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German Pages 252 Year 2023
Clara Wörsdörfer
Allan Kaprows Activities
PHOENIX. MAINZER KUNSTWISSENSCHAFTLICHE BIBLIOTHEK
herausgegeben von matthias müller, elisabeth oy-marra und gregor wedekind
band 9
Clara Wörsdörfer
Allan Kaprows Activities Intimität und Sozialität in der Kunst der 1970er-Jahre
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Gutenberg Akademie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
D77
ISBN 978-3-11-099761-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-129172-7 ISSN 2747-9587 Library of Congress ControL number: 2021934300 bibLiografisChe information der deutsChen nationaLbibLiothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Allan Kaprow, Fotografien zur Activity Comfort Zones, 1975, Galeria Vandrès, Madrid, Getty Research Institute, Los Angeles (980063), © J. Paul Getty Trust. Allan Kaprow Estate. Courtesy Hauser & Wirth. Reihenlayout und Satz: Andreas Eberlein, aromaBerlin Druck und Bindung: FINIDR, s.r.o. www.degruyter.com
Inhalt
VII Dank 1 1. Einleitung 1 Intimität praktizieren 5 Die Siebziger 11 Forschungsstand 16 Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit 19 2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity 19 21 26 32 38 44 51 54 59
Postcard back home Rückblende: Künstler werden in New York Kritik und Historisierung des Happenings Das Ende des Spektakels? Kaprow in den späten 1960er-Jahren Out there. Kalifornien als Verheißung Neustart mit Hippies: Kaprow am CalArts The Education of the Un-Artist Rückzug aus der Kunst? Potential der Grauzone: Die Activities
63 3. Once again and again. Form und Format der Activity 63 77 83 88
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities Die Sprache der Anleitung und das Prinzip Partitur Perspektivwechsel: Die Activity als Übung Time Pieces: Ausführen, Durchhalten, Abweichen
101 4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität 101 114 122 128 139
Comfort Zones: Annäherung der Körper und Synchronität der Gedanken Routine: Beziehungen am Telefon Affect: Aufnehmen, Verfremden, Kommunizieren Useful Fictions: Spiegelungen und Beziehungsgeschichten Beziehungsarbeit und Intimität in der Kunst der 1970er-Jahre
145 5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand 145 157 166 172 184 190 197
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags Rollenspiele und Krisenexperimente: Kaprow, Goffman, Garfinkel Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe Team: Lose Fäden und widersprüchliche Erfahrungen Die Activities im Zeichen eines Wandels der Subjektkulturen Zwischen Politisierung des Privaten und Tyrannei der Intimität
203 6. Schluss: The (other) Legacy of Allan Kaprow?
207 Anhang – Partituren ausgewählter Activities der 1970er-Jahre 209 212 214 215 216 218 219 221 222 223 224 225 226 227
Rates of Exchange Time Pieces Comfort Zones Loss Satisfaction Message Units Routine Affect Useful Fictions Basic Thermal Units Maneuvers Team 7 Kinds of Sympathy Moon Sound
229 Literaturverzeichnis 238 Begleittexte in Activity-Broschüren, Archivalien und unpublizierte Quellen 241 Register 243 Abbildungsnachweise
Dank
Auf meinem Weg in die Kunstgeschichte und auf dem langen Trampelpfad hin zu der Doktorarbeit, aus der vorliegendes Buch entstanden ist, war mir Gregor Wedekind ein wichtiger Begleiter und Förderer. Meine Forschungen zu Kaprow hat er mit kritischem Interesse und klugem Rat betreut, zugleich großes Vertrauen in meine Eigenständigkeit gesetzt. Antje Krause-Wahl und Julia Gelshorn danke ich für die Bereitschaft, sich mit ihrer Expertise als Zweitund Drittgutachterinnen in meine Fragestellung zu vertiefen, Matthias Müller für das gute Gespräch im Rahmen meiner Verteidigung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 2. März 2022. Für die vorliegende Forschung waren Archivrecherchen unabdingbar. Für die Unterstützung im Rahmen des Forschungsaufenthalts am Getty Research Institute in Los Angeles danke ich Thomas W. Gaethgens, A. Alexa Sekyra, den hilfsbereiten Mitarbeitern der Research Library und Aliya Kalla für die Anfertigung von Abbildungsmaterial. Tamara Bloomberg vom Allan Kaprow Estate hat sowohl meinen Aufenthalt in Los Angeles als auch die Entstehung der vorliegenden Publikation mit wichtigen Hinweisen unterstützt. Dank gilt auch Emily Fayet von Hauser & Wirth Zürich. Im Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung in Köln (ZADIK) sowie an der Galerie Foksal in Warschau durfte ich unkompliziert das Archivmaterial sichten. Erste Impulse zu Kaprow erhielt ich während meiner Tätigkeit als kuratorische Assistentin bei Matthias Ulrich an der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Ein wohlwollender Austausch mit Coryl Crane Kaprow hat mich am Beginn meiner Forschungen bestärkt. Peter Kirby hat mir in Los Angeles das in seiner Garage verwahrte Videoarchiv bereitwillig geöffnet und mir mit Rosanna Albertini von vergangenen Zeiten und der Freundschaft mit Kaprow erzählt. Gern erinnere ich mich auch an den Besuch bei der Galeristin Inge Baecker in Bad Münstereifel, die mir viel von Kaprows Auftritten in Europa zu berichten wusste.
Ursula Frohne gab mir mehrfach Gelegenheit, mein Projekt in ihrem Münsteraner Kolloquium zu präsentieren, wodurch ich wichtige Anregungen erhielt. Dank gilt auch Philipp Felsch für die Einladung, meine Überlegungen in seinem kulturwissenschaftlichen Kolloquium an der Humboldt-Universität in Berlin zu diskutieren. Während des Dissertationsprojekts war ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angestellt und konnte im anregenden Austausch mit den Kollegen und Studenten meine Gedanken gedeihen lassen. Für fachliche Anregungen und Diskussionen, Lektüre meines Manuskripts und freundschaftlichen Rat danke ich dem Wedekind-Kolloquium sowie namentlich Kathrin Barutzki, Michaela Gugeler, Laura Gvenetadze, Andrea Haarer, Agnes Kern, Sascha Köhl, Christiane Schürkmann, Kerstin Thomas, Johannes Ullmaier sowie dem Team aus Anna Gerlicher, Myriam Hirscher und Yamara Wessling – und insbesondere meinem langjährigen Kollegen Christian Berger. Während der Arbeit an diesem Buch hatte ich das große Glück, stets auf den bedingungslosen Zuspruch meiner Eltern und meiner Schwester zählen zu können. Die letzte Schreibphase war von einer Pandemie und langen Kita-Schließungen geprägt. Ohne Freundschaften, in denen Kunst und Schreiben über Kunst eine Rolle spielen darf, hätte gerade in dieser Zeit nichts geklappt, weshalb ich Anjali Cremer, Judith Leinen, Petra Schweifer, Gianna Zocco, Tanja Graf und Sebastian Wurster, Lisa Zeune und Tomas Kasemets, Markus Walenzyk und Lisa Weber besonders danken möchte – außerdem all den Freundeskindern, die in diesen Jahren auf die Welt gekommen und als wahre Happening-Meister unser Leben bereichert haben. Die vorliegende Publikation wäre nicht entstanden ohne die überaus großzügige Förderung durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, den Forschungsförderpreis der Freunde der Universität Mainz e. V. sowie den
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Dank
Druckkostenzuschuss der Gutenberg-Akademie für den wissenschaftlichen Nachwuchs, von deren interdisziplinärem Austausch ich überdies als Juniormitglied ungemein profitiert habe. Anja Weisenseel und Clara Rainer vom De Gruyter Verlag haben mir mit Professionalität den Weg vom Manuskript zum Buch
gezeigt. Larissa Arlt gilt Dank für das professionelle Erstellen von Abbildungsmaterial. Christoph Wirges hat mit Zuversicht, Bereitschaft zum Mitdenken und Sprezzatura dieses Projekt begleitet. Ihm und unserer gemeinsamen Tochter Philine sei dieses Buch gewidmet.
1. Einleitung
Intimität praktizieren In den 1970er-Jahren treffen sich immer wieder unterschiedliche Menschen in kleinen Gruppen, um die schriftlich verfassten Übungen des amerikanischen Künstlers Allan Kaprow zu realisieren. Über mehrere Stunden widmen sie sich in Duos und ohne Publikum den vom Künstler gestellten Aufgaben. Diese bestehen im Vollzug von Handlungen, welche, für sich genommen, keine besondere Virtuosität erfordern, aber in einer Weise durchgeführt werden sollen, die sie höchst ungewöhnlich und befremdlich erscheinen lässt. 1973 stimmen im Ruhrgebiet, über das Telefon verbunden, zwei Personen Raum- und Körpertemperatur aufeinander ab: Stellt die eine die Heizung ab und den Ventilator an, entledigt sich der andere seiner Kleidung und tunkt die Füße in Eiswasser. 1975 verlangsamen in New York zwei Menschen ihren Handschlag und beobachten die Bewegung, als handele es sich um ein exotisches Ritual. Im Jahr 1975 sitzen in Madrid Personen vor ihren Telefonen und versuchen, ihren Übungspartner genau in dem Moment anzurufen, in dem der Gedanke an ihn am stärksten ist. 1976 gehen die Teilnehmer einer anderen Gruppe vorwärts und rückwärts, hinter- und nebeneinander durch Türen. In Florenz bewältigt zuvor ein Duo Auf- und Abstiege als ungelenke Zweiereinheit, indem einer hinter dem anderen geht, dessen Bewegungen nachahmt und dabei zugleich über einen Spiegel vom Partner beobachtet wird. In vielen dieser Situationen werden Aufnahmegeräte eingeschaltet, Gedanken und Gefühle aufgesprochen. Die vom Künstler schlicht als ‚Activities‘ bezeichneten Arbeiten fordern einen Einsatz, der über Betrachtung weit hinausgeht. Wer sie realisiert, muss nicht nur Handlungen ausführen, sondern sich und sein Gegenüber dabei auch beobachten sowie den eigenen Empfindungen und Gefühlen größte Aufmerksamkeit widmen. Für die Umsetzung der vom Künstler schriftlich formulierten, mehrteiligen Aufgabe muss man sich Zeit nehmen und bereit sein, den eigenen Körper zu spüren, während er bestimmte, klar
abgegrenzte Vorgänge wieder und wieder ausführt. Darüber hinaus kostet es Überwindung, vor anderen seine Gefühle und Eindrücke zu verbalisieren, vielleicht sogar auf einem Tonbandgerät aufzuzeichnen und mit dem Partner noch einmal anzuhören. Psyche und Physis werden gleichermaßen gefordert. Den Puls fühlen, Hände schütteln, durch Türen gehen, telefonieren, sich selbst im Spiegel betrachten: Auf den ersten Blick scheint hier die avantgardistische Forderung nach der Entgrenzung der Kunst ins Leben erfüllt worden zu sein – wenngleich mit einem starken Akzent auf dem Gewöhnlichen und Alltäglichen. Mehr noch als bei den früheren und bekannteren Arbeiten Kaprows, den Happenings der 1960er-Jahre, steht dieser Versuch, die Erfahrung von Kunst mit der Alltagserfahrung kurzzuschließen, allerdings eher im Geiste John Deweys als im Geiste der Dadaisten oder gar Futuristen. In seiner Schrift Art as Experience aus dem Jahr 1934, die dem Künstler bekannt war, hatte Dewey gefordert, zwischen den Kunstwerken und „den alltäglichen Geschehnissen, Betätigungen und Leiden, die bekanntlich die menschliche Erfahrung ausmachen, eine erneute Kontinuität her[zu]stellen.“1 Dem Philosophen des amerikanischen Pragmatismus ging es um eine verbindende Perspektive, in der Kunst nicht als Sonderbereich behandelt wird und mit ästhetischer Erfahrung über die Wahrnehmung autonomer Kunst objekte hinaus auch sinnlich eindrückliche Alltagshandlungen gemeint sind.2 Diese Perspektive machte Kaprow sich in doppelter Weise zu eigen: Einmal, indem er sich bemühte, das alltägliche Erfahrungspotential zu heben und sich gleichsam selbst zum 1 John Dewey, Kunst als Erfahrung, Frankfurt am Main 72014, S. 9. Auf Kaprows Lektüre zumindest von Teilen des Textes von Dewey verweist Jeff Kelley, „Introduction“, in: Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von dems., Berkeley u. a. 2003, S. xi–xxvi, hier S. xvi. 2 Vgl. Ralf Hinz, „John Deweys pragmatistische Ästhetik und ihre Revitalisierung durch Richard Shusterman“, in: Nutzen und Klarheit. Anglo-amerikanische Ästhetik im 20. Jahrhundert, hg. von Thomas Hecken und Axel Spree, Paderborn 2002, S. 62–90, hier S. 74.
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1. Einleitung
‚Erfahrungsconnaisseur‘ auszubilden; zum anderen, indem er seiner objektlosen und handlungsbasierten Kunst eine Form gab, die es den Teilnehmern ermöglichte, selbst eine Erfahrung zu machen, die im Sinne Deweys später als jene Erfahrung benannt und erzählt werden konnte. Von Dewey war mithin auch zu lernen, wie denn überhaupt eine Erfahrung zu machen ist: [Wir machen] eine Erfahrung, wenn das Material, das erfahren worden ist, eine Entwicklung bis hin zur Vollendung durchläuft. Dann, und nur dann, ist es in den Gesamtstrom der Erfahrung eingegliedert und darin gleichzeitig von anderen Erfahrungen abgegrenzt. Eine Arbeit wird zufriedenstellend abgeschlossen; ein Problem findet eine Lösung; ein Spiel wird bis zum Ende durchgespielt; eine Situation ist derart abgerundet, dass ihr Abschluss Vollendung und nicht Abbruch bedeutet. […] Eine solche Erfahrung bedeutet ein Ganzes, sie besitzt ihre besonderen, kennzeichnenden Eigenschaften und eine innere Eigenständigkeit.3 Obwohl Kaprows Arbeiten ohne Zweifel zum Tableau der radikalen Angriffe auf das autonome, in sich geschlossene und vollendete Kunstobjekt zählen, so ist ihnen doch die von Dewey hier formulierte und von sanftem Klassizismus getragene Idee des befriedigenden Abschließens keineswegs fremd. Ein Happening oder eine Activity von Kaprow zu realisieren, das bedeutete ebenfalls, ein Spiel bis zum Ende durchzuspielen. Wer sich dazu entschied, der konnte die Erfahrung machen, wie sein alltägliches Leben ereignishaft unterbrochen wurde und für eine bestimmte Zeitspanne besonders gefüllt und verdichtet erschien, im Sinne Deweys also eine bewusste, sinnhaft vollzogene Erlebenseinheit aus dem Strom der Ereignisse und Empfindungen sich heraushob.4 Die Erfahrungen, die in diesem Zeitraum zu machen waren, zeichneten sich allerdings nicht dadurch aus, von dem vertrauten Leben vollständig verschieden zu sein, 3 Dewey 2014, S. 47. 4 Siehe zur Bindung der Erfahrung an den Sinnvollzug bei Dewey Birgit Recki, „Die Form des Lebens. John Dewey über ästhetische Erfahrung“, in: Ästhetische Reflexion und kommunikative Vernunft, Bad Homburg 1993, S. 132–150.
sondern sie rekurrierten im Gegenteil beständig auf dieses und standen mit ihm in unauflösbarer Kontinuität und reflexiver Wechselbeziehung. Dies gilt in besonderem Maße für die eingangs schlaglichtartig aufgeführten Activities der 1970er-Jahre, die deutlich weniger raumgreifend und materialintensiv waren als die Happenings der Jahre zuvor. Für ihre Umsetzung sah Kaprow ein spezifisches Format vor: Die freiwilligen Teilnehmer trafen sich zunächst zur Vorbesprechung, in der die Anleitung in schriftlicher Form verteilt wurde. Dann erfolgte in einem festgesetzten Zeitraum (meist innerhalb eines Tages) die Realisierung in Zweiergruppen in privaten Räumen oder an selbstgewählten Orten – ohne Publikum. Im Anschluss trafen sich alle zu einer Abschlussbesprechung, die vom Künstler moderiert wurde. Die Activities verlangen also eine Aktivität, die über Teilnahme und das Involvieren des Publikums in Happening- und Performancesituationen deutlich hinausgeht. Sie haben den Charakter von Übungen, die zu absolvieren damit einhergeht, transformierend in den eigenen Lebensvollzug hineinzuwirken, mithin in den eigenen Gefühls- wie Diskursbestand einzugreifen. Die schriftlich verfasste Anleitung führt das Interpretenduo Schritt für Schritt durch die jeweilige Activity. Dabei werden meist bestimmte Elemente mehrfach wiederholt und neu kombiniert, wodurch sich der Schwierigkeitsgrad steigert. Die Activities sind so verfasst, dass sie schon für die Realisierung zu einem gewissen Grad interpretiert werden und die Durchführenden einen eigenen Modus oder eine gemeinsame Auffassung für den Umgang mit der gestellten Aufgabe entwickeln müssen. Die Realisierungsoptionen sind innerhalb eines vom Künstler abgesteckten Rahmens also durchaus vielfältig. Keine Umsetzung gleicht exakt der anderen. Die einzelne Activity ist nicht als festgefügtes Ganzes zu betrachten, sondern als bewegliche Konstellation. Der Vorgang der Realisierung einer dieser Übungen wird gleichwohl sehr deutlich als das Durchlaufen einer Form erlebt – als Einpassen, Mitgehen, in ein kritisches Verhältnis treten zu einer gegebenen Struktur, zu deren Eigenschaften es gehört, konkretisiert und ausgestaltet zu werden. Aber nicht nur das Verhältnis der beiden Interpreten zur Anleitung in ihrer spezifischen Form, sondern auch das Verhältnis der Interpreten zueinander
Intimität praktizieren
ist von Abstimmung, Transfer und Kommunikation bestimmt, denn die thematische Welt der Activities ist die Sphäre des Zwischenmenschlichen. Es geht darum, wie Beziehungen zwischen Menschen entstehen und sich entwickeln, um Praktiken, mit denen Nähe und Vertrautheit hergestellt werden können. Die Activities drehen sich um die Frage, inwiefern ein Selbst sich nur in der Verbundenheit mit anderen begreifen und herausbilden kann – und welche Kompetenzen hierfür eigentlich ausgebildet sein müssen. Nicht nur die Situation, dass hier zwei Personen ohne Publikum über einen längeren Zeitraum bestimmte Aufgaben miteinander lösen, zeichnet sich also durch Intimität aus, sondern diese bildet zugleich den Inhalt der Übungen. Dabei lassen sich zwei Tendenzen erkennen. Erprobt wird zum einen, wie sich normalerweise intuitiv und flüchtig ausgeführte konventionale Handlungen des sozialen Miteinanders anfühlen und spielerisch neu programmieren lassen, wenn man sie isoliert, verfremdet, verlangsamt und unter besonderer Beobachtung miteinander durch- und aufführt. So kann beispielsweise ein Händedruck innerhalb einer Activity zu einem äußerst intimen Moment werden. Zum anderen werden Elemente einer von Intimität gekennzeichneten Beziehung – Nähe, Berührung, Fürsorge, Befriedigung von Bedürfnissen, ungezwungene Kommunikation, Übernahme von Eigenarten des anderen – in einem mehrstufigen Übungsprogramm derart aufbereitet, dass sie als Praktiken erkennbar werden und der Status ihrer Verfügbarkeit für den einzelnen zum Gegenstand der Reflexion wird. Jede der in den 1970er-Jahren entstandenen Activities bearbeitet eine andere Facette dieses Spektrums, hat dabei ihren eigenen Spannungsbogen und auch eine eigene Gestimmtheit. Manche sind komisch, andere absurd, manche wirken poetischer, andere eher streng oder sogar zwanghaft. Gemeinsam ist ihnen die Intensität, mit der Aspekte des sozialen Miteinanders in Zweierkonstellationen verhandelt werden. Das Duo – mitunter explizit als Paar ausbuchstabiert – wird somit zur herausgehobenen Handlungseinheit und hat gleichsam modellhaft auszutesten, wie sich ein Selbst in Beziehung und eine Beziehung zweier Ichs entfalten lässt. Damit ist allerdings das Duo respektive Paar nicht automatisch als Mikro-Gesellschaft zu begreifen, sondern vielmehr
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als die privilegierte Beziehungsform, in der sich eine „neue Kultur der Intimität“5 erproben lässt. Dies ausgesprochen, offenbart sich die Zeitgenossenschaft der Activities Kaprows einmal weniger vor der Folie einer Entgrenzung der Künste oder des Angriffs auf das Kunstobjekt und seine Institutionen.6 Stattdessen, so die These dieses Buches, sind Kaprows Arbeiten der 1970er-Jahre als Beitrag zu einem Praxis- und Diskurskomplex zu verstehen, der für den folgenreichen Übergang in die Post- oder Spätmoderne zentral war. Was die radikalen Zirkel der Gegenkultur in den 1960er-Jahren mit ihren alternativen Lebensformen, offenen Beziehungsmodellen und ihrem individualästhetischen Begehren angestoßen hatten, wurde im Verlauf der 1970er-Jahre in Form einer Intimitätskultur gleichermaßen weiterentwickelt, eingehegt wie gesamtgesellschaftlich wirksam. Persönliche Beziehungen wurden nun zunehmend als „Medien expressiver Subjektivität“7 begriffen. Zweier-Partnerschaften wie Freundschaften wurden ebenso erstrebenswert wie sie anspruchsvoll zu pflegen und zu formen waren – nämlich als reziproke Gemeinschaften zweier Individuen, die nach Entfaltung ihrer Potentiale strebten. Intimität erschien in dieser Matrix als notwendige Qualität einer Beziehung, um sein Selbst verwirklichen zu können. Kommunikations-, Emotions- und Experimentierfähigkeit wurden gefragte Eigenschaften, Gefahr war hingegen zu wittern, wenn die Beziehung allzu sehr von gegenseitiger Abhängigkeit bestimmt war. Zentrales Anliegen des vorliegenden Buchs ist es, Kaprows Activities als Beitrag zu diesem epochalen Wandel der Subjektkulturen in den 1970er-Jahren besser verstehen zu können – und dabei im Umkehrschluss eine Erweiterung unserer Perspektive auf die Kultur und Kunst dieser Zeit zu gewinnen. Als ‚Beitrag‘ sind die Activities in verschiedener Hinsicht zu verstehen. Zunächst einmal lässt Kaprows Selbstbewusstsein und künstlerisches Selbstverständnis den Rückschluss zu, dass er selbst den Anspruch hatte, 5 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt, Weilerswist 2006, S. 527. 6 Zur gängigen Annahme, das Signum der „Gegenwartskunst“ (sprich: der Kunst ab der Zeit um 1960) sei eine Entgrenzung vgl. unter anderem Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, S. 20 & 25. 7 Reckwitz 2006, S. 527.
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1. Einleitung
mit seinen Arbeiten auf der Höhe der Zeit zu sein und sich die Abkehr von der Malerei für ihn vor allem auch als Folge einer Identifikation neuer Themengebiete ergab. 1986 äußerte er sich dazu rückblickend: Ich schaue zurück auf Picasso, Matisse, Mon drian, und es ist, wie auf Pompei zurückschauen. Die sind wunderbar, ich glaube, ihre Beiträge zu verstehen, aber wie kann irgendwer heutzutage auf diese Art arbeiten wollen oder können? […] Es scheint mir eine solch verbrauchte Tradition zu sein, so ohne Übertragungsmöglichkeit auf das heutige Leben oder Gedankengut.8 Form und Inhalt gehörten für Kaprow unbedingt zusammen. Mehr noch, es war eine neue Form zu finden, die stark genug war, um das „heutige Leben oder Gedankengut“ nicht bloß zu illustrieren oder abzubilden, sondern es gleichsam selbst kritisch-reflexiv mit hervorzubringen. Als Hochschullehrer und öffentliche Figur gab Kaprow stets zu erkennen, dass er an aktuellen soziologischen und gesellschaftspolitischen Ansätzen interessiert war, vor allen Dingen aber, dass er ein aufmerksamer und neugieriger Beobachter seiner eigenen sozialen Sphäre war. Indem er seit seinen ersten Happenings immer konsequenter auf Publikum verzichtete und stattdessen Formen fand, mit denen Kunstbetrachter nicht bloß als Teilnehmer aus der Reserve gelockt, sondern tatsächlich zu handelnden und übenden Interpreten emanzipiert wurden, setzte er folgerichtig die unvorhersehbare und unwiederholbare soziale Interaktion ins Zentrum seiner Kunst. Mit den Activities ging er in dieser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter: An die Stelle der Gruppe trat das Duo, die Requisiten wurden auf ein Minimum konzentriert, ebenso die Handlungen jedem Anschein von Aktion oder Ereignishaftigkeit beraubt. Trotz aller Unterschiede im Detail zeichnen sich die Activities der 1970er-Jahre durch eine Ästhetik der Intensität und Intimität aus, mit der vermeintlich Alltägliches und vertraute Banalitäten regelrecht unter Spannung gesetzt werden. 8 Allan Kaprow, Interview (geführt von Dieter Daniels), 29.6.1986, übers. von Johannes Stahl, in: Übrigens sterben immer die anderen. Marcel Duchamp und die Avantgarde seit 1950, hg. von Alfred M. Fischer und Dieter Daniels, Ausst.-Kat. Köln, Museum Ludwig, 1988, S. 195–211, hier S. 208.
Intimität ist in diesen Übungen dem Verhältnis der beiden Akteure nicht schon als Eigenschaft mitgegeben, sondern muss von denselben als fragile Sphäre aufgespannt und sorgsam modelliert werden. Praktiken der Intimität werden zum Reflexionsgegenstand und Übungsprogramm, damit aber auch als Problem aufgeworfen. Dies wurde durchaus auch schon von den Teilnehmern in den 1970er-Jahren als zeitgenössisch relevantes Thema erkannt. Die Activities boten geradezu programmatisch an, mit eigentlich kunstfernen Ansätzen und Methoden in Verbindung gebracht zu werden, die sich ebenfalls mit dem Wert und den Fallstricken einer Intimisierung menschlicher Beziehungen auseinandersetzten. Weder Kaprow noch die Teilnehmer haben dies allerdings explizit begrifflich so gefasst. Die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Übungen, der Umgang mit dem spezifischen Format und den geforderten Feedbackrunden zeugen vielmehr von Suchbewegungen, Deutungsrangeleien und auch Unsicherheit hinsichtlich der Frage, was da eigentlich zu bearbeiten war und auf was hin die Subjekte hier trainieren sollten. Wer war man denn überhaupt, wenn man eine dieser Übungen durchführte – der Performer einer sozialen Rolle im Licht der Öffentlichkeit oder ein Selbst, das sich in aller Abgeschiedenheit untersucht und vor dem Partner offenbart? Wie war schließlich das latente Konfliktpotential dieser Übungen auszufüllen – sollte man damit endlich die Asymmetrie zweigeschlechtlicher Beziehungen herausstellen oder vielmehr modellhaft demonstrieren, wie Gesellschaft funktionieren kann, wenn sie sich aus vielen bilateralen und gleichberechtigten Aushandlungsprozessen zusammensetzt? Mit diesen Fragen ist angedeutet, warum es spannend ist, Kaprows Activities aus heutiger Perspektive als Teil eines bestimmten Diskurses zu beschreiben: Gerade weil sie in Prozesse der Begriffsfindung und Umwertung, welche die Gestaltung und den Wert von Intimität in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Frage nach einer Entwicklung und Entfaltung des Selbst betrafen, produktiv involviert, aber eben auch heillos verwickelt waren. Die Multiplikation der Akteure, die das partizipative Format mit sich brachte, begünstigte zudem schon während der ersten Realisierungen der Activities in den 1970er-Jahren eine Verzweigung ihres Deutungs-, aber auch eben auch Funktionspotentials.
Die Siebziger
Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, die hier angedeuteten Spannungen nicht zu glätten und das Verzweigungspotential als solches fruchtbar zu machen. Die Activities sollen so in historischer Perspektive als Zeugnisse jener Zeit um 1970 verstanden werden, in der es zu einem bis heute wirksamen „Wandel der Subjektkultur“ kam, wie ihn der Soziologe Andreas Reckwitz beschrieben hat – vom Subjekt der organisierten Moderne zum Subjekt der Postoder Spätmoderne.9 Dem Intimitätsdiskurs kommt dabei als Untereinheit dieses Wandels besondere Bedeutung zu. Der besagte ‚Beitrag‘ der Activities erschöpft sich also nicht im Anspruch des Künstlers auf Zeitgenossenschaft oder dem Bedienen damals aktueller Debatten – und er ist auch nicht ausschließlich in diesem Sinne zu rekonstruieren. Vielmehr werden seine Konturen erst heute erkennbar, weil er in einem Moment des Übergangs durchaus widersprüchliche Sicht- und Denkweisen präsentierte wie hervorbrachte. Insofern Diskurse „das Sagbare, Denkbare und Machbare [regeln]“ und Wirklichkeit organisieren,10 bearbeiten die Activities beziehungsweise ihre handelnden Interpreten den Aspekt der Qualität und Gestaltung von Beziehungen zu einem Zeitpunkt, in dem eben das dazu „Sagbare, Denkbare und Machbare“ nicht mehr selbstverständlich und im Begriff war, neu geregelt zu werden. So wie ein Diskurs nicht abbildet, sondern seinerseits realitätsstiftend ist, bilden auch die Activities nicht einen Diskurs ab, sondern sind in dessen Um- und Neuformatierung eingebunden. Der eingangs erwähnte Zugriff auf das Alltägliche und Vertraute vollzieht sich in einem Moment, in dem bestimmte Elemente dieses Felds eben nicht mehr unhinterfragt als gegebene Wirklichkeit hingenommen, sondern feingliedriger Untersuchung 9 Siehe Reckwitz 2006. Zur genaueren Einordnung der Beschreibung von Reckwitz und inwiefern sich diese insbesondere auf die Mittelklasse der amerikanischen Gesellschaft bezieht, hier also keineswegs universalistisch zu verstehen ist, siehe Kap. „Die Actitivites im Zeichen eines Wandels der Subjektkultur“. Zu den zeitgeschichtlichen Perspektiven auf Konzepte vom Selbst und Subjektivierungspraktiken, wie sie in jüngerer Zeit zunehmend an Kontur gewinnen, siehe auch Ulrich Bröckling, „Regime des Selbst. Ein Forschungsprogramm“, in: Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, hg. von Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz, Frankfurt am Main und New York 2007, S. 119–139. 10 Vgl. Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main 2009, S. 21.
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und Kritik unterzogen wurden. Auf die Erfahrung, dass das gewöhnliche Leben fragwürdig und seltsam wird, je genauer man es sich anschaut und bewusst praktiziert, kam Kaprow selbst rückblickend zu sprechen und beschrieb sie sogar als entscheidende Erkenntnis, die den Weg hin zu den Activities als einem neuen „Kunst/Leben-Genre“11 gebahnt hatte. Dieses sollte sich nämlich, so der Künstler, gerade dadurch auszeichnen, dass es „die künstlichen Aspekte alltäglichen Lebens und die lebenshaften Qualitäten von Kunst gleichermaßen reflektiert.“12 Wie sehr die Praxis der genauen Beobachtung, Ver- und Entfremdung beziehungsweise Neuaufführung alltäglicher Handlungspartikel selbst Teil eines größeren Diskurswandels war, der die Wahrnehmung des Zusammenspiels von Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Privatheit und Öffentlichkeit betraf, konnte Kaprow selbst allerdings noch nicht umfänglich überschauen, geschweige denn gezielt adressieren. Mehr noch, bei genauerer Betrachtung wird offenbar, inwiefern in seinen Übungen Spuren der in Ablösung begriffenen sowie einer gerade erst sich neu ausbildenden kulturellen Modellierung von Subjektivität enthalten sind.
Die Siebziger Am Beginn der Beschäftigung mit den Activities stand ein Gefühl des Befremdens. Der Blick auf eine Fotografie in der Broschüre zur Activity Affect (Abb. 1) löste Irritation und den Anflug von Scham aus: Was, bitte, machen die beiden da mit einem Aufnahmegerät nackt unter der Dusche? Der Anleitungstext dazu verstärkte noch den ersten Eindruck, dass damals, in den 1970er-Jahren, alles sehr kompliziert gewesen sein muss – denn offenbar hatte man sich die einfachsten zwischenmenschlichen Regungen zum Problem gemacht und bearbeitete ihre Implikationen mit größter Ernsthaftigkeit. Sollte man eher Mitleid oder Respekt empfinden angesichts solcher Versuche, sich bloß nichts zu einfach zu machen und den Weg zu einer intensiven Erfahrung mit umständlichen 11 Allan Kaprow, „Performing Life“ [1979], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 195–198, hier S. 195. 12 Ebd. Im Original: „[…] reflecting equally the artificial aspects of everyday life and the lifelike qualities of created art.“
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1. Einleitung
Verbalisierungs- und Reflexionsaufgaben regelrecht zu verstellen? Offenbar, so ein erster Befund, bestand hier zu dem „Interesse an Unmittelbarkeit, Reiz, Stimulus, medialer Aggression sowie der Faszination für ungeschützt agierende Persönlichkeiten“13, das für die Künste und Populärkultur der 1960er-Jahre so charakteristisch war, ein denkbar großer Kontrast. War Kaprow als rebellischer Happeningkünstler im New York der 1960er-Jahre denn nicht selbst auf der Seite jener radikalen Direktheit zu verorten? Wieso kommt es dann zu diesen eigenartig reservierten und komplizierten Arbeiten der 1970er-Jahre? Aber nicht bloß im Vergleich zu einem bestimmten Bild der 1960er-Jahre-Kultur stellte sich das Gefühl eines
Bruchs ein, auch die Beziehung zur Gegenwart der Autorin, also dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, war zunächst von Distanz geprägt. Das etwas verquere und fast strenge, dem ersten Anschein nach überdem freudlose Befassen mit momentanem Gefühls- und Stimmungserleben sowie die übungshaft formulierte Aufforderung zur Selbstbeobachtung und Kommunikation wirkten wie die Zeugnisse einer längst überwundenen, wenig vorbildhaften Phase, in der authentisches Erleben gleichsam nur in Anführungszeichen als solches gelten durfte. Inwiefern diese Annahmen relativiert werden müssen, dem geht die vorliegende Untersuchung nach. Das anfänglich verspürte Befremden wird dabei, dies sei schon vorweggenommen, nicht vollständig ausgeräumt – der Eindruck einer Distanz zu unserer heutigen Gegenwart verändert sich bei genauerer Betrachtung hingegen merklich. Dies hat auch mit einer Neubewertung der 1970er-Jahre insgesamt zu tun, die sich in den vergangenen Jahren in den Geschichts- und Kulturwissenschaften vollzogen hat. Umberto Eco empfahl jungen Wissenschaftlern einst, sie sollten über Themen der Vergangenheit so schreiben, als wären sie zeitgenössisch, über Themen der Gegenwart hingegen so, als seien diese bereits historisch.14 Wer heute zu den 1970er-Jahren arbeitet, wird allerdings mit dem Problem konfrontiert, dass diese gleichermaßen historisch wie zeitgenössisch sind. Es ist einerseits zu bemerken, dass sich neben den noch lebenden Zeitzeugen vermehrt Personen mit ihnen beschäftigen, die nach den 1970er-Jahren geboren wurden und sich den Objekten und Erscheinungen dieser Zeit mit der distanzierten Neugier des Historikers nähern. Andererseits wird immer wieder die Aktualität der 1970er-Jahre herausgestellt. Zugespitzt könnte man sogar davon sprechen, dass unsere gegenwärtige Arbeit am Erbe dieser Zeit unmittelbar die drängenden und gesellschaftlich durchaus breit diskutierten Fragen unserer Zukunft betrifft. Die 1970er-Jahre sind also einerseits schon abgesunken ins Reich der Historie, weshalb sich manche ihrer Phänomene nicht mehr von selbst erklären, sondern in historischer Perspektive erst wieder rekonstruiert werden – was natürlich niemals ohne Verkürzung,
13 Diedrich Diedrichsen, Körpertreffer. Zur Ästhetik der nachpopulären Künste, Berlin 2017, S. 61.
14 Vgl. Umberto Eco, Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt, Wien 132010, S. 27.
1 Allan Kaprow, Affect, 1974, Fotografie zur Partitur der Activity, publiziert in gleichnamiger Broschüre, Fotografie: Bee Ottinger.
Die Siebziger
Verzerrung, Interpretation geschehen kann. Bei der Beschäftigung mit ihnen wird man aber nicht selten von der Einsicht überrascht, wir hätten womöglich eine weit ausholende Schleife gedreht, um jetzt wieder auf die ungelösten Probleme der Siebziger zu treffen (Grenzen des Wachstums, Umweltzerstörung, globale Krisen, Partikularisierung bzw. Geltungskrise des Allgemeinen, Diskussion über „Politik der Lebensformen“15 und Geschlechtergerechtigkeit) und mit ihnen im Gepäck vielleicht doch den Schritt hinüber in eine Nach-, nicht Postmoderne zu setzen.16 Bis vor wenigen Jahren standen fast ausschließlich die 1960er-Jahre als Zeit epochaler politischer, gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen im Fokus des öffentlichen Interesses. Diskutiert wurde und wird im Hinblick auf die Geschichtsschreibung dieser Zeit immer wieder, wie deren Erbe zu bewerten und wie deren Konturen festzuschreiben sind. Das gängige Narrativ hob das Jahr 1968 mit der Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy als Wendepunkt hervor, an dem die hoffnungsvollen und von Aufbruchsstimmung getragenen Sechziger endeten, die Konflikte überhandnahmen und sich so Neoliberalismus und Konservativismus neuen Raum schaffen konnten.17 Oftmals ist diese Perspektive mit einer Überbetonung des Scheiterns aller politischen Hoffnungen, vielleicht sogar dem Ausverkauf aller Ideale verbunden. Geprägt wurde diese Vorstellung nicht zuletzt, weil Zeitzeugen selbst davon berichteten, 1968 oder 1969 als Wende empfunden zu haben. So findet sich bei der Schriftstellerin Joan Didion die Aussage, in Los Angeles wäre das Ende der Sechziger mit den Morden der Manson-Bande 1969 abrupt besiegelt gewesen:
15 Siehe hierzu etwa Rahel Jaeggi, „Experimenteller Pluralismus. Lebensformen als Experimente der Problemlösung“, in: polar, H. 18: Selbst gemacht. Politik der Lebensformen, 2015, S. 9–22. 16 Die vorsichtige These einer nun doch zu ihrem Ende kommenden Moderne wagt Philipp Sarasin in Auseinandersetzung mit den Siebzigern als einem „Jahrzehnt der Verunsicherung“, als dessen für uns Heutige „korrosiv wirkendes Erbe“ er „die Kombination von ‚Identität‘, ‚freier Konsumwahl‘ und der Technologie des Internets“ bezeichnet. Vgl. Philipp Sarasin, 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, Berlin 2021, S. 422. 17 Vgl. Simon Hall, „Protest Movements in the 1970s: The Long 1960s“, in: Journal of Contemporary History, Bd. 43, Nr. 4, 2008, S. 655–672, hier S. 655.
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I imagined that my own life was simple and sweet, and sometimes it was, but there were odd things going around in town. There were rumors. There were stories. Everything was unmentionable but nothing was unimaginable. This mystical flirtation with the idea of ‚sin‘ – this sense that it was possible to go ‚too far‘, and that many people were doing it – was very much with us in Los Angeles in 1968 and 1969. […] Many people I know in Los Angeles believe that the Sixties ended abruptly on August 9, 1969, ended at the exact moment when word of the murders on Cielo Drive traveled like brushfire through the community, and in a sense this is true. The tension broke that day. The paranoia was fulfilled.18 Eine andere Rahmung formuliert Arthur Marwick (als Historiker), indem er „die Sechziger“ von 1958 bis 1974, dem Jahr der Wirtschaftskrise, andauern lässt.19 Er wendet sich gegen die Erzählung von einem abrupten Ende der 1960er-Jahre und betont stattdessen, dass zumindest die kulturelle Revolution dieser Zeit die Werte und das soziale Verhalten für das gesamte 20. Jahrhundert nachhaltig veränderte.20 Solcherart eingemeindet, erscheinen wiederum „die Siebziger“ als Interimsphase ohne eigene Charakteristik.21 Gegen dieses Bild von den Siebzigern als einer „forgettable decade“22 schreibt Bruce J. Schulman mit seinem Buch The Seventies aus dem Jahr 2001 an, wobei er ausschließlich die Kultur der Vereinigten Staaten untersucht. Er hebt hervor, dass gerade in den „stürmischen, unsicheren Siebzigern“23 die Gegenkultur sprießte, sich neue Lebensformen dauerhaft 18 Joan Didion, „The White Album“ [1968–1978], in: Dies., The White Album. Essays, New York 2009, S. 11–48, hier S. 42 und 47. 19 Siehe Arthur Marwick, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958–c.1974, Oxford und New York 1998. 20 Vgl. ebd., S. 806. Ähnlich argumentiert auch Simon Hall, wenn er die Protestbewegungen der 1970er-Jahre den „langen Sechzigern“ zuordnet. Siehe Hall 2008. 21 Siehe hierzu auch beispielhaft die Aussage von Christopher Booker: „Of all the decades of the twentieth century it would be hard to pick out one with less distinctive, recognizable character.“ Ders., The Seventies, New York 1980, S. 3. 22 Bruce J. Schulman, The seventies. The great shift in American culture, society, and politics, New York 2001, S. xi. 23 Ebd., S. 4.
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installierten und die kulturelle wie wirtschaftliche Transformation in der Breite stattfand, die dann für die kommenden Jahrzehnte entscheidend war, aber eben auch starken Gegenwind erfuhr. Nicht zuletzt hatte daran der Feminismus großen Anteil, der sich in Form der Frauenbewegung beziehungsweise des Second Wave Feminism erst in den 1970er-Jahren theoretisch, politisch und lebenspraktisch so formierte, dass er nicht mehr als Randphänomen abzutun war. Das Erbe der Siebziger, so Schulman, sei immer noch mächtig: „Die langen, geschmacklosen, deprimierenden Siebziger, erfanden Amerika neu.“24 In den vergangenen Jahren haben autobiographische Texte von Zeitzeugen ebenso wie kulturgeschichtliche Untersuchungen, die sich explizit den Siebzigern widmen, stark zugenommen. So hat auch diese „Zeit unzähliger kleiner Peripetien“25 im Rückblick ein Gesicht mit durchaus charakteristischen Zügen erhalten. Die Siebziger, das waren die Jahre, in denen auf der Ebene der alltäglichen Lebensführung und der Gestaltung von Beziehungen die Vorstöße und Utopien der 1960er-Jahre ernsthaft geprüft und Modelle für ihre lebenspraktische Umsetzung erprobt wurden. Die Auseinandersetzung mit den großen Theorien und Allgemeinbegriffen hatte den „Erfahrungshunger“ geschürt und zugleich ein „fortlaufende[s] Antizipieren einer vollkommenen Schematisierung des Lebens“ provoziert, vor der es in unruhigen Suchbewegungen auszubrechen galt.26 Die Kultur der Siebziger kannte eine seltsame Lust an der „heillosen Überforderung“27 sowie den Furor der Selbstverpflichtung auf Kommunikation und Bewusstsein vom eigenen Tun. Therapeutische Praktiken und Humanistische Psychologie erlebten einen beispiellosen Boom.28 Die Methoden der sich ständig 24 Ebd., S. 257. 25 Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015, S. 97. 26 Vgl. Michael Rutschky, Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre, Köln 1980, S. 97. 27 Ulrich Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014, S. 25. 28 Siehe hierzu Maik Tändler, Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren, Göttingen 2016 (Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen, 30); Eva S. Moskowitz, In Therapy we Trust. America’s Obsession with Self-Fulfillment, Baltimore 2001; Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt am Main 52018. Vermehrte Anläufe
weiter verzweigenden und immer populärer werdenden Psychodisziplinen zielten auf Schärfung des Bewusstseins für das eigene Innenleben (awareness), Kommunikationsfähigkeit und Entfaltung des Selbst im Sinne eines inneren Potentials, das es zu erkennen und zu entwickeln gilt.29 Im Umkehrschluss wurde die intime zwischenmenschliche Beziehung zunehmend als Medium der Selbstexpression und Experimentierfeld einer authentisch-kreativen Lebensform gedeutet, wobei der zunehmende Anspruch auf Gleichberechtigung dieses Unterfangen vor besondere Herausforderungen stellte. Während die Ehe als Institution zunehmend in Frage gestellt wurde, hielt der Begriff ‚Beziehung‘ (relationship) Einzug und meinte ein Verhältnis, dessen Dauer nicht mehr vorrangig an ökonomische oder gesellschaftliche Bedingungen, sondern vielmehr an eine Idee des Gelingens um seiner selbst willen geknüpft war.30 Intimität als eine Sphäre, in der es möglich ist, sich einem anderen gegenüber unverstellt zu öffnen oder zu offenbaren und einander emotional wie körperlich nah zu sein, sich aber zugleich selbst entfalten zu können, erschien einer Kulturgeschichtsschreibung des Psychologischen und einer Befragung der Breitenwirkung psychoanalytischer Topoi und therapeutischer Praktiken im Zuge ihrer starken Popularisierung ab der Jahrhundertwende sind in den 1990er-Jahren zu verzeichnen. Einschlägig etwa: Ellen Herman, The Romance of American Psychology. Political Culture in the Age of Experts, Berkeley, Los Angeles und London 1995; Nathan Hale, The Rise and Crisis of Psychoanalysis in the United States: Freud and the Americans 1917–1985, New York 1995. Siehe außerdem auch zu den methodischen Implikationen Nancy Schnog, „On Inventing the Psychological“, in: Inventing the Psychological. Toward a Cultural History of Emotional Life in America, hg. von ders. und Joel Pfister, New Haven und London 1997, S. 3–16. Ferner Eric Caplan, Mind Games. American Culture and the Birth of Psychotherapy, Berkeley 1998. 29 Der Begriff Psychodisziplinen wird unter Rückgriff auf Nikolas Rose verwendet, der von ‚psy disciplines‘ spricht, um in seinem kulturgeschichtlichen Ansatz wissenschaftliche wie populärwissenschaftliche Ausprägungen gleichermaßen ansprechen und ihre Auswirkungen würdigen zu können. Vgl. Ders., Inventing our Selves. Psychology, Power, and Personhood, Cambridge 1996, S. 10. Ähnlich argumentiert auch Peter L. Berger dafür, die populären Abzweigungen und Gebrauchsweisen der Psychoanalyse, mithin die Psychoanalyse als kulturelles und soziales Phänomen mit in den Blick zu nehmen, nicht nur deren streng fachwissenschaftliche Entwicklung. Siehe Peter L. Berger, „Towards a Sociological Understanding of Psychoanalysis“, in: Social Research, 32, 1996, S. 26–41. 30 Vgl. Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1993, S. 107.
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als neue Norm einer in diesem Sinne erfüllten Beziehung.31 Dies bedeutete, dass das Fehlen oder die einseitige Ablehnung von Intimität, mithin also der sensiblen Aushandlung der Bedürfnisse beider Partner, als problematischer Mangel empfunden wurde und Anlass für eine Vielzahl therapeutischer, beratender und trainierender Interventionen bot. Auch wenn der Begriff ‚Intimität‘ zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorrangig verhüllend für ‚Sexualität‘ gebraucht wurde, präsentierte die große Menge der Ratgeberliteratur dabei Techniken und Tricks für ein befriedigendes Sexualleben als selbstverständlichen Bestandteil von Beziehungsarbeit – je intimer die Partnerschaft, desto besser der Sex, lautete vielfach das Versprechen.32 Auf der Seite der Psychodiszi plinen verschob sich in den 1970er-Jahren der Blick von der Behandlung des einzelnen Individuums mit einem Schwerpunkt auf seiner Autonomie hin zu einer Befragung seiner Beziehungen.33 Davon 31 Vgl. David R. Shumway, Modern Love. Romance, Intimacy, and the Marriage Crisis, New York und London 2003, S. 134. Francine Klagsbrun spricht mit Blick auf die 1970er-Jahre davon, „Intimität“ sei – neben „Kommunikation“ und „Beziehung“ – einer der meistgebrauchten Begriffe gewesen. Allerdings seien in der damaligen Vorstellung von Intimität die Aspekte der Verbindlichkeit, Hingabe und des Opfers eher zurückgedrängt gewesen, weil die Überzeugung im Vordergrund stand, Intimität sei vor allem der Nährboden für Selbsterforschung und Selbsterfüllung. Vgl. Dies., Married People. Staying together in the Age of Divorce, New York u. a. 1985, S. 21f. 32 Vgl. Shumway 2003, S. 148. Als ein Beispiel eines solchen Ratgebers, der auf Intimität beim Geschlechtsverkehr fokussiert, sei William H. Masters und Virginia E. Johnson, The Pleasure Bond. A new Look at Sexuality and Commitment, Toronto, New York und London 1974, genannt. Die Autoren empfehlen Partnern, gleichermaßen die Verantwortung für ihre Sexualität zu übernehmen. Diese bedeute einerseits, die eigenen Bedürfnisse auszusprechen und Triebe körperlich auszudrücken, sich aber andererseits auf Kommunikation und Kooperation mit dem Partner einzustellen, damit beider Bedürfnisse befriedigt werden. Vgl. ebd., S. 15. Ein ganzes Kapitel wird der Frage gewidmet, wie Berührung Intimität stiften kann. Es endet mit der Aussicht darauf, dass jüngere Paare heute die Chance hätten, eine „neue Philosophie der Berührung“ zu leben, also offener, unbefangener und sensibler mit dem kommunikativen, verbindenden und sinnlichen Potential der Berührung umzugehen als die Generation ihrer Eltern. Vgl. ebd., S. 254. 33 Siehe hierzu die Aussage von Maggie Scarf, die Ehe oder Beziehung selbst sei inzwischen der Patient – nicht mehr den einzelnen Individuen komme in einem paar- oder familientherapeutischen Prozess eine Behandlung zu, sondern dem „interpersonalen System“, das beide gemeinsam bildeten. Vgl. Dies., Intimate Partners. Patterns in Love and Marriage, London 1987, S. 108f.
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legen gesprächszentrierte Formate wie die Paar- und Familientherapie sowie die kleingruppenbezogenen psychologischen Praktiken Zeugnis ab, die sich zu dieser Zeit etablierten und in denen etwa Feedbacktechniken erlernt wurden.34 Die therapeutische Konstellation war nicht mehr primär die eines Patienten auf der Couch des Analytikers, sondern stellte sich immer häufiger als Gesprächssituation dar, in der von Anfang an mehrere Perspektiven zum Tragen kamen und austariert werden mussten. Verschiedene Übungen, die gleichermaßen in Ratgeberbüchern wie Therapiesitzungen eingesetzt werden konnten, zielten vor allem darauf, im Bereich der emotionalen Bedürfnisse sprech- und verhandlungsfähig zu werden. Die Soziologin Eva Illouz beschreibt den Ursprung und die ambivalenten Effekte dieses Projekts, das ihrer Ansicht nach schließlich einem entfesselten Kapitalismus in die Hände spielte, wie folgt: Oberflächlich betrachtet ist die therapeutische Kultur eine Reaktion auf eine abstumpfende technisch-bürokratische Entzauberung. Mit ihrer Betonung der Einzigartigkeit des Individuums, mit ihrem nachdrücklichen Akzent auf der Lust und der Selbstbeobachtung ist die therapeutische Kultur auf den ersten Blick eine kulturelle Großanstrengung, um Sinn und Gefühl in einer Welt ansonsten öder und technischer Bedeutungen zurückzugewinnen. Der Prozess jedoch, den ich hier offengelegt habe, ist ein ganz anderer: Im selben Moment, in dem sie ein reichhaltiges und ausgefeiltes Vokabular der Innerlichkeit und der Gefühle verfügbar gemacht hat, hat die Therapie eine Standardisierung und Rationalisierung des Gefühlslebens eingeläutet.35 34 Siehe hierzu unter anderem Maik Tändler, „Therapeutische Vergemeinschaftung. Demokratisierung, Emanzipation und Emotionalisierung in der ‚Gruppe‘, 1963–1976“, in: Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, hg. von dems. und Uffa Jensen, Göttingen 2012, S. 141–167 sowie Alan S. Gurman und Peter Fraenkel, „The History of Couple Therapy. A Millenial Review“, in: Family Process, Bd. 41, 2002, S. 199–260. Zum gruppendynamischen Feedback-Konzept siehe Ulrich Bröckling, „Über Feedback. Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie“, in: Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, hg. von Michael Hagner und Erich Hörl, Frankfurt am Main 2008, S. 326–347. 35 Illouz 2018, 243f.
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1. Einleitung
Schon von Zeitgenossen wurde die therapeutische Kultur der 1970er-Jahre mit ihrer populären Aneignung von Psychologie und Psychotherapie nicht nur positiv beurteilt, wobei im Unterschied zu Illouz damals ein Zuviel an Innerlichkeit und Intimität als Folge beklagt wurde. Im Modus der Kulturkritik riefen Richard Sennett, Philip Rieff und Christopher Lasch mit unterschiedlicher politischer Grundfärbung aus, die therapeutische Kultur bedeute einen Verlust der öffentlichen Sphäre und befördere eine Gesellschaft, die nunmehr aus narzisstischen, um sich selbst kreisenden Persönlichkeiten bestehe. Sennetts 1974 erschienene Studie The Fall of Public Man, die sich vor allem mit der öffentlichen Sphäre in den Großstädten des 19. Jahrhunderts befasste, sprach für die Gegenwart von einer „Tyrannei der Intimität“, die mit der Psychologisierung der sozialen Beziehungen einhergehe, und sah die „Besessenheit von der Intimität [als] das Kennzeichen einer unzivilisierten Gesellschaft“.36 Rieff beklagte, der „Triumph des Therapeutischen“ führe zu einer Erosion traditioneller und religiöser Formen der Gemeinschafts- und Sinnstiftung, ohne hierfür ernsthaften Ersatz zu bieten.37 Lasch erklärte in seinem 1979 erschienen Buch The Culture of Narcisissm den Liberalismus für bankrott. Sein Reservoir an konstruktiven Ideen sei erschöpft, stattdessen verbreite sich im Zuge der kulturellen Revolution ein Radikalismus, der auf Grundlage falscher Tatsachen operiere. Nicht der Autoritarismus sei heute das Problem, gegen das man anrennen müsse, so Lasch, sondern vielmehr der Narzissmus als degeneriertes Endprodukt des „bourgeoisen Individualismus“.38 Der neue Narziss, der sich vorrangig um Selbstentfaltung, Vervollkommnung der Psyche und Gesundheit kümmert, ist in Laschs Kritik ebenso geschichts- wie zukunftsvergessen: Er lebt im Moment, zieht sich vom Politischen zurück, ist unsicher und abhängig von anderen.39
36 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 22013, S. 589. 37 Philip Rieff, The Triumph of the Therapeutic. Uses of Faith after Freud, New York 1966, passim. 38 Christopher Lasch, The Culture of Narcissism. American Life in An Age of Diminishing Expectations, New York 1979, S. 22. 39 Vgl. ebd., passim.
Aus heutiger kultur- und sozialhistorischer Perspektive sind diese mächtigen kritischen Narrative selbst als produktive Elemente eines Intimitätsdiskurses der 1970er-Jahre zu betrachten. In jüngster Zeit wurden allerdings verstärkt auch die anderen Anteile dieses Diskurses erforscht, indem die Konzepte aufbereitet wurden, die Formaten wie dem Sensitivity-Training und dem Kleingruppengespräch zugrunde lagen – und in denen sehr deutlich auch gesellschaftspolitische Anliegen formuliert wurden. So weist Maik Tändler auf einen starken Schub der Politisierung psychologischen Wissens hin.40 Viele Protagonisten des Psychobooms seien „davon überzeugt [gewesen], mit therapeutischen Mitteln gerade jene narzisstische Bindungsunfähigkeit zu überwinden“41, die etwa Lasch beklagte. Generell wird in der gegenwärtigen Forschung zum Phänomen des Psychobooms betont, dass die Grenzen zwischen Sozialtechnologie, Therapie, New Age-Esoterik und politischem Aktivismus mitunter fließend waren und bestimmte Techniken und Ansätze für verschiedene Zwecke adaptiert wurden. Eine gewisse Brisanz gab es gleichwohl im Hinblick auf die unterschiedliche Gewichtung im Verhältnis von Innenschau zu Gesellschaftlichkeit. Die Begründer des Sensitivity-Trainings gingen beispielsweise davon aus, die Menschen zu demokratischen Subjekten erziehen zu können, die qua Modellierung ihres Verhaltens auf Grundlage von Selbst- und Fremdwahrnehmung zur sozialen Befriedung und Produktivität der (amerikanischen) Gesellschaft beitragen. Die im Anschluss entwickelten Encounter-Gruppen sollten den Teilnehmern in der Kleingruppe die introspektiven und sozialen Fähigkeiten vermitteln, ohne die sie der Anpassung an die gewaltigen Veränderungen durch die neuen Technologien nicht gewachsen wären.42 Wenn Vertreterinnen des Second Wave Feminism hingegen das Format des moderierten Kleingruppengesprächs mit bestimmten Regeln anwendeten, dann gingen diese Consciousness-Raising-Sitzungen zunächst davon aus, dass es trotz Demokratisierung eine grundlegende, geschlechts- oder genderbezogene Asymmetrie
40 Vgl. Tändler 2012, S. 10. 41 Tändler 2016, S. 23. 42 Vgl. Carl R. Rogers, Encounter-Gruppen. Das Erlebnis der menschlichen Begegnung, München 1974, S. 160.
Forschungsstand
im Bewusstsein und Sprechen gibt.43 Selbst- und Fremdwahrnehmung waren hierbei also nicht direkt aufeinander abzustimmen und auszubalancieren, sondern zunächst einmal in ihrer eklatanten Differenz an- und auszusprechen, die dann auch in politische Forderungen umgewandelt werden konnte, mit denen eher ein Abweichen von ‚der Gesellschaft‘ oder eine Kritik ihrer vermeintlichen Homogenität intendiert war. Eine auf affektualer subjektiver Zusammengehörigkeit beruhende Vergemeinschaftung erschien daher manchen Beteiligten als notwendige oder gar rettende Zwischeninstanz, um ein gerade erst mühsam errungenes Selbstverständnis nicht gleich wieder in einem übergeordneten Vergesellschaftungsprozess wegverhandelt zu sehen. Kaprows Activities der 1970er-Jahre werden in der vorliegenden Untersuchung in genau diesem Spannungsfeld verortet: Als Übungen, in denen einerseits Selbstbeobachtung und Gefühlsschau sowie die Sphäre der Intimität in großer Intensität erprobt werden, andererseits mit den angeschlossenen Gruppengesprächen und dem noch aus der soziologischen Matrix der 1950er-Jahre mitgeschleppten Interesse an zwischenmenschlichem und konventionalem Verhalten eben doch auch eine eminent auf Sozialität und Vergesellschaftung abzielende Perspektive in Kraft bleibt.44
Forschungsstand Der experimentelle Dichter und Performer David Antin, mit dem Kaprow seit den 1970er-Jahren befreundet war, schrieb zu dessen Kunst, ausgehend von seiner Teilnahme an der Arbeit Company 1981: 43 Zur Geschichte der Consciousness-Raising-Gruppen siehe summarisch Herman 1995, S. 298f. 44 Vergesellschaftung hier verstanden mit Max Weber als „eine soziale Beziehung, wenn und insoweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, S. 21. Unter Sozialität wird hier „die Angewiesenheit [des Menschen] auf eine soziale Steuerung des Verhaltens bzw. auf soziale Unterstützung, auf sozial vermittelte Orientierung und eine fortlaufende soziale Verhaltensbestätigung über soziale Interaktionen“ verstanden. Franz Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt und New York 1999, S. 161.
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I know that Allan sees his work as ‚un-art‘ and wants to see its separation from art, envisioning it as simply an articulation of meaningful experiences from ordinary life. I’m sympathetic to this intention, but I find it hard to distinguish the existential power of this piece which now exists only in the telling, from that of any other great work of art I’ve encountered.45 Antins Anerkennung ist zugleich Zeugnis einer spezifischen Rezeptionsproblematik, die Kaprows künstlerisches Schaffen im Prinzip von Beginn an, besonders aber ab den 1970er-Jahren begleitete und an der der Künstler selbst maßgeblichen Anteil hatte. Schon mit seinem Eintritt in die Kunstwelt circa 1960 trat Kaprow nicht nur als Happeningkünstler, sondern auch als Kunstkritiker und Publizist auf, der von der zeitgenössischen Kunst forderte, sich ernsthaft zu erneuern und sogar von der in seinen Augen verbrauchten Tradition der Malerei loszusagen. Im Folgenden verfasste Kaprow immer wieder Texte, in denen er seine eigenen Arbeiten, aber auch die anderer Künstler einordnete, auf Begriffe brachte und ihren Status innerhalb des Kunstsystems befragte. Darüber hinaus definierte er seine Rolle als Hochschullehrer so, dass diese das öffentlich geführte Gespräch über Zeitfragen ebenso umfasste wie die gemeinsam mit den Studenten unternommene künstlerische Forschung. In schriftlichen wie verbalen Aussagen leistete Kaprow Begriffsarbeit und arbeitete beharrlich an der Kritik gängiger Kunst- und Künstlermythen und ihrer traditionellen Institutionen, ohne dabei ein einheitliches Theoriegebäude zu errichten. Bis in die späten 1970er-Jahre machte ihn dies zu einem beliebten Vortragsgast und Interviewpartner. Als Nebeneffekt stellte sich allerdings schon in den späten 1960er-Jahren ein, dass seine publizistischen Äußerungen mitunter größeres Gewicht bekamen als seine Kunst und auch solche Gespräche, die im Anschluss an Happenings oder Activities stattfanden, von der Frage dominiert wurden, inwiefern dies nun überhaupt noch Kunst sei.
45 David Antin, „Allan at work“, in: Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004, S. xi–xxi, hier S. xxi.
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1. Einleitung
Als um die Jahrtausendwende in der Kunst neue Anläufe unternommen wurden, den vermeintlich passiven Betrachter durch den vermeintlich aktiven Teilnehmer zu ersetzen, wurde Kaprow wiederentdeckt und rückwirkend als Pionier der Partizipation in die jüngere Kunstgeschichte eingeschrieben – abermals vorrangig unter Zitation prägnanter Aussagen aus seinen Texten, für welche inzwischen auf die von Jeff Kelley 1993 besorgte Edition seiner Essays zurückgegriffen werden konnte.46 Kaprows Position in der Kunstgeschichte war alsbald festgelegt und wird, zumindest dort, wo der Künstler nur kurz genannt wird, bis heute vielfach perpetuiert: Er gilt als talentierter Essayist und ‚Erfinder des Happenings‘, mit dem er in der New Yorker Kunstszene der 1960er-Jahre eine beachtliche Form performativ-partizipativer Kunst schuf, die das von den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts angestoßene Projekt einer Entgrenzung der Kunst ins Lebens programmatisch fortführ46 Allan Kaprow, Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003 [erstmals 1993]. Zu partizipativen Ansätzen in der Kunst und ihrer Kritik siehe einschlägig Claire Bishop, Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London und New York 2012 sowie die Quellensammlung Participation, hg. von ders., London und Cambridge, MA, 2006 (Documents of Contemporary Art). Kaprow wird in beiden Publikationen als wichtiger Vordenker und Vorläufer jüngerer partizipativer Kunst genannt, wobei dies vor allem unter knappem Hinweis auf das Happening generell geschieht und ansonsten schriftliche Äußerungen Kaprows zur Abschaffung des Publikums herangezogen werden. In den Zusammenhang einer „Partizipationskunst“ stellt auch Lars Blunck Kaprows Arbeiten, wobei er sich vor allem mit der Aktivierung des partizipativen Potentials der Assemblage befasst. Siehe das Kapitel zu Kaprow in Lars Blunck, Between Object and Event. Partizipationskunst zwischen Mythos und Teilhabe, Weimar 2003. Eingeleitet wurde das verstärkte Interesse an partizipativer Kunst um die Jahrtausendwende durch den Text Ésthetique relationelle von Nicolas Bourriaud, erschienen 1998 im Kontext der zuvor von ihm kuratierten Gruppenausstellung Traffic. Viel diskutiert wurde auch die Kritik von Jacques Rancière an der Vorstellung, ein Betrachter sei passiv. Siehe ders., Der emanzipierte Zuschauer, Wien 2009. In jüngster Zeit wurde die kritische Auseinandersetzung mit Partizipationskonzepten und dem ‚Social Turn‘ in der Kunst einerseits spezifischer auf Fragen der Macht und des Zugriffs gelenkt (siehe beispielhaft Julia Austin und Claire Bishop, „Trauma, Antagonism and the Bodies of Others. A Dialogue on Delegated Performance“, in: Performance Paradigm, Nr. 5, 2009, S. 101–111), andererseits auf den Umgang mit technologiezentriertem Partizipationsdruck (siehe beispielhaft Janet Kraynak, „Dependent Participation. Bruce Nauman’s Environments“, in: Grey Room, Nr. 10, 2003, S. 22–45).
te, inklusive Angriffen auf den elitären Kunstbegriff und die Institution des Museums.47 Derart beschrieben, läuft Kaprows künstlerischer Beitrag allerdings Gefahr, nahezu auf eine bloße Geste mit kurzer Halbwertszeit reduziert zu werden. So kritisierte etwa Benjamin Buchloh, Kaprows „Ästhetik der Partizipation“ als „infantil“ im Vergleich zum gewaltigeren Beitrags Warhols zur Kunstgeschichte.48 Yve-Alain Bois schrieb, die spektakelhaften Happenings seien alsbald von den realen gesellschaftlichen Revolten als ungleich radikaleren und politisch ambitionierten Aktionen überrollt und in ihrer Bedeutung und Wirkkraft auf die hinteren Plätze verwiesen worden.49 Judith Rodenbeck und Philipp Ursprung gebührt das große Verdienst, in ihren Untersuchungen den Happeningkünstler Kaprow einer eingehenderen Betrachtung unterzogen und dabei weniger punktuell und pauschal in die Kunstgeschichte eingeordnet zu haben. Beider Vorgehen zeichnete sich schon allein dadurch aus, dass sie einzelne Happenings ausführlicher beschrieben statt diese lediglich knapp zu erwähnen und dann mit einer Fotografie zu illustrieren, als ob diese die Vielfalt der Aktionen und Erfahrungen angemessen wiedergeben könnte.50 In ihrem Buch Radical Prototypes präsentiert Rodenbeck Kaprow als zentrale Figur der Happeningszene der 1960er-Jahre und arbeitet heraus, inwiefern bereits die Happenings selbst durchaus kritisch mit den 47 Hal Foster bezeichnet Kaprow pauschal als „the neo-avantgardist most loyal to the line of reconnection“. Ders., The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge, MA, und London 1996, S. 17. Zu Kaprow als „Vater“ oder „Erfinder“ des Happenings siehe beispielhaft Lucy Lippard, Pop Art, München und Zürich 1968, S. 74 oder Rainer Wick, „Happening“, in: Kunstübermittlungsformen. Vom Tafelbild bis zum Happening. Die Medien der Bildenden Kunst, Ausst.-Kat., Berlin, Neuer Berliner Kunstverein, 1977, S. 127–137, hier S. 127. Eine breiter angelegte Studie zur Entwicklung des Happenings und verwandter Formen, in der auch Kaprow eine zentrale Rolle einnimmt, legte Thomas Dreher vor. Siehe Ders., Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München 2001. 48 Vgl. Benjamin H. D. Buchloh, „Andy Warhols eindimensionale Kunst. 1956–1966“, in: Andy Warhol. Retrospektive, hg. von Kynaston McShine, Ausst.-Kat. Köln, Museum Ludwig, München 1989, S. 37–57, hier S. 43. 49 Vgl. Yve-Alain Bois, „Oldenburg and happenings“, in: Ders. u. a., Art since 1900, London 2011, S. 488–493, hier S. 492. 50 Den ersten Versuch einer kunsthistorischen Würdigung hatte bereits 1975 Joachim Diederichs vorlegt, dabei aber die Activities noch nicht explizit behandelt. Siehe Ders., Allan Kaprow, Diss. masch., Ruhr-Universität Bochum, 1975.
Forschungsstand
ambivalenten Effekten der Partizipation ihres Publikums umgingen.51 Gegen die populäre Vorstellung von dem Happening als fröhlichem, affirmativen Mitmach-Event und gegen die kunstkritische Abordnung des Happenings in die Sparte „Theatralisches“ respektive „Spektakel“ setzt Rodenbeck Analysen, in denen deren irritierende und gesellschaftskritische Facetten zum Vorschein kommen. Ursprung diskutiert die Environments und Happenings von Kaprow im ersten Teil seines Buchs Grenzen der Kunst.52 Er distanziert sich davon, diese Kunst der 1960er-Jahre an ihrem Verhältnis zu den Avantgarden zu messen und somit entweder ihr Scheitern an der Überführung der Kunst ins Leben herauszustellen oder sie umstandslos dem politischen Aktivismus der Zeit zuzuschlagen.53 Der Kunstgeschichte wirft er außerdem vor, in einer modernistischen Beschreibungs- und Bewertungsmatrix zu verharren und aus diesem Grund die Geschichte des Happenings bislang „gegenüber den institutionell gestützten, spätmodernistischen Bewegungen vernachlässigt“ zu haben.54 In Anlehnung an Frederic Jamesons These, dass die Kultur sich in der Postmoderne explosionsartig ausdehnt, versteht er Kaprows Arbeiten der 1960er-Jahre als geeignete Phänomene, um erklären zu können, wie die fundamental veränderte Kunstwelt der 1960er-Jahre funktionierte und wer im Zeichen ihrer Expansion miteinander konkurrierte.55 Dementsprechend betont Ursprung das „modernismuskritische Potential“56 der Happenings Kaprows, erzählt von ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung sowie ihrer Vergänglichkeit – und schließlich von ihrer Marginalisierung im Zuge des „Triumphs von Pop Art und […] Minimal Art, und,
51 Vgl. Judith F. Rodenbeck, Radical Prototypes. Allan Kaprow and the Invention of Happenings, Cambridge, MA, und London 2011, ix. Rodenbeck schaltet sich mit ihrer Argumentation somit auch nachträglich in die Diskussionen zur zeitgenössischen partizipativen Kunst ein, als deren Vordenker Kaprow immer wieder genannt wird, ohne dass man sich seinen Arbeiten ausführlicher widmet. 52 Philip Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003. 53 Vgl. ebd., S. 20f. 54 Vgl. ebd., S. 39. 55 Bei dem genannten Text handelt es sich um Frederic Jameson, Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991. 56 Ursprung 2003, S. 124.
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parallel dazu, der für die avancierte Kritik maßgeblichen Conceptual Art.“57 Eine anders gelagerte Perspektivierung dieser Thematik hat jüngst Dirk Hildebrandt mit seiner Monographie The Extension of Art vorgelegt.58 Er geht darin zentrale Stationen der Selbstkonzeption Kaprows als Happeningkünstler noch einmal kritisch durch und arbeitet heraus, wie sehr Kaprow um den inneren Werkzusammenhang und eine durchaus kunsthistorische Narrativierung seiner Entwicklung hin zum Werk als Praxis bemüht war, wobei der Malerei eine erstaunlich große Bedeutung zukam. Hildebrandt entdeckt darin einen konservativen Impuls des Künstlers und sieht ihn letztlich doch der Idee einer modernen Entwicklungs- und Fortschrittslogik verbunden. Die Activities streift Hildebrandt lediglich im letzten Kapitel seiner Arbeit. In der Logik seiner Argumentation will er in ihnen nicht einfach die vollendete Überführung der Kunst ins Leben sehen, betont aber mehrfach ihren privateren Charakter. Er schreibt, die „Zahnputzlogik der Activity“ kolonisiere den privaten Raum ihrer Teilnehmer, während die Reinventions der Happenings und Environments zur gleichen Zeit zunehmend die öffentliche Bühne der Kunstwelt bespielten.59 Hierbei allerdings gerät abermals jene sehr dichte Werkphase von Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre aus dem Blick, die in der vorliegenden Untersuchung im Fokus steht – und in welcher der Künstler sehr wohl auch die Activities in der Kunstwelt stattfinden ließ, da Bewerbung, Rekrutierung der Teilnehmer und Workshopsituation meist an Kooperationen mit Galerien oder Kunsthochschulen gebunden waren. Indem Hildebrandt unter ‚Activities‘ nicht nur die Gedankenwelt der Essays Kaprows aus dieser Zeit, sondern auch das eher abgelegene Toothbrushing Piece von 1978 rubriziert (daher der Begriff „Zahnputzlogik“), versäumt er es zudem, zunächst einmal die künstlerische Produktion Kaprows zu differenzieren und die Activities überhaupt als spezifischeren Gegenstand zu konstituieren.60 Dies ist jedoch notwendig, um gerade auch 57 Ebd., S. 373. 58 Siehe Dirk Hildbrandt, The Extension of Art. Das Werk als Praxis nach Allan Kaprow, München 2022. 59 Vgl. Hildebrandt 2022, S. 211. 60 Wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit erläutert wird, war ‚Activity‘ für Kaprow selbst kein starker konzeptueller Begriff, er
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1. Einleitung
das ambivalente Verhältnis zwischen subjektiver Erfahrung und intersubjektiver Kommunikation sowie Individuum, Partnerschaft und Gesellschaft adressieren zu können. Neben Rodenbeck, Ursprung und Hildebrandt formuliert außerdem Robert E. Haywood in seinem 2017 erschienenen Buch seine Überlegungen zu Kaprows Konzeption des Happenings. Hierfür betrachtet er die Arbeiten der 1960er-Jahre im direkten Vergleich mit den Happenings von Claes Oldenburg, dessen Festhalten an dem handgemachten ästhetischen Objekt zu Auseinandersetzungen mit Kaprow führte. In der Zusammenschau gewinnt Haywood Erkenntnisse über die unterschiedlichen Auffassungen der Künstler zum Verhältnis von Kunst und Politik und stellt heraus, inwiefern die Beiträge beider Künstler auch über die kurze Hochphase der Happenings in New York hinaus als Herausforderungen für die Kunstgeschichtsschreibung des späten 20. Jahrhunderts zu gelten haben.61 Auch Bernhard Schieder widmet sich in seiner Untersuchung Kaprow und Oldenburg sowie Robert Rauschenberg im Vergleich, stellt dabei allerdings nicht mehr im engeren Sinne die New Yorker Happeningszene in den Mittelpunkt, sondern die in unterschiedlichen diente zwar zunächst einer programmatischen Abgrenzung vom Happening, wurde dann aber für ganz unterschiedliche Projekte verwendet. Es ist insofern schwierig, die Activities als Gesamtheit anzusprechen, ohne darüber nachzudenken, welche dieser Arbeiten womöglich als eine Werkgruppe verstanden werden können und wie sich diese dann eigentlich zu den gleichzeitigen schriftlichen, theoretischen Äußerungen des Künstlers verhält. Dabei wird auffallen, dass die in der vorliegenden Untersuchung behandelten Activities einen gewissen inhaltlichen wie formalen und auch organisatorischen Aufwand mit sich führen, weshalb das Toothbrushing Piece diese Arbeiten nicht exemplarisch mitmeinen kann, ohne dabei ungenau zu werden. Toothbrushing Piece wurde im Nachhinein als eine 1978 „privat, mit Freunden“ durchgeführte Activity katalogisiert, im Prinzip aber vor allem durch eine schriftliche Reflexion Kaprows aus dem Jahr 1986 bekanntgemacht, in der dieser davon spricht, er habe über den Zeitraum von zwei Wochen der täglichen Routine des Zähneputzens besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Eine schriftliche Partitur existiert hierzu nicht. Der Text, in dem Kaprow auf dieses kleine Projekt Bezug nahm, wurde wiederabgedruckt unter dem Titel „Art which can’t be Art“, in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 219–222. 61 Robert E. Haywood, Allan Kaprow and Claes Oldenburg. Art, Happenings, and Cultural Politics, New Haven und London 2017. Bereits 1999 war von Haywood ein Aufsatz zu Kaprow erschienen.
Medien verhandelte Frage nach der „Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben.“62 Schieder ist vorrangig an ästhetischen Fragen interessiert und argumentiert, die genannten Künstler verbinde, dass sie darauf „abzielen, die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu destabilisieren.“63 Unter anderem würden dann, so Schieder, „kunstspezifische Wahrnehmungsweisen auch an nicht-künstlerischen Gegenständen“ praktiziert.64 Mit Blick auf Kaprow leistet Schieder insofern eine genauere Beschreibung dessen, was gemeinhin als ein Phänomen der Entgrenzung der Kunst in den 1960er-Jahren gefasst wird und setzt dies nicht vorschnell mit einer Wiederholung des Programms der Avantgarden gleich. Er spricht allerdings wenig darüber, was thematisch in den einzelnen Arbeiten Kaprows verhandelt wird, und auch er verbindet, wie zuvor Ursprung, den Übergang von den Happenings zu den Activities mit der Annahme eines geradezu programmatischen Rückzugs des Künstlers aus der Öffentlichkeit.65 Darüber, dass es – gegenläufig zu diesen Schilderungen – einen überaus aktiven und nach Resonanz suchenden Künstler Kaprow auch noch in den 1970er-Jahren gab, ist in der biographischen Monographie von Jeff Kelley, vor allen Dingen aber in dem umfangreichen und für die Kaprow-Forschung grundlegenden Katalog zur großen Retrospektive aus dem Jahr 2006 etwas zu erfahren.66 Dieser verzeichnete erstmals auch die Aktivitäten des Künstlers nach den 1960er-Jahren, wobei auf das Archivmaterial zurückgegriffen werden konnte, das während der 62 Siehe Bernhard Schieder, Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst. Zur Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben bei Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg, Berlin 2015. Ausführlich zu diesem Buch außerdem Clara Wörsdörfer, „Rezension von: Bernhard Schieder, Alltägliche Wirklichkeit als (temporäre) Kunst. Zur Neugestaltung der Beziehung zwischen Kunst und Leben bei Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg, Berlin 2015“, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: http://www.sehepunkte.de/2016/10/28699.html. 63 Schieder 2015, S. 27. 64 Ebd. 65 Vgl. ebd., S. 171. 66 Siehe Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004 sowie Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008. Die Ausstellung wurde noch zu Lebzeiten Kaprows vorbereitet, er hat allerdings krankheitsbedingt wohl nicht mehr aktiv in die Vorbereitungen eingegriffen.
Forschungsstand
Vorbereitungen für die Ausstellung für den Übergang in das Getty Research Institute in Los Angeles geordnet worden war. In dem für diesen Katalog verfassten Aufsatz von Annette Leddy, der hier hervorgehoben werden soll, klingt an, dass der Nachlass des Künstlers auf den ersten Blick wenig Privates, keine Liebesbriefe oder Tagebucheinträge umfasst, dafür aber das Material zu den Arbeiten nach den Happenings sich auf ausgezeichnete Weise mit Beziehungsthemen und Gefühlsleben beschäftigt. Mit ihrem Gespür für das in den Schriften, Protokollen und Partituren enthaltene Deutungspotential hat Leddy eine erste Fährte gelegt, der die Autorin der vorliegenden Untersuchung nachgehen konnte.67 In den vergangenen Jahren hat sich auf der Grundlage der Ausstellung Art as Life und begleitender Publikation das Verständnis für Kaprows Schaffen enorm geweitet und sind so vor allem auch die verschiedenen Medien sichtbarer geworden, mit denen der Künstler nach seiner Absage an eine im engeren Sinne objektförmige Kunst umgegangen ist. So liegt inzwischen eine Reprint-Edition der Poster vor, die Kaprow vor allem im Zusammenhang mit seinen Happenings, teilweise aber auch noch für die Activities, gestaltete. Giorgio Maffei publizierte zudem eine überaus hilfreiche kleine Anthologie der Publikationen Kaprows, in der auch die Broschüren zu dessen Activities gelistet werden.68 Da Maffei nur einzelne Seiten dieser Hefte exemplarisch abbildet, bietet sich die Anthologie allerdings nicht für ein vertieftes Studium der Activities an und verleitet womöglich dazu, über die Optik der Drucksachen und die Ästhetik der gestellten Bilder die Ebene der konkreten Realisierung zu vernachlässigen. Eine monographische Untersuchung zu Kaprows Wirken nach den Happenings liegt bislang nicht vor. Jüngst hat Géraldine Gourbe einen ersten Vorstoß gewagt und in einem Aufsatz einen Blick auf das Verhältnis Kaprows zu den Akteurinnen des Feminismus in den 1970er-Jahren geworfen.69 Catherine Spencer 67 Siehe Annette Leddy, „Intimate. The Allan Kaprow Papers“, in: Ausst.-Kat. München, Art as Life, 2008, S. 42–53. 68 Siehe Allan Kaprow. Posters, hg. von Christophe Daviet-Thery und Alice Dusapin, London 2014 sowie Allan Kaprow. A Bibliography, hg. von Giorgio Maffei, Mailand 2011. 69 Vgl. Géraldine Gourbe, „The Pedagogy of Art as Agency: Or the Influence of a West Coast Feminist Art Program on an East
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widmet Kaprow ein Kapitel in ihrem Buch Beyond the Happening über Performancekunst im Zeichen einer „Politik der Kommunikation“, behandelt darin allerdings nicht die Activities, sondern den 1969 in Berkeley veranstalteten pädagogischen Workshop Project Other Ways, der Jugendliche dazu anleitete, mit kleinen Aufgaben im öffentlichen Raum zu intervenieren und miteinander zu agieren. Spencer hebt vor allem darauf ab, wie Kaprow den Einsatz von Instantfotografien nutzte, um „soziologisches Wissen zu generieren“, Kommunikation und Interaktion in Gang zu setzen.70 Die Überlegungen von Gourbe und Spencer bieten erste Antworten auf ein Desiderat der Forschung zu Kaprow, indem sie nicht nur die Phase nach den bekannten Happenings, sondern auch soziologische und gesellschaftspolitische Kontexte einblenden. Auch die vorliegende Untersuchung setzt an diesem Punkt an, indem sie die Activities der 1970er-Jahre als Versuch einer Weiterentwicklung des Happenings ernst nimmt und sowohl im Hinblick auf ihre spezifische Form als auch – vor allem – in ihrer inhaltlichen Ausrichtung befragt. Nicht die Kritik am Kunstsystem oder die Arbeit am Werkbegriff bildet das Thema der Activities, sondern die Frage, wie wir unsere menschlichen Beziehungen gestalten, wie wir uns in ihnen als fühlende und soziale Wesen verhalten und welche Erkenntniswerkzeuge uns zur Verfügung stehen, um ihre Strukturen, Muster und Verwicklungen zu verstehen.71 Behandelt wurde dieses Coast Pioneering Reflection on Performance Art“, in: Where Art Might Happen. The early years of CalArts, hg. Philipp Kaiser und Christina Végh, Ausst.-Kat. Hannover, Kestner Gesellschaft, 2021, S. 215–233. 70 Vgl. Catherine Spencer, Beyond the Happening. Performance Art and the Politics of Communication, Manchester 2020, S. 16. Die anderen Kapitel befassen sich mit Marta Minujín, Carolee Schneemann und Lea Lublin. Spencer konzentriert sich auf Arbeiten, die Ende der 1960er-Jahre und somit in direkter zeitlicher Nähe zu den Studentenunruhen und Aktivitäten der Bürgerrechtsbewegungen entstanden. Allerdings verweist Spencer selten auf die Historizität spezifischer sozialwissenschaftlicher oder sozialpsychologischer Ansätze und es erscheint mitunter so, als könnten Auffassungen von Gesellschaftlichkeit und sozialem Miteinander der 1950er-, 1960erund 1970er-Jahre reibungslos koexistieren und gleichförmig auf die künstlerische Produktion einwirken. 71 Dass „Beziehungen zwischen Individuen“ mit dem Übergang zu den Activities ab 1971 ins Zentrum von Kaprows Arbeiten rückten, bemerkte bereits Pierre Restany in einem kurzen Artikel. Ders., „From Happening to Activity“, in: Domus, Nr. 566, 1977, S. 52.
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1. Einleitung
Thema in einer Form, die sich von Kunstbetrachtung deutlich unterschied. „We were doing thought“72, formulierte Kaprow selbst und sprach damit aus, dass es ihm darum ging, die Trennung von Körper und Geist, Konzept und Realisierung zu überwinden. Dies bedeutete aber auch, dass hierbei nicht ‚echte‘ oder ‚direkte‘ Erfahrung gegen mediatisiertes Wissen gestellt wurde. Die Erfahrung selbst, deren Rahmenbedingungen Dewey bereits beschäftigt hatten und die in der gegenkulturellen Revolution der Sechziger als heiße Währung gegen Entfremdung und kalte Theorie ausgegeben wurde,73 war für Kaprow um 1970 problematisch geworden. Auch davon handeln die Activities als spezifische Phänomene einer historischen Umbruchsphase.
Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit Die vorliegende Untersuchung betrachtet Kaprows Activities der 1970er-Jahre in einer kunst- und kulturgeschichtlichen Perspektive und legt einen Schwerpunkt auf die ersten Realisierungen dieser Arbeiten, an denen auch der Künstler selbst teilnahm.74 In jedem der vier Kapitel werden mehrere Activities in Form von Werkanalysen ausführlich behandelt, die Partituren (scores) zu diesen Arbeiten sind im Anhang in Gänze nachzulesen. Im Verlauf des Textes werden die Activities von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und es werden bewusst immer wieder neue Anläufe unternommen, um das Verhältnis dieser Werke zu anderen zeitgenössischen kulturellen 72 Allan Kaprow, „Easy Activity“, in: Art Studies for an Editor. 25 Essays in Memory of Milton S. Fox, New York 1975, S. 177–181, hier S. 178. 73 Siehe in diesem Kontext etwa die Schrift The Politics of Experience von Ronald D. Laing, einem der Wortführer der europäischen Antipsychiatriebewegung. Erschienen erstmals 1968 proklamiert Laing darin: „Unsere Entfremdung geht heute bis an die Wurzeln. Eine Realisierung dessen ist notwendiger Ausgangspunkt für jede ernsthafte Reflexion über irgendeinen Aspekt zwischenmenschlichen Lebens heute.“, um sodann die Erfahrung – vor allem jene interpersonaler Relationen – als notwendige Grundlage und Quelle jeder Theorie zu fordern. Ders., Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt am Main 1969, S. 10ff. 74 Auch der Blick zurück kommt allerdings aus der Gegenwart, weshalb das Wissen über jüngere Wiederaufführungen dieser Arbeiten und Erfahrungen im Selbstversuch punktuell ebenfalls in die Analyse einfließen.
und wissenschaftlichen Phänomenen zu justieren. Es gibt mithin nicht das eine historische Panorama oder Tableau, das hier rekonstruiert wird, um Kaprow mit seinen Activities darin passgenau platzieren zu wollen. Stattdessen muss auch die gleichzeitige Wirksamkeit unterschiedlicher Zeitschichten in Betracht gezogen werden, kann mithin ein zeitgenössisches Phänomen je nach Betrachtungswinkel als schon zukunftsweisend oder gerade schon nicht mehr aktuell beschrieben werden. Solchermaßen brüchige und situationsbedingte Verortungen vorzunehmen, erweist sich gerade im Hinblick auf Kaprows Werk als spannend, da der Künstler selbst stets einen sehr expliziten Anspruch auf Zeitgenossenschaft pflegte. Aussagen des Künstlers werden daher im Folgenden zwar als wichtige Quellen behandelt, die unter anderem auch darüber Aufschluss geben, welche konzeptionellen Rahmungen er selbst für die Activities vornahm, den Fluchtpunkt dieser Untersuchung stellt allerdings eine Deutung der Activities dar, die Bezüge, Spannungen und angedeutete Entwicklungslinien auch jenseits des Horizonts der Akteure in ihrer Zeit formuliert. Wie bereits ausgesprochen, zielt diese Untersuchung darauf, die Activities als Beitrag zu einem Diskurs der Intimität und übergeordnet als Phänomene eines fundamentalen Wandels der Subjektkultur in den 1970er-Jahren verstehen zu lernen. Zentral ist dabei die auf Foucault zurückgehende Annahme, dass Diskurse nicht eine Realität abbilden, sondern diese selbst hervorbringen. Der methodische Ansatz der historischen Diskursanalyse erweist sich hierbei insofern als fruchtbar, als mit ihr historische Auffassungen, Denkmuster, aber auch Gefühlseinstellungen begriffen werden können, die in unterschiedlichen Medien und Kontexten ausformuliert wurden. Die Untersuchung ist in vier Teile gegliedert, die aufeinander aufbauen, aber den Gegenstand jeweils von einem anderen Standort aus beleuchten. Der erste Teil folgt zunächst dem Künstler von New York nach Kalifornien, von den Sechzigern in die Siebziger und von den Happenings zu den Activities. Gegen das Bild eines Rückzugs aus der Kunst wird jenes eines privaten wie künstlerischen Neuanfangs gesetzt, der mit einer großen Produktivität einherging. Der Ort dieses Neuanfangs ist das Kalifornien um das Jahr 1970. Anhand von Quellenmaterial wird
Vorgehensweise und Gliederung der Arbeit
herausgearbeitet, inwiefern Kaprow selbst diesem Ort das Potential einer Erneuerung zuschrieb und welche Rolle dabei seine Anstellung an dem neu gegründeten California Institute of the Arts spielte. Rekonstruiert wird anhand der Essayserie „The Education of the Un-Artist“ sowie mündlicher Äußerungen außerdem Kaprows intensive Auseinandersetzung mit der Rolle des Künstlers und einer Kunst, die ihre Zeitgenossenschaft, Bedeutung und Funktion paradoxerweise nur noch sichern kann, indem sie sich gewissermaßen ergibt, um in traditionell kunstferne Praktiken, Methoden, Orte und Kontexte übergehen zu können. Nach dieser noch lose an den biographischen Stationen orientierten Erzählung befasst sich der zweite Teil mit den Werken selbst. Den Einstieg bildet eine methodische Reflexion darüber, auf Grundlage welcher Medien und Spuren heute überhaupt von den Activities gesprochen werden kann. Diese wird anhand eines Werkbeispiels ausführlich vertieft, um schließlich charakterisieren zu können, wodurch sich das Activity-Format auszeichnet. Nach einem kurzen kunsthistorischen Ausflug in die Verwendung schriftlicher Partituren im Kontext von Fluxus und Happening wird der Vorschlag gemacht, die Activities als Übungen zu begreifen, um ihr spezifisches Anforderungsprofil besser fassen zu können. Somit gerät das Wie des Tuns in den Blick und kann beschrieben werden, inwiefern die Teilnehmer der Activities als Interpreten agierten, die etwas physisch und mental aus- und durchzuführen, aber eben auch auszugestalten und zu deuten hatten. Diese Überlegungen fließen im letzten Unterkapitel in eine Analyse der Activity Time Pieces ein und werden unter Einbeziehung anderer übungshafter künstlerischer Positionen sowie einer Kultur des Trainings und der Übung in den 1970er-Jahren kontextualisiert. Auf Grundlage des im zweiten Teil erarbeiteten Überblicks und beschreibenden Instrumentariums geht es im dritten Teil schließlich en détail um das Thema der Intimität. Mehrere ausführliche Werk analysen entfalten, wie die Interpreten der Activities die verschiedenen Facetten von Intimität erproben konnten. In kulturgeschichtlicher Perspektive wird offenbar, dass die Activities an einem sehr aktuellen Diskurs über Intimität im Zeichen frei wählbarer Partnerschaften und dem neuen Anspruch auf
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Verwirklichung und Entfaltung des Selbst partizipierten. Kaprows sehr bedachter Einsatz von Kommunikations- und Reflexionsmedien (Telefon, Aufnahmegerät, Spiegel) rekurriert auf veränderte Praktiken der Beziehungsführung und inszeniert wie propagiert die Anforderung, zu kommunizieren und Selbst- wie Fremdwahrnehmung verbalisieren zu können. Herausgearbeitet wird, inwiefern mit einigen der Activities Vorstellungen und Bilder von Beziehung mobilisiert und performativ bearbeitet werden. Der vierte und letzte Teil überwölbt die Deutung der Activities als übungshafte Beiträge zu einem Intimitätsdiskurs, indem diese anhand weiterer Werk analysen im Zusammenhang mit den Psychodiszi plinen und Sozialwissenschaften um 1970 diskutiert werden. Dabei werden Form (Übung auf Grundlage schriftlicher Partitur), Format (Dreischritt aus Vorbesprechung, Durchführung, Kleingruppengespräch) und Thema (Beziehungen, Intimität) zusammengedacht. Es geht zunächst um die Frage, inwiefern Kaprow selbst das Verhältnis seiner Kunst zu den Wissenschaften kalibrierte und welcher Begriff von ‚Forschung‘ hierbei zugrunde gelegt werden muss. Deutlich wird dabei einmal mehr, dass es nicht die Paradigmen der Naturwissenschaften sind, sondern vor allem die (in weitestem Sinne) sozialwissenschaftlichen Perspektiven und Methoden, mit denen Kaprow sich auseinandersetzt. Insbesondere die Methode der teilnehmenden Beobachtung und die Soziologie des Alltags, mit der der ethnographische Blick auf die eigene Lebenswelt umgelenkt wird, lassen sich produktiv mit den Activities in Verbindung setzen. In der Zusammenschau mit Ansätzen von Erving Goffman und Harold Garfinkel entpuppen sich die Activities als Teil der Popularisierung sozialwissenschaftlicher Perspektiven und Sprechweisen, mit der vermeintlich Selbstverständliches verfremdet, beobachtet, verglichen und kritisch befragt wurde. Spannend ist aus heutiger Sicht, dass die Zeit um 1970 in den Vereinigten Staaten mit dem Ausklang des „goldenen Zeitalters der empirischen Sozialforschung“75 zusammenfiel. Die empirische Sozialforschung war zu einem
75 Lutz Raphael, „Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 22, H. 2, 1996, S. 165–193, hier S. 177.
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1. Einleitung
„weithin geläufigen Medium der Selbstbeobachtung und der Thematisierung von Gesellschaft geworden“, traf nun aber immer häufiger auf die Spuren ihrer eigenen Interventionen.76 Fahrt nahmen hingegen ins Soziale verlängerte therapeutische Praktiken auf, während zugleich eine Vielzahl mehr oder weniger wissenschaftlich fundierter Psychopraktiken zur Selbsterforschung und Selbstbehandlung zur Verfügung standen. Äußerungen von Teilnehmern der Activities belegen, dass diese versuchten, deren eigenwilliges Format mit solchen Praktiken zu vergleichen. Auf der Spur dieser Überlegungen widmet sich ein Unterkapitel dem Feedback und der Bedeutung der Kleingruppe zwischen Sozialtechnologie, 76 Vgl. ebd. Von einer „Krise der westlichen Soziologie“ sprach sogar Alvin W. Gouldner in seinem gleichnamigen Buch von 1970. Er konstatierte, dass die großen Theorien und gesellschaftlichen Erklärungsmodelle der Soziologie zu einer „neu aufkommenden Struktur von Gefühlen“ der jüngeren Generation nicht mehr zu passen schienen. Ders., Die westliche Soziologie in der Krise [1970], Reinbek bei Hamburg 1974, S. 15.
Gruppentherapie und Consciousness-Raising. Mit einem Blick auf die späte Activity Team werden schließlich die im Zuge der vorangegangenen Werkanalysen zusammengetragenen Widersprüchlichkeiten in der Beschreibung, Bewertung und Funktionalität der Activities thematisiert. Unter Rückgriff auf Andreas Reckwitz’ Modell eines Wandels der Subjektkulturen werden in einem letzten Anlauf die Activities als ein Projekt beschrieben, mit dem der Wandel von der Subjektkultur der bürgerlichen Moderne in eine (je nach Perspektive) post-, spät- oder doch nachmoderne Subjektkultur mithervorgebracht, bearbeitet, gestaltet und in Ansätzen bewältigt wird. Gerade die Konflikte rund um die Frage, wie explizit und konkret diese Übungen eigentlich durchzuführen sind und welche Selbstauffassung die Teilnehmer bereits mitbringen, kennzeichnen dieses Projekt als eines, dem auch die Verunsicherung angesichts der veränderten Einstellungen zu Beziehung, Intimität, Bewusstseinspolitik und dem Verhältnis zwischen Selbst und Gesellschaft eingeschrieben ist.
2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
2 Allan Kaprow, Postcard back home, 1974, Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series V. A., Writings by Allan Kaprow, Box 48.
Postcard back home In Allan Kaprows Nachlass, der im Getty Research Institute in Los Angeles aufbewahrt wird, befindet sich ein maschinengeschriebener Text mit dem Titel Postcard back home (Abb. 2).1 Betitelung, sprach liche sowie typographische Form und Signatur weisen ihn als Gedicht aus, die Ergänzung des Entstehungszeitraums situiert ihn zugleich – einem Tagebucheintrag vergleichbar – in einer konkreten Lebensphase des Künstlers. Im Dezember 1974 lebte Kaprow bereits fünf Jahre in Südkalifornien und hatte gerade eine berufliche Veränderung be 1 Im Folgenden stammen alle Übersetzungen von Archivalien und englischsprachigen Texten, sofern nicht mit deutschsprachigem Publikationsort angegeben, von der Verfasserin.
werkstelligt. Die Position als Professor und stellvertretender Dekan an der Kunstfakultät der neu gegründeten Kunsthochschule California Institute of the Arts (kurz: CalArts), die ihn 1969 zum Umzug von der Ostküste nach Kalifornien veranlasst hatte, gab er in diesem Jahr zugunsten einer Stelle an der University of California in San Diego auf. In Postcard back home destilliert Kaprow aus einer Folge assoziativ zusammengestellter Eindrücke eine Essenz von Los Angeles als Lebens- und Erfahrungsraum. Seine dreistrophige Postkarte richtet er dabei nicht an einen konkreten Adressaten, sondern schlicht „back home“, also „zurück nach Hause“. Es ist die Ostküste, genauer die Stadt New York, mitsamt den dort leben den Freunden und Familienangehörigen, der diese Vignette zumindest gedanklich zukommt.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
Der Text öffnet mit einer Bewegung hin zur Stadt Los Angeles, die auch ganz konkret als Umzug aufgefasst werden kann. Die erste Strophe führt dann das Bild der Megastadt Los Angeles ein, deren Größe indirekt die Folge ständiger Auf- und Entwertungsprozesse ist – Kaprow wählt bezeichnenderweise nicht den positiven Begriff der Erneuerung, sondern spricht von „replacement“, was ungefähr mit „Ersetzen“ zu übersetzen ist. Los Angeles wird als Stadt beschrieben, die sich in kurzen Zyklen selbst auslöscht, dabei gleichwohl wächst. Sie hat weder ein Zentrum noch wird sie klar begrenzt. „Hier und dort“, mithin die klare Bestimmung der eigenen Position im Stadtraum, ist nur im Plural denkbar – „Heres and theres“. Die zweite Strophe behandelt die besondere Verheißung von Los Angeles, die darin besteht, „Zukünfte wie Sand am Meer“ bereitzuhalten. Die folgende Aufzählung von Gesellschaftsgruppen (Schwarze, Chicano, Frauen, Ausgestoßene) berührt die Vorstellung von der Westküstengroßstadt als Ort der Vielfalt und Selbstbestimmung. Kaprow beschreibt das besondere Angebot der Stadt als: „Touch-me-feelme-Mystik, frisch aus der Wüste“. Der Gedanke einer Verbindung von spirituellem Erlebnis mit konkreter Körpererfahrung wird durch das nachgeschobene, allein gestellte Wort „Skins“ („Häute“), noch bekräftigt. Die letzte Zeile nimmt das erste Wort des Gedichts, „moving“, noch einmal auf und evoziert eine Stadt in ständiger Bewegung. Die Frage: „Warum es nicht versuchen?“ wird schlicht mit: „trying“ beantwortet. Dieses Wort ist allerdings doppeldeutig und kann sowohl im Sinne von „dabei (sein), es zu versuchen“ als auch adjektivisch im Sinne von „herausfordernd“ verstanden werden. Die dritte Strophe greift das Motiv der Haut wieder auf. Los Angeles wird zum Körper, dessen Haut die Freeways wie ein Nervensystem durchziehen. Der Begriff „Flussdiagramm“ in der darauffolgenden Zeile assoziiert die stete Fließbewegung auf den Autobahnen mit einem Schaubild zur Darstellung eines Verlaufs. Die Bewegung durch das Straßennetz erscheint als organischer und rational organisierter Prozess. Das anschließende Begriffskonglomerat „Mittagspausensonnenbräune“ spricht wiederum vom sinnlichen Genuss lichtdurchtränkter Momente der Ruhe im Tagesgeschäft. Die Wiederholung des Wortes „Haut“ im Plural durchzieht das gesamte Gedicht. So auch den zweiten
Teil der dritten und letzten Strophe, in dem mit den „hunderttausend Fassaden gemieteter Bankgebäude“ sowie den „saubersten Autos“ abermals auf glatte, glänzende Oberflächen abgehoben wird. Das Gedicht erreicht seine größte Verdichtung in der Bildung der Antonomasie „skin city“. Wie Paris metonymisch zur ‚Stadt der Liebe‘ verklärt wird, vermag in Kaprows Gedicht die Haut für die gesamte Stadt Los Angeles zu stehen. Der Zusatz „Metaphysiken der Oberfläche“ vertieft allerdings den ambivalenten Eindruck, den bereits die Verbindung von „Berühr-mich-spür-mich“ und „Mystik“ in der zweiten Strophe hervorgerufen hat. Haut wird nicht als schiere Oberfläche oder Verpackung verstanden, sondern als Ort, der eine Verbindung zum tiefsten Inneren wie zur Umwelt des Subjekts hält. Los Angeles ist nicht bloß eine Stadt, in der es viel nackte Haut zu sehen gibt, wenngleich diese populäre Assoziation sicherlich gewollt mitschwingt. In Kaprows poetischem Wurf ist die „Stadt der Haut“ eine, in der überall berührbare Kontaktzonen existieren und die sinnliche Wahrnehmung direkt mit dem kurzgeschlossen werden kann, was hinter der erfahrbaren, natürlichen Welt liegt. Sonne auf der Haut und die letzten Gründe des Seins – in „skin city“ scheinen diese fast in eins zu fallen. Postcard back home demonstriert nicht nur die dichterischen Qualitäten des bildenden Künstlers Kaprow. Der Text kann als Spur einer Erzählung gelesen werden, die Kaprow selbst zu seinem Wechsel von der Ost- an die Westküste entwickelte. Diese Erzählung handelt von Erneuerung, Öffnung und dem Versuch, die akademische und intellektuelle Formation zweier Lebensjahrzehnte mit dem Anspruch auf Lebendigkeit abzugleichen. Sie bildet den Ausgangspunkt für den hier folgenden Versuch, das Wechselspiel von Ort, Künstler und Werk zu kalibrieren: Mit welchem Gepäck trifft der Künstler an der Westküste ein? Welches spezifische Erfahrungsangebot bietet der neue Standort Los Angeles? Welche Produktivität kann diesem Ort mit Blick auf die Entstehung der Activities, die mit ihnen bearbeiteten Themen und die theoretische Selbstbestimmung als Künstler zugestanden werden? Kaprow in Kalifornien – diese Konstellation bietet sich aus drei Gründen als Einstieg in eine Beschäftigung mit den Activities der 1970er-Jahre an. Erstens wird Kaprows Position in der
Rückblende: Künstler werden in New York
Kunstgeschichtsschreibung meist anhand seiner New Yorker Zeit bestimmt, das Andenken an ihn als Lehrenden und Persönlichkeit sowie sein künstlerisches Schaffen ab den 1970er-Jahren hingegen sehr viel stärker in der Kunstszene Südkaliforniens lebendig gehalten. Die unterschiedlich gewichteten Rezeptionen von Kaprow als Künstler, Kritiker, Professor, Lehrer und Intellektueller können somit nur unzureichend nachvollzogen werden, wenn der Standortwechsel nicht mit in Rechnung gestellt wird. Zweitens öffnet das Nachdenken über Kaprow in Südkalifornien den Blick für die arbeitsstrukturellen und persönlichen Bedingungen, unter denen die Activities entwickelt, erprobt und kritisch reflektiert wurden. Da für Kaprow Lehrtätigkeit und eigene künstlerische Produktion eng verwoben waren, wirkten Ausstattung, Anforderungen und Vision des CalArts, an dem Kaprow bis 1974 lehrte, auch an der Weiterentwicklung seiner künstlerischen Position mit. Da das Format der Activity individuelle Umsetzungen von allgemein gehaltenen Anleitungen vorsieht, stellt sich in diesem Kontext zudem die Frage nach dem Zusammenhang von institutioneller Verankerung und Rekrutierung der Teilnehmer. Drittens deuten Postcard back home und andere Spuren darauf hin, dass Kaprow der Wechsel von New York nach Los Angeles nicht einfach widerfahren ist, sondern dass er aktiv die Chance ergriffen hat, eine Veränderung zu bewirken, die vom privaten, familiären Bereich über die Anstellung hin zu einer künstlerischen Neuorientierung reichte. Seine Faszination für die eigenwillige Ästhetik des Stadtraums von Los Angeles und seine Erkundung des südkalifornischen Erfahrungsreservoirs lassen sich nicht ohne weiteres aus seinen Werken der 1970er-Jahre extrahieren, umgekehrt aber erlaubt deren Kenntnis ein facettenreicheres Verständnis der Activities. Dieser Themenkomplex wird im Folgenden im Hinblick auf die Entstehung und Einordnung der Activities der 1970er-Jahre aufgefächert, indem zunächst Kaprows Selbsterfindung als Happeningkünstler in der New Yorker Zeit und seine Auseinandersetzung mit der Kritik am Happening in den 1960er-Jahren, dann die Begegnung des New Yorker Intellektuellen mit Los Angeles und die im Zuge der Arbeit am Cal Arts erfolgte Neubestimmung als ‚Un-Artist‘ betrachtet werden.
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Rückblende: Künstler werden in New York Geboren 1927 in Atlantic City, New Jersey, wuchs Kaprow als Kind jüdischer Eltern in Manhattan auf.2 Der Vater arbeitete als Anwalt, die Mutter war Hausfrau. Im Alter von fünf Jahren litt der Sohn unter starkem Asthma, so dass die Familie sich entschied, ihn in ein Erholungsheim nach Tucson, Arizona, zu verschicken, um für die Genesung des Kindes durch Aufenthalt an frischer Luft und Sonne zu sorgen. Die Schule hatte eine eigene Ranch, die Kinder konnten zum Unterricht reiten und hielten sich viel in der Natur auf. 1939 war der Wechsel auf eine New Yorker Schule vorgesehen, doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich abermals, so dass er noch einmal für eine kürzere Zeit nach Arizona zurückkehrte. Das Zurückgeworfenwerden auf körperliche Unzulänglichkeiten prägte Kaprow stark, noch als erwachsener Mann beobachtete er sorgsam die Funktionstüchtigkeit seines Körpers.3 1942 konnte er schließlich doch an der renommierten High School of Music and Art in New York einen Abschluss machen und die Ausbildung zum Künstler und Kunsthistoriker vollziehen. Er absolvierte den Bachelor in Philosophie und Kunstgeschichte an der New York University, studierte dann Malerei an der privaten Kunstschule Hans Hofmanns, belegte weitere Kurse in Philosophie, schloss 1952 ein Master-Studium der Kunstgeschichte bei Meyer Schapiro an der Columbia University mit einer Arbeit über Piet Mondrian ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Bilder bereits in ersten kleineren Ausstellungen gezeigt. Schon ab 1953 hatte er eine Position als Dozent für Kunstgeschichte und Bildende Kunst an der Rutgers University in New Brunswick, New Jersey, wo er 1956 Assistenzprofessor wurde. Zu seinen Kollegen zählten die Künstler George Segal, Roy Lichtenstein, Robert Watts und Geoffrey Hendricks. Als Mitglied der Fakultät an der Rutgers University trug Kaprow dazu bei, die Hochschule in einen lebendigen Ort experimenteller Kunst zu verwandeln und das Geschehen auf dem Campus im 2 Im Folgenden wird auf die verstreuten Informationen und Selbstaussagen zu Kindheit und Jugend zurückgegriffen, die Jeff Kelley im einführenden Kapitel seiner biographischen Monographie über Kaprow zusammengetragen hat. Siehe Kelley 2004, S. 5–11. 3 Vgl. ebd., S. 228.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
3 Allan Kaprow in Florenz, 1955, Fotografie: Vaughan Rachel.
4 Allan Kaprow, Yard, 1961, Environment in der Ausstellung „Environments, Situations, Spaces“, Martha Jackson Gallery, New York, Fotografie: Ken Heyman.
industriell geprägten Teil New Jerseys mit der jungen Kunstszene in Manhattan zu verbinden.4 1957 belegte er parallel zu seiner Lehrtätigkeit Kurse in der Kompositionsklasse von John Cage an der New School for Social Research in New York. Seine Ölgemälde wuchsen sich zu Assemblagen und schließlich zu Environments aus. Zwei Jahre nach seiner Entstehung wurde im Oktober 1958 Kaprows Essay „The Legacy of Jackson Pollock“, der Liebeserklärung und Vatermord in einer optimistisch-messianischen Rede zusammenführt, in der Zeitschrift ARTnews veröffentlicht. Im Oktober 1959 folgte die Realisierung seines komplizierten, mit mehreren Performern 4 Vgl. Joan Marter, „The Forgotten Legacy. Happenings, Pop Art, and Fluxus at Rutgers University“, in: Off Limits. Rutgers University and the Avant-garde 1957–1963, hg. von ders., Ausst.-Kat. New Brunswick, NJ, Newark Museum, 1999, S. 1–47, hier S. 2f. Marter spricht von der „Rutgers Group“, um die Protagonisten einer produktiven Kunstszene rund um die Kunstfakultät dieser Universität zu beschreiben. Warum sie die Lebensdauer dieser Gruppe genau auf die Jahre 1957 bis 1963 festschreibt, wird nicht einsichtig, auch das Bild einer Künstlergruppe überzeugt nicht vollständig. Es handelte sich um einander kollegial und teilweise freundschaftlich verbundene Künstler, die auf der Suche nach einer Kunst jenseits des Abstrakten Expressionismus in unterschiedliche Richtungen tendierten.
minutiös einstudierten Stücks 18 Happenings in 6 Parts für die von ihm mitbetriebene Reuben Gallery in New York City – und damit der endgültige Abschied vom zweidimensionalen Bildträger. Diese Ereignisse bedeuteten für Kaprow gleich in zweifacher Hinsicht den Durchbruch: Als „Erfinder des Happenings“5 positionierte er sich künstlerisch, mit seinen Texten zu den verschiedenen Erscheinungsformen dieser Kunst nach dem Abschied von der Malerei wurde er als Theoretiker öffentlich wahrgenommen. Der Vergleich zweier fotografischer Selbstinszenierungen kann verdeutlichen, wie stark sich Kaprows Selbstbild als Künstler auf dem Weg von den 1950erin die 1960er-Jahre wandelte. Auf seiner Hochzeitsreise 1955 posierte er als junger Maler. Eine Fotografie (Abb. 3), angefertigt von seiner Frau Vaughan, zeigt den Künstler mit ernstem und etwas scheuem 5 So spricht etwa Lucy Lippard von Kaprow als dem besonders produktiven und einflussreichen Vater des Happenings („prolific father of that medium“), Lucy Lippard, Pop Art, München und Zürich 1968, S. 74. Demetrion nennt ihn im Vorwort zum Katalog der Ausstellung Allan Kaprow den „jungen Erfinder des Happenings“ (im Original:„the young inventor of the Happening“), James T. Demetrion, „Preface and Acknowledgments“, in: Allan Kaprow, Ausst.-Kat. Pasadena, CA, Pasadena Art Museum, 1967, S. 5f., hier S. 5.
Rückblende: Künstler werden in New York
Blick im geöffneten Fenster der Florentiner Urlaubs pension sitzend. Die Ärmel des lockeren Hemds hochgekrempelt und den rechten Arm auf dem Knie abgestützt, hält die in Ruhehaltung formvollendet abgeknickte Hand einen langen Pinsel, der zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt ist. Die Hochzeitsreise wird von dem jungen amerikanischen Paar als Bildungsreise begriffen, die an die verbrieften Orte der Hochkultur und des Pittoresken in Italien führt und bei der selbstverständlich auch die Malroutine aufrechterhalten wird. Vermutlich aus dem gleichen Jahr stammt ein erst kürzlich entdecktes Bekenntnis, das Kaprow umlaufend auf den Vorderseiten der vier Leisten eines alten Spannrahmens notiert, dann aber durch die aufgezogene Leinwand des Gemäldes Standing Nude Against Red and White Stripes verdeckt hatte. Der Text zählt die Freuden des Malens auf und endet mit einer Aussage, die so bekenntnishaft gerät, dass sie direkt ironisch gebrochen werden muss: „That is why I love to paint. I will always be a Painter. Of Sorts.“6 Sechs Jahre später hingegen präsentierte sich Kaprow lässig und energisch in seinem Environment Yard für die Gruppenausstellung Environments, Situations, Spaces in der Galerie von Martha Jackson. Eine der in diesem Kontext entstandenen Fotografien (Abb. 4) zeigt ihn im Hinterhof der Galerie, wie er in den aufgehäuften Autoreifen steht und einen von ihnen zur Seite schleudert, die Pfeife im Mund. Der Künstler bei der Arbeit – das soll hier nicht mehr nach versponnener Vergeistigung und konzentrierten Pinselübungen aussehen, sondern nach der souveränen Verbindung von radikalem Konzept und den 6 Der handschriftliche Text wurde 2017 vom Restaurator Martin Langer entdeckt, als er die Leinwand des Gemäldes löste, um sie für eine Ausstellung in der Villa Merkel in Esslingen auf einen neuen Keilrahmen zu übertragen. Der Text, in Großbuchstaben notiert, lautet in Gänze: „Oh the pleasures of painting. Playing in mud. The small changes in tone. Like music to my eyes. Paint is you. Paint is me. Such a pleasure to paint. To paint is to live. A mistake. A wrong turn. A slip impossible. Not in this realm. The joy. Happiness. The pleasure of painting. To create things like god. To distroy at will a world of my own experiment in. A phals false world. Where nothing counts. And everything counts. It brings me closer to truth. Truth does not exist. Painting does. Good paint. Bad paint. Right paint. Wrong paint. Never too much. Too little. Too big. Too small. It is. That is why I love to paint. I will always be a painter. Of sorts.“ Der Text ist abgedruckt in Allan Kaprow. Malerei 1946–1957. Eine Werkschau, hg. von Andreas Baur, Ausst.-Kat. Esslingen, Villa Merkel, Köln 2017, S. 129.
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ganzen Körper fordernder Umsetzung.7 Kaprow legte dementsprechend bereits mit Entstehen der ersten Environments Wert darauf, bei Fotografien nie vor, sondern stets im Werk zu stehen, um so die von ihm mit publizistischer Tätigkeit begleitete Abkehr vom zweidimensionalen Bildträger augenfällig zu machen. Die 1960er-Jahre, in denen er als Professor an der State University of New York in Stony Brook auf Long Island arbeitete, waren für Kaprow eine Phase von großer Produktivität und lokaler, nationaler wie internationaler Vernetzung.8 Mit dem Selbstbewusstsein, eine eigene künstlerische Position definieren zu können und damit Kunstgeschichte zu schreiben, entwickelte er eine Vielzahl unterschiedlicher Happenings. Bald fanden diese auch im Rahmen von Festivals statt, die mit dem Aufstreben der performativen Künste ins Leben gerufen wurden.9 Selbstverständliche Basis aller Aktivitäten und Habitat der für Kaprow wichtigen Netzwerke blieb dabei die Stadt New York. Als Ort einer genuin modernen, großstädtischen Wahrnehmung würdigte der Künstler sie in seinem Essay „The Legacy of Jackson Pollock“: Pollock, as I see him, left us at the point where we must become preoccupied with and even dazzled by the space and objects of our everyday life, either our bodies, clothes, rooms, or, if need be, the vastness of Forty-second Street.10 7 Die Selbstinszenierung Kaprows auf den Fotografien zu Yard lässt sich in Nachfolge der berühmten Fotografien von Jackson Pollock in Aktion verstehen – entsprechend montierte Kaprow selbst 1966 in seinem Band Assemblage, Environments & Happenings diese Fotografien in direkter Nachbarschaft. Dirk Hildebrandt hat überzeugend dargelegt, dass mit dieser Doppelseite „das historische Werden von Kaprows raumbasierter Produktion als einer aus dem Geist von Pollocks Malerei entstandenen Kunstform in metaphorisch verdichteter Weise bezeugt [wird]“. Dirk Hildebrandt, „Step right in. Der Leser und Allan Kaprows Assemblage, Environments & Happenings“, in: Gedruckt und erblättert. Das Fotobuch als Medium ästhetischer Artikulation seit den 1940er Jahren, hg. von Burcu Dogramaci u. a., Köln 2016, S. 76–88, hier S. 84. 8 Zu den Stationen des künstlerischen und akademischen Werdegangs sowie dem Privatleben siehe die sorgfältige Chronologie in Ausst.-Kat. München, Art as Life, 2008, passim. 9 Dazu zählen zum Beispiel das von Charlotte Moorman initiierte New York Avant Garde Festival ab 1963 und das von George Brecht und Robert Watts koordinierte Yam Festival. 10 Allan Kaprow, „The Legacy of Jackson Pollock“ [1958], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 1–9, hier S. 7.
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Chiffrenhaft wird mit „der Weite der 42. Straße“, die zu den bekanntesten Straßenzügen Manhattans zählt, der öffentliche Stadtraum New Yorks als landschaftsähnlicher Erfahrungsraum aufgerufen, den es zu würdigen gilt. Die Ankündigung einer „neuen konkreten Kunst“, die im letzten Teil des Essays stattfindet, steht in der Tradition einer Evokation spezifisch großstädtischer Erfahrung, in der das urbane Leben in den privaten Nahraum eindringt und umgekehrt:
Teil solle „in der Stadt“, der zweite „in den Wäldern“ stattfinden.13 Dass „in der Stadt“ gleichbedeutend mit „in New York City“ zu verstehen ist, verrät die einzige konkrete Ortsangabe im Text. Der vierte Akt lautet:
Objects of every sort are materials for the new art: paint, chairs, food, electric and neon lights, smoke, water, old socks, a dog, movies […], found in garbage cans, police files, hotel lobbies; seen in store windows and on the streets […]. An odor of crushed strawberries, a letter from a friend, or a billboard selling Drano, three taps on the front door, a scratch, a sigh, or a voice lecturing endlessly, a blinding staccato flash, a bowler hat – all will become materials for this new concrete art.11
Mit dem Abliefern der wie Pakete verschnürten Personen am zentralen Informationsschalter mit den vier Uhren der Grand Central Station in Manhattan (Abb. 5) endete deren blinde Odyssee durch die Stadt, nachdem sie zuvor wartend an der Straßenecke gestanden, dann von einem Auto abgeholt und von einem Mitfahrer vollständig mit Aluminiumfolie umwickelt, so zurückgelassen, von einem anderen Fahrer abgeholt, aus der Folie gewickelt, in einem Tuch wie ein Paket verschnürt, in einem öffentlichen Parkhaus abgeladen, schließlich von einem weiteren Auto eingesammelt und zu besagtem Informationsschalter gebracht worden waren. Nach einer Weile des Wartens riefen die verhüllten Gestalten Namen und hörten die anderen neben sich ebenfalls rufen, befreiten sich dann aus ihrer Verpackung und verließen das Bahnhofsgebäude. Die Schalterhalle der über vierzig Bahnsteige umfassenden Grand Central Station, die zu den bekanntesten öffentlichen Räumen der Stadt gehört, führt die zentralen Themen dieses Happenings zusammen: Mobilität, Kommunikation, Handel. Sie ist Knotenpunkt und Umschlagplatz. Pendler und Reisende werden hier massenweise in die Stadt gepumpt und aus ihr wieder abgesaugt. In zahlreichen Texten und Filmen fungierte sie als Schauplatz emotionaler Abschiedsund Wiedersehensmomente und als eindrucksvoller
Kaprows Schreibweise verlässt in dieser Schlusspassage den Bereich kunsthistorischen oder kunstkritischen Argumentierens und stößt in das Feld der Poesie vor. Die benannten Dinge, Sinneseindrücke und bildhaft aufscheinenden Räume bewirken in ihrer collageartigen Anhäufung sowohl Stimulation wie auch Überforderung. Vermittelt wird so eine bereits im 19. Jahrhundert hervorgetriebene Essenz der Großstadterfahrung – und zugleich der Anspruch, diese als natürliches Habitat wie Reservoir einer modernen Kunst zu begreifen.12 Einfallsreichere und auch verstörende Bilder vom Subjekt im großstädtischen Raum entwarf Kaprow knapp zehn Jahre später im Happening Calling, das im August 1965 realisiert wurde. Die schriftliche Partitur bestimmt den Ort für dieses Happening nicht genau, sondern legt nur fest, der erste 11 Ebd., S. 9. 12 Die Passage lässt sich nicht nur lose mit Schreibweisen der Beat-Poeten verbinden, sondern erinnert auch an poetische Versuche der Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen Großstadterfahrung nicht nur beschrieben, sondern auch evoziert werden sollte, etwa in Yvan Golls Gedicht „Paris brennt“. Siehe hierzu Johannes Ullmaier, Yvan Golls Gedicht ‚Paris brennt‘. Zur Bedeutung von Collage, Montage und Simultanismus als Gestaltungsverfahren der Avantgarde, Tübingen 1995.
At the garage, a waiting auto starts up, the person is picked up from the concrete pavement, is hauled into the car, is taken to the information booth at Grand Central Station. The person is propped up against it and left.14
13 Allan Kaprow, „Calling“, in: Happenings and other acts, hg. von Mariellen R. Sandford, Abingdon, New York und London 1995, S. 195–201, hier S. 195. 14 Ebd. Ursprünglich hatte Kaprow vorgesehen, dass die verpackte Person zuvor in einem öffentlichen Mülleimer deponiert und von dort zum Bahnhof gebracht wird. Vgl. die Version der maschinengeschriebenen Partitur in Ausst.-Kat. München, Art as Life, 2008, S. 179. Vermutlich erwies sich diese Station in der Umsetzung als zu drastisch und wurde daher später aus der Partitur entfernt.
Rückblende: Künstler werden in New York
Ort der Erstbegegnung mit der Metropole New York. Die Bedeutungsdichte dieses Ortes macht sich Kaprow in Calling zunutze, ohne dabei vertraute Szenen aufzurufen. Das Bild der verpackten, entsubjektivierten Körper, die erst wie Schmuggelware von Station zu Station verbracht, dann abgeladen und ihrem Schicksal überlassen werden, wirkt befremdlich. Auch die ‚Befreiung‘ wird nicht als echte Überwindung der Vereinzelung inszeniert – das Happening ist stattdessen durchzogen von Anrufungen, von denen einzelne zwar nach dem Zufallsprinzip den nächsten Handlungsschritt auslösen, aber niemals zu einer echten Kommunikation oder einem Gespräch führen. Alle Akteure, ob Transporteure oder Transportierte, wirken gefangen in vorgefertigten Abläufen und beschnitten in ihrer Sensibilität. So wie die verschnürten Gestalten einen Kontrast zu den vorbeieilenden Passanten bilden, wird Stadt als Erfahrungsraum in Calling gegenläufig zu den oben skizzierten Auffassungen entworfen, die noch von einem modernistischen Stadtpathos durchweht sind. Rausch der Geschwindigkeit, Freuden des Flaneurs, intensive Simultaneitätserfahrungen, gesteigerte Aufmerksamkeit und intensivierte Wahrnehmung bleiben den Individuen in Calling versperrt. Sie werden vereinzelt, verpuppt, beschränkt und aufgabenorientiert durch den urbanen Raum bewegt.15 Dem Interesse an Kommunikationswegen, Distanzverhältnissen und Entfremdungsmomenten, das sich in Calling andeutete, sollte Kaprow mit seinen Arbeiten der 1970er-Jahre genauer nachgehen. Die am Großstadtbild der Moderne orientierte emphatische Auffassung von Stadterfahrung spielte dabei immer weniger eine Rolle – auch deshalb, weil Los Angeles als starker Kontrast zu New York zahlreiche Anreize dafür bot, das Verhältnis von Individuum und Großstadt als eines von Ich-Zelle und Umwelt neu zu denken. 15 Philip Ursprung kommt nach einer knappen Paraphrase zu dem Schluss, Calling sei das Happening, welches „am kühnsten in den öffentlichen Bereich eindrang und damit die Funktion des öffentlichen Raums thematisierte“, sieht diese Funktion aber vorrangig auf die Kunstwelt, also den Kontrast zum Ausstellungsraum, bezogen. Ursprung 2003, S. 118. Unter besonderer Berücksichtigung der räumlichen Ausdehnung dieses Happenings und der Transformation alltäglicher Wirklichkeit wird Calling ausführlicher besprochen bei Schieder 2015, S. 155–170.
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5 Allan Kaprow, Calling, 1965, Teilnehmer in der Grand Central Station, New York, Fotografie: Peter Moore.
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Kritik und Historisierung des Happenings Kontakt zur Westküste der Vereinigten Staaten nahm Kaprow spätestens im Zuge der Arbeit an dem Happening Self-Service 1966 auf. Erstmals konzipierte er ein Happening, das an verschiedenen Orten gleichzeitig stattfinden sollte und bei dem drei Institutionen mit ihm kooperierten – der Kunstbuchverleger Harry N. Abrams in New York, das Institute of Contemporary Art in Boston sowie das Pasadena Art Museum. Letzteres befand sich zu dieser Zeit in einer Expansionsphase, die sowohl einen Neubau als auch den Ankauf von Werken der zeitgenössischen Kunst umfasste. Im Herbst 1967 fand hier mit Allan Kaprow die erste Retrospektive zu Kaprows Schaffen statt, die großen Anteil an der vom Künstler selbst betriebenen Historisierung des Happenings als Kunstform hatte.16 Schon im Jahr zuvor hatte Kaprow mit seiner publizistischen Großtat, dem 1966 bei Harry N. Abrams erschienenen Band Assemblage, Environments and Happenings nicht nur eine Geschichte seiner eigenen künstlerischen Entwicklung vorgelegt, sondern die des Aufbruchs einer ganzen Generation von Künstlern im Zeichen einer Erneuerung der Kunst jenseits der klassischen Gattungen und einer Überwindung leerlaufender Formeln der Abstraktion. Publikation und Retrospektive fielen zugleich in eine Phase, in der zwar die Energie des Neuanfangs längst aufgebraucht war, aber längst nicht alle Künstler an einer Großerzählung im Sinne Kaprows interessiert waren. So wie er selbst sich 16 Siehe Ausst.-Kat. Pasadena, Allan Kaprow, 1967. Mit dem erst 31-jährigen Walter Hopps, einem umtriebigen Kurator und Galerist der jungen Kunstszene in Los Angeles, hatte das Pasadena Art Museum bis 1967 einen Direktor, der nicht nur mit seinen Zeitgenossen bestens vernetzt war, sondern auch für die ersten Retrospektiven von Kurt Schwitters und Marcel Duchamp in den Vereinigten Staaten verantwortlich zeichnete und dem Museum somit zu großer Bekanntheit verhalf. Hopps hatte wohl die Ausstellung Kaprows noch geplant, war aber zur Eröffnung schon abgelöst von seinem Nachfolger James T. Demetrion. Obwohl im Katalog zur Ausstellung als Verantwortliche die kuratorische Assistentin Barbara Berman genannt wird, schreibt Karen Moss, John Coplans sei damals in Vertretung von Hopps für Kaprows Ausstellung zuständig gewesen. Vgl. Karen Moss, „Beyond the white Cell. Experimentation/ Education/ Intervention in California circa 1970“, in: State of mind. New California Art circa 1970, hg. von ders. und Constance M. Lewallen, Ausst.-Kat. Newport Beach, Orange County Museum of Art, Berkeley, Los Angeles und London 2011, S. 120–193, hier S. 136.
nicht mit dem von George Maciunas konzipierten „Fluxus“-Etikett versehen lassen wollte,17 marschierten auch die Happeningkünstler keineswegs geordnet hinter Kaprows Standarte.18 Mehr noch, es wurde immer offensichtlicher, dass mit dem Begriff ‚Happening‘ inzwischen vielerlei gemeint war, während gleichzeitig das kunsthistorische Verständnis dieser Kunstform noch nicht sehr stark ausgeprägt war. An der Ostküste, auf Long Island, fand im Sommer 1966 über die Dauer von drei Tagen Kaprows spektakulärstes Happening statt. Für Gas kooperierte er mit dem Künstler Charles Frazier und dem Fernsehproduzenten Gordon Hyatt. Gefördert wurde die Unternehmung von dem Fernsehsender WCBS und der Galeristin Virginia Dwan.19 Als einziges Happening Kaprows wurde Gas auch auf eine Fernsehauf17 Kaprow berichtet in einer Mischung aus persönlicher Erinnerung und verspätetem Nachruf auf Maciunas, im Prinzip habe ihn bloß der vehemente Versuch der Vereinnahmung durch denselben davon abgehalten, sich als ‚Fluxist“ zu bezeichnen. Vgl. Allan Kaprow, „Maestro Maciunas“ [1996], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 243–246, hier S. 243. Maciunas selbst sah seine Fluxus-Unternehmung mit dem Umzug nach New York 1963 in Konkurrenz zu den Happenings, in seinem Expanded Arts Diagram (1966) rubrizierte er Kaprow und die New Yorker Happeningszene in der Kategorie „Neo-Baroque Theatre“ mit beträchtlicher Entfernung zur Fluxussparte. Trotz solcher Rivalitäten von einst erweist sich die scharfe Trennung von Fluxus und Happening, mit der Unterschiede und Abgrenzungen überbetont werden, heute nicht mehr als produktiv. Siehe hierzu auch Hannah Higgins, Fluxus Experience, Berkeley, CA, 2002, S. 13. 18 So kam es etwa zwischen Allan Kaprow und Claes Oldenburg zum Zerwürfnis, weil letzterer sich in Kaprows Version einer Kunstgeschichte des Happenings nicht wiederfinden wollte und der Meinung war, ein Künstler müsse einen starken Begriff davon haben, dass das, was er tut, Kunst sei und es auch als solche bezeichnen. Oldenburg konnte Kaprows ironisch-lässiges Spiel mit den Begriffen und seine Bereitschaft, womöglich überhaupt keinen eindeutigen Begriff für das zu finden, was er tat, schwer ertragen. Ein Briefwechsel von 1961, der in den Allan Kaprow Papers im Getty Research Institute in Los Angeles aufbewahrt ist, legt von dieser Auseinandersetzung Zeugnis ab. Eva Ehninger bespricht die Diskussion auf Grundlage des Briefwechsels, allerdings ohne dabei noch einen Abgleich mit Kaprows theoretischen Schriften vorzunehmen. Siehe Eva Ehninger, „What’s Happening? Allan Kaprow and Claes Oldenburg argue about Art and Life“, in: Getty Re search Journal, Nr. 6, 2014, S. 195–202. 19 Zur Ausrichtung der Galerie von Virginia Dwan, einer der auffallend vielen Galeristinnen der Kunstszene um 1960, siehe Dwan Gallery. Los Angeles to New York 1959–1971, hg. von James Meyer, Ausst.-Kat. Washington, National Gallery of Art, Chicago 2016.
Kritik und Historisierung des Happenings
zeichnung hin konzipiert. Ein Poster (Abb. 6) diente als Ankündigung, lud zur Teilnahme ein und führte stichwortartig die geplanten Ereignisse auf. Vorgesehen waren unter anderem eine langsame Parade mit Fantasiefiguren auf Luftkissenfahrzeugen, eine Fährüberfahrt, winkende Krankenschwestern am Ufer und das Durchwandern eines Meeres von Löschschaum unterhalb der Klippen. Solchermaßen verdichteten Ereignissen folgten immer wieder Phasen der Entspannung oder Nachbereitung, so sind im Text etwa „Interviews“ und „Zeit zum Spielen“ vermerkt. Es ist von einer „Menschenmenge“ die Rede, die in die Geschehnisse involviert ist. Wie Philip Ursprung zutreffend bemerkt, steht Gas im Zeichen der Expansion.20 Das Happening ist zeitaufwändig, materialintensiv und raumgreifend. Die großen runden Wetterballons, die mit Luft gefüllt und geschoben wurden, beim Transport aus den Autofenstern quollen und in den Himmel über dem Meer stiegen, bildeten das Leitmotiv dieses Spiels mit Ausdehnung, Übersteigung und Verflüchtigung. Der dazu passende Titel Gas begleitete die Teilnehmer während der drei Tage in Form eines Logos auf einem Button, ergänzt um das Statement „I’m a happener“ (Abb. 7), wobei unklar ist, wer für die Produktion dieser Buttons verantwortlich zeichnete. Was Ende der 1950er-Jahre als radikale neue Kunstform von einem kleinen Kreis Kunstinteressierter wahrgenommen worden war, fungierte nun als Anlass für eine zur Schau getragene Haltung. Wer sich den Button anheftete, bekannte sich dazu, Zeit und Energie in ein unkonventionelles und offensichtlich zweckfreies Unterfangen zu investieren. Wer „I’m a happener“ sagte, konnte damit auch ausdrücken, über das besondere Ereignis der drei Tage hinaus Formen des kreativen Spiels im alltäglichen Leben Raum zu geben – und in diesem Sinne beispielsweise spontan eine Gartenparty oder einen Road Trip als Happening deklarieren, ohne hierfür eine schriftliche Partitur verfasst zu haben. Der Film zu Gas, der im Rahmen der Kooperation mit dem Fernsehsender entstand, dokumentiert diese Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung des Happenings.21 Er bietet
20 Vgl. Ursprung 2003, S. 120. 21 Eine Kopie des Films befindet sich in den Allan Kaprow Papers am Getty Research Institute, Los Angeles. Zu Kaprows Reaktion auf die fertige Produktion vgl. Haywood 2017, S. 97.
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6 Allan Kaprow, Poster für Gas, 1966, Happening, sponsored by Dwan Gallery and WCBS-TV, The Hamptons, Long Island, New York.
weder eine halbwegs umfängliche Dokumentation des aufwendigen Happenings noch vermag er selbst künstlerische Akzente zu setzen. Stattdessen zeigt er ausführlich einen peinlichen Zusammenschnitt von Bikinimädchen in Nahaufnahme und einem Rockkonzert am Strand – und somit ein festivalartiges Ereignis, das im Text von Kaprow so nicht formuliert, sondern von den Fernsehproduzenten freimütig ergänzt worden war. Die Kooperation mit dem Fernsehen entpuppte sich allerdings nicht nur im Hinblick
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
7 Allan Kaprow, Gas, 1966, Fotografie: Burton Berinsky.
auf das Ergebnis als unbefriedigend. Schon während der Realisierung von Gas erlebten die Teilnehmer die Anwesenheit der Kameramänner als störend, da diese versuchten, mit Durchsagen über Lautsprecher auf den Fluss der Ereignisse einzuwirken.22 Als nachgetragene Reaktion auf die Probleme mit der TV-Produktion von Gas machte Kaprow in seinem letzten Happening Publicity, 1970 im Rahmen der Gründung des CalArts aufgeführt, die Kameraleute von der Konzeption an zu gleichberechtigten Akteuren im Happening. Publicity sah vor, dass die teilnehmenden Kunststudenten Teams bildeten, mit einfachen Holzlatten architektonische Konstruktionen in der Wüstenszenerie von Vasquez Rocks nördlich von Los Angeles bauten und währenddessen von Filmteams umkreist werden sollten (Abb. 8). Die Filmteams erhielten klobige, aber tragbare Portapak-Kameras von Sony, die zur nagelneuen, teuren Ausstattung der Kunsthochschule gehörten. Die Kameras wurden um kleine Monitore ergänzt, auf denen das frisch erzeugte Videomaterial direkt vor Ort abgespielt werden konnte. So entstand ein Feedbacksystem, welches den Anspruch, Öffentlichkeitsarbeit zu 22 Vgl. den Bericht des Teilnehmers Nat Freedland, zitiert in Ursprung 2003, S. 93.
leisten, auf die fragile Gemeinschaft der Teilnehmer zurücklenkte. Plötzlich gab es kein Außen mehr, jeder war Akteur des Happenings und Öffentlichkeit zugleich. Im Zuge der Realisierung von Publicity machte Kaprow abermals die Erfahrung, dass das Happening als Veranstaltung Reaktionen auslöste, die die von ihm gesteckten Grenzen deutlich überschritten. Während Publicity in vollem Gange war, versuchte ein junger Student, das Geschehen zu entern. Er war als Teil eines Künstlerduos an der Kunthochschule zugelassen, trat aber vorrangig als Anführer einer Kommune in Erscheinung, die überwiegend aus nicht studierten Frauen bestand. Gemeinsam mit einer Gruppe maskierter Männer, die brennende Signalfackeln hielten, befuhr er die Wüste von Vasquez Rock mit einem kleinen Lastwagen. Während er erklärte, man werde nun die verbliebenen Holzvorräte in Brand setzen, übergossen seine Mitstreiter diese bereits mit Benzin. Kaprow geriet in Panik, da ihm die Gefahr eines Großbrands in der Wüste vor Augen stand. Er holte sich die Unterstützung einiger großgewachsener Studenten und erteilte den ‚Angreifern‘ einen Platzverweis. Diese zogen sich tatsächlich zurück, verwundert wohl auch darüber, dass gerade der Erfinder des Happenings dermaßen für Ordnung eintrat und spontaner Intervention einen Riegel vorschob.23 Der aggressive Auftritt der jungen Männer wäre als Anekdote nicht der Rede wert, würde er nicht die divergierenden Auffassungen von einem Happening vor Augen führen, die Kaprow 1970 nicht länger ignorieren konnte. Die Intervention war als Auftritt gestaltet, mit dem die Männer sich ermächtigten, die Grenze zwischen Performance und kriminellem Akt oder Gewalttat auszutesten. Eine Erfahrung zu machen, bedeutete für sie, eine extreme Erfahrung zu machen, die darin bestand, sich selbst als einschüchternd und tendenziell brutal zu erleben. Ihre Provokation zielte darauf ab, den Übergang von der Kunst ins Leben anders zu definieren, als Kaprow dies mit seinen Happenings tat. Sie wählten den Modus der konzertierten, plötzlichen Aktion, die in eine beste23 Zu dem Zwischenfall vgl. Kelley 2004, S. 152f. In einem 2016 in Los Angeles geführten Gespräch der Verfasserin mit Peter Kirby, der als Filmstudent an Publicity beteiligt gewesen war, bestätigte dieser die Ereignisse und betonte, Kaprow sei überaus enttäuscht und wütend angesichts dieser Konfrontation gewesen.
Kritik und Historisierung des Happenings
hende Situation einbrach und diese unbedingt verändern sollte. Für ihr Rollenspiel verschafften sie sich den nötigen Auftritt und zwangen das unvorbereitete Gegenüber zur schnellen Reaktion, da sie nicht mit Theaterrequisiten hantierten, sondern imstande waren, echte Zerstörung und körperliche Versehrung zu verursachen. Im Gegensatz zu Kaprow lag ihnen nichts ferner, als im Vorhinein eine Partitur zu besprechen und Spielregeln abzustimmen. Ihr Ansatz glich in den Grundzügen der von der Populärkultur geprägten öffentlichen Wahrnehmung, in der das Happening als Grenzüberschreitung ohne Rücksicht auf Verluste galt. Seit der Institutionalisierung des Happenings als Kunstform um 1963 hatte sich der Begriff inzwischen zur Bezeichnung verschiedenster Formen der Provokation von Ereignishaftigkeit in der Jugendkultur eingebürgert.24 Diese Vorstellung dokumentiert in besonders pointierter Weise der Kinofilm The Happening von 1967, welcher ohne besonderen ästhetischen Anspruch die Geschichte von vier jungen Herumtreibern erzählt, die sich auf der Suche nach dem nächsten Kick in einen Entführungsfall und erotische Abenteuer verwickeln. Der Umschlag des Buchs zum Film versprach: „Today’s generation really turns on at The Happening“. In dem Moment, in dem unter ‚Happening‘ im Prinzip jede Form von ausschweifendem, spielerischen Zusammensein respektive eine auf möglichst intensive Erfahrungen hin gestaltete Gruppensituation begriffen werden konnte, sahen sich die Happeningkünstler der ersten Stunde allerdings nicht etwa in ihren Anliegen bestätigt, sondern vielmehr bemüßigt, das Happening einer Kritik zu unterziehen. Der amerikanische Fluxuskünstler Dick Higgins schrieb 1976 rückblickend, die Konjunktur des Begriffs ‚Happening‘ habe zu der weitverbreiteten, missbräuchlichen Verwendung des Wortes für verschiedene inszenierte Situationen oder gar jegliche Art von Event geführt.25 Higgins wies jedoch darauf 24 Zur spannungsreichen Institutionalisierung des Happenings vgl. Sally Banes, Greenwich Village 1963. Avant-Garde, Performance and the Effervescent Body, Durham und London 1993, S. 58. Zur populären Verwendung des Begriffs ‚Happening‘ siehe außerdem Rodenbeck 2011, S. xii. 25 Vgl. Dick Higgins, „The Origin of Happening“, in: American Speech, Bd. 51, Nr. 3, Herbst/Winter 1976, S. 268–271, hier S. 270. Higgins nennt als Beispiel unter anderem die
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8 Allan Kaprow, Publicity, 1970, Vasquez Rocks, Aqua Dulce, CA, sponsored by California Institute of the Arts.
hin, dass die ungleiche Wahrnehmung der verschiedenen Tendenzen innerhalb der Happeningszene selbst diesem Verständnis Vorschub geleistet hätte. Mit Blick auf Aktionen von Jean-Jacques Lebel oder Al Hansen schrieb er: This […] kind of work caught the journalistic eye; thus the public came to think of all happenings as wild, irrational free-for-alls, so that by the mid 1960s most happening artists had either to qualify their use of the term or to find another one.”26 Vor dem Hintergrund einer solchermaßen doppelten Einkreisung des Happenings – einerseits wird der Begriff populär, andererseits kapriziert sich die kunstkritische und öffentliche Wahrnehmung auf die orgiastischen, schockhaften, latent gewalttätigen Aspekte – befleißigte sich auch Kaprow verschiedener Abgrenzungsmanöver, um seiner eigenen Auffassung vom Happening Kontur zu verleihen. Hatte er 1966 noch durchaus begeistert berichtet, das Happening
Werbeanzeige einer italienischen Kreuzfahrtlinie, die mit folgendem Satz warb: „Mealtime happenings are only part of the fun.“ 26 Ebd., S. 269.
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habe sich „wie ein Virus“27 über den ganzen Globus verteilt und sei lebendig wie nie zuvor, schrieb er bereits ein Jahr später, er versuche, das Happening „loszuwerden“28. Aufgrund der weiten Verbreitung sei dieser Versuch allerdings bislang erfolglos geblieben, weshalb es zumindest nötig sei, die unterschiedlichen Spielarten des Happenings klar zu unterscheiden, um den eigenen Standpunkt deutlich zu machen.29 1972 wurde Kaprow in einem Gespräch mit Kunststudenten danach gefragt, ob es auch schlechte Happenings gebe. Er schilderte daraufhin vage und ohne einen Namen zu nennen das Happening einer Künstlerin, das er vor längerer Zeit gesehen hatte und formulierte rückblickend sein Unbehagen: I didn’t like the chaos. Mostly because it was full of such hostilities that I got frightened. I don’t like the near riot situations because I feel like running. […] It was so horrifying. I ran away.30 Eine Frau aus dem Publikum, die das gleiche Happening miterlebt hatte, meinte daraufhin, aber genau das habe ihr gefallen, das hysterische Lachen und die Panik seien so „real“ gewesen. Darauf antwortete Kaprow, es gebe in seinem Leben schon genug Beängstigendes und fügte hinzu: What do we mean by ‚real things‘? Drama, Tragedy? Those are highpoints of feeling. What about that grey zone in which most of us live in most of the time, don’t we have a look at those moments as reality? I am really more interested in those grey zones.31 27 Allan Kaprow, „The Happenings are Dead: Long Live the Happenings!“ [1966], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 59–65, hier S. 59. Die Aussage lautet im Original: „Happenings have been spreading around the globe like some chronic virus.“ 28 Im Original: „Most, including myself, have tried to get rid of the word Happening“. Allan Kaprow, „Pinpointing Happenings“ [1967], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 84–89, hier S. 85. 29 Vgl. ebd. 30 Allan Kaprow in einem Gespräch an der Cooper Union, New York City, vermutlich 1972 im Anschluss an die Realisierung von Scales, Videoaufzeichnung aufbewahrt in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Films, Videos and Audio Tapes, Box 88, Transkription der Verfasserin. 31 Ebd.
Diese spontan im Gespräch getätigten Äußerungen weisen einerseits zurück auf eine Geschichte des Happenings, in der Kaprow seine eigene Position behaupten möchte, andererseits nach vorn in Richtung des Themenspektrums, dem Kaprow sich mit seinen Activities widmet. Bezeichnend ist das Bekenntnis, sich unwohl zu fühlen, wenn Happenings oder Performances aus dem Ruder geraten und ins Chaotische, Frenetische, Orgiastische oder Gewalttätige kippen. Obwohl seine eigenen Happenings radikal die Gattungsgrenzen überschritten und Unwägbarkeiten in der Realisierung in Kauf nahmen, waren sie doch in vielerlei Hinsicht im Justemilieu des von den performativen Künsten zu dieser Zeit ausgeloteten emotionalen Spektrums zu verorten. Dessen war sich Kaprow wohl bewusst, wenn er betonte, seine künstlerische Praxis gerade nicht als Anti-Kunst oder Neo-Dada verstanden wissen zu wollen. So äußerte er sich in einem Interview mit Susan Hapgood rückblickend zu den Anfängen des Happenings: We did not think, as the Dadaists did in 1916, that the world had gone crazy and there was no redemption in sight – its current of cynicism. Rather, we felt that here was freedom to put the real world together in weird ways. It was […] a heady kind of appetite for […] a new kind of involvement in everyday life without the judgements about it, either social or personal.”32 Der auf Pragmatismus, Ernsthaftigkeit, Konzentration und Analyse gründenden Haltung Kaprows war Zynismus ebenso fremd wie eine in der Tradition von Dada oder Surrealismus stehende explizite Erkundung des Irrationalen, Sexuellen, Abjekten oder Wahnsinnigen. Damit ist nicht gesagt, dass es nichts Befremdendes, keine Absurdität, keine Untiefen, nichts Körperliches in seinen Arbeiten gibt – aber sie zeichnen sich nie durch einen umstürzlerischen, das Extreme herausfordernden oder in Szene setzenden Impetus aus. Kaprows Qualität liegt in der genauen und vielseitigen Erprobung der Möglichkeiten und
32 Allan Kaprow, Interview (geführt von Susan Hapgood), 12.8.1992, in: Neo-Dada. Redefining Art, 1958–62, hg. von Susan Hapgood, Ausst.-Kat. Center for the Arts, Scottsdale, AZ, New York 1994, S. 115–121, hier S. 117.
Kritik und Historisierung des Happenings
Grenzen einer offenen Form, nicht in der expliziten Provokation durch Formlosigkeit oder Deformation. Auch in Bezug auf die Partizipation vertrat er dementsprechend eine Position der Mäßigung und Formwahrung: Then, on a human plane, to assemble people unprepared for an event and say that they are ‘participating’ if apples are thrown at them or they are herded about is to ask very little of the whole notion of participation. […] I think that it is a mark of mutual respect that all persons involved in a Happening be willing and committed participants who have a clear idea what they are to do. This is simply accomplished by writing out the scenario or score for all and discussing it thoroughly with them beforehand.”33 Kaprow war überzeugt davon, der mit allen Teilnehmern besprochene Text könne verhindern, dass ein Happening dem vorgestellten Erfahrungs- und Bilderhorizont gänzlich entgleitet oder von einzelnen Teilnehmern auf Kosten der anderen abgewandelt wird. Partizipation setzte für ihn Einverständnis, Vorbereitung und eine gemeinsame Textbasis voraus. Das Happening grenzte er in historischer Perspektive von den Soireen und Aktionen der Dadaisten und Futuristen ab, distanzierte sich aber auch von der Performancekunst der jüngeren Generation. Im Gegensatz zu den frühen Vertretern der Body Art wie Chris Burden oder Carolee Schneemann setzte Kaprow seinen eigenen Körper nicht als Material ein und ließ die Happenings nicht vor Publikum stattfinden. Eine Gefährdungslage im White Cube zu inszenieren, wie Burden mit seiner Performance Shoot 1971 in dem kalifornischen Kunstraum F-Space, hätte sich weder mit Kaprows Verständnis von Partizipation noch mit seinem Zurückweichen vor dem Expliziten vereinbaren lassen. Nicht nur als pubertärer Streich, auch als Performance war die Intervention des jungen Studenten und Kommunenanführers während der Realisierung von Publicity Kaprow unangenehm. Übersah er damit die Zeichen der Zeit? War es nicht folgerichtig, dass das Happening als die Kunstform 33 Allan Kaprow, Assemblage, Environments & Happenings, New York 1966, S. 196.
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der Grenzüberschreitung von den Ausdrucksformen der protestierenden Studenten und libertären Hippies in den späten 1960er-Jahren adaptiert und überholt wurde? Es dürfte Kaprow nicht entgangen sein, dass das Happening längst ein Eigenleben auf dem Feld der öffentlich demonstrierten gegenkulturellen Haltung führte – als Begriff für das ins Recht gesetzte Verlangen nach Ereignishaftigkeit und Grenzerfahrung, aber auch als Format, mit dem zeitgemäß Sensibilität für politische Anliegen installiert werden konnte. Von dem Musikfestival Woodstock 1969 wurde ebenso als „Happening“ gesprochen wie von dem 1970 erstmals durchgeführten Earth Day.34 Am Earth Day engagierten sich rund 20 Millionen US-Amerikaner, vorwiegend Schüler und Studenten, mit dem Ziel, auf die Umweltzerstörung aufmerksam zu machen. Symbolische, von Kleingruppen selbst organisierte Aktionen wie das gemeinsame Fegen einer Straße oder Fahrradtouren durch Innenstädte, Ansprachen und Demonstrationsmärsche mit gemalten Bannern an verschiedenen Orten wurden durch eine übergeordnete mediale Repräsentationsstrategie zusammengebunden. Vor dem Hintergrund solcherart kreativer Protestaktionen, der Massendemonstrationen und Sitzblockaden der späten 1960er-Jahre, urteilt Yve-Alain Bois, erschienen Kaprows Happenings zunehmend „irrelevant“ und sie seien dementsprechend schnell wieder von der Bildfläche verschwunden.35 Kaprow habe die politische Sprengkraft der von ihm propagierten Kunstform nicht ausreichend reflektiert und die Chance versäumt, sie im Sinne einer radikalen Kritik an Kapitalismus und Konsumkultur mit den Forderungen der „rebellierenden Jugend“ kurzzuschließen. Stattdessen seien seine Happenings nach und nach zu einem „harmlosen Spektakel“ verkommen, mit dem jene Entfremdung, die sie enthüllen sollten, bloß abermals vergrößert wurde.36 Obwohl Bois Kaprows Qualität als Kritiker des Abstrakten Expressionismus sowie seinen Vorstoß in Bezug auf die Partizipation des Publikums in den frühen 34 Die Ausgabe des Magazins Life vom 15. September 1969 titelte: „The Phenomenal Woodstock Happening“. Zum Earth Day als Happening vgl. Kelley 2004, S. 148. 35 Bois 2011, S. 492. Im Original: „[…] the happening suddenly looked irrelevant and rapidly faded away.“ 36 Vgl. ebd.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
Happenings honoriert, versetzt er seiner künstlerischen Leistung ab der Mitte der 1960er-Jahre mit der Anklage, dem Spektakel gefrönt zu haben, den Todesstoß. Eine Kunst, die nicht mit allen Mitteln der Gesellschaft des Spektakels etwas entgegensetzt, kann vor seinen Augen keine Gnade finden und muss sich in der Kunstgeschichte mit einem Platz in der hinteren Reihe begnügen, während Claes Oldenburg dafür gelobt wird, mit seinen „Ray Gun“-Objekten den Zugriff der „Kräfte des Marktes“ auf das menschliche Leben und den Konsum von Kunst viel gelungener adressiert zu haben.37
Indem Bois im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts den Begriff des ‚Spektakels‘ als Instrument der Kritik verwendet, bezieht er sich – ohne die Schrift explizit zu nennen – auf Guy Debords 1967 in 221 thesenhaften Theoriesplittern vorgetragene Diagnose, in einer „Gesellschaft des Spektakels“ zu leben. Bois hält diese Diagnose nicht nur in historischer Perspektive für gültig, sondern betrachtet sie mehr noch als treffende Kritik der gegenwärtigen Zustände am Beginn des 21. Jahrhunderts.38 Debord zeichnete in seiner
äußerst komplexen, von vielen argumentativen Umkehrungen und Zurücknahmen durchzogenen Analyse ein düsteres Bild der modernen Industriegesellschaften, dem zufolge diese permanent den Zugang zu Lebendigkeit, Erfahrung und Einheit versperren, diesen Zustand aber mithilfe einer Akkumulation von Repräsentationen verschleiern, vor denen ein gebannter Zuschauer passiv und sozial isoliert verharrt.39 Wenn Bois die Happenings der 1960er-Jahre als harmloses Spektakel kritisiert, dann beurteilt er deren Angebot zur Partizipation demnach als pure Illusion und die Versammlung der Teilnehmer als eine, von der weder politisches Handeln noch irgendeine Störung der Verhältnisse auszugehen vermag.40 In eine ähnliche Richtung weist die beiläufige Äußerung Benjamin Buchlohs an anderer Stelle, wonach die von Kaprow sowie John Cage und Robert Rauschenberg propagierte „Ästhetik der Partizipation“ sich mitunter auf einem „infantilen Niveau“ bewege und dabei die fatale Dimension jener Teilnahme verkenne, mit der „die Massenkultur ihr Publikum beherrscht und kontrolliert.“41 Die Kunst Andy Warhols hingegen opponiere erfolgreich, so Buchloh, gegen die „Naivität“, mit der ein Künstler wie Kaprow an eine „zeitlos gültige“ und mithilfe des Abschieds vom Tafelbild zu erneuernde ritualistische Dimension der ästhetischen Erfahrung geglaubt habe.42 Alles
37 Vgl. ebd. 38 Die Annahme, Debords Diagnose sei nicht nur zutreffend, sondern mit der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und der „Spektakularisierung“ der Kunst ab den 1980er-Jahren noch übertroffen worden, zieht sich als subkutaner Leitfaden durch die Artikel des gewichtigen Bandes Art since 1900, London 2011. Nicht nur Yve-Alain Bois, sondern vor allem auch Benjamin Buchloh bringt sich mit ihrer Hilfe immer wieder selbst auf Spur und auch im Glossar wird „Spektakel“ ein Eintrag gewidmet (S. 792). Im Anhang des Bandes befindet sich ein Gespräch der Autoren Hal Foster, Rosalind Krauss, Yve-Alain Bois, Benjamin H. D. Buchloh und David Joselit, in dem diese ihre methodischen und theoretischen Prämissen ausloten. Darin meint Buchloh, Debords unerbittliche Diagnose werde von ihnen allen zumindest in den Grundzügen geteilt (S. 773). Ob angesichts einer (angeblich) umfassenden Ökonomisierung der Bilder eine kritische Position eingenommen wird, die sich irgendwie „außerhalb des homogenisierenden Apparats“ (ebd.) befindet, wird in vielen Beiträgen des Bandes mehr oder weniger offen als Kriterium zur Beurteilung der Kunst ab 1960 und einer Gesinnungsprüfung ihrer Künstler angewendet. Zum Spektakel als ästhetische Kategorie in den Künsten – auch jenseits der Theorie von Debord und nicht explizit im Kontext amerikanischer Kunstgeschichtsschreibung – siehe
Spektakel als ästhetische Kategorie, hg. von Simon Frisch, Elisabeth Fritz und Rita Rieger, Paderborn 2018. 39 Guy Debord, La société du spectacle [1967], Paris 2004. Aus folgenden Passagen lässt sich Debords Verständnis von ‚Spektakel‘ grob extrahieren: „Toute la vie des sociétés dans lesquelles règnent les conditions modernes de production s’annonce comme une immense accumulation de spectacles. Tout ce qui était directement vécu s’est éloigné dans une représentation.“ (Nr. 1, S. 15); „Le spectacle […] est un rapport social entre des personnes, mediatisé par des images.“ (Nr. 4, S. 16); „Le spectacle dans la société correspond à une fabrication concrète de l’aliénation.“ (Nr. 32, S. 32); „Le spectacle est le capital à un tel degré d’accumulation qu’il devient image.“ (Nr. 34, S. 32) 40 Unausgesprochen folgt er damit wiederum Debord, der das amerikanische Happening recht pauschal als ein Spektakel kritisierte, das oftmals Drogen, Alkohol und Erotik involviere, und es von den kritischen Praktiken der Situationisten deutlich abgrenzte. Vgl. Jon Erickson, „The Spectacle of the Anti-Spectacle: Happenings and the Situationist International“, in: Discourse, Bd. 14, H. 2, 1992, S. 36–58, hier S. 50. 41 Buchloh 1989, S. 43. 42 Vgl. ebd., S. 42. Leider macht Buchloh sich nicht die Mühe, ein Werk von Kaprow zu besprechen und leitet dessen Konzept von Partizipation einzig aus dem frühen Essay „The Legacy of
Das Ende des Spektakels? Kaprow in den späten 1960er-Jahren
Das Ende des Spektakels? Kaprow in den späten 1960er-Jahren
in allem lassen die kritischen Invektiven von Bois und Buchloh Kaprows Kunst (der 1960er-Jahre) als Publikumsbespaßung erscheinen, die sich zum Zustand der Gesellschaft und politischen Fragen rein affirmativ verhält. Im normativen Beurteilungsraster der beiden Kritiker hat ein guter Künstler auf eine Veränderung der Zustände oder gar einen Umsturz der Verhältnisse hinzuwirken, umarmen sollte er diese höchstens mit der ironisch-zynischen Haltung eines Andy Warhol. Die Grundannahme, es könne letztlich keine gute konstruktive Kunst in einem destruktiven System geben, lässt wenig Spielraum für die differenzierte Anerkennung einer Kunstform, die im Kern darauf zielte, einer Gruppe von freiwilligen Teilnehmern über die zeitlich begrenzte Umsetzung einer Partitur Freiraum für die bewusste und spielerische Gestaltung zwischenmenschlicher Handlungen zu verschaffen. Kaprow begriff seine Rolle im Verlauf der 1960er-Jahre zunehmend als die eines teilnehmenden Beobachters, der zunächst einmal darauf aus ist, zu verstehen, wie Gesellschaft auf der Mikroebene – nämlich in der Interaktion kleiner Gruppen und im alltäglichen Daseinsvollzug des sozialisierten Subjekts – funktioniert. Er verlieh dieser Haltung Ausdruck, als er sich in den späten 1960er-Jahren eingängigen Formeln der Kapitalismus- und Konsumkritik verwehrte. In einem Gespräch mit dem Kritiker Richard Kostelanetz stimmte er nicht etwa in dessen Lamento über die geplante Obsoleszenz als kapitalistische Strategie ein. Stattdessen spekulierte er, die meisten Menschen würden mit dem Kauf eines neuen Autos vermutlich den generellen Wunsch nach Erneuerung verbinden und hätten deshalb kein großes Interesse daran, ein Produkt zu erwerben, das weniger schnell vom Verschleiß bedroht ist.43 Diese Überlegung könnte man mit Buchloh und Jackson Pollock“ ab. Andernfalls hätte er zumindest der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass die kritische Reflexion über das Verhältnis von Aktion und Stillstand, Teilnahme und Beobachtung, Immersion und Distanz sowie Durchführung und Dokumentation bereits in den 1960er-Jahren elementarer Bestandteil vieler Kaprow-Happenings war. Zur inhärenten Partizipationskritik in Kaprows Happenings vgl. ausführlicher Rodenbeck 2011, S. ix. 43 Vgl. Allan Kaprow im Gespräch, in: Richard Kostelanetz, The Theatre of Mixed Means, New York 1968, S. 100–132, hier S. 124f.
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Bois als Zeichen einer naiven, unkritischen Haltung beklagen und zum Anlass nehmen, Kaprow einer Gesinnungsprüfung zu unterziehen. Sie lässt sich allerdings auch als strategische Zurückweisung einer klaren politischen Stellungnahme deuten sowie als Versuch, sich mit der Maske kindlicher Neugier und einer Haltung der Akzeptanz dem zu nähern, was als eine Art von menschlichem Grundbedürfnis vermutet wird, auch wenn dieses eine systemstützende Funktion erfüllt. Einige Jahre später erzählte Kaprow in einem öffentlichen Gespräch die Geschichte vom Besuch bei einem Verwandten, der in einem Geschäft im Garment District in Manhattan arbeitete. Mitreißend schilderte er die Umtriebigkeit im Laden und den schnellen, andauernden Warenfluss. Es gehe dort nicht nur um den Verkauf von Produkten, sondern um eine Form von „symbolischem Austausch menschlicher Energie“, so Kaprow. Es fasziniere ihn als soziales Phänomen, dass diese Geschäftigkeit dem Verwandten als unverzichtbarer Bestandteil des Lebens gelte, gleichwohl ihm deren Strukturen nicht vollends bewusst seien.44 Auch mit dieser Anekdote bemühte sich Kaprow, die Rolle des radikal gesellschaftskritischen Künstlers abzuwehren und sich stattdessen als eine Mischung aus staunendem Kind und Anthropologe während einer Feldstudie zu gerieren. Bezieht man die Versuche einer Neubestimmung des Künstlertums auf Kaprows Zeit als Happeningkünstler, so ist das in der Rückblende und mit Debords Begrifflichkeiten vorgetragene Urteil, Kaprow sei daran gescheitert, der Entfremdung in der Gesellschaft des Spektakels etwas entgegenzusetzen, zumindest insofern zu relativieren, als Kaprow womöglich schlicht den Modus der Systembeschreibung à la Debord nicht geteilt hat. Wenn Kaprow im Happening Fluids (Abb. 9) 1967 eine kleine Gruppe mit großer Mühe, handwerklichem Geschick und Teamgeist aus Eisblöcken eine architektonische Grundform bauen ließ, nur um sie dann in der kalifornischen Augustsonne pittoresk schmelzen zu lassen, dann brach dieser Vorgang zwar mit bis dahin gängigen Normen einer Produktion für den Kunstmarkt oder das Museum. Die These Haywoods, dass Kaprow damit den kapitalistischen ‚Trick‘ geplanter Kurzlebigkeit 44 Kaprow, Gespräch an der Cooper Union, ca. 1972.
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von Waren und die Entwertung von Arbeitskraft demonstrativ vorgeführt und enttarnt habe, vermag allerdings nicht vollständig zu überzeugen.45 Denn zentral für Fluids ist, dass eine Aufgabe gemeinsam gelöst wird und dabei verschiedene Dimensionen des tätigen Lebens, nämlich Arbeiten und Handeln, zueinander in ein Verhältnis gebracht werden.46 Das Errichten der Eisskulptur glückt nur, wenn kleinere technische Schwierigkeiten gelöst, körperliche Anstrengung investiert und die verschiedenen Aufgabenbereiche möglichst den Fähigkeiten der Teilnehmer angemessen verteilt werden. Auf die Phase der Organisation und Rollenverteilung folgt eine, in der die Teilnehmer als Kollektiv funktionieren. Diese wiederum mündet in eine Phase der Entspannung und gemeinsamen Besprechung beziehungsweise Bewunderung des Erreichten, gefolgt von der Verstreuung der Teilnehmer, die nun wieder in das alltägliche Geschäft ihrer beruflichen und privaten Tätigkeiten entlassen werden. Verschiebt man den Fokus von dem ephemeren Zustand des Endprodukts auf den zuvor stattfindenden Prozess, dann wird deutlich, dass es gerade nicht darum geht, Arbeit als entfremdet und unproduktiv im Hinblick auf die Lebensdauer des hergestellten Gegenstands zu erfahren oder zu kritisieren. Der Prozess ist zeitlich begrenzt, findet einmalig statt und jeder Teilnehmer kann den gesamten Lebenszyklus des ‚Produkts‘ verfolgen. Gerade der Anteil körperlicher Arbeit wird nicht wenigen der Teilnehmer, die vorrangig Studenten und Akademiker waren, eine willkommene Abwechslung zu ihrer alltäglichen Beschäftigung geboten haben. Im Sinne der von Hannah Arendt in Vita activa beschriebenen Ambivalenz von Arbeit kommt im Zuge von Fluids 45 Vgl. Robert Haywood, „Critique of Instrumental Labor. Meyer Schapiro’s and Allan Kaprow’s Theory of Avant-Garde Art“, in: Experiments in the Everyday: Allan Kaprow and Robert Watts. Events, Objects, Documents, hg. von Benjamin H. D. Buchloh und Judith F. Rodenbeck, Ausst.-Kat. New York City, Miriam and Ira D. Wallach Art Gallery, Columbia University, 1999, S. 27–46, hier S. 44. Der Aufsatz von Haywood leistet gleichwohl eine gedankenreiche und in einigen Punkten überzeugende Zusammenschau der Kunst Kaprows mit den kunsttheoretischen und politischen Positionen seines kunsthistorischen Lehrers Meyer Schapiro. 46 Die folgenden Erwägungen resultieren maßgeblich aus den Notizen, die die Verfasserin während der Beobachtung der von den Nationalgalerie Berlin initiierten Wiederaufführung von Fluids 2015 angefertigt hat.
nicht nur deren verzehrender Zug, sondern auch „der Segen der Arbeit“ zum Tragen, der laut Arendt darin besteht, dass der regelmäßige Rhythmus, in dem Mühsal und Lohn aufeinanderfolgen, einen im „vorgeschriebenen Kreislauf der Natur mitschwingen“ lässt.47 Bei genauerer Betrachtung, beziehungsweise im Zuge der Durchführung, tritt jedoch außerdem noch ein weiterer Aspekt in den Vordergrund. Fluids lässt eine Situation entstehen, in der eine Gruppe von Menschen außerhalb des beruflichen Kontexts zusammenkommt, um eine Aufgabe zu erledigen, dabei aber vor allem den spezifischen Qualitäten des gemeinsamen Handelns Wert zumisst – so wie dies beispielsweise auch bei einem geglückten Umzugstag mit einem aus Freunden und Bekannten spontan zusammengestellten Team der Fall sein kann. In Fluids geht es dementsprechend nicht vorrangig darum, einen Arbeitsvorgang oder die Herstellung eines Gegenstands oder Kunstwerks nachzuvollziehen. Zeitaufwand und Produktivkraft werden im Bereich des Sozialen investiert. Das temporäre Kollektiv ist damit befasst, jeden einzelnen im Sinne Arendts „gleichsam auf die Bühne der Welt“ treten zu lassen, auf der die Menschen „handelnd und sprechend offenbaren, wer sie sind“ und „aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens [zeigen]“48. Die luzide wie vergängliche Struktur aus Eis, in der sich Gestalten der Umwelt spiegeln, kann daher sinnbildlich für eine Errungenschaft im Bereich des Immateriellen stehen. Sie fungiert innerhalb des Happenings außerdem als Vehikel, um Reflexionszeit zu schaffen. Der Ablauf der im gefrorenen Wasser ‚gespeicherten‘ Zeit lädt als sichtbarer Vorgang der Transformation dazu ein, zu verweilen, dem Erlebten nachzuhängen und es in größere Zusammenhänge, privat wie gesellschaftlich, einzuordnen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger vermag dieses Happening zu leisten. Weder geht es vorrangig um Affirmation von Konsumkultur und Warenproduktion im Überfluss, noch um eine explizite Kritik beider Phänomene. Ebensowenig 47 Hannah Arendt, Vita activa oder: Vom tätigen Leben [1967], München 152015, S. 126. In der amerikanischen Originalversion spricht Arendt in dieser Passage von „happy regularity“. Hannah Arendt, The Human Condition [1958], Chicago 1998, S. 106. Zum verzehrenden Aspekt der Arbeit siehe das Kapitel „Die Arbeit und das Leben“ in: Arendt 1967/2015, S. 114–119. 48 Ebd., S. 219.
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9 Allan Kaprow, Fluids, 1967, Pasadena und Los Angeles, Fotografie: Dennis Hopper.
allerdings wird hier ein Spektakel geboten, das Partizipation bloß vorgaukelt, um die Menschen umso fester im Griff der Konsumkultur und des Überflusses zu halten. Fluids zielt nicht auf Störung oder Aufdecken von Systemfehlern ab, sondern wird getragen von dem Interesse am Gelingen gemeinsamen Handelns und dem Herstellen sozialer Beziehungen. Geht man zu der oben zitierten Aussage von Dick Higgins über die Verwendung des Begriffs ‚Happening‘ für jede Form von inszeniertem Ereignis und seiner Beschreibung des Happenings als wildem, irrationalem Durcheinander zurück, so klingt an, dass eine Kritik des Happenings als spektakelhaftes oder theatralisches Phänomen bereits in den 1960er-Jahren existierte. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der neuen Kunstform in der Kunstkritik erfolgte zwar erst ab Mitte der 1960er-Jahre, eine Ausnahme bildete aber Susan Sontags Essay „Happenings: an
art of radical juxtapositions“, in dem sie ausgehend von dem Besuch einiger Happenings in der New Yorker Szene von einem „neuen Genre des Spektakels“ spricht.49 Sontag stellt die surrealistischen, collageartigen Züge der Happenings heraus und betont, sie seien von Aggressivität gegenüber dem Publikum sowie dem Bildmedium getrieben.50 Der Begriff des ‚Spektakels‘ ist bei Sontag noch nicht annähernd so theoretisch und gesellschaftkritisch aufgeladen, wie es kurz darauf bei Guy Debord und später bei den Anhängern seiner Theorie der Fall sein wird. Sontag verwendet ihn zunächst beschreibend und im herkömmlichen Wortsinn, nach dem das Spektakel ein 49 Susan Sontag, „Happenings: an art of radical juxtaposition“ [1962], in: Dies., Against Interpretation and other Essays [1966], New York 1996, S. 263–274, hier S. 263. Im Original: „A new […] genre of spectacle“. 50 Vgl. ebd., S. 269.
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aufsehenerregendes, die Schaulust befriedigendes Theater ist. Die Emanzipation von der Malerei und den Vorstoß ins Theatrale bewertet Sontag tendenziell positiv. Sie hebt als Qualität der Happenings vor allem die destruktiven, verstörenden, aufregenden und bedrohlichen Elemente hervor. Ein Happening sei nicht auszuhalten, schreibt Sontag, und nur so zu ‚genießen‘ wie das Hochgehen eines Feuerwerkskörpers direkt vor dem eigenen Gesicht.51 Mit diesem eindrücklichen Bild legt Sontag die Fährte für jene Rezeption des Happenings, die Dick Higgins später angreifen wird, obwohl mit ihr zunächst durchaus ein anerkennendes Resumée der neuen Kunstform verbunden ist.52 Im Verlauf der 1960er-Jahre kam es allerdings zu einer Verschiebung in der Wahrnehmung der Begriffe ‚theatral‘ und ‚spektakulär‘, in deren Zuge es einigen Happeningkünstlern opportun erschien, die Erkenntnismöglichkeiten des im Happening involvierten Publikums aufzuzeigen und sich von der Nähe zu Theater und Theatralität stärker abzugrenzen, wie Kaprow dies explizit mit dem Begriff der ‚nontheatrical performance‘ tat, den er in den 1970er-Jahren zwischenzeitlich verwendete.53 Vor diesem Hintergrund ist auch die oben zitierte Aussage zu seinem Verständnis von Partizipation zu sehen, die er von stärker konfrontativen Verfahren absetzt. So intensitätsverheißend Sontags Bild von einem explodierenden Feuerwerkskörper auch war, Kaprow wurde im Verlauf der 1960er-Jahre immer 51 Vgl. ebd., S. 268. Im Original: „One cannot hold on to a Happening, and one can only cherish it as one cherishes a firecracker going off dangerously close to one’s face.“ 52 Gerade diejenigen Kritiker, die sich dem Happening in anerkennender Form widmeten, kamen oftmals aus dem Bereich der Theaterkritik und situierten dementsprechend das Happening eher vor dem Hintergrund der Geschichte des Theaters denn der Bildenden Künste. Besonders prominent legte Richard Schechner, Herausgeber des Tulane Drama Review, Einordnungen dieser Art vor. Zur Happeningkritik aus Theaterkreisen siehe auch Robert E. Haywood, Allan Kaprow and Claes Oldenburg. Art, Happenings, and Cultural Politics, New Haven und London 2017, S. 97f. Zweifelsohne formulierten wiederum die Happeningkünstler ihre Abgrenzung auch auf Kosten eines angemessenen Verständnisses von Theater, indem sie mit diesem im Prinzip immer nur die klassische Aufführungssituation vor stillsitzendem Publikum im abgedunkelten Theaterraum mit eindeutigem Beginn und Abschluss assoziierten. 53 Vgl. Allan Kaprow, „Nontheatrical Performance“ [1976], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 163–180.
klarer, eigentlich Situationen konzipieren zu wollen, die sich in taghellem Raum langsam entfalten. Nicht unwahrscheinlich ist, dass daran auch eine, eigentlich in Bezug auf eine ganz andere Kunstform geführte, Debatte ihren Anteil hatte. 1967 verfasste der Kunsthistoriker Michael Fried in seinem Artikel Art and Objecthood für die Zeitschrift Artforum eine Kritik der Minimal Art, insbesondere der Kunst Robert Morris’. Fried störte sich vor allem an der bewussten Ausstellung konkreter Objekthaftigkeit, genauer an der von Morris selbst in theoretischen Texten betonten Situationsgebundenheit der Objekte und bezeichnete die Thematisierung der spezifischen Kunsterfahrung, vor allem ihrer Dauer und des Betrachterstandpunktes, als „theatralisch“.54 Mit dem Begriff der ‚Theatralität‘ fasste er Merkmale von Kunstwerken zusammen, die seines Erachtens die modernistische Kunst korrumpierten, zu deren Kennzeichen er in origineller Fort- und Umschreibung der Theorie Clement Greenbergs vor allem die Aufhebung der Objekthaftigkeit durch Form sowie Zeitlosigkeit zählte.55 Als positiven Gegenpol zur Theatralität baute Fried in den Jahrzehnten nach Erscheinen des Artikels den Begriff der ‚Versunkenheit‘ (absorption) auf.56 Ein gelungenes Kunstwerk erzeugt die Fiktion der Nichtexistenz des Betrachters, statt sich ihm wie ein Akteur auf einer Bühne entgegenzudrängen, lässt sich sein Ansatz pointiert zusammenfassen. In einem Rundumschlag prophezeite er 1967 am Ende seines Aufsatzes, die Kunst werde „degenerieren“, wenn sie sich den Konditionen des Theaters nähere.57 Umgekehrt hänge das Überleben der Kunst von deren Fähigkeit ab, das Theater zu besiegen. Theater und Theatralität, so Fried, befänden sich im Krieg mit der Kunst.58 Auffällig ist, dass Fried
54 Michael Fried, „Art and Objecthood“ [1967], in: Ders., Art and Objecthood. Essays and Reviews, Chicago 1998, S. 148–172, hier S. 153. 55 Zum Form- und Gestaltbegriff bei Fried siehe auch Ralph Ubl und Rahel Villinger, „Form, Medium, Kritik. Zur Aktualität von Shape as Form“, in: Michael Frieds ‚Shape as Form‘ und die Kritik der Form von 1800 bis zur Gegenwart, hg. von dens., Paderborn 2018, S. 9–19. 56 Siehe hierzu unter anderem Michael Fried, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley, Los Angeles und London 1980. 57 Fried 1967/1998, S. 164. 58 Ebd., S. 163.
Das Ende des Spektakels? Kaprow in den späten 1960er-Jahren
in seiner sehr ausführlichen Kritik der Theatralität kein Wort über Happenings, Performance-Abende, postmodernen Tanz oder begehbare Environments verliert – lediglich in einer Fußnote wird Kaprow gemeinsam mit zahlreichen anderen Künstlern genannt. Fast könnte man meinen, er habe mit dieser Marginalisierung deutlich machen wollen, dass sich diese Kunstformen schon so weit dem Theatralen verschrieben hätten, dass sie schlicht nicht mehr zu retten sind.59 Gleichwohl hat sich Kaprow offenbar herausgefordert gefühlt (oder wurde als ‚Happeningvater‘ dazu aufgefordert), auf Frieds Invektive zu antworten. In einem kurzen, ironischen Leserbrief brachte er zum Ausdruck, dass ihm vor allem Frieds martialisches Vokabular und die Abwertung des Unreinen stark missfielen. Ohne sich auf Frieds theoretische Argumentation einzulassen, wechselte er auf die Metaebene und schlug dem Kritiker der Theatralität eine Form der Arbeitsteilung vor: Prof, don’t you realize that all us low-lifes are helping you see how close to heaven you’re getting day by day? Why, without us showing you what’s real, you wouldn’t have any article to write. Man, we got to stick close. Teamwork. Like, we dirty it up. You clean it up. We dirty it up. You clean it up. We dirty it up. You clean it up. We dirty it up. You …60 Kaprow hätte aus der Debatte, die Frieds Artikel auslöste, den provokativen Schluss ziehen können, mit seiner Kunst noch ‚schmutziger‘ werden zu müssen. Doch während Fried anhob, modernistische 59 In diese Richtung geht die Beschwerde von Benjamin H. D. Buchloh und Judith Rodenbeck, Fried habe mit seinem Text ein ganzes Jahrzehnt bedeutsamer und radikaler Veränderungen auf dem Feld der ästhetischen Produktion bewusst ausradiert. Vgl. Benjamin Buchloh und Judith Rodenbeck, „Introduction“, in: Experiments in the Everyday. Allan Kaprow and Robert Watts. Events, Objects, Documents, hg. von dens., Ausst.-Kat. New York City, Miriam and Ira D. Wallach Art Gallery, Columbia University, 1999, S. 1–6, hier S. 4. Zur jüngeren kritischen Auseinandersetzung mit der Wertematrix, die als Grundlage von Frieds kunstkritischen Kategorien angenommen werden kann, siehe außerdem Christa Noel Robbins, „The Sensibility of Michael Fried“, in: Criticism, Bd. 60, H. 4, 2018, S. 429–454. 60 Allan Kaprow, [Leserbrief an die Herausgeber], in: Artforum, September 1967, Bd. 6, Nr. 1, S. 4.
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Prinzipien gegen die Theatralität zu verteidigen, hatten einige der Künstler des Happenings schon damit begonnen, ihre Kunstform selbst vom Eindruck des Spektakels zu befreien und vom Theater abzugrenzen. Der massenhafte Gebrauch des Begriffs ‚Happening‘ für Events jeder Art sowie die einseitige kunstkritische Wahrnehmung, die wie Susan Sontag das Schockhafte, Aufwiegelnde und gewissermaßen Grobschlächtige der Happenings betonten, hatten bereits parallel zu Frieds Artikel eine kritische Revision der Kunstform in Gang gesetzt. Auch wenn Kaprow sich aus vielen Gründen von diesem Text angegriffen fühlen musste, der Kritik am Theatralen hätte er von anderer Seite durchaus zustimmend entgegenkommen können. Frieds Sorge darum, den Modus der Versunkenheit als besondere Qualität der autonomen Kunst gegenüber dem alltäglichen Getriebe, der Geschäftigkeit und den Parolen der Welt aufs Spiel zu setzen, berührt sogar eine Frage, die auch Kaprow beschäftigte und die mit den Activities der 1970er-Jahre an Gewicht gewann. Sie betrifft den Versuch, sowohl einen bloß körperlichen Vollzug als auch eine soziale Interaktion nicht als Automatismus ablaufen zu lassen, sondern bereits in den Prozess Momente des Stillstands und der Reflexion einzubauen. Während Fried die Begegnung des individuellen Betrachters mit dem in sich versunkenen, von ihm abgetrennten, zeit- und situationsungebundenen Kunstwerk imaginierte, entwickelte Kaprow ein Kunstformat, das vom individuellen Interpreten in das alltägliche Leben implementiert werden muss, in diesem aber eigene Raum- und Zeitkontingente auszubilden vermag, die in durchaus spannungsreichem Verhältnis zum steten Fluss der Routinen stehen. Mehr noch, wer eine Activity von Kaprow auf Basis der schriftlichen Partitur absolviert, der erlebt dies durchaus als Durchlaufen und Aktivieren einer Form. Hätte nicht die abstraktere Diskussion darüber, ob es erlaubt ist, den tradierten Kunst- und Werkbegriff des formalistischen Modernismus überhaupt anzugreifen oder gar aufzugeben, den Blick auf möglicherweise verwandte Anliegen ganz unterschiedlicher Kunstformen verdeckt, Fried und Kaprow hätten womöglich sogar miteinander ins Gespräch kommen können. Knapp drei Jahre später war, zumindest von der Warte des Kurators Harald Szeemann aus betrachtet, der Spuk bereits vorbei. Im Vorwort zur großen
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
Überblicksausstellung Happening & Fluxus im Kölnischen Kunstverein 1970 machte Szeemann unmissverständlich klar, es handele sich um eine „historische Ausstellung“: Die Klagen einiger Beteiligter, für sie noch Aktuelles oder unmittelbar Vergangenes bereits als Geschichte auszugeben, liefern für diese Behauptung den Beweis. Dies trotz Festival und speziell für hier und jetzt gefertigte Beiträge. Es bleiben die Dokumente.61 Mit ihrer umfassenden Archäologie einer guten Dekade zeitgebundener, handlungsorientierter Kunst demonstrierte die von Wolf Vostell mitkuratierte Ausstellung einen Reichtum noch zu entdeckender Dokumentationen, demgegenüber die neuen Beiträge der präsentierten Künstler eher wie ein Postskriptum wirkten. Szeemann insistierte auf der Historisierung der in der Ausstellung präsentierten Kunstformen nicht, um sie für erledigt zu erklären, sondern um Distanz zur künstlerischen Produktion der jüngsten Vergangenheit zu gewinnen und so beurteilen zu können, welche individuellen künstlerischen Leistungen auch nach einer Phase der Konjunktur Gültigkeit bewahren würden. Seinen überaus emphatischen Begriff vom ‚Künstlerindividuum‘, der zwei Jahre später die Konzeption der documenta 5 prägen sollte, machte Szeemann auch im Bezug auf jene Kunstformen stark, mit denen eigentlich die Zuschauer oder Betrachter zu Teilnehmenden emanzipiert und damit die Position des Autors geschwächt wurde. Happening oder Aktion seien „wie eh und je in der Kunst Leistungen Einzelner“, schrieb Szeemann, und dies gelte auch für einen Künstler wie Kaprow, obwohl dieser „seine sowohl aufklärerische wie künstlerische Tätigkeit anonymer ausführen und aufgefasst haben will.“62 In einem Handstreich gelang es ihm, den Anspruch der Fluxus- und Happeningkünstler auf eine Kritik der Autorschaft und des Künstlergenies gleichsam als zu vernachlässigende Spielerei auszuweisen und die besten Beispiele ihrer Kunst als herausragende „Einzelleistungen“ in 61 Harald Szeemann, „Zur Ausstellung“, in: Happening & Fluxus, Ausst.-Kat. Köln, Kölnischer Kunstverein, 1970, n. p. 62 Ebd.
die Kunstgeschichte einzuschreiben.63 Szeemann wusste überdies zu berichten, dass „Kaprow zum Beispiel, der 1959 die Bezeichnung Happening erstmals verwendet hatte, seine Happenings nun ‚Activities‘ [nennt]“64. Offenbar erkannte Szeemann in dieser Tatsache allerdings nicht mehr als eine Umbenennung. Kaprows neuere künstlerische Produktion schien demnach in einer selbstreferentiellen Schleife gefangen, in der sie immer nur auf Vergangenes verwies, nicht aber als Beitrag zur Gegenwart verstanden werden konnte. Mit dem Umzug von der Ost- an die Westküste und seiner Anstellung an einer neugegründeten Kunsthochschule hatte Kaprow allerdings kurz zuvor durchaus einen persönlichen wie künstlerischen Neuanfang gewagt.
Out there. Kalifornien als Verheißung Das Jahr 1967 brachte für Kaprow nicht nur mit der Retrospektive für das Pasadena Art Museum in künstlerischer Hinsicht tiefgreifende Einschnitte. Nur zwei Monate nach der Geburt des vierten Kindes starb die dreijährige Tochter Nina bei einem Autounfall. Vaughan Rachel Kaprow, geborene Eberhart Peters,65 die Allan während des Malereistudiums bei Hans Hofmann kennengelernt und 1955 geheiratet hatte, begründete die Entscheidung für den Umzug der Familie nach Kalifornien auch mit dem Wunsch, den Ort zu verlassen, der sie tagtäglich an das tragische Ereignis erinnerte. Sie habe dem Umzug mit großer Vorfreude entgegengesehen, ihr Mann sei zudem mit seiner aktuellen Anstellung unzufrieden gewesen, erzählte sie rückblickend in einem Interview.66 Das 63 Mit diesem Schachzug fegt Szeemann implizit auch die argumentativen Schiebereien, ob ein Happening oder Fluxus-Kit nun Kunst oder Nicht-Kunst sei und welchen Anteil der beteiligte Betrachter an der Entstehung des ‚Werks‘ tatsächlich habe, beiseite und macht stattdessen die Künstlerpersönlichkeit für die Qualität einer auch noch so partizipativen Arbeit verantwortlich. 64 Szeemann 1970, n. p. 65 Vaughan konvertierte anlässlich der Eheschließung 1955 zum Judentum. Seit der Scheidung der Ehe im Jahr 1983 führt sie ihren hebräischen zweiten Vornamen Rachel als Familiennamen. Vgl. Sylvia Sokup, „Vaughan Rachel. The Photographer’s Work and Life with Allan Kaprow“, in: Flaunt Magazine, Nr. 93, 2008, S. 74–83, hier S. 76. 66 Vgl. ebd., S. 81.
Out there. Kalifornien als Verheißung
Jobangebot, das es möglich machte, die Zelte an der Ostküste abzubrechen, kam vom CalArts. Im Sommer 1969 bezog die Familie ein großes Haus in Pasadena, rund sechzehn Kilometer nordöstlich von Downtown Los Angeles. Kaprow war nicht der erste erfolgreiche Künstler, der von der Ost- an die Westküste zog. Kalifornien mit der sich neu formierenden Kunstszene in Los Angeles stellte in den 1960er-Jahren für viele Künstler eine attraktive Destination dar. 1965 hatte die Kunstzeitschrift Artforum ihren Sitz von San Francisco nach Los Angeles verlegt, eine Galerienszene war gerade im Entstehen, das Pasadena Art Museum erregte bereits über die Grenzen Kaliforniens hinaus Aufsehen. Was Los Angeles zunächst für Künstler aus New York attraktiv machte, war allerdings weniger die Aussicht auf einen prosperierenden Kunstmarkt oder Ausstellungsmöglichkeiten als vielmehr das Versprechen des größtmöglichen Kontrasts zu New York. Claes Oldenburg beispielsweise, der zeitweise mit Kaprow in der New Yorker Happeningszene aktiv gewesen war, kam schon 1963 nach Los Angeles, um sein künstlerisches Schaffen in eine neue Richtung zu lenken. Die Stadt bot sich hierfür laut Oldenburg vor allem aufgrund ihrer großen Entfernung von New York und ihrer generellen Andersartigkeit an.67 Der Konzeptkünstler Allen Ruppersberg, der 1962 für das Kunststudium nach Los Angeles kam, erklärte die Anziehungskraft der Stadt damit, dass es dort im Gegensatz zu New York keine Kunstgeschichte gegeben habe, mit der man sich auseinandersetzen musste.68 Paul Kos betonte ebenfalls, als Künstler an der West67 Vgl. die Aussagen von Oldenburg, zitiert bei Kristine McKenna, „When Bigger is Better. Claes Oldenburg has spent the past 35 years blowing up and redefining objects, all in the name of getting art off its pedestal“, in: Los Angeles Times, 2.7.1995, n. p. Im Original: „I came to Los Angeles in 1963 because it was the most opposite thing to New York I could think of. At that point L. A. was quite removed from the East Coast.“ Oldenburg kehrte allerdings kurz darauf nach New York zurück. 68 Allen Ruppersberg 2010 in einer E-Mail an Constance M. Lewallen, zitiert in Constance M. Lewallen, „A larger stage“, in: State of mind. New California Art circa 1970, hg. von ders. und Karen Moss, Ausst.-Kat. Newport Beach, Orange County Museum of Art, Berkeley, Los Angeles und London 2011, S. 8–117, hier S. 115. Im Original: „There was no art history to play with, unlike New York which is all about history – in Los Angeles you started from the scratch.“ Dazu passt die Aussage von Peter Plagens, Los Angeles habe so gut wie keine modernistische Tradition, die man über Bord werfen könne. Vgl. Peter Plagens,
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küste in den 1960er-Jahren sehr viel mehr die nächste Umgebung und das eigene Projekt im Blick gehabt zu haben, während man in New York gar nicht anders konnte, als in theoretische Fahrwasser zu gelangen und über die eigene Position in der Kunstgeschichte nachzudenken.69 Das gegensätzliche Verhältnis zwischen Ost- und Westküste, respektive Manhattan und Los Angeles, gerann in den 1960er-Jahren gerade aufgrund der verstärkten gegenseitigen Wahrnehmung und des erhöhten Reiseaufkommens in beide Richtungen zum Klischee. Ein Aspekt, der dabei besonders stark herausgestellt wurde, war der unterschiedliche Umgang mit Körpergefühl und Intellektualismus. Zeugnis davon legt zum Beispiel die 1969 entstandene, auf Video dokumentierte Performance East Coast, West Coast des Künstlerpaars Robert Smithson und Nancy Holt ab.70 Holt spielt die Rolle einer verklemmten, kritischen New Yorker Intellektuellen, die als Künstlerin großen Wert auf konzeptuelle Klarheit legt, während Smithson den entspannten, nuschelnden, körperbetonten Kalifornier gibt, der die Bedeutung von Intuition, Gefühl und Naturerfahrung betont. Smithson behauptet, niemals Bücher zu lesen, dafür aber Wolken zu betrachten, er hält sein Gegenüber für „überzivilisiert“ und fragt sie schließlich genervt: „Warum hörst du nicht auf, zu denken und beginnst, zu fühlen?“. Sie hält seinen Verstand für „wässrig“, beklagt fehlende Strenge und Klarheit über die Voraussetzungen des eigenen Denkens. Ost- und Westküstenverkörperung artikulieren und karikieren in dem fingierten Gespräch die mit den geographischen Regionen verknüpften Gegensätze zwischen Vernunft und Gefühl, Geist und Körper, Plan und Flow. Sunshine Muse. Art on the West Coast, 1945–1970, New York 1974, S. 139. 69 Paul Kos 2010 in einer E-Mail an Constance M. Lewallen, zitiert in Lewallen 2011, S. 114. Im Original: „If you lived in New York, you were more aware of what was timely in terms of the art world. If you lived outside, your timeliness was based on your immediate environs, your dedication to your enterprise even if it was less sophisticated. Obviously the West Coast was not part of the theoretical drive that made New York.“ 70 Nancy Holt und Robert Smithson, East Coast, West Coast, Performance für Video, 1969. URL: http://ubu.com/film/ smithson_east.html [zuletzt abgerufen am 23.5.2018]. Holt und Smithson stammen beide von der Ostküste, realisierten allerdings bedeutende Werke in den Landschaften im Westen der Vereinigten Staaten.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
Auch Kaprow illustrierte diese Unterscheidung, als er in einem öffentlichen Gespräch mit Studenten einer Kunstschule in New York, vermutlich 1972, nach dem Unterschied zwischen Ost- und Westküste gefragt wurde: For instance, one of the things that makes it difficult here is that people are afraid of body contact or physical contact of any kind, and out there they are afraid of thinking. […] This is an oversimplification, but… You know, you are on the subway and you are jammed like that [macht eine Handbewegung, die sehr geringen Abstand suggeriert] but you are that far [macht gegenläufige Handbewegung]. And out there before you even know anybody, it’s touch me! touch me! […] The difficulty I have there is that people are really dumb, but they are flowing, here they are really smart, but… [unterbrochen von Gelächter].71 In seiner humorvoll überzogenen Beschreibung bedient Kaprow einerseits das Klischee, andererseits kreuzt er die Perspektiven und gibt sich so als Grenzgänger zu erkennen. Weder dem intellektuellen New Yorker noch dem lockeren Kalifornier wird eindeutig der Vorzug gegeben und Kaprow bekennt, dass ihm sowohl die Angst vor Körperlichkeit bei dem einen als auch das Zurückschrecken vor intellektueller Auseinandersetzung beim anderen Schwierigkeiten bereiten. Etwas später im selben Gespräch beschreibt er seine Faszination für die Erscheinung der Stadt Los Angeles: I like the look of Los Angeles for example. All the plastic fascinates me, the fact that every wall is a see-through wall which makes everything very blurry behind it because it is semi-translucent plastic, and then that there is no inside, there is nothing to see on the other side, it’s all just surface which backens you on and on into dreams of possible behinds and possible depths which are never there. The smog is like that, it is an infinite atmosphere. Well, I like that. Hardly everybody else likes it or they put it down. They like the crisp clarity of San Francisco much more. That’s 71 Kaprow, Gespräch an der Cooper Union, ca. 1972.
alright. I like the other thing too but that’s much easier because I have been trained to like that. […] Another thing about L. A. […]: You don’t get the feeling of any center. There is no place like a plaza where the hub of the town is, it is always somewhere else. Where is the center? Oh, it’s that way, oh, it’s that way. It never stops. I am fascinated by that.72 Kaprow suggeriert zwar, mit seiner Wertschätzung der Atmosphäre und Anlage der Stadt Los Angeles ziemlich allein dazustehen, formulierte diese allerdings zu einem Zeitpunkt, als sich die öffentliche Wahrnehmung von Los Angeles entscheidend wandelte. Das ungemein erfolgreiche Buch Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies des britischen Architekturkritikers Reyner Banham, erschienen 1971, sowie der ein Jahr später mit der BBC produzierte Film Reyner Banham loves Los Angeles spielten hierbei eine wichtige Rolle.73 Banham erarbeitete in Text und Film die Charakteristika der Erscheinung der Stadt Los Angeles und zeigte sich fasziniert von ihrer Einzigartigkeit. Seine Lektüre der Stadt widmete sich nicht nur den bereits kanonisierten, architektonisch herausragenden Bauten eines Frank Lloyd Wright, sondern schloss in einer großen Umarmung auch die Strandhütten, Parkplätze, Tankstellen, Shopping Malls, Kinos und bemalten Surfbretter, das Autobahnsystem, Disneyland und die Watts Towers mit ein. Manche Geschmacklosigkeiten und urbanistischen Zumutungen ließ er so als besonders pittoresk erscheinen, was ihm durchaus scharfe Kritik von Seiten der Einheimischen einbrachte.74 Der Abwertung von Los Angeles durch Architekten und Verfechter des Modells der europäischen Stadt entgegnete Banham mit der Beschreibung ihrer Unvergleich72 Ebd. 73 Mike Davis spricht sogar davon, Banhams Intervention habe „wie eine Bombe eingeschlagen“. Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin und Göttingen 1994, S. 96. 74 Deutliche Kritik an Banham formulierte beispielsweise Peter Plagens, „Los Angeles: The Ecology of Evil“, in: Artforum, Bd. 11, Dezember 1972, S. 67–76. Plagens empfand Banhams Äußerungen über Los Angeles als zynisch und gefährlich, da sie denjenigen Akteuren eine Entlastung lieferten, die dabei seien, Los Angeles und die Lebensbedingungen der Angelenos vollends ihren kapitalistischen Interessen zu opfern.
Out there. Kalifornien als Verheißung
barkeit und der Einforderung von Akzeptanz für die spezifischen Lebensweisen, die diese Stadt ihren Bewohnern ermögliche.75 Ihre weite Erstreckung ohne Ausbildung eines Zentrums interpretierte er als Gleichheitsversprechen.76 Zum Lebensstil der Angelenos gehöre, so Banham, ein Gespür für die noch vor ihnen liegenden Möglichkeiten.77 Der Mobilität, die er als Sprache der Stadt Los Angeles bezeichnete, schenkte er besondere Aufmerksamkeit.78 In den Schnellstraßen sah er nicht bloß ein unansehnliches Mittel zum Zweck, sondern betrachtete sie als Ort, dem eine eigene Geisteshaltung entspreche. Die Konzentration, die erforderlich sei, um sich über lange Zeiträume an diesem Ort aufzuhalten, scheine einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit mit sich zu bringen, der von vielen Einheimischen als mystisch empfunden werde.79 Eine dieser Einheimischen, Joan Didion, beschrieb die „Freeway-Erfahrung“ ähnlich. Wer sich vollständig darauf einlasse, mit seinem Fahrzeug hier und jetzt im Fluss zu sein, der gelange in eine Art narkotischen Zustand, in dem der Geist sich klärt und der Rhythmus übernimmt.80 Die Vorstellung von Los Angeles als sich horizontal erstreckender Landschaft aus Straßen, Siedlungen, Tankstellen und Werbetafeln, die primär durch die
75 Vgl. Reyner Banham, Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies, London 1971, S. 244. 76 Vgl. ebd., S. 36. 77 Vgl. ebd., S. 243. 78 Vgl. ebd., S. 23. 79 Vgl. ebd., S. 215. 80 Vgl. Joan Didion, „Bureaucrats“ [1976], in: Dies., The White Album. Essays [1979], New York 2009, S. 79–85, hier S. 83. Auch eines der späten Werke des kalifornischen Künstlers Chris Burden, das zu den beliebtesten in den Museen von Los Angeles gehört, bringt diese Erfahrung auf den Punkt. Die 2010 für das Los Angeles County Museum of Art geschaffene, raumfüllende kinetische Skulptur Metropolis II präsentiert eine dicht bebaute Stadt, die einzig aus Architektur und Verkehrswegen geformt wird. In Bewegung versetzt, bewegen sich 1100 Hot-Wheels-Spielzeugautos über die mehrspurigen Autobahnen, mal in rasendem Tempo, mal stockend wie im Stau. Metropolis II gibt keine exakte Ansicht der Stadt Los Angeles wieder, setzt aber dem Mythos von der Autostadt ein Denkmal. Es geht also – und dies kann als Pointe des Werks bezeichnet werden – weniger um ein futuristisches Modell der Großstadt, als darum, eine gegenwärtige Erfahrung zuzuspitzen und aus naher Zukunft auf ihr bewegliches Bild zurückzublicken. Metropolis II oszilliert zwischen Miniatur und Monumentalität und lässt so den unerbittlichen Takt der Masse ebenso aufscheinen wie sie die Faszination für den steten Fluss weckt.
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Windschutzscheibe des fahrenden Autos wahrgenommen wird, ist schon in den 1960er-Jahren fester Topos der Mythologie dieser Stadt. Auch Kaprow greift ihn auf, wenn er in seinem eingangs zitierten Gedicht Postcard back home Los Angeles als Stadt ohne Zentrum und Kanten beschreibt, die pure Gegenwart verheiße, ständig in Bewegung sei und im Durchfahren des verschlungenen Autobahnnetzes immer wieder neu entstehe. Dass Kaprow an dieser Form der Neubewertung von Los Angeles ganz bewusst partizipierte, verrät sein Hinweis darauf, es sei viel einfacher, San Francisco zu mögen, da man dazu „erzogen“ worden sei. Die Abweichung von einer antrainierten Sichtweise wird zum Programm, das Kaprow sich in der Hoffnung auf Erneuerung auferlegt. Gerade das Fremde, Unvertraute, von ‚allen anderen‘ Geschmähte möchte er in Los Angeles faszinierend finden, erkunden und bearbeiten. Dass er damit geradezu reflexhaft die Pose des Pioniers und Avantgarde-Künstlers einnimmt, der sich weit nach draußen in die Fremde wagt, um das Konventionelle hinter sich zu lassen, scheint er in Kauf zu nehmen. Zumindest im Gespräch mit den New Yorker Kunststudenten lässt er mit der Ortsbezeichnung „da draußen“ („out there“) Kalifornien wie einen fernen Kontinent oder eine schwer zu erreichende Wildnis erscheinen. Neben der Mobilität und der unhierarchisch organisierten Stadtlandschaft gilt Kaprows Interesse – dies zeigt sich sowohl in den bereits besprochenen Passagen von Postcard back home als auch in seinen im Gespräch getätigten Aussagen zum Aussehen der Stadt – dem Verhältnis von Oberfläche und Tiefe. Los Angeles ist für Kaprow eine Stadt der Oberflächen, ohne damit im herkömmlichen Sinne oberflächlich zu sein. Die zurückweisenden Oberflächen spornen an, von Tiefe und dem Dahinterliegenden zu träumen, wissend darum, dass es überhaupt kein Dahinter gibt. Ähnlich wie die urbane Struktur unablässig auf ein ‚woanders‘ verweist und der Smog eine Atmosphäre der Unendlichkeit schafft, bilden die Oberflächen der Stadt bei Kaprow eine Art Spiegelkabinett. Diese Vorstellung passt zu dem Bild von L. A. als „skin city“, das er in Postcard back home entwirft und dort mit der paradoxen Formulierung „Metaphysiken der Oberfläche“ verbindet. Los Angeles wird hier für Kaprow dann doch mehr als nur
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
ein urbanistisches Kuriosum oder das klischeehafte Gegenbild zu New York. Er schreibt diesem Ort das Potential zu, den Menschen über den Reiz der optischen Erscheinungen und des sinnlich Wahrnehmbaren auf die Suche nach einem Sinn jenseits der materiellen Welt zu schicken – und diese Suchbewegung selbst, weniger das Erreichen des Ziels, als Verheißung auszugeben. Das Erkunden von Oberflächenphänomenen gehörte allerdings auch zum Repertoire genau jener Kunst, deren Erscheinung man mit der ästhetischen Wirkung von Südkalifornien im Allgemeinen und Los Angeles im Besonderen eng verbunden sah. In den Jahren vor Banhams begeistertem Los Angeles-Exotismus hatte bereits die Pop Art in ihren verschiedenen Erscheinungsformen die kalifornische Kunstszene verändert und mit Blick auf das Zentrum New York wettbewerbsfähig gemacht.81 Die Pop Art ging in Los Angeles eine symbiotische Beziehung mit dem bereits vorhandenen Inventar der Stadt ein.82 Das für einige Ausprägungen der Pop Art zu verzeichnende Interesse an Oberflächen, Zeichen und einer Ästhetik der Glätte lässt sich auch in der südkalifornischen Kunstproduktion der 1960er- und 1970er-Jahre bemerken. Die Bezeichnung ‚L. A. Look‘ für als kühl, technoid, makellos poliert anmutende und mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit vorgetragene Kunstwerke suggeriert zwar über Gebühr eine Ortsgebundenheit dieser Kunst, ist aber doch aufschlussreich im Hinblick auf die Wahrnehmung und Mitgestaltung der ästhetischen Potentiale Los Angeles’ durch die zeitgenössische Kunst.83 Zum ästhetischen Angebot zählten neben 81 Vgl. Nancy Marmer, „Pop Art in Kalifornien“, in: Lucy Lippard, Pop Art, München und Zürich 1968, S. 139–171, hier S. 147. Bezeichnenderweise fand Andy Warhols erste kommerzielle Einzelausstellung 1962 in der Ferus Gallery in Los Angeles statt. 82 Groteske, banale oder kitschige Gebilde, die man mit der für Pop typischen Haltung ostentativ akzeptieren und für kunstwürdig befinden konnte, gab es in Los Angeles zu Genüge. Peter Plagens gelangte gar zu der Einschätzung, das gesamte Ambiente Südkaliforniens sei schlechthin Pop. Vgl. Peter Plagens, Sunshine Muse. Art on the West Coast, 1945–1970, New York 1974, S. 139. 83 Zum ‚L. A. Look‘ siehe das gleichnamige Kapitel, ebd., S. 117– 138. Des Weiteren sehr differenziert bei Ken D. Allan, Lucy Bradnock und Lisa Turvey, „For People who know the Difference. Die Pop-Art und die 1960er-Jahre: eine Definition“, in:
der bereits erwähnten Mobilitätserfahrung in einer Autostadt ohne Zentrum: glatte und semitransparente Oberflächen, die neu und ohne Geschichte sind; nackte Haut; helles Licht; Leuchtreklamen; Wüste; die Farben des Sonnenuntergangs. So unterschiedliche Werke wie Craig Kauffmans glatte, aller scharfen Kanten entledigte Wandreliefs aus farbigem Acryllack auf vakuumgeformtem Plexiglas, Ed Ruschas Leporello-Fotobuch Every Building on the Sunset Strip oder David Hockneys Acrylgemälde A Bigger Splash, die allesamt in den 1960er-Jahren in Los Angeles entstanden, verbindet das Spiel mit Oberfläche und Tiefe, Fassade und Raum, Zweidimensionalität und Körper. Kauffmans glänzende Acryl-Objekte scheinen zu pulsieren, wenn Licht darauf fällt und suggerieren so eine, gleichwohl unergründliche, Tiefe hinter der perfekten Oberfläche. Ruscha gab an, sein Interesse an einer Dokumentation des Sunset Strips habe sich einzig auf die Fassaden bezogen.84 Die Gebäude fotografierte er mithilfe einer motorisierten Kamera während der Autofahrt.85 Der Sunset Strip wird so im doppelten Wortsinne ‚erfahren‘, also nur in der Durchquerung wahrgenommen, wodurch die ihn säumenden Gebäude zu aus dem Augenwinkel erhaschten Kulissen werden. In Hockneys Gemälde, das bezeichnenderweise den Schutzumschlag von Banhams Los Angeles. The Architecture of Four Ecologies zierte, erscheinen alle Bildelemente flächig und ohne Binnenstruktur, wie farbige Papierstreifen, vom hochstehenden Sonnenlicht gleichmäßig ausgeleuchtet. Die Glasfront des Bungalows erlaubt keinen Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1945–1980, hg. von Rebecca Peabody u. a., Ausst.-Kat. Berlin, Martin-Gropius-Bau, Ostfildern 2012, S. 124–182, hier insbesondere S. 152–170. Siehe auch Howard N. Fox, „Tremors in Paradise. 1960–1980“, in: Made in California. Art, Image, and Identity 1900–2000, hg. von Stephanie Barron, Sheri Bernstein, Ilene Susan Fort, Ausst.-Kat. Los Angeles, County Museum of Art, Berkeley, Los Angeles und London 2001, S. 193–233., hier insbesondere S. 208–210. Edward Lucie-Smith sieht in Ed Ruscha die Essenz des ‚California cool‘ verkörpert, womit ein für Kalifornien typischer traumähnlicher Zustand gemeint ist, in dem der Eindruck entsteht, es gebe keinerlei Hierarchien mehr. Vgl. Edward Lucie-Smith, American Art Now, New York 1985, S. 52. 84 Vgl. Doris Berger und Ursula Frohne, „Casting Los Angeles. Verortungen einer Stadt im Projektionsfeld des Films“, in: Bildprojektionen. Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur, Bielefeld 2016, S. 243–269, hier S. 252. Aussage Ruschas im Interview mit Doris Berger. 85 Vgl. ebd., S. 251.
Out there. Kalifornien als Verheißung
Einblick, sondern reflektiert schemenhaft die Architektur der Umgebung. Einzig die mit weißer Farbe expressiv auf die blaue Fläche gesetzten Pinselspuren verraten die Anwesenheit eines menschlichen Körpers, der gerade in den Pool getaucht ist. So unterschiedlich diese Werke auch sind: Liest man sie als Ausdruck einer kalifornischen Erfahrung und fragt danach, wie sie das ästhetische Potential Südkaliforniens mitgestalten, dann offenbaren sie als Gemeinsamkeit vor allem ihre Provokation eines gleitenden Blicks. Der Blick geht nicht in die Tiefe, sondern gleitet ohne Widerstand von einem Punkt zum nächsten, tastet Oberflächen ab, bleibt in gleichmäßiger Bewegung. Diese eigenartige Betonung von Oberflächlichkeit ergänzt die Vorstellungen von der Filmstadt Los Angeles als Ort des Scheins und der Fiktionen. Nicht das Aufdecken von Illusionen oder das Einreißen von Kulissen wird dabei vorgeführt, sondern die Hingabe an das, was sich zeigt. Nicht dem Verborgenen das Interesse zu schenken und nicht hinter der Fassade das Wirkliche oder Echte zu vermuten, diese Überlegungen scheint auch Kaprow aus seiner Erfahrung mit dem „Look of L. A.“ gewonnen zu haben – abermals wurde damit eine Umwertung ‚antrainierter‘ Denkansätze zum Programm. Seine in Postcard back home entwickelte Formel „L. A. skin city – the metaphysics of surface“ enthält ebenfalls die Verheißung dieses Perspektivwechsels: Oberfläche als Abstoßungspunkt, befreit von der Chimäre einer unbedingt dahinter oder darunter liegenden Eigentlichkeit. In der Stadt der Haut scheint der Gegensatz von Innen und Außen aufgelöst, ebenso das Sinnliche mit dem Metaphysischen schon in direkter Verbindung zu stehen. Der gleitende Blick ist verkörperter Blick und die Haut nicht nur Hülle, sondern auch selbst Sinnesorgan. In Postcard back home setzt Kaprow zudem fast alle Substantive in den Plural. Dadurch wird der Eindruck von Vielheit und Verstreuung hervorgerufen, der mit dem bekannten Bild einer Stadt ohne Zentrum korreliert, aber darüber hinausgeht. Beinahe meint man hier schon erste Töne jenes Gesangs zu vernehmen, mit dem die postmoderne Philosophie Los Angeles kurz darauf für sich einnehmen sollte. 1979 erklärte Jean-François Lyotard Los Angeles in seinem Essay Le Mur du Pacifique zur „Hauptstadt der Welt“ im Sinne einer globalen, postmodernen Kapitale, in der
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das Partikulare mehr Gewicht als das Allgemeine hat, die Identitäten durchlässig werden, sorglos mit Technik und Kapitalismus gespielt wird und man vor der ‚Mauer des Pazifiks‘ stehend, am westlichsten Punkt, verblüfft bemerkt, dass „dem Marsch des Abendlands ein Ende [ge]setzt“ ist.86 Kaprow arbeitete selbst daran, die Erfahrungen seines Ortswechsels produktiv zu machen, indem er seine Eindrücke verbalisierte, an den aktuellen Diskurs um die Wertschätzung von Los Angeles anschloss, dabei versuchte, nicht ausschließlich Klischees zu perpetuieren. Aus dem Positionswechsel wollte er auch einen Perspektivwechsel machen und sah diesen als Chance, die eigene Identität auf den Prüfstand zu stellen und für die Einwirkungen eines neuen Habitats zu öffnen. Eines der zentralen Anliegen seiner Kunst in den 1970er-Jahren stellte das Vermitteln zwischen Körpererfahrung und intellektueller Reflexion, Gefühl und Verstand dar – mithin ein Problem, das Kaprow in jener Verschränkung von Ost- und Westküstenmentalität gespiegelt sehen konnte, die er auch persönlich zu bewerkstelligen suchte.
86 Jean-François Lyotard, Die Mauer des Pazifik. Eine Erzählung [1979], hg. von Peter Engelmann, Graz und Wien 1985 (Edition Passagen, 4), S. 34 und S. 61. Eine frühere Version erschien bereits 1974. In dem kleinen, durch Sprachspiele und theoretische Taschenspielertricks mäandernden Text wird der Großraum Los Angeles als labyrinthische Landschaft beschrieben, zusammengesetzt aus „Städten, bewässerten Gärten, Stränden, Wüsten“ mit dem Straßennetz als Spielbrett, auf dem jede Position nur vorübergehend besetzt ist. Ohne Grenze zwischen Stadt und Wüste sei Los Angeles ein „kontinuierlich agitiertes Becken“, eine Stadt ohne Einheit und Zentrum, fern von Historie, eine Akkumulation unterschiedlicher Kulturen, Hautfarben, Minderheiten. Zuvor meinte Theodor W. Adorno, in Los Angeles schon den „Niedergang des gebildeten Menschen im europäischen Sinn“ verwirklicht zu sehen, wollte diesen allerdings gegen das einzig in den Vereinigten Staaten verwirklichte „Potential realer Humanität“ abgewogen wissen. Vgl. Theodor W. Adorno, „Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika“, in: Ders., Kulturkritik und Gesellschaft. Stichworte. Kritische Modelle 2, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 702–738, hier S. 715 und S. 735. Blickte Lyotard in die Kristallkugel Los Angeles, sah er nicht nur den Einfluss Europas als Vorbild, sondern gleich die Hegemonie des gesamten Westens mit seinem dialektischen Denken so gut wie gebrochen – und dies nicht etwa aufgrund tatsächlicher Überwältigung, sondern weil „man sich [hin]gibt, den erfüllten Traum zu genießen“. Lyotard 1979/1985, S. 61.
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Neustart mit Hippies: Kaprow am CalArts Nicht nur Los Angeles bot Kaprow Anlass, die eigene Position neu zu justieren. Insbesondere durchwehte sein dortiges Arbeitsumfeld das Pathos des Neuanfangs. Denn die Kunsthochschule, an die Kaprow 1969 als Dozent und stellvertretender Dekan kam, befand sich gerade noch in der Gründungsphase und lockte mit ihrem Anspruch, ein Ort der Avantgarde zu sein, einige Künstler von der Ost- an die Westküste. Einblick in die Visionen und Sorgen, praktischen wie strategischen Überlegungen derjenigen, denen die Steuerung dieser Institution oblag, gewährt die Studie Artists in Offices. An Ethnography of an Academic Art Scene der Soziologin Judith Adler, die 1979 erschien. Selbst junge Mitarbeiterin am CalArts, entschied Adler sich dazu, die Methode der teilnehmenden Beobachtung anzuwenden, um einerseits zu protokollieren, andererseits kritisch zu beurteilen, wie Künstlerkollegium, Verwaltungsmitarbeiter und Vorstandsmitglieder in den Jahren 1970–1972 um das Profil und den Unterhalt der Kunsthochschule rangen. Ihr mit Aussagen der anonymisierten Beteiligten gespickter Bericht veranschaulicht den Versuch der Künstler, mit dem Vermögen Walt Disneys, auf den die Gründung der Hochschule zurückging, gewissermaßen ‚unter der Hand‘ Avantgarde zu machen und die akademische Institution in die gelebte Utopie einer kreativen und alternativen Gemeinschaft zu verwandeln.87 Das CalArts war 1961 durch die Fusion des 1921 gegründeten Chouinard Art Institute mit dem 1883 gegründeten Los Angeles Conservatory of Music entstanden. Aufgrund finanzieller Engpässe war den Instituten zum Zusammenschluss geraten worden, als Investor sprangen hierbei die Disney Studios ein. Walt Disney schwebte der Aufbau eines Kunstzentrums vor, welches Künstlerausbildung und Kunstvermittlung für ein breites Publikum zusammenbringen sollte. Zu einem Zeitpunkt, als Wirtschaftsanalysen 87 Siehe Judith E. Adler, Artists in Offices. An Ethnography of an Academic Art Scene, New Brunswick, NJ, 1979. Zu den frühen Jahren des CalArts siehe jüngst außerdem Where Art Might Happen. The early years of CalArts, hg. von Philipp Kaiser und Christina Végh, Ausst.-Kat. Hannover, Kestner Gesellschaft, 2021. Eine Chronologie der Ereignisse findet sich auf der aktuellen Homepage der Kunsthochschule, URL: https://calarts. edu/about/institute/history/timeline [zuletzt abgerufen am 18.3.2021].
einen Boom des Kultursektors diagnostizierten, wäre ein solches Kunstzentrum die logische Ergänzung des Themen- und Freizeitparks gewesen, welchen Disney bereits zu einer respektablen Einrichtung der Mittelschicht gemacht hatte.88 Bevor allerdings die vagen Pläne genauere Form annehmen konnten, starb Walt Disney 1966, hinterließ 15 Millionen Dollar und das von ihm eingerichtete Board of Trustees. Die folgenden Jahre, in denen das neue Kollegium und die Administration ihre Arbeit aufnahmen, bevor dann 1971 der neu gebaute Campus in Valencia, nördlich von Downtown L. A., bezogen wurde, waren geprägt von hochfliegenden Visionen und auf dem Fuß folgenden Interessenskonflikten zwischen den Ansprüchen der Geldgeber und den Vorstellungen des Kollegiums (Abb. 10). Präsident Robert Corrigan, promovierter Literatur- und Theaterwissenschaftler, und Theaterregisseur Herbert Blau als Prorektor gelang es zunächst, ein hochkarätiges und interdisziplinäres Kollegium für die in sechs Fakultäten (Kunst, Musik, Theater, Design, Film, Kritische Studien) untergliederte Hochschule der Künste zusammenzustellen. Der Kunstschule stand als Dekan der Maler Paul Brach vor, welcher wiederum Allan Kaprow als Stellvertreter sowie John Baldessari als Dozenten gewinnen konnte. Auch die Fluxus-Künstler Alison Knowles, Dick Higgins und Nam June Paik lehrten dort zeitweise. Der Soziologe Maurice Stein brachte als Dekan der Fakultät für Kritische Studien seine Publikation Blueprint for Counter Education mit, deren frei entnehmbare Poster, Schaubilder und Literaturlisten dazu anregen sollten, unter Berufung auf die Säulenheiligen Herbert Marcuse und Marshall Mc-Luhan eine ganzheitliche, revolutionäre Pädagogik zu denken und zu praktizieren.89 Das Kollegium 88 Zur verbreiteten Annahme eines Kulturbooms in den 1960er-Jahren siehe Alvin Toffler, The Culture Consumers, New York 1964 sowie William Baumol und William Bowen, Performing Arts. The Economic Dilemma, Cambridge 1966. 89 Zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte siehe Jeffrey T. Schnapp, „Blueprint for Counter Education. An Interview with Maurice Stein, Larry Miller and Marshall Henrichs“, in: Hippie Modernism. The Struggle for Utopia, hg. von Andrew Blauvelt, Ausst.-Kat. Minneapolis, Walker Art Center, 2015, S. 419–424. Schnapp besorgte auch einen um Essays erweiterten Nachdruck, erschienen bei Inventory Press, New York 2016. Der Versuch Maurice R. Steins, auch Herbert Marcuse als Professor ans CalArts zu holen, scheiterte an dem Widerstand des von Walt Disney eingesetzten Vorstands.
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10 Treffen der CalArts-Dekane mit den Trustees, Kaprow mittig, 1969.
und die ersten Studenten sahen das CalArts als Experiment an, mit dem nicht nur die Künstlerausbildung, sondern Arbeits- und Lebensweisen insgesamt völlig neu organisiert werden sollten. Interdisziplinarität, Autonomie der Studierenden und neueste Technik bildeten hierfür die zentralen Bausteine. Der Schwerpunkt lag auf Kunstformen, die an die Avantgarden anknüpften, mit Traditionen brachen und Gattungsgrenzen überschritten.90 Zur pädagogischen Philosophie gehörte es, die Studenten als Kollegen anzusprechen sowie von Noten und einem festen Stundenplan abzusehen. „So viele Curricula wie Studenten“, lautete der passende Slogan.91 Nicht nur in der Hoffnung, hiermit den administrativen Aufwand möglichst gering zu halten, setzte man auf den Einsatz neuer 90 Walt Disney und seine Verwalter hatten sich allerdings unter Interdisziplinarität eher das Verschmelzen von freier Kunst und kommerzieller Unterhaltungskultur vorgestellt. Vgl. Adler 1979, S. 123. 91 Vgl. ebd., S. 102.
Technologien. Die Schule erwarb für ihre Studenten und Lehrer sechsundzwanzig Portapak-Videokameras der Firma Sony, die damals jeweils ungefähr so viel wie ein Auto kosteten.92 Voller Optimismus regte man nicht nur zum künstlerischen Umgang mit neuer Informations- und Kommunikationstechnik an, sondern träumte von der Kunsthochschule als Forschungseinrichtung, die es mit den Natur- und Ingenieurswissenschaften aufnehmen konnte.93 Im CalArts-Jargon wurde von der eigenen Tätigkeit als „forschen“ („doing research“) gesprochen und anstelle 92 Vgl. Donna Conwell und Glenn Philips, „Duration Piece. Skulptur im Wandel“, in: Pacific Standard Time. Kunst in Los Angeles 1945–1980, hg. von Rebecca Peabody u. a., Ausst.-Kat. Berlin, Martin-Gropius-Bau, Ostfildern 2012, S. 186–245, hier S. 238. 93 Der Name „California Institute of the Arts“ mit der Kurzform CalArts lehnt sich nicht ohne Grund an „California Institute of Technology“, kurz Caltech, an. Die private Universität Caltech mit Sitz in Pasadena gilt als eine der besten Hochschulen für Natur- und Ingenieurswissenschaften weltweit.
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des Begriffs „Bibliothek“ lieber „Informationszentrum“ verwendet.94 Den Begriff der Forschung für sich in Anspruch zu nehmen, bedeutete mithin, den Akzent stärker auf Prozesse und Wissensproduktion zu legen und weniger auf das Herstellen von dinghaften Kunstwerken. Die Gründung des CalArts vollzog sich im Fahrwasser einer landesweiten Akademisierung der Künstlerausbildung seit den 1960er-Jahren, die sich unter anderem an einem rapiden Anstieg des Angebots an Master of Fine Arts-Studiengängen manifestierte.95 Diese Akademisierung verband sich hier mit einer starken gesellschaftspolitischen Positionierung der Hochschule. In den ersten Papieren, mit denen um weitere Gelder, neue Mitarbeiter und die ersten Studenten geworben wurde, präsentierte sich die Kunsthochschule als alternative Universität in radikalem Sinne.96 Man schrieb sich den Geist der jugendlichen Gegenkultur auf die Fahnen und propagierte libertären Lebensstil, Autonomie, Abbau von Hierarchien sowie eine Abkehr von Professionalisierung im Sinne des verpflichtenden Erlernens aller grundlegenden künstlerischen Medien und Techniken zu Beginn des Studiums.97 Gleichzeitig auf Akademisierung zu zielen und mit Antiprofessionalität zu flirten, wurde offenbar nicht als Widerspruch gesehen. Die Mischung aus maximaler Freiheit, exzellenter Ausstattung und charismatischen Lehrern sollte, so die Hoffnung, nicht nur zukunftsweisende Kunst, sondern vor allem kreative Individuen und Querden94 Vgl. Adler 1979, S. 98f. 95 Zu den Strukturen, Implikationen und Folgen universitärer Ausbildung von Künstlern siehe Howard Singerman, Art Subjects. Making Artists in the American University, Berkeley, Los Angeles und London 1999. 96 Vgl. Adler 1979, S. 26. 97 Vgl. Paul Brach, „Cal Arts: The Early Years“, in: Art Journal, Bd. 42, Nr. 1, Frühjahr 1982, S. 27–29, hier S. 29. Paul J. Karlstrom sieht mit dieser Ausrichtung des CalArts die Umstellung von der Kunstschule traditioneller Prägung, in der Handwerk, Technik und Fertigkeit vom Meister an den Schüler vermittelt werden, auf den heute dominierenden Typus der Kunsthochschule gekommen, der sich vor allem dadurch auszeichne, dass man dort die Kultur des Netzwerkens lernen und sich die für den Erfolg in der Kunstwelt strategische Positionierung erarbeiten könne. Paul J. Karlstrom, „Art School Sketches. Notes on the Central Role of Schools in California Art and Culture“, in: Reading California. Art, Image, and Identity, 1900–2000, hg. von Stephanie Barron, Sheri Bernstein und Ilene Susan Fort, Berkeley, Los Angeles und London 2000, S. 85–109, hier S. 98 und 105.
ker hervorbringen – und somit der Gesellschaft in Gestalt des Künstlers als kreativem Alleskönner innovative Kräfte zuführen. Walt Disney selbst sprach in einer knappen Grußnote zur Eröffnung, die in der 1970 erschienenen CalArts-Sonderausgabe des Magazins Arts in Society dokumentiert ist, offen aus, die Künste müssten mit der aktuellen Beschleunigung von Wachstum und Wandel mithalten, um ihren historischen gesellschaftlichen Stellenwert zu bewahren.98 Disney gibt sich diesbezüglich allerdings optimistisch, da er meint, die Talente der Künstler würden in vielfältigen Bereichen, wie „Unternehmen, Industrie, Unterhaltung und Öffentlichkeitsarbeit“ Verwendung finden. Die neue Kunsthochschule habe deshalb die dringende Aufgabe, ihren Studierenden die passenden „Werkzeuge“ an die Hand zu geben, um „in jedem Bereich der Kreativität und Performance“ arbeiten zu können. Das Bestreben des CalArts sei der größtmöglichen Entfaltung von künstlerischem Wachstum und Ausdruck gewidmet. An anderer Stelle ist in dem Heft davon die Rede, der Kunststudent sei ein „besonders autonomes Geschöpf“, dessen „eigenste Funktion darin bestehe, individuelle Einsichten und Wahrnehmungen zu behaupten.“99 Der Präsident der Kunsthochschule, Robert Corrigan, formulierte, die Aufgabe der Kunst bestehe darin, einem aktuellen Bedürfnis nach der Erweiterung der menschlichen Imaginationskraft nachzukommen. Damit wiederum würden die Künste nicht nur dabei helfen, die Lebensqualität zu verbessern, sondern sie könnten sogar zum „Überleben der menschlichen Spezies“ beitragen.100 In diesen Dokumenten der CalArts-Gründungsphase lässt sich hinter dem von allen Akteuren vorgetragenen Bekenntnis zur besonderen Bedeutung der Künste in einer sich verändernden und vor vielen Herausforderungen stehenden Gesellschaft als neues Spannungsfeld die Verquickung eines 98 Vgl. Walt Disney, [Vorwort ohne Titel], in: Arts in Society, Sonderheft zu CalArts, 1970, S. 8. Die folgenden Zitate sind allesamt dort zu finden. 99 Nicht weiter erläutertes Zitat in der Randspalte des Sonderhefts von Arts in Society zur Gründung des CalArts, 1970. Zum Zitat, das sich explizit auf das CalArts bezieht, ist als Urheber angegeben: Economics Research Associates, „The Need and the Concept“, 1966. 100 Robert Corrigan, [Einführung], in: Arts in Society, Sonderheft zu CalArts, 1970, n. p.
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erweiterten Kunstbegriffs mit den Anforderungen einer postindustriellen Arbeitswelt ausmachen. Wenn um 1970 betont wurde, dass der Künstler ein Forscher ist, der sich in einem ständigen individuellen kreativen Prozess befindet, in dem das Herstellen von Produkten sekundär ist, so schien dies zunächst sowohl mit dem Kunstmarkt im engeren Sinne als auch mit der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung inkompatibel zu sein. Die oben zitierte Aussage von Walt Disney macht allerdings deutlich, dass man sich schon damals sehr gut vorstellen konnte, die künstlerische Kreativität im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit zu schulen und ihre Wertschöpfung somit an anderer Stelle gesichert zu sehen. Der „neue Geist des Kapitalismus“, wie ihn Luc Boltanski und Ève Chiapello 1999 in ihrer folgenreichen Studie beschreiben, wird hier schon in seinen Grundzügen erkennbar.101 In dem Moment, in dem die auf fehlen101 Siehe Luc Boltanski und Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus [1999], Konstanz 2003, sowie Dies., „Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel“, in: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 11, 2001, S. 459–477. Das rund 600 Seiten starke, argumentativ ausgefeilte Buch von Boltanski und Chiapello hat seit seiner Veröffentlichung international eine so erstaunliche Resonanz gefunden, dass inzwischen oftmals ohne Anführungszeichen oder Verweis auf die Urheber und deren Grundlagen von dem „neuen Geist des Kapitalismus“ die Rede ist. Boltanski und Chiapello entwickeln ihre Perspektive auf Grundlage der Auswertung eines Textkorpus, der Managementliteratur aus den 1960er- und 1990er-Jahren umfasst, sowie einer historischen Analyse kapitalistischer Rechtfertigungsstrategien. Einschlägig geworden ist vor allem die Argumentationslinie, in der die Autoren zwischen zwei Strängen der Kapitalismuskritik unterscheiden: der „Sozialkritik“ einerseits, der „Künstlerkritik“ andererseits. Erstere ziele auf Aspekte wie Ausbeutung der Arbeiter, Ungleichheit und Entsolidarisierung, zweitere auf mangelnde Selbstverwirklichungsmöglichkeiten und Unterdrückung der Subjektivität. Im Zeitraum zwischen 1960 und 1990 habe sich jener neue Geist des Kapitalismus dadurch formiert, dass er die „Künstlerkritik“ aufgenommen, die „Sozialkritik“ aber weitestgehend unterdrückt habe. Im zeitgenössischen Kunstkontext setzte diese These eine Diskussion darüber in Gang, inwiefern Kunst und Künstler überhaupt noch eine kritische Position gegenüber der gemeinhin angenommenen „Durchökonomisierung“ aller Lebensbereiche einnehmen können – wenn offenbar gerade Werte wie Autonomie, Selbstverwirklichung, Individualität und Kreativität vom Kapitalismus selbst als erstrebenswert ausgegeben und zu Zwecken der Gewinnmaximierung eingesetzt werden. Das von Boltanski und Chiapello aufgespießte Dilemma der klassischen Kapitalismuskritik, somit ihrer zentralen Angriffspunkte beraubt worden zu sein, wird in dieser Diskussion meist als Horrorszenario einer feindlichen
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de Autonomie und individuelle Selbstverwirklichung zielende Kritik am Kapitalismus von diesem selbst aufgenommen und damit entkräftet wird, scheint der Künstler auf einmal einsatzbereit zu sein, um in verschiedensten bislang kunstfremden Metiers etwas voranzubringen.102 Umgekehrt wird Kreativität nicht mehr nur den Künstlern als notwendige Eigenschaft zugeschrieben, sondern vielmehr als Wunsch und Anforderung für alle Mitglieder der Gesellschaft wirksam.103 Auffällig ist, dass in den aus Übernahme zu verteidigender Begriffe und Wertvorstellungen beschrieben, die nicht mehr rückgängig zu machen ist, aber keinesfalls akzeptiert werden darf. Obwohl die Studie selbst zu einem nicht unwesentlichen Teil ihre Analyse auf Texte gründet, die von individuellen Akteuren im Managementsektor verfasst wurden, wird in der Rezeption meist von „dem Kapitalismus“ gesprochen, als handele es sich dabei um eine Art Superakteur, der mit einer Stimme spricht und seine Normen an die ihm Untergebenen verkündet. Die Aussagen, die von den Künstler-Professoren wie Disney-Verwaltern und Geldgebern im Zuge der CalArts-Gründung getätigt wurden, lassen hingegen erahnen, dass das Bild einer „feindlichen Übernahme“ nicht ganz zutreffend ist. Vielmehr zeigt diese Situation beispielhaft einen historischen Moment, in dem Künstler wie „Kapitalisten“ tatsächlich die Chancen einer Entgrenzung und Erweiterung des Kunstbegriffs gegenüber den möglichen Gefahren höher einschätzten und sich an der Vorstellung berauschten, über die Kunstausbildung hinaus an der Hochschule etwas vorleben zu können, das dann mit innovativer Kraft in die Gesellschaft zurückwirken würde. 102 In diesem Kontext sei darauf verwiesen, dass etwa die New Yorker Konzeptkunst bereits Elemente der postfordistischen Arbeitswelt wie Marketing, Management und Informationsökonomie für sich zu adaptieren und zu nutzen wusste. Siehe hierzu Alexander Alberro, Conceptual Art and the Politics of Publicity, Cambridge, MA, 2003 sowie Barbara Preisig, Mobil, autonom, vernetzt. Konzeptkunst und ökonomische Innovation in Ephemera der Konzeptkunst, 1966–1975, München 2018. Als spezieller Vorläufer einer zwischen ironisch-kritischem Mimikry und verzweifeltem Ernst changierenden künstlerischen Aneignung von Markenbildung, Firmengründung und Vertriebssystemen bei gleichzeitiger Ablehnung der Warenförmigkeit von Kunstwerken kann das lebensumspannende Fluxus-Projekt von George Maciunas gesehen werden. Siehe Thomas Kellein, Der Traum von Fluxus. George Maciunas, Köln 2007. 103 In den 1970er-Jahren nahm eine Institutionalisierung der Kreativität ihren Anfang, die später Richard Florida in seiner programmatischen Studie dazu veranlasste, sogar von einer neuen Klasse der Kreativen zu sprechen, auf deren Bedürfnisse die Gesellschaft sich einstellen müsse. Siehe Richard Florida, The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure, Community, and Everyday Life, New York 2000. Den umfassendsten Versuch der jüngeren Zeit, den Aufstieg des Kreativitätsdispositivs zu beschreiben und kritisch einzuordnen, hat der Kultursoziologe Andreas Reckwitz vorgelegt.
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der Gründungsphase überlieferten Aussagen über diese Verschiebung zunächst Optimismus herrscht. In diesem kleinen Zeitfenster war noch nicht auszubuchstabieren gewesen, was sich Hochschulleitung, Dozenten, Disney-Verwalter und Kunststudenten jeweils unter der Funktionalisierung künstlerischen Kapitals vorstellten und ob Imagination und Kreativität tatsächlich als unkorrumpierbar und nie versiegend für das „Überleben der menschlichen Spezies“ eingespannt werden konnten. Das Potential der Entgrenzung künstlerischer Praxis in konkrete, andere Gesellschaftsbereiche und auch Berufsfelder beschäftigte die an der Universität angestellten Künstler in zweierlei Hinsicht. Zum einen hatten sie sich selbst zu einem Beruf verpflichtet, der sich von dem selbstständigen Dasein des freien Künstlers deutlich unterschied. Zum anderen bekamen sie es zunehmend mit Studenten zu tun, die eigene, teils divergierende Auffassungen vom Künstlertum und der Zielrichtung ihrer Ausbildung entwickelten. Die Studenten bildeten – neben den Künstlern der Gründungsfakultät und den Vorstandsmitgliedern in der Nachfolge Walt Disneys – die dritte Gruppe von Akteuren im Gründungsmoment der kalifornischen Kunsthochschule. Im historischen Rückblick wird deutlich, dass mit ihnen der Strang der jugendlichen Gegenkultur im universitären Geschehen Einfluss gewinnt, die der Chronist und kritische Beobachter jener Zeit, Theodore Roszak, als „Bewusstseinspolitik“104 bezeichnet hat. Denn was die erste Studentengeneration am CalArts – mal mehr, mal weniger stark im Einklang mit dem Auch er verortet den Punkt, ab dem „über die Berufs-, Arbeits- und Organisationswelt hinaus […] das Doppel von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ immer tiefer in die kulturelle Logik der privaten Lebensführung der postmaterialistischen Mittelschicht (und darüber hinaus) eingesickert ist“, in den 1970er-Jahren. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S. 12. Im Kreativitätsdispositiv kann der Künstler auf einmal vom Außenseiter zum normativen Rollenmodell werden – und sein Dasein als selbstständiger Kreativer, der Innovationen hervorbringt und sich stetig weiterentwickelt, vermag par excellence der von allen geforderten fortwährenden Selbstoptimierung genüge tun, wie dies unter anderem Ulrich Bröckling herausgearbeitet hat. Siehe Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst, Frankfurt am Main 2007. 104 Im Original: „politics of consciousness“, vgl. Theodore Roszak, The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic Society and Its Youthful Opposition [1969], London 1970, S. 51.
konzeptionellen Überbau – zum Ausdruck und zur Anwendung brachte, war weniger das Repertoire der Neuen Linken, die Veränderung mittels klassischen politischen Instrumentariums erreichen wollte. Stattdessen neigten die meisten den Positionen des „New Communalism“105 zu, nicht wenige waren selbst 105 Zum Auftritt der CalArts-Studenten vgl. Kelley 2004, S. 147. Die Bezeichnung ‚New Communalism‘ stammt von Fred Turner, vgl. Ders., „Die Politik der Ganzheit um 1968 – und heute“, in: The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, hg. von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke, Ausst.-Kat. Berlin, Haus der Kulturen der Welt, 2013, S. 43–48. Siehe auch Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago und London 2006. Turner hat in Anlehnung an Roszak für den amerikanischen Raum überzeugend herausgearbeitet, dass man sich die Gegenkultur der späten 60er-Jahre nicht als homogene Gruppe vorstellen darf, die morgens gegen den Vietnam-Krieg demonstriert und nachmittags in der Kommune Drogen konsumiert. Den ‚neu-kommunalistischen‘ Aussteigern attestiert er, im Gegensatz zu den Vertretern einer Neuen Linken, letztlich nicht mehr an politisch erarbeitete Regelsetzungen, bürokratische Prozeduren und sozialstaatliche Handhabe geglaubt zu haben. Die Bildung autarker Gemeinschaften zwecks Befreiung der Psyche von den Formatierungen und Zurichtungen einer entfremdeten Gesellschaft habe über die Betonung der Intuition und des Bewusstseins als Grundlage jedweder sozialen Organisation letztlich die noch zu leistende Arbeit an der Gleichberechtigung nicht bloß aus dem Blick verloren, sondern verdeckt. Als zentral für die neu-kommunalistische Ideologie beschreibt Turner ein an die Einsichten der Kybernetik angelehntes ganzheitliches Systemdenken, in dem das vollständig ausgebildete Selbst ohne Zwischenstufen mit dem ‚großen Ganzen‘ in direkter Verbindung steht. Als Werkzeuge zur Einfindung in diese Verbindung kommen neben traditionellen Fertigkeiten wie Ackerbau gleichberechtigt auch neue Technologien in Frage. Turner verortet die folgenschwere Verbindung von kommunalistischer Gegenkultur mit junger Technologieszene explizit im Kalifornien der 1960er-Jahre. Zentrale Vermittlerfigur war Stewart Brand, der ab 1968 den Whole Earth Catalog herausgab und Ideen der Kommunalisten nach einer Phase des Scheiterns vieler Kommunen und der Kritik an ihrer sektiererischen Weltflucht aufgriff und als ideologisches Rüstzeug für die Entwickler des Privatcomputers und des Internets aktualisierte. Brand war somit als kluger Stratege maßgeblich daran beteiligt, das, was heute mitunter noch als ‚digitale Revolution‘ bezeichnet wird, mit dem Etikett der Befreiung und Modernisierung zu versehen. Vgl. Turner 2006, S. 103. In einem entsprechenden Artikel erklärte Brand 1995 selbst, die Computerrevolution sei die einzig legitime Erbin der Gegenkultur der 1960er-Jahre. Vgl. Stewart Brand, „We owe it all to the Hippies“, in: Time Magazine, Bd. 145, Nr. 12, 1.3.1995. Zur Verflechtung von junger Privatcomputerindustrie, Hacker-Szene und Gegenkultur in Kalifornien siehe auch John Markoff, What the Dormouse Said: How the Sixties Counterculture Shaped the Personal Computer Industry, London 2005.
Neustart mit Hippies: Kaprow am CalArts
Hippies oder pflegten Kontakt zu Kommunen in der Nähe von Los Angeles. Die Vorstellung von der Möglichkeit autarker kleiner Einheiten, die in Harmonie mit dem Weltganzen leben, ohne dabei in entfremdende gesellschaftliche Formatierungsprozesse eingebunden zu sein, hatte um 1970 in Kalifornien Konjunktur.106 Hier entwickelte sich ein gleichermaßen natur- wie technikaffines holistisches Systemdenken, in dem das sich vervollkommnende Selbst die gleiche Stelle besetzen konnte wie das vollkommene Rund des Blauen Planeten, welches die Teilnehmer der US-Raumfahrtmission Apollo 17 1972 vom Weltraum aus erblickten und als erste menschengemachte Fotografie der ganzen Erde deren Bewohnern übermittelten.107 Das Kalifornien der frühen 1970er-Jahre wurde durch die futuristische Brille schon jenseits der realpolitisch noch zu schlagenden Schlachten verortet. Judith Adler zitiert einen CalArts-Lehrer, der seinen an der Ostküste zurückgebliebenen Freunden zugerufen hatte, Kalifornien sei „nach der Revolu tion“.108 So wie man sich in Los Angeles schon an einem Punkt außerhalb der Geschichte wähnte, präsentierte sich das CalArts in seinen Anfängen als Parnass in einer Landschaft der Zukunft, in der man bereits in der Lage war, stets das Ganze in den Blick zu nehmen und jenseits aller Dichotomien zu denken. Den utopischen Geist der Kommunen usurpierend, sollte hier jedem einzelnen künstlerischen Subjekt freie Entfaltung ermöglicht werden, wollte man gemeinsam, friedlich, ohne Hierarchien und unabhängig von Autoritäten frei forschen und leben. Obwohl einer der ersten Musiklehrer später desillusioniert formulierte, die zu Anfang entwickelten Visionen hätten sich später als reine Werbeanzeigen entpuppt,109 blieben diese in der Gründungsphase nicht bloß Buchstaben auf dem Papier. Auf dem Campus wurde freie 106 Siehe The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen, hg. von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke, Ausst.-Kat. Berlin, Haus der Kulturen der Welt, 2013, darin insbesondere Anselm Franke, „Earthrise und das Verschwinden des Außen“, S. 12–18. 107 Schon 1968 hatte Stewart Brand programmatisch für das Cover seines Whole Earth Catalog die Farbreproduktion eines Bildes von der Erdkugel gewählt, allerdings war dieses von dem Wettersatelliten ATS-III im November 1967 aufgenommen worden. Vgl. ebd., Bildstrecke „Universalismus“, S. 40. 108 Anonym, zitiert nach Adler 1979, S. 26. 109 Anonym, zitiert nach ebd., S. 107.
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iebe praktiziert, um den Pool versammelten sich die L Nudisten, interne Schreiben wurden mit der Formel „Ich umarme dich“ beendet, Institutsfeste gerieten zu ausschweifenden Orgien, Studenten betrieben einen Laden und ein Restaurant, in denen nach eigenem Ermessen bezahlt werden konnte, teure Geräte wurden jedermann freimütig überlassen.110 Eine Neuheit stellte auch das Feminist Art Program unter Leitung von Judy Chicago und Miriam Schapiro, der Ehefrau von Paul Brach, dar. Schapiro und Chicago griffen das Modell der Kommune als Schutzraum, in dem eine kleine Gemeinschaft eine andere Gesellschaftsform erproben kann, auf, und verwandelten mit ihren Studentinnen 1972 ein heruntergekommenes Anwesen in Hollywood temporär in eine „ganz und gar weibliche Umgebung“111. Das Womanhouse, in dem jeder Raum von einer oder mehreren Künstlerinnen gestaltet wurde, war nicht nur eine ambitionierte Gruppenausstellung, sondern ein Projekt der gemeinsamen Selbstermächtigung. Im Rahmen des Programms für feministische Kunst am CalArts wurden auch Sitzungen mit Gruppengesprächen durchgeführt, die dazu führen sollten, das Bewusstsein für strukturelle Formen der Unterdrückung zu erhöhen und über die gemeinsame Analyse individuell empfundener Hemmnisse zu einer Befreiung zu gelangen, die in diesem Fall die Artikulation einer eigenen künstlerischen Position umfassen sollte.112 Auch die Kaprows nahmen in den 1970er-Jahren an solchen Gruppengesprächen teil, da sich Kaprows Ehefrau Vaughan, die am CalArts ein Fotografiestudium aufgenommen hatte, zu einer aktiven Feministin entwickelte.113 Die Ehekrise, die das Paar in dieser Zeit durchlebte und die 1983 schließlich zur Scheidung führen sollte, spielte sich in einem dementsprechend 110 Vgl. ebd., S. 83. Siehe außerdem Kelley 2004, S. 147. In einem Gespräch im April 2016 berichtete auch der ehemalige CalArts-Student Peter Kirby der Verfasserin von diesen ersten wilden Jahren. 111 Judy Chicago und Miriam Schapiro, „Essay“, in: Womanhouse, hg. von dens., Ausst.-Kat. Los Angeles 1972, publiziert unter URL: http://www.womanhouse.net/statement/ [zuletzt abgerufen am 09.07.2018]. Zum Feminist Art Program am CalArts siehe Tacit Knowledge. Feminism – CalArts / Post Studio – CalArts, hg. von Annette Jael Lehmann und Verena Kittel, Leipzig 2019. 112 Zu den Consciousness Raising Groups siehe ausführlicher Kap. „Feedback und Kleingruppe. Das Selbst in Gesellschaft“ 113 Vgl. Sokup 2008, S. 82.
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politisierten und auf Bewusstmachung zielenden Umfeld ab. Vaughan und Allan Kaprow waren in diesem Moment nicht mehr bloß Zuschauer einer Revolte der jungen Erwachsenen, sondern wurden von dem Geist der Verhandlung und Politisierung des Privaten selbst erfasst. Die hochfliegenden Visionen der CalArts-Gründungsphase wurden bald von der Realität eingeholt. Zunächst hatte man den ungeheuren Reichtum der Institution mythisch verklärt.114 Vorstandsmitglieder nannte man schlicht und ergreifend „das Geld“ und das aus Sicht der Künstler paternalistische Schema betonte man, indem man vom drohenden „Besuch der Eltern“ sprach, wenn sich die Vorstandsmitglieder zur Visite auf dem Campus in Valencia ankündigten.115 Ein Verwaltungsmitarbeiter erinnerte sich, im ersten Jahr sei Geld ausgegeben worden, als gäbe es kein Morgen.116 Mit extravaganten Ausgaben versuchten die Künstler, sich das Geld der Disney-Industrie gleichsam untertan zu machen. Schneller als gedacht stellte sich allerdings heraus, dass die notwendigen finanziellen Ressourcen endlich waren. Als das Geld auszugehen drohte, musste der Vorstand private Geldgeber in Los Angeles auftreiben und forderte hierfür eine gewisse Repräsentabilität der Kunsthochschule ein. Vor allem der Bereich der Bildenden Kunst erschien allerdings schwer vermittelbar und bei Besuchen potentieller Sponsoren setzte man daher eher auf eine Konzertvorführung der Schule für Musik. Hatten die meisten die Gründungsphase tatsächlich noch als sehr locker, frei und stimulierend empfunden, sprachen Künstler angesichts der Kürzungen davon, alles werde nun „straffer“ und es werde in Zukunft wohl „kein Dope und keinen Sex“ mehr geben.117 Spätestens ab 1972 befand sich das CalArts auf einem Schlingerkurs, der zunehmend für Desillusionierung sorgte. Budgetkürzungen und nicht verlängerte Verträge förderten Konkurrenzen und Missgunst innerhalb des Kollegiums, das sich mehr und mehr zu Kompromissen gezwungen sah. 1975 hatten Präsident Robert Corrigan, Rektor Herbert Blau sowie drei der ersten Dekane, darunter
114 115 116 117
Vgl. Adler 1979, S. 81. Vgl. ebd., S. 53 und 124. Anonym, zitiert nach ebd., S. 80. Anonym, zitiert nach ebd., S. 83.
Allan Kaprow, die Schule verlassen. Die Bereiche Design und Kritische Studien wurden geschlossen.118 Obwohl das CalArts den Status der gelebten Utopie einbüßen musste, konsolidierte sich die Kunsthochschule allerdings in den folgenden Jahren und blieb als produktiver, fächerübergreifender Ausbildungsort bestehen.119 War Kaprow in den 1950er-Jahren ein wichtiger Akteur des lebendigen Kunstgeschehens rund um die Rutgers University in New Jersey gewesen, so wirkte er auch im Los Angeles der frühen 1970er-Jahre in einer entscheidenden Phase an der universitären Institutionalisierung der Künstlerausbildung mit – und fand zugleich ein Umfeld für die Weiterentwicklung seiner eigenen künstlerischen Arbeit vor, in dem das Ringen um eine nicht nur zeitgemäße, sondern zukunftsweisende Positionierung der Institution und der in und mit ihr hervorgebrachten Kunst ständig präsent war. Auch nach seiner Zeit in Los Angeles blieb Kaprow ein Bewohner der universitären Welt. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1992 arbeitete er als Kunstprofessor an der University of California in San Diego (UCSD), wo er bis zu seinem Tod 2006 mit seiner zweiten Frau Coryl Crane und dem gemeinsamen Sohn lebte. Auch die Kunstabteilung der UCSD gehörte zu den bemerkenswerten Neugründungen, mit denen sich in den 1970er-Jahren die Kunsthochschulen zur treibenden Kraft der 118 Der Konflikt zwischen konservativem Disney-Weltbild und Künstlerhabitus, den Paul Brach rückblickend als „Minenfeld“ bezeichnete (vgl. Brach 1982, S. 28), sorgte nicht nur im Inneren für Spannungen, sondern prägte bald auch die Außenwahrnehmung der Kunsthochschule, die spätestens in den 1980er-Jahren von vielen vorrangig als „Disney-Schule“ betitelt wurde. Zu einer entstellenden Beurteilung kommt es allerdings bei Mike Davis, der ohne Belege behauptet, die bereits bestehende Kunstschule sei aufgrund der Studierendenproteste lediglich umbenannt und in einen Vorort verbannt worden, „wo ihre konservativen Eigentümerinteressen am besten gewahrt waren“. Vgl. Davis 1994, S. 90. In dieser politisch motivierten Lesart wird die komplexe Verhandlungsarbeit, die von den verschiedenen involvierten Parteien in den ersten Jahren geleistet wurde und bei der es tatsächlich um die Förderung junger Künstler ging, nicht einmal mit einem Seitenblick gewürdigt. 119 John Baldessari lehrte hier etwa noch bis 1986 seine Post Studio-Klasse, parallel entwickelte sich das CalArts zu einer bekannten Ausbildungsstätte für TV-Darsteller und Kreative des Filmsektors. In den 1990er-Jahren waren es vor allem CalArts-Absolventen, die die sogenannte „Disney-Renaissance“ bewerkstelligten und damit für einen Aufschwung des Animationsfilms sorgten.
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Kunstszene Kaliforniens entwickelten. 1967 von Paul Brach begründet, der zwei Jahre später zur Gründung ans CalArts wechselte, zeichnete sich die UCSD ebenfalls durch eine an konzeptualistischer, experimenteller sowie politischer Kunstpraxis geprägte Dozentenschaft aus, zu der als eine von zunächst wenigen Dozentinnen Eleanor Antin zählte, mit der Kaprow sich anfreundete.120
The Education of the Un-Artist In den Jahren seiner Anstellung am CalArts verabschiedete sich Kaprow nicht nur von Begriff und Format des Happenings, sondern arbeitete auch an einer grundsätzlichen Neuformulierung seines Künstlertums. Da Kaprow seit den späten 1950er-Jahren künstlerische Praxis, theoretische Textproduktion und Lehrtätigkeit einander befruchten und kommentieren ließ, beeinflusste dieses Durchdenken des Künstler-Seins in den frühen 1970er-Jahren nicht nur seine künstlerische Arbeit, sondern auch sein Wirken als Professor und Prodekan. Dass Kaprow in dieser Phase sogar vorrangig als theoretischer Kopf wahrgenommen wurde, lässt die Aussage von Paul Brach vermuten, er habe Kaprow bewusst als Prodekan an die Kunsthochschule geholt, weil dieser ein besonderes Interesse an der „Entdefinierung von Kunst“121 gehabt habe. Brachs eigentümliche Wendung ist äußerst treffend, insofern sie die Vorstellung zum Ausdruck bringt, dass nicht ‚Kunst = A‘ durch ‚Kunst = B‘ 120 An der UCSD waren außerdem Pauline Oliveros, eine experimentelle, feministische Komponistin, die ihre Praxis auch auf ihre Identität als queere Chicana bezog, sowie die Kunsthistorikerin Jehanne Teilhet-Fisk tätig, welche als Spezialistin für nicht-westliche Kunst einen Kurs Afro-American Cultural Traditions leitete, aus dem heraus 1970 die bemerkenswerte Ausstellung Dimensions of Black entstand. Von 1974 bis 1979 betreute die Kunsthistorikerin Moira Roth mit einer explizit feministischen Agenda die Galerie auf dem Campus in San Diego. Kaprow tauschte sich in Gesprächen mit ihr über die Funktionsweisen seiner Activity-Broschüren aus. Zur Rolle der UCSD im Kontext der kalifornischen Kunstwelt siehe Jenni Sorkin, World of Art. Art in California, London 2021, S. 138–143. 121 Vgl. Brach 1982, S. 29. Im Original: „de-definition“. Den Begriff hat Brach womöglich von Harold Rosenberg übernommen, der mit diesem seine Bestandsaufnahme der Kunst um 1970 betitelte. Siehe Harold Rosenberg, The De-definition of Art. Action Art to Pop to Earthworks, London 1972.
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ersetzt, sondern der Kunstbegriff selbst ausgefranst und depotenziert wird. Diesem Versuch, Kunst jenseits ihrer Definition zu denken, hatte Kaprow zwischen 1971 und 1974 die dreiteilige Artikelserie „The Education of the Un-Artist“ gewidmet. Ausgangspunkt der Essays ist der Befund eines besonderen Zusammentreffens. Zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt, schreibt Kaprow, sei das künstlerische beziehungsweise ästhetische Bewusstsein dermaßen stark ausgeprägt, dass ihm Vieles, was gemeinhin nicht als Kunst bezeichnet wird, sehr viel anspruchsvoller, anregender und außergewöhnlicher als vergleichbare Erzeugnisse der zeitgenössischen Kunst erschienen.122 So muteten etwa die zufällig und trancehaft anmutenden Bewegungen der Einkaufenden reichhaltiger als das Repertoire des modernen Tanzes an und ein von Anthropologen aufgezeichnetes Video des alltäglichen Lebens von Familien in einem Ghetto werde gegenüber den Produktionen der Underground-Filmemacher als ungleich faszinierender empfunden. Um diesem Phänomen und seinen Folgen für das zeitgenössische künstlerische Selbstverständnis auf die Spur zu kommen, führt Kaprow zunächst drei „Passwörter“ ein, die Orientierung für den Moment versprechen, in dem ‚die Kunst‘ keine mit verlässlichen Merkmalen ausgestattete Größe mehr zu sein scheint: ‚Nichtkunst‘, ‚Antikunst‘, ‚Kunstkunst‘. In gewitzter Manier definiert er ‚Nichtkunst‘ nicht etwa als das Gegenteil von Kunst, sondern als das, „was bislang nicht als Kunst akzeptiert wurde, aber im Hinblick darauf die Aufmerksamkeit eines Künstlers erregt hat.“123 Wenn ‚Nichtkunst‘ wie zu Zeiten von Dada mit provokativer Absicht und auf plakative Weise in die Kunstwelt überführt werde, habe man es mit ‚Antikunst‘ zu tun. Während ‚Nichtkunst‘ nur im Status der Potentialität existieren könne, sei ‚Antikunst‘ als solche heute nicht mehr wahrnehmbar, da sie längst ihr Dasein als ‚Kunstkunst‘ friste. Als ‚Kunstkunst‘ schließlich bezeichnet Kaprow das historisch gewachsene Kunstsystem, in dem Kunst von den Eingeweihten ernstgenommen, gehegt und mittels Unterhaltung eines eigens hierfür geschaffe-
122 Allan Kaprow, „The Education of the Un-Artist I“ [1971], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 97–109, hier S. 97f. 123 Ebd., S. 98.
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nen Apparats (Ausstellungen, Bücher, Rezensionen etc. pp.) am Leben erhalten wird. Innovativ zu sein bedeute in diesem Rahmen, sich professionell auf Kunstgeschichte zu beziehen. An die ‚Kunstkunst‘ werde geglaubt, man vertraue ihrem Anschein von Rarität und höherer Weihe.124 Kaprows Charakterisierung der ‚Kunstkunst‘ kennzeichnet diese als ausgesonderten Bereich, der völlig selbstbezüglich und lediglich den Spezialisten verständlich ist. Kaprow hat keineswegs nur Spott für die ‚Kunstkunst‘ übrig, vielmehr stellt er sie beinahe liebevoll unter Artenschutz. Vorrangig eine kleine Gruppe von Akademikern mit historischem Interesse (sprich: Kunsthistoriker) werden sich in seinem Szenario künftig noch mit ihr befassen. Im Hinblick auf die zeitgenössische Kunstproduktion allerdings, die Kaprow im Jahr 1960 einsetzen lässt, werde ‚Kunstkunst‘ als Bezugsgröße zunehmend irrelevant. Mit unterschwelliger Polemik führt er zunächst aus, ein Teil der jüngeren Kunstproduktion habe sich zwar oftmals in Gestalt von ‚Nichtkunst‘ präsentiert oder sich in nostalgischer Anwandlung der ‚Antikunst‘-Gesten bedient, dabei aber niemals den Kunstbegriff selbst in Frage gestellt. Der andere Teil, zu dem er Werke von Godard, Gemälde von Stella, Skulpturen von Judd oder Konzerte von Stockhausen zählt, behaupte sogar ganz explizit seine Position innerhalb des bestehenden Kunstsystems – egal wie avanciert er sich auf formaler Ebene zeige. Nun zieht Kaprow aus dieser Beobachtung nicht etwa den Schluss, dass die ‚Kunstkunst‘ sich somit auch für die zeitgenössische Kunst als tauglicher Rahmen erweist. Stattdessen nimmt er den Befund als Symptom und vermutet eine der Professionalisierung geschuldete Verblendung seiner Kollegen. Dabei habe doch – so Kaprows Pointe – die ‚Kunstkunst‘ selbst ein immer ausgefeilteres Bewusstsein für ihr alltägliches Umfeld entwickelt und somit den Prozess in Gang gesetzt, auf kurz oder lang vom Leben überformt und abgelöst zu werden. Die durchaus verblüffende Kernthese des Essays zielt darauf ab, dass die eingeweihten Bewahrer der Kunstwelt sich mit ihrem müden Beharren auf längst unfruchtbar gewordenen Konventionen und kosmetischen Formalismen gegen 124 Vgl. ebd., S. 101. Im Original: „Artart takes art seriously. It presumes, however covertly, a certain spiritual rarity, a superior office.“
die organische Weiterentwicklung der Kunst im Sinne ihrer eigenen Auflösung stemmen würden. Indem außerdem aus dem Wunsch heraus, „Künstler“ genannt zu werden, jegliches ‚Nichtkunst‘-Potential geradezu zwanghaft in die überlieferten Rahmenbedingungen der ‚Kunstkunst‘ eingepasst werde, schiebe man die, von außen betrachtet, bereits geglückte Entgrenzung der Kunst ins Leben permanent auf. Im Anschluss an diese Diagnose schlüpft Kaprows Kritiker-Ich in die Rolle des Therapeuten, der den zeitgenössischen Künstlern zum entscheidenden Perspektivwechsel verhelfen möchte. Es sei hilfreich, die eigene Situation, in der man sich verzweifelt an obsolet gewordene Definitionen klammere, als schlechte Komödie zu begreifen. Mit Einführung des vierten Passworts ‚UnKunst‘ folgt die Anleitung zum Befreiungsschlag: I would propose that the first practical step toward laughter is to un-art ourselves, avoid all esthetic roles, give up all references to being artists of any kind whatever. In becoming un-artists (password four) we may exist only as fleetingly as the nonartist, for when the profession of art is discarded, the art category is meaningless, or at least antique. An un-artist is one who is engaged in changing jobs, in modernizing.125 Der radikale Vorschlag lautet, die Begriffe und den Habitus des Künstlers gänzlich aufzugeben, um nicht etwa einen anderen, begrifflich definierten Status zu erlangen, sondern in einem auf Dauer gestellten Möglichkeitsmodus zu existieren. Es geht darum, sich ‚gemein‘ zu machen und die Vorstellung von der Kunst als Beruf und Berufung über Bord zu werfen. Kaprow nimmt mit diesem Vorstoß die Künstler selbst in die Pflicht. Wenn sich niemand mehr als Künstler begreift, werde Kunst als Kategorie insgesamt bedeutungslos, so die Annahme. Trotz dieses Raubbaus am Kunstbegriff lässt Kaprow erstaunlicherweise den Begriff der ‚Modernisierung‘ intakt. Nach seinem Verständnis wird es erst dem ‚Un-Künstler‘ wieder möglich sein, am Modernisierungsprozess teilzuhaben, während das gesamte Kunstkunstkonglomerat endgültig historisch zu werden hat. Mit großer Geste schließt Kaprow das Kapitel Kunstgeschichte, setzt die Option einer 125 Ebd., S. 103f.
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zeitgenössischen ‚Kunstkunst‘ (um 1970) komplett außer Kraft und wirft den ‚Un-Künstler‘ in die ungewisse Zukunft eines „postkünstlerischen Zeitalters“126, in dem er sich neue Aufgaben zu suchen hat.127 Mit zwei manifestartigen Ausrufen endet der Essay: Artists of the world, drop out! You have nothing to lose but your professions!128 126 Ebd., S. 108. Kaprows Vorstoß, eine „Entdefinierung“ der Kunst so konsequent vorzunehmen, dass der Begriff am Ende abgeräumt und historisch geworden ist, eine zeitgenössische Kunst also ohne den Kunstbegriff zu denken wäre, lässt heute an die radikalen Vorschläge aus dem Feld des spekulativen Realismus sowie der Akzelerationisten denken, unter dem Stichwort „spekulativer Zeitkomplex“ auch eine Kunst nach der zeitgenössischen zu denken, beziehungsweise das Konzept der Zeitgenossenschaft in eine „Zukunftsgenossenschaft“ (Armen Avanessian) zu transformieren. Siehe Der Zeitkomplex. Postcontemporary, hg. von Armen Avanessian und Suhail Malik, Berlin 2016. Bei Suhail Malik gerät dies zunächst zu einer polemischen Attacke gegen die zeitgenössische Kunst – diese sei der Kategorie der ästhetischen Erfahrung so sehr verpflichtet, dass sie zutiefst „korrelationistisch“ sei und somit von einem strengen Realismus zurückgewiesen werden müsse. Würde die zeitgenössische Kunst den spekulativen Realismus ernst nehmen, müsse sie notwendigerweise die ästhetische Erfahrung außer Kraft setzen – erst dann könne eine andere als die zeitgenössische Kunst möglich werden. Unverhohlen macht Malik deutlich, dass die zeitgenössische Kunst seines Erachtens in die Irrelevanz abdriftet, wenn sie diese Transformation nicht bewerkstelligt: „Was verlangt wird und was das interpretative Paradigma der zeitgenössischen Kunst, sowie ihren sie begleitenden Soft-Heroismus der künstlerischen, kuratorischen oder interpretativen Anti-Systematizität unterhöhlt, ist Kunst als eine rationale Übung, die alle fortbestehenden Erfahrungsbedingungen beseitigt. Konzept und kein Gefühl; rationalisiert und formalisiert, nichts Ausgelassenes und Unerfasstes; gleichgültig dir gegenüber und unzugänglich für dich: Das ist die bindende Kraft der Vernunft, die auf das Reale gerichtet wird, eine Zerstörung der zeitgenössischen Kunst als Kunst der Unbestimmtheit.“ Suhail Malik, „Grund zur Zerstörung der zeitgenössischen Kunst“, in: Realismus, Materialismus, Kunst, hg. von Armen Avanessian u. a., Berlin 2015, S. 96–109, hier S. 109. In Maliks Denkschema und (nicht gerade sehr differenziertem) Kunstverständnis wäre Kaprow dann allerdings trotz seines Versuchs, die Konsequenzen eines ‚drop out‘ zu Ende zu denken und so bei der Ansage eines „postkünstlerischen“ Zeitalters zu landen, der Paradevertreter einer zutiefst „korrelationistischen“, weil auf subjektive Erfahrung gründenden Kunstauffassung. 127 „Was kann der Un-Künstler tun, wenn wir die Kunst hinter uns gelassen haben?“, lautet dementsprechend die einleitende Frage im zweiten Teil der Essayserie. Allan Kaprow, „The Education of the Un-Artist II“ [1972], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 110–126. 128 Kaprow 1971/2003, S. 109.
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Mit dem Verb ‚aussteigen‘ (‚drop out‘) bezieht sich Kaprow auf das Vokabular der Hippie-Bewegung. „Turn on, tune in, drop out“ lautete einer der bekanntesten Hippie-Slogans, den der 1920 geborene Psychologe Timothy Leary 1967 bei dem Massenevