  17, welcher von „toten Prinzipien“ spricht, sofern diese in der Praxis nicht mehr angewendet werden. 387  Siehe zu dieser Überlegung auch Holzlöhner, Grundsätze, S.  38 f. 388  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. b). 389  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. b). 390  Dieser Vorwurf wird auch der Prinzipientheorie gemacht: „Denn eine Norm ist ein Prinzip genau dann, wenn und weil es dem Abwägungsgesetz unterliegt; und dem Abwägungsgesetz unterliegt die Norm genau dann, wenn und weil sie ein Prinzip ist.“; Jestaedt, FS Isensee, S.  253 (263). 386 

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

erst das Wesen der Verfahrensgrundsätze bestimmt werden, ehe anschließend Folgerungen hinsichtlich ihrer Funktionen getroffen werden können: Gerade weil ein Grundsatz „wichtig“ und damit als „Verfahrensgrundsatz“ zu qualifizieren ist, erfüllt er gewisse Funktionen.391 Dennoch können Rückschlüsse auf die „Wichtigkeit“ zumindest indirekt aus den Funktionen der Verfahrensgrundsätze gezogen werden, insbesondere mit Hilfe der rechtspolitischen Funktion. Die Entscheidung für oder gegen die Verwirklichung eines bestimmten Grundsatzes ist – wie bereits gezeigt – stets eine rechtspolitische Entscheidung. Dem Gesetzgeber obliegt die Ausgestaltung des Verfahrens. Aufgrund seiner Dispositionsbefugnis kann er – solange er den verfassungsrechtlichen Rahmen einhält – sich für oder gegen bestimmte Grundsätze entscheiden.392 Die „Wichtigkeit“ eines im Gesetz verankerten Gedanken kann daher anhand der gesetzgeberischen Regelungsintention bewertet werden. Durch die bewusste Schaffung von immer mehr Ausnahmen von einem Grundsatz bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass der jeweilige Grundsatz hinsichtlich seiner „Wichtigkeit“ Abstriche erfahren hat und dass möglicherweise anderen Prinzipien oder Interessen der Vorrang einzuräumen sei.393 Das Regel-Ausnahme-Verhältnis und die gesetz­ geberische Regelungsintention können daher ineinander übergehen. b)  Vorzüge dieses Ansatzes Der Vorwurf gegen die „Wichtigkeit“, es sei schwierig, diese im Einzelfall zu ermitteln, konnte entkräftet werden, indem mit der Quantität, dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, der Anwendung in der Praxis, einer (möglichen) verfassungsrechtlichen Verankerung sowie der gesetzgeberischen Regelungsintention Faktoren zur Bestimmung der „Wichtigkeit“ herausgearbeitet wurden. Freilich bleibt die Einordnung immer eine gewisse Einzelfallentscheidung.394 Da für einen Grundsatz nur selten gleichzeitig alle Faktoren erfüllt sein werden, muss eine Bejahung der „Wichtigkeit“ – und damit eine Qualifizierung als Verfahrensgrundsatz – umso mehr an391  Funktionsbezogene Theorien sind jedoch nicht unüblich. So zählt zu den bereits oben erwähnten funktionalen Grundrechtstheorien unter anderem auch die demokratisch-funktionale Theorie. Dabei werden die Grundrechte von ihrer öffentlichen und politischen Funktion her verstanden. Die „öffentliche, demokratie-konstituierende Aufgabe und Funktion“ legitimiert die Grundrechte und legt zugleich deren Inhalt fest; siehe hierzu Böckenförde, in: Staat, Gesellschaft, Freiheit, S.  221 (235 f.). 392  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 6. b). 393  Exakt diese Frage wird sich auch in Bezug auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz stellen. Siehe hierzu später unter §  6 V. 4. b) aa). 394  Siehe hierzu auch die Überlegungen von Canaris, Systemdenken, S.  47 f. zur „Allgemeinheit“ von Prinzipien: „Wann ein Prinzip als ‚allgemein‘ zu gelten hat, läßt sich dabei nicht von vornherein festlegen; auch handelt es sich hier um ein durchaus relatives Kriterium.“; ähnlich Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (384 f.); zu weitgehend dagegen Oberheim, Zivilprozessrecht, Rn.  26, wonach die Abgrenzung von Verfahrensgrundsätzen und den übrigen Prinzipien des Verfahrensrechts eine „reine Wertungsfrage“ sei. Mit den zuvor herausgearbeiteten Faktoren ist eine Bestimmung anhand vorgegebener Kategorien möglich, sodass eine „Wertung“ gerade entbehrlich wird.

III.  Kriterien zur Einordnung als Verfahrensgrundsatz

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genommen werden, je mehr der fünf Faktoren vorliegen. Endgültige Klarheit könnte letztendlich nur der Gesetzgeber durch eine ausdrückliche Benennung der Verfahrensgrundsätze im Gesetzestext der ZPO schaffen. Die Heranziehung des Kriteriums der „Wichtigkeit“ bringt dennoch diverse Vorteile mit sich: Über die „Wichtigkeit“ lassen sich die Verfahrensgrundsätze zunächst begrenzen, da – wie bereits dargelegt – nicht alles den Rang eines Verfahrensgrundsatzes besitzen kann: Wenn alles wichtig ist, dann ist nichts wichtig. Ferner können neuere Entwicklungen besser erfasst werden, insbesondere da Ausnahmen und Durchbrechungen von den Verfahrensgrundsätzen in erster Linie durch den Gesetzgeber geschaffen werden. Tendenzen in der Gesetzgebung können dadurch bewertet werden.395 Über die „Wichtigkeit“ lassen sich zudem „neue“ Verfahrensgrundsätze darlegen und argumentativ begründen,396 ebenso wie „alten“ Grundsätzen der Status als Verfahrensgrundsatz aberkannt werden kann.397 Schließlich ist die Anzahl der Verfahrensgrundsätze nicht verbindlich vorgegeben oder zeitlich determiniert.398 Zu guter Letzt korrespondiert diese Konzeption mit den Funktionen der Verfahrensgrundsätze: Gerade weil ein übergeordneter und „wichtiger“ prozessualer Gedanke in einem Verfahrensgrundsatz zum Ausdruck kommt, erscheint es gerechtfertigt diesen als Auslegungshilfe heranziehen zu können (rechtspraktische Funktion).399 Ebenso wird die Systematisierung und Orientierung im Gesetz erleichtert, wenn man sich an „wichtige“ Regelungen und Bestimmungen als an Einzelvorschriften ohne jeden normübergreifenden Gedanken hält (heuristische Funktion). Die Herausbildung eines Kriteriums der „Wichtigkeit“ geht letztendlich konform mit den bisherigen Aussagen zu den Verfahrensgrundsätzen, welche in der Literatur anzufinden sind: Wenn diese als „Grundentscheidungen“, als die „besonders wichtigen Entscheidungen des Gesetzgebers“ bezeichnet werden oder gefordert wird, dass es sich um Regelungen von „prinzipieller Bedeutung“ handeln müsse, welche das Zivilverfahren prägen,400 so macht eine Bestimmung von Verfahrensgrundsätzen anhand der „Wichtigkeit“ nur Sinn. Einer „Grundentscheidung“ ist eine hohe Bedeutung und damit eine „Wichtigkeit“ immanent. Ferner kann ein in der ZPO verankerter Gedanke nur dann prägend sein, wenn er „wichtig“ ist – oder umgekehrt: Ein „unwichtiger“ Gedanke kann niemals prägend sein.401 395  Dies ist beispielsweise der Nachteil von Ansätzen, welche den Kanon der Verfahrensgrundsätze allein mit Hilfe von „pragmatischen Gesichtspunkten“ festlegen wollen; hierfür Rieß, in: FS Rebmann, S.  381 (384). 396  Ähnlich Reimer, Verfahrenstheorie, S.  212, welcher – allerdings ohne dogmatische Begründung – davon ausgeht, dass der Begriff der Verfahrensgrundsätze „entwicklungsoffen“ sei. 397  Siehe hierzu Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (31): „Die Bedeutung solcher Grundsätze mag sich mindern, wenn sich die einst historisch begründeten Anlässe verändert haben.“; ferner Koch, Prozessökonomie, S.  38. 398  Hübner, Allgemeine Verfahrensgrundsätze, S.  69; Holzlöhner, Grundsätze, S.  38; Oberheim, Zivilprozessrecht, Rn.  26. 399  In diese Richtung tendiert wohl auch Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (106). 400  Siehe hierzu nochmals die Ausführungen mit entsprechenden Nachweisen oben unter §  2 II. 1. 401  Möglicherweise gehen jene Autoren sogar unbewusst von der „Wichtigkeit“ als entschei-

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§  2:  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze

IV.  Die Verfahrensgrundsätze als „Säulen des Verfahrens“ Die bisherigen Ergebnisse lassen sich bildhaft beschreiben. Derartige Beschreibungen der Verfahrensgrundsätze finden sich bereits in der Literatur. Der wohl bekannteste Ausdruck stammt von Stürner, wonach die Verfahrensgrundsätze den „Bauplan des Gesetzes“402 verkörpern. An anderer Stelle werden die Verfahrensgrundsätze als „tragende Elemente“403 des Prozesses, als das „tragende Gerippe des Prozesses“404 oder als „Aufbauelement[e] des Prozeßrechts“405 bezeichnet. Bildlich gesprochen lassen sie sich am besten als die „Säulen des Verfahrens“ beschreiben.406 Das zivilprozessuale Verfahren ruht auf diversen Säulen: den Verfahrensgrundsätzen. Damit das gesamte Prozessgebilde in sich stabil bleibt, bedarf es nicht unzähliger Grundsätze und damit Säulen. Generell sind nur wenige Säulen erforderlich. Daher lässt sich mit diesem Modell die „Wichtigkeit“ eines Verfahrensgrundsatzes beschreiben: Je mehr ein Grundsatz an Bedeutung verliert, desto mehr fällt die entsprechende Säule in sich zusammen. Sie ist – beispielsweise bei einem zu extremen Regel-Ausnahme-Verhältnis oder bei einer Nichtbeachtung durch die Praxis – nicht mehr tragend. Fällt eine tragende Säule weg, muss sie durch eine andere und damit neue Säule ersetzt werden. Im Gegensatz hierzu besitzen punktuelle Einzelregelungen keinen „Säulen-Status“: Sie sind gerade nicht tragend. Ihr Austausch oder ihre Modifikation ändert nichts an der Struktur und der Stabilität des Prozessrechts.

V.  Zusammenfassung Als Verfahrensgrundsätze können diejenigen Grundsätze bezeichnet werden, welche den Ablauf, die Gestaltung, die Struktur sowie die Aufgabenverteilung innerhalb des Verfahrens widerspiegeln. Sie sind einerseits auf die Verwirklichung der Prozessziele ausgerichtet und müssen andererseits von den Verfahrenszielen, welche anzustrebende Zielvorgaben des Verfahrensrechts formulieren, abgegrenzt werden. Mit der herrschenden Meinung sind die Verfahrensgrundsätze als normative Grundsätze, d. h. als „Grundsätze des geltenden Rechts“407 zu verstehen. Mit diesem dogmatischen Verständnis können alle weiteren Fragen, die sich im Zusamdendes Kriterium für die Annahme eines Verfahrensgrundsatzes aus. Eine ausdrückliche Bekennung hierzu sowie die Herausarbeitung von Faktoren hierfür, lässt sich jedoch nicht finden. 402  Stürner, Richterliche Aufklärung, S.  15; ders., in: FS Baur, S.  6 47. 403  PG/Prütting, Einleitung Rn.  23; ähnlich auch Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (40), wenn er die Verfahrensgrundsätze als „die tragende Konstruktion“ des Prozesses bezeichnet. 404  Baur, in: FS Carnacini, S.  25 (33). 405  Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  18. 406  Den Begriff „Säulen“ nennt auch Bargen, Gerichtsinterne Mediation, S.  296. 407  Leipold, in: FS Fasching, S.  329 (330).

V.  Zusammenfassung

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menhang mit den Verfahrensgrundsätzen stellen, gelöst werden. Unter anderem lässt sich das Erfordernis einer Rechtfertigungspflicht für den Fall begründen, dass der Gesetzgeber eine Ausnahme von einem existierenden Verfahrensgrundsatz schaffen will. Auch die Notwendigkeit einer Herausbildung der Verfahrensgrundsätze im Wege der Induktion kann auf den normativen Gehalt der Verfahrensgrundsätze zurückgeführt werden. Für die Annahme eines Verfahrensgrundsatzes kommt es auf dessen „Wichtigkeit“ an, sodass ein in der ZPO zum Ausdruck kommender Gedanke oder eine bestimmte Regelung dann als Verfahrensgrundsatz zu qualifizieren ist, wenn er besonders „wichtig“ ist. Zur Bestimmung der „Wichtigkeit“ im Einzelfall sind die Faktoren der Quantität, das Bestehen von Ausnahmen und das hieraus resultierende Regel-Ausnahme-Verhältnis, die Anwendung in der Praxis, eine (mögliche) verfassungsrechtliche Verankerung sowie die gesetzgeberische Regelungsintention heranzuziehen. Ein Rückgriff auf die Prinzipientheorie ist dagegen abzulehnen. Mit dem Abschluss dieses eher theoretisch angelegten Kapitels ist nun auch die weitere Vorgehensweise geklärt. Eingangs wurde die Frage aufgeworfen, ob aktuelle Entwicklungen anhand des Unmittelbarkeitsgrundsatzes oder umgekehrt dieser anhand der jeweiligen Entwicklungen zu untersuchen ist. Die Antwort hierauf muss gemischt ausfallen: Zunächst muss der dogmatische Inhalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes klar umrissen werden, wofür es einer genauen Analyse der ZPO bedarf. Die Untersuchung der Vereinbarkeit der aktuellen Gesetzesnovellen mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz erfolgt im Anschluss, um feststellen zu können, ob diese ihn überhaupt tangieren und Ausnahmen hiervon schaffen. Abschließend wäre dann auf die Frage einzugehen, was die möglicherweise geschaffenen Ausnahmen über dessen Stellenwert aussagen – oder anders ausgedrückt: Ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz weiterhin als ein „Verfahrensgrundsatz“ einzustufen? Zudem kann an dieser Stelle eine vorzugswürdige Terminologie für die weitere Bearbeitung festgelegt werden. Terminologisch sollte von den „Verfahrensgrundsätzen“ gesprochen werden.408 Hierfür spricht neben ihrem Wesen auch die Wortetymologie als Verständnis im Sinne eines „Fundaments“.409 Diese Bedeutung korrespondiert mit der Deutung der Verfahrensgrundsätze als „Säulen des Verfahrens“. Der Begriff „Maxime“ bietet sich dagegen nicht an, da es sich bei den Verfahrensgrundsätzen gerade nicht um eine „höchste Regel“ oder einen „obersten Grundsatz“ handelt.410 Der Ausdruck „Prinzip“ sollte allein schon deshalb nicht verwendet werden, um eine Abgrenzung zur Prinzipientheorie ausdrücken zu können.

408 

Hierfür auch Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (107). Siehe hierzu oben unter §  2 I. 1. 410  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (107). Siehe zur Etymologie von „Maxime“ oben unter §  2 I. 1. 409 

§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen Die rechtsvergleichende Funktion der Verfahrensgrundsätze ermöglicht es, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in verschiedenen Verfahrensordnungen auszu­ loten.1 Dementsprechend wird im Folgenden ein Blick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz in anderen Prozessordnungen geworfen. Sinn und Zweck dieser Vor­ gehensweise ist nicht primär, andere Rechtsprinzipien zu übernehmen, sondern vielmehr Vergleichsmaßstäbe zu ermitteln, um das eigene Recht kritisch hinterfragen zu können.2 Freilich können sich hieraus auch Impulse für eine (mögliche) Reformierung des nationalen Prozessrechts ergeben.3 Die nachfolgende Darstellung kann jedoch nicht erschöpfend ausfallen, sondern begrenzt sich auf ausgewählte Verfahrensordnungen.4 Es werden vor allem diejenigen Aspekte beleuchtet, welche anschließend für die deutsche ZPO als Vergleichsmaßstab von Relevanz sind. Untersucht werden auf nationaler Ebene die StPO und die VwGO sowie im Bereich des ausländischen Rechts die Zivilprozessordnungen von Österreich und England. A ­ bschließend werden noch die Principles of Transnational Civil Proce­dure in die Untersuchung einbezogen.

1 

Siehe hierzu oben unter §  2 II. 6. e). Stürner, Aufklärungspflicht, S.  17. 3  Siehe MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  4 43, welcher „Reformimpulse“ als eines der Ziele der (Prozess-)Rechtsvergleichung nennt. 4  Zum (zivilprozessualen) Unmittelbarkeitsgrundsatz in anderen Verfahrens- und Rechtsordnungen sei weiterführend hingewiesen auf Schilling, Principes directeurs, S.  340 ff. (zum französischen Recht); Rehfeldt, ZZP 82 (1969), 173 ff. (zum schwedischen Recht); Stürner, FS Blaurock, S.  435 ff. (unter anderem zum spanischen Recht); Ortells Ramos, ZZPInt 5 (2000), 95 (102 f.) [zum spanischen Recht]; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  137 ff. (zum griechischen Recht); allgemein zu den rechtsvergleichenden Grundzügen des Beweisrechts – auch hinsichtlich des Unmittelbarkeitsgrundsatzes – siehe Nagel, Grundzüge, S.  53 ff. Darüber hinaus hat insbesondere der straf­ prozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz im jüngeren Schrifttum verstärkt Aufmerksamkeit erfahren; Riklin, ZStW 126 (2014), 173 ff. (zum schweizerischen Strafverfahrensrecht); Leblois-Happe, ZStW 126 (2014), 185 ff. (zum französischen Strafverfahrensrecht); Bachmaier Winter, ZStW 126 (2014), 194 ff. (zum spanischen Strafverfahrensrecht); Negri, ZStW 126 (2014), 214 ff. (zum italienischen Strafverfahrensrecht); Vogler, ZStW 126 (2014), 239 ff. (zum englischen Strafverfahrensrecht); Groenhuijsen/Selçuk, ZStW 126 (2014), 248 ff. (zum niederländischen Strafverfahrensrecht). Die zuletzt genannten Beiträge gehen dabei allesamt auf Referate zurück, welche im R ­ ahmen einer Tagung des Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis Alternativ-Entwurf) am 29. September 2012 in Hannover gehalten wurden. 2 

68

§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

I.  Inländische Verfahrensordnungen Der inländisch-komparative Ansatz ist keinesfalls neu. Gerade der Blick auf Prozessordnungen in ein und derselben Rechtsordnung kann Lösungsmöglichkeiten zu parallel gelagerten Problemen zu Tage fördern.5

1.  Strafprozessordnung Im Strafprozess nimmt der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine bedeutende Rolle ein,6 wobei die herrschende Meinung dogmatisch zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit differenziert.7 Nur vereinzelt wollen manche Stimmen in der Literatur den Unmittelbarkeitsgrundsatz auf eine rein materielle Komponente reduzieren.8 Die Rechtsprechung trifft dagegen keine Unterscheidung von formeller und materieller Unmittelbarkeit, sondern geht offenbar von einem einheitlichen Unmittelbarkeitsgrundsatz aus.9 a)  Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme Innerhalb der Hauptverhandlung nimmt die Beweisaufnahme eine zentrale Rolle ein. Dabei ist die gerichtliche Aufklärungspflicht nach §  244 Abs.  2 StPO (Untersuchungsgrundsatz) zu berücksichtigen. Für die förmliche Beweisaufnahme gilt das Strengbeweisverfahren.10 Das bedeutet zum einen, dass nur die gesetzlich zugelas 5 

Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (151). Das Reichsgericht bezeichnete ihn gar als „Fundamentalsatz des Strafverfahrens“; RGSt 12, 104 (105).   7  Man spricht daher von einem „gemischten Unmittelbarkeitsbegriff“; Geppert, Unmittelbarkeit, S.  136 ff.; ferner Löhr, Unmittelbarkeit, S.  37 ff.; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  17 ff.; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  44 ff.; Großkopf, Beweissurrogate, S.  29 ff.; Dahs, StV 1988, 169; Lesch, JA 1995, 691; Weigend, in: FS Eisenberg, S.  657 (659); Frister, in: Hauptverhandlung, S.  65 (66); Löwe-Rosenberg/Becker, vor §  226 StPO Rn.  11; SSW/Kudlich/Schuhr, §  250 StPO Rn.  2 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  65 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  46 Rn.  3 ff.; Kindhäuser, Strafprozessrecht, §  21 Rn.  111; Hellmann, Strafprozessrecht, Rn.  659 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn.  914. Andere wollen als dritte Säule noch den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung im engeren Sinne sehen; Rieck, Substitut oder Komplement, S.  144 f.; ähnlich Schuster, Gutachten, S.  112 f. In der älteren Literatur findet sich dagegen noch eine Unterscheidung zwischen Unmittelbarkeit in subjektiver und objektiver Hinsicht, wobei die subjektive Unmittelbarkeit der formellen Unmittelbarkeit, die objektive Unmittelbarkeit dagegen der materiellen Unmittelbarkeit entspricht; Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, S.  249 f.   8  Für ein rein materielles Verständnis des Unmittelbarkeitsgrundsatzes plädieren etwa Kries, ZStW 6 (1886), 88 (98 f.); Heissler, Unmittelbarkeit, S.  59 ff.   9  Es wird immer nur von „dem“ Unmittelbarkeitsgrundsatz gesprochen; siehe etwa RGSt 2, 160 (161); BGHSt 17, 382 (383) = NJW 1962, 1876; so auch KK/Diemer, §  250 StPO Rn.  1; Geerds, SchlHA 209 (1962), 181 (187); Volk/Engländer, Grundkurs StPO, §  18 Rn.  26, §  27 Rn.  1 ff.; siehe hierzu auch Geppert, Unmittelbarkeit, S.  125; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  49 f. 10  Vom Strengbeweis zu unterscheiden ist das Freibeweisverfahren. Der numerus clausus der Beweismittel gilt hier nicht; Löwe-Rosenberg/Becker, §  244 StPO Rn.  17, 30 ff. Das Gericht kann   6 

I.  Inländische Verfahrensordnungen

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senen Beweismittel (Zeuge, Sachverständiger, Augenschein, Urkunde) zur Verfügung stehen und zum anderen, dass die Beweiserhebung nur gemäß §§  244 ff. StPO ablaufen darf.11 Damit unterliegt die Beweisaufnahme neben den Grundsätzen der Mündlichkeit und Öffentlichkeit auch dem Unmittelbarkeitsgrundsatz.12 Ein Verzicht der Beteiligten auf die Beachtung der Unmittelbarkeit ist nicht möglich.13 aa)  Formelle Unmittelbarkeit Die formelle Unmittelbarkeit weist nach Geppert zwei wesentliche Charakteristika auf: Erstens verlangt sie eine „eigene sinnliche Wahrnehmung“ des Gerichts, was erfordert, dass das erkennende Gericht den Prozessverlauf inklusive der Beweisaufnahme selbst wahrnehmen muss. Zweitens wird durch sie das „Verhältnis des erkennenden Gerichts zu den Beweismitteln und zu den Verfahrensbeteiligten“ beschrieben. Die Beweisaufnahme darf keiner dritten Person („Zwischenrichter“) überantwortet werden.14 Nur in Ausnahmefällen kann die Beweisaufnahme kommissarisch nach §§  223–225 StPO durchgeführt werden. Diese Aspekte der formellen Unmittelbarkeit kommen durch diverse Vorschriften zum Ausdruck: Gemäß §  261 StPO entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung. Wenn das Gericht aber „aus dem Inbegriff“ der Verhandlung zu seiner Überzeugung gelangen soll, muss es die Beweisaufnahme selbst durchführen.15 Formelle Unmittelbarkeit und freie richterliche Beweiswürdigung stehen daher in einem engen Verhältnis zueinander.16 Aus diesem Grund wird §  261 StPO überwiegend als gesetzliche Verankerung der formellen Unmittelbarkeit genannt.17 §  226 StPO enthält den Grundsatz der Verhandlungseinheit18 und bestimmt, dass die Hauptverhandlung in ununterbrochener Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Personen sowie der Staatsanwaltschaft und eines Urkundsbeamten der Geschäftsstelle erfolgt. Die Beweisaufnahme findet somit vor den zu jeder Zeit anwedaher auf unterschiedlichste Art und Weise – beispielsweise durch telefonische Befragungen – die entsprechenden Beweise erheben; siehe hierzu die Auflistung bei KK/Krehl, §  244 StPO Rn.  16. 11  Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  24 Rn.  2. 12  Löwe-Rosenberg/Becker, §  244 StPO Rn.  17. 13  So schon Hegler, Der Rechtsgang 2 (1916), 267 (272); Löwe-Rosenberg/Becker, vor §  226 StPO Rn.  11; Löwe-Rosenberg/Sander/Cirener, §  250 StPO Rn.  22. Ausnahmen hiervon bestehen lediglich in den Fällen der §§  251 Abs.  1 Nr.  1, Abs.  2 Nr.  3, 255a Abs.  1 StPO; Meyer-Goßner/ Schmitt/Meyer-Goßner, §  250 StPO Rn.  1. 14  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  122 ff. m. w. N.; ferner Stüber, Unmittelbarkeit, S.  44 ff.; Roxin/ Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  46 Rn.  3; Lesch, JA 1995, 691. 15  Grundlegend Geppert, Unmittelbarkeit, S.  141, 144 f.; ders., Jura 1996, 550 (552); ebenso im Ergebnis Krüger, Unmittelbarkeit, S.  170 ff., welcher jedoch eine andere Lesart von §  261 StPO präferiert; a. A. Löhr, Unmittelbarkeit, S.  40. 16  Kindhäuser, Strafprozessrecht, §  21 Rn.  112. 17  Siehe hierzu die Nachweise bei Krüger, Unmittelbarkeit, S.  171 (Fn.  253). 18  KK/Gmel, §  226 StPO Rn.  1.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

senden erkennenden Richtern statt, weshalb §  226 StPO der eben erläuterten Forderung des §  261 StPO entspricht und damit Ausdruck der formellen Unmittelbarkeit ist.19 Mit der ununterbrochenen Anwesenheit ist die Zeitspanne vom Beginn der Hauptverhandlung mit dem Aufruf zur Sache (§  243 Abs.  1 S.  1 StPO) bis zur Urteilsverkündung (§§  260 Abs.  1, 268 Abs.  2 StPO) gemeint.20 Kommt es im Laufe der Verhandlung zu einem Richterwechsel, muss die Verhandlung – und damit auch die Beweisaufnahme – wiederholt werden.21 Andernfalls ist der Grundsatz der Verhandlungseinheit nicht gewahrt.22 Gemäß §  192 Abs.  2 GVG kann zwar ein Ergänzungsrichter den ausgefallenen Richter ersetzen. Jedoch gilt dies nur für den Fall, dass dieser von Anfang an der Verhandlung beigewohnt hat, da andernfalls das Gericht fehlerhaft besetzt ist und nach §  338 Nr.  1 StPO ein absoluter Revisionsgrund vorliegt.23 Schließlich ist noch §  250 S.  1 StPO zu erwähnen, wonach eine Person in der Hauptverhandlung zu vernehmen ist, sofern der Beweis gerade auf der Wahrnehmung dieser Person beruht. §  250 S.  1 StPO kennzeichnet die Art und Weise der Beweisaufnahme und ermöglicht es dem Gericht aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung die Glaubwürdigkeit des Zeugen beurteilen sowie durch Rückfragen zu einer umfassenden Aufklärung des Verhandlungsgegenstands beitragen zu können.24 Zusammenfassend lässt sich die formelle Unmittelbarkeit den §§  261, 226, 250 S.  1 StPO entnehmen. Sie besagt, dass „die Beweisaufnahme […] vor dem erkennenden Gericht und in der Hauptverhandlung zu erfolgen hat und daß das Gericht nur ‚aus dem Inbegriff der Verhandlung‘ gewonnene Beweise verwerten darf (§  261 StPO).“25 Die formelle Unmittelbarkeit beantwortet somit die Frage nach dem „Wie“ der Beweisaufnahme.26 bb)  Materielle Unmittelbarkeit Der formelle Unmittelbarkeitsgrundsatz wird durch eine materielle Komponente flankiert. Diese betrifft im Gegensatz zur formellen Unmittelbarkeit nicht das Verhältnis des erkennenden Gerichts zu den Beweismitteln, sondern „die Beziehung des einzelnen Beweismittels zum Beweisthema“27. Die entscheidende Frage ist da19 

Geppert, Unmittelbarkeit, S.  143 f.; Löwe-Rosenberg/Becker, §  226 StPO Rn.  1. KK/Gmel, §  226 StPO Rn.  2; Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, §  226 StPO Rn.  2. 21  Löwe-Rosenberg/Becker, §  226 StPO Rn.  5; KK/Gmel, §  226 StPO Rn.  4; Meyer-Goßner/ Schmitt/Meyer-Goßner, §  226 StPO Rn.  5; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  44 Rn.  35; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (147 f.). 22  Peters, Strafprozeß, S.  551. 23  BGH NJW 2001, 3062; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  4 4 Rn.  37; a. A. Löwe-­ Rosenberg/Becker, §  226 StPO Rn.  27, wonach §  338 Nr.  5 StPO einschlägig sein soll. 24  Löhr, Unmittelbarkeit, S.  41; Geppert, Unmittelbarkeit, S.  187; ders., Jura 1996, 550 (552). 25  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  143. 26  Geppert, Jura 1991, 538 (541); Stüber, Unmittelbarkeit, S.  46. 27  Dahs, StV 1988, 169; ähnlich Geppert, Unmittelbarkeit, S.  166. 20 

I.  Inländische Verfahrensordnungen

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her: Welche Beweismittel sollen zum Gegenstand des Beweises gemacht werden und welche nicht?28 Es geht um die „Wahl unter mehreren Beweismitteln“29. Dieser Vorstellung von Unmittelbarkeit liegt der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“30 zugrunde: „Wo materielle Wahrheit erstrebt wird, stellt sich sogleich der Gedanke ein, daß von mehreren möglichen Beweiswegen immer der beste gewählt werde. Der beste Weg ist aber derjenige, auf dem der Suchende an die zu erforschende Tatsache so nahe wie möglich herankommt, d. h. bei dem der Suchende das dieser Tatsache am nächsten stehende Beweismittel und nicht statt seiner bloße Berichte über das, was jenes in sich berge, benutzt […].“31

Das Gericht muss daher möglichst32 „aus der Quelle selbst schöpfe[n]“33, die Erkenntnis muss „aus erster Hand“34 kommen. Daher sollen Originalbeweise als „unmittelbare“ Beweise Vorrang vor mittelbaren Beweissurrogaten haben und dürfen nicht durch Letztere ersetzt werden.35 Dieser Gedanke wird von der herrschenden Meinung gesetzlich in der allgemeinen gerichtlichen Aufklärungspflicht aus §  244 Abs.  2 StPO verankert,36 wonach das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Wenn aber §  244 Abs.  2 StPO von dem erkennenden Gericht von Amts wegen die „vollständige und umfassende Aufklärung des Sachverhalts verlangt“37, schließt dies zwangsläufig die Forderung nach der Heranziehung des best28  Kries, ZStW 6 (1886), 88 (98 f.); Geppert, Unmittelbarkeit, S.  127; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  47; ähnlich Maaß, Schutz sensibler Zeugen, S.  187, welche auf das „Womit“ der Beweisaufnahme abstellt. 29  Löhr, Unmittelbarkeit, S.  46. 30  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  127; siehe auch Löhr, Unmittelbarkeit, S.  46; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  47. 31  Beling, Reichsstrafprozeßrecht, S.  33. Insofern müsse „das Gericht bei Feststellung des Sachverhalts sich in die denkbar innigste, unmittelbarste Beziehung zu den zu erschliessenden Thatsachen setzen.“; Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, S.  249. 32  Aufgrund der Formulierung „möglichst“ wird der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz dogmatisch oftmals als Optimierungsgebot im Sinne Alexys verstanden; Großkopf, Beweissurrogate, S.  55; Weigend, in: FS Eisenberg, S.  657 (659). Die Behandlung von Verfahrensgrundsätzen als prinzipientheoretische Optimierungsgebote ist jedoch abzulehnen. Siehe hierzu ober unter §  2 III. 5. d). 33  Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, S.  250. 34  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  128. 35  Siehe statt vieler Geppert, Unmittelbarkeit, S.  128; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  47 m. w. N. 36  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  184 ff.; ders., Jura 1991, 538 (541); ders., Jura 1996, 550 (552); Stüber, Unmittelbarkeit, S.  48; Großkopf, Beweissurrogate, S.  57; Meyer-Goßner/Schmitt/ Meyer-Goßner, §  244 StPO Rn.  12; Laubenthal, JZ 1996, 335 (341); Kindhäuser, Strafprozessrecht, §  21 Rn.  113; Kühne, Strafprozessrecht, Rn.  914; a. A. Peters, Strafprozeß, S.  317, wonach sich dies nur indirekt aus §  244 Abs.  2 StPO ergebe; a. A. Heissler, Unmittelbarkeit, S.  94 f., welcher den materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz in der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  261 StPO) ausmacht; ebenso jüngst Krüger, Unmittelbarkeit, S.  258 ff., 279 ff.; siehe hierzu ferner SSW/Kudlich/Schuhr, §  250 StPO Rn.  5. 37  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  184 f.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

möglichen Beweises ein.38 Der Grundsatz der gerichtlichen Aufklärungspflicht ist nach der Rechtsprechung regelmäßig dann verletzt, wenn das Gericht ein sachnäheres Beweismittel nicht heranzieht, obwohl es verfügbar ist.39 Der Vorrang des unmittelbaren Beweises vor dem mittelbaren wird in den §§  250 ff. StPO speziell für das Verhältnis des Personal- zum Urkundenbeweis geregelt.40 Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen (§  250 S.  1 StPO). §  250 S.  2 StPO verbietet ferner die Ersetzung einer Vernehmung durch Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufgenommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung. Allerdings sind in den §§  251 ff. StPO diverse Ausnahmen hiervon geregelt.41 Beispielsweise kann die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung oder einer Urkunde, die eine vom Zeugen stammende schriftliche Erklärung enthält, ersetzt werden, wenn der Zeuge verstorben ist oder aus einem anderen Grund in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann (§  251 Abs.  1 Nr.  2 StPO). Sinn und Zweck dieser Ausnahmeregelungen ist unter anderem die Vermeidung eines Beweisverlusts.42 Kann ein grundsätzlich vorzugswürdiger unmittelbarer Beweis nicht erbracht werden, besteht kein Bedürfnis am Protokollverlesungsverbot des §  250 S.  2 StPO festzuhalten, weshalb auch Ausnahmen vom materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz als wahrheitsförderlich betrachtet werden können.43 Darüber hinaus lassen sich in den §§  251 ff. StPO prozess­ ökonomische Aspekte ausmachen, was sich insbesondere an §  251 Abs.  1 Nr.  1 und  3 StPO zeigt.44 Somit ermöglichen die Durchbrechungen des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes „im Interesse der Wahrheitsfindung eine flexiblere Handhabung des Beweisrechts.“45 Umstritten ist die Frage, ob sich den §§  250 ff. StPO ein allgemeines Gebot e­ ntnehmen lässt, wonach stets das bestmögliche Beweismittel heranzuziehen ist. Nach einer hauptsächlich im älteren Schrifttum vertretenen Ansicht46 soll §  250 StPO ein „umfassendes Gebot unmittelbarer Vernehmung“ darstellen.47 Die Recht38 

BVerfGE 57, 250 (277) = NJW 1981, 1719 (1722). BGHSt 32, 115 (123) = NJW 1984, 247 (248); BGH NStZ 2004, 50; so auch bereits Geppert, Unmittelbarkeit, S.  185. 40  BVerfGE 57, 250 (278) = NJW 1981, 1719 (1722). Zur historischen Entwicklung der §§  250 ff. StPO siehe den Überblick bei Frister, in: Hauptverhandlung, S.  65 (68 ff.). 41  Kindhäuser, Strafprozessrecht, §  21 Rn.  114; Meurer, JuS 1999, 937 (939); Dahs, StV 1988, 169 f. 42  KK/Diemer, §  251 StPO Rn.  1. 43  Löwe-Rosenberg/Sander/Cirener, §  251 StPO Rn.  1; Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, §  251 StPO Rn.  1; Meurer, JuS 1999, 937 (940). 44  KK/Diemer, §  251 StPO Rn.  1. 45  BVerfGE 57, 250 (278) = NJW 1981, 1719 (1722). 46  Kries, ZStW 6 (1886), 88 (93 f.); Heissler, Unmitelbarkeit, S.  165 ff., 176; Peters, Strafprozeß, S.  317; Grünwald, in: FS Dünnebier, S.  347 (352 f.); hierfür wohl auch Hellmann, Strafprozessrecht, Rn.  662; siehe ferner Schuster, Gutachten, S.  116 ff. 47  Heissler, Unmittelbarkeit, S.  176. 39 

I.  Inländische Verfahrensordnungen

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sprechung48 und die herrschende Lehre49 lehnen eine solche Sichtweise jeweils ab. Begründet wird dies vor allem damit, dass das Gesetz seinem Wortlaut nach nur die Zulässigkeit des Urkundenbeweises im Verhältnis zum Personalbeweis regelt.50 §  250 StPO sage nichts über die Frage, welche Beweismittel als „bestmögliche“ und welche im Verhältnis zu anderen als „bessere“ oder „schlechtere“ anzusehen seien. Diese Frage betreffe allein die Aufklärungspflicht des Gerichts im jeweils konkreten Fall (§  244 Abs.  2 StPO).51 Die §§  250 ff. StPO regeln insofern nur einen „Teil­ bereich“52 des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Zusammenfassend verkörpert die in der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§  244 Abs.  2 StPO) wurzelnde und in den §§  250 ff. StPO konkretisierte materielle Unmittelbarkeit den „Gedanken des bestmöglichen Beweises“.53 Dadurch wird aber kein generelles Verbot mittelbarer Beweisführung postuliert,54 sondern „eine Art Rangfolge in dem Sinn, daß in bezug auf ein und dasselbe Beweisthema das diesem nähere Beweismittel grundsätzlich Vorrang verdient.“55 cc)  Ratio und Vorteile des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Das Erfordernis der formellen Unmittelbarkeit ist als Reaktion auf die negativen Erfahrungen des Inquisitionsprozesses zu sehen.56 Sie ist historisch betrachtet als „ein Bollwerk gegen ein auf Aktenprotokolle gestütztes, die Justizförmigkeit gefährdendes Beweisverfahren“57 konzipiert. Der Richter sollte „selbst sehen, selbst hören“58. Die hinter der materiellen Unmittelbarkeit steckende Ratio ist dagegen, dass eine Reproduktion von Beweisen das Beweismaterial abschwächen und trüben

48  BVerfGE 57, 250 (292) = NJW 1981, 1719 (1725); BGHSt 1, 373 (375 f.); BGHSt 6, 209 (210); BGHSt 17, 382 (384) = NJW 1962, 1876; BGHSt 22, 268 (270 f.). 49  Löhr, Unmittelbarkeit, S.  89; Schneidewin, JR 1951, 481 (482); Walther, JZ 2004, 1107 (1113 f.); Beulke, JA 2008, 758 (762); Cornelius, NStZ 2008, 244 (245); Volk/Engländer, Grundkurs StPO, §  18 Rn.  26; SSW/Kudlich/Schuhr, §  250 StPO Rn.  4; Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, §  250 StPO Rn.  3; siehe hierzu ferner Geppert, Unmittelbarkeit, S.  134 f.; Kindhäuser, Strafprozessrecht, §  21 Rn.  118 ff.; Löwe-Rosenberg/Sander/Cirener, §  250 StPO Rn.  23 jeweils m. w. N. 50  Schneidewin, JR 1951, 481 (482). 51  Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  66; Walther, JZ 2004, 1107 (1113 f.); Hellmann, Strafprozessrecht, Rn.  662. 52  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  181; ähnlich Stüber, Unmittelbarkeit, S.  47 („Teilaspekt“). 53  Löhr, Unmittelbarkeit, S.  84 spricht daher vom „materiellen Prinzip des bestmöglichen Beweises“; ihr folgend Geppert, Unmittelbarkeit, S.  186. 54  BVerfGE 57, 250 (277) = NJW 1981, 1719 (1722); Stüber, Unmittelbarkeit, S.  48. 55  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  129; ebenso Krüger, Unmittelbarkeit, S.  196 („Rangfolge der Beweismittel“). 56  Stüber, Unmittelbarkeit, S.  4 4 f.; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  60. Zur historischen Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes siehe insbesondere Geppert, Unmittelbarkeit, S.  7 ff.; Löhr, Unmittelbarkeit, S.  26 ff.; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  23 ff. 57  Walther, JZ 2004, 1107 (1114). 58  Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, S.  251; Frister, in: Hauptverhandlung, S.  65 (66) [„mit eigenen Augen und Ohren“].

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

kann,59 wohingegen eine unmittelbare Beweisaufnahme regelmäßig „die bestmögliche Wahrheitsermittlung sichert.“60 Allerdings ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel beider Säulen die essenzielle Bedeutung dieses Verfahrensgrundsatzes: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz dient – sowohl in seiner formellen als auch materiellen Ausprägung61 – der Wahrheitsfindung, er ist „wahrheitsdienliches Erkenntnisprinzip“62. Durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz wird einer der wesentlichen Prozesszwecke des Strafverfahrens realisiert63 – die Ermittlung der materiellen Wahrheit.64 Dies setzt zweifelsfrei eine möglichst lückenlose Aufklärung des zugrundeliegenden Sachverhalts voraus. Die Rekonstruktion des Tatgeschehens wird verbessert, wenn die erkennenden Richter die Beweise selbst und in der Hauptverhandlung erheben müssen und wenn zugleich auf die bestmöglichen Beweismittel zurückgegriffen wird.65 Ferner bewirkt der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine Trennung von Ermittlungs- und Hauptverfahren, wodurch vor allem der Angeklagte geschützt werden soll.66 Schließlich wird bei einer unmittelbaren Verfahrensgestaltung eine Konfrontationsmöglichkeit des Angeklagten mit Belastungszeugen geschaffen, was durch Art.  6 Abs.  3 lit.  d) EMRK ausdrücklich garantiert wird.67 b)  Aktuelle Entwicklungen und Tendenzen Das Strafprozessrecht hat in den letzten Jahren diverse Änderungen erfahren, von denen auch der Unmittelbarkeitsgrundsatz tangiert wurde.68

59  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  128; siehe auch bereits Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (218 f.). 60  Großkopf, Beweissurrogate, S.  55. 61  Stüber, Unmittelbarkeit, S.  47; Weigend, in: FS Eisenberg, S.  657 (661 f.). 62  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  161; ähnlich SSW/Kudlich/Schuhr, §  250 StPO Rn.  2 („Herstellung einer verlässlichen Erkenntnisgrundlage des Gerichts“). 63  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  62. 64  BVerfGE 57, 250 (275) = NJW 1981, 1719 (1722): „Als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachverhalts […].“ Freilich kennt die StPO keine Wahrheitsfindung um jeden Preis, weshalb die Entscheidung stets prozessordnungsgemäß zustande gekommen sein muss; siehe Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  1 Rn.  3; BGHSt 14, 358 (365) = NJW 1960, 1580 (1582). 65  Weigend, in: FS Eisenberg, S.  657 (661 f.). 66  Siehe hierzu Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (280 ff.); Pollähne, StV 2015, 784 (787 ff.); ferner Krüger, Unmittelbarkeit, S.  56 ff., welcher von einer „individualschützende[n] Komponente“ spricht. 67  Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (281); ders., in: FS Eisenberg, S.  657 (661). Zur Frage, ob ein – unter anderem aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatz abgeleitetes – Konfrontationsrecht des Angeklagten existiert, siehe Walther, GA 150 (2003), 204 ff.; dies., JZ 2004, 1107 (1114). Zu den Wechselwirkungen von EMRK und Unmittelbarkeit siehe Cornelius, NStZ 2008, 244 (247 ff.). 68  Dieser Überblick kann freilich nicht umfassend und detailliert ausfallen. Zur vertieften Auseinandersetzung siehe die Ausführungen bei Stüber, Unmittelbarkeit, S.  51 ff.

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aa)  Audiovisuelle Vernehmung (§  247a StPO) Aufgrund eines aufsehenerregenden Beschlusses des LG Mainz aus dem Jahre 199569 wurde der Einsatz von Videotechnik im Strafverfahren sowohl in der Rechtswissenschaft als auch der Politik immer stärker diskutiert.70 Durch das Zeugenschutzgesetz von 1998 wurde schließlich mit §  247a StPO die Möglichkeit der audiovisuellen Zeugenvernehmung gesetzlich normiert.71 Besteht eine dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen im Falle einer Vernehmung in der Hauptverhandlung, kann das Gericht anordnen, dass sich dieser während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhalten kann. Die Aussage des Zeugen wird zeitgleich in Bild und Ton in den Sitzungssaal übertragen (§  247a Abs.  1 S.  1 und 2 StPO).72 Wenngleich es vordergründig um den Schutz minderjähriger Zeugen ging,73 so beschränkt sich §  247a StPO in seinem Anwendungsbereich nicht hierauf. Die Vorschrift dient dem Schutz sämtlicher schutzbedürftiger Zeugen.74 Des Weiteren werden über den Verweis auf §  251 Abs.  2 StPO die Prozess­ ökonomie und die Verfahrensbeschleunigung berücksichtigt.75 Ob eine solche Vorgehensweise gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz verstößt, muss für die formelle und materielle Seite jeweils getrennt betrachtet werden. Nach 69  In einem Verfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs wurde angeordnet, die betroffenen Kinder in einem separaten Nebenraum durch den vorsitzenden Richter vernehmen zu lassen. Die Vernehmung wurde zeitgleich in Bild und Ton auf eine 2x2 Meter große Leinwand in den Sitzungssaal übertragen (Closed Circuit Television). Nach Ansicht des LG Mainz stand eine solche Vorgehensweise ausdrücklich mit den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit im Einklang; LG Mainz NJW 1996, 208. Kritisch hierzu unter anderem Jansen, StV 1996, 123 ff.; Geppert, Jura 1996, 550 (552 ff.); Dahs, NJW 1996, 178 („gespaltene Hauptverhandlung“); ausführlich hierzu Stüber, Unmittelbarkeit, S.  217 ff. m. w. N. 70  Laubenthal, JZ 1996, 335 f. 71  Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes (Zeugenschutzgesetz – ZSchG) vom 30. April 1998, BGBl. I, S.  820. Zur Entwicklung des Gesetzgebungsverfahrens siehe Rieck, Substitut oder Komplement, S.  48 ff. Zu den rechtstatsächlichen Auswirkungen und Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz siehe Scheumer, Videovernehmung, S.  81 ff. 72  Daneben besteht die Möglichkeit der Aufzeichnung von Zeugenvernehmungen zwecks Protokollierung (§  58a Abs.  1 S.  1 StPO) mit der Möglichkeit der späteren Einführung als Beweismittel im Rahmen der Hauptverhandlung (§  255a StPO i. V. m. §§  251 ff. StPO). Die überwiegende Ansicht sieht durch §  255a StPO die materielle Unmittelbarkeit tangiert, wobei durch die Verweisung auf §  251 StPO „keine qualitativ neue Ausnahme von der Unmittelbarkeit“ geschaffen werde; Maaß, Schutz sensibler Zeugen, S.  188. Zu einer wesentlich stärkeren Durchbrechung der materiellen Unmittelbarkeit komme es dagegen bei §  255a Abs.  2 StPO, da hier eine Videovorführung stattfinden kann, obwohl der Zeuge eigentlich persönlich in der Hauptverhandlung vernommen werden könnte; Maaß, Schutz sensibler Zeugen, S.  189. Zu §  255a StPO und seiner Vereinbarkeit mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz siehe ferner Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1314 ff.; Laubenthal, JZ 1996, 335 (341 ff.); Diemer, NJW 1999, 1667 (1672 f.); Meurer, JuS 1999, 937 (940); Beulke, ZStW 113 (2001), 709 (734 ff.); Scheumer, Videovernehmung, S.  64 f. 73  Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (135 f.). Ausführlich zu den Gründen für die Einführung eines Zeugenschutzes bei Kindern siehe Bohlander, ZStW 107 (1995), 82 (85 ff.). 74  BT-Drucks. 13/7165, S.  9; Diemer, NJW 1999, 1667 (1668). 75  KK/Diemer, §  247a StPO Rn.  6.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

ganz herrschender Meinung76 soll die audiovisuelle Vernehmung keine Durchbrechung der materiellen Unmittelbarkeit darstellen. Als wesentliches Argument wird ins Feld geführt, dass keine Reproduktion eines originären Beweismittels stattfinde.77 Bei der audiovisuellen Vernehmung werde gerade auf das Originalbeweismittel zurückgegriffen, wodurch es zu einer „Annäherung an die unmittelbare persönliche Vernehmung“ komme.78 Der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ sei daher gewahrt.79 Probleme ergeben sich vielmehr hinsichtlich der formellen Unmittelbarkeit. Grundsätzlich wird der Zeuge weiterhin durch die erkennenden Richter vernommen, sodass gerade keine Übertragung der Beweisaufnahme auf eine dritte Person stattfindet.80 Das „Wie“ der Beweisaufnahme werde folglich nicht eingeschränkt.81 Allerdings ist der Zeuge nicht mehr leibhaftig im Gerichtssaal anwesend, der persönliche Kontakt geht verloren.82 Die Unmittelbarkeit werde daher nach Eisenberg bei einer audiovisuellen Vernehmung nur „simuliert“,83 was negative Auswirkungen auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit einer Person haben kann.84 Unter Umständen könne dies nach Ansicht des BGH dazu führen, dass eine audiovisuelle Vernehmung als „ungeeignetes Beweismittel“ eingestuft werden müsse.85 Hinzu kommt, dass mit dem Opferrechtsreformgesetz von 2004 die Subsidiaritätsklausel – nach Diemer eine „Bastion des Unmittelbarkeitsprinzips“86 – gestrichen wurde. Zuvor konnte eine audiovisuelle Vernehmung nur durchgeführt werden, sofern die Nachteile für den Zeugen nicht in anderer Weise, insbesondere durch Entfernung des Angeklagten (§  247 StPO) oder Ausschluss der Öffentlichkeit (§§  171b, 172 GVG) abgewendet werden konnten.87 Der hierdurch ursprünglich vom Gesetzgeber zum Ausdruck gebrachte Vorzug der persönlichen Anwesenheit des Zeugen gegen76  Geppert, Jura 1996, 550 (552 f.); Laubenthal, JZ 1996, 335 (343); Meurer, JuS 1999, 937 (939 f.); Beulke, ZStW 113 (2001), 709 (732); Rieck, Substitut oder Komplement, S.  145 ff.; Stüber, Unmittelbarkeit, S.  242 f.; Scheumer, Videovernehmung, S.  65 f.; Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung, S.  18; Maaß, Schutz sensibler Zeugen, S.  192 f.; siehe ferner KK/Diemer, §  247a StPO Rn.  5 f.; Löwe-Rosenberg/Becker, §  247a StPO Rn.  2; hierfür wohl auch Bohlander, ZStW 107 (1995), 82 (110). 77  Statt vieler Geppert, Jura 1996, 550 (552 f.). 78  Beulke, ZStW 113 (2001), 709 (732). 79  Meurer, JuS 1999, 937 (939); Diemer, NJW 1999, 1667 (1671). 80  Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung, S.  18; Maaß, Schutz sensibler Zeugen, S.  192. 81  Maaß, Schutz sensibler Zeugen, S.  192. 82  Beulke, ZStW 113 (2001), 709 (715). 83  Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1309; zustimmend Rieck, Substitut oder Komplement, S.  145. 84  Siehe nur Diemer, NJW 1999, 1667 (1671); Fischer, JZ 1998, 816 (820); zustimmend Mehle, in: FS Grünwald, S.  351 (363); kritisch hinsichtlich der Aufklärungspflicht KK/Diemer, §  247a StPO Rn.  5. Ausführlich zu den aussagepsychologischen Aspekten der audiovisuellen Vernehmung später unter §  6 I. 2. a) cc). 85  BGHSt 45, 188 (197) = NJW 1999, 3788 (3790). 86  Diemer, in: FS Nehm, S.  257 (262). 87  Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (Opferrechtsreformgesetz – OpferRRG) vom 24. Juni 2004, BGBl. I, S.  1354.

I.  Inländische Verfahrensordnungen

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über einer rein audiovisuellen Präsenz,88 ist somit nicht mehr qua Gesetz angeordnet, sondern „nur“ noch im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensentscheidung („kann“) des Gerichts zu berücksichtigen. Dabei sind die Rechte des Angeklagten89 sowie der Unmittelbarkeitsgrundsatz einzubeziehen.90 Damit die persönliche Vernehmung des Zeugen nach §  250 S.  1 StPO nicht zur Ausnahme degeneriert, muss §  247a StPO restriktiv ausgelegt werden.91 Im Ergebnis sieht die überwiegende Ansicht in der Literatur – ebenso wie die Rechtsprechung92 – die formelle Unmittelbarkeit bei einer audiovisuellen Vernehmung somit nicht generell durchbrochen, wohl aber eingeschränkt.93 Die mit §  247a StPO verbundenen Einschränkungen seien aus Zeugenschutzgründen jedoch zu akzeptieren.94 bb)  Verständigung im Strafverfahren (§  257c StPO)  Im Jahre 2009 wurde mit §  257c StPO eine gesetzliche Grundlage95 für die im Strafverfahren bereits länger praktizierten96 und rechtspolitisch heftig umstrittenen97 88 

Mehle, in: FS Grünwald, S.  351 (363); Diemer, in: FS Nehm, S.  257 (262). Das Konfrontationsrecht des Angeklagten wird dabei als nicht tangiert betrachtet, sofern man eine bloß sachliche Konfrontationsmöglichkeit in den Vordergrund stellt; Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung, S.  28. §  247a StPO ermögliche eine „audiovisuelle Konfrontationsvernehmung“; BGHSt 45, 188 (190) = NJW 1999, 3788 (3789). 90  BGHSt 45, 188 (196) = NJW 1999, 3788 (3790); Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, §  247a StPO Rn.  7. 91  KK/Diemer, §  247a StPO Rn.  4; Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1310. 92  BGHSt 45, 188 (196) = NJW 1999, 3788 (3790), wo von einer „eingeschränkte[n] Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§  250 Satz  1 StPO)“ gesprochen wird. Durch den Verweis auf §  250 StPO geht der BGH offenbar von einer Einschränkung der materiellen Unmittelbarkeit aus; Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung, S.  18. 93  Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung, S.  21; Beulke, ZStW 113 (2001), 709 (732 f.); Stüber, Unmittelbarkeit, S.  242 („weitgehend gewahrt“); KK/Diemer, §  247a StPO Rn.  5 („weitestgehend gewahrt“); Scheumer, Videovernehmung, S.  65, 76 („grundsätzlich nicht verletzt“); kritischer dagegen Löwe-Rosenberg/Becker, §  247a StPO Rn.  2; siehe auch Hohnel, NJW 2004, 1356, welcher von einer „kritischen Ausdehnung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ spricht; a. A. Rieck, Substitut oder Komplement, S.  153, wonach §  247a StPO eine „Ergänzung“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sei. Für das „Mainzer Modell“ wurde dagegen vertreten, dass dieses mit dem formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht vereinbar sei, insbesondere da der vorsitzende Richter aufgrund seiner Abwesenheit aus dem Sitzungsraum seine Überzeugung nicht mehr ausschließlich aus dem „Inbegriff der Verhandlung“ (§  261 StPO) schöpfe; Geppert, Jura 1996, 550 (553); siehe ferner Laubenthal, JZ 1996, 335 (343), welcher vor allem §  226 StPO als verletzt ansieht. 94  Beulke, ZStW 113 (2001), 709 (733). 95  Eingeführt durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009, BGBl. I, S.  2353. Ziel des Regierungs- und Gesetzentwurfs war es, „die Verständigung so zu regeln, dass sie mit den tradierten Grundsätzen des deutschen Strafverfahrens übereinstimmt.“; BT-Drucks. 16/12310, S.  1. 96  Statt vieler Fezer, NStZ 2010, 177 (179) m. w. N. zu rechtstatsächlichen Untersuchungen. Zu den Ursachen für diese Entwicklung siehe Weigend, JZ 1990, 774 f. 97  Äußerst kritisch zum Verständigungsgesetz Fezer, NStZ 2010, 177 (178 ff.); Hettinger, JZ 2011, 292 (297 ff.); Ostendorf, ZIS 2013, 172 (176 ff.); siehe auch Fischer, StraFo 2009, 177 (178 ff.) zum Gesetzentwurf; ferner Schünemann, ZStW 119 (2007), 945 (950 ff.); positiv Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 (2631). 89 

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

Absprachen geschaffen. Zuvor hatten sich schon das BVerfG98 und der BGH99 mit Absprachen beschäftigt und deren (grundsätzliche) prozessuale Zulässigkeit bejaht.100 In einer Folgeentscheidung des BGH aus dem Jahre 2005 hatte der Große Senat Absprachen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung nochmals ausdrücklich gebilligt,101 ehe jüngst das BVerfG die Verfassungskonformität von §  257c StPO bestätigte.102 Wesentlicher Kritikpunkt an der Zulassung von Absprachen ist, dass hierdurch der Untersuchungsgrundsatz (§  244 Abs.  2 StPO) ausgehebelt werde. Das „Verfahrensziel der absoluten Wahrheit“ werde aufgegeben103 und die Prozessbeteiligten könnten ähnlich wie im Zivilprozess über den Verfahrensgegenstand verfügen.104 Nach §  257c Abs.  1 S.  2 StPO bleibt §  244 Abs.  2 StPO jedoch unberührt, das Gericht muss sich weiterhin von dem festzustellenden Sachverhalt überzeugen.105 Die Einführung einer „strafprozessualen Konsensmaxime“ war durch das Verständigungsgesetz nach dem Willen des Gesetzgebers somit nicht intendiert.106 Das BVerfG hatte diese Ansicht jüngst bestätigt, wonach über die Verweisung auf §  244 Abs.  2 StPO das „erforderliche Maß an Beweiserhebung stets […] unberührt“ bleibe.107 Die Verfahrenswirklichkeit sieht indes anders aus, schließlich liegt nach allgemeiner Erfahrung bei Absprachen ein Verzicht auf die umfassende Ermittlung des Sachverhalts in der Natur der Sache.108 Wenn diese in erster Linie eine Abkürzung des Verfahrens – und damit prozessökonomische Aspekte – bezwecken, so steht die gleichzeitige Forderung nach unveränderter Sachverhaltsaufklärung hierzu im Widerspruch.109 Allein mit der Prozessökonomie kann dies nur schwer be  98 

BVerfG NJW 1987, 2662 ff. BGHSt 43, 195 (202 ff.) = NJW 1998, 86 (87 ff.). 100  Zur Entwicklung der „Absprachen-Problematik“ einschließlich der Entstehung des Verständigungsgesetzes siehe Ostendorf, ZIS 2013, 172 f.; Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 ff. m. w. N. 101  BGHSt 50, 40 (52 ff.) = NJW 2005, 1440 (1443 f.); sehr kritisch hierzu Fezer, NStZ 2010, 177 (179). 102  BVerfGE 133, 168 (203 ff.) = NJW 2013, 1058 (1061 ff.); siehe hierzu Globke, JR 2014, 9 ff. 103  Fezer, NStZ 2010, 177 (179); siehe auch Fischer, StraFo 2009, 177 (181); Hettinger, JZ 2011, 292 (299); Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, §  257c StPO Rn.  3. Zusammenfassend zu den wesentlichen Kritikpunkten an Verständigungen im Strafprozess siehe Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, §  17 Rn.  19 ff. 104  Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327 (328); Eser, ZStW 104 (1992), 361 (376 ff.) sieht in Absprachen daher eine Form der zunehmenden „Privatisierung des Strafverfahrens“. 105  BT-Drucks. 16/12310, S.  13. 106  Jahn/Müller, NJW 2009, 2625 (2631); SSW/Ignor, §  257c StPO Rn.  23. 107  BVerfGE 133, 168 (208) = NJW 2013, 1058 (1063). Dies könne als Verständnis für ein „alternatives Beweisverfahren“ gesehen werden; Globke, JR 2014, 9 (10). 108  Radtke, GA 159 (2012), 187 (201) unter anderem mit Verweis auf Fischer, StraFo 2009, 177 (181), wonach eine Beschränkung der Sachverhaltsaufklärung „wesentlicher Teil jeder Absprache“ sei; ähnlich Siolek, Verständigung, S.  162. 109  Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327 (329); Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, §  257c StPO Rn.  23. Nach Ansicht des BGH könne aber gerade der Beschleunigungsgrundsatz sowie die Prozessökonomie den Umfang der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung festlegen; BGHSt 50, 40 (54) = NJW 2005, 1440 (1444); sehr kritisch Fezer, NStZ 2010, 177 (179).   99 

I.  Inländische Verfahrensordnungen

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gründet werden.110 §  257c Abs.  1 S.  2 StPO wird deshalb nur als „Lippenbekenntnis“111 verstanden. Die Vereinbarkeit von Absprachen mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz wird zumeist vor dem Hintergrund des §  261 StPO kritisch gesehen.112 Das Gericht schöpfe sein Urteil nicht mehr aus dem „Inbegriff der Verhandlung“,113 wenn zum einen über Art und Umfang der Beweisaufnahme vorab „verhandelt“ wurde114 und zum anderen die Absprache außerhalb der Hauptverhandlung stattfindet.115 Die Argumentation mit dem „Inbegriff der Verhandlung“ ist jedoch insofern problematisch, als sich die formelle Unmittelbarkeit nur aus §  261 StPO ableiten lässt, inhaltlich aber nicht mit den Aussagen der Norm identisch ist. Dennoch lässt sich über Absprachen eine „Tendenz zur Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“116 ausmachen. Entscheidend ist nämlich, welchen Inhalt die Verständigung hat. Da der Unmittelbarkeitsgrundsatz in erster Linie der Wahrheitsfindung dient, sind Absprachen problematisch, welche die Reichweite der Beweisaufnahme festlegen.117 Werden Abstriche bei der Sachverhaltsaufklärung vereinbart und die materielle Wahrheit nicht mehr vollständig ermittelt, verliert der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach Rönnau seinen „eigentlichen Anwendungsbereich“, ihm werde „der Boden entzogen“.118 Insofern liegt eine Funktionslosigkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vor.119 c)  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafverfahren Der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und seine Bedeutung für das Strafverfahren werden in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Mehle beispiels110 

Fischer, StraFo 2009, 177 (185). Meyer-Goßner/Schmitt/Meyer-Goßner, §  257c StPO Rn.  3; Hettinger, JZ 2011, 292 (299); ähnlich Altenhain/Haimerl, JZ 2010, 327 (329) [„Leugnung des Faktischen“]; König, AnwBl. 2010, 382 (385) [„rhetorische Floskel“]; a. A. Kröpil, JR 2010, 96 (99); siehe ferner Ignor, in: FS Strauda, S.  321 (329), wonach ein Widerspruch zu §  244 Abs.  2 StPO nicht vorläge, wenn man das Prinzip der materiellen Wahrheit nicht absolut, sondern nur relativ als „Schutzprinzip zugunsten des Beschuldigten“ verstünde, welcher hierüber in gewissem Umfang disponieren könne. 112  Rönnau, Absprache, S.  155; Müller, Probleme, S.  129; Saal, Absprachen, S.  20 f.; Ignor, in: FS Strauda, S.  321 (324); Baumann, NStZ 1987, 157 (158); Weigend, JZ 1990, 774 (777). 113  Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, §  257c StPO Rn.  13. Eine „Überzeugung“ spielt teilweise gar keine Rolle mehr; Hassemer, JuS 1989, 890 (892). 114  Baumann, NStZ 1987, 157 (158). 115  Rönnau, Absprache, S.  155 f.; Siolek, Verständigung, S.  165. 116  Stüber, Unmittelbarkeit, S.  126; ähnlich Müller, Probleme, S.  130, welcher in §  257c StPO eine Gefährdung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sieht. 117  Stüber, Unmittelbarkeit, S.  124; Braun, Absprache, S.  57 f. 118  Rönnau, Absprache, S.  155, 161; zustimmend Stüber, Unmittelbarkeit, S.  119, da bei einer Verkürzung der Beweisaufnahme die Unmittelbarkeit „nicht mehr an eine vollständige Basis anknüpfen“ könne; siehe auch Ahlf, in: Alsberg-Tagung, S.  113 (120). 119  Rönnau, Absprache, S.  161; zustimmend Saal, Absprachen, S.  20; ähnlich Widmaier, in: Alsberg-Tagung, S.  183, wonach Unmittelbarkeit und Mündlichkeit nur noch „formale Staffage“ seien; siehe auch Baumann, NStZ 1987, 157 (158), wonach bei Absprachen die Bedeutung der Hauptverhandlung in Frage gestellt wird; ebenso Müller, Probleme, S.  129 f.; schließlich Braun, Absprache, S.  57, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz seinem Sinn nach „unterlaufen“ werde. 111 

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

weise wirft dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung eine Aushöhlung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vor. Insbesondere durch das Zeugenschutzgesetz habe ein nachhaltiger Eingriff in die Unmittelbarkeit stattgefunden.120 Andere gehen noch weiter und sprechen plakativ vom „Niedergang des Prinzips der unmittelbaren Zeugenvernehmung“121. Kritisch wird auch die mit den Absprachen verbundene Abkehr von der Wahrheitsermittlung gesehen. Nach Radtke habe der Unmittelbarkeitsgrundsatz „seine ursprüngliche Funktion als ein die Wahrheitsermittlung in der gerichtlichen Hauptverhandlung leitendes Prinzip […] in erheblichem Umfang verloren.“ Durch die Vorverlagerung der Wahrheitsermittlung in das Ermittlungsverfahren sei diese für den Bereich der Hauptverhandlung zum „statistischen Ausnahmefall“ degeneriert.122 Ein „richtiges“ Urteil wird sich wohl kaum finden lassen, weshalb Pauschalisierungen wie „Aushöhlung“ oder „Niedergang“ nur bedingt weiterhelfen.123 Die hier nachgezeichneten Entwicklungen und Themenkreise zeigen aber, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz in den vergangenen Jahren Einschränkungen und Veränderungen erfahren hat,124 nicht zuletzt aufgrund einer stärkeren Berücksichtigung der Prozessökonomie.125 Der Gesetzgeber verfolgt zunehmend die Tendenz, die Unmittelbarkeit nicht als Selbstzweck zu sehen, weshalb er stellenweise Einschränkungen vornimmt.126 Fazit der eingehenden Untersuchung Stübers ist daher, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz – durch eine „fortschreitende Erosion“127 – Abschwächungen erfahren habe, wenngleich die Schwelle zur Bedeutungslosigkeit noch nicht erreicht sei.128

120  Mehle, in: FS Grünwald, S.  351 (365), wonach der hierdurch entstandene Schaden – insbesondere hinsichtlich der Wahrheitsfindung und der Verteidigungsrechte – schwer wirke. 121  Grünwald, in: FS Dünnebier, S.  347. 122  Radtke, GA 159 (2012), 187 (200). 123  Stüber, Unmittelbarkeit, S.  283. 124  Nowak, JR 2006, 459 (461); ähnlich Jahn, StV 2015, 778 (779) [„erheblich relativiert“]. Eine ebenfalls hierzu gehörende Thematik ist die schon lange umstrittene Frage, ob den Schöffen Akteneinsicht zu gewähren ist. Das Reichsgericht hatte dies noch als Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz qualifiziert und mit Hilfe der sog. „Minderbegabungstheorie“ den Schöffen jegliche Aktenkenntnis verwehrt; RGSt 69, 120 (122 ff.). Der BGH hatte sich dieser Rechtsprechung zunächst angeschlossen, ehe er im Jahre 1997 urteilte, dass die Zurverfügungstellung von Tonbandprotokollen bei Schöffen keinen Verstoß gegen den Mündlichkeits- und den Unmittelbarkeitsgrundsatz darstellen würde; BGHSt 43, 36 (39) = NJW 1997, 1792 (1793). Siehe ausführlich zu dieser Problematik, ihrer Entwicklung sowie ihren Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Stüber, Unmittelbarkeit, S.  54 ff.; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  173 ff. jeweils m. w. N. 125  Deutlich Kröpil, JR 2015, 611 (612): „Als wesentlicher Grund für die Erosion des Prinzips wird die zunehmende Orientierung des Strafverfahrens an Effizienz und Prozessökonomie angesehen.“. 126  Nowak, JR 2006, 459 (461 f.). 127  Jung, GA 149 (2002), 65 (69); ebenso Kröpil, JR 2015, 611 (612). 128  Stüber, Unmittelbarkeit, S.  287.

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d)  Reformdiskussionen und Perspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafprozess Mit der Frage nach dem aktuellen Stellenwert ist unweigerlich die Frage nach der Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes verbunden, weshalb abschließend noch auf aktuelle Reformdiskussionen im Strafverfahrensrecht eingegangen werden soll. Im Zentrum steht dabei das immer größer werdende Bedürfnis nach verbesserten Möglichkeiten zur Bewältigung der Verfahrensmenge, was womöglich nur über eine Modifizierung des Verfahrensablaufs – und damit der Verfahrensgrundsätze – erreichbar sein wird.129 aa)  Stärkung des Ermittlungsverfahrens Anfang der 2000er Jahre wurde überlegt, Modifizierungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes über ein „partizipatorisches Ermittlungsverfahren“130 zu erreichen. Auf diesem Standpunkt stand auch die Bundesregierung in einem Eckpunktepapier zur Reform des Strafverfahrens von 2001. Ziel einer Strafverfahrensreform sollte demnach ein zügiger Abschluss des Verfahrens sein, ohne im Gegenzug an Rechtsstaatlichkeit zu verlieren.131 Unter Punkt Nr.  7 hieß es schließlich: „Die Lockerung des Unmittelbarkeitsprinzips ist gerechtfertigt, wenn und soweit die Verteidigung bei Beweiserhebungen in einem früheren Verfahrensstadium, insbesondere im Ermittlungsverfahren, mitwirken konnte.“132

In der Literatur fanden derartige Vorschläge Zuspruch. Kritisiert wird letztendlich das – mitunter als „Luxus“133 bezeichnete – Erfordernis einer doppelten Beweisführung,134 welche ein Strafverfahren verlängern und verkomplizieren kann.135 Der in heutiger Zeit „archaisch wirkende“ Unmittelbarkeitsgrundsatz widerspreche einem prozessökonomischen Verfahrensablauf.136 Die Betrachtung der Verfahrenswirklichkeit ergebe vielmehr den Befund, dass im Ermittlungsverfahren – sprichwörtlich ausgedrückt – „die Würfel gefallen sind“.137 Über eine effektive Stärkung der 129 

Darauf hatte bereits Eser, ZStW 104 (1992), 361 (374) Anfang der 1990er Jahre hingewiesen. König, AnwBl. 2010, 382 (385). 131  Eckpunktepapier der Bundesregierung zu einer Reform des Strafverfahrens, StV 2001, 314. 132  Eckpunktepapier der Bundesregierung zu einer Reform des Strafverfahrens, StV 2001, 314 (316). 133  Duttge, ZStW 115 (2003), 539 (565). 134  Jahn, StV 2015, 778 (779) spricht von einer „Doppelung der Beweisaufnahme“. 135  Weigend, ZStW 113 (2001), 271 (281, 302); ähnlich Walther, GA 150 (2003), 204 (205); Radtke, GA 159 (2012), 187 (200) sieht die Problematik der doppelten Beweisaufnahme dagegen eher unter dem Aspekt einer drohenden sekundären Viktimisierung. 136  Weigend, StraFo 2013, 45 (47). Unter prozessökonomischen Gesichtspunkten müsse der Sachbeweis daher gegenüber dem Personalbeweis gestärkt werden; siehe Ahlf, in: Alsberg-Tagung, S.  113 (138). Kritisch zu einer reinen Orientierung an der Verfahrensbeschleunigung Bohlander, ZStW 107 (1995), 82 (113 f.). 137  Lagodny, in: Alsberg-Tagung, S.  167 (174 f.). Zur „Dominanz des Ermittlungsverfahrens“ siehe Weigend, in: FS Eisenberg, S.  657 (663 f.). 130 

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

Verteidigungsrechte könnte daher eine Vorverlagerung der Unmittelbarkeit in das Ermittlungsverfahren stattfinden.138 Dieses „Vorverlagerungsmodell“ wurde indes kontrovers diskutiert.139 Problematisch an einer Stärkung des Ermittlungsverfahrens ist letztendlich, dass im Gegenzug die eigentliche Hauptverhandlung immer mehr an Bedeutung verliert, wenn dort – im Extremfall – nur noch eine Verlesung von Aussageprotokollen oder die Vorführung von audiovisuell protokollierten Vernehmungen stattfindet.140 Die Grenzen zwischen der Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren, welche streng genommen nur der Vorbereitung der Hauptverhandlung sowie der Verdachtsklärung dient, und der eigentlichen Sachverhaltsaufklärung in der Hauptverhandlung würden immer mehr verwischt.141 bb)  Modifikationen in der Hauptverhandlung Neuere Überlegungen gehen dahin, Veränderungen im Rahmen der Hauptverhandlung selbst vorzunehmen. Im Jahre 2014 wurde ein „Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme“ (AE-Beweisaufnahme) veröffentlicht.142 Ausgangspunkt des Reformvorschlags war, dass es aufgrund einer immer stärker werdenden Berücksichtigung prozessökonomischer Gesichtspunkte als Antwort auf die zunehmende Verknappung von Justizressourcen zu einer „Diskrepanz zwischen dem Unmittelbarkeitsgrundsatz und der Verfahrensrealität“ gekommen sei. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz – vor allem in seiner materiellen Komponente – stand daher im Zentrum der Reformüberlegungen.143 Der Entwurf, welcher sich an den Überlegungen Fristers144 orientiert, will die „allgemeinen Regeln über den Umfang der Beweisaufnahme“ – namentlich die gerichtliche Aufklärungspflicht (§  244 Abs.  2 StPO) und das Beweis­ antragsrecht – wieder in den Vordergrund rücken.145 Nach §  250 Abs.  1 S.  1 AE kann 138 

Duttge, ZStW 115 (2003), 539 (566); siehe auch Lagodny, in: Alsberg-Tagung, S.  167 (175). Zu den verschiedenen Stellungnahmen siehe Stüber, Unmittelbarkeit, S.  300 ff. m. w. N. 140  Ignor/Matt, StV 2002, 102 (108); siehe auch Salditt, StV 2001, 311 (312); kritisch im Allgemeinen zur „de-facto Abschaffung der Hauptverhandlung“ Schünemann, ZStW 119 (2007), 945 (950 ff.). 141  Rieß, in: GS Schlüchter, S.  15 (23). 142  Gesetzestext zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 7 ff.; siehe hierzu Jahn, StV 2015, 778 ff.; Kröpil, JR 2015, 611 ff. Daneben gibt es auch noch weitere Überlegungen hinsichtlich einer Reformierung der Hauptverhandlung: Walther, JZ 2004, 1107 (1114) plädiert etwa für eine vorsichtige Erweiterung der §§  250 ff. StPO, um die Konkurrenz zwischen Unmittelbarkeits- und Inquisitionsgebot ins Gleichgewicht bringen zu können. Ferner wird die Einführung von pre-trial hearings erwägt, sodass alle Verfahrensbeteiligten nach der Anklageerhebung eine mögliche Reduzierung des Verfahrensstoffes erörtern können. Unstrittige Punkte wären dann nicht mehr Gegenstand der Beweisaufnahme; hierfür Weigend, StraFo 2013, 45 (53). 143  Einleitung zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 2 (3 ff.). Damit wird zugleich nichts anderes als die Frage nach der Zeitgemäßheit der §§  250 ff. StPO aufgeworfen; siehe Erb, in: FS Heintschel-Heinegg, S.  135 (143). 144  Frister, in: FS Fezer, S.  211 ff. 145  Begründung zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 13 (18). 139 

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die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen durch Einführung einer ­f rüheren Aussage oder sonstiger schriftlicher oder mündlicher Erklärungen ersetzt werden, soweit eine Vernehmung in der Hauptverhandlung nicht möglich oder zur Wahrheitserforschung nicht erforderlich ist. Der Staatsanwaltschaft sowie dem Angeklagten und seinem Verteidiger soll darüber hinaus zur Bestätigung oder zur Widerlegung einer Tatsache ein Beweisantragsrecht hinsichtlich der persönlichen Vernehmung des Zeugen oder Sachverständigen zustehen (§  250 Abs.  1 S.  2 AE). §  250 AE soll das Regelungssystem der §§  250 ff. StPO ersetzen und diese Vorschriften entbehrlich machen.146 Zusammenfassend sollen nach dem Entwurf für den Transfer eines Beweismittels in die Hauptverhandlung drei Kriterien maßgeblich sein: die Aufklärungspflicht des Gerichts, der Wille der Verfahrensbeteiligten sowie die Eignung des jeweiligen Beweismittels zur verlässlichen Wiedergabe des Gesagten.147 Der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ wird durch den Alternativ-Entwurf letztendlich nicht komplett aufgegeben, wohl aber findet eine Abkehr vom dem bisherigen Grundsatz statt, dass eine unmittelbar persönliche Vernehmung eines Zeugen Vorrang vor einer bloßen Reproduktion genießt.148 Der „Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme“ will somit insgesamt mehr Flexibilität bei der Auswahl der Beweismittel ermöglichen.149 cc)  Vorbehalte gegen eine Schwächung der Unmittelbarkeit Wenngleich der Unmittelbarkeitsgrundsatz stellenweise als „nicht mehr zeitgemäß“150 betrachtet wird, gibt es dennoch Stimmen, welche für seine Beibehaltung eintreten. Insbesondere Fischer hat vor einem übermäßigen Einsatz technischer Kommunikationsmöglichkeiten im Strafprozess zum Nachteil des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gewarnt. Schließlich bestünde teilweise schon die Möglichkeit einer Verurteilung des Angeklagten, ohne dass dieser einen Belastungszeugen jemals 146  Begründung zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 13 (23). Zu den dahinterstehenden dogmatischen Überlegungen siehe die Ausführungen bei Frister, in: Hauptverhandlung, S.  65 (73 ff.). 147  Begründung zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 13 (25). In eine ähnliche Richtung tendiert der Vorschlag einer vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beauftragten Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens. Danach soll der Transfer von Beweis­ ergebnissen aus dem Ermittlungsverfahren in die Hauptverhandlung insbesondere vom Einverständnis des Angeklagten abhängig gemacht werden; Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Bericht der Expertenkommission, S.  135 f.; siehe zu diesem Entwurf die Zusammenfassung bei Caspari, DRiZ 2015, 386 ff. 148  Einleitung zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 2 (5). 149  Begründung zum AE-Beweisaufnahme, GA 161 (2014), 13 (25); Jahn, StV 2015, 778 (782) [„flexibleres Modell“]; positiv hierzu Erb, in: FS Heintschel-Heinegg, S.  135 (144 ff.). Zur Flexibilität im Rahmen der Beweisaufnahme siehe auch den Vorschlag von Weigend, in: FS Eisenberg, S.  657 (669), wonach mit Hilfe eines „beweglichen Systems“ anhand der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§  244 Abs.  2 StPO) im Einzelfall der Umfang der Beweisaufnahme und die hierfür erforderlichen Beweismittel festgelegt werden könnten. 150  So jüngst Weigend, StraFo 2013, 45 (53).

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

persönlich zu Gesicht bekommen hat.151 Der Rückgriff auf Beweissurrogate müsse daher weiterhin die Ausnahme bleiben.152 Derartige Bedenken könnten sicherlich über eine Ausweitung der Verteidigungsrechte im Ermittlungsverfahren ausgeräumt werden. Die fortschreitende Verschmelzung von Ermittlungs- und Hauptverfahren wird hierdurch aber nicht eingedämmt. Daher wird für eine Verbesserung der Revisionsmöglichkeiten eingetreten, um hierdurch eine Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Hauptverhandlung ausgleichen zu können.153 Ausreichend hierfür sei auch nicht eine komplette Videoprotokollierung der Hauptverhandlung. Wenn in der Hauptverhandlung nur noch eine Verlesung früherer Aussagen oder das Abspielen einer Videoaufnahme stattfindet, weist ein Videoprotokoll gegenüber dem schriftlichen Sitzungsprotokoll schlichtweg keinerlei Vorteile auf.154

2.  Verwaltungsprozessordnung Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist im Verwaltungsprozess anerkannt. Terminologisch wie inhaltlich existiert ebenso wie in der StPO eine Unterscheidung zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit.155 Aufgrund von Verweisungen auf die ZPO ergeben sich schließlich Parallelen zum Zivilprozess. a)  Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme Anders als im Zivilprozess gilt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren der Untersuchungsgrundsatz. Das Gericht erforscht gemäß §  86 Abs.  1 VwGO den Sachverhalt von Amts wegen, da ein öffentliches Interesse an der Richtigkeit der Entscheidung besteht.156 Über §  173 S.  1 VwGO, welcher die Normen der ZPO subsidiär für entsprechend anwendbar erklärt, ist eine Anwendung von Vorschriften, welche Ausdruck des zivilprozessualen Beibringungsgrundsatzes sind, folglich ausgeschlossen.157 Die Beweiserhebung findet in der mündlichen Verhandlung statt, §  96 Abs.  1 S.  1 VwGO. Gängige Beweismittel sind nach §  96 Abs.  1 S.  2 VwGO Augenschein, Zeugen,158 Sachverständige, Beteiligte sowie Urkunden, wobei diese Aufzählung 151 

Fischer, JZ 1998, 816 (820); so auch Grünwald, in: FS Dünnebier, S.  347 (364). Fischer, JZ 1998, 816 (821). Für einen konsequenten Umgang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz ist ferner Beulke, in: Verfassungsrecht – Menschenrechte – Strafrecht, S.  1 (19); ähnlich Pollähne, StV 2015, 784 (790). 153  Widmaier, in: Alsberg-Tagung, S.  183 (190). 154  Widmaier, in: Alsberg-Tagung, S.  183 (190). 155  Allerdings ist diese nicht so stark ausgeprägt wie im zivil- und strafprozessualen Schrifttum; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  230 f. 156  Statt vieler Kopp/Schenke/Schenke, §  86 VwGO Rn.  1; siehe auch Nolte, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz, S.  144: „Der Untersuchungsgrundsatz gilt seit der Entstehung der Verwaltungsgerichtsbarkeit als prägendes vom Zivilprozess abweichendes Strukturprinzip des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes.“. 157  Posser/Wolff/Breunig, §  86 VwGO Rn.  3; Posser/Wolff/Wolff, §  173 VwGO Rn.  6. 158  Ausführlich zur Beachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes beim Zeugenbeweis Sodan/ Ziekow/Lang, §  96 VwGO Rn.  24 ff. 152 

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aufgrund des Wortlauts („insbesondere“) nicht abschließend ist.159 Soweit in der VwGO nichts Abweichendes geregelt ist, gelten für die Beweisaufnahme die §§  358–444, 450–494 ZPO entsprechend (§  98 VwGO). aa)  Formelle Unmittelbarkeit Die formelle Unmittelbarkeit erfordert die Durchführung der Beweisaufnahme durch das Gericht selbst, weshalb ein Dazwischentreten von Mittelspersonen grundsätzlich ausgeschlossen ist.160 Hierdurch soll den Richtern ein unmittelbarer Eindruck von der Beweisaufnahme ermöglicht werden, worauf sie ihre Entscheidung stützen können.161 Abgeleitet wird dies aus §  96 Abs.  1 S.  1 VwGO.162 Ausdruck der formellen Unmittelbarkeit ist auch §  112 VwGO,163 wonach das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, welche an der zugrunde liegenden Verhandlung teilgenommen haben. Damit ist jedoch nur der letzte Termin, auf welchen hin das Urteil ergeht, gemeint.164 Ein Richterwechsel in den vorherigen Verhandlungsterminen ist unbeachtlich, sodass es einer Wiederholung der mündlichen Verhandlung (§  104 Abs.  3 S.  2 VwGO) nur bedarf, wenn ein Richter, der am letzten Verhandlungstermin teilgenommen hat, bei der Urteilsfällung verhindert ist.165 Ob die Beweisaufnahme wiederholt werden muss, steht im freien Ermessen des Gerichts, wobei die Verlesung von Protokollen als zulässig erachtet wird, sofern die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage nicht in Frage steht.166 Eine Ausnahme von der formellen Unmittelbarkeit ergibt sich aus §  96 Abs.  2 VwGO, wenn „in geeigneten Fällen“ eine Beweisaufnahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter durchgeführt wird.167 Ferner besteht die Möglichkeit, dass der Vorsitzende oder der Berichterstatter in einem vorbereitenden Verfahren einzelne Beweise erheben können, §  87 Abs.  3 VwGO.168 159 

Sodan/Ziekow/Lang, §  96 VwGO Rn.  16. Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  13; Posser/Wolff/Garloff, §  96 VwGO Rn.  1; Böhm, NVwZ 1996, 427 (429); ebenso Nolte, Verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz, S.  181, welcher jedoch nicht zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit differenziert. 161  BVerwGE 140, 199 (203) = NVwZ-RR 2011, 986 (987); Eyermann/Geiger, §  96 VwGO Rn.  3. 162  BVerwGE 140, 199 (203) = NVwZ-RR 2011, 986 (987); Posser/Wolff/Garloff, §  96 VwGO Rn.  1; Kopp/Schenke/Schenke, §  96 VwGO Rn.  1; Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  12 f.; Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  18; zustimmend Krüger, Unmittelbarkeit, S.  237 f. 163  Kopp/Schenke/Schenke, §  112 VwGO Rn.  1. 164  BVerwG NJW 1986, 3154 (3155); Kopp/Schenke/Schenke, §  112 VwGO Rn.  2. 165  Posser/Wolff/Lindner, §  112 VwGO Rn.  5 f.; ausführlich hierzu Schoch/Schneider/Bier/ Rudisile, §  96 VwGO Rn.  36 ff. 166  Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  38; Sodan/Ziekow/Lang, §  96 VwGO Rn.  6. Bei anderen Beweismitteln wie z. B. Sachverständigengutachten, bei denen ein persönlicher Eindruck kaum eine Rolle spielt, stellt sich die Problematik dagegen überhaupt nicht; Kopp/Schenke/Schenke, §  96 VwGO Rn.  10. 167  Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  24 ff.; Vierhaus, Beweisrecht, Rn.  301 („Durchbrechung“). 168  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  236 („Ausnahme vom Prinzip der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“). 160 

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

bb)  Materielle Unmittelbarkeit Umstritten ist die Frage, ob sich §  96 Abs.  1 VwGO ein Gebot der materiellen Unmittelbarkeit entnehmen lässt. Teilweise wird dies unter Hinweis auf den Wortlaut der Norm verneint.169 Zudem wird darauf hingewiesen, dass weder die ZPO noch die VwGO den §§  250 ff. StPO vergleichbare Vorschriften enthalten.170 Jüngst hatte allerdings das BVerwG entschieden, dass sich dem Sinn der Vorschrift des §  96 Abs.  1 VwGO „auch Maßstäbe für die Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden Beweismitteln entnehmen“ ließe. Ein genereller Vorzug von sachnäheren Beweismitteln werde hierdurch aber nicht postuliert, sondern die Entscheidung für die Verwendung eines unmittelbaren anstelle eines mittelbaren Beweismittels müsse im Einzelfall gefällt werden. §  96 Abs.  1 VwGO könne daher zu einer Einschränkung des gerichtlichen Ermessens bei der Wahl zwischen unterschiedlichen Beweismitteln führen.171 Im Einzelfall kann sich nach wohl überwiegender Ansicht eine Pflicht zur Erhebung eines unmittelbaren Beweises nur aus dem Untersuchungsgrundsatz (§  86 Abs.  1 VwGO) ergeben.172 Bei Verwendung mittelbarer Beweismittel soll ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz dann vorliegen, wenn unmittelbare Beweise verfügbar sind und deren Erhebung dem Gericht zugemutet werden kann.173 Andere sehen den gesetzlichen Anknüpfungspunkt der materiellen Unmittelbarkeit dagegen in der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  108 Abs.  1 VwGO).174 Einig ist man sich jedenfalls darüber, dass die Verwendung mittelbarer Beweismittel im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen ist.175 Die Behauptung, dass 169  Ausführlich hierzu Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  20; siehe auch OVG Münster, Urt. v. 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07, Rn.  79 ff. (abrufbar unter openJur). 170  Böhm, NVwZ 1996, 427 (431); Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  14. Auch eine analoge Heranziehung der §§  250 ff. StPO soll nicht möglich sein; siehe hierzu OVG Münster, Urt. v. 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07, Rn.  85 (abrufbar unter openJur); Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  21 m. w. N. 171  BVerwGE 140, 199 (203) = NVwZ-RR 2011, 986 (987 f.); a. A. OVG Münster, Urt. v. 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07, Rn.  97 (abrufbar unter openJur). 172  OVG Münster, Urt. v. 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07, Rn.  93 (abrufbar unter openJur); Posser/ Wolff/Garloff, §  96 VwGO Rn.  2; Vierhaus, Beweisrecht, Rn.  68; a. A. Böhm, NVwZ 1996, 427 (431), wonach selbst der Untersuchungsgrundsatz nicht zur Heranziehung des bestmöglichen Beweises verpflichte, sondern nur zur Erforschung des Sachverhalts, bis der Grad richterlicher Überzeugungsbildung (§  108 Abs.  1 VwGO) erreicht ist. 173  Kopp/Schenke/Schenke, §  96 VwGO Rn.  3 f. Siehe hierzu aus der Rechtsprechung unter anderem BSG NJW 1990, 1558; BVerwGE 140, 199 (205 f.) = NVwZ-RR 2011, 986 (988); a. A. Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  22, da dies zu einer „gespaltenen“ materiellen Unmittelbarkeit führen würde. 174  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  245 ff. 175  OVG Münster, Urt. v. 23. Juli 2009 – 1 A 2084/07, Rn.  93 (abrufbar unter openJur); zustimmend BVerwGE 140, 199 (206) = NVwZ-RR 2011, 986 (988); Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  15; Posser/Wolff/Garloff, §  96 VwGO Rn.  2; Sodan/Ziekow/Lang, §  96 VwGO Rn.  4; Vierhaus, Beweisrecht, Rn.  68; siehe auch Böhm, NVwZ 1996, 427 (431), welcher von einem „Regulativ“ spricht; ähnlich Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  23 („Korrektiv“).

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die VwGO generell keine materielle Unmittelbarkeit kenne,176 ist daher in dieser Absolutheit nicht zutreffend. Eine materielle Unmittelbarkeit ist im Verwaltungsprozess zumindest eingeschränkt verwirklicht.177 cc)  Zeitliche Unmittelbarkeit Darüber hinaus wird stellenweise über eine zeitliche Unmittelbarkeit diskutiert. Hierunter versteht man, dass die Beweisaufnahme und die Entscheidung zeitlich möglichst schnell aufeinander folgen sollen.178 Ein solcher Grundsatz soll im Verwaltungsprozess allerdings nicht gelten.179 b)  Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Wird gegen §  96 VwGO – und damit gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz – verstoßen, führt dies zum einen dazu, dass die bisherigen Beweise nicht verwertet werden dürfen und die Beweisaufnahme wiederholt werden muss, zum anderen dazu, dass gegen die Entscheidung Rechtsmittel eingelegt werden können.180 Allerdings können die Parteien über die Einhaltung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme dis­ ponieren, indem sie den Verfahrensfehler nicht gemäß §  173 VwGO i. V. m. §  295 ZPO in der nächsten mündlichen Verhandlung rügen.181 Die Anwendbarkeit von §  295 ZPO ist für den Verwaltungsprozess – trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes182 – mittlerweile anerkannt.183 Die entscheidende Frage, ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine verzichtbare Vorschrift im Sinne von §  295 Abs.  2 ZPO

176  Dies soll nach Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (140 f.) die herrschende Meinung sein und sich dadurch ergeben, dass im Zivilprozess eine materielle Unmittelbarkeit nicht anerkannt wird und aufgrund der Verweisungsnorm des §  98 VwGO für den Verwaltungsprozess nichts anderes gelten könne. Bachmann verweist dabei auf Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  20. Dort wird aber die Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit nicht ausdrücklich abgelehnt, sondern vielmehr nur gesagt, dass sich ein solches Gebot nicht aus §  96 Abs.  1 VwGO ableiten lasse. 177  Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  14; Sodan/Ziekow/Lang, §  96 VwGO Rn.  22; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  248; a. A. wohl Eyermann/Geiger, §  96 VwGO Rn.  3. 178  Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  24. 179  Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  24; Gärditz/Kreuter-Kirchhof, §  96 VwGO Rn.  15; zweifelnd Krüger, Unmittelbarkeit, S.  239 (Fn.  220) unter Hinweis auf §§  116, 117 Abs.  4 VwGO. 180  Statt vieler Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  53, 57; a. A. Sodan/Ziekow/ Lang, §  96 VwGO Rn.  23, wonach bei einem Verstoß gegen die materielle Unmittelbarkeit aufgrund deren eingeschränkter Geltung ein Verfahrensverstoß eher nicht vorliegen wird. 181  Posser/Wolff/Garloff, §  96 VwGO Rn.  16; Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  54 ff.; Vierhaus, Beweisrecht, Rn.  305. 182  Dieser beinhaltet nämlich nur eine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts, nicht aber zur Einhaltung gerichtlicher Verfahrensvorschriften; Kohlndorfer, DVBl. 1988, 474 (475). 183  BVerwGE 8, 149 (150 f.) = NJW 1959, 1099 (1100); BVerwGE 107, 128 (132); BVerwG NJW 1998, 3369; Kopp/Schenke/Schenke, §  124 VwGO Rn.  13; Posser/Wolff/Roth, §  124 VwGO Rn.  84; Eyermann/Happ, §  124 VwGO Rn.  48. Grundlegend zur Anwendbarkeit von §  295 ZPO Kohlndorfer, DVBl. 1988, 474 ff.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

darstellt, wird von der Rechtsprechung bejaht.184 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist insofern lediglich „ein zur Disposition der Beteiligten stehendes Schutzrecht“185. c)  Videokonferenzen im Verwaltungsprozess (§  102a VwGO) Eine Regelung zur Durchführung einer Videokonferenz gab es in der VwGO bis vor Kurzem nicht.186 Erst im Jahre 2013 wurde mit §  102a VwGO eine eigene Vorschrift hierfür geschaffen.187 Zuvor konnten Videokonferenzen im Verwaltungsprozess nur entsprechend §  173 VwGO i. V. m. §  128a ZPO durchgeführt werden.188 Nach §  102a Abs.  1 VwGO kann nunmehr das Gericht den Beteiligten, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. §  102a VwGO entspricht inhaltlich der zivilprozessualen Regelung zur Videokonferenz in §  128a ZPO.189 Die Frage, ob durch §  102a VwGO der Unmittelbarkeitsgrundsatz tangiert ist, soll daher an dieser Stelle nicht gesondert erörtert werden. Vielmehr werden die Argumente und Ansichten aus der verwaltungsprozessualen Literatur erst im Rahmen von §  128a ZPO aufgegriffen.190

II.  Ausländische Verfahrensordnungen Als ausländische Vergleichsmaßstäbe bieten sich die Zivilprozessordnungen Österreichs und Englands an. Während im österreichischen Recht die Geltung eines Unmittelbarkeitsgrundsatzes anerkannt ist, findet sich in England in der neueren Literatur seit der Reformierung des Zivilverfahrensrechts keine explizite Nennung eines

184 

BVerwG NJW 1961, 379 (380); BVerwGE 41, 174 (176 ff.). Schoch/Schneider/Bier/Rudisile, §  96 VwGO Rn.  54. 186  Lediglich für finanzgerichtliche Verfahren war diese Möglichkeit in §  91a FGO – sowie dem mittlerweile wieder aufgehobenen §  93a FGO – gesetzlich normiert; eingeführt durch das Zweite Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (2. FGOÄndG) vom 19. No­ vember 2000, BGBl. I, S.  1757. 187  Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25. April 2013, BGBl. I, S.  935. Zudem wurde mit §  110a SGG auch für das sozialgerichtliche Verfahren eine eigenständige Regelung zur Videokonferenz geschaffen; siehe hierzu Leopold, NZS 2013, 847 ff. 188  BT-Drucks. 17/1224, S.  1, 10. 189  BT-Drucks. 17/1224, S.  11. 190  Siehe hierzu später unter §  6 I. 2. a) bb). 185 

II.  Ausländische Verfahrensordnungen

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solchen Grundsatzes. Lediglich im älteren191 sowie strafprozessualen192 Schrifttum wird von einem principle of immediacy gesprochen.

1.  Österreich Die österreichische Zivilprozessordnung193 (im Folgenden: öZPO) wurde in ihrer Entstehung194 von den Entwicklungen des deutschen Prozessrechts beeinflusst, da ihr Schöpfer Franz Klein die positiven wie negativen Erfahrungen der ZPO bei der Schaffung seines Gesetzeswerks berücksichtigte.195 Im Gegensatz zum liberalen Gedankengut, welches der ZPO in Deutschland zugrunde lag,196 betrachtete Klein den Zivilprozess als staatliche „Wohlfahrtseinrichtung“197 und gilt daher als Begründer des „sozialen Zivilprozesses“.198 In der öZPO nimmt der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine wichtige Rolle ein.199 Für Klein war „die erste und wesentlichste Frage jedes Prozesses, ob er mittelbar oder unmittelbar ist.“200 Für die Unmittelbarkeit sprach nach Ansicht Kleins insbesondere, dass jene am besten die menschlichen Gepflogenheiten im Alltag widerspiegelt.201 Ferner diene der „unmittelbare prozessuale Kontakt zwischen Richter, ­Parteien und Beweismitteln“ – bildlich als das „Auge-im-Auge der wahren Unmittelbarkeit“ bezeichnet – der Sachverhaltsaufklärung und damit der Wahrheitsförde­ rung.202 Die angestrebte Wahrheitsermittlung zeigt sich an der Geltung eines „ab­ geschwächten Untersuchungsgrundsatzes“203, welcher insbesondere anhand der 191  Jacob, Fabric, S.  20; Millar, Formative Principles, S.  59; auf letzteren Autor ebenfalls hinweisend Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (436); siehe auch Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  27. 192  Jüngst Vogler, ZStW 126 (2014), 239. 193  Siehe hierzu die Darstellung bei Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  133 ff. 194  Siehe hierzu Sprung, ZZP 90 (1977), 380 (385 ff.). 195  Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  35; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  3; siehe auch Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  139 f. 196  Siehe hierzu später unter §  4 III. Zur Gegenüberstellung des liberalen Prozessmodells mit dem sozialen Prozessmodell siehe Brehm, Bindung des Richters, S.  9 ff. 197  Klein, Zivilprozeß, S.  191. 198  Zur Idee des „sozialen Zivilprozesses“ siehe Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  52 ff.; Sprung, ZZP 90 (1977), 380 (391 ff.); Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (94 ff.). 199  Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  139. Die Allgemeine Gerichtsordnung vom 1. Mai 1781 (öAGO) – ein Vorläufer der öZPO – war dagegen noch von Schriftlichkeit und Mittelbarkeit geprägt; Sprung, ZZP 90 (1977), 380 (387). 200  Klein, Zivilprozeß, S.  207. 201  Klein, Zivilprozeß, S.  207: „Die Unmittelbarkeit des Prozesses ist […] die Art, wie die Menschen im Leben, in gewöhnlichen Dingen sich erkundigen, forschen, die Wahrheit suchen, zu einem Urteil gelangen. Sie ist dem modernen Geiste das Natürliche. Sie hat alle Vorteile, um derentwillen im Verkehr, soweit es angeht, das mündliche Aussprechen und Verhandeln den Briefen und der schriftlichen Auseinandersetzung vorgezogen wird.“. 202  Klein, Zivilprozeß, S.  208; siehe auch Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht, Rn.  84. 203  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  403 ff.; Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  69 spricht dagegen von einem „Verhandlungsgrundsatz mit Elementen des Untersuchungsgrundsatzes“.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

Wahrheitspflicht der Parteien (§  178 Abs.  1 öZPO) sowie den richterlichen Pflichten in Bezug auf die Feststellung des Sachverhalts (§  182 Abs.  1 öZPO) zum Ausdruck kommt.204 Die Wahrheitsermittlung ist damit ein erklärtes Ziel der öZPO.205 a)  Gesetzliche Verankerung und Reichweite Die öZPO kennt diverse Formen der Unmittelbarkeit, wobei geläufig zwischen persönlicher, sachlicher und zeitlicher Unmittelbarkeit differenziert wird. Generell gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz sowohl für die Verhandlung als auch für die Beweis­ aufnahme.206 aa)  Persönliche Unmittelbarkeit Die persönliche Unmittelbarkeit kommt in §  412 öZPO zum Ausdruck.207 Nach §  412 Abs.  1 öZPO können nur diejenigen Richter das Urteil fällen, welche an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Verteilt sich die mündliche Verhandlung – zu welcher auch die Beweisaufnahme zählt208 – auf mehrere Termine, müssen die Richter wegen des Grundsatzes der Einheit der mündlichen Verhandlung an sämtlichen Terminen teilgenommen haben.209 Ein Richterwechsel führt zur Neudurchführung der mündlichen Verhandlung, wobei die zu den Akten gebrachten Beweise sowie das Verhandlungsprotokoll verwendet werden können (§  412 Abs.  2 öZPO). Darin wird eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gesehen, da zudem bereits aufgenommene Beweise in analoger Anwendung von §  281a öZPO regelmäßig nur verlesen werden müssen.210 Wegen der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes kann der Richter abweichend von §  412 Abs.  2 öZPO eine erneute Beweisaufnahme durchführen, sofern er dies als erforderlich ansieht.211 Das Gesetz geht folglich einen Kompromiss ein: Der neu hinzukommende Richter soll sich einerseits persönlich ein Bild von der Sach- und Rechtslage verschaffen können, andererseits sollen die bisherigen Prozessergebnisse weiterhin Bestand haben.212

204 

Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  404. Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (95). 206  Klein, Zivilprozeß, S.  208. 207  Huber, Unmittelbarkeit, S.  11; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  414; Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  165, wonach §  412 öZPO die „elementare Bedeutung“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes unterstreiche. 208  Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (33); Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  734. 209  Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  673; siehe auch Rechberger/Rechberger, §  412 öZPO Rn.  1. 210  Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  673; Huber, Unmittelbarkeit, S.  12; siehe auch Kralik, ÖJZ 1954, 157 (160); a. A. Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (34), wonach es sich nicht um eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes handle, sondern um „dessen schlichte Anwendung auf den Spezialfall des Richterwechsels“; zustimmend Rechberger/Rechberger, §  412 öZPO Rn.  3. 211  Huber, Unmittelbarkeit, S.  11 f. 212  Rechberger/Rechberger, §  412 öZPO Rn.  3. 205 

II.  Ausländische Verfahrensordnungen

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bb)  Sachliche Unmittelbarkeit Für die Beweisaufnahme ist die sachliche Unmittelbarkeit von Bedeutung.213 Nach §  276 Abs.  1 öZPO erfolgt die Beweisaufnahme im Laufe der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht.214 Dadurch, dass die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht stattfindet, können die Richter die Beweismittel selbst sinnlich wahrnehmen, wodurch eine freie richterliche Beweiswürdigung erst ermöglicht werden kann.215 Zur Erreichung einer möglichst hohen Eigenwahrnehmung durch das Gericht spielt bei der Beweisaufnahme die Sachnähe eines Beweismittels zum jeweiligen Beweisthema eine wichtige Rolle.216 Stehen mehrere Beweismittel zur Verfügung, muss der Richter die originären Beweismittel auswählen.217 Eine mittelbare Beweisführung wird hierdurch nicht generell ausgeschlossen, jedoch hat die Erhebung unmittelbarer Beweise – als Ausdruck der gerichtlichen Pflicht zur Ermittlung der Wahrheit – immer dann Vorrang, wenn solche verfügbar sind.218 Als Teil der sachlichen Unmittelbarkeit kennt die öZPO somit eine materielle Unmittelbarkeit.219 Der Grundsatz des §  276 Abs.  1 öZPO wird durch den Konzentrationsgrundsatz und die Prozessökonomie überlagert,220 weshalb die Beweisaufnahme einem beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden kann, §§  276 Abs.  2, 282 ff. öZPO. Daher finden sich für alle Beweismittel entsprechende Ausnahmeregelungen.221 Am detailliertesten ist die Beweisaufnahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter beim Zeugenbeweis geregelt. Nach §  328 Abs.  1 öZPO ist eine Delegierung möglich, wenn eine Zeugenvernehmung an Ort und Stelle wahrheitsförderlich erscheint (Nr.  1), die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht „erheb­ lichen Schwierigkeiten unterliegen würde“ (Nr.  2), die Vernehmung des Zeugen vor dem erkennenden Gericht einen unverhältnismäßigen Zeit- und Kostenaufwand 213  So terminologisch Huber, Unmittelbarkeit, S.  9, 12; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  413, 785. Die Bedeutung dieses Grundsatzes zeigt sich ferner anhand der §§  33, 36 Abs.  3 JN, wonach ein Richter unter gewissen Voraussetzungen Amtshandlungen auch außerhalb seines Sprengels vornehmen darf, wenn dadurch die Unmittelbarkeit gewahrt wird; siehe Rechberger/ McGuire, ZZPInt 10 (2005), 81 (89). 214  Die Parteien sind hierbei einzubeziehen, ihnen steht insbesondere ein Fragerecht zu (§  289 öZPO); Huber, Unmittelbarkeit, S.  13 sieht darin eine „Ergänzung“ der sachlichen Unmittelbarkeit. 215  Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  912. 216  Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (28). 217  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  787; ebenso Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  912, welcher von den „beweiskräftigsten“ bzw. den „möglichst tatsachennahen“ Beweismitteln spricht; siehe auch Mohr, ÖJZ 1985, 524 (525); Roth/Holzhammer/Holly, Zivilprozessrecht, S.  36. 218  Huber, Unmittelbarkeit, S.  20; Mohr, ÖJZ 1985, 524 (525); Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  787. 219  So terminologisch Huber, Unmittelbarkeit, S.  20; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  786 f.; Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (28); Rechberger/Rechberger, vor §  266 öZPO Rn.  30. 220  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  413. 221  §  300 öZPO (Urkundenbeweis), §  328 öZPO (Zeugenbeweis), §  352 Abs.  1 öZPO (Sachverständigenbeweis), §  368 Abs.  2 öZPO (Augenscheinsbeweis) und §  375 Abs.  2 öZPO (Parteivernehmung).

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

verursachen würde (Nr.  3) oder wenn der Zeuge am Erscheinen gehindert ist (Nr.  4). Der Wortlaut der Vorschrift („erhebliche Schwierigkeiten“; „unverhältnismäßig großer Aufwand“) zeigt einerseits, dass eine Rechtshilfe grundsätzlich die Ausnahme sein soll,222 andererseits die Vorschriften einer weiten Auslegung zugänglich sind.223 §  328 Abs.  4 öZPO eröffnet zudem einer Partei abweichend von §  328 Abs.  1 Nr.  3 öZPO die Möglichkeit, dass die Zeugenvernehmung vor dem erkennenden Gericht stattfindet, sofern sie die hierdurch entstehenden Kosten übernimmt. Insgesamt aber ist – abgesehen von §  328 Abs.  1 Nr.  1 öZPO, welcher eine Delegierung „im Interesse der Stoffsammlung“224 ermöglicht – ein persönlicher Eindruck von dem Zeugen aus Gründen der Prozessökonomie entbehrlich.225 Eine weitere wichtige Ausnahme von der sachlichen Unmittelbarkeit stellt §  281a öZPO dar, welcher durch die Zivilverfahrens-Novelle von 1983 eingeführt wurde.226 Wurden Beweise in einem gerichtlichen Verfahren bereits aufgenommen, kann anstelle einer erneuten Beweisaufnahme das Protokoll hierüber oder ein schriftliches Sachverständigengutachten verwendet werden. Dies setzt voraus, dass beide Parteien Beteiligte des früheren Verfahrens waren (§  281a Nr.  1 öZPO) und entweder keine der Parteien das Gegenteil beantragt oder das Beweismittel nicht mehr zur Verfügung steht. Schließlich ist dies bei zuvor nicht beteiligten Parteien auch dann möglich, wenn beide Parteien der Verwendung des Protokolls oder des Sachverständigengutachtens ausdrücklich zustimmen (§  281a Nr.  2 öZPO).227 §  281a öZPO dient der Prozessökonomie und führt zur Beschleunigung und Kostenreduzierung des Verfahrens.228 Trotz dieser Vorteile werden diese Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz im Schrifttum kritisch betrachtet.229 Bei der Anwendung von §  281a öZPO muss die materielle Unmittelbarkeit allerdings dergestalt berücksichtigt werden, dass eine Verlesung des Protokolls oder eines Sachverständigengutachtens in den Fällen unzulässig ist, in denen einer unmittelbaren Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht ein höherer Beweiswert zukäme.230 222 

Rechberger/McGuire, ZZPInt 10 (2005), 81 (90 f.). Kritisch hierzu Roth/Holzhammer/Holly, Zivilprozessrecht, S.  36. 224  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  785. Die Nachteile einer mittelbaren Beweisaufnahme werden insofern durch die Vorteile einer Vernehmung an Ort und Stelle kompensiert; Kralik, ÖJZ 1954, 157 (159). 225  Mohr, ÖJZ 1985, 524 (525); ähnlich Rechberger/McGuire, ZZPInt 10 (2005), 81 (90). 226  Bundesgesetz vom 2. Feber 1983, mit dem Vorschriften über das zivilgerichtliche Verfahren geändert werden (Zivilverfahrens-Novelle 1983), BGBl. Nr.  135/1983, S.  673; siehe hierzu Ballon, DRiZ 1984, 301 ff. 227  Siehe hierzu Fasching, in: Verfahrensgrundsätze, S.  53 (60), welcher die Einführung einer solchen Vorschrift gefordert hatte. 228  Huber, Unmittelbarkeit, S.  18; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  913. 229  Sprung, JBl. 1981, 337 (346) spricht von einem „Bruch der Unmittelbarkeit“; kritisch auch Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  413; Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht, Rn.  85; positiv da­ gegen Ballon, ZZP 96 (1983), 409 (479); ders., DRiZ 1984, 301 (303); Fasching, JBl. 1982, 120 (124 f.). 230  Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (52); Rechberger/Rechberger, §  281a öZPO Rn.  5; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  786. Allgemein zu den Nachteilen von Protokollen einer früheren Beweisaufnahme Kralik, ÖJZ 1954, 157 (159). 223 

II.  Ausländische Verfahrensordnungen

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cc)  Zeitliche Unmittelbarkeit Das Urteil muss – sofern möglich – sogleich nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung gefällt und verkündet werden (§  414 Abs.  1 S.  1 öZPO). Die Zeit bis zur Abgabe der schriftlichen Ausfertigung des Urteils beträgt vier Wochen (§§  414 Abs.  3, 415 öZPO). Dieser dritte und letzte Aspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wird als zeitliche Unmittelbarkeit bezeichnet.231 Sinn und Zweck dieser Bestimmungen ist es, dass das Urteil unter dem noch frischen Eindruck der mündlichen Verhandlung gefällt wird.232 Schließlich werden zur zeitlichen Unmittelbarkeit auch die Möglichkeiten der Beweissicherung (§§  183 Abs.  3, 384 Abs.  1 öZPO) gezählt, da sich die Beweisaufnahme in zeitlicher Hinsicht möglichst schnell an das zu beweisende Geschehen anschließen soll.233 dd)  Verfassungsrechtliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes? Art.  90 Abs.  1 S.  1 B-VG garantiert die Mündlichkeit und die Öffentlichkeit des Zivil- und Strafverfahrens: „Die Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor dem erkennenden Gericht sind mündlich und öffentlich.“234 Die Unmittelbarkeit wird in der österreichischen Verfassung dagegen nicht explizit angesprochen. Dennoch wird die Auffassung vertreten, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz in Österreich Verfassungsrang besitze. Begründet wird dies zum einen mit einer teleologischen Interpretation von Art.  90 Abs.  1 B-VG235 und zum anderen mit einem Hinweis auf Art.  6 Abs.  1 EMRK,236 welcher das Recht auf ein faires Verfahren ( fair trial) gewährleistet. Der Wortlaut von Art.  6 Abs.  1 S.  1 EMRK („in angemessener Frist“) könne als Hinweis auf die zeitliche Unmittelbarkeit verstanden werden.237 Stellenweise findet sich in der österreichischen Literatur eine Einteilung der Verfahrensgrundsätze in solche der „Arbeitsgemeinschaft Zivilprozess“ und solche des „fair trial“.238 Wenn man nun den Unmittelbarkeitsgrundsatz als Bestandteil des fair trial interpretiert und bedenkt, dass die EMRK in Österreich auf derselben Ebene 231 

Huber, Unmittelbarkeit, S.  10, 21. Huber, Unmittelbarkeit, S.  21; Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht, Rn.  87 sprechen von „Kontinuität der Stoffsammlung“ und von „zeitnahe[r] Verwertung des gesammelten Prozessstoffes“. 233  Huber, Unmittelbarkeit, S.  21 f. Zur Beweissicherung nach §§  384 ff. öZPO siehe Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  823; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  922 f. 234  Siehe hierzu Ballon, ZZP 96 (1983), 409 (470 f.). 235  Walter, Verfassung und Gerichtsbarkeit, S.  177 mit Verweis auf Klein, Zivilprozeß, S.  220: „Das notwendige Seitenstück der Unmittelbarkeit ist die Mündlichkeit des Verfahrens.“; ferner Huber, Unmittelbarkeit, S.  4 f., 73, welche ihre Ansicht allerdings nicht begründet. Betrachtet man Art.  90 Abs.  1 B-VG genauer, könnte man möglicherweise der Formulierung „vor dem erkennenden Gericht“ entnehmen, dass zwischen den Beteiligten eines Gerichtsverfahrens ein direkter (und damit unmittelbarer) Kontakt entstehen soll. 236  Huber, Unmittelbarkeit, S.  4 f., 72 f. Zur Bedeutung der EMRK für den Zivilprozess siehe Matscher, in: FS Henckel, S.  593 ff. 237  Huber, Unmittelbarkeit, S.  72 f. 238  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  399 ff., 408 ff. Zur Zuordnung der Verfahrensgrundsätze in verschiedene Gruppen siehe auch Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  636. 232 

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

wie die Bundesverfassung steht,239 so ist die Annahme einer – wenn auch nur mittelbaren 240 – verfassungsrechtlichen Verankerung der Unmittelbarkeit konsequent. b)  Folgen von Verstößen gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz Wird gegen die persönliche Unmittelbarkeit (§  412 öZPO) verstoßen, liegt ein Nichtigkeitsgrund im Sinne von §  477 Abs.  1 Nr.  2 öZPO vor, da das erkennende Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt war.241 Sonstige Verletzungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes führen nach herrschender Meinung zu einem wesentlichen Verfahrensmangel gemäß §  496 Abs.  1 Nr.  2 öZPO.242 In diesem Fall wird der Rechtsstreit – vorbehaltlich Abs.  3 – an die Ausgangsinstanz zurückverwiesen und dort der jeweilige Verfahrensmangel beseitigt, §  496 Abs.  2 öZPO. Hierzu zählt auch ein Verstoß gegen die materielle Unmittelbarkeit, also die Nichtberücksichtigung der Sachnähe eines Beweismittels im Rahmen der Beweisaufnahme.243 Umstritten ist allerdings, ob eine Geltendmachung einer (möglichen) Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht nach §  196 Abs.  1 öZPO gerügt werden muss, da andernfalls der Mangel nicht mehr mit einem Rechtsmittel angegriffen werden kann. Dies gilt allerdings nur bei Verletzung einer verzichtbaren Vorschrift, §  196 Abs.  2 öZPO. Entscheidend ist somit, ob die Parteien über die Einhaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dis­ ponieren können. Ein Teil der Literatur verneint eine Dispositionsbefugnis der Parteien. Begründet wird dies im Wesentlichen mit einem Hinweis auf das Ziel der Wahrheitsermittlung.244 Andere hingegen sehen eine Kollision von §  196 öZPO mit §  496 Abs.  1 Nr.  2 öZPO, da es für letztere Vorschrift nur darauf ankommt, dass der Verfahrensfehler eine erschöpfende und gründliche Beurteilung der Streitsache verhindert hatte. §  196 öZPO sei deshalb obsolet.245 Nach Ansicht der Rechtsprechung könne dagegen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz verzichtet werden, sofern der

239  Huber, Unmittelbarkeit, S.  73. In Deutschland wurde die EMRK dagegen nur als einfaches Bundesrecht in die deutsche Rechtsordnung inkorporiert; BVerfGE 74, 358 (370) = NJW 1987, 2427; BVerfGE 82, 106 (114) = NJW 1990, 2741; Ipsen, Staatsrecht II, Rn.  47. 240  Walter, Verfassung und Gerichtsbarkeit, S.  180. 241  Klein, Zivilprozeß, S.  209; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  674; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  415; Rechberger/Fucik, vor §  171 öZPO Rn.  6. Zur Anwendbarkeit von §  260 Abs.  4 öZPO auf die Nichtigkeitsregelung siehe Huber, Unmittelbarkeit, S.  23. Unter Umständen kann sich bei Verletzung der Unmittelbarkeit auch eine Nichtigkeit nach §  477 Abs.  1 Nr.  4 öZPO wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs ergeben; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  415. 242  Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  676; Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  415; Huber, Unmittelbarkeit, S.  23 f.; Rechberger/Fucik, vor §  171 öZPO Rn.  6. 243  Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (29). 244  Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (32); ebenso gegen eine Dispositionsbefugnis der Parteien Klein, Zivilprozeß, S.  209; Rechberger/Rechberger, vor §  266 öZPO Rn.  30; Huber, Unmittelbarkeit, S.  31. 245  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  747 m. w. N.; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  797 plädiert daher für eine Streichung der Rügepflicht.

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Verzicht ausdrücklich erklärt wird.246 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz falle demnach unter §  196 Abs.  2 öZPO. c)  Aktuelle Tendenzen und Entwicklungen In der Literatur werden auf der einen Seite immer mehr Tendenzen zur Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch Gesetzgebung oder Literatur zugunsten von Zeit- und Kostensenkung ausgemacht.247 Kritisiert wird besonders die Einführung von §  281a öZPO und seine Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz.248 Neben dem erstinstanzlichen Verfahren zeige sich diese Tendenz auch im Berufungsverfahren anhand von §  488 Abs.  4 öZPO, wonach eine erneute Beweisaufnahme durch eine Protokollverlesung ersetzt werden kann.249 Auf der anderen Seite sollte mit der Einführung der audiovisuellen Vernehmung nach §  277 öZPO der Unmittelbarkeitsgrundsatz wieder gestärkt werden. Danach hat das Gericht nach Maßgabe der technischen Möglichkeiten anstelle einer Einvernahme durch einen ersuchten Richter eine unmittelbare Beweisaufnahme unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung durchzuführen, es sei denn, die Einvernahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter wäre unter Berücksichtigung der Verfahrensökonomie zweckmäßiger oder aus besonderen Gründen erforderlich. Auffällig an dieser durch die Zivilverfahrens-Novelle von 2009250 eingeführten Neuregelung sind zweierlei Aspekte: Zum einen ist das Gericht verpflichtet („hat“) eine audiovisuelle Vernehmung durchzuführen, sofern eine Beweisaufnahme im Rechtshilfeverfahren nicht ausnahmsweise vorzugswürdig ist.251 Zum anderen spricht der Gesetzeswortlaut von einer „unmittelbare[n] Beweisaufnahme“ und sieht die Durchführung einer audiovisuellen Ver246  OGH JBl. 1971, 96. Die Rechtsprechung folgt damit der Ansicht von Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  676, welcher argumentiert, dass im Gesetz selbst Dispositionsmöglichkeiten der Parteien hinsichtlich der Unmittelbarkeit vorgesehen seien. Schließlich kann man eine Disposition auch darin sehen, dass eine Partei bereits auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet; Huber, Unmittelbarkeit, S.  25. 247  Huber, Unmittelbarkeit, S.  97 f. 248  Deutlich Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  413: „Die Maximen der Arbeitsersparnis und der Kostensenkung scheinen damit einem der zentralen Prozessideale Franz Kleins den Rang abgelaufen zu haben.“; ebenso Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht, Rn.  85. 249  Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  413; Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht, Rn.  85. 250  Bundesgesetz, mit dem die Jurisdiktionsnorm, das Einführungsgesetz zur Zivilprozessordnung, die Zivilprozessordnung, das Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, das Außerstreitgesetz, die Exekutionsordnung, die Konkursordnung, das Gerichtsorganisationsgesetz, das Rechtspfleger­ gesetz, das Gebührenanspruchsgesetz, das Sachverständigen- und Dolmetschergesetz, das Gerichtsgebührengesetz und das Mietrechtsgesetz geändert werden (Zivilverfahrens-Novelle 2009), BGBl. I Nr.  30/2009. 251  Insofern wird erwartet, dass die audiovisuelle Vernehmung zukünftig keine Alternative mehr zur Beweisaufnahme vor einem beauftragten oder ersuchten Richter darstellen wird, sondern sich vielmehr zu einer primären Art und Weise der Beweisaufnahme entwickeln wird; Fucik/ Klauser/Kloiber/Fucik, §  277 öZPO.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

nehmung folglich nicht als Ausnahme oder Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes an.252

2.  England In England sind ausgehend von den sog. Woolf-Reforms zum 26. April 1999 die Civil Procedure Rules 1998 (CPR) in Kraft getreten. Diese schufen nicht nur ein einheitliches Zivilprozessrecht in Form einer – für das Common Law eigentlich untypischen – Kodifikation, sondern reformierten den englischen Zivilprozess auch inhaltlich.253 Maßgebliches Prozessziel (overriding objective) ist „enabling the court to deal with cases justly and at proportionate cost“, Rule 1.1 (2). Dies soll unter anderem durch die Einsparung von Ausgaben erreicht werden, Rule 1.1 (2) (b). Die ausdrückliche Betonung der Verhältnismäßigkeit der Kosten („at proportionate cost”) ist insofern interessant, als dadurch der hohe Stellenwert einer ökonomischen Gestaltung des Verfahrens zum Ausdruck gebracht wird. Dies führt dazu, dass die Prozessökonomie gewissermaßen den Rang eines eigenständigen Verfahrensgrundsatzes254 einnimmt.255 Unabhängig davon ist die Wahrheitsermittlung im englischen Zivilprozessrecht aber nach wie vor von zentraler Bedeutung.256 Zur Verwirklichung des Prozessziels wurde – in Abkehr vom früheren adversary system – die materielle Prozessleitung durch das Gericht mit Einführung des active case managements gestärkt und die Gestaltung des Verfahrensablaufs weitestgehend in die 252  In der Literatur werden dementsprechend der unmittelbare Charakter der audiovisuellen Vernehmung und ihre Vorzüge gegenüber einer Beweisaufnahme vor einem beauftragten oder ersuchten Richter betont; Fucik/Klauser/Kloiber/Fucik, §  277 öZPO; Kodek/Mayr, Zivilprozessrecht, Rn.  85, 801. 253  Siehe hierzu die Überblicke bei Sobich, JZ 1999, 775 ff.; Dreymüller, ZVglRWiss 101 (2002), 471 ff.; zusammenfassend auch Bunge, Zivilprozess, S.  56 f. 254  So Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (312); ders., in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (856); ferner Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (140 ff., 163). Freilich ließe sich darüber streiten, ob es sich nach der hier vertretenen Unterscheidung tatsächlich um einen Verfahrensgrundsatz handelt oder nicht vielmehr um einen Prozesszweck oder ein Verfahrensziel; siehe etwa Weller, in: Mindeststandards, S.  83 (98), welcher die Prozessökonomie als Prozesszweck einordnet. Gegen eine Qualifizierung als Verfahrensgrundsatz spricht jedenfalls, dass durch die Benennung als overriding objective streng genommen noch nichts über die genaue Ausgestaltung, den Ablauf und die Struktur des Verfahrens ausgesagt wird. Vielmehr werden in Rule 1.1 (2) ganz allgemein die Ziele des Zivilprozesses verdeutlicht. Insofern sind die dort genannten Grundsätze nicht als Verfahrensgrundsätze, sondern – mit Ausnahme der Waffengleichheit – als Verfahrensziele zu klassifizieren. Zur Unterscheidung von Verfahrensgrundsätzen und Verfahrenszielen siehe oben unter §  2 II. 4. 255  Diese Entwicklung lässt sich mit der historisch gewachsenen Verfahrensstruktur des englischen Prozessrechts erklären. Durch die Aufwertung der Prozessökonomie soll die aus der Parteiherrschaft resultierende Parteiaktivität begrenzt werden; siehe hierzu Stürner, in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (861 ff.). 256  Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  1.17, 1.32 ff.; darauf ebenfalls hinweisend Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  64.

II.  Ausländische Verfahrensordnungen

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Hände des Richters gelegt,257 Rule 1.4 (1): „The court must further the overriding objective by actively managing cases.“ Der durch die Prozessreform laut Stürner eingeleitete „Paradigmenwechsel“ sollte gleich durch Hervorhebung wesentlicher Prinzipien ganz zu Beginn der CPR verdeutlicht werden.258 Dementsprechend nennt Rule 1.1 (2) als Grundsätze des Prozesses die Waffengleichheit, die Kostensparung, die Verhältnismäßigkeit sowie die Verfahrensbeschleunigung. Ein Grundsatz der Unmittelbarkeit wird nicht genannt.259 a)  Verfahrenstrennung in Vorverfahren und Hauptverhandlung Das englische Prozessrecht ist traditionell durch eine Trennung des Verfahrens in ein Vorverfahren (pre-trial) und die abschließende Hauptverhandlung (trial) gekennzeichnet, wobei sich der Rechtsstreit in der Vielzahl der Fälle bereits im pre-trial erledigt.260 Das trial findet vor dem erkennenden Richter statt, wo die Beweise präsentiert werden.261 Es ist öffentlich, Rule 39.2 (1). Findet eine „klassische“ mündliche Hauptverhandlung statt, so entsteht ein direkter (unmittelbarer) Kontakt zwischen den Parteien und dem Richter: „The advantage of orality is that it fosters the ‚principle of immediacy,‘ and together orality and immediacy have the effect of enabling the Court to conduct the kind of direct, immediate and dialectical investigation into the relevant facts and the applicable law by this process of ‚cross-fertilisation,‘ they promote the ascertainment of the truth and the production of the correct decision.“262

Wenn man in diesem Sinne eine Kongruenz von Unmittelbarkeit und Mündlichkeit annehmen will,263 müsste man folglich einen Rückgang der Unmittelbarkeit im englischen Zivilprozess ausmachen, da der Mündlichkeitsgrundsatz (principle of orality) seinerseits immer mehr an Bedeutung verliert.264 257  Sobich, JZ 1999, 775 (776 ff.); Bunge, Zivilprozess, S.  112 ff.; ausführlich hierzu Andrews, Civil Procedure, Rn.  13.01 ff.; Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  11.1 ff.; 11.60 ff. 258  Stürner, ZVglRWiss 103 (2004), 349 (360). 259  Zum englischen Zivilprozess vor Erlass der Civil Procedure Rules 1998 siehe Cohn, in: FS Hippel, S.  41 (59), wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz „mit außerordentlicher Strenge und Konsequenz“ im Zivilprozessrecht verwirklicht worden sei. 260  Siehe Andrews, Civil Procedure, Rn.  34.01 ff. mit entsprechenden Statistiken aus dem Jahre 2001; ferner Cohn, in: FS Hippel, S.  41 (54), wonach mehr als 90 % aller Streitigkeiten vor dem trial verglichen werden; ebenso Prütting, in: FS Schumann, S.  309 (320); siehe auch Stürner, in: FS Kaissis, S.  991 (999). 261  Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  22.1. Zum Ablauf des trial siehe den Überblick bei Andrews, Civil Procedure, Rn.  34.21; ferner Bunge, Zivilprozess, S.  132 f. 262  Jacob, Fabric, S.  20. 263  Hierfür Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (437); siehe hierzu auch Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  27. 264  Andrews, Civil Procedure, Rn.  6.55 spricht von einer Mischung aus mündlichen und schriftlichen Elementen; ähnlich Stürner, in: FS Kaissis, S.  991 (998) [„schriftlich vorbereitete Münd-

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

Eine wichtige Konsequenz der Verfahrenstrennung in pre-trial und trial ist die Unterscheidung von procedural judges und trial judges (Rule 2.4). Infolgedessen fehlt es größtenteils an einer personellen Identität von vorbereitendem Richter und entscheidendem Richter,265 was Auswirkungen auf die Beweisaufnahme haben kann. In der Praxis werden die Aufgaben des case managements im Vorverfahren nämlich überwiegend von den procedural judges vorgenommen.266 Begreift man den Unmittelbarkeitsgrundsatz im Sinne richterlicher Kontinuität, kann man diesbezüglich eine „gewisse Wandlung weg von der Unmittelbarkeit“ erkennen.267 Gestärkt wird die Unmittelbarkeit auf der anderen Seite aber insofern, als im Falle e­ ines Wechsels des trial judges Verhandlung und Beweisaufnahme von Neuem durch­geführt werden müssen, es sei denn, die Parteien beschließen eine Fortsetzung der Hauptverhandlung.268 b)  Grundzüge und Grundsätze der Beweisaufnahme Für die Beweisaufnahme muss generell zwischen der Beweisaufnahme im trial und der Beweisaufnahme im pre-trial differenziert werden.269 aa)  Ablauf der Beweisaufnahme In der Hauptverhandlung präsentieren die Parteien ihre Beweise.270 Allerdings stehen dem Gericht weitreichende Befugnisse zur Kontrolle und zur Ausgestaltung der Beweisaufnahme zu (Rule 32.1)271 – letztlich eine Ausprägung des active case managements.272 Freilich müssen diese Befugnisse im Einklang mit dem overriding objective (Rule 1.1) ausgeübt werden.273 Die Beweisaufnahme findet vor dem Richter und in der Hauptverhandlung statt, was sich besonders am Zeugenbeweis zeigt, Rule 32.2 (1) (a). In der Hauptverhandlung sind allerdings die schriftlichen Zeugenaussagen (witness statements) aus dem lichkeit“]. Zum Bedeutungsverlust des principle of orality siehe Dreymüller, ZVglRWiss 101 (2002), 471 (478 ff., 481); Glasser, 56 Modern Law Review (1993), 307 ff. 265  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (440); ders., in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (862); Bunge, Zivilprozess, S.  109 f. 266  Practice Direction 29, 3.10; Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  11.48; Kessel, ZVglRWiss 92 (1993), 395 (403); Bunge, Zivilprozess, S.  74, 80 f. Allerdings bestehen auch gewisse Ausnahmen hiervon; siehe nur Practice Direction 2B, 1.1. 267  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (440). 268  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (441) m. w. N. 269  Bunge, Zivilprozess, S.  142. 270  Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  22.1. 271  Das Gericht kann unter anderem die beweisbedürftigen Fragen oder auch die Art und Weise festlegen, wie die Beweise dem Gericht präsentiert werden, Rule 32.1 (1) (a) und (c). Ferner können Beweise ausgeschlossen werden, obwohl sie eigentlich zulässig wären, Rule 32.1 (2). 272  Sobich, JZ 1999, 775 (779); ähnlich Wagner, ZEuP 2001, 441 (462) [„vollständige Kontrolle des Gerichts“]. 273  Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  11.84; Keane/McKeown, Law of Evidence, S.  142.

II.  Ausländische Verfahrensordnungen

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pre-trial von Bedeutung.274 Diese ersetzen im trial regelmäßig die eigentliche Hauptvernehmung des Zeugen (examination-in-chief ), Rule 32.5 (2).275 Ähnlich verhält es sich mit dem Sachverständigenbeweis, welcher grundsätzlich schriftlich erbracht wird, Rule 35.5 (1). Sachverständigenbeweise werden im pre-trial mittels sog. experts’ reports ausgetauscht, Rule 35.13,276 und die Parteien haben die Möglichkeit, den Sachverständigen schriftlich zu befragen, Rule 35.6 (1). Jene Fragen werden dann Teil des experts’ reports, Rule 35.6 (3), weshalb in der Hauptverhandlung kein Kreuzverhör mehr erfolgt, sondern dieses in Schriftform in das pre-trial vorverlagert wird.277 An beiden Fällen zeigt sich, dass im englischen Zivilprozess Teile der Beweisaufnahme nicht mehr im trial stattfinden und insofern nicht vor dem erkennenden Richter. Darin mag man einen Bedeutungsverlust des Mündlichkeitsgrundsatzes sehen können,278 aber auch – jedenfalls wenn man das Verständnis der Unmittelbarkeit aus der StPO und der öZPO heranzieht – einen Verlust an Unmittelbarkeit, insbesondere wenn es um die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen geht.279 Verstärkt wird dies dadurch, dass die Delegation der Beweisaufnahme (Rule 34.8) im Ermessen des Gerichts steht.280 Generell ist die Konkretisierung und Herausbildung eines (formellen) Unmittelbarkeitsgrundsatzes im englischen Zivilprozess schwierig. Die Gründe hierfür liegen im active case management: Ermessensvorschriften spielen in den Civil Procedure Rules 1998 eine wichtige Rolle und geben dem Richter Spielraum für Gerechtigkeit und Flexibilität im Einzelfall.281 Der genaue Verfahrensablauf – welcher zudem von der Zuordnung des Falles zu einer Verfahrenskategorie (track) abhängt282 – lässt sich nicht immer exakt vorhersagen. Wenn aber der Verfahrens­ 274  Deren Vorzüge liegen unter anderem darin, dass sie zu einer Zeit- und Kostenreduzierung des trial führen; Kessel, ZVglRWiss 92 (1993), 395 (413); weiterführend Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  20.1 ff.; 22.131 ff. 275  Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  29 erblickt hierin eine Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz. 276  Siehe auch Dreymüller, ZVglRWiss 101 (2002), 471 (478). 277  Dreymüller, ZVglRWiss 101 (2002), 471 (479); zum Sachverständigenbeweis im englischen Recht siehe auch Wagner, ZEuP 2001, 441 (506 ff.). 278  Glasser, 56 Modern Law Review (1993), 307 (315); Dreymüller, ZVglRWiss 101 (2002), 471 (478 ff., 481); dies., Zeugenbeweis, S.  119. 279  Glasser, 56 Modern Law Review (1993), 307 (315): „And there is a weakening of the element of dialogue which enables the judge to assess the credibility of the witness concerned under friendly examination.“; Kessel, ZVglRWiss 92 (1993), 395 (414). 280  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (443). 281  Stürner, ZVglRWiss 103 (2004), 349 (367) mit Verweis auf Godwin v. Swindon Borough Council [2002] 1 WLR 997 (1012): „The new procedural code of the Civil Procedure Rules is positively packed with instances where the court has a wide discretion to manage cases to achieve substantial justice in accordance with the overriding objective.“. 282  Unterschieden wird zwischen dem small claims track (Part 27 CPR), dem fast track (Part 28 CPR) sowie dem multi-track (Part 29 CPR). Zum Verfahrensablauf bei den jeweiligen tracks siehe Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  12.31 ff.; überblicksartig Sobich, JZ 1999, 775 (778 f.); Bunge, Zivilprozess, S.  124 f.

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

ablauf weitestgehend von den (Ermessens-)Entscheidungen des Richters abhängt, so gilt dies gleichermaßen für die Frage, inwieweit der Prozess „unmittelbar“ ausgestaltet ist oder nicht.283 bb)  Sonderformen der Beweisaufnahme Im englischen Zivilprozess sind Modalitäten vorgesehen, in denen eine Beweisaufnahme auch ohne körperliche Anwesenheit möglich ist, wodurch auf einen unmittelbaren Kontakt mit dem Gericht verzichtet wird. So kann das Gericht Beweise über eine Telefonbefragung oder andere mündliche Kommunikationsmittel erheben, Rule 3.1 (2) (d). Daneben gibt es die Möglichkeit zur Durchführung einer Videokonferenz, Rule 32.3: „The court may allow a witness to give evidence through a video link or by other means.“ Die Norm dient der Verwirklichung des maßgeblichen Prozessziels (overriding objective), Rule 1.1, welches der Richter in Form des active case managements unter anderem durch den Einsatz von modernen Technologien fördern soll, Rule 1.4 (2) (k).284 Die Voraussetzungen, unter denen eine audiovisuelle Vernehmung stattfinden kann, werden vom Gesetz selbst jedoch nicht genannt. Der Wortlaut der Vorschrift („may“) zeigt, dass die Durchführung jedenfalls im Ermessen des Gerichts steht. Bei der richterlichen Ermessenausübung können insbesondere prozessökonomische Überlegungen wie beispielsweise Zeit- oder Kosteneinsparungen 285 oder auch die Vorgaben aus Art.  6 EMRK eine Rolle spielen.286 In den Practice Directions wird betont, dass eine „audiovisuelle Anwesenheit“ nicht genauso optimal ist wie eine physische Präsenz.287 Der Ablauf der audiovisuellen Vernehmung muss sich daher möglichst nahe an den Regeln über die Zeugenvernehmung eines im Gerichtssaal anwesenden Zeugen orientieren.288 Die körperliche Anwesenheit und die Vernehmung im trial sind beim Zeugenbeweis damit immer noch die Regel.289 cc)  Best Evidence Rule Der materiellen Unmittelbarkeit im deutschen Recht entspricht im traditionellen englischen Beweisrecht die best evidence rule,290 nach der ein Beweis nur durch unmittelbare (primary evidence), nicht aber durch mittelbare Beweismittel (se283  Beispielsweise kann das Gericht im small claims track im Einverständnis mit den Parteien auf eine mündliche Verhandlung verzichten, Rule 27.10. 284  Rowland v. Bock [2002] 4 All ER 370 (373); siehe auch Zuckerman, Civil Procedure, Rn.  11.50 ff. 285  Keane/McKeown, Law of Evidence, S.  136; siehe auch Practice Direction 32, Annex 3 No. 2. 286  Rowland v. Bock [2002] 4 All ER 370 (374). 287  Practice Direction 32, Annex 3 No. 2. 288  Practice Direction 32, Annex 3 No. 21. 289  Polanski v. Condé Nast Publications Ltd [2004] 1 WLR 387 (401 f.). 290  Geppert, Unmittelbarkeit, S.  166; Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (444).

III.  Principles of Transnational Civil Procedure

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condary evidence) geführt werden darf.291 Eine besondere Ausprägung hiervon ist die hearsay rule, welche sich im 17. Jahrhundert herausgebildet hatte und wonach eine Beweisführung mittels eines Zeugen vom Hörensagen grundsätzlich ausgeschlossen ist.292 Mit der Abkehr vom Jury-Prozess im Zivilverfahrensrecht293 nahm ihre Bedeutung jedoch immer mehr ab und sie wurde schließlich durch den Civil Evidence Act 1995 abgeschafft.294 Der Beweis durch Zeugen vom Hörensagen ist mittlerweile in Part. 33 CPR geregelt. Diese Entwicklung steht exemplarisch für den Trend, im Grunde jegliche relevanten Beweismittel zuzulassen und deren Verlässlichkeit erst im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung zu berücksichtigen,295 weshalb Andrews von e­ inem „Niedergang der best evidence rule“ spricht.296 Der „Gedanke des bestmög­ lichen Beweises“ im Sinne einer Beweiszulässigkeitsregel wurde somit aus dem englischen Zivilprozess verdrängt, welcher folglich eine materielle Unmittelbarkeit nicht kennt.297

III.  Principles of Transnational Civil Procedure Auf internationaler und europäischer Ebene sind Vereinheitlichungsbestrebungen sowohl hinsichtlich des materiellen Rechts als auch des Prozessrechts erkennbar.298 Prominentes Beispiel für das Zivilverfahrensrecht sind die Principles of Transna­ 291  Bunge, Zivilprozess, S.  143; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S.  32 ff.; Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  69 ff. 292  Zur hearsay rule siehe insbesondere Tapper, Evidence, S.  587 ff.; Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  56 ff.; ferner Vogler, ZStW 126 (2014), 239 (241 ff.) [zur hearsay rule im englischen Strafverfahrensrecht]. 293  Siehe hierzu Andrews, Civil Procedure, Rn.  34.06 ff. 294  Sec. 1 (1) Civil Evidence Act 1995: „In civil proceedings evidence shall not be excluded on the ground that it is hearsay.“; siehe hierzu Keane/McKeown, Law of Evidence, S.  343 ff. Zur Reform der hearsay rule im Zivilprozessrecht siehe Andrews, Civil Procedure, Rn.  31.23 ff.; Tapper, Evidence, S.  593 ff.; Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  60 ff. 295  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (444 f.). 296  Andrews, Civil Procedure, Rn.  31.29 f. („demise of the best evidence rule“). 297  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (445). Ebenso enthalten die Civil Procedure Rules 1998 keine Vorschriften, welche – ähnlich wie im österreichischen Recht §§  414, 415 öZPO – Aspekte von zeitlicher Unmittelbarkeit enthalten. Hier wird daher das Problem einer langen Zeitspanne zwischen dem Abschluss der Hauptverhandlung und der Urteilsfällung virulent, da insbesondere die Würdigung von Zeugenaussagen mit zunehmendem Zeitablauf immer schwieriger wird. Allerdings ist die Rechtsprechung in diesem Bereich großzügig, wenn sie davon ausgeht, dass erfahrene Richter grundsätzlich qualitativ hochwertige Notizen über (Zeugen-)Aussagen anfertigen und sich folglich beim Nachlesen dieser Aufzeichnungen ihre damaligen Eindrücke wieder vor Augen führen können; Cobham v. Frett [2001] 1 WLR 1775 (1783); siehe hierzu mit kritischer Anmerkung Andrews, Civil Procedure, Rn.  34.44 f. 298  Siehe Wagner, ZEuP 2008, 6 (18 ff.) am Beispiel des Zivilprozess- und Insolvenzrechts; ferner die Übersicht bei Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (4 f.).

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

tional Civil Procedure,299 welche im Jahre 2004 vom American Law Institute (ALI) und Unidroit beschlossen wurden.300 Die Principles – eine Kombination von Common Law und Civil Law301 – zielen in erster Linie auf eine Harmonisierung des Z ­ ivilverfahrensrechts ab, können daneben aber auch als Grundsätze zur Fortentwicklung des nationalen und internationalen Prozessrechts dienen sowie als internationale Prozessstandards in der gerichtlichen Praxis eine Rolle spielen.302

1.  Grundzüge und Ablauf des Verfahrens Der Prozess wird durch die Klage des Klägers initiiert und nicht von Amts wegen durch das Gericht (Principle 10.1). Das Verfahren ist öffentlich (Principle 20.1) und stellt eine Mischung aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit dar (Principles 19.1, 19.2).303 Das Gericht soll in angemessener Frist über den Rechtsstreit entscheiden (Principle 7.1),304 wobei den Parteien eine Kooperationspflicht auferlegt wird (Principle 7.2). Die materielle Prozessleitung liegt beim Gericht (Principle 22.1), welches das gesamte Verfahren fair, effizient und zügig zu einer Entscheidung führen soll (Principle 14.1 – case management).305 Dies zeigt sich sehr deutlich im Bereich der Tatsachenermittlung und der Beweiserhebung (Principle 22.1), was aber keinesfalls die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes bedeutet.306 Äußerlich untergliedert sich das Verfahren in drei Phasen (Principle 9.1):307 In der pleading phase müssen die Parteien schriftlich ihre Anträge stellen und Verteidigungsmittel vorbringen (Principle 9.2). Die interim phase ermöglicht dem Gericht eine gewisse Flexibilität bei der Handhabung des Verfahrens in Abhängigkeit von den Besonderheiten des jeweiligen Prozesses.308 Unter anderem besteht die Möglichkeit einen Austausch von Beweismitteln (Principle 9.3.4) oder gar eine Beweisaufnahme selbst anzuordnen (Principle 9.3.6). In der abschließenden final phase werden die zuvor noch nicht erhobenen Beweise in einer mündlichen Verhandlung präsentiert, in welcher die Parteien ihre abschließenden Argumente vortragen können (Principle 9.4). Wenngleich diese Dreiteilung des Verfahrens dem US-amerika299  Abgedruckt in Uniform Law Review 9 (2004), 758 ff. (mit Kommentaren); RabelsZ 69 (2005), 341 ff. 300  Zur historischen Entwicklung siehe Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 (203 ff.). 301  Waterstraat, Principles, S.  152; siehe auch Ferrand, ZEuP 2004, 616 (630) [„harte[r] Zusammenprall von Civil und Common Law“]. 302  Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 (209 ff.); ders., ZZPInt 11 (2006), 381 (383 ff.); Althammer, ZZP 126 (2013), 3 (29 ff.); siehe auch den kurzen Überblick bei Waterstraat, Principles, S.  152. 303  Siehe hierzu Waterstraat, Principles, S.  155 f. 304  Principle 7.1 entspricht insofern der Aussage von Art.  6 Abs.  1 EMRK; Ferrand, ZEuP 2004, 616 (621). 305  Waterstraat, Principles, S.  157. 306  Stürner, ZZPInt 11 (2006), 381 (393). 307  Siehe hierzu Ferrand, ZEuP 2004, 616 (626). 308  Kommentar P-9A: „The concept of ‚structure‘ of a proceeding should be applied flexibly, according to the nature of the particular case.“; siehe auch Stürner, ZZPInt 11 (2006), 381 (391 f.).

III.  Principles of Transnational Civil Procedure

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nischen Zivilprozess nahekommt,309 orientiert sich der Ablauf des Verfahrens insgesamt am kontinentaleuropäischen „Hauptverhandlungsmodell“.310

2.  Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Für die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gibt es in den Principles verschiedene Ansatzpunkte.311 Von Bedeutung ist vor allem das final hearing. Dieses findet vor denjenigen Richtern statt, welche das anschließende Urteil fällen (Principle 19.2). Zudem soll das Gericht im final hearing die Beweise für gewöhnlich selbst (directly) erheben (Principle 22.3). Sofern erforderlich, kann die Beweisaufnahme auf einen Delegierten übertragen werden, wobei die abschließende Beweiswürdigung (consideration) weiterhin Aufgabe des Gerichts bleibt.312 Die Verhandlung und die Beweisaufnahme – sofern Letztere nicht bereits in der interim phase durchgeführt wurde (Principle 9.3.6) – finden somit vor den erkennenden Richtern statt, welche im final hearing sowohl mit den Parteien als auch den Beweismitteln unmittelbar konfrontiert werden. Dies zeigt sich auch daran, dass die Beweisaufnahme durch Partei- und Zeugenvernehmung mündlich erfolgen soll (Principle 19.3). Dies könnte man terminologisch – anknüpfend an den deutschen Straf- oder den österreichischen Zivilprozess – als formelle oder persönliche Unmittelbarkeit bezeichnen. Nach Abschluss der Parteivorträge soll das Gericht das Urteil schnell verkünden und begründen (Principle 23.1).313 Hierin könnte man ähnlich wie in der öZPO eine Form von zeitlicher Unmittelbarkeit sehen. Eine materielle Unmittelbarkeit kennen die Principles für die Beweisaufnahme dagegen nicht, ein Vorrang unmittelbarer und originärer Beweise lässt sich ihnen nicht entnehmen.314 Die zulässigen Beweismittel (Parteivernehmung, Zeuge, Sachverständiger, Urkunde und Augenschein) werden zwar enumerativ genannt (Principle 16.1), aber grundsätzlich als gleichrangig behandelt.315 So genießt beispielsweise die Parteivernehmung dasselbe Gewicht wie die Aussage eines Zeugen und das Eigeninteresse der Partei kann lediglich im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung Berücksichtigung finden.316 Generell folgen die Principles dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (Principles 16.6, 21.2),317 sodass eine materi309 

Waterstraat, Principles, S.  155. Stürner, ZZPInt 11 (2006), 381 (391). 311  Siehe hierzu Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (447); Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (65). Teilweise wird für den Unmittelbarkeitsgrundsatz nur auf Principle 22.3 abgestellt; Stürner, ZZPInt 11 (2006), 381 (392). Andere dagegen sehen ihn in Principle 19.2 verankert; W ­ aterstraat, Principles, S.  152. 312  Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (65). 313  Zur gerichtlichen Entscheidung siehe Ferrand, ZEuP 2004, 616 (628). 314  Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (65). 315  Waterstraat, Principles, S.  158. 316  Kommentar P-16B. 317  Siehe hierzu Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 (237 ff.). Im Gegensatz zum US-amerikani310 

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§  3:  Rechtsvergleichende Grundlagen

elle Unmittelbarkeit als „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ letztendlich nur dort eine Rolle spielen kann.318

IV.  Zusammenfassung Die rechtsvergleichende Untersuchung hat gezeigt, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz in verschiedenen Verfahrensordnungen verwirklicht ist. Dies gilt sowohl für inländische (StPO und VwGO), ausländische (Österreich und England) als auch für internationale Zivilprozessordnungen (Principles of Transnational Civil Procedure). Der Schwerpunkt liegt zumeist auf einer formellen oder persönlichen Unmittelbarkeit. Eine materielle Unmittelbarkeit im Sinne eines „Gedanken des bestmöglichen Beweises“ findet sich dagegen nur in denjenigen Verfahrensordnungen, in denen die Wahrheitsermittlung von zentraler Bedeutung ist – mit anderen Worten: Die Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit scheint an die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes geknüpft zu sein. Eine Ausnahme stellt das englische Zivilprozessrecht dar. Dieses ist mittlerweile von der best evidence rule abgerückt, wenngleich die Wahrheitsermittlung dort nach wie vor eine entscheidende Rolle spielt. Als dritte Säule kennen manche Verfahrensordnungen noch eine zeitliche Unmittelbarkeit. Trotz seiner Geltung in allen untersuchten Referenzgesetzen lässt sich vielfach eine Tendenz zur Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ausmachen. Häufig wird der Prozessökonomie und der Verfahrensbeschleunigung der Vorzug vor der Unmittelbarkeit eingeräumt. Insofern scheint eine Diskrepanz zwischen der Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes einerseits und einer modernen und prozessökonomischen Verfahrensweise andererseits zu bestehen. Am anschaulichsten zeigt sich diese Entwicklung bei der Durchführung von Videokonferenzen oder audiovisuellen Zeugenvernehmungen, wenngleich die Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz interessanterweise unterschiedlich betrachtet werden. Während das österreichische Recht von einer Stärkung der Unmittelbarkeit ausgeht, sehen die übrigen Prozessordnungen den Unmittelbarkeitsgrundsatz durch den Einsatz von moderner Kommunikationstechnologie eher eingeschränkt. Schließlich konnten mögliche Ansatzpunkte für einen zukünftigen Umgang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz ausgelotet werden. Bei Betrachtung aktueller Gesetzesreformen (England) und Reformüberlegungen (AE-Beweisaufnahme für die StPO) fällt auf, dass der Trend zu mehr richterlicher Flexibilität im Rahmen der Beweisaufnahme – und damit hinsichtlich der Herstellung von „Unmittelbarkeit“ – geht. Möglicherweise können auch andere Ansatzpunkte fruchtbar gemacht werschen Recht existiert somit keine Bindung an gesetzliche Beweisregeln; Waterstraat, Principles, S.  158. 318  Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (65).

IV.  Zusammenfassung

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den: Zu denken wäre zum einen an eine mögliche Stärkung der Unmittelbarkeit durch verbesserte Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten, wie es beispielsweise im Strafrecht angedacht wird oder in Österreich verwirklicht ist. Zum anderen käme eventuell eine „Vorverlagerung“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in ein gerichtliches Vorverfahren in Betracht.

Teil 2

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der ZPO

§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Um den Unmittelbarkeitsgrundsatz in seiner heutigen Gestalt bewerten und einordnen zu können, bedarf es eines Blickes in die Vergangenheit. Im folgenden Abschnitt wird daher die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes beleuchtet. Zentrale Fragen sind seine Entstehung, die wesentlichen Gründe hierfür sowie sein ursprünglicher Bedeutungsgehalt. Bei den zu untersuchenden Prozessordnungen liegt der Fokus auf den spezifischen Bezügen zum Unmittelbarkeitsgrundsatz. Es wird untersucht, inwieweit die verschiedenen Verfahrensordnungen „Formen von Unmittelbarkeit“ enthielten, ohne bereits a priori von einem bestimmten Sinn- und Bedeutungsgehalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auszugehen.

I.  Die Epoche des Gemeinen Prozesses Kennzeichnend für die deutsche Rechtsgeschichte ist bis zum Erlass der Vereinheitlichungswerke der Reichs-Civilprozeßordnung (CPO) von 1877 und des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) von 1896 das Nebeneinander von Gemeinem Recht und Partikularrechten. Während das Gemeine Recht (ius commune) auf dem römischen Recht beruhte, entwickelten sich die Partikularrechte (ius proprium), welche nur für bestimmte Städte oder Territorien galten, aus dem Gewohnheitsrecht.1 Dies spiegelt sich in der Entwicklung des deutschen Prozessrechts wider, welches seine wesent­ lichen Ursprünge im italienisch-kanonischen Recht findet.2 Dessen Ausbreitung erfolgte in erster Linie über gelehrte Juristen, die ihre Ausbildung an oberitalienischen Universitäten erhalten hatten und später die Leitung deutscher Gerichte übernahmen.3 Im Sinne einer Rezeption „von oben nach unten“4 entwickelte sich ausgehend von einer Vielzahl von Reichsabschieden das Prozessrecht des Reichskammergerichts (sog. Kammeralprozess).5 Als „zweiter Brennpunkt gemeindeut1 

Siehe hierzu Schlosser, Neuere Privatrechtsgeschichte, S.  1 ff.; ferner Köbler, Lexikon, S.  183. Zur Rezeption des italienisch-kanonischen Prozesses und seiner Bedeutung für die Entwicklung in Deutschland siehe Bergmann, Theorie, S.  14 ff.; Wetzell, System, S.  9 ff. 3  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  24. 4  Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.  176. 5  Conrad, Rechtsgeschichte, S.  456; ausführlich zur Entstehung des Kammeralprozesses Dick, Kammeralprozess, S.  11 ff. 2 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

scher Prozessentwicklung“6 bildete sich parallel dazu der Sächsische Prozess heraus.7 Die Prozessrechtswissenschaft versuchte ausgehend von diesen beiden Prozess­ ordnungen allgemeine Grundsätze und Grundregeln zu formulieren, was schließlich zur Herausbildung des Gemeinen Prozesses führte.8 Dieser stellte freilich keine einheitliche Prozessordnung dar, vielmehr füllte er Lücken des partikularen Rechts9 und diente als abstrakte Grundlage zur Fortentwicklung des Verfahrensrechts.10 Es bestanden immer wieder Unterschiede, die sich jedoch auf eine allgemeine Grundlage zurückführen ließen, weshalb im Folgenden ganz allgemein vom „Gemeinen Prozess“ gesprochen wird.11 Dieser nahm trotz seiner Subsidiarität12 gegenüber den Partikularrechten bis zum 19. Jahrhundert eine beherrschende Stellung in der Zivilgerichtsbarkeit ein.13

1.  Wesensmerkmale des Gemeinen Prozesses Der Gemeine Prozess war gekennzeichnet durch die Prinzipien der Schriftlichkeit und Nichtöffentlichkeit,14 wobei die mangelnde Öffentlichkeit letztendlich nur eine konsequente Folge der Schriftlichkeit war.15 Alle relevanten Erklärungen mussten dem Gericht in schriftlicher Form übermittelt werden, um prozessuale Geltung zu erlangen.16 Der Gemeine Prozess stellte folglich einen Aktenprozess dar, da zum einen nur aktenkundige Tatsachen bei der Urteilsfindung Berücksichtigung fanden und zum anderen der Richter an die schriftlichen Aussagen der Parteien gebunden   6 

Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.  183. Siehe hierzu unter anderem Conrad, Rechtsgeschichte, S.  458 f.; Schwartz, Vierhundert Jahre, S.  129 ff.   8  Ahrens, Prozessreform, S.  13; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  24. Zu den Quellen des Gemeinen Prozesses siehe Wetzell, System, S.  3 ff.; Linde, Lehrbuch, S.  20 ff.; Renaud, Lehrbuch, S.  7 ff.; Mittermaier, Gemeiner Prozess, S.  11 ff.; Wach, Handbuch, S.  131 („Konglomerat heterogener Quellenbestandtheile“).   9  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  27. 10  Engel, Beweisinterlokut, S.  40. 11  Siehe hierzu Ahrens, Prozessreform, S.  13 („Kanon gemeinsamer Institutionen“); ferner Bülow, Zivilprozeßrecht, S.  68: „Die Gemeinschaft, die dem gemeinen Zivilprozeß zugrunde liegt, ist eine materielle, auf den Inhalt sich beziehende.“. 12  Renaud, Lehrbuch, S.  17; Hellwig, System, S.  16; Köbler, Lexikon, S.  183; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  24. 13  Ahrens, Prozessreform, S.  12; Conrad, Rechtsgeschichte, S.  456; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  16 („eigenartige Schlüsselstellung“). 14  Conrad, Rechtsgeschichte, S.  459. 15  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  20; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.  184. Im Gegensatz dazu war der germanische Prozess sowohl mündlich als auch öffentlich; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  12. Hier herrschte eine strenge „Unmittelbarkeit des Verkehrs zwischen Gericht und Partei“; Schwartz, Vierhundert Jahre, S.  402. 16  Bülow, Zivilprozeßrecht, S.  161; Ahrens, Prozessreform, S.  15 ff.; Renaud, Lehrbuch, S.  204 ff.; Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  11. Anschaulich zur damaligen Praxis der Schriftform Döhring, Rechtspflege, S.  198 ff.   7 

I.  Die Epoche des Gemeinen Prozesses

111

war: „Quod non est in actis, non est in mundo.“17 Der Gemeine Prozess war geprägt durch den Eventualgrundsatz, wonach eine feste Reihenfolge von Klageerhebung, Klageerwiderung, Replik und Duplik vorgegeben war und die Parteien zur Vermeidung einer Präklusion alle Prozesshandlungen gleichzeitig vornehmen mussten.18 Dies diente in erster Linie der Vermeidung einer Prozessverschleppung und somit der Verfahrensbeschleunigung.19 Das Verfahren wurde zudem in die Verfahrensstadien des Behauptungs- und Beweisverfahrens getrennt. Im Behauptungsverfahren wurde der Tatsachenstoff gesammelt und aufbereitet, während erst im Beweisverfahren der Beweis durch die Parteien erbracht werden musste.20 Ein Grundsatz der Beweisantizipation, d. h. die Verbindung von Behauptung und Beweisantritt, war dem Gemeinen Prozess fremd.21 Zwischen beiden Verfahrensstadien stand das sog. Beweisinterlokut, welches ein durch die Beweisaufnahme bedingtes, Richter und Parteien bindendes Endurteil darstellte.22 Schließlich galt ein System gesetz­ licher Beweisregeln (sog. formelle Beweistheorie), weshalb die Beweiswürdigung nicht frei, sondern der Richter an im Vorfeld festgelegte und abstrakte Maßstäbe gebunden war.23

2.  Charakterisierung des Gemeinen Prozesses a)  Bewertungen in der Literatur In der Literatur wird der Gemeine Prozess aufgrund seiner Schriftlichkeit als „indirekte, mittelbare Verfahrensweise“24 charakterisiert und von einer „Mittelbarkeit des Parteivorbringens“25 gesprochen. Dies käme insbesondere durch das Institut der 17  Wetzell, System, S.  520; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.  184; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  17. 18  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  21 f.; Hellwig, System, S.  17; Ahrens, Prozessreform, S.  24 ff. Zu den unterschiedlichen Definitionen des Eventualgrundsatzes siehe Damrau, Entwicklung, S.  27 ff. 19  Schubert, ZRG GA 85 (1968), 127 (128 ff.). 20  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  24; Ahrens, Prozessreform, S.  25, 29; Linde, Lehrbuch, S.  266, 319; Renaud, Lehrbuch, S.  256. 21  Engel, Beweisinterlokut, S.  48. 22  Ahrens, Prozessreform, S.  29; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  22. 23  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  20 f.; ausführlich zur Entwicklung der formellen Beweistheorie Patermann, Freie Beweiswürdigung, S.  11 ff. In alphabetischen Katalogen war daher der Beweiswert von Beweismitteln, vor allem die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen, von vornherein festgelegt; siehe nur Hommel, Zeugen-Katalog, S.  19 ff., wobei sich die Beweiskraft unter anderem an Berufen (Abdecker, S.  19), der Glaubensrichtung (Juden, S.  97 ff.) oder dem Alter (Kinder, S.  105 ff.) orientierte. Die Aussage zweier vollglaubwürdiger Zeugen brachte schließlich den vollen Beweis; Renaud, Lehrbuch, S.  306 f.; Wetzell, System, S.  218. Dies geht zurück auf die bekannte Päromie: „Durch zweier Zeugen Mund wird allerwärts die Wahrheit kund.“; siehe Hillebrand, Rechtssprichwörter, S.  224. 24  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  18. 25  Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.  184.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Aktenversendung26 zum Ausdruck, der „letzte Schein einer Unmittelbarkeit“27 sei hierdurch verwischt worden. An anderen Stellen wird dagegen auf Formen von Unmittelbarkeit hingewiesen. So gab es mittels Audienzen beim Reichskammergericht sowie manchen territorialen Obergerichten die Möglichkeit zur „persönlichen Fühlungnahme“28. Bei den Untergerichten erfolgten die Verhandlungen zudem oftmals mündlich,29 weshalb zumindest ein persönlicher Kontakt zwischen den Beteiligten vorhanden war. Nach Kip soll daher im schriftlichen Verfahren des Gemeinen Prozesses eine Form der Unmittelbarkeit erkennbar sein, wenn nämlich die Entgegennahme der Schriftsätze unmittelbar durch die erkennenden Richter erfolgt, jedoch unter der Voraussetzung, dass nur das schriftlich Vorgebrachte zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden kann: Ein schriftlich-unmittelbares Verfahren sei grundsätzlich denkbar.30 Paeffgen spricht schließlich von einer „schriftliche[n] Unmittelbarkeit“31 des Gemeinen Prozesses. Diese Ansicht wird mehrfach kritisiert, da der Unmittelbarkeitsbegriff bei einer derartigen Interpretation nahezu vollkommen inhaltsleer werde.32 Die richterliche Wahrnehmung erfolge nur in einem mündlichen Verfahren unmittelbar, in einem schriftlichen Verfahren dagegen stets mittelbar, d. h. durch die Akten vermittelt.33 b) Stellungnahme Die Ansicht, welche von einer „schriftlichen Unmittelbarkeit“ ausgeht, ist insofern zutreffend, als dadurch, dass der Richter selbst das Schriftstück unmittelbar entgegennimmt und sich von seinem Inhalt überzeugen kann (z. B. beim Urkundenbeweis), eine gewisse Form von Unmittelbarkeit besteht. Schriftlich-unmittelbare Verfahren sind daher dem Grunde nach vorstellbar, zumindest wenn man für „Unmittelbarkeit“ keinen direkten und persönlichen Kontakt zwischen Richter und Parteien fordert bzw. nur ein Dazwischentreten einer Mittelsperson verhindert haben will. Freilich würde ein solches Verständnis einerseits zu einer „schwachen Unmittelbarkeit“ führen. Andererseits wäre es vorschnell, eine Unmittelbarkeit im Gemeinen Prozess generell zu verneinen: Die Kritiker gehen bei ihrer Beurteilung 26  Siehe hierzu Conrad, Rechtsgeschichte, S.  463 f.; Klugkist, JZ 1967, 155 ff.; ferner Dahlmanns, Strukturwandel, S.  18, welcher dieses Institut als „Ausdruck des Mittelbarkeitsgrundsatzes“ bezeichnet; ebenso Braun, Lehrbuch, S.  137. 27  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  19. 28  Döhring, Rechtspflege, S.  211 („eine Art unvollkommener mündlicher Verhandlung“). 29  Wetzell, System, S.  894; Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  23 ff.; Döhring, Rechtspflege, S.  211; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  18. 30  Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  23, 65; ebenso Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  18. 31  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  23. 32  Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  11 (Fn.  7); zustimmend Ahrens, Prozessreform, S.  17. Kurio­ serweise gesteht Kip dies selbst ein; Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  23 („kein selbstständiger Wert“). 33  Wetzell, System, S.  892 (Fn.  3).

I.  Die Epoche des Gemeinen Prozesses

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offenbar bereits von einem gewissen Sinn- und Bedeutungsgehalt von „Unmittelbarkeit“ aus. Dieser soll jedoch erst im Laufe dieser Untersuchung bestimmt werden und kann gerade nicht a priori vorausgesetzt werden. Ob die damaligen Unmittelbarkeitsformen mit den heutigen übereinstimmen, ist eine andere Frage.34 Der Gemeine Prozess kann dennoch nicht als vollkommen mittelbar bezeichnet werden. Ebenso wenig kann allein aus der Tatsache des Vorhandenseins mündlicher Verhandlungsformen nicht generell auf eine „Unmittelbarkeit des Verfahrens“ geschlossen werden. Betrachtet man den „klassischen“ Gemeinen Prozess isoliert, d. h. ohne die Sonderformen der untergerichtlichen Verhandlung, hängt seine Charakterisierung letztendlich davon ab, welche Anforderungen man an die Unmittelbarkeit stellt: Fordert man einen direkten Kontakt zwischen dem Gericht und den Parteien im Sinne einer unmittelbaren Begegnung, müsste der Gemeine Prozess als mittelbar bezeichnet werden. Stellt man dagegen nur darauf ab, dass keine weitere Mittelsperson auftreten darf, ließe sich von einer Unmittelbarkeit des Verfahrens sprechen.35 Dies war im Zeitalter des Gemeinen Prozesses jedoch häufig der Fall, wenn nicht gar die Regel: Die Entscheidungsvorbereitung hat regelmäßig durch Kommissionen stattgefunden und im Rahmen des Beweisverfahrens wurden die Zeugenaussagen von einem Deputierten aufgenommen. Den Inhalt hiervon hat das Gericht selbst nur aus den Akten erfahren.36 Die Beweisaufnahme erfolgte somit vielfach mittelbar.37 Eine Form von Unmittelbarkeit kann nur dort gesehen werden, wo die Zwischenschaltung einer Mittelsperson nicht stattgefunden hat. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Die weit überwiegende Anzahl der Gerichtsverfahren im Gemeinen Prozess war schriftlich-mittelbar, wenngleich zumindest kleine Formen von Unmittelbarkeit nicht geleugnet werden können. Zudem wird bereits an dieser Stelle klar, dass Mündlichkeit und Unmittelbarkeit in einem engen Zusammenhang stehen.38

3.  Vorzüge des Gemeinen Prozesses Das schriftlich-mittelbare Verfahren des Gemeinen Prozesses hatte gewisse Vorzüge. Durch die Einhaltung der strengen Schriftform sollte der Gemeine Prozess die „Sicherheit und Ordnung der Rechtspflege“39 garantieren. Dadurch, dass stets nur das schriftlich Niedergelegte Grundlage des Urteils sein konnte, wurde sicher­ 34  Zum dogmatischen Gehalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes de lege lata siehe später ausführlich unter §  5 V. 35  Siehe hierzu Planck, Lehrbuch, S.  179, wonach eine Unmittelbarkeit dann bejaht werden könne, wenn das Gericht nur aus einem Einzelrichter, nicht aber aus einem Kollegium bestand. 36  Ahrens, Prozessreform, S.  17; siehe auch Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  19; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  19. 37  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  13. 38  Zutreffend Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  11. 39  Wach, Handbuch, S.  132; ebenso Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  6; Ahrens, Prozessreform, S.  14.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

gestellt, dass alle Einzelheiten des Rechtsstreits aufgezeichnet wurden. Der Gemeine Prozess sorgte folglich für eine „gründlichere und sichere Feststellung des Verfahrensstoffs“40. Kam es zu einem längeren Instanzenzug, hatte die schriftliche Dokumentierung in den Akten den Vorzug einer besseren Fixierung der stattgefundenen Verhandlungen.41 Die mittelbare Verfahrensweise – insbesondere die Zwischenschaltung von Kollegien sowie die Vermeidung eines persönlichen Kontakts zwischen Richter und Parteien – diente der „Objektivität der Rechtsprechung“42. Die urteilenden Richter sollten nicht durch das Auftreten und die Emotionen der Parteien beeinflusst werden, sondern vielmehr ihre Entscheidungen „in abstracter Reinheit, frei von allem Einflusse aller Persönlichkeit und sogenannter menschlicher Bewegungsgründe“43 fällen können. Die aus der Schriftlichkeit resultierende Distanz trägt letztendlich zur richterlichen Neutralität bei und ist hierfür wenn nicht gar Voraussetzung.44 Rhetorische Fähigkeiten wurden als negativ angesehen, da diese in keinem Maße zu einer ordentlichen Rechtspflege beitragen, sondern im Gegenteil eine gerechte Urteilsfindung behindern würden.45 Gerichtsredner seien nur darauf aus gewesen, „das Herz des Richters zu rühren, sein Gemüt zu erschüttern und ihn geistig zu bezwingen“46. Die Mittelbarkeit des Verfahrens diente dem Schutz vor sachfremden Einflüssen.47 Hierdurch wurde „die Wahrheitsfindung außer­halb der Person des Richters intendiert.“48 Auch die Augenbinde der römischen Gerechtigkeitsgöttin Justitia wird von Verfechtern des Schriftlichkeits­ prinzips auf diese Art und Weise interpretiert.49 Durch die Geltung der formellen Beweistheorie sollte schließlich dem Misstrauen gegenüber dem Richter entgegengewirkt werden, die Parteien sollten durch die Bindung des Richters an gesetzliche Beweisregeln vor Willkür geschützt werden.50 Dies sei notwendig, da absolute Wahrheit nicht durch subjektive Überzeugung erzielt werden könne.51

40  Ahrens, Prozessreform, S.  15 f.; darauf hatte bereits Puchta, AcP 17 (1834), 379 (392 ff.) hingewiesen; siehe ferner Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  6. 41  Wetzell, System, S.  876 f.; siehe hierzu auch Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  12. 42  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  19. 43  Merbach, Gebrechen, S.  28; siehe auch Döhring, Rechtspflege, S.  241. 44  Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (372). 45  Döhring, Rechtspflege, S.  241. 46  Döhring, Rechtspflege, S.  241 m. w. N. auch zum ausländischen Recht. So waren beispielsweise rhetorische Fähigkeiten auch in Österreich verpönt, weshalb sie nach manchen Stimmen gar aus den Gerichtssälen verbannt werden sollten; siehe zu diesem Gedanken auch Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (372 f.). 47  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  19. 48  Dölemeyer, in: Subjektivierung, S.  91 (92). 49  Siehe hierzu Holzschuher, Rechtsweg, S.  31 f. Richtigerweise muss das Symbol der Augenbinde jedoch derart verstanden werden, dass Urteile unabhängig vom Stand und dem Ansehen der beteiligten Personen gefällt werden: Vor dem Gesetz sind alle gleich. 50  Endemann, AcP 41 (1858), 289 (290); Dahlmanns, Strukturwandel, S.  21; Dölemeyer, in: Subjektivierung, S.  91 (94). 51  Linde, Lehrbuch, S.  320 f.

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Nach Puchta stellte der Gemeine Prozess daher „die Garantie der Rechtssicherheit in ihrer höchst möglichen Vollkommenheit“52 dar. Überspitzt formuliert könnte man sich einen Prozess derart vorstellen, dass der juristisch bestausgebildetste Richter vollkommen unvoreingenommen über einen Rechtsstreit entscheidet, wodurch die Parteien die „bestmöglichste Entscheidung“ bekämen. Zwar wäre ein mündliches Verfahren in der Regel schneller und diente der Verfahrensbeschleunigung wahrscheinlich eher als ein schriftliches, jedoch könne nach Ansicht Puchtas davon ausgegangen werden, dass sich die Parteien des Rechtsstreits im Zweifel gegen ein möglichst schnelles Verfahren und eher für ein möglichst gründliches und sicheres Urteil entscheiden würden53 – ein Gedanke, der in Zeiten, in denen der Gesetzgeber offenbar nur noch nach Verfahrensbeschleunigung und Verfahrensvereinfachung strebt,54 nahezu in Vergessenheit zu geraten scheint.

4.  Kritik am Gemeinen Prozess Dennoch wurde an der Verfahrensweise des Gemeinen Prozesses immer wieder Kritik geübt. Der Gemeine Prozess war aufgrund seiner Schriftlichkeit „formalistisch, schwerfällig, unnatürlich und kostspielig“55 und war bekannt für die häufigen Prozessverschleppungen.56 Der Eventualgrundsatz, welcher gerade der Verfahrensbeschleunigung dienen sollte, konnte diese Entwicklung nicht verhindern.57 Der Aktenprozess führte zu einer Überlastung der Gerichte.58 Ferner wurde bemängelt, dass durch die Schriftlichkeit des Verfahrens ein unmittelbares Aufeinandertreffen von Gericht und Parteien nicht ermöglicht wurde und der Richter sich kein persönliches Bild von der Sachlage und dem Parteiwillen verschaffen konnte.59 Schließlich

52 

Puchta, AcP 17 (1834), 379 (388 f.). Puchta, AcP 17 (1834), 379 (393). Ebenfalls kritisch zum immerwährenden Streben nach Verfahrensbeschleunigung Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (379): „Schnelligkeit und Einfachheit können und dürfen nicht die einzigen Maßstäbe für die Güte eines Prozeßrechts sein […].“; ähnlich Henckel, in: GS Bruns, S.  111 (127). 54  Siehe hierzu später unter §  6 V. 1. 55  Ahrens, Prozessreform, S.  19; siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  24 („schwerfällig und schleppend“); Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (80). 56  Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  12. 57  Schubert, ZRG GA 85 (1968), 127 (131); ebenso Schulte, Eventualmaxime, S.  10; siehe auch Wach, Handbuch, S.  132: „[…] tödtete oft im Verband mit dem ausgedehnten Rechtsmittelzug das gesunde Recht in der unsterblichen Dauer des Rechtsganges ab.“. 58  In diesem Zusammenhang wird in der Literatur immer wieder auf eine Beschreibung Goethes in seiner Autobiographie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ (3. Teil, 12. Buch) hingewiesen: „[E]in ungeheurer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jährlich, da die siebzehn Assessoren nicht einmal im Stande waren, das Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtausend Prozesse hatten sich aufgehäuft, jährlich konnten sechzig abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu.“; Goethe, Aus meinem Leben, S.  569. 59  Wach, Handbuch, S.  132; Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  6. 53 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

führten die Unüberschaubarkeit der Quellen und die Heimlichkeit zu einer großen Abneigung des Volkes gegenüber dem Gemeinen Prozess.60

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert Ausgehend von der Kritik am schriftlich-mittelbaren Gemeinen Prozess wurden die Rufe nach einer Reform des Zivilprozesses immer lauter. Die Forderungen liefen allesamt auf ein mündliches und öffentliches Verfahren hinaus: „Immer mehr brach die Erkenntniß sich Bahn, daß nur durch eine radicale Umkehr, eine Rückkehr zu den altdeutschen Principien der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens […] eine befriedigende Gestaltung des Processes sich erreichen lasse.“61

Die Lösung zur Behebung der damaligen Lage wurde im Mündlichkeitsprinzip gesehen, welches als „Allheilmittel“62 zur Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens beitragen sollte.63 Diese im liberalen Zeitgeist wurzelnde Entwicklung64 gipfelte schließlich darin, dass die Mündlichkeit des Verfahrens durch die Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 Verfassungsrang erhielt.65 Im selben Atemzug wurde gefordert, das Verfahren unmittelbarer zu gestalten, wobei der Unmittelbarkeitsgedanke teilweise nur mit den Schlagworten „Öffentlichkeit“ und „Mündlichkeit“ umschrieben wurde.66 Mündlichkeit und Unmittelbarkeit erschienen gar als „Erlösung aus der Finsternis“67. Eine Vorbildfunktion wurde vielfach im französischen Prozess gesehen.68 Das französische Verfahrensrecht – nach der Revolution im Code de Procédure Civile kodifiziert – war auf den traditionellen Prinzipien der Mündlichkeit und Öffentlich60  Wach, Handbuch, S.  132 f.; siehe auch Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (80); Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  21. 61  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (81); siehe hierzu auch Mittermaier, AcP 30 (1847), 421 (447); Dahlmanns, Strukturwandel, S.  27 f.; Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  29 ff.; Ahrens, Prozessreform, S.  18 f. 62  Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  13. 63  Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  33. Das Mündlichkeitsprinzip wurde folglich zum Leitmotiv aller Reformbestrebungen; siehe auch Nörr, ZZP 87 (1974), 277 (278); ders., Geschichtlicher Abriss, S.  122 („die vielleicht betonteste der Forderungen der Reformbemühungen zum Zivilprozeß im 19. Jahrhundert“). 64  Zur Bedeutung des Liberalismus siehe Nörr, ZZP 87 (1974), 277 (281); Schubert, ZRG GA 85 (1968), 127 (150). 65  Artikel X, §  178 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849: „Das Gerichtsverfahren soll öffentlich und mündlich sein. Ausnahmen von der Oeffentlichkeit bestimmt im Interesse der Sittlichkeit das Gesetz.“. 66  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  27 f. 67  Guttmann, ZZP 55 (1930), 39 (41). 68  Leonhardt, Reform, S.  1 ff.; Schubert, ZRG GA 85 (1968), 127 (150). Ausführlich zu den unterschiedlichen Einflüssen ausländischer Verfahrensordnungen auf die ZPO Althammer, in: FS Simotta, S.  1 ff.

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

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keit aufgebaut.69 Dabei galt der französische Zivilprozess in den durch Frankreich eroberten linksrheinischen Gebieten unmittelbar, beispielsweise in Rhein-Preußen und Rhein-Hessen von 1806 bis zum Inkrafttreten der Reichs-Civilprozeßordnung.70 In anderen Ländern diente das französische Recht dagegen als Vorbild für diverse Kodifikationen.71 Zum Ende des 18. Jahrhunderts, hauptsächlich aber zur Mitte des 19. Jahrhunderts, erließen mehrere Einzelstaaten eigene Prozessordnungen. Die immer mehr aufkommende „Idee der Kodifikation“72 war eine revolutionäre: Sie hatte ihre Wurzeln im Gedankengut der Aufklärung und war von dem Bestreben der Landesherrn gekennzeichnet, ihre weltliche Macht auch mit Hilfe von Gesetzen zu sichern. Kodifikationen wurden zum Ausdruck landesrechtlicher Souveränität.73

1.  Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten von 1793 Als erste wichtige Kodifikation im Zuge der Reformbestrebungen ist die Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten (AGO) vom 6. Juli 1793 zu nennen, welche auf dem Corpus Juris Fridericianum vom 26. April 178174 aufbaute und sich am Gedankengut des aufgeklärten Absolutismus orientierte.75 Die AGO war allerdings in gewissen Punkten noch weiterhin an den Gemeinen Prozess angelehnt: Die Schriftlichkeit wurde beibehalten, während im Gegenzug der Eventualgrundsatz aufgegeben wurde.76 a)  Verfahrensablauf Oberstes Ziel der AGO war die Ermittlung der Wahrheit (Einleitung, §§  5, 34 AGO). Charakteristisch für die AGO war das sog. Instruktionsverfahren, worunter man die „Aufnehmung und Untersuchung der in einem Prozesse vorkommenden und zu dessen Entscheidung gehörigen Thatsachen“ (Einleitung, §  8 AGO) verstand. Da eine Trennung der Tatsachenermittlung von den Rechtsausführungen bestand, 69  Siehe hierzu und zu den sonstigen Charakteristika des französischen Zivilprozesses Schubert, Französisches Recht, S.  571 ff.; Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  61 ff.; Mittermaier, Gemeiner Prozeß, S.  27 ff. Einen kurzen Überblick zur historischen Entwicklung des französischen Prozessrechts bietet Conrad, Rechtsgeschichte, S.  469 ff. 70  Conrad, Rechtsgeschichte, S.  471; Hellwig, System, S.  17. Ausführlich zur Geltung des französischen Prozessrechts in Deutschland Ahrens, Prozessreform, S.  44 ff. 71  Althammer, in: FS Simotta, S.  1 (2 f.). 72  Zur Theorie der Kodifikation und ihren geistesgeschichtlichen Grundlagen siehe Coing, Europäisches Privatrecht, S.  7 ff. 73  Siehe hierzu Schlosser, Neuere Privatrechtsgeschichte, S.  111 f. 74  Siehe hierzu die Darstellung bei Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  43 ff. 75  Ahrens, Prozessreform, S.  129 f.; Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  83 ff. Zur Entstehung der AGO siehe insbesondere Abegg, Versuch, S.  80 ff. 76  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  4 Rn.  26; siehe auch Wach, Handbuch, S.  134.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

schloss sich an Klageanmeldung und Klagebeantwortung ein Instruktionstermin an, sofern Tatsachen zwischen den Parteien umstritten waren (Erster Theil, 9. Titel, §  29 AGO).77 Die Instruktion verfolgte demnach in erster Linie das Ziel, streitig gebliebene Tatsachen durch Beweiserhebung zu klären (Erster Theil, 10. Titel, §  1 Nr.  3 AGO). Allerdings erfolgte die Instruktion nicht vor dem erkennenden Gericht, sondern unter der Leitung eines sog. Deputierten.78 Dieser vernahm die Parteien jeweils einzeln, zunächst den Kläger – unter Ausschluss seines Assistenten oder Bevollmächtigten – und anschließend den Beklagten (Erster Theil, 10. Titel, §§  22, 23 AGO). Einen direkten und unmittelbaren Kontakt zwischen den Parteien gab es grundsätzlich nicht. Nur für den Fall, dass nach der getrennten Vernehmung immer noch Unklarheit über bestimmte Tatsachen herrschte, konnte der Deputierte Kläger und Beklagten gemeinsam vorladen (Erster Theil, 10. Titel, §  24 AGO). Die Ergebnisse des Instruktionsverfahrens wurden vom Deputierten protokolliert (Einleitung, §  39 AGO),79 sodass am Ende der sog. status causae et controversiae feststand. Hierbei handelte es sich um eine „vollständige und zusammenhängende Geschichtserzählung, so wie sie ein verständiger und getreuer Referent vortragen würde“ (Erster Theil, 10. Titel, §  29 AGO). Daran schloss sich eine mündliche Verhandlung an (Erster Theil, 12. Titel, §§  3, 5 AGO),80 in welcher die Parteien die Möglichkeit hatten, ihre jeweiligen Rechtsauffassungen darzulegen und mündlich zu Protokoll zu geben (Erster Theil, 12. Titel, §§  11, 13 AGO). Die mündliche Schlussverhandlung hatte jedoch keine wirkliche prozessuale Bedeutung. Sie diente lediglich der „Aufklärung und Vervollständigung“81 und schloss letztendlich nur das vorangegangene Instruktionsverfahren ab, vor allem da trotz mündlicher Verhandlung nur das schriftlich Protokollierte zur Entscheidungsfindung herangezogen werden konnte.82 b)  Formen von Unmittelbarkeit Während des Instruktionsverfahrens gab es keinerlei Kontakt zwischen dem urteilenden Gericht und den Parteien. Die Beweisaufnahme erfolgte in der AGO folglich mittelbar.83 Da zumindest zwischen dem Deputierten und der jeweils zu vernehmenden Partei ein direkter Kontakt bestand, soll nach Ahrens eine „halbseitige Unmittelbarkeit“84 vorgelegen haben. Andere sprechen von einem „mündlich-unmit77 

Ahrens, Prozessreform, S.  133. Allgemein zur sog. Lehre von der Übertragung der Gerichtsbarkeit Wetzell, System, S.  398 ff.; Renaud, Lehrbuch, S.  66 ff. 79  Abegg, Versuch, S.  167. 80  Unter gewissen Voraussetzungen konnte es auch im unmittelbaren Anschluss an die Instruktion zum Beschluss der Sache kommen (Erster Theil, 12. Titel, §§  1, 2 AGO). 81  Hellwig, System, S.  17. 82  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  20 f.; Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  14. 83  Ahrens, Prozessreform, S.  134. 84  Ahrens, Prozessreform, S.  134. Eine solche Begrifflichkeit ist aber wenig aussagekräftig, genauso gut könnte man von einer „halbseitigen Mittelbarkeit“ sprechen; ähnlich auch Planck, 78 

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

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telbare[n] Instruktionstermin“85. Einen direkten Kontakt zwischen den Parteien und dem Gericht gab es erst in der abschließenden mündlichen Verhandlung, was teilweise als „der große Fortschritt“86 der AGO bezeichnet wird – wenngleich diese Form der Unmittelbarkeit prozessual nur eine untergeordnete Rolle spielte. Dennoch stellt die mündliche Schlussverhandlung ein Novum gegenüber dem Gemeinen Prozess dar. Das Verfahren der AGO wird daher häufig zu Recht als mittelbar-schriftliches Verfahren mit unmittelbarer Schlussverhandlung bezeichnet.87 Der Gedanke der Unmittelbarkeit wurde in Preußen erst später stärker ins Licht gerückt. Ursprünglich sollte durch die Unmittelbarkeit die Vermittlung des Streitstoffes durch die Anwälte verhindert werden,88 da man diese für die vielen Prozessverzögerungen verantwortlich machte.89 Im Corpus Juris Fridericianum wurden diese gar aus dem gerichtlichen Verfahren verbannt und durch sog. Assistenzräte ersetzt.90 Waren die Anwälte aber erst aus dem Prozess herausgedrängt, begnügte man sich mit einer Aufklärung des Sachverhalts vor dem Deputierten. Erst 1827 kam die Idee auf, der Richter selbst müsste unmittelbare Kenntnis vom gesamten Streitstoff erlangen.91 Dagegen ließe §  7 der Einleitung zur AGO eigentlich ein gänzlich unmittelbares Verfahren erwarten. Danach war der Richter „schuldig und befugt, den Grund oder Ungrund der in einem Prozesse vorkommenden Thatsachen selbst und unmittelbar zu untersuchen“. Diese Aussage steht streng genommen im Widerspruch zur tatsächlichen Ausgestaltung des Verfahrens, schließlich erfolgte die Tatsachenerforschung durch den Deputierten und gerade nicht durch den Richter bzw. das Gericht. Diese Formulierung darf daher nicht wortwörtlich verstanden werden. Sie lässt sich unter Umständen damit erklären, dass der Deputierte selbst Mitglied des Richterkollegiums war und damit auch „Richter“.92 Möglicherweise wollte der Gesetzgeber nur zum Ausdruck bringen, dass im Gegensatz zum Gemeinen Prozess der Prozessstoff nicht mehr schriftlich, sondern mündlich in Form der Anwesenheit der Parteien vor einem – wenn auch nicht alleine urteilenden – Richter stattfand.

Lehrbuch, S.  179, welcher von einem „Mittelweg“ zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit spricht. 85  Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2648). 86  Hellwig, System, S.  17; ähnlich Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  96. 87  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  14; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  20; a. A. Braun, Lehrbuch, S.  136, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der AGO bedeutungslos gewesen sei. 88  Ahrens, Prozessreform, S.  472. 89  Mittermaier, Gemeiner Prozeß, S.  23. 90  Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2647); Abegg, Versuch, S.  102 („neue Art von Advocaten“). 91  Siehe hierzu Ahrens, Prozessreform, S.  472. 92  Ahrens, Prozessreform, S.  107.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

2.  Zivilprozessordnungen im Königreich Hannover Einen wichtigen Stellenwert auf dem Weg zur Reichs-Civilprozeßordnung nahmen die Gesetzgebungen im Königreich Hannover ein.93 a)  Allgemeine bürgerliche Proceßordnung von 1847 Die Allgemeine bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover (ABPO) vom 4. Dezember 1847 baute auf dem damals geltenden Recht auf und sollte dieses vereinheitlichen.94 Eine radikale Umgestaltung des Verfahrensablaufs fand dagegen nicht statt,95 vielmehr folgte die ABPO den Strukturen des Gemeinen Prozesses und ging nur tendenziell darüber hinaus.96 Ziel der ABPO war die Ermöglichung eines sicheren, einfachen und raschen Verfahrens.97 aa)  Verfahrensablauf Die ABPO kannte sowohl ein ordentliches als auch ein summarisches Verfahren, wobei Letzteres nur die Ausnahme bildete (§  90 ABPO). Im ordentlichen Verfahren wurde zwischen einem regelmäßigen und einem abgekürzten Verfahren differenziert (§  91 Abs.  1 ABPO). Das regelmäßige Verfahren bestand im Wesentlichen aus einem Schriftenwechsel (§§  91 ff. ABPO),98 während im abgekürzten Verfahren die Verhandlungen mündlich zu Protokoll gegeben wurden (§  104 Nr.  1 ABPO).99 Der gemeinrechtliche Eventualgrundsatz100 sowie die Trennung in ein Behauptungsund Beweisverfahren101 bestimmten den Verfahrensgang. Zur Aufklärung des Sachverhalts wurde dem Richter ein Fragerecht102 zugestanden. Waren die Angaben im Schriftenwechsel nur unzureichend, konnte der Richter die Parteien zu einem Instruktionstermin laden und ihr persönliches Erscheinen anordnen (§§  28 Abs.  1, 98 Abs.  2 ABPO). Diese waren verpflichtet, dem Richter alle zur Sachverhaltsaufklärung notwendigen Fragen zu beantworten.103 Die Beweisaufnahme im eigens   93 

Ahrens, Prozessreform, S.  324. Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  68.   95  Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  69: „Ein vollständiger Wechsel der Grundprincipien, ein unvermittelter Uebergang von einem System zum andern […] ist umso sorgfältiger vermieden [worden].“.   96  Zu den gemeinrechtlichen Strukturen siehe Ahrens, Prozessreform, S.  416 ff.; Schulte, Even­ tualmaxime, S.  14; kritisch hierzu Mittermaier, AcP 30 (1847), 248 (273). Zu den Abweichungen vom Gemeinen Prozess siehe Dahlmanns, Strukturwandel, S.  24 ff.   97  Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  69.   98  Siehe hierzu Ahrens, Prozessreform, S.  420; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  23.   99  In den Anwendungsbereich der abgekürzten Verfahren fielen vor allem Prozesse mit geringerem Umfang, z. B. Streitigkeiten mit einem Streitwert von unter 50 Talern (§  103 Nr.  1 ABPO). 100  Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  68; Ahrens, Prozessreform, S.  420. 101  Zwischen beiden Verfahrensstadien stand das gemeinrechtliche Beweisinterlokut (§  111 ABPO). 102  Mittermaier, AcP 30 (1847), 248 (274 f.); Dahlmanns, Strukturwandel, S.  24 f. 103  Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  135.   94 

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

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hierfür vorgesehenen Beweistermin (§  114 ABPO) erfolgte schließlich vor dem Richter.104 Nur ausnahmsweise konnte – das Einverständnis beider Parteien vorausgesetzt – der Augenscheinsbeweis vor einem Gerichtsunterbedienten angetreten werden (§  135 Abs.  3 ABPO). Ferner bestand die Möglichkeit der Vernehmung von Zeugen in ihrer eigenen Wohnung bzw. die Vernehmung durch ein anderes Gericht, sofern die Zeugen zu weit entfernt wohnten (§  123 Abs.  2 ABPO). Insgesamt führte der hannoversche Gesetzgeber zwar erste Ansätze einer mündlichen Verhandlung ein, konnte sich gleichzeitig aber nicht komplett von einem schriftlichen Verfahren verabschieden:105 „Übernommen wurde so die Zwischen­ regelung eines ausgeprägten schriftlichen Verfahrens mit einer zwingenden, funktional aber wenig klaren mündlichen Verhandlung.“106 bb)  Formen von Unmittelbarkeit Hinsichtlich eines unmittelbaren Verfahrens gab es zwischen der Regierung und den Ständen107 im Rahmen der Vorarbeiten zur ABPO unterschiedliche Ansichten. In den Regierungsmotiven finden sich dabei nur kurze Ausführungen zur „Unmittelbarkeit“. Diese wurde mit der Mündlichkeit gleichgestellt, „weil bei der münd­ lichen Verhandlung die Mittheilung zwischen Richter und Partei ohnehin eine unmittelbare ist“108. Am Regierungsentwurf beanstandeten die Stände vor allem die Schriftlichkeit des Verfahrens, da „das, was die Motive mündliche Verhandlung nennen, im Grunde nur ein durch Protocollaufnahme vermitteltes schriftliches Verfahren ist.“109 Nur ein mündliches Verfahren „gebe die Möglichkeit einer genügenden Rechtssicherheit, indem nur dann das Recht, seine Verletzung und deren Hebung richtig erkannt werden könne, wenn der Recht Suchende nicht lediglich durch die Vermittelung eines aus schriftlichen Actenstücken vortragenden Referenten, sondern unmittelbar in freier mündlicher Rede seinen gesammten Richtern sein Begehr und, womit er dasselbe begründen könne, vortragen dürfe; nur dann sei eine Einfachheit des Verfahrens zu hoffen, wenn mit dem Gegenüberstehen der Parteien vor ihrem Richter Chicane und absichtliche Sach- und Rechtsverdunkelung das Feld räumen müßten, und auch nur dann endlich trete eine genügende Raschheit des Verfahrens in Aussicht, wenn die Nothwendigkeit umständlicher Schriftsätze und der richterlichen Decretur möglichst beschränkt werden könne.“110 104  Siehe für den Zeugenbeweis §  124 Abs.  3 S.  1 ABPO: „Die Abhörung geschieht allein durch den Richter […].“; siehe auch Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2620). 105  Ahrens, Prozessreform, S.  420 f.; kritisch hierzu Mittermaier, AcP 30 (1847), 248 (275), wonach die Einführung eines unmittelbaren Verfahrens einen sicheren und kürzeren Weg dargestellt hätte. 106  Ahrens, Prozessreform, S.  421. 107  Diesen wurde am 24. Februar 1846 mit königlichem Schreiben der Regierungsentwurf zum Zwecke der Prüfung und Beratung vorgelegt; Ständische Motive, in: Leonhardt, ABPO, S.  3. 108  Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  137; Ahrens, Prozessreform, S.  423. 109  Ständische Motive, in: Leonhardt, ABPO, S.  70. 110  Ständische Motive, in: Leonhardt, ABPO, S.  70.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Schließlich wurde in den Ständischen Motiven von einem „Grundsatz der wahren Unmittelbarkeit zwischen Parteien und Richter“111 gesprochen, wodurch das Vertrauen in die Gewissenhaftigkeit und Integrität des Richters gestärkt werden könne. Bei diesen Ausführungen fällt auf, dass die Stände einerseits einen unmittelbaren Verkehr zwischen Richter und Parteien forderten, andererseits diese Forderung allein im mündlichen Verfahren wurzelte. Die Unmittelbarkeit wurde nur dort gesehen, wo das Verfahren mündlich ausgestaltet ist, d. h. sie wurde mit diesem identifiziert: Unmittelbarkeit setzte die (mündliche) Verhandlung vor allen erkennenden Richtern voraus.112 Ahrens betont aber, dass hier jedoch nur von einer ersten „Annäherung an den Begriff der Unmittelbarkeit“113 gesprochen werden könne. Dem ist zuzustimmen, schließlich gingen die Stände in ihren Motiven gerade nicht von einem eigenen Unmittelbarkeitsgrundsatz aus. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Terminus an einer Stelle genannt wird. In ihren Ausführungen beziehen sich die Stände nur auf die Mündlichkeit der Verhandlung, welche an diversen Stellen immer wieder zum „Prinzip“ erhoben wird. Weiterhin zeigt sich in der Ausgestaltung des Beweisverfahrens, dass dieses zumindest in gewisser Weise unmittelbar erfolgte. Unmittelbar war es insofern, als die Zeugenvernehmung durch den Richter erfolgte, dieser folglich den Verfahrensstoff selbst wahrnehmen konnte.114 Dagegen hatten die Parteien wenig Einfluss auf die Beweiserbringung. Zwar durften sie auf Verlangen bei der Zeugenvernehmung anwesend sein, jedoch musste der Richter die Parteien auf Wunsch der Zeugen wiederum entfernen (§  124 Abs.  1 und 4 ABPO).115 Ferner war kein unmittelbarer Kontakt zu den Zeugen vorgesehen, denn sie durften nur vermittelt über den Richter Fragen an die Zeugen richten (§  124 Abs.  7 ABPO). Dahlmanns spricht insofern von einem „ersten Schritt zu Unmittelbarkeit und Parteiöffentlichkeit der Beweisaufnahme“116. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Formen von Unmittelbarkeit in der ABPO bereits stärker zum Tragen kamen als in früheren Verfahrensordnungen. Mittelbare Strukturen wurden immer mehr abgebaut.117 Unmittelbare Formen der Verhandlung fanden sich insbesondere im Rahmen der Beweisaufnahme mittels 111 

Ständische Motive, in: Leonhardt, ABPO, S.  71. Ahrens, Prozessreform, S.  423. 113  Ein einheitliches Konzept war noch nicht vorhanden; siehe Ahrens, Prozessreform, S.  423, 425. 114  Ahrens, Prozessreform, S.  424, welcher diesen Aspekt als „zweite Zielsetzung“ eines unmittelbaren Verfahrens bezeichnet. 115  Der Regierungsentwurf sah eine Anwesenheit der Parteien ursprünglich nicht vor. Durch den Ausschluss der Parteien sollte eine Störung der gerichtlichen Tätigkeit und eine Beeinflussung der Zeugen verhindert werden; siehe Regierungsmotive, in: Leonhardt, ABPO, S.  162. Erst die Stände konnten durch ihre Erwiderung ein Anwesenheitsrecht der Parteien durchsetzen; Ständische Motive, in: Leonhardt, ABPO, S.  162 f.; Ahrens, Prozessreform, S.  424; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  25. 116  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  25. 117  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  24. 112 

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

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Zeugenvernehmung, jedoch nur in der Beziehung des Gerichts zu den Zeugen, nicht jedoch im Verhältnis von Parteien und Zeugen. Im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung bestand ein unmittelbarer Kontakt zwischen Richter und Parteien in Form der beiderseitigen Anwesenheit nur, sofern der Richter von seinem Fragerecht Gebrauch machte. Wenngleich die „Unmittelbarkeit“ noch nicht als eigenständiger Verfahrensgrundsatz gesehen wurde, sondern einen besonderen Ausdruck der Mündlichkeit darstellte, offenbaren die bisherigen Ergebnisse dennoch eine gewisse Tendenz zu mehr Formen von Unmittelbarkeit im Zivilprozess. b)  Bürgerliche Proceßordnung von 1850 Die ABPO konnte den damaligen Forderungen nach Mündlichkeit und Öffentlichkeit nicht gerecht werden und litt unter den politischen Ereignissen des Jahres 1848.118 Noch vor ihrem Inkrafttreten wurde sie daher bereits am 1. Mai 1848 wieder aufgehoben,119 ehe zwei Jahre später die Bürgerliche Proceßordnung für das Königreich Hannover (BPO) vom 8. November 1850 erlassen wurde. Die BPO verband gemeinrechtliche Verfahrensstrukturen mit fortschrittlichem Gedankengut – hauptsächlich dem französischen Zivilprozess120 –, ohne jedoch gänzlich an diesen angelehnt zu sein.121 Selbst für den Verfasser der BPO, den hannoverschen und späteren preußischen Justizminister Gerhard Adolph Wilhelm Leonhardt,122 lag das Gesetz „gleichsam in der Mitte zwischen dem romanischen und deutschen Processe und ist wohl geeignet, die verschiedenen Proceßprincipien zu vermitteln.“123 aa)  Verfahrensablauf Das Verfahren124 war in die beiden Abschnitte des Behauptungs- und Beweisverfahrens geteilt.125 Die Klageeinreichung erfolgte schriftlich durch einen beim Prozessgericht zugelassenen Anwalt.126 Die Klageanträge wurden dem Beklagten übermittelt, welcher schließlich seine Gegenanträge dem Gericht übermitteln und

118 

Engel, Beweisinterlokut, S.  108. Ahrens, Prozessreform, S.  434 f. 120  Ahrens, Prozessreform, S.  430 („janusköpfiges Antlitz“); Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 („vermittelnde Tendenz“); Bülow, Zivilprozeßrecht, S.  84. An den französischen Zivilprozess wiederum angelehnt war der Genfer Zivilprozess von 1819, welcher auch als Vorbild diente; Hellwig, System, S.  17 f.; Schwartz, Vierhundert Jahre, S.  608 ff., 614. 121  Mittermaier, AcP 33 (1850), 119 (121) [keine „blinde Nachahmung“]. 122  Zu Leben und Werk Leonhardts siehe Ahrens, Prozessreform, S.  436 ff. 123  Leonhardt, Civilproceßverfahren, S.  3. 124  Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das regelmäßige Verfahren vor den Obergerichten (§§  184 ff. BPO). Daneben gab es ein außerordentliches Verfahren vor den Obergerichten (§§  460 ff. BPO) sowie abweichende Vorschriften für Verfahren vor den Amtsgerichten (§§  375 ff. BPO). 125  Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (49); Bülow, Zivilprozeßrecht, S.  85. 126  Leonhardt, Civilproceßverfahren, S.  18; Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (63). 119 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

dem klägerischen Anwalt aushändigen musste (§§  188, 191 BPO).127 Die schriftlichen Anträge hatten für die sich anschließende mündliche Verhandlung jedoch nur vorbereitenden Charakter (§  92 BPO).128 In der mündlichen Verhandlung stellten beide Parteien ihre jeweiligen Anträge, ehe anschließend in freier Rede verhandelt wurde bis das Gericht hinreichend über den Sachverhalt aufgeklärt war (§§  98, 99 Abs.  1, 100 BPO). Die Leitung der mündlichen Verhandlung oblag dem Vorsitzenden des Gerichts, ein richterliches Fragerecht diente der genauen Aufklärung der tatsächlichen Verhältnisse (§§  109, 111 Abs.  1 BPO). Die Besonderheit des Verfahrens lag darin, dass die mündlichen Vorträge die alleinige Entscheidungsgrundlage für die richterliche Entscheidung darstellten (§  101 BPO):129 „Quod non est in ore, non est in mundo.“130 Dadurch entstand die Idee der „Einheit der mündlichen Verhandlung“, d. h. trotz Auseinanderfallens der Verhandlung in äußerlich mehrere Termine, wurde diese als Einheit begriffen.131 Am Ende der mündlichen Verhandlung erging ein das Gericht bindendes Beweisurteil, das gemeinrechtliche Beweisinterlokut wurde folglich beibehalten (§§  215, 218 Abs.  1 BPO). Das sich anschließende Beweisverfahren untergliederte sich in die drei Abschnitte der Beweisantretung, der Beweisaufnahme und der Beweisausführung.132 Dem Grundsatz nach erfolgte die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht und damit vor allen erkennenden Richtern (§  224 Abs.  1 BPO). Dies war jedoch nicht zwingend, denn die BPO sah mehrere Ausnahmefälle vor: Die Beweisaufnahme konnte nur durch ein einzelnes Mitglied des Prozessgerichts, durch ein anderes G ­ ericht oder auch außerhalb des Sitzungssaales erfolgen (§§  225, 228, 230 BPO). In diesen Fällen wurden die gewonnenen Ergebnisse dem Prozessgericht auf der Grundlage der Protokolle vorgetragen (§  236 Abs.  1 BPO).133 Auf welche Art und Weise die Beweisaufnahme erfolgte, lag vollkommen im Ermessen des Gerichts.134 Gerade beim Zeugenbeweis bestand ein großer Spielraum, sodass das Prozessgericht „nach dem Befinden der Umstände, insbesondere wenn die Lage seiner Geschäfte [es] erforderlich macht“ (§  272 BPO) die Beweisaufnahme einem beauftragten Richter übertragen konnte. Die Parteien hatten zwar ein Anwesenheitsrecht bei der Beweisaufnahme, im Rahmen der Zeugenvernehmung mussten sie jedoch ihre Fragen 127 

Ahrens, Prozessreform, S.  455. Leonhardt, Civilproceßverfahren, S.  20; ders., Neues Magazin für hannoversches Recht 1 (1860), 25 (41). 129  Erläuterungen, in: Leonhardt, BPO, S.  409; Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (51); Ahrens, Prozessreform, S.  455 f., 462. Eine Bezugnahme auf die eingereichten Schriftsätze war den Parteien folglich nicht gestattet (§  99 Abs.  2 BPO). 130  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  38. 131  Regierungsmotive, in: Leonhardt, BPO, S.  339; Ahrens, Prozessreform, S.  456, 462; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  42 f.; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  21. 132  Erläuterungen, in: Leonhardt, BPO, S.  495. 133  Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (60). 134  Ahrens, Prozessreform, S.  475. Daher gab es auch keinerlei Rechtsmittel gegen die richterliche Entscheidung hierüber (§  224 Abs.  2 BPO). 128 

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

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– wie schon in der ABPO – vermittelt über den Richter stellen (§  266 Abs.  3 BPO).135 War der Rechtsstreit entscheidungsreif, wurde das Urteil gefällt (§§  343 ff. BPO). bb)  Formen von Unmittelbarkeit Hier muss zwischen dem Behauptungs- und Beweisverfahren differenziert werden. Im Behauptungsverfahren bestand ein unmittelbarer Kontakt zwischen den Parteien und dem Gericht, ebenso zwischen den Parteien untereinander, da diese gleichzeitig anwesend waren. Aus diesem Grund wird in der Literatur von der Unmittelbarkeit der Parteiverhandlung gesprochen.136 Jedoch mussten sich die Parteien vor den Obergerichten anwaltlich vertreten lassen und durften ihre Ausführungen nur unter dem Beistand ihrer Anwälte vortragen (§§  67 Abs.  1, 103 BPO). Daher soll nach Ahrens immer noch eine gewisse Barriere zwischen dem Gericht und den Parteien bestanden haben, der Anwaltszwang habe insofern Elemente einer mittelbaren Verfahrensgestaltung beibehalten.137 Aus der Einführung einer anwaltlichen Vertretungspflicht auf die Mittelbarkeit des Verfahrens zu schließen, erscheint indes zu weit. Dies könnte man nur annehmen, wenn die Parteien ihre Ausführungen gerade nicht selbst, sondern nur durch ihre Anwälte vortragen lassen konnten. So weit ging die Beistandspflicht aber gerade nicht. Ahrens betont zudem an anderer Stelle selbst, dass der „Grundsatz der Unmittelbarkeit für die Parteihandlungen im ersten Verfahrensabschnitt“138 – und somit für das Behauptungsverfahren – galt. Die Beweisaufnahme sollte „regelmäßig“ vor dem erkennenden Gericht und daher unmittelbar erfolgen. Wurde dagegen – wie häufig – die Beweisaufnahme „ausnahmsweise“ einem beauftragten Richter anvertraut oder ein sonstiger Ausnahmefall angewandt, herrschte vielmehr Mittelbarkeit – zumindest sofern man für die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme die Beweiserbringung vor allen erkennenden Richtern v­ erlangt. Die Regierungsmotive stellen für das Verhältnis von „regelmäßig“ und „aus­ nahmsweise“ ausdrücklich klar, dass nur für die Abschnitte der Beweisantretung und der Beweisausführung der Grundsatz der Mündlichkeit gilt, nicht jedoch für den Abschnitt der Beweisaufnahme.139 Richtigerweise müsste vom „Grundsatz der Unmittelbarkeit“ gesprochen werden, jedoch wurden Mündlichkeit und Unmittelbarkeit zur damaligen Zeit mehr oder weniger gleichgesetzt.140 Die Gesetzgeber gestanden eine gewisse Inkonsequenz zwar ein, begründeten dies aber mit einer andernfalls zu großen Gerichtsüberlastung sowie einem unverhältnismäßigem Kostenaufwand.141 Auf eine unmittelbare Anschauung des Beweismaterials durch den Richter wurde daher kein 135 

Ahrens, Prozessreform, S.  458. Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  17. 137  Ahrens, Prozessreform, S.  474. 138  Ahrens, Prozessreform, S.  475. 139  Erläuterungen, in: Leonhardt, BPO, S.  495; siehe ferner Schüler, Verhältnis, S.  39. 140  Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit siehe sogleich. 141  Erläuterungen, in: Leonhardt, BPO, S.  495. 136 

126

§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

großer Wert gelegt.142 Eine Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gab es – untermauert durch die eigenen Aussagen in den Regierungsmotiven – in der BPO folglich nicht.143 cc)  Die Bedeutung der Unmittelbarkeit nach damaligem Verständnis In den Regierungsmotiven zur BPO nahm der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine wichtige Rolle ein, weshalb er an diversen Stellen angesprochen wurde. Gleich zu Beginn ist von dem „Grundsatze der Mündlichkeit oder, richtiger ausgedrückt, […] dem Grundsatze der Unmittelbarkeit der Verhandlung eines Rechtsstreits vor den zu seiner Entscheidung berufenen Richtern“144

die Rede. Weiterhin wird ausgeführt: „Der Entwurf legt den Grundsatz der Mündlichkeit dem Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten als weitgreifende Regel zum Grunde. Wie dieses auch einer natürlichen Anschauung der Verhältnisse gemäß erscheint, treten beide Theile vor dem Richter auf und tragen ihm ihr Begehr vor; […] So treten die Parteien vor ein unbefangenes Gericht; dieses erfährt nicht durch ein Referat, wie der Proceß sich in bestimmten und feststehenden Gränzen bereits entwickelt habe, vielmehr sieht es selbst, wie vor seinen Augen der Proceß sich entwickelt und seine Gränzen erhält.“145

An anderer Stelle wird von einem „Grundsatz der unmittelbaren Verhandlung“ gesprochen.146 In den Gesetzeserläuterungen heißt es schließlich: „In der mündlichen Verhandlung lebt und bewegt sich der Rechtsstreit, die mündliche Verhandlung bildet für den Richter die alleinige Erkenntnißquelle, denn der Grundsatz der Mündlichkeit besteht eben darin, daß der Rechtsstreit unmittelbar vor den zu dessen Ab­ urthei­lung berufenen Richtern gepflogen werde; […].“147

In der Literatur wird hierzu ausgeführt: „Der Gedanke ist: der Richter soll das Material, daß er rechtlich zu sichten hat, aus erster Hand bekommen, nicht abgeschwächt oder entstellt, durch irgend welchen Zwischenträger, mögen es nun Protokolle, Parteischriftsätze oder was sonst sein, zwischen dem Munde dessen, der Material liefert, und dem Ohr dessen, der die Aufgabe hat, dieses Material den bestehenden Rechtssätzen unterzuordnen.“148 142 

Dahlmanns, Strukturwandel, S.  47. Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  17; Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  14; Ahrens, Prozessreform, S.  475 f.; sehr kritisch zu dieser Verfahrensgestaltung Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (60 f.), wonach die reine Unmittelbarkeit immer noch die große Ausnahme darstellte und in der BPO nicht zur Anwendung gekommen sei; ähnlich Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  22, welcher davon spricht, dass die kommissarische Beweiserhebung dem ganzen Verfahren den Stempel der Mittelbarkeit aufgedrückt habe. 144  Regierungsmotive, in: Leonhardt, BPO, S.  331. 145  Regierungsmotive, in: Leonhardt, BPO, S.  333. 146  Regierungsmotive, in: Leonhardt, BPO, S.  338. 147  Erläuterungen, in: Leonhardt, BPO, S.  409. 148  Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (60). 143 

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

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Die „reine Unmittelbarkeit“ sei es, in welcher der Schwerpunkt des Mündlichkeitsprinzips ruhe.149 Das Verhältnis von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit wird jedoch an keiner Stelle näher erläutert. Insbesondere wird nicht klar, ob es sich hierbei um zwei eigenständige Prozessgrundsätze handeln sollte. Teilweise wird von „Mündlichkeit“ gesprochen, teilweise wiederum von „Unmittelbarkeit“ – die Gesetzesmaterialien entbehrten jeglicher Struktur.150 Leonhardt formulierte schließ­lich zehn Jahre nach Erlass der BPO: „Neben dem Grundsatze der Mündlichkeit soll als gesetzliche Regel der Grundsatz der Unmittelbarkeit bestehen und mit Recht wird behauptet, daß die Nichtbeachtung dieser gesetzlichen Regel Nichtigkeit des Urtheils mit sich führe.“151

Die Formulierung „neben“ ließe eigentlich darauf schließen, dass es sich um zwei verschiedene Grundsätze handeln soll, jedoch versucht Leonhardt in selbigem Aufsatz eine Ansicht152 zu widerlegen, welche gerade von dieser Verschiedenheit ausgeht.153 Andere Stimmen sahen die Unmittelbarkeit nur als „Ausdrucksform des Grundsatzes der Mündlichkeit“154 bzw. als eine mit der Mündlichkeit verknüpfte Grundbedingung des Verfahrens155 an. Die Begriffe wurden letztendlich synonym verwendet und auch in der Literatur weitestgehend gleichgesetzt.156 Dem Gesetzgeber ging es jedenfalls zweifelsfrei darum, dass zwischen dem Gericht und den Parteien ein unmittelbarer Kontakt entstehen und damit eine direkte Kommunikationsmöglichkeit geschaffen werden sollte.157 Ein „richtiges Urteil“ konnte nur gefällt werden, wenn alle zur Entscheidung berufenen Richter vom Streitstand erfahren haben. Dementsprechend musste die mündliche Verhandlung wiederholt werden, sollte es zu einem Richterwechsel gekommen sein: „Daraus folgt mit unabweislicher Consequenz, daß, wenn auf Grund einer bestimmten mündlichen Verhandlung wegen Wechsels in der Person der Richter oder wegen Mangels der erforderlichen Stimmenmajorität die richterliche Entscheidung nicht erfolgen kann, jene mündliche Verhandlung wiederholt werden muß.“158

149 

Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (61). Ahrens, Prozessreform, S.  470 („bis zur Unendlichkeit ineinander verwoben“). Die Begriffsvermischungen finden sich auch in der Literatur; siehe unter anderem Brüel, Magazin für hannoversches Recht 1 (1851), 50 (51). 151  Leonhardt, Neues Magazin für hannoversches Recht 1 (1860), 25 (31). 152  Meyer, Magazin für hannoversches Recht 7 (1857), 86 (89 ff.). 153  Leonhardt, Neues Magazin für hannoversches Recht 1 (1860), 25 (30 ff.). Auch an anderer Stelle setzt Leonhardt die Mündlichkeit mit der Unmittelbarkeit gleich; Leonhardt, Civilproceßverfahren, S.  45. 154  Schüler, Verhältnis, S.  38; so wohl auch Scheuerlen, AcP 46 (1863), 48 (60). 155  Gerau, AcP 33 (1850), 416 (417). 156  Schüler, Verhältnis, S.  38 m. w. N. 157  Ahrens, Prozessreform, S.  471. 158  Erläuterungen, in: Leonhardt, BPO, S.  412 (§  101 BPO Fn.  1); a. A. Meyer, Magazin für hannoversches Recht 7 (1857), 86 (89 ff.). 150 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Der Prozess sollte sich vor den Augen des Gerichts entwickeln, denn dies erleichtere die Auffindung und Beurteilung der konkreten Streitpunkte.159 Wenn §  101 BPO vorschreibt, dass die mündlichen Parteivorträge das gesamte Rechts- und Sachverhältnis umfassen mussten und die Schriftsätze nur vorbereitenden Charakter hatten, so kann daraus der Schluss gezogen werden, dass die Mündlichkeit in erster Linie die Form des Parteivorbringens bestimmte.160 Die Unmittelbarkeit dagegen bezeichnete zum einen, auf welche Art und Weise die Prozesshandlungen der Parteien zur Kenntnis des Gerichts gelangten,161 zum anderen, vor wem dies alles – nur vor einem Richter oder dem gesamten Kollegium – zu geschehen hatte. Eine solche Inhaltsbestimmung korrespondiert schließlich mit den oben angesprochenen Formen von Unmittelbarkeit, der Erkenntnis, dass eine solche im Rahmen der Beweisaufnahme nicht bestanden hat und den diesbezüglichen Ausführungen des Gesetzgebers in den Erläuterungen. Die Unmittelbarkeit hatte demnach zwei Bedeutungen: Sie ermöglichte den Parteien einen direkten Kontakt mit dem Gericht, welches wiederum die Möglichkeit hatte, den Verfahrensstoff unmittelbar wahrzunehmen. Sie bezog sich folglich im Wesentlichen auf die Stoffeinbringung und die Stoffaufnahme.162 Die Unmittelbarkeit diente sowohl den Parteien als auch dem Gericht, sodass sich von einer „Doppelfunktion“ sprechen lässt.

3.  Bayerische Prozeßordnung von 1869 Abschließend soll ein Blick auf die Entwicklung im Königreich Bayern geworfen werden. Nach Erlass des Codex Juris Bavarici Judiciarii vom 14. Dezember 1753163 gab es eine lange Zeit der Reformen. Im Grundlagengesetz vom 4. Juni 1848164 wurden schließlich die rechtspolitischen Forderungen der Märzrevolution zum gesetzgeberischen Programm.165 Art.  14 des Grundlagengesetzes sah insofern vor: „Das Verfahren in Civilsachen soll die unmittelbare mündliche öffentliche Verhandlung vor dem urtheilenden Gerichte zur wesentlichen Grundlage erhalten. Dieser Hauptverhandlung soll bei den Collegialgerichten eine nach dem Bedürfniß bemessene schriftliche Einleitung

159  Oppermann, AcP 38 (1855), 14 (23). Siehe zu diesem Gedanken nochmals die Regierungsmotive, in: Leonhardt, BPO, S.  333. 160  Ebenso Ahrens, Prozessreform, S.  471; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  66; ferner Gerau, AcP 33 (1850), 416 (435), wonach die Mündlichkeit nicht den Zweck, sondern nur die Form des Verfahrens darstelle. 161  So zutreffend Ahrens, Prozessreform, S.  470. 162  Zutreffend Ahrens, Prozessreform, S.  471, 473. 163  Dieser stellte eine Kodifikation des bereits bestehenden Gemeinen Rechts dar; Hartig, Reform, S.  13; Ahrens, Prozessreform, S.  488. 164  Gesetz, die Grundlagen der Gesetzgebung über die Gerichts-Organisation, über das Verfahren in Civil- und Strafsachen und über das Strafrecht betreffend (Grundlagengesetz) vom 4. Juni 1848, BayGbl. 1848, S. 137. 165  Ahrens, Prozessreform, S.  531.

II.  Kodifikationsbestrebungen im 19. Jahrhundert

129

vorangehen, welche die Bestimmung hat, die streitigen Punkte zwischen den Partheien festzusetzen, und dem mündlichen Vortrage eine gründliche Unterlage zu verleihen.“

Als Vorbild sollten in erster Linie die Prozessordnungen der linksrheinischen Gebiete dienen (Art.  15 Abs.  1 Grundlagengesetz). Insbesondere der Entwurf für eine Prozessordnung von 1861 entsprach diesen Grundsätzen. Die hierauf beruhende Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern (BayPO) vom 29. April 1869 war dementsprechend stark an das französische Prozessrecht angelehnt.166 a)  Verfahrensablauf Das Verfahren bestand aus einem vorbereitenden Schriftenwechsel mit anschließender mündlicher Verhandlung.167 Die Klageerhebung erfolgte durch Zustellung der anwaltlich verfassten Klageschrift beim Beklagten (Art.  224, 225 BayPO). Nach gegenseitiger Zustellung der sog. motivierten Anträge – die Schriftsätze waren nur vorbereitender Natur168 – konnte jede Partei den Rechtsstreit zur Sitzung bei Gericht anmelden (Art.  229, 230 Abs.  1, 234 BayPO). Die mündliche Verhandlung begann durch den Vortrag des klägerischen Anwalts (Art.  246 Abs.  1 BayPO).169 Die Verhandlungsleitung oblag dem Richter, welcher zur Feststellung des tatsächlichen Sachverhalts ein umfassendes Fragerecht hatte (Art.  150 Abs.  1, 154 BayPO).170 War das Gericht nach seinem Dafürhalten ausreichend aufgeklärt, verfügte es den Schluss der Verhandlung (Art.  158 BayPO).171 Anschließend erging das Beweisurteil (Art.  328 BayPO), ehe die Beweiserhebung angeordnet wurde. Dabei kam es nicht zu einer Verfahrenstrennung wie in bisherigen Prozessordnungen, da das Beweisurteil der BayPO nicht mit dem gemeinrechtlichen Beweisinterlokut gleichgesetzt werden kann.172 Die Beweisaufnahme fand grundsätzlich in der Sitzung statt. Nur wenn dies nicht möglich war, konnte diese vor einem beauftragten Richter oder einem anderen Einzelgericht des Königreichs erfolgen (Art.  334 BayPO).173 Dementsprechend wurden die Zeugen in der Sitzung durch den vorsitzenden Richter vernommen (Art.  416, 419 BayPO). Das Gericht konnte nach seinem Ermessen Ausnahmen zulassen und die 166  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  232; Leonhardt, Reform, S.  22; Hartig, Reform, S.  31. Zum Entwurf von 1861 wurde angemerkt, dass dieser nicht nur alleine auf dem französischen Prozess beruhe, sondern vielmehr eine neue Prozessordnung darstelle; Seuffert, KritVJ 4 (1862), 583 (589). Kritisch zur Rezeption des französischen Prozessrechts Planck, KritVJ 4 (1862), 232 (234 ff.). 167  Ahrens, Prozessreform, S.  546. 168  Planck, KritVJ 4 (1862), 232 (239 f.). 169  Vor den Bezirks-, Appellations- und Handelsgerichten herrschte Anwaltszwang (Art.  79 Abs.  1 BayPO). 170  Bomsdorf, Prozeßmaximen, S.  233. 171  Andernfalls wurde die Wiederaufnahme der Verhandlung angeordnet (Art.  274 Abs.  1 BayPO). 172  Ahrens, Prozessreform, S.  549 f. („Zwischenbescheid“). Zu den Unterschieden zum gemeinrechtlichen Beweisinterlokut siehe Hartig, Reform, S.  165 ff. 173  Die Beweisaufnahme vor dem beauftragten Richter erfolgte nicht-öffentlich (Art.  341 BayPO).

130

§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Zeugenvernehmung einem beauftragten Richter übertragen (Art.  334, 405 BayPO).174 Im Rahmen der Zeugenvernehmung durften die Parteien grundsätzlich nur vermittelt über den Richter Fragen an die Zeugen stellen. Eine direkte Zeugenbefragung stand unter dem Erlaubnisvorbehalt des Richters (Art.  420 Abs.  1 BayPO). War die Beweisaufnahme abgeschlossen, kam es zur Urteilsverkündung. b)  Formen von Unmittelbarkeit Die mündliche Verhandlung erfolgte vor den erkennenden Richtern und damit unmittelbar. Selbiges gilt – abgesehen von den Ausnahmefällen der Beweisaufnahme durch einen beauftragten Richter – auch für das Stadium der Beweisaufnahme. Für die Zeugenvernehmung wird dies nochmals ausdrücklich klargestellt, wenn es heißt, dass diese in der Sitzung stattzufinden hat (Art.  402 BayPO). In diesem Punkt geht die BayPO somit über die hannoversche BPO hinaus und verwirklichte eine Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme schon eher, da nunmehr ein größerer Wert auf die Beweisaufnahme vor allen erkennenden Richtern gelegt wurde.175 Dies wurde schließlich noch dadurch untermauert, dass an der Urteilsfällung nur diejenigen Richter mitwirken durften, welche an der Verhandlung teilgenommen hatten (Art.  270 BayPO). Dementsprechend wird diese Bestimmung als bedeutsam für den Unmittelbarkeitsgrundsatz angesehen.176 Ferner bestimmte Art.  277 Abs.  3 BayPO, dass bei der Urteilsverkündung alle Richter anwesend sein mussten, wobei diese Vorschrift nur aus Zweckmäßigkeitsgründen in die BayPO aufgenommen wurde. Sie war keine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Urteils.177 Dennoch führte sie dazu, dass bei der Urteilsverkündung nach außen erkennbar war, dass das Urteil durch alle Richter gemeinsam gefällt worden ist. Insgesamt verwirklichte die BayPO den Gedanken der Unmittelbarkeit sehr stark. Bereits zum Entwurf von 1861 wird daher von einer „vollständig durchgeführten Unmittelbarkeit“178 gesprochen.

III.  Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877 Der Kodifikationsgedanke hatte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht. In nahezu jedem Territorium des Deutschen Reiches gab es (zumindest Entwürfe für) Zivilprozessordnungen.179 Der Rechtspartikularismus führte zu 174 

Ahrens, Prozessreform, S.  550. Ahrens, Prozessreform, S.  550; siehe auch Hartig, Reform, S.  68. 176  Hartig, Reform, S.  67 f. 177  Hartig, Reform, S.  68. 178  Ahrens, Prozessreform, S.  537. Andere urteilten dahingehend, dass der Entwurf „von dem Bestreben durchdrungen sei, die Justizertheilung möglichst unmittelbar zu machen“; Seuffert, KritVJ 4 (1862), 583 (586). 179  Nörr, ZZP 87 (1974), 277. 175 

III.  Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877

131

einer großen Rechtszersplitterung,180 die Gemeinsamkeiten in Rechtsleben und Rechtsbildung lösten sich nach und nach immer mehr auf.181 National-liberale Bewegungen drängten auf Rechtsvereinheitlichung – eine Idee, welche stark verknüpft war mit derjenigen des Nationalstaats.182 Im Zuge der Reichsjustizgesetze wurde daher am 30. Januar 1877 die Reichs-Civilprozeßordnung (CPO)183 erlassen. Sie vereinheitlichte das Prozessrecht, bildete den Schlusspunkt langer Reformbestrebungen und stellte den Beginn einer neuer Rechtsentwicklung dar.184 Die wesent­ lichen Ziele der CPO waren praktische Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit. Der Prozess sollte den Rechtsstreit auf dem einfachsten, kürzesten und sichersten Weg zur Entscheidung führen.185

1.  Die Entwürfe vor Erlass der Reichs-Civilprozeßordnung a)  Bundesstaaten-Entwurf von 1866 Auf der Bundesversammlung vom 17. Dezember 1859 stellten mehrere Staaten den Antrag, dass geprüft werde, ob und inwieweit die Ausarbeitung einer bundeseinheitlichen Zivilprozessordnung wünschenswert und durchführbar sei.186 Daraufhin wurde eine Kommission eingesetzt und mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für eine Zivilprozessordnung beauftragt.187 Zur Beratungsgrundlage wurde die hannoversche BPO von 1850 gewählt188 und letztendlich unter Prüfung jeder einzelnen Vorschrift bearbeitet.189 Begründet wurde dies damit, dass die BPO insbesondere „die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit […] mit großer Folgerichtigkeit durchgeführt“ habe.190 Schließlich einigte man sich auf die Grundprinzipien des Verfahrens, zu denen unter anderem Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gezählt

180 

Sellert, JuS 1977, 781; Vollkommer, JZ 1987, 105; Ahrens, Prozessreform, S.  558. Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (81 f.). 182  Coing, Europäisches Privatrecht, S.  9 f.; siehe auch Ahrens, Prozessreform, S.  628 („Ausdruck nationaler Euphorie“); Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  135; Vollkommer, JZ 1987, 105 (106); Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (367 f.); ferner Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  113: „Mit den Bestrebungen nach einer politischen Einigung Deutschlands hat sich auch das Bedürfniß, eine Einheit des Rechts zu erreichen, verbunden.“; ähnlich Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (93), wonach die CPO „aus rechtspolitischer Sicht […] eine überreife Frucht der 1848er Bewegung“ sei. 183  Reichs-Civilprozeßordnung vom 30. Januar 1877, RGBl. Nr.  6, S.  83. 184  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 f. 185  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  115; Sellert, JuS 1977, 781 (787). 186  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (83 f.); Dahlmanns, Strukturwandel, S.  49 f. 187  Ausführlich zur Entstehung der CPO, insbesondere den einzelnen Kommissionen, deren Mitgliedern sowie den Beratungen Schubert, in: Entstehung und Quellen der CPO, S.  1 (3 ff.). 188  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (91). Daneben wurden freilich auch die Entwürfe aus anderen Staaten berücksichtigt; Schubert, in: Protocolle Bundesstaaten-Entwurf, Bd. 1, S. XXIV. 189  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (97). 190  So der Antrag des Abgeordneten aus dem Großherzogtum Baden; Schubert, Protocolle Bundesstaaten-Entwurf, Bd. 1, S.  8. 181 

132

§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

wurden.191 Der Bundesstaaten-Entwurf (BE) wurde schließlich im Jahre 1866 von der Kommission beschlossen. Die Verhandlung erfolgte mündlich und vor dem erkennenden Gericht (§§  116 Abs.  1, 119 Abs.  1 BE). Hinsichtlich der Unmittelbarkeit des Verfahrens ist anzumerken, dass der Bundesstaaten-Entwurf die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme einführte.192 Diese erfolgte vor dem Prozessgericht (§  287 Abs.  1 BE).193 Ausnahmen hiervon waren für die einzelnen Beweisarten zwar möglich (§  287 Abs.  2 BE), jedoch insbesondere beim Zeugenbeweis nur unter engen Voraussetzungen (§  329 BE). Diese Entscheidung der Kommission erklärt sich damit, dass der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung aufgenommen wurde (§  306 BE),194 die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme aber eine notwendige Voraussetzung hierfür war.195 Nur in ganz besonderen Ausnahmesituationen sollte von der gesetzlichen Regel abgewichen werden.196 Damit geht der Bundesstaaten-Entwurf über die hannoversche BPO hinaus und erweiterte das damalige Verständnis von Unmittelbarkeit um eine zusätzliche Komponente: Während die hannoversche BPO dies noch nicht kannte, gab es nunmehr neben der Unmittelbarkeit der Verhandlung auch die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme.197 b)  Norddeutscher Entwurf von 1870 Mit der Auflösung des Deutschen Bundes nach dem Einigungskrieg von 1866 war die geplante Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts vorerst gestoppt.198 Der neugegründete Norddeutsche Bund nahm die Gesetzgebungsarbeiten allerdings wieder auf.199 1867 stellte Preußen einen Antrag auf Ausarbeitung einer Prozessordnung für bürgerliche Streitigkeiten,200 ehe schließlich im Jahre 1870 der Norddeutsche Entwurf (NE) beschlossen wurde.201 Die Verhandlung erfolgte vor dem erkennenden Gericht, wobei die mündliche Verhandlung die ausschließliche Grundlage für die richterliche Entscheidung darstellte (§§  296 Abs.  1, 302, 303 NE). Die Erklärungen der Parteien mussten dem 191 

192 

Schubert, Protocolle Bundesstaaten-Entwurf, Bd. 1, S.  12. Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2675); ders., Strukturwandel,

S.  66. 193  Dies gilt ebenso für die Beweisausführung (§  302 Abs.  1 BE). 194  Siehe hierzu Patermann, Freie Beweiswürdigung, S.  155 f. 195  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  65. 196  Schubert, Protocolle Bundesstaaten-Entwurf, Bd. 7, S.  2239 f. 197  Dahlmanns, Strukturwandel, S.  66. 198  Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2675). 199  Art.  4 Nr.  13 der Verfassung des Norddeutschen Bundes gab diesem die Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des gerichtlichen Verfahrens. 200  Siehe hierzu Schubert, in: Protokolle Norddeutscher Entwurf, Bd. 1, S. XVII. Dies forderte auch Mittelstaedt, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 1 (1867), 58 (59). 201  Zur Kritik am selbigen siehe Korn, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 4 (1870), 175 ff.

III.  Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877

133

Gericht unmittelbar vorgetragen werden.202 Wird das Urteil aufgrund der mündlichen Verhandlung erlassen, ist ein Richter nur dann befugt hieran mitzuwirken, wenn er auch der mündlichen Verhandlung beigewohnt hat (§  341 S.  1 NE). Wie schon im Bundesstaaten-Entwurf galt der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  455 Abs.  1 NE).203 Ebenso war die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht vorgeschrieben. Ausnahmen hiervon waren nur in den gesetzlich angeordneten Fällen möglich (§  477 Abs.  1 NE). Dieser Grundsatz galt für den Norddeutschen Entwurf im Allgemeinen (§  36 NE), was in der Literatur als Ausdruck des Prinzips der Unmittelbarkeit bewertet wird.204 Beim Zeugenbeweis war eine Beweisaufnahme – wie schon im Bundesstaaten-Entwurf – durch den beauftragten oder ersuchten Richter nur unter gewissen Voraussetzungen möglich (§  499 NE). Damit sah auch der Norddeutsche Entwurf die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor.205 Interessanterweise wurde in der Literatur die Unmittelbarkeit stellenweise immer noch mit der Mündlichkeit gleichgesetzt, wenn etwa Wilmowski schreibt „die Mündlichkeit (Unmittelbarkeit)“ gehöre zu den maßgeblichen Grundprinzipien des Entwurfs.206 c)  Preußischer Justizministerial-Entwurf von 1871 Der Norddeutsche Entwurf konnte mangels Beteiligung der süddeutschen Staaten nicht einheitlich im neugegründeten Deutschen Reich umgesetzt werden.207 Nunmehr stieg der Bedarf nach einer reichseinheitlichen Zivilprozessordnung. Im Rahmen einer Korrektur des Norddeutschen Entwurfs arbeitete der preußische Justizminister Leonhardt zugleich einen neuen Entwurf, den sog. Preußischen Justizministerial-Entwurf (JME) aus,208 welchen er am 8. März 1871 dem Reichskanzler übergab.209 Hellweg fasste den Verfahrensgang folgendermaßen zusammen: „Das ganze Verfahren beruht auf dem Gedanken, daß der gesammte Proceßstoff in einer einzigen entscheidenden Sitzung von den Parteien dem erkennenden Richter unmittelbar mündlich vorgebracht werden und daß der erkennende Richter lediglich auf Grund des ihm in dieser einen Sitzung mündlich Vorgebrachten nach freier Ueberzeugung das vor Gericht geführte Rechtsverhältniß würdigen soll.“210 202  Wilmowski, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 4 (1870), 163 (164 f.). Dies diene der Objektivität der richterlichen Entscheidung. 203  Siehe hierzu Patermann, Freie Beweiswürdigung, S.  161 ff. 204  Koch, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 3 (1869), 480 (487); ähnlich Mittelstaedt, Beurtheilung, Bd. 2, S.  66 („Grundsatz der Unmittelbarkeit der richterlichen Information“). 205  Insgesamt orientierte sich der Norddeutsche Entwurf an den Grundzügen des vorherigen Bundesstaaten-Entwurfs; Ahrens, Prozessreform, S.  591; Wilmowski, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 4 (1870), 163 f.; Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (108). 206  Wilmowski, Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen 4 (1870), 163. 207  Ahrens, Prozessreform, S.  600. 208  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (114). 209  Ahrens, Prozessreform, S.  603. 210  Hellweg, AcP 61 (1878), 78 (115).

134

§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Die Verhandlung erfolgte als mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht (§  113 Abs.  1 JME). Das Verständnis von der mündlichen Verhandlung geht auf die hannoversche BPO von 1850 zurück,211 wenn es in den Motiven heißt: „Mündlichkeit des Verfahrens ist ein zwar gängiger, aber inkorrekter Ausdruck. Man spricht richtiger von dem Grundsatze der Unmittelbarkeit der Verhandlung und versteht darunter, daß die Verhandlung der Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht eine mündliche sein soll.“212

Sie wurde folglich als „unmittelbare Verhandlung vor den Richtern“213 begriffen. Die mündliche Verhandlung beherrschte den Prozessablauf dergestalt, dass „nur dasjenige als in den Prozeß eingebracht [gilt], was aus dem Munde der Parteien kommt.“214 Ferner war eine Bezugnahme auf Schriftsätze nicht gestattet, ebenso wie das bloße Verlesen derselben (§  123 Abs.  2 JME). Begründet wurde dies damit, dass andernfalls ein schriftliches Verfahren entstünde, die mündliche Verhandlung an Bedeutung verlieren und der Prozess nicht mehr unmittelbar vor den erkennenden Richtern stattfinden würde.215 Die Beweisaufnahme erfolgte vor dem Prozessgericht und konnte nur in den gesetzlich bestimmten Fällen einem beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden (§  295 JME). Für den Zeugenbeweis gab es diesbezüglich abermals Grenzen (§  314 JME). Zusammenfassend behielt der Justizministerial-Entwurf diejenigen Formen der Unmittelbarkeit bei, die bereits der Norddeutsche Entwurf kannte. Das Verhältnis von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit blieb jedoch – hauptsächlich aufgrund der Aussagen der Motive – unklar und verschwommen.

2.  Die Entwicklung von 1871 bis 1877 Nach der Einreichung des Justizministerial-Entwurfs wurde die Reichs-Civilprozeßordnung auf dessen Grundlage in den nächsten sechs Jahren in parlamentarischen Beratungen ausgearbeitet. Bereits 1872 wurde von einer neu zusammengesetzten Kommission ein neuer Entwurf veröffentlicht (sog. Entwurf II). Große Ver211  Ahrens, Prozessreform, S.  604 spricht zutreffend von einer „direkten Linie aus der hannoverschen Prozessordnung von 1850“. 212  Allgemeine Begründung zum JME, in: Entwurf einer Deutschen Civilprozeßordnung, S.  217; siehe hierzu Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  122, welcher die Mündlichkeit aus diesem Grund als „Vehikel der Unmittelbarkeit“ bezeichnet. 213  Ahrens, Prozessreform, S.  604 mit Verweis auf die Allgemeine Begründung zum JME, in: Entwurf einer Deutschen Civilprozeßordnung, S.  217 f. 214  Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2676 f.); siehe auch Ahrens, Prozessreform, S.  607. 215  Besondere Begründung zum JME, in: Entwurf einer Deutschen Civilprozeßordnung, S.  292 f. Hieran wurde kritisiert, dass auch die Schriftform in gewissen Grenzen die Unmittelbarkeit der Anschauung fördern könne; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  81; ähnlich Mittelstaedt, Beurtheilung, Bd. 1, S.  35.

III.  Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877

135

änderungen wurden jedoch nicht vorgenommen.216 Den Schlusspunkt bildete schließlich der Bundesrats-Entwurf – teilweise als Entwurf III bezeichnet217 –, welchen Reichskanzler Otto von Bismarck dem Reichstag am 29. Oktober 1874 zur Beschlussnahme vorlegte.218 In der allgemeinen Begründung zum Bundesrats-Entwurf – welche sich weitgehend an die Motive zum Justizministerial-Entwurf anschloss219 – nahm die Mündlichkeit der Verhandlung einen großen Stellenwert ein. Hier heißt es unter anderem: „In diesem [Termin zur mündlichen Verhandlung] verhandeln die Parteien […] in freier Rede über den Rechtsstreit, nachdem sie zuvor ihre Gesuche (petita) gestellt haben. In dieser mündlichen Verhandlung gestalten die Parteien, ungebunden durch den Inhalt der gewechselten Schriftsätze […] das Sachverhältnis und entwickeln dasselbe unter den einschlagenden rechtlichen Gesichtspunkten. […] In diesem System ist der Grundsatz der Mündlichkeit nach den verschiedenen Seiten hin durchgeführt.“220

Mit derselben Formulierung wie schon in den Motiven zum Justizministerial-Entwurf wurde das Mündlichkeitsprinzip wieder als Grundsatz der Unmittelbarkeit der Verhandlung bezeichnet.221 Die Verknüpfung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit wurde aus dem Justizministerial-Entwurf übernommen.222 Die Bezeichnung der Mündlichkeit mit dem Begriff der „Unmittelbarkeit“ wurde schließlich durch den Abgeordneten Klöppel – welcher gleichzeitig nochmals die wesentlichen Voraussetzungen der Unmittelbarkeit herausarbeitete – ausdrücklich gelobt: „Meine Herren, die Motive des Entwurfs haben sehr glücklich dem sogenannten Prinzip der Mündlichkeit einen allgemeineren Ausdruck zu geben gesucht, indem sie es Prinzip der ‚Unmittelbarkeit‘ der Verhandlung nennen. Nun aber ist die wesentlichste Voraussetzung dieser Unmittelbarkeit, daß der Richter wirklich ganz unbefangen, ganz uneingenommen nach ­jeder Seite in die Verhandlung hineinkommt, und da wir eben mit menschlicher Schwäche rechnen müssen, so werden wir diese Voraussetzung am sichersten erfüllt finden, wenn der Richter in der That gar keine Gelegenheit gehabt hat, den Prozeßstoff vorher kennen zu l­ernen.“223

Die Reichs-Civilprozeßordnung wurde schließlich am 21. Dezember 1876 vom Reichstag nahezu einstimmig angenommen.224 216  Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2678 f.); Ahrens, Prozess­ reform, S.  617 ff.­ 217  Schwartz, Vierhundert Jahre, S.  662; Wach, Handbuch, S.  153. 218  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  3. 219  Ahrens, Prozessreform, S.  628. 220  Hahn, Materalien, Bd. 2/1, S.  121. 221  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  124; aus der Literatur siehe Bolgiano, Handbuch, S.  72 f. Sehr kritisch zu dieser Begriffsverwirrung sowie mit umfangreichen Nachweisen über die verwendete Terminologie in der damaligen Literatur Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (215) [Fn.  2]. Andere sprechen dagegen davon, dass das Prinzip der „Unmittelbarkeit“ das Prinzip der „Mündlichkeit“ ersetzt habe; Schwartz, Vierhundert Jahre, S.  667. 222  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  213 f. 223  So der Abgeordnete Klöppel; siehe Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  517. 224  Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1312; Ahrens, Prozessreform, S.  630.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

3.  Unmittelbarkeit in der Reichs-Civilprozeßordnung Damit stellt sich abschließend die Frage nach der Unmittelbarkeit in der Reichs-­ Civilprozeßordnung.225 Die Verhandlung der Parteien über den Rechtsstreit erfolgte mündlich vor dem erkennenden Gericht (§  119 CPO).226 Die Parteivorträge mussten in freier Rede gehalten werden, eine Bezugnahme auf die Schriftsätze war nicht gestattet. Eine Verlesung der Schriftstücke war nur möglich, sofern es auf den genauen Wortlaut der Erklärung ankam (§  128 Abs.  2 und 3 CPO). Der Mündlichkeitsgrundsatz sollte jedoch nicht für Handlungen der Parteien untereinander („Zwischenstreitigkeiten“) und damit nur im Verhältnis von Richter und Parteien gelten. Dementsprechend galt er nicht zwingend für die Beweisaufnahme, wenngleich die Parteien in diese involviert sein konnten.227 §  320 Abs.  1 CPO ordnete die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht an, wobei nur in den gesetzlich angeordneten Fällen hiervon abgewichen werden durfte. Beim Zeugenbeweis konnte die Beweisaufnahme auf einen beauftragten Richter oder ein anderes Gericht gemäß §  340 Abs.  1 CPO übertragen werden, wenn zur Ermittlung der Wahrheit die Vernehmung des Zeugen an Ort und Stelle dienlich erschien (Nr.  1), die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht erheblichen Schwierigkeiten unterliegen würde (Nr.  2), der Zeuge verhindert war, vor dem Prozessgericht zu erscheinen (Nr.  3) oder wenn sich der Zeuge in großer Entfernung von dem Sitz des Prozessgerichts aufhielt (Nr.  4). Ausweislich der Motive war die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht „durch die gewichtigsten sachlichen Gründe geboten“228. Die unmittelbare Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht ist die „Regel“, die vier genannten Ausnahmetatbestände – obgleich „zur pflichtmäßigen Beurtheilung des Prozeßgerichts gestellt“ („kann“) – durften nur herangezogen werden, wenn eine der genannten Ausnahmen „klar“ vorlag.229 Die Idee der CPO bestand folglich darin, dass gerade die Zeugenvernehmung vor dem erkennenden Richter stattfindet.230 Durch die eigenständige Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen 231 konnte das erkennende Gericht sich einen persönlichen Eindruck von diesen verschaffen und etwaige Unklarheiten durch Fragen aus der Welt schaffen.232 Aufgrund der großen Bedeutung einer unmittelbaren Beweisaufnahme stellten die Motive zugleich klar, dass ein Richterwechsel stets die Wiederholung der mündlichen Verhandlung zur Folge habe: 225  Die im Folgenden genannten Paragraphenangaben entstammen der ursprünglichen Reihenfolge aus dem Jahre 1877. 226  Kritisch hierzu Sonnenschmidt, ZZP 2 (1880), 208 (214 ff., 229). Zur Verteidigung des Mündlichkeitsprinzips siehe Vierhaus, ZZP 2 (1880), 375 ff. 227  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  124; Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  17 f. 228  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  124 f. 229  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  309. 230  Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1119; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (69); ähnlich Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  128. 231  Die Voraussetzungen für eine Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis galten auch für den Sachverständigenbeweis (§  367 CPO). 232  Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  18.

III.  Die Reichs-Civilprozeßordnung von 1877

137

„Insbesondere bedarf es schwerlich einer ausdrücklichen gesetzlichen Vorschrift, daß, wenn im Laufe einer bestimmten mündlichen Verhandlung ein Wechsel im Richterpersonal eintritt, die mündliche Verhandlung von Neuem zu beginnen habe. Hierin liegt eine ganz unabweisliche Konsequenz des Grundsatzes, welche auch entsprechende Anwendung finden müßte, wenn je ein zur Urtheilsfällung berufener Richter erklären sollte, daß ein für die Beurtheilung des Rechtsstreits wesentlicher Theil der Verhandlung seiner Erinnerung entschwunden sei. Wer in solchen Konsequenzen Uebelstände erblickt, welche das schriftliche Verfahren nicht kennt, der hat zu beachten, daß jedes Prinzip neben seinen Lichtseiten auch Schattenseiten hat und daß die Lichtseiten des einen Prinzips Schattenseiten des andern entgegengesetzten Prinzips sind.“233

Die Reichs-Civilprozeßordnung behielt damit die Unmittelbarkeit des Parteivorbringens und die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme aus den vorherigen Entwürfen bei,234 nicht zuletzt als eine Konsequenz des Grundsatzes der freien Beweis­ würdigung: „Daß die Beweisaufnahme regelmäßig vor dem Prozeßgerichte erfolgen muß, ist eine Konsequenz des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Verhandlung und der freien Beweiswürdigung.“235

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz diente zugleich der Verfahrensbeschleunigung.236 Da Ausnahmen vorgesehen waren, wurde er nicht vollumfänglich verwirklicht.237 Ferner unterlag der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach damaligem Verständnis nicht der Parteidisposition.238 Begründet wurde dies damit, dass er „als Garantie brauchbarer Entscheidungsgrundlage und damit gerechten, sachentsprechenden Rechtsschutzes“ im öffentlichen Interesse stehe.239 Dementsprechend wurde die Unmittelbarkeit in diversen Stellungnahmen immer als ein wichtiges Prinzip der Reichs-­ Civilprozeßordnung genannt. So sprach Klöppel davon, dass das System der CPO unter anderem auf dem Grundsatz der „Unmittelbarkeit der Parteiverhandlung“ aufgebaut sei.240 Leonhardt stellte in seiner letzten Rede vor Beschluss der CPO nochmals heraus: 233  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  125; siehe auch Bolgiano, Handbuch, S.  74. Seit 1900 ging die wohl herrschende Meinung jedoch davon aus, dass die mündliche Verhandlung bzw. die Beweisaufnahme nicht wiederholt werden müsse; Hellwig, System, S.  533; Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (419) m. w. N. 234  So auch Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  23. Die wesentlichen Vorschriften der §§  119, 320 CPO sind im Vergleich zu den vorherigen Entwürfen unverändert geblieben. 235  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  304. Zur Bedeutung des Mündlichkeitsgrundsatzes für die richterliche Beweiswürdigung zur damaligen Zeit siehe Patermann, Freie Beweiswürdigung, S.  164. 236  Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  18. 237  Hiergegen sprachen praktische Gründe; siehe Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  54; Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  23. 238  Siehe zu dieser Frage aus heutiger Sicht später unter §  5 V. 4. c). 239  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (421); Weismann, Lehrbuch, S.  331; ebenso die Möglichkeit der Parteidisposition verneinend RGZ 14, 379 (382 f.); offengelassen dagegen in RGZ 17, 344 (348). 240  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  517.

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

„Die Civilprozeßordnung beruht auf dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Verhandlung vor dem zur Entscheidung berufenen Richter.“241

Auch in der Literatur wird der Unmittelbarkeitsgrundsatz immer wieder als eine tragende Säule der Reichs-Civilprozeßordnung und wichtiges Verfahrensprinzip bezeichnet.242 Dadurch, dass das Gedankengut des Liberalismus in Gestalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Eingang in die CPO gefunden hatte,243 hatte sich die Vorstellung einer unmittelbaren Verhandlung vor dem erkennenden Gericht nunmehr reichseinheitlich durchgesetzt.

IV.  Die Entwicklung von 1877 bis zur Zeit des Nationalsozialismus 1.  Bedeutungsverlust des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Seit Inkrafttreten der Reichs-Civilprozeßordnung am 1. Oktober 1879 sind diverse Änderungen vorgenommen und Gesetzesnovellen erlassen worden. Die Neufassung der CPO von 1898 führte allerdings zu keinen großen inhaltlichen Veränderungen, hauptsächlich wurde die Reihenfolge der Paragraphen geändert.244 Deutliche Verschiebungen machten sich dagegen in der Praxis bemerkbar.245 Zum einen erwies sich das konsequent umgesetzte Mündlichkeitsprinzip nicht als praxistauglich – eine Befürchtung, die selbst Leonhardt kurz vor Erlass der CPO ausgesprochen hatte.246 Die Praxis setzte sich in der Folge mehr und mehr über den Gesetzeswortlaut hinweg. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde schließlich immer weniger mündlich verhandelt und der Akteninhalt als vorgetragen fingiert.247 Darunter litt der Unmittelbarkeitsgrundsatz, denn zur Urteilsgrundlage wurden mehr 241 

Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1292. Siehe Ahrens, Prozessreform, S.  633; Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  18; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (68 f.); Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  33; ähnlich Wach, Ergänzungsheft ZZP 11 (1887), 1 (121); zurückhaltend dagegen Nörr, Geschichtlicher Abriss, S.  130, wenn er schreibt, der Unmittelbarkeitsgrundsatz habe „dem Grundsatz nach Anerkennung gefunden“; kritisch auch Schwartz, Vierhundert Jahre, S.  667, wonach der bestehende Anwaltszwang die „wahre, deutsche Unmittelbarkeit“ des germanischen Prozesses vernichtet habe. 243  Siehe hierzu Braun, Lehrbuch, S.  135, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz – neben der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit – als „Absage an obrigkeitliche Vorstellungen“ begriffen werden könne. 244  Hellwig, System, S.  18 f. Im Folgenden werden die Paragraphen daher in der Reihenfolge in der seit dem 1. Januar 1990 geltenden Fassung (abgedruckt in RGBl. 1898, S.  410 ff.) wiedergegeben. 245  Zu den unterschiedlichen Diskussionen in der Literatur siehe Guttmann, ZZP 55 (1930), 39 (41 ff.). 246  Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1292. 247  Kade, Richter, S.  26 f.; Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  81 f.; Dahlmanns, Strukturwandel, S.  81. Teilweise lasen die Anwälte ihre Schriftsätze einfach nur vor oder nahmen hierauf Bezug; Dannreuther, Zivilprozeß, S.  123; Schmidt, ZZP 61 (1939), 253 (270). 242 

IV.  Die Entwicklung von 1877 bis zur Zeit des Nationalsozialismus

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und mehr die vorbereitenden Schriftsätze und der unmittelbare Vortrag der Parteien mit der „Chance einer dialektischen Sach- und Rechtsaufklärung“248 verlor an Bedeutung. Zum anderen wurde der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nicht allzu streng beachtet. Bereits zehn Jahre nach Inkrafttreten der Reichs-Civilprozeßordnung hatte eine von Adolf Wach initiierte Umfrage (sog. Wach-Enquête) an den Gerichten ergeben, dass bei diesen die kommissarische Beweisaufnahme eher die Regel als die Ausnahme darstellte.249 Immer häufiger machten die Kollegialgerichte von der Möglichkeit Gebrauch, die Beweisaufnahme einem beauftragten Richter zu überantworten. Die entsprechenden Ausnahmevorschriften wurden großzügig herangezogen.250 Die Augenscheinseinnahme durch einen beauftragten Richter stand gemäß §  372 Abs.  2 CPO im freien Ermessen („kann“) des Prozessgerichts, sodass dem keine festen Grenzen entgegenstanden. Beim Zeugenbeweis wurden die Formulierungen „wenn die Beweisaufnahme vor dem Prozeßgericht erheblichen Schwierigkeiten unterliegen würde“ (§  375 Abs.  1 Nr.  2 CPO) und „wenn der Zeuge in großer Entfernung von dem Sitze des Prozeßgerichts sich aufhält“ (§  375 Abs.  1 Nr.  4 CPO) sehr großzügig und unterschiedlich ausgelegt251 und „bis an Willkür grenzenden Umfang“252 zum Anlass genommen, die Beweisaufnahme einem beauftragten Richter zu übertragen. Teils aus Not, teils aus Überzeugung wurde §  375 Abs.  1 Nr.  2 CPO von den Gerichten so ausgelegt, dass die Überlastung der Gerichte als „erhebliche Schwierigkeit“ verstanden wurde.253 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wurde contra legem immer mehr abgeschwächt.254 Zum Nachteil der Parteien kam hinzu, dass der Beschluss, die Beweisaufnahme kommissarisch durchzuführen, nach §  355 Abs.  2 CPO unanfechtbar war. In der Literatur wurde daher von einer „Scheinunmittelbarkeit im Zivilprozeßverfahren“255 gesprochen. Durch die Wach-Enquête hatte sich somit eine Befürchtung als wahr erwiesen, welche bereits in den Beratungen über die CPO Gegenstand der Diskussion war. Im Rahmen der zweiten Lesung hatten die Abgeordneten Herz und Lasker den Antrag gestellt, den damaligen §  340 Abs.  1 Nr.  2 CPO (nunmehr: §  375 Abs.  1 Nr.  2 CPO) gänzlich zu streichen bzw. zu modifizieren, um die Unmittelbarkeit der Beweisauf248 

Dahlmanns, Strukturwandel, S.  89, welcher von einer „Fehlentwicklung“ spricht. Wach, Ergänzungsheft ZZP 11 (1887), 1 (124 ff.). Gegenstand der Untersuchung war in erster Linie die Frage, wie sich an den Kollegialgerichten seit Inkrafttreten der CPO das Mündlichkeitsprinzip entwickelt habe. 250  Siehe nur Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  26. 251  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  26; Wach, Grundfragen, S.  69 f. Darauf wies später auch das Reichsgericht nochmals hin; RGZ 149, 286 (289). 252  Wach, Grundfragen, S.  70. 253  Wach, Ergänzungsheft ZZP 11 (1887), 1 (124); gegen eine solche Auslegung Weismann, Lehrbuch, S.  149. 254  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  62; Braun, Lehrbuch, S.  137 f. 255  Hegler, Der Rechtsgang 2 (1916), 267 (274), welcher daher für eine Anfechtbarkeit des Beweisübertragungsbeschlusses plädierte. 249 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

nahme als Grundsatz aufrecht zu erhalten.256 Insbesondere Herz hatte bereits in der ersten Lesung erkannt, dass die bloße Gerichtsüberlastung unter die Formulierung „erhebliche Schwierigkeiten“ subsumiert werden könnte. Dem wurde damals entgegnet, dass mit „Schwierigkeiten“ nur solche der Beweisaufnahme, nicht aber solche der gerichtlichen Geschäftsverhältnisse gemeint seien.257 Beide Anträge wurden folglich abgelehnt.258 Der Abgeordnete Otto Bär prognostizierte schließlich: „Ich garantire dafür, daß, mag man in das Gesetz hineinschreiben, was man will, stets auf Grund einer Bestimmung, wie die vorliegende, die kommissarischen Vernehmungen weitaus die Mehrzahl bilden werden. Es ist geradezu unmöglich, einen umfangreichen Zeugenbeweis vor einem Kollegium in der Sitzung zu führen.“259

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig.260 Der wirtschaftliche Aufschwung führte zu einer verstärkten Inanspruchnahme der Zivilgerichtsbarkeit, woraufhin die Gerichte mehr und mehr überlastet wurden. Zur rascheren Erledigung der Prozesse wurde verstärkt auf eine kommissarische Beweisaufnahme zurückgegriffen – die „Masse“ an Prozessen musste schnell bewältigt werden.261 Das größte Problem stellte jedoch der Gesetzeswortlaut selbst dar, da die Ausnahmevorschriften aufgrund ihrer unpräzisen Formulierung für eine weite Auslegung zugänglich waren.262 Daher trennte man sich von allem, was einem schnellen Prozessablauf – insbesondere Mündlichkeit und Unmittelbarkeit – hinderlich war.263 Besondere Beachtung wurde dem Unmittelbarkeitsgrundsatz daher auf dem 31. Deutschen Juristentag 1912 in Wien geschenkt. Hier wurde unter anderem beschlossen: „Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor dem Prozeßgericht als Regel ist durch geeignete gesetzliche Vorschriften sicherzustellen. Die zulässigen Ausnahmen sind gesetzlich genau zu bestimmen, sie dürfen nicht der Rücksicht auf die Geschäftslage des Gerichts entnommen werden.“264

Die Ausnahmen vom Grundsatz der unmittelbaren Beweisaufnahme sollten genauer bestimmt werden.265 Insgesamt ließ sich also ein „Zwiespalt zwischen Gesetz und 256 

Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1115 f. Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  624. 258  Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1117. 259  Bär, Prozeß-Enquete, S.  23. Darunter litt letztendlich auch die Möglichkeit der freien Beweiswürdigung des einzelnen Richters; kritisch hierzu Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  72: „Die Zivilkammern können zu freier Beweiswürdigung nicht kommen, weil unmittelbare Beweisaufnahme vor ihnen nicht möglich ist.“. 260  Siehe zu den folgenden Punkten Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  26 f. 261  Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  83. 262  So die Befürchtungen von Herz und Lasker; Hahn, Materialien, Bd. 2/2, S.  1116; siehe hierzu ferner Wach, Grundfragen, S.  69: „[…] denn die Zivilprozeßordnung hat hier wie auch sonst zu optimistisch der Loyalität vertraut, die nicht nur dem Buchstaben, sondern dem Geiste des Gesetzes genügen will.“. 263  Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  83 f. 264  Wach, Grundfragen, S.  69. 265  Wach, Grundfragen, S.  69. 257 

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Praxis“266 nicht leugnen. Die eigentlichen Prozessrechtsvorgaben und die Prozessrechtswirklichkeit stimmten nicht überein.

2.  Gesetzgebungsakte im Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik Um die Belastung der Gerichte zu reduzieren, erließ der Gesetzgeber im Jahre 1915 die sog. Entlastungsverordnung (EntlVO).267 Hintergrund war die Tatsache, dass der Erste Weltkrieg sich stark auf den Personalbestand der Gerichte auswirkte und diese in der Folge stark überlastet waren.268 Nach §  23 Abs.  1 EntlVO konnte im Anwaltsprozess mit Einverständnis der Anwälte eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen, wenn das Gericht den Sach- und Streitstand aufgrund einer früheren mündlichen Verhandlung und nach dem Ergebnis einer etwaigen Beweisaufnahme für ausreichend geklärt erachtete. Die Parteien konnten auf ein weiteres mündliches Vorbringen verzichten mit der Folge, dass abweichend von §  285 CPO die Ergebnisse einer Beweisaufnahme sowohl ohne Verhandlung (Abs.  1) als auch ohne Parteivortrag (Abs.  2) als Entscheidungsgrundlage herangezogen werden konnten.269 Eine Einflussnahme auf die Beweiswürdigung durch das Gericht war daher nicht mehr möglich. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz war insofern tangiert.270 Auch in der Weimarer Republik versuchte der Gesetzgeber die Gerichte zu entlasten und das Verfahren zu beschleunigen. Die immer größer werdende Inflation in den 1920er Jahren wirkte sich spürbar auf den Zivilprozess aus. Insbesondere der am Geldwert orientierte Streitwert führte zu einer erhöhten Inanspruchnahme der Zivilgerichte,271 sodass im Jahre 1923 die sog. Beschleunigungsverordnung (BeschlVO)272 erlassen wurde. §  23a BeschlVO bestimmte, dass das Gericht mit Einverständnis der Parteien eine Entscheidung auch ohne mündliche Verhandlung treffen konnte. Hierdurch wurde zugleich §  23 EntlVO wieder aufgehoben und der Anwendungsbereich eines Verfahrens ohne mündliche Verhandlung stark erweitert.273 Im Jahre 1924 wurde mit den §§  348 ff. CPO n. F. für die Landgerichte der vorbereitende Einzelrichter eingeführt.274 Es stand im freien Ermessen des Einzelrichters, 266 

Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  26. Bekanntmachung zur Entlastung der Gerichte („Entlastungsverordnung“) vom 9. September 1915, RGBl. I, S.  562. 268  Dannreuther, Zivilprozeß, S.  278. 269  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  6 4. 270  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  6 4 f. 271  Dannreuther, Zivilprozeß, S.  326 f. 272  Verordnung zur Beschleunigung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten („Beschleunigungsverordnung“) vom 22. Dezember 1923, RGBl. I, S.  1239. 273  Siehe hierzu Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  67 ff. 274  Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten („Emminger-Verordnung“) vom 13. Februar 1924, RGBl. I, S.  135. Diese gestaltete das bis dahin rein liberale Verständnis vom Zivilprozess um; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  5 Rn.  7. 267 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

ob dieser die Beweisaufnahme selbst durchführt oder ob er sie dem Prozessgericht überlässt (§  349 Abs.  2 CPO n. F.). Die Ergebnisse der Beweisaufnahme teilte der Einzelrichter den übrigen Richterkollegen lediglich über die Akten mit.275 Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme würde aber eigentlich erfordern, dass die Beweis­ aufnahme vor dem erkennenden Gericht stattfindet. Paeffgen spricht daher gar von einer „völlige[n] Aufhebung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“276. Zudem sah §  377 Abs.  3 CPO n. F. die Möglichkeit vor, dass ein Zeuge für seine Vernehmung nicht persönlich vor Gericht erscheinen muss, sondern die Beweisfrage schriftlich beantworten kann. In solchen Fällen konnte sich das Gericht keinen persönlichen Eindruck von dem jeweiligen Zeugen verschaffen.277 Voraussetzung hierfür war, dass es sich um eine Auskunft handelt, welche der Zeuge unter Heranziehung seiner Bücher oder anderen Aufzeichnungen geben kann. In sonstigen Fällen bedurfte es stets des Einverständnisses der Parteien (§  377 Abs.  4 CPO n. F.).278

3.  Die „Wiederentdeckung“ der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zur NS-Zeit Erst zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wieder gestärkt. Man hatte erkannt, dass eine Beweisaufnahme durch den beauftragten Richter unter Umständen viele Termine nötig machte und dadurch der Arbeitsbelastung der Gerichte nicht effektiv entgegengewirkt werden konnte.279 Durch das Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933280 sollte die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wieder besser als im bisherigen Recht zur Geltung kommen. Hierfür sprachen gewichtige Gründe: „Wird dem Prozeßgericht der Inhalt der Zeugenaussage nur durch das Protokoll des beauftragten oder ersuchten Richters zugänglich, so kann es niemals den für die Beweiswürdigung unentbehrlichen unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf und dem Inhalt der Beweisaufnahme gewinnen. Die Schwierigkeiten, in der Eile der Vernehmung die Aussage des Zeugen richtig und in klarer, eindeutiger Fassung wiederzugeben, führen dazu, daß die Niederschrift

275 

Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  28. Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  28; a. A. Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  28, welcher hierin weder eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes noch eine Ausnahme vom Mündlichkeitsprinzip sieht. 277  Siehe dazu Kern, ZZP 125 (2012), 53 (70). 278  Zur aktuellen Fassung von §  377 Abs.  3 ZPO und dessen Bedeutung für den Unmittelbarkeitsgrundsatz siehe später unter §  5 IV. 3. c) cc). 279  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  31; Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185 (300) nennt die Mittelbarkeit der Beweisaufnahme ausdrücklich als Grund für die Prozessverzögerungen. 280  Gesetz zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933, RGBl. I, S.  780. Zum Verhältnis dieser Novelle zur Novelle von 1924 siehe Schmidt, ZZP 61 (1939), 253 (261 ff.). 276 

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der Aussage häufig mißverstanden wird und daß an ihr Auslegungskünste geübt werden müssen, die, wenn der Zeuge vor dem Prozeßgericht gestanden hätte, nicht nötig sein würden.“281

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wurde in der Folge zu einem elementaren Verfahrensgrundsatz hochstilisiert, er sei gar „vom gesunden Menschenverstand“282 geboten. Ferner wurde seine Bedeutung für die Wahrheitsfindung hervorgehoben.283 Das Reichsgericht betonte schließlich gar, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz zur „Sicherung einer schnellen und wirklich volksnahen Rechtsprechung […] wie kein anderer geeignet“284 sei. Insbesondere die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wurde als Mittel zur Prozessbeschleunigung angesehen. Oberstes Ziel einer guten und effektiven Rechtspflege sei ein möglichst schnelles Verfahren, denn andernfalls würde diese in eine „Sicherung des Unrechts“ umschlagen.285 Hierfür wurden die Ausnahmetatbestände von der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme modifiziert, insbesondere der schwammige Begriff der „erheblichen Schwierigkeiten“ (§  375 Abs. 1 Nr.  2 CPO a. F.) wurde gestrichen. Ferner kam es zu einer Verschärfung der allgemeinen Voraussetzungen einer kommissarischen Zeugenvernehmung, indem die Formulierung „kann […] übertragen werden, wenn“ durch „darf […] nur übertragen werden, wenn“ ersetzt wurde.286 Damit wurde die kommissarische Beweisaufnahme durch einen beauftragten Richter weitestgehend beseitigt.287 Der Aufgabenbereich des beauftragten Richters wurde schließlich begrenzt, indem dieser die umfassende Verhandlung vor dem Prozessgericht grundsätzlich nur vorbereiten sollte.288 Eine eigene Beweisaufnahme sollte er nur dann vornehmen, wenn von vornherein anzunehmen war, dass das Prozessgericht das Beweis­ergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von der eigentlichen Beweisaufnahme sachgemäß würdigen konnte (§  349 Abs.  2 CPO n. F.). Dem Verständnis vom Unmittelbarkeitsgrundsatz wurde schließlich eine weitere Komponente hinzugefügt: „Dem Erfordernis der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist freilich nicht schon damit allein Genüge getan, daß das erkennende Gericht die Beweise unmittelbar erhebt, sondern erst dann, wenn das Gericht die so erhobenen Beweis auch unmittelbar würdigt. Der Nutzen unmittelbarer Beweiserhebung wird größtenteils wieder vertan, wenn die Beweiswürdigung sich nicht unmittelbar anschließt, sondern über das Ergebnis der Beweisaufnahme erst nach 281  Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185 (325 f.); ähnlich die Allgemeine Verfügung des Reichsjustizministers vom 11. November 1935, DJ 1935, 1654 (1655): „Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist strenges Gebot. Nur die unmittelbare Beweisaufnahme aus eigener Anschauung und aus persönlichem Eindruck schafft dem erkennenden Richter die selbständige und unverfälschbare Grundlage einer eigenen Überzeugung, wie sie die lediglich durch Protokolle vermittelte Beweiserhebung durch den Einzelrichter oder durch den beauftragten Richter niemals zu bieten vermag.“. 282  Staud, DJ 1934, 512. 283  Freisler, DJ 1934, 73 (75 f.); siehe auch die Regierungsbegründung, RGBl. I (1933), S.  780. 284  RGZ 149, 286 (290). 285  Freisler, DJ 1934, 73 (74). 286  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  138. 287  Freisler, DJ 1934, 73 (76); Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185 (325). 288  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  32.

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Vertagung in einem späteren Termin verhandelt wird. Bis dahin ist der unmittelbare und lebenswahre Eindruck der Beweisaufnahme meist mehr oder minder verwischt, und an seine Stelle treten wieder die papierenen und allen möglichen Auslegungs- und Verdrehungskünsten ausgesetzten Protokolle. Die Vertagung nach erfolgter Beweisaufnahme muß also nicht nur im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens, sondern vor allem zur Wahrung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme möglichst vermieden werden.“289

Die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung sollten zeitlich möglichst nicht auseinanderfallen, damit der persönliche Eindruck der Richter „frisch“ bliebe. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz – in seiner Ausprägung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme – wurde somit um eine zeitliche Komponente erweitert. In der Literatur wurde seine große Bedeutung ferner dadurch untermauert, dass manche Stimmen eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes als so schwerwiegend ansahen, dass dies – obwohl eine Beschwerdemöglichkeit wegen §  355 Abs.  2 CPO eigentlich nicht besteht – mittels Berufung und Revision angegriffen werden könne.290 Ferner wurde darüber diskutiert, ob der durch §  161 CPO vorgeschriebene Protokollierungszwang abgeschafft werden sollte, damit in der Berufungsinstanz das Gericht selbst eine Beweisaufnahme durchführen muss, um auch in zweiter Instanz eine Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zu garantieren.291 Die Aufwertung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes unter den Nationalsozialisten ist aber nicht darauf rückführbar, dass dieser mit dem nationalsozialistischen Gedankengut gut harmonierte.292 Freilich darf nicht verleugnet werden, dass der Zivilprozess nach der Machtergreifung 1933 an die damaligen ideologischen Vorstellungen angepasst wurde, wenn Hitler selbst den Zivilprozess als „Dienst an der Volksgemeinschaft“293 verstand. So heißt es wörtlich in der Begründung der Novelle von 1933: „Die Parteien und ihre Vertreter müssen sich bewußt sein, daß die Rechtspflege nicht nur ihnen, sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient.“294

Der ideologische Hintergrund ist hier zwar klar erkennbar,295 beschränkt sich jedoch auf diesen Vorspruch.296 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz harmonierte damit nur insofern mit den Vorstellungen der Nationalsozialisten über den Zivilprozess, 289 

Staud, DJ 1934, 512; siehe auch ders., DJ 1934, 669 (670). Siehe hierzu die Ausführungen in RGZ 149, 286 (290). 291  Hierfür Hellwig, JW 1934, 672 f.; a. A. Gaedeke, JW 1934, 1326 f. 292  So aber Kern, ZZP 125 (2012), 53 (69); dagegen zu Recht Krüger, Unmittelbarkeit, S.  139, welcher darauf verweist, dass die Gesetzesnovelle von 1933 letztendlich auf Vorarbeiten einer bereits 1920 gegründeten Zivilrechtskommission zurückgeht: „Vielmehr hat sich darin eine schon zuvor und überdies unisono betonte Bedeutung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme versinnbildlicht, die zu einer Stärkung dieser Verfahrensmaxime durch eben jenes Gesetz geführt hat.“; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  140. Zur Ideologie des Zivilprozesses siehe Cohn, in: EG Grünhut, S.  31 ff.; Leipold, JZ 1982, 441 ff. 293  Dannreuther, Zivilprozeß, S.  450. 294  Regierungsbegründung, RGBl. I (1933), S. 780. 295  Ebenso Krüger, Unmittelbarkeit, S.  139. 296  Dannreuther, Zivilprozeß, S.  479, wonach derartige Formulierungen als Ausdruck eines 290 

V.  Gesetzgebungsakte seit 1945

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als dieser ein schnelles Verfahren ermöglichen sollte. Mit der nationalsozialistischen Ideologie als solche hat er dagegen nichts zu tun.

V.  Gesetzgebungsakte seit 1945 1.  Einzelrichternovelle (1974) Zur Entlastung der Landgerichte wurde im Jahre 1974 die sog. Einzelrichternovelle verabschiedet,297 welche insbesondere den streitentscheidenden Einzelrichter am Landgericht einführte. Das Institut des vorbereitenden Einzelrichters in erster Instanz wurde im Gegenzug abgeschafft.298 Der Rechtsstreit konnte nunmehr einem Mitglied der Kammer als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen werden, es sei denn, die Sache wies besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf oder hatte grundsätzliche Bedeutung (§  348 Abs.  1 ZPO n. F.). Die Entscheidung hierüber stand im Ermessen der Zivilkammer („kann“).299 Zu Berührungspunkten mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz kam es insofern, als der Gesetzgeber durch die Abschaffung des vorbereitenden Einzelrichters den Unmittelbarkeitsgrundsatz stärken wollte,300 da zuvor die Beweisaufnahme vielfach komplett von dem Einzelrichter durchgeführt wurde.301 Dies war nach dem neuen Gesetzeswortlaut nicht mehr möglich, eine Übertragung konnte lediglich „zur Entscheidung“ des Rechtsstreits vorgenommen werden.302 Diese aus Sicht der Praxis unbefriedigende Regelung wurde versucht dadurch zu umgehen, dass die Beweisaufnahme dem Einzelrichter als beauftragtem Richter übertragen wurde. Die Parteien erklärten sich durch Rügeverzicht (§  295 Abs.  1 ZPO) mit einer solchen Verfahrensweise einverneuen Gesetzgebungsstils bei einer Reihe von Gesetzen verwendet wurden; siehe auch Damrau, Entwicklung, S.  408 f. 297  Gesetz zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom 20. Dezember 1974, BGBl. I, S.  3651; siehe hierzu Putzo, NJW 1975, 185 ff.; zuvor wurde durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostensrechts vom 12. September 1950, BGBl. I, S.  455 die Änderungen des Zivilprozessrechts während der Zeit des Nationalsozialismus aufgehoben und die alte Rechtslage größtenteils wieder eingeführt; siehe hierzu sowie den weiteren Gesetzesänderungen ab 1945 Bachmann, in: Gerichtsverfahren, S.  1 (4 ff.) m. w. N.; Saenger, Rechtstheorie 31 (2000), 413 (419 ff.); überblicksartig MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  74 ff. 298  BT-Drucks. 7/2729, S.  42. 299  Putzo, NJW 1975, 185 (187). 300  BT-Drucks. 7/2729, S.  42; Seidel, ZZP 99 (1986), 64 (75); von einer Aufwertung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes durch §  348 Abs.  1 ZPO n. F. ebenfalls ausgehend Werner/Pastor, NJW 1975, 329 (331). 301  Zur früheren Praxis vor Erlass der Einzelrichternovelle siehe Werner/Pastor, NJW 1975, 329. 302  Seidel, ZZP 99 (1986), 64 (73 f.); siehe auch Putzo, NJW 1975, 185 (187).

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

standen.303 Problematisch war dies insofern, als eine Übertragung der Beweisaufnahme auf ein Mitglied des Kollegiums nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen möglich ist (§  355 Abs.  1 S.  2 ZPO) und die Voraussetzungen der jeweiligen Ausnahmevorschriften typischerweise nicht erfüllt waren.304 Durch die Einzelrichternovelle wurde folglich die Frage nach der Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes virulent.305 In der Kammer für Handelssachen wurde in Person des Vorsitzenden das Institut des vorbereitenden Einzelrichters dagegen beibehalten.306 Die Befugnis zur Erhebung von Beweisen stand allerdings unter dem Vorbehalt, dass zum einen „anzunehmen ist, daß es für die Beweiserhebung auf die besondere Sachkunde der ehrenamtlichen Richter nicht ankommt“ und dass „die Kammer das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“ (§  349 Abs.  1 S.  2 ZPO n. F.). Durch diese beiden zusätzlichen Voraussetzungen wollte der Gesetzgeber ebenfalls den Unmittelbarkeitsgrundsatz aufwerten.307

2.  Vereinfachungsnovelle (1976) Mit der Vereinfachungsnovelle aus dem Jahre 1976308 wollte der Gesetzgeber eine Verfahrenskonzentration auf möglichst einen Termin sowie eine Beschleunigung des Verfahrens erreichen.309 Die wesentlichen Änderungen betrafen daher die Vorbereitung und Durchführung der Hauptverhandlung.310 Der Rechtsstreit war – in der Regel – in einem umfassend vorbereiteten Termin zur mündlichen Verhandlung zu erledigen (§  272 Abs.  1 ZPO n. F.), wobei als Vorbereitungsmaßnahmen entweder ein früher erster Termin (§  275 ZPO n. F.) oder ein schriftliches Vorverfahren (§  276 303 

Zur Verfahrensweise siehe Werner/Pastor, NJW 1975, 329 (330). Seidel, ZZP 99 (1986), 64 (74 f.). 305  Die Handhabung in der Praxis wurde im Schrifttum als unzulässig bewertet; siehe Werner/ Pastor, NJW 1975, 329 (331); Putzo, NJW 1975, 185 (187); Seidel, ZZP 99 (1986), 64 (74 ff.). Eine ähnlich vieldiskutierte Frage ist die nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einzelrichternovelle. Teilweise wird die Einzelrichternovelle als Verstoß gegen das Recht auf den gesetz­ lichen Richter (Art.  101 Abs.  1 S.  2 GG) sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art.  3 GG) bewertet; hierfür Schumann, ZZP 96 (1983), 137 (197) [Fn.  209] m. w. N. auch zur Gegenansicht; ebenso Schultze, NJW 1977, 409 ff., welcher jedoch die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung von §  348 Abs.  1 ZPO n. F. bejaht. 306  BT-Drucks. 7/2729, S.  42. Zur Neuregelung siehe Bergerfurth, NJW 1975, 331 ff. 307  BT-Drucks. 7/2729, S.  83; Bergerfurth, NJW 1975, 331 (332), welcher in Anlehnung an die Gesetzesmaterialien von einer „doppelten Beschränkung“ spricht; siehe auch Krüger, Unmittelbarkeit, S.  152 (Fn.  155). 308  Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. Dezember 1976, BGBl. I, S.  3281; siehe hierzu Putzo, NJW 1977, 1 ff. 309  BT-Drucks. 7/2729, S.  33 ff. 310  Als zweite wichtige Änderung ist die Einführung einer allgemeinen Prozessförderungspflicht mit der Möglichkeit der Zurückweisung verspäteten Vorbringens (§§  282, 296 ZPO n. F.) zu nennen; Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  12. 304 

V.  Gesetzgebungsakte seit 1945

147

ZPO n. F.) angeordnet werden konnte. Der Haupttermin stellte das „Kernstück des Prozesses“311 dar. Innerhalb des Haupttermins sollte die Beweisaufnahme der mündlichen Verhandlung unmittelbar folgen (§  278 Abs.  2 S.  1 ZPO n. F.). Die Vorteile hiervon liegen auf der Hand: „Die anwesende Partei erlebt […] die Beweisaufnahme mit, kann sich ein Bild über deren Verlauf machen und in geeigneter Weise eingreifen.“312

Der Gesetzgeber reagierte mit dieser Verfahrenskonzeption auf eine Forderung von Baur, welcher in einer Untersuchung aus dem Jahre 1966 die „Trennung von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme“ als eine Ursache für die lange Dauer des Zivilverfahrens ausgemacht hatte.313 §  278 Abs.  2 S.  1 ZPO n. F. sollte nunmehr einer solchen Trennung und daraus resultierenden Prozessverzögerungen entgegenwirken.314 Änderungen hinsichtlich der Art und Weise der Beweisaufnahme wurden dagegen nicht vorgenommen.315 Für den Unmittelbarkeitsgrundsatz ist die ­Vereinfachungsnovelle dennoch relevant, da die heute geltenden – auf sie zurück­ gehenden – Vorschriften der ZPO teilweise als Ausdruck einer „zeitlichen Unmittelbarkeit“ angesehen werden.316

3.  Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz (1990) Trotz seiner Versuche zur Vereinfachung und Beschleunigung des Zivilprozesses musste der Gesetzgeber eingestehen, dass es aufgrund steigender Eingangszahlen zu keiner spürbaren Entlastung der Zivilgerichte gekommen ist.317 Im Jahre 1990 wurde daher das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz erlassen,318 welches erneut auf eine Verfahrensbeschleunigung sowie Arbeitserleichterung der Gerichte abzielte.319 Dies sollte unter anderem durch „Verbesserungen im Beweisrecht, insbesondere beim Zeugen- und Sachverständigenbeweis“ erreicht werden.320 311 

MünchKommZPO/Prütting, §  272 ZPO Rn.  1. BT-Drucks. 7/2729, S.  37. 313  Baur, Wege zu einer Konzentration, S.  11, 13 ff., welcher dementsprechend eine zwingende Verbindung beider Verfahrensabschnitte in einem Termin vorschlug. Die Gesetzesmaterialien zur Vereinfachungsnovelle betonen daher: „Eine Trennung von Beweisaufnahme und mündlicher Verhandlung hat damit für den Haupttermin regelmäßig auszuscheiden.“; BT-Drucks. 7/2729, S.  72. 314  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  104 Rn.  38 (zum heutigen §  279 Abs.  2 ZPO). 315  Durch §  358a ZPO n. F. wurde lediglich die Möglichkeit eingeführt, einen vorzeitigen Beweisbeschluss erlassen zu können; siehe dazu BT-Drucks. 7/2729, S.  84. 316  Siehe dazu später unter §  5 I. 1. c). 317  BT-Drucks. 11/3621, S.  20; ebenso Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  12 f.; Hansens, NJW 1991, 953. 318  Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990, BGBl. I, S.  2847; siehe hierzu Hansens, NJW 1991, 953 ff. 319  Hansens, NJW 1991, 953. 320  BT-Drucks. 11/3621, S.  21. 312 

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Hierfür wurden zunächst die Voraussetzungen für die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter beim Zeugenbeweis modifiziert. Eine Delegation der Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1 ZPO n. F. war nunmehr nur möglich, „wenn von vornherein anzunehmen ist, daß das Prozeßgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweis­ aufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“.321 Durch diese zusätzliche Beschränkung des Anwendungsbereichs wollte der Gesetzgeber den Unmittelbarkeitsgrundsatz stärken und gleichzeitig eine Verfahrensbeschleunigung ermöglichen.322 Zur Wahrung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung sollten die Gerichte zu einer sorgfältigen Prüfung der Voraussetzungen einer kommissarischen Beweisaufnahme angehalten werden.323 Neu gefasst wurde auch §  375 Abs.  1 Nr.  3 ZPO n. F. Eine Übertragung der Beweisaufnahme erforderte, dass „dem Zeugen das Erscheinen vor dem Prozeßgericht wegen großer Entfernung unter Berücksichtigung der Bedeutung seiner Aussage nicht zugemutet werden kann“, wodurch die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes unterstrichen werden sollte.324 Die gleichzeitige Einführung von §  375 Abs.  1a ZPO n. F. stand hierzu allerdings im Widerspruch.325 Danach konnte eine Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter bereits dann stattfinden, „wenn dies zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Prozeßgericht zweckmäßig erscheint“.326 Folglich kam es zu einer Abschwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes.327 Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte durch die Neuregelung das Beweisrecht zweckmäßiger gestaltet werden,328 indem die Prozessökonomie gegenüber der Unmittelbarkeit bevorzugt wurde – eine Tatsache, welche freilich Kritik im Schrifttum hervorgerufen hat.329 321  Siehe dazu auch Krüger, Unmittelbarkeit, S.  140. Ausführlich zu dieser sog. allgemeinen Beweisprognose später unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 322  BT-Drucks. 11/3621, S.  22; siehe auch Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  1. 323  BT-Drucks. 11/3621, S.  38. 324  BT-Drucks. 11/3621, S.  38; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  148; Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  10; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  19; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  39 Rn.  19. 325  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  140 (Fn.  92). Im Regierungsentwurf zum Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz fand sich die Vorschrift noch nicht. Erst der Bundesrat hatte für deren Einfügung plädiert; BT-Drucks. 11/4155, S.  4. Schließlich wurde dieser Vorschlag vom Rechtsausschuss übernommen; BT-Drucks. 11/8283, S.  9, 45. 326  Zusätzlich musste die allgemeine Beweisprognose („wenn von vornherein anzunehmen ist, daß das Prozeßgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“) positiv ausfallen. 327  MünchKommZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  1 („wesentliche Lockerung des Unmittelbarkeitsprinzips“); Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  2; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (70). 328  BT-Drucks. 11/8283, S.  45. Begründet wurde die Neuregelung erstens damit, dass durch die Abschaffung des vorbereitenden Einzelrichters durch die Einzelrichternovelle von 1974 die Arbeitsbelastung an den Landgerichten gestiegen sei. Zweitens wurden die bereits existierenden Ausnahmen zu §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO als Rechtfertigung angeführt; BT-Drucks. 11/4155, S.  10. 329  Sehr kritisch Zöller/Greger, 20.  Aufl. 1997, §  375 ZPO Rn.  5: „[Der] Vorrang der Prozeßökonomie vor dem Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit […] stellt […] letztendlich einen ge-

VI.  Zusammenfassung

149

Ferner wurden die Voraussetzungen für eine schriftliche Zeugenaussage gesenkt.330 Eine solche war nunmehr bereits möglich, „wenn [das Gericht] dies im Hinblick auf den Inhalt der Beweisfrage und die Person des Zeugen für ausreichend erachtet“ (§  377 Abs.  3 S.  1 ZPO n. F.). Hierdurch sollten Zeit und Kosten gespart werden, sodass auch diesbezüglich die Ziele der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens maßgebend waren.331 Schließlich ermöglichte der erst durch den Rechtsausschuss eingefügte §  495a ZPO, dass das Amtsgericht sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen konnte, sofern der Streitwert 1.000 DM (mittlerweile: 600 €) nicht übersteigt.332 Um insbesondere eine prozessökonomischere und kostengünstigere Beweisaufnahme zu ermöglichen, war eine Abweichung von den allgemeinen Vorschriften über die Beweisaufnahme (§§  355 ff. ZPO) – und damit auch vom Unmittelbarkeitsgrundsatz333 – zulässig.334

VI.  Zusammenfassung Im Gemeinen Prozess waren Formen von Unmittelbarkeit nur teilweise vorhanden, in der Vielzahl war das Verfahren schriftlich-mittelbar. Die Mündlichkeit wurde schließlich als Mittel gesehen, um die Nachteile des Gemeinen Prozesses überwinden zu können. Während in Preußen die Mündlichkeit nur zögerlich umgesetzt wurde, gingen die hannoverschen Prozessordnungen einen Schritt weiter. Während es zuvor hauptsächlich schriftliche Verfahren mit mündlicher Schlussverhandlung gab,335 führte die BPO von 1850 erstmals eine mündliche Verhandlung ein und ließ immer mehr Formen von Unmittelbarkeit erkennen. Die BPO wird daher als „wichfährlichen Rückfall in die mit der Vereinfachungsnovelle aufgegebene Praxis des nur ‚vorbereitenden Einzelrichters‘ dar […].“; zustimmend Braun, Lehrbuch, S.  805; ähnlich Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  2; siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  42, wo von einem „neuen“ vorbereitenden Einzelrichter die Rede ist; ähnlich Krüger, Unmittelbarkeit, S.  143 [Fn.  104], wo von einer „Renaissance“ des vorbereitenden Einzelrichters gesprochen wird. 330  Hansens, NJW 1991, 953 (956). 331  BT-Drucks. 11/3621, S.  22. 332  Hierdurch wurde der frühere, durch die Vereinfachungsnovelle (1976) aufgehobene §  510c ZPO a. F., wonach bis zu einem Streitwert von 50 DM das Verfahren nach gerichtlichem Ermessen gestaltet werden konnte, ersetzt; BT-Drucks. 11/4155, S.  10; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  108 Rn.  17. 333  Siehe hierzu später unter §  5 IV. 3. c) dd). 334  BT-Drucks. 11/4155, S.  10 f.; Stein/Jonas/Berger, §  495a ZPO Rn.  1. 335  Zu diesem „Gesetzestypus“ zählen unter anderem die Badische Prozessordnung von 1831, die Preußischen Gesetzesnovellen von 1833/1846, der Prozessentwurf für Schleswig-Holstein von 1849 sowie die Prozessordnung des Herzogtums Oldenburg von 1857; siehe hierzu Dahlmanns, in: Handbuch der Quellen und Literatur, S.  2615 (2629 ff. [zu Baden], 2650 ff. [zu Preußen]); Mittermaier, AcP 33 (1850), 119 (135 ff.) [zu Schleswig-Holstein]; Schilken, in: FS OLG Oldenburg, S. 159 (166 ff.) [zu Oldenburg].

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§  4:  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

tigster Wendepunkt in der deutschen Gesetzgebung“336 im 19. Jahrhundert bezeichnet. Insbesondere für die Herausbildung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes war die BPO von herausragender Bedeutung.337 Schließlich nahm der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Reichs-Civilprozeßordnung eine bedeutende Rolle ein. Trotz seines großen Stellenwerts wurde er bereits um die Jahrhundertwende vor allem in der Praxis immer häufiger umgangen. Gerade die Ausnahmevorschriften von der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wurden weit ausgelegt, sodass oftmals nur eine kommissarische Beweisaufnahme stattfand. In der Folgezeit versuchten sowohl die Nationalsozialisten als auch der Gesetzgeber ab 1945 dieser Entwicklung durch eine Engerfassung der Ausnahmevorschriften entgegenzuwirken.338 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz sollte gestärkt werden, wenngleich diese Tendenz durch die Einführung der §§  375 Abs.  1a, 495a ZPO deutlich relativiert wurde. Eine klare Haltung des Gesetzgebers zur Unmittelbarkeit lässt sich folglich nicht erkennen.339

336 

Mittermaier, AcP 45 (1862), 99 (108). Dies wird auch in der Allgemeinen Begründung zur CPO nochmals betont; Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  116; siehe auch Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (93). 338  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  154; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (69) spricht in diesem Zusammenhang vom „Aufstieg und Höhenflug der Unmittelbarkeit“. 339  Zutreffend Krüger, Unmittelbarkeit, S.  160, wonach „sich der Gesetzgeber […] sehr ambivalent zu diesem Verfahrensgrundsatz verhält.“; ähnlich Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozess­ recht, §  120 Rn.  40 („gleichzeitig stärker betont und eingeschränkt“). 337 

§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Zur Bestimmung des Inhalts und der Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes de lege lata bedarf es einer genauen Analyse der ZPO. Dabei müssen sich die Ergebnisse der nachfolgenden Untersuchung nicht zwingend mit denen des rechtsvergleichenden Abschnitts decken. Ein Verfahrensgrundsatz muss nicht denselben Inhalt haben, nur weil er in verschiedenen Verfahrensordnungen Geltung beansprucht und zugleich denselben Namen trägt. Vielmehr gilt es, den „eigenen“ Inhalt des in Rede stehenden Verfahrensgrundsatzes in der jeweiligen Prozessordnung herauszuarbeiten.1 Dies wird durch die rechtsvergleichende Untersuchung unterstrichen, wonach eine materielle und/oder zeitliche Unmittelbarkeit nicht in allen Verfahrensordnungen anerkannt ist.2

I.  Überblick über den bisherigen Meinungsstand Vor der Herausarbeitung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes empfiehlt es sich, einen Überblick über den bisherigen Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung zu geben – einerseits, um die Relevanz der Thematik verdeutlichen und andererseits, um strittige Fragen gleich zu Beginn der dogmatischen Untersuchung offenlegen zu können. Freilich kann dieser Überblick nicht erschöpfend ausfallen und sämtliche Detailfragen behandeln. Vielmehr soll er die wichtigsten Aspekte der Übersichtlichkeit halber zusammenfassen.

1.  Komponenten der Unmittelbarkeit Im Zivilprozess werden für den Unmittelbarkeitsgrundsatz drei Komponenten diskutiert: formelle, materielle und zeitliche Unmittelbarkeit.3 Nur gelegentlich findet 1  Ähnlich Engelmann, Prozeßgrundsätze, S.  92 zum Verfassungsprozeßrecht: „Zum zweiten folgt daraus, daß bei der Annahme der Geltung von Grundsätzen nicht deren (meist) zivilprozessualer Begriffsinhalt mit auf das Verfassungsprozeßrecht zu übertragen ist. Maßstab ihrer inhaltlichen Festlegung ist das Verfassungsprozeßrecht, das wiederum im Lichte der Verfassung interpretiert werden muß.“. 2  Siehe hierzu oben unter §  3 IV. 3  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  203 ff.; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  1; Musielak/ Voit/Musielak, Einleitung Rn.  48; Stickelbrock, Kollision, S.  60.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

sich eine terminologische Differenzierung anhand der Begriffe „Unmittelbarkeit der Verhandlung“4 und „Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“5. Die gesetzliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wird im Wesentlichen in den §§  128 Abs.  1, 309, 355 Abs.  1 S.  1 ZPO gesehen.6 a)  Formelle Unmittelbarkeit Die formelle Unmittelbarkeit wird von der Literatur in §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO verankert.7 Ihre Geltung in der ZPO ist allgemein anerkannt, wenngleich über den genauen Inhalt Meinungsverschiedenheiten bestehen. aa)  Inhalt und Reichweite Die überwiegende Ansicht in der Literatur stellt für die Realisierung der formellen Unmittelbarkeit darauf ab, ob richterliche Mittelspersonen zwischen die Parteien und den Richter bzw. zwischen die Beweismittel und den Richter treten.8 So schrieb bereits Hegler im Jahre 1913, „[…] daß es bei der Frage der Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit sich um ein richterliches Medium, einen Zwischenrichter sozusagen und das Hindurchgehen des Parteivorbringens durch dessen Subjektivität handelt.“9

4  Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (193); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  80 Rn.  3; ähnlich Reichel, Unmittelbarkeit, S.  44 ff. („Unmittelbarkeit des Parteivorbringens“); Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  19 („Unmittelbarkeit der Tatsachenerschließung“). 5  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  80 Rn.  4; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  53 ff.; ähnlich Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1288), welcher die formelle Unmittelbarkeit als „Richterunmittelbarkeit“ und die materielle Unmittelbarkeit als „Unmittelbarkeit des Beweismittels“ bezeichnet. 6  Musielak/Voit/Musielak, Einleitung Rn.  47; Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  89 f.; Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (63); Glunz, Psychologische Effekte, S.  294. 7  Deutlich Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (144) [„sedes materiae des zivilprozessualen Unmittelbarkeitsprinzips]; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  59 („Manifestierung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“); ferner Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  27; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  135 f.; Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  5; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  355 ZPO Rn.  4. 8  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (213, 407); Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  65; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  44, 56; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  9; Nissen, Online-Videokonferenz, S.  145 ff.; Weth, JuS 1991, 34; Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (144); Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (139); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (368); Musielak, in: FS Geimer, S.  761; Stürner, in: FS Baur, S.  647 (664); MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  368; MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1; PG/Lindner, §  355 ZPO Rn.  1; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  80 Rn.  1; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  378; hierfür wohl auch Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten, S.  172; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, §  128 ZPO Rn.  1. Siehe im älteren Schrifttum noch Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (194), welcher diesbezüglich von der „Unmittelbarkeit der Wahrnehmung“ spricht; ferner Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  20 f. 9  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (213).

I.  Überblick über den bisherigen Meinungsstand

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Zur Abgrenzung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit stellen die Vertreter dieser Ansicht auf das Vorliegen eines personellen oder auch menschlichen Zwischengliedes ab. Jedes andere „Medium“ soll dagegen nicht zu einer Mittelbarkeit des Verfahrens führen: „Verfehlt ist es […], bei Unmittelbarkeit darauf abzustellen, ob das entscheidende Gericht die Person, welche und während sie die Erklärung abgibt, in conspectu hat, unmittelbar sinnlich wahrnehmen kann oder nicht […]. Das Wesentliche ist […] immer nur das Fehlen oder Nichtfehlen eines richterlichen Mediums, eines Zwischenrichters: nur diese Frage ist klar gestellt und rationell von Bedeutung.“10

Sachliche Zwischenglieder – insbesondere Schriftstücke – seien nicht ausreichend.11 Die formelle Unmittelbarkeit beantworte daher die Frage, gegenüber „wem“ das Parteivorbringen und die Beweisaufnahme zu erfolgen haben.12 Konsequenterweise wird der Sinn und Zweck der formellen Unmittelbarkeit zuvörderst darin gesehen, dass die Ausschaltung richterlicher Mittelspersonen zur Vermeidung von Fehlerquellen und Missverständnissen führe, da „jede Einschiebung eines Zwischengliedes eine Trübung der richterlichen Erkenntnis bedeutet“13 – eine Gefahr, welche sich erhöht, je mehr Zwischenglieder auftreten.14 Durch die formelle Unmittelbarkeit könne daher die „Zuverlässigkeit der Beweisergebnisse“ gefördert werden.15 Primär geht es der herrschenden Auffassung somit um die Gewährleistung „inhaltlicher Unverzerrtheit“, nicht aber um die Herstellung eines persönlichen Kontakts zwischen dem Richter einerseits und den Parteien und den Beweismitteln andererseits.16 Die Gegenansicht rückt dagegen den letztgenannten Aspekt in den Vordergrund. Demnach erfordere die formelle Unmittelbarkeit „die gleichzeitige körperliche Anwesenheit der Richter und des Beweismittels am Ort der Beweiserhebung.“17 Nur hierdurch könne die Forderung nach der Ausschaltung von möglichen (richterli10 

Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (214 f.). Deutlich Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  20: „Wenn dies richtig wäre, könnte man mit demselben Rechte behaupten, daß sich bei der mündlichen Äußerung als selbständige Existenz zwischen Partei und Gericht die Sprache einschiebe.“. 12  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (213); Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  20; anders Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  23 („[…] wie das Gericht vom Beweisergebnis Kenntnis erlangt.“). 13  Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  19; siehe auch Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  40; Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten, S.  172; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  48; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  9 f. 14  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (218). 15  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (368). 16  Glunz, Psychologische Effekte, S.  296. 17  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  10; ähnlich Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  4, welcher von der „räumlichen Anwesenheit der Beweisperson“ spricht; hierfür jüngst auch Glunz, Psychologische Effekte, S.  297 ff.; ähnlich Kleinfeller, Lehrbuch, S.  187: „Die Unmittelbarkeit des Verfahrens besteht darin, daß der zur Entscheidung berufene Richter die Parteien und Auskunftspersonen selbst anhört, daß Parteiverhandlung und Beweisaufnahme vor seinen Augen und Ohren stattfindet […].“; aus dem älteren Schrifttum Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  20 („Unmittelbarkeit des Verkehrs“); Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  41. 11 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

chen) Zwischengliedern überhaupt erst realisiert werden.18 Begründet wird dies mit dem Wortlaut von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, wonach die Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ erfolgt.19 Selbiges ergebe sich aus §  375 Abs.  1 ZPO, wo auf einen „unmittelbaren Eindruck“ – als Ausnahme von der Unmittelbarkeit – verzichtet wird, sowie aus der Überlegung, dass eine Unterscheidung zwischen personellen und sachlichen Zwischengliedern nur zu einer graduellen, nicht aber einer prinzipiellen Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung führe.20 Im älteren Schrifttum findet sich zu dieser Problematik oftmals der Beispielsfall einer Gerichtsverhandlung, in welcher die Richter von den Parteien und den Zeugen durch einen Vorhang voneinander getrennt sind („Vorhangsfall“).21 Eine solche Verhandlung sei zwar mündlich, nicht aber unmittelbar.22 Denn die Unmittelbarkeit fordere, dass das Gericht die Parteien und die Beweismittel „selbst unmittelbar sinnlich wahrnehmen“23 müsse.24 bb)  Die Folgen eines Richterwechsels Als Teilaspekt der formellen Unmittelbarkeit stellt sich unter dem Stichwort der „Kontinuität der Richterbank“25 die Frage, wie sich ein Richterwechsel auf das Verfahren auswirkt, insbesondere, ob nach einem Wechsel in der Besetzung des Gerichts eine Wiederholung der mündlichen Verhandlung und/oder der Beweisaufnahme erforderlich wird.26 Schwierigkeiten ergeben sich letztendlich, da die ZPO diese Problematik nicht umfassend geregelt hat.27 Nur für den Fall eines Richterwechsels zwischen dem Schluss der mündlichen Verhandlung und dem Schluss der Beratung und Abstimmung muss die mündliche Verhandlung wiedereröffnet werden (§  156

18 

Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  41. Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  10. 20  Glunz, Psychologische Effekte, S.  298 f. 21  Maas, Unmittelbarkeit, S.  4 (aus der strafrechtlichen Literatur). Erwähnt wird dieses Beispiel unter anderem auch bei Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (215); Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  42 f. 22  Maas, Unmittelbarkeit, S.  4; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  43; kritisch dagegen Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), S.  192 (214 f.). 23  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  41. 24  Schließlich wird im älteren Schrifttum zur Abgrenzung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit teilweise auf das Erfordernis eines personellen oder sachlichen Zwischengliedes verzichtet. Entscheidend für das Vorliegen einer unmittelbaren Verhandlung sei vielmehr, dass der Prozessstoff direkt in der Verhandlung produziert wird, wohingegen er bei einer mittelbaren Verfahrensweise nur reproduziert wird; Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (195); ähnlich Planck, Lehrbuch, S.  180 f.; ebenso für das Strafprozessrecht Geppert, Unmittelbarkeit, S.  166. 25  Siehe Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (438 ff.); ähnlich RGZ 14, 383 (386), wo von der „Kontinuität des Verfahrens“ gesprochen wird. 26  Siehe hierzu Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  20 ff.; ferner Vollkommer, NJW 1968, 1309 ff., welcher sich aber nur mit dem Richterwechsel zwischen dem Schluss der mündlichen Verhandlung und der Urteilsverkündung befasst. 27  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  71. 19 

I.  Überblick über den bisherigen Meinungsstand

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Abs.  2 Nr.  3 ZPO).28 Problematisch ist dagegen ein Richterwechsel während der mündlichen Verhandlung. Hierzu bestimmt §  309 ZPO: „Das Urteil kann nur von denjenigen Richtern gefällt werden, welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben.“ Die herrschende Ansicht interpretiert die Vorschrift dahingehend, dass mit der „dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ nur die letzte mündliche Verhandlung (Schlussverhandlung) gemeint ist.29 Folglich sei es unschädlich, wenn die das Urteil fällenden Richter an den vorherigen Verhandlungsterminen nicht teilgenommen haben.30 Begründet wird dies im Wesentlichen mit dem Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung,31 wonach sämtliche Termine eine gedankliche Einheit bilden und insofern gleichwertig sind.32 Eine solche Auslegung schränkt den Unmittelbarkeitsgrundsatz freilich ein.33 Die Frage einer (möglichen) Wiederholung der Beweisaufnahme stellt sich, wenn es nach der Beweisaufnahme zu einem Richterwechsel gekommen ist.34 Die Rechtsprechung erachtet eine Wiederholung der Beweisaufnahme grundsätzlich nicht für erforderlich,35 denn diese müsse gemäß §  355 Abs.  1 ZPO nur „vor dem Prozessgericht“, nicht aber vor den erkennenden Richtern stattfinden.36 Vielmehr stehe die Wiederholung einer früheren Beweisaufnahme im Ermessen des Gerichts.37 Ferner könnten protokollierte Aussagen im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden.38 Als Argument wird wiederum der Grundsatz der Einheit der mündlichen 28 

Kern, ZZP 125 (2012), 53 (61). BGHZ 10, 130 (132); BGHZ 61, 369 (370) = NJW 1974, 143 (144); BGH NJW 1981, 1273 (1274); Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  21 ff.; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  96; Stickelbrock, Kollision, S.  61; Stürner, in: FS Baur, S.  647 (664); Auernhammer, ZZP 67 (1954), 256 (258); Vollkommer, NJW 1968, 1309 (1310); Weth, JuS 1991, 34 (35); Stein/Jonas/Leipold, §  309 ZPO Rn.  2; Musielak/Voit/Musielak, §  309 ZPO Rn.  2; MünchKommZPO/Musielak, §  309 ZPO Rn.  4; Zöller/Vollkommer, §  309 ZPO Rn.  1; BeckOK/Elzer, §  309 ZPO Rn.  7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  309 ZPO Rn.  1; Hk-ZPO/Saenger, §  309 ZPO Rn.  2; PG/Thole, §  309 ZPO Rn.  3; Schilken, Zivilprozessrecht, Rn.  378; aus dem älteren Schrifttum Planck, Lehrbuch, S.  190: „Die der Urtheilsfällung unmittelbar vorausgehende und daher dem Urtheile zu Grunde liegende Verhandlung ist somit die eigentlich entscheidende […].“; a. A. Kirchner, NJW 1971, 2158, wonach §  309 ZPO die „Gesamtzahl der im Verfahren einer Instanz stattgefundenen Verhandlungstermine“ umfasse. 30  Statt vieler MünchKommZPO/Musielak, §  309 ZPO Rn.  4. 31  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  96; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (54 f.); Oberheim, Zivilprozessrecht, Rn.  39; zu den weiteren Begründungsansätzen siehe Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  21 ff. 32  Statt vieler Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  79 Rn.  42 ff.; ferner Wieczorek/Schütze/Gerken, §  128 ZPO Rn.  8. 33  So ausdrücklich Musielak/Voit/Musielak, §  309 ZPO Rn.  1; MünchKommZPO/Musielak, §  309 ZPO Rn.  1. 34  Siehe hierzu auch Krüger, Unmittelbarkeit, S.  133 ff. 35  BGHZ 53, 245 (257) – „Anastasia“: „Ein Richterwechsel nach der Beweisaufnahme erfordert […] grundsätzlich keine Wiederholung der Beweisaufnahme.“; ebenso BGH NJW 1991, 1180; BGH NJW 1997, 1586 (1587); BGH NJW-RR 1997, 506. 36  Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (441). 37  BGHZ 32, 233 (234) = NJW 1960, 1252 (1253). 38  BGHZ 53, 245 (257) – „Anastasia“; BGH NJW 1992, 187 (188); BGH NJW-RR 1997, 506. 29 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Verhandlung ins Feld geführt sowie die Tatsache, dass die ZPO – wie im Falle der Beweisaufnahme durch einen beauftragten oder ersuchten Richter – eine Trennung von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung kennt.39 Da sich der neu hinzutretende Richter kein persönliches Bild von den Beweismitteln machen konnte, stellt der BGH insofern Einschränkungen von obigem Grundsatz auf, als persönliche Eindrücke nur im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden dürfen, sofern diese protokolliert wurden und die Parteien sich hierzu erklären konnten.40 Bestehen Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder will das anders besetzte Gericht von der bisherigen Glaubwürdigkeitsbeurteilung abweichen, müsse die Beweisaufnahme „unumgänglich“ wiederholt werden.41 Der BGH folgt damit der Judikatur des Reichsgerichts, welches eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dann bejahte, wenn eine Protokollierung der Beweisaufnahme nicht stattgefunden hatte.42 Dieses argumentierte mit dem schillernden Begriff der „Wissenschaft des Kollegiums“, welche im Falle einer fehlenden Protokollierung nicht mehr allen Richtern innewohne.43 Die Literatur hat sich der Rechtsprechung größtenteils angeschlossen.44 Leipold mahnt gar an, dass die Beachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht zu einer „unnötige[n] Komplizierung des Verfahrens“ führen dürfe.45 Die Gegenansicht betrachtet die Rechtsprechung als mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz unvereinbar.46 Berger argumentiert, dass bei Verwertung des Protokolls im Wege des Urkundenbeweises ein ursprünglich unmittelbares Beweismittel zu einem bloß mittelbaren Beweismittel „mutiere“, was §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO verbiete. Eine Begründung mit Hilfe der der ZPO bekannten Trennung von Beweisaufnahme 39  BGHZ 53, 245 (256 f.) – „Anastasia“; so auch MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  6. Im Urteil des BGH ist zwar wortwörtlich nur von der „Einheit der Verhandlung nach Einlegung einer Berufung“ die Rede. Dies wird man allgemein aber als einen Hinweis auf den Grundsatz der Einheit der (mündlichen) Verhandlung zu verstehen haben; so Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (148). 40  BGHZ 53, 245 (257) – „Anastasia“; BGH NJW 1991, 1180; BGH NJW 1991, 1302; BGH NJW 1992, 187 (188); BGH NJW-RR 1997, 506. 41  BGHZ 53, 245 (257 f.) – „Anastasia“. 42  RGZ 14, 383 (386): „[…] aber soviel steht fest und folgt aus dem Prinzipe der Unmittelbarkeit und der freien Beweiswürdigung, daß das Urteil gefällt werden muß von demjenigen Richterkollegium, vor welchem – ohne Protokollierung – die Beweisaufnahme stattgefunden hat.“; siehe zur Rechtsprechung des RG auch den Überblick bei Reichel, Unmittelbarkeit, S.  108 ff. m. w. N. 43  RGZ 14, 383 (386 f.). 44  Siehe nur Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  41 ff.; Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (664); Weth, JuS 1991, 34 (35); MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  6; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  6; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  26 ff.; so grundsätzlich auch BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  7 f.; siehe auch bereits Meyer, Magazin für hannoversches Recht 7 (1857), 86 (89 ff.) zur hannoverschen BPO von 1850. 45  Leipold, ZGR 1985, 113 (123). 46  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  126 f.; Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  12; Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  584 ff.; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (369) [Fn.  49]; Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  339 f.; Schmidt-Lorenz, Richterliches Ermessen, S.  90; zweifelnd auch Grunsky, Grundlagen, S.  437; so wohl auch Braun, Lehrbuch, S.  141.

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und Beweiswürdigung beim beauftragten und ersuchten Richter sei nicht zielführend, da im Falle eines Richterwechsels die Voraussetzungen von §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO nicht vorlägen. Zur Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes müsse folglich für den Fall eines Antrags einer Partei die Beweisaufnahme wiederholt werden.47 Reichel stimmt dem BGH nur insofern zu, als das Sitzungsprotokoll im Falle eines Richterwechsels herangezogen werden dürfe. Allerdings dürften persönliche Eindrücke aus dem Protokoll nicht im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden.48 §  160 Abs.  3 Nr.  4 ZPO schreibe die Protokollierung von persönlichen Eindrücken gerade nicht vor. Daraus müsse gefolgert werden, dass die Verwertung eines subjektiven Eindrucks von dem jeweiligen Beweismittel nur dem beweisaufnehmenden Gericht vorbehalten sein soll – eine Überlegung, welche in §  349 Abs.  1 S.  2 ZPO einen Ausdruck finde.49 Zur Lösung dieses Problems könne jedoch §  285 Abs.  2 ZPO herangezogen werden.50 Auch Grunsky kritisiert die Rechtsprechung des BGH, denn die „Notwendigkeit einer Beweisaufnahme kann nicht davon abhängen, wie der erst zu erhebende Beweis gewürdigt wird.“51 Ein derartiger „Zirkelschluss“ führe nach Ansicht Walters konsequenterweise zu einer Art antizipierter Beweiswürdigung.52 Stickelbrock folgert daraus, dass eine erneute Beweisaufnahme dann erforderlich sei, wann immer ein anderes Gericht über die Sache zu entscheiden habe.53 b)  Materielle Unmittelbarkeit Ob im Zivilprozess eine materielle Unmittelbarkeit existiert, wird kontrovers diskutiert. Diese würde – in Anlehnung an die StPO – verlangen, dass bei Verfügbarkeit mehrerer Beweismittel „nach Möglichkeit das dem Beweisthema nächststehende Beweismittel herangezogen wird.“54 Die herrschende Meinung lehnt die Geltung eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes für die ZPO allerdings ab,55 wofür im Wesentlichen drei Argumente 47  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  12; ähnlich kritisch Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  340: „Eine solche Argumentation verkennt den Ausnahmecharakter eines solchen Vorganges, wie er auch in §  355 I S.  2 ZPO ausdrückliche Anerkennung gefunden hat.“; ebenfalls auf §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO hinweisend Grunsky, Grundlagen, S.  437. Auch BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  8.1 sieht das Protokoll als mittelbares Beweismittel an; siehe zudem Kern, ZZP 125 (2012), 53 (64), welcher die Argumentation Bergers als „zwar nicht unangreifbar, aber doch stark“ bezeichnet. 48  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  126 f. 49  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  123 f. 50  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  96 f. 51  Grunsky, Grundlagen, S.  437; zustimmend Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  341; ähnlich Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  585; Schmidt-Lorenz, Richterliches Ermessen, S.  90. 52  Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  339 f.; so auch Nassall, ZZP 98 (1985), 313 (320 f.) für die ähnlich gelagerte Frage, ob das Berufungsgericht eine erneute Beweisaufnahme durchführen muss. 53  Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  587. 54  Statt vieler Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (139). 55  Hegler, Der Rechtsgang 2 (1916), 267 (303 ff.); Reichel, Unmittelbarkeit, S.  69; Pantle, Be-

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

ins Feld geführt werden: Erstens fänden sich in der ZPO keine Vorschriften, welche einen materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz enthalten. Selbst §  355 ZPO regele nur die formelle Unmittelbarkeit, welche „jedoch keine conditio sine qua non der materiellen Unmittelbarkeit darstellt.“56 Zweitens – und dies kann als das Hauptargument der herrschenden Ansicht bezeichnet werden – wird die materielle Unmittelbarkeit aufgrund der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes abgelehnt.57 Es sei Aufgabe der Parteien, die relevanten Tatsachen vorzutragen und die Beweise zu er­bringen, weshalb diese sich mit einem „nur“ mittelbaren Beweismittel zufriedengeben könnten.58 Damit wird zugleich auf die bestehenden Unterschiede zwischen dem Strafprozess und dem Zivilprozess hingewiesen, denn gerade der in der StPO geltende Untersuchungsgrundsatz (§  244 Abs.  2 StPO) führe zu unterschiedlichen Ausprägungen des Beweisrechts in den jeweiligen Verfahrensordnungen.59 Drittens schließe §  286 ZPO eine materielle Unmittelbarkeit aus, da andernfalls mit „der Nichtverwertbarkeit des mittelbaren Beweismittels eine negative Beweisregel proklamiert würde, die mangels gesetzlicher Bestimmung das Recht des Gerichts auf freie Beweiswürdigung restringierte.“60 §  286 ZPO besage nichts über die Auswahl der Beweismittel, sondern lediglich über deren Würdigung.61 Nach herrschender Meinung spielt die Sachnähe eines Beweismittels zum Beweisthema somit lediglich im Rahmen der Beweiswürdigung eine Rolle.62 weisunmittelbarkeit, S.  49; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  79 ff.; Nissen, Online-Videokonferenz, S.  146 f.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  295; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  32 f.; Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  303 f., 383; Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  229 f.; Stadler, Schutz des Unternehmensgeheimnisses, S.  211; dies., ZZP 110 (1997), 137 (144 f.); Fricker, Umfang und Grenzen, S.  111; Stickelbrock, Kollision, S.  60; Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  50 f.; Tropf, DRiZ 1985, 87 (88); Prütting/Weth, DB 1989, 2273 (2276); Weth, JuS 1991, 34 (35); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (367); Schreiber, Jura 2007, 500 (503); ders., Jura 2009, 269 (271); Kern, ZZP 125 (2012), 53 (65 ff.); Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (445); Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  206; Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  29; Zöller/Greger, §  355 ZPO Rn.  1; MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  371; MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  5; PG/Lindner, §  355 ZPO Rn.  1; Hk-ZPO/Eichele, §  355 ZPO Rn.  2; Thomas/Putzo/Reichold, §  355 ZPO Rn.  1; Jäckel, Beweisrecht, Rn.  345 f.; Braun, Lehrbuch, S.  738; Oberheim, Zivilprozessrecht, Rn.  306; Grunsky, Grundlagen, S.  436; ders., AuR 1990, 105 (111); zweifelnd dagegen Schilken, SAE 1993, 308 (309); siehe auch Ahrens, JZ 1996, 738 (740). Eine materielle Unmittelbarkeit soll auch dann nicht bestehen, wenn die Beweise von Amts wegen erhoben werden; Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  29; Wie­ czorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  19. 56  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  67; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  80. 57  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  29; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  5; Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (145); Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  29 f.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  295. 58  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (145 f.); Weth, JuS 1991, 34 (35). 59  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  81 f.; a. A. Krüger, Unmittelbarkeit, S.  217 ff. Siehe hierzu nochmals die Ausführungen zur materiellen Unmittelbarkeit in der StPO oben unter §  3 I. 1. a) bb). 60  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  68; ihm folgend Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  80; so auch schon Hegler, Der Rechtsgang 2 (1916), 267 (306 f.). 61  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  27 (Fn.  8). 62  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  69; Fricker, Umfang und Grenzen, S.  111; Stadler, ZZP 110

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Nach anderer Ansicht soll der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz im Zivilprozess Wirkung entfalten.63 Dies wird teilweise anhand von Einzelbestimmungen begründet: So ließe sich etwa den §§  294, 592, 580 Nr.  7b ZPO ein „punktuelles Verbot mittelbarer Beweismittel“ entnehmen.64 Ferner wird der Ausnahmecharakter von denjenigen Vorschriften – insbesondere §  377 Abs.  3 ZPO und §  418 ZPO – betont, welche eine mittelbare Beweisaufnahme gestatten.65 Teilweise wird von einer „Verschränkung“ von formeller und materieller Unmittelbarkeit ausgegangen, wenn gesagt wird, dass die Vorschriften über die formelle Unmittelbarkeit zur Geltung der materiellen Unmittelbarkeit führen sollen: „Sie dienen also letztendlich auch dem materiellen Unmittelbarkeitsprinzip; sie fördern es, indem sie die Zahl der indirekten Beweismittel von Anfang an gering zu halten versuchen. Die Anerkennung und Befolgung des Grundsatzes der materiellen Beweisunmittelbarkeit setzen diese Normen somit als selbstverständlich voraus.“66

Schließlich hat Rohwer noch weitere (mögliche) Argumente herausgearbeitet: Sie will eine materielle Unmittelbarkeit – entgegen der herrschenden Auffassung – aus der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 ZPO) ableiten, da diese „gerade die Berechtigung [enthält], im Einzelfall das mittelbare Beweismittel auf Grund des aus seiner sachferneren Beziehung resultierenden Minderwerts schwächer zu wür(1997), 137 (146); Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  12; Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (64); Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  5; Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  29; MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  371; so auch BGH NJW 1995, 2856 (2857) zum Beweiswert einer Urkunde über die frühere Vernehmung eines Zeugen in einem anderen Verfahren. Deren Beweiswert sei generell geringer als derjenige einer unmittelbaren Zeugenvernehmung. 63  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  47 ff., 63 ff., 111 ff.; Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten, S.  176 ff.; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (140 ff.); Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 10.  Aufl. 1969, S.  595; Bruns, Zivilprozeßrecht, Rn.  87; so wohl auch Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1288), wenn er von der „Unmittelbarkeit des Beweismittels“ spricht; siehe auch Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (153): „Dieser erfordert, dass mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme […] (materiell) nach Möglichkeit unter Heranziehung des nächststehenden Beweismittels erfolgen.“; zum älteren Schrifttum siehe Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  19, wonach der Richter diejenigen Beweise vorziehen müsse, welche ihm am zuverlässigsten erscheinen; Goldschmidt, Prozeß, S.  434 (Fn.  2288) [„Unmittelbarkeitsgrundsatz im objektiven (materiellen) Sinne“]; Kries, ZStW 6 (1886), 88 (118 ff.); ferner Planck, Lehrbuch, S.  181, welcher offenbar von einer Subsidiarität mittelbarer Beweismittel ausgeht, wenn er sagt, dass Ersatzbeweise nur zulässig seien, sofern der Originalbeweis nicht erbracht werden könne. 64  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  46 ff., welcher allerdings Anhänger der herrschenden Meinung ist. Aus dem Umstand aber, dass sonst keine vergleichbaren Regelungen existieren, folgert Pantle, dass die genannten Vorschriften nur als Ausnahmevorschriften konzipiert seien, weshalb es einen allgemeinen Grundsatz materieller Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht gebe. 65  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  53 ff.; zu §  377 Abs.  3 ZPO siehe Krüger, Unmittelbarkeit, S.  200 ff.; Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181 (188) [Fn.  40] verweist noch auf §  435 ZPO, welcher als Ausdruck materieller Unmittelbarkeit verstanden werden könne. 66  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  6 4; ebenso für eine solche „Verschränkung“ Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten, S.  176; siehe auch Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  55, welcher selbst als Gegner einer materiellen Unmittelbarkeit anerkennt, dass unter anderem §  375 ZPO eine „Tendenz zur Begrenzung mittelbarer Beweisaufnahmen innewohnt.“.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

digen als ein unmittelbares […].“67 Auch spreche der Sinn und Zweck des Zivilprozesses für eine materielle Unmittelbarkeit, da sowohl StPO als auch ZPO die „Ermittlung der materiellen Wahrheit“ zum Ziel hätten: „Da jedes gerichtliche Verfahren die Ermittlung der Wahrheit anstrebt, ist das materielle Unmittelbarkeitsprinzip jeder Prozeßordnung immanent. Somit steht der Zivilprozeß ebenso wie der Strafprozeß unter dem Gebot der materiellen Beweisunmittelbarkeit.“68

Selbst der Unterschied zwischen beiden Prozessordnungen – welcher von Rohwer nicht geleugnet wird – könne daher nicht zur Verneinung einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess herangezogen werden.69 In neuerer Zeit trat Bachmann der herrschenden Meinung und ihrer Argumentation mit dem Verhandlungsgrundsatz entgegen. Ein Vergleich mit der Mündlichkeit ergebe, dass wegen §  128 Abs.  2 ZPO der Mündlichkeitsgrundsatz noch viel stärker der Parteidisposition unterliege als die Auswahl der Beweise. Dennoch sei die Geltung des Mündlichkeitsgrundsatzes generell anerkannt. Der Verhandlungsgrundsatz führe daher zu einer Modifikation des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes.70 Ferner könne die Tatsache, dass auf Antrag der Parteien ein unmittelbarer Beweis erhoben werden muss, nur als „Ausdruck seiner prinzipiellen Geltung auch im Zivilprozess“ verstanden werden.71 Jüngst hatte sich noch Krüger mit der Frage nach einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess beschäftigt und insbesondere die freie Beweiswürdigung (§  286 ZPO) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt.72 Aus dem „Zusammenspiel zwischen den Vorschriften der §§  355, 375 ZPO und dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung“ ergebe sich, dass für den Zivilprozess eine – wenngleich nicht uneingeschränkte – Geltung materieller Unmittelbarkeit bejaht werden könne.73 Krüger führt damit die Überlegungen Rohwers zu §  286 ZPO fort und greift den Gedanken der „Verschränkung“ von formeller und materieller Unmittelbarkeit erneut auf, indem er auf die Wechselwirkungen von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung hinweist. Gerade die Formulierung in §  375 Abs.  1 ZPO „wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“ könne nur als Ausdruck materieller Unmittelbarkeit verstanden werden.74 67 

Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  60 f. Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  68. 69  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  67: „Dieser Unterschied in der Struktur der beiden Verfahrensarten […] rechtfertigt indessen nicht die Ablehnung eines solch fundamentalen Prinzips, wie es das materielle Unmittelbarkeitsprinzip darstellt.“. 70  Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (141 f.). 71  Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (142) mit Verweis unter anderem auf RGZ 46, 410 (412 f.); BGHZ 7, 116 (122). 72  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  220 ff., 226 ff. 73  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  229. 74  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  227. 68 

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c)  Zeitliche Unmittelbarkeit Neben der formellen und materiellen Unmittelbarkeit wird in der Literatur schließlich noch eine zeitliche Unmittelbarkeit als (mögliche) dritte Komponente diskutiert.75 Zum einen wird in §  310 Abs.  1 ZPO eine „zeitliche Unmittelbarkeit von Verhandlung und Urteil“76 gesehen, wonach das Urteil grundsätzlich in dem Termin verkündet werden soll, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird. Hierdurch sollen die beim Richter entstandenen Eindrücke von Verhandlung und Beweisaufnahme aufrechterhalten und im Urteil berücksichtigt werden können.77 Zum anderen wird auf das zeitliche Verhältnis von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme abgestellt, was sich vor allem an den §§  279 Abs.  2 und 3, 285 Abs.  1, 370 Abs.  1 ZPO zeige.78 Umstritten ist dagegen die Frage, ob eine zeitliche Unmittelbarkeit dergestalt existiert, dass die Beweise in unmittelbarem Anschluss an die Beweisaufnahme gewürdigt werden müssen.79 Ein solches Verständnis der Unmittelbarkeit wurde erstmals während der Zeit des Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht,80 wird jedoch mit dem Argument abgelehnt, dass zwischen der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung eine Verhandlung der Parteien über die Beweisaufnahme (§  285 Abs.  1 ZPO) stattfindet.81 Diese solle aber nur der Vorbereitung der abschließenden Beweiswürdigung durch das Gericht dienen.82 Generell wird die zeitliche Unmittelbarkeit in der Literatur nur spärlich behandelt.83 Pantle will diese lediglich als „Appell an den Richter“ begreifen, „das Verfahren zügig durchzuführen.“84

75  Anders Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  50, wonach die zeitliche Unmittelbarkeit „im Grunde ein Teilaspekt der formellen Unmittelbarkeit“ sei. 76  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (55); ferner Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  4; Wieczorek/ Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  22. 77  Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  4. 78  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (57) [Fn.  34]; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  22; siehe auch MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1 mit Hinweis auf §  370 Abs.  1 ZPO. 79  Hierfür Schönke/Kuchinke, Zivilprozeßrecht, S.  271; ähnlich Bruns, Zivilprozeßrecht, Rn.  87: „Es bedeutet schließlich […], daß sich die Beratung (Beweiswürdigung) unmittelbar an die Beweisaufnahme anzuschließen hat.“. 80  Siehe hierzu oben unter §  4 IV. 3. 81  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  33; siehe auch MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1. Auch durch die Neufassung von §  279 Abs.  3 ZPO soll sich nach wohl überwiegender Ansicht nichts an dieser Auffassung geändert haben; Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  11; MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO Rn.  8; BeckOK/Bacher, §  279 ZPO Rn.  9; so wohl auch Gehrlein, MDR 2003, 421 (423). 82  Hk-ZPO/Saenger, §  285 ZPO Rn.  1. 83  Ähnlich Kern, ZZP 125 (2012), 53 (58). 84  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  51.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

2.  Unmittelbarkeit und Mündlichkeit Die rechtshistorische Betrachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes hat gezeigt, dass Mündlichkeit und Unmittelbarkeit im 18. und 19. Jahrhundert weitestgehend gleichgesetzt wurden und es folglich an einer klaren Ausdifferenzierung fehlte.85 Wenngleich der enge Zusammenhang beider Verfahrensgrundsätze betont wird,86 wird der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Schrifttum ganz überwiegend als eigenständiger Verfahrensgrundsatz qualifiziert.87 Zur Abgrenzung wird vielfach darauf abgestellt, dass die Mündlichkeit nur die Form des Parteivorbringens vorschreibe. Häufig wird daher auf eine Formulierung von Bennecke/Beling verwiesen: „Die Mündlichkeit des Verfahrens fällt nicht zusammen mit der Unmittelbarkeit, die Schriftlichkeit nicht mit der Mittelbarkeit. Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit sind Stufen der Erkenntnis, Mündlichkeit und Schriftlichkeit sind Formen der Verständigung.“88

Auch zu dieser Frage wird auf den bereits angesprochenen „Vorhangsfall“ verwiesen, in welchem die Richter und die Parteien durch einen Vorhang voneinander getrennt sind. Gerade dieses Beispiel soll zeigen, dass ein Verfahren mündlich und mittelbar zugleich sein könne – mit anderen Worten: Die Mündlichkeit führe nicht automatisch zur Unmittelbarkeit des Verfahrens.89

3.  Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Der Sinn und Zweck der formellen Unmittelbarkeit wird hauptsächlich darin gesehen, dass durch die Ausschaltung von richterlichen Mittelspersonen mögliche Feh-

85 

Siehe hierzu oben unter §  4 II. 2. Statt vieler Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  11; siehe auch Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre, S.  86, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine (nicht zwangsläufige) Folgeerscheinung des Mündlichkeitsgrundsatzes sein soll. 87  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  8; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  45; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, §  80 Rn.  2; Nissen, Online-Videokonferenz, S.  142; Peters, Freibeweis, S.  101; ebenso Auernhammer, ZZP 67 (1954), 256 (260) [Fn.  11], welcher aber im Falle des §  309 ZPO von einer „Kongruenz von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit“ ausgeht; siehe auch Fezer, Funktion der mündlichen Verhandlung, S.  35, wonach die Unterscheidung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit „heute keine Schwierigkeiten mehr [mache]“; zum älteren Schrifttum siehe Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (191 ff.); Goldenring, ZZP 14 (1890), 52 (59); Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (213); Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  42 f., 48 f.; Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  18, 22 f.; ebenso Kleinfeller, Lehrbuch, S.  188, welcher allerdings ein zweckmäßiges Verfahren nur im Falle einer „Verbindung von Unmittelbarkeit und Mündlichkeit“ bejahen will; a. A. Hagen, Elemente, S.  87 f., wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz nur durch eine Kombination mit dem Mündlichkeitsgrundsatz einen deutlichen Inhalt erhalte. 88  Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, S.  258; zustimmend Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  49; Paeffgen, Unmittelbarkeit, S.  23; Maas, Unmittelbarkeit, S.  36; siehe zur Abgrenzung ferner Koffka, Gruchot 31 (1887), 145 (189); Goldenring, ZZP 14 (1890), 52 (60). 89  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  42 f.; Maas, Unmittelbarkeit, S.  4. 86 

I.  Überblick über den bisherigen Meinungsstand

163

lerquellen und Missverständnisse vermieden werden können.90 Der formellen Unmittelbarkeit komme folglich eine hohe „Bedeutung für die Tatsachenfeststellung im Prozess“91 sowie für die „zuverlässige Sachverhaltsaufklärung“92 zu, vor allem da die Parteien durch die Unmittelbarkeit mehr zur Erzählung der Wahrheit angehalten würden.93 Durch den unmittelbaren Kontakt könne die Glaubwürdigkeit von Aussagepersonen besser beurteilt werden.94 Schließlich würden erst durch die (formelle) Unmittelbarkeit des Verfahrens die Voraussetzungen für die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) geschaffen.95 Teilweise wird daher von einer „Komplementärfunktion zum Prinzip der freien Beweiswürdigung“96 gesprochen. So gesehen dient der Unmittelbarkeitsgrundsatz in erster Linie der Wahrheitsermittlung.97 Ferner soll er der Verfahrensbeschleunigung zugutekommen.98 Die materielle Unmittelbarkeit will dagegen durch die Heranziehung des unmittelbarsten Beweises die Zuverlässigkeit der Beweisaufnahme sichern,99 wodurch letztendlich auch der Wahrheitsermittlung gedient wird.100

4.  Einlegung von Rechtsmitteln und Dispositionsbefugnisse der Parteien Meinungsverschiedenheiten ergeben sich schlussendlich noch bezüglich der Frage, wie sich Verstöße gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz – insbesondere auf die   90  Siehe hierzu die Nachweise oben unter §  5 I. 1. a) aa). Siehe ferner Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1288); Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185 (325 ff.); Braun, Lehrbuch, S.  135.   91  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  5.   92  Bosch, Grundsatzfragen, S.  111; ähnlich Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (368).   93  Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185 (326), wonach die „Neigung zur Prozeßlüge“ nur durch die Unmittelbarkeit wirksam verhindert werden könne; siehe auch Peters, Freibeweis, S.  102.   94  Statt vieler Peters, Freibeweis, S.  102; ders., JA 1981, 65 (66). Siehe hierzu später unter §  5 IV. 3. b) bb) (2).   95  Nachdrücklich Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  329; Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  584; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  13; ferner Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  1; MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  2, 4; Zöller/ Greger, §  355 ZPO Rn.  1; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  2; siehe auch Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (368 f.); Krüger, Unmittelbarkeit, S.  142; aus dem älteren Schrifttum Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  78: „Wenn der Zivilrichter zu den Quellen der Beweistatsachen hinabsteigt, wenn er immer wieder die Menschen selbst, die zu berichten haben, hört […], dann gewinnt er den Einblick ins Leben, den er braucht […]. Er hört auf, das gefügige Werkzeug von Zeugen zu sein, und seine Urteile werden lebensklug und kritisch.“.   96  Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (27).   97  Statt vieler Kern, ZZP 125 (2012), 53 (71); aus dem älteren Schrifttum Wach, Ergänzungsheft ZZP 11 (1887), 1 (122): „Ich brauche der Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht nicht das Wort zu reden. Sie ist eine der stärksten Hebel der Wahrheit und damit der Gerechtigkeit.“.   98  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  6 mit Verweis auf Rosenberg, ZZP 57 (1933), 185 (326), wonach die Unmittelbarkeit zu den „unentbehrlichen Mitteln der Prozeßbeschleunigung“ gehöre; Bosch, Grundsatzfragen, S.  112; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  5.   99  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (58); Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  58. 100  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  58.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln – auswirken. Einigkeit herrscht insoweit, als eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zum Vorliegen eines Verfahrensfehlers führt.101 Unerheblich soll dabei sein, ob der Verstoß auf einer unzulässigen Delegierung der Beweisaufnahme oder den Folgen eines Richterwechsels beruht.102 Dementsprechend wird entweder nur ein Verstoß gegen §  355 ZPO angenommen, während andere Stimmen zugleich eine Verletzung von §  286 ZPO103 oder §  398 ZPO104 bejahen.105 Teilweise wird bei einer Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes von einem Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art.  101 Abs.  1 S.  2 GG) ausgegangen.106 Jedenfalls dürfe die fehlerhafte Beweisaufnahme nicht verwertet107 bzw. das Urteil müsse aufgehoben werden.108 Probleme hinsichtlich der Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten ergeben sich aufgrund von §  355 Abs.  2 ZPO,109 wonach eine Anfechtung des Beschlusses, durch den die eine oder die andere Art der Beweisaufnahme angeordnet wird, nicht stattfindet.110 Der Beschluss, die Beweisaufnahme einem beauftragten oder ersuchten Richter zu übertragen, ist nicht anfechtbar. Teilweise wird daher aus §  355 Abs.  2 ZPO i. V. m. §§  512, 557 Abs.  2 ZPO111 gefolgert, dass der Beweisbeschluss nicht über Berufung oder Revision angegriffen werden könne.112 Während das Reichs­ gericht diese Ansicht teilte und lediglich in Frage stellte, ob im Falle eines „offensichtlichen Mißbrauch des Prozeßgerichts“ anders geurteilt werden müsse,113 hat 101  BGH NJW 1987, 3205 f.; BGH NJW 1991, 1302; BGH NJW 2000, 2024 (2025); MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  376; MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  18; Wie­ czorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  55; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  11; Hk-ZPO/Eichele, §  355 ZPO Rn.  5; a. A. Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  93, wonach dies offenbar nur im Falle einer Verletzung von §  309 ZPO gelten soll. 102  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  55. 103  Hk-ZPO/Eichele, §  355 ZPO Rn.  5; siehe auch BGH NJW 1987, 3205 (3206); LG Saarbrücken NJW-RR 2010, 496 (497). 104  BGH NJW 1987, 3205. 105  Siehe zum Ganzen auch Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  55 m. w. N. 106  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  73 ff.; Schneider, DRiZ 1977, 13 (15) [für einen Verstoß gegen §  348 ZPO]; a. A. MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  18. 107  BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  24; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  55. 108  BGH NJW 1987, 3205 (3206); OLG Düsseldorf NJW 1992, 187 (188); Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  11. 109  Grundlegend hierzu Bosch, Grundsatzfragen, S.  105 ff. 110  Dass eine Anfechtbarkeit des Beweisbeschlusses ausscheiden soll, begründete der historische Gesetzgeber damit, dass dieser „vom diskretionären Ermessen des Gerichts abhängig ist.“; Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  305. 111  §  557 Abs.  2 ZPO entspricht inhaltlich §  548 ZPO a. F., welcher durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001, BGBl. I, S.  1887 geändert wurde. In der älteren Rechtsprechung und Literatur wird daher stets §  548 ZPO a. F. angegeben. 112  Hampel, FamRZ 1964, 125 (128 f.); Deubner, AcP 167 (1967), 455 (460); Thomas/Putzo/ Reichold, §  355 ZPO Rn.  7; Schönke/Kuchinke, Zivilprozeßrecht, S.  42; ebenso Braun, Lehrbuch, S.  142, wonach es sich beim Unmittelbarkeitsgrundsatz um ein „rechtlich unabgesichertes Postulat“ handeln soll. 113  RGZ 149, 286 (290 f.); RGZ 159, 235 (242): „An dieser Entscheidung ist auch weiterhin fest-

I.  Überblick über den bisherigen Meinungsstand

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der BGH diese Frage bislang ausdrücklich offengelassen.114 In der Literatur wird jedoch ganz überwiegend davon ausgegangen, dass bei einer fehlerhaften Delegierung der Beweisaufnahme eine Urteilsüberprüfung mittels Berufung und/oder Revision möglich sei.115 Dogmatisch wird dies mittels einer restriktiven Interpretation von §  355 Abs.  2 ZPO erreicht, wonach lediglich der Beweisbeschluss selbst isoliert nicht anfechtbar sei.116 Schließlich wird argumentiert, dass eine Nichtzulassung von Rechtsmitteln einer Sanktionslosigkeit von Verstößen gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz gleichkäme.117 Die Verletzung von Verfahrensvorschriften kann gemäß §  295 Abs.  1 ZPO nur gerügt werden, wenn die Parteien entweder auf deren Einhaltung nicht verzichtet haben oder den Mangel in der nächsten mündlichen Verhandlung gerügt haben. Die Folge wäre, dass etwaige Verfahrensfehler in den Rechtsmittelinstanzen nicht mehr beanstandet werden können (§§  534, 556 ZPO). Voraussetzung ist allerdings, dass es sich um Verfahrensvorschriften handelt, welche der Dispositionsbefugnis der Parteien unterliegen (§  295 Abs.  2 ZPO). Für den Unmittelbarkeitsgrundsatz stellt sich daher die Frage, ob auf seine Einhaltung verzichtet werden kann. Wenn dem so wäre, könnten Verletzungen der Unmittelbarkeit geheilt werden.118 Die Rechtsprechung119 sowie die überwiegende Ansicht in der Literatur120 befürworten die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und bejahen folglich die zuhalten; ob auch dann, wenn die Anordnung offensichtlich auf einem Mißbrauch des durch die erwähnten Vorschriften dem Prozeßgericht eingeräumten Ermessens beruhen würde […] eine der strengen Weisung des Gesetzes entsprechende Anwendung der Vorschriften entnommen werden könnte, braucht hier nicht entschieden zu werden.“; siehe ferner RGZ 11, 377 (380), worauf zu Recht Müller, DRiZ 1977, 305 (306) hinweist. 114  BGHZ 32, 233 (236): „Es braucht nicht entschieden zu werden, ob der Verstoß gegen §§  355, 451, 375 ZPO mit der Revision gerügt werden kann oder ob diese Rüge durch §  355 Abs.  2 ZPO ausgeschlossen ist.“; siehe ferner BGHZ 40, 179 (183) = NJW 1964, 108 (109); BGH NJW 1979, 2518. 115  Bosch, Grundsatzfragen, S.  113 ff.; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  129 f.; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  29; Peters, Freibeweis, S.  103 (Fn.  101) m. w. N.; ders., ZZP 76 (1963), 145 (158) [Fn.  58]; Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  341; Lindacher, FamRZ 1967, 195; Müller, DRiZ 1977, 305; Weth, JuS 1991, 34 (36); Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  31; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  11; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  28; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  116 Rn.  23; a. A. Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  145 f. 116  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  129 f.; Bosch, Grundsatzfragen, S.  108; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  27. 117  Bosch, Grundsatzfragen, S.  113; ebenso Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  341; Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  31; zustimmend OLG Düsseldorf NJW 1976, 1103 (1104); Müller, DRiZ 1977, 305 spricht insofern von einer „totalen Rechtsmittelsperre“. 118  Statt vieler MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  18. 119  BGHZ 40, 179 (183 f.) = NJW 1964, 108 (109); BGHZ 86, 104 (115) = NJW 1983, 1793 (1795); BGH NJW 1960, 862 (864); BGH NJW 1979, 2518; BGH NJW 1991, 1180; BGH NJW 1996, 2734 (2735); BGH NJW-RR 1997, 506. Zur Rechtsprechung der Instanzgerichte siehe OLG Köln NJW 1976, 2218 f.; OLG Düsseldorf NJW 1977, 2320; OLG Hamm MDR 1978, 676 f.; SchlHOLG MDR 1999, 761 f.; siehe schließlich auch BVerfG NJW 2008, 2243 (2244), wo die Disponibilität verfassungsrechtlich nicht beanstandet wurde. 120  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  133; Bosch, Grundsatzfragen, S.  121; Glunz, Psychologische

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Anwendbarkeit von §  295 Abs.  1 ZPO. Die Rechtsprechung begründet dies zum einen damit, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz „den Belangen der Prozeßparteien dient“121 und zum anderen mit Gründen der Zweckmäßigkeit.122 Die herrschende Literaturansicht verneint die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für die Wahrheitsfindung zwar nicht, stellt aber darauf ab, dass diese nur im Interesse der Parteien und damit nicht im öffentlichen Interesse erfolge.123 Ferner wird mit den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz124 sowie dem Fehlen einer materiellen Unmittelbarkeit in der ZPO argumentiert.125 Schließlich wird in neuerer Zeit vielfach auf §  284 S.  2–4 ZPO verwiesen. Danach kann im Einverständnis mit den Parteien ein Freibeweisverfahren durchgeführt werden, weshalb die Parteien auf die Unmittelbarkeit verzichten könnten.126 §  295 Abs.  1 ZPO soll allerdings dann nicht anwendbar sein, wenn es sich um Verstöße handelt, von denen die Parteien in der abschließenden mündlichen Verhandlung noch keinerlei Kenntnis haben konnten, so z. B. bei der Heranziehung von nicht protokollierten persönlichen Eindrücken eines Zeugen im Rahmen der Beweiswürdigung.127 Allgemein formuliert soll eine Heilung dann ausgeschlossen sein, wenn „die verfahrensfehlerhaften Feststellungen erst durch das Urteil offengelegt werden“128.

Effekte, S.  304; Deubner, AcP 167 (1967), 455 (460); Lindacher, FamRZ 1967, 195; Schultze, NJW 1977, 409 (411 f.); Rasehorn, NJW 1977, 789 (792); Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (146); Nassall, ZZP 98 (1985), 313 (323); Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  32; MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  18; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  12; Zöller/Greger, §  355 ZPO Rn.  8; ­H k-ZPO/Eichele, §  355 ZPO Rn.  5; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  25; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  56; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  102 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  116 Rn.  24. 121  BGH NJW 1960, 862 (864). 122  BGHZ 40, 179 (184) = NJW 1964, 108 (109): „Denn es können im Einzelfall durchaus Umstände vorliegen, die die Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder einer Partei durch einen beauftragten Richter anstelle der im Gesetz vorgesehenen Vernehmung durch das Kollegium auch im Interesse einer gründlichen und umfassenden Aufklärung des Sachverhalts und einer Beschleunigung des Verfahrens zweckmäßig erscheinen lassen.“; darauf ebenfalls hinweisend MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  17. 123  Lindacher, FamRZ 1967, 195; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  12; zustimmend Schlosser, Einverständliches Parteihandeln, S.  42; siehe auch Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  343: „Ein Recht auf Wahrheitsfindung des Gerichts gibt es nicht, und deshalb kann aus einem solchen angeblichen Recht die Dispositionsbefugnis der Zivilparteien auch bezüglich der Unmittelbarkeit nicht bestritten werden. Es ist Sache der Parteien, ob sie auf ihr Recht verzichten oder nicht.“; zum „Recht auf Beweis“ siehe ders., Freie Beweiswürdigung, S.  302 ff.; Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 ff.; Diakonis, Beweiserhebung von Amts wegen, S.  45 ff. 124  MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  18. 125  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  32. 126  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  32; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  59; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  25; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  104; Glunz, Psychologische Effekte, S.  304; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  162 f. 127  BGH NJW 1991, 1180; BGH NJW-RR 1997, 506. 128  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  163.

II.  Kritik und Auffälligkeiten

167

Nach Ansicht des Reichsgerichts129 sowie einzelner Stimmen im – insbesondere älteren130 – Schrifttum131 soll dagegen auf die Einhaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht verzichtet werden können. Entgegen der herrschenden Ansicht wird auf das öffentliche Interesse an einer rechtsstaatlichen Rechtspflege abgestellt, welches gerade der Unmittelbarkeitsgrundsatz verwirkliche.132 Die fehlende Unmittelbarkeit könne sich „gravierend auf die Entscheidung auswirken“133. Zudem sei eine Argumentation anhand des Dispositionsgrundsatzes verfehlt, da dieser die Parteien nur zur Verfügung über den Streitgegenstand berechtige, nicht aber über die Verfahrens- und Prozessleitung durch das Gericht.134 Auch müsse eine Dispositionsbefugnis immer dann abgelehnt werden, sofern gleichzeitig der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) tangiert ist.135 Schließlich wurde noch unter Geltung von §  348 ZPO a. F. von einer Verletzung des Anspruchs auf den gesetz­lichen Richter ausgegangen, wenn die Beweisaufnahme einem Einzelrichter als beauftragtem Richter übertragen wurde. In diesem Fall bestünde wegen §  295 Abs.  2 ZPO keine Dispositionsmöglichkeit der Parteien.136

II.  Kritik und Auffälligkeiten Die Darstellung des derzeitigen Meinungsstandes verdeutlicht, dass über den Unmittelbarkeitsgrundsatz diverse Meinungsverschiedenheiten bestehen. Seine (dogmatischen) Grundaussagen und seine genaue Reichweite sind in Literatur und 129  RGZ 14, 379 (382); offengelassen dagegen in RGZ 17, 344 (348); siehe ferner OLG Düsseldorf NJW 1976, 1103 (1105). 130  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (421); Weismann, Lehrbuch, S.  331; siehe auch Kleinfeller, Lehrbuch, S.  344. 131  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  30 f.; Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  393 f.; Werner/Pastor, NJW 1975, 329 (331); Schneider, NJW 1977, 301 f.; ders., DRiZ 1977, 13 (16); Weth, JuS 1991, 34 (36); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (375); MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  17 ff. 132  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  30 f., 65; Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (421); so auch LG Saarbrücken NJW-RR 2010, 496 (497): „Jedoch liegt die Wahrung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im öffentlichen Interesse mit der Folge, dass die Parteien hierüber nicht verfügen können, wenn die Abweichung von diesem Grundsatz zu verfahrensfremden Zwecken zur Regel wird.“; siehe auch Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  111 ff., welcher von einer Doppelrelevanz des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ausgeht und zwischen „Fehlern in der Verfahrensweise“ sowie „Beweiswürdigungsfehlern“ unterscheidet. Bei Letzteren soll eine Heilung nach §  295 Abs.  1 ZPO nicht möglich sein. 133  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (375). 134  Schneider, NJW 1977, 301; ders., DRiZ 1977, 13 (16); siehe auch MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  19: „Grundsätzlich stehen Vorschriften der Kompetenzaufteilung als ausschließlich an die Tätigkeit des Gerichts gerichtete Vorschriften nicht zur Disposition der Parteien.“. 135  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  168 f.; Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  393 f. 136  Schneider, DRiZ 1977, 13 (15); Seidel, ZZP 99 (1986), 64 (74 ff.).

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Rechtsprechung umstritten. Kern hat daher jüngst zu Recht betont, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz „von einer grundlegenden wissenschaftlichen Kontroverse geprägt ist.“137 Dies mag durchaus verwundern, schließlich handelt es sich um einen Verfahrensgrundsatz, welcher seit Erlass der Reichs-Civilprozeßordnung im Jahre 1877 Bestandteil des deutschen Zivilprozesses ist. Neben dieser zunächst augenscheinlichen Erkenntnis können interessante Detailaspekte ausgemacht werden. Die im Schrifttum diskutierte „Dreiteilung“ der Unmittelbarkeit in eine formelle, materielle und zeitliche Komponente deckt sich mit den Ergebnissen der rechtsvergleichenden Untersuchung. Den Schwerpunkt bildet die formelle Unmittelbarkeit, deren genauer Inhalt bislang nicht abschließend geklärt ist. In der Diskussion über die Erforderlichkeit eines „sachlichen“ oder „personellen“ Zwischengliedes138 wurde – wie bereits erwähnt – der Beispielsfall einer Gerichtsverhandlung gebildet, in welcher die Richter von den Parteien und Zeugen durch einen Vorhang voneinander getrennt sind. Dieselbe Konstellation wird zur Beantwortung der Frage nach der Abgrenzung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit herangezogen. Die Frage ist daher, ob der „Vorhangsfall“ eine Antwort sowohl auf die Abgrenzung „unmittelbar – mittelbar“ als auch auf die Abgrenzung „Unmittelbarkeit – Mündlichkeit“ bereithält. Berücksichtigt man die Ergebnisse der rechtshistorischen Untersuchung, wonach im Gemeinen Prozess jegliche Schriftlichkeit als mittelbares Verfahren angesehen wurde und später Mündlichkeit und Unmittelbarkeit weitestgehend gleichgesetzt wurden,139 ergibt sich, dass der „Vorhangsfall“ eher für die Abgrenzung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit gedacht war. Es sollte gezeigt werden, dass ein mündliches Verfahren auch ohne Unmittelbarkeit denkbar ist.140 Die Mindermeinung, welche eine „gleichzeitige körperliche Anwesenheit der Richter und des Beweismittels am Ort der Beweiserhebung“141 fordert, stößt zumindest terminologisch an ihre Grenzen. Eine „körperliche Anwesenheit“ von Schriftstücken erscheint jedenfalls auf den ersten Blick begrifflich verwirrend. Die Abgrenzung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit muss hier möglicherweise für jedes Beweismittel gesondert beurteilt werden.142 Der Begriff der „dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ in §  309 ZPO wird in Literatur und Rechtsprechung so ausgelegt, dass hiermit nur die Schlussver137  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (68); ebenso Krüger, Unmittelbarkeit, S.  132 f., wonach „die Meinungen über Inhalt und Umfang eines zivilprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auseinander“ gehen. 138  Siehe hierzu nochmals Nissen, Online-Videokonferenz, S.  143 ff. 139  Siehe hierzu oben unter §  4 I. 2. sowie §  4 II. 2. 140  Maas, Unmittelbarkeit, S.  4; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  42 f.; hierfür auch Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 192 (214 f.). Ein ähnlich gelagerter Fall findet sich noch bei Cremer. Werde eine taubstumme Person durch das Gericht vernommen, so sei die Vernehmung unmittelbar aber nicht mündlich. Hierdurch sollte ebenfalls gezeigt werden, dass die Mündlichkeit des Verfahrens nicht zwangsläufig zur Unmittelbarkeit des Verfahrens führt; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  43. 141  Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  10. 142  Hierfür Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  15.

II.  Kritik und Auffälligkeiten

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handlung gemeint sein soll.143 Ein Richterwechsel in den vorherigen Verhandlungsterminen soll aufgrund des Grundsatzes der Einheit der mündlichen Verhandlung nicht zur Wiederholung der mündlichen Verhandlung führen. Wenngleich man diese Ansicht als gefestigt betrachten kann, so scheiden sich – basierend auf der rechtsvergleichenden Umschau – am Grundsatz der Einheit der Verhandlung dennoch die Geister: Interessanterweise wird dieser Grundsatz in der StPO und der öZPO zur Begründung exakt der gegenteiligen Auffassung herangezogen. In beiden Prozessordnungen müssen die erkennenden Richter an sämtlichen Verhandlungsterminen teilgenommen haben.144 Der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung kann daher auf zweierlei Arten verstanden werden: entweder im Sinne einer Begrenzung auf die Schlussverhandlung oder als komplette Einheit aller Termine.145 Die Problematik des Richterwechsels wurde im 19. Jahrhundert strenger gehandhabt als in der heutigen Zeit. In der hannoverschen BPO von 1850 galt, dass ein Wechsel in der Besetzung der Richterbank zur Wiederholung der mündlichen Verhandlung führte.146 Auch die Motive zur Reichs-Civilprozeßordnung sahen dies noch als „unabweisliche Konsequenz“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes an.147 Die heute herrschende Meinung ist in diesem Punkt recht großzügig, wenn sie einerseits §  309 ZPO weit auslegt und andererseits die Wiederholung der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts stellt.148 Ihr könnte man jedenfalls dann widersprechen, wenn man für den Zivilprozess eine materielle Beweisunmittelbarkeit bejahte. Dann nämlich wäre die Verwendung von protokollierten Zeugenaussagen im Wege des Urkundenbeweises gegenüber der persönlichen und unmittelbaren Vernehmung der Zeugen unzulässig.149 Da eine materielle Unmittelbarkeit – jedenfalls nach herrschender Meinung – in der ZPO nicht existieren soll, scheint sich die aus den Ergebnissen der rechtsvergleichenden Untersuchung abgeleitete Vermutung zu bestätigen, dass eine materielle Unmittelbarkeit an die Ermittlung der (materiellen) Wahrheit bzw. an die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes gekoppelt zu sein scheint. Die Vertreter der Gegenansicht, welche eine materielle Unmittelbarkeit bejahen, geben die Ermittlung der 143  Vielfach wird auf die Entscheidung BGHZ 61, 369 (370) = NJW 1974, 143 (144) hingewiesen; so etwa Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  24 (Fn.  71); Musielak/Voit/Musielak, §  309 ZPO Rn.  2; MünchKommZPO/Musielak, §  309 ZPO Rn.  4. Die Entscheidung des BGH spricht jedoch an keiner Stelle ausdrücklich davon, dass mit „der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ nur die Schlussverhandlung gemeint sein soll. Es wird lediglich von „der für das Urteil allein maßgeblichen mündlichen Verhandlung“ gesprochen. 144  Darauf ebenfalls für die StPO hinweisend Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (147 f.). Zur StPO und öZPO siehe oben unter §  3 I. 1. a) aa) sowie §  3 II. 1. a) aa). 145  Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  21 f. 146  Siehe hierzu oben unter §  4 II. 2. b) cc). 147  Siehe hierzu oben unter §  4 III. 3. 148  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (64) spricht ausdrücklich von einer „recht großzügigen Rechtsprechung“. 149  So auch Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  28; BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  8.1; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  31.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

materiellen Wahrheit als Ziel des Zivilprozesses aus.150 Für den Zivilprozess wird allerdings geläufig von der Geltung einer „nur“ formellen Wahrheit ausgegangen, da der Verhandlungsgrundsatz den Parteien ermöglicht, selbst die strittigen – und damit beweisbedürftigen – Tatsachen zu benennen. Im Gegensatz dazu soll nur der Untersuchungsgrundsatz die materielle Wahrheit zutage fördern.151 Mittlerweile wird jedoch die Unterscheidung von formeller und materieller Wahrheit zu Recht immer mehr aufgegeben152 und von einem einheitlichen Wahrheitsbegriff ausgegangen.153 Sowohl unter der Geltung des Verhandlungsgrundsatzes als auch unter der Geltung des Untersuchungsgrundsatzes wird die Wahrheit ermittelt.154 Der Unterschied besteht in der Art und Weise der Wahrheitsfindung.155 Während der Strafprozess dies über eine Ermittlung von Amts wegen (§  244 Abs.  2 StPO) zu erreichen versucht, verwirklicht der Zivilprozess die Wahrheitsfindung – im Sinne einer „Erforschung der relativen Wahrheit“156 – über den Verhandlungsgrundsatz. Formelle und materielle Wahrheit unterscheiden sich lediglich dem Grade nach.157 Legt man dieses Wahrheitsverständnis der ZPO zugrunde, bleibt immer noch die Frage, ob 150  Siehe nochmals Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  65 ff. Das Streben des Zivilprozesses nach materieller Wahrheit findet sich vor allem im älteren Schrifttum aus dem Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts; siehe etwa Canstein, ZZP 2 (1880), 297 (306): „Denn grundsätzlich muss auch im Civilprozesse die materielle Wahrheit erstrebt werden, dies aber nicht blos im Interesse der Parteien, sondern auch im öffentlichen Interesse des Staates.“ Die Parteien könnten jedoch aufgrund des Dispositionsgrundsatzes auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit verzichten; Canstein, ZZP 2 (1880), 297 (308). Diese Ansicht ist freilich etwas widersprüchlich, wenn einerseits von einer Dispositionsbefugnis der Parteien ausgegangen und andererseits ein öffentliches Interesse an der Wahrheitsfindung bejaht wird. Canstein formuliert daher noch: „Das Beweisrecht der deutschen Civilprozessordnung beruht auf dem Prinzipe der materiellen Wahrheit, d. h. es beruht nicht auf der Inquisitionsmaxime, sondern auf dem durch die Dispositionsmaxime des Civilprozesses beschränkten Prinzipe der materiellen Wahrheit.“; Canstein, ZZP 2 (1880), 297 (350); siehe auch Kleinfeller, Lehrbuch, S.  185: „Der Zivilprozeß strebt trotz Verhandlungs- und Dispositionsgrundsatz nach Wahrheit.“; siehe auch Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (327), welcher von einer „Forderung nach materieller Wahrheit“ spricht. 151  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  77 Rn.  6; Brehm, Bindung des Richters, S.  21 ff.; siehe auch Hellwig, Der Gerichtssaal 82 (1914), 403 (407 f.). Zur Unterscheidung von formeller und materieller Wahrheit siehe jüngst Diakonis, Beweiserhebung von Amts wegen, S.  38 ff. 152  Sehr deutlich Olzen, ZZP 98 (1985), 403 (416 f.): „Daraus folgt, daß der Begriff der formellen Wahrheit im gegenwärtigen Zivilprozeß keine Geltung mehr beanspruchen kann, zumindest keinen eigenen Wahrheitsbegriff kennzeichnet.“; ferner Gaul, AcP 168 (1968), 27 (49 f.); Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (89). 153  Deutlich Gaul, AcP 168 (1968), 27 (50): „Es gibt eben nur eine Wahrheit.“; ebenso Henckel, Prozessrecht, S.  144; Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  152. 154  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  152; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  77 Rn.  6. 155  Gaul, AcP 168 (1968), 27 (50); Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  85: „Der Zivilprozeß sucht die Wahrheit anders als der Strafprozeß, aber er sucht sie auch.“. 156  Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (89). 157  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  77 Rn.  6. Die im Zivilprozess ermittelte Wahrheit ist daher im Vergleich zum Strafprozess „keine mindere Wahrheit“; Henckel, Prozessrecht, S.  144; siehe zum Ganzen auch Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  100 f.

II.  Kritik und Auffälligkeiten

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eine materielle Unmittelbarkeit nicht zwangsläufig die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes voraussetzt. Auffällig bei Betrachtung des diesbezüglichen Meinungsstands ist, dass teilweise mit denselben Argumenten jeweils unterschiedliche Ansichten begründet werden: Einerseits wird der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 ZPO) als Argument für und andererseits als Argument gegen die Anerkennung der materiellen Unmittelbarkeit ins Feld geführt.158 Die Stichhaltigkeit des letzteren Begründungsansatzes kann zumindest insofern bezweifelt werden, als die freie richterliche Beweiswürdigung im Strafprozess (§  261 StPO) den dort allgemein anerkannten materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht ausschließt.159 Die Vertreter einer materiellen Unmittelbarkeit verweisen zur Begründung ihrer Ansicht vielfach auf diverse Entscheidungen des Reichsgerichts160 und des BGH,161 in denen eine materielle Unmittelbarkeit zumindest anklingt.162 So hatte der BGH entschieden, dass „solange das für die richterliche Überzeugung bessere Beweismittel einer gerichtlichen Vernehmung zugänglich ist, einer von der ZPO an sich für die Beweisermittlung nicht zugelassenen außergerichtlichen Feststellung von Zeugen oder Parteiaussagen ein selbstständiger Beweiswert nicht zukommen kann.“163 In einer anderen Entscheidung wurde festgehalten, dass ein beantragter Zeugen­ beweis nicht mit der Begründung abgelehnt werden könne, dass von dem betreffenden Zeugen bereits eine Niederschrift von einer früheren Vernehmung existiert. Denn der Beweiswert einer Urkunde sei mit dem einer persönlichen Vernehmung nicht vergleichbar.164 In beiden Fällen kommt in gewisser Weise der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ zum Ausdruck. Die Rechtsprechung hat insofern bei diversen Fällen im Sinne einer materiellen Unmittelbarkeit geurteilt. Die entscheidende Frage wird sein, ob dies nur punktuelle Einzelentscheidungen sind oder ob sie nicht als Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes der materiellen Unmittelbarkeit zu verstehen sind. Befruchtet wurde die Diskussion um die materielle Unmittelbarkeit schließlich durch die Ansicht von Krüger. Würde man dem Gedanken der Verschränkung von formeller und materieller Unmittelbarkeit folgen, ließe sich eventuell nicht nur Letztere begründen, sondern möglicherweise – gewissermaßen als Fortentwicklung der Mindermeinung – ein einheitlicher Unmittelbarkeitsgrundsatz postulieren, welcher ohne die Aufspaltung in verschiedene „Säulen“ auskommt. 158 

So auch Krüger, Unmittelbarkeit, S.  223 f. Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  57; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (140) [Fn.  32]. 160  RGZ 46, 410 (412 f.); RGZ 49, 374 (375). 161  BGHZ 7, 116 (122); BGHZ 40, 239 (246); BGHZ 53, 245 (257 f.) – „Anastasia“; BGH NJW 1955, 671; BGH NJW 1987, 3205; BGH NJW 2000, 1199 (1200). 162  Darauf ebenfalls hinweisend Kern, ZZP 125 (2012), 53 (65); Krüger, Unmittelbarkeit, S.  214; siehe ferner die Rechtsprechungsnachweise bei Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (140 ff.). 163  BGH NJW 1955, 671 mit Verweis auf RGZ 49, 374 (375). In dieser Entscheidung hatte ein Sachverständiger als Vertreter des Gerichts die Parteien und Zeugen außergerichtlich vernommen und das Gericht dies anschließend so gewürdigt, als hätte es selbst die Vernehmung durchgeführt. 164  BGHZ 7, 116 (122). 159 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Schließlich lässt sich den unterschiedlichen Auffassungen zur Frage der Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ein interessanter Aspekt entnehmen: Zwar finden sich in der jüngeren Literatur Stimmen, welche eine Dispositionsbefugnis der Parteien ablehnen, jedoch wurde diese Auffassung überwiegend im älteren Schrifttum sowie in der Rechtsprechung des Reichsgerichts vertreten.165 Wenn der BGH und die herrschende Lehre nunmehr eine Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bejahen, so zeigt dies, dass die Bedeutung und der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in Literatur und Rechtsprechung über die Jahre abgenommen haben. Diese Entwicklung würde schließlich durch den Gesetzgeber bestätigt werden, zumindest sofern man mit der herrschenden Meinung davon ausginge, dass mit der Einführung von §  284 S.  2–4 ZPO die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gesetzlich verankert wurde. Unabhängig von den gesetzgeberischen Intentionen lässt sich jedenfalls bereits anhand der geänderten Auffassung bezüglich der Disponibilität ein gewisser Bedeutungswandel hinsichtlich des Stellenwerts der Unmittelbarkeit ausmachen166 – eine Tendenz, die es im Laufe dieser Arbeit noch genauer zu untersuchen gilt.167

III.  Methodische Vorgehensweise und Vorüberlegungen Die methodische Vorgehensweise bei der Herausarbeitung der gesetzlichen Anknüpfungspunkte des Unmittelbarkeitsgrundsatzes folgt den Ergebnissen der Untersuchung über das Wesen der Verfahrensgrundsätze:168 Die Verfahrensgrundsätze werden im Wege der Induktion ermittelt. Es bedarf einer Analyse des positiven Rechts, indem aus Einzelbestimmungen deren Gemeinsamkeiten deduziert werden. Schließlich entsteht das Recht nicht axiomatisch aus Prinzipien, sondern das positive Recht selbst legt – in exakt umgekehrter Art und Weise – die Prinzipien und Grundsätze fest.169 Es werden daher einzelne Vorschriften auf ihren Aussagegehalt und ihre Relevanz für die Bestimmung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes untersucht. Erst ausgehend hiervon können der genaue Inhalt und die Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bestimmt werden. Vor der Herausarbeitung der gesetzlichen Anknüpfungspunkte des Unmittelbarkeitsgrundsatzes müssen abstrakte Vorüberlegungen zum Begriff der „Unmittelbarkeit“ angestellt werden. Es stellt sich die Frage, was man alles – und zwar ohne 165  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (421) [Fn.  3] bezeichnete diese Ansicht als „herrschende Meinung“. 166  Zum „Wandel in der Bewertung der Unmittelbarkeit“ siehe auch Kern, ZZP 125 (2012), 53 (68 ff.), welcher allerdings nur auf Änderungen in der Gesetzgebung und deren Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz eingeht. 167  Siehe hierzu später unter §  6 V. 168  Siehe zum Folgenden oben unter §  2 II. 2. d). 169  Gaul, ZZP 112 (1999), 135 (147 f.).

III.  Methodische Vorgehensweise und Vorüberlegungen

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jeden rechtlichen Bezug – unter „unmittelbar“ und „Unmittelbarkeit“ verstehen kann.170 Freilich darf hiermit nicht bereits a priori der (vermeintliche) Inhalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes festgelegt werden.171 Eine solche Vorgehensweise ist jedoch geboten, da eine Untersuchung der ZPO zwangsläufig die ihr vorgelagerte Frage aufwirft, „wonach“ überhaupt gesucht wird. Insofern kommt es nicht zu einer vorgefestigten Determinierung des Inhalts des Unmittelbarkeitsgrundsatzes.172 Im Alltag wird „unmittelbar“ geläufig im Sinne von „direkt“ und „unvermittelt“ verstanden und damit als Gegenbegriff zu „vermittelt“, weshalb „Unmittelbarkeit“ nach Arndt einen „unverstellten Zugang zu etwas“ kennzeichnet.173 Entscheidend ist daher, ob ein Vorgang vermittelt oder unvermittelt abläuft. Dem Begriff an sich lässt sich jedoch keine Einschränkung hinsichtlich der Art und Weise der Vermittlung entnehmen. Stellt man auf ein direktes Verhältnis ab, so ist die Beziehung zwischen beiden Polen letztendlich dann „unmittelbar“, wenn zwischen ihnen eine „Gegenwärtigkeit und Präsenz [besteht], die nicht durch etwas Anderes verstellt ist.“174 „Unmittelbar“ kann aber auch – wie bereits die rechtsvergleichende Untersuchung gezeigt hat – im zeitlichen Sinne verstanden werden, wenn beispielsweise ein Ereignis unmittelbar auf ein anderes folgen soll.175 Generell kann daher festgehalten werden, dass die „Unmittelbarkeit“ das Verhältnis von zwei Bezugspunkten zueinander beschreibt.176 Für die Untersuchung der ZPO bieten sich folgende Bezugspunkte zur Herausbildung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes an: die Parteien und das Gericht, die Parteien und die Beweismittel, die Beweismittel und das Gericht, die Parteien untereinander, die Beweismittel untereinander, die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung, die Verhandlung und die Beweisaufnahme, die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung sowie die Verhandlung und das Urteil.177 Für all diese Verhältnisse stellt sich die Frage, inwiefern man diese als „unmittelbar“ bezeichnen kann. 170  Ausführlich hierzu Arndt, Unmittelbarkeit, S.  6 ff.; ebenfalls sich auf Arndt beziehend Krüger, Unmittelbarkeit, S.  125. 171  Siehe nur Löhr, Unmittelbarkeit, S.  15: „Inhalt und prozessuale Bedeutung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit können nicht schon dem Begriff entnommen werden, der das Prinzip kennzeichnet; denn durch den Begriff ‚Unmittelbarkeit‘ wird keine anschauliche Vorstellung sachlichen Inhalts in das Bewußtsein gehoben.“. 172  Wollte man beispielsweise den Mündlichkeitsgrundsatz herausbilden, würde man ebenso nach Vorschriften in der ZPO suchen, welche Elemente von Mündlichkeit bzw. mündlichem Verhandeln enthalten und vorschreiben. 173  Arndt, Unmittelbarkeit, S.  7. 174  Arndt, Unmittelbarkeit, S.  6. 175  Arndt, Unmittelbarkeit, S.  6 („zeitliche […] Nähe“). 176  Löhr, Unmittelbarkeit, S.  16. 177  Siehe hierzu auch Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (436 f.), welcher drei mögliche Anknüpfungspunkte nennt: die Beziehung zwischen den Parteien und dem Gericht, das Verhältnis der Richter zum Verfahrensstoff sowie das Verhältnis bzw. die Rangfolge der Beweismittel untereinander. Eine ähnliche Einteilung findet sich bei Kern, ZZP 125 (2012), 53 (54 ff., 60 f.), welcher zwischen der Unmittelbarkeit des Urteils, der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme sowie der Unmittelbarkeit hinsichtlich der Güteverhandlung und der mündlichen Verhandlung differenziert.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO Für jedes der genannten Beziehungsgeflechte müssen die hierfür relevanten Normen der ZPO analysiert werden.178

1.  Die Parteien und das Gericht Für die Frage, ob und wie „unmittelbar“ das Verhältnis zwischen den Parteien und dem Gericht ausgestaltet ist, fällt zunächst §  128 Abs.  1 ZPO in den Blick. Danach verhandeln die Parteien über den Rechtsstreit mündlich vor dem erkennenden Gericht. Hierin wird freilich die Verankerung des Mündlichkeitsgrundsatzes gesehen.179 Dieser besagt, dass eine gerichtliche Entscheidung nur aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergehen kann und nur Prozessstoff ist, was im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragen wurde.180 Dennoch wird §  128 Abs.  1 ZPO als Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ausgemacht.181 Das ergibt sich daraus, dass die Verhandlung nicht nur „mündlich“, sondern auch „vor dem erkennenden Gericht“ erfolgt.182 Die Vorschrift verlangt mithin die körperliche und räumliche Anwesenheit der Parteien zum Zwecke der Verhandlung. Hierfür spricht bereits das historische Verständnis der Vorschrift, unabhängig davon, dass in früheren Zeiten Unmittelbarkeit und Mündlichkeit häufig synonym verwendet wurden.183 Ferner ergibt sich dies aus einem Umkehrschluss aus §  128a Abs.  1 ZPO, denn dort wird gerade auf die körperliche Anwesenheit der Parteien verzichtet.184 Die Verhandlung ist – wie der Wortlaut („während einer mündlichen Verhandlung“) zeigt – nach wie vor eine mündliche.185 Von einer „Unmittelbarkeit“ kann insofern gesprochen werden, als durch die gleichzeitige Anwesenheit die Parteien und die erkennenden Richter miteinander konfrontiert werden. Interessant ist demnach die Frage, ob die von §  128 Abs.  1 ZPO geforderte Anwesenheit durch das Gericht erzwungen werden kann. Der Vorsitzende kann das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen (§  273 Abs.  2 Nr.  3 ZPO). Dies kann sowohl zur „Aufklärung des Sachverhalts“ (§  141 178  Nicht in die Untersuchung einbezogen werden die §§  128a, 284 S.  2 –4, 411a ZPO, da deren Vereinbarkeit mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz erst in einem nachfolgenden Kapitel genauer beleuchtet wird. 179  Statt vieler Musielak/Voit/Stadler, §  128 ZPO Rn.  1; Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  84. Zu den Vor- und Nachteilen der Mündlichkeit im Vergleich zur Schriftlichkeit siehe Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  79 Rn.  3 ff. 180  Siehe Stein/Jonas/Leipold, §  128 ZPO Rn.  8; MünchKommZPO/Wagner, §  128 ZPO Rn.  1. 181  Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. 182  Braun, Lehrbuch, S.  135. 183  Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  41. Siehe hierzu oben unter §  4 II. 2. 184  Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  3; siehe auch BeckOK/von Selle, §  128 ZPO Rn.  9. 185  Ähnlich Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  4. Zu §  128a ZPO und seinen Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz siehe später unter §  6 I. 2. a) bb).

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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Abs.  1 ZPO), als auch zur „gütlichen Beilegung des Rechtsstreits“ (§  278 Abs.  2 ZPO) erfolgen.186 Nach §  141 Abs.  1 ZPO soll das Gericht das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen, wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts geboten erscheint. Damit wird die Parteianhörung durch das Gericht angesprochen, bei welcher es sich um ein Aufklärungsmittel handelt.187 Gerade der Dialog mit den Parteien ermöglicht es dem Gericht, Unklarheiten zu beseitigen und eventuellen Missverständnissen vorzubeugen.188 Das Gericht ist jedoch nicht zur Anordnung des persönlichen Erscheinens verpflichtet („soll […] anordnen“). Die Entscheidung hierüber steht vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.189 Ordnet das Gericht das persönliche Erscheinen der Parteien an, sind diese zwar zum Erscheinen verpflichtet, nicht jedoch sich zu den Tatsachenbehauptungen zu erklären.190 Ferner kann durch die Verhängung eines Ordnungsgeldes (§  141 Abs.  3 ZPO) das persönliche Erscheinen nicht erzwungen, sondern nur das Ausbleiben sanktioniert werden. Die Anordnung einer zwangsweisen Vorführung einer Partei ist gerade nicht möglich.191 Selbiges gilt für die Güteverhandlung: Das persönliche Erscheinen der Parteien soll angeordnet werden (§  278 Abs.  3 S.  1 ZPO). Als Sanktion ist hier ebenfalls die Verhängung eines Ordnungsgeldes möglich (§  278 Abs.  3 S.  2, 141 Abs.  3 ZPO).192 Die aus dem Nichterscheinen oder Nichterklären erwachsenden Nachteile hat die jeweilige Partei selbst zu tragen. Äußert sich eine Partei trotz Anwesenheit nicht zur Sache, kommen als prozessuale Nachteile insbesondere die Geständnisfiktion im Falle des Nichtbestreitens (§  138 Abs.  3 ZPO), die Möglichkeit der Zurückweisung verspäteten Vorbringens (§§  282, 296 Abs.  2 ZPO) sowie die Berücksichtigung ihrer Passivität im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) in Betracht.193 Besonders einschneidend sind schließlich die Regelungen über das Versäumnisverfahren (§§  330 ff. ZPO), da diese am ehesten eine Partei sowohl zum Erscheinen als auch zur aktiven Mitwirkung am Prozess animieren werden.194 Säu186 

Stein/Jonas/Leipold, §  273 ZPO Rn.  27. Brehm, Bindung des Richters, S.  241; Polyzogopoulos, Parteianhörung und Parteivernehmung, S.  100. Aufgrund des Wortlauts von §  141 Abs.  1 ZPO („zur Aufklärung des Sachverhalts“) stellt sich die Frage, ob die Parteianhörung nicht zugleich als Beweismittel zu qualifizieren ist, was die herrschende Meinung verneint; siehe Kwaschik, Parteivernehmung, S.  28 ff.; Wieczorek/ Schütze/Smid, §  141 ZPO Rn.  1 ff. Bei der Parteivernehmung geht es gerade nicht um den Beweis von behaupteten Tatsachen, sondern um die Klärung von Tatsachenbehauptungen (einschließlich des unstreitigen Sachverhalts); BeckOK/von Selle, §  141 ZPO Rn.  1. 188  Brehm, Bindung des Richters, S.  232; ähnlich Musielak/Voit/Stadler, §  141 ZPO Rn.  1; Zöller/Greger, §  141 ZPO Rn.  1. 189  Statt vieler Stein/Jonas/Leipold, §  141 ZPO Rn.  20; Hk-ZPO/Wöstmann, §  141 ZPO Rn.  3. 190  MünchKommZPO/Wagner, §  141 ZPO Rn.  19; Musielak/Voit/Stadler, §  141 ZPO Rn.  10. 191  Musielak/Voit/Stadler, §  141 ZPO Rn.  12; Zöller/Greger, §  141 ZPO Rn.  12. 192  Selbiges gilt für die Anordnung nach §  273 Abs.  2 Nr.  3 ZPO, da hier auf §  141 Abs.  3 ZPO verwiesen wird (§  273 Abs.  4 ZPO). 193  MünchKommZPO/Wagner, §  141 ZPO Rn.  19; Zöller/Greger, §  141 ZPO Rn.  11. 194  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (59), welcher im Versäumnisverfahren einen Bezug zu einer „personellen Unmittelbarkeit“ sieht. 187 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

mig ist eine Partei schließlich dann, wenn sie im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint und sich nicht vertreten lässt (§  330 ZPO), wobei im Falle der Anwesenheit das Nichtverhandeln dem Nichterscheinen gleichgestellt wird (§  333 ZPO). Ist der Kläger säumig, kann die Gegenpartei beantragen, dass die Klage ab­ gewiesen wird (§  330 ZPO). Für den Fall der Säumnis des Beklagten greift eine Geständnisfiktion, wonach das tatsächliche Vorbringen des Klägers als zugestanden gilt (§  331 Abs.  1 ZPO). Es wird im Rahmen einer Schlüssigkeitsprüfung lediglich geprüft, ob das klägerische Vorbringen den Klageantrag rechtfertigt (§  331 Abs.  2 ZPO). Zusammenfassend sieht die ZPO für den Fall des Nichterscheinens oder des Nichtverhandelns diverse Sanktionsmechanismen vor, welche sich nachteilig auf die jeweilige Partei auswirken. Die von §  128 Abs.  1 ZPO verlangte „Unmittelbarkeit“ im Sinne einer körperlichen Anwesenheit der Parteien kann nicht erzwungen werden.195 Sie hängt vom Verhalten der Parteien selbst ab, sodass man von einer gewissen Dispositionsbefugnis sprechen könnte. Hinzu kommt, dass es den Parteien freisteht zu entscheiden, ob sie sich von einem Anwalt vertreten lassen wollen oder nicht (§  79 Abs.  2 S.  1 ZPO). Im Anwaltsprozess besteht sowieso eine Vertretungspflicht (§  78 ZPO).196

2.  Die Parteien und die Beweismittel Auch das Verhältnis zwischen den Parteien und den Beweismitteln kann „unmittelbar“ ausgestaltet sein. Hierfür sorgt der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit, welcher als zivilprozessualer Ausfluss des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art.  103 Abs.  1 GG) zu verstehen ist.197 Die Parteiöffentlichkeit teilt sich in zwei Komponenten auf: Zum einen gestattet sie den Parteien, der Beweisaufnahme beizuwohnen (§  357 Abs.  1 ZPO). Sie haben ein Anwesenheitsrecht, welches ihnen physische Präsenz am Ort der Beweisaufnahme erlaubt.198 Dass es sich um ein Recht der Parteien handelt, diese zur Anwesenheit aber nicht verpflichtet sind, folgt 195  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  357 ZPO Rn.  3. Dies gilt auch im Bereich der Beweisaufnahme. Die Anwesenheit einer Partei ist insbesondere dann erforderlich, wenn sie als Partei vernommen werden soll (§§  445 ff. ZPO). Hier besteht zwar die Möglichkeit, dass das Gericht eine Parteivernehmung von Amts wegen anordnet (§  448 ZPO). Erscheint die zu vernehmende Partei nicht, entscheidet das Gericht nach freiem Ermessen, ob die Aussage als verweigert anzusehen ist oder nicht (§  454 Abs.  1 ZPO). Sieht es die Aussage als verweigert an, kann das Gericht nach freier Überzeugung entscheiden, ob es die behaupteten Tatsachen als erwiesen ansehen will (§§  453 Abs.  2, 446 ZPO). Die Vernehmung als Partei und damit auch die Anwesenheit der Partei als Beweismittel lässt sich folglich nicht erzwingen; Musielak/Voit/Huber, §  454 ZPO Rn.  1. 196  Stein/Jonas/Leipold, §  141 ZPO Rn.  20. 197  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (369); MünchKommZPO/Heinrich, §  357 ZPO Rn.  1; ausführlich Späth, Parteiöffentlichkeit, S.  29 ff. 198  Stein/Jonas/Berger, §  357 ZPO Rn.  2; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  357 ZPO Rn.  15; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  5 Rn.  15 f.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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aus dem Wortlaut („gestattet“).199 Ferner zeigt §  367 Abs.  1 ZPO, dass im Falle des Ausbleibens einer Partei die Beweisaufnahme – sofern möglich – gleichwohl durchgeführt werden kann.200 Zum anderen ermöglicht die Parteiöffentlichkeit den Parteien, Fragen an Zeugen, Sachverständige und die gegnerische Partei zu richten (§  397 ZPO i. V. m. §§  402, 451 ZPO).201 Bei gemeinsamer Betrachtung beider Komponenten führt die Parteiöffentlichkeit zu einem Teilnahmerecht an der Beweisaufnahme. Sie verfolgt den Zweck, den Parteien die Mitwirkung an der Beweisaufnahme zu ermöglichen, um auf diese Einfluss nehmen zu können.202 Gerade das Zusammenspiel zwischen persönlicher Anwesenheit und Mitwirkung in Form des Fragerechts bietet nicht zuletzt die Gewähr für eine möglichst genaue Tatsachenfeststellung.203 Indes kann das Teilnahmerecht der Parteien nicht grenzenlos gewährleistet werden.204 Zu den Ausnahmen zählen etwa die Frage nach der Zulässigkeit von Geheimverfahren 205 sowie die Anordnung einer schriftlichen Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO). Erbringt ein Zeuge seine Aussage in Schriftform und ist folglich nicht persönlich anwesend, entfällt das Fragerecht der Parteien zwangsläufig.206 Nach herrschender Auffassung soll dieses dadurch gewahrt werden, indem die Parteien unter Hinweis auf ihr Fragerecht die persönliche Ladung des betreffenden Zeugen erwirken können.207 199  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  357 ZPO Rn.  6; ferner Späth, Parteiöffentlichkeit, S.  112 f. 200  Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  49; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  116 Rn.  43. 201  Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit folgt damit nicht alleine aus §  357 ZPO, wenngleich dieser dort in der amtlichen Überschrift genannt ist. Seine Bedeutung geht vielmehr über die Vorschrift hinaus; siehe Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  220 f.; Musielak/ Voit/Stadler, §  357 ZPO Rn.  1 („allgemeines Prinzip“). Ergänzt wird die Parteiöffentlichkeit schließlich durch diejenigen Vorschriften, welche die Parteien über etwaige gerichtliche Maßnahmen und Beweisaufnahmetermine informieren (§§  273 Abs.  4, 274 ZPO) sowie ihnen Einsicht in prozessrelevante Unterlagen gewähren sollen (§§  270, 299 Abs.  1 ZPO). 202  Stein/Jonas/Berger, §  357 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  357 ZPO Rn.  5. 203  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (369); Kern, ZZP 125 (2012), 53 (57) [„Sicherung einer vollständigen Beweisaufnahme“]; Glunz, Psychologische Effekte, S.  327 („Ausschöpfung des Beweismittels“). 204  Zu den Ausnahmen siehe statt vieler Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  357 ZPO Rn.  25 ff. 205  Der Geheimnisschutz wird in erster Linie durch die Vorschriften über den Ausschluss der Öffentlichkeit verwirklicht, so vor allem bei wichtigen Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen (§  172 Nr.  2 GVG) und privaten Geheimnissen (§  172 Nr.  3 GVG). Da der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit nicht kongruent mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz (§  169 S.  1 GVG) ist, bestehen diese Geheimhaltungsmöglichkeiten nur gegenüber der Öffentlichkeit, nicht aber gegenüber der gegnerischen Partei; siehe dazu Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  193 ff.; ferner Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  195 ff., welcher sich für die Durchführung von „in-camera“-Verfahren ausspricht; Stein/Jonas/Berger, §  357 ZPO Rn.  17 ff. m. w. N.; Wagner, ZEuP 2001, 441 (473 ff.). 206  Zu §  377 Abs.  3 ZPO siehe später unter §  5 IV. 3. c) cc). 207  LG Berlin NJW-RR 1997, 1289 (1290); Zöller/Greger, §  377 ZPO Rn.  10a; Wieczorek/ Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  51. Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers; BT-Drucks. 11/3621, S.  39: „Das Gericht wird den Zeugen auch zu laden haben, wenn die Parteien ihr Frage-

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Insgesamt betrachtet kann das Verhältnis der Parteien zu den Beweismitteln unterschiedlich ausgestaltet sein. Von einer „Unmittelbarkeit“ wird man jedenfalls nur dann sprechen können, wenn die Parteien vor Gericht mit den Beweismitteln konfrontiert werden. Da die Parteiöffentlichkeit ein Teilnahmerecht gewährt, hängt die „Unmittelbarkeit“ in diesem Sinne davon ab, ob die Parteien hiervon im konkreten Fall Gebrauch machen – oder anders ausgedrückt: Die „Unmittelbarkeit“ zwischen den Parteien und den Beweismittel steht auch hier gewissermaßen zur Disposition der Parteien. Diesbezügliche Einschränkungen ergeben sich nicht durch §  141 Abs.  1 ZPO. Zwar kann das Gericht das persönliche Erscheinen der Parteien anordnen,208 jedoch findet die Parteianhörung nur im Rahmen der mündlichen Verhandlung statt. Die spätere Beweisaufnahme ist dagegen nicht mehr Teil der mündlichen Verhandlung.209

3.  Die Beweismittel und das Gericht In der ZPO finden sich diverse Vorschriften, welche das Verhältnis zwischen den Beweismitteln und dem Gericht betreffen. Dieser Aspekt ist letztendlich das, was die herrschende Meinung als „formelle Unmittelbarkeit“ bezeichnet.210 a)  Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§  355 ZPO) Ausgangspunkt nachfolgender Überlegungen ist §  355 Abs.  1 ZPO, wonach die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht erfolgt. Nur in gesetzlich bestimmten Fällen kann sie einem Mitglied des Prozessgerichts (§  361 ZPO) oder einem anderen Gericht (§  362 ZPO) übertragen werden. Wer „Prozessgericht“ im Sinne der Vorschrift ist, bestimmt sich in erster Linie nach den Vorschriften des GVG: Dies ist bei den Amtsgerichten der Einzelrichter (§  22 Abs.  1 GVG), bei den Landgerichten die Kammer (§§  60, 75 GVG) und bei den Oberlandesgerichten der Senat (§§  116 Abs.  1, 122 Abs.  1 GVG). Eine Abweichung hiervon ergibt sich bei den Landgerichten, sofern die Zuständigkeit des originären (§  348 ZPO) oder obligatorischen (§  348a ZPO) Einzelrichters begründet ist. In diesen Fällen ist der Einzelrichter das „Prozessgericht“.211

recht nach §  397 ZPO ausüben wollen. Einer ausdrücklichen Regelung in §  377 Abs.  3 ZPO bedarf es insoweit nicht.“. 208  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 1. 209  MünchKommZPO/Wagner, §  141 ZPO Rn.  12; Musielak/Voit/Stadler, §  141 ZPO Rn.  11. 210  Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. a). 211  BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  5; Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  6; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  116 Rn.  22. Aus diesem Grund ist in diesem Fall eine Übertragung der Beweisaufnahme auf ein anderes Mitglied des Kollegiums als beauftragten Richter nicht möglich; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  60 („Delegation, nicht Substitution“); a. A. Zöller/Greger, §  361 ZPO Rn.  2.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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Der historische Gesetzgeber begründete das Erfordernis einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht als eine Konsequenz des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und der freien richterlichen Beweiswürdigung.212 §  355 Abs.  1 ZPO liegt die Vorstellung zugrunde, dass nur derjenige Richter, welcher an der gesamten Beweisaufnahme teilgenommen hat, in der Lage ist, über die Beweise – und damit letztendlich über den Rechtsstreit als solchen – entscheiden zu können:213 „Eine richtige Entscheidung des Rechtsstreits ist am ehesten gewährleistet, wenn das Prozeßgericht selbst die Beweise aufnimmt. Deswegen will §  355 ZPO, daß nur in Ausnahmefällen hiervon abgesehen wird.“214

Umstritten ist jedoch die genaue Reichweite von §  355 Abs.  1 ZPO. Während die überwiegende Ansicht durch die Norm allein richterliche Mittelspersonen ausschließen will, verlangt eine Mindermeinung die gleichzeitige körperliche An­ wesenheit der Richter und der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme.215 Diese Meinungsverschiedenheit erfordert eine genaue Analyse des Wortlauts und der Systematik von §  355 Abs.  1 ZPO. aa)  (Neu-)Interpretation des Wortlauts Entscheidende Bedeutung kommt der Formulierung „vor dem Prozessgericht“ zu. Die Präposition „vor“ kann sowohl eine räumliche als auch eine zeitliche Bedeutung haben.216 Vorliegend ist ein zeitliches Verständnis jedoch wenig gewinnbringend. Die Bezugnahme auf das Prozessgericht legt ganz klar eine räumliche Deutung nahe. Wenn die Beweisaufnahme „vor“ dem Prozessgericht erfolgt (§  355 Abs.  1 S.  1 ZPO), kann dies dem Wortlaut nach als örtliche Anforderung an die Beweisaufnahme verstanden werden. Hierfür spricht, dass als Synonyme für „vor“ unter anderem „im Beisein“ und „in Anwesenheit“ gelten.217 Demnach kann man von einem Erfordernis körperlicher Anwesenheit ausgehen, was der Sichtweise der Mindermeinung entsprechen würde. Ferner muss man die Formulierung „vor dem Prozessgericht“ nicht zwangsläufig so verstehen, dass das Prozessgericht die Beweisaufnahme selbst durchführen muss. Wenn die Beweisaufnahme „vor“ diesem stattfindet, wäre es prinzipiell denkbar, dass alle Mitglieder des Prozessgerichts während der Beweisaufnahme anwesend sind, diese aber von einem Dritten oder nur einem Teil des Kollegiums durchgeführt wird. §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO bestimmt, dass die Beweisaufnahme („Sie“) nur in gesetzlich bestimmten Fällen einem Mitglied des Prozessgerichts oder einem anderen Ge212 

Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  304. Siehe hierzu oben unter §  4 III. 3. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  80 Rn.  1; ähnlich MünchKommZPO/ Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1. 214  BGHZ 32, 233 (236 f.) = NJW 1960, 1252 (1253). 215  Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. a) aa). 216  Duden, Herkunftswörterbuch, S.  905. 217  Duden, Synonymwörterbuch, S.  1048. 213 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

richt übertragen werden darf. Wenn nur im Falle einer gesetzlichen Gestattung ein beauftragter oder ersuchter Richter die Beweisaufnahme durchführen darf, ergibt sich hieraus im Umkehrschluss, dass für die Durchführung der Beweisaufnahme grundsätzlich das Prozessgericht, d. h. das vollständige Kollegium,218 zuständig sein muss. Deutlich wird dies vor allem, wenn man sich §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO „wegdenkt“. §  355 Abs.  1 ZPO würde dann lauten: „Die Beweisaufnahme ist nur in den durch dieses Gesetz bestimmten Fällen einem Mitglied des Prozessgerichts oder einem anderen Gericht zu übertragen.“ Wenn eine solche Ausnahmebestimmung im Gesetz enthalten ist, kann damit nichts anderes als die prinzipielle Zuständigkeit des Prozessgerichts für die Durchführung der Beweisaufnahme gemeint sein. §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO ist somit dem Wortlaut nach als Kompetenzzuweisungsnorm zu verstehen – mit anderen Worten: Die Frage, „wer“ für die Beweisaufnahme zuständig ist, ergibt sich nicht aus §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, sondern aus §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO. bb)  Systematische Überlegungen Diese (Neu-)Interpretation des Wortlauts von §  355 Abs.  1 ZPO hat freilich Auswirkungen auf dessen innere Systematik. In der Literatur wird die Norm systematisch so verstanden, dass §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO die Ausnahme(n) zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO statuiert.219 Beide Sätze werden gewissermaßen als Einheit betrachtet.220 Die Wortlautinterpretation hat indes ergeben, dass dies nicht zwingend erforderlich ist. Schließlich ergibt sich die grundsätzliche Zuständigkeit des Prozessgerichts für die Durchführung der Beweisaufnahme bereits aus einem Umkehrschluss aus §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO. Dies legt eine systematische Trennung beider Sätze nahe. Hierfür kann die Formulierung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO angeführt werden. Wäre §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO schlichtweg die Ausnahme zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, müsste es heißen, dass die Beweisaufnahme nicht „vor dem Prozessgericht“, sondern „durch das Prozessgericht“ erfolgt. Die Frage, „wer“ die Beweisaufnahme durchführt, regelt – wie gerade gezeigt – §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO. Wenn diese nach dem Gesetzeswortlaut von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO „vor dem Prozessgericht“ erfolgt, kann damit nur ein weitergehender Regelungsgehalt im Vergleich zu §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO gemeint sein. 218 

Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  355 ZPO Rn.  4; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (56). Deutlich MünchKommZPO/Heinrichs, §  355 ZPO Rn.  14 („Als Ausnahme von dem im Abs.  1 S.  1 festgelegten Grundsatz […].“); ferner BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  15; Stein/Jonas/ Berger, §  355 ZPO Rn.  5, 13; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  37; Rosenberg/Schwab/ Gottwald, Zivilprozessrecht, §  81 Rn.  4. Hiervon ging offenbar auch der historische Gesetzgeber aus: „Daß die Beweisaufnahme regelmäßig vor dem Prozeßgerichte erfolgen muß, ist eine Konsequenz des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Verhandlung und der freien Beweiswürdigung. Abweichungen hiervon sind nur in den dringendsten Fällen, welche bei den einzelnen Beweismitteln besonders angegeben sind […], gestattet; […].“; Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  304. 220  Eine ähnliche Diskussion besteht im Rahmen von §  250 StPO. Dort stellt sich ebenfalls die Frage nach dem Verhältnis beider Sätze; siehe dazu Geppert, Unmittelbarkeit, S.  186 ff., 215; Kries, ZStW 6 (1886), 88 ff. 219 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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cc) Zwischenergebnis Der Wortlaut von §  355 Abs.  1 ZPO spricht für eine systematische Trennung beider Sätze. §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO und §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO haben einen eigenen bzw. nicht deckungsgleichen Regelungsgehalt. Wenn die herrschende Meinung den Inhalt des formellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes dahingehend interpretiert, dass richterliche Mittelspersonen ausgeschlossen werden sollen, so ergibt sich dies nicht – wie behauptet – aus §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, sondern aus §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO. Gerade wenn ein beauftragter oder ersuchter Richter die Beweisaufnahme durchführt, kommt es zu der ungewünschten Situation, dass die erkennenden Richter Fakten beurteilen müssen, bei deren Beweisaufnahme sie nicht zugegen waren.221 Wenn aber das Prozessgericht für die Beweisaufnahme zuständig sein soll, schließt dies konsequenterweise die Anwesenheit aller Mitglieder des Kollegiums während der Beweisaufnahme mit ein. §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO mit seiner Anordnung, dass die Beweisaufnahme nur in gesetzlich bestimmten Fällen auf einen beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden darf, kann daher als Konsequenz von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO verstanden werden. Somit bietet sich die Möglichkeit, §  355 Abs.  1 ZPO als Postulat körperlicher Anwesenheit („vor“) der Richter und der Beweis­ mittel zu begreifen222 – eine These, welche freilich noch durch weitere Argumente untermauert werden muss.223 b) Ausnahmen Die ZPO sieht mehrere Ausnahmen vom Grundsatz des §  355 Abs.  1 ZPO vor, sodass für alle Beweismittel die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter möglich ist. aa)  Delegation der Beweisaufnahme beim Augenscheinsbeweis (§  372 Abs.  2 ZPO) Beim Augenscheinsbeweis kann die Einnahme des Augenscheins einem beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden (§  372 Abs.  2 ZPO).224 Dies bietet sich vor allem dann an, wenn die Augenscheinseinnahme „an Ort und Stelle“ (§  219 Abs.  1 ZPO) durchgeführt wird.225 Die Delegation der Beweisaufnahme steht nach 221  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  81 Rn.  1; siehe dazu auch Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  336. 222  Unzutreffend daher Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (372), wonach der Wortlaut von §  355 Abs.  1 ZPO die Frage nach dem (etwaigen) Erfordernis einer körperlichen Anwesenheit nicht beantworte. 223  Siehe hierzu später unter §  5 IV. 3. d). 224  Nach §  372 Abs.  1 ZPO können bei der Augenscheinseinnahme auf Anordnung des Gerichts ein oder mehrere Sachverständige hinzugezogen werden. Dies stellt aber keine Ausnahme von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO dar, da das vollbesetzte Prozessgericht den Augenschein weiterhin selbst einnimmt; BeckOK/Bach, §  372 ZPO Rn.  1. 225  Stein/Jonas/Berger, §  372 ZPO Rn.  3.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

dem klaren Gesetzeswortlaut („kann“) im freien Ermessen des Prozessgerichts.226 Zusätzliche Voraussetzungen nennt die Vorschrift nicht. Insbesondere können die erhöhten Voraussetzungen des für den Zeugenbeweis geltenden §  375 ZPO nicht – auch nicht analog – auf die Augenscheinseinnahme übertragen werden.227 Freilich besteht aufgrund des großen Ermessensspielraums die Gefahr, dass das Prozessgericht von seinem Ermessen (zu) häufig Gebrauch macht. Daher muss dieses bei seiner Ermessensausübung §  355 Abs.  1 ZPO berücksichtigen, wonach für die Beweis­ aufnahme grundsätzlich das Prozessgericht zuständig ist.228 Ferner gilt es zu bedenken, dass es sich beim Augenschein um dasjenige Beweismittel handelt, welches im Vergleich zu den übrigen Beweismitteln unvermittelt wahrgenommen wird, da es in allen anderen Fällen stets eines Mediums (Zeuge, Sachverständiger, Partei, Urkunde) bedarf.229 Es geht beim Augenschein um eine „unmittelbare Sinneswahrnehmung des Gerichts über körperliche Eigenschaften oder Zustände von Personen und Sachen oder über Äußerungen“230. Gerade der Augenschein schafft eine direkte Verbindung zwischen dem Richter und den zu beweisenden Tatsachen, welche dieser „selbst wahrnehmen“ bzw. „selbst erleben“ kann.231 Es handelt sich somit beim Augenscheinsbeweis – stellt man auf das Vor- oder Nichtvorliegen eines Mediums ab – um die „unmittelbarste Beweiserhebung“232 der ZPO. bb)  Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis (§  375 ZPO) Die Voraussetzungen für die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter im Falle des Zeugenbeweises werden von §  375 ZPO aufgestellt. Die bisherige Untersuchung – insbesondere der rechtshistorische Abschnitt – hat gezeigt, dass es sich hierbei um eine der wohl interessantesten Vorschriften in 226  BGH NJW 1990, 2936 (2937); Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  40; statt vieler aus der Kommentarliteratur Musielak/Voit/Huber, §  372 ZPO Rn.  8. 227  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  372 ZPO Rn.  17; kritisch daher Braun, Lehrbuch, S.  141: „Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß der unmittelbare Eindruck vom Verlauf der Beweisaufnahme bei einem Augenscheinsbeweis generell entbehrlich ist. Daher erscheint es bedenklich, auf jede Prüfung dieser Art von vornherein zu verzichten.“. 228  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  372 ZPO Rn.  5. Unzutreffend ist daher die Annahme, dass sich das Prozessgericht der Sache nach nicht über den Rechtsgedanken des §  375 Abs.  1 ZPO hinwegsetzen dürfe. Es sei ermessensfehlerhaft, die Beweisaufnahme zu delegieren, wenn es bei der Augenscheinseinahme gerade auf den Eindruck aller Richter ankomme; so Wie­ czorek/Schütze/Ahrens, §  372 ZPO Rn.  17. Der Gedanke, dass alle Richter sich einen Eindruck von den Beweismitteln verschaffen können, kommt aber in §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO zum Ausdruck. §  375 ZPO regelt dagegen „nur“ die Voraussetzungen einer Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter im Falle des Zeugenbeweises. 229  Bathe, Verhandlungsmaxime, S.  191 f.; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  854. 230  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  118 Rn.  1. 231  Stein/Jonas/Berger, vor §  371 ZPO Rn.  1; Bathe, Verhandlungsmaxime, S.  192. Der Augenschein wird daher als „gutes und zuverlässiges Beweismittel“ eingestuft; Schreiber, Jura 2009, 269 (270). Zum Wert und zur Verlässlichkeit des Augenscheins sowie seinen Vor- und Nachteilen siehe ferner Döhring, Erforschung, S.  314 ff. 232  Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  854.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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Bezug auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz handelt. Schließlich war die Vorschrift Gegenstand umstrittener Auslegungsdebatten und wurde mehrfach geändert.233 (1)  Sinn und Zweck der Vorschrift Zunächst muss der genaue Zweck der Vorschrift betrachtet werden: Soll die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter durch §  375 ZPO ermöglicht oder vermieden werden? Freilich handelt es sich bei §  375 ZPO zunächst um eine Ausnahme von §  355 Abs.  1 ZPO, wodurch eine Gerichtsentlastung und Verfahrensvereinfachung erreicht werden kann.234 Darin darf aber nicht der primäre Normzweck gesehen werden. Richtigerweise soll §  375 ZPO die kommissarische Zeugenvernehmung möglichst begrenzen.235 Das zeigt sich am Wortlaut von §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO („nur in den durch dieses Gesetz bestimmten Fällen“) und §  375 Abs.  1 ZPO („darf […] nur übertragen werden“).236 Ferner entspricht dies dem Willen des Gesetzgebers, welcher durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz (1990) durch die Einfügung der zusätzlichen Voraussetzung „wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“ die Delegation der Beweisaufnahme beschränken wollte.237 (2)  Besonderheiten der Beweiswürdigung beim Zeugenbeweis Gemeinhin wird der Zeugenbeweis als das einerseits häufigste und wichtigste Beweismittel im Zivilprozess, andererseits aber – neben der Parteivernehmung – als das unzuverlässigste und unsicherste Beweismittel bezeichnet.238 Dieser Zwiespalt rührt daher, dass der Zeuge im Prozess Auskunft über seine Wahrnehmungen hinsichtlich vergangener Tatsachen und Zustände gibt.239 Er ist im Gegensatz zum Sachverständigen nicht beliebig austauschbar.240 Hinzu kommt, dass Zeugen nicht selten Wahrnehmungs- und/oder Erinnerungsfehlern unterliegen, welche sich freilich auf die Aussage auswirken.241 Es liegt in der Natur der Sache, dass die Würdi233 

Siehe hierzu oben unter §  4 IV. 1. sowie §  4 V. Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  1. 235  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  4; siehe auch PG/Trautwein, §  375 ZPO Rn.  1: „Zweck des §  375 [ZPO] ist nicht, dem Prozessgericht die Möglichkeit zu eröffnen, häufig zeitraubende Zeugenvernehmungen zu externalisieren.“. 236  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  4. 237  Siehe hierzu oben unter §  4 V. 3. 238  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  59; Braun, Lehrbuch, S.  805; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  872; Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  153; Jäckel, Beweisrecht, Rn.  446; Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  119 f.; Musielak/Voit/Huber, §  373 ZPO Rn.  1; Stein/Jonas/Berger, vor §  373 ZPO Rn.  13. 239  BGH NJW 1993, 1796 (1797); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  1. 240  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  1; Jäckel, Beweisrecht, Rn.  4 47. 241  Siehe hierzu Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  6 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1362 ff.; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  44 ff.; Hohlweck, JuS 2002, 1105 (1106 ff.). 234 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

gung einer Zeugenaussage, d. h. die Beurteilung, ob eine Aussage als wahr oder unwahr zu betrachten ist, für den Richter eine schwierige, aber für die Tatsachenfeststellung regelmäßig sehr bedeutsame Aufgabe darstellt.242 In der Literatur wird daher regelmäßig die Wichtigkeit eines persönlichen Eindrucks von den Zeugen für die Beweiswürdigung betont.243 Dies resultiert aus den negativen Erfahrungen mit dem Gemeinen Prozess, wo gerade kein direkter Kontakt zwischen dem Gericht und den Prozessbeteiligten bestand.244 Daraufhin hatte sich die – im Schrifttum teilweise als „traditionelle Auffassung“245 bezeichnete – Ansicht durchgesetzt, dass erst der persönliche Eindruck ein gerechtes Urteil ermögliche. Durch den unmittelbaren Kontakt könne insbesondere die Glaubwürdigkeit von Zeugen besser beurteilt werden. Dementsprechend wird heutzutage der Sinn und Zweck der (formellen) Unmittelbarkeit darin gesehen, dass diese die Voraussetzungen für die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) schaffe.246 Bei einer Übertragung der Beweisaufnahme nach §  375 ZPO ist die Situation allerdings so, dass sich im Falle einer Übertragung auf einen beauftragten Richter (§  361 ZPO) nur ein Mitglied des Kollegiums, im Falle einer Übertragung auf einen ersuchten Richter (§  362 ZPO) gar kein Mitglied des Prozessgerichts einen direkten und persönlichen Eindruck von den Zeugen verschaffen kann. Ob die „traditionelle Auffassung“ zutreffend ist, ist letztendlich eine Frage der Aussagepsychologie. Daher bedarf es einer Analyse der Ergebnisse der modernen Aussageforschung, ob der persönliche Eindruck nach wie vor für die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von entscheidender Bedeutung ist. Im Rahmen der Beweiswürdigung von Zeugenaussagen wird generell zwischen der „Glaubwürdigkeit des Zeugen“ und der „Glaubhaftigkeit der Aussage“ differenziert.247 In der psychologischen Literatur werden beide Begriffe teilweise unter dem Oberbegriff „Glaubwürdigkeit“ zusammengefasst und sodann von „allgemeiner Glaubwürdigkeit“ (= Glaubwürdigkeit des Zeugen) und „spezieller Glaubwürdigkeit“ (= Glaubhaftigkeit der Aussage) gesprochen.248 Für die vorliegende Untersuchung soll – vor allem um beide Aspekte terminologisch klar trennen zu können – an den Begriffen „Glaubwürdigkeit“ und „Glaubhaftigkeit“ festgehalten werden.249 Die „Glaubwürdigkeit“ bezieht sich auf die Person des Zeugen selbst, insbesondere 242  Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  154; Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 („ureigenste Aufgabe des Richters“). 243  Peters, JA 1981, 65 (66) [„häufig kaum zu beantworten“]; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  4 („in der Regel unverzichtbar“); Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  2; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  2; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  4. 244  Zur Kritik am Gemeinen Prozess siehe oben unter §  4 I. 4. 245  So die Bezeichnung bei Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  181. 246  Siehe hierzu oben unter §  5 I. 3. 247  BGH NJW 1991, 3284; Musielak/Voit/Huber, §  373 ZPO Rn.  16; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  31 Rn.  70; Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1426; Rieck, Substitut oder Komplement, S.  176. 248  Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  82 f.; ihm folgend Glunz, Psychologische Effekte, S.  156. 249  Siehe dazu Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  905 f., welcher nachdrücklich auf eine klare terminologische Unterscheidung hinweist.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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seine Persönlichkeit und Zuverlässigkeit, während es bei der „Glaubhaftigkeit“ um die Darstellung und Schilderung der Aussage geht.250 Dabei sind verschiedene ­K riterien herausgearbeitet worden, um beide Komponenten besser beurteilen zu können.251 (a)  Kriterien zur Beurteilung von „Glaubwürdigkeit“ und „Glaubhaftigkeit“ Zu den Kriterien für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen zählen etwa das Verhältnis bzw. die Beziehung des Zeugen zu einer der beiden Parteien, ein mögliches Eigeninteresse am Ausgang des Verfahrens, etwaige Vorstrafen (insbesondere Aussagedelikte) und seine Persönlichkeit als solche.252 Etwaige persön­ liche Bindungen des Zeugen zu einer Prozesspartei können unter dem Aspekt der Aussagemotivation zusammengefasst werden. Es kommt mithin auf Motive an, welche die Aussage des Zeugen in eine bestimmte Richtung beeinflusst haben könnten.253 Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage empfiehlt es sich, diese anhand von zwei Kategorien zu überprüfen: dem Aussageinhalt und der Aussageweise.254 Der Aussageinhalt bezieht sich auf die Aussage selbst, es geht um das „Was“ der Aussage. Dies geht zurück auf die sog. Undeutsch-Hypothese, wonach sich Aussagen über selbst erlebtes Geschehen qualitativ von Aussagen über erfundene Vorgänge unterscheiden:255 „Aussagen über selbsterlebte faktische Begebenheiten müssen sich von Äußerungen über nicht selbsterlebte Vorgänge unterscheiden durch Unmittelbarkeit, Farbigkeit und Leben­ digkeit, sachliche Richtigkeit und psychologische Stimmigkeit, Folgerichtigkeit der Abfolge, Wirklichkeitsnähe, Konkretheit, Detailreichtum, Originalität und […] individuelles Gepräge.“256

Die Aussage wird anhand verschiedener Kriterien auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht.257 In der Fachliteratur spricht man insofern von einer „aussagepsycholo250 

Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  905 f. Zur historischen Entwicklung der Aussageforschung siehe Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  84 ff.; Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 (614 ff.). Freilich können diese Kriterien dem entscheidenden Richter nur eine Hilfestellung geben, niemals aber absolute Gewissheit garantieren; Hohlweck, JuS 2002, 1207, welcher auf den Wortstamm von „Glaubwürdigkeit“ und „Glaubhaftigkeit“ hinweist: In beiden Worten steckt „Glaube“. Ein „Wissen“ im naturwissenschaftlichen Sinne sei daher von vornherein nicht erreichbar; siehe auch Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  154. 252  Wieczorek/Schütze/Ahrens, vor §  373 ZPO Rn.  98; Musielak/Voit/Huber, §  373 ZPO Rn.  16, welcher ferner etwaige Auffälligkeiten während der Vernehmung sowie den persönlichen Eindruck des Zeugen als weitere Anhaltspunkte nennt. 253  Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  246 f. 254  Die nachfolgende Darstellung orientiert sich im Wesentlichen an den Kriterien von Arntzen, Zeugenaussage, S.  15 f., 25 ff.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  370 ff.; Trankell, Realitätsgehalt, S.  121 ff.; Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1208). 255  Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1427; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  283. 256  Undeutsch, in: Handbuch der Psychologie, S.  26 (125 f.). 257  Es kann an dieser Stelle nicht auf sämtliche in der Literatur diskutierten Kriterien eingegan251 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

gischen Realitätsanalyse“.258 Das am häufigsten genannte Kriterium ist die Detailliertheit der Aussage.259 Enthält eine Aussage möglichst viele Details, wird dies als starkes Indiz dafür gesehen, dass die Aussage der Wahrheit entspricht. Schließlich muss derjenige, der eine Falschaussage tätigt, einiges an Fantasie aufbringen, um seine Geschichte glaubhaft „verkaufen“ zu können.260 Als zweiter wichtiger Aspekt der Aussageanalyse zählt deren Homogenität.261 Entscheidend ist nach Eisenberg zum einen die „Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit der Aussage“ selbst (innere Homogenität) und zum anderen ihre Übereinstimmung mit nachweisbaren Vorkommnissen (äußere Homogenität).262 Neben den Aussageinhalt tritt als zweite Kategorie die Aussageweise.263 Hier steht nicht die Aussage selbst, sondern die Person des Zeugen im Vordergrund. Es geht dementsprechend nicht darum, was der Zeuge aussagt, sondern um das „Wie“ der Aussage. Hierbei kommt es nicht zuletzt auf die Gefühlsbeteiligung des Zeugen an,264 was sich insbesondere durch nonverbales Verhalten zeigt. (b)  Erkenntnisse der neueren Aussagepsychologie Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen – insbesondere seine Persönlichkeit – wurde in früheren Zeiten als das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Wahrheit einer Aussage herangezogen.265 Mittlerweile gilt diese Vorstellung, welche die Glaubwürdigkeit als ein einer Person konstant innewohnendes Persönlichkeitsmerkmal begreift,266 in der modernen Aussagepsychologie als überholt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass sich die Glaubwürdigkeit einer Person gerade nicht statisch verhält, sondern situationsbezogen auf die einzelne Vernehmung untergen werden. Vielmehr soll ein kurzer Überblick über die wichtigsten Aspekte gegeben werden. Für eine genauere Beschreibung sämtlicher in Betracht kommender Kriterien siehe insbesondere Arntzen, Zeugenaussage, S.  15 f., 25 ff.; ferner Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1427c mit einer Übersicht über die Glaubhaftigkeitsmerkmale bei verschiedenen Autoren; siehe zudem die Auflistung bei Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  55 ff. 258  Trankell, Realitätsgehalt, S.  122. 259  Nachdrücklich Arntzen, Zeugenaussage, S.  25: „Die Forderung nach Detaillierung ist geradezu eine Grundforderung, die man an jede Aussage, die Glaubhaftigkeit beansprucht, stellen muss.“; siehe ferner Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  370 ff.; Trankell, Realitäts­ gehalt, S.  123; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1104; Bürkle, Richterliche Alltags­ theo­r ien, S.  121; Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1209). 260  Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1209); Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1104; kritisch dagegen Braun, Lehrbuch, S.  807. 261  Statt vieler Arntzen, Zeugenaussage, S.  48 ff.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  435 ff. 262  Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1431 (Fn.  189). 263  Arntzen, Zeugenaussage, S.  16; ähnlich Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1208), welcher von den „Symptomen der Aussagesituation“ spricht. 264  Siehe dazu Arntzen, Zeugenaussage, S.  68 ff. 265  Trankell, Realitätsgehalt, S.  97 f.; Arntzen, Zeugenaussage, S.  115; Bürkle, Richterliche Alltagstheorien, S.  114. 266  Trankell, Realitätsgehalt, S.  97 f.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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schiedlich zu beurteilen sein kann.267 Allein aufgrund der Tatsache, dass ein Zeuge bereits einmal falsch ausgesagt hat, kann man – getreu der bekannten Redensart „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“268 – nicht pauschal auf dessen generelle Unglaubwürdigkeit schließen.269 Selbiges muss für den Fall gelten, dass ein Zeuge einer Partei – aus welchen Gründen auch immer – nahesteht und/oder ein Eigeninteresse am Ausgang des Prozesses hat.270 Der Rückgriff auf Erfahrungssätze im Rahmen der Glaubwürdigkeitsbeurteilung ist daher problematisch. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die sog. „Beifahrer-Rechtsprechung“: Danach soll bei einem Verkehrsunfall der Aussage eines Fahrzeuginsassen grundsätzlich kein Beweiswert zuerkannt werden, es sei denn, objektive Anhaltspunkte sprechen für die Richtigkeit der Angaben. Grund hierfür sei ein regelmäßig anzunehmender „Solidarisierungseffekt“ mit dem Fahrzeugführer.271 Der BGH hat diese Rechtsprechung mittlerweile zu Recht verworfen, da sie gegen den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) verstößt, indem sie eine gesetzlich nicht vorgesehene Beweisregel (§  286 Abs.  2 ZPO) aufstellt.272 Bei Anwendung eines solchen „allgemeinen Erfahrungssatzes“ droht ein Rückfall in die Beweisregeln des Gemeinen Prozesses.273 Hinzu kommt, dass nicht nur eine Beweisregel konstruiert, sondern die Beweiswürdigung selbst vorweggenommen wird. Dies verstößt ebenfalls gegen §  286 Abs.  1 ZPO.274 Damit ist freilich nicht gesagt, dass Erfahrungssätze im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung gänzlich unberücksichtigt bleiben müssen. Gerade dem Anscheins­

267  Trankell, Realitätsgehalt, S.  98; Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  105 („situationsspezifisches, motivationsabhängiges Verhalten“); ähnlich Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1105; Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S.  42; siehe auch BGHSt 45, 164 (167) = NJW 1999, 2746 (2747) zu den wissenschaftlichen Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten: „Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist […] nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen […].“. 268  Siehe dazu Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1123 f., welcher zu Recht darauf hinweist, dass bei Zugrundelegung einer solchen „Regel“ ein Zeuge in unzulässiger Weise als notorischer Lügner abgestempelt würde. 269  Bürkle, Richterliche Alltagstheorien, S.  115. Siehe dazu auch eine Entscheidung des OLG Bamberg, wo ein vorbestrafter Zeuge gerade nicht als generell unglaubwürdig eingestuft wurde; OLG Bamberg MDR 2004, 647 f.; zustimmend MünchKommZPO/Prütting, §  286 ZPO Rn.  62. 270  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  57. 271  BGH NJW 1988, 566 (567). 272  BGH NJW 1988, 566 (567); zustimmend unter anderem Wieczorek/Schütze/Ahrens, vor §  373 ZPO Rn.  101; Stein/Jonas/Leipold, §  286 ZPO Rn.  2; Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1208). Teilweise wird dem BGH jedoch vorgeworfen, durch die Ablehnung der „Beifahrer-Rechtsprechung“ selbst eine Beweisregel aufgestellt zu haben, nämlich dass ein Rückgriff auf allgemeine Erfahrungssätze bzw. die Berücksichtigung abstrakter Zweifel generell unzulässig sei; siehe dazu Musielak/Voit/Foerste, §  286 ZPO Rn.  13 m. w. N.; kritisch auch Reinecke, MDR 1986, 630 (633 ff.). 273  Reinecke, MDR 1986, 630 (635 f.). 274  Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  294; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  286 ZPO Rn.  8.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

beweis (sog. prima facie-Beweis) liegen Erfahrungssätze zugrunde.275 Entscheidend ist, was man letztendlich unter einem „Erfahrungssatz“ verstehen will.276 Unzu­ lässig muss die Berücksichtigung von Erfahrungssätzen jedenfalls dann sein, wenn diese – wie im Falle der „Beifahrer-Rechtsprechung“ oder bei etwaigen Vorstrafen – Vorurteilen gleichkommt.277 Zusammenfassend räumt die Aussagepsychologie der Persönlichkeit eines Zeugen heutzutage keinen allzu großen Stellenwert mehr für die Beweiswürdigung ein.278 Die Entscheidung, ob man der Aussage ein und desselben Zeugen Glauben schenken möchte, kann von Richter zu Richter unterschiedlich ausfallen. Gänzlich unbeachtlich ist die Persönlichkeit des Zeugen allerdings nicht, schließlich ist eine Aussage mit den Worten Trankells stets „Ausdruck der persönlichen Eigenart ihres Urhebers“. Insofern beeinflusst die Persönlichkeit in gewissem Maße den Aussage­ inhalt und die Aussageweise.279 Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist zumindest als „Hilfstatsache für die Glaubhaftigkeit der Aussage“280 zu begreifen. Entscheidend für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage ist nach dem heutigen Stand der Vernehmungspsychologie die Glaubhaftigkeit der Aussage, wobei der Schwerpunkt auf dem Aussageinhalt liegt.281 Man kann daher von einer „inhaltsorientierten Glaubhaftigkeitsbeurteilung“ sprechen.282 Die Bedeutung der Aussageweise nimmt dagegen einen untergeordneten Stellenwert ein, was insbesondere für nonverbales Verhalten gilt.283 Traditionell werden gewisse Verhaltensmuster, z. B. Schwitzen, Farbwechsel im Gesicht (Errötung) und die Vermeidung 275  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  113 Rn.  16; Stein/Jonas/Leipold, §  286 ZPO Rn.  131; zum Anscheinsbeweis und seiner dogmatischen Einordnung siehe jüngst Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  293 ff. 276  Differenziert wird geläufig zwischen „zwingenden Erfahrungssätzen“, „Erfahrungsgrundsätzen“, „einfachen Erfahrungssätzen“ sowie „Vorurteilen“; siehe MünchKommZPO/Prütting, §  286 ZPO Rn.  56 ff. 277  MünchKommZPO/Prütting, §  286 ZPO Rn.  62. 278  Siehe nur Arntzen, Zeugenaussage, S.  115; Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1208). 279  Trankell, Realitätsgehalt, S.  98; ihm folgend Bürkle, Richterliche Alltagstheorien, S.  115; ähnlich Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  58: „Eine umfassende Glaubwürdigkeitsbeurteilung muß aber auch die Person des Zeugen einbeziehen.“. 280  Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1426. 281  Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  83; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  282; Undeutsch, in: Handbuch der Psychologie, S.  26 (125); Trankell, Realitätsgehalt, S.  122; Glunz, Psychologische Effekte, S.  156, 161; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  188; Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1209); ähnlich auch Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  898. 282  Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  105 spricht von „inhaltsorientierter Glaubwürdigkeitsbeurteilung“. Der Terminus „inhaltsorientierte Glaubhaftigkeitsbeurteilung“ harmoniert jedoch besser mit der eingangs getroffenen Terminologie im Sinne einer Unterscheidung von Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit. 283  Zur Bedeutung des nonverbalen Verhaltens für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage siehe jüngst Glunz, Psychologische Effekte, S.  157 ff.; Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  224 ff. Dem äußeren Erscheinungsbild (Physiognomie) wird ebenfalls keine Bedeutung beigemessen; siehe dazu Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  896; Döhring, Erforschung, S.  69.

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von Blickkontakt als „Warnsignale“ für eine Falschaussage oder als „Lügenindikator“ genannt.284 Hierzu haben sich geradezu stereotypische und klischeehafte Vorstellungen und Ansichten von bestimmten nonverbalen Anzeichen für Falschaussagen herausgebildet.285 Psychologische Untersuchungen haben indes ergeben, dass Mimik und Gestik für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage sehr unzuverlässig sind, gerade wenn die Beurteilung allein auf dem nonverbalen Verhalten beruht. Hier ist die „Trefferquote“ für die Erkennung einer Lüge sogar bei rein schriftlichen Beurteilungen höher.286 Problematisch an nonverbaler Kommunikation ist ihre (zumindest gewisse) Kontrollierbarkeit, sodass diese in eine bestimmte Richtung hin eingesetzt werden kann.287 Zudem können nonverbale Verhaltensweisen auch auf anderen Umständen beruhen und beispielsweise Ausdruck von Nervosität sein.288 Der Aussageinhalt ist dagegen das deutlich verlässlichere Kriterium.289 Dies zeigt sich bereits daran, dass der Inhalt einer Aussage im Gegensatz zu Mimik und Gestik keiner (tiefgehenden) Interpretation bedarf. Schließlich steht nach Abschluss der Vernehmung fest, was ein Zeuge ausgesagt hat. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass sich der Inhalt einer Aussage auf seine Übereinstimmung mit bereits erwiesenen Tatsachen hin überprüfen lässt.290 (c)  Erfordernis eines persönlichen Eindrucks? Da die Glaubwürdigkeit eines Zeugen für die Beweiswürdigung mittlerweile keine allzu große Rolle mehr spielt, ist zugleich der persönliche Eindruck für deren Beurteilung nicht von großer Bedeutung. Deren Kriterien erfordern nicht zwingend einen direkten und persönlichen Kontakt des Zeugen mit den erkennenden Richtern. Das Verhältnis eines Zeugen zu einer Prozesspartei und die (möglicherweise) darauf beruhende Aussagemotivation ergeben sich beispielsweise bereits aus den bestehenden familiären oder freundschaftlichen Bindungen, welche sich ohne persönlichen Eindruck ermitteln lassen.291 Zur Beurteilung der Persönlichkeit eines Zeugen ist freilich ein persönlicher Eindruck erforderlich. Diese lässt allerdings nur 284 

Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1208); Glunz, Psychologische Effekte, S.  159. Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  47 ff.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  159. Zu den allgemeinen „Lügensignalen“ einer Aussage siehe Bürkle, Richterliche Alltagstheorien, S.  127 ff. 286  Siehe dazu Glunz, Psychologische Effekte, S.  160; ferner Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  224, wonach wissenschaftliche Versuche, die Körpersprache der Aussageperson für die Erkennung von Lügen fruchtbar zu machen, als „fehlgeschlagen“ betrachtet werden müssen. 287  Eisenberg, Beweisrecht, Rn.  1427a; Döhring, Erforschung, S.  73. 288  Hohlweck, JuS 2002, 1207 (1208 f.); Glunz, Psychologische Effekte, S.  158; Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 (623 f.). Ferner ergeben sich bei nonverbaler Kommunikation Unterschiede aufgrund der Persönlichkeit und des Geschlechts des Zeugen; Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  43. Etwas anderes soll nur für die Sprechweise gelten, da gerade der „gefühlsgetragene schallbildliche Ausdruck“ der Sprache kaum kontrollierbar sei; Undeutsch, in: Handbuch der Psychologie, S.  26 (118). 289  Glunz, Psychologische Effekte, S.  161. 290  Köhnken, Glaubwürdigkeit, S.  165. 291  Ähnlich Krüger, Unmittelbarkeit, S.  202. 285 

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bedingt Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu. Ein persönlicher Eindruck von einem Zeugen ist daher regelmäßig nur für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage entscheidend. Dennoch stellt sich auch hier die Frage, ob es eines persönlichen Eindrucks zwingend bedarf. Gerade das nonverbale Verhalten ist – wie soeben gezeigt – eine durchaus unverlässliche Quelle für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage. Teilweise wird daher der persönliche Eindruck von einem Zeugen in der Literatur als „ein gefährlicher Umstand der Beweiswürdigung“292 eingestuft, welcher „außerordentlich trügerisch ist, und […] auch arg in die Irre zu führen vermag.“293 An anderer Stelle wird zwar der Stellenwert eines persönlichen Eindrucks betont, jedoch nur unter der Prämisse, dass das nonverbale Verhalten korrekt und ordnungsgemäß gedeutet wird.294 Eine „richtige“ und „fehlerfreie“ Interpretation nonverbaler Kommunikation wird in der Praxis niemals möglich sein. Dennoch kann man sich dem persönlichen Eindruck, welcher nicht zuletzt auf Mimik und Gestik beruht, selbst als Richter nicht entziehen.295 Dies beruht letztendlich darauf, dass sich der vermeintliche Sinngehalt bestimmter nonverbaler Verhaltensweisen in der Gesellschaft etabliert hat.296 Trotz dieser Befunde muss der persönliche Eindruck nach wie vor beibehalten werden, um eine (möglichst) zuverlässige Beweiswürdigung vornehmen zu können. Hierfür sprechen diverse Gründe: Erstens bringt die zunehmende Fokussierung auf den Aussageinhalt und dessen Bewertung anhand verschiedener Kriterien die Gefahr mit sich, dass der Wahrheitsgehalt mit Hilfe eines „Kriterienkatalogs“ überprüft wird.297 Die Beweisaufnahme droht mehr und mehr verobjektiviert zu werden, wodurch im Gegenzug „ganzheitliche Gesichtspunkte entgleite[n].“298 Erst ein persönlicher Eindruck ermöglicht, dass der Richter „nach freier Überzeugung“ (§  286 Abs.  1 ZPO) entscheiden kann, ob er einer Aussage Glauben schenken kann oder nicht. Hält man – ungeachtet des gerade erhobenen Einwands – an der Maßgeblichkeit des Aussageinhalts fest, ergibt sich zweitens, dass ein fehlender persönlicher Eindruck niemals durch ein Vernehmungsprotokoll vollständig ersetzt werden kann.299 Die Aussage eines Zeugen wird regelmäßig in indirekter Rede protokolliert.300 Grundsätzlich handelt es sich daher bei der Protokollierung um eine „Aus292 

Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  895. Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik, S.  41. 294  Döhring, Erforschung, S.  69; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  199; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  897. 295  Döhring, Erforschung, S.  68; Glunz, Psychologische Effekte, S.  161 f. 296  Glunz, Psychologische Effekte, S.  163. 297  Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 (616). 298  Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 (616). 299  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  355 ZPO Rn.  2. Sehr kritisch zu Vernehmungsprotokollen aus dem älteren Schrifttum Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  75 („meist bloße Erinnerungsbilder, die durch spätere Erlebnisse verwischt und von allerhand dunklen Absichten übermalt sind“). 300  Musielak/Voit/Stadler, §  160 ZPO Rn.  8; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  196. Für eine 293 

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sage über eine fremde Aussage“301, weshalb inhaltliche Veränderungen der Aussage drohen.302 Schneider betont zu Recht, dass das „beste“ Vernehmungsprotokoll stets der persönliche Eindruck der erkennenden Richter sei.303 Freilich ließe sich diese Gefahr über eine Tonbandaufnahme (§  160a ZPO) minimieren.304 Zu denken wäre auch an eine komplett audiovisuelle Aufzeichnung einer Zeugenvernehmung.305 Derartige technische Möglichkeiten können jedoch allenfalls einen ähnlichen Eindruck von der Beweisaufnahme, niemals aber einen vollkommen gleichwertigen Eindruck vermitteln. Eine Zeugenvernehmung ist als einmaliger Kommunikationsprozess zu verstehen, welcher nicht ohne Weiteres reproduzierbar ist.306 Nur ein persönlicher Eindruck, d. h. die Anwesenheit aller erkennenden Richter, kann sicherstellen, dass ein Richter den genauen Inhalt einer Aussage vernehmen kann. Nur auf diese Art und Weise lässt sich die Glaubhaftigkeit einer Aussage bestmöglichst ermitteln. Diese ist aber das wichtigste und verlässlichste Kriterium für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage. Ferner darf nicht vergessen werden, dass ein direkter Kontakt einen Eindruck von der Persönlichkeit des Zeugen ermöglicht.307 Diese ist zwar mittlerweile nicht mehr als entscheidend anzusehen, jedoch als „Hilfstatsache für die Glaubhaftigkeit der Aussage“ relevant. Am Erfordernis eines persönlichen Eindrucks als Voraussetzung für die Beweiswürdigung will nicht zuletzt der Gesetzgeber festhalten. Dies zeigt sich daran, dass die Übertragung der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis auf einen beauftragten oder ersuchten Richter unter der Voraussetzung steht, dass „das Prozessgericht das Beweis­ ergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“.308 Drittens läßt sich anführen, dass eine persönliche Vernehmung und die damit verbundene Atmosphäre im Gerichtssaal eher einen Zeugen dazu animiert, die Wahrheit zu sagen.309 Schließlich sitzen die Richter nicht umsonst erhöht. Wiedergabe in direkter Rede plädieren dagegen MünchKommZPO/Wagner, §  160 ZPO Rn.  9; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1293. 301  Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1298. 302  MünchKommZPO/Wagner, §  160 ZPO Rn.  9. Zur Überlegenheit des persönlichen Eindrucks gegenüber dem Protokoll siehe ferner Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  197; Hellwig, Der Gerichtssaal 82 (1914), 403 (418); generell kritisch zur Praxis der Protokollierung an deutschen Gerichten Stürner, JZ 2016, 137 (140 f.). 303  Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1281. 304  MünchKommZPO/Wagner, §  160 ZPO Rn.  9; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn.  1297. 305  Hierfür jüngst Stürner, JZ 2016, 137 (141 f.). 306  Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 (620); ähnlich Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung, Rn.  1040. 307  Rieck, Substitut oder Komplement, S.  159; deutlich auch BAG NZA 1990, 74: „Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen kann nur der Richter beurteilen, der den Zeugen vor sich sieht.“; darauf hinweisend Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  59. 308  Zu den Voraussetzungen der kommissarischen Beweisaufnahme und der hierfür erforderlichen Beweisprognose siehe sogleich unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 309  Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  62; Reichel, Unmittelbarkeit, S.  53. Zur Förderung der

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Die Rechtsprechung teilt diesen Standpunkt,310 wobei in diesem Zusammenhang eine neuere Entscheidung des BGH erwähnenswert ist.311 Dort stand die Aussage eines Zeugen mit einer von ihm verfassten E-Mail, welche als Beweismittel verwendet wurde, im Widerspruch. Daraufhin schenkte das Berufungsgericht der Aussage des Zeugen keinen Glauben. Der BGH formulierte daher: „Die Widersprüchlichkeit einer Zeugenaussage oder – wie hier – ein Widerspruch zwischen der Aussage und einer E-Mail des Zeugen ist zwar objektiv feststellbar; hierfür bedarf es keiner Beurteilung der Person. Gleichwohl hängt eine solche Widersprüchlichkeit so eng mit der Wahrheitsliebe und damit der Glaubwürdigkeit des Zeugen zusammen, dass in diesem Fall eine erneute Vernehmung durch das Kollegium erforderlich ist, um sich von der Glaubwürdigkeit des Zeugen einen eigenen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen.“312

In der Passage kommt klar zum Ausdruck, dass der Inhalt einer Zeugenaussage (als Aspekt der Glaubhaftigkeit der Aussage) von der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu unterscheiden ist. Dennoch bestehen Wechselwirkungen zwischen beiden Aspekten, welche sich nur über einen persönlichen Eindruck feststellen lassen. Zusammenfassend ermöglicht erst eine Kombination von Aussageinhalt, Aussageweise (insbesondere nonverbales Verhalten) und der Persönlichkeit des Zeugen als „Hilfstatsache für die Glaubhaftigkeit der Aussage“ dem Gericht, den Wahrheitsgehalt einer Aussage möglichst genau bestimmen und eine Zeugenaussage würdigen zu können.313 Eine solche Kombination wird ausschließlich durch einen unmittelbaren Kontakt bzw. einen persönlichen Eindruck von der jeweiligen Aussageperson erreicht. (d) Zwischenergebnis Das grundsätzliche Erfordernis eines persönlichen Eindrucks von einem Zeugen ist nicht nur als Postulat der „traditionellen Auffassung“ hinsichtlich des Sinn und Zwecks der (formellen) Unmittelbarkeit zu verstehen, sondern ergibt sich auch aufgrund von aussagepsychologischen Aspekten.314 Der persönliche Eindruck, welcher durch einen direkten Kontakt zwischen Richter und Zeuge hervorgerufen wird, ermöglicht, dass die Richter zum einen von dem gesamten Inhalt der Aussage KenntAufrichtigkeit durch eine unmittelbare Kommunikation siehe Glunz, Psychologische Effekte, S.  145 ff., 301 f. 310  Nach Ansicht des BGH darf ein Richterkollegium die Glaubwürdigkeit eines Zeugen nur dann berücksichtigen, wenn derjenige Richter, welcher die Beweisaufnahme durchgeführt hat, seinen persönlichen Eindruck von dem jeweiligen Zeugen im Protokoll festgehalten hat. Andernfalls müsse die Beweisaufnahme wiederholt werden; BGH NJW 1992, 1966 f.; BGH NJW 2013, 2516 (2518); darauf ebenfalls hinweisend Glunz, Psychologische Effekte, S.  164 f. 311  BGH NJW 2013, 2516 ff. 312  BGH NJW 2013, 2516 (2518). 313  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  200; Hengesch, ZStW 101 (1989), 611 (624): „Das Augenmerk ist auf die Aussage als Ganzes, als organisches Ganzes gerichtet […].“; siehe ferner Musielak/ Stadler, Grundfragen, Rn.  154; Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  57 ff. 314  So auch Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  59.

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nis nehmen können, um so die Glaubhaftigkeit der Aussage beurteilen zu können, und zum anderen die Persönlichkeit des Zeugen als „Hilfstatsache“ verwerten können. Die durch §  375 ZPO erstrebte Restriktion kommissarischer Beweisaufnahmen ist daher nach wie vor gerechtfertigt. (3)  Delegation der Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1 ZPO §  375 Abs.  1 Nr.  1 ZPO erlaubt die Übertragung der Beweisaufnahme, wenn die Vernehmung des Zeugen an Ort und Stelle zur Ermittlung der Wahrheit dienlich erscheint oder wenn die Zeugenvernehmung per gesetzlicher Anordnung an einem anderen Ort vorzunehmen ist.315 Gerade die Vernehmung „an Ort und Stelle“ – verwiesen wird damit auf den Terminsort gemäß §  219 ZPO316 – ermöglicht es dem Zeugen, auf etwaige besondere örtliche Gegebenheiten einzugehen und so den Beweiswert seiner Aussage zu steigern.317 Wichtigster Anwendungsfall dürfte der Unfallort sein.318 Ferner bietet sich dadurch die Möglichkeit, parallel zur Zeugen­ vernehmung eine Augenscheinseinnahme vor Ort vorzunehmen.319 Die erste Alternative bringt klar zum Ausdruck, dass im Interesse der Wahrheitsfindung auf eine unmittelbare Vernehmung verzichtet werden kann. Der Gesetzgeber geht demnach davon aus, dass es Fälle geben kann, in denen eine kommissarische Beweisauf­ nahme – entgegen der allgemeinen Erfahrung der Grundregel des §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO – „besser“ ist als eine Vernehmung vor dem Prozessgericht. Kann ein Zeuge vor dem Prozessgericht nicht erscheinen, ist ebenfalls eine kommissarische Beweisaufnahme möglich (§  375 Abs.  1 Nr.  2 ZPO). Die Verhinderung am Erscheinen muss sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und erfasst typischerweise Fälle von Krankheit, hohem Alter und Reiseunfähigkeit.320 Oftmals kommt nur eine Vernehmung des Zeugen in seiner Wohnung in Betracht.321 Kumulative Voraussetzung („und“) ist, dass eine audiovisuelle Vernehmung des Zeugen 315  Gesetzliche Fälle im Sinne von §  375 Abs.  1 Nr.  2 Hs.  2 ZPO sind §  382 ZPO sowie §  375 Abs.  2 ZPO. 316  Ausführlich dazu Krüger, Unmittelbarkeit, S.  145 ff. 317  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  12. 318  MünchKommZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  2; ähnlich Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  3 („Tatort“). Freilich kann das Prozessgericht die Zeugenvernehmung „an Ort und Stelle“ auch selbst durchführen („Lokaltermin“); Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  7. 319  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  12; Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  3; PG/ Trautwein, §  375 ZPO Rn.  6 320  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  10; MünchKommZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  4. 321  Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  9. Umstritten ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob ein Zeuge, welcher nur in seiner Wohnung vernommen werden kann, den übrigen Prozessbeteiligten Zutritt zu seiner Wohnung gestatten muss. Teilweise wird dies mit einem Verweis auf den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit (§  357 ZPO) bejaht, wohingegen die herrschende Meinung das Verweigerungsrecht des betroffenen Zeugen aus dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art.  13 GG) ableitet; siehe zum Streitstand Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  15 m. w. N.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

(§  128a Abs.  2 ZPO) nicht stattfindet. Die Vorschrift ist jedoch nicht klar formuliert. Der Verweis auf §  128a Abs.  2 ZPO ist dem Wortlaut nach eigentlich so zu verstehen, dass eine Beweisübertragung bereits dann möglich ist, wenn eine audiovisuelle Vernehmung nicht angeordnet wird: „[N]icht stattfindet“ ist streng genommen im Sinne von „nicht angeordnet wird“ zu verstehen.322 Die Gesetzesmaterialien äußern sich hierzu nicht ausdrücklich.323 Aus der Tatsache jedoch, dass der Gesetzgeber der audiovisuellen Zeugenvernehmung „wegen größerer Unmittelbarkeit“ den Vorzug gegenüber der kommissarischen Beweisaufnahme einräumt,324 legt die überwiegende Ansicht §  375 Abs.  1 Nr.  2 ZPO so aus, dass eine Übertragung der Beweisaufnahme gegenüber der audiovisuellen Vernehmung subsidiär ist.325 Die Subsidiarität soll bereits dann vorliegen, wenn die technischen Voraussetzungen für eine audiovisuelle Vernehmung nach §  128a Abs.  2 ZPO gegeben sind.326 Die Vorschrift muss demnach folgendermaßen gelesen werden: „[…] und eine Zeugenvernehmung nach §  128a Abs.  2 nicht stattfinden kann“. §  375 Abs.  1 Nr.  3 ZPO knüpft wiederum an die Person des Zeugen an, jedoch muss ihm diesmal das Erscheinen vor dem Prozessgericht wegen großer Entfernung unzumutbar sein. Mit „großer Entfernung“ kann in der heutigen Zeit nicht mehr die bloße Distanz als solche gemeint sein, sondern in erster Linie die Zeitdauer einer Anreise zum Prozessgericht.327 Erforderlich ist eine Abwägung seitens des Gerichts. Zu den Aspekten, die dabei zu berücksichtigen sind, zählen unter anderem das Interesse der Parteien an einer persönlichen Vernehmung, ihr Anwesenheitsund Fragerecht (§  397 ZPO) sowie der entstehende Aufwand an Zeit und Kosten.328 Die Frage der Glaubwürdigkeit eines Zeugen bzw. der Glaubhaftigkeit der Aussage spielt bei der Abwägung im Rahmen von §  375 Abs.  1 Nr.  3 ZPO dagegen keine Rolle – jedenfalls nicht direkt.329 Diese Aspekte müssen bereits bei der sog. allgemeinen Beweisprognose („wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“) berücksichtigt werden. Dage322 

Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  16. BT-Drucks. 14/6036, S.  122, wo lediglich der Gesetzeswortlaut wiederholt wird. 324  BT-Drucks. 14/6036, S.  122. 325  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  16, wonach die audiovisuelle Vernehmung einen persönlichen Eindruck ermögliche, wenngleich dieser „nicht von gleicher Intensität und Qualität wie eine Vernehmung im Gerichtssaal ist.“; ferner MünchKommZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  4; Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  3; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  10; BeckOK/Scheuch, §  375 ZPO Rn.  5; PG/Trautwein, §  375 ZPO Rn.  3; Stein/Jonas/ Berger, §  375 ZPO Rn.  3; zurückhaltender dagegen Glunz, Psychologische Effekte, S.  334 f. 326  PG/Trautwein, §  375 ZPO Rn.  3; Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  3. 327  Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  9; ähnlich Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  3. 328  BeckOK/Scheuch, §  375 ZPO Rn.  7; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  11. 329  Unzutreffend insoweit Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  11, welcher den „Wert eines persönlichen Eindrucks vom Zeugen“ als abwägungsrelevanten Gesichtspunkt nennt. 323 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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gen ist – und diesen Aspekt nennt der Gesetzeswortlaut ausdrücklich – die Bedeutung der Aussage des Zeugen zu berücksichtigen.330 Das Gericht muss folglich zwischen den Interessen des Zeugen einerseits und der Bedeutung seiner Aussage für den Prozess andererseits abwägen.331 Problematisch daran ist, dass es im Vorfeld kaum möglich ist festzulegen, ob eine Aussage bedeutend oder unbedeutend ist.332 Die Bedeutung der Aussage zeigt sich erst, wenn man bereits die Ergebnisse anderer Zeugenaussagen kennt.333 Die Anwendbarkeit einer Beweisübertragung nach §  375 Abs.  1 Nr.  3 ZPO setzt schließlich wiederum voraus, dass eine audiovisuelle Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) nicht möglich ist. Gemeinsame Voraussetzung für alle Fälle von §  375 Abs.  1 Nr.  1–3 ZPO ist, dass die Beweisaufnahme nur übertragen werden darf, „wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. §  375 Abs.  1 ZPO verweist mit dieser allgemeinen Voraussetzung auf den Vorgang der Beweiswürdigung („zu würdigen vermag“). Der Gesetzgeber bringt damit ganz klar die Verknüpfung von (unmittelbarer) Beweisaufnahme und Beweiswürdigung zum Ausdruck.334 Da §  375 ZPO eine Ausnahme zu §  355 Abs.  1 ZPO darstellt, wird durch diese Formulierung deutlich, dass die als Regelfall konzipierte Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht erst die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung schafft. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass grundsätzlich ein persönlicher Eindruck für eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung erforderlich ist.335 Nur wenn der persönliche Eindruck für die Beweiswürdigung ausnahmsweise unerheblich ist, soll eine kommissarische Zeugenvernehmung möglich sein. Erforderlich ist daher eine positive Beweisprognose im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsbewertung.336 Da die Prognose nach dem klaren Gesetzeswortlaut ex ante vorzunehmen ist („von vornherein anzunehmen ist“),337 wird freilich keine absolute Gewissheit, sondern nur ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad gefordert.338 Die vorzunehmende Beweisprognose weist jedoch eine erhebliche Schwäche auf, worauf vor allem Berger zu Recht hinweist: Ob sich das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck sachgemäß würdigen lässt, zeigt sich oftmals erst im ei330 

Krüger, Unmittelbarkeit, S.  148. BT-Drucks. 11/3621, S.  38; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  18. Dabei kann auch die Höhe des Streitwerts berücksichtigt werden; BeckOK/Scheuch, §  375 ZPO Rn.  7.1. 332  Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  9. 333  BeckOK/Scheuch, §  375 ZPO Rn.  7. 334  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  164 f. 335  Dies stimmt mit dem Sinn und Zweck des formellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes überein, so wie er im Schrifttum gesehen wird. Siehe dazu oben die Ausführungen mit entsprechenden Nachweisen unter §  5 I. 3. 336  Statt vieler Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  2. 337  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  166. 338  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  6; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  166. 331 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

gentlichen Verlauf der Beweisaufnahme339 – mit anderen Worten: Die Beweisprognose ist mit dem latenten Risiko behaftet, dass sich die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung im Nachhinein als fehlerhaft herausstellt. Teilweise wird daher von einer (unzulässigen) Vorabwürdigung eines noch nicht erhobenen Beweises gesprochen.340 Tritt dieser Fall ein und die Einschätzung des Prozessgerichts stellt sich im Nachhinein als fehlerhaft heraus, soll die fehlerhafte Beweisprognose über eine Anwendung von §  398 Abs.  1 ZPO korrigiert werden.341 Danach steht die Anordnung einer wiederholten Zeugenvernehmung im Ermessen des Prozessgerichts. Eine Verpflichtung zur erneuten Vernehmung sieht die Vorschrift nicht vor. Dennoch ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass in bestimmten Konstellationen die Pflicht zu einer wiederholten Zeugenvernehmung bestehen kann.342 Das pflichtgemäße Ermessen des Prozessgerichts wandelt sich in eine Vernehmungspflicht um.343 In der Literatur wird darauf verwiesen, dass es im Rahmen der Beweisprognose – neben dem Beweisthema und den bisherigen Beweisergebnissen – insbesondere auf die Person des Zeugen ankomme.344 Spielt diese eine besondere Rolle, müsse die Beweisprognose im Zweifel negativ ausfallen.345 Eine solche Interpretation verkennt jedoch die Erkenntnisse der modernen Aussageforschung.346 Wie bereits gezeigt, spielt die Glaubwürdigkeit eines Zeugen für die Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage so gut wie keine Rolle, sondern kann lediglich als „Hilfstatsache für die Glaubhaftigkeit der Aussage“ Bedeutung erlangen. Im Rahmen der Beweiswürdigung muss der Richter aber gerade entscheiden, ob er „eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr“ (§  286 Abs.  1 ZPO) hält. Folglich kann die Bewertung der Beweisprognose nicht maßgeblich von der Glaub- oder Unglaubwürdigkeit eines Zeugen abhängen. Entscheidend für den Wahrheitsgehalt ist der Inhalt einer Aussage. Ein persönlicher Eindruck ermöglicht aufgrund mangelnder Reproduzierbarkeit einer Zeugenvernehmung jedoch erst, dass die Richter den gesamten Aussageinhalt vernehmen können. Die Kritik Bergers trifft somit nicht nur zu, sondern sie muss sogar verschärft werden: Stellt man auf die Ergebnis339 

Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  4; zustimmend Krüger, Unmittelbarkeit, S.  167. Zöller/Greger, 20.  Aufl. 1997, §  375 ZPO Rn.  5. 341  Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  2; Zöller/Greger, §  375 ZPO Rn.  1; Stein/Jonas/ Berger, §  375 ZPO Rn.  4; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  7; BeckOK/ Scheuch, §  375 ZPO Rn.  2; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  167. 342  BGH NJW 1990, 3088; BGH NJW-RR 2002, 1649 (1650). 343  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  167. 344  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  7; Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  2. In der Literatur wird diesbezüglich vielfach auf eine Entscheidung des OLG Köln hingewiesen, wonach die Beweisprognose jedenfalls dann negativ ausfallen muss, wenn von vornherein mit sich widersprechenden Zeugenaussagen zu rechnen ist; OLG Köln NJW-RR 1998, 1143. 345  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  165: „Im Übrigen liegt Entbehrlichkeit des unmittelbaren Eindrucks vor, je weniger es auf die Glaubwürdigkeit der Aussageperson ankommt, sodass – umgekehrt – eine kommissarische Vernehmung ausscheidet, wenn es gerade maßgeblich auf die Beurteilung der Glaubwürdigkeit ankommt.“; ähnlich Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  6. 346  Zum Folgenden siehe oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (2). 340 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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se der Aussageforschung ab, müsste man die allgemeine Voraussetzung „wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“ streng genommen immer ablehnen. Wenn es entscheidend auf den Inhalt einer Aussage ankommt, so steht dieser stets erst nach Abschluss der Vernehmung fest. Ferner kann eine Protokollierung des Aussageinhalts, egal ob schriftlich oder mittels Tonband (§  160a ZPO), keinen vollständigen Ersatz bieten.347 Wenn daher die Auffassung vertreten wird, der Inhalt einer Aussage lasse sich über das Protokoll vollständig festhalten und nur für die Beurteilung der Persönlichkeit eines Zeugen komme es auf einen persönlichen Eindruck an,348 so wird verkannt, dass die Persönlichkeit des Zeugen den Aussageinhalt beeinflusst.349 Ob in diesem Fall eine „sachgemäße“ Würdigung der Zeugenaussage möglich ist, muss stark bezweifelt werden. Aber selbst wenn man allein an der nicht mehr zeitgemäßen Auffassung, welche die Persönlichkeit des Zeugen in den Vordergrund rückt, festhält oder entgegen der modernen Aussagepsychologie dem nonverbalen Verhalten eine große Bedeutung beimisst, ändert sich hieran nichts – im Gegenteil: Die Voraussetzungen der Beweisprognose müssten in jedem Fall verneint werden. Das alles hat zur Folge, dass die kommissarische Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1 ZPO nahezu keinen Anwendungsbereich mehr hätte.350 Die Beweisprognose lässt sich offenbar nur dadurch erklären, dass der Gesetzgeber ausschließlich auf die Glaubwürdigkeit eines Zeugen abstellen wollte. Wenn dem aber so ist, dann hält der Gesetzgeber – gefolgt von Teilen der Literatur – an traditionellen Glaubwürdigkeitskriterien fest, welche nicht mehr dem aktuellen Stand der Aussageforschung entsprechen. Die Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist gerade nicht das geeignetste Instrument zur Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage. Eine andere Deutungsmöglichkeit wäre, dass mit der „Glaubwürdigkeit“ sowohl die Glaubwürdigkeit des Zeugen als auch die Glaubhaftigkeit der Aussage gemeint sein soll. Dann kann man dem Gesetzgeber aber zumindest eine mangelnde Differenzierung vorwerfen. So oder so – die Beweis­ prognose im Rahmen von §  375 ZPO ist mit der modernen Aussageforschung nicht in Einklang zu bringen. (4)  Delegation der Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1a ZPO Die Beweisübertragung nach §  375 Abs.  1a ZPO erfordert ebenso wie §  375 Abs.  1 ZPO eine positive Beweisprognose („wenn von vornherein anzunehmen ist, dass 347 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (2) (c). MünchKommZPO/Deubner, §  349 ZPO Rn.  5, wonach eine Delegation der Beweisaufnahme möglich sein soll, wenn es alleine auf den Inhalt der Aussage ankommt, weil es hierfür keines unmittelbaren Eindrucks bedürfe. 349  Trankell, Realitätsgehalt, S.  98; Bürkle, Richterliche Alltagstheorien, S.  115. 350  Ähnlich zur Beweisprognose PG/Trautwein, §  375 ZPO Rn.  4: „Diese Voraussetzung führt im Ergebnis dazu, dass bei sachgerechter Anwendung §  375 [ZPO] weitgehend leer laufen muss.“; siehe auch BeckOK/Scheuch, §  375 ZPO Rn.  2. 348 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“), sodass auf die diesbezüglichen Ausführungen zu §  375 Abs.  1 ZPO verwiesen werden kann.351 Kumulative Voraussetzung ist, dass die Delegation der Beweisaufnahme zur Vereinfachung der Verhandlung zweckmäßig sein muss. §  375 Abs.  1a ZPO trägt damit dem Gedanken der Prozessökonomie Rechnung.352 Es steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob die Voraussetzungen für eine Beweisübertragung gegeben sind.353 Als Referenz kann insbesondere §  348a Abs.  1 Nr.  1 ZPO dienen: Wird die Entscheidung einem Mitglied des Spruchkörpers als Einzelrichter nicht übertragen, weil der Rechtsstreit gerade besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, wird gleichsam eine Übertragung der Beweisaufnahme nach §  375 Abs.  1a ZPO ausscheiden müssen.354 Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen durch die Vorschrift umfangreiche Beweisaufnahmen – als Beispiel werden Bauprozesse genannt – nicht zwingend vor der gesamten Kammer stattfinden müssen.355 Im Vergleich zu §  375 Abs.  1 ZPO gewährt §  375 Abs.  1a ZPO mehr Spielraum für die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten356 Richter.357 Dies zeigt bereits der Wortlaut („darf […] auch dann übertragen werden, wenn“), welcher weniger streng als sein Pendant („darf […] nur übertragen werden, wenn“) formuliert ist. Problematisch daran ist, dass dieser grundsätzlich einer weiten Auslegung zugänglich ist, sodass letztendlich auch Aspekte der Arbeitsteilung und Arbeitsüberlastung des Gerichts eine Rolle spielen können.358 cc)  Delegation der Beweisaufnahme beim Sachverständigenbeweis (§  402 ZPO) Für den Sachverständigenbeweis enthält die ZPO keine Spezialvorschrift hinsichtlich einer kommissarischen Beweisaufnahme. Über die Verweisungsnorm des §  402 ZPO kommen die Vorschriften über den Zeugenbeweis entsprechend zur Anwendung. Für die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder 351 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  13. 353  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  20; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  42. 354  Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  11. 355  BT-Drucks. 11/8283, S.  47. 356  Eine Übertragung der Beweisaufnahme auf einen ersuchten Richter (§  362 ZPO) ist im Rahmen von §  375 Abs.  1a ZPO nicht möglich. Der Wortlaut spricht nämlich ausdrücklich von einem „Mitglied des Prozessgerichts“; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  12; Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  11. 357  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  120 Rn.  42; siehe auch MünchKomm­ ZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  1 („wesentliche Lockerung des Unmittelbarkeitsprinzips“); Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  1 („zusätzliche Erleichterung“). 358  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  375 ZPO Rn.  13; MünchKommZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  5. 352 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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ersuchten Richter gilt §  375 ZPO entsprechend,359 sodass auf die dortigen Ausführungen verwiesen sei.360 Eine Einschränkung gilt es jedoch zu beachten: Die Funktion des Sachverständigenbeweises besteht darin, dass der Sachverständige durch sein Fachwissen dem Richter die Möglichkeit zur Beurteilung von Tatsachen gibt.361 Eine abweichende Würdigung des Gutachtens ist grundsätzlich schwierig, da es dem Richter selbst an gerade jener erforderlichen Fach- und Sachkenntnis fehlt.362 Ob der Richter von der Glaubwürdigkeit und Sachkunde des Sachverständigen überzeugt ist, lässt sich jedenfalls nur schwer beurteilen, wenn das Gutachten schriftlich erbracht wird. Das schriftliche Gutachten stellt jedoch den Regelfall dar,363 weshalb es sich hierbei um eine Ausnahme zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO handelt – sofern man die Norm im Sinne eines Anwesenheitserfordernisses interpretiert.364 Die Auswahl zwischen münd­ licher und schriftlicher Erstattung des Gutachtens liegt im Ermessen des Gerichts.365 Einen persönlichen und besseren Eindruck von dem Sachverständigen erlangt das Gericht nur bei mündlicher Erstattung des Gutachtens. Nur diese Situation ist mit derjenigen einer kommissarischen Zeugenvernehmung vergleichbar. §  402 ZPO ist daher so zu verstehen, dass eine Anwendung von §  375 ZPO nur möglich ist, wenn der Sachverständige sein Gutachten mündlich erbringt.366 dd)  Delegation der Beweisaufnahme beim Urkundenbeweis (§  434 ZPO) §  434 ZPO regelt die Voraussetzungen, unter denen beim Urkundenbeweis die Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden kann. Kann eine Urkunde wegen erheblicher Hindernisse nicht vorgelegt werden oder erscheint die Vorlage aufgrund ihrer Wichtigkeit und der Besorgnis des Verlustes bedenklich, kann das Prozessgericht eine Delegation der Beweisaufnahme anordnen. Ob die beiden alternativen Voraussetzungen vorliegen, steht im freien Ermessen des Prozessgerichts.367 Um den übrigen Richtern eine möglichst gute Beurteilungsgrundlage zu verschaffen, wird der beauftragte oder ersuchte Richter in der Regel entweder eine beglaubigte Abschrift der Urkunde einbehalten oder seine

359 

Stein/Jonas/Berger, §  402 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  402 ZPO Rn.  96. Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 361  BGH NJW 1993, 1796 (1797); Jäckel, Beweisrecht, Rn.  553. 362  Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  156. 363  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  121 Rn.  46; MünchKommZPO/Zimmermann, §  411 ZPO Rn.  3. 364  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. a). 365  RGZ 69, 371 (377); BGHZ 6, 398 (399) = NJW 1952, 1214; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  121 Rn.  50. 366  MünchKommZPO/Zimmermann, §  402 ZPO Rn.  3; siehe auch Musielak/Voit/Huber, §  402 ZPO Rn.  14, wonach in diesem Fall allenfalls eine entsprechende Anwendung von §  375 Abs.  1a ZPO in Betracht käme. 367  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  434 ZPO Rn.  3; Zöller/Geimer, §  434 ZPO Rn.  2. 360 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Eindrücke hinsichtlich der Echtheit der Urkunde im Protokoll festhalten.368 Eine Protokollierungspflicht besteht jedoch nicht.369 Die Bedeutung einer kommissarischen Beweisaufnahme beim Urkundenbeweis ist gering. Aufgrund ihrer hohen Zuverlässigkeit370 ist eine Beweisaufnahme bei Urkunden oftmals nicht erforderlich, da die Tatsachen meist unstreitig sind.371 Hinzu kommt, dass die formelle Beweiskraft von Urkunden in den §§  415 ff. ZPO gesetzlich geregelt ist,372 sodass eine freie Beweiswürdigung entfällt (§  286 Abs.  2 ZPO). Insofern macht es keinen Unterschied, ob die Beweisaufnahme vor dem Kollegium oder lediglich vor einem beauftragten oder ersuchten Richter stattfindet. Schließlich handelt es sich bei einer Urkunde im Gegensatz zu einem Menschen um ein sachliches Beweismittel. Die in ihr verkörperten Gedanken werden in formalisierter Form wiedergegeben.373 Folglich knüpft §  434 ZPO an Umstände an, welche dem Schutz der Urkunde an sich zugutekommen sollen.374 Relevant ist §  434 ZPO grundsätzlich nur für Privaturkunden, da diese im Original vorgelegt werden müssen. Bei öffentlichen Urkunden reicht die Vorlage einer beglaubigten Abschrift aus (§  435 S.  1 ZPO).375 ee)  Delegation der Beweisaufnahme bei der Parteivernehmung (§  451 ZPO) Bei der Parteivernehmung ist hinsichtlich der kommissarischen Beweisaufnahme §  375 ZPO entsprechend anzuwenden (§  451 ZPO).376 Für die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter gelten daher dieselben (strengen) Anforderungen wie beim Zeugenbeweis.377 Die Parteivernehmung an sich bietet einerseits den Vorteil, dass die Parteien (in der Regel) selbst am prozessrelevanten Geschehen beteiligt waren und hierüber am besten Auskunft geben können.378 Andererseits muss berücksichtigt werden, dass eine Partei – unabhängig davon, ob sie als Kläger oder Beklagter auftritt – ein eigenes Interesse am Ausgang des Prozesses hat379 und gewissermaßen als „Zeuge in eigener Sache“380 auftritt: „Die Partei ist […] das am besten informierte Auskunfts368 

Zöller/Geimer, §  434 ZPO Rn.  2; Stein/Jonas/Berger, §  434 ZPO Rn.  4. BGH DB 1962, 1438; MünchKommZPO/Schreiber, §  434 ZPO Rn.  2. 370  Statt vieler Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  158. 371  Schreiber, Jura 2009, 269 (272). 372  Siehe dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  119 Rn.  17 ff. 373  Döhring, Erforschung, S.  289 f. Zur „Unmittelbarkeit des Urkundenbeweises“ siehe Peters, Rechtsnatur und Beschleunigungsfunktion, S.  123 ff. 374  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  434 ZPO Rn.  1. 375  Musielak/Voit/Huber, §  434 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  434 ZPO Rn.  2. 376  BGHZ 32, 233 (235); Stein/Jonas/Berger, §  451 ZPO Rn.  2. 377  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 378  Lange, NJW 2002, 476; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  123 Rn.  2. 379  Musielak/Voit/Huber, §  453 ZPO Rn.  2; Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  155; Polyzogopoulos, Parteianhörung und Parteivernehmung, S.  64; Brehm, Bindung des Richters, S.  230 f. 380  Jäckel, Beweisrecht, Rn.  661; Braun, Lehrbuch, S.  810. Der Ausdruck „Zeuge in eigener Sache“ darf freilich nicht im wortwörtlichen Sinne verstanden werden. Schließlich gilt für das 369 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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mittel, zugleich aber auch das unzuverlässigste.“381 Der persönliche Eindruck ist daher im Rahmen der Parteivernehmung von besonderer Bedeutung, weshalb eine Vernehmung durch das gesamte Richterkollegium der Regelfall sein sollte.382 Obwohl sich die Parteien im Rahmen der Parteianhörung bereits im Vorfeld zum Prozessstoff äußern konnten,383 bietet die Parteivernehmung die Möglichkeit, durch die Befragung der Parteien den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu ermitteln.384 Aufgrund der evidenten Nachteile der Parteivernehmung ist diese gegenüber den übrigen Beweismitteln der ZPO subsidiär.385 Damit lässt sich zugleich rechtfertigen, dass für die Delegation der Beweisaufnahme auf die strengen Voraussetzungen beim Zeugenbeweis verwiesen wird. ff)  Eidesleistung vor einem beauftragten oder ersuchten Richter (§  479 ZPO) Eine weitere Ausnahme findet sich in §  479 ZPO.386 Danach kann das Prozessgericht anordnen, dass die Eidesleistung eines Zeugen vor einem beauftragten oder ersuchten Richter stattfinden kann. Die Voraussetzungen – der Zeuge ist am Erscheinen vor dem Prozessgericht verhindert oder hält sich in zu großer Entfernung hiervon auf und eine audiovisuelle Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) ist nicht möglich – decken sich mit denjenigen von §  375 Abs.  1 Nr.  2 und 3 ZPO.387 Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist gering: Sie regelt nur den Fall, dass die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht stattgefunden hat und allein die Vereidigung vor einem beauftragten oder ersuchten Richter stattfindet.388 Regelmäßig findet die Vereidigung gleich im Anschluss an die Zeugenvernehmung statt.389

Beweisrecht der ZPO der Grundsatz, dass eine Partei nicht zugleich als Zeuge auftreten kann. Er bezieht sich daher nur auf das vorhandene Eigeninteresse der jeweiligen Partei; siehe dazu Schreiber, Jura 2009, 269 (273) [Fn.  62]. 381  Polyzogopoulos, Parteianhörung und Parteivernehmung, S.  6 4. 382  MünchKommZPO/Schreiber, §  453 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Völzmann-Stickelbrock, §  451 ZPO Rn.  2. 383  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 1. 384  Lange, NJW 2002, 476 (483), welcher auf den „symbolischen Akt des Platzwechsels und die Belehrung über die Verbindlichkeit der Aussage“ hinweist. 385  Polyzogopoulos, Parteianhörung und Parteivernehmung, S.  6 4; Schreiber, Jura 2009, 269 (272 f.); siehe ferner Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  123 Rn.  8 ff. 386  Statt vieler Musielak/Voit/Huber, §  479 ZPO Rn.  1. 387  MünchKommZPO/Schreiber, §  479 ZPO Rn.  3; PG/Trautwein, §  479 ZPO Rn.  2. Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 388  PG/Trautwein, §  479 ZPO Rn.  1; MünchKommZPO/Schreiber, §  479 ZPO Rn.  1; Musielak/ Voit/Huber, §  479 ZPO Rn.  1. 389  Stein/Jonas/Berger, §  479 ZPO Rn.  5; Wieczorek/Schütze/Völzmann-Stickelbrock, §  479 ZPO Rn.  2.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

c)  Sonstige Fälle Neben den bereits genannten Normen gibt es noch weitere Vorschriften, welche zwar nicht als Ausnahmetatbestände von §  355 Abs.  1 ZPO zu verstehen sind, dennoch einen Bezug zu dieser Norm aufweisen. aa)  Verweisung bei Unzuständigkeit (§  281 ZPO) Findet eine Verweisung wegen Unzuständigkeit (§  281 Abs.  1 ZPO) statt, kann dies zu Berührungspunkten mit §  355 Abs.  1 ZPO führen.390 Erklärt sich das angerufene Gericht auf Antrag des Klägers für unzuständig und verweist den Rechtsstreit an das zuständige Gericht, werden die Verfahren vor beiden Gerichten dennoch als Einheit behandelt.391 Fand vor dem verweisenden Gericht bereits eine Beweisaufnahme statt, können deren Ergebnisse direkt von dem neuen Gericht verwertet werden.392 Dies führt dazu, dass die erkennenden Richter des nunmehr zuständigen Gerichts der Beweisaufnahme nicht beigewohnt haben.393 bb)  Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen (§  349 ZPO) §  349 Abs.  1 ZPO regelt die Aufgaben und Befugnisse des Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen, wenn dieser als vorbereitender (Einzel-)Richter tätig wird.394 Ihm obliegt daher die Aufgabe, den Prozess so vorzubereiten, dass er in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erledigt werden kann (§  349 Abs.  1 S.  1 ZPO). Daneben ist er zur Aufnahme von Beweisen befugt, wenn „es für die Beweis­ erhebung auf die besondere Sachkunde der ehrenamtlichen Richter nicht ankommt“ und „die Kammer das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“ (§  349 Abs.  1 S.  2 ZPO). Beide Voraussetzungen müssen kumulativ („und“) vorliegen.395 Bei der zweiten Voraussetzung handelt es sich um dieselbe Beweisprognose, wie sie im Rahmen von §  375 Abs.  1 und 1a ZPO vorgenommen werden muss, sodass auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann.396 Ob beide Voraussetzungen erfüllt sind und der Vorsitzende die Beweisaufnahme durchführen darf, steht in sei390  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  45, wonach §  281 ZPO als eine „Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz“ aufgefasst werden könne; siehe dazu auch Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  73 ff. 391  BGH NJW 1953, 1139 (1140); BGH NJW 1984, 1901. 392  MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  9; ähnlich Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  49. 393  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  45. Eine ähnliche Konstellation kann sich in Fällen der Beweissicherung (§§  485 ff. ZPO) ergeben; Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (443 f.). 394  Der Begriff „Einzelrichter“ wird vom Gesetz bewusst nicht verwendet, um etwaige Verwechslungen mit dem Einzelrichter bei den Landgerichten (§§  348, 348a ZPO) zu verhindern; BT-Drucks. 7/2769, S.  13. 395  MünchKommZPO/Deubner, §  349 ZPO Rn.  5. 396  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3).

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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nem pflichtgemäßen Ermessen.397 Insofern kommt zu den allgemeinen Problemen der Beweisprognose noch ein weiteres hinzu: Im Rahmen von §  375 Abs.  1 und 1a ZPO entscheidet das Kollegium, ob die vorzunehmende Beweisprognose positiv ausfällt. Bei §  349 Abs.  1 S.  2 ZPO trifft diese Entscheidung dagegen der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen allein. Er kann entscheiden, ob er in der Lage ist, die Beweisaufnahme so durchzuführen und das Protokoll so detailliert zu schreiben, dass seiner Meinung nach die gesamte Kammer aufgrund seiner Aufzeichnungen die Zeugenaussage würdigen kann.398 Stellt sich im Nachhinein heraus, dass die Voraussetzungen für die Durchführung der Beweisaufnahme nicht vorlagen, muss die Beweisaufnahme in entsprechender Anwendung von §  398 Abs.  1 ZPO vor der Kammer wiederholt werden.399 Dogmatisch handelt es sich bei §  349 Abs.  1 S.  2 ZPO nicht um eine Ausnahme von §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO. Der Vorsitzende der Kammer für Handelssachen ist kein beauftragter Richter,400 sondern wird als „Prozessgericht in anderer Besetzung“ tätig.401 Die Beweisaufnahme erfolgt daher „vor dem Prozessgericht“ im Sinne von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO.402 Dennoch ist die Situation mit der Übertragung der Beweis­ aufnahme auf einen beauftragten Richter vergleichbar, da die gesamte Kammer abschließend die erhobenen Beweise würdigen muss.403 cc)  Schriftliche Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO) §  377 Abs.  3 S.  1 ZPO ermöglicht dem Gericht – zur Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens404 – die schriftliche Beantwortung einer Beweisfrage anzuordnen, wenn es dies hinsichtlich des Inhalts der Beweisfrage und der Person des Zeugen für ausreichend erachtet. Nur wenn es zur weiteren Klärung der Beweis­ frage erforderlich ist, ordnet das Gericht die Ladung des Zeugen an (§  377 Abs.  3 S.  3 ZPO). Ob eine schriftliche Zeugenaussage angeordnet wird, entscheidet das Gericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen („kann“).405 Entscheidend hierfür sind der „Inhalt der Beweisfrage“406 und die „Person des Zeugen“. Gerade mit der letzten Voraussetzung wird eine Verbindung zur richterlichen Beweiswürdigung 397  BGHZ 40, 179 (182) = NJW 1964, 108 (109); Bergerfurth, NJW 1975, 331 (333); Stein/Jonas/ Bartels, §  349 ZPO Rn.  5; Musielak/Voit/Wittschier, §  349 ZPO Rn.  3. 398  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  43. 399  Zöller/Greger, §  349 ZPO Rn.  4; Stein/Jonas/Bartels, §  349 ZPO Rn.  5. 400  BGHZ 40, 179 (182) = NJW 1964, 108. 401  Bergerfurth, NJW 1975, 331 (335); siehe auch BeckOK/Bach, §  355 ZPO Rn.  6; MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  5. 402  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  41, wonach die Beweisaufnahme „unmittelbar“ sei. 403  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  52 (Fn.  1). Zum weiteren Verfahren, d. h. der anschließenden Verhandlung vor der gesamten Kammer siehe Stein/Jonas/Bartels, §  349 ZPO Rn.  37 ff. 404  BT-Drucks. 11/3621, S.  22. 405  Statt vieler Krüger, Unmittelbarkeit, S.  203 m. w. N. 406  Diesbezüglich wird überwiegend auf die Einfachheit bzw. Kompliziertheit der Beweisfrage abgestellt; siehe dazu Krüger, Unmittelbarkeit, S.  201; Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (140) m. w. N.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

hergestellt, wenn es in der Gesetzesbegründung heißt, dass Angehörige einer Partei regelmäßig nicht schriftlich vernommen werden können.407 Der Anwendungsbereich ist somit auf diejenigen Fälle begrenzt, „in denen das Gericht davon ausgehen kann, daß die schriftliche Beantwortung der Beweisfrage ohne den persönlichen Eindruck des Gerichts vom Zeugen […] ausreichen wird, um die richterliche Überzeugung zu begründen.“408 Ist dies nicht der Fall, muss der Zeuge geladen und persönlich vernommen werden.409 Insgesamt ähneln die Kriterien für die Ermessensausübung bei §  377 Abs.  3 ZPO der allgemeinen Beweisprognose im Rahmen von §  375 Abs.  1 und 1a ZPO.410 Damit offenbart die Regelung ähnliche Schwächen wie die Beweisprognose. Ob ein Zeuge in der Lage ist, sich schriftlich ausdrücken zu können, seine Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit411 – welche nach Ansicht der Literatur ebenfalls berücksichtigt werden müssen –, lassen sich regelmäßig nur im Rahmen einer mündlichen Vernehmung vor Gericht ermitteln.412 Bei strenger Auslegung und unter Zugrundelegung der Wichtigkeit eines persönlichen Eindrucks verbleibt für die Anordnung einer schriftlichen Zeugenaussage kaum mehr ein Anwendungsbereich.413 Hinzu kommt, dass häufig eine erneute Vernehmung des Zeugen (§  377 Abs.  3 S.  3 ZPO) erforderlich sein wird und deshalb die gesetzgeberischen Ziele einer Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens regelmäßig nicht erreicht werden.414 Bei §  377 Abs.  3 ZPO handelt es sich um eine „Aussage in Schriftform“, weshalb die schriftliche Zeugenaussage – allein wegen der systematischen Verortung bei den Vorschriften über den Zeugenbeweis – kein Urkunden-, sondern weiterhin Zeugenbeweis ist.415 Die schriftliche Zeugenaussage stellt eine „vereinfachte Form der Aufnahme des Zeugenbeweises“416 dar. Eine Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter (§  355 Abs.  1 S.  2 ZPO) findet daher nicht statt. Ob die Norm dennoch einen Bezug zur Unmittelbarkeit offenbart,417 hängt 407 

BT-Drucks. 11/3621, S.  38; so auch ausdrücklich Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (141). BT-Drucks. 11/3621, S.  22. Erforderlich wäre daher ein „vollwertiger Ersatz einer Zeugenaussage“; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  31. 409  Hk-ZPO/Eichele, §  377 ZPO Rn.  5. 410  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  202 f. folgert dies aus der Formulierung „Person des Zeugen“; ebenso im Ergebnis Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  64, welche auf den Passus „für ausreichend erachtet“ abstellt; siehe auch Musielak/Voit/Huber, §  377 ZPO Rn.  4, welcher von einer „Beweisprognose“ spricht. 411  Zu den verschiedenen Anforderungen an die „Person des Zeugen“ siehe Zöller/Greger, §  377 ZPO Rn.  8; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  202 m. w. N. 412  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  61; zustimmend Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  129. 413  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (371). 414  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (162). 415  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (139); Krüger, Unmittelbarkeit, S.  200; siehe aus der Kommentarliteratur statt vieler BeckOK/Scheuch, §  377 ZPO Rn 12. 416  Stein/Jonas/Berger, §  377 ZPO Rn.  24; ähnlich Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  32 („besondere Form des Zeugenbeweises“); MünchKommZPO/Damrau, §  377 ZPO Rn.  1. 417  Hierfür nachdrücklich Stadler, ZZP 110 (1997), 137: „Dogmatisch offenbart die Vorschrift des §  377 ZPO in gewisser Weise die Einstellung einer Verfahrensordnung zu Unmittelbarkeit, 408 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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davon ab, welche genauen Anforderungen man an eine Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ stellen will.418 Interpretiert man §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO im Sinne eines Anwesenheitserfordernisses,419 wäre dieses im Falle von §  377 Abs.  3 ZPO nicht erfüllt.420 Die Konsequenz einer schriftlichen Zeugenaussage ist schließlich, dass der Zeuge selbst nicht vor Gericht erscheint.421 Auf einen persönlichen Eindruck von dem jeweiligen Zeugen wird im Rahmen von §  377 Abs.  3 S.  1 ZPO verzichtet.422 Selbiges geschieht zwar auch im Falle einer Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter. Bei einer schriftlichen Zeugenaussage kommt es hingegen zu einer „Steigerung“, da überhaupt kein Richter unmittelbar mit dem Zeugen konfrontiert wird.423 Der fehlende persönliche Eindruck wirkt sich freilich auf die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 ZPO) aus.424 Erst dieser ermöglicht es dem Richter, den Wahrheitsgehalt einer Aussage möglichst genau bestimmen zu können.425 dd)  Verfahren nach billigem Ermessen (§  495a ZPO) Übersteigt der Streitwert die Summe von 600 € nicht, kann das Amtsgericht sein Verfahren nach billigem Ermessen bestimmen (§  495a S.  1 ZPO). Wie der Gesetzeswortlaut zeigt („sein Verfahren“) wird nur eine Abweichung von Vorschriften über Mündlichkeit und Öffentlichkeit des Prozeßgeschehens und ist damit neben anderen Prozeßinstitutionen Maßstab für die Verwirklichung bzw. Durchbrechung dieser Grundsätze.“; siehe ferner Krüger, Unmittelbarkeit, S.  200 ff., 210 ff.; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  58 f.; Pantle, Beweis­ unmittelbarkeit, S.  27 (Fn.  8); Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  38 Rn.  1; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (371); Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  30; Stein/Jonas/ Berger, §  377 ZPO Rn.  24; BeckOK/Scheuch, §  377 ZPO Rn.  13. 418  Ähnlich Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  11. Für eine Ausnahme zu §  355 Abs.  1 ZPO plädieren Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  377 ZPO Rn.  8; Musielak/Voit/Huber, §  377 ZPO Rn.  4; ähnlich LG Gießen MDR 1996, 200 („Abweichung vom Grundsatz der Beweisunmittelbarkeit“). 419  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. a). 420  Keinen Konflikt mit §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO wird dagegen die herrschende Meinung annehmen, wenn diese den Regelungszweck der Vorschrift allein in der Ausschaltung richterlicher Mittelspersonen sieht; siehe Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (144): „Die schriftliche Zeugenaussage kann diesem Gebot der Unmittelbarkeit als Formgestaltung durchaus gerecht werden, wenn das erkennende Gericht ohne Einschaltung einer Mittelsperson von dem Schriftstück Kenntnis nimmt.“. 421  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  200. 422  Statt aller Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  59, 63; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (370 f.); Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  39. 423  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  60. Ferner werden durch §  377 Abs.  3 ZPO die Parteiöffentlichkeit (§  357 ZPO) und das Fragerecht der Parteien (§  397 ZPO) eingeschränkt; Völzmann-­ Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (370 f.); a. A. Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (147), wonach zumindest die Parteiöffentlichkeit durch die Anwesenheit der Parteien bei der Verlesung der schriftlichen Zeugenaussage gewahrt werde. 424  In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass insbesondere die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht beurteilt werden könne; Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (148); Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  31. 425  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (2).

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

den Ablauf des Verfahrens zugelassen.426 Ebenso wenig ist eine Hinwegsetzung über verfahrensrechtliche Vorgaben des Grundgesetzes möglich.427 §  495a ZPO soll daher ganz überwiegend im Rahmen der Beweisaufnahme zur Anwendung kommen und zur Verwirklichung der Prozessökonomie eine Modifizierung der §§  355 ff. ZPO ermöglichen.428 Denkbar ist insbesondere die schriftliche oder telefonische Befragung von Zeugen.429 Hinsichtlich des Verhältnisses der Vorschrift zum Unmittelbarkeitsgrundsatz stellen sich folglich dieselben Fragen wie im Rahmen der soeben erörterten schriftlichen Zeugenaussage nach §  377 Abs.  3 ZPO. ee)  Der vorbereitende Einzelrichter im Berufungsverfahren (§  527 ZPO) Im Berufungsverfahren besteht nach §  527 Abs.  2 S.  2 ZPO die Möglichkeit, dass der vorbereitende Einzelrichter Beweise erhebt. Diese Tätigkeit ähnelt den Befugnissen des Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen (§  349 ZPO).430 Voraussetzung ist, dass die Beweiserhebung zur Verfahrensvereinfachung „wünschenswert“ ist und „von vornherein anzunehmen ist, dass das Berufungsgericht das Beweis­ ergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“. Hier kommt es wieder entscheidend auf die Beweisprognose an, sodass auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann.431 ff)  Amtliche Auskünfte (§§  273 Abs.  2 Nr.  2, 358a S.  2 Nr.  2 ZPO) Die ZPO ermöglicht unter gewissen Voraussetzungen die Einholung von amtlichen Auskünften. Hierunter versteht man „die auf eine Aufforderung des Gerichts hin abgegebene, personenunabhängige Mitteilung einer Behörde über einen aktenkundigen Vorgang oder sonstige Aufzeichnungen.“432 Explizit angesprochen wird diese Möglichkeit in §  273 Abs.  2 Nr.  2 ZPO und in §  358a S.  2 Nr.  2 ZPO. Der Unterschied zwischen beiden Vorschriften besteht darin, dass die Einholung einer amtlichen Auskunft nach §  273 Abs.  2 Nr.  2 ZPO lediglich vorbereitenden Charakter hat,

426 

Stein/Jonas/Berger, §  495a ZPO Rn.  21; MünchKommZPO/Deubner, §  495a ZPO Rn.  13. Siehe dazu Stein/Jonas/Berger, §  495a ZPO Rn.  24 ff.; Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  79 f.; Fricker, Umfang und Grenzen, S.  76 ff. 428  BT-Drucks. 11/4155, S.  10 f.; siehe hierzu Stein/Jonas/Berger, §  495a ZPO Rn.  37 ff.; Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  645 ff.; Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  78 ff. 429  BT-Drucks. 11/4155, S.  11. Im Falle einer schriftlichen Zeugenbefragung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu §  377 Abs.  3 ZPO; siehe hierzu Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (158 f.), wonach zur Absicherung des Anspruchs auf rechtliches Gehör die Voraussetzungen von §  377 Abs.  3 ZPO auch im Rahmen von §  495a ZPO berücksichtigt werden müssten. 430  MünchKommZPO/Rimmelspacher, §  527 ZPO Rn.  8. 431  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). Eine Einschränkung enthält der Wortlaut insofern, als nur „einzelne Beweise“ erhoben werden dürfen. Der BGH geht indes davon aus, dass diese Formulierung einer vollständigen Beweisaufnahme durch den vorbereitenden Einzelrichter nicht entgegensteht; BGH NJW 2013, 2516 (2517 f.). 432  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  122 Rn.  1. 427 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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wohingegen diejenige nach §  358a S.  2 Nr.  2 ZPO eine echte Beweisaufnahme darstellt.433 Wie verhält sich die Einholung amtlicher Auskünfte zu §  355 Abs.  1 ZPO, wonach die Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ erfolgt? Teilweise wird behauptet, dass amtliche Auskünfte §  355 Abs.  1 ZPO – und damit den Unmittelbarkeitsgrundsatz – nicht berühren würden.434 Andere wiederum gehen von einer Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes aus.435 Auf den ersten Blick besteht zu §  377 Abs.  3 ZPO die Gemeinsamkeit, dass ein Behördenmitarbeiter nicht selbst persönlich vor Gericht erscheint, sondern eine schriftliche Auskunft erteilt wird.436 Folglich kann sich das Gericht keinen persönlichen Eindruck von dem jeweiligen Sachbearbeiter verschaffen, was §  355 Abs.  1 ZPO aber gerade ermöglichen will. Koukouselis will daher – zur Stärkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes – im Rahmen des gerichtlichen Ermessens bei §  273 Abs.  2 Nr.  2 ZPO („kann“) dieses dahingehend begrenzen, dass die Einholung einer amtlichen Auskunft nur angeordnet werden dürfe, „wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind und erwartet wird, daß die schriftliche Erklärung der Behörde oder des Beamten ausreicht, um die richterliche Überzeugung auch ohne unmittelbaren Eindruck von diesen Personen zu stützen.“437 Damit würde im Rahmen des gerichtlichen Ermessens dieselbe Beweisprognose wie bei §  375 Abs.  1 und 1a ZPO vorgenommen werden. Da sich Angestellte des öffentlichen Dienstes aber zur gewissenhaften Amtsausübung verpflichtet haben, soll diese Prognose regelmäßig erfüllt sein.438 Wenngleich diese Ausführungen nicht gänzlich unzutreffend sind, so berücksichtigen sie nicht die besondere Eigenart der amtlichen Auskunft. Bei der amtlichen Auskunft handelt es sich der Bezeichnung nach um eine „amtliche“ Auskunft. Dies verlangt zweierlei: Zum einen muss die Auskunft von einer Behörde („Amt“) erteilt werden439 und zum anderen muss der Inhalt der Auskunft amtlicher Natur sein.440 Deshalb sind grundsätzlich nur aktenkundige Tatsachen Gegenstand einer amtlichen Auskunft, nicht hingegen das private Wissen eines Behördenmitarbeiters.441 Es geht 433  Zur Abgrenzung beider Vorschriften siehe Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  64 ff.; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  358a ZPO Rn.  7. 434  Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  130 f. 435  Peters, Freibeweis, S.  121, wonach die Einhaltung der Unmittelbarkeit bei der Einholung amtlicher Auskünfte „ausgeschlossen“ sei; Brüggemann, Judex, S.  376 f.; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  71. 436  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  204. 437  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  74. 438  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  76; ähnlich auch Brüggemann, Judex, S.  375 („erhöhte Glaubwürdigkeit der behördlichen Verlautbarung“); Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  49; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  205 („Vermutung der Glaubwürdigkeit“). 439  Zum Behördenbegriff siehe Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  29 ff.; Sonnemann, Amtliche Auskunft, S.  4 ff. 440  Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  49. 441  Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  50; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  73; Sonnemann, Amtliche Auskunft, S.  8 spricht vom „amtsbekannten Kenntnisstand“ der Behörde.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

um die „Verwertung der Behördenkundigkeit einer Tatsache“442. Folglich kommt der Person des Auskunftserteilenden keine Bedeutung zu. Dieser ist – im Gegensatz zum Zeugenbeweis – beliebig austauschbar.443 Die amtliche Auskunft kann aus diesem Grund entgegen einer verbreiteten Ansicht444 nicht als „Ersatzbeweismittel“ für einen Zeugen (oder Sachverständigen) eingeordnet werden, da bei ihr weder persönliche Eindrücke noch das Fachwissen eines Behördenmitarbeiters wiedergegeben werden.445 Vielmehr ist die amtliche Auskunft dogmatisch als selbstständiges Beweismittel sui generis zu qualifizieren.446 Das Beweismittel ist nicht die auskunftserteilende Person, sondern das Schriftstück. Die amtliche Auskunft ähnelt daher eher einem Urkundenbeweis als einem Zeugenbeweis, wenngleich es sich freilich nicht um einen solchen handelt.447 Auf einen persönlichen Eindruck des Gerichts von einem Behördenmitarbeiter kommt es bei der Einholung einer amtlichen Auskunft nicht an. Insofern ergeben sich im Ergebnis keine Berührungspunkte zu §  355 Abs.  1 ZPO. Untermauert wird dies dadurch, dass die amtliche Auskunft kein förmliches Beweismittel der ZPO darstellt448 und daher nicht dem Strengbeweis, sondern dem Freibeweis unterliegt.449 Die §§  355 ff. ZPO finden somit auf die amtliche Auskunft keine Anwendung. d)  Konsequenzen für die Auslegung von §  355 Abs.  1 ZPO Abschließend lässt sich die vorgenommene (Neu-)Interpretation des Wortlauts und der Systematik von §  355 Abs.  1 ZPO durch weitere Überlegungen verifizieren. Dafür, dass die Norm nicht allein einen Ausschluss richterlicher Mittelspersonen ge442 

Brüggemann, Judex, S.  374. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  122 Rn.  14; Musielak/Voit/Stadler, §  358a ZPO Rn.  9. 444  Peters, Freibeweis, S.  123 ff.; Sonnemann, Amtliche Auskunft, S.  31 ff.; Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  28 (Fn.  8); Musielak/Stadler, Grundfragen, Rn.  30; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  71 f. 445  Zur Abgrenzung der amtlichen Auskunft zu anderen Formen der Auskunftserteilung siehe Sonnemann, Amtliche Auskunft, S.  9 ff. 446  Hierfür auch Brüggemann, Judex, S.  375; Musielak/Voit/Stadler, §  358a ZPO Rn.  9. In der Kommentarliteratur wird überwiegend von einer „Mischung“ beider Ansichten ausgegangen, wenn die amtliche Auskunft als selbstständiges Beweismittel benannt wird, welches einen Zeugenoder Sachverständigenbeweis ersetzen soll; siehe etwa MünchKommZPO/Heinrich, §  358a ZPO Rn.  6; MünchKommZPO/Damrau, §  373 ZPO Rn.  22; BeckOK/Bacher, §  273 ZPO Rn.  8; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, vor §  373 ZPO Rn.  32; Stein/Jonas/Berger, vor §  373 ZPO Rn.  44; Thomas/Putzo/Reichold, §  273 ZPO Rn.  7. Auch die Rechtsprechung tendiert offenbar in diese Richtung; siehe etwa BGHZ 89, 114 (119) = NJW 1984, 438 (439): „Dieses Beweismittel ersetzt die Zeugenvernehmung des in Frage kommenden Sachbearbeiters […].“. 447  Brüggemann, Judex, S.  373. 448  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  122 Rn.  6; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  21 Rn.  4; Wieczorek/Schütze/Ahrens, vor §  373 ZPO Rn.  113. 449  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  122 Rn.  6; a. A. Hohlfeld, Einholung amtlicher Auskünfte, S.  73 ff.; Sonnemann, Amtliche Auskunft, S.  48 ff.; Stein/Jonas/Berger, vor §  373 ZPO Rn.  44; Musielak/Voit/Stadler, §  358a ZPO Rn.  9. 443 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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währleistet, sondern zugleich eine körperliche Anwesenheit der Richter und der Beweismittel erreichen will, sprechen die Regelungen über die Beweisaufnahme vor einem beauftragten oder ersuchten Richter. Zu Recht verweist Glunz in diesem Zusammenhang auf die allgemeine Beweisprognose im Rahmen von §  375 Abs.  1 und 1a ZPO. Wenn eine Übertragung der Beweisaufnahme nur möglich sein soll, „wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, unterstreicht dies gerade die Wichtigkeit eines persön­ lichen Eindrucks. Wenn man §  375 ZPO aber als Ausnahme zu §  355 Abs.  1 ZPO versteht, lässt sich daraus schließen, dass letztere Vorschrift nicht zuletzt einen persönlichen Eindruck des Gerichts von den Beweismitteln intendiert.450 Ein persön­ licher Eindruck des Prozessgerichts ist aber nur bei Anwesenheit aller Mitglieder des Kollegiums sowie der Beweismittel möglich. Neben dieser Spezialregelung sprechen allgemeine Überlegungen für dieses Ergebnis. Die Untersuchung zur Aussageforschung hat gezeigt, dass aus aussagepsychologischer Sicht grundsätzlich ein persönlicher Eindruck von den Beweismitteln erforderlich ist, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage bestimmen zu können.451 Diese Überlegungen korrespondieren schließlich mit dem Willen des historischen Gesetzgebers. Dieser spricht in den Motiven zur Reichs-Civilprozeßordnung ausdrücklich davon, dass eine Beweisaufnahme „vor dem Prozeßgerichte“ eine Konsequenz der freien Beweiswürdigung sei.452 Eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung verlangt einen persönlichen Eindruck, d. h. einen direkten Kontakt mit der jeweiligen Aussageperson. Wenn nun aber – entsprechend dem Willen des Gesetzgebers der CPO – eine Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ diesem Zweck dienen soll, kann daraus nur gefolgert werden, dass §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO eine körperliche Anwesenheit der Richter und der Beweismittel verlangt. e)  Zusammenfassung Die Interpretation des Wortlauts und der Systematik von §  355 Abs.  1 ZPO spricht dafür, das Erfordernis einer Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ (§  355 Abs.  1 S.  1 ZPO) – entgegen der herrschenden Auffassung – als die Forderung nach einer körperlichen Anwesenheit der Richter und der Beweismittel zu verstehen.453 450 

Glunz, Psychologische Effekte, S.  298. Aus diesem Grund nennt Glunz den Aspekt der Aufrichtigkeit sowie die Förderung einer gütlichen Streitbeilegung als weitere Argumente, warum die Unmittelbarkeit als Forderung nach einem persönlichen Kontakt zu verstehen ist. Gerade die Aufrichtigkeit lasse sich nämlich nicht – wie teilweise angenommen – allein durch eine mündliche Interaktion, sondern erst durch eine unmittelbare Konfrontation der Gesprächspartner erreichen; Glunz, Psychologische Effekte, S.  301 ff. 452  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  304. 453  Ebenso Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  10; Glunz, Psychologische Effekte, S.  297 ff.; siehe auch Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  4; a. A. Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  34 in Bezug auf die Beweismittel. 451 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Dies lässt sich durch die Beweisprognose aus §  375 Abs.  1 und 1a ZPO sowie allgemeine Überlegungen zur Aussagepsychologie untermauern. Der Ausschluss richterlicher Mittelspersonen wird dagegen durch §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO geregelt, wobei die ZPO für sämtliche Beweismittel Ausnahmebestimmungen vorsieht und eine kommissarische Beweisaufnahme ermöglicht. Die Voraussetzungen, unter denen eine Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter möglich sind, variieren dabei: Teilweise wird an tatsächliche Voraussetzungen angeknüpft (§  375 Abs.  1 Nr.  1–3 ZPO), teilweise steht die Delegation der Beweisaufnahme im richterlichen Ermessen (§  372 Abs.  2 ZPO) und an anderer Stelle wird auf eine Beweisprognose zurückgegriffen (§§  375 Abs.  1 und 1a, 349 Abs.  1 S.  1, 527 Abs.  2 S.  2 ZPO).454 Auffällig ist, dass die Voraussetzungen einer Übertragung der Beweisaufnahme von der Art und Weise des jeweiligen Beweismittels abhängen. Die Voraussetzungen bei den personellen Beweismitteln (Zeuge, Sachverständiger, Parteivernehmung) sind deutlich strenger als bei den übrigen Beweismitteln. Hier muss neben den tatsächlichen Voraussetzungen von §  375 Abs.  1 Nr.  1–3 ZPO die allgemeine Beweisprognose erfüllt sein. Der personale Bezug der Beweismittel spiegelt sich somit in den erhöhten Anforderungen an die kommissarische Beweisaufnahme wider. Änderungen diesbezüglich ergeben sich erst bei der vorbereitenden Einzelrichtertätigkeit des Vorsitzenden der Kammer für Handelssachen (§  349 Abs.  1 S.  2 ZPO) und im Berufungsverfahren (§  527 Abs.  2 S.  2 ZPO). Auch hier ist eine positive Beweisprognose erforderlich. Allerdings ist der Anwendungsbereich nicht auf die personellen Beweismittel beschränkt, sondern umfasst sämtliche Beweismittel. Nicht ganz in dieses „System“ fügt sich dagegen der Augenscheinsbeweis ein. Dieser wird zwar den sachlichen Beweismitteln zugeordnet,455 erhält jedoch insofern eine personelle Komponente, als der Richter persönlich die zu beweisenden Tatsachen unmittelbar sinnlich wahrnimmt. Die fehlende Vermittlung durch ein Medium wird dadurch relativiert, dass die Übertragung der Beweisaufnahme im freien Ermessen der Richter steht und an keine strengeren Bedingungen geknüpft ist.

4.  Das Verhältnis der Parteien untereinander Von einer „Unmittelbarkeit“ zwischen den Prozessparteien wird man sinnvollerweise nur sprechen können, wenn beide im Rahmen der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme anwesend sind. Von Interesse ist daher die Frage, ob eine Partei die Anwesenheit der Gegenpartei erwirken kann. Für die mündliche Verhandlung ist dies zu verneinen. Hier kann selbst das Gericht das persönliche Erscheinen einer Partei nicht erzwingen, sondern allenfalls über ein Ordnungsgeld sanktionieren 454  455 

Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  14. Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  20 Rn.  2; Döhring, Erforschung, S.  313.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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(§  141 Abs.  1 und 3 ZPO).456 Im Rahmen der Beweisaufnahme kann eine Partei beantragen, die Gegenpartei zu vernehmen (§  445 Abs.  1 ZPO). Liegen die Voraussetzungen hierfür vor, wird die zu vernehmende Partei im Falle ihrer persönlichen Abwesenheit zur Vernehmung geladen (§  450 Abs.  1 S.  2 ZPO). Erscheint die Partei zur Vernehmung nicht, entscheidet das Gericht nach freiem Ermessen, ob die Aussage als verweigert anzusehen ist (§  454 Abs.  1 ZPO). Daraufhin kann das Gericht frei entscheiden, ob es die behaupteten Tatsachen als erwiesen ansehen will (§§  453 Abs.  2, 446 ZPO). Dementsprechend ist es einer Partei weder möglich, die Durchführung einer Vernehmung der Gegenseite, noch deren Anwesenheit zu erzwingen.457 Das Gesetz löst dieses Dilemma, indem es die Weigerung der zu vernehmenden Partei als eine Konstellation einer „Beweiserleichterung bis hin zur Beweislast­ umkehr“ behandelt.458 Verweigert die zu vernehmende Partei die Aussage, wird das Gericht in der Regel von der Wahrheit der behaupteten Tatsachen ausgehen.459 Das persönliche Erscheinen der Gegenpartei kann eine Partei somit weder in der mündlichen Verhandlung noch im Rahmen der Beweisaufnahme erzwingen.460

5.  Das Verhältnis der Beweismittel untereinander Die Frage nach dem Verhältnis der Beweismittel untereinander wird in der Literatur unter dem Stichwort der „materiellen Unmittelbarkeit“ diskutiert. Im Strafprozess spricht man insofern vom „Gedanken des bestmöglichen Beweises“.461 Von „Unmittelbarkeit“ lässt sich in diesem Zusammenhang sprechen, da ein Beweismittel im Vergleich zu einem anderen näher, d. h. „unmittelbarer“ am jeweiligen Beweisthema sein soll. Ein solches Verhältnis kann prinzipiell auf zwei verschiedene Arten ausgestaltet sein: Erstens kann diese Problematik bereits im Stadium der Beweisaufnahme angegangen werden, indem bestimmte Beweismittel ausgeschlossen und dafür andere Beweismittel vorgezogen werden. Zweitens kann man diese Frage zeitlich nach hinten verlagern und erst im Rahmen der Beweiswürdigung aufwerfen. a)  Schriftliche Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO) Die Voraussetzungen einer schriftlichen Zeugenaussage nach §  377 Abs.  3 ZPO wurden bereits beleuchtet. Neben der Tatsache, dass der Zeuge nicht im Gerichtssaal erscheint und es somit an einem persönlichen Eindruck der Richter fehlt, stellt sich die Frage, ob §  377 Abs.  3 ZPO eine Aussage zum Verhältnis von Beweismit456 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 1. Musielak/Voit/Huber, §  446 ZPO Rn.  1. 458  Musielak/Voit/Huber, §  4 46 ZPO Rn.  1. Zu „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislast­ umkehr“ in der Rechtsprechung des BGH siehe Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  291 ff. m. w. N. 459  Stein/Jonas/Berger, §  4 46 ZPO Rn.  7; MünchKommZPO/Schreiber, §  4 46 ZPO Rn.  3. 460  Lange, NJW 2002, 476 (480). 461  Siehe hierzu oben unter §  3 I. 1. a) bb). 457 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

teln trifft. Teilweise wird dies verneint, wenn gesagt wird, §  377 Abs.  3 ZPO stelle nur eine Ausnahme zu §  355 Abs.  1 ZPO und damit zum „formellen Unmittelbarkeitsgrundsatz“ dar. Ein Bezug zur „materiellen Unmittelbarkeit“ soll dagegen nicht bestehen.462 Richtigerweise enthält §  377 Abs.  3 ZPO aber Aspekte, welche einen Bezug zur „materiellen Unmittelbarkeit“ aufweisen.463 Zunächst gilt es zu bedenken, dass eine schriftliche Zeugenaussage gegenüber einer persönlichen Vernehmung bestimmte Nachteile aufweist: Zwar kann auch eine schriftliche Zeugenaussage – wie jede andere Aussage – Fehler enthalten oder unvollständig sein.464 Allerdings besteht keine Möglichkeit in einem persönlichen Gespräch etwaige Fehler, Unvollständigkeiten oder Widersprüche zu klären.465 Folglich wird die schriftliche Zeugenaussage als „Zeugenvernehmung minderer Art“466 bezeichnet und ihr Beweiswert geringer als derjenige einer Vernehmung unter Anwesenheit des Zeugen eingestuft.467 Im Rahmen von §  377 Abs.  3 ZPO wird die persönliche Vernehmung durch die schriftliche Zeugenaussage ersetzt, sodass es sich mit den Worten Stadlers „um das „entferntere“, unzuverlässigere und typischerweise schlechtere Beweismittel“468 handelt. Da Unterschiede im Beweiswert nicht nur zwischen verschiedenen Beweismitteln bestehen können, sondern auch hinsichtlich ein und desselben Beweismittels,469 trifft §  377 Abs.  3 ZPO in der Tat eine Aussage zum „Gedanken des bestmöglichen Beweises“. Zwar wird nicht der „bessere“ Beweis bevorzugt, sondern gerade umgekehrt die Heranziehung des „schlechteren“ Beweises ermöglicht. Dennoch wird jener Gedanke insofern gewahrt, als sich §  377 Abs.  3 ZPO als Ausnahmevorschrift verstehen lässt. Der „Ausnahmecharakter“470 der Norm zeigt sich zum 462  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  27 (Fn.  8); Koch, Schriftliche Zeugenaussage, S.  33; siehe auch Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (145), welche eine Kollision mit der materiellen Unmittelbarkeit verneint, weil bereits die fehlende Geltung eines materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes behauptet wird. 463  So zu Recht Krüger, Unmittelbarkeit, S.  210 ff.; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  53 ff. 464  Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  60; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (371); ferner Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (149), wonach dies auch für wahrheitswillige Zeugen gelte. Die Tatsache, dass der Zeuge sich auf seine „Aussage“ vorbereiten kann und die Möglichkeit hat, genau zu überlegen, was er schreiben soll, wird teils als Nachteil, teils als Vorteil der schriftlichen Zeugenaussage angesehen; siehe dazu Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  60; Wieczorek/Schütze/ Ahrens, §  377 ZPO Rn.  55. 465  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (141). Teilweise wird daher eine audiovisuelle Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) – sofern durchführbar – als vorrangig angesehen; Thomas/Putzo/Reichold, §  377 ZPO Rn.  2. 466  So die Bezeichnung bei Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  88; Stein/Jonas/Berger, §  377 ZPO Rn.  24; ähnlich Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (370). 467  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (149); a. A. Musielak/Voit/Huber, §  377 ZPO Rn.  8; Wieczorek/ Schütze/Ahrens, §  377 ZPO Rn.  55. 468  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (148). 469  Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (146) [Fn.  46]. Dies zeigt sich am Beispiel von §  377 Abs.  3 ZPO sehr deutlich, da es sich trotz der Schriftform der Aussage weiterhin um einen Zeugenbeweis handelt. Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) cc). 470  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  55.

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einen darin, dass das Ermessen des Gerichts nicht frei, sondern pflichtgebunden und vom „Inhalt der Beweisfrage“ und der „Person des Zeugen“ abhängig ist. Zum anderen lässt sich eine Restriktion des Anwendungsbereichs der schriftlichen Zeugen­ aussage daran ausmachen, dass das Gericht die Ladung des Zeugen anordnet, wenn es dies zur weiteren Klärung der Beweisfrage für notwendig erachtet.471 Untermauert werden diese Ausführungen durch einen Vergleich mit §  251 Abs.  1 StPO,472 welcher abweichend von §  250 StPO die Ersetzung der persönlichen Vernehmung durch Verlesung einer Niederschrift über eine Vernehmung oder einer Urkunde, die eine von dem Zeugen stammende schriftliche Erklärung enthält, zulässt. Die §§  250 ff. StPO regeln aber gerade einen „Teilbereich“ des materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Strafprozess.473 b)  Amtliche Auskünfte (§§  273 Abs.  2 Nr.  2, 358a S.  2 Nr.  2 ZPO) Teilweise werden die Vorschriften über die Erteilung amtlicher Auskünfte als Aspekte einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess ausgemacht.474 Der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ verkörpert sich in ihnen jedoch nicht. Die amtliche Auskunft ist ein selbstständiges Beweismittel sui generis. Im Unterschied zu §  377 Abs.  3 ZPO findet keine Ersetzung der persönlichen Vernehmung eines Zeugen durch eine schriftliche Aussage statt. Nicht der Zeuge als Person, sondern das Schriftstück ist bei der amtlichen Auskunft das Beweismittel.475 Die Vorschriften der §§  273 Abs.  2 Nr.  2, 358a S.  2 Nr.  2 ZPO sind damit keine Regelungen, welche eine Aussage über das Verhältnis von Beweismitteln zueinander treffen. c)  Freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) §  286 Abs.  1 ZPO normiert den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, welcher im Schrifttum als eine mögliche Verankerung materieller Unmittelbarkeit ausgemacht wird.476 Der Wortlaut der Norm trifft jedoch keine Aussage zum Verhältnis der Beweismittel untereinander. Insbesondere wird keine Rangfolge der unterschiedlichen Beweismittel aufgestellt. Das Gericht hat vielmehr „nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten sei.“477 Die Richter entscheiden frei, welchen Beweiswert sie 471  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  212, wonach hierdurch die materielle Unmittelbarkeit gewahrt werde. 472  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  210 f. 473  Siehe hierzu oben unter §  3 I. 1. a) bb). 474  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  204. 475  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) ff). 476  Siehe nur Krüger, Unmittelbarkeit, S.  223 ff. m. w. N. 477  Für das Beweismaß verlangt die Rechtsprechung keine „unumstößliche Gewißheit“, sondern stellt auf die subjektive Überzeugung des Richters ab (sog. subjektive Theorie): „Der Richter darf und muß sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

einem Beweismittel im konkreten Fall beimessen wollen.478 Die Art des jeweiligen Beweismittels spielt dabei keine Rolle.479 Demnach kann beispielsweise der Beweiswert eines (nur) mittelbaren Beweises geringer beurteilt werden, als der eines unmittelbaren Beweismittels.480 Entscheidend ist, dass diese Beurteilung nicht zwingend ist: Das Gericht kann den Beweiswert eines mittelbaren Beweises geringer einschätzen, muss es aber nicht.481 Andernfalls würde eine Beweisregel aufgestellt werden, wonach unmittelbare Beweise per se einen höheren Beweiswert aufweisen würden.482 Eine Bindung an Beweisregeln besteht jedoch nur in den gesetzlich bestimmten Fällen (§  286 Abs.  2 ZPO). Die richterliche Freiheit von gesetzlichen Beweisregeln und naturwissenschaftlichen Kriterien führt zum Grundsatz der Gleichwertigkeit der Beweismittel.483 Will man eine (mögliche) materielle Unmittelbarkeit in der ZPO genauso verstehen wie im Strafprozess, muss man einen „Mittelweg“ zwischen den im Schrifttum vertretenen Ansichten einschlagen: Die freie richterliche Beweiswürdigung steht einem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz richtigerweise weder entgegen, noch kann §  286 Abs.  1 ZPO als gesetzliche Verankerung einer (solchen) materiellen Unmittelbarkeit ausgemacht werden. Unzutreffend ist insbesondere die Argumentation von Reichel, welcher bei Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit auf eine negative Beweisregel schließt, wonach die „Nichtverwertbarkeit des mittelbaren Beweismittels […] das Recht des Gerichts auf freie Beweiswürdigung restringierte.“484 Verkannt wird dabei der Unterschied zwischen der Beweiserhebung und der Beweiswürdigung.485 Selbst wenn eine Beweisführung mit mittelbaren Beweismitteln unzulässig wäre, so könnten die zulässigen unmittelbaren Beweise weiterhin frei gewürdigt werden. Gerade der Blick auf den Strafprozess zeigt, dass die freie Beweiswürdigung (§  261 StPO) eine materielle Unmittelbarkeit nicht ausschließt.486 Der Unterschied zwischen beiden Verfahrensordnungen besteht darin, dass im Strafprozess neben die freie Beweiswürdigung auszuschließen.“; BGHZ 53, 245 (256) = NJW 1970, 946 (948) – „Anastasia“; siehe hierzu auch MünchKommZPO/Prütting, §  286 ZPO Rn.  35 ff.; Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  40 f. jeweils m. w. N. 478  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  113 Rn.  1; ebenso Musielak/Voit/Foerste, §  286 ZPO Rn.  9. 479  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  113 Rn.  2; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  59; Koukouselis, Unmittelbarkeit, S.  80. 480  So auch die Vertreter der herrschenden Meinung, wonach eine materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht gelte, sondern die Sachnähe eines Beweismittels zum Beweisthema nur im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung eine Rolle spiele. Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. b). 481  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  61: „Die Untauglichkeit und Unzuverlässigkeit des mittelbaren Beweismittels ist eben keine absolute, sondern nur eine typische Eigenschaft.“; siehe auch Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  229 f. mit Verweis auf BGH NJW 1995, 2856 (2857). 482  Ähnlich Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  59. 483  MünchKommZPO/Prütting, §  286 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  286 ZPO Rn.  28. 484  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  68. 485  Zutreffend Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  59. 486  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  57; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (140) [Fn.  32].

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der Untersuchungsgrundsatz (§  244 Abs.  2 StPO) tritt.487 Das Verhältnis der Beweismittel zueinander ist im Zivilprozess daher nur insofern tangiert, als das Gericht deren Beweiswert unterschiedlich bewerten kann. Hieran ändert sich selbst dann nichts, wenn man wie Krüger die §§  415 Abs.  1, 418 Abs.  3 ZPO in die vorstehenden Überlegungen einbezieht. Aus diesen Vorschriften solle sich ergeben, dass „der Gesetzgeber den Aspekt der [materiellen] Unmittelbarkeit im Rahmen der Beweiswürdigung angesiedelt wissen will.“488 §  418 Abs.  3 ZPO greift im Falle von Urkunden, deren Inhalt nicht auf der eigenen Wahrnehmung der Behörde oder der Urkundsperson beruht. Diese begründen vollen Beweis der in ihnen bezeugten Tatsachen, sofern nach landesrechtlichen Vorschriften vom Erfordernis einer eigenen Wahrnehmung abgesehen werden kann. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass die materielle Unmittelbarkeit im Rahmen der Beweiswürdigung verankert sein soll. Zum einen stellt §  418 Abs.  3 ZPO eine gesetzliche Beweisregel im Sinne von §  286 Abs.  2 ZPO dar.489 Die Beweiswürdigung ist demnach nicht mehr frei – mit anderen Worten: Zu einer richterlichen Würdigung des Urkundenbeweises kommt es nicht.490 Zum anderen ist die Beweiskraft einer Urkunde im Sinne von §  418 Abs.  3 ZPO im Vergleich zu §  415 Abs.  1 ZPO gleich,491 lediglich die Voraussetzungen sind dem Wortlaut nach enger („nur dann anzuwenden, wenn“). Begreift man §  418 Abs.  3 ZPO aufgrund der fehlenden eigenen Wahrnehmung als mittelbares Beweismittel,492 könnte man aufgrund der zusätzlichen Voraussetzungen folgern, dass „dem mittelbaren Beweismittel vom Gesetz größere Skepsis entgegengebracht“493 wird. Dies ändert jedoch nichts daran, dass einer solchen Urkunde die volle Beweiskraft zukommt. Hieran zeigt sich wiederum, dass der Beweiswert eines mittelbaren Beweismittels nicht per se geringer sein muss als der eines unmittelbaren Beweismittels. Schließlich – und dies kann man als letztes Argument gegen eine Verankerung materieller Unmittelbarkeit in §  418 Abs.  3 ZPO anführen – besagt die Vorschrift nichts über die Auswahl der Beweismittel.494 Dies zeigt bereits der Wortlaut von §  418 Abs.  1 ZPO („begründen vollen Beweis“). Damit wird die Beweiskraft angesprochen, welche nicht mehr zum Stadium der Beweisaufnahme zählt. 487  Zum Verhältnis der freien richterlichen Beweiswürdigung zur gerichtlichen Aufklärungspflicht siehe Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  292 f. 488  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  221. 489  Musielak/Voit/Huber, §  415 ZPO Rn.  2; Stein/Jonas/Berger, vor §  415 ZPO Rn.  20. 490  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  221 (zu §  415 Abs.  1 ZPO). 491  Unzutreffend daher Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  418 ZPO Rn.  18, welcher von einer „Beschränkung der Beweiskraft“ spricht. 492  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  55 („indirekte Beweisführung“); Krüger, Unmittelbarkeit, S.  222. 493  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  223; siehe auch Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  418 ZPO Rn.  2 , welcher eine Urkunde im Sinne von §  418 ZPO als ein „gefährliches und […] auch bedenkliches Rechtsinstrument“ bezeichnet. 494  Zutreffend Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  27 (Fn.  8).

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

d)  Delegation der Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis (§  375 Abs.  1 und 1a ZPO) Schlussendlich wird auch durch §  375 Abs.  1 und 1a ZPO das Verhältnis der Beweismittel zueinander nicht berührt. Dennoch finden sich Stimmen, welche von einer „Verschränkung“ von formeller und materieller Unmittelbarkeit ausgehen, wenn gesagt wird, durch §  375 ZPO würde die Heranziehung indirekter Beweismittel begrenzt werden.495 Krüger versteht die allgemeine Beweisprognose („wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“) als Ausdruck materieller Unmittelbarkeit, weshalb das Gericht zum einen bei der Auswahl der Beweise nicht frei sei und zum anderen Originalbeweismittel vom Gesetz höherwertig eingestuft würden als mittelbare Beweismittel.496 Der Wortlaut von §  375 Abs.  1 und 1a ZPO zeigt, dass die Beweisprognose nichts über die Auswahl der Beweismittel aussagt. Vielmehr handelt es sich um eine Norm, welche besondere Voraussetzungen für die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter aufstellt. Es geht mithin um die Frage, ob die Beweisaufnahme delegiert werden darf oder ob das Prozessgericht diese selbst durchführen muss (§  355 Abs.  1 ZPO). Ferner wird verkannt, dass bei einer kommissarischen Beweisaufnahme der Zeuge weiterhin das relevante Beweismittel bleibt und gerade keine Ersetzung stattfindet.497 Nur im Rahmen der Beweiswürdigung – nicht dagegen im Stadium der Beweisaufnahme – wird auf das Vernehmungsprotokoll zurückgegriffen.498 Hierin liegt gerade der Unterschied zu §  377 Abs.  3 ZPO, wo der Zeuge von vornherein nicht persönlich erscheint, sondern seine Aussage in Schriftform erbringt.499 Berücksichtigt man überdies die Kritik und die Probleme an der allgemeinen Beweisprognose, wonach deren Anwendungsbereich nahezu leer läuft, ergäbe sich – unterstellt, die Ansicht Krügers wäre zutreffend –, dass unmittelbare Beweise stets vorgezogen werden müssten. Würde man die kommissarische Zeugenvernehmung als mittelbaren Beweis ansehen, würde die ZPO im Ergebnis einem deutlich strengeren Gebot materieller Unmittelbarkeit unterliegen als die StPO.500 Auch die zweite Schlussfolgerung Krügers hält einer Überprüfung nur bedingt stand. Durch §  375 ZPO wird in erster Linie zum Ausdruck gebracht, dass der persönliche Eindruck als wichtig für die sich an die Beweisaufnahme anschließende Beweiswürdigung empfunden wird.501 Wenn dem so ist, kann man – und so muss 495 

Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  64. Krüger, Unmittelbarkeit, S.  227. 497  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  15. 498  Aus diesem Grund schreibt §  159 Abs.  2 ZPO vor, dass über die Beweisaufnahme ein Protokoll angefertigt werden muss; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  361 ZPO Rn.  25; Stein/Jonas/Berger, §  362 ZPO Rn.  6. 499  Zu §  377 Abs.  3 ZPO siehe oben unter §  5 IV. 3. c) cc). 500  Zur Kritik an der Beweisprognose siehe oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 501  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (2) (d). 496 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

217

Krüger es offenbar verstehen – erst recht annehmen, dass eine persönliche Vernehmung vorzugswürdig gegenüber der Einführung eines Vernehmungsprotokolls aus einem anderen Verfahren ist.502 §  375 Abs.  1 und 1a ZPO kann indes kein Verbot einer solchen Vorgehensweise entnommen werden. Hierfür spricht wiederum §  377 Abs.  3 ZPO. Dort wird die Beweisaufnahme zwar nicht von einem anderen Gericht in einem anderen Verfahren durchgeführt, dennoch sind beide Situationen vergleichbar. In beiden Fällen kann nur auf ein Schriftstück zurückgegriffen werden, ein persönlicher Eindruck existiert nicht. e)  Besondere Verfahrensarten Möglicherweise wird das Verhältnis der Beweismittel untereinander in besonderen Verfahrensarten eigens geregelt. aa)  Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) Die Glaubhaftmachung betrifft sowohl die Beweisaufnahme als auch die Beweiswürdigung, da sie einerseits eine „besondere Form der Beweisführung“ darstellt und andererseits zu einer Beweismaßreduzierung führt.503 Da jegliche Beweismittel herangezogen werden können, ist die Glaubhaftmachung dem Freibeweisverfahren zuzuordnen.504 Insbesondere ist ein Rückgriff auf eine Versicherung an Eides statt möglich (§  294 Abs.  1 ZPO). Nun kann man aufgrund des Wortlauts („auch […] zugelassen werden“) folgern, dass im Umkehrschluss eine eidesstattliche Versicherung im Rahmen des Strengbeweises (§§  355 ff. ZPO) nicht zulässig sein kann.505 Hieraus aber – wie Pantle – ein „punktuelles Verbot mittelbarer Beweismittel“506 abzuleiten, geht indes zu weit. Als Begründung wird angeführt, dass die eidesstattliche Versicherung regelmäßig schriftlich abgegeben werde und dadurch die Vernehmung der ausstellenden Person ersetzt würde.507 Die Schriftform ist jedoch nicht vorgeschrieben, vielmehr kann die Abgabe einer Versicherung an Eides statt mündlich vor dem Gericht erfolgen.508 Die „Mittelbarkeit“ bzw. „Unmittelbarkeit“ würde bei einer solchen Annahme von der jeweils erklärenden Partei abhängen. Insofern kann nicht generell von einem „punktuellen Verbot mittelbarer Beweismittel“ gesprochen werden, da eine klare Festlegung nicht möglich ist. 502  In diesem Fall würde eine Ersetzung des Beweismittels stattfinden, da der eigentliche Zeugenbeweis durch die Einführung des Vernehmungsprotokolls im Wege des Urkundenbeweises ersetzt würde; siehe hierzu BGHZ 53, 245 (257) – „Anastasia“; BGH NJW 1992, 187 (188); BGH NJW-RR 1997, 506. 503  Hk-ZPO/Saenger, §  294 ZPO Rn.  1. Allgemein zu den gesetzlichen Beweiserleichterungen Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  269 ff. 504  Hk-ZPO/Saenger, §  294 ZPO Rn.  6. 505  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  46. 506  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  47. 507  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  47. 508  Stein/Jonas/Leipold, §  294 ZPO Rn.  19; Zöller/Greger, §  294 ZPO Rn.  4.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Eine Tendenz zur materiellen Unmittelbarkeit lässt sich dagegen darin erkennen, dass die Rechtsprechung für den Inhalt einer Versicherung an Eides statt verlangt, dass diese auf eigenen Wahrnehmungen und nicht denen Dritter beruhen muss.509 Rechtfertigen lässt sich dies mit der Reduzierung des Beweismaßes. Für die Glaubhaftmachung ist bereits ausreichend, dass eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Wahrheit der behaupteten Tatsache spricht.510 Von einer „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ kann indes nicht ausgegangen werden, wenn die Behauptung allein auf die Wahrnehmungen Dritter zurückgeführt werden kann. bb)  Urkunden- (§  592 ZPO) und Restitutionsprozess (§  580 Nr.  7b ZPO) Die §§  592 ff. ZPO regeln mit dem Urkundenprozess eine besondere Verfahrensart, deren Ziel es ist, dem Kläger möglichst schnell einen vollstreckbaren Titel geben zu können.511 Erforderlich ist, dass sämtliche zur Begründung des Anspruchs relevanten Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden (§  592 S.  1 ZPO). Der Urkundenbeweis wird somit aufgrund seiner erhöhten Beweiskraft gegenüber anderen Beweismitteln privilegiert.512 Dies führt allerdings nicht nur zu einem Ausschluss der übrigen Beweismittel, sondern zugleich zu einer restriktiven Interpretation des Urkundenbegriffs im Rahmen des Urkundenprozesses.513 Nach herrschender Meinung sind solche Urkunden ausgeschlossen, durch welche andere Beweismittel – insbesondere Zeugen- und Sachverständigenaussagen – ersetzt werden sollen. Andernfalls würde die Privilegierung des Urkundenbeweises dadurch umgangen werden, dass die eigentlich nicht zugelassenen Beweismittel zumindest mittelbar Eingang in das Verfahren fänden.514 Der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ ist im Urkundenprozess daher insofern verwirklicht,515 als unter den Anwendungsbereich der §§  592 ff. ZPO nur „unmittelbare Urkunden“516 fallen. Dieselbe Beschränkung gilt im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens für Urkunden im Sinne von §  580 Nr.  7b ZPO.517 509  BGH NJW 2004, 3491 (3492); siehe ferner Zöller/Greger, §  294 ZPO Rn.  4; Stein/Jonas/ Leipold, §  294 ZPO Rn.  19. 510  BGHZ 156, 139 (142) = NJW 2003, 3558; MünchKommZPO/Prütting, §  294 ZPO Rn.  24 m. w. N. 511  Siehe zu den Besonderheiten des Urkundenprozesses Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  163 Rn.  1 ff. 512  Lembcke, MDR 2008, 1016 (1017). Zu den rechtshistorischen Grundlagen der Beweismittelbeschränkung siehe Peters, Rechtsnatur und Beschleunigungsfunktion, S.  85 ff. 513  Lembcke, MDR 2008, 1016 (1017). 514  BGHZ 173, 366 (370) = NJW 2008, 523 (524); Zöller/Greger, §  592 ZPO Rn.  16; Stein/Jonas/ Berger, §  592 ZPO Rn.  24; Wieczorek/Schütze/Olzen, §  592 ZPO Rn.  42 ff.; Thomas/Putzo/Reichold, §  592 ZPO Rn.  7; Musielak/Voit/Voit, §  592 ZPO Rn.  12; MünchKommZPO/Braun, §  592 ZPO Rn.  16; Lembcke, MDR 2008, 1016 (1017); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  163 Rn.  13; a. A. Peters, Rechtsnatur und Beschleunigungsfunktion, S.  114 ff. 515  In der Literatur wird von einem „Verbot der Verwertung mittelbarer Beweismittel“ gesprochen; Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  48 f. 516  Lembcke, MDR 2008, 1016 (1017). 517  BGHZ 1, 218 (220 f.); MünchKommZPO/Braun, §  580 ZPO Rn.  49 m. w. N.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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f)  Zusammenfassung Der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ kommt in der ZPO nur bedingt zum Ausdruck.518 §  377 Abs.  3 ZPO verwirklicht ihn mit „umgekehrten Vorzeichen“, indem er die Heranziehung des „schlechteren“ Beweises ermöglicht und gerade nicht die Erhebung des „besseren“ Beweises vorschreibt. Der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ lässt sich dagegen im Rahmen der Glaubhaftmachung (§  294 Abs.  1 ZPO) sowie des Urkundenprozesses ausmachen, wobei es sich freilich um besondere Verfahrensarten handelt. Im ordentlichen Verfahren stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Beweismittel zueinander erst im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO), wenn die Richter entscheiden müssen, welchen Beweiswert sie einem bestimmten Beweis zusprechen möchten. Da die richterliche Würdigung frei ist, trifft §  286 Abs.  1 ZPO keine verbindliche Aussage zum Verhältnis der Beweismittel.

6.  Die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung Seit der Neufassung der §§  278, 279 ZPO durch das Zivilprozessreformgesetz von 2001519 findet vor der mündlichen Verhandlung eine obligatorische520 Güteverhandlung statt (§  278 Abs.  2 S.  1 ZPO). Aus der Formulierung des Gesetzeswortlauts („geht […] voraus“) ergibt sich, dass die Güteverhandlung nicht Bestandteil der mündlichen Verhandlung ist.521 Nur daher macht eine kurze Befassung mit dem Verhältnis beider Verfahrensabschnitte Sinn. Dieses ist zeitlich ausgestaltet, indem die mündliche Verhandlung sich an die Güteverhandlung unmittelbar anschließen soll (§  279 Abs.  1 S.  1 ZPO),522 was der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration dient.523 Freilich erfordert dies, dass die Parteien sowohl zur Güteverhandlung als auch zur mündlichen Verhandlung geladen wurden.524 Der obligatorische Charakter der Güteverhandlung setzt sich indes nicht im zeitlichen Verhältnis zur mündlichen Verhandlung fort. Die mündliche Verhandlung „soll“ sich an die Güteverhandlung unmittelbar anschließen. Der Charakter als „Soll-Vorschrift“ und 518  Ebenso Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (664), wonach eine materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess nur eingeschränkt existiere. 519  Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001, BGBl. I, S.  1887. 520  Stein/Jonas/Leipold, §  278 ZPO Rn.  14. 521  Statt vieler Stein/Jonas/Leipold, §  278 ZPO Rn.  40; Zöller/Greger, §  278 ZPO Rn.  6. Anders ist dies im arbeitsgerichtlichen Verfahren. Dort ist die Güteverhandlung Teil der mündlichen Verhandlung, da §  54 Abs.  1 S.  1 ArbGG vorschreibt, dass die mündliche Verhandlung mit der Güteverhandlung „beginnt“; Stein/Jonas/Leipold, §  278 ZPO Rn.  40; zu den Unterschieden zwischen §  278 ZPO und §  54 ArbGG siehe Stickelbrock, JZ 2002, 633 (639 f.). 522  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (60): „In zeitlicher Hinsicht strebt die Zivilprozessordnung Unmittelbarkeit zwischen Güteverhandlung und mündlicher Verhandlung an.“. 523  PG/Geisler, §  279 ZPO Rn.  1; ähnlich Stickelbrock, JZ 2002, 633 (640). 524  Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  3; Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  3.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

§  279 Abs.  1 S.  1 ZPO zeigen, dass eine eventuelle Vertagung der mündlichen Verhandlung im gerichtlichen Ermessen steht.525 Im Zusammenhang mit §  279 Abs.  1 S.  1 ZPO wird stellenweise auf §  272 Abs.  3 ZPO hingewiesen. Die Tatsache, dass die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung so früh wie möglich stattfinden sollen, offenbare eine weitere „zeitliche Dimension“526. Daran ist richtig, dass durch die Vorschrift – ebenso wie bei §  279 Abs.  1 S.  1 ZPO – eine Verfahrensbeschleunigung erreicht werden soll.527 Dennoch sagt sie nichts über das zeitliche Verhältnis von Güteverhandlung und mündlicher Verhandlung an sich aus. Dieses wird allein durch die §§  278 Abs.  2 S.  1, 279 Abs.  1 S.  1 ZPO geregelt.

7.  Die Verhandlung und die Beweisaufnahme §  272 Abs.  1 ZPO bestimmt, dass der Rechtsstreit in der Regel in einem umfassend vorbereiteten Termin zur mündlichen Verhandlung zu erledigen ist.528 Dies hat Konsequenzen für das Verhältnis von (mündlicher) Verhandlung und Beweisaufnahme. a)  Mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme (§  279 Abs.  2 und 3 ZPO) Die Beweisaufnahme soll der mündlichen Verhandlung „unmittelbar folgen“ (§  279 Abs.  2 ZPO), wodurch beide Verfahrensabschnitte in zeitlicher Hinsicht miteinander verknüpft werden.529 Wie der Wortlaut allerdings zeigt, ist diese Verknüpfung nicht zwingender Natur: Die Beweisaufnahme „soll“ der streitigen Verhandlung unmittelbar folgen. §  279 Abs.  2 ZPO beinhaltet als „Soll-Vorschrift“ nur eine grundsätzliche Vorgabe an den Verfahrensablauf. Findet die Beweisaufnahme nicht in unmittelbar zeitlichem Anschluss an die mündliche Verhandlung statt, kann dies richtigerweise nicht von den Parteien angefochten werden. Eine Abweichung von den diesbezüglichen Vorstellungen des Gesetzgebers steht vielmehr im richterlichen Ermessen.530 525 

526 

Foerste, NJW 2001, 3103 (3105); Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  5. Hk-ZPO/Saenger, §  272 ZPO Rn.  1; siehe auch MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO

Rn.  5. 527  MünchKommZPO/Prütting, §  272 ZPO Rn.  27 („Ausfluss des Beschleunigungsgrund­ satzes“). 528  Maßgeblich für diese Entwicklung war die Vereinfachungsnovelle (1976), mit welcher der Gesetzgeber eine Verfahrenskonzentration und -beschleunigung anstrebte. Siehe hierzu oben unter §  4 V. 2. 529  Ähnlich Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  1 („zusammengezogen“). 530  MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO Rn.  19; Wieczorek/Schütze/Assmann, §  279 ZPO Rn.  17; Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  17; siehe auch Kern, ZZP 125 (2012), 53 (58), wonach der Gesetzgeber sich insofern nicht zu einer „strengen Durchführung zeitlicher Unmittelbarkeit“ entschlossen habe.

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

221

Im Anschluss an die Beweisaufnahme hat das Gericht mit den Parteien den Sachund Streitstand und – sofern möglich – bereits das Ergebnis der Beweisaufnahme zu erörtern (§  279 Abs.  3 ZPO).531 Auch hierdurch wird eine zeitliche Verknüpfung von Beweisaufnahme und erneuter Erörterung des Sach- und Streitstandes angestrebt („Im Anschluss“).532 Im Unterschied zu §  279 Abs.  2 ZPO handelt es sich bei §  279 Abs.  3 ZPO um keine „Soll-Vorschrift“, sondern um eine zwingende Vorgabe („hat“). Insgesamt schaffen beide Absätze zusammen die Voraussetzungen dafür, dass der Rechtsstreit entsprechend der Vorgabe des §  272 Abs.  1 ZPO im Haupttermin erledigt werden kann.533 Ohne die komprimierte zeitliche Abfolge von mündlicher Verhandlung, Beweisaufnahme und erneuter Erörterung des Sach- und Streitstandes wäre dies nicht zu erreichen. §  279 ZPO dient damit der Beschleunigung und der Konzentration des Verfahrens.534 b)  Verhandlung nach Beweisaufnahme (§  285 ZPO) Die Parteien haben über das Ergebnis der Beweisaufnahme unter Darlegung des Streitverhältnisses zu verhandeln (§  285 Abs.  1 ZPO). Hier wird erneut ein zeitliches Verhältnis von Beweisaufnahme und mündlicher Verhandlung aufgestellt. Dies ergibt sich zwar nicht direkt aus dem Wortlaut von §  285 Abs.  1 ZPO, jedoch zumindest aus der amtlichen Überschrift („Verhandlung nach Beweisaufnahme“).535 Die Verhandlung der Parteien findet regelmäßig im Rahmen der erneuten Erörterung des Sach- und Streitstandes (§  279 Abs.  3 ZPO) – und damit „vor dem Prozessgericht“536 – statt,537 sodass diese sich unmittelbar an die Beweisaufnahme anschließt.538 §  285 ZPO verwirklicht daher ebenso wie §  279 Abs.  3 ZPO den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.  103 Abs.  1 GG).539 531  Freilich setzt dies die Präsenz der Beweismittel in der mündlichen Verhandlung voraus, da andernfalls die sofortige Durchführung der Beweisaufnahme unmöglich wäre; siehe bereits Baur, Wege zu einer Konzentration, S.  12. Hierzu kann das Gericht im Rahmen der Vorbereitung des Haupttermins Zeugen und Sachverständige zur mündlichen Verhandlung laden (§  273 Abs.  2 Nr.  4 ZPO) oder einen vorbereitenden Beweisbeschluss (§  358a ZPO) erlassen; Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  4. 532  MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO Rn.  18; Wieczorek/Schütze/Assmann, §  279 ZPO Rn.  18; ebenso Siegburg, BauR 2003, 968 (969) mit Hinweis auf die Systematik von §  279 Abs.  2 und 3 ZPO. 533  Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  1. 534  MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO Rn.  3; BeckOK/Bacher, §  279 ZPO Rn.  1. 535  Hk-ZPO/Saenger, §  285 ZPO Rn.  2. 536  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  285 ZPO Rn.  1. 537  Putzo, NJW 1977, 1 (3). 538  MünchKommZPO/Prütting, §  285 ZPO Rn.  1; Thomas/Putzo/Reichold, §  285 ZPO Rn.  1; PG/Laumen, §  285 ZPO Rn.  1; Stein/Jonas/Leipold, §  285 ZPO Rn.  5; BeckOK/Bacher, §  285 ZPO Rn.  5. 539  Statt vieler MünchKommZPO/Prütting, §  285 ZPO Rn.  1, weshalb die Verhandlung nach der Beweisaufnahme eine „Selbstverständlichkeit“ darstelle.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

§  285 Abs.  2 ZPO betrifft die Konstellation, dass die Beweisaufnahme nicht vor dem Prozessgericht stattgefunden hat. In diesem Fall müssen die Parteien das Ergebnis der Beweisaufnahme vortragen. Die Vorschrift besagt zwar nicht ausdrücklich, vor wem dieser Vortrag zu erfolgen hat. Dies kann freilich aber nur das Prozessgericht selbst sein. Hintergrund dieser Regelung ist nämlich die „Besorgniß, daß das Ergebniß der Beweisaufnahme durch die Parteien abweichend von dem Inhalte der Beweisverhandlungen oder unvollständig vorgetragen werden [könnte]“540. Alternativ hätte man sich mit einem Vortrag gegenüber einem Berichterstatter oder einer Protokollverlesung begnügen können, was der historische Gesetzgeber bei der Schaffung der Reichs-Civilprozeßordnung jedoch klar abgelehnt hatte. Nach den Motiven zur CPO würde Ersteres eine zu große Subjektivität mit sich bringen und Letzteres bei komplizierteren Sachverhalten an ihre Grenzen stoßen. Vielmehr garantiere nur der Parteivortrag die „Korrektheit und Vollständigkeit des Vortrags“.541 Der Nachteil, dass bei einer kommissarischen Beweisaufnahme die beweisaufnehmenden und erkennenden Richter personenverschieden sind, wird durch den Vortrag der Parteien vor dem Prozessgericht kompensiert.542 Die erkennenden Richter sind in der Lage, sich selbst einen persönlichen Eindruck vom Ergebnis der Beweisaufnahme zu verschaffen, nachdem sie der eigentlichen Beweisaufnahme nicht beiwohnen konnten. c)  Fortsetzung der mündlichen Verhandlung (§  370 ZPO) Findet die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht statt, ist der Termin, in welchem die Beweisaufnahme stattfindet, zugleich zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung bestimmt (§  370 Abs.  1 ZPO). Selbiges ergibt sich bereits aus §  279 Abs.  3 ZPO, sodass §  370 Abs.  1 ZPO nur dann eine eigenständige Bedeutung hat, wenn für die Beweisaufnahme ein gesonderter Termin anberaumt wurde.543 Die Vorschrift bringt jedoch allgemein zum Ausdruck, dass der Beweis- und der Verhandlungstermin per gesetzlicher Anordnung eine Einheit bilden.544 Die damit erreichte zeitliche Verknüpfung („zur Fortsetzung“) führt wiederum zu einer Verfahrensbeschleunigung.545 Infolgedessen kommt es zu einer Konservierung der Beweis­ aufnahme: Je enger die zeitliche Abfolge ausgestaltet ist, desto präsenter sind die 540 

Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  273. Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  273. 542  In der Kommentarliteratur wird der Sinn und Zweck von §  285 Abs.  2 ZPO daher darin gesehen, dass die Vorschrift die entstehende „Durchbrechung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme abmildern“ soll; MünchKommZPO/Prütting, §  285 ZPO Rn.  7; siehe auch Musielak/Voit/ Foerste, §  285 ZPO Rn.  4; PG/Laumen, §  285 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  285 ZPO Rn.  1. 543  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  370 ZPO Rn.  3; BeckOK/Bach, §  370 ZPO Rn.  2 („lex specia­ lis“); MünchKommZPO/Heinrich, §  370 ZPO Rn.  1. 544  Stein/Jonas/Berger, §  370 ZPO Rn.  1 f.; Thomas/Putzo/Reichold, §  370 ZPO Rn.  1. 545  MünchKommZPO/Heinrich, §  370 ZPO Rn.  1; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  370 ZPO Rn.  2; BeckOK/Bach, §  370 ZPO Rn.  1. 541 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

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Eindrücke von der Beweisaufnahme.546 §  370 Abs.  1 ZPO stellt sicher, dass „aufgrund des unmittelbaren lebendigen Eindrucks der Beweisaufnahme verhandelt und auch entschieden wird.“547 Deshalb muss die Norm im Zusammenhang mit §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO gesehen werden, wonach die Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht stattfindet.548 Darauf weist bereits der Wortlaut („vor dem Prozessgericht“) hin. Schließlich ist es nur konsequent, wenn mit denjenigen Richtern, welche der Beweisaufnahme beigewohnt haben, anschließend über diese mündlich verhandelt wird. Die Verbindung von Beweisaufnahme und mündlicher Verhandlung ist nach dem Wortlaut der Vorschrift („ist […] bestimmt“) nicht zwingend, sodass in bestimmten Konstellationen – beispielsweise bei umfangreichen Beweisaufnahmen – eine Vertagung geboten sein kann, um den Parteien Zeit zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung geben zu können.549 Dies gebietet nicht zuletzt der Anspruch auf rechtliches Gehör.550 d)  Zusammenfassung Das Verhältnis von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme wird durch die §§  279 Abs.  2 und 3, 285, 370 Abs.  1 ZPO bestimmt. Gemäß dem Ziel, den Rechtsstreit in einem Termin zu erledigen (§  272 Abs.  1 ZPO), hat der Gesetzgeber den Ablauf von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme auf einen engen Zeitraum konzentriert.551 Die Vorteile dieser Verfahrensstraffung können mit Putzo folgendermaßen beschrieben werden: „Der Rechtsstreit kann umfassend und konzentriert mündlich verhandelt, Personen und ihre Aussagen können sofort gegenübergestellt werden; der Prozeßstoff ist den Beteiligten vollständig nahe gebracht und gegenwärtig, befähigt sie zur vollständigen, aufklärenden ­Behandlung; die Richter stehen für die Entscheidung unter dem frischen, noch nicht im ­Gedächtnis verbrauchten Eindruck der Tatsachenverhandlung und der rechtlichen Über­ legung.“552

546  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  370 ZPO Rn.  2; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  370 ZPO Rn.  2; MünchKommZPO/Heinrich, §  370 ZPO Rn.  1; Jauernig/Hess, Zivilprozessrecht, §  52 Rn.  21. Nach BeckOK/Bach, §  370 ZPO Rn.  1 werde dadurch die „Effektivität der mündlichen Verhandlung“ gestärkt. 547  Stein/Jonas/Berger, §  370 ZPO Rn.  2. 548  §  370 Abs.  1 ZPO wird im Schrifttum daher entweder als „Ergänzung“ oder als „Gewährleistung“ der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gesehen; siehe MünchKommZPO/Heinrich, §  370 ZPO Rn.  1; Musielak/Voit/Stadler, §  370 ZPO Rn.  2; PG/Lindner, §  370 ZPO Rn.  1. 549  BeckOK/Bach, §  370 ZPO Rn.  6; MünchKommZPO/Heinrich, §  370 ZPO Rn.  2. 550  BGH NJW 2011, 3040. 551  MünchKommZPO/Prütting, §  285 ZPO Rn.  1. 552  Putzo, NJW 1977, 1 (3); ähnlich Lüke, Zivilprozessrecht, Rn.  197; siehe auch Jäckel, Beweisrecht, Rn.  342: „Ein Auseinanderreißen von mündlicher Verhandlung, Beweiserhebung und Verhandlung über das Beweisergebnis birgt die Gefahr von Missverständnissen und zusätzlichen Fehlerquellen.“.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die zeitliche Verknüpfung von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme in erster Linie zu einer Konzentration und Beschleunigung des Verfahrens führt. Hierdurch wird zugleich die anschließende Beweiswürdigung verbessert („Konservierungsfunktion“). Daneben ermöglicht sie, dass alle Beteiligten an jedem Stadium des Verfahrens direkt teilnehmen können und beteiligt sind. Dies wird vor allem bei Betrachtung von §  285 Abs.  2 ZPO deutlich, wo der fehlende persönliche Eindruck aufgrund mangelnder Präsenz aller Richter durch den Vortrag der Parteien über das Ergebnis der Beweisaufnahme kompensiert werden soll. Im genau umgekehrten Fall der Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht ist ein Vortrag der Parteien über das Ergebnis der Beweisaufnahme freilich entbehrlich.553 Gerade dieser Aspekt wird in der Literatur nur unzureichend gewürdigt. Die Gründe hierfür mögen möglicherweise darin liegen, dass dies im Falle einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht (§  355 Abs.  1 S.  1 ZPO) wohl eine „Selbstverständlichkeit“ ist.

8.  Die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung Für die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung stellt sich die Frage, ob sich ein zeitliches Verhältnis dergestalt aufstellen lässt, dass die Beweiswürdigung (unmittelbar) nach der Beweisaufnahme erfolgt.554 Wann genau die richterliche Beweiswürdigung erfolgt, spricht der Wortlaut von §  286 ZPO nicht an. Aus §  285 Abs.  1 ZPO wird jedenfalls gefolgert, dass die Beweiswürdigung nicht im unmittelbaren Anschluss an die Beweisaufnahme stattfinden könne. Schließlich müssen die Parteien zuvor noch über das Ergebnis der Beweisaufnahme unter Darlegung des Streitverhältnisses verhandeln.555 Diese Verhandlung solle die spätere Beweiswürdigung aber nur vorbereiten.556 a)  Meinungsstand zu §  279 Abs.  3 ZPO Möglicherweise lässt sich die gegenteilige Auffassung nunmehr anhand der Neufassung von §  279 Abs.  3 ZPO begründen. Im Zuge des Zivilprozessreformgesetzes557 wurden die §§  278, 279 ZPO dahingehend modifiziert, dass nunmehr im Anschluss an die Beweisaufnahme nicht nur der Sach- und Streitstand mit den Parteien erörtert werden muss, sondern auch „soweit bereits möglich, das Ergebnis der Beweisaufnahme“ (§  279 Abs.  3 ZPO). Aus dieser Formulierung wird teilweise gefolgert, 553 

Stein/Jonas/Leipold, §  285 ZPO Rn.  7. Zum Streitstand siehe oben unter §  5 I. 1. c). 555  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  33. 556  Hk-ZPO/Saenger, §  285 ZPO Rn.  1; Schneider, MDR 2001, 781 spricht daher von einer „Vorstufe zur Beweiswürdigung (§  286 ZPO)“. 557  Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001, BGBl. I, S.  1887. 554 

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

225

dass das Gericht im Rahmen der durch §  279 Abs.  3 ZPO gesetzlich vorgegebenen Erörterung bereits seine eigene Beweiswürdigung mitteilen muss.558 Der Zusatz „Ergebnis der Beweisaufnahme“ könne nur so verstanden werden, dass damit die Bewertung der Beweisaufnahme durch das Gericht gemeint sei. Folglich sei das Gericht verpflichtet, mitzuteilen, ob es die angetretenen Beweise für bewiesen oder für nicht bewiesen hält.559 Nach der Gegenansicht560 könne dieses Ergebnis gerade nicht aus der Formulierung „Ergebnis der Beweisaufnahme“ gewonnen werden. Diese sei vielmehr gleichbedeutend wie in §  285 Abs.  1 ZPO zu verstehen und umfasse nur die Inhalte von Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten. Zur Vermeidung einer unzulässigen Überraschungsentscheidung (§  139 Abs.  2 ZPO) müsse nur über die mögliche Beweiswürdigung durch das Gericht diskutiert werden.561 Nichts anderes ergebe sich aus dem Ausdruck „Erörterung des Sach- und Streitstandes“ sowie aus §  285 Abs.  1 ZPO.562 b) Stellungnahme Wäre die erstgenannte Ansicht zutreffend, ließe sich in der Tat ein unmittelbar zeitliches Verhältnis von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung aufstellen. Wäre das Gericht verpflichtet, bereits seine Beweiswürdigung den Parteien mitzuteilen, würde diese direkt im Anschluss an die Beweisaufnahme erfolgen. Problematisch an der Neufassung von §  279 Abs.  3 ZPO ist indes, dass die Gesetzesmaterialien zum Zivilprozessreformgesetz keine Aufschlüsse über die Absichten des Gesetzgebers geben.563 558  Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  7; Zöller/Greger, §  279 ZPO Rn.  5; Siegburg, BauR 2003, 968 f.; hierfür wohl auch Greger, JZ 2004, 805 (810). 559  Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  7; Siegburg, BauR 2003, 968; hierfür wohl auch Sticken, Materielle Prozeßleitung, S.  114. 560  Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  11; MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO Rn.  8; BeckOK/Bacher, §  279 ZPO Rn.  9; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  14 Rn.  158; hierfür wohl auch Gehrlein, MDR 2003, 421 (423). Siehe zum Ganzen auch Schulz/Sticken, MDR 2005, 1 ff. mit Ausführungen zur Rechtslage vor Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes. 561  Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  11; ferner Gehrlein, MDR 2003, 421 (423), wonach das Gericht nur offenlegen müsse, „in welchem Sinn und mit welchem Ergebnis es die Beweisaufnahme zu würdigen beabsichtigt.“. 562  Schulz/Sticken, MDR 2005, 1 (2). 563  In der Begründung des Regierungsentwurfs heißt es zu §  279 ZPO n. F. lediglich: „Absatz 3 entspricht weitgehend dem bisherigen §  278 Abs.  2 Satz  2 [ZPO]. Die Regelung weist dem Gericht die Aufgabe zu, auch nach durchgeführter Beweisaufnahme den Sach- und Streitstand erneut mit den Parteien zu erörtern und dabei auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. Soweit dies dem Gericht im Anschluss an die Beweisaufnahme bereits möglich ist, soll es hierbei auch das Ergebnis der Beweisaufnahme in die Erörterungen einbeziehen.“; BT-Drucks. 14/4722, S.  84; kritisch daher Schulz/Sticken, MDR 2005, 1 (3): „Wer allerdings eine konkrete Aufhellung über die mit der Neuformulierung verbundenen Absichten des Gesetzgebers durch einen Blick in die einschlägigen Gesetzesmaterialien erhofft, wird enttäuscht.“; darauf ebenfalls hinweisend Greger, JZ 2004, 805 (810).

226

§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Den Kritikern kann zunächst insofern zugestimmt werden, als vor dem Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes weder aus §  278 Abs.  2 S.  2 ZPO a. F. noch aus §  285 Abs.  1 ZPO eine Verpflichtung des Gerichts zur Offenlegung seiner abschließenden Beweiswürdigung abgeleitet wurde.564 Diese Tatsache kann man freilich als Argument heranziehen, indem man auf die gleichlautenden Formulierungen in den §§  285 Abs.  1, 286 Abs.  1 ZPO verweist. Dort ist ebenso wie in §  279 Abs.  3 ZPO vom „Ergebnis der Beweisaufnahme“ die Rede. Demnach sollen sich aus der Neuformulierung von §  279 Abs.  3 ZPO keine Änderungen ergeben haben.565 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht bei der Beweiswürdigung das Ergebnis der Beweisaufnahme zu berücksichtigen hat. Im Rahmen der Beweiswürdigung prüft das Gericht, ob ein Beweis erbracht wurde oder nicht, indem es das Beweisergebnis mit dem Beweisthema vergleicht.566 Nach dem Wortlaut von §  286 Abs.  1 ZPO können das „Ergebnis der Beweisaufnahme“ und die „Beweiswürdigung“ daher eigentlich nicht synonym verstanden werden. Die besseren Argumente sprechen dennoch für die erstgenannte Ansicht. Selbst wenn die Gesetzesmaterialien keine Hinweise auf die Intentionen des Gesetzgebers enthalten, muss sich dieser bei der Überarbeitung der §§  278, 279 ZPO dennoch Gedanken gemacht haben. Andernfalls hätte man für §  279 Abs.  3 ZPO dieselbe Formulierung wie in §  278 Abs.  2 S.  2 ZPO a. F. übernehmen können. Die Änderung und Erweiterung des Wortlauts indiziert daher eine Änderung des Sinn- und Bedeutungsgehalts der Norm. Auch der Verweis darauf, dass in mehreren Normen vom „Ergebnis der Beweisaufnahme“ die Rede ist, vermag die Gegenansicht mit ihrer restriktiven Auslegung nicht zu rechtfertigen. Bereits der Vergleich zwischen §  279 Abs.  3 ZPO und §  285 Abs.  1 ZPO zeigt, dass letztere Vorschrift sich nur an die Parteien, nicht aber an das Gericht wendet.567 Wenn die Parteien über das „Ergebnis der Beweisaufnahme“ zu verhandeln haben, kann damit nicht die Beweiswürdigung gemeint sein. Diese ist eine originäre Aufgabe des Gerichts, woran die Parteiverhandlung nichts zu ändern vermag.568 Versteht man schließlich unter dem „Ergebnis der Beweisaufnahme“ im Sinne von §  279 Abs.  3 ZPO – in Anlehnung an §  285 Abs.  1 ZPO – nur die Inhalte von Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten,569 so steht eine solche Auslegung mit der Einschränkung „soweit möglich“ nicht im Einklang.570 Das Ergebnis der Beweisaufnahme steht schließlich fest, da die Inhalte von etwaigen Aussagen an sich feststehen. Mit den Parteien die Inhalte von Zeugenaussagen zu erörtern, ist grundsätzlich immer möglich – oder anders 564  Siehe hierzu Schulz/Sticken, MDR 2005, 1 (2) m. w. N.; ferner Sticken, Materielle Prozeßleitung, S.  112. 565  MünchKommZPO/Prütting, §  279 ZPO Rn.  8. 566  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  113 Rn.  1. 567  Schließlich besagt §  285 Abs.  1 ZPO, dass die Parteien über das Ergebnis der Beweisaufnahme zu verhandeln haben. 568  Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  38. 569  Stein/Jonas/Leipold, §  279 ZPO Rn.  11; ebenso BeckOK/Bacher, §  279 ZPO Rn.  9. 570  Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  7 (Fn.  4).

IV.  Anknüpfungspunkte und relevante Vorschriften in der ZPO

227

formuliert: Wäre diese Ansicht richtig, müsste es theoretisch Fälle geben, in denen es unmöglich ist, über die Inhalte von Zeugenaussagen zu sprechen. Aus diesen Gründen muss §  279 Abs.  3 ZPO so verstanden werden, dass das Gericht im Rahmen der Erörterung mit den Parteien seine Beweiswürdigung – soweit bereits möglich – offenlegen muss. Für dieses Verständnis spricht nicht zuletzt eine allgemeine Überlegung: Wie bereits dargelegt, wird der Sinn und Zweck der (formellen) Unmittelbarkeit im Schrifttum unter anderem darin gesehen, dass dadurch die Voraussetzungen für die richterliche Beweiswürdigung geschaffen werden.571 Wenn dem so sein soll, dann spricht nichts gegen eine zeitlich unmittelbare Verknüpfung und Abfolge von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung. c)  Zusammenfassung §  279 Abs.  3 ZPO muss so verstanden werden, dass die Beweiswürdigung grundsätzlich im Anschluss an die Beweisaufnahme erfolgt. Insofern besteht zwischen beiden Bezugspunkten eine zeitliche Verknüpfung, wobei diese freilich nicht zwingend und unumgänglich ist. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt „soweit bereits möglich“.572

9.  Die Verhandlung und das Urteil Als letzte Bezugspunkte bieten sich die (mündliche) Verhandlung und das Urteil bzw. die Urteilsfällung an. Von Bedeutung ist insofern §  310 Abs.  1 ZPO,573 wonach das Urteil als „Stuhlurteil“574 entweder in dem Termin, in welchem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, oder in einem sofort anzuberaumenden Termin verkündet wird. Der eigens angeordnete Verkündungstermin muss innerhalb einer Frist von drei Wochen angesetzt werden, es sei denn, wichtige Gründe – insbesondere der Umfang oder die Schwierigkeit der Sache – stehen dem entgegen.575 Die 571 

Siehe hierzu oben unter §  5 I. 3. Sticken, Materielle Prozeßleitung, S.  113; Greger, JZ 2004, 805 (810) sieht darin eine starke Entwertung der Vorschrift. Ob nämlich eine Beweiswürdigung gleich im Anschluss an die Beweis­ aufnahme möglich ist, müssten am Ende immer noch die Richter beurteilen; siehe auch Siegburg, BauR 2003, 968 (969): „Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des §  279 Abs.  3 ZPO ist die dort normierte Erörterungspflicht in bezug auf das ‚Ergebnis der Beweisaufnahme‘ ausdrücklich an die Möglichkeit gekoppelt, die Beweiswürdigung auch unmittelbar abschließend vornehmen zu können.“. 573  Freilich soll §  309 ZPO nicht unerwähnt bleiben. Wenn das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben, so erfährt das Verhältnis von Verhandlung und Urteil hierdurch eine personelle Komponente. §  309 ZPO ist allerdings in erster Linie für die – noch zu beantwortende – Frage nach den Konsequenzen eines Richterwechsels von Bedeutung. Siehe hierzu später unter §  5 V. 4. a) aa). 574  Statt vieler MünchKommZPO/Musielak, §  310 ZPO Rn.  4. 575  Die in §  310 Abs.  1 S.  2 ZPO genannten Gründe sind freilich nicht abschließend, wie bereits der Wortlaut („insbesondere“) zeigt. Die Rechtsprechung hat daher auch die Arbeitsüberlastung 572 

228

§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Verkündung eines „Stuhlurteils“ und die Anberaumung eines Verkündungstermins stehen in einem Alternativverhältnis, wobei die Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten in das pflichtgemäße Ermessen des Richters gestellt ist.576 Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers soll jedoch das „Stuhlurteil“ den Regelfall darstellen.577 Dem Wortlaut der Vorschrift an sich lässt sich eine solche Rangfolge zwar nicht eindeutig entnehmen, jedoch ergibt sich dies aus dem Sinn und Zweck der Regelung. So stellen die Motive zur Reichs-Civilprozeßordnung heraus: „[…] hierfür spricht nicht allein die Rücksicht auf Raschheit des Verfahrens, sondern auch der Umstand, daß eine Garantie für die Güte des Urtheils darin zu finden ist, daß die richterliche Berathschlagung der Verhandlung thunlichst schnell folgt.“578

Der historische Gesetzgeber verfolgte mit dieser Regelung somit zwei Ziele: zum einen eine Beschleunigung des Verfahrens („Raschheit“) und zum anderen eine erhöhte Gewähr für die Richtigkeit („Güte“) des Urteils. Letzteres wird vor allem dadurch erreicht, dass durch die zeitliche Obergrenze von drei Wochen die richterlichen Eindrücke von der mündlichen Verhandlung weiterhin möglichst „frisch“ sind.579 Freilich werden diese Ziele eher erreicht, wenn sich die Verkündung des Urteils direkt an die mündliche Verhandlung anschließt und nicht zeitlich hinausgeschoben wird. Grundsätzlich verlangt §  310 Abs.  1 ZPO daher seinem Sinn und Zweck nach die Verkündung des Urteils direkt im Anschluss an die mündliche Verhandlung.580 Die Urteilsverkündung erfolgt im Regelfall unmittelbar nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung. §  310 Abs.  1 ZPO rückt die mündliche Verhandlung und die Verkündung des Urteils somit in eine zeitliche Beziehung, wobei hierfür eine Obergrenze von drei Wochen besteht.

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Die Betrachtung der verschiedenen Verhältnisse hat gezeigt, dass sich vielerlei Ansatzpunkte für eine „Unmittelbarkeit“ finden lassen.581 Für die Herausbildung des des zuständigen Richters als Grund für eine Verlängerung der dreiwöchigen Frist anerkannt; BVerfG NJW-RR 1993, 253. 576  Hk-ZPO/Saenger, §  310 ZPO Rn.  3; MünchKommZPO/Musielak, §  310 ZPO Rn.  4. 577  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  286: „Der Entwurf legt Werth darauf, daß als Regel die sofortige Verkündung des Urtheils festgehalten werde.“. 578  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  286. 579  PG/Thole, §  310 ZPO Rn.  1; ähnlich Musielak/Voit/Stadler, §  355 ZPO Rn.  4. 580  MünchKommZPO/Musielak, §  310 ZPO Rn.  1; Musielak/Voit/Musielak, §  310 ZPO Rn.  1 („Idealfall“); ebenso BeckOK/Elzer, §  310 ZPO Rn.  5 („Idealfall“); Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, §  310 ZPO Rn.  6; ähnlich Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  204; a. A. Zöller/ Vollkommer, §  310 ZPO Rn.  3, wonach ein „Stuhlurteil“ die Ausnahme bleiben und nur in einfachen Fällen angewendet werden sollte. 581  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (54) spricht zutreffenderweise von einer „Vielfalt möglicher Anknüpfungspunkte von Unmittelbarkeit“.

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

229

Inhalts und der Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gilt es zu berücksichtigen, dass allein die Tatsache, dass man eine Beziehung zwischen zwei Bezugspunkten als „unmittelbar“ bezeichnen kann, für sich genommen nicht ausreicht, um da­ raus Rückschlüsse auf den dogmatischen Gehalt eines solchen Grundsatzes zu ziehen. Entscheidend ist, dass die jeweiligen Beziehungsgeflechte und die daraus abzuleitenden Komponenten des Unmittelbarkeitsgrundsatzes inhaltlich konver­ gieren.

1.  Komponenten eines Unmittelbarkeitsgrundsatzes Die einzelnen Verhältnisse lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen, welche eine personelle, sachliche und zeitliche Komponente aufweisen. a)  Personelle Komponente Einen personellen Bezug weisen die Verhältnisse „Parteien und Gericht“, „Parteien und Beweismittel“, „Beweismittel und Gericht“ sowie „Parteien untereinander“ auf. aa)  Inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede Gemein ist den genannten Verhältnissen zunächst, dass mindestens ein Bezugspunkt stets eine Person, d. h. entweder die Partei(en) oder das Gericht ist. Insofern lässt sich von einem personellen Bezug sprechen. Zudem liegt allen Verhältnissen in inhaltlicher Hinsicht das zentrale Merkmal der „Anwesenheit“ zugrunde:582 Das Verhältnis zwischen den Parteien und dem Gericht ist so ausgestaltet, dass §  128 Abs.  1 ZPO die körperliche Anwesenheit der Parteien in der mündlichen Verhandlung verlangt. Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit, welcher das Verhältnis der Parteien zu den Beweismitteln beschreibt, gewährt den Parteien unter anderem ein Anwesenheitsrecht am Ort der Beweisaufnahme (§  357 Abs.  1 ZPO). Ferner kann beim Verhältnis der Parteien untereinander sinnvollerweise nur danach gefragt werden, ob eine Partei das persönliche Erscheinen der Gegenpartei erzwingen kann. Damit ist nichts anderes als deren Anwesenheit im Rahmen der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme gemeint. Schließlich konnte gezeigt werden, dass eine Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ (§  355 Abs.  1 S.  1 ZPO) im Sinne einer körperlichen Anwesenheit der Beweismittel verstanden werden kann. Diese Gemeinsamkeiten werden nicht dadurch geschmälert, dass zum einen die Anwesenheit der Parteien in der mündlichen Verhandlung nicht erzwungen werden kann,583 und zum anderen, dass die Verwirklichung des Grundsatzes der Partei­ 582  Siehe zum Folgenden oben unter §  5 IV. 1. („Parteien und Gericht“), §  5 IV. 2. („Parteien und Beweismittel“), §  5 IV. 3. („Beweismittel und Gericht“) sowie §  5 IV. 4. („Parteien untereinander“). 583  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 1.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

öffentlichkeit – und damit die Anwesenheit der Parteien bei der Beweisaufnahme – davon abhängt, ob diese von ihrem Teilnahmerecht im konkreten Fall Gebrauch machen.584 Dass die ZPO die nichterschienene Partei mit negativen Konsequenzen belastet, ist vielmehr Ausdruck der grundsätzlichen Wertschätzung ihrer Anwesenheit.585 Generell darf nicht vergessen werden, dass Verfahrensgrundsätze typischerweise niemals vollständig und in reiner Form verwirklicht sind – mit anderen Worten: Die Konkretisierung eines verallgemeinerungsfähigen Gedankens zu einem Verfahrensgrundsatz kann nicht bereits daran scheitern, dass dieser nicht lückenlos im Gesetz verwirklicht ist.586 Insofern hat sich gezeigt, dass der Grundsatz des §  355 Abs.  1 ZPO mit Ausnahmen versehen ist.587 Eine Zusammenfassung der genannten vier Verhältnisse zu einem Verfahrensgrundsatz ist daher prinzipiell möglich. bb)  Verknüpfung der personellen Verhältnisse Verstärkt würde dies, sofern sich die personellen Verhältnisse miteinander verknüpfen bzw. verschränken lassen. (1)  Zur Geltung des Mündlichkeitsgrundsatzes im Rahmen der Beweisaufnahme Denkbar wäre zunächst eine Verschränkung von §  128 Abs.  1 ZPO und den §§  355 ff. ZPO. Die Frage, ob der Mündlichkeitsgrundsatz im Sinne einer „Beweismündlichkeit“588 im Rahmen der Beweisaufnahme gilt, ist umstritten. Teilweise wird dies unter Hinweis auf diverse Vorschriften (§§  394 Abs.  1, 396, 402 und 411 ZPO) bejaht. Insbesondere wird der Wortlaut von §  394 Abs.  1 ZPO angeführt, wonach Zeugen „zu vernehmen“ sind.589 Dies entspricht den Vorstellungen des historischen Gesetzgebers, welcher die Art und Weise der Zeugenvernehmung als Konsequenz des Mündlichkeitsgrundsatzes begriff.590 Indes ist die Argumentation anhand des Wortlauts von §  394 Abs.  1 ZPO nicht verallgemeinerungsfähig. Sie stößt bei den sachlichen Beweismitteln an ihre Grenzen, da eine „Vernehmung“ einer Urkunde oder eines Augenscheins nicht denkbar ist. Die Tatsache, dass bei einer Zeugenvernehmung die Mündlichkeit verwirklicht 584 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 2. Ähnlich Kern, ZZP 125 (2012), 53 (59 f.). 586  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. c). 587  Gemeint sind damit sowohl die Ausnahmen zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, wonach grundsätzlich die körperliche Anwesenheit der Beweismittel erforderlich ist, als auch diejenigen zu §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO, welche eine Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter ermöglichen. 588  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  19. 589  Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (388); Reichel, Unmittelbarkeit, S.  50; Nagel, Grundzüge, S.  57 ff.; ähnlich Dreymüller, Zeugenbeweis, S.  9, wonach über den Unmittelbarkeitsgrundsatz „Elemente der Mündlichkeit auch im Beweisrecht“ erkennbar seien. 590  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  315: „[D]er Natur des mündlichen Verfahrens entsprechend hat der Zeuge […] ohne Benutzung eines schriftlichen Entwurfs mündlich auszusagen.“. 585 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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wird, liegt allein in der Natur des Beweismittels. Im Übrigen zeigt sich am Beispiel von §  377 Abs.  3 ZPO, dass die Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis nicht zwangsläufig eine Mündlichkeit bewirkt. In diesem Fall wird die Aussage gerade nicht mündlich, sondern schriftlich erbracht. Schließlich spricht die zeitliche Abfolge des Haupttermins und der Wortlaut der hierfür relevanten Normen – §  279 Abs.  2 ZPO („soll […] folgen“) und §  370 Abs.  1 ZPO („zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung bestimmt“) – gegen einen Grundsatz der „Beweismündlichkeit“.591 Im Einklang mit der herrschenden Auffassung ist die Beweisaufnahme nicht Teil der mündlichen Verhandlung.592 Der Mündlichkeitsgrundsatz gilt für die Beweisaufnahme folglich nicht. (2)  Konkretisierung des Anwesenheitserfordernisses Es lassen sich jedoch Verknüpfungen anderer Art zwischen den untersuchten Verhältnissen ausmachen, wodurch das Anwesenheitserfordernis näher konkretisiert werden kann. (a)  Die Parteiöffentlichkeit als „Seitenstück“ zur (formellen) Unmittelbarkeit Überschneidungen zeigen sich bei Betrachtung der Verhältnisse „Parteien und Beweismittel“ und „Beweismittel und Gericht“. Die Beziehung der Parteien zu den Beweismitteln wird durch den Grundsatz der Parteiöffentlichkeit näher ausgestaltet, welcher ein Teilnahmerecht in Form eines Anwesenheits- und Fragerechts gewährt.593 Dieses führt konsequenterweise dazu, dass die Parteien ebenso wie das Prozessgericht mit den Beweismitteln konfrontiert werden. Es besteht nicht nur ein „Näheverhältnis“ der Beweismittel zum Gericht, sondern auch zu den Parteien.594 In der Literatur wird die Parteiöffentlichkeit daher als „Seitenstück“ zum (formellen) Unmittelbarkeitsgrundsatz bezeichnet.595 Entscheidend für die Verwirklichung des Teilnahmerechts ist freilich die Ausübung des Anwesenheitsrechts. Andernfalls können die Parteien von ihrem Fragerecht (§  397 ZPO) keinen Gebrauch machen. Auch bei den sachlichen Beweismitteln entsteht ein „Näheverhältnis“ nur im Falle der Anwesenheit der Parteien. Wenn die Parteien entscheiden können, ob sie von 591  Siehe BeckOK/von Selle, §  128 ZPO Rn.  6, wo zudem mit Hilfe eines Umkehrschlusses aus §  367 Abs.  1 ZPO argumentiert wird. 592  Kip, Mündlichkeitsprinzip, S.  90; Arens, Mündlichkeitsprinzip, S.  17 f., 27; Pantle, Beweis­ unmittelbarkeit, S.  19 ff.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  290 f.; MünchKommZPO/Wagner, §  128 ZPO Rn.  6; BeckOK/von Selle, §  128 ZPO Rn.  6; PG/Prütting, §  128 ZPO Rn.  8. Mit der mündlichen Verhandlung ist hier die mündliche Verhandlung im engeren Sinne gemeint. Diese kann man auch weiter fassen und hierunter den Haupttermin als Verhandlung über den Rechtsstreit als solchen verstehen; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  79 Rn.  20. 593  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 2. 594  Stein/Jonas/Berger, §  357 ZPO Rn.  1; Glunz, Psychologische Effekte, S.  327; VölzmannStickel­brock, ZZP 118 (2005), 359 (369). 595  Stein/Jonas/Berger, §  357 ZPO Rn.  1.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

ihrem Recht Gebrauch machen wollen oder nicht, muss sichergestellt werden, dass dieses Recht tatsächlich ausgeübt werden kann. Umgekehrt lässt sich daher formulieren, dass das Teilnahmerecht der Parteien nur dann seinen Zweck entfalten kann, wenn die Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme körperlich anwesend sind596 – mit anderen Worten: Die Existenz der Parteiöffentlichkeit spricht für die vorgenommene Auslegung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, wonach grundsätzlich die körperliche Anwesenheit der Beweismittel erforderlich ist.597 (b)  Der „Vorhangsfall“ aus dem älteren Schrifttum Schließlich ist nochmals auf den bereits angesprochenen fiktiven Gerichtsfall aus dem älteren Schrifttum zurückzukommen, in welchem die Richter auf der einen Seite und die Parteien und Beweismittel auf der anderen Seite durch einen Vorhang voneinander getrennt sind. Wenngleich der „Vorhangsfall“ in erster Linie für die Abgrenzung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit herangezogen wurde,598 lässt sich ihm dennoch eine Aussage zur Unmittelbarkeit entnehmen. Gerade ein Vergleich zwischen den Befürwortern eines personellen Zwischengliedes und denjenigen eines sachlichen Zwischengliedes ergibt folgenden Befund: Bei geschlossenem Vorhang kämen diejenigen Stimmen, welche für die Durchbrechung der (formellen) Unmittelbarkeit das Dazwischentreten einer (richterlichen) Mittelsperson fordern, zu dem Ergebnis, dass die Verhandlung sowohl mündlich als auch unmittelbar ist. Schließlich tritt keine dritte Person zwischen die Richter und die Parteien bzw. die Beweismittel. Die Gegenansicht würde ebenfalls die Mündlichkeit bejahen, nicht hingegen die Unmittelbarkeit, da sich mit dem Vorhang ein sachliches Zwischenglied zwischen die Verfahrensbeteiligten schiebt. Wird der Vorhang entfernt, würde letztere Ansicht nunmehr von einer Unmittelbarkeit des Verfahrens ausgehen, welches nach wie vor mündlich ist. Bei der strengeren Ansicht würden sich dagegen keinerlei Änderungen ergeben. Da nur personelle Zwischenglieder relevant sein sollen, wäre das Verfahren weiterhin sowohl mündlich als auch unmittelbar – kurzum: Die Parameter „mündlich“ und „unmittelbar – mittelbar“ ändern sich nicht, obwohl mit dem Entfernen des Vorhangs eine völlig neue und gänzlich andere Situation geschaffen wurde als zuvor. Folglich kann die Abgrenzung von Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit nicht von der Beschaffenheit des jeweiligen Zwischengliedes abhängig gemacht werden.599 Eine Restriktion des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auf 596 

Glunz, Psychologische Effekte, S.  327. Interessanterweise zeigen sich hierzu gewisse Widersprüche in der Literatur. So sieht namentlich Völzmann-Stickelbrock den Sinn und Zweck der Parteiöffentlichkeit darin, dass diese die Parteien „in die gleiche ‚Nähe‘ zum Beweismittel wie das Gericht“ bringen soll. Andererseits wird hinsichtlich des (formellen) Unmittelbarkeitsgrundsatzes der herrschenden Meinung gefolgt und diese darauf reduziert, dass allein eine Vermittlung durch richterliche Mittelspersonen verhindert werden soll; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (368 f.). 598  Siehe hierzu oben unter §  5 I. 2. 599  Siehe dazu Glunz, Psychologische Effekte, S.  299, welcher mit einer anderen Begründung 597 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein eines personellen Zwischengliedes vermag – entgegen der herrschenden Auffassung – nicht zu überzeugen.600 Der „Vorhangsfall“ betrifft schließlich sowohl die mündliche Verhandlung als auch die Beweisaufnahme. Es macht keinen Unterschied, ob der Vorhang die Richter von den Parteien oder den Beweismitteln trennt. Insofern lässt sich eine Verknüpfung der Verhältnisse „Parteien und Gericht“ und „Beweismittel und Gericht“ ausmachen. (c) Zwischenergebnis Die personellen Verhältnisse weisen als gemeinsames Charakteristikum die Anwesenheit der Parteien und der Beweismittel auf. Die Wechselwirkungen der verschiedenen Verhältnisse haben die bereits vorgenommene Auslegung von §  355 Abs.  1 ZPO bestätigt. §  355 Abs.  1 ZPO will nicht nur personelle Zwischenglieder in Form von richterlichen Mittelspersonen ausschließen, sondern verlangt darüber hinaus die körperliche Anwesenheit der Richter und der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme. (3)  Sinn und Zweck der Anwesenheit Die Wechselwirkungen des Anwesenheitserfordernisses zum Grundsatz der freien Beweiswürdigung liegen auf der Hand. Durch die Anwesenheit der Parteien und der Beweismittel kommt es zu einem direkten Kontakt mit dem Prozessgericht. Die Wichtigkeit eines persönlichen Eindrucks der Richter von den Beweismitteln im Rahmen der Beweisaufnahme ist bereits herausgearbeitet worden.601 Nichts anderes gilt für die mündliche Verhandlung. Dies zeigt sich daran, dass das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung nicht nur das Ergebnis einer etwaigen Beweisaufnahme, sondern auch den gesamten Inhalt der Verhandlungen berücksichtigen muss (§  286 Abs.  1 ZPO).602 Hierzu gehört neben dem Verhalten der Parteien auch der persönliche Eindruck des Gerichts hiervon,603 wobei die Kriterien für die Würdigung des Parteiverhaltens denjenigen für die Zeugenvernehmung ähneln.604 Die aus der Anzu demselben Ergebnis gelangt. Danach sollen sich die unterschiedlichen Zwischenglieder nur in gradueller, nicht aber in prinzipieller Hinsicht auf die Wahrheitsfindung auswirken. 600  Dafür, dass es auf eine Vermittlung durch eine richterliche Mittelsperson nicht ankommen kann, spricht auch die Tatsache, dass der Sachverhalt dem Richter stets vermittelt wird, da er dem relevanten Geschehen niemals beigewohnt hat; Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  39 f.; ähnlich Hellwig, Der Gerichtssaal 82 (1914), 403 (410 f.). 601  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (2). 602  Teilweise wird daher der Begriff der „Verhandlungswürdigung“ dem der „Beweiswürdigung“ vorgezogen; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  286 ZPO Rn.  9; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  15 Rn.  9; siehe ferner Glunz, Psychologische Effekte, S.  315; Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  265. 603  Musielak/Voit/Foerste, §  286 ZPO Rn.  2; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  286 ZPO Rn.  10, 12. 604  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  286 ZPO Rn.  11; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  15 Rn.  11.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

wesenheit resultierende Personalität erleichtert folglich die freie richterliche Beweiswürdigung. Freilich weist die hier vertretene Ansicht Parallelen zum Verständnis der herrschenden Meinung von der formellen Unmittelbarkeit auf – ohne mit ihr deckungsgleich zu sein. Die weiteren Vorteile der Anwesenheit korrespondieren insofern mit denjenigen der formellen Unmittelbarkeit.605 b)  Sachliche Komponente Als sachliche Komponente – im Schrifttum als „materielle Unmittelbarkeit“ betitelt606 – kann das Verhältnis der Beweismittel untereinander bezeichnet werden. Zwar ist es durchaus möglich, dass ein personales Beweismittel – und damit eine Person – als einer der beiden Bezugspunkte auftritt. Im Gegensatz zu den zuvor behandelten personellen Verhältnissen ist dies jedoch nicht generell der Fall. aa)  Materielle Unmittelbarkeit und freie Beweiswürdigung Die Frage nach dem Verhältnis der Beweismittel stellt sich im Zivilprozess erst im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO). Eine gewisse Ausnahme hiervon bildet die schriftliche Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO). Dort wird allerdings nicht der „bessere“ Beweis bevorzugt, sondern gerade umgekehrt die Heranziehung eines „schlechteren“ Beweises ermöglicht.607 Die sachliche Komponente weist damit – zumindest prinzipiell – ebenso wie die personelle Komponente eine Verbindung zur richterlichen Beweiswürdigung auf. Diese Verbindung ist indes schwacher Natur: Zum einen kann §  286 Abs.  1 ZPO nicht als Ver­ ankerung einer materiellen Unmittelbarkeit gesehen werden und zum anderen trifft die Norm keine verbindliche Aussage zum Verhältnis der Beweismittel.608 (1)  Die Ansicht Krügers: Materielle Unmittelbarkeit als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung Eine Wechselwirkung der sachlichen Komponente zur freien richterlichen Beweiswürdigung kann dennoch nicht geleugnet werden. Für das Strafprozessrecht hat daher Krüger jüngst die materielle Unmittelbarkeit dogmatisch als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung eingeordnet.609 Krüger unterscheidet dabei – dem BGH terminologisch folgend610 – zwischen absoluten und relativen Erfahrungssätzen. Bei Letzteren soll es sich um Einsichten handeln, „die zwar allgemei605 

Siehe hierzu oben unter §  5 I. 3. Die sachliche Komponente ist begrifflich an das österreichische Recht angelehnt. Dort wird der im deutschen Recht verwendete Begriff der „materiellen Unmittelbarkeit“ als eine Komponente der „sachlichen Unmittelbarkeit“ verstanden. Siehe hierzu oben unter §  3 II. 1. a) bb). 607  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 5. a). 608  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 5. c). 609  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  279 ff., 286 ff. 610  BGH StV 1993, 572. 606 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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ner Lebenserfahrung entsprechen, denen aber ein bestimmtes wissenschaftlich begründbares Maß an Wahrscheinlichkeit nicht zukommt.“611 Die materielle Unmittelbarkeit soll einen solch relativen Erfahrungssatz darstellen. Er wirke sich auf die Beweiswürdigung insofern aus, als mittelbaren Beweisen regelmäßig ein geringerer Beweiswert zukomme als unmittelbaren Beweisen.612 Zur Begründung beruft sich Krüger auf eine Entscheidung des BGH zum Beweiswert einer Aussage eines Zeugen vom Hörensagen: „Bei einem Zeugen vom ‚Hörensagen‘ besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer ist der Beweiswert der Aussage. […] Es bedarf daher sorgfältigster Überprüfung der von den Vernehmungsbeamten wiedergegebenen Aussagen solcher Gewährsleute.“613

Da der Beweiswert einer solchen Zeugenaussage davon abhänge, dass die Bekundungen des Zeugen vom Hörensagen durch „andere wichtige Gesichtspunkte“ verifiziert wurden,614 weise nach Krüger die materielle Unmittelbarkeit die typischen Eigenschaften eines relativen Erfahrungssatzes auf.615 (2)  Stellungnahme Problematisch ist bereits der Ausgangspunkt der Argumentation. Da Krüger die materielle Unmittelbarkeit als Verfahrensgrundsatz verstehen will, stellt er konsequenterweise zuvor die Frage, ob Verfahrensgrundsätze generell auf Erfahrungssätzen beruhen können. Krüger bejaht dies, da sowohl Verfahrensgrundsätze als auch Erfahrungssätze dem positiven Recht in zeitlicher, begrifflicher und logischer Hinsicht vorgelagert seien.616 Insofern wird von einem Verständnis der Verfahrensgrundsätze ausgegangen, welches diese als a priori vorgegebene Prinzipien behandelt.617 Richtigerweise besitzen Verfahrensgrundsätze jedoch keinen a priori-Charakter und können nicht als Prämissen vorausgesetzt werden. Sie sind dem positiven Recht nicht vorgelagert, sondern ergeben sich erst aus diesem.618 Die These Krügers basiert insofern auf einer unzutreffenden Grundannahme. Im Kern ist seine Ansicht jedoch grundsätzlich zustimmungswürdig. Sie deckt sich ferner mit der herrschenden Auf611 

Krüger, Unmittelbarkeit, S.  285. Krüger, Unmittelbarkeit, S.  286 ff. 613  BGHSt 17, 382 (385 f.) = NJW 1962, 1876 (1877); ähnlich BGHSt 1, 373 (376): „Daß seine Bekundungen oft nur einen geringeren Wert haben werden als die Aussage eines unmittelbaren Zeugen, ist eine Frage der Beweiswürdigung und hat mit der Zulässigkeit seiner Vernehmung nichts zu tun.“. 614  BGHSt 17, 382 (386) = NJW 1962, 1876 (1877); siehe auch BVerfGE 57, 250 (292) = NJW 1981, 1719 (1725); BVerfG NJW 1992, 168; BVerfG NJW 1996, 448 (449). 615  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  288 f. 616  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  282. 617  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  27 ff., 283. 618  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. d). 612 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

fassung im zivilprozessualen Schrifttum, wonach die Sachnähe eines Beweismittels zum jeweiligen Beweisthema eine Frage der Beweiswürdigung sein soll.619 Die Lösung kann folglich nur darin liegen, dass man einerseits die materielle Unmittelbarkeit im Sinne eines Verhältnisses der Beweismittel zueinander als einen Erfahrungssatz für die Beweiswürdigung begreift und andererseits diese nicht als Verfahrensgrundsatz der ZPO anerkennt. Das Gericht hat die Möglichkeit im Rahmen der Beweiswürdigung den Beweiswert eines mittelbaren Beweises geringer als denjenigen eines unmittelbaren Beweises zu beurteilen.620 Freilich darf man einen solchen Erfahrungssatz nicht mit denjenigen Erfahrungssätzen gleichsetzen, welche im Rahmen des Anscheinsbeweises (prima facie-Beweis) zu berücksichtigen sind.621 Schließlich ist – worauf Rohwer zutreffend hinweist – die bestehende Unzuverlässigkeit im Vergleich zu unmittelbaren Beweisen zwar ein typisches, nicht aber absolutes Charakteristikum von mittelbaren Beweisen.622 bb)  Materielle Unmittelbarkeit als Grundsatz für besondere Verfahrensarten? Damit bleibt die Frage, ob man eine materielle Unmittelbarkeit nicht als (Verfahrens-)Grundsatz für besondere Verfahrensarten anerkennen will. Immerhin hat sich gezeigt, dass im Rahmen der Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) sowie beim Urkunden- (§  592 ZPO) und Restitutionsprozess (§  580 Nr.  7b ZPO) der „Gedanke des bestmöglichen Beweises“ in gewisser Weise verwirklicht wird.623 Wird bei der Glaubhaftmachung auf eine eidesstattliche Versicherung zurückgegriffen, muss diese auf eigenen Wahrnehmungen und nicht auf denen Dritter beruhen. Diese Forderung erinnert in gewisser Weise an die Problematik des Zeugen vom Hörensagen, dessen Vereinbarkeit mit dem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz im Strafprozessrecht624 und im englischen Recht unter dem Aspekt der best evidence rule diskutiert wird.625 Parallelen zur materiellen Unmittelbarkeit wären bei §  294 ZPO grundsätzlich vorhanden. Problematischer ist dagegen der Urkundenprozess.626 Dort sollen nach herrschender Ansicht nur „unmittelbare Urkunden“ zulässig sein, welche verhindern sollen, dass eigentlich ausgeschlossene Beweismittel nicht auf mittelbare Art und Weise Eingang in das Verfahren finden. Legt man das strafprozessuale Verständnis der materiellen Unmittelbarkeit zugrunde, ließe sich bereits daran zweifeln, ob hierdurch überhaupt eine Rangfolge der Be619 

Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. b). Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 5. c). 621  Zur Kategorisierung siehe MünchKommZPO/Prütting, §  286 ZPO Rn.  56 ff. 622  Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  61. 623  Siehe hierzu und zum Folgenden oben unter §  5 IV. 5. e). 624  Die Diskussion dreht sich um die Frage, ob der Zeuge vom Hörensagen unter den Anwendungsbereich von §  250 StPO fällt oder nicht; siehe dazu Geppert, Unmittelbarkeit, S.  216 ff.; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  21 ff. 625  Zur best evidence rule siehe oben unter §  3 II. 2. b) cc). 626  Die nachfolgenden Ausführungen gelten gleichermaßen für den Restitutionsprozess (§  580 Nr.  7b ZPO). 620 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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weismittel aufgestellt wird. Zu einer Auswahl zwischen den Beweismitteln kommt es streng genommen nicht, schließlich sind im Rahmen des Urkundenprozesses generell nur Urkunden zulässig. Andererseits wird zumindest innerhalb des Urkundenbegriffs eine Differenzierung vorgenommen, worin man mit den Worten Pantles ein „Verbot der Verwertung mittelbarer Beweismittel“627 erblicken könnte. Unabhängig davon lässt sich die Ablehnung einer materiellen Unmittelbarkeit für die Glaubhaftmachung sowie für den Urkunden- und Restitutionsprozess mit allgemeinen Überlegungen begründen. Vorliegend geht es um die Frage, ob es einen Verfahrensgrundsatz der Unmittelbarkeit gibt und wie dieser ausgestaltet ist. Das maßgebliche Kriterium für die Anerkennung eines Grundsatzes als Verfahrensgrundsatz ist die „Wichtigkeit“.628 Legt man diese den vorangegangenen Überlegungen zugrunde, müsste diese verneint werden. Insbesondere würde es an der Quantität fehlen, da ein Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit gerade nicht auf vielfache Art und Weise zu beachten wäre, sondern nur in bestimmten Verfahrensarten zur Geltung käme – oder anders ausgedrückt: Die Anerkennung eines bestimmten Prinzips als Grundsatz nur für eine bestimmte Verfahrensart – und damit nur für einen Teil des Prozessrechts – wäre für die dogmatische Durchdringung des Zivilverfahrens als solches wenig hilfreich und gewinnbringend. Aus diesem Grund ist eine materielle Unmittelbarkeit nicht als Grundsatz für besondere Verfahrensarten anzuerkennen. cc)  Materielle Unmittelbarkeit als Grundsatz mit Verfassungsrang? Zu einem anderen Ergebnis könnte man allenfalls gelangen, wenn man die materielle Unmittelbarkeit als verfassungsrechtlich gewährleistet anerkennt. Möglich wäre dies, indem man die Rechtsprechung des BVerfG zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung beim Zeugen vom Hörensagen auf die ZPO überträgt. Da es sich um ein sachferneres Beweismittel handelt, müssen dessen Aussagen besonders kritisch überprüft werden und durch zusätzliche Anhaltspunkte bestätigt worden sein.629 In dieser „Notwendigkeit zusätzlicher Beweisindizien“ will Ahrens eine verfassungsrechtliche Verankerung der materiellen Unmittelbarkeit sehen, welche folglich auch im Zivilprozess Geltung beanspruchen müsse. Insbesondere soll es sich um keine auf den Bereich des Strafprozessrechts beschränkte Rechtsprechung handeln.630 Letzteres muss jedoch bezweifelt werden, da in den relevanten Entscheidungen gerade auf die Besonderheiten des Strafverfahrens eingegangen wird.631 627 

Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  48 f. Siehe hierzu oben unter §  2 III. 6. 629  BVerfGE 57, 250 (292) = NJW 1981, 1719 (1725); BVerfG NJW 1992, 168; BVerfG NJW 1996, 448 (449). 630  Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  1 Rn.  103. 631  Siehe etwa BVerfG NJW 1996, 448 (449): „Das Recht des Angekl. auf ein faires rechtsstaatliches Strafverfahren […] gebietet jedoch, wegen der nur begrenzten Zuverlässigkeit des Zeugnisses vom Hörensagen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen.“ Neutral ist 628 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Eine Übertragung obiger Grundsätze auf den Zivilprozess würde schließlich im Widerspruch zur bisherigen Judikatur des BVerfG stehen, wonach der Unmittelbarkeitsgrundsatz weder im Zivil- noch im Strafprozess von Verfassungs wegen geboten sein soll.632 Insofern lässt sich aufbauend auf der Rechtsprechung des BVerfG keine materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess konstruieren. c)  Zeitliche Komponente Die Verhältnisse „Güteverhandlung und mündliche Verhandlung“, „Verhandlung und Beweisaufnahme“, „Beweisaufnahme und Beweiswürdigung“ sowie „Verhandlung und Urteil“ beinhalten allesamt einen zeitlichen Aspekt.633 aa)  Inhaltliche Gemeinsamkeiten Die mündliche Verhandlung soll sich unmittelbar an die Güteverhandlung anschließen (§  279 Abs.  1 S.  1 ZPO). Ebenso soll die Beweisaufnahme der mündlichen Verhandlung unmittelbar folgen (§  279 Abs.  2 ZPO). Das Verhältnis von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme ist von einer Begrenzung auf eine möglichst kurze Zeitspanne gekennzeichnet. Die vorzugswürdige Auslegung von §  279 Abs.  3 ZPO hat ergeben, dass die Beweiswürdigung grundsätzlich im Anschluss an die Beweisaufnahme erfolgt. Schließlich ist die zeitliche Abfolge von Verhandlung und Urteilsverkündung – sofern kein „Stuhlurteil“ gefällt wird – auf einen Zeitraum von drei Wochen (§  310 Abs.  1 ZPO) begrenzt. Insofern sind alle Verhältnisse zeitlich ausgestaltet, sodass ein Ereignis „unmittelbar“ auf ein anderes folgt. Gemeinsam ist den Verhältnissen ferner die Tatsache, dass ihre verschiedenen Bezugspunkte jeweils einen bestimmten Abschnitt innerhalb des Verfahrens markieren. bb)  Zeitliche Unmittelbarkeit als Komponente eines Unmittelbarkeitsgrundsatzes? Lassen sich diese Beziehungsgeflechte zu einem allgemeinen Grundsatz verdichten? Immerhin liegt die Annahme einer zeitlichen Unmittelbarkeit nahe. In der Literatur werden schließlich die §§  279, 285, 370 ZPO sowie §  310 ZPO als gesetzliche dagegen die Formulierung in BVerfGE 57, 250 (292) = NJW 1981, 1719 (1725): „Allerdings stellt die nur begrenzte Zuverlässigkeit des Zeugnisses vom Hörensagen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung, da die jedem Personalbeweis anhaftenden Fehlerquellen sich dadurch erheblich verstärken, daß die Qualität des Beweisergebnisses zusätzlich von der Zuverlässigkeit des Beweismittlers abhängt.“ Allerdings wird in demselben Urteil kurz zuvor auf die strafrechtlichen Besonderheiten des Zeugen vom Hörensagen eingegangen, wonach dieser allein nach §§  244 Abs.  2, 261 StPO zu beurteilen sei. Die §§  250 ff. StPO fänden dagegen keine Anwendung. 632  Dies gesteht Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  1 Rn.  103 selbst ein. Zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes und der Rechtsprechung des BVerfG siehe später unter §  5 VI. 633  Siehe zum Folgenden nochmals die Ausführungen oben unter §  5 IV. 6. („Güteverhandlung und mündliche Verhandlung“), §  5 IV. 7. („Verhandlung und Beweisaufnahme“), §  5 IV. 8. („Beweisaufnahme und Beweiswürdigung“) sowie §  5 IV. 9. („Verhandlung und Urteil“).

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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Ausprägungen einer zeitlichen Unmittelbarkeit ausgemacht.634 Der Begriff „Unmittelbarkeit“ kann in einem zeitlichen Sinne verstanden werden, d. h. dergestalt, dass ein Ereignis sich „unmittelbar“ an ein anderes Ereignis anschließt.635 Entscheidend ist jedoch, dass die jeweiligen Komponenten des Unmittelbarkeitsgrundsatzes inhaltlich zueinander passen. Die Untersuchung der personellen Komponente hat ergeben, dass diese insbesondere die Voraussetzungen für die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) schafft. Die Anerkennung einer „zeitlichen Unmittelbarkeit“ setzt demnach voraus, dass diese ebenfalls einen inhaltlichen Bezug zur Beweiswürdigung enthält. Dieser Bezug ist offensichtlich gegeben, wenn die Beweiswürdigung wegen §  279 Abs.  3 ZPO grundsätzlich direkt im Anschluss an die Beweisaufnahme erfolgen muss. Auch führt die zeitliche Verknüpfung von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme zu einer Verbesserung der Beweiswürdigung, da die Eindrücke der Richter von der Beweisaufnahme noch präsent sind („Konservierungsfunktion“). Selbiges bezweckte der Gesetzgeber durch §  310 Abs.  1 ZPO, wodurch „eine Garantie für die Güte des Urtheils“636 sichergestellt werden sollte. Keinen Bezug zur Beweiswürdigung enthält dagegen das Verhältnis der Güteverhandlung zur mündlichen Verhandlung. Die Tatsache, dass sich die mündliche Verhandlung an die Güteverhandlung unmittelbar anschließen soll (§  279 Abs.  1 ZPO) dient allein der Verfahrensbeschleunigung und -konzentration. Gemein ist jedoch allen Verhältnissen der letztgenannte Aspekt: die Beschleunigung und Konzentration des Verfahrens. Dies zeigt sich insbesondere an der Ausgestaltung des Verhältnisses der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme. Durch die enge zeitliche Abfolge wollte der Gesetzgeber sein Ziel erreichen, den Rechtsstreit in einem Termin erledigen zu können (§  272 Abs.  1 ZPO). Die „Konservierungsfunktion“ ist daher lediglich als Nebeneffekt zur angestrebten Verfahrenskonzentration zu begreifen. Auch dem zeitlichen Verhältnis von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung liegt der Gedanke der Prozessbeschleunigung insofern zugrunde, als sich das Erfordernis, dass die Beweiswürdigung im Anschluss an die Beweisaufnahme erfolgt, aus §  279 Abs.  3 ZPO ergibt – einer Norm, welche (freilich zusammen mit §  279 Abs.  2 ZPO) bezweckt, dass das Verfahren im Haupttermin erledigt werden kann. Die Tatsache, dass – bis auf die Güteverhandlung und die mündliche Verhandlung – alle Verhältnisse einen Bezug zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) aufweisen, ist eine Folge der angestrebten Beschleunigung und Konzentration des Verfahrens. Alle Verhältnisse basieren auf diesem primären Aspekt. Man könnte insofern formulieren: Je schneller und komprimierter der Verfahrensablauf ausgestaltet ist, desto mehr wird die anschließende Beweiswürdigung erleichtert.637 Wenn aber Bezüge zur Beweiswürdigung nur in 634 

Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. c). Siehe hierzu oben unter §  5 III. 636  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  286. 637  Damit ist eine Erleichterung in dem Sinne gemeint, dass die Eindrücke aus der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme den Richtern noch bestmöglichst präsent sind. 635 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

sekundärer Hinsicht bestehen, erscheint eine Einordnung der zeitlichen Komponente als Teilaspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes problematisch. cc)  Zeitliche Unmittelbarkeit als Komponente des Konzentrationsgrundsatzes Überzeugender und sinnvoller ist es dagegen, die – um es mit den Worten der überwiegenden Ansicht in der Literatur zu beschreiben – „zeitliche Unmittelbarkeit“ als Ausprägung des Konzentrations- bzw. Beschleunigungsgrundsatzes zu begreifen.638 Zwar wird der Konzentrationsgrundsatz inhaltlich zumeist auf die Prozessförderungspflichten des Gerichts (§§  139, 273 ZPO) und der Parteien (§§  282, 296 ZPO) beschränkt.639 Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich eine Verfahrenskonzentration nicht ausschließlich durch bestimmte Förderungspflichten der Verfahrensbeteiligten erreichen lässt, sondern in erster Linie über die Ausgestaltung des Verfahrens selbst.640 Für eine solche Einordung spricht vor allem, dass der Gesetzgeber durch die Vereinfachungsnovelle (1976) das Zivilverfahren auf einen Termin konzentrieren (§  272 Abs.  1 ZPO) und dadurch beschleunigen wollte.641 Die genannten Normen – insbesondere die §§  278, 279 ZPO – und die auf ihnen beruhenden zeitlichen Verhältnisse sind gerade Ausdruck dieses Anliegens. d) Ergebnis Für die Herausbildung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes kann nur auf die personelle Komponente zurückgegriffen werden, deren typisches Merkmal die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten ist. Die sachliche Komponente ist lediglich als Erfahrungssatz im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO), nicht aber als eigener Verfahrensgrundsatz zu begreifen. Schließlich sollte 638  Teilweise wird die Qualifizierung des Konzentrationsgrundsatzes als eigenständiger Verfahrensgrundsatz bezweifelt; MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  337; ferner Schreiber, Jura 2007, 500 ff., welcher den Konzentrationsgrundsatz nicht aufführt. Zieht man das Kriterium der „Wichtigkeit“ heran, wird man den Konzentrationsgrundsatz indes als Verfahrensgrundsatz anerkennen müssen. Hierfür spricht zunächst der Faktor der Quantität, schließlich lässt sich der Gedanke der Verfahrenskonzentration und -beschleunigung vielen Normen der ZPO entnehmen (unter anderem §§  272, 273, 278, 279, 282, 296); siehe MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  339, welcher von „zahlreichen Vorschriften“ spricht. Ferner ist der Konzentrationsgedanke verfassungsrechtlich verankert, da das Rechtsstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  3 GG) einen Anspruch auf Klärung des Rechtsstreits in angemessener Zeit gewährt; BVerfGE 88, 118 (124) = NJW 1993, 1635. Schließlich spricht die Regelungsintention des Gesetzgebers für die „Wichtigkeit“ des Konzentrationsgrundsatzes, was sich ganz deutlich an der Vereinfachungsnovelle (1976) und dem damit verfolgten Anliegen zeigt. 639  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  81 Rn.  5 ff.; Grunsky/Jacoby, Zivilprozessrecht, Rn.  159; ähnlich Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (96). 640  Stein/Jonas/Leipold, vor §  128 ZPO Rn.  194 („Konzentration der Verhandlungstermine“). Siehe hierzu nochmals Baur, Wege zu einer Konzentration, S.  11, welcher gerade die prozessuale Ausgestaltung von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme als eine Ursache für eine lange Verfahrensdauer ausmachte. 641  Siehe hierzu oben unter §  4 V. 2.

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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die zeitliche Komponente dogmatisch dem Konzentrationsgrundsatz zugeordnet werden.

2.  Definition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Ausgehend von den vorstehenden Überlegungen lässt sich der Unmittelbarkeitsgrundsatz im Zivilprozess folgendermaßen beschreiben: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz zielt im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf die körperliche Anwesenheit der Parteien ab642 und verlangt im Rahmen der Beweisaufnahme die körperliche Präsenz der Richter und der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme. Als Konsequenz hiervon darf die Beweisaufnahme nur ausnahmsweise auf einen beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden. Zentraler Gesichtspunkt ist die körperliche Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten643 bzw. der Beweismittel.644 Da sich die Parteien im Parteiprozess von einem Rechtsanwalt vertreten lassen können (§  79 Abs.  2 S.  1 ZPO) bzw. sich im Anwaltsprozess vertreten lassen müssen (§  78 Abs.  1 ZPO), führt im Falle einer anwaltlichen Vertretung ihre mangelnde körper­ liche Anwesenheit in der mündlichen Verhandlung nicht zu einer Beseitigung der Unmittelbarkeit. Das unterstreichen die Vorschriften über das Versäumnisverfahren (§§  330 ff. ZPO). Schließlich ist eine Partei trotz körperlicher Abwesenheit nicht säumig, wenn sie sich durch einen Rechtsanwalt vertreten lässt.645 Unproblematisch ist freilich die Situation, in welcher eine Partei trotz anwaltlicher Vertretung körperlich anwesend ist.

642  Mit der Formulierung „zielt […] ab“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die ZPO die Anwesenheit der Parteien in der mündlichen Verhandlung intendiert, diese aber nicht tatsächlich erzwungen werden kann, da hierfür andere Sanktionsmechanismen vorgesehen sind. Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 1. 643  Unter den hier verwendeten Begriff der Verfahrensbeteiligten fallen sowohl die Parteien als auch das Gericht, da zwischen diesen ein dreiseitiges Prozessrechtsverhältnis besteht; siehe dazu Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  204 ff.; MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  29 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  2 Rn.  1 ff. 644  Für ein Anwesenheitserfordernis plädieren auch Stein/Jonas/Berger, §  355 ZPO Rn.  10; Glunz, Psychologische Effekte, S.  297 ff. Der Unterschied zur hier vertretenen Auffassung besteht allerdings darin, dass allein §  355 ZPO und damit die Beweisaufnahme – nicht aber die mündliche Verhandlung – in die Überlegungen einbezogen werden. In eine ähnliche Richtung geht Pantle, welcher offenbar eine körperliche Anwesenheit des Beweismittels im Rahmen der Beweisaufnahme fordert. Jedoch wird dieses Ergebnis nur anhand allgemeiner Überlegungen mit dem kurzen Hinweis darauf begründet, dass es für den Personalbeweis sinnvoll erscheine, bei diesem „nur die persönliche Vernehmung der Aussageperson durch das Prozeßgericht als unmittelbare Beweiserhebung anzusehen.“; Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  23. Das Anwesenheitserfordernis klingt schließlich bei Brieskorn an, wenn gesagt wird, die Unmittelbarkeit werde eingeschränkt, wenn die Parteien nicht persönlich vor Gericht erscheinen, sondern sich anwaltlich vertreten lassen. Eine dogmatische Begründung für dieses Verständnis wird ebenfalls nicht abgegeben; siehe Brieskorn, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  123 (134). 645  Statt vieler BeckOK/Toussaint, §  331 ZPO Rn.  1.

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Der Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes besteht nicht allein in der Erleichterung der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO).646 In erster Linie erhält das Zivilverfahren durch diesen eine personelle Note. Man kann insofern von der Verwirklichung einer „Personalität des Prozesses“ sprechen. Die Parteien können sich sowohl ein Bild von dem Gericht im Allgemeinen als auch von dem Verfahrensablauf im Besonderen machen.647 Darüber hinaus fördert die persönliche Einbindung in das Prozessgeschehen das Vertrauen in die Rechtsprechung, indem Handlungen des Gerichts besser nachvollzogen werden können.648

3.  Vorzüge der hier vertretenen Ansicht Ein wesentlicher Vorteil dieses Verständnisses liegt darin, dass der hier vertretene Unmittelbarkeitsbegriff ohne die in der Literatur übliche Differenzierung in eine formelle, materielle und zeitliche Komponente auskommt. Die aus dem allgemeinen Sprachgebrauch herrührende und sich in der Dogmatik fortsetzende – insbesondere durch Kern kritisierte649 – Ambivalenz des Unmittelbarkeitsgrundsatzes kann hierdurch überwunden werden. Zugleich ist mit dieser Inhaltsbestimmung eine Rückbesinnung auf die historischen Grundlagen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes verbunden.650 Schließlich ermöglicht die Bestimmung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im obigen Sinne eine klare Abgrenzung zum Mündlichkeitsgrundsatz. Die Mündlichkeit beschreibt – ebenso wie die Schriftlichkeit als ihr Gegenbegriff – die Art und Weise der Kommunikation. In der Tat handelt es sich hierbei um „Formen der Verständigung“ im Sinne der bereits erwähnten Definition von Bennecke/ Beling.651 Wenn die Unmittelbarkeit dagegen die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten zum Gegenstand hat, zeigt sich, dass beide Verfahrensgrundsätze nicht deckungsgleich sind. Eine mündliche Kommunikation setzt nicht zwangsläufig die physische Präsenz der jeweiligen Gesprächspartner voraus.652 646 

Siehe hierzu oben unter §  5 I. 3. Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (112): „Viel wichtiger als der schnelle Prozeß ist das Bild, das die Justiz im Prozeß in den Augen der Bürger von sich selbst zeichnet.“. 648  Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (112), welcher aus diesem Grund die mündliche Verhandlung als die „Visitenkarte der Justiz“ bezeichnet. 649  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (54), welcher von einem „amorphen“ Inhalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes spricht. 650  Siehe Cremer, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit, S.  41. 651  Bennecke/Beling, Reichs-Strafprozessrecht, S.  258. Siehe hierzu oben unter §  5 I. 2. 652  Glunz, Psychologische Effekte, S.  299: „Denn Kerninhalt des Wortes ‚mündlich‘ als Gegenbegriff zu ‚schriftlich‘ ist es, dass die Kommunikation akustisch und synchron abläuft. Mit einem so gearteten Informationsaustausch geht im Zeitalter der Telekommunikation aber nicht mehr zwingend ein (umfassender) persönlicher Eindruck einher, wie das Beispiel Telefon am deutlich­ sten zeigt. Die Zugänglichmachung eines persönlichen Eindrucks ist also kein zwangsläufiges Nebenprodukt ‚mündlicher‘ Kommunikation mehr, sondern wird jedenfalls im Ausgangspunkt wirklich nur bei unmittelbarem Zusammentreffen ermöglicht.“. 647 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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4.  Konsequenzen Mit der hier vertretenen Auffassung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes lassen sich die bereits angesprochenen Streitstände im Zivilprozess lösen. Hierzu zählen die Folgen eines Richterwechsels, die Heranziehung mittelbarer Beweismittel, die Frage nach der Disponibilität der Unmittelbarkeit sowie die Behandlung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Berufungsinstanz. a)  Die Behandlung des Richterwechsels in der ZPO Findet ein Wechsel in der Besetzung der Richterbank statt, muss zwischen einem Wechsel während der mündlichen Verhandlung und einem Wechsel nach erfolgter Beweisaufnahme differenziert werden. aa)  Der Richterwechsel während der mündlichen Verhandlung (1)  Berücksichtigung der rechtsvergleichenden Untersuchung Das Verhältnis von mündlicher Verhandlung und dem Urteil erfährt durch §  309 ZPO eine personelle Ausgestaltung, wenn verlangt wird, dass das Urteil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben. Die herrschende Meinung interpretiert die Norm dahingehend, dass mit der „dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ nur die Schlussverhandlung, d. h. die letzte mündliche Verhandlung gemeint ist. Als Begründung wird der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung angeführt.653 An früherer Stelle wurde bereits darauf hingewiesen, dass in anderen Verfahrensordnungen – namentlich der StPO und der öZPO – mit derselben Begründung das gegenteilige Ergebnis gerechtfertigt wird. Dort müssen die Richter an sämtlichen Verhandlungsterminen teilgenommen haben.654 Eine insoweit eindeutige Vorschrift wie §  226 Abs.  1 StPO kennt die ZPO nicht. Dies wird einerseits von den Befürwortern der herrschenden Ansicht als Argument für die eigene Auffassung herangezogen.655 Dem kann entgegengehalten werden, dass sich andererseits der Wortlaut von §  412 Abs.  1 öZPO mit §  309 ZPO deckt. Auch dem österreichischen Recht liegt der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung zugrunde. Besonders deutlich wird dies durch §  193 Abs.  2 öZPO zum Ausdruck gebracht, wonach die Verhandlung bis zur Verkündung ihres Schlusses als Ganzes anzusehen ist.656 Ein alleiniger Verweis auf die Existenz von §  226 StPO und das Fehlen eines zivilprozessualen Pendants vermag die herrschende Meinung 653 

Siehe hierzu oben unter §  5 I. 1. a) bb). Siehe zum Folgenden oben unter §  3 I. 1. a) aa) [zur StPO] und §  3 II. 1. a) aa) [zur öZPO]. 655  Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  23 f. 656  Der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung kann ferner den §§  138, 179 öZPO entnommen werden; Fasching, Zivilprozeßrecht, Rn.  673. 654 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

folglich nicht zu bestätigen – im Gegenteil: Die Vorschriften des österreichischen Zivilprozessrechts sprechen vielmehr gegen eine Begrenzung auf die Schlussverhandlung. (2)  (Neu-)Interpretation von §  309 ZPO Der Wortlaut von §  309 ZPO lässt zweierlei Interpretationsmöglichkeiten zu: Zum einen kann die Formulierung „zugrunde liegende Verhandlung“ in zeitlicher Hinsicht verstanden werden, d. h. im Sinne der „dem Urteil unmittelbar vorausgehenden Verhandlung“. Dies würde für eine Begrenzung auf die Schlussverhandlung sprechen. Zum anderen ist der Wortlaut insofern offen gehalten, als er ganz allgemein von der „Verhandlung“ spricht. Diese kann sich aber bekanntermaßen in mehrere Termine aufteilen, sodass ebenso gut von einer Anwesenheit bei allen Terminen ausgegangen werden kann.657 Entscheidend ist somit die Auslegung des Begriffs der „Verhandlung“ im Sinne von §  309 ZPO. Der Wille des historischen Gesetzgebers spricht im Falle eines Richterwechsels während der mündlichen Verhandlung für deren Wiederholung.658 Als Begründung für §  309 ZPO wurde in den Motiven zur Reichs-Civilprozeßordnung angeführt: „Der Grundsatz, daß das Urtheil nur von denjenigen Richtern gefällt werden kann, welche der dem Urtheil zu Grunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben […] folgt nothwendig aus dem Prinzip der unmittelbaren Verhandlung des Rechtsstreits vor den zu seiner Entscheidung berufenen Richtern.“659

Die Existenz von §  309 ZPO ist nach dem Willen des historischen Gesetzgebers der Tatsache geschuldet, dass bereits die mündliche Verhandlung „vor dem erkennenden Gericht“ stattfindet. Die mit der Entscheidungsfindung beauftragten Richter sollen das Parteivorbringen selbst wahrgenommen haben.660 Dieser Verweis auf §  128 Abs.  1 ZPO ist als Verweis auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz zu verstehen, schließlich wurden Mündlichkeit und Unmittelbarkeit nach damaligem Verständnis gleichgesetzt.661 Dementsprechend wird in der Literatur zugestanden, dass eine enge Auslegung von §  309 ZPO eventuell als Folge des Unmittelbarkeitsgrundsatzes anzuerkennen sei. Unzutreffend ist es jedoch, wenn Schmidt diesen Punkt mit dem einfachen Hinweis darauf abtut, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz generell wenig geschätzt werde, was sich insbesondere an den vielen Ausnahmen zu §  355 Abs.  1 ZPO zeige.662 Vom Vorhandensein von Ausnahmen eines Grundsatzes kann nicht auf die Existenz weiterer Ausnahmen geschlossen werden – im Gegenteil: Das hiesige Verständnis des Unmittelbarkeitsgrundsatzes spricht für eine enge Aus­ 657 

Ähnlich Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  21 f. Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  125. Siehe hierzu oben unter §  4 III. 3. 659  Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  286. 660  Reichel, Unmittelbarkeit, S.  46. 661  Siehe hierzu oben unter §  4 II. 2. sowie §  4 III. 1. 662  Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  22 f. 658 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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legung von §  309 ZPO. Wie bereits gezeigt, besteht rechtshistorisch betrachtet eine Wechselwirkung zwischen §  128 Abs.  1 ZPO einerseits und §  309 ZPO andererseits. Beide Vorschriften verhalten sich spiegelbildlich zueinander.663 Wenn aber das zentrale Element des Unmittelbarkeitsgrundsatzes die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten (bzw. der Beweismittel) ist, so legt dies eine Auslegung von §  309 ZPO nahe, wonach die Richter an sämtlichen Verhandlungsterminen teilgenommen haben müssen. Das Hauptargument der herrschenden Auffassung – der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung – spricht ebenfalls für eine Wiederholung der münd­ lichen Verhandlung. Wenn in §  309 ZPO von der „dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ die Rede ist und alle Verhandlungstermine als Einheit gesehen werden, müssen die Richter konsequenterweise an sämtlichen Verhandlungsterminen teilgenommen haben. Beruft man sich auf das Einheitsdogma, bilden alle Verhandlungstermine „die Verhandlung“ als solche. Dies muss die logische Konsequenz des Grundsatzes der Einheit der mündlichen Verhandlung sein. Die österreichische Sichtweise ist damit der herrschenden Auffassung im deutschen Schrifttum vorzuziehen und §  309 ZPO zugrunde zu legen. (3)  Ergebnis Wenngleich der Wortlaut von §  309 ZPO offen formuliert ist, sprechen der historische Wille des Gesetzgebers, der Unmittelbarkeitsgrundsatz sowie der Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung dafür, dass im Falle eines Richterwechsels während der mündlichen Verhandlung diese wiederholt werden muss. Zu der „dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ zählen – entgegen der herrschenden Auffassung – sämtliche Verhandlungstermine.664 bb)  Der Richterwechsel nach der Beweisaufnahme (1)  Auseinandersetzung mit dem bisherigen Meinungsspektrum Ob die Beweisaufnahme im Falle eines Richterwechsels wiederholt werden muss oder nicht, ist in der Wissenschaft umstritten.665 Der herrschenden Auffassung, welche die Wiederholung der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts stellt, ist einerseits insoweit zuzustimmen, als §  355 Abs.  1 ZPO nur verlangt, dass das Prozessgericht – nicht aber die erkennenden Richter – die Beweisaufnahme durch663  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (59): „Dass die mündliche Verhandlung unmittelbar vor dem erkennenden Gericht stattfindet, ist Spiegelbild der personellen Unmittelbarkeit des Urteils; entnommen werden kann dies auch §  128 Abs.  1 ZPO, der in erster Linie den Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung im Blick hat.“. 664  Ebenso Kirchner, NJW 1971, 2158, welcher jedoch keine Begründung für eine solche Auslegung von §  309 ZPO liefert. 665  Siehe hierzu sowie zum Folgenden oben unter §  5 I. 1. a) bb).

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

geführt haben muss.666 Der Vergleich mit §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO ist daher zutreffend. Findet die Beweisaufnahme vor einem beauftragten oder ersuchten Richter statt, kommt es zu einer Trennung bzw. Personenverschiedenheit der beweisaufnehmenden und der erkennenden Richter. Die Verwendung protokollierter Zeugenaussagen im Wege des Urkundenbeweises ist grundsätzlich zulässig,667 da eine materielle Unmittelbarkeit im strafprozessualen Sinne im Zivilprozess nicht existiert. Andererseits kommt die herrschende Auffassung in der Tat einer antizipierten Beweiswürdigung gleich, wenn bereits vor der Wiederholung einer Beweisaufnahme über ihre spätere Würdigung entschieden wird. Die Beweiswürdigung erfolgt erst im Anschluss an die Beweisaufnahme, weshalb die herrschende Meinung mit der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) nur schwer vereinbar ist.668 Dementsprechend kann es für die Frage nach der Durchführung einer erneuten Beweisaufnahme nicht auf eine gleiche oder abweichende Würdigung des Gerichts ankommen.669 Insgesamt weisen beide Ansichten jeweils Vor- und Nachteile in der Argumentation auf, sodass ein anderer Lösungsweg beschritten werden muss. (2)  Analoge Anwendung von §  285 Abs.  2 ZPO Die Konsequenz eines Richterwechsels nach der Beweisaufnahme ist, dass diejenigen Richter, welche die Beweisaufnahme durchgeführt haben, nicht mehr identisch mit den nunmehr erkennenden Richtern sind. Exakt dieselbe Konstellation regelt §  285 Abs.  2 ZPO für den Fall, dass die Beweisaufnahme nicht vor dem Prozessgericht stattgefunden hat.670 Typischerweise ist dies bei einer Delegation der Beweisaufnahme der Fall.671 Indem die Parteien das Ergebnis der Beweisaufnahme vortragen, gleicht §  285 Abs.  2 ZPO die Personenverschiedenheit der beweisaufnehmenden und der erkennenden Richter aus. Eine direkte Anwendung von §  285 Abs.  2 ZPO scheidet freilich aus. Kommt es nach der Beweisaufnahme zu einem Richterwechsel, hat diese nämlich gleichwohl „vor dem Prozessgericht“ stattgefunden. Eine analoge Anwendung der Norm würde eine (planwidrige) Regelungslücke sowie eine vergleichbare Interessenlage voraussetzen.672 Letzteres kann vorliegend bejaht werden, schließlich kommt es sowohl bei einem Richterwechsel nach Beweis­ aufnahme als auch im Falle einer kommissarischen Beweisaufnahme zu einer Trennung der beweisaufnehmenden und der erkennenden Richter. Ebenso existiert eine 666 

So Stürner, in: FS Blaurock, S.  435 (441). Zur Heranziehung mittelbarer Beweismittel im Zivilprozess siehe unter §  5 V. 4. b). 668  Zur Kritik an einer solchen antizipierten Beweiswürdigung siehe nochmals Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  339 f.; Grunsky, Grundlagen, S.  437. 669  Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  585. 670  Zu §  285 Abs.  2 ZPO sowie zum Folgenden siehe oben unter §  5 IV. 7. b). 671  MünchKommZPO/Prütting, §  285 ZPO Rn.  8. 672  Zu den Komponenten des Analogieschlusses siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  889 f. 667 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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Regelungslücke, da die Problematik des Richterwechsels nach der Beweisaufnahme in der ZPO nicht geregelt ist. Insbesondere kann für diese Konstellation nicht auf §  309 ZPO zurückgegriffen werden, da die Beweisaufnahme nicht Teil der münd­ lichen Verhandlung ist.673 In der Literatur wird daher die analoge Anwendung von §  285 Abs.  2 ZPO auf den Fall des Richterwechsels zu Recht anerkannt.674 Die Beweisaufnahme muss nach einem Richterwechsel somit grundsätzlich nicht wiederholt werden. (3)  Teleologische Reduktion von §  398 Abs.  1 ZPO bei Verwertung persönlicher Eindrücke Damit ist allerdings noch nicht die Frage beantwortet, ob bzw. inwiefern persön­ liche Eindrücke des ausgeschiedenen Richters im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden können. Die Rechtsprechung hält eine Wiederholung der Beweisaufnahme nur dann für geboten, wenn das Gericht die im Protokoll festgehaltenen persönlichen Eindrücke abweichend würdigen will.675 Wie soeben festgestellt, kann es richtigerweise nicht darauf ankommen, ob ein Beweis abweichend oder gleich gewürdigt werden soll. Da im Falle des Richterwechsels Parallelen zu §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO bestehen, liegt es nahe auf die Wertungen der allgemeinen Beweisprognose im Rahmen von §  375 Abs.  1 und 1a ZPO zurückzugreifen.676 Wenn eine Übertragung der Beweisaufnahme nur zulässig ist, „wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“, wird dadurch nichts anderes als die prinzipielle Erforderlichkeit eines persönlichen Eindrucks für eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung zum Ausdruck gebracht.677 Kommt es im Rahmen der Beweiswürdigung auf persönliche Ein­ drücke an, muss §  398 Abs.  1 ZPO im Falle eines Richterwechsels nach der Beweis­ aufnahme teleologisch dahingehend reduziert werden, dass sich das richterliche Ermessen in eine Pflicht zur Wiederholung der Beweisaufnahme umwandelt.678

673 

Siehe hierzu die Nachweise oben unter §  5 V. 1. a) bb) (1). Stein/Jonas/Leipold, §  285 ZPO Rn.  8; MünchKommZPO/Prütting, §  285 ZPO Rn.  8; Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  30; so wohl auch Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  285 ZPO Rn.  7; hierfür bereits Hegler, Der Rechtsgang 1 (1913), 385 (420) [Fn.  8]; ähnlich Reichel, Unmittelbarkeit, S.  97, welcher §  285 Abs.  2 ZPO offenbar direkt anwenden will. 675  BGHZ 53, 245 (257 f.) – „Anastasia“. 676  Siehe auch Reichel, Unmittelbarkeit, S.  124, welcher in demselben Zusammenhang auf §  349 Abs.  1 S.  2 ZPO hinweist, da seinerzeit die Beweisprognose noch nicht in §  375 Abs.  1 und 1a ZPO aufgenommen war. 677  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 678  Ähnlich Stickelbrock, Inhalt und Grenzen, S.  585: „Es ist folglich mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nicht vereinbar, aus §  398 Abs. I ZPO eine Wahlbefugnis des Richters hinsichtlich der erneuten Vernehmung abzuleiten […].“. 674 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

(4)  Ergebnis Der Richterwechsel nach der Beweisaufnahme ist mit der Übertragung der Beweis­ aufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter (§  355 Abs.  1 S.  2 ZPO) vergleichbar, sodass derartige Fälle über eine analoge Anwendung von §  285 Abs.  2 ZPO gelöst werden können. Eine Wiederholung der Beweisaufnahme ist daher grundsätzlich nicht erforderlich. cc)  Probleme und Lösungsansatz De lege lata ergibt sich hinsichtlich des Richterwechsels – zumindest auf den ersten Blick – ein gewisser Widerspruch: Erfolgt dieser während der mündlichen Verhandlung, muss diese wiederholt werden. Eine Wiederholung der Beweisaufnahme bei vorangegangenem Richterwechsel ist dagegen nicht erforderlich, es sei denn, persönliche Eindrücke sollen bei der Beweiswürdigung Berücksichtigung finden. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dieses Ergebnis letzten Endes nur konsequent ist: Die ZPO geht von einer Trennung der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme aus. Letztere ist nicht Teil der mündlichen Verhandlung und unterfällt daher nicht dem Anwendungsbereich von §  309 ZPO. Bestätigt wird dies durch einen Blick auf das österreichische Recht. Bei einem Richterwechsel während der mündlichen Verhandlung muss die Beweisaufnahme wiederholt werden (§  412 öZPO), denn im Gegensatz zum deutschen Recht ist diese Teil der mündlichen Verhandlung.679 Dass die Wiederholung der mündlichen Verhandlung unter prozessökonomischen Gesichtspunkten wenig wünschenswert ist,680 soll nicht verleugnet werden. Eine Lösung dieses Problems könnte dadurch erzielt werden, indem man eine an §  412 Abs.  2 öZPO orientierte Vorschrift in die ZPO aufnimmt. Im Falle eines Richterwechsels sieht §  412 Abs.  2 öZPO zwar die Wiederholung der mündlichen Verhandlung vor, allerdings unter „Benützung der Klage, der zu den Acten gebrachten Beweise und des Verhandlungsprotokolles“. Freilich müsste im deutschen Recht die Trennung von mündlicher Verhandlung und Beweisaufnahme gewahrt werden, da eine gänzliche Übernahme von §  412 Abs.  2 öZPO nicht systemkonform wäre. De lege ferenda könnte ein entsprechender §  309 Abs.  2 ZPO n. F. folgenden Inhalt haben: „Tritt während der mündlichen Verhandlung ein Wechsel in der Person des Vorsitzenden oder der übrigen Richter ein, so ist die mündliche Verhandlung unter Benutzung der Klageschrift und des Verhandlungsprotokolls von Neuem durchzuführen.“

Eine solche Vorschrift hätte zwei entscheidende Vorteile: Erstens würde sie bestätigen, was de lege lata bereits gilt, nämlich dass im Falle eines Richterwechsels während der Beweisaufnahme die mündliche Verhandlung wiederholt werden muss. 679 

680 

Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (33); Rechberger/Simotta, Zivilprozessrecht, Rn.  734. Darauf hinweisend Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  22.

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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Zweitens würde die Kontinuität des Verfahrens dahingehend gewahrt werden, dass die Parteien so zu behandeln wären, als ob der neu hinzukommende Richter bereits von Anfang an Teil des Gerichts gewesen wäre.681 Dadurch kann ein weiterer Einwand der herrschenden Auffassung gegen eine Wiederholung der mündlichen Verhandlung entkräftet werden. Als Argument für eine enge Auslegung von §  309 ZPO wird schließlich vorgetragen, dass andernfalls bereits präkludiertes Vorbringen nunmehr erneut in den Prozess eingeführt werden könne.682 Im österreichischen Recht bewirkt §  412 Abs.  2 öZPO aber gerade eine Aufrechterhaltung von Präklu­ sionsfristen.683 b)  Die Heranziehung mittelbarer Beweismittel Der Rückgriff auf mittelbare Beweismittel im Rahmen der Beweisaufnahme ist im Zivilprozess zulässig, da eine dem Strafprozess vergleichbare materielle Unmittelbarkeit nicht existiert. Das Verhältnis der Beweismittel zueinander ist lediglich als Erfahrungssatz im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung – ohne zugleich ein Verfahrensgrundsatz zu sein – zu berücksichtigen.684 Dennoch stellt sich die Frage, wie mit etwaigen Beweisanträgen auf Erhebung unmittelbarer bzw. mittelbarer Beweise umgegangen werden muss. aa)  Beweisaufnahme und Beweisantragsrecht Probleme können sich insbesondere ergeben, wenn bereits ein mittelbarer Beweis erhoben wurde und eine Partei nunmehr die Erhebung des unmittelbaren Beweises beantragt, wobei auch die umgekehrte Konstellation denkbar wäre. Richtigerweise ist hier auf die allgemeinen Grundsätze des Beweisantragsrechts zurückzugreifen.685 Das aus dem Justizgewährungsanspruch folgende „Recht auf Beweis“ verlangt, dass grundsätzlich alle beantragten Beweise erhoben werden müssen.686 Un681 

Siehe Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (34 f.) zum österreichischen Recht. Schmidt, Richterwegfall und Richterwechsel, S.  25 f. 683  Rechberger/Rechberger, §  412 öZPO Rn.  3; Bajons, in: FS Fasching, S.  19 (34). 684  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. b) aa). 685  Hegler, Der Rechtsgang 2 (1916), 267 (314); Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  29 f., 42 f., 49; Kern, ZZP 125 (2012), 53 (66); ähnlich Stadler, ZZP 110 (1997), 137 (147), wonach die materielle Unmittelbarkeit nur im Rahmen des Beweisantragsrechts ein „zivilprozessuales Gebot“ darstelle; ferner Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (141). Zu einem anderen Ergebnis kommen freilich diejenigen Stimmen, welche die Existenz einer materiellen Unmittelbarkeit in der ZPO bejahen. Teilweise wird daraus gefolgert, dass der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz den Richter verpflichte, einen unmittelbaren Beweis selbst für den Fall erheben zu müssen, dass bereits ein mittelbarer Beweis erhoben wurde; Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  88; a. A. Kollhosser, Stellung und Begriff der Verfahrensbeteiligten, S.  177, wonach die materielle Unmittelbarkeit mit der Prozessökonomie abzuwägen sei. Ein mittelbarer Beweis könne unter Umständen einem eigentlich zuverlässigeren unmittelbaren Beweis aus Gründen der Zweckmäßigkeit vorgezogen werden. 686  Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 (307 f.); Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  373; siehe zum „Recht auf Beweis“ ferner Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  302 ff. 682 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

erheblich ist, ob es sich um unmittelbare oder mittelbare Beweise handelt.687 Es gilt der Grundsatz der Erschöpfung der Beweismittel.688 An die Voraussetzungen, unter denen ein Beweisantrag abgelehnt werden darf, sind folglich hohe Anforderungen zu stellen.689 Mangels einer ausdrücklichen Regelung in der ZPO orientiert sich die Rechtsprechung an den strafprozessualen Ablehnungsgründen aus §  244 Abs.  3 StPO.690 Insbesondere kommt die Ablehnung eines Beweisantrags in Betracht, wenn die zu beweisende Tatsache bereits erwiesen ist.691 Diese Einschränkung gilt allerdings nur für den Hauptbeweis. Einem Gegenbeweis kann der Einwand der Erwiesenheit einer Tatsache nicht entgegengehalten werden.692 Ob einem Beweisantrag auf Erhebung des unmittelbaren Beweises stattgegeben werden muss, hängt somit davon ab, ob die zu beweisende Tatsache aus Sicht des Gerichts bereits erwiesen ist oder nicht. bb)  Richterliche Hinweispflicht (§  139 Abs.  1 ZPO) bei mittelbarer Beweisaufnahme? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Beweisanträge zur Erhebung eines mittelbaren Beweises eine richterliche Hinweispflicht auslösen können. Stellt eine Partei einen entsprechenden Beweisantrag, wäre es denkbar, dass das Gericht verpflichtet ist, die Partei darauf hinzuweisen, dass es sich vorliegend um einen nur mittelbaren Beweis handelt, dessen Beweiswert im Vergleich zu einem unmittelbaren Beweis möglicherweise geringer ist. Will man einen Schritt weitergehen, ließe sich sogar annehmen, dass in diesen Fällen das Gericht zugleich die Beantragung der Erhebung des unmittelbaren Beweises anregen soll.693 Mangels Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess lässt sich eine mögliche richterliche Hinweispflicht freilich nicht mit einem Hinweis auf gerade diesen Grundsatz begründen.694 Damit bleibt nur ein Rückgriff auf §  139 ZPO, welcher Ausdruck der materiellen Prozessleitung des Gerichts ist.695 Diese verpflichtet das Gericht, das Sach- und Streitverhältnis mit den Parteien zu erörtern, Fragen zu stellen und entsprechende Hinweise zu geben (§  139 Abs.  1 ZPO). Anknüpfungspunkt ist der Sachvortrag der Parteien.696 Dementsprechend zielt die materielle Prozessleitung 687 

Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  116 Rn.  1. BVerfGE 50, 32 (36) = NJW 1979, 413 (414); BGHZ 53, 245 (259 f.) = NJW 1970, 946 (949 f.) – „Anastasia“; Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  53. 689  Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  284 ZPO Rn.  91. 690  BGHZ 53, 245 (259) = NJW 1970, 946 (949) – „Anastasia“. 691  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  77; Zöller/Greger, vor §  284 ZPO Rn.  12; siehe ferner Fricker, Umfang und Grenzen, S.  112. 692  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  78 („stets zulässig“). 693  Hiergegen Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  29 f., wonach ein solcher Hinweis mit dem Ver­ handlungsgrundsatz nicht zu vereinbaren wäre; siehe ferner Fricker, Umfang und Grenzen, S.  111. 694  Hierfür aber Rohwer, Materielle Unmittelbarkeit, S.  97 f. 695  Statt vieler Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  77 Rn.  15. 696  Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (84); Stein/Jonas/Leipold, §  139 ZPO Rn.  3. 688 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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nicht auf eine Sachverhaltsaufklärung ab.697 Wenngleich sich hierdurch gewisse Modifikationen des Verhandlungsgrundsatzes ergeben,698 sind damit keine hierarchischen oder gar inquisitorischen Prozessstrukturen verbunden.699 Teilweise finden sich Stimmen, welche bei der Erhebung mittelbarer Beweise eine Hinweispflicht des Gerichts aus §  139 Abs.  1 ZPO bejahen.700 Eine solche Sichtweise ist indes abzulehnen. Richtigerweise können richterliche Hinweispflichten in Bezug auf die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung nur in engen Grenzen angenommen werden. Hierzu gehört etwa die Situation, dass das Ergebnis der Beweiswürdigung für eine Partei unvorhersehbar und damit überraschend war. In diesem Fall wird man eine Hinweispflicht aus §  139 Abs.  2 ZPO annehmen müssen.701 Weitergehende Hinweise muss das Gericht dagegen nicht erteilen. Hierfür spricht zunächst, dass die Parteien selbst das Risiko tragen, dass ein angebotener Beweis möglicherweise nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts führen wird.702 Dies gilt gleichermaßen für mittelbare wie für unmittelbare Beweise. Beantragt beispielsweise eine Partei die Vernehmung eines Zeugen (unmittelbarer Beweis) anstelle der Verlesung eines Vernehmungsprotokolls (mittelbarer Beweis), lässt sich nicht ausschließen, dass das Gericht dem Zeugen eventuell keinen Glauben schenken wird – mit anderen Worten: Die Würdigung der Beweise ist nicht vorhersehbar, da die richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) frei ist. Anders war dies noch zu Zeiten des Gemeinen Prozesses. Aufgrund der Bindung an Beweisregeln waren die Erfolgsaussichten einer Beweisaufnahme für die Parteien vorhersehbar.703 Beweisregeln sieht das Gesetz heutzutage jedoch nur ausnahmsweise vor (§  286 Abs.  2 ZPO). Zudem kann §  279 Abs.  3 ZPO als weiteres Argument angeführt werden. Die nochmalige Erörterung des Sach- und Streitstandes unter Einbe697 

Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  103 m. w. N. Reischl, ZZP 116 (2003), 81 (85); Prütting, NJW 1980, 361 (362 f.). 699  Deutlich Stürner, ZZP 123 (2010), 147 (153): „Die materielle Prozessleitung des Richters ist im Verständnis der modernen europäischen Gesellschaft in erster Linie eine Form der Verfahrensmoderation und weniger eine Form richterlicher Machtübung. Die Prozessleitung ist Mittel der Gewährung rechtlichen Gehörs und damit ein Instrument prozessualen Dialogs. Sie ist Ausdrucksform eines dialogischen Zivilprozesses.“; ferner Stein/Jonas/Leipold, §  139 ZPO Rn.  2; Probst, JR 2011, 507 (509). Der Begriff „Aufklärungspflicht“, welcher eine Geltung des Untersuchungsgrundsatzes suggeriert, wird daher überwiegend abgelehnt; Stürner, Aufklärungspflicht, S.  65; Grunsky, Grundlagen, S.  178 (Fn.  28); Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (390). 700  Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (665); Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (64); Glunz, Psychologische Effekte, S.  313; Musielak/Voit/Huber, §  373 ZPO Rn.  4; ähnlich Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  19, welcher eine Hinweispflicht aus §  139 Abs.  2 S.  2 ZPO ableiten will; siehe auch Kern, ZZP 125 (2012), 53 (67) [Fn.  94], wonach das Gericht die gegnerische Partei auf die Erhebung des unmittelbaren Beweises hinweisen müsse. 701  Pantle, Beweisunmittelbarkeit, S.  29; Stein/Jonas/Leipold, §  139 ZPO Rn.  45. 702  Peters, Richterliche Hinweispflichten, S.  140; MünchKommZPO/Wagner, §  139 ZPO Rn.  46. Deshalb sei das Gericht nicht verpflichtet, einer Partei nach einer erfolglosen Beweisaufnahme zu einem weiteren Beweisantritt zu raten; siehe auch Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  12. 703  Zum Gemeinen Prozess siehe oben unter §  4 I. 1. 698 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

ziehung des Ergebnisses der Beweisaufnahme ermöglicht den Parteien – freilich in den Grenzen der §§  282 Abs.  1, 296 ZPO – eine ergänzende Beweisaufnahme.704 Insofern besteht kein zwingendes Bedürfnis für eine richterliche Hinweispflicht aus §  139 Abs.  1 ZPO. c)  Die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Ausgangspunkt der (umstrittenen) Frage, ob auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz verzichtet werden kann,705 ist freilich §  295 ZPO. Eine Verletzung von Verfahrensvorschriften kann nicht mehr gerügt werden, wenn die betroffene Partei entweder auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder den Mangel nicht gerügt hat (§  295 Abs.  1 ZPO). In diesen Fällen wird der Mangel geheilt,706 es sei denn, es handelt sich um eine Verletzung von Vorschriften, welche der Dispositionsbefugnis der Parteien entzogen sind (§  295 Abs.  2 ZPO). Wann dies der Fall ist,707 ist unter Heranziehung des Grundsatzes der Parteiherrschaft zu bestimmen.708 Die von §  295 Abs.  1 ZPO bezweckte Heilung wird gerade durch die Verzichtbarkeit der in Rede stehenden Verfahrensnorm legitimiert.709 Eine Dispositionsmöglichkeit der Parteien wird folglich überwiegend dann abgelehnt, wenn es sich um Vorschriften handelt, die der Funktionsfähigkeit des Rechtsschutzes dienen und daher im öffentlichen Interesse stehen, was typischerweise der Fall ist, wenn das Gericht von Amts wegen tätig wird.710 Zentraler Aspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beweismittel.711 Im Hinblick auf die Parteien stellt die ZPO deren Anwesenheit sowohl in der mündlichen Verhandlung als auch im Rahmen der Beweisaufnahme weitestgehend zur Disposition. Die vom Gesetz prinzipiell intendierte Anwesenheit einer Partei kann weder durch das Gericht noch durch die Gegenseite erzwungen werden. Vielmehr sind in der ZPO entsprechende Sank704 

Musielak/Voit/Foerste, §  279 ZPO Rn.  7. Zum Streitstand siehe oben unter §  5 I. 4. 706  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  67 Rn.  18; Stein/Jonas/Leipold, §  295 ZPO Rn.  17 f.; MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  44; differenzierend Mock, Heilung, S.  689 ff., wonach nur im Falle eines Verzichts (Alt.  1) eine Heilung vorliegen soll. Wird die fehlerhafte Prozesshandlung lediglich nicht gerügt (Alt.  2), soll es sich um „einen bloßen (automatischen) Rechtsverlust“ handeln. 707  Das Gesetz sagt nichts darüber aus, unter welchen Voraussetzungen eine Vorschrift als indisponibel anzusehen ist. Der Gesetzgeber hat es vielmehr ausdrücklich der Wissenschaft überlassen, Kriterien hierfür zu entwickeln; Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  282. Dementsprechend haben sich in Rechtsprechung und Literatur diverse Ansätze entwickelt; siehe dazu MünchKomm­ ZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  5 ff. 708  MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  9; zustimmend Krüger, Unmittelbarkeit, S.  157; ebenso Hagen, JZ 1972, 505 (509). 709  Mock, Heilung, S.  689. 710  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  67 Rn.  11; Krüger, Unmittelbarkeit, S.  157; MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  10 f.; Musielak/Voit/Huber, §  295 ZPO Rn.  3. 711  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 705 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

253

tionsmechanismen vorgesehen, welche im Falle des Nichterscheinens einer Partei eingreifen.712 Daraus könnte man nunmehr folgern, dass die Anwesenheit – und damit der Unmittelbarkeitsgrundsatz – der Parteiherrschaft unterfällt und die Parteien hierüber disponieren können. Eine solche Betrachtungsweise greift indes zu kurz. Sie berücksichtigt nicht, dass sich aufgrund von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO die Anwesenheit nicht nur auf die Parteien, sondern auch auf die Beweismittel erstreckt. Umgekehrt könnte man auf §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO verweisen, welcher eine Kompetenzzuweisungsnorm darstellt.713 Derartige Vorschriften sind jedoch an das Gericht adressiert und der Parteidisposition entzogen.714 Wenn man die Frage nach der Disponibilität eines Verfahrensgrundsatzes aufwirft, sollte konsequenterweise untersucht werden, ob auf einen Grundsatz als solchen – und nicht nur auf Teilaspekte – verzichtet werden kann.715 Damit ist die Anwesenheit als zentraler Gesichtspunkt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in den Vordergrund zu rücken. Deren Sinn und Zweck besteht in erster Linie darin, die richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) zu erleichtern.716 Diese ist „eine originäre Aufgabe des Prozess­ gerichts“717 und erstreckt sich sowohl auf die Ergebnisse der Beweisaufnahme als auch auf den Inhalt der Verhandlungen. Der hier vertretene Inhalt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes mit seinem Anwesenheitserfordernis dient damit zuvörderst dem Gericht,718 weshalb die Parteien richtigerweise nicht über die Unmittelbarkeit dis­ ponieren können.719 d)  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Berufungsinstanz Untersucht man die Rolle des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Berufungsinstanz, muss zunächst die Frage nach dessen Geltung in der zweiten Instanz aufgeworfen werden.

712 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 1 und §  5 IV. 4. Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. a). 714  MünchKommZPO/Prütting, §  295 ZPO Rn.  19. 715  Die Ausrichtung auf die Parteien einerseits sowie auf das Gericht andererseits erinnert an die „Doppelfunktion“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wie sie die Bürgerliche Proceßordnung (BPO) des Königreichs Hannover von 1850 kannte. Siehe hierzu oben unter §  4 II. 2. b) cc). 716  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 717  Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  38. 718  Wenngleich sich Wolf nicht mit dieser Frage auseinandersetzt, so ist seine Bezeichnung der formellen Unmittelbarkeit als „Richterunmittelbarkeit“ in der Tat treffend, da hier zum Ausdruck kommt, dass Adressat der (formellen) Unmittelbarkeit in erster Linie der Richter ist und nicht die Parteien; siehe Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1288). 719  Auf §  284 S.  2 –4 ZPO und seine Auswirkungen auf die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wurde an dieser Stelle bewusst nicht eingegangen. Diese Frage wird erst im Rahmen des aktuellen Stellenwerts des Unmittelbarkeitsgrundsatzes thematisiert. Siehe hierzu später unter §  6 II. 2. a) dd). 713 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

aa)  Die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz Im Berufungsverfahren gelten die Vorschriften über das Verfahren vor den Landgerichten (§§  253–494 ZPO) entsprechend, sofern keine Besonderheiten vorgesehen sind (§  525 S.  1 ZPO). Demnach gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz prinzipiell auch in zweiter Instanz. Zu untersuchen sind freilich die Besonderheiten des Berufungsverfahrens im Vergleich zum erstinstanzlichen Verfahren. Zentraler Aspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beweismittel.720 Erforderlich hierfür ist entweder eine mündliche Verhandlung oder die Durchführung einer Beweisaufnahme. Die Ausgestaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Berufungsverfahren hängt folglich davon ab, ob und unter welchen Voraussetzungen eine mündliche Verhandlung bzw. Beweisaufnahme überhaupt stattfindet. Andernfalls kann die Frage nach der Anwesenheit nicht sinnvoll gestellt werden. Im Fokus stehen daher die Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO) sowie der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts (§  529 ZPO). (1)  Die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO) Ist das Berufungsgericht einstimmig davon überzeugt, dass die in §  522 Abs.  2 S.  1 Nr.  1–4 ZPO genannten Gründe vorliegen, soll es die Berufung durch Beschluss zurückweisen (§  522 Abs.  2 S.  1 ZPO). Dies betrifft insbesondere diejenigen Fälle, welche offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben (§  522 Abs.  2 S.  1 Nr.  1 ZPO).721 Das Beschlussverfahren läuft schriftlich, d. h. ohne mündliche Verhandlung ab.722 Der Wortlaut der Vorschrift („soll“) räumt dem Berufungsgericht ein Auswahlermessen ein, ob eine mündliche Verhandlung stattfinden soll (Urteilsverfahren) oder nicht (Beschlussverfahren).723 Als Grundsatz gilt, dass eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nicht möglich ist, wenn eine mündliche Verhandlung geboten ist (§  522 Abs.  2 S.  1 Nr.  4 ZPO).724 Nach dem Willen des Gesetzgebers steht die Entscheidung hierüber nicht im Ermessen des Gerichts.725 Freilich verbleibt aber ein gewisser Beurteilungsspielraum.726 Lehnt das Berufungsgericht das Erfordernis einer mündlichen Verhandlung fälschlicherweise ab, steht dem Berufungsführer als statthaftes Rechtsmittel die Nichtzulassungsbe720 

Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. Hierdurch soll verhindert werden, dass die offensichtlich unterlegene Partei den Rechtsstreit nicht unnötig hinausverzögern kann; BT-Drucks. 14/4722, S.  60. 722  Zöller/Heßler, §  522 ZPO Rn.  33. 723  Musielak/Voit/Ball, §  522 ZPO Rn.  20; Zöller/Heßler, §  522 ZPO Rn.  31; Gehrlein, NJW 2014, 3393 (3395). 724  Meller-Hannich, NJW 2011, 3393 (3395). 725  BT-Drucks. 17/6406, S.  9. Eine mündliche Verhandlung soll ausweislich der Gesetzes­ materialien dann geboten sein, wenn die Rechtssache für den Berufungskläger „existenzielle Bedeutung“ hat. Dies wird insbesondere in Arzthaftungsfällen angenommen. 726  Meller-Hannich, NJW 2011, 3393 (3397). 721 

V.  Inhalt und Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

255

schwerde offen (§§  522 Abs.  3, 544 ZPO).727 Problematisch ist indes, dass eine solche in Bezug auf die unterlassene mündliche Verhandlung regelmäßig nicht erfolgreich sein wird.728 Denkbar wäre ausweislich der Gesetzesmaterialien allenfalls eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art.  103 Abs.  1 GG). Eine solche kann zwar prinzipiell die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gefährden und damit einen Revisionszulassungsgrund darstellen, allerdings setzt der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht zwangsläufig eine mündliche Verhandlung voraus.729 Zusammenfassend ermöglicht §  522 Abs.  2 ZPO dem Berufungsgericht eine mündliche Verhandlung weitestgehend zu umgehen.730 (2)  Der Prüfungsumfang des Berufungsgerichts (§  529 ZPO) Das Berufungsgericht hat bei seiner Verhandlung und Entscheidung die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO). Zu einer eigenen Beweisaufnahme des Berufungsgerichts (§  538 Abs.  1 ZPO) kommt es nur, wenn die Bindung an die bereits in erster Instanz getroffenen Feststellungen entfällt.731 Hierfür müssen „konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten“ (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO). Der Berufungskläger muss „objektivierbare rechtliche oder tatsächliche [Einwände] gegen die erstinstanzlichen Feststellungen“732 vortragen. In diesem Fall kommen die §§  355 ff. ZPO zur Anwendung.733 (3)  Ergebnis Der Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt wegen der Verweisungsnorm des §  525 S.  1 ZPO auch in zweiter Instanz. Durch die Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO) sowie der Bindung an erstinstanzlich festgestellte Tatsachen (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO) reduziert sich die Häufigkeit von mündlichen Verhandlungen bzw. Beweisaufnahmen,734 sodass die Anwendung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes letztendlich von den Eigenheiten des Berufungsverfahrens abhängig ist. 727  §  522 Abs.  3 ZPO fingiert ein Urteil des Berufungsgerichts, in welchem die Revision nicht zugelassen wurde. Überprüft wird daher nicht die Rechtmäßigkeit des Zurückweisungsbeschlusses, sondern das Vorliegen der Revisionszulassungsgründe nach §  543 Abs.  2 ZPO; siehe dazu Meller-Hannich, NJW 2011, 3393 (3396); BT-Drucks. 17/5334, S.  8. 728  Zöller/Heßler, §  522 ZPO Rn.  40; Gehrlein, NJW 2014, 3393 (3394) [„kein Verfahrensmangel“]. 729  BT-Drucks. 17/5388, S.  1. 730  Gehrlein, NJW 2014, 3393 (3395). 731  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  138 Rn.  48. 732  BGHZ 159, 254 (258) = NJW 2004, 2828 (2829); BGHZ 164, 330 (332) = NJW 2006, 152 (153); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  138 Rn.  44. 733  MünchKommZPO/Rimmelspacher, §  538 ZPO Rn.  11. 734  Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchungen, S.  192 („deut­ lich messbarer Rückgang der Beweisaufnahmen“).

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

bb)  Die Überprüfbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz Von der Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist die Frage zu trennen, ob dieser bzw. dessen Verletzung in erster Instanz der gerichtlichen Kontrolle des Berufungsgerichts unterliegt. Die Diskussion hierüber entzündet sich im Schrifttum vor allem an §  355 Abs.  2 ZPO. Richtigerweise muss man die Norm im Einklang mit der wohl überwiegenden Auffassung so verstehen, dass nur eine isolierte Anfechtbarkeit des Beschlusses, die Beweisaufnahme einem beauftragten oder ersuchten Richter zu übertragen, nicht in Betracht kommt.735 Im Rechtsmittelverfahren sind die dem Endurteil vorausgegangenen Entscheidungen grundsätzlich einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich (§§  512, 557 Abs.  2 ZPO). Wenn §  355 Abs.  2 ZPO explizit lediglich eine „Anfechtung des Beschlusses“ ausschließt, wird dadurch nicht die Überprüfbarkeit der erstinstanzlichen Entscheidung blockiert. Insofern muss im Rahmen des Berufungsverfahrens die Möglichkeit bestehen, eine Nachprüfung der Voraussetzung von den Ausnahmen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vorzunehmen.736 Dies gilt freilich nicht nur für die Problematik der Delegation der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter, sondern auch für die Ausnahmen zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO.737 Die Überprüfbarkeit ergibt sich daraus, dass die Berufung darauf gestützt werden kann, dass eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (§§  513 Abs.  1, 546 ZPO). Hierunter fallen insbesondere Fehler im Rahmen der Subsumtion unter einen Rechtssatz.738 Dem stehen die §§  295 Abs.  1, 534 ZPO nicht entgegen, schließlich können die Parteien – wie gezeigt – auf die Einhaltung der Unmittelbarkeit nicht wirksam verzichten.739 Aus dem Wesen der Verfahrensgrundsätze folgt, dass deren Missachtung einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne von §  538 Abs.  2 Nr.  1 ZPO darstellt,740 sodass das Berufungsgericht die Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht zurückverweisen kann. Auch nach Abschluss des Berufungsverfahrens kann die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eine Rolle spielen, insbesondere bei der Frage, ob ein Revisionszulassungsgrund im Sinne von §  543 Abs.  2 ZPO vorliegt. Teilweise wird unter Hinweis auf die Rechtsprechung des XI. Zivilsenats behauptet, bei der Verletzung von Verfahrensgrundsätzen handle es sich regelmäßig um eine 735 

Zum Meinungsstand siehe die Ausführungen oben unter §  5 I. 4. Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  341 f.; ebenso Müller, DRiZ 1977, 305 (306); a. A. Münch­ KommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  19. 737  Zur systematischen Trennung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO und §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO siehe oben unter §  5 IV. 3. a). 738  Stein/Jonas/Jacobs, §  546 ZPO Rn.  26 f.; Zöller/Heßler, §  546 ZPO Rn.  6 f.; MünchKommZPO/Krüger, §  546 ZPO Rn.  4; deutlich Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  342: „Die Subsumtion des konkreten Falls unter die abstrakte Regel muß überprüfbar sein, eine andere Praxis verletzt das Recht auf Beweis.“. 739  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 4. c). 740  So zu Recht OLG Köln NJW-RR 1987, 1152 (für den Mündlichkeitsgrundsatz); Musielak/ Voit/Musielak, Einleitung Rn.  53; a. A.  MünchKommZPO/Rimmelspacher, §  538 ZPO Rn.  30; BeckOK/Wulf, §  538 ZPO Rn.  12. 736 

VI.  Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfassung

257

„Rechtssache grundsätzliche[r] Bedeutung“ (§  543 Abs.  2 Nr.  1 ZPO).741 In der angegebenen Entscheidung wird allerdings nicht auf Verfahrensgrundsätze im Allgemeinen eingegangen, sondern eine „grundsätzliche Bedeutung“ im Falle eines Verstoßes gegen Verfahrensgrundrechte angenommen. Wenngleich namentlich der Anspruch auf rechtliches Gehör, der Anspruch auf ein faires Verfahren sowie die prozessuale Waffengleichheit von Verfassungs wegen als zivilprozessuale Verfahrensgrundsätze anzuerkennen sind,742 kann dennoch nicht automatisch vom Speziellen auf das Allgemeine geschlossen werden. Im Ergebnis ist jedoch eine „Rechtssache grundsätzliche[r] Bedeutung“ bei Verstößen gegen Verfahrensgrundsätze zu bejahen. Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache wird bejaht, „wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann, oder wenn andere Auswirkungen des Rechtsstreits auf die Allgemeinheit deren Interessen in besonderem Maße berühren und ein Tätigwerden des Bundesgerichtshofs erforderlich machen.“743 Dass diese Voraussetzungen regelmäßig erfüllt sein werden, ergibt sich wiederum aus dem Wesen der Verfahrensgrundsätze. Diese gelten nicht nur für eine Vielzahl von Fällen, sondern stellen als Regelungen von „prinzipieller Bedeutung“ die „Grundentscheidungen“ des Gesetzgebers hinsichtlich des Ablaufs, der Gestaltung, der Struktur sowie der Aufgabenverteilung innerhalb des Verfahrens dar.744 Liegt eine Verletzung eines Verfahrensgrundsatzes vor, hat die Rechtssache regelmäßig grundsätzliche Bedeutung im Sinne von §  543 Abs.  2 Nr.  1 ZPO. Die Revision wäre in diesem Fall zuzulassen.

VI.  Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfassung Abschließend soll die Frage nach etwaigen verfassungsrechtlichen Grundlagen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes aufgeworfen werden. Die Beschäftigung mit dieser Thematik ist erforderlich, da die verfassungsrechtliche Verankerung ein Faktor zur Bestimmung der „Wichtigkeit“ ist, welche selbst wiederum Aufschluss über das Vorliegen eines Verfahrensgrundsatzes gibt.745

741  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  141 Rn.  5 mit Verweis auf BGHZ 152, 182 (192 f.) = NJW 2003, 65 (68). 742  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. a). 743  BGHZ 159, 135 (137) = NJW 2004, 2222 (2223) m. w. N. Siehe zum Begriff der grundsätzlichen Bedeutung auch Wieczorek/Schütze/Prütting, §  543 ZPO Rn.  11 ff.; MünchKommZPO/ Krüger, §  543 ZPO Rn.  6 ff. 744  Siehe hierzu die entsprechenden Nachweise oben unter §  2 II. 1. 745  Siehe hierzu oben unter §  2 III. 6. a) dd).

258

§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

1.  Der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz Ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz von Verfassungs wegen geboten ist, wird insbesondere für das Strafprozessrecht diskutiert.746 Das BVerfG verneint diese Frage. Eine Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes („Recht auf unmittelbare Beweis­ aufnahme“) sei erst dann verfassungsrechtlich zu beanstanden, wenn „dadurch der rechtsstaatliche Charakter des Verfahrens ernstlich beeinträchtigt würde.“747 Dies wird man allerdings erst im Falle richterlicher Willkür annehmen können.748 In der Literatur finden sich dagegen Stimmen, welche eine verfassungsrechtliche Verankerung der Unmittelbarkeit bejahen. Insbesondere Schorn will eine solche aus der Menschenwürde (Art.  1 Abs.  1 S.  1 GG) ableiten.749 Gerade der Unmittelbarkeitsgrundsatz stelle sicher, dass die Würde des Angeklagten bestmöglichst geschützt werde.750

2.  Der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz Im zivilprozessualen Schrifttum wird eine verfassungsrechtliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes überwiegend abgelehnt.751 Zur Begründung wird zumeist auf die soeben angesprochene Grundsatzentscheidungen des BVerfG zum Strafprozessrecht verwiesen. Dies ist indes problematisch, da sich die Entscheidung auf das „Recht auf unmittelbare Beweisaufnahme“ und damit auf die materielle Unmittelbarkeit bezieht. Eine solche existiert im Zivilprozess jedoch nicht.752 Bereits aus diesem Grund ist eine Übertragung der Rechtsprechung des BVerfG auf die ZPO nicht möglich. Dies hinderte die Karlsruher Richter dennoch nicht daran, genau dies in einer Entscheidung aus dem Jahre 2008 zu tun.753 Zur Begründung wurde ausdrücklich auf die frühere Entscheidung zur StPO verwiesen und angeführt, dass die dort aufgestellten Grundsätze für den Zivilprozess erst recht gelten müssten. Immerhin unterliege der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz der 746 

Siehe dazu jüngst Krüger, Unmittelbarkeit, S.  292 ff. m. w. N. BVerfGE 1, 418 (419) = NJW 1953, 177 (178); ähnlich BVerfGE 57, 250 (274) = NJW 1981, 1719 (1722): „Der Anspruch auf rechtliches Gehör gewährt indessen weder ein Recht auf ein bestimmtes Beweismittel noch auf bestimmte Arten von Beweismitteln.“. 748  Stürner, in: FS Baur, S.  6 47 (665); Fricker, Umfang und Grenzen, S.  110. 749  Gleiches soll seiner Ansicht nach für die Verfahrensgrundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit gelten; Schorn, Schutz der Menschenwürde, S.  54 ff. 750  Schorn, Schutz der Menschenwürde, S.  65; kritisch dazu Krüger, Unmittelbarkeit, S.  303 ff. 751  MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1; Zöller/Greger, §  355 ZPO Rn.  1; Stürner, in: FS Baur, S.  647 (665 f.); Vorwerk, in: FS Krämer, S.  551 (558 f.); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (368); Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (153); Fricker, Umfang und Grenzen, S.  110; a. A. wohl Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (64), welcher eine „verfassungsrechtliche Essenz der Unmittelbarkeit“ annimmt; ebenso Haverkämper, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.  123 ff. (für das Verwaltungsprozessrecht). 752  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. b). 753  BVerfG NJW 2008, 2243 (2244). 747 

VI.  Unmittelbarkeitsgrundsatz und Verfassung

259

Parteidisposition.754 Diese Judikatur ist aus zweierlei Gründen abzulehnen: Zum einen können die Parteien über den Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht disponieren.755 Zum anderen greift das Argument der Disponibilität selbst für den Fall nicht, dass eine solche bestünde. Dies zeigt ein Vergleich mit den Grundrechten. Auf deren Beachtung kann der Bürger zwar nicht generell, aber zumindest im konkreten Einzelfall verzichten.756 Die Möglichkeit eines Grundrechtsverzichts ändert aber nichts an der verfassungsrechtlichen Geltung des jeweiligen Grundrechts – mit anderen Worten: Aus der Disponibilität eines Grundsatzes kann nicht auf eine fehlende verfassungsrechtliche Verankerung geschlossen werden. Auch eine Argumentation mit Hilfe der Menschenwürde im Sinne Schorns ist nicht weiterführend. Seine Ausführungen beziehen sich explizit auf den Schutz der Würde des Angeklagten und sind daher bereits im Ansatz nicht auf den Zivilprozess übertragbar.757 Zur Bestimmung einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes muss richtigerweise auf dessen zuvor ermittelten Inhalt zurückgegriffen werden. Zentraler Aspekt ist demnach die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beweismittel.758 Im Strafprozess besteht eine Anwesenheitspflicht des Angeklagten (§  230 Abs.  1 StPO).759 Mit dieser korrespondiert ein Anwesenheitsrecht, welches Ausfluss des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs (Art.  103 Abs.  1 GG) ist.760 Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz sei wegen Art.  103 Abs.  1 GG von Verfassungs wegen geboten. Eine solche Sichtweise würde die Tatsache unberücksichtigt lassen, dass das Anwesenheitserfordernis auch die Richter und die Beweismittel umfasst. Ebenso wenig lässt sich das Recht auf ein faires Verfahren als verfassungsrechtliche Lozierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes anführen. Zwar muss dieses als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips im Einzelfall inhaltlich konkretisiert werden,761 jedoch hat das BVerfG Leitlinien formuliert: Das zivilprozessuale Gebot eines fairen Verfahrens umfasst insbesondere eine „faire Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln“762 754 

BVerfG NJW 2008, 2243 (2244). Siehe hierzu oben unter §  5 V. 4. c). 756  Siehe statt vieler Stern, Staatsrecht, S.  887 ff., 894 ff. m. w. N. 757  Aber auch inhaltlich muss die Ansicht Schorns kritisch betrachtet werden. Insbesondere stellt sich das Problem, dass – unterstellt sie wäre zutreffend – Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit im Straf-, Zivil- und Verwaltungsprozess gleichermaßen ausgestaltet sein müssten. Dies ist de lege lata aber nicht der Fall; siehe dazu Krüger, Unmittelbarkeit, S.  303 ff. 758  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 759  Rieß, JZ 1975, 265 (266). 760  Löwe-Rosenberg/Becker, §  230 StPO Rn.  1; Rieß, JZ 1975, 265 (267). 761  BVerfGE 57, 250 (275 f.) = NJW 1981, 1719 (1722); Vollkommer, in: GS Bruns, S.  195 (215). 762  BVerfGE 52, 131 (145) = NJW 1979, 1925, wonach diese im Bereich des Arzthaftungsrechts eine entscheidende Rolle spielen. Zu überlegen wäre in diesem Zusammenhang die Frage, ob nicht der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) Verfassungsrang besitzt. Möglich wäre dies, wenn man die Beweiswürdigung als Teilkomponente des grundgesetzlich garantierten „Rechts auf Beweis“ begreift; hierfür wohl Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  304; offengelassen dagegen bei Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 (329 ff.). Der Unmittelbarkeitsgrundsatz 755 

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§  5:  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

sowie das Verbot widersprüchlichen Verhaltens des Richters, das Verbot eigene Verfahrensfehler den Parteien anzulasten und das allgemeine Gebot der Rücksichtnahme.763 Zusammenfassend will das Gebot eines fairen Verfahrens Verfahrensgerechtigkeit im Einzelfall herstellen, indem es bestimmte rechtsstaatliche Minimalanforderungen an den Zivilprozess aufstellt.764 Dies setzt aber nicht zwangsläufig die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes voraus.765 Abschließend kann man die Frage aufwerfen, ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) abgesichert wird.766 Der Rückgriff auf die EMRK ist zunächst insofern problematisch, als diese in Deutschland nur als einfaches Bundesrecht in die innerdeutsche Rechtsordnung inkorporiert wurde (sog. Transformationslehre).767 Wenngleich die EMRK in Deutschland keinen Verfassungsrang besitzt, so werden insbesondere die Grundrechte im Lichte der EMRK ausgelegt. Begründet wird dies mit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, wodurch ein Gleichlauf zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Völkerrecht erreicht wird.768 Art.  6 Abs.  1 EMRK gewährt ein Recht auf ein faires Verfahren.769 Dieses gilt sowohl für Straf- als auch Zivilverfahren („über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“).770 Allerdings enthält die EMRK für zivilprozessuale Streitigkeiten keinen Mindestkatalog an Rechten, welche Ausdruck eines fairen Verfahrens sein sollen. Art.  6 Abs.  3 EMRK gilt aufgrund seines klaren Wortlauts („Jede angeklagte Person […]“) nur für Strafprozesse.771 Insofern wird man die bereits getroffenen Wertungen des Grundgesetzes heranziehen können. ist jedoch nicht in §  286 Abs.  1 ZPO verankert. Er führt lediglich zu einer Erleichterung der freien Beweiswürdigung, indem er die Voraussetzungen hierfür schafft. Insofern könnte man hiermit allenfalls eine mittelbare verfassungsrechtliche Absicherung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ableiten. Ein „eigener Verfassungsrang“ der Unmittelbarkeit ließe sich dagegen nicht begründen. Darüber hinaus müsste man bei einer Bejahung des Verfassungsrangs von §  286 Abs.  1 ZPO darlegen, wie sich dieser zu den diversen Ausnahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (insbesondere §§  165, 314, 415 ff. ZPO) verhält. 763  BVerfGE 78, 123 (126). 764  Vollkommer, in: GS Bruns, S.  195 (216 f.). 765  Ähnlich Dörr, Faires Verfahren, S.  167: „Das Recht auf persönliche Teilnahme an der Gerichtsverhandlung ist nicht in jedem Fall unabdingbare Voraussetzung eines ‚fairen Verfahrens‘ im Zivilprozeß.“. 766  Hierfür Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1288 ff.). 767  BVerfGE 111, 307 (315 ff.) = NJW 2004, 3407 (3408); Ipsen, Staatsrecht II, Rn.  47; Dörr, Faires Verfahren, S.  88 ff. m. w. N. auch zur Gegenansicht. 768  BVerfGE 111, 307 (317 f.) = NJW 2004, 3407 (3408); Dörr, Faires Verfahren, S.  148 ff. 769  Zum Verhältnis von Art.  6 EMRK zum strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatz siehe Krüger, Unmittelbarkeit, S.  308 ff. 770  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  310. 771  Dörr, Faires Verfahren, S.  166; ebenfalls gegen eine Ableitung aus Art.  6 Abs.  1 EMRK Stürner, in: FS Baur, S.  647 (665); Fricker, Umfang und Grenzen, S.  110; a. A. Wolf, in: FS Söllner, S.  1279 (1289 f.), wonach die in Art.  6 Abs.  3 EMRK genannten Rechte nur beispielhaft zu verstehen seien und der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Ausprägung des rechtlichen Gehörs sowie dem Anspruch auf ein faires Verfahren entnommen werden könne.

VII.  Zusammenfassung

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3.  Ergebnis Der zivilprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz ist nicht von Verfassungs wegen geboten. Ferner kann er nicht Art.  6 Abs.  1 EMRK entnommen werden.

VII.  Zusammenfassung Die Meinungen über den genauen Inhalt und die Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gehen in der Literatur auseinander. Trotz seiner Geltung seit Inkrafttreten der Reichs-Civilprozeßordnung im Jahre 1879 konnte bislang kein überzeugendes dogmatisches Konzept vorgelegt werden. Nach der hier vertretenen Ansicht fördert der Unmittelbarkeitsgrundsatz die „Personalität des Prozesses“, indem er im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf die körperliche Anwesenheit der Parteien abzielt und im Rahmen der Beweisaufnahme die körperliche Präsenz der Richter und der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme verlangt. Zentraler Aspekt des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beweismittel. Weitere „Säulen“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes existieren nicht: Die „materielle Unmittelbarkeit“ ist als Erfahrungssatz im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) zu qualifizieren, ohne dass es sich gleichzeitig um einen Verfahrensgrundsatz handelt. Die „zeitliche Unmittelbarkeit“ sollte dogmatisch als eine Komponente des Konzentrationsgrundsatzes betrachtet werden. Darauf aufbauend lassen sich die bisher im Schrifttum umstrittenen Fragen hinsichtlich des Unmittelbarkeitsgrundsatzes adäquat lösen. Trotz seiner Bedeutung für das Zivilprozessrecht ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz weder grundgesetzlich noch in Art.  6 Abs.  1 EMRK verankert.

Teil 3

Gegenwart und Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart Zur Beantwortung der Frage, welche Bedeutung dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Gegenwart zukommt, werden im Folgenden die wichtigsten Gesetzesnovellen seit der Jahrtausendwende näher beleuchtet.1 Bei allen Gesetzesänderungen wird unter Berücksichtigung der gesetzgeberischen Motive untersucht, ob sich jene mit der Dogmatik der Unmittelbarkeit in Einklang bringen lassen bzw. ob die Neuerungen möglicherweise bereits zu einer Neujustierung der dogmatischen Grundlagen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes geführt haben.

I.  Zivilprozessreformgesetz (2001) 1.  Ziele und Motive des Gesetzgebers Nachdem der Gesetzgeber erkannt hatte, dass die zivilprozessualen Reformen aus den 1990er Jahren die in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt hatten,2 wurde im Jahre 2001 das Zivilprozessreformgesetz erlassen.3 Hierdurch sollte „eine umfassende Modernisierung der Zivilgerichtsbarkeit durch eine grundlegende Strukturreform“4 vorgenommen werden. Die gesetzgeberischen Ziele können mit den Schlag­ worten „Bürgernähe“, „Effizienz“ und „Transparenz“ zusammengefasst werden.5 Das Verfahren sollte an die „zunehmende Verrechtlichung des Alltagslebens“ sowie den „rasanten Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien“ angepasst werden.6 Ferner klingt der Aspekt der Verfahrensbeschleunigung an diver1  Auf die geplante sog. „Große Justizreform“, welche sich letztendlich nicht durchsetzen konnte, wird im Folgenden nicht eingegangen; siehe hierzu Weth, ZZP 120 (2007), 135 ff.; ferner Calliess, in: Gutachten A zum 70. DJT, S. A 12 ff. 2  BT-Drucks. 14/4722, S.  58. Zu den Gesetzesnovellen seit 1945 siehe oben unter §  4 V. 3  Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz – ZPO-RG) vom 27. Juli 2001, BGBl. I, S.  1887. Siehe dazu Bachmann, in: Gerichtsverfahren, S.  1 (10 ff.); Saenger, Rechtstheorie 31 (2000), 413 (421 ff.); überblicksartig zu den Änderungen Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  202. 4  BT-Drucks. 14/4722, S.  61. 5  Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (17) spricht von „Rationalisierung“. 6  BT-Drucks. 14/4722, S.  1.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

sen Stellen an.7 Nicht zuletzt erhoffte man sich durch die Reform eine erhöhte Zufriedenheit und Akzeptanz bei den Bürgern schaffen zu können und dadurch Rechtsfrieden und Rechtssicherheit nachhaltig zu gewährleisten.8 Das Zivilprozess­ reformgesetz versuchte diese Ziele im Wesentlichen durch eine Stärkung des erstinstanzlichen Verfahrens, die Ausweitung des Einzelrichterprinzips sowie eine Überarbeitung des Berufungs- und Revisionsrechts zu erreichen.9 Aufgrund der Vielzahl an vorgenommenen Änderungen kann das Zivilprozessreformgesetz als die bis dato grundlegendste Reformierung der ZPO seit ihrem Erlass im Jahre 1877 bezeichnet werden.10

2.  Relevante Änderungen Die für den Unmittelbarkeitsgrundsatz relevanten Änderungen sind die Einführung der Videotechnik (§  128a ZPO), die Einführung des originären und obligatorischen Einzelrichters beim Landgericht (§§  348, 348a ZPO), die Anpassung der Vorschrift über die kommissarische Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis an die Einführung der Videotechnik (§  375 ZPO) sowie die Überarbeitung des Rechtsmittelrechts (§§  511 ff. ZPO).11 a)  Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung (§  128a ZPO) Mit §  128a ZPO wurde die Möglichkeit der Durchführung von Videokonferenzen bzw. audiovisuellen Vernehmungen im Zivilprozess eingeführt.12 Die ersten Überlegungen hierzu gehen auf die Justizministerkonferenz im Jahre 1995 zurück und   7  Siehe etwa BT-Drucks. 14/4722, S.  58: „Eine Reform des Zivilprozesses muss die strukturellen Rahmenbedingungen dafür verbessern, dass die Prozessparteien schnell zu ihrem Recht kommen […].“.   8  BT-Drucks. 14/4722, S.  58.   9  BT-Drucks. 14/4722, S.  61 f.; ähnlich Bachmann, in: Gerichtsverfahren, S.  1 (10). 10  Bachmann, in: Gerichtsverfahren, S.  1 (10); ähnlich MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  133 („erheblich umgestaltet“). 11  Durch das Zivilprozessreformgesetz wurden ferner die §§  278, 279 ZPO überarbeitet. §  279 Abs.  3 ZPO n. F., welcher dem bisherigen §  278 Abs.  2 S.  2 ZPO a. F. entspricht, wurde dahingehend erweitert, dass nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht nur der Sach- und Streitstand, sondern nunmehr auch „soweit bereits möglich, das Ergebnis der Beweisaufnahme mit den Parteien zu erörtern“ ist; BT-Drucks. 14/4722, S.  84; siehe hierzu oben unter §  5 IV. 7. a). §  279 Abs.  3 ZPO ist indes Ausdruck der „zeitlichen Unmittelbarkeit“, welche nach vorzugswürdiger Ansicht dem Konzentrationsgrundsatz zugeordnet werden sollte; siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. c) cc). Daher wird im Folgenden auf die §§  278, 279 ZPO nicht mehr eigens eingegangen. 12  Terminologisch sollte zwischen einer „Videokonferenz“ und einer „audiovisuellen Vernehmung“ differenziert werden. Der Unterschied zwischen beiden Begriffen besteht darin, dass eine „audiovisuelle Vernehmung“ eine Vernehmung eines Zeugen, eines Sachverständigen oder einer Partei – und damit eine Form der Beweisaufnahme – meint, wohingegen der Ausdruck „Videokonferenz“ umfasst, dass die Parteien des Prozesses selbst in Bild und Ton zugeschaltet sein können und von einem anderen Ort als dem Gerichtssaal Prozesshandlungen vornehmen können; ähnlich Glunz, Psychologische Effekte, S.  6.

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wurden in den darauffolgenden Jahren in diversen Modellversuchen und Pilotprojekten auf ihre Praxistauglichkeit hin untersucht.13 Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war die Einführung von Videotechnik ursprünglich nicht vorgesehen. Erst der Rechtsausschuss hatte in seiner Stellungnahme die Einfügung von §  128a ZPO empfohlen.14 Nach dem gesetzgeberischen Willen dient §  128a ZPO der Verwirklichung der Prozessökonomie.15 Insbesondere sollen Zeit und Kosten eingespart und das Verfahren an sich beschleunigt werden.16 Nicht zuletzt ist der deutsche Gesetzgeber mit diesem Schritt der Entwicklung in anderen Ländern gefolgt.17 aa)  Anwendungsbereich und Voraussetzungen für die Durchführung §  128a ZPO regelt sowohl die Voraussetzungen für die Durchführung einer Videokonferenz (Abs.  1) als auch für eine audiovisuelle Vernehmung (Abs.  2), wobei beide Möglichkeiten freilich die Verfügbarkeit der hierfür erforderlichen technischen Ausrüstung voraussetzen.18 (1)  Videokonferenz (§  128a Abs.  1 ZPO) Das Gericht kann den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag gestatten, Verfahrenshandlungen von einem anderen Ort als dem Sitzungssaal vorzunehmen. Voraussetzung hierfür ist das Einverständnis der Parteien (§  128a Abs.  1 S.  1 ZPO).19 Die Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts („kann“).20 Interessanterweise findet sich in den Gesetzesmaterialien kein Hinweis darauf, welche Gesichtspunkte im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berück13  Sauerwein, Moderne Kommunikationstechnologie, S.  158 ff. Besonders bekannt wurde das Projekt „Virtuelles Verwaltungsgericht“ des VG Sigmaringen; zu den dort gemachten Erfahrungen mit dem Einsatz von Videotechnik siehe Nissen, Online-Videokonferenz, S.  208 ff.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  47 f. 14  BT-Drucks. 14/6036, S.  9 f., 116; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (437); Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  1. 15  BT-Drucks. 14/6036, S.  119; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  128a ZPO Rn.  2. 16  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  79 Rn.  55; Glunz, Psychologische Effekte, S.  346. Insofern besteht hinsichtlich des Sinn und Zwecks der Vorschrift ein Unterschied zur strafprozessualen Parallelregelung (§  247a StPO), da diese den Schutz von Zeugen gewährleisten will; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (437). 17  Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (442); Sauerwein, Moderne Kommunikationstechnologie, S.  167 ff. Siehe hierzu die Ausführungen im rechtsvergleichenden Teil (§  3). 18  BT-Drucks. 14/6036, S.  120; Burkhard, DStZ 2003, 639 (zum Verwaltungsprozessrecht). Ein Anspruch auf Anschaffung der entsprechenden Technik soll ausweislich der Gesetzesmaterialien nicht bestehen; zustimmend Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  5; a. A. BeckOK/von Selle, §  128a ZPO Rn.  2.1. 19  Umstritten ist die Frage, ob darüber hinaus das Einverständnis sonstiger Verfahrensbeteiligter erforderlich ist; ausführlich hierzu Nissen, Online-Videokonferenz, S.  39 ff. 20  Nissen, Online-Videokonferenz, S.  54; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  128a ZPO Rn.  9; Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  13; a. A. Thomas/Putzo/Reichold, §  128a ZPO Rn.  4, welcher wegen der Unanfechtbarkeit der Entscheidung (§  128a ZPO Abs.  3 S.  2 ZPO) von einem freien Ermessen ausgeht.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

sichtigen sein sollen. Es wird lediglich klargestellt, dass das Gericht „in begründeten Fällen entgegen dem übereinstimmenden Willen beider Parteien ein Erscheinen vor dem erkennenden Gericht anordnen [kann], wenn dies zur Aufklärung des Sachverhalts oder zur Herbeiführung einer gütlichen Beilegung des Rechtsstreits geboten erscheint.“21 Jedenfalls müssen die gesetzgeberischen Ziele der Ko­sten­ reduzierung und Beschleunigung in die Ermessensentscheidung einbezogen werden, sodass diese beiden Aspekte mit der den Regelfall bildenden körperlichen Anwesenheit eines Verfahrensbeteiligten abzuwägen sind.22 Die Verhandlung wird zeitgleich in Bild und Ton an beide Orte übertragen, weshalb die körperliche An­ wesenheit der zugeschalteten Personen entbehrlich wird.23 Mengenmäßige Einschränkungen lassen sich der Norm nicht entnehmen, sodass im Extremfall nur noch der bzw. die Richter selbst im Sitzungssaal anwesend sein können.24 Der Verzicht auf die körperliche Anwesenheit eines Verfahrensbeteiligten hat nicht nur tatsächliche, sondern insbesondere rechtliche Auswirkungen. Wie der Wortlaut von §  128a Abs.  1 ZPO zeigt, werden etwaige Verfahrenshandlungen „während einer Verhandlung“ vorgenommen – mit anderen Worten: Die Prozesserklärungen der Beteiligten werden „in der mündlichen Verhandlung“ abgegeben.25 Folglich gilt die über Bild und Ton zugeschaltete Partei trotz ihrer körperlichen Abwesenheit im Rechtssinne als anwesend.26 Die Videokonferenz stellt keine Verhandlung unter Abwesenden, sondern eine Verhandlung unter Anwesenden dar.27 §  128a Abs.  1 ZPO führt insoweit zu einer Gleichstellung von körperlicher und virtueller Anwesenheit. Daher wird die Videokonferenz teilweise als „modifizierte mündliche Verhandlung unter Anwesenden“28 bezeichnet. Trotz dieser rechtlichen Konsequenz ändert die Durchführung einer Videokonferenz freilich nichts an der Tatsache, dass ein Verfahrensbeteiligter faktisch nicht physisch im Gerichtssaal anwesend ist. 21  BT-Drucks. 14/6036, S.  120; darauf ebenfalls hinweisend Glunz, Psychologische Effekte, S.  51 f., 288. 22  Glunz, Psychologische Effekte, S.  346; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (438); BGHSt 45, 188 (196) = NJW 1999, 3788 (3790) [zum Strafprozessrecht]; ausführlich zur Ermessensausübung Nissen, Online-Videokonferenz, S.  54 ff. Teilweise wird der persönliche Eindruck von einem Verfahrensbeteiligten nicht als relevanter Punkt für die Ermessensausübung genannt, denn diese seien zum persönlichen Erscheinen nicht verpflichtet; Burkhard, DStZ 2003, 639 (644) [zum Verwaltungsprozessrecht]. Diese Ansicht verkennt jedoch, dass auch der Inhalt der Verhandlungen Teil der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) ist. Dies umfasst insbesondere die Würdigung des Verhaltens einer Partei. 23  Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  1; Sensburg, DRiZ 2013, 126. 24  Glunz, Psychologische Effekte, S.  40. 25  Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  4; Heckel, VBlBW 2001, 1 (3). 26  Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  4; Glunz, Psychologische Effekte, S.  42; Heckel, VBlBW 2001, 1 (3); a. A. wohl Holin, Elektronischer Ablauf, S.  158 („wie bei einem Gespräch unter Anwesenden“); kritisch auch Fischer, Justiz-Kommunikation, S.  63. 27  Heckel, VBlBW 2001, 1 (3); Schaumburg, ZRP 2002, 313 (315). 28  Schaumburg, ZRP 2002, 313 (315).

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(2)  Audiovisuelle Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) §  128a Abs.  2 ZPO regelt die audiovisuelle Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen oder einer Partei. Das Gericht kann im Einverständnis mit den Parteien gestatten, dass sich eine Beweisperson während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält. Der Anwendungsbereich beschränkt sich auf die personellen Beweismittel, d. h. Beweisaufnahmen mittels Urkunden oder Augenschein sind im Rahmen von §  128a Abs.  2 ZPO nicht möglich.29 Hierfür spricht der Wortlaut, welcher diesbezüglich abschließend ist.30 Dieser macht ferner deutlich („während der Vernehmung“), dass – wie im Falle von §  128a Abs.  1 ZPO – die Vernehmung rechtlich gesehen als Vernehmung eines Anwesenden gilt. Insofern handelt es sich bei der audiovisuellen Vernehmung um eine besondere Art und Weise der Beweisaufnahme.31 In systematischer Hinsicht hätte die Norm daher eher in den Abschnitt über die allgemeinen Vorschriften über die Beweisaufnahme (§§  355 ff. ZPO) integriert werden müssen.32 bb)  Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Die gesetzliche Einführung der Videotechnik wirft die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit den geltenden Verfahrensgrundsätzen der ZPO auf.33 Hinsichtlich des Verhältnisses zum Unmittelbarkeitsgrundsatz existiert ein sehr geteiltes Meinungsspektrum. Der Gesetzgeber selbst äußert sich zu dieser Frage nicht direkt. In den Gesetzesmaterialien zu §  128a ZPO heißt es lediglich: „Insoweit wird der Grundsatz des §  128 Abs.  1 ZPO, nach dem die Parteien über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich verhandeln, im Interesse der Prozessökonomie durchbrochen.“34

Ob hiermit die Mündlichkeit oder die Unmittelbarkeit gemeint sein soll, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Der Verweis auf §  128 Abs.  1 ZPO, die systematische Verortung in den Vorschriften über die mündliche Verhandlung (§§  128 ff. ZPO) sowie die Ausführungen zu §  375 Abs.  1 ZPO n. F.35 legen aber ein Verständnis 29  A. A. Schultzky, NJW 2003, 313 (314); einschränkend Zöller/Greger, §  128a ZPO Rn.  7, welcher nur einen „Video-Augenschein“ zulassen möchte. 30  Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  5; Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  21; MünchKommZPO/Wagner, §  128a ZPO Rn.  5; BeckOK/von Selle, §  128a ZPO Rn.  10; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (442). 31  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (371) [„Sonderform der Beweisaufnahme“]. 32  Zutreffend Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (438); Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (138); Zöller/ Greger, §  128a ZPO Rn.  1. 33  Siehe hierzu Nissen, Online-Videokonferenz, S.  137 ff.; Glunz, Psychologische Effekte, S.  290 ff. 34  BT-Drucks. 14/6036, S.  119. 35  Dort heißt es, dass eine audiovisuelle Vernehmung „wegen größerer Unmittelbarkeit“ gegenüber einer kommissarischen Beweisaufnahme bevorzugt werden müsse; BT-Drucks.  14/6036, S.  122. Siehe hierzu später unter §  6 I. 2. c).

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

nahe, wonach der Gesetzgeber durch die Videokonferenz den Mündlichkeitsgrundsatz als tangiert sieht.36 Die Literatur differenziert mehrheitlich zwischen der formellen und der materiellen Unmittelbarkeit.37 Nur teilweise wird eine Zuordnung der Problematik zu einer der beiden Säulen für entbehrlich gehalten.38 Die wohl herrschende Ansicht erblickt im Einsatz von Videotechnik einen Konflikt mit dem materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz.39 Für die ZPO würden sich folglich keine Probleme ergeben, da die herrschende Auffassung eine materielle Unmittelbarkeit im Zivilprozess – zu Recht40 – ablehnt. Die Argumentationslast trifft daher nur diejenigen Stimmen, welche §  128a ZPO als Problem des formellen Unmittelbarkeitsgrundsatzes betrachten,41 wobei ganz überwiegend von einer Vereinbarkeit ausgegangen wird.42 Teilweise wird der Einsatz von Videotechnik sogar als „erneute Hinwendung zur Unmittelbarkeit“43 verstanden. Lediglich Glunz bejaht einen Konflikt mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz, da die Verhandlung und die Beweisaufnahme mangels körperlicher Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten nur mittelbar seien. Das notwendige Einverständnis der Parteien stelle aber einen wirksamen Verzicht auf die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dar.44 Fasst man alle Ansichten zusammen und verneint die Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess und geht zudem von einer Vereinbarkeit mit der formellen Unmittel36  Hierfür auch Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (138); siehe ferner Pohlmann, Zivilprozessrecht, Rn.  85 („besondere Form der Mündlichkeit“); Wieczorek/Schütze/Gerken, §  128a ZPO Rn.  1 („Erleichterung für die mündliche Verhandlung“) zu §  128a Abs.  1 ZPO; a. A. Nissen, Online-Videokonferenz, S.  143, wonach der Gesetzgeber von einer Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ausgegangen sei. 37  Im Strafprozess geht man überwiegend davon aus, dass die audiovisuelle Vernehmung nur den formellen, nicht aber den materiellen Unmittelbarkeitsgrundsatz durchbricht. Siehe hierzu oben unter §  3 I. 1. b) aa). 38  Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (140); Geiger, ZRP 1998, 365 (366); Prütting, AnwBl. 2013, 330 (332); PG/Schneider/Prütting, §  128a ZPO Rn.  4; ebenso Wieczorek/Schütze/Gerken, §  128a ZPO Rn.  2. 39  Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  34; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (440); Schultzky, NJW 2003, 313 (314); ebenso Heckel, VBlBW 2001, 1 (4) [zum Verwaltungsprozessrecht]; hierfür wohl auch Sauerwein, Moderne Kommunikationstechnologie, S.  164; Holin, Elektronischer Ablauf, S.  159. 40  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. b). 41  Glunz, Psychologische Effekte, S.  295; Nissen, Online-Videokonferenz, S.  143. 42  Nissen, Online-Videokonferenz, S.  147 f.; Sauerwein, Moderne Kommunikationstechnologie, S.  157 („weitestgehend gewahrt“); Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  4 Rn.  34; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (440); Schultzky, NJW 2003, 313 (314); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (372); Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  6; ebenso Heckel, VBlBW 2001, 1 (4) [zum Verwaltungsprozessrecht]. Ebenso verneinen diejenigen Stimmen, welche nicht zwischen formeller und materieller Unmittelbarkeit differenzieren, einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz; Prütting, AnwBl. 2013, 330 (332); PG/Schneider/Prütting, §  128a ZPO Rn.  4; a. A. wohl Geiger, ZRP 1998, 365 (366). 43  MünchKommZPO/Damrau, §  375 ZPO Rn.  1; ähnlich Holin, Elektronischer Ablauf, S.  159, wonach es beim Einsatz von Videotechnik erst zur Herbeiführung der formellen Unmittelbarkeit komme. 44  Glunz, Psychologische Effekte, S.  304 f.

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barkeit aus, kommt man zu dem überraschenden Ergebnis, dass für die Einführung von §  128a ZPO streng genommen keine gesetzliche Grundlage erforderlich gewesen wäre.45 Stellt man auf die vorzugswürdige Definition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ab, wonach dessen Kerngehalt die körperliche Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten ist,46 ergibt sich Folgendes: Da sowohl im Falle einer Videokonferenz als auch einer audiovisuellen Vernehmung eine körperliche Anwesenheit der zugeschalteten Person nicht besteht, handelt es sich bei §  128a ZPO um eine Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Insofern ist die Ansicht von Glunz im Ansatz zutreffend, nicht jedoch im Ergebnis. Schließlich können die Parteien nicht wirksam über die Unmittelbarkeit disponieren.47 Es gilt aber zu bedenken, dass §  128a ZPO eine Gleichstellung von körperlicher und virtueller Anwesenheit bewirkt. Der physisch nicht präsente Verfahrensbeteiligte wird rechtlich als anwesend behandelt. In der Literatur wird daher von einer Modifizierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gesprochen.48 §  128a ZPO führe zu einer Weiterentwicklung der Unmittelbarkeit im Sinne einer Anpassung an den technischen Fortschritt.49 Dem ist zuzustimmen. Man könnte genauso gut von einer Erweiterung des Anwendungsbereichs des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sprechen, da dieser nunmehr eine virtuelle Anwesenheit mitumfasst. §  128a ZPO ist mithin keine gewöhnliche Ausnahmevorschrift für einen bestimmten Verfahrensgrundsatz, sondern gestaltet einen solchen inhaltlich sogar um.50 Wenn die virtuelle und damit nicht-körperliche An­wesen­heit als (körperliche) Anwesenheit im Rechtssinne behandelt wird, lässt sich nicht mehr von einer bloß „normalen“ Ausnahmevorschrift sprechen. Eine solche Deutung wäre nur möglich, wenn es sich bei §  128a ZPO um eine Verhandlung bzw. Beweis­ aufnahme unter Abwesenden handeln würde. Dies ist aber nicht der Fall. cc)  Auswirkungen auf die Beweiswürdigung Die Literatur hatte dem Einsatz von Videotechnik immer wieder Vorbehalte und Bedenken entgegengebracht.51 Insbesondere Edinger bezweifelte die Gleichwertigkeit der Videokonferenz im Vergleich zur körperlichen Anwesenheit, da die Ver45 

Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (139 f.). Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 47  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 4. c). 48  Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  22 Rn.  29; Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  4; BeckOK/von Selle, §  128a ZPO Rn.  1; Musielak/Voit, Grundkurs ZPO, Rn.  108. 49  Stein/Jonas/Leipold, §  128a ZPO Rn.  3; Burkhard, DStZ 2003, 639 (644) [zum Verwaltungsprozessrecht]. Im selben Atemzug wird auch von einer Modifizierung des Mündlichkeitsgrundsatzes gesprochen. Richtigerweise ist die körperliche Anwesenheit allein Ausdruck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, sodass durch §  128a ZPO die Mündlichkeit in keiner Weise beeinträchtigt und/ oder verändert wird. 50  Zur darauf basierenden Neudefinition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes siehe später unter §  6 V. 4. c). 51  Siehe hierzu Glunz, Psychologische Effekte, S.  49 ff. m. w. N. 46 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

handlung und die Beweisaufnahme mehr seien „als ein bloß optischer und akustischer Eindruck.“ Die Stimmung und Atmosphäre im Gerichtssaal könne nicht wiedergegeben werden.52 Für den Unmittelbarkeitsgrundsatz sind vor allem die Auswirkungen auf die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) relevant, da jener die hierfür notwendigen Voraussetzungen schafft.53 Bei der Frage, ob eine Behauptung wahr ist oder nicht, hat der Richter zu berücksichtigen, dass der Einsatz von Videotechnik mit zunehmender Distanz zwischen den Beteiligten eine „enthemmende, angstverringernde Wirkung“54 entfaltet. Die Gefahr von Falschaussagen wird dadurch erhöht.55 Hinsichtlich der Aufrichtigkeit von Aussagepersonen sind die vielfach in der Literatur geäußerten Bedenken, eine „Lüge in die Kamera“ falle leichter als eine „Lüge ins Gesicht“,56 zutreffend. Hinzu kommen zwei Probleme, welche die Beweiswürdigung nicht unerheblich erschweren: Erstens unterliegen sowohl die Videokonferenz als auch die audiovisuelle Vernehmung veränderten Wahrnehmungsbedingungen im Vergleich zu einer herkömmlichen Verhandlung bzw. Beweisaufnahme. Der Richter kann beispielsweise etwaige Blickkontakte des Zeugen mit einer Partei oder dessen Verhalten nach Abschluss der Vernehmung nicht in seine Beurteilung einbeziehen.57 Zweitens tritt beim Einsatz von Videotechnik der interessante Effekt ein, dass im Rahmen der Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage verstärkt auf das nonverbale Verhalten der Aussageperson zurückgegriffen wird und die Bedeutung des Aussageinhalts im Gegenzug abnimmt.58 Teilweise wird daher der Einsatz von Videotechnik im Schrifttum als Verbesserung für die Wahrheitsfindung betrachtet, schließlich wäre es technisch möglich, etwaige nonverbale Verhaltensmuster (z. B. Schwitzen, Frequenz der Augenlider) durch gezieltes Vergrößern der Bildaufnahme aufzudecken.59 Problematisch daran ist, dass derartige Vorschläge dem aktuellen Stand der Aussageforschung widersprechen. Danach sollte der Schwerpunkt der Glaubhaftigkeitsanalyse auf dem Aussageinhalt beruhen, da nonverbales Verhalten auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann und insofern unzuverlässig ist.60 Das Heranzoomen an

52 

Edinger, DRiZ 1996, 290; zustimmend Nissen, Online-Videokonferenz, S.  148. Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 54  Glunz, Psychologische Effekte, S.  153. 55  Glunz, Psychologische Effekte, S.  153. 56  Nissen, Online-Videokonferenz, S.  150; Edinger, DRiZ 1996, 290; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (440 f.); Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  7; Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (148). Freilich kann sich die räumliche Distanz im Einzelfall auch positiv auf die Aufrichtigkeit der Aus­ sageperson auswirken; Nissen, Online-Videokonferenz, S.  151 („Mut zur Wahrheit“); ebenso Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  7. 57  Glunz, Psychologische Effekte, S.  171 f.; siehe ferner Nissen, Online-Videokonferenz, S.  153. 58  Glunz, Psychologische Effekte, S.  176; siehe ferner Rieck, Substitut oder Komplement, S.  166. 59  Hierfür Rieck, Substitut oder Komplement, S.  205; Sauerwein, Moderne Kommunikationstechnologie, S.  157; siehe ferner Nissen, Online-Videokonferenz, S.  153 f. 60  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (2). 53 

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die Aussageperson ist nicht zielführend61 – im Gegenteil: Es ist davon auszugehen, dass die Feststellung des Wahrheitsgehalts einer Aussage durch den Einsatz von Videotechnik erschwert wird.62 Glunz nimmt daher zu Recht eine latente Verschlechterung der richterlichen Beurteilung im Vergleich zur körperlichen Anwesenheit der Aussageperson an.63 Zusammenfassend führt der Einsatz von Videotechnik sowohl zu einer Veränderung des Aussageverhaltens als auch der Wahrnehmung der Aussageperson. Dies erschwert die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO). Die von Edinger bereits im Jahre 1996 geäußerten Bedenken sind zutreffend, sodass eine Gleichwertigkeit der Videokonferenz im Vergleich zur körperlichen Anwesenheit verneint werden muss.64 Der Beweiswert einer audiovisuellen Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) ist daher geringer einzustufen als derjenige einer Vernehmung bei körperlicher Anwesenheit der Aussageperson.65 dd)  Systemkonformität von §  128a ZPO Jede neu erlassene Norm kann Auswirkungen auf das Gesamtgefüge der ZPO haben.66 Bei §  128a ZPO ist dies der Fall, schließlich führt der Einsatz von Videotechnik – wie soeben gezeigt – zu einer Modifikation des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Konsequenterweise stellt sich die Frage nach der Systemkonformität der Neuregelung. (1)  Wechselwirkungen zwischen §  128a ZPO und §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO Problematisch für die Bejahung der Systemkonformität von §  128a ZPO erweist sich das Verhältnis zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO. §  128a Abs.  2 ZPO ermöglicht eine Form der Beweisaufnahme, bei welcher der jeweilige Zeuge, Sachverständige oder die Partei nicht mehr körperlich, sondern nur virtuell im Gerichtssaal anwesend ist. §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO verlangt jedoch grundsätzlich die körperliche Anwesenheit der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme.67 Auf den ersten Blick besteht ein Widerspruch zwischen beiden Normen, welcher einer systemkonformen Einordnung des Einsatzes von Videotechnik in das Beweisrecht der ZPO prinzipiell ent­ gegenstünde. Indes darf nicht vergessen werden, dass §  128a ZPO zu einer Gleich61  Glunz, Psychologische Effekte, S.  175 f.; skeptisch auch Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (440) [Fn.  124]. 62  Glunz, Psychologische Effekte, S.  177; a. A. Rieck, Substitut oder Komplement, S.  204 f. 63  Glunz, Psychologische Effekte, S.  191 ff., 199; siehe auch Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (440), welche die körperliche Anwesenheit der Aussageperson für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit vorzieht. 64  Ebenso Rieck, Substitut oder Komplement, S.  167 (zum Strafprozessrecht). 65  Zum Beweiswert der audiovisuellen Vernehmung siehe Glunz, Psychologische Effekte, S.  344 ff. 66  Siehe Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 Rn.  70. 67  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. a) sowie §  5 IV. 3. d).

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

stellung von physischer und virtueller Präsenz führt. Wenn die virtuelle Anwesenheit der körperlichen Anwesenheit gleichgestellt wird, könnte eine Lösung dieses Konflikts möglicherweise darin gefunden werden, dass aufgrund dieser Gleichstellung §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO nunmehr eine virtuelle Präsenz der Beweismittel umfassen muss. Freilich bedarf es hierfür einer methodischen Begründung. (2)  Auslegung und neues Verständnis von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO Will man einen solchen Lösungsweg beschreiten, so ist die Annahme eines Normen­ konflikts zwischen §  128a Abs.  2 ZPO und §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO ausgeschlossen. Eine Normderogation von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO kommt an dieser Stelle (noch) nicht in Betracht.68 Denkbar wäre zwar prinzipiell die Anwendung des Lex-posterior-­ Grundsatzes, wonach im Falle zweier gleichrangiger Normen die jüngere Norm (§  128a Abs.  2 ZPO) die ältere Norm (§  355 Abs.  1 S.  1 ZPO) verdrängen würde.69 Voraussetzung hierfür ist allerdings das tatsächliche Vorliegen eines Normenkonflikts, was wiederum eine Frage der Auslegung ist70 – mit anderen Worten: Die Auslegung hat Vorrang vor einer Normderogation. Es stellt sich daher die Frage, ob eine Auslegung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO möglich ist, wonach die Formulierung „vor dem Prozessgericht“ auch im Sinne einer virtuellen Anwesenheit verstanden werden kann. Nur wenn dies nicht möglich ist, kann auf die Grundsätze der Normenkollision und deren Vorrangregelungen zurückgegriffen werden. Eine solche Auslegung muss in erster Linie mit dem Wortlaut der Norm kompatibel sein. Dem Wortlaut kommt nach herkömmlicher Ansicht eine „Doppelfunk­ tion“71 zu: Er markiert zum einen den Ausgangspunkt für die Auslegung einer Rechtsnorm und bildet zum anderen die Grenze einer möglichen Auslegung.72 Eine absolute Wortlautgrenze in dem Sinne, dass ein klar und eindeutig formulierter Wortlaut jegliche Auslegung verbietet („Sens-Clair-Regel“),73 wird heutzutage nicht mehr vertreten.74 Der Wortlaut hat vielmehr die Aufgabe, die Grenzen zwi68 

Zur Normderogation siehe Kelsen, Allgemeine Theorie, S.  84 ff. Zum Lex-posterior-Grundsatz siehe Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust, S.  159 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  572 ff.; kritisch hierzu Kelsen, Allgemeine Theo­r ie, S.  102 f. 70  Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust, S.  159. 71  Schenke, Rechtsfindung, S.  297. 72  Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S.  42: „Der Wortlaut hat danach eine doppelte Aufgabe: Er ist Ausgangspunkt für die richterliche Sinnesermittlung und steckt zugleich die Grenzen seiner Auslegungstätigkeit ab. Vom Wortlaut hat der Richter auszugehen und durch den Wortlaut wird ihm der Raum abgegrenzt, innerhalb dessen seine Auslegung sich bewegen muss.“; ferner Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  143 f.; siehe auch BVerfG NJW 2007, 1666; BVerfG NJW 2008, 3627. Ausführlich zu Bedeutung und Funktion der Wortlautgrenze Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S.  19 ff. 73  Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S.  42 („Theorie von der absoluten Priorität des Wortlautes“). 74  Siehe dazu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  614 f.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  732 f.; Höpfner, Systemkonforme Auslegung, S.  145 ff.; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 69 

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schen Auslegung und Rechtsfortbildung abzustecken.75 Das Abgrenzungskriterium ist der „noch mögliche Wortsinn“ des jeweiligen Rechtssatzes.76 Eine Auslegung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, welche die virtuelle Anwesenheit neben die körperliche Anwesenheit stellen will, muss sich innerhalb des „noch möglichen Wortsinns“ der Norm bewegen. Vorliegend kommt erschwerend hinzu, dass eine Norm anders ausgelegt werden soll als bislang.77 In der juristischen Methodenlehre besteht eine solche Möglichkeit insbesondere dann, wenn es zu einem Wandel der Normsituation gekommen ist.78 Nach Larenz/Canaris versteht man hierunter die Situation, dass die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Veränderungen von Verhältnissen und Gepflogenheiten nicht mehr mit denjenigen übereinstimmen, welche der Gesetzgeber einer Norm zugrunde gelegt hat. Infolgedessen kann ein Bedürfnis für eine „neue“ Auslegung der jeweiligen Rechtsnorm bestehen, da diese mit den aktuellen Verhältnissen nicht mehr kompatibel ist. Dies setzt die Evidenz der „Unzulänglichkeit des bisherigen Gesetzesverständnisses“ voraus.79 Eine „Unzulänglichkeit“ besteht vorliegend insofern, als §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO eine virtuelle Anwesenheit gerade nicht vorsieht. Hinzu kommt, dass der Einsatz von Videotechnik zum Zeitpunkt der Schaffung der Reichs-Civilprozeßordnung technisch noch gar nicht möglich war. Zwar sprechen die Gesetzesmaterialien zur CPO nicht ausdrücklich von einem körperlichen Anwesenheitserfordernis, jedoch wird durch die Bezugnahme auf die freie Beweiswürdigung deutlich, dass ein direkter Kontakt zwischen den Richtern und den Beweismittel hergestellt werden sollte.80 Dies war zur damaligen Zeit freilich nur bei physischer Präsenz aller Beteiligten möglich.81

Rn.  74. Die Ablehnung der „Sens-Clair-Regel“ beruht im Wesentlichen auf der Unterscheidung zwischen dem Normtext und dem Norminhalt. Schließlich kann die Eindeutigkeit des Wortlauts einer Norm nicht bejaht werden, ohne zuvor dessen Inhalt im Wege der Auslegung ermittelt zu haben; siehe Schenke, Rechtsfindung, S.  26 f. m. w. N. 75  Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 Rn.  75. Ausführlich zur Theorie der Wortlautgrenze Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S.  235 ff.; Schenke, Rechtsfindung, S.  297 ff.; Neuner, Rechtsfindung contra legem, S.  90 ff. 76  Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  467 f.; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 Rn.  75; Wank, Auslegung von Gesetzen, S.  44 („Gesetzessinntheorie“); ferner Canaris, Feststellung von Lücken, S.  19 ff. 77  Das erinnert an die aus dem Staatsrecht stammende Lehre vom Verfassungswandel, worunter man eine Sinnänderung einer Verfassungsnorm versteht, ohne dass zugleich der Verfassungstext selbst geändert wurde; siehe dazu Bryde, Verfassungsentwicklung, S.  254 ff. 78  Zum Wandel der Normsituation siehe Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  170 ff.; ferner Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust, S.  417 ff.; Neuner, Rechtsfindung contra legem, S.  149 ff. („Veränderungen der tatsächlichen Normsituation“); Schenke, Rechtsfindung, S.  45; ähnlich Wank, Auslegung von Gesetzen, S.  33 f., welcher zwischen einem „Wandel der Rechtstatsachen“ und einem „Wandel der rechtlichen Wertungen“ unterscheidet. 79  Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  170 f. 80  Siehe hierzu oben unter §  4 III. 3. 81  Glunz, Psychologische Effekte, S.  299.

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Allerdings gilt selbst im Falle eines Wandels der Normsituation, dass die „neue“ Auslegung nicht über den Wortsinn der Norm hinausgehen darf.82 Die Formulierung „vor dem Prozessgericht“ deutet grundsätzlich auf ein räumliches Verständnis von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO hin.83 Eine räumliche Nähe existiert bei einer Videokonferenz bzw. audiovisuellen Vernehmung streng genommen nicht, da zwischen den Beteiligten faktisch immer noch eine Distanz besteht. Allerdings ist charakteristisch für das (räumliche als auch zeitliche) Verständnis der Präposition „vor“,84 dass diese eine „Beziehung zu einem Gegenüber“ herstellt.85 Durch die gleichzeitige Bild- und Tonübertragung stellt der Einsatz von Videotechnik eine Beziehung zwischen den Beteiligten her, wenngleich diese unter dem Aspekt der Beweiswürdigung einer körperlichen Präsenz nicht gleichwertig ist.86 Die Videokonferenz „überbrückt“ gewissermaßen die Distanz zwischen den Verfahrensbeteiligten, wodurch der „Raum“ zwischen ihnen „verringert“ wird. Modern interpretiert kann §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO demnach so verstanden werden, dass eine virtuelle Anwesenheit genügt – mit anderen Worten: Ausreichend ist eine Beweisaufnahme „vor den Augen des Prozessgerichts“.87 Eine solche „zeitgerechte Auslegung“88 wird man als vom „noch möglichen Wortsinn“ der Norm abgedeckt betrachten müssen.89 (3)  Ergebnis Auf diese Art und Weise lässt sich §  128a ZPO in das Beweissystem der ZPO einfügen und die Systemkonformität der Neuregelung bejahen. §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO kann und muss so verstanden werden, dass neben der körperlichen auch eine virtuelle Anwesenheit ausreichend ist. Dies führt jedoch nicht etwa dazu, dass nunmehr 82  Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  171; siehe auch Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust, S.  459: „Kollidiert der Regelungszweck mit geänderten tatsächlichen Verhältnissen oder geänderten sozialen Anschauungen, kann das Maß für eine geltungserhaltende Auslegung überschritten sein.“. 83  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. a) aa). 84  Mehr oder weniger dieselbe Diskussion wird im Rahmen von §  250 S.  1 StPO geführt. Hier kann der Terminus „in der Hauptverhandlung“ sowohl lokal als auch temporal verstanden werden; Norouzi, Audiovisuelle Vernehmung, S.  19. 85  Duden, Bedeutungswörterbuch, S.  1057 („weist auf die Beziehung zu einem Gegenüber hin“). 86  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) cc). 87  Der historische Zweck von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO wird dadurch nicht grundlegend verändert, schließlich ist auch bei einer audiovisuellen Vernehmung eine freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) möglich; siehe Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  171. Freilich ist diese – wie bereits gezeigt – im Vergleich zur körperlichen Anwesenheit mit gewissen Einschränkungen verbunden. 88  Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  171. 89  Konsequenterweise müsste man auch über ein „neues“ Verständnis des Grundsatzes der Parteiöffentlichkeit (§  357 ZPO) nachdenken. Dessen Existenz spricht schließlich für die bisherige Auslegung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO, wonach die körperliche Anwesenheit der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme erforderlich ist. Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. a) bb) (2) (a). Hier wäre letztendlich dieselbe Modifikation vorzunehmen wie im Rahmen von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO.

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keine Ausnahmen zu §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO bestünden. Schließlich sind weitere Fälle denkbar und existent, in denen es sowohl an der körperlichen als auch der virtuellen Anwesenheit eines Verfahrensbeteiligten bzw. eines Beweismittels fehlt. Hierzu zählt unter anderem die schriftliche Zeugenaussage nach §  377 Abs.  3 ZPO.90 Dennoch zeigen diese Ausführungen, dass es für die Verwirklichung der Systemkonformität günstiger gewesen wäre, die audiovisuelle Vernehmung nach §  128a Abs.  2 ZPO zum einen systematisch in den §§  355 ff. ZPO zu verorten und diese zum anderen als „normale“ Ausnahme zum körperlichen Anwesenheitserfordernis zu konzipieren. b)  Originärer und obligatorischer Einzelrichter (§§  348, 348a ZPO) Durch das Zivilprozessreformgesetz wurde der originäre (§  348 ZPO) und obligatorische (§  348a ZPO) Einzelrichter am Landgericht eingeführt.91 Der Gesetzgeber wollte hierdurch die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Kammer und dem Einzelrichter am Landgericht neu regeln92 sowie das Verfahren beschleunigen und Kollegialgerichte personell entlasten.93 Daneben spielten finanzielle Überlegungen beim Abbau des Kollegialprinzips eine entscheidende Rolle.94 Die Auswirkungen der Neuregelung sind durchaus beachtlich: Bereits im Jahre 2002 wurden knapp 60 % aller erstinstanzlichen Verfahren von einem Einzelrichter erledigt.95 Gut zehn Jahre später ist die Quote schließlich auf über 75 % angestiegen.96 Trotz dieser hohen Zahlen ist die Einführung des Einzelrichterprinzips kritisiert worden. Während der Gesetzgeber ausdrücklich betonte, dass der Einzelrichter ein Verfahren „in mindestens gleicher Qualität“ erledigen könne wie ein vollbesetztes Kollegium,97 wird diese Sichtweise im Schrifttum nicht geteilt. Schließlich 90 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) cc). Zuvor wurde durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 die Vorschrift über den streitentscheidenden Einzelrichter dahingehend abgeändert, dass die Zivilkammer den Rechtsstreit in der Regel einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen soll. Die bisherige „Kann-Vorschrift“ wurde zu einer „Soll-Vorschrift“; Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993, BGBl. I, S.  50. Zur Entwicklung der §§  348 ff. ZPO siehe den Überblick bei Stein/Jonas/Bartels, vor §  348 ZPO Rn.  1 ff. 92  BT-Drucks. 14/4722, S.  87. 93  Musielak/Voit/Wittschier, §  348 ZPO Rn.  1; siehe auch Bachmann, in: Gerichtsverfahren, S.  1 (16 f.), welche von einem „eher klassischen Mittel der Verfahrensstraffung“ spricht. 94  Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  348 ZPO Rn.  2; Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (38); Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (5); Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.  56. Schließlich verwies der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung auf entsprechende Regelungen in ausländischen Prozessordnungen. Durch die §§  348, 348a ZPO sollten in Deutschland ähnliche Maßstäbe gelten wie in anderen europäischen Ländern; BT-Drucks. 14/4722, S.  70 mit Hinweis auf die erstinstanzliche Einzelrichterzuständigkeit in England, Frankreich, Österreich, Italien und der Schweiz. 95  Bachmann, in: Gerichtsverfahren, S.  1 (17). 96  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  60; darauf ebenfalls hinweisend Musielak/Voit/Wittschier, §  348 ZPO Rn.  2 (mit Zahlenangaben von 2013). Der Gesetzgeber selbst hatte als Ziel eine Quote von ca. 70 % angegeben; BT-Drucks. 14/4722, S.  63. 97  BT-Drucks. 14/4722, S.  62. 91 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

lässt sich nur schwer von der Hand weisen, dass drei Richter (§  75 GVG) – im wahrsten Wortsinne – mehr sehen als ein Einzelrichter.98 Bezieht man §  526 Abs.  1 Nr.  1 ZPO in die Überlegungen mit ein, drohe auf lange Sicht das gänzliche Verschwinden des Kollegialprinzips.99 Ferner wurde bezweifelt, dass die Ausweitung der Einzelrichterzuständigkeit zwangsläufig zu einem schnelleren Verfahrensablauf führt.100 Schließlich werden die §§  348, 348a ZPO im Gesamtgefüge des Zivilprozessreformgesetzes kritisch betrachtet. Bedenkt man, dass die komplette Überarbeitung des Rechtsmittelrechts nicht zuletzt damit begründet wurde, dass im Gegenzug das erstinstanzliche Verfahren aufgewertet wurde, so steht dies mit dem gleichzeitigen Abbau des Kollegialprinzips im Widerspruch.101 aa)  Anwendungsbereich und Voraussetzungen Die Kammer entscheidet durch eines ihrer Mitglieder als Einzelrichter (§  348 Abs.  1 S.  1 ZPO). Die Zuständigkeit des Einzelrichters am Landgericht besteht kraft Ge­ setzes („automatisch“), sodass eine Übertragung des Rechtsstreits durch die Kammer nicht mehr erforderlich ist.102 Der originäre Einzelrichter ersetzt das Kolle­ gium.103 Ausnahmen bestehen für den Fall, dass das Mitglied noch Richter auf Probe ist (§  348 Abs.  1 S.  2 Nr.  1 ZPO) oder der Geschäftsverteilungsplan für bestimmte Sachgebiete eine Zuweisung an die Kammer vorsieht (§  348 Abs.  1 S.  2 Nr.  2 ZPO).104 Liegt keine originäre Zuständigkeit des Einzelrichters vor, überträgt die Kammer einem ihrer Mitglieder den Rechtsstreit durch Beschluss, es sei denn, die Sache weist besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, sie hat grundsätzliche Bedeutung oder wenn bereits im Haupttermin vor der Zivilkammer verhandelt wurde (§  348a Abs.  1 ZPO). Die Anwendung der Vorschrift über den obligatorischen Einzelrichter setzt voraus, dass ein Rechtsstreit vorliegt, welcher in die originäre Zuständigkeit der Zivilkammer fällt (§  348 Abs.  1 S.  2 ZPO).105 Der Wortlaut („überträgt die Zivilkammer“) ist bewusst so gewählt worden, um der Kammer keinen Ermessensspielraum zu überlassen.106 Vielmehr besteht eine Pflicht, den Rechtsstreit einem Mitglied zu übertragen.107   98 

Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, vor §  348 ZPO Rn.  2. Nassall, NJW 2012, 113 (119); kritisch zur Abschaffung des Kollegialprinzips auch Schäfer, in: 100 Jahre ZPO, S.  251 (266 ff.). 100  Saenger, Rechtstheorie 31 (2000), 413 (426). 101  Stein/Jonas/Bartels, vor §  348 ZPO Rn.  8; Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  35; siehe auch Wächter, ZZP 119 (2006), 393 (418), welcher dem Gesetzgeber vorwirft, dieser habe das Vorhaben einer Stärkung der ersten Instanz „nicht wirklich ernstgenommen“. 102  BT-Drucks. 14/4722, S.  87; Stein/Jonas/Bartels, §  348 ZPO Rn.  1. 103  Zöller/Greger, §  348 ZPO Rn.  2. 104  Ausführlich zu den Ausnahmevorschriften Stein/Jonas/Bartels, §  348 ZPO Rn.  12 ff. 105  BT-Drucks. 14/4722, S.  90; Stein/Jonas/Bartels, §  348a ZPO Rn.  2. 106  BT-Drucks. 14/4722, S.  90. 107  Statt vieler Musielak/Voit/Wittschier, §  348a ZPO Rn.  6. Für ein solches Verständnis spricht zudem die amtliche Überschrift von §  348a ZPO („Obligatorischer Einzelrichter“); MünchKommZPO/Deubner, §  348a ZPO Rn.  3.   99 

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bb)  Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz In den Gesetzesmaterialien findet sich kein Hinweis darauf, ob und wie sich die neuen Einzelrichterzuständigkeiten auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz auswirken. Im Rahmen der Begründung zu den §§  348, 348a ZPO wird die Unmittelbarkeit an keiner Stelle erwähnt. Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz ergeben sich jedoch, wenn man die Wechselwirkungen zwischen der Einzelrichterzuständigkeit und den Vorschriften über die Übertragung der Beweisaufnahme betrachtet. Der Einzelrichter tritt an die Stelle des Kollegiums und ist damit das „Prozessgericht“ im Sinne von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO.108 Wenn aber bereits eine originäre bzw. obligatorische Zuständigkeit eines einzelnen Richters gegeben ist, besteht seltener das Bedürfnis, die Beweisaufnahme einem beauftragten oder ersuchten Richter zu übertragen.109 Gerade die stark kritisierte Ausnahmevorschrift des §  375 Abs.  1a ZPO, wonach eine Delegation der Beweisaufnahme bereits aus prozessökonomischen Gründen möglich ist,110 erfährt hierdurch eine gewisse Relativierung.111 c)  Beweisaufnahme durch beauftragten oder ersuchten Richter (§  375 ZPO) Aufgrund der Einführung der Videotechnik im Zivilprozess (§  128a ZPO) wurde als „Folgeänderung“ die Vorschrift über die kommissarische Beweisaufnahme beim Zeugenbeweis überarbeitet.112 Die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter nach §  375 Abs.  1 Nr.  2 und 3 ZPO steht nun jeweils unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass „eine Zeugenvernehmung nach §  128a Abs.  2 nicht stattfindet“. Der Gesetzgeber wollte hierdurch der audiovisuellen Vernehmung „wegen größerer Unmittelbarkeit“ den Vorzug gegenüber einer kommissarischen Beweisaufnahme einräumen.113 Die überwiegende Ansicht erblickt hierin ein Rangverhältnis, wonach die Übertragung der Beweisaufnahme auf einen beauftragten oder ersuchten Richter gegenüber einer audiovisuellen Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) subsidiär ist.114 Es kommt im Rahmen von §  128a Abs.  2 ZPO mithin zu einer Ermessensreduzierung auf Null.115 108 

Stein/Jonas/Bartels, §  348 ZPO Rn.  3; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  355 ZPO Rn.  25. Ähnlich Stein/Jonas/Berger, §  375 ZPO Rn.  2; Sensburg, DRiZ 2013, 126 (127). 110  Zu §  375 Abs.  1a ZPO siehe oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (4). 111  Musielak/Voit/Huber, §  375 ZPO Rn.  4; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  375 ZPO Rn.  5. 112  BT-Drucks. 14/6036, S.  122. Aufgrund von Verweisungsvorschriften gelten dieselben Voraussetzungen für den Sachverständigenbeweis (§  402 ZPO) und die Parteivernehmung (§  451 ZPO). Eine weitere Folgeänderung betraf §  479 Abs. 1 ZPO. Hier wurde die Eidesleistung vor einem beauftragten oder ersuchten Richter ebenfalls an die zusätzliche Voraussetzung geknüpft, dass „die Leistung des Eides nach §  128a Abs.  2 nicht stattfindet.“; BT-Drucks. 14/6036, S.  122. 113  BT-Drucks. 14/6036, S.  122. Dadurch soll ferner der Verfahrensablauf an sich verbessert werden; Nissen, Online-Videokonferenz, S.  91 („nicht unerhebliche prozessuale Verbesserung“). 114  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). Eine andere Möglichkeit wäre dagegen gewesen, beide Formen der Beweisaufnahme in ein alternatives Verhältnis zu stellen; hierfür Sauerwein, Moderne Kommunikationstechnologie, S.  165. 115  Holin, Elektronischer Ablauf, S.  155. 109 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

Die Anpassung von §  375 ZPO an die Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnologie wird im Schrifttum teilweise als Stärkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes betrachtet.116 Dies ist lediglich insofern richtig, als durch die Ein­f ügung einer kumulativen Voraussetzung der Anwendungsbereich der kommissarischen Zeugenvernehmungen reduziert wurde. Jedoch führt das Subsidiaritätsverhältnis im Ergebnis dazu, dass mit §  128a ZPO eine Norm vorrangig zur Anwendung kommt, welche aufgrund fehlender körperlicher Präsenz des jeweiligen Zeugen eine klare Ausnahme bzw. Durchbrechung des herkömmlichen Unmittelbarkeitsgrundsatzes darstellt.117 d)  Neuregelung des Rechtsmittelrechts (§§  511 ff. ZPO) Verschiedene Unzulänglichkeiten im bisherigen Recht waren aus Sicht des Gesetzgebers der Grund für die umfassende Neukonzeption des Rechtsmittelrechts. Ins­ besondere sollte in zweiter Instanz in Zukunft nicht mehr neu verhandelt und der Eindruck erweckt werden, das Verfahren beginne wieder von vorne. Vielmehr sollte möglichst schnell Rechtsfrieden und Rechtssicherheit unter den streitenden Parteien erreicht werden.118 Die wesentliche Änderung des Zivilprozessreformgesetzes war, dass die Berufungsinstanz sich nur noch auf eine Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung beschränken sollte.119 Die bisherige – so der Gesetzgeber wortwörtlich – „unökonomische und rechtsstaatlich nicht gebotene Ausgestaltung der Berufung als volle zweite Tatsacheninstanz“ sollte aufgegeben werden.120 Wenn durch die Neukonzeption ferner die vorhandenen Personalressourcen effektiver genutzt werden sollten,121 wird deutlich, dass für die Überarbeitung des Rechtsmittelrechts nicht zuletzt prozessökonomische Gründe ausschlaggebend waren.122 aa)  Grundzüge des neuen Berufungsrechts Ausdruck der neuen Zweckbestimmung der Berufung ist, dass diese nur darauf gestützt werden kann, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§  546) beruht oder nach §  529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entschei116 

MünchKommZPO/Heinrich, §  355 ZPO Rn.  1. Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) bb). 118  Weitere Aspekte waren die Vermeidung einer „Flucht in die Berufung“ sowie die einfachere Handhabung aussichtsloser Fälle. Ferner sollte auch im Berufungsrecht eine Anpassung an die Rechtslage in den europäischen Nachbarländern vorgenommen werden; BT-Drucks. 14/4722, S.  59 f., 70 f. 119  BT-Drucks. 14/4722, S.  61; MünchKommZPO/Rimmelspacher, §  529 ZPO Rn.  1. Positiv zur neuen Zweckrichtung der Berufungsinstanz Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (331); Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  133 Rn.  21: „Es muss genügen, wenn den Parteien eine umfassende Tatsacheninstanz zur Verfügung steht.“. 120  BT-Drucks. 14/4722, S.  6 4. 121  BT-Drucks. 14/4722, S.  65. 122  Roth, JZ 2006, 9 (11). 117 

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dung rechtfertigen (§  513 Abs.  1 ZPO).123 Bei seiner Verhandlung und Entscheidung hat das Berufungsgericht die vom erstinstanzlichen Gericht festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO). Das Berufungsgericht ist an die in erster Instanz getroffenen Feststellungen gebunden,124 wodurch eine erneute Tatsachenermittlung vermieden werden soll.125 Nur wenn die Bindungswirkung entfällt, findet eine Beweisaufnahme (§  538 Abs.  1 ZPO) statt.126 Dies steht im klaren Gegensatz zur früheren Rechtslage, wo der Rechtsstreit im Berufungsverfahren in den durch die Anträge bestimmten Grenzen von Neuem verhandelt wurde (§  525 ZPO a. F.).127 Eine weitere nennenswerte Neuerung, welche der Effizienzsteigerung und Verfahrensbeschleunigung zugutekommen soll,128 ist die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO). Hierdurch kann das Gericht das Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung abschließen.129 bb)  Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz ist abhängig von den Eigenheiten des Berufungsverfahrens. Entscheidend ist, wie häufig es zu einer mündlichen Verhandlung bzw. einer Beweisaufnahme kommt.130 Statistiken aus dem Jahre 2007 zeigen, dass eine mündliche Verhandlung in weniger als 50 % aller Verfahren stattfand.131 Einen nicht unerheblichen Einfluss auf diese Entwicklung hat die neu geschaffene Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO),132 welche sich schnell in der Praxis etablieren konnte.133 Mittlerweile werden Berufungsverfahren sowohl vor dem Landgericht als auch dem Oberlandesgericht in ca. 14 % aller Fälle auf diesem Wege beendet, sodass es sich aktuell um die dritt- (LG) bzw. vierthäufigste (OLG) Erledigungsart handelt.134 123  BT-Drucks. 14/4722, S.  94: „Die Bestimmung enthält damit den maßgebenden Grundsatz für die künftige Funktion der Berufung.“ Ausführlich zu den Änderungen des Berufungsrechts Stackmann, NJW 2002, 781 ff. 124  BT-Drucks. 14/4722, S.  100; aus der Kommentarliteratur statt vieler MünchKommZPO/ Rimmelspacher, §  529 ZPO Rn.  1, 10 ff. 125  Wächter, ZZP 119 (2006), 393 (413 f.). 126  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  138 Rn.  48. Teilweise wird die Berufung daher als „eingeschränkte Tatsacheninstanz“ bezeichnet, da sie in den Fällen, in denen eine erneute Beweisaufnahme stattfindet, nicht ausschließlich der Fehlerkontrolle dient; Roth, JZ 2006, 9 (17 f.). 127  Der historische Gesetzgeber hatte die Berufungsinstanz bewusst als „Recht auf […] Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreits vor einem anderen Richter“ konzipiert; Hahn, Materialien, Bd. 2/1, S.  139; darauf hinweisend Wächter, ZZP 119 (2006), 393 (407 f.). 128  BT-Drucks. 14/4722, S.  6 4; Roth, JZ 2006, 9 (14) [„zur Verfahrenserleichterung“]. 129  Zur Kritik an §  522 Abs.  2 ZPO sowie dessen Entwicklung siehe den Überblick bei Prütting, in: LA Henckel, S.  261 (265 ff.). 130  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 4. d) aa). 131  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  138 Rn.  40. 132  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 4. d) aa) (1). 133  Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (9). 134  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  68, 94; siehe hierzu auch Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchungen, S.  203.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

Aufgrund der Bindung an die in erster Instanz festgestellten Tatsachen (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO) ist eine eigene Beweisaufnahme des Berufungsgerichts häufig entbehrlich. Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass der BGH – unter Berufung auf eine Entscheidung des BVerfG135 – das Vorliegen von Zweifeln an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO) bejaht, wenn bereits die „Möglichkeit unterschiedlicher Wertung“ besteht.136 Die Konsequenz wäre freilich, dass nahezu immer eine erneute Beweisaufnahme stattfinden müsste.137 Dass dies in der Praxis nicht zwingend der Fall sein muss, zeigen rechtstatsächliche Untersuchungen: Die Häufigkeit von Beweisaufnahmen nach der Überarbeitung des Berufungsrechts ist um ca. 30 % gesunken.138 Freilich soll nicht unerwähnt bleiben, dass Beweisaufnahmen auch unter Geltung der früheren Rechtslage nur sehr selten durchgeführt wurden. In Berufungsverfahren vor den Landgerichten fand in ca. 10 % der Fälle, bei den Oberlandesgerichten in ca. 14 % der Verfahren eine Beweisaufnahme statt.139 Andererseits können die bereits sehr niedrigen Quoten nicht zum Anlass genommen werden, um die eingetretene Zurückdrängung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu marginalisieren – im Gegenteil: Gerade die weitere Reduzierung von Beweisaufnahmen ist durchaus kritisch zu sehen.140 Zudem widerspricht eine solch weite Auslegung von §  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO offensichtlich dem Willen des Gesetzgebers.141 Dieser hatte zumindest eine „gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit“ als Voraussetzung für die Bejahung ernstlicher Zweifel und damit für die erneute Durchführung einer Beweisaufnahme gefordert.142 Zusammenfassend führt das neue Berufungsrecht dazu, dass in der Vielzahl der Verfahren weder eine mündliche Verhandlung noch eine Beweisaufnahme stattfindet. Eine aus der Anwesenheit resultierende „unmittelbare Begegnung“ der Richter, der Parteien und der Beweismittel stellt im Berufungsverfahren eher die Ausnahme 135  BVerfG NJW 2003, 2524, wo in derartigen Fällen eine Pflicht zur Durchführung einer erneuten Beweisaufnahme angenommen wurde („zwingend geboten“); siehe dazu Greger, NJW 2003, 2882 (2883). 136  BGH NJW 2005, 1487; BGH NJW 2005, 1583 (1584). 137  Greger, NJW 2003, 2882 (2883); Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  4 (Fn.  24). 138  Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchungen, S.  192; Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (10); Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (337). 139  BT-Drucks. 14/6036, S.  123; Roth, JZ 2006, 9 (11); Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (337) [Fn.  87]; Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchungen, S.  192. 140  Im Übrigen verdeutlicht die Neukonzeption des Berufungsrechts einmal mehr, wie sehr Gesetzesänderungen eine rechtspolitische Entscheidung des Gesetzgebers darstellen und stets Vor- und Nachteile aufweisen. Zwar vermag die Beschränkung der Berufungsinstanz auf eine Fehlerkontrolle bzw. Fehlerbeseitigung zu einer schnelleren, ökonomischeren und ressourcenschonenderen Entscheidung führen; Unberath, ZZP 120 (2007), 323 (331). Jedoch können im Gegenzug etwaige Schwächen bei der Sachverhaltsermittlung in erster Instanz nur noch schwer kompensiert werden; Wächter, ZZP 119 (2006), 393 (408). 141  Greger, NJW 2003, 2882 (2883). 142  BT-Drucks. 14/6036, S.  124.

II.  Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004)

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dar.143 Im Ergebnis gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz wegen der Verweisungsnorm des §  525 S.  1 ZPO auch in zweiter Instanz, kommt jedoch aufgrund der Eigenheiten des Berufungsverfahrens selten zur Anwendung.

3.  Bewertung In der Gesamtschau betrachtet hat der Unmittelbarkeitsgrundsatz durch das Zivilprozessreformgesetz deutliche Änderungen erfahren. Die Einführung der Videokonferenz bzw. der audiovisuellen Vernehmung ist nicht nur eine klare Durchbrechung der Unmittelbarkeit, sondern zugleich eine inhaltliche Modifizierung. §  128a ZPO hat zum einen das herkömmliche Verständnis von der mündlichen Verhandlung und der Beweisaufnahme verändert144 und zum anderen die Frage nach der Methode juristischer Wahrheitsermittlung im Prozess neu aufgeworfen: „Der scheinbar wertneutrale Einsatz neuer technischer Mittel kollidiert mit einem tradierten und zentralen Ideal juristischer Erkenntnistheorie. […] Auf dem Prüfstand steht die Vorstellung, die Wahrheit lasse sich am ehesten erkennen, wenn sich alle Beteiligten in einem Raum versammeln, dort ganz unmittelbar die Beweise erheben und in Augenschein nehmen, Zeugen befragen und disputieren.“145

Auch die Folgeänderung des §  375 Abs.  1 Nr.  2 und 3 ZPO kann aufgrund der angeordneten Subsidiarität im Verhältnis zu §  128a Abs.  2 ZPO als Schwächung der Unmittelbarkeit verstanden werden. Diese Einschränkungen im erstinstanzlichen Verfahren wiegen umso schwerer, wenn man die Überarbeitung des Berufungsrechts in die Überlegungen einbezieht. Gerade hierdurch wurde der Unmittelbarkeitsgrundsatz faktisch zurückgedrängt, woran selbst dessen prinzipielle Geltung (§  525 S.  1 ZPO) nichts zu ändern vermag. Lediglich durch die Neufassung der §§  348, 348a ZPO konnte der Anwendungsbereich der kommissarischen Zeugenvernehmung eingeschränkt werden.

II.  Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004) 1.  Ziele und Motive des Gesetzgebers Schon bald nach dem Inkrafttreten des Zivilprozessreformgesetzes stellte der Gesetzgeber weitere Überlegungen zur Überarbeitung und Modernisierung des Zivilprozessrechts an.146 Bereits im Jahre 2004 wurde daher das 1. Justizmodernisie143 

Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (108). PG/Schneider/Prütting, §  128a ZPO Rn.  1. 145  Geiger, ZRP 1998, 365 (367). 146  Hirtz, AnwBl. 2004, 503. 144 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

rungsgesetz erlassen.147 Ziel der Novelle war es, „den Zivilprozess zu vereinfachen und effektiver zu gestalten, ohne rechtsstaatliche Standards […] zu beeinträchtigen.“148 Durch den Abbau verfahrensrechtlicher Formalien sollten „Effizienzreserven in der Justiz erschlossen werden“ und das staatliche Handeln im Bereich des Prozesses „bürger- und wirtschaftsfreundlicher“ gestaltet werden.149

2.  Relevante Änderungen Bedeutsame Änderungen in Bezug auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz sind die gesetzliche Zulassung des Freibeweises im Einverständnis mit den Parteien (§  284 S.  2–4 ZPO) sowie die Möglichkeit der Verwertung gerichtlicher Sachverständigengutachten aus anderen Verfahren (§  411a ZPO). a)  Zulassung des Freibeweises (§  284 S.  2–4 ZPO) §  284 S.  1 ZPO regelte bislang, dass die Beweisaufnahme und die Anordnung eines besonderen Beweisaufnahmeverfahrens durch Beweisbeschluss durch die Vorschriften des fünften bis elften Titels der ZPO bestimmt werden. Jede Beweisaufnahme unterliegt den Regelungen der §§  355 ff. ZPO und damit dem Strengbeweisverfahren.150 Durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz wurde die Vorschrift um drei Sätze erweitert, sodass nunmehr im Einverständnis mit den Parteien eine Beweisaufnahme im Freibeweisverfahren („in der ihm geeignet erscheinenden Art“) erfolgen kann.151 Für die ZPO ist der Freibeweis damit neben dem Strengbeweis und der Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) als dritte Art der Beweiserhebung gesetzlich anerkannt.152 Zuvor war die Zulässigkeit des Freibeweisverfahrens in der Rechtsprechung insbesondere für die Prüfung der allgemeinen Prozessvoraussetzungen153 sowie der Rechtsmittelvoraussetzungen154 anerkannt.155 Die Besonderheit des Freibeweises in Abgrenzung zum Strengbeweis besteht darin, dass weder eine 147  Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004, BGBl. I, S.  2198. Zu den einzelnen Änderungen siehe Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857 ff.; Fölsch, MDR 2004, 1029; Hirtz, AnwBl. 2004, 503 ff. 148  BT-Drucks. 15/1508, S.  12. 149  BT-Drucks. 15/1508, S.  12. 150  Statt vieler Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  110 Rn.  7. 151  MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  27. 152  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  24 ff. Zur Abgrenzung des Freibeweises zum Streng­ beweis und zur Glaubhaftmachung siehe Peters, Freibeweis, S.  65 ff.; ders., JA 1981, 65 ff. 153  BGHZ 143, 122 (124) = NJW 2000, 289 (290); BGH NJW 1951, 441 (442); BGH NJW 1992, 627 (628); a. A. Rimmelspacher, Prüfung von Amts wegen, S.  171 ff. 154  BGH NJW 1987, 2875 (2876); BGH NJW 1997, 3319 (3320). 155  Zum Anwendungsbereich des Freibeweises siehe die Übersichten bei Wieczorek/Schütze/ Ahrens, §  284 ZPO Rn.  44 ff.; ferner Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (208 f.). Im früheren Schrifttum wurde dagegen für die Zulässigkeit des Freibeweises danach unterschieden, ob es sich um von Amts wegen zu prüfende Tatsachen handelt oder nicht; Grunsky, Grundlagen, S.  438; ausführlich hierzu Peters, Freibeweis, S.  72 ff.

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Bindung an die gesetzlich vorgesehenen Beweismittel noch an die Verfahrensvorschriften über die Beweisaufnahme besteht.156 Zu einer Absenkung des Beweismaßes kommt es dagegen nicht.157 Der Gesetzgeber wollte durch die Neufassung von §  284 ZPO eine Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens erreichen,158 sodass einmal mehr der Prozessökonomie gedient wird.159 Dadurch sollte zugleich der zivilprozessuale Grundsatz der Parteiherrschaft eine Aufwertung erfahren und die Verfahrensakzeptanz gefördert werden.160 aa)  Anwendungsbereich und Voraussetzungen Das Gericht kann die Beweise im Einverständnis mit den Parteien in der ihm geeignet erscheinenden Art aufnehmen (§  284 S.  2 ZPO). Damit ist die Zulässigkeit des Freibeweises gemeint.161 Mit der Formulierung „in der ihm geeignet erscheinenden Art“ will der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen, dass – als Ausnahme zu §  284 S.  1 ZPO – die Bindung an die gesetzlichen Beweismittel entfällt und insbesondere der Unmittelbarkeitsgrundsatz umgangen werden kann.162 Als mögliche Anwendungsfälle nennen die Gesetzesmaterialien die Vernehmung eines Zeugen via Telefon und eine Befragung per E-Mail, wodurch das Verfahren jeweils schneller und effizienter gestaltet werden könne.163 Hierbei handelt es sich freilich nur um zwei mögliche Beispiele. Ferner besteht die Möglichkeit, Beweise außerhalb der Hauptverhandlung und in Abwesenheit der Parteien zu erheben.164 Eine Abweichung von den Vorschriften des Strengbeweisverfahrens ist nur im Einverständnis mit den Parteien möglich. Über die Durchführung einer freibeweislichen Beweisaufnahme kann das Gericht nicht allein entscheiden.165 Vielmehr sollen die Parteien nach den Vorstellungen des Gesetzgebers durch das Einverständnis 156  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  26; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  110 Rn.  8; Reißmann, JR 2012, 182 (183). 157  BGH NJW 1987, 2875 (2876): „Es geht nicht um eine Verminderung der Anforderungen an die Überzeugung des Gerichts, vielmehr allein um die Mittel und um das Verfahren, in dem diese Überzeugung gewonnen wird. Nur insoweit ist das Gericht im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens beim Freibeweis freier gestellt.“; ähnlich BGH NJW 1997, 3319 (3320); BGH NJW 2001, 2722 (2723). 158  BT-Drucks. 15/1508, S.  18; Huber, ZRP 2003, 268 (269). 159  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (361). 160  BT-Drucks. 15/1508, S.  18. 161  MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  27. 162  BT-Drucks. 15/1508, S.  18; Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857 (2862). §  284 S.  2 ZPO eröffnet im Wesentlichen dieselben Möglichkeiten wie §  495a ZPO, ist in seinem Anwendungsbereich jedoch weiter. Schließlich besteht keine Bindung an amtsgerichtliche Verfahren und die Streitwertgrenze von 600 €; Glunz, Psychologische Effekte, S.  342. 163  BT-Drucks. 15/1508, S.  18. 164  Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (154). 165  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (361). Unabhängig vom Erfordernis eines Einverständnisses wird man ein pflichtgebundenes Ermessen annehmen müssen, sodass die Entscheidung für eine freibeweisliche Beweisaufnahme unter Umständen ermessensfehlerhaft sein kann; LG Saarbrücken NJW-RR 2010, 496 (497); Musielak/Voit/Foerste, §  284 ZPO Rn.  26.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

die Wahl zwischen zwei gleichwertigen Arten der Beweisaufnahme haben.166 Das Einverständnis der Parteien kann auf einzelne Beweiserhebungen beschränkt werden (§  284 S.  3 ZPO), wodurch der ansonsten sehr weite Anwendungsbereich von §  284 S.  2 ZPO eingeschränkt werden soll. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass im Falle eines einmal erklärten Einverständnisses der Parteien die gesamte Beweis­ aufnahme nur noch im Wege des Freibeweises erfolgt.167 Der Wortlaut („kann“) zeigt aber, dass auch die Erteilung eines umfassenden Einverständnisses durch die Parteien möglich ist.168 §  284 S.  4 ZPO regelt schließlich den Widerruf des Einverständnisses. Ein Widerruf ist demnach nur bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage vor Beginn der Beweiserhebung möglich. bb)  Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Dass die Neuregelung Berührungspunkte zum Unmittelbarkeitsgrundsatz aufweist, zeigen bereits die Gesetzesmaterialien zum 1. Justizmodernisierungsgesetz. Dort heißt es in der Begründung zu §  284 S.  2 ZPO: „Zum anderen kann insbesondere der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Einvernehmen der Parteien in geeigneten Fällen außer Kraft gesetzt werden.“169

Stellt man allein auf den Willen des Gesetzgebers ab, so handelt es sich bei der Zulassung des Freibeweises um eine Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Hiermit korrespondiert die vermehrt in der Literatur auffindbare Äußerung, dass bei einer freibeweislichen Beweisaufnahme die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der Parteiöffentlichkeit nicht gelten bzw. zumindest eingeschränkt sind.170 Im Übrigen finden sich im Schrifttum verschiedene Ansichten hinsichtlich der Vereinbarkeit von §  284 S.  2 ZPO mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz. Während teilweise die Vereinbarkeit mit der formellen Unmittelbarkeit bejaht wird,171 gehen andere von einem Verstoß gegen die Unmittelbarkeit aus.172 Letzte166 

BT-Drucks. 15/1508, S.  18. Siehe hierzu Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (362). 168  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  145; Zöller/Greger, §  284 ZPO Rn.  3. 169  BT-Drucks. 15/1508, S.  18. 170  Peters, Freibeweis, S.  101; MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  27; Zöller/Greger, §  284 ZPO Rn.  4; PG/Laumen, §  284 ZPO Rn.  20; Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (210); ders., BRAK-Mitt. 2005, 150 (152); Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 (323); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (366); Reißmann, JR 2012, 182 (185); Gomille, NZFam 2014, 100 (102); Pohlmann, ZZP 106 (1993), 181 (192) [zur Freiwilligen Gerichtsbarkeit]. 171  Koch/Steinmetz, MDR 1980, 901 (903); ebenso Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (373), sofern man den Unmittelbarkeitsgrundsatz nur als Gebot einer Beweisaufnahme durch das Prozessgericht begreife. Dann wäre §  355 Abs.  1 ZPO selbst bei formlosen Beweisaufnahmen in formaler Hinsicht gewahrt. 172  Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (162) [„nicht in jeder Hinsicht mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz vereinbar“]. Ein Verstoß gegen die materielle Unmittelbarkeit wird freilich abgelehnt, da diese nach herrschender Meinung im Zivilprozess nicht gelten soll; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (367). 167 

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res soll jedoch nur der Fall sein, wenn die Beweisaufnahme außerhalb der Hauptverhandlung erfolgt.173 Die Frage nach den Auswirkungen von §  284 S.  2 ZPO auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz kann richtigerweise nicht pauschal beantwortet werden. Vielmehr bedarf es einer Differenzierung im Einzelfall. Selbst der Gesetzgeber geht nur von einer Außerkraftsetzung „in geeigneten Fällen“ aus.174 Versteht man den Unmittelbarkeitsgrundsatz als Forderung nach körperlicher Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten und der Beweismittel in der mündlichen Verhandlung bzw. im Rahmen der Beweisaufnahme,175 so hängt eine mögliche Durchbrechung dieses Grundsatzes letztendlich von der jeweiligen Art und Weise der Beweiserhebung ab. Die in der Gesetzesbegründung genannten Möglichkeiten der Zeugenbefragung per Telefon und E-Mail würden jeweils eine Durchbrechung der Unmittelbarkeit darstellen, da in beiden Fällen auf die körperliche Anwesenheit des Zeugen verzichtet wird.176 Wenn der Unmittelbarkeitsgrundsatz ferner die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) erleichtern soll,177 so sind mit dem Freibeweis zwangsläufig Einschränkungen verbunden. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise der Wahrheitsgehalt einer telefonischen Aussage – ebenso wie die Identität der Aussageperson – kaum verlässlich ermittelt werden kann.178 Der Beweiswert solcher Aussagen wird regelmäßig gering einzustufen sein.179 cc) Kritik Durch die gesetzgeberische Zulassung des Freibeweises ist wieder verstärkt auf die bereits zuvor in der Literatur geäußerten Bedenken gegenüber dem Freibeweis hingewiesen worden. Insofern überrascht es nicht, dass §  284 S.  2 ZPO in mehrfacher Hinsicht kritisiert wird. (1)  Generelle Bedenken gegenüber dem Freibeweis Der BGH hat seine Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Freibeweises in keiner Entscheidung näher begründet.180 In einer Entscheidung aus dem Jahre 1987 heißt es lediglich, dass sich die Zulässigkeit des Freibeweises für die Feststellung der allge173 

Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (383); Huber, ZRP 2003, 268 (269). BT-Drucks. 15/1508, S.  18; Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  394. 175  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 176  Ebenso Stein/Jonas/Berger, vor §  355 ZPO Rn.  24. Dies zeigt sich auch daran, dass die Befragung eines Zeugen per E-Mail deutliche Parallelen zur schriftlichen Zeugenbefragung nach §  377 Abs.  3 ZPO aufweist; Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (154). 177  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 178  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (373 f.). 179  Hirtz, AnwBl. 2004, 503 (504) [„von höchst eingeschränktem Beweiswert“]. 180  Treffend Peters, Freibeweis, S.  79: „Es existiert nicht eine einzige höchstrichterliche E ­ ntscheidung, die das Problem einmal an der Wurzel gepackt hätte.“; Greger, in: FS Gottwald, S.  207 f. 174 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

meinen Prozessvoraussetzung „aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit“ ergebe.181 Die Literatur hat sich vermehrt gegen die Judikatur des BGH ausgesprochen.182 Kritisiert wird zunächst die Unterscheidung zwischen prozessualen und materiell-rechtlichen Tatsachen, wobei zutreffend darauf hingewiesen wird, dass prozessuale Voraussetzungen gleichermaßen über den Ausgang des Prozesses entscheiden. Insofern bestünde kein Grund diesbezüglich geringere Maßstäbe anzusetzen und deren Vorliegen im Freibeweisverfahren zu überprüfen.183 Insbesondere aber entbehre die Rechtsprechung jeglicher gesetzlicher Grundlage.184 Dieser Kritikpunkt gilt seit der Neufassung von §  284 ZPO mehr denn je: Der BGH hat bislang ausdrücklich an seiner Rechtsprechung festgehalten, wonach zur Prüfung der allgemeinen Prozess- und Rechtsmittelvoraussetzungen trotz der Geltung von §  284 S.  2 ZPO weiterhin ohne Einverständnis der Parteien das Freibeweisverfahren herangezogen werden kann.185 §  284 S.  2 ZPO soll sich nicht auf diejenigen Anwendungsfälle erstrecken, in denen bereits vor 2004 der Freibeweis für zulässig erachtet wurde.186 Eine Mindermeinung in der Literatur teilt diese Einschätzung, da sich der Anwendungsbereich der Norm nur auf materiell-rechtliche Tatsachen beziehen soll.187 Hiergegen spricht indes der Wortlaut von §  284 ZPO, welcher für eine Differenzierung zwischen prozessualen und materiell-rechtlichen Tatsachen keinerlei Anhaltspunkte enthält.188 Ferner lässt sich eine solche Restriktion den Gesetzes­ materialien nicht entnehmen.189 Richtigerweise ist im Einklang mit der bereits herrschenden Auffassung190 davon auszugehen, dass die bisherige Rechtsprechung mit der Neufassung von §  284 ZPO nicht in Einklang zu bringen ist. Eine freibeweis­ liche Beweisaufnahme kann in sämtlichen Fällen nur noch im Einverständnis mit den Parteien erfolgen. Wenn der BGH auch in Zukunft an seiner Rechtsprechung festhält, ist dies nichts anderes als ein Fall einer unzulässigen Rechtsfortbildung contra legem.191 181 

BGH NJW 1987, 2875 (2876). Siehe hierzu Reißmann, JR 2012, 182 (183 f.) m. w. N. 183  Grunsky, Grundlagen, S.  439; Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (210); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (366). 184  MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  28; Braun, Lehrbuch, S.  772. 185  BGH NJW 2008, 1531 (1533). 186  Ausführlich zur Auslegung von § 284 S. 2 ZPO Reißmann, JR 2012, 182 (184 ff.). 187  Fölsch, MDR 2004, 1029; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (365); ferner Münch­ KommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  27 f.; Wieczorek/Schütze/Ahrens, §  284 ZPO Rn.  43. 188  Reißmann, JR 2012, 182 (186): „Denn selbst wenn man unterstellt, der Gesetzgeber habe die Praxis der Rechtsprechung in ihrer Gänze billigen wollen, so hat dieser Wille im Gesetz keine Stütze gefunden.“; siehe auch Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  129. 189  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  130; a. A. Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (365). 190  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  129 f.; Stein/Jonas/Berger, vor §  355 ZPO Rn.  26; Zöller/Greger, §  284 ZPO Rn.  1b; PG/Laumen, §  284 ZPO Rn.  50; Musielak, in: FG Vollkommer, S.  237 (248); Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (208); ders., BRAK-Mitt. 2005, 150 (152); Reißmann, JR 2012, 182 (184 ff.); Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857 (2862). 191  Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (210). 182 

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Das einzige Argument der Rechtsprechung für den Freibeweis ist und bleibt die Prozessökonomie. Dass diese gewisse Vorteile mit sich bringt, ist einleuchtend. Bei einer freibeweislichen Beweisaufnahme sind dies im Vergleich zum Strengbeweis mangels Bindung an die Formalitäten der §§  355 ff. ZPO vor allem ihre größere Einfachheit, Schnelligkeit und Kostengünstigkeit.192 Auf der einen Seite ist es daher nicht überraschend, wenn die Schaffung von §  284 S.  2–4 ZPO mit prozessökonomischen Gesichtspunkten begründet wurde.193 Auf der anderen Seite ist jedoch zu bemängeln, dass der Gesetzgeber bei Erlass der Neuregelung den vielen Kritikern des Freibeweises194 keine Beachtung geschenkt hat.195 Unabhängig von der Frage seiner dogmatischen Zulässigkeit hat der Freibeweis den entscheidenden Nachteil, dass seine Beweisergebnisse im Vergleich zu denen des Strengbeweises in quali­ tativer Hinsicht nicht gleichwertig sind.196 Dass sich beide Beweisarten nicht nur hinsichtlich des Beweisverfahrens, sondern auch hinsichtlich des Beweiserfolges unterscheiden, hatte Egbert Peters in seiner Habilitationsschrift „Der sogenannte Freibeweis im Zivilprozeß“ (1962) herausgearbeitet.197 Gerade wenn im Rahmen der Beweiserhebung auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz und die Parteiöffentlichkeit verzichtet wird, seien negative Auswirkungen auf die Qualität eines Beweises unumgänglich: „Jede Auflockerung der Prinzipien des Beweisverfahrens führt zwangsläufig zu einer nachlässigen Durchführung und somit zu minder zuverlässigen Beweisergebnissen. Beweiserfolg und Beweisverfahren stehen also in engem innerem Zusammenhang.“198

Dies zeigt sich sehr deutlich an der telefonischen Zeugenbefragung. In diesem Fall führt die Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu Einschränkungen im Hinblick auf die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO).199 Ferner kann die verringerte Qualität der Beweisergebnisse im Extremfall zu einer Beweis­

192  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (366) [„einfacher, schneller und billiger“]. Die Vorteile des Freibeweises – und damit zugleich die Nachteile des Strengbeweises – werden selbst von Gegnern des Freibeweises nicht verschwiegen; siehe Peters, Freibeweis, S.  113; Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 (323). 193  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a). 194  Hierzu zählen insbesondere Peters, Freibeweis, S.  85 ff.; ders., JA 1981, 65 (67 ff.); Grunsky, Grundlagen, S.  439 f.; Stein/Jonas/Berger, vor §  355 ZPO Rn.  24; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (365 f., 383 f.); Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (210 f.); ferner MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  28; a. A. Gilles, in: FS Gottwald, S.  189 (191), wonach nur durch die Zulassung des Freibeweises eine beweisrechtliche Erfassung von modernen Technologien (z. B. E-Mails, PC-Downloads, Festplatten, etc.) möglich sei. 195  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (365); MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  28. 196  Habscheid, ZZP 96 (1983), 306 (324); siehe auch Peters, Freibeweis, S.  114: „Die Stärke des Strengbeweises ist zugleich die Schwäche des Freibeweises.“. 197  Peters, Freibeweis, S.  104. 198  Peters, Freibeweis, S.  105. 199  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) cc).

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erleichterung zugunsten der beweisbelasteten Partei führen.200 Selbst für den Fall, dass man eine Gleichwertigkeit beider Beweisarten annimmt, darf nicht vergessen werden, dass die Grundsätze und Vorschriften über die Beweisaufnahme nicht zuletzt der Verwirklichung des Rechtsschutzes der Parteien dienen.201 Die Kritik am Freibeweis hat daher ihre Berechtigung. Es verwundert nicht, wenn dieser im Schrifttum als „Fremdkörper im Zivilprozess“202 bezeichnet wird oder man gar für seine Abschaffung plädiert.203 (2)  Kritik an der Neuregelung §  284 S.  2–4 ZPO ist in der Literatur vermehrt auf Kritik gestoßen.204 Insbesondere wird bezweifelt, dass sich durch die Neuregelung die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens erreichen lassen.205 Probleme bereitet ferner die Einordnung des Einverständnisses der Parteien. Dieses könnte man auf den ersten Blick positiv bewerten, da hierdurch die Durchführung einer freibeweislichen Beweisaufnahme von einer von den Parteien beeinflussbaren Voraussetzung abhängig gemacht wird.206 Indes wird man die vom Gesetzgeber intendierte Stärkung der Parteiherrschaft anzweifeln müssen, da der Wortlaut der Norm („kann das Gericht“) nahelegt, dass der Freibeweis regelmäßig auf Bestreben des Gerichts hin zur Anwendung kommen wird.207 Leipold befürchtet daher, dass §  284 S.  2 ZPO lediglich zu einer Parteifreiheit in negativer Hinsicht führen wird.208 Der wesentliche Kritikpunkt ist aber, dass der Gesetzgeber den Freibeweis im In­ teresse der Prozessökonomie209 als „gleichwertige Option zum Strengbeweis“210 im 200  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (377); Hirtz, AnwBl. 2004, 503 (504). Zur Problematik von Beweiserleichterungen siehe Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  42 ff. 201  Stein/Jonas/Berger, vor §  355 ZPO Rn.  24. 202  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (383). 203  Hierfür jüngst Greger, in: FS Gottwald, S.  207 (213). 204  Deutlich Hirtz, AnwBl. 2004, 503 (504): „Diese Vorschrift ist von erheblicher Brisanz.“; ferner Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (363) [„erstaunliches Novum für den deutschen Zivilprozess“]; Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  128 („rechtspolitisch höchst unglückliche Vorschrift“). 205  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (378); Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (162 f.); Musielak, in: FG Vollkommer, S.  237 (248); Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857 (2862). 206  Zöller/Greger, 29.  Aufl. 2012, §  284 ZPO Rn.  1, wonach das Einverständnis der Parteien die rechtlichen Bedenken gegen den Freibeweis ausräumen könne. 207  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  125; siehe ferner Rimmelspacher, Prüfung von Amts wegen, S.  39: „Dieses Parteienmonopol wird durch den Freibeweis gesprengt, der dem Gericht nicht nur wie im Strafprozeß Formfreiheit beim Beweisverfahren gibt, sondern ihm auch eigene Beweisinitiative verschafft.“. 208  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  125. 209  Kritisch hierzu Stein/Jonas/Berger, vor §  355 ZPO Rn.  24; Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  127; MünchKommZPO/Prütting, §  284 ZPO Rn.  28; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (383). Zum Verhältnis der Prozessökonomie zum Strengbeweis siehe bereits die kritischen Anmerkungen von Peters, Freibeweis, S.  111 f. 210  BT-Drucks. 15/1508, S.  18.

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Zivilprozess eingeführt hat. Hiermit sind schließlich die soeben skizzierten Nachteile verbunden.211 Dementsprechend ist es in der Sache falsch, den Freibeweis im Vergleich zum Strengbeweis als „gleichwertig“ zu bezeichnen.212 Dies zeigt sich am Beispiel der telefonischen Zeugenbefragung sehr deutlich, weshalb in der Literatur teilweise eine audiovisuelle Vernehmung von Zeugen (§  128a Abs.  2 ZPO) gegenüber einer freibeweislichen Beweisaufnahme bevorzugt wird.213 Indes darf nicht vergessen werden, dass bereits der Einsatz von Videotechnik im Vergleich zur körperlichen Anwesenheit des Zeugen keinesfalls gleichwertig ist.214 Terminologisch ist es überzeugender, den Freibeweis nicht als „gleichwertige“, sondern dem Willen des Gesetzgebers entsprechend als „gleichrangige“ Option im Vergleich zum Strengbeweis zu bezeichnen. Begrüßenswert an der Regelung ist dagegen, dass – wenngleich die Rechtsprechung sich dieser Ansicht bislang noch nicht angeschlossen hat – sämtliche Abweichungen von den Vorschriften des Strengbeweisverfahrens nur noch im Einverständnis mit den Parteien vorgenommen werden können.215 dd)  Systemkonformität von §  284 S.  2–4 ZPO Ebenso wie im Falle des Einsatzes von Videotechnik (§  128a ZPO) muss für §  284 S.  2 ZPO die Frage nach dessen Systemkonformität aufgeworfen werden.216 Voraussetzung für eine Abweichung von den §§  355 ff. ZPO ist das Einverständnis der Parteien. Nach Ansicht des Gesetzgebers soll hierdurch insbesondere der Unmittelbarkeitsgrundsatz umgangen werden können.217 Im Schrifttum wird jedoch vielfach darauf hingewiesen, dass das Einverständnis nicht bezüglich derjenigen Vorschriften erteilt werden könne, welche der Dispositionsbefugnis der Parteien entzogen sind (§  295 Abs.  2 ZPO).218 Dies ist insofern problematisch, als die Parteien nach vorzugswürdiger Ansicht auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht verzichten können.219 Wäre die soeben genannte Ansicht zutreffend, müsste die Systemkonformi211  Entscheidend hierfür ist freilich, wie häufig die Parteien einer freibeweislichen Beweisaufnahme zustimmen werden; siehe Zöller/Greger, §  284 ZPO Rn.  1, welcher dies „allenfalls bei Randfragen und absolut zuverlässigen Auskunftspersonen“ annimmt. 212  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  127; zustimmend Ahrens, Beweis im Zivilprozess, Kap.  3 Rn.  25. 213  Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  133. 214  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) cc). 215  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a) cc) (1). 216  Die Systemkonformität wird verneint von Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (373): „In das bestehende System der Beweisaufnahme nach der ZPO fügt sich §  284 Satz  2 ZPO nicht ohne weiteres ein. Es handelt sich weder um eine ausdrückliche gesetzliche Ausnahme von den Grundsätzen der Unmittelbarkeit und Parteiöffentlichkeit, noch um eine speziell geregelte Sonderform der Beweisaufnahme wie die des §  128a Abs.  2 ZPO.“. 217  BT-Drucks. 15/1508, S.  18. 218  Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  393; Fölsch, MDR 2004, 1029 f.; Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (375); Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  284 ZPO Rn.  1; siehe auch bereits Koch/Steinmetz, MDR 1980, 901. 219  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 4. c).

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

tät von §  284 S.  2 ZPO ganz klar verneint werden, da eine freibeweisliche Beweisaufnahme regelmäßig eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zur Folge haben wird.220 Zwar geben die Parteien hierzu ihr Einverständnis ab, jedoch stünde die Unmittelbarkeit überhaupt nicht zu ihrer Disposition. In letzter Konsequenz würde dies dazu führen, dass nahezu jede Beweisaufnahme im Freibeweis streng genommen einen unheilbaren Verfahrensfehler darstellen würde. Eine Lösung für dieses Dilemma kann nur darin gefunden werden, dass §  284 S.  2 ZPO – unter Veränderung der bisherigen lex lata – die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingeführt hat. Die überwiegende Ansicht in der Literatur geht hiervon aus. Schließlich wird in neuerer Zeit die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vor allem unter Hinweis auf §  284 S.  2 ZPO bejaht.221 Die näher zu untersuchende und mithin entscheidende Frage ist somit diejenige nach den Auswirkungen von §  284 S.  2 ZPO auf §  295 ZPO: Lässt der Freibeweis §  295 ZPO unberührt oder lassen sich Wechselwirkungen zwischen beiden Vorschriften ausmachen? (1)  Das Verhältnis von §  284 S.  2 ZPO zu §  295 ZPO als Auslegungsproblem Das Verhältnis beider Vorschriften zueinander ist im Wege der Auslegung unter Rückgriff auf die klassischen Auslegungsmethoden (Wortlaut, Systematik, historischer Wille des Gesetzgebers, Sinn und Zweck der Norm)222 zu ermitteln. (a)  Grammatikalische Auslegung Der Wortlaut enthält keine ausdrückliche Aussage über das Verhältnis beider Vorschriften. Die Formulierung „in der ihm geeignet erscheinenden Art“ sowie §  284 S.  1 ZPO, wonach im Grundsatz die Vorschriften der §§  355 ff. ZPO für die Beweis­ aufnahme Geltung beanspruchen, deuten dagegen mittelbar auf eine Verzichtbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes hin. Jedoch ermöglicht §  284 S.  2 ZPO nur eine Abweichung von den Vorschriften des fünften bis elften Titels. §  295 ZPO ist indes im ersten Kapitel des zweiten Buches verortet, sodass diese Vorschrift an sich unberührt bleibt. Hinzu kommt, dass §  284 S.  2 ZPO nur die Abweichung von Vorschriften hinsichtlich der Beweisaufnahme ermöglicht. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz an sich erstreckt sich aber auch auf die mündliche Verhandlung.223 Eine Verzichtbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist nicht eindeutig feststellbar.224 Eine klare Aussage zu dem Verhältnis von §  284 S.  2 ZPO und §  295 ZPO lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen.

220 

Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a) bb). Zum Meinungsstand mit entsprechenden Nachweisen siehe oben unter §  5 I. 4. 222  Siehe hierzu statt vieler Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 Rn.  32 ff. 223  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 224  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (362). 221 

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(b)  Systematische Auslegung Die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ließe sich bejahen, wenn sich §  284 S.  2 ZPO auf den Anwendungsbereich von §  295 ZPO auswirken würde – mit anderen Worten: §  284 S.  2 ZPO müsste eine Ausnahme von §  295 ZPO sein. Die Gesetzessystematik spricht allerdings gegen eine solche Annahme, da andernfalls die Ausnahmevorschrift (§  284 S.  2 ZPO) im Gesetz untypischerweise vor der eigentlichen Grundregel (§  295 ZPO) stünde. Die systematische Auslegung spricht somit dafür, dass §  295 ZPO durch die Einführung des Freibeweises unberührt bleibt. Eine Verzichtbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wäre demnach ab­ zulehnen. (c)  Historische Auslegung Im Rahmen der historischen Auslegung muss insbesondere auf die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Norm eingegangen werden, sodass den Gesetzesmaterialien besondere Bedeutung zukommt.225 In diesen wird das Verhältnis von §  284 S.  2 ZPO und §  295 ZPO nicht direkt angesprochen. Jedoch weist die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf explizit auf die bereits vor Erlass der Neuregelung bestehende Möglichkeit einer Heilung von Verfahrensfehlern (§  295 Abs.  1 ZPO) hin. Der Unterschied zu §  284 S.  2 ZPO solle lediglich darin bestehen, dass etwaige Verfahrenserleichterungen „vom Odium der Verfahrensverletzung“ befreit werden.226 Die Grenze des §  295 Abs.  2 ZPO soll folglich auch im Rahmen von §  284 S.  2 ZPO gelten. Allerdings wird in den Gesetzesmaterialien ebenfalls ausdrücklich angesprochen, dass durch die Einführung des Freibeweises der Unmittelbarkeitsgrundsatz umgangen werden könne.227 Hier tut sich nur scheinbar ein Widerspruch auf: Der Gesetzgeber erwähnt schließlich im selben Atemzug, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz disponibel sei und damit unter den Anwendungsbereich von §  295 Abs.  1 ZPO falle.228 Er folgt damit der herrschenden Ansicht in der Rechtsprechung und der Literatur.229 Der Wille des Gesetzgebers spricht demnach für eine Verzichtbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, wobei gleichzeitig §  295 ZPO unangetastet bleiben soll.

225  Wank, Auslegung von Gesetzen, S.  68; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  620 („konkret historische Auslegung“). 226  BT-Drucks. 15/1508, S.  18; siehe dazu auch Stein/Jonas/Leipold, §  284 ZPO Rn.  126. 227  BT-Drucks. 15/1508, S.  13 („hinwegsetzen“), 18 („außer Kraft gesetzt werden“). 228  BT-Drucks. 15/1508, S.  18: „Zwar sieht §  295 Abs.  1 bereits jetzt die Heilung von Verfahrensmängeln bei Verzicht auf Verfahrensrügen vor. Dies gilt beispielsweise auch für den Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit bei der Beweisaufnahme.“. 229  Siehe hierzu die entsprechenden Nachweise oben unter §  5 I. 4.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

(d)  Teleologische Auslegung §  284 S.  2 ZPO soll zu einer Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens führen und der Prozessökonomie dienen.230 Diese Ziele können insbesondere dann erreicht werden, wenn im Rahmen der Beweisaufnahme eine Bindung an be­stimmte Grundsätze (Unmittelbarkeit, Parteiöffentlichkeit) nicht besteht. Um diese Zwecke zu erreichen, müsste dementsprechend von den Bindungen von §  295 Abs.  2 ZPO abgesehen werden können. Die teleologische Auslegung spricht daher für die Dis­ ponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. (e) Zwischenergebnis Die historische und die teleologische Auslegung sprechen dafür, dass §  284 S.  2 ZPO die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingeführt hat. Hiergegen spricht indes die systematische Auslegung der Vorschrift. Die Untersuchung des Wortlauts von §  284 S.  2 ZPO konnte dagegen kein eindeutiges Ergebnis liefern. (2)  Die Rangfolge der Auslegungsmethoden Aufgrund der unterschiedlichen Ergebnisse der Auslegungsmethoden stellt sich die Frage, ob diese nicht einer Rangfolge unterliegen, anhand derer sich der Bedeutungsgehalt von §  284 S.  2 ZPO zweifelsfrei bestimmen lässt.231 Eine solche Rangfolge wird nicht zuletzt durch das maßgebliche Auslegungsziel bestimmt.232 Was jedoch das genaue Ziel der Auslegung sein soll, ist in der juristischen Methodenlehre bislang ungeklärt.233 Die Diskussion dreht sich um die Frage, ob das Auslegungsziel der „Wille des Gesetzgebers“ (sog. subjektive Theorie) oder der „Wille des Gesetzes“ (sog. objektive Theorie) ist.234 Während die subjektive Theorie auf die Ziele und Vorstellungen des historischen Gesetzgebers abstellt und diese als verbindlich ansieht,235 fragt die objektive Theorie nach dem Sinn, „welchen […] ein typischer, 230 

Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a). Überwiegend wird die grammatikalische Auslegung als vorrangig bezeichnet, sofern der Wortlaut der Norm eindeutig ist; BVerfGE 71, 108 (115) = NJW 1986, 1671 (1672); Neuner, Rechtsfindung contra legem, S.  90 ff.; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 Rn.  45; Walz, ZJS 2010, 482 (487) m. w. N. Ausführlich zum Verhältnis der einzelnen Auslegungsmethoden untereinander Koch, Prozessökonomie, S.  183 ff. 232  Walz, ZJS 2010, 482 (483); siehe auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S.  40. 233  Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (321) [„Ewigkeitsfrage“]; Würdinger, JuS 2016, 1 (2) [„juristisches Dauerthema“]; ähnlich auch Mennicken, Ziel der Gesetzesauslegung, S.  7. 234  Zum Theorienstreit siehe Mennicken, Ziel der Gesetzesauslegung, S.  19 ff.; Koch, Prozess­ ökonomie, S.  59 ff.; Hassold, ZZP 94 (1981), 192 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  627 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S.  137 ff.; Engisch, Einführung, S.  160 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  428 ff.; Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465 (466 ff.); Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (321 ff.); Würdinger, JuS 2016, 1 (2 f.); Walz, ZJS 2010, 482 (484 f.); ferner Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, S.  44 ff. (zum schweizerischen Recht). 235  Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  627. Zur Bedeutung von Gesetzesmaterialien für die Auslegung siehe jüngst Wischmeyer, JZ 2015, 957 ff. 231 

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sorgfältiger Normadressat unter den ihm zugänglichen, also heutigen Umständen der gesetzlichen Regel entnehmen kann und muß.“236 Der objektiven Theorie liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich ein Gesetz nach seinem Inkrafttreten verselbstständigt, sich vom Gesetzgeber gewissermaßen „losreißt“ und fortan einen eigenen Willen bildet.237 Da man beiden Ansichten gewichtige Kritikpunkte entgegenhalten kann,238 ist eine eindeutige Entscheidung zugunsten einer der beiden Theorien kaum möglich. Dementsprechend wird heutzutage vermehrt auf differenzierende Ansätze zurückgegriffen.239 Ein solcher Ansatz soll hier gewählt werden. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist der wesentliche Unterschied zwischen beiden Theorien. Dieser besteht darin, dass die subjektive Theorie an den Willen des historischen Gesetzgebers gebunden ist, wohingegen die objektive Theorie über die Gesetzesauslegung eine Anpassung an veränderte Umstände ermöglicht.240 Die Entscheidung für eine der beiden Theorien wird folglich virulent,241 wenn es seit dem Erlass einer Norm zu rechtlichen oder tatsächlichen Veränderungen gekommen ist.242 Dies legt eine Differenzierung nach dem Alter des jeweiligen Gesetzes nahe. Im Schrifttum wird dafür plädiert, „junge Gesetze“ im Sinne der subjektiven Theorie auszulegen, während „alten Gesetzen“ die objektive Theorie zugrunde gelegt werden soll.243 Hierfür spricht, dass bei neueren Gesetzen die Legitimationskraft des Gesetzgebers und dessen Vorstellungen noch stärker wirken als bei älteren Gesetzen.244 Dieser Ansatz findet sich auch in der Rechtsprechung des BVerfG: „Zumal bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erheb­ liches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm 236 

Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  428. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn.  797; ähnlich die Formulierung bei Engisch, Einführung, S.  162: „Mit dem Akt der Gesetzgebung […] löst sich das Gesetz von seinem Urheber los und wird in ein objektives Dasein erhoben. Der Urheber hat seine Rolle ausgespielt, er tritt hinter sein Werk zurück.“. 238  Zu den Vor- und Nachteilen beider Theorien siehe insbesondere Mennicken, Ziel der Gesetzesauslegung, S.  30 ff., 48 ff.; Hassold, ZZP 94 (1981), 192 (203 ff.); Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  627 ff.; ferner Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (323 ff.) zu den Einwänden gegen die subjektive Theorie. 239  Siehe hierzu Koch, Prozessökonomie, S.  92 ff.; ferner Hassold, ZZP 94 (1981), 192 (202 f.); Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (325 f.); jüngst auch Würdinger, JuS 2016, 1 (4) m. w. N. aus dem Schrifttum; kritisch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S.  428 f. 240  Hassold, ZZP 94 (1981), 192 (203, 206); zur „dynamischen Norminterpretation“ siehe Arnauld, Rechtstheorie 32 (2001), 465 (481 ff.). 241  Zur praktischen Relevanz des Theorienstreits siehe Würdinger, JuS 2016, 1 (4 f.). 242  Man spricht in diesem Zusammenhang von der „Geschichtlichkeit des Legislativakts“; Neuner, Rechtsfindung contra legem, S.  148; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, §  4 Rn.  70. 243  Wank, Auslegung von Gesetzen, S.  34 f.; Walz, ZJS 2010, 482 (485 f.); siehe ferner Schenke, Rechtsfindung, S.  33; Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (326) jeweils m. w. N. 244  Wank, Auslegung von Gesetzen, S.  32 („Legitimationszusammenhang“); Würdinger, JuS 2016, 1 (4). 237 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

Zweifel offenlassen. Über die erkennbare Regelungsabsicht darf die Auslegung in solcher Lage nicht hinweggehen.“245

Bei §  284 S.  2 ZPO handelt es sich zweifelsfrei um ein „junges Gesetz“. Entscheidend für dessen Auslegung und damit für das Verhältnis zu §  295 ZPO ist der Wille des Gesetzgebers.246 Dieser wollte einerseits den Unmittelbarkeitsgrundsatz zur Disposition der Parteien stellen und andererseits die Vorschrift des §  295 ZPO unangetastet lassen. Um dem gesetzgeberischen Willen ausreichend Rechnung tragen zu können, muss §  284 S.  2 ZPO so verstanden werden, dass hierdurch nunmehr ein Verzicht auf die Unmittelbarkeit möglich ist.247 Damit es nicht zu Wertungswidersprüchen mit §  295 Abs.  2 ZPO kommt, muss die Neuregelung zwangsläufig den Anwendungsbereich von §  295 ZPO erweitern, sodass auch diesbezüglich der Unmittelbarkeitsgrundsatz als disponibel zu gelten hat. Nur auf diese Weise lässt sich die Neuregelung in das bisherige System des Zivilprozessrechts integrieren. (3)  Ergebnis Die Auslegung von §  284 S.  2 ZPO hat ergeben, dass dieser die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingeführt hat.248 Zugleich muss dieses Ergebnis bei der Anwendung von §  295 ZPO berücksichtigt werden, sodass in dessen Anwendungsbereich von der Verzichtbarkeit der Unmittelbarkeit auszugehen ist. Die generellen Bedenken gegenüber dem Freibeweis als solchem können hierdurch freilich nicht ausgeräumt werden. Das Erfordernis einer Auslegung macht deutlich, dass sich §  284 S.  2 ZPO nicht automatisch und ohne Probleme in das bisherige System des Zivilprozessrechts hat einfügen lassen. Dies unterstreicht einmal mehr die Bedeutung der Verfahrensgrundsätze für das Prozessrecht an sich, insbesondere deren rechtspolitische Funktion. Gerade die Verfahrensgrundsätze spielen bei der Frage, ob eine Neuregelung systemkonform ist oder nicht, eine entscheidende Rolle und können dem Gesetz­ geber wichtige Ansatzpunkte bei der Prüfung der Systemkonformität einer Neu­ regelung liefern.249 245  BVerfGE 54, 277 (297 f.) = NJW 1981, 39 (42). Zu den durch das BVerfG aufgestellten Anforderungen an die Gesetzesauslegung siehe Fleischer, AcP 211 (2011), 317 (327) m. w. N. 246  Die Anwendung der subjektiven Theorie führt letztendlich dazu, dass die historische Auslegung gegenüber den übrigen Auslegungsmethoden vorrangig ist; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  620. 247  A. A. Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (375); siehe ferner Götz, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, S.  393 f. 248  Zu demselben Ergebnis kommt man bei Heranziehung der sog. Andeutungstheorie. Diese baut auf der subjektiven Theorie auf und stellt auf den Willen des Gesetzgebers ab, sofern dieser im Gesetzeswortlaut zumindest angedeutet ist; hierfür Engisch, Einführung, S.  172 f.; Hassold, ZZP 94 (1981), 192 (210). Die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes kann dem Wortlaut von §  284 S.  2 ZPO zumindest im Ansatz entnommen werden. Jedenfalls ist ein solches Verständnis nicht von vornherein gänzlich ausgeschlossen. 249  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 6. b).

II.  Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004)

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b)  Verwertung von gerichtlichen Sachverständigengutachten (§  411a ZPO) Mit dem 1. Justizmodernisierungsgesetz wollte der Gesetzgeber die Verwertung von Beweisaufnahmen und Beweisergebnissen aus anderen Verfahren im Zivil­ prozess erleichtern.250 Ausdruck dieses Anliegens ist §  411a ZPO, wonach nunmehr gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten im Zivilverfahren verwendet werden können. Die Möglichkeit der Verwertung von Sachverständigengutachten war bereits zuvor rechtlich anerkannt, allerdings nur im Rahmen eines Urkundenbeweises.251 Da in diesen Fällen die Beweisregel des §  418 ZPO nicht immer eingreift und in der Praxis oftmals die Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens angeordnet werden muss, wollte der Gesetzgeber durch die Neuregelung einen „unnötigen Mehraufwand“ für alle Beteiligten vermeiden.252 Sinn und Zweck von §  411a ZPO ist folglich die Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens, d. h. eine Verbesserung der Prozessökonomie.253 aa)  Anwendungsbereich und Voraussetzungen Die Entscheidung, ob ein Sachverständiger sein Gutachten mündlich oder schriftlich erbringt, steht im Ermessen des Gerichts.254 Wird eine schriftliche Erstattung des Gutachtens angeordnet, kann diese durch die Verwertung eines gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden (§  411a ZPO). Dementsprechend kommen die §§  402 ff. ZPO zur Anwendung.255 Im Unterschied zur bisherigen Rechtslage handelt es sich nunmehr um einen Sachverständigen- und keinen Urkundenbeweis.256 Die Entscheidung hierüber trifft das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen („kann“),257 eine Einwilligung der Parteien ist nicht erforderlich.258 Kriterien für die Ermessensausübung wollte der Gesetzgeber im Normtext bewusst nicht festlegen.259 Von zentraler Bedeutung wird freilich die Frage sein, inwieweit das Gutachten zur Beantwortung der jeweiligen Beweisfrage 250  BT-Drucks. 15/1508, S.  1: „Der Zugriff auf Beweisaufnahmen und Beweisergebnisse an­ derer Verfahren wird erleichtert.“; Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857 („Herzstück des […] Reformvorhabens“). 251  BGH NJW 1983, 121 (122); BGH NJW 1997, 3381 (3382); Stein/Jonas/Berger, §  411a ZPO Rn.  1; MünchKommZPO/Zimmermann, §  402 ZPO Rn.  8. 252  BT-Drucks. 15/1508, S.  20; siehe dazu ferner Bermig, Urheberrechtliche Bedeutung, S.  111 f. 253  Hk-ZPO/Eichele, §  411a ZPO Rn.  1; Musielak/Voit/Huber, §  411a ZPO Rn.  1; Fölsch, MDR 2004, 1029 (1030); Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (379); Bermig, Urheberrechtliche Bedeutung, S.  113. 254  BGHZ 6, 398 (399) = NJW 1952, 1214; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  121 Rn.  50. 255  BT-Drucks. 15/1508, S.  20. 256  Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  121 Rn.  61; BeckOK/Scheuch, §  411a ZPO Rn.  3. 257  BT-Drucks. 15/1508, S.  20; Musielak/Voit/Huber, §  411a ZPO Rn.  9. 258  Greger, BRAK-Mitt. 2005, 150 (152). Daneben ist eine Verwertung nach §  411a ZPO freilich auch auf Antrag einer Partei möglich; Stein/Jonas/Berger, §  411a ZPO Rn.  15. 259  BT-Drucks. 15/1508, S.  20.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

beitragen kann.260 In diesem Zusammenhang wird darüber diskutiert, ob die Anwendung von §  411a ZPO eine Identität der Beweisfrage voraussetzt.261 Da der Wortlaut für eine solche Einschränkung keine Anhaltspunkte liefert, ist es sinnvoller, diese Frage der gerichtlichen Ermessensentscheidung zuzuordnen.262 Andernfalls erscheint eine Verwertung des Gutachtens wenig sinnvoll.263 bb)  Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Zu der Frage, ob durch §  411a ZPO der Unmittelbarkeitsgrundsatz tangiert wird, äußert sich der Gesetzgeber nicht. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung finden sich allerdings interessante Hinweise zu §  374 ZPO-E, wonach die Vernehmung eines Zeugen durch die Verwertung einer richterlichen Vernehmungsniederschrift ersetzt werden sollte.264 Diese Vorschrift wurde zwar letztendlich nicht in das 1.  Justizmodernisierungsgesetz übernommen,265 jedoch wird hier der Unmittelbarkeitsgrundsatz direkt angesprochen. Der Gesetzgeber sah in §  374 ZPO-E eine „Durchbrechung“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes.266 Teilweise wird daraus gefolgert, dass der Gesetzgeber offenbar von der Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess ausgegangen sein müsse, da §  374 ZPO-E andernfalls überflüssig gewesen wäre.267 Für die Bewertung von §  411a ZPO taugt dieser Befund indes nur wenig. Zum einen ist §  374 ZPO-E im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens gestrichen worden und zum anderen gilt der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht.268 In der Literatur wird daher eine Kollision von §  411a ZPO mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz aus letzterem Grund regelmäßig abge-

260  Stein/Jonas/Berger, §  411a ZPO Rn.  10; Bermig, Urheberrechtliche Bedeutung, S.  115; ähnlich BeckOK/Scheuch, §  411a ZPO Rn.  11. Zu den sonstigen Gesichtspunkten, welche für die Ermes­sensausübung eine Rolle spielen, siehe die Übersicht bei Musielak/Voit/Huber, §  411a ZPO Rn.  10. 261  Hierfür Zöller/Greger, §  411a ZPO Rn.  3; BeckOK/Scheuch, §  411a ZPO Rn.  8; Musielak, in: FG Vollkommer, S.  237 (247); Fölsch, MDR 2004, 1029 (1030); a. A. MünchKommZPO/Zimmermann, §  411a ZPO Rn.  5; differenzierend PG/Katzenmeier, §  411a ZPO Rn.  5. 262  Bermig, Urheberrechtliche Bedeutung, S.  115; Musielak/Voit/Huber, §  411a ZPO Rn.  10. 263  MünchKommZPO/Zimmermann, §  411a ZPO Rn.  5. 264  §  374 ZPO-E sollte folgenden Wortlaut haben: „Die Vernehmung eines Zeugen kann durch die Verwertung der Niederschrift über seine richterliche Vernehmung in einem anderen Verfahren ersetzt werden, wenn dies zur Vereinfachung der Verhandlung vor dem Prozessgericht zweck­ mäßig erscheint und wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweis­ ergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag.“ Daneben war vorgesehen, dass rechtskräftige Urteile über Straftaten und Ordnungswidrigkeiten den vollen Beweis der darin als erwiesen angesehenen Tatsachen begründen sollten (§  415 Abs.  1 ZPO-E); siehe BT-Drucks. 15/1508, S.  5 f., 19 ff.; Huber, ZRP 2003, 268 (270 ff.). 265  Knauer/Wolf, NJW 2004, 2857. 266  BT-Drucks. 15/1508, S.  19; siehe hierzu auch Krüger, Unmittelbarkeit, S.  208 f. 267  Krüger, Unmittelbarkeit, S.  209. 268  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. b).

II.  Erstes Justizmodernisierungsgesetz (2004)

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lehnt.269 Andere Stimmen bejahen dagegen Berührungspunkte mit der Unmittelbarkeit.270 Richtigerweise stellt §  411a ZPO eine Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dar. Stellt man auf das (körperliche) Anwesenheitserfordernis ab, so ist dieses bei einer Anwendung der Neuregelung nicht erfüllt. Allerdings sind die Auswirkungen auf den Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vergleichsweise gering. Schließlich bestand bereits zuvor die Möglichkeit, dass der Sachverständige sein Gutachten schriftlich erbringt, wodurch die körperliche Anwesenheit des Beweismittels ebenfalls nicht gewährleistet ist.271 Hinzu kommt, dass die Parteien einen Anspruch auf persönliche Befragung des Sachverständigen haben (§§  397, 402 ZPO), sodass das Gericht einem Antrag auf persönliche Ladung des Sachverständigen grundsätzlich nachkommen muss.272 Die wesentliche Konsequenz von §  411a ZPO ist lediglich darin zu sehen, dass Sachverständigengutachten aus anderen Verfahren im Zivilprozess als Sachverständigenbeweis verwertet werden können. In diesen Fällen kommen die §§  402 ff. ZPO und nicht die Vorschriften über den Urkundenbeweis zur Anwendung.273

3.  Bewertung Durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz hat der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine wesentliche Änderung erfahren. Wenngleich die Auswirkungen von §  411a ZPO eher als gering einzustufen sind, so hat der Gesetzgeber unter Änderung der bisherigen lex lata durch §  284 S.  2 ZPO die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingeführt. Dass hierdurch dessen Bedeutung für den Zivilprozess abgenommen hat, liegt auf der Hand.

269  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (380); Stein/Jonas/Berger, §  411a ZPO Rn.  32; Bermig, Urheberrechtliche Bedeutung, S.  110. 270  Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (156) [„Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“]; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, §  411a ZPO Rn.  2 („Schwächung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme“); Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (141) [Fn.  34]; BeckOK/ Scheuch, §  411a ZPO Rn.  4. 271  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) cc). 272  BGHZ 6, 398 (400 f.) = NJW 1952, 1214 f.; BGH NJW-RR 1987, 339 (340); BGH NJW-RR 2001, 1431 (1432); MünchKommZPO/Zimmermann, §  411a ZPO Rn.  11. 273  Dementsprechend gering sind die Erwartungen an §  411a ZPO von Seiten der Literatur; siehe Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (156); Greger, BRAK-Mitt. 2005, 150 (153); Musielak, in: FG Vollkommer, S.  237 (247); Hk-ZPO/Eichele, §  411a ZPO Rn.  4.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

III.  Zweites Justizmodernisierungsgesetz (2006) Auf das 1. Justizmodernisierungsgesetz folgte nach gerade einmal zwei Jahren das 2. Justizmodernisierungsgesetz.274 Erneut stand die Steigerung der „Zügigkeit und Kostengünstigkeit gerichtlicher Verfahren“ – mit anderen Worten: die Prozessökonomie275 – im Vordergrund.276 Der Gesetzgeber betonte in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich, dass nur auf diese Art und Weise den vielen Herausforderungen für die Justiz – beispielsweise demographische Entwicklungen, finanzielle Handlungsspielräume („Sparzwänge der öffentlichen Haushalte“) und die Überlagerung des materiellen Rechts durch europäisches Gemeinschaftsrecht – erfolgreich begegnet werden könne. Die Aspekte der Schnelligkeit und Kostengünstigkeit des Verfahrens wurden zur „Leitlinie“ für die Überarbeitung und Verbesserung des Zivilprozessrechts erklärt.277 Zur Erreichung dieser Ziele wurden Änderungen im Bereich des Sachverständigenbeweises vorgenommen.278 §  411a ZPO wurde in seinem Anwendungsbereich erweitert.279 Nunmehr kann die schriftliche Begutachtung nicht nur durch die Verwertung eines gerichtlichen, sondern auch eines staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden. Die Einholung von neuen Sachverständigengutachten sollte insofern weiter begrenzt werden, wobei der Gesetzgeber eine Anwendung von §  411a ZPO insbesondere im Falle von Verkehrsunfällen im Blick hatte.280 Bei §  411a ZPO handelt es sich um eine Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes.281 Hieran hat die Neufassung durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz nichts geändert. Mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs der Vorschrift ist freilich eine Erweiterung derjenigen Fälle verbunden, in denen die Unmittelbarkeit nicht eingehalten wird.

274  Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz) vom 22.  De­zember 2006, BGBl. I, S.  3416. Zu den wesentlichen Änderungen siehe Fölsch, MDR 2007, 121 ff. 275  Zum Inhalt der Prozessökonomie siehe Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117 (119 ff.). 276  BT-Drucks. 16/3038, S.  1. 277  BT-Drucks. 16/3038, S.  24. 278  BT-Drucks. 16/3038, S.  24: „Für den Beweis durch Sachverständige sollen zusätzliche Effizienzreserven erschlossen und der Zivilprozess beschleunigt und weniger missbrauchsanfällig gemacht werden.“. 279  BT-Drucks. 16/3038, S.  38; PG/Katzenmeier, §  411a ZPO Rn.  1; Fölsch, MDR 2007, 121 (122). 280  BT-Drucks. 16/3038, S.  24, 38. 281  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. b) bb).

IV.  Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik

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IV.  Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) Die letzte nennenswerte Gesetzesnovellierung ist das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren aus dem Jahre 2013.282 Hintergrund für den Erlass dieses Gesetzes war die Erkenntnis, dass der Einsatz von Videotechnik bislang nur begrenzt Eingang in die Prozesspraxis gefunden hatte.283 Dass der Gesetzgeber moderne Kommunika­ tionsmittel indes als zukunftsfähiges Modell für die Gestaltung des Verfahrens­ ablaufs betrachtet, wird in der Regierungsbegründung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: „Der Gesetzentwurf richtet sämtliche gerichtliche Verfahrensordnungen daher umfassend auf die qualitativ hochwertigen technischen Möglichkeiten der Gegenwart aus und stellt zugleich normativ die Weichen für die Zukunft. Die Verstärkung des Einsatzes von Videokonferenztechnik stellt ein Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten Justiz dar.“284

Da die Vorteile des Einsatzes von Videotechnik offensichtlich seien,285 war aus der Sicht des Gesetzgebers die Zeit für einen „Paradigmenwechsel“ gekommen.286 Wieder einmal sollte eine Beschleunigung und Verbesserung des Verfahrens erreicht werden.287 Ferner bezweckte der Gesetzgeber eine Reduzierung der Prozesskosten durch verringerte Reisekosten sowie eine kürzere Verfahrensdauer.288 Der Zielsetzung des Gesetzes entsprechend wurde §  128a ZPO in zweierlei Hinsicht geändert.289 Zum einen wurde das bislang erforderliche Einverständnis der 282  Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren vom 25. April 2013, BGBl. I, S.  935. 283  BT-Drucks. 17/1224, S.  1, 10. In der Literatur wurde bei der Schaffung von §  128a ZPO teilweise prophezeit, dass sich die Videotechnik im Zivilprozess etablieren werde; Schultzky, NJW 2003, 313 (318). Andere Stimmen dagegen bezweifelten dies vor dem Hintergrund der erhöhten Kosten; Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (438) [„vorrangig ein finanzielles Problem“]. 284  BT-Drucks. 17/1224, S.  2. 285  BT-Drucks. 17/1224, S.  1. 286  BT-Drucks. 17/1224, S.  10. Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass diese Zielsetzung dadurch relativiert wird, dass in Artikel 9 des Gesetzes zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren eine Verordnungsermächtigung zugunsten der Länder vorgesehen ist. Danach können die Landesregierungen durch Rechtsverordnung – zeitlich begrenzt bis zum 31. Dezember 2017 – bestimmen, inwieweit die Vorschrift des §  128a ZPO zur Anwendung kommen soll; kritisch dazu BeckOK/von Selle, §  128a ZPO Rn.  2 („wenig folgerichtig“). 287  Sensburg, DRiZ 2013, 126 (127). 288  BT-Drucks. 17/1224, S.  2. 289  Zuvor wurde bereits eine Änderung durch das Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz (Justizkommunikationsgesetz – JKomG) vom 22. März 2005, BGBl. I, S.  837 vorgenommen. Ursprünglich war in der Fassung des Zivilprozessreform­ gesetzes (2001) nur vorgesehen, dass im Falle einer audiovisuellen Vernehmung diese zeitgleich in

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

Parteien gestrichen.290 Dieses wird in den Gesetzesmaterialien – neben der unzureichenden technischen Ausstattung der Gerichte291 – als Ursache für die seltene Anwendung von Videotechnik genannt und ist nach der Neufassung von §  128a ZPO nicht mehr erforderlich.292 Zum anderen erweiterte der Rechtsausschuss die Kompetenzen des Gerichts, indem dieses eine Videokonferenz (§  128a Abs.  1 ZPO) nunmehr „von Amts wegen“ gestatten kann.293 Das Gericht soll die Möglichkeit bekommen, aus eigener Initiative heraus die erhofften Beschleunigungs- und Vereinfachungseffekte herbeizuführen.294 Ein entgegenstehender Wille der Partei ist zwar grundsätzlich unbeachtlich, spielt jedoch im Rahmen der richterlichen Ermessensausübung eine nicht unerhebliche Rolle.295 Unverändert blieb dagegen §  128a Abs.  2 ZPO, sodass die Durchführung einer audiovisuellen Vernehmung nach wie vor den Antrag einer Partei voraussetzt. Wenn §  128a ZPO eine Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes darstellt,296 wird dieser folglich durch jede Änderung der Vorschrift tangiert. Die entscheidende Neuerung ist, dass die Anwendung von §  128a Abs.  1 ZPO nur noch im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts steht und darüber hinaus an keinerlei sonstige Voraussetzungen geknüpft ist.297 Darüber, ob der (traditionelle) Unmittelbarkeitsgrundsatz zur Anwendung gelangt oder nicht, entscheidet allein das Gericht nach seinem Ermessen. Letztendlich führt dies zu einer weiteren Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Die Streichung des Einverständnisses der Parteien sowie die amtswegige Zulassung der Videokonferenz werden daher namentlich von Glunz zu Recht kritisiert.298 Zugleich ist die Neufassung von §  128a ZPO ein Beispiel für die zunehmende Zurückdrängung der Parteifreiheit unter gleichzeitiger Aufwertung der Richtermacht im Zivilprozess.299 Bild und Ton in das Sitzungszimmer übertragen wird (§  128a Abs.  2 S.  2 ZPO a. F.). Durch das Justizkommunikationsgesetz wurde die Vorschrift dahingehend erweitert, dass die Vernehmung nun auch zusätzlich „an den Ort, an dem sich ein Zeuge oder ein Sachverständiger während der Vernehmung aufhalten“ übertragen wird (§  128a Abs.  2 S.  2 ZPO n. F.); siehe dazu Holin, Elektronischer Ablauf, S.  154 f. 290  BT-Drucks. 17/1224, S.  13; Prütting, AnwBl. 2013, 330 (331) [„Kern der Änderung“]. 291  Ob dieses Argument nach wie vor zutreffend ist, wird teilweise bezweifelt; Prütting, A ­ nwBl. 2013, 330 (331). Ein Verzeichnis mit den aktuell in Deutschland verfügbaren Videokon­ ferenzanlagen findet sich unter: http://www.justiz.de/verzeichnis/index.php (zuletzt abgerufen am 30. Juni 2016). 292  BT-Drucks. 17/1224, S.  10. Damit wurde die zuvor umstrittene Frage, ob zusätzlich zum Einverständnis der Parteien auch eine Einwilligung der sonstigen Beteiligten erforderlich ist, obsolet; Musielak/Voit/Stadler, §  128a ZPO Rn.  2a. 293  BT-Drucks. 17/12418, S.  4. 294  BT-Drucks. 17/12418, S.  14. 295  BeckOK/von Selle, §  128a ZPO Rn.  3; Prütting, AnwBl. 2013, 330 (331). 296  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) bb). 297  Glunz, Psychologische Effekte, S.  384. 298  Glunz, Psychologische Effekte, S.  355 ff., 384 f. 299  Siehe hierzu jüngst Stürner, ZZP 123 (2010), 147 ff.; kritisch zu dieser Entwicklung Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (242 ff.).

V.  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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V.  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Nachdem alle relevanten Gesetzesänderungen seit dem Jahre 2000 näher untersucht wurden, kann die Frage nach der momentanen Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für den Zivilprozess beantwortet werden.

1.  Tendenzen in der Gesetzgebung Bei Betrachtung der wichtigsten Gesetzesänderungen seit der Jahrtausendwende lässt sich ein Trend klar und deutlich erkennen: Die jüngsten Reformen haben allesamt eine Beschleunigung, Vereinfachung und Effizienzsteigerung des Verfahrens zum Ziel. Der Gedanke der Prozessökonomie nimmt eine dominierende Rolle ein.300 Freilich ist diese Entwicklung nicht ohne Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz geblieben. Wenn die neu erlassenen Einzelregelungen größtenteils Ausnahmen und Durchbrechungen von der Unmittelbarkeit darstellen bzw. im Falle von §  128a ZPO sogar zu einer Modifikation seines dogmatischen Gehalts führen, so lässt sich allgemein festhalten, dass der Gesetzgeber der Prozessökonomie den Vorrang vor einer möglichst konsequenten Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes einräumen will. Erreicht wird dies im Wesentlichen auf zwei Arten:301 Zum einen wird das Erfordernis körperlicher Anwesenheit der Parteien und der Beweismittel mehr und mehr zurückgedrängt. Besonders deutlich zeigt sich dies im Falle von §  128a ZPO und §  411a ZPO. Zum anderen kann eine Hinwendung zur freieren Verfahrensgestaltung beobachtet werden. So steht etwa die Anwendung von diversen Ausnahmevorschriften des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§§  128a, 411a, 522 Abs.  2 ZPO) im Ermessen des Gerichts. Ein Einwilligungserfordernis seitens der Parteien besteht nicht. Im Falle einer freibeweislichen Beweisaufnahme nach §  284 S.  2 ZPO entfällt schließlich die Bindung an die §§  355 ff. ZPO, was letztendlich zu einem Abbau von prozessualem Formalismus führt. Auffällig ist jedoch, dass der Gesetzgeber das „Rangverhältnis“ zwischen der Prozessökonomie und der Unmittelbarkeit nicht immer klar zum Ausdruck bringt. Teilweise wird der Unmittelbarkeitsgrundsatz in den Gesetzesmaterialien nicht einmal angesprochen, was sich besonders beim Zivilprozessreformgesetz (2001) zeigt. Lediglich im Rahmen der Begründung zu den §§  375 Abs.  1 Nr.  2 und 3, 479 Abs.  1 ZPO wird von „größerer Unmittelbarkeit“ des Verfahrens nach §  128a Abs.  2 ZPO 300  Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (112) [„Altar der Prozeßökonomie“]; Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (25) [„Altar der Wirtschaftlichkeit“]; Dauner-Lieb, AnwBl. 2005, 369 („Charme der Ökonomie“); ferner Hess, in: Richterbild und Rechtsreform, S.  1 (5). 301  Siehe zum Folgenden Kern, ZZP 125 (2012), 53 (70): „[…] mehren sich Tendenzen, die in weniger unmittelbaren, nämlich weitgehend schriftlichen, Verfahren und Beweisaufnahmen oder auch einer von verfahrensrechtlichen Vorgaben einschließlich der Unmittelbarkeit freigestellten Beweiserhebung eine Lösung tatsächlicher oder vermeintlicher Probleme sehen.“.

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

gesprochen.302 Dies ist jedoch insofern unkorrekt bzw. zumindest misslich formuliert, als die audiovisuelle Vernehmung dem dogmatischen Verständnis des Unmittelbarkeitsgrundsatzes mangels einer körperlichen Anwesenheit des Zeugen nicht entspricht.303 Bei §  128a ZPO ist zwar von einer Durchbrechung „im Interesse der Prozessökonomie“304 die Rede, allerdings geht der Gesetzgeber offenbar nur von einer Kollision mit dem Mündlichkeitsgrundsatz aus.305 Deutlicher wird das Rangverhältnis von Unmittelbarkeit und Prozessökonomie dagegen beim 1. Justizmodernisierungsgesetz (2004). Hier wird immerhin betont, dass §  284 S.  2 ZPO eine Außerkraftsetzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes „in geeigneten Fällen“306 ermöglichen soll. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in den Gesetzesmaterialien ist vor dem Hintergrund, dass viele Vorschriften diesen faktisch tangieren, äußerst überraschend. Offenbar war sich der Gesetzgeber bei Erlass der jüngsten Gesetzesnovellen nicht über sämtliche Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz im Klaren.307 Der Trend, dass sich die Prozessökonomie immer mehr gegenüber dem Unmittelbarkeitsgrundsatz durchsetzt, ist somit in erster Linie ein faktischer. Er zeigt sich zuvörderst an der lex lata, weniger dagegen am gesetzgeberischen Willen.

2.  Tendenzen in Literatur und Rechtsprechung Wenngleich sich hauptsächlich die Entwicklungslinien in der Gesetzgebung auf den aktuellen Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auswirken, darf nicht verschwiegen werden, dass sich ähnliche Tendenzen in Literatur und Rechtsprechung finden lassen. Besonders deutlich wird dies bei der Frage nach der Verzichtbarkeit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Hier wurde bereits bei der Herausarbeitung des aktuellen Meinungsstandes zum Unmittelbarkeitsgrundsatz darauf hingewiesen, dass der BGH und die herrschende Literatur diesem in der heutigen Zeit keinen allzu großen Stellenwert mehr einräumen wollen. Anders lässt sich die Tatsache nicht erklären, dass beide im Unterschied zum älteren Schrifttum und der Rechtsprechung des Reichsgerichts die Disponibilität der Unmittelbarkeit – und das bereits vor Erlass von §  284 S.  2 ZPO – bejahen.308 Somit haben nicht nur Gesetzesnovellen, sondern auch Ansichten im Schrifttum sowie Rechtsprechungsänderungen dazu beigetragen, dass die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in den 302 

BT-Drucks. 14/4722, S.  122. Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) bb). 304  BT-Drucks. 14/6036, S.  119. 305  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) bb). 306  BT-Drucks. 15/1508, S.  18. 307  Ähnlich Fischer, Justiz-Kommunikation, S.  63, welcher in Bezug auf §  128a ZPO ganz allgemein von einer „fehlenden gedanklichen Auseinandersetzung mit den Verfahrensmaximen“ spricht. 308  Siehe hierzu oben unter §  5 I. 4. 303 

V.  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

305

letzten Jahrzehnten stetig abgenommen hat. Besonders deutlich wird dies an einer Formulierung von Geiger, welcher eine unmittelbare Verhandlung bzw. Beweisaufnahme – und damit den Unmittelbarkeitsgrundsatz selbst – als eine „Idee aus einer vergangenen Zeit“309 bezeichnet. In ähnlicher Weise hält Fischer das Erfordernis körperlicher Anwesenheit am Verhandlungsort für „überholt“.310 Auch an anderer Stelle finden sich Äußerungen zum Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes: So hat beispielsweise Völzmann-Stickelbrock im Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 2005 die Frage nach der Zeitgemäßheit des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auf­ geworfen.311 Schließlich gibt es Stimmen, welche dem Unmittelbarkeitsgrundsatz eher positiv gesonnen sind. Insbesondere Kern kritisiert die aktuelle Haltung des Gesetzgebers, denn die schrittweise Aushöhlung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sei letztendlich ein „schwerer Rückschritt“ für das Zivilprozessrecht.312

3.  Tendenzen in anderen Verfahrensordnungen Die rechtsvergleichende Betrachtung im Grundlagenteil dieser Arbeit hat deutlich gemacht, dass auch in anderen Verfahrensordnungen der Unmittelbarkeitsgrundsatz mehr und mehr abgeschwächt wird.313 Wie im deutschen Zivilprozessrecht werden aktuelle Reformen von den Aspekten der Prozessökonomie und der Verfahrensbeschleunigung dominiert.314 Rechtsvergleichend betrachtet geht der Trend im Zivilprozessrecht seit der Jahrtausendwende generell hin zu einer modernen, kostengünstigen, schnellen und effektiven Ausgestaltung des Verfahrensrechts,315 was längerfristig betrachtet zur Etablierung eines deutlich ökonomisch geprägten Prozessverständnisses führen kann.316 Die nationale Entwicklung der ZPO fügt sich somit nahtlos in gesamteuropäische Tendenzen ein.317 309 

Geiger, ZRP 1998, 365 (367). Fischer, Justiz-Kommunikation, S.  59; ders., KritV 2006, 43 (66). 311  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359: „Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und Parteiöffentlichkeit – Nicht mehr zeitgemäße oder unverzichtbare Elemente des Zivilprozesses?“. 312  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (73). 313  So auch der Befund von Walder-Richli, in: FS Lüke, S.  913 (917 f.) zum schweizerischen Zivilprozessrecht. 314  Siehe hierzu oben unter §  3 IV. 315  Siehe hierzu Kengyel, ZVglRWiss 101 (2002), 260 ff. 316  Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (34); Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (24); ders., ZZP 126 (2013), 3 (17). 317  Wenngleich europäische Verordnungen nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit sein sollen, sei an dieser Stelle zumindest kurz auf die Verordnung (EG) Nr.  861/2007 des Europäischen Parlaments und das Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EuBagatellVO), ABl. EU 2007 Nr. L 199/1 hingewiesen. Um das Verfahren möglichst schnell durchführen zu können, läuft dieses schriftlich ab (Art.  5 Abs.  1 EuBagatellVO), sodass eine mündliche Verhandlung grundsätzlich nicht stattfindet (Art.  7 Abs.  1 lit. c) EuBagatellVO). Kommt es dennoch zu einer mündlichen Verhandlung, so handelt es sich regelmäßig um eine Videokonferenz (Art.  8 EuBagatellVO). Für die Beweisaufnahme wählt das Gericht „das einfachste und am wenigsten aufwändige Beweismittel“ (Art.  9 Abs.  3 EuBagatellVO). Dabei wird es 310 

306

§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

4.  Konsequenzen a)  Der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart Im Hinblick auf den aktuellen Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sprechen Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung eine klare Sprache: Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für den Zivilprozess hat in den letzten Jahren abgenommen.318 Hauptursächlich für diese Entwicklung ist der Gesetzgeber, wenngleich Literatur und Rechtsprechung durch veränderte Auffassungen bzw. Rechtsprechungsänderungen ebenfalls ihren Teil hierzu beigetragen haben. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz befindet sich derzeit in einer Phase, in welcher er immer mehr zugunsten der Prozessökonomie sowie der Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zurückgedrängt wird. Ein Blick zurück auf die Historie der ZPO zeigt, dass sich die Entwicklung der Unmittelbarkeit stets in verschiedenen Phasen abgespielt hat: Während man im 19. Jahrhundert – ausgehend von den Prozessordnungen im Königreich Hannover319 – bei Schaffung der Reichs-Civilprozeßordnung noch auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz als einen der tragenden Verfahrensgrundsätze gesetzt hatte,320 erfuhr dieser Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Praxis der Gerichte einen Bedeutungsverlust.321 Anschließend intendierten insbesondere die Nationalsozialisten sowie in gewisser Hinsicht der Gesetzgeber ab 1945 eine erneute Aufwertung und Betonung der Unmittelbarkeit.322 Auf eine Phase der Stärkung folgte stets eine Phase der Schwächung und umgekehrt. Der in diesem Kapitel untersuchte Zeitraum seit der Jahrtausendwende kann insofern als erneute „Schwäche-Phase“ bezeichnet werden. An dem Befund eines Bedeutungsverlustes des Unmittelbarkeitsgrundsatzes kann man freilich nicht stehen bleiben. Darüber hinaus muss nach möglichen Gründen für diese Entwicklung gesucht werden. Kern macht die (vermeintlich) fehlende Sensibilität in der Praxis sowie die zunehmende Geringschätzung von Formalitäten für die derzeitige Lage verantwortlich.323 Ob Ersteres in der Tat ausschlaggebend ist, kann nicht zweifelsfrei bestimmt werden und muss daher Spekulation bleiben. sich hauptsächlich um schriftliche Zeugenaussagen sowie audiovisuelle Vernehmungen handeln (Art.  9 Abs.  1 EuBagatellVO). Im Grunde kann die EuBagatellVO als europäisches Pendant zu §  495a ZPO begriffen werden; Roth, JZ 2013, 637 (638). Legt man der EuBagatellVO das in dieser Arbeit vertretene Verständnis des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zugrunde, so wird man auch ihr eine Tendenz zur Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes entnehmen können; zutreffend Kern, ZZP 125 (2012), 53 (71 f.). Zum Verfahrensablauf siehe Hau, JuS 2008, 1056 (1058); Brokamp, Geringfügige Forderungen, S.  23 ff. 318  Zutreffend Kern, ZZP 125 (2012), 53 (70 f.), welcher von einem „Bewertungswandel“ spricht bzw. eine „abnehmende Wertschätzung der Unmittelbarkeit“ feststellt. 319  Siehe hierzu oben unter §  4 II. 2. 320  Siehe hierzu oben unter §  4 III. 3. 321  Siehe hierzu oben unter §  4 IV. 1. 322  Siehe hierzu oben unter §  4 IV. 3. sowie §  4 V. 323  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (72).

V.  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

307

Der Trend zum Abbau verfahrensrechtlicher Formalitäten lässt sich indes bestätigen.324 Hervorzuheben ist im Rahmen der Beweisaufnahme insbesondere das amtsgerichtliche Bagatellverfahren (§  495a ZPO), welches eine Abweichung von den §§  355 ff. ZPO ermöglicht.325 Die Entwicklung hin zu einer immer mehr von verfahrensrechtlichen Vorgaben losgelösten Beweiserhebung scheint nunmehr mit der generellen Zulassung des Freibeweises (§  284 S.  2 ZPO) einen (vorläufigen) Höhepunkt erreicht zu haben. Schließlich darf die immer stärker werdende Hinwendung des Gesetzgebers zur Prozessökonomie nicht außer Acht gelassen werden. Die Reformgesetze der vergangenen Jahre standen überwiegend im Zeichen der Entlastung der Gerichte sowie der Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens. Daneben spielten stets fiskalische Gründe eine wichtige Rolle.326 Beim Zivilprozessreformgesetz (2001) zeigt sich dies am Abbau des Kollegialprinzips durch die Einführung des originären und obligatorischen Einzelrichters (§§  348, 348a ZPO).327 Die Neuausrichtung des Rechtsmittelrechts wurde im Schrifttum vor dem Hintergrund kritisiert, dass der Gesetzgeber hiermit unter anderem finanzielle Einsparungen vornehmen wollte.328 In den Gesetzesbegründungen zu den beiden Justizmodernisierungsgesetzen von 2004 und 2006 wird an vielen Stellen von der Kostengünstigkeit des Ver­ fahrens gesprochen.329 Wenngleich ein schnelles Verfahren mit reduzierten Verfahrenskosten den Parteien entgegenkommen mag, kann dennoch nicht geleugnet werden, dass monetäre Gründe bei den Justizmodernisierungsgesetzen inhaltlich ihren Niederschlag gefunden haben.330 Schließlich kann dieser Trend auch dem ­Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gericht­ lichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) entnommen werden. Durch die Neufassung von §  128a ZPO bezweckte der Gesetzgeber eine Reduzierung der Prozessdauer und von Reisekosten, wodurch zivilprozessuale Verfahren kostengünstiger werden sollen.331 Die erleichterte Zulassung des Einsatzes von Videotechnik bringt aber nicht nur für die Parteien, sondern auch für den Staat finanzielle Vorteile mit sich. Zwar erfolgt die finanzielle Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz332 durch 324 

Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (360). Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) dd). 326  Ebenso Roth, ZZP 129 (2016), 3 (12). 327  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. b). 328  Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  39 f.; siehe auch Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (5). 329  Siehe BT-Drucks. 15/1508, S.  12 (zum 1. Justizmodernisierungsgesetz); BT-Drucks. 16/3038, S.  24 (zum 2. Justizmodernisierungsgesetz). 330  Saenger, ZZP 121 (2008), 139 (163). In der Gesetzesbegründung zum 1. Justizmodernisierungsgesetz ist beispielsweise von der „stark arbeitsteiligen und damit personalintensiven Ablauforganisation“ der Justiz die Rede, welche verbessert werden sollte; BT-Drucks. 15/1508, S.  12. 331  Siehe hierzu oben unter §  6 IV. 332  Gesetz über die Vergütung von Sachverständigen, Dolmetscherinnen, Dolmetschern, Übersetzerinnen und Übersetzern sowie die Entschädigung von ehrenamtlichen Richterinnen, ehren325 

308

§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

die Staatskasse.333 Jedoch kommt in Fällen einer audiovisuellen Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) eine Erstattung von Fahrtkosten (§  5 JVEG i. V. m. §  401 ZPO) nicht in Betracht. Dass in diesem Bereich ein erhebliches Einsparungspotenzial besteht, liegt auf der Hand.334 In der Gesamtschau betrachtet muss sich der Gesetzgeber daher durchaus den Vorwurf gefallen lassen, dass die vorgenommenen Reformen – zumindest zu einem gewissen Grad – durch finanzielle Rahmenbedingungen veranlasst wurden, nach außen aber als Modernisierungsmaßnahmen verkauft werden.335 b)  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Verfahrensgrundsatz der ZPO? Die vorangegangenen Ausführungen werfen die Frage auf, ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach wie vor einen Verfahrensgrundsatz der ZPO darstellt. Hierfür ist auf die Ergebnisse des Grundlagenteils über das Wesen und die Voraussetzungen von Verfahrensgrundsätzen im Allgemeinen zurückzukommen. aa)  Prüfung anhand des Kriteriums der „Wichtigkeit“ Entscheidendes Kriterium für die Bejahung eines Verfahrensgrundsatzes ist dessen „Wichtigkeit“, d. h. ein in der ZPO zum Ausdruck kommender Gedanke oder eine bestimmte Regelung kann nur dann als Verfahrensgrundsatz qualifiziert werden, wenn er besonders „wichtig“ ist. Faktoren hierfür sind die Quantität, das Bestehen von Ausnahmen und das daraus resultierende Regel-Ausnahme-Verhältnis, die Anwendung in der Praxis, eine (mögliche) verfassungsrechtliche Verankerung sowie die gesetzgeberische Regelungsintention.336 (1)  Erfüllte Faktoren Bei der Quantität kommt es darauf an, dass sich ein Grundsatz aus einer Vielzahl von Normen bestimmen lässt. Im Falle des Unmittelbarkeitsgrundsatzes konnte die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beweismittel als dessen zentrales Element anhand von vier personellen Komponenten herausgebildet werden.337 Diese wiederum gehen zurück auf diverse Einzelregelungen: Das Verhältnis zwischen amtlichen Richtern, Zeuginnen, Zeugen und Dritten (Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz – JVEG) vom 5. Mai 2004, BGBl. I, S.  776. 333  Zur Entschädigung von Zeugen und Vergütung von Sachverständigen siehe Breyer, Kostenorientierte Steuerung, S.  81 ff. 334  Glunz, Psychologische Effekte, S.  46. Zur Reduzierung von Reisekosten siehe auch Carlhoff/Eckstein, DRiZ 2014, 98 (100), welche für eine deutlich stärkere Nutzung von Videotechnik im Zivilprozess plädieren. 335  Hirtz, AnwBl. 2004, 503; ferner Dauner-Lieb, AnwBl. 2005, 369 (370); Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (106); ebenso Bohlander, ZStW 107 (1995), 82 (113 f.) [für das Strafprozessrecht]; siehe hierzu auch Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (129) [Fn.  50] m. w. N. 336  Siehe hierzu oben unter §  2 III. 6. a). 337  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. a).

V.  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

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den Parteien und dem Gericht wird in erster Linie durch die §§  128 Abs.  1, 141 Abs.  1, 273 Abs.  2 Nr.  3, 278 Abs.  3 S.  1 ZPO bestimmt. §  357 ZPO regelt das Verhältnis zwischen den Parteien und den Beweismitteln, die §§  445 Abs.  1, 450 Abs.  1 S.  2 ZPO das Verhältnis zwischen den Parteien untereinander. Das Verhältnis des Gerichts zu den Beweismitteln wird schließlich durch §  355 Abs.  1 ZPO ausgestaltet. Nach alledem kann das Vorliegen der Quantität bejaht werden. Bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Regelungsintention stellt sich das Problem, dass die mittlerweile faktisch immer häufigere Bevorzugung der Prozessökonomie gegenüber dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in den Gesetzesmaterialien nicht klar zum Ausdruck kommt.338 Entscheidend können an dieser Stelle indes nur die Absichten des Gesetzgebers sein und nicht die tatsächlichen Auswirkungen der Gesetzesnovellen. Die Tatsache, dass Verfahrensgrundsätze keinen a priori-Charakter besitzen, zwingt zu einer klaren Differenzierung zwischen den gesetzgeberischen Vorstellungen einerseits und der tatsächlichen Ausgestaltung der ZPO andererseits.339 Andernfalls käme es zu einer Gleichsetzung mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, welches aber einen eigenständigen Faktor zur Beurteilung der „Wichtigkeit“ darstellt.340 Da ferner bei der Auslegung von „jungen Gesetzen“ der Wille des Gesetzgebers (subjektive Theorie) maßgeblich ist,341 lässt sich im Ergebnis ein entsprechender Wille, den Unmittelbarkeitsgrundsatz mehr oder weniger aufgeben zu wollen, den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Die gesetzgeberische Regelungsintention steht einer Bejahung der „Wichtigkeit“ somit nicht entgegen. (2)  Nicht erfüllte Faktoren Das Regel-Ausnahme-Verhältnis kann unter Rückgriff auf die vorangegangene Untersuchung der jüngsten Gesetzesreformen beurteilt werden. Zwar existierten bereits vor der Jahrtausendwende diverse Ausnahmevorschriften, allerdings hat sich deren Anzahl in den letzten Jahren durch den Trend zur Bevorzugung der Prozess­ ökonomie gegenüber dem Unmittelbarkeitsgrundsatz nochmals erhöht. Gerade die Einführung von Videotechnik und die Zulassung des Freibeweises haben deutliche Einschnitte bzw. Veränderungen bewirkt: Während durch §  284 S.  2 ZPO die Dis­ ponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingeführt wurde, wodurch weitreichende Ausnahmen von dessen Anwendungsbereich ermöglicht werden,342 erlaubt §  128a ZPO die – zumindest theoretisch mögliche – komplette Ersetzung der körperlichen Anwesenheit der Parteien und der personellen Beweismittel durch eine 338 

Siehe hierzu oben unter §  6 V. 1. Siehe hierzu oben unter §  2 II. 2. d). 340  Freilich schließt dies etwaige Wechselwirkungen zwischen beiden Faktoren nicht aus. Zu solchen wird es letztendlich kommen, wenn die konkrete Regelungsabsicht des Gesetzgebers mit der lex lata exakt übereinstimmt. 341  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a) dd) (2). 342  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a). 339 

310

§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

rein virtuelle Anwesenheit.343 Letzteres berührt nicht weniger als eine der fundamentalsten Vorstellungen über den Ablauf und die äußere Form von Gerichtsverfahren.344 Insgesamt betrachtet verlagert sich der Schwerpunkt zunehmend auf die Schaffung neuer Ausnahmeregelungen. Im Berufungsverfahren kommt der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach der Neukonzeption der §§  511 ff. ZPO ebenfalls nur noch selten zur Anwendung.345 Eine verfassungsrechtliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes existiert nicht,346 sodass auch dieser Faktor schlussendlich nicht erfüllt ist. (3)  Die Anwendung in der Praxis als (noch) „offener“ Faktor Der Anwendung in der Praxis ist schwierig zu beurteilen, setzt sie doch das Vorliegen rechtstatsächlicher Untersuchungen über die Häufigkeit der Anwendung von Ausnahmevorschriften des Unmittelbarkeitsgrundsatzes voraus. Deutlich wird dies beim Einsatz von Videotechnik sowie dem Freibeweis. Die Videotechnik hat sich seit dem Erlass von §  128a ZPO nicht in der erhofften Form durchsetzen können,347 was letztendlich der Auslöser für das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) war.348 Aktuell liegen zu der Frage, ob die vorgenommenen Änderungen zu einem signifikanten Anstieg von Videokonferenzen (§  128a Abs.  1 ZPO) geführt haben, noch keine rechtstatsächlichen Untersuchungen vor. Eine abschließende Beurteilung muss an dieser Stelle noch offen bleiben.349 Legt man aber die bisher niedrige Häufigkeit von Videokonferenzen zugrunde, wird man annehmen können, dass diese trotz der Neukonzeption von §  128a ZPO bislang (noch) nicht den Regelfall darstellen. Ähnlich verhält es sich mit §  284 S.  2 ZPO. Wenngleich es hierzu ebenfalls (noch) keine genauen Zahlen gibt, so kann vermutet werden, dass der Freibeweis in der Praxis keine überragend wichtige Rolle spielt. Aufgrund der erheblichen Nachteile sowohl des Freibeweises im Allgemeinen als auch §  284 S.  2 ZPO im Speziellen350 ist davon auszugehen, dass Parteien und Rechtsanwälte in der Praxis nur sehr selten ihr Einverständnis zur Durchführung einer freibeweislichen Beweis­ aufnahme erteilen werden.351 Zusammenfassend lässt sich eine genaue Aussage über das erstinstanzliche Verfahren – auch hinsichtlich der übrigen Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz – (noch) nicht treffen. 343 

Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) aa). Geiger, ZRP 1998, 365 (367). 345  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. d) bb). 346  Siehe hierzu oben unter §  5 VI. 347  Glunz, Psychologische Effekte, S.  4 4. 348  Siehe hierzu oben unter §  6 IV. 349  Glunz, Psychologische Effekte, S.  46. 350  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a) cc). 351  Greger, BRAK-Mitt. 2005, 150 (152); Hirtz, AnwBl. 2004, 503 (504); siehe ferner Huber, ZRP 2003, 268 (269), welcher aus Sicht der Rechtsanwälte auf etwaige Haftungsfallen hinweist. 344 

V.  Der aktuelle Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

311

Für das Berufungsrecht liegen dagegen genauere Statistiken vor. Insbesondere die Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO) hat den Rückgang von mündlichen Verhandlungen in der Berufungsinstanz begünstigt.352 Da das Berufungsgericht vor einer Zurückweisung durch Beschluss den Berufungskläger auf die geplante Zurückweisung hinweisen muss (§  522 Abs.  2 S.  2 ZPO), ist davon auszugehen, dass nicht zuletzt deshalb ein Anstieg von Berufungsrücknahmen (§  516 ZPO) zu verzeichnen ist.353 Die Quote liegt bei knapp 32 % (LG) bzw. 29 % (OLG).354 Auch die Häufigkeit von Beweisaufnahmen ist durch die Bindung an die erstinstanzlich festgestellten Tatsachen (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO) um 30 % gesunken. Allerdings gilt es zu bedenken, dass selbst unter Geltung der alten Rechtslage Beweisaufnahmen nur begrenzt stattgefunden haben.355 Die Konsequenz, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz in Berufungsverfahren nur selten zur Anwendung kommt, beruht somit zumindest nicht überwiegend auf den Neuerungen des Berufungsrechts. bb) Ergebnis In der Gesamtschau betrachtet lässt sich die „Wichtigkeit“ bejahen, weshalb der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach wie vor einen Verfahrensgrundsatz der ZPO darstellt. Möglich ist dies aber nur unter der Prämisse, dass die wichtigsten neuen Ausnahmeregelungen – insbesondere §§  128a, 284 S.  2 ZPO – in der Praxis (noch) keine dominierende Rolle spielen. Die Bewertung kann und muss freilich anders ausfallen, wenn in Zukunft immer mehr Ausnahmen und Durchbrechungen in die ZPO aufgenommen werden sollten bzw. diese in der Gerichtspraxis überwiegend zur Anwendung kommen. Setzt sich der aktuelle Trend zur Aufwertung der Prozess­ ökonomie fort, so ist die Existenz des Unmittelbarkeitsgrundsatzes als Verfahrensgrundsatz der ZPO nachhaltig bedroht. c)  Neudefinition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Will man – ungeachtet der aktuellen Entwicklung – den Unmittelbarkeitsgrundsatz weiterhin als zivilprozessualen Verfahrensgrundsatz beibehalten, kommt man nicht umhin, über eine mögliche Neudefinition nachzudenken.356 Die im Verlauf dieses Kapitels herausgearbeiteten Tendenzen in der Gesetzgebung führen zwangsläufig zu der Frage, ob ein Verfahrensgrundsatz nicht an die geänderte Situation anzupas352 

Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. d) bb). Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (9 f.); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  136 Rn.  48. 354  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  68, 94. 355  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. d) bb). 356  Dieses Erfordernis kann sich ganz allgemein für alle Verfahrensgrundsätze der ZPO ergeben, je nachdem, wie intensiv diese durch die Reformen in der Vergangenheit tangiert und möglicherweise umgestaltet wurden; Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (28). 353 

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§  6:  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart

sen ist.357 Freilich muss eine Neujustierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dogmatisch begründbar sein. Ausgangspunkt ist der Einsatz von Videotechnik, da §  128a ZPO die virtuelle Anwesenheit der körperlichen Präsenz gleichstellt.358 Ferner konnte der Wortlaut von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO so ausgelegt werden, dass eine Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ im Falle einer audiovisuellen Vernehmung (§  128a Abs.  2 ZPO) vorliegt.359 Damit gelangt man zu folgender Neudefinition der Unmittelbarkeit: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz zielt im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf die körperliche oder virtuelle Anwesenheit der Parteien ab und verlangt im Rahmen der Beweisaufnahme die körperliche Präsenz der Richter bzw. die körperliche oder virtuelle Anwesenheit der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme. Die Anwesenheit bleibt damit nach wie vor das zentrale Element des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Dabei bietet es sich an, dasjenige Verständnis von der Unmittelbarkeit, welches auf eine rein körperliche Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten und der Beweismittel abstellt, als „klassische“ Komponente des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu bezeichnen. Diese wird nunmehr um eine virtuelle – oder gegensätzlich formuliert: „moderne“ – Komponente erweitert. Dabei darf nicht vergessen werden, dass eine solch „moderne“ und „zeitgemäße“ Interpretation des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht auf etwaigem Wunschdenken oder rechtspolitischen Vorstellungen beruht, sondern sich aus der lex lata ergibt. Die Haltung des Gesetzgebers, beide Formen von Anwesenheit rechtlich gleichzustellen, spiegelt sich in der inhaltlichen Ausprägung des Unmittelbarkeitsgrund­ satzes wider. Auf diese Weise trägt die Neudefinition dem Bedürfnis nach der Zulassung von modernen Kommunikationstechnologien in Zivilprozessen ausreichend Rechnung.

VI.  Zusammenfassung Die jüngsten Gesetzesnovellen seit der Jahrtausendwende zielen hauptsächlich auf eine Beschleunigung, Vereinfachung und Effizienzsteigerung des Verfahrens ab. Dies ist freilich nicht ohne Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz geblieben, wobei das Zivilprozessreformgesetz (2001) und das 1. Justizmodernisierungsgesetz (2004) zu den größten Einschnitten geführt haben. Aus der Vielzahl von Einzelvorschriften, bei welchen es sich größtenteils um Ausnahmen und Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes handelt, sind besonders die Einführung von Videotechnik sowie die Zulassung des Freibeweises hervorzuheben. Wäh357  Fischer, KritV 2006, 43 (49) [„zeitgemäße Veränderung der tradierten Verfahrensmaximen“]; siehe auch ders., Justiz-Kommunikation, S.  59 ff., 68 f.; Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (27 f.). Zur Weiterentwicklung des Verhandlungsgrundsatzes siehe die Überlegungen bei Gaier/ Freudenberg, ZRP 2013, 27 (29). 358  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) aa). 359  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) dd) (2).

VI.  Zusammenfassung

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rend §  128a ZPO eine Gleichstellung von körperlicher und virtueller Anwesenheit bewirkte und damit die traditionelle Vorstellung über den Ablauf und die äußere Form von Gerichtsverhandlungen umgestaltete, führte §  284 S.  2 ZPO die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes de lege lata ein. Infolge dieser Schwächung hat der Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für den Zivilprozess deutliche Einbußen erfahren. Die Prüfung des Kriteriums der „Wichtigkeit“ hat indes ergeben, dass dieser nach wie vor als geltender Verfahrensgrundsatz der ZPO anzuerkennen ist. Nichtsdestoweniger besteht angesichts der Gefahr einer (potenziellen) weiteren Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in naher Zukunft ein Bedürfnis für eine „moderne“ Neudefinition. Ermöglicht wird dies, indem die bisherige Restriktion auf ein körperliches Anwesenheitserfordernis aufgegeben und der Anwendungsbereich des Unmittelbarkeitsgrundsatzes um eine virtuelle Präsenz er­ weitert wird.

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Entscheidend für die zukünftige Existenz des Unmittelbarkeitsgrundsatzes als Verfahrensgrundsatz der ZPO ist im Wesentlichen die Haltung des Gesetzgebers: Setzt dieser auch bei den nächsten Reformen auf eine Stärkung der Prozessökonomie bei gleichzeitiger Schwächung der Unmittelbarkeit? Wenn ja, hat der Unmittelbarkeitsgrundsatz unter diesen Voraussetzungen langfristig gesehen eine Perspektive? Oder sind alternative Wege denkbar und sollten diese vorrangig beschritten werden? Diesen Fragestellungen soll im Folgenden nachgegangen werden. Unabhängig davon, welche Antworten sich konkret ergeben werden, wird ein Aspekt bereits an dieser Stelle deutlich: Es geht nicht allein darum, wie es um die Zukunft der Unmittelbarkeit bestellt ist. Vielmehr muss die Frage nach der Zukunft der ZPO selbst in die Überlegungen einbezogen werden – mit anderen Worten: Die Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes hängen letztendlich davon ab, in welche Richtung sich die ZPO selbst entwickelt.

I.  Die zukünftige Entwicklung der ZPO Die Frage nach der Zukunft der ZPO sowie möglichen Ansatzpunkten für Reformen ist in den letzten Jahren im Schrifttum verstärkt aufgeworfen worden.1 Der 70. Deutsche Juristentag in Hannover (2014) hatte sich jüngst dieser Thematik angenommen, als sich dessen prozessrechtliche Abteilung mit dem Thema „Der Richter im Zivilprozess – Sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?“ auseinandersetzte. Ziel der Veranstaltung war es, potenzielle Lösungsansätze zu erarbeiten, welche dazu beitragen können, die Modernität, Attraktivität und Effektivität des Zivilprozesses zu verbessern.2 Wenngleich dies nach Ansicht des Gutachters Gralf-Peter Calliess 1  Siehe hierzu unter anderem Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  347 ff.; Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 ff.; Roth, ZZP 129 (2016), 3 ff.; Greger, NZV 2016, 1 (5 f.); Carlhoff/Eckstein, DRiZ 2014, 98 ff.; Hirtz, NJW 2014, 2529 ff.; Prütting, AnwBl. 2013, 401 ff.; Gaier/ Freudenberg, ZRP 2013, 27 ff.; Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 ff.; Probst, JR 2011, 507 ff.; Gemballa, AnwBl. 2001, 151 ff.; ferner Poseck, DRiZ 2015, 303 zu den Beschlüssen der 67. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs (2015). Zur Zukunft des europäischen Zivilprozessrechts siehe Leible, in: FS Gottwald, S.  381 ff.; Hess, IPRax 2011, 125 ff. 2  Siehe hierzu das Tagungsprogramm zum 70. Deutschen Juristentag, S.  10, abrufbar unter: http://www.djt.de/fileadmin/downloads/70/djt_70_Programmheft_140401.pdf (zuletzt abgerufen

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

die Einbeziehung von Richter- und Anwaltschaft erfordert,3 wird die Zukunft der ZPO freilich in erster Linie durch die Gesetzesänderungen in den nächsten Jahren bestimmt.4 Dabei darf nicht vergessen werden, dass etwaige Änderungsvorhaben häufig auf allgemeinen Überlegungen beruhen. Insbesondere können generelle Entwicklungstendenzen im Bereich der Streitbeilegung ein Handeln des Gesetzgebers erforderlich machen.5

1.  Gegenwärtige Herausforderungen für das nationale Zivilprozessrecht Das nationale Verfahrensrecht sieht sich im 21. Jahrhundert mit diversen Herausforderungen konfrontiert,6 welche den Gesetzgeber zu einer Überarbeitung des Zivilprozessrechts veranlassen bzw. ihn in der konkreten Ausgestaltung der ZPO beeinflussen können. Die beiden wohl wichtigsten Aspekte sind die beschränkten finanziellen Handlungsspielräume der Justiz und der zunehmende Wettbewerbscharakter des Rechts. a)  Finanzielle Rahmenbedingungen Die Funktionsfähigkeit der Justiz ist in großem Maße von den ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln abhängig.7 Etwaige Sparmaßnahmen des Staates und der Länder, die zum Zwecke der Entschuldung und Haushaltskonsolidierung durchgeführt werden, betreffen folglich auch die Justiz und damit die tägliche Arbeit an den Gerichten.8 Wenngleich finanzielle Einsparungen stets ein Anstoß für am 30. Juni 2016). Eine Übersicht über die dort von der Abteilung Prozessrecht gefassten Beschlüsse findet sich bei Daniels, AnwBl. 2014, 931 ff. 3  Calliess, Gutachten zum 70. DJT, S. A 41 f.; ebenso Prütting, AnwBl. 2013, 401 (405): „Die beteiligten Personen werden sich weit stärker verändern müssen als die normativen Grundlagen des Prozessrechts.“; ähnlich Fasching, in: Verfahrensgrundsätze, S.  53 (72 f.). Zum Gutachten von Calliess und den von der prozessrechtlichen Abteilung besprochenen Themen siehe die Beiträge von Hirtz, NJW 2014, 2529 ff.; Roth, JZ 2014, 801 ff.; Olenhusen, AnwBl. 2014, 568 ff. 4  Ebenso Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (14). 5  Ähnlich Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 26. 6  An dieser Stelle kann freilich nicht auf sämtliche Aspekte im Detail eingegangen werden. Siehe hierzu die Ausführungen bei Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 26 ff.; Prütting, ­A nwBl. 2013, 401 (402 ff.); Gaier, NJW 2013, 2871 (2872 f.); Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (35); Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (18 ff.), welcher die Aspekte „Privatisierung“, „Internationalisierung“ und „Materialisierung“ nennt; ähnlich Wagner, ZEuP 2008, 6 (7 ff.); ferner Weth, ZZP 120 (2007), 135 (139 ff.) zu den Gründen, welche für die geplante „Große Justizreform“ ins Feld geführt wurden. Zu den derzeitigen Herausforderungen der europäischen Gerichtsbarkeit im Bereich des Zivilrechts siehe Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S.  31 ff. 7  Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.  277. 8  Gaier, NJW 2013, 2871 (2872); Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (4); Prütting, in: FS Schumann, S.  309; Berchtold, NZS 2011, 401 (für das sozialgerichtliche Verfahren); siehe auch Schäfer, in: 100 Jahre ZPO, S.  251 (252 f.) mit Kritik zur sog. „Rasenmähermethode“, wonach alle Ressorts in möglichst gleichem Umfang auf finanzielle Mittel verzichten müssen.

I.  Die zukünftige Entwicklung der ZPO

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grundlegende Reformen sein können,9 ist dies im Falle der Justiz nur eingeschränkt möglich. Schließlich müssen bestimmte Aufgaben von der nationalen Gerichtsbarkeit erfüllt werden und können nicht ohne Weiteres aufgegeben werden.10 Für die Zukunft bedeutet dies, dass der Ziviljustiz für die Bewältigung ihrer Auf­gaben geringere finanzielle Mittel zur Verfügung stehen werden als bislang.11 Dies wird – eine (freilich nicht eintretende) Untätigkeit des Gesetzgebers unterstellt – nicht ohne Folgen für den Ablauf des zivilprozessualen Verfahrens bleiben: Einerseits besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die verringerte Personaldecke zu einer längeren Verfahrensdauer führen wird.12 Andererseits könnte die zeitliche Mehrbelastung durch einen stufenweisen Abbau der Kommunikation zwischen dem Gericht und den übrigen Verfahrensbeteiligten kompensiert werden.13 In jedem Fall wird es zu spürbaren Auswirkungen auf die Qualität des Zivilprozesses kommen.14 b)  Justiz und Wettbewerb Die nationale Gerichtsbarkeit steht immer mehr im Wettbewerb mit anderen Möglichkeiten der Streitbeilegung.15 Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden:16 Zum einen besteht ein Konkurrenzverhältnis zu ausländischen Rechtsordnungen. Hintergrund ist die Tatsache, dass sowohl das Kollisionsrecht einer Vielzahl von Staaten als auch das europäische Zivilprozessrecht (Art.  23 EuGVO) den Parteien eines Rechtsstreits in weitem Maße eine Rechtswahl ermöglichen.17 Die Tätigkeit   9  Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.  280, wonach Phasen der Haushaltskonsolidierung durchaus als „Chance“ begriffen werden können. 10  Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.  281, welcher als Beispiele unter anderem die Entscheidung über einen Betreuungsantrag oder die – freilich das Straf- und Strafprozessrecht betreffende – Durchführung einer Haft nennt. 11  Gaier, NJW 2013, 2871 (2872). 12  Gaier, NJW 2013, 2871 (2873); siehe auch Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (6). 13  Gaier, NJW 2013, 2871 (2873); zustimmend Hirtz, NJW 2014, 2529. 14  Ebenso muss die Justizverwaltung auf die finanziellen Rahmenbedingungen reagieren. Aus diesem Grund wird mittlerweile verstärkt auf das sog. „Neue Steuerungsmodell“ (NSM) zurückgegriffen, welches versucht mit Hilfe einer Orientierung an betriebswirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Organisationsabläufen die Gerichtsorganisation zu optimieren; Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (143 f.). 15  Oebbecke, DÖV 2007, 177 (179); ähnlich Triebel, AnwBl. 2008, 305; Daniels, AnwBl. 2014, 931 (933). Diese Tatsache wird im Schrifttum überwiegend positiv bewertet; siehe etwa Hoffmann-­ Riem, Modernisierung, S.  58 f.; ders., JZ 1999, 421 (422); Calliess, Gutachten A zum 70.  DJT, S. A 40; Eidenmüller, JZ 2009, 641 (649); ferner Althammer, ZZP 126 (2013), 3 (6), welcher vom „fruchtbaren Wettbewerb der Verfahrensordnungen“ spricht. 16  Die nachfolgende Kategorisierung kann man im Sinne Oebbeckes als „externen Wettbewerb“ bezeichnen. Der „interne Wettbewerb“ betrifft dagegen die Frage, ob und inwieweit den Bürgern innerhalb ein und derselben Gerichtsbarkeit verschiedene Wahlmöglichkeiten (z. B. zwischen zwei unterschiedlichen Rechtswegen oder Gerichtsständen) offenstehen; siehe hierzu Oebbecke, DÖV 2007, 177 (180); a. A. Wagner, in: Regulatory Competition, S.  347 (354 ff.), welcher seinen Wettbewerbsbegriff anhand der Unterscheidung zwischen einem einseitigen (unilateral demand) und einem zweiseitigen Bedarf (bilateral demand) für eine Streitbeilegung entwickelt. 17  Eidenmüller, JZ 2009, 641 (642); Oebbecke, DÖV 2007, 177 (178 f.). Zum Einfluss der EU

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

der Justiz und deren Rechtssystem sind folglich nicht mehr allein auf die Grenzen des jeweiligen Nationalstaats beschränkt. Durch die Globalisierung18 wird „Recht“ zum „Standortfaktor“ und „Exportgut“.19 Der daraus entstehende „Wettbewerb der Justizstandorte“20 wird durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt, sodass sich ein eigener Markt für die Erbringung von justiziellen Tätigkeiten etablieren konnte.21 „Recht“ wird in diesem Zusammenhang weniger als der Rahmen begriffen, innerhalb dessen Konflikte nach vorgegebenen Regeln gelöst werden, sondern vielmehr als eigenständiges Produkt.22 Wenig überraschend ist es daher, wenn die nationalen Gesetzgeber mittlerweile auf Marketing-Strategien zurückgreifen, um ihr „Produkt“ bestmöglichst bewerben zu können. Besonders bekannt wurde in diesem Zusammenhang die von der englischen Law Society herausgegebene Broschüre „England and Wales – The Jurisdiction of Choice“.23 Deutschland folgte diesem Trend, als das Bundesjustizministerium im Jahre 2008 ebenfalls eine Broschüre mit dem Titel „Law – Made in Germany“ veröffentlichte.24 Zum anderen tritt das (nationale) Zivilprozessrecht in Konkurrenz zur alternativen Streitbeilegung, welche von Privaten und damit losgelöst von der staatlichen Gerichtsbarkeit erbracht wird.25 Hierzu zählt insbesondere die Mediation, welche in Deutschland seit 2012 durch das Mediationsgesetz gesetzlich geregelt ist.26 Daneben nehmen die Schiedsgerichtsbarkeit (§§  1025 ff. ZPO), die Vereins- und Verbandsgerichtsbarkeit sowie Schlichtungsverfahren einen immer größeren Stellenwert im Bereich der Konfliktbeilegung ein.27 In der Folge wird die Streitentscheiauf den Wettbewerb zwischen den einzelnen Rechtsordnungen siehe Ritter, NJW 2001, 3440 (3445); Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (159 ff.). 18  Zu den Auswirkungen der Globalisierung auf das „Recht“ siehe Gilles, ZZPInt 7 (2002), 3 (4 ff.). 19  Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 15; ähnlich Gaier/Freudenberg, ZRP 2013, 27 (29). Damit verbunden sind Herausforderungen für die Prozessrechtswissenschaft als solche, welche sich der Internationalisierung des Rechts öffnen muss; siehe hierzu Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S.  17 ff. 20  Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S.  15; Wagner, in: Regulatory Competition, S.  347 (353) [„competition between civil justice systems“]. 21  Eidenmüller, JZ 2009, 641 (647). 22  Siehe hierzu Eidenmüller, JZ 2009, 641 ff.; Wagner, in: Regulatory Competition, S.  347 (353 f.); Voßkuhle, Die Verwaltung Beiheft 5 (2002), 35 ff. 23  Siehe hierzu Triebel, AnwBl. 2008, 305 ff. 24  Abrufbar unter: http://www.lawmadeingermany.de/Law-Made_in_Germany.pdf (zuletzt abgerufen am 30. Juni 2016); positiv zu dieser Form der „Kundenwerbung“ Knospe, NJW 2005, 3194 (3197). 25  Oebbecke, DÖV 2007, 177 (178); Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (155 ff.); Wagner, ZEuP 2008, 6 (7 ff.). Zur Entwicklung der alternativen Streitbeilegung im Bereich des Zivilrechts siehe überblicksartig Ritter, NJW 2001, 3440 f. 26  Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vom 21. Juli 2012, BGBl. I, S.  1577; siehe hierzu Thole, ZZP 127 (2014), 339 ff. 27  Zu den unterschiedlichen Formen der alternativen Streitbeilegung siehe Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (65 ff.); MünchKommZPO/Rauscher, Einleitung Rn.  55 ff.; Eisenmenger, Privatisierung der Justiz, S.  48 ff.

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dung als eine der Kernaufgaben der Justiz zunehmend in den privaten Sektor verlagert.28 Die Privatisierung der Justiz wurde in den letzten Jahren schließlich durch Maßnahmen der EU auf dem Gebiet des Verbraucherrechts vorangetrieben. So wurden im Jahre 2013 die Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten 29 sowie die Verordnung über Online-Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten30 erlassen.31 Trotz der Vorteile, welche die alternative Streitbeilegung im Vergleich zur staatlichen Gerichtsbarkeit mit sich bringt – insbesondere (weitgehende) Formfreiheit, Schnelligkeit und Kostengünstigkeit32 –, ist mit der Delegation von richterlichen Tätigkeiten auf Private stets ein Bedeutungsverlust der nationalen Verfahrensordnungen verbunden.33 Diese Tendenz wird sich verstärken, je mehr das nationale Recht durch Vorgaben und Handlungsoptionen aus Brüssel überlagert wird.34 Wenngleich diese Entwicklung wohl nicht mehr aufgehalten werden kann,35 gilt es dennoch zu bedenken, dass Privatisierungsmodelle auf nationaler Ebene nicht grenzenlos die staatliche Gerichtsbarkeit ersetzen bzw. in diese integriert werden können.36

2.  Handlungsoptionen des Gesetzgebers Der Gesetzgeber muss sich Gedanken darüber machen, wie er den gegenwärtigen Herausforderungen für das Zivilprozessrecht begegnen will. Die veränderten Rahmenbedingungen können bei zukünftigen Reformen nicht einfach unbeachtet bleiben.37 28  Roth, JZ 2013, 637 (638) [„Teilprivatisierung der Justiz“]; Ritter, NJW 2001, 3440 (3446) [„Teilprivatisierung richterlicher Aufgaben“]; siehe auch Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (317) [„volles zweites Verfahrenssystem abgeschwächter Rechtsbindung“]. 29  Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr.  2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ADR-Richtlinie), ABl. EU 2013 Nr. L 165/63. 30  Verordnung (EU) Nr.  524/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr.  2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (ODR-Verordnung), ABl. EU 2013 Nr.  L 165/1. 31  Siehe hierzu statt vieler Rühl, RIW 2013, 737 (740 ff.); Roth, JZ 2013, 637 (638 ff.). 32  Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (72 ff.); siehe auch Ritter, NJW 2001, 3440 (3443); Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (252) [zur Schiedsgerichtsbarkeit]; ferner Hager, Konflikt und Konsens, S.  55 f. Zu den Nachteilen der staatlichen Gerichtsbarkeit siehe Hawickhorst, BRAK-Mitt. 2005, 222 (223 f.). Zu den Kritikpunkten, die dem „klassischen“ Zivilprozess entgegengebracht werden, siehe Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (61 ff.). 33  Kritisch hierzu Roth, JZ 2013, 637 (641 ff.). 34  Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (11). 35  Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 40 („ohnehin nicht vermeidbare[r] Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Dienstleistungen“). 36  Zu den (verfassungsrechtlichen) Schranken von Privatisierungsmaßnahmen siehe Zado, Privatisierung der Justiz, S.  241 ff.; Eisenmenger, Privatisierung der Justiz, S.  91 ff. 37  Ähnlich Ritter, NJW 2001, 3440 (3447); siehe auch Gaier, NJW 2013, 2871.

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

a)  Generelle Überlegungen Ausgangspunkt sämtlicher Überlegungen wird der eingeschränkte finanzielle Handlungsspielraum sein. Dieser wird dazu führen, dass die Ausgestaltung des Zivilprozesses vermehrt von Kosten-Nutzen-Überlegungen geprägt sein wird.38 Es geht nicht mehr allein um die ökonomische Analyse des Rechts,39 sondern die Justiz wird selbst zum Gegenstand einer Ökonomisierungsdebatte.40 Inhaltlich bieten sich für den Gesetzgeber unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten an: Naheliegend ist freilich die Vereinfachung bzw. Effizienzsteigerung des Verfahrens,41 beispielsweise durch den Ausbau von gesonderten Verfahren für Bagatellstreitigkeiten.42 Um Kosten einzusparen bietet sich ferner an, die Parteien noch mehr an den Verfahrenskosten zu beteiligen43 oder Kürzungen im Bereich der Prozesskostenhilfe vorzunehmen.44 Schließlich liegt in der Reduzierung von Gerichtsverfahren ein großes Einsparungspotenzial, was auf zweierlei Arten geschehen kann. Zum einen kann bereits die Zulassung zu den Gerichten – insbesondere durch erhöhte Wertsummengrenzen (z. B. §  511 Abs.  2 Nr.  1 ZPO für die Berufung) – begrenzt werden.45 Zum anderen drängt sich der Ausbau bzw. die Förderung von alternativen Formen der Streitbeilegung auf.46 Für den Gesetzgeber führt gerade der letztgenannte Aspekt zu einem Dilemma: Trotz der Tatsache, dass die ZPO im Wettbewerb mit Privatisierungstendenzen steht, ist dieser angesichts der finanziellen Möglichkeiten gezwungen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für derartige Formen der Konfliktlösung bereitzustellen bzw. weiter auszubauen.47 Der Staat kann sich nicht allein auf den Wettbewerb beschränken, vielmehr muss er mit privaten Formen der Streitbeilegung kooperieren.48 Dies hat wiederum Auswirkungen auf den Zivilpro38  Ritter, NJW 2001, 3440 (3447); Bruns, ZZP 124 (2011), 29 f.; siehe hierzu bereits Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  91. 39  Siehe hierzu statt vieler Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S.  17 ff.; ferner Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  24 ff. m. w. N. 40  Ritter, NJW 2001, 3440 (3447) [„ökonomische Analyse der Justiz“]. 41  Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (5); Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 41. Zu den bereits de lege lata bestehenden Optionen zur Beschleunigung des Verfahrens siehe Greger, NZV 2016, 1 (5). 42  Prütting, in: FS Schumann, S.  309; Gerhardt, JR 1998, 133 (136). 43  Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (6). 44  Prütting, AnwBl. 2013, 401 (404). 45  Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.  56; siehe hierzu aus rechtsvergleichender Perspektive Kengyel, ZVglRWiss 101 (2002), 260 (271 ff.). 46  Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (86); Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (8); Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (2); ferner Zwickel, ZZPInt 17 (2012), 43 (62) [„Kosteneinsparungen für die öffentliche Hand“] mit rechtsvergleichenden Hinweisen zum französischen Recht; Kengyel, ZVglRWiss 101 (2002), 260 (280 ff.); kritisch hierzu Hirtz, NJW 2012, 1686. 47  Ähnlich Roth, ZZP 129 (2016), 3 (8). Aus staatstheoretischer Sicht betrachtet ist diese Entwicklung ein Beispiel für den Wandel vom Erfüllungs- hin zum Gewährleistungsstaat; siehe dazu Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.  15 ff.; ders., JZ 1999, 421. 48  Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421 (422); ähnlich Daniels, AnwBl. 2014, 931, wonach die Schiedsgerichtsbarkeit gleichermaßen zu „Konkurrenz und Vorbild“ für den Zivilprozess werde.

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zess. Um die Konkurrenzfähigkeit der staatlichen Gerichtsbarkeit auch in Zukunft sicherzustellen,49 wird der Gesetzgeber das zivilprozessuale Verfahren verstärkt an den Bedürfnissen der Bürger auszurichten haben. Man kann in diesem Zusammenhang durchaus die Begriffe „Kundenorientierung“50 bzw. „Steigerung der Bürgerfreundlichkeit“51 verwenden. Zusammenfassend betrachtet liegt es daher nahe, dass zukünftige Reformen der ZPO von denselben Zielen (Schnelligkeit, Einfachheit, Effektivität und Bürgernähe) geprägt sein werden, welche der Gesetzgeber bereits mit den Gesetzesnovellen seit der Jahrtausendwende verfolgt hatte.52 b)  Aktuelle und geplante Reformvorhaben Konkrete Reformvorschläge werden derzeit auf Initiative der Bundesländer von der Arbeitsgruppe „Verfahrenserleichterungen im Zivilprozessrecht“ erarbeitet.53 Etwaige Änderungen sollen jedoch nur in punktueller Hinsicht vorgenommen werden, während eine grundlegende Reformierung der ZPO – wie beispielsweise durch das Zivilprozessreformgesetz (2001)54 – nicht geplant ist.55 Die gegenwärtigen Herausforderungen für das Zivilprozessrecht sowie die möglichen Handlungsoptionen des Gesetzgebers spiegeln sich in den aktuellen Reformüberlegungen deutlich wider.56 Unter anderem wird erwogen, diverse Zuständigkeits- und Wertgrenzen zu erhöhen. §  23 Nr.  1 GVG soll dahingehend geändert werden, dass die Zuständigkeit der Amtsgerichte bis zu einem Streitwert von 10.000 € besteht. In der Folge würde dies dazu führen, dass eine Vielzahl von Verfahren nur noch von einem Einzelrichter (§  22 Abs.  1 GVG) erledigt wird. Zwar liegt die Einzelrichterquote selbst vor den Landgerichten wegen §§  348, 348a ZPO bereits bei über 75 %.57 Jedoch würde eine Erhöhung der Streitwertgrenze in §  23 Nr.  1 GVG dazu führen, dass jedes dieser Verfahren zwingend vor einem Einzelrichter verhandelt wird. Folglich würde diese Änderung aus Sicht des Gesetzgebers für finanzielle Einsparungen sorgen.58 Ebenso sollen die Wertgrenzen für die Zulassung der Berufung (§  511 Abs.  2 Nr.  1 ZPO) sowie für die Möglichkeit eines Verfahrens nach billigem Ermessen (§  495a ZPO) 49  Olenhusen, AnwBl. 2014, 568 (569): „Die entscheidende Frage führt dahin, wie der Zivilprozess leistungsstark und konkurrenzfähig bleiben kann.“. 50  Ritter, NJW 2001, 3440 (3447); ähnlich Freudenberg, ZRP 2002, 79 („Kundenzufriedenheit“). Als weitere Handlungsoption des Gesetzgebers wird daher der Ausbau von Wahlmöglichkeiten der Parteien im Hinblick auf den Ablauf des Verfahrens genannt; Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 42. 51  Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 41. 52  Siehe hierzu oben unter §  6 V. 1. 53  Hill, DRiZ 2015, 46. 54  Siehe hierzu oben unter §  6. I. 55  Fölsch, DRiZ 2015, 82; Hill, DRiZ 2015, 46 (49) [„zeitgemäße Modifikationen“]; hierfür auch Roth, ZZP 129 (2016), 3 (13, 24). 56  Die im Folgenden genannten Änderungsvorschläge finden sich bei Hill, DRiZ 2015, 46 (47 ff.); siehe hierzu auch die kritische Würdigung bei Fölsch, DRiZ 2015, 82 ff. 57  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  60. 58  Siehe hierzu auch Fölsch, DRiZ 2015, 82 (84).

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

neu angepasst werden.59 Geplant ist, die derzeitigen Wertgrenzen von jeweils 600  € auf 2.000  € zu erhöhen, wodurch ein Gleichlauf mit dem Europäischen Verfahren für geringfügige Forderungen60 hergestellt würde.61 Dies würde ebenfalls eine finanzielle Entlastung der Justiz mit sich bringen.62 Schließlich soll §  128a Abs.  2 ZPO an die Voraussetzung der Videokonferenz (§  128a Abs.  1 ZPO) angeglichen werden. Eine audiovisuelle Vernehmung, welche bislang nur auf Antrag der Parteien zulässig ist, könnte in Zukunft von Amts wegen veranlasst werden. Hiermit können ebenfalls Zeit und Kosten eingespart werden, schließlich würde eine kommissarische Zeugenvernehmung durch einen beauftragten oder ersuchten Richter (§  375 ZPO) seltener erforderlich werden.63

3.  Veränderungen im Zivilprozessrecht Betrachtet man die gegenwärtigen Herausforderungen für das Zivilprozessrecht sowie die möglichen Handlungsoptionen des Gesetzgebers im Ganzen, kommt man um die Frage nicht herum, welche (möglichen) Veränderungen daraus für das Zivilprozessrecht resultieren. a)  Justiz als Dienstleistung? Zunächst wäre zu klären, ob die aktuelle Entwicklung nicht einen Wandel hinsichtlich der Vorstellungen von bzw. den Anforderungen an Justiz und Rechtsprechung mit sich bringt. In der Tat lässt sich feststellen, dass die Justiz zunehmend den Charakter einer Dienstleistung annimmt.64 Diesen Gedanken hatte jüngst Gralf-Peter 59  Kritisch zu einer Erhöhung der Berufungssumme Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (27). Zuvor scheiterte ein Gesetzentwurf des Bundesrates aus dem Jahre 2010, welcher eine Erhöhung der Wertgrenzen auf 1.000 € vorgesehen hatte; BT-Drucks. 17/2149, S.  5. 60  Verordnung (EG) Nr.  861/2007 des Europäischen Parlaments und das Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen (EuBagatellVO), ABl. EU 2007 Nr. L 199/1. Deren Anwendungsbereich ist nur eröffnet, wenn der Streitwert des Verfahrens die Summe von 2.000 € nicht überschreitet (Art.  2 Abs.  1 EuBagatellVO). 61  Hill, DRiZ 2015, 46 (47 f.); Hk-ZPO/Pukall, §  495a ZPO Rn.  1: „Dieses [Verfahren] wird nicht ohne Einfluss auf den nationalen Zivilprozess bleiben.“. 62  BT-Drucks. 17/2149, S.  6. 63  Hill, DRiZ 2015, 46 (49); kritisch Fölsch, DRiZ 2015, 82 (85), wonach §  128a Abs.  2 ZPO in diesem Fall um ähnliche Voraussetzungen wie in §  377 Abs.  3 S.  2 und 3 ZPO ergänzt werden sollte. 64  Prütting, AnwBl. 2013, 401 (405); ähnlich Freudenberg, ZRP 2002, 79. Zu den verschiedenen Äußerungen im Schrifttum siehe Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  1 („Konsumgut“); Brieskorn, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  123 (124) [„Dienstleister zur Rechtsdurchsetzung“]; Schäfer, in: 100 Jahre ZPO, S.  251 (273) [„Dienstleistungsunternehmen zur Generierung öffentlicher Güter“]; Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (123) [„Daseinsvorsorge“]; Knospe, NJW 2005, 3194 (3196) [„Dienstleister für das Volk“]; Probst, JR 2011, 507 („Dienstleistungen der Justiz“); Makowka, DRiZ 1987, 257 ff., welcher versuchte, die Justiz als „zeitgemäßes Dienstleistungsunternehmen“ zu beschreiben; ferner Meisenberg, in: FS Odersky, S.  61 (66 ff.) zu den verschiedenen Optionen, mit denen die Justiz zu einem „modernen Dienstleistungsunternehmen“

I.  Die zukünftige Entwicklung der ZPO

323

Calliess in seinem Gutachten für den 70. Deutschen Juristentag in Hannover (2014) aufgegriffen: „Will die Ziviljustiz ihre gesellschaftliche Funktion auch in Zukunft in der bisher bekannten umfassenden Weise erfüllen und sich nicht auf eine Residualkompetenz für immobile, nationale und lokale Streitigkeiten zurückziehen, so besteht ein andauernder Modernisierungs­ bedarf, der im Kern einen Wandel des Selbstverständnisses der Zivilrechtspflege – von der Ausübung von Justizhoheit aufgrund eines Rechtsprechungsmonopols hin zur flexiblen und nachfragegerechten Erbringung von Justizdienstleistungen – voraussetzt.“65

Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist kein rein nationales Phänomen. Interessanterweise wird die Diskussion über die zukünftige Rolle der Justiz auch in anderen Ländern geführt. So hat der englische Autor Richard Susskind in seiner neuesten Monographie „Tomorrow’s Lawyers“ (2013) seine Vorstellungen über die Zukunft der Justiz und die damit verbundenen Herausforderungen für die Anwaltschaft dargelegt. Hinsichtlich des äußeren Verfahrensablaufs ist die seiner Ansicht nach entscheidende Frage, ob es sich bei einem Gericht um eine Dienstleistung oder um einen Ort handle: „[I]s court a service or a place?“66

Die Antwort hierauf gibt Susskind selbst, wenn er davon ausgeht, dass langfristig betrachtet die (körperliche) Anwesenheit von Parteien, Anwälten und Zeugen im Gerichtssaal nicht mehr erforderlich sein werde. Vielmehr werde irgendwann die virtuelle Präsenz den Regelfall darstellen.67 Dies bedeutet letztendlich nichts anderes, als dass sich der Dienstleistungscharakter auf lange Sicht gegenüber dem traditionell hoheitlich geprägten Verständnis der Justiz68 durchsetzen wird. Es ist daher wenig überraschend, dass sich immer mehr ein Verständnis von der dritten Gewalt aufdrängt, wonach deren Aufgabe allein in der Erbringung einer Dienstleistung für die Gesellschaft besteht.69 Dieser „Kulturwandel in der Ziviljustiz“70 zeigt sich am Beispiel der ZPO daran, dass der Gesetzgeber durch die Reformen in den letzten Jahren versuchte, durch die Ausgestaltung des Verfahrens den (vermeintlichen) Bedürfnissen der Bürger entgegen zu kommen. Die Aspekte „Bürgernähe“ und „Bürgerfreundlichkeit“ kommen gemacht werden könne; generell kritisch zu Überlegungen dieser Art Roth, ZZP 129 (2016), 3 (9) [„Rollenvertauschung von Staatsbürger und Unternehmenskunden“]. 65  Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 39. 66  Susskind, Tomorrow’s Lawyers, S.  99. 67  Susskind, Tomorrow’s Lawyers, S.  100; siehe auch Stadler, ZZP 115 (2002), 413 (436); a. A. Fischer, Justiz-Kommunikation, S.  62: „Hierbei ist jedoch auch anzumerken, daß eine Auflösung des Gerichtssaals im virtuellen Raum auch künftig nicht zu erwarten ist […].“. 68  Calliess, NJW-Beilage 2014, 27: „Unter Justizhoheit, oder auch Gerichtsherrlichkeit, versteht man die Befugnis zur Ausübung der rechtsprechenden Gewalt in formeller und materieller Hinsicht.“; ähnlich ders., Gutachten A zum 70. DJT, S. A 39. 69  Ritter, NJW 2001, 3440 (3447); Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (123) [„Daseinsvorsorge“]. 70  Roth, JZ 2014, 801 (803).

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

in den Zielen des Zivilprozessreformgesetzes (2001)71 und des 1. Justizmodernisierungsgesetzes (2004)72 jeweils klar zum Ausdruck. Schließlich wird der Dienstleistungscharakter im Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) direkt angesprochen, wenn es heißt, der in Zukunft zu verstärkende Einsatz von Videotechnik im Zivilprozess stelle „ein Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten Justiz dar.“73 b)  Effizienz als (neuer) eigenständiger Prozesszweck? Die gegenwärtigen Herausforderungen für die ZPO könnten langfristig zu einem Wandel des Prozesszwecks führen.74 Insofern wird darüber diskutiert, ob die Prozessökonomie bzw. die Ausrichtung des Zivilprozesses an Effizienzgesichtspunkten75 nicht bereits den Charakter eines eigenständigen Verfahrensgrundsatzes oder Prozesszwecks angenommen hat.76 Diese Frage wird ebenfalls nicht nur für die ZPO, sondern auch in anderen Prozessordnungen virulent.77 So hat die Prozess­ ökonomie im englischen Zivilprozessrecht mittlerweile den Stellenwert eines Verfahrensgrundsatzes eingenommen.78 Zwar ist im deutschen Recht die Prozess­ ökonomie dogmatisch nicht als Verfahrensgrundsatz, sondern als Verfahrensziel einzuordnen.79 Auch der Zweck des Zivilprozesses besteht primär im Schutz und der Durchsetzung subjektiver Rechte.80 Die zunehmende Berücksichtigung von Kosten-Nutzen-Überlegungen im Zivilprozess könnte indes dazu führen, dass die herkömmlichen Prozesszwecke um eine weitere Komponente ergänzt bzw. im Ex­ tremfall durch diese abgelöst werden.81 Je nachdem, auf welche Art und Weise der Gesetzgeber letzten Endes auf die gegenwärtigen Herausforderungen reagieren wird, könnte die zukünftige Entwicklung sogar dahin gehen, dass die wesentliche Aufgabe des Zivilprozesses nicht mehr in der Gewährung individueller (oder auch

71 

Siehe hierzu oben unter §  6 I. 1. Siehe hierzu oben unter §  6 II. 1. 73  BT-Drucks. 17/1224, S.  2. 74  Ähnlich Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (26). 75  Zur Abgrenzung von „Effizienz“ und „Prozessökonomie“ siehe Stürner, in: FS Coester-­ Waltjen, S.  855 (856 f.). 76  Roth, ZZP 129 (2016), 3 (7) [„vielfach gelobte und geradezu zum Verfahrenszweck aufgewertete rasche und kostengünstige Befriedigung“]; ders., JZ 2014, 801 (803); Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (372); ders., ZZP 127 (2014), 271 (311 ff.). 77  Zu der Frage, inwiefern es sich bei der Prozessökonomie um einen „gemeineuropäische[n] Verfahrensgrundsatz“ handelt, siehe Stürner, in: FS Coester-Waltjen, S.  855 ff.; kritisch hierzu Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (24 f.). 78  Siehe hierzu oben unter §  3 II. 2. 79  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 4. 80  Siehe hierzu oben unter §  2 II. 3. 81  Darauf ebenfalls hinweisend Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (372); siehe auch Weller, in: Mindeststandards, S.  83 (98) hinsichtlich der Entwicklung im englischen Prozessrecht. 72 

I.  Die zukünftige Entwicklung der ZPO

325

kollektiver) Rechtspositionen, sondern in der Beilegung von Konflikten gesehen wird.82

4.  Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz Angesichts der gegenwärtigen Herausforderung für das Zivilprozessrecht ist es absehbar, dass der Gesetzgeber bei zukünftigen Reformen der ZPO an denselben Zielen festhalten wird, welche er zuletzt mit den Reformgesetzen seit der Jahrtausendwende verfolgt hatte. Wenn dies bereits zu einer spürbaren Abschwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes geführt hat,83 so kann man davon ausgehen, dass sich dieser Trend in den nächsten Jahren weiter verstärken wird. Deutlich wird dies nicht zuletzt bei der Formulierung Richard Susskinds – „[I]s court a service or a place?“84. Die Gegenüberstellung beider Optionen verdeutlicht, dass die klassische Unmittelbarkeit mit ihrem körperlichen Anwesenheitserfordernis mit einer dienstleistungsorientierten Ziviljustiz nicht bzw. nur schwer kompatibel zu sein scheint. Eine potenzielle Veränderung des Prozesszwecks würde ebenfalls Einfluss auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz haben. Immerhin dienen die Verfahrensgrundsätze der Verwirklichung der Prozesszwecke, sodass eine Veränderung hinsichtlich des Prozesszwecks zwangsläufig zu einer Veränderung der Verfahrensgrundsätze führen muss.85 Die zukünftige Entwicklung der ZPO wird sich somit nachhaltig auf den Stellenwert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes auswirken. Dieser Befund lässt sich anhand der konkreten Änderungsvorschläge belegen. Die geplante Ausweitung des Anwendungsbereichs von §  128a Abs.  2 ZPO würde dazu führen, dass häufiger als bislang eine Zeugenvernehmung auf audiovisuellem Wege erfolgt. Dadurch würde die klassische Komponente des Unmittelbarkeitsgrundsatzes einmal mehr an Bedeutung verlieren. Nichts anderes ergäbe sich für den Fall einer Erhöhung der Streitwertgrenze in §  495a ZPO auf 2.000 €. Zwar wurden im Jahre 2014 lediglich knapp 8 % aller Verfahren im vereinfachten Verfahren nach §  495a ZPO erledigt.86 Jedoch würde sich der Anwendungsbereich des amtsgerichtlichen Bagatellverfahrens durch die geplante Änderung deutlich ausweiten.87 Von der (neuen) Streitwertgrenze von 2.000 € wären – bei Zugrundelegung der Sta82  Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 f.; ähnlich Wolf, NJW 2015, 1656 (1658); Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (372) [„rasche und kostensparende Befriedung“]; a. A. Hirtz, NJW 2012, 1686 (1688). 83  Siehe hierzu oben unter §  6 V. 4. a). 84  Susskind, Tomorrow’s Lawyers, S.  99. 85  Zum Verhältnis zwischen den Verfahrensgrundsätzen und den Prozesszwecken siehe oben unter §  2 II. 3. 86  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  38; darauf ebenfalls hinweisend Musielak/Voit/Wittschier, §  495a ZPO Rn.  2 (mit Zahlenangaben von 2013). 87  Dies wirft freilich die Frage auf, ob man das Verfahren nach billigem Ermessen in diesem Fall überhaupt noch als Bagatellverfahren bezeichnen kann; siehe hierzu etwa Stein/Jonas/Berger, §  495a ZPO Rn.  1, welcher in diesem Zusammenhang bereits Bedenken an der aktuellen Streitwertgrenze von 600 € äußert; ähnlich BR-Drucks. 766/13, S.  2.

326

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

tistiken aus dem Jahre 2014 – ca. zwei Drittel aller amtsgerichtlichen Verfahren betroffen.88 Der Trend zum Abbau von prozessualem Formalismus würde sich weiter fortsetzen.89 Eine verstärkte Abweichung von den §§  355 ff. ZPO – und damit auch vom Unmittelbarkeitsgrundsatz – wäre zweifelsfrei zu erwarten.

5.  Ergebnis Zwischen den beiden wichtigsten Herausforderungen für das nationale Verfahrensrecht – den finanziellen Rahmenbedingungen einerseits und dem verstärkten Wettbewerb andererseits – bestehen Wechselwirkungen. Insbesondere wird die finanzielle Situation den Umgang des Staates mit alternativen Formen der Streitbeilegung bzw. Privatisierungsmaßnahmen beeinflussen. Für den Zivilprozess bedeutet dies, dass dieser auch in Zukunft von Effizienzdenken und Bürgerfreundlichkeit geprägt sein wird.90 Hierdurch ist zu erwarten, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz – insbesondere hinsichtlich seiner klassischen Komponente – weitere Einschränkungen erfahren wird.91

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung Die derzeitige Lage muss kritisch gewürdigt werden. Insbesondere stellt sich die Frage, ob eine immer stärker werdende Ausrichtung des zivilprozessualen Verfahrens an der Prozessökonomie – und damit an den Zielen Schnelligkeit, Einfachheit und Kostengünstigkeit – sinnvoll erscheint und ob diesem Trend nicht etwaige Grenzen entgegenstehen.

1.  Sinn und Nutzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses Die Vor- und Nachteile der gegenwärtigen Entwicklung können an den vergangenen Gesetzesreformen aufgezeigt werden. a)  Generelle Erfahrungen mit den jüngsten ZPO-Reformen Ob der Gesetzgeber seine Ziele erreicht hat, lässt sich anhand rechtstatsächlicher Untersuchungen verdeutlichen. Für das Zivilprozessreformgesetz (2001) wurde 88 

Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  28. Siehe hierzu oben unter §  6 V. 1. 90  Zutreffend Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 41. 91  A. A. wohl Prütting, AnwBl. 2013, 401 (405): „Im Übrigen gibt die Durchsicht der Entwicklungstendenzen Anlass zu der Vermutung, dass wir auch im Jahre 2030 einen viel genutzten Zivilprozess vor deutschen Gerichten haben werden, dessen verfassungsrechtliche Grundlagen und dessen Verfahrensmaximen unverändert sind.“. 89 

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung

327

eine Evaluation bereits kurz nach dessen Inkrafttreten vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegeben.92 Eine eindeutige Aussage in positiver oder negativer Hinsicht ist dabei kaum möglich.93 Vielmehr müssen die einzelnen Ziele des Gesetzgebers gesondert betrachtet und deren Umsetzung bewertet werden. Eine Steigerung der Grundziele wie etwa „Bürgernähe“ und „Transparenz“ lässt sich nur schwer bewerten. Der ebenfalls verfolgte Zweck einer Beschleunigung des Verfahrens lässt sich dagegen genau evaluieren. So hat sich die Verfahrensdauer bei den Landgerichten seit Erlass des Zivilprozessreformgesetzes (2001) nicht verringert, sondern sich im Gegenteil von durchschnittlich 7,0 auf 9,1 Monate erhöht.94 Eine Beschleunigung des Zivilprozesses sowie eine dadurch bedingte Entlastung der Zivilgerichte sind folglich nicht eingetreten.95 Hieran zeigt sich einmal mehr, dass Verfahrensänderungen die gewünschten Ziele nicht immer erreichen. Nicht alle gesetzgeberischen Maßnahmen führen zwangsläufig zu einer Beschleunigung und Verbesserung des Verfahrens. Dieser Befund fügt sich nahtlos in die bisherige Entwicklung der ZPO ein. Auch frühere Reformen – wie beispielsweise die Vereinfachungsnovelle (1976) – haben die in sie gesetzten Erwartungen teilweise nicht erfüllen können.96 Generell waren sämtliche Beschleunigungsmaßnahmen des Gesetzgebers nur wenig erfolgreich.97 Anders lässt sich die Tatsache, dass seit Erlass der Reichs-Civilprozeßordnung im Jahre 1877 durch immer neue Gesetzesnovellen die Schnelligkeit des Verfahrens gesteigert werden sollte,98 nicht erklären.99 Angesichts dieser „Reformpermanenz im Justiz- und Verfahrensrecht“100 muss man die

  92 

Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (6). Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (7); Weth, ZZP 120 (2007), 135 (151).   94  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1 (2014), S.  56; siehe auch Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 12; ders., NJW-Beilage 2014, 27 (mit Zahlenangaben von 2013); ferner Greger, NZV 2016, 1 (2), welcher von 14,5 Monaten spricht. Diese Zahlenangabe bezieht sich jedoch nur auf Verfahren, welche mit einem streitigen Urteil beendet wurden. Zur Entwicklung der Verfahrensdauer siehe auch die Übersicht bei Hirtz, NJW 2014, 2529, wonach sich ein ähnlicher – wenn auch weniger starker Trend – bei den Amtsgerichten zeige.   95  Kritisch Calliess, NJW-Beilage 2014, 27 („weitgehend gescheitert“); ähnlich Greger, NZV 2016, 1 (3).   96  Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (3 f.). Siehe hierzu oben unter §  4 V. 2.   97  Dies wird auch für die Sachverhaltsfeststellung kritisiert. Hier sei die Rollenverteilung zwischen dem Gericht und Parteien trotz vieler Reformen nach wie vor unübersichtlich; Greger, BRAK-Mitt. 2005, 150 (153).   98  Prütting, in: FS Schumann, S.  309 (311), wonach man die Geschichte der ZPO als „eine Geschichte der Überlastung der Gerichte und der Versuche und Maßnahmen zu ihrer Entlastung“ beschreiben könne.   99  Weth, ZZP 120 (2007), 135 (151); ähnlich Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (13): „Die Novellierungstätigkeit des Gesetzgebers lässt sich aber auch in weitem Umfang als verzweifelter Versuch verstehen, die Gerichte zu entlasten sowie Ressourcen einzusparen.“. 100  Fischer, KritV 2006, 43; ähnlich Calliess, NJW-Beilage 2014, 27 („Zivilprozess als gesetzgeberische Dauerbaustelle“); Hommerich/Prütting/Ebers/Lang/Traut, Rechtstatsächliche Untersuchungen, S.  15, wonach die Geschichte der ZPO eine „Geschichte von Reformversuchen und Reformen“ sei.   93 

328

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Frage aufwerfen, ob ein Mehr an Reformen eher Vor- oder Nachteile mit sich bringt.101 b)  Konkrete Beispiele mit Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz Darüber hinaus lassen sich im Einzelfall Beispiele finden, wo die Fokussierung auf die Prozessökonomie nachteilig sein kann. Die Einführung des originären und obligatorischen Einzelrichters beim Landgericht (§§  348, 348a ZPO) hat zwar nur bedingt Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz.102 Dennoch lässt sich hier der (fehlende) Nutzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses deutlich aufzeigen. Die Tatsache, dass mittlerweile über 70 % der Fälle von einem Einzelrichter verhandelt werden, mag man auf den ersten Blick als einen Erfolg des Zivilprozessreformgesetzes (2001) verbuchen können.103 Berücksichtigt man jedoch, dass die Verfahrensdauer weiter angestiegen ist, sind aus Sicht der Parteien durch die §§  348, 348a ZPO keinerlei Verbesserungen des Verfahrens eingetreten.104 Da im Gegenzug das Kollegialprinzip weitestgehend abgeschafft wurde, hat die Einführung des originären und obligatorischen Einzelrichters in der Gesamtschau betrachtet zu einer Qualitätseinbuße geführt.105 Folglich kann der Reform rein ökonomisch betrachtet kein Mehrwert entnommen werden.106 Ähnliche Probleme brachte das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz (1990) mit sich.107 Hierdurch wurde §  375 Abs.  1 und 1a ZPO um die allgemeine Beweisprognose („wenn von vornherein anzunehmen ist, dass das Prozessgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag“) ergänzt. Diese ist jedoch insofern problematisch, als sich die entscheidende Frage, ob es eines persönlichen Eindrucks für die Beweiswürdigung bedarf, regelmäßig erst nach Abschluss der Vernehmung beantworten lässt. Bei strenger Auslegung der Vorschrift wird man daher in vielen Fällen eine Pflicht zur persönlichen Vernehmung aus §  398 Abs.  1 ZPO annehmen müssen.108 Das gesetzgeberische Ziel einer Beschleunigung des Verfahrens109 würde somit nicht erreicht werden. Der Prozess verzögert sich, da der jeweilige Zeuge nochmals 101  Siehe nur Saenger, Rechtstheorie 31 (2000), 413: „Reform des deutschen Zivilprozessrechts – Fluch oder Segen?“. 102  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. b). 103  Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (8). 104  Insofern ließe sich sagen, dass das Ziel einer Steigerung der „Bürgernähe“ in diesem Punkt vom Gesetzgeber eindeutig verfehlt worden ist. 105  Greger, JZ 2004, 805 (816): „[…] bedeutet dies, dass ein bedeutendes Element unseres Rechtsschutzsystems völlig unnötig geopfert wurde.“; ähnlich Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 12. 106  Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (38); siehe auch Saenger, Rechtstheorie 31 (2000), 413 (430), welcher dies bereits vor Erlass des Zivilprozessreformgesetzes (2001) angezweifelt hatte. 107  Siehe hierzu oben unter §  4 V. 3. 108  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 109  BT-Drucks. 11/3621, S.  22: „Das dient der Verfahrensbeschleunigung.“.

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung

329

vor dem Kollegialgericht vernommen werden müsste. Die schriftliche Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO) offenbart ähnliche Schwächen. Auch hier kann das Vorliegen der entscheidenden Voraussetzungen („Inhalt der Beweisfrage“ und „Person des Zeugen“) eigentlich nur während einer persönlichen Vernehmung vor Gericht ermittelt werden. Darüber hinaus wird §  377 Abs.  3 S.  3 ZPO häufig einer Beschleunigung des Verfahrens entgegenstehen.110 Der Gesetzgeber hat insofern unbestimmte Rechtsbegriffe eingeführt, welche den Unmittelbarkeitsgrundsatz einerseits stärken sollen, die sich jedoch andererseits im Zeitpunkt ihrer Anwendung nicht genau festlegen lassen. Beispielsweise wird sich die „Bedeutung einer Aussage“ (§  375 Abs.  1 Nr.  3 ZPO) oftmals erst im Nachhinein zeigen.111 Kommt es in solchen Fällen zu einer erneuten Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht, verkehrt sich die vom Gesetzgeber angestrebte Verfahrensbeschleunigung exakt in das Gegenteil. Ob dadurch eine Erledigung des Rechtsstreits in einem umfassend vorbereiteten Haupttermin (§  272 Abs.  1 ZPO) – wie seit der Vereinfachungsnovelle (1976) als Idealfall angestrebt112 – möglich ist, erscheint zweifelhaft. c)  Auswirkungen auf andere Grundsätze des Verfahrensrechts Unabhängig von diesen Einzelfällen darf nicht in Vergessenheit geraten, dass sich Veränderungen eines Verfahrensgrundsatzes auf das Gesamtgefüge der Prozessordnung auswirken können. Mit der Abschwächung eines Verfahrensgrundsatzes sind regelmäßig Einbußen an anderen Prinzipien oder Grundsätzen des Verfahrensrechts verbunden. Auf diese Gefahr hatte bereits Gerhard Walter in seiner Habilitationsschrift „Freie Beweiswürdigung“ aus dem Jahre 1979 hingewiesen, als er auf den Zusammenhang zwischen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) und den für sie relevanten Verfahrensgrundsätzen aufmerksam machte: „Die eigentliche Gefahr für unser Prinzip besteht jedoch darin, daß seine Abhängigkeit und sein Funktionieren, seine Einbettung in andere Verfahrensgrundsätze und Institute nicht gesehen und beachtet wird und daß durch Veränderung an diesen Grundsätzen und Instituten der Grundsatz freier Beweiswürdigung entwertet wird: Wenn Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit abgebaut oder eingeschränkt werden, wenn das Recht auf Beweis durch Entzug gewisser Beweisgründe beeinträchtigt wird, so berührt dies zwar unmittelbar nur die genannten Grundsätze; gleichwohl sind die Auswirkungen auf eine wahrhaft freie Beweiswürdigung ganz erheblich und können letztlich dazu führen, daß der Grundsatz zwar noch in den Prozeßordnungen enthalten ist, aber in Wirklichkeit nicht realisiert ist.“113

Die bisherige Untersuchung kann dies nur bestätigen. Gerade die jüngsten Reformen mit ihrer Abschwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes haben sich negativ auf die Beweiswürdigung ausgewirkt. Bedenkt man, dass zum einen der Beweis110 

Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) cc). Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. b) bb) (3). 112  Siehe hierzu oben unter §  4 V. 2. 113  Walter, Freie Beweiswürdigung, S.  352. 111 

330

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

wert von audiovisuellen Vernehmungen (§  128a Abs.  2 ZPO) geringer ist im Vergleich zu einer Vernehmung unter körperlicher Anwesenheit der Aussageperson114 und zum anderen, dass die Beweisergebnisse des Freibeweises (§  284 S.  2 ZPO) qualitativ geringer als diejenigen des Strengbeweises sind,115 sind mit dem Trend zur Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nicht zuletzt negative Auswirkungen auf das Beweisaufnahmeverfahren als solches und damit auf die Tatsachenfeststellung im Zivilprozess verbunden.116 Dies unterstreicht einmal mehr die große Bedeutung der Unmittelbarkeit für das Beweisrecht.117

2.  Grenzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses Unabhängig vom konkreten Nutzen einer Ökonomisierung des Zivilprozesses sind einer solchen Entwicklung Grenzen gesetzt. Diese ergeben sich zum einen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten und zum anderen aus allgemeinen Überlegungen wie dem Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht sowie dem Stellenwert von Formalismus im Verfahrensrecht. a)  Rechtsstaatliche Vorgaben Das Grundgesetz kennt kein Gebot dergestalt, dass Gerichtsverfahren im Allgemeinen und der Zivilprozess im Besonderen an einem Grundsatz der Effizienz bzw. Ökonomie ausgerichtet werden müssten.118 Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art.  19 Abs.  4 GG) beinhaltet nicht zugleich ein etwaiges Grundrecht auf effizienten Rechtsschutz, da bereits die Begriffe „Effektivität“ und „Effizienz“ inhaltlich nicht gleichbedeutend sind.119 Aus diesem Grund muss die aktuelle Entwicklung in der Gesetzgebung an den Vorgaben des Verfassungsrechts gemessen werden.120 Schließlich bergen „Maßnahme[n] zum Zwecke der Vereinfachung und Beschleunigung des Prozesses […] immer die Gefahr, im Gegenzug einen Verlust rechtsstaatlicher Standards mit sich zu bringen.“121 Die Förderung von alternativen Formen der Streitbeilegung, welche eine mög­ liche Option für den Gesetzgeber ist, um auf die finanziellen Engpässe zu reagie114 

Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) cc). Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a) cc). 116  Positiv dagegen Geiger, ZRP 1998, 365 (368), welcher für die mit §  128a ZPO verbundene „schlichtere, pragmatischere Weise Gerechtigkeit zu schaffen“ plädiert. 117  Zum Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes siehe oben unter §  5 V. 2. 118  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S.  4 43 ff.; Bruns, ZZP 124 (2011), 29 (33 f.); Berchtold, NZS 2011, 401 (408); a. A. wohl Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117 (138 ff.). 119  Siehe hierzu Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (125 f.). 120  Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S.  4 45 ff.; Roth, JZ 2006, 9 (18); ferner Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (123). 121  Völzmann-Stickelbrock, ZZP 118 (2005), 359 (360); ähnlich Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105. 115 

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung

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ren,122 muss vor dem Hintergrund des staatlichen Rechtsprechungsmonopols kritisch betrachtet werden. Dieses wird zwar teilweise nicht absolut, sondern lediglich in dem Sinne verstanden, dass der Staat zwar für die Garantie eines leistungsfähigen Rechtssystems einstehen müsse, was jedoch nicht zwangsläufig eine staatliche Alleinverantwortung im Bereich der Rechtsdurchsetzung nach sich ziehe.123 Ein gänzlicher Rückzug des Staates aus dem Bereich der Rechtsprechung bei gleich­ zeitiger Verlagerung der Konfliktlösung in den privaten Sektor ist jedoch nicht möglich. Dem steht der allgemeine Justizgewährungsanspruch entgegen,124 welchen das BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  3 GG) i. V. m. Art.  2 Abs.  1 GG ableitet.125 Dieser gewährt dem einzelnen Bürger das Recht auf Zugang zur staatlichen Gerichtsbarkeit und den Anspruch auf eine in einem rechtsstaat­ lichen Verfahren durch unabhängige Richter gefällte Entscheidung des Rechtsstreits.126 Ferner bietet die staatliche Gerichtsbarkeit wesentliche Vorteile gegenüber der privaten Streitbeilegung:127 Nur ein staatlicher Zivilprozess ermöglicht durch den geschaffenen Instanzenzug die Rechtsfortbildung und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung.128 Gerichtliche Entscheidungen werden dadurch kalkulier­ barer und dienen dem einzelnen Bürger in Form von Präjudizien als Anhaltspunkt für die Behandlung des eigenen Rechtsstreits.129 So gesehen ist der Zivilprozess als unerlässlicher Bestandteil des Rechtsstaats zu begreifen.130 122 

Siehe hierzu oben unter §  7 I. 2. a). Hoffmann-Riem, JZ 1999, 421 (422, 429); ebenso Ritter, NJW 2001, 3440 (3447 f.); siehe auch Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  1 Rn.  12. 124  Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (7). 125  BVerfGE 69, 381 (385 f.) = NJW 1986, 244; BVerfGE 84, 366 (369) = NJW 1992, 105; BVerfGE 101, 275 (294 f.) = NJW 2000, 418 (420). Zu den übrigen Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Justizgewährungsanspruchs siehe Stürner, Aufklärungspflicht, S.  32 ff. 126  BVerfGE 54, 277 (291) = NJW 1981, 39 (41); BVerfGE 85, 337 (345) = NJW 1992, 1673. Zum Justizgewährungsanspruch siehe ferner Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  191 ff.; Maurer, in: FS BVerfG II, S.  467 (491 ff.); Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  3 Rn.  1 ff. 127  Siehe hierzu Hawickhorst, BRAK-Mitt. 2005, 222 (224 f.); ferner Hirtz, NJW 2012, 1686 f.; Probst, JR 2011, 507 (509). 128  Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (85), wonach Formen der privaten Konfliktlösung keinen „Beitrag zur Rechtsentwicklung“ leisten würden; ähnlich Hager, Konflikt und Konsens, S.  56 („Notwendigkeit einer Leitentscheidung“); Berchtold, NZS 2011, 401 (403) [für das sozialgerichtliche Verfahren]. Zu den Nachteilen der alternativen Streitbeilegung siehe Ritter, NJW 2001, 3440 (3447); ferner Hirtz, NJW 2012, 1686 (1687 f.) zur dort eingeschränkten Geltung der Verfahrensgrundrechte. 129  Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 38; Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  39 („Rechtssicherheit, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit“); ähnlich Hirtz, NJW 2012, 1686, welcher von einer „kalkulierbaren Konfliktlösung“ spricht. Zu Präjudizien im Zivilprozess siehe Rösler, ZZP 126 (2013), 295 ff. 130  Deutlich Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (247): „Eine funktionsfähige Justiz gehört zu den wichtigsten Elementen eines Rechtsstaats.“; ähnlich Prütting, AnwBl. 2013, 401 (403); Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (6); Roth, ZZP 129 (2016), 3 („unverzichtbare[r] Wert“). Darüber hinaus wird auch die wichtige Bedeutung des Zivilprozesses für die soziale Marktwirtschaft und die Wohlstandsgenerierung betont; siehe Schäfer, in: 100 Jahre ZPO, S.  251 (255); Gaier, NJW 2013, 2871 (2873); Gaier/Freudenberg, ZRP 2013, 27 (29). 123 

332

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Generell stellt sich jedoch die Frage nach dem (verfassungsrechtlichen) Umgang mit der Tatsache, dass die Justiz in Zukunft mit weniger finanziellen Mitteln auskommen muss. In Zeiten knapper Haushaltskassen ist es wenig überraschend, dass der Gesetzgeber etwaige Gesetzesreformen verstärkt an ökonomischen Gesichtspunkten ausrichtet.131 Faktisch wird dadurch die Ausgestaltung des Verfahrensrechts vom „Vorbehalt des Möglichen“132 abhängig gemacht.133 Dennoch darf es in keinem Fall zu einem „Diktat der leeren Staatskassen“134 kommen. Aus dem Justizgewährungsanspruch im Allgemeinen sowie dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art.  19 Abs.  4 GG) im Besonderen folgt,135 dass die Bereitstellung einer funktionsfähigen Justiz und deren personelle und finanzielle Ausstattung dem Staat obliegen.136 Wenngleich dieser für eine Verfahrenserledigung in angemessener Zeit Sorge zu tragen hat,137 ist es dem Gesetzgeber dennoch prinzipiell verwehrt, etwaige Reformen des Verfahrensrechts allein aus Gründen der Kostenreduzierung zu veranlassen.138 Eine Heranziehung des Grundsatzes des „Vorbehalts des Möglichen“ ist ausgeschlossen, da dieser im Bereich von Justiz und Rechtsprechung keine Anwendung findet.139 Ferner lässt sich der zunehmende Dienstleistungscharakter der Justiz nur schwer mit den grundgesetzlichen Vorgaben vereinbaren. Dem steht bereits der Wortlaut von Art.  92 GG („rechtsprechende Gewalt“) entgegen, sodass für eine Anknüpfung als Dienstleistung keine verfassungsrechtlichen Anhaltspunkte bestehen.140 Die Schonung staatlicher Ressourcen – egal ob finanzieller oder personeller Art – ist daher dem Schutz und der Durchsetzung subjektiver Rechte als vorrangigem Zweck des Zivilprozesses sowie rechtsstaatlichen Vorgaben 131 

Bruns, ZZP 124 (2011), 29 f. Siehe hierzu oben unter §  7 I. 2. a). Siehe hierzu Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  149 ff. m. w. N. 133  Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (163 f.) [„Vorbehalt des Machbaren“]. 134  Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  7; ders., in: FS Schumann, S.  309; ähnlich Bender, in: FS Wassermann, S.  629; Hess, in: Richterbild und Rechtsreform, S.  1 (5) [„Diktat begrenzter finanzieller Ressourcen“]. 135  Der Justizgewährungsanspruch ist in seinem Anwendungsbereich umfassender als das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art.  19 Abs.  4 GG), sodass Letzteres lediglich „einen Unterfall des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs“ darstellt; Maurer, in: FS BVerfG II, S.  467 (492). Zur Unterscheidung von Justizgewährungsanspruch und Rechtsschutzanspruch siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  3 Rn.  1 ff.; Musielak/Voit/Musielak, Einleitung Rn.  6 ff. 136  BVerfGE 36, 264 (275) = NJW 1974, 307 (309); Berchtold, NZS 2011, 401 (405). 137  Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (163). 138  Kritisch auch Voßkuhle, Die Verwaltung Beiheft 5 (2002), 35 (48): „Eine funktionierende Justiz ist […] nicht zum Billigtarif zu haben; einschneidende Kürzungen der Mittelzuweisung führen mittelfristig unweigerlich zu gravierenden Qualitätseinbußen.“. 139  BVerfGE 33, 303 (333) = NJW 1972, 1561 (1564 f.), wonach nur Teilhaberechte unter den Anwendungsbereich des „Vorbehalts des Möglichen“ fallen; aus dem Schrifttum Kirchhof, NVwZ 1983, 505 (511): „Dieser Vorbehalt des Möglichen gilt […] nur für die finanzstaatliche, nicht für die rechtsstaatliche Grundrechtsvorsorge.“; ferner Pflughaupt, Prozessökonomie, S.  152; Duve/Sattler, AnwBl. 2012, 2 (7); Berchtold, NZS 2011, 401 (405); a. A. Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, S.  319 m. w. N. 140  Zutreffend Roth, JZ 2014, 801 (803); ders., ZZP 129 (2016), 3. 132 

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung

333

stets untergeordnet.141 Andernfalls würde die Kostenreduzierung gewissermaßen zum Selbstzweck des Verfahrens erhoben werden.142 Der Rechtfertigungsdruck auf den Gesetzgeber erhöht sich somit, je mehr verfahrensökonomische Überlegungen bei der Novellierung des Prozessrechts eine Rolle spielen. Ihn trifft – um die zivilprozessuale Terminologie zu verwenden – die Beweislast.143 b)  Das Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht Keinerlei Bedenken gegen eine Ökonomisierung des Verfahrens bestehen, wenn man die Prozessökonomie als eigenen Prozesszweck verstünde bzw. sich ein solcher in Zukunft etablieren würde.144 Begibt man sich auf die Ebene der Prozesszwecke, so ist gleichsam die Frage nach dem Verhältnis von materiellem Recht und Prozess­ recht berührt.145 Beide Materien werden geläufig klar voneinander getrennt,146 wobei dem Prozessrecht überwiegend eine lediglich „dienende Funktion“147 gegenüber dem materiellen Recht eingeräumt wird.148 Dieses „klassische“ Verständnis lässt sich im Wesentlichen auf die Entstehungsgeschichte der Reichs-Civilprozeßordnung und dabei insbesondere auf die Systematisierungsbestrebungen in der deutschen Rechtswissenschaft zurückführen.149 Besonders deutlich kommt dies in der berühmten Formulierung von Friedrich Stein zum Ausdruck: „[D]er Prozeß ist für mich das ‚technische Recht‘ in seiner allerschärfsten Ausprägung, von wechselnden Zweckmäßigkeiten beherrscht, der Ewigkeitswerte bar.“150 141  Stein/Jonas/Roth, vor §  253 ZPO Rn.  134; Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  353; ähnlich Gerhardt, JR 1998, 133 (137); Probst, JR 2011, 507 (509). 142  Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  353; Roth, JZ 2006, 9 (18); ferner Berchtold, NZS 2011, 401 (404), wonach hierdurch der „Primat des Rechts“ missachtet würde. 143  Dauner-Lieb, AnwBl. 2005, 369 (373) [„politische Beweislast“]. 144  Siehe hierzu oben unter §  7 I. 3. b). 145  Paulus, Zivilprozessrecht, Rn.  9. Ausführlich zur historischen Entwicklung des Verhältnisses von materiellem Recht und Prozessrecht Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S.  34 ff. 146  Siehe nur Konzen, Rechtsverhältnisse, S.  19 ff., 105 ff.; Zöllner, AcP 190 (1990), 471 ff.; zur Abgrenzung ferner Henckel, Prozessrecht, S.  5 ff. 147  Anstelle der „dienenden Funktion“ ließe sich auch vom „Primat des materiellen Rechts“ sprechen; Zöllner, AcP 190 (1990), 471 (475). 148  BGHZ 10, 350 (359) = NJW 1953, 1826 (1828): „Der Zivilprozeß hat die Verwirklichung des materiellen Rechts zum Ziele; die für ihn geltenden Vorschriften sind nicht Selbstzweck, sondern Zweckmäßigkeitsnormen, gerichtet auf eine sachliche Entscheidung des Rechtsstreits im Wege eines zweckmäßigen und schnellen Verfahrens; […].“; aus dem Schrifttum Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  178; Paulus, Zivilprozessrecht, Rn.  9; ähnlich Wagner, ZEuP 2008, 6 (13), wonach sich das Prozessrecht den „Wertungen des materiellen Rechts gegenüber indifferent“ verhalte; siehe ferner die umfangreichen Nachweise bei Kollmann, Begriffs- und Problemgeschichte, S.  659 (Fn.  6); ausführlich zur „dienenden Funktion“ des Verwaltungsverfahrensrechts Quabeck, Dienende Funktion, S.  7 ff. 149  Zur historischen Entwicklung eines rein technischen Verständnisses des Verfahrensrechts siehe Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (362 f.); ferner Zöllner, AcP 190 (1990), 471 (473 f.). 150  Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts, S. III. In Anlehnung an diese Formulierung lässt sich begrifflich von der „Technizität des Verfahrensrechts“ sprechen; Stürner, in: LA Henckel, S.  359

334

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Auch die Auffassung von James Goldschmidt, welcher sich gegen eine „metaphysische“ – und damit im Ergebnis für eine isolierte – Betrachtung des Zivilprozesses ausspricht,151 ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen.152 Wenngleich diese beiden Auffassungen aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts stammen, sind sie dennoch höchst aktuell. Die starke Berücksichtigung von Effizienzgesichtspunkten bei den jüngsten Gesetzesreformen sowie die damit verbundene Frage, ob die Prozessökonomie sich nicht schleichend zu einem eigenständigen Prozesszweck entwickelt,153 ist in letzter Konsequenz nichts anderes als die Verwirklichung der Prozessideen von Stein und Goldschmidt.154 Im jüngeren Schrifttum wird dagegen von dieser rein technischen Betrachtung des Prozessrechts zunehmend Abstand genommen und auf die Ansicht von Wolfram Henckel155 verwiesen.156 Dieser konnte nachweisen, dass die Normen des Prozessrechts in demselben Maße auf die Verwirklichung der Rechtsidee abzielen wie die Normen des materiellen Rechts, weshalb Verfahrensnormen einen eigenen Gerechtigkeitswert aufweisen.157 Henckel wendet sich damit ausdrücklich gegen die Auffassungen von Stein und Goldschmidt und betrachtet den Zivilprozess nicht isoliert, sondern hinterfragt dessen Sinn und Zweck im Kontext der gesamten Rechtsordnung.158 Dadurch kann letztendlich die strikte Trennung von materiellem Recht und Prozessrecht überwunden werden.159 Dies ist sachgerecht, da sich beide Materien gegenseitig beeinflussen: Das Verfahrensrecht will nicht nur die durch das materielle Recht dem Einzelnen zugeordneten subjektiven Rechte schützen, sondern es regelt ebenso die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Schutzes.160 Materielles Recht und Prozessrecht sind als „Sinneinheit“161 zu begreifen. Legt man die Auffassung Henckels der weiteren Bearbeitung zugrunde, so bedeutet dies, dass ein Verfahren nicht auf seine bloße Zweckdienlichkeit reduziert (360); zur Konzeption von „Verfahrensrecht als technisches Recht“ siehe auch Reimer, Verfahrenstheorie, S.  83 ff., 186 ff. 151  Goldschmidt, Prozeß, S.  150 f., 187 f., 212 f. 152  Henckel, Gerechtigkeitswert, S.  7; Prütting, in: LA Henckel, S.  261 (263). 153  Siehe hierzu oben unter §  7 I. 3. b). 154  Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (372). Zu der Frage, inwiefern im Verwaltungsprozessrecht die zunehmende Fokussierung auf die Verfahrensbeschleunigung als Ausdruck eines technischen Prozessverständnisses zu werten ist, siehe Quabeck, Dienende Funktion, S.  86 ff. 155  Zur Rechtsphilosophie Henckels siehe Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S.  71 ff. 156  Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (361); Prütting, in: LA Henckel, S.  261 (263); ders., ­ nwBl. 2013, 401 (405); ders., Rechtsmittelreform 2000, S.  39; Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 A (81); ferner Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (259); ebenfalls gegen eine rein technische Betrachtung des Prozessrechts Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (20). 157  Henckel, Gerechtigkeitswert, S.  25. 158  Henckel, Gerechtigkeitswert, S.  7. 159  Henckel, Gerechtigkeitswert, S.  10 f. 160  Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  11; ferner Zöllner, AcP 190 (1990), 471 (474): „Materielles Recht ist […] stets nur die halbe Wahrheit.“. 161  Zöllner, AcP 190 (1990), 471 (481); ähnlich Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (34) [„Symbiose“].

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung

335

werden kann. Die Berufung auf die Prozessökonomie stößt dort an ihre Grenzen, wo es um Normen und Grundsätze des geltenden Zivilprozessrechts geht, welche einen „Gerechtigkeitswert eigenen Gewichts“162 aufweisen. Verdeutlichen lässt sich dies insbesondere am Anspruch auf rechtliches Gehör (Art.  103 Abs.  1 GG): Dieser weist – mit den Worten Stürners formuliert – nicht nur „die Funktion gut organisierter Fehlervermeidung auf dem Weg zur richtigen Entscheidung“ auf, sondern rückt darüber hinaus die Parteien in den Mittelpunkt des Verfahrens und macht sie zum Subjekt des Verfahrens. Dieser Gerechtigkeitswert besteht unabhängig vom konkreten Prozessausgang und ist bereits aus ethischen Gesichtspunkten heraus zu erklären.163 Diese Gedanken lassen sich freilich verallgemeinern. Auch der Zivilprozess kann sich einer Berücksichtigung von ethischen Prinzipien nicht gänzlich verwehren.164 Die Verwirklichung der Gerechtigkeit im Prozess ist ein Wert, welcher sich einer „rein ökonomischen Bewertung entzieht.“165 Leider wird den positiven Aspekten eines solchen Prozessverständnisses, welches den Gerechtigkeitswert einer Norm bzw. eines Prozessinstituts in den Vordergrund rückt und nicht nach dessen Zweckmäßigkeit fragt, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.166 Im Schrifttum wird daher jüngst zu Recht auf die Gefahren eines „Rückfalls in ein technokratisches Verfahrensverständnis“167 hingewiesen. c)  Formalismus im Verfahrensrecht Die gegenwärtige Schwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes wird unter anderem durch den zunehmenden Abbau von prozessualem Formalismus bewirkt.168 Dieser Trend zeigt sich an den aktuellen Reformplänen. Schließlich würde eine Erhöhung der Wertgrenze im Rahmen von §  495a ZPO in noch mehr Fällen als bislang 162  Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (367); ähnlich Zöllner, AcP 190 (1990), 471 (477), welcher von „eigene[n] Schutzanliegen“ des Prozessrechts spricht. 163  Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (367). Zur Bedeutung des rechtlichen Gehörs aus Sicht der Parteien siehe auch Baur, AcP 153 (1954), 393 (401 ff.). 164  Prütting, Rechtsmittelreform 2000, S.  40 mit Verweis auf Oswald, Formalismus, S.  14: „Die ethische Fundierung des Rechts ist ein unabweisliches Gebot der Stunde und der menschlichen Selbsterhaltung und Gemeinschaftsbeziehungen; denn das Recht ist eine Funktion der Sittlichkeit.“; siehe ferner Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, S.  71 („ethische Affinität des Verfahrens“). 165  Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (126); ferner Roth, ZZP 129 (2016), 3 (10); ders., JZ 2014, 801 (803); Berchtold, NZS 2011, 401 (402). 166  Zutreffend Prütting, in: LA Henckel, S.  261 (263): „Erstaunlicherweise wird dieser zentrale Aspekt einer verfahrensmäßigen Gerechtigkeit bis heute immer wieder verkannt oder unterschätzt.“ Freilich darf nicht verschwiegen werden, dass ein solches Prozessverständnis nicht zuletzt von der Akzeptanz der Bürger abhängig ist. Der Stellenwert des Zivilprozesses wird entscheidend dadurch beeinflusst, ob die Gesellschaft die Geltung von Recht bzw. die Rechtsordnung an sich als „Lebensordnung“ begreift oder ob sie in Konfliktfällen nicht vielmehr zu einer individuellen Aushandlung von Rechtspositionen – und damit einer subsidiären Inanspruchnahme des staatlichen Rechtsschutzes – tendiert; siehe dazu Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (329 ff.); ders., in: LA Henckel, S.  359 (375). 167  Siehe dazu Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (372 ff.). 168  Siehe hierzu oben unter §  6 V. 1.

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

richterlichen Freiraum bei der Ausgestaltung des Verfahrens zulassen.169 Eine freie richterliche Verfahrensgestaltung darf jedoch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht den Gleichbehandlungsgrundsatz sowie generell die Verwirklichung des individuellen Rechtsschutzes als den primären Prozesszweck aus den Augen verlieren.170 Formale Vorgaben haben trotz – oder besser: gerade aufgrund – ihrer Einschränkung von richterlichen Handlungsspielräumen bei der konkreten Ausgestaltung des Verfahrens eine freiheitsstiftende Wirkung. Hierauf hatte Rudolf von Jhering bereits im 19. Jahrhundert hingewiesen: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit.“171

Freilich darf die strikte Einhaltung von Verfahrens- und Formvorschriften nicht dazu führen, dass das materielle Recht sich nicht durchsetzen kann172 – mit anderen Worten: Der prozessuale Formalismus wird seinerseits durch die Prinzipien der prozessualen Billigkeit und Gerechtigkeit begrenzt.173 Wenn aber die Frage nach der Rechtfertigung prozessualen Formalismus mit dem Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht verknüpft ist, darf nicht vergessen werden, dass Verfahrensvorschriften einen „Gerechtigkeitswert eigenen Gewichts“174 besitzen. Dieser kommt nur dann zur Entfaltung, wenn die jeweiligen Normen und Grundsätze des Verfahrens auch Anwendung finden. Ein gewichtiger Vorteil eines weitestgehend formalisierten Zivilprozesses ist schließlich darin zu sehen, dass das Verfahren berechenbarer wird und von den Parteien besser nachvollzogen werden kann.175 Dies erleichtert den Parteien die richterliche Entscheidung zu akzeptieren, wodurch eine „Legitimation durch Verfahren“ (Niklas Luhmann) eintreten kann.176 Insofern besitzt das Verfahrensrecht unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten eine gewisse Eigenständigkeit,177 als dieses über die bloße Rechtsfindung hinausgeht.178 169 

Siehe hierzu oben unter §  7 I. 4. Siehe hierzu die Ausführungen zur rechtsstaatlichen Funktion der Verfahrensgrundsätze oben unter §  2 II. 6. a). 171  Jhering, Geist des römischen Rechts, S.  471; zustimmend Hagen, JZ 1972, 505. 172  Baur, in: Summum ius, S.  97 (106 f.); Henckel, Prozessrecht, S.  58 ff.; Vollkommer, Formenstrenge, S.  7, 42 f.; Oswald, Formalismus, S.  24; siehe auch RGZ 105, 422 (427): „Das materielle Recht soll und darf unter der Herrschaft der Prozeßvorschriften nicht oder doch möglichst wenig leiden.“; a. A. wohl Fischer, KritV 2006, 43 (66), welcher Inhalten den Vorrang gegenüber Formen von Verfahren einräumen will. Dabei wird jedoch verkannt, dass sich formale Vorgaben letztendlich auf den konkreten Inhalt – und damit den Ablauf des Zivilprozesses – auswirken; ebenfalls kritisch zum Stellenwert von Formalismus im Verfahrensrecht Bender, in: FS Wassermann, S.  629 (633). 173  Vollkommer, Formenstrenge, S.  24; Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (261). 174  Stürner, in: LA Henckel, S.  359 (367). 175  Vollkommer, Formenstrenge, S.  39. 176  Prütting, in: LA Henckel, S.  261 (264); ders., AnwBl. 2013, 401 (405). 177  Damit ist freilich keine Eigenständigkeit im Verhältnis zum materiellen Recht gemeint, da deren strikte Trennung mittlerweile als überholt gilt; siehe hierzu Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  388 f. 178  Zu diesem „Mehrwert“ des Verfahrensrechts siehe Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S.  513 ff. 170 

II.  Kritik an der aktuellen Entwicklung

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Formale Vorgaben weisen somit zweierlei Funktionen auf: Sie dienen einerseits der Wahrung von Allgemeininteressen und sichern andererseits die individuellen Interessen der Parteien.179 Gerade die Verfahrensgrundsätze leisten aufgrund ihrer rechtsstaatlichen Funktion einen wertvollen Beitrag zur Verwirklichung obiger Prinzipien. Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass Formalien umso besser eingehalten werden, je mehr die Verfahrensgrundsätze zur Geltung kommen.180 Aus diesem Grund ist es durchaus bedenklich, wenn der Gesetzgeber mit der Zulassung des Freibeweises (§  284 S.  2 ZPO) sowie der Erhöhung der Wertgrenze in §  495a ZPO die Richtermacht durch nahezu freien Gestaltungsspielraum weiter stärkt. Stürner warnt in diesem Zusammenhang zu Recht vor einem „Verfahren zweiter Klasse“ sowie einer „prozessualen Klassengesellschaft“.181

3.  Ergebnis Ausgehend von den Erfahrungen mit den jüngsten Gesetzesnovellen ist eine weitreichende Ökonomisierung des Zivilprozesses weder erstrebenswert182 noch könnte eine solche grenzenlos eingeführt werden. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit ein spürbarer Rückgang bei den Eingangszahlen in erster Instanz zu verzeichnen ist.183 Dieser Befund relativiert ebenfalls das Bedürfnis nach einer Überarbeitung der ZPO aufgrund von finanziellen Engpässen oder zu hoher Belastung.184 Der Gesetzgeber sollte aus diesen Gründen bei zukünftigen Reformen nicht einseitig auf Effizienz, Beschleunigung und Verfahrensvereinfachung setzen.185

179  Kern, ZZP 125 (2012), 53 (72 f.) [„Wahrung wichtiger individueller und allgemeiner Be­ lange“]. 180  Ähnlich Vollkommer, Formenstrenge, S.  40, wonach Formalismus „ein Garant für ein rechtsstaatliches Verfahren“ sei. Zur rechtsstaatlichen Funktion der Verfahrensgrundsätze siehe oben unter §  2 II. 6. a). 181  Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (313). 182  Dies gilt gleichermaßen auf europäischer Ebene: „Als europäisches Modell ist aber eine Verfahrensmaxime der Prozessökonomie mit genereller Schrankenwirkung für grundsätzlich erlaubten Verfahrensaufwand wenig empfehlenswert […].“; Stürner, in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (864). 183  Siehe hierzu die Statistiken bei Wolf, NJW 2015, 1656 ff.; Greger, NZV 2016, 1. 184  Wolf, NJW 2015, 1656 (1661). 185  Ebenso für die Verfahrensdogmatik Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (328 f.); kritisch auch Schäfer, in: 100 Jahre ZPO, S.  251 (272) [„fast food Service“]; Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (168 f.); Althammer, ZZP 126 (2013), 3 (18); ähnlich Walder-Richli, in: FS Lüke, S.  913 (919): „Dass aber mit dem verbleibenden Rest des verfahrensrechtlichen Gedankengutes am Ausgangs des 20. Jahrhunderts (und Anfang des 21.) ebenso sorgsam umgegangen wird, wie es die Politiker neuerdings mit den Staatsfinanzen tun, ist ein Anliegen, das künftigen Richtergenerationen nicht genug ans Herz gelegt werden kann.“; a. A. Greger, NZV 2016, 1 (3), wonach „Überlegungen zur Verbesserung der Effizienz des Zivilprozesses dringend geboten“ seien.

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

III.  Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Abschließend lässt sich aufbauend auf den bisherigen Ergebnissen ein tragfähiges Konzept des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für die Zukunft entwickeln.

1.  Bürgernahe Ziviljustiz als Konzept für die Zukunft Der Gesetzgeber wird den Zivilprozess mit hoher Wahrscheinlichkeit – neben der Prozessökonomie – an den Bedürfnissen der Bürger ausrichten.186 Über diesen Befund kann sich diese Untersuchung nicht hinwegsetzen. Die zentralen Fragen lauten demnach, ob und wie der Unmittelbarkeitsgrundsatz in ein System einer bürger­ nahen Ziviljustiz eingebettet werden kann. a)  Begriffsklärung In Deutschland werden die Schlagworte „Bürgernähe“ und „Bürgerfreundlichkeit“ häufig im Rahmen von Gesetzesreformen des Verfahrensrechts verwendet.187 Deutlich kommt dies im Gesetzentwurf für das Zivilprozessreformgesetz (2001) zum Ausdruck, wonach der Zivilprozess „bürgernäher“ ausgestaltet werden sollte.188 Damit ist freilich noch nichts über den konkreten Inhalt einer bürgernahen Justiz ausgesagt.189 Der Ausdruck „Nähe“ kann im Sinne von „geringe (räumliche) Entfernung“, „geringe zeitliche Entfernung“ sowie „enge Beziehung“ verstanden werden.190 In Anlehnung an diese sprachliche Bedeutung wird der Terminus „bürgernahe Justiz“ geläufig in örtlicher, zeitlicher und psychologischer Hinsicht verwendet. Die örtliche Nähe knüpft dabei an die räumliche Distanz („geringe Entfernung“) zwischen dem rechtsuchenden Bürger und den verschiedenen Justizeinrichtungen an, während die psychologische Nähe die Verfahrensbeteiligten in ein persönliches Näheverhältnis zueinander setzen will. Mit der zeitlichen Nähe ist schließlich die zeitliche Dauer von Gerichtsverfahren bzw. sonstigen Entscheidungen der Justiz („geringe zeitliche Entfernung“) gemeint.191 186 

Siehe hierzu oben unter §  7 I. 2. Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  6. 188  BT-Drucks. 14/4722, S.  1, 58; darauf hinweisend Montagnon/Zwickel, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  19 (24). Ähnliche Maßnahmen finden sich auch in anderen Ländern. So sollte in Frankreich im Jahre 2002 durch die Einführung von erstinstanzlichen Laiengerichten ( juridiction de proximité) die „Bürgernähe“ der Justiz verbessert werden; ausführlich hierzu Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  2, 10 f., 21 ff., 59 ff.; ferner ders., ZZPInt 17 (2012), 43 (45 ff.) zu den Änderungen, welche an der ursprünglichen Konzeption zwischenzeitlich vorgenommen wurden; überblicksartig Hess, in: Effektivität des Rechtsschutzes, S.  121 (138 ff.). 189  Zur Entstehung des Begriffs – sowohl in Frankreich als auch in Deutschland – siehe Montagnon/Zwickel, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  19 (24 ff.); Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  4 ff. 190  Duden, Synonymwörterbuch, S.  656; ders., Bedeutungswörterbuch, S.  670. 191  Siehe hierzu Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  9; Brieskorn, in: Die bürgernahe Ziviljus187 

III.  Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

339

Will man darauf aufbauend den rechtlichen Gehalt des Begriffs herausarbeiten, empfiehlt sich eine Unterscheidung nach strukturellen und prozessualen Gesichtspunkten.192 Die strukturelle Bürgernähe bezieht sich auf die äußere Organisation des Justizaufbaus.193 Hierzu zählt insbesondere die Gerichtszuständigkeit in sachlicher, örtlicher und funktioneller Hinsicht.194 Je nach konkreter Ausgestaltung kann hierdurch eine örtliche Nähe zum einzelnen Bürger hergestellt werden. Der innere Ablauf eines Gerichtsverfahrens wird dagegen durch die prozessuale Bürgernähe beschrieben.195 In diesem Zusammenhang werden die Verfahrensgrundsätze relevant, da gerade diese den Ablauf, die Gestaltung, die Struktur sowie die Aufgabenverteilung innerhalb des Verfahrens widerspiegeln.196 Eine psychologische Nähe sowie eine zeitliche Nähe lassen sich somit insbesondere durch prozessuale Elemente erreichen.197 b)  Grundpfeiler einer bürgernahen Ziviljustiz An dieser Stelle kann kein umfassendes Konzept eines bürgernahen Zivilprozesses vorgelegt werden. Vielmehr werden im Folgenden einige wenige Determinanten eines solchen Systems herausgearbeitet, wobei freilich ein besonderes Augenmerk auf der Rolle des Unmittelbarkeitsgrundsatzes liegt. Die Ausführungen beschränken sich auf die prozessuale Bürgernähe, da nur in diesem Bereich die Verfahrensgrundsätze der ZPO eine Rolle spielen.

tiz, S.  123 f.; Montagnon/Zwickel, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  19 (28). Darüber hinaus kommen noch weitere Anknüpfungspunkte in Betracht; siehe insbesondere Kaufmann/Schäfer, Der Städtetag 1978, 632 (633 f.), welche als weitere Aspekte die informative, partizipative, organisatorische, kommunikative sowie sachliche Bürgernähe nennen. 192  Montagnon/Zwickel, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  19 (35 f.); a. A. Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  13 ff., welcher mit einer „Bürgernähe durch effektiven Rechtsschutz“ noch von einer dritten Dimension der Bürgernähe sprechen will. Hierunter soll insbesondere die zeitnahe Erledigung des Rechtsstreits („Rechtsschutz in angemessener Zeit“) fallen. Auf eine solche Kategorie wird im Folgenden verzichtet. Letztendlich entscheiden die konkrete Ausgestaltung sowie die einzelnen Bestimmungen der ZPO darüber, wie lange ein Zivilverfahren dauert. Die „Bürgernähe durch effektiven Rechtsschutz“ kann daher als Unterkategorie der prozessualen Bürgernähe verstanden werden. 193  Siehe hierzu Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  10 f. 194  Zum Begriff der Zuständigkeit siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, §  29 Rn.  3 ff., 8 ff. 195  Siehe hierzu Zwickel, Bürgernahe Ziviljustiz, S.  11 f. 196  Zum Begriff der Verfahrensgrundsätze siehe oben unter §  2 II. 1. 197  A. A. Freudenberg, ZRP 2002, 79 (81 f.), wonach sich der Verfahrensablauf mit dem Begriff „Bürgernähe“ nicht erfassen lasse, da viele „bürgernahen“ Aspekte des Verfahrens bereits Ausformungen der Verfahrensgrundrechte seien. Insofern könne von „Bürgernähe“ nur bei solchen Handlungen gesprochen werden, welche unabhängig von der richterlichen Entscheidungsfindung sind.

340

§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

aa)  Verfahrensbeschleunigung Angesichts der teilweisen Erfolglosigkeit diverser Beschleunigungsmaßnahmen seitens des Gesetzgebers stellt sich die Frage, welchen Stellenwert die Verfahrensbeschleunigung in einem bürgernahen Zivilprozess einnimmt.198 Einerseits gilt es zu berücksichtigen, dass die Parteien ein Interesse an der zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits haben, da andernfalls die Gefahr besteht, dass bei einer zu langen Verfahrensdauer selbst ein obsiegendes Urteil im Einzelfall wertlos sein kann.199 Andernfalls würde eine Anerkennung des Beschleunigungs- bzw. Konzentrationsgrundsatzes als eigenständiger Verfahrensgrundsatz der ZPO wenig Sinn machen.200 Insofern ist es grundsätzlich billigenswert, wenn Bürgernähe durch eine verstärkte „zeitliche Nähe“ realisiert wird. Andererseits kann es einen alleinigen „Primat der Beschleunigung“201 nicht geben.202 Dies würde ebenfalls den Interessen der Parteien zuwiderlaufen, schließlich möchten diese hinreichend in „ihr“ Verfahren involviert werden.203 Richtigerweise muss die Qualität eines gerichtlichen Verfahrens nicht nur an dessen Schnelligkeit, sondern auch an der inhaltlichen Richtigkeit der jeweiligen Entscheidung gemessen werden.204 Wird Letzteres bei zukünftigen Gesetzesreformen nicht mehr hinreichend gewürdigt, würde dies zwangsläufig zu einem Vertrauensverlust des Bürgers in Justiz und Rechtsprechung führen.205 Dies kann aber nicht im Sinne eines bürgernahen Zivilprozesses sein – im Gegenteil: Die angestrebte Verbesserung der Bürgernähe des Verfahrens würde sich bei alleiniger Konzentration auf die Verfahrensbeschleunigung in das Gegenteil verkehren. Nur derjenige Bürger, welcher Vertrauen in die dritte Gewalt hat, wird das abschließende Urteil akzeptieren können. Dies zeigt, dass die Akzeptanz einer richterlichen Entscheidung entgegen Luhmann nicht allein von der Einhaltung bestimmter Verfahrensvorschriften – und damit von der Beachtung prozessualen Formalismus – abhängig ist,206 198  Sehr kritisch im Allgemeinen Wächter, ZZP 119 (2006), 393 (398), welcher das Streben des Gesetzgebers nach einer Verbesserung der Verfahrensbeschleunigung als „ideologische Fehlvorstellung“ bezeichnet. 199  Weth, ZZP 120 (2007), 135 (143). 200  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 1. c) cc). 201  Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (114). 202  Deutlich Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (379): „Schnelligkeit und Einfachheit können und dürfen nicht die einzigen Maßstäbe für die Güte eines Prozeßrechts sein; ich würde ihnen nicht einmal den ersten Rang einräumen.“. 203  Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117 (138) [„Zielkonflikte“]. 204  Zutreffend Weth, ZZP 120 (2007), 135 (143): „Es sind hierzu zwei Kriterien heranzuziehen, nämlich zum einen die Schnelligkeit und zum anderen die Richtigkeit der Entscheidung.“; ähnlich Peters, Freibeweis, S.  112; Wassermann, Sozialer Zivilprozeß, S.  92; Henckel, in: GS Bruns, S.  111 (127); a. A. Wächter, ZZP 119 (2006), 393 (399), wonach es vorrangig auf die Richtigkeit der Entscheidung ankomme; ebenso Bettermann, ZZP 91 (1978), 365 (379); so wohl auch Hawickhorst, BRAK-Mitt. 2005, 222. 205  Siehe hierzu Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (113 f.). 206  Zur „Legitimation durch Verfahren“ im Sinne Niklas Luhmanns siehe oben unter §  2 II. 6. a).

III.  Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

341

sondern auch (weitestgehend) die Verwirklichung des materiellen Rechts voraussetzt.207 bb) Unmittelbarkeitsgrundsatz Wenn sich ein bürgernaher Zivilprozess insbesondere durch die – freilich nicht grenzenlos zu gewährende208 – inhaltliche Richtigkeit der Entscheidung auszeichnet, so kommt der Beweisaufnahme (§§  355 ff. ZPO) und der anschließenden freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) eine entscheidende Bedeutung zu. Schließlich setzt eine inhaltlich richtige Entscheidung – mit anderen Worten: die Durchsetzung des materiellen Rechts – die Feststellung des wahren Sachverhalts voraus.209 Dies verdeutlicht einmal mehr, dass die Wahrheitsfindung im Zivilprozess einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert einnimmt.210 Gerade der Unmittelbarkeitsgrundsatz trägt mit seiner klassischen Komponente hierzu maßgeblich bei.211 Die Erfahrungen mit den jüngsten Gesetzesreformen haben gezeigt, dass mit der Abschwächung der Unmittelbarkeit negative Auswirkungen auf die Beweisaufnahme und insbesondere auf die Beweiswürdigung verbunden waren.212 Will der Gesetzgeber einen bürgernahen Zivilprozess schaffen, so darf der Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht weiter beeinträchtigt werden. Der primäre Zweck des Zivilprozesses, d. h. der Schutz und die Durchsetzung der subjektiven Rechte des Einzelnen,213 wird bei Beachtung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes besser verwirklicht als bei dessen stufenweisem Abbau. Neben seiner speziellen Bedeutung für die Tatsachenfeststellung im Prozess ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz auch im Allgemeinen als Grundpfeiler eines bürgernahen Zivilprozesses anzuerkennen.214 Seine klassische Komponente mit ihrem Anwesenheitserfordernis sorgt für einen direkten Kontakt zwischen den Verfah207  Kritisch daher Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (258): „Ergebnis: Die Justiz ist nach Luhmann ein sich selbst steuerndes Machtsystem ohne inhaltliche Orientierung, ohne Möglichkeit, die getroffenen Entscheidungen zu kontrollieren. Die Parteien erhalten vom Gericht ein Urteil, nicht ihr Recht.“; zustimmend Katzenmeier, ZZP 115 (2002), 51 (81); ähnlich Stürner, in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (863), welcher von einer erforderlichen „Balance verfeinerter Grundprinzipien“ spricht. 208  Die Ermittlung des wahren Sachverhalts wird auf unterschiedliche Art und Weise begrenzt; siehe hierzu Stein/Jonas/Brehm, vor §  1 ZPO Rn.  25. 209  Koch, Mitwirkungsverantwortung, S.  1 f.; ähnlich Henckel, in: GS Bruns, S.  111 (127); siehe auch Greger, BRAK-Mitt. 2005, 150 (154), wonach etwaige Gesetzesreformen sich vor allem auf die Sachverhaltsfeststellung konzentrieren müssten. 210  Zur Wahrheitsfindung als Prozesszweck siehe oben unter §  2 II. 3. 211  Zum Sinn und Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes siehe oben unter §  5 V. 2. 212  Siehe hierzu oben unter §  7 II. 1. c). Insofern ist es leicht widersprüchlich, wenn teilweise der Abbau von Formalismus im Verfahrensrecht bei gleichzeitiger Stärkung der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) gefordert wird; so aber Bender, in: FS Wassermann, S.  629 (641). 213  Zum Prozesszweck siehe oben §  2 II. 3. 214  Ebenso Brieskorn, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  123 (132); so auch schon Guttmann, Unmittelbarkeit, S.  91: „Die moderne Gestaltung des Privatrechts fordert also selbst einen Prozeß mit Unmittelbarkeit […].“.

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

rensbeteiligten untereinander sowie den Verfahrensbeteiligten und den Beweismitteln.215 Es wird ein persönliches Näheverhältnis geschaffen. Die daraus resultieren­ de „Personalität des Prozesses“ führt insbesondere zu einer Stärkung des Vertrauens des Bürgers in Justiz und Rechtsprechung.216 Die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung wird nicht nur durch die Einhaltung eines vorgegebenen Verfahrens­ ablaufs hergestellt. Auch eine persönliche Anwesenheit aller Verfahrensbeteiligten trägt hierzu bei. Dadurch wird nichts anderes verwirklicht als eine psychologische Form von Bürgernähe. Zudem muss eine Bürgernähe in örtlicher Hinsicht nicht zwangsläufig so verstanden werden, dass hiermit nur die räumliche Distanz zwischen dem rechtsuchenden Bürger und dem nächstgelegenen Gericht – und damit letztendlich die Bestimmungen hinsichtlich der Gerichtszuständigkeit – gemeint ist. Gerade durch die körperliche Anwesenheit im Prozess wird die räumliche Distanz zwischen den Verfahrensbeteiligten innerhalb eines laufenden Verfahrens auf ein Minimum reduziert. Ebenso verringert die virtuelle Anwesenheit im Rahmen von §  128a ZPO – wenn auch auf technischem Wege – die Distanz zwischen den beteiligten Personen bzw. überbrückt diese.217 So gesehen ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz per definitionem zur Herstellung von Bürgernähe geeignet. cc) Prozessökonomie Die Berücksichtigung prozessökonomischer Aspekte ist im System eines bürger­ nahen Zivilprozesses aus zweierlei Gründen geboten: Zum einen wird sich der Gesetzgeber bei zukünftigen Reformen angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen für das Zivilprozessrecht ohnehin verstärkt an der Prozessökonomie orientieren.218 Zum anderen werden die Parteien ein Interesse an einer möglichst prozessökonomischen Gestaltung des Verfahrensablaufs haben.219 Dabei stehen der Unmittelbarkeitsgrundsatz einerseits und die Prozessökonomie andererseits in keinem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander220 – im Gegenteil: Die im Rahmen dieser Untersuchung vorgenommene Neudefinition der Unmittelbarkeit beinhaltet 215  Ähnlich Brieskorn, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  123 (135), welche von der „Verhandlung unter Anwesenheit“ spricht. Allerdings wird nicht klar, ob mit dieser Formulierung der Anwendungsbereich der Unmittelbarkeit oder der Mündlichkeit gemeint sein soll. 216  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2. 217  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) dd) (2). 218  Siehe hierzu oben unter §  7 I. 2. a). 219  Dies gilt insbesondere, wenn man die Verfahrensbeschleunigung als einen Teilaspekt der Prozessökonomie begreift. Dann ließe sich nicht leugnen, dass die Prozessökonomie in dieser Spielart nicht zuletzt den Parteischutz intendiert; Hoeren, in: Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.  117 (136). Freilich sind die Verfahrensbeschleunigung und die Prozessökonomie generell nicht zwingend inhaltsgleich zu verstehen. Schließlich sind durchaus Situationen denkbar, in denen aus ökonomischen Gründen eine Verlängerung des Verfahrens sinnvoll erscheinen kann, was eine Überlappung beider Grundsätze freilich nicht ausschließt; Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (97). Zur Abgrenzung der Prozessökonomie von der Verfahrenskonzentration siehe ferner Stürner, in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (857 f.). 220  Im Ergebnis entspricht dies denjenigen Auffassungen, welche den Vorteil der (formellen)

III.  Die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

343

nicht nur die körperliche Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten (klassische Komponente), sondern auch deren virtuelle Präsenz (moderne Komponente).221 Letztere lässt sich mit §  128a ZPO aber gerade auf eine Norm zurückführen, welche aus Gründen der Prozessökonomie in die ZPO integriert wurde.222 Folglich wird die Prozessökonomie bereits immer dann ausreichend gewahrt, wenn der Unmittelbarkeitsgrundsatz zur Geltung kommt.223 dd) Mündlichkeitsgrundsatz Mündlichkeit und Unmittelbarkeit sind nicht deckungsgleich und in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung als zwei eigenständige Verfahrensgrundsätze zu behandeln.224 Dennoch würde ein Abbau des Mündlichkeitsgrundsatzes zumeist negative Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz nach sich ziehen. Gerade bei schriftlichen Elementen im Zivilprozess handelt es sich dogmatisch oftmals um Ausnahmen bzw. Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. Dies hat insbesondere die Untersuchung zur schriftlichen Zeugenaussage (§  377 Abs.  3 ZPO) gezeigt.225 Wenn der Unmittelbarkeitsgrundsatz einen zentralen Stellenwert innerhalb einer bürgernahen Ziviljustiz einnimmt, muss das Gleiche zwangsläufig für den Mündlichkeitsgrundsatz gelten.226 Die Mündlichkeit ist daher ein weiterer Grundpfeiler im System eines bürgernahen Zivilprozesses.227

2.  Der Gerechtigkeitswert des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Unabhängig davon, dass sich der Unmittelbarkeitsgrundsatz und die Prozessökonomie miteinander vereinbaren lassen, würde Ersterer jedenfalls dann eine Grenze für ein rein effizienzbasiertes Verfahrensrecht bilden, wenn er einen „Gerechtigkeitswert eigenen Gewichts“ besitzt.228 Ein solcher kann letztendlich aus der Funktion und dem Wesen der Unmittelbarkeit abgeleitet werden.229 Besonders deutlich kommt dies in der klassischen Komponente des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zum Ausdruck, wenn man die körperliche Anwesenheit der virtuellen Präsenz gegenUnmittelbarkeit darin sehen, dass diese zu einer Beschleunigung des Verfahrens führt. Siehe hierzu oben unter §  5 I. 3. 221  Zur Neudefinition des Unmittelbarkeitsgrundsatzes siehe oben unter §  6 V. 4. c). 222  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a). 223  Freilich ändert dies nichts an der Tatsache, dass die klassische Komponente des Unmittelbarkeitsgrundsatzes für mehr Bürgernähe des Verfahrens sorgen würde. 224  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 3. 225  Siehe hierzu oben unter §  5 IV. 3. c) cc). 226  Umgekehrt formuliert führt eine Erhöhung von schriftlichen Elementen zu einem Vertrauensverlust in die Rechtsprechung; Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (112). 227  Ebenso Brieskorn, in: Die bürgernahe Ziviljustiz, S.  123 (135), welche sich aus diesem Grund ausdrücklich für eine „Stärkung des Mündlichkeitsgrundsatzes“ ausspricht. 228  Siehe hierzu oben unter §  7 II. 2. b). 229  Siehe hierzu oben unter §  5 V. 2.

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

überstellt. Gerade der direkte und persönliche Kontakt unter körperlich Anwesenden weist gegenüber sonstigen Formen der zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme die Besonderheit auf, dass allein dieser (technisch) unvermittelt abläuft.230 Diese Natürlichkeit der Anwesenheit entspricht dem Wesen des Menschen an sich. Sie ist die „menschenwürdigste“ Form der Anwesenheit231 – wobei der Ausdruck „menschenwürdig“ an dieser Stelle freilich allgemein-sprachlich und nicht im Sinne des normativen Gehalts von Art.  1 Abs.  1 GG gemeint ist. In diesem Sinne verwirklicht der Unmittelbarkeitsgrundsatz einen ethischen Aspekt, dessen Berücksichtigung im Verfahrensrecht geboten ist.232

3.  Rückgriff auf Lösungswege in anderen Prozessordnungen? Nach alledem ist eine Heranziehung der Ergebnisse der rechtsvergleichenden Untersuchung233 wenig sinnvoll.234 Eine Flexibilisierung richterlicher Handlungsspielräume wie in England und dem „Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme“ (AE-Be­ weis­aufnahme) würde auf eine Stärkung der Richtermacht hinauslaufen.235 Dadurch wären im Gegenzug die Einhaltung formaler Vorgaben sowie die Verwirklichung des Gerechtigkeitswerts des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gefährdet.236 Eine stärkere Kontrolle des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Berufungs- oder Revisionsinstanz – wie beispielsweise in Österreich – wäre angesichts des zunehmenden Abbaus des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in erster Instanz grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das Rechtsmittelrecht (§§  511 ff. ZPO) ist erst durch das Zivilprozessreformgesetz (2001) umfassend neukonzipiert worden.237 Insofern sind weitere grundlegende Veränderungen in diesem Bereich vom Gesetzgeber eher nicht zu erwarten. Schließlich wäre noch – analog zum strafprozessualen Ermittlungsverfahren – eine „Vorverlagerung“ des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in ein gerichtliches Vorverfahren denkbar. Entsprechende Überlegungen gibt es im Schrifttum bereits.238 Hiergegen 230  Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (148); ferner Geiger, ZRP 1998, 365 (367) [„Kern des alten Ideals“]. 231  Bachmann, ZZP 118 (2005), 133 (148): „Der Prozessrechtler muss dann die Frage beantworten, […] ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz vielleicht auch so gelesen werden kann, dass der unmittelbare dem (technisch) vermittelten Eindruck auch deshalb vorzuziehen ist, weil er der menschenwürdigste ist.“. 232  Siehe hierzu oben unter §  7 II. 2. b). 233  Zu den nachfolgenden Optionen siehe oben unter §  3 IV. 234  Dies ist auch nicht zwingend geboten; siehe Stürner, ZZP 123 (2010), 147 (161), wonach die Rechtsvergleichung kein „Entdeckungsverfahren zur Auffindung des ‚besten‘ Verfahrens“ sei. 235  Siehe Wagner, ZEuP 2001, 441 (453) zum englischen Recht, welcher von einem „nicht unerheblichen Machtzuwachs für das Gericht“ spricht. 236  A. A. wohl Probst, JR 2011, 507 (510), welcher sich – offenbar in Anlehnung an das englische Recht – für ein richterliches „case management“ ausspricht. 237  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. d). 238  Greger, NJW 2014, 2554 ff., welcher in Anlehnung an den Verwaltungs- (§  87 Abs.  1 S.  2 Nr.  1 VwGO) und Sozialprozess (§  106 Abs.  3 Nr.  7 SGG) für die Aufnahme eines formlosen Erör-

IV.  Zusammenfassung

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spricht jedoch ganz generell, dass der Haupttermin nach wie vor das „Kernstück des Prozesses“239 ist. Wenn der Unmittelbarkeitsgrundsatz aber einen Grundpfeiler einer bürgernahen Ziviljustiz darstellt, muss dessen Realisierung in erster Linie im Haupttermin erfolgen. „Vorverlagerungsmodelle“ sind demnach nur als sekundäre Option in Betracht zu ziehen.

4.  Ergebnis Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist geeignet, die Schwächen der gegenwärtigen Entwicklung zu kompensieren und zu überwinden. Er kann als Grundpfeiler eines bürgerorientierten Prozessverständnisses fungieren, welches gleichzeitig prozessökonomische Aspekte nicht gänzlich aus den Augen verliert.240 Insofern kann mit der Verwirklichung der Unmittelbarkeit ein bewusster Gegenentwurf zur aktuellen Lage geschaffen werden. Zwar mag ein Verfahren, welches sich durch eine starke Betonung der Prozessökonomie und der Verfahrensbeschleunigung auszeichnet, „bürgerfreundlich“ sein. Allerdings ist ein solches nicht zwangsläufig „bürgernah“ im Sinne des hier entwickelten Verständnisses. Dies verdeutlicht, dass zum einen zwischen beiden Begriffen klar differenziert werden sollte und zum anderen ein zukunftsfähiger Zivilprozess eine Verwirklichung beider Aspekte erfordert.

IV.  Zusammenfassung Die Zukunft der ZPO im Allgemeinen und die Zukunft des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Besonderen werden davon abhängen, wie der Gesetzgeber auf die finanziellen Rahmenbedingungen für das Justizwesen und den zunehmenden Wettbewerbs­ charakter des Rechts reagieren wird. Es ist zu erwarten, dass der Gesetzgeber seine bisherige Linie weiterverfolgen wird und den Zivilprozess auch bei den nächsten Reformen an der Prozessökonomie und den Bedürfnissen der Bürger orientieren wird. Dies wird durch die derzeit geplanten Reformvorhaben bestätigt. Indes ist eine solche Entwicklung weder erstrebenswert noch schrankenlos umsetzbar. Lenkt man den Blick dagegen auf ein Prozessverständnis, welches sich nicht auf eine rein „dienende Funktion“ des Verfahrensrechts im Verhältnis zum materiellen Recht beschränkt, sondern unter Berücksichtigung der Lehren Wolfram Henckels und dem Stellenwert von Formalismus im Verfahrensrecht eine gewisse Eigenständigkeit des terungstermins in §  273 Abs.  2 ZPO plädiert. Durch das Gespräch mit den (körperlich) anwesenden Parteien ließe sich in der Tat der (klassische) Unmittelbarkeitsgrundsatz verwirklichen. 239  MünchKommZPO/Prütting, §  272 ZPO Rn.  1. 240  Ähnlich Stürner, in: FS Coester-Waltjen, S.  855 (864), wonach es „eines Wechselspiels verfeinerter Verfahrensmaximen [bedarf], das vor vergröbernder Dominanz eines Ökonomieprinzips bewahrt.“.

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§  7:  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes

Prozessrechts postuliert, zeigt sich, dass gerade der Unmittelbarkeitsgrundsatz als Lösung zur Überwindung der gegenwärtigen Lage herangezogen werden kann. Ausgehend von dieser Erkenntnis lässt sich ein Konzept eines bürgernahen Zivilprozesses entwickeln, in welchem die Unmittelbarkeit und die Prozessökonomie jeweils in einem angemessenen Umfang zur Geltung gelangen können. Dabei stehen beide Grundpfeiler nicht isoliert nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Gerade die Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes führt zu einer Berücksichtigung prozessökonomischer Anliegen. Dies lässt sich auf die Veränderungen hinsichtlich des Inhalts der Unmittelbarkeit zurückführen, welche sowohl eine körperliche als auch eine virtuelle Anwesenheit umfasst.

Teil 4

Schluss

§  8:  Ergebnisse Ziel dieser Grundlagenarbeit war es, ausgehend von der historischen Entwicklung den genauen Inhalt und die Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der ZPO de lege lata zu bestimmen. Darauf aufbauend wurde vor dem Hintergrund diverser Gesetzesreformen seit Beginn des 21. Jahrhunderts der Frage nach dessen aktuellem Stellenwert nachgegangen. Abschließend sollte ein tragfähiges Zukunftskonzept für den Unmittelbarkeitsgrundsatz dargelegt werden.

I.  Zusammenfassung in Thesen Die Ergebnisse dieser Untersuchung können – geordnet nach den einzelnen Kapiteln1 – thesenartig wie folgt zusammengefasst werden.

1.  Die Dogmatik der Verfahrensgrundsätze (§  2) 1.  Die zivilprozessuale Literatur zu den Verfahrensgrundsätzen ist von einer uneinheitlichen Terminologie gekennzeichnet. Diese muss insofern überwunden werden, als mit einer bestimmten Bezeichnung zugleich eine bestimmte inhaltliche Bedeutung verbunden ist. Es hat sich gezeigt, dass allein der Terminus „Verfahrensgrundsatz“ geeignet ist, die dogmatische Natur der Verfahrensgrundsätze auf sprach­licher Ebene wiederzugeben. Andere Begrifflichkeiten – insbesondere „Verfahrensmaxime“ oder „Verfahrensprinzip“ – sind dagegen aufzugeben. 2.  Verfahrensgrundsätze sind diejenigen Grundsätze, welche den Ablauf, die Gestaltung, die Struktur sowie die Aufgabenverteilung innerhalb des Verfahrens widerspiegeln. Es handelt sich bei ihnen um normative Grundsätze, d. h. um Grundsätze des geltenden Rechts. Dies schließt weder die Existenz von Ausnahmen noch eine gesetzgeberische Dispositionsbefugnis (ausgenommen bei verfassungsrechtlich vorgegebenen Grundsätzen) aus. 3.  Die Herausbildung von Verfahrensgrundsätzen erfolgt im Wege der Induk­ tion. Im Rahmen einer Analyse des Verfahrensrechts werden die Gemeinsamkeiten von Einzelregelungen herausgearbeitet und anschließend zu einem übergeordneten 1 

Darüber hinaus sei auf die Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels verwiesen.

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§  8:  Ergebnisse

Gedanken verdichtet. Insofern werden die Verfahrensgrundsätze direkt dem positiven Recht entnommen und sind diesem nicht als Axiome, Prämissen oder Dogmen vorgelagert. 4.  Es bedarf einer Abgrenzung der Verfahrensgrundsätze von den Verfahrenszwecken und den Verfahrenszielen. Der maßgebliche Prozesszweck – der Schutz und die Durchsetzung subjektiver Rechte – beeinflusst die Verfahrensgrundsätze, da sich das Verfahren hinsichtlich seiner Ausgestaltung am Prozesszweck orientieren und diesen verwirklichen muss. Verfahrensziele sind dagegen anzustrebende Aspekte bei der Erreichung des Prozesszwecks, mithin Ziele, welche auf dem Weg dorthin umgesetzt werden sollen. Erst die Verfahrensgrundsätze selbst bestimmen, wie dieser Weg aussieht. 5.  Die Verfahrensgrundsätze erfüllen insgesamt fünf Funktionen (rechtsstaatliche, rechtspolitische, heuristische, rechtspraktische und rechtsvergleichende Funktion), wobei sich an allen Funktionen auf unterschiedliche Art und Weise die herausragende Bedeutung der Verfahrensgrundsätze für das Zivilprozessrecht zeigt. Die Kritik, welche den Verfahrensgrundsätzen gelegentlich entgegengebracht wird, ist vor diesem Hintergrund als unbegründet zu betrachten. 6.  Eine Behandlung der Verfahrensgrundsätze als Prinzipien im Sinne der maßgeblich von Robert Alexy für die Grundrechte entwickelten Prinzipientheorie ist abzulehnen. Hiergegen spricht bereits die mangelnde Vergleichbarkeit von Grundrechten einerseits und Verfahrensgrundsätzen andererseits, da letztere typischerweise nicht Gegenstand von Abwägungsvorgängen sind. Darüber hinaus kann die Prinzipientheorie keine Aussage über die Bedeutung und den Stellenwert der Verfahrensgrundsätze treffen, sodass bei einer prinzipientheoretischen Begründung der Verfahrensgrundsätze deren Funktionen ins Hintertreffen geraten würden. 7.  Zur Bestimmung eines Verfahrensgrundsatzes ist auf das Kriterium der „Wichtigkeit“ abzustellen. Ein Verfahrensgrundsatz kann dann angenommen werden, wenn ein in der ZPO zum Ausdruck kommender Gedanke als besonders „wichtig“ zu qualifizieren ist. Dies lässt sich anhand von fünf Faktoren – der Quantität, dem Regel-Ausnahme-Verhältnis, der Anwendung in der Praxis, einer (möglichen) verfassungsrechtlichen Verankerung sowie der gesetzgeberischen Regelungsintention – beurteilen.

2.  Rechtsvergleichende Grundlagen (§  3) 8.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz existiert – freilich mit einer unterschiedlichen Reichweite – sowohl in den untersuchten nationalen (Strafprozessrecht und Verwaltungsprozessrecht) als auch den ausländischen (Österreich und England) sowie internationalen (Principles of Transnational Civil Procedure) Verfahrensordnungen. Allen Prozessordnungen ist die Geltung einer formellen Unmittelbarkeit gemein, welche sich in erster Linie auf die Beweisaufnahme bezieht und anordnet, dass die-

I.  Zusammenfassung in Thesen

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se vor dem Gericht bzw. durch die erkennenden Richter erfolgen muss. Einen „Ausreißer“ stellt lediglich das englische Zivilprozessrecht dar. Dieses ist seit der Geltung der Civil Procedure Rules 1998 (CPR) von einer starken Stellung des Richters geprägt, welcher den genauen Verfahrensablauf aufgrund von Ermessensvorschriften weitestgehend an die Umstände des jeweiligen Einzelfalles anpassen kann. Die Herausbildung eines Kerngehalts einer formellen Unmittelbarkeit ist demnach nicht möglich. 9.  Unterschiede ergeben sich bei der Frage, ob sich den Verfahrensordnungen eine Rangfolge der Beweismittel, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von unmittelbaren und mittelbaren Beweismitteln entnehmen lässt. Die Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit kennen nur diejenigen Prozessordnungen, in denen der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht ist bzw. welche der Wahrheitsermittlung einen zentralen Stellenwert einräumen (StPO, VwGO, öZPO). Das englische Recht hat diesbezüglich erneut einen Sonderweg eingeschlagen, als es von der früheren Geltung der best evidence rule abgerückt ist und nunmehr exemplarisch für ein Verfahrensmodell steht, welches im Stadium der Beweisaufnahme von der Zu­ lässigkeit sämtlicher Beweismittel ausgeht und deren unterschiedliche Qualität erst im Rahmen der Beweiswürdigung bewerten will. 10.  Sowohl im nationalen Recht als auch in den ausländischen Prozessordnungen gab es in der jüngeren Vergangenheit diverse Gesetzesnovellen, wodurch zumeist neue Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz geschaffen wurden. Dabei ist sämtlichen Reformen gemein, dass diese insbesondere eine Stärkung der Prozess­ ökonomie sowie der Verfahrensbeschleunigung zum Ziel hatten. Die rechtsvergleichende Untersuchung erweckt insofern den Anschein, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz mit einer modernen und prozessökonomischen Gestaltung des Verfahrensrechts nicht ohne Weiteres kompatibel ist.

3.  Die historische Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§  4) 11.  Ohne die Kritik am Gemeinen Prozess und dem Wunsch nach Mündlichkeit und Verfahrensbeschleunigung im 18. und 19. Jahrhundert wäre es nicht zur Herausbildung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gekommen. Als Reaktion auf die schriftlich-mittelbare Verfahrensgestaltung des Gemeinen Prozesses gewannen l­ iberalistische Vorstellungen über den Zivilprozess immer mehr an Bedeutung. Beeinflusst durch das französische Verfahrensrecht setzte sich die Erkenntnis durch, dass nur durch einen mündlichen, öffentlichen und unmittelbaren Zivilprozess die lange Verfahrensdauer des Gemeinen Prozesses überwunden werden kann. 12.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz wird erstmals in den Motiven zu den Prozess­ ordnungen im Königreich Hannover aus den Jahren 1847 (Allgemeine bürgerliche Proceßordnung – ABPO) und 1850 (Bürgerliche Proceßordnung – BPO) erwähnt. Eine Unmittelbarkeit des Verfahrens wurde dort gesehen, wo die Parteien den

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§  8:  Ergebnisse

Rechtsstreit vor dem zu seiner Entscheidung berufenen Richter verhandelten. In der BPO wurde jedoch nur die Unmittelbarkeit des Parteivorbringens eingeführt, nicht aber die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Wenngleich zur damaligen Zeit eine klare inhaltliche und terminologische Unterscheidung von Mündlichkeit und Unmittelbarkeit nicht existierte, lässt sich dennoch erkennen, dass die Mündlichkeit die Form des Parteivorbringens regelte, wohingegen die Unmittelbarkeit zum einen bestimmte, auf welche Art und Weise die Prozesshandlungen der Parteien zur Kenntnis des Gerichts gelangten, und zum anderen, vor wem dies alles zu geschehen hatte. 13.  Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme konnte sich als zweite Säule neben der Unmittelbarkeit des Parteivorbringens erstmals in der Reichs-Civilprozeßordnung (CPO) von 1877 etablieren. Zuvor hatte es erste Ansätze hierzu in der Bayerischen Proceßordnung von 1869 gegeben. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz gehörte aufgrund seiner engen Verbindung zum Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung zu den tragenden Verfahrensgrundsätzen der CPO. 14.  Die Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im 20. Jahrhundert war von sich abwechselnden Phasen geprägt. Während dieser um 1900 durch die Handhabung der Gerichte und später in der Weimarer Republik durch den Gesetzgeber an Bedeutung verlor, führten erst die Prozessreformen der NS-Zeit zu einer strengeren Verwirklichung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im geltenden Zivilprozessrecht. Hier kam schließlich erstmals die Idee einer zeitlichen Unmittelbarkeit auf. In der Nachkriegszeit lässt sich eine klare Linie des Gesetzgebers dagegen nicht erkennen, da sich in den Gesetzesnovellen seit 1945 sowohl Tendenzen zur Stärkung als auch zur Schwächung der Unmittelbarkeit ausmachen lassen. 15.  Die Prozessrechtsgeschichte zeigt, dass die Vorstellungen über die Vor- und Nachteile gewisser Prozessinstitute stets einem Wandel unterlagen. Wurden beispielsweise die Vorteile des Gemeinen Prozesses noch in der Förderung von richterlicher Neutralität und Objektivität gesehen, war es später unbestritten, dass erst ein persönlicher Kontakt zwischen den Richtern und den Parteien ein „gerechtes“ Urteil ermöglichen könne. Betrachtete man die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als Hindernis für einen schnellen Verfahrensgang und die kommissarische Beweisaufnahme als Mittel zur Gerichtsentlastung, verkehrte sich jene Vorstellung nicht einmal 20 Jahre später in das exakte Gegenteil, als die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gerade als wesentliche Voraussetzung für die Verfahrensbeschleunigung angesehen wurde. Je nach Interpretation gab es für den Unmittelbarkeitsgrundsatz immer zwei Seiten der Medaille.

4.  Die Dogmatik des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§  5) 16.  Das deutsche Schrifttum ist von einer Dreiteilung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in eine formelle, eine materielle sowie eine zeitliche Komponente gekennzeichnet. Dennoch zeigen sich bei näherer Betrachtung diverse Meinungsverschie-

I.  Zusammenfassung in Thesen

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denheiten. Der genaue Inhalt und die Reichweite des Unmittelbarkeitsgrundsatzes sind bislang ungeklärt, sodass es einer dogmatischen Festlegung seines Anwendungsbereichs bedarf. 17.  Begrifflich beschreibt die „Unmittelbarkeit“ das Verhältnis zwischen zwei Bezugspunkten. Darauf aufbauend lassen sich im Wege einer induktiven Vorgehensweise neun Beziehungsgeflechte im geltenden Zivilprozessrecht ausmachen, welche wiederum in eine personelle („Parteien und Gericht“, „Parteien und Beweismittel“, „Parteien untereinander“ und „Beweismittel und Gericht“), eine sachliche („Beweismittel untereinander“) sowie eine zeitliche („Güteverhandlung und mündliche Verhandlung“, „Verhandlung und Beweisaufnahme“, „Beweisaufnahme und Beweiswürdigung“ und „Verhandlung und Urteil“) Komponente aufgeteilt werden können. 18.  Der Wortlaut und die innere Systematik von §  355 Abs.  1 ZPO sprechen entgegen der herrschenden Meinung dafür, dass eine Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ im Sinne von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO die körperliche Anwesenheit der Richter und der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme verlangt. §  355 Abs.  1 S.  2 ZPO ist demgegenüber eine Kompetenzzuweisungsnorm und regelt die Frage, „wer“ für die Durchführung der Beweisaufnahme verantwortlich ist. Insofern be­ sitzen beide Sätze einen eigenständigen Regelungsgehalt und müssen getrennt voneinander betrachtet werden. 19.  Die personelle Komponente weist in allen Verhältnissen die Anwesenheit mindestens eines Verfahrensbeteiligten als gemeinsames Merkmal auf. Diese lassen sich wiederum durch eine Konkretisierung des Anwesenheitserfordernisses miteinander verknüpfen: So sprechen die Existenz des Grundsatzes der Parteiöffentlichkeit (§  357 ZPO) sowie der aus dem älteren Schrifttum stammende „Vorhangsfall“ für die zuvor vorgenommene Auslegung von §  355 Abs.  1 ZPO und damit ein Verständnis der Unmittelbarkeit, wonach diese entgegen der herrschenden Meinung nicht allein auf das Vorhanden- oder Nichtvorhandensein eines personellen Zwischengliedes zwischen den Richtern und den Parteien bzw. den Beweis­ mitteln reduziert werden kann. Die Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten steht in einem engen Verhältnis zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO), indem sie deren Durchführung erleichtert. 20.  Aus der sachlichen Komponente, welche das Verhältnis der Beweismittel untereinander zum Gegenstand hat, lässt sich für den Zivilprozess keine materielle Unmittelbarkeit im Sinne des „Gedanken des bestmöglichen Beweises“ ableiten. Eine solche ist lediglich als Erfahrungssatz im Rahmen der Beweiswürdigung zu verstehen, ohne dass es sich gleichzeitig um einen Verfahrensgrundsatz der ZPO handelt. Auch in den besonderen Verfahrensarten der Glaubhaftmachung (§  294 ZPO) sowie dem Urkunden- (§  592 ZPO) und Restitutionsprozess (§  580 Nr.  7b ZPO) ist die Anerkennung einer materiellen Unmittelbarkeit abzulehnen. Das Kriterium der „Wichtigkeit“ lässt sich diesbezüglich nicht bejahen. 21.  Die zeitliche Komponente weist zwar einen Bezug zur freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) auf, jedoch nur als (sekundärer) Nebeneffekt.

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§  8:  Ergebnisse

Die maßgeblichen Vorschriften sind primär Ausdruck des gesetzgeberischen Strebens nach einer Beschleunigung und Konzentration des Verfahrens, weshalb die „zeitliche Unmittelbarkeit“ dogmatisch dem Konzentrationsgrundsatz zugeordnet werden sollte. 22.  Eine Aufteilung der Unmittelbarkeit in verschiedene Komponenten ist nach dem Vorstehenden obsolet, sodass sich ein einheitlicher Unmittelbarkeitsbegriff definieren lässt: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz zielt im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf die körperliche Anwesenheit der Parteien ab und verlangt im Rahmen der Beweisaufnahme die körperliche Präsenz der Richter und der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme. Als Konsequenz hiervon darf die Beweisaufnahme nur ausnahmsweise auf einen beauftragten oder ersuchten Richter übertragen werden. Zentraler Gesichtspunkt ist die körperliche Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten bzw. der Beweismittel, wodurch eine „Personalität des Prozesses“ entsteht. 23.  §  309 ZPO ist entgegen der herrschenden Meinung so zu verstehen, dass mit „der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung“ sämtliche Verhandlungstermine gemeint sind. Dies folgt aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatz sowie dem Grundsatz der Einheit der mündlichen Verhandlung. Für den Fall eines Richterwechsels während der mündlichen Verhandlung bedeutet dies, dass diese wiederholt werden muss. Aufgrund der Vergleichbarkeit mit einer kommissarischen Beweisaufnahme ist ein Richterwechsel nach einer bereits erfolgten Beweisaufnahme über eine analoge Anwendung von §  285 Abs.  2 ZPO zu lösen. Eine Wiederholung der Beweisaufnahme ist somit entbehrlich. Sollen persönliche Eindrücke im Rahmen der Beweiswürdigung herangezogen werden, muss §  398 Abs.  1 ZPO teleologisch dahingehend reduziert werden, dass sich die richterliche Ermessensentscheidung in eine Pflicht zur Wiederholung der Beweisaufnahme umwandelt. Zur Herstellung eines Gleichlaufs zwischen einem Richterwechsel während der mündlichen Verhandlung und einem Richterwechsel nach erfolgter Beweisaufnahme empfiehlt es sich, de lege ferenda eine an §  412 Abs.  2 öZPO orientierte Regelung in die ZPO aufzunehmen. §  309 Abs.  2 ZPO n. F. würde insofern lauten: „Tritt während der mündlichen Verhandlung ein Wechsel in der Person des Vorsitzenden oder der übrigen Richter ein, so ist die mündliche Verhandlung unter Benutzung der Klageschrift und des Verhandlungsprotokolls von Neuem durchzuführen.“ 24.  Ob neben einem bereits erhobenen Beweis ein weiterer unmittelbarer oder mittelbarer Beweis erhoben werden muss, beurteilt sich anhand der Grundsätze des Beweisantragsrechts. Dabei verlangt der insoweit geltende Grundsatz der Erschöpfung der Beweismittel grundsätzlich die Erhebung eines jeden beantragten Beweises. Eine richterliche Hinweispflicht (§  139 Abs.  1 ZPO) im Falle der Erhebung eines mittelbaren Beweises besteht nicht. Unabhängig von der Art des jeweiligen Beweismittels trägt jede Partei das Risiko, dass – ausgenommen sind freilich diejenigen Fälle, in denen eine gesetzliche Beweisregel (§  286 Abs.  2 ZPO) eingreift – der angebotene Beweis nicht zur richterlichen Überzeugung führt. Jede andere Hand­

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habung in der Praxis wäre mit dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO) unvereinbar. 25.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz fällt unter den Anwendungsbereich von §  295 Abs.  2 ZPO und ist der Parteidisposition entzogen. Dies begründet sich damit, dass das Anwesenheitserfordernis der Verfahrensbeteiligten und der Beweismittel als Kernelement der Unmittelbarkeit die Beweiswürdigung erleichtert und somit in erster Linie den Interessen bzw. Aufgaben des Gerichts dient. 26.  Über §  525 S.  1 ZPO gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz auch im Berufungsverfahren. Seine Anwendung wird jedoch einerseits vom Prüfungsumfang des Berufungsgerichts (§  529 Abs.  1 Nr.  1 ZPO) beschränkt und hängt andererseits davon ab, wie häufig dieses von einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluss (§  522 Abs.  2 ZPO) Gebrauch macht. Die Verletzung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im erstinstanzlichen Verfahren kann im Berufungsverfahren geltend gemacht werden. §  355 Abs.  2 ZPO steht dem insoweit nicht entgegen. Aus dem Wesen der Verfahrensgrundsätze ergibt sich darüber hinaus, dass deren Verletzung einen wesentlichen Verfahrensmangel (§  538 Abs.  2 Nr.  1 ZPO) sowie einen Revisionszulassungsgrund nach §  543 Abs.  2 Nr.  1 ZPO („Rechtssache grundsätzliche[r] Bedeutung“) begründet. 27.  Aus der Rechtsprechung des BVerfG lässt sich keine verfassungsrechtliche Verankerung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ableiten. Diese ist für die StPO entwickelt worden und kann mangels Geltung einer materiellen Unmittelbarkeit im Zivilprozess nicht auf die ZPO übertragen werden. Ferner kann ein Verfassungsrang weder dem aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.  20 Abs.  3 GG) folgenden Gebot eines fairen Verfahrens noch Art.  6 Abs.  1 EMRK entnommen werden.

5.  Die Bedeutung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Gegenwart (§  6) 28.  Die Einführung der Videotechnik (§  128a ZPO) durch das Zivilprozessreformgesetz (2001) führte im rechtlichen Sinne zu einer Gleichstellung der körperlichen Anwesenheit mit der virtuellen Anwesenheit der Parteien und der Beweismittel. Dadurch wurde nicht nur eine Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes geschaffen, sondern dieser wurde zugleich inhaltlich modifiziert. Die Systemkonformität von §  128a ZPO lässt sich bejahen. Angesichts eines Wandels der Normsituation ist eine „neue“ Auslegung von §  355 Abs.  1 S.  1 ZPO dergestalt möglich, dass eine Beweisaufnahme „vor dem Prozessgericht“ auch im Falle einer (nur) virtuellen Anwesenheit des jeweiligen personellen Beweismittels gegeben ist. 29.  Bei den übrigen Neuregelungen des Zivilprozessreformgesetzes (2001) handelt es sich ebenfalls weitestgehend um Ausnahmen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. §  375 Abs.  1 Nr.  2 und 3 ZPO steht in einem Subsidiaritätsverhältnis zu §  128a ZPO, sodass es konsequenterweise zu einem weiteren Abbau der körperlichen Anwesenheit der Beweispersonen im Zivilprozess kommt. Die Neukonzeption des Be-

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§  8:  Ergebnisse

rufungsrechts (§§  511 ff. ZPO) hat zu einem Rückgang von mündlichen Verhandlungen und Beweisaufnahmen in Berufungsverfahren geführt, wodurch der Anwendungsbereich des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in zweiter Instanz verkleinert wurde. 30.  Die Auswirkungen der Zulassung des Freibeweises im Einverständnis mit den Parteien (§  284 S.  2 ZPO) auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz hängen von der konkreten Art und Weise der Beweisaufnahme ab. Eine Durchbrechung bzw. Ausnahme liegt jedenfalls dann vor, wenn im Rahmen der Beweiserhebung die körperliche Anwesenheit des Beweismittels nicht realisiert wird. Die qualitativen Unterschiede des Freibeweises im Vergleich zum Strengbeweis führen zu negativen Auswirkungen auf die freie richterliche Beweiswürdigung (§  286 Abs.  1 ZPO), sodass der Freibeweis keine gleichwertige, sondern lediglich eine gleichrangige Option zum Strengbeweis darstellt. Die Rechtsprechung des BGH, wonach die allgemeinen Prozess- und Rechtsmittelvoraussetzungen ohne Einverständnis der Parteien im Freibeweis geprüft werden können, ist seit dem Erlass von §  284 S.  2 ZPO nicht mehr gesetzeskonform und sollte aufgegeben werden. 31.  Die Bejahung der Systemkonformität des Freibeweises hängt entscheidet vom Verhältnis von §  284 S.  2 ZPO zu §  295 Abs.  2 ZPO ab. Dieses ist über eine Auslegung mit Hilfe der klassischen Auslegungsmethoden zu ermitteln. Da es sich bei §  284 S.  2 ZPO um ein „junges“ Gesetz handelt, ist die Ermittlung des gesetz­ geberischen Willens das Ziel der Auslegung. Legt man diesen dem insoweit uneindeutigen Auslegungsergebnis zugrunde, gelangt man zu der Feststellung, dass §  284 S.  2 ZPO unter Änderung der bisherigen lex lata die Disponibilität des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eingeführt hat. Diese Wertung ist gleichzeitig im Anwendungsbereich von §  295 Abs.  2 ZPO zu berücksichtigen. 32.  Die Verwertung von gerichtlichen Sachverständigengutachten aus anderen Verfahren (§  411a ZPO) ist als Ausnahme bzw. Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zu verstehen. Wenngleich die Einführung von Sachverständigengutachten im Zivilprozess zuvor im Wege des Urkundenbeweises von der Rechtsprechung anerkannt war, so geht mit dieser neugeschaffenen Möglichkeit gleichsam ein Verzicht auf die körperliche Anwesenheit des Sachverständigen als Beweisperson einher. Das 2. Justizmodernisierungsgesetz (2006) und das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (2013) erweiterten die Anwendungsbereiche von §  411a ZPO und §  128a ZPO und führten zu einer Ausweitung der bestehenden Ausnahmevorschriften des Unmittelbarkeitsgrundsatzes. 33.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz hat seit der Jahrtausendwende einen klaren Bedeutungsverlust erfahren. Die Hauptverantwortung für diese Entwicklung trägt der Gesetzgeber, welcher in den jüngsten Gesetzesreformen die Prozessökonomie zum Nachteil der Unmittelbarkeit mehr und mehr aufgewertet hat. Die wesentlichen Ziele waren stets die Beschleunigung, die Vereinfachung sowie die Effizienzsteigerung des Verfahrens. Dieser Trend, welcher nicht zuletzt durch fiskalische Gründe

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vorangetrieben wurde, bestätigt insofern die Ergebnisse der rechtsvergleichenden Untersuchung. In diesem Zusammenhang darf die Rolle von Rechtsprechung und Literatur nicht unterschätzt werden. Es hat sich gezeigt, dass diese durch Rechtsprechungsänderungen bzw. gewandelte Ansichten im Schrifttum ebenfalls zur Abschwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes beigetragen haben. 34.  Trotz der vielen Änderungen hinsichtlich des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist das Kriterium der „Wichtigkeit“ als erfüllt zu betrachten, sodass dieser weiterhin zu den Verfahrensgrundsätzen der ZPO zu zählen ist. Die weitere Entwicklung sowie die rechtliche Qualifizierung als Verfahrensgrundsatz werden entscheidend von der zukünftigen Heranziehung der Ausnahmevorschriften abhängen. Einer negativen Zukunftsprognose lässt sich entgegenwirken, indem man den Unmittelbarkeitsgrundsatz unter Heranziehung der lex lata auf folgende Art und Weise neu definiert: Der Unmittelbarkeitsgrundsatz zielt im Rahmen der mündlichen Verhandlung auf die körperliche oder virtuelle Anwesenheit der Parteien ab und verlangt im Rahmen der Beweisaufnahme die körperliche Präsenz der Richter bzw. die körperliche oder virtuelle Anwesenheit der Beweismittel am Ort der Beweisaufnahme. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz beinhaltet demnach sowohl eine klassische als auch eine moderne Komponente, ohne dass gleichzeitig das Anwesenheitserfordernis als zentrales Merkmal aufgegeben wird.

6.  Zukunftsperspektiven des Unmittelbarkeitsgrundsatzes (§  7) 35.  Die beiden wesentlichen Herausforderungen, vor denen die ZPO in Zukunft steht, sind zum einen die eingeschränkten finanziell zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel und zum anderen die Tatsache, dass der Zivilprozess zunehmend in Konkurrenz zu ausländischen Verfahrensordnungen bzw. alternativen Formen der Streitbeilegung tritt. Dies wird den Gesetzgeber mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu veranlassen, bei zukünftigen Gesetzesnovellen an den bisherigen Reform­ zielen (Steigerung der Prozessökonomie, Verfahrensbeschleunigung und -verein­ fachung, Bürgernähe) festzuhalten. Die derzeitige Entwicklung würde sich insofern nahtlos fortsetzen, sodass weiterhin mit einer Schwächung des Unmittelbarkeits­ grund­satzes zu rechnen ist. Aktuelle Gesetzesvorhaben bestätigen diesen Trend bereits. 36.  Die Justiz unterliegt in zunehmendem Maße einem Bedeutungswandel. Während diese nach traditioneller Auffassung durch die hoheitliche Ausübung eines staatlichen Rechtsprechungsmonopols gekennzeichnet ist, mehren sich Tendenzen, wonach die Justiz eine Entwicklung hin zu einer Dienstleistung vollzieht. Für den Zivilprozess bedeutet dies, dass insbesondere der Stellenwert der Prozessökonomie neu ausgelotet werden muss. Angesichts der aktuellen Entwicklung ist es nicht ausgeschlossen, dass diese in Zukunft – ähnlich wie im englichen Zivilprozess­ recht – eine Aufwertung zu einem eigenständigen Prozesszweck erfährt.

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§  8:  Ergebnisse

37.  Die Ziele der jüngsten Gesetzesreformen konnten nur bedingt realisiert werden. Dies gilt nicht nur hinsichtlich derjenigen Vorschriften, welche einen Bezug zum Unmittelbarkeitsgrundsatz aufweisen, sondern auch im Allgemeinen. Besonders deutlich zeigt sich dies an der durchschnittlichen Verfahrensdauer und der damit verbundenen Gerichtsbelastung, welche entgegen den Erwartungen des Gesetzgebers in den letzten Jahren angestiegen ist. Dies ist insofern problematisch, da einerseits bestimmte Prozessinstitute – wie beispielsweise das Kollegialprinzip am Landgericht – ohne erkennbaren Mehrwert aufgegeben wurden und dies andererseits negative Auswirkungen auf anderen Grundsätze des Verfahrensrechts mit sich brachte. Tangiert sind insofern die Beweisaufnahme und die Beweiswürdigung und damit nicht weniger als die Tatsachenfeststellung im Zivilprozess. Aus diesen Gründen ist eine einseitige Fokussierung auf die Prozessökonomie und eine Fortführung der bisherigen Gesetzgebung abzulehnen. 38.  Die Grenzen einer Ökonomisierung des zivilprozessualen Verfahrens ergeben sich zunächst aus den Vorgaben des Grundgesetzes. Die Verwirklichung des individuellen Rechtsschutzes ist Aufgabe des Staates und gegenüber einer ressourcenschonenden Ausgestaltung des Zivilprozesses vorrangig. Darüber hinaus würde eine Aufwertung der Prozessökonomie zu einem eigenständigen Prozesszweck die Tatsache vernachlässigen, dass Verfahrensnormen einen eigenen Gerechtigkeitswert (Wolfram Henckel) aufweisen. Vielmehr sollte der Fokus auf ein (nicht zuletzt an ethischen Gesichtspunkten orientiertes) Prozessverständnis gelegt werden, welches von der Vorstellung der rein „dienenden Funktion“ des Prozessrechts im Verhältnis zum materiellen Recht Abstand nimmt. Schließlich ist dem bereits zunehmenden Abbau prozessualen Formalismus entgegenzutreten. Nur ein weitgehend formalisierter Zivilprozess und die damit verbundene Beachtung der Verfahrensgrundsätze ermöglichen erst eine Verwirklichung des Gerechtigkeitswerts der Verfahrensnormen und damit eine Wahrung sowohl individueller als auch allgemeiner Interessen. 39.  Entgegen der aktuellen Haltung des Gesetzgebers ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz als wesentlicher Grundpfeiler eines bürgernahen Zivilprozesses anzuerkennen. Dabei ist in erster Linie das Interesse der Parteien an einer nicht nur möglichst schnellen, sondern auch an einer dem materiellen Recht inhaltlich entsprechenden Rechtsdurchsetzung zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang bietet gerade der Unmittelbarkeitsgrundsatz den Vorteil, dass dieser durch seine klassische Komponente im Rahmen der Beweisaufnahme und der Beweiswürdigung zur verbesserten Tatsachenfeststellung beiträgt und gleichzeitig über seine moderne Komponente eine hinreichende Verwirklichung der Prozessökonomie im Zivilprozess ermöglicht. Eine schnelle und effiziente Verfahrensgestaltung einerseits und die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes andererseits stehen insofern in keinem Ausschließlichkeitsverhältnis. Vielmehr lassen sich die vermeintlich widerstreitenden Aspekte im System eines bürgernahen Zivilprozesses nicht nur bündeln, sondern auch jeweils in einem angemessenen Umfang zur Geltung bringen.

II.  Kernforderungen

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40.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz besitzt einen „Gerechtigkeitswert eigenen Gewichts“, welcher sich aus seinem dogmatischen Gehalt und den darauf basierenden Funktionen ableiten lässt. Das aus der klassischen Komponente stammende Postulat körperlicher Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten entspricht durch seine Natürlichkeit dem Wesen des Menschen und ist als ethischer Aspekt im Verfahrensrecht zu beachten. So gesehen bildet der Unmittelbarkeitsgrundsatz eine wesent­ liche Schranke für einen rein an Zweckmäßigkeitsgründen ausgerichteten Zivil­ prozess.

II.  Kernforderungen Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind nur eine Seite der Medaille. Die eigentlich interessante und spannende Frage ist, welche Schlussfolgerungen hieraus konkret gezogen werden sollten. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um die Einfügung bzw. Änderung punktueller Einzelregelungen, sondern um normübergreifende Aspekte. Abschließend lassen sich somit drei Kernforderungen formulieren.

1.  Stärkere Orientierung an den Verfahrensgrundsätzen bei Gesetzesreformen Die rechtspolitische Funktion der Verfahrensgrundsätze2 muss gestärkt werden. Dass deren Stellenwert und Orientierungshilfe bei etwaigen Gesetzesreformen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, konnte in Bezug auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz deutlich nachgewiesen werden. Gerade die Bejahung der Systemkonformität der Vorschriften über die Einführung von Videotechnik (§  128a ZPO)3 sowie über die Zulassung des Freibeweises (§  284 S.  2 ZPO)4 gestaltete sich problematisch. Dies wäre vermeidbar gewesen, wenn im Rahmen der jeweiligen Gesetzgebungsverfahren eine stärkere Auseinandersetzung mit den Auswirkungen auf die von den Neuregelungen tangierten Verfahrensgrundsätze stattgefunden hätte. In den Gesetzesmaterialien der jüngsten Reformgesetze fand der Unmittelbarkeitsgrundsatz jedoch teilweise gar keine Erwähnung, obwohl dieser seinem dogma­ tischen Gehalt nach mehrfach betroffen war.5 Die Tatsache, dass die Verfahrensgrundsätze als „Kompass für den Gesetzgeber“6 fungieren, darf nicht in Vergessenheit geraten.

2 

Siehe hierzu oben unter §  2 II. 6. b). Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a) dd). 4  Siehe hierzu oben unter §  6 II. 2. a) dd). 5  Siehe hierzu oben unter §  6 V. 1. 6  Hofmann, ZZP 126 (2013), 83 (106). 3 

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§  8:  Ergebnisse

Daran zeigt sich einmal mehr die herausragende Bedeutung der Verfahrensgrundsätze. Aus diesem Grund ist diese Arbeit generell als Plädoyer für die Verfahrensgrundsätze im Zivilprozess zu verstehen. Damit ist weniger deren konkrete Ausgestaltung gemeint, sondern ihre bloße Existenz als „Säulen des Verfahrens“.7 Aufgrund ihrer unterschiedlichen Funktionen8 sowie den daraus resultierenden Vorteilen sind die Verfahrensgrundsätze nach wie vor als unabdingbare Elemente des Zivilprozesses zu betrachten.9

2.  Konsolidierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes Die jüngsten Reformen haben sich auf der einen Seite in vielerlei Hinsicht auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz ausgewirkt, indem dieser größtenteils abgeschwächt aber auch inhaltlich modifiziert wurde.10 Auf der anderen Seite konnte im Rahmen dieser Untersuchung gezeigt werden, dass sich gerade die Unmittelbarkeit zur Etablierung eines bürgernahen Zivilprozesses in besonderem Maße eignet.11 Das Ziel von mehr Bürgernähe des Verfahrens, welches der Gesetzgeber in der Vergangenheit angestrebt hat und auch in Zukunft weiterhin verfolgen wird,12 lässt sich folglich nicht durch eine weitere Abschwächung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes realisieren. Angesichts der Tatsache, dass dieser sich aus einer klassischen sowie einer modernen Komponente zusammensetzt,13 besteht hierfür kein Bedürfnis. Das Verfahrensziel der Prozessökonomie wird bereits hinreichend berücksichtigt.14 Gemäß dem Motto „Fortschritt durch Tradition“ kann eine Weiterentwicklung des Verfahrensrechts gerade in einer Rückbesinnung auf die traditionellen Grundsätze des Verfahrens liegen. Unter diesen Prämissen ist eine „Renaissance des Unmittelbarkeitsgrundsatzes“ anzustreben. Der Gesetzgeber sollte daher behutsam mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz umgehen und von weiteren Durchbrechungen bzw. Modifikationen absehen. Vielmehr ist dessen Konsolidierung unter Beibehaltung seiner gegenwärtigen dogmatischen Ausgestaltung wünschenswert. Es ist an der Zeit, die Entwicklung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, welche historisch betrachtet von

  7 

Siehe hierzu oben unter §  2 IV. Siehe hierzu oben unter §  2 II. 6.   9  Ebenso Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (26 ff.); Bruns, in: Zukunft des Zivilprozesses, S.  53 (66 f.); Stürner, ZZP 127 (2014), 271 (286 f.); ähnlich Walder-Richli, in: FS Lüke, S.  913 (919); Stamm, Prinzipien und Grundstrukturen, S.  64 ff. (für das Zwangsvollstreckungsrecht); Roth, ZZP 129 (2016), 3 (10) [„Wiederentdeckung der Prozessmaximen“]; a. A. Leipold, in: Globalisierung und Sozialstaatsprinzip, S.  235 (249 f., 254). 10  Siehe hierzu oben unter §  6 V. 11  Siehe hierzu oben unter §  7 III. 1. b) bb). 12  Siehe hierzu oben unter §  7 I. 2. 13  Siehe hierzu oben unter §  6 V. 4. c). 14  Siehe hierzu oben unter §  7 III. 1. b) cc).   8 

II.  Kernforderungen

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sich abwechselnden Phasen der Schwächung und Phasen der Stärkung geprägt war,15 mit einer weiteren Phase der Stärkung fortzusetzen.

3.  Konsolidierung der ZPO Die bisherige Entwicklung der ZPO hat insbesondere am Beispiel der Verfahrensbeschleunigung gezeigt, dass sich durch Veränderungen des Prozessrechts nicht immer die gewünschten Effekte realisieren lassen. Dasselbe gilt stellenweise auch für das Verhältnis der Unmittelbarkeit zur Prozessökonomie.16 Schlussendlich ist daher nicht nur eine Konsolidierung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes, sondern auch eine solche hinsichtlich der ZPO selbst zu fordern.17 Gerade die vielen aufeinanderfolgenden Reformen Anfang der 2000er Jahre haben eine Konsolidierung und Etablierung des neuen Verfahrensrechts deutlich erschwert bis nahezu unmöglich gemacht.18 Es erscheint daher wenig sinnvoll, das Zivilprozessrecht im Sinne einer „gesetzgeberische[n] Dauerbaustelle“19 immer wieder neuen Reformen auszusetzen. Freilich kommt der Gesetzgeber nicht umhin, auf sich verändernde Umstände zu reagieren.20 Auch der Zivilprozess kann sich dem „Wandel der Zeiten“21 nicht gänzlich entziehen.22 Dennoch sollte vor etwaigen Änderungen des Verfahrensrechts stets deren aktuelle Notwendigkeit kritisch hinterfragt werden.

15 

Siehe hierzu oben unter §  6 V. 4. a). Siehe hierzu oben unter §  7 II. 1. 17  Deutlich auch Roth, JZ 2006, 9 (18): „Sowohl das Zivilprozeßrecht als auch die Anwalts- und Gerichtspraxis bedürfen derzeit dringend eines nachhaltigen Schutzes vor unüberlegten gesetzgeberischen Eingriffen.“; a. A. Greger, NZV 2016, 1 (5), welcher „eine grundlegende Überarbeitung unseres aus der Postkutschenzeit stammenden Justizsystems“ fordert; ähnlich Zwickel, in: Prozessuale Modernisierung, S.  13 (22) [„umfassend durchdachte Überlegung“]. 18  Prütting, in: Ökonomische Analyse, S.  1 (5); Hirtz, AnwBl. 2004, 503, welcher aus diesem Grund für eine „Atempause“ plädierte; ähnlich Calliess, Gutachten A zum 70. DJT, S. A 26. 19  Calliess, NJW-Beilage 2014, 27. 20  Probst, JR 2011, 507 (512) spricht von einem Bedarf nach „ständiger Innovation“. 21  Gerhardt, JR 1998, 133. 22  Siehe nur Althammer, in: Mindeststandards, S.  3 (26) in Bezug auf Verbraucherstreitigkeiten: „Sicherlich muss der Zivilprozess sich modernisieren, um leistungsfähig und […] attraktiv zu bleiben.“. 16 

§  9:  Ausblick An dieser Stelle schließt sich der Kreis, sodass auf die Problematik der „Zeitgemäßheit“ der ZPO im Allgemeinen sowie der Verfahrensgrundsätze im Besonderen zurückzukommen ist. Für den Unmittelbarkeitsgrundsatz konnte diese Frage im Rahmen dieser Untersuchung bejaht werden. Freilich ist damit noch keine allgemeinverbindliche Aussage über den zukünftigen Umgang mit der ZPO als solche getroffen. Hier besteht nach wie vor Klärungs- und Forschungsbedarf. Insofern gilt es, den Blick auf andere Verfahrensgrundsätze des geltenden Zivilprozessrechts zu lenken. Wenngleich es sich bei Mündlichkeit und Unmittelbarkeit um nicht deckungsgleiche, sondern um zwei eigenständige Verfahrensgrundsätze handelt,1 würde eine etwaige Abschwächung des Mündlichkeitsgrundsatzes auch den Unmittelbarkeitsgrundsatz tangieren. Die Zunahme von schriftlichen Elementen im Zivilprozess wird nämlich regelmäßig mit einer Abnahme des Erfordernisses sowohl körper­ licher als auch virtueller Anwesenheit verbunden sein. Aus diesem Grund ist es nach hier vertretener Ansicht angezeigt, die Mündlichkeit als einen Grundpfeiler für einen bürgernahen Zivilprozess zu behandeln.2 Dennoch finden sich Stimmen in der Literatur, welche deren Berechtigung in Frage stellen.3 Insofern wird die Frage nach der „Zeitgemäßheit“ und des zukünftigen Stellenwerts des Mündlichkeitsgrundsatzes virulent. Der Gesetzgeber und die Wissenschaft müssen klären, in welcher Form die prozessuale Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten in Zukunft ablaufen soll.4 Ebenso wird man sich Gedanken über die Zukunftsperspektiven des Öffentlichkeitsgrundsatzes (§  169 GVG) machen müssen. Auch dieser Grundsatz wird zunehmend mit Skepsis betrachtet.5 Während die Diskussion in der strafrechtlichen Lite1 

Siehe hierzu oben unter §  5 V. 3. Siehe hierzu oben unter §  7 III. 1. b) dd). 3  Siehe Gaier, NJW 2013, 2871 (2874), welcher vom „überholten Mündlichkeitsprinzip“ spricht. 4  Zutreffend Fischer, KritV 2006, 43 (66): „Für die Zukunft ist daher zu überlegen, welches Mündlichkeitsverständnis angesichts der vielfältigen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten für den Zivilprozeß zugrundezulegen ist. Es geht damit also auch um die Frage nach der Art und Weise künftiger prozessualer Information und Kommunikation.“; siehe auch Gross, in: Europäisches Privatrecht, S.  105 (111). 5  Deutlich Gemballa, AnwBl. 2001, 151: „Die Öffentlichkeit des Zivilprozesses wird vom heutigen Staatsbürger so gut wie nicht mehr angenommen. […] Der §  169 GVG sollte deshalb auf die Notwendigkeit seiner Beibehaltung für den Zivilprozess überprüft werden.“ Zu den Vorbehalten gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz siehe Arnold, in: FS Simotta, S.  11 (16 ff.). 2 

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§  9:  Ausblick

ratur – beflügelt durch die jüngsten Erfahrungen im Rahmen des NSU-Prozesses6 – bereits die prinzipielle Ebene erreicht hat,7 drehte sich die zivilprozessuale Debatte in den vergangenen Jahren hauptsächlich um die Frage, ob die Zulassung der englischen Sprache als Gerichtssprache vor deutschen Gerichten eine Kollision mit §  169 GVG darstellt oder nicht.8 Die Reichweite und generelle Berechtigung des Öffentlichkeitsgrundsatzes im Zivilprozess wird dagegen seltener thematisiert.9 Jedoch lässt sich durchaus konstatieren, dass dessen ursprüngliche Kontrollfunk­tion zunehmend durch das wachsende Teilnahme- und Informationsbedürfnis der Medien abgelöst wird.10 Als Ausgangspunkt für weitergehende Überlegungen kann die Tatsache fungieren, dass durch §  128a ZPO die normalerweise gebotene körperliche Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten um deren bloß virtuelle Präsenz erweitert wurde.11 Eine in gewisser Weise ähnliche Differenzierung wird im Rahmen des Öffentlichkeitsgrundsatzes vorgenommen, wenn von der unmittelbaren Öffentlichkeit einerseits und der mittelbaren Öffentlichkeit andererseits gesprochen wird. Während die unmittelbare Öffentlichkeit (§  169 S.  1 GVG) dem einzelnen Bürger den Zugang zur Gerichtsverhandlung – und damit „körperliche Anwesenheit“12 im Sitzungssaal – gewährt, richtet sich die mittelbare Öffentlichkeit (§  169 S.  2 GVG) an die mediale Berichterstattung.13 Dies wirft diverse Fragen auf: Wenn sowohl die Parteien als auch Zeugen und Sachverständige – und damit Verfahrensbeteiligte – lediglich virtuell im Gerichtssaal anwesend sein müssen, wieso sind die Hürden für Zuschauer als Nichtverfahrensbeteiligte ungleich höher? Ist es nach wie vor „zeitgemäß“, dass die unmittelbare Öffentlichkeit nur durch eine rein körperliche Anwesenheit hergestellt werden kann? Ist das Verbot von Ton- und Bildaufnahmen (§  169 S.  2 GVG)14 im fortschreitenden 21. Jahrhundert nach wie vor gerechtfertigt oder ist   6 

Siehe hierzu Schumann, in: FS Gottwald, S.  565 (567 f.). Insbesondere Gierhake, JZ 2013, 1030 ff.; siehe ferner Walther, NStZ 2015, 383 ff. Zum Bedeutungswandel des strafprozessualen Öffentlichkeitsgrundsatzes im 20. Jahrhundert siehe Witzler, Personale Öffentlichkeit, S.  39 ff.   8  Im Schrifttum wird dabei überwiegend von einer Vereinbarkeit mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz ausgegangen; siehe Arnold, in: FS Simotta, S.  11 (25 f.); Ewer, NJW 2010, 1323 (1324 f.); Müller-Piepenkötter, DRiZ 2010, 2 (5); Armbrüster, ZRP 2011, 102 (103 f.); a. A. Handschell, DRiZ 2010, 395 (397 ff.).   9  Ausführlich zuletzt Arnold, in: FS Simotta, S.  11 (12 ff., 27). 10  Fasching, in: Verfahrensgrundsätze, S.  53 (57), welcher auf diesen „Wandel“ der Öffentlichkeit – freilich in Bezug auf das österreichische Zivilprozessrecht – bereits im Jahre 1978 hingewiesen hatte. 11  Siehe hierzu oben unter §  6 I. 2. a). 12  Schumann, in: FS Gottwald, S.  565 (569). 13  MünchKommZPO/Zimmermann, §  169 GVG Rn.  41 ff.; Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn.  170 ff.; ferner Witzler, Personale Öffentlichkeit, S.  157 f., wonach sich jedoch die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Öffentlichkeit nicht anhand des Wortlauts von §  169 GVG festmachen lasse. 14  Das Verbot von Ton- und Bildaufnahmen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsgemäß, sodass §  169 S.  2 GVG keinen Verstoß gegen die Presse- und Rundfunkfreiheit (Art.  5 Abs.  1 S.  2 GG) darstellt; BVerfGE 103, 44 (59 ff.) = NJW 2001, 1633 (1634 ff.).   7 

§  9:  Ausblick

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eine Gesetzesänderung15 angezeigt?16 Kann und sollte die virtuelle Anwesenheit nicht auch auf die Richter ausgedehnt werden bzw. wo und mit welcher Begründung sind die Grenzen zu ziehen? Diese Fragen, bei deren Beantwortung freilich die ­spezifischen Eigenheiten des Zivil- und Strafprozesses berücksichtigt werden müssen,17 mögen auf den ersten Blick zugegebenermaßen etwas überraschen und provokativ klingen. In der Sache geht es – wie für die Unmittelbarkeit im Rahmen dieser Untersuchung – jedoch um nichts anderes als die Frage, welches Verständnis man einem bestimmten Begriff („Öffentlichkeit“) im Rechtssinne zugrunde legen will. Dieser Ausblick ist freilich nicht erschöpfend. Vielmehr soll er – wie diese Arbeit als Ganzes – das Bewusstsein dafür schärfen, dass eine wissenschaftliche Aus­ einandersetzung mit dem Einfluss von gesellschaftlichen Veränderungen auf das (Zivil-)Verfahrensrecht stets lohnend ist. Es ist und bleibt daher die Aufgabe der Prozessrechtswissenschaft, Antworten auf derartige Fragen und Probleme zu entwickeln.

15  In diese Richtung geht ein Beschluss der Bundesjustizministerkonferenz aus dem Frühjahr 2015. Da wegen §  169 S.  2 GVG das bürgerliche Informationsinteresse an den Tätigkeiten der Justiz mittlerweile nicht mehr ausreichend befriedigt werden könne, sprachen sich die Justizminister der Länder unter anderem dafür aus, dass Urteilsverkündungen an den obersten Bundesgerichten in Zukunft live im Fernsehen übertragen werden dürfen. Der Beschluss der Justizministerkonferenz ist abrufbar unter: http://justizministerium-bw.de/pb/,Lde/Startseite/Ministerium/Beschluesse+ der+Fruehjahrskonferenz+2015 (zuletzt abgerufen am 30. Juni 2016). 16  Siehe hierzu statt vieler Friehe, in: Kontrolle des Gerichts, S.  1 (23 ff.); ferner Hagenkötter, in: Kontrolle des Gerichts, S.  41 (53 ff.). Neben einer Öffnung der mittelbaren Öffentlichkeit (§  169 S.  2 GVG) wird auch eine mögliche Einschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes diskutiert. In diesem Zusammenhang wurde auf der 67. Jahrestagung der Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts und des Bundesgerichtshofs (2015) unter anderem beschlossen, dass in Zivilprozessen ein Ausschluss der Öffentlichkeit im Falle eines übereinstimmenden Antrags beider Parteien möglich sein soll; siehe dazu Poseck, DRiZ 2015, 303. 17  Zu den Besonderheiten des Strafverfahrens hinsichtlich des Öffentlichkeitsgrundsatzes siehe Gierhake, JZ 2013, 1030 (1034 ff.).

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Sachregister Alternative Streitbeilegung  4, 318 f., 320, 330 ff., 357 Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme  82 f., 104, 344 Amtliche Auskünfte  206 ff., 213 Analogie  39, 90, 182, 246 ff., 344, 354 Anscheinsbeweis  236 Anwesenheit – körperliche  100, 153, 168, 174, 176, 179, 181, 209, 229, 232 ff., 241, 261, 268, 270 f., 273 ff., 280, 287, 291, 299, 303 ff., 309, 312 f., 323, 325, 330, 342 ff., 346, 353 ff., 359, 363 f. – virtuelle  268, 271, 273 ff., 310, 312 f., 323, 342 f., 346, 355, 357, 363 ff. Auslegung – Auslegungsmethoden  292 – Auslegungsziel  294 ff. – grammatikalische  292 – historische  293 – materiellrechtsfreundliche  39 – Rangfolge der Auslegungsmethoden  294 ff. – systematische  293  – teleologische  39, 294 Aussagepsychologie – Bedeutung nonverbalen Verhaltens  186, 188 ff., 192, 197, 272 – Glaubhaftigkeit der Aussage  184 f., 188 ff., 196 f., 272 – Glaubwürdigkeit der Aussageperson  76, 99, 156, 163, 184 ff., 192, 194, 196 f., 199 Axiom  13 ff., 24, 350 Bagatellverfahren  149, 205 f., 307, 320 ff., 325 f., 335, 337 Bayerische Prozeßordnung  128 ff., 352 Begriffsjurisprudenz  34 Beifahrer-Rechtsprechung  187 f.

Berufung  95, 105, 144, 164 f., 206, 210, 243, 253 ff., 266, 280 ff., 310 f., 320 f., 344, 355 f. Best Evidence Rule  100 f., 104, 236, 351 Beweisantragsrecht  82 f., 249, 354 Beweisaufnahme – kommissarische  69, 139 ff., 143, 148, 150, 181 ff., 193 ff., 210, 216 f., 222, 246, 266, 279 f., 283, 322, 352, 354 – Wiederholung  155 f., 169, 245 ff., 354 Beweismaßreduzierung  217 f., 285 Beweismittel – mittelbare  71, 86, 91, 100 f., 156, 158 f., 214 f., 217, 237, 249 ff.  – personelle  210, 269, 309, 355 – Rangfolge  72 f., 91, 103, 211 ff., 234 ff., 351, 353 – sachliche  200, 210, 230 f. – unmittelbare  71, 76, 86, 91, 100 f., 156, 160, 214 f., 217, 251 Beweisprognose  148, 194 ff., 202 ff., 206 f., 209 f., 216, 247, 328  Beweisregeln  111, 114, 158, 187, 214 f., 251, 297, 354 Beweiswürdigung – antizipierte  111, 157, 187, 246 – freie richterliche  69, 86, 91, 101, 111, 132 f., 137, 141 ff., 148, 156 ff., 163, 166 f., 173, 175, 179, 195 ff., 199 f., 203 ff., 209, 211, 213 ff., 219, 224 ff., 233 ff., 238 ff., 242, 246 ff., 253, 261, 271 ff., 275 f., 328 ff., 341, 351 ff., 358 – Zeugenbeweis  70, 76, 85, 99, 103, 156, 166, 171, 183 ff., 194, 196 f., 203, 237, 251, 271 ff., 287, 289  Bürgerfreundlichkeit  321, 323, 326, 338, 345 Bürgernähe  265, 321, 323 f., 327, 338 ff., 357, 360

404

Sachregister

Bürgernahe Ziviljustiz – Begriff  338 f. – Grundpfeiler  339 ff.

Individualrechtsschutz  27, 35, 358 Induktion  23 f., 65, 172, 349, 353 Instruktionsverfahren  117 ff.

case management – England  96, 98 ff. – Principles of Transnational Civil Procedure  102 Civil Procedure Rules  96, 99, 351 Code de Procédure Civile  22, 116 f.

Justizgewährungsanspruch  249, 331 f. Justizmodernisierungsgesetze – Erstes Justizmodernisierungsgesetz  283 ff., 304, 307, 312, 324 – Zweites Justizmodernisierungsgesetz  300, 307, 356

Dienstleistungscharakter der Justiz  322 ff., 332, 357 Dispositionsgrundsatz  20, 33, 41 f., 59, 167

Kollegialprinzip  277 f., 307, 328 f., 358 Konzentrationsgrundsatz  52, 91, 240 f., 261, 340, 354

Effektiver Rechtsschutz  330, 332 Eidesstattliche Versicherung  217 f., 236 Europäische Menschenrechtskonvention  18, 74, 93 f., 100, 260 f., 355 Eventualgrundsatz  111, 115, 117, 120

Legitimation durch Verfahren  35 f., 336 Lex-posterior-Grundsatz  274 Liberalismus  89, 116, 138, 351

Faires Verfahren  17 f., 20, 93, 102, 257, 259 f., 355 Formalismus  303, 326, 330, 335 ff., 340, 344 f., 358 Freibeweis  166, 208, 217, 284 ff., 303, 307, 309 f., 312 f., 330, 337, 356, 359 Gedanke des bestmöglichen Beweises  71 ff., 76, 83, 101, 104, 171, 211 ff., 218 f., 236, 353 Gemeiner Prozess  109 ff., 116 f., 119 f., 149, 168, 184, 187, 251, 351 f. Gerechtigkeitswert von Verfahrensnormen  334 ff., 343 f., 358 f. Gerichtsbelastung  115, 125, 139 ff., 198, 317, 337, 358 Gesetzlicher Richter  164, 167 Glaubhaftmachung  217 ff., 236 f., 284, 353 Gleichbehandlungsgrundsatz  35, 336 Güteverhandlung  173, 175, 219 f., 238 f., 353 Hannoversche Prozessordnungen – Allgemeine bürgerliche Proceßordnung  120 ff., 306, 351 f. – Bürgerliche Proceßordnung  123 ff., 130 ff., 134, 149 f., 169, 306, 351 f. Hinweispflicht  32, 250 ff., 311, 354 f.

Materielle Prozessleitung  32, 96 f., 102, 167, 250 f. Maximendenken  24, 30, 32 f., 41 Mündliche Verhandlung – Einheit der mündlichen Verhandlung  69 f., 90, 124, 155 f., 169, 243 ff., 354 – Wiederholung  85, 136 f., 154 f., 169, 243 ff., 248 f., 354 Mündlichkeitsgrundsatz  19, 21, 24, 31, 41 f., 52, 55, 58, 69, 93, 97, 99, 102, 113, 116, 121 ff., 125 ff., 131, 133 ff., 138, 140, 149, 160, 162, 168, 174, 230 ff., 242, 244, 269 f., 304, 329, 343, 351 f., 363 Nationalsozialismus  138, 142 ff., 150, 161, 306, 352 Normderogation  274 Öffentlichkeitsgrundsatz  20 f., 42, 55, 69, 76, 93, 110, 116, 122 f., 329, 363 ff. Optimierungsgebote  6 f., 46, 49 ff., 56 Parteifreiheit  2, 290, 302 Parteiherrschaft  252 f., 285, 290 Parteiöffentlichkeit  122, 176 ff., 229, 231 f., 286, 289, 294, 353 Personalität des Prozesses  242, 261, 342, 354 Präjudizien  331

Sachregister

Principles of Transnational Civil Procedure  67, 101 ff., 350 Prinzipientheorie  6 f., 43 ff., 57, 65, 350 Prozesshandlung  111, 128, 352 Prozessökonomie – als Prozesszweck  324 f., 333 f., 357 f. – als Verfahrensgrundsatz  28, 324 – als Verfahrensziel  29, 324, 360 – Auswirkungen auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz  148 f., 303 f., 306, 309, 311, 315, 328, 343, 356 f., 361 – Grenzen  330 ff., 337, 358 – Verwirklichung im Zivilprozess  198, 206, 267, 269, 279, 285, 289, 294, 297, 300, 305, 307 f., 338, 342 f., 345 f., 357 f. Prozessrecht – dienende Funktion  333, 345 – Verhältnis zum materiellen Recht  333 ff. Recht auf Beweis  249, 329 Rechtliches Gehör  17 f., 20, 52, 55, 176, 221, 223, 255, 257, 335 Rechtsfortbildung  40, 78, 275, 288, 331 Rechtsfrieden  26, 266, 280 Rechtsmittel  87, 94, 163 ff., 254 ff., 266, 278, 280 ff., 284, 288, 307, 344, 356 Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz  147 ff., 183, 328 Rechtsprechungsänderung  304, 306, 357 Rechtsprechungsmonopol  323, 331, 357 Rechtssicherheit  37 f., 115, 121, 144, 266, 280 Rechtsvergleich – England  96 ff. – Österreich  89 ff. – Principles of Transnational Civil Procedure  101 ff. – Strafprozessordnung  68 ff. – Verwaltungsprozessordnung  84 ff. Reichs-Civilprozeßordnung  24, 33, 37, 109, 117, 120, 130 ff., 138 f., 150, 168 f., 209, 222, 228, 244, 261, 275, 306, 327, 333, 352 Revision  70, 84, 105, 144, 164 f., 255 ff., 266, 344, 355 Richterliche Überzeugung  69, 78, 112, 114, 171, 190, 199, 204, 207, 213 f., 251, 254, 354 f.

405

Richtermacht  2, 33, 35, 302, 337, 344 Richterwechsel  70, 85, 90, 127, 136, 154 ff., 164, 169, 243 ff., 354 Sachverständigenbeweis  82 f., 92, 99, 136, 147, 177, 182, 198 f., 210, 218, 225 f., 269, 273, 297 ff., 356, 364 Schriftliche Zeugenaussage  98 f., 149, 177, 203 ff., 211 ff., 234, 277, 329, 343 Sens-Clair-Regel  274 Strengbeweis  68 f., 208, 217, 284 f., 289 ff., 330, 356 Systemkonformität  7, 37, 248, 273 ff., 291 ff., 355 f., 359 Tatsachenfeststellung  163, 177, 184, 330, 341, 358 Teleologische Reduktion  247 Trennungsthese – schwache  43 f., 47 f. – starke  43 ff., 49 ff., 54 Unmittelbarkeit – Begriff  172 f. – formelle  68 ff., 73 f., 76 f., 79, 84 f., 99 f., 103 f., 151 ff., 159 f., 162 f., 168, 171, 178, 181, 184, 192, 212, 227, 231 f., 234, 242, 270 f., 286, 350 ff.  – materielle  70 ff., 82 f., 86 f., 91 f., 94, 100 f., 103 f., 157 ff., 163, 166, 169 ff., 211 ff., 234 ff., 246, 249 f., 258, 261, 270, 298, 351, 353 – persönliche  90, 94, 103 f. – sachliche  90 ff., 229, 234 ff. – zeitliche  87, 90, 93, 103 f., 143 f., 147, 161, 168, 173, 229, 238 ff., 261, 352 ff. Unmittelbarkeitsgrundsatz – Abschwächung  80, 139, 148, 305, 325, 329 f., 341, 356 f., 360 – Ausnahmen und Durchbrechungen  69, 72, 76, 85, 90 ff., 95 f., 124 f., 130, 132 f., 136 f., 139 ff., 143, 146, 150, 154, 159, 166, 180 ff., 207, 209 f., 212 f., 230, 232, 244 f., 256, 271, 277, 279 f., 283, 286 f., 289, 292, 298 ff., 302 ff., 309 ff., 330, 343, 351, 355 ff., 360  – Bedeutungsverlust  79 f., 138 ff., 150, 306, 311, 356 f.

406

Sachregister

– Definition  241, 271, 354 – Disponibilität  69, 87 f., 94 f., 146, 165 ff., 172, 243, 252 f., 256, 259, 270 f., 291 ff., 299, 304, 309, 313, 356 – Gerechtigkeitswert  343 f., 359 – Komponenten  68, 70, 82, 132, 143 f., 151 ff., 168, 229 ff., 240 ff., 261, 312, 325 f., 341 ff., 352 ff., 357 ff. – Konsolidierung  360 f. – Neudefinition  311 ff., 342 f., 357 – Sinn und Zweck  73 f., 153, 162, 184, 192, 227, 233, 242, 253, 353 f. – verfassungsrechtliche Verankerung  21, 93 f., 237 f., 257 ff., 261, 310, 355 – Zukunftsperspektiven  81 ff., 104 f., 311, 313, 338 ff., 345 f., 357 f., 360 f. Untersuchungsgrundsatz  27, 42 f., 53, 68, 78, 84, 86 f., 89 f., 102, 104, 158, 169 ff., 215, 351  Vereinfachungsnovelle  146 f., 240, 327, 329 Verfahrensbeschleunigung  2, 29, 75, 92, 97, 104, 111, 115 f., 137, 143 f., 146 ff., 163, 203 f., 219 ff., 228, 239 f., 265 f., 268, 281, 285, 290, 294, 297, 301 ff., 305 ff., 312, 327 ff., 337, 340 f., 345, 351 f., 354, 356 f., 361  Verfahrensbeteiligte  69, 83, 92, 232, 240 ff., 245, 252, 254, 259, 261, 268, 270 f., 276 f., 287, 308, 312, 317, 338, 342 f., 353 ff., 359, 363 f. Verfahrensdauer  147, 301, 307, 317, 327 f., 338, 340, 351, 358 Verfahrensfehler  87, 94, 164 ff., 260, 292 f.  Verfahrensgrundrechte  20 f., 33, 42, 257 Verfahrensgrundsätze – als dialektische Regelungsmodelle  17, 42 f., 55 – als Säulen des Verfahrens  64 f., 360 – Bestimmung anhand der „Wichtigkeit“  56 ff., 64 f., 237, 257, 308 ff., 313, 350, 353, 357 – Definition  16 f., 55, 57, 64, 257, 339, 349 – Dispositivität  20 ff., 349 – Funktionen  18, 31, 33 ff., 56, 61 ff., 67, 296, 337, 350, 359 f. – Herausbildung  22 ff., 65, 172, 349 f. – Kritik  29 ff., 350

– normativer Charakter  17 ff., 22, 24 f., 40, 43, 64 f., 349 – Stellenwert und Zukunft  33, 296, 359 f.  – Terminologie  11 ff., 15, 29, 65 Verfahrensvereinfachung  115 f., 146 f., 149, 183, 203 f., 206, 285, 290, 294, 297, 302 f., 306 f., 312, 320, 330, 337, 356 f. Verfahrensziele  28 f., 64, 324, 350 Verhandlungsgrundsatz  1 f., 20, 27, 31 ff., 42 f., 53, 60, 158, 160, 170, 251 Versäumnisverfahren  175 f., 241 Videotechnik – audiovisuelle Vernehmung  75 ff., 82, 95 f., 100, 104, 193 ff., 201, 269 ff., 276 f., 279, 283, 291, 302 ff., 308, 312, 322, 325, 329 f. – Videokonferenz  88, 100, 104, 267 ff., 276, 283, 301 f., 307 f., 310, 322, 324, 355 f. Vorbehalt des Möglichen  332 Vorhangsfall  154, 162, 168, 232 f., 353 Waffengleichheit  17 f., 20, 97, 257 Wahrheitsermittlung – Strafprozess  27, 35, 71 f., 74, 78 ff., 83, 104, 160, 351 – Zivilprozess  27, 35, 89 ff., 94, 96, 104, 114, 117, 136, 143, 154, 160, 163, 166, 169 ff., 193, 272 f., 283, 341, 351 Wandel der Normsituation  275 f., 355 Weimarer Republik  141 f., 352 Wesentlicher Verfahrensmangel  94, 256, 355 Woolf-Reforms  96 Zeugenbeweis – historische Entwicklung  113, 121 f., 124 f., 129 f., 132 ff., 136, 139 f., 142 f., 147 f., 269, 279 f., 285  – Rechtsvergleich  72, 75 ff., 91 f., 98 ff., 103 Zivilprozess – gegenwärtige Herausforderungen  300, 316 ff., 321 f., 324 ff., 342, 357 – Konsolidierung  361 – Reform  1 ff., 33, 116 f., 265 ff., 303, 305, 307 ff., 312 f., 315, 319 ff., 323, 325 ff., 332, 334 f., 337 f., 340 ff., 345, 351 f., 355 ff., 359 ff. 

Sachregister

– Zukunft  8, 315 ff., 332 f., 338 ff., 345 f., 363 – Zweck  26 ff., 35, 39, 324 f., 333 f., 336, 350, 357 f.

Zivilprozessreformgesetz  219, 224 ff., 265 ff., 283, 303, 307, 312, 321, 324, 326 ff., 338, 344, 355

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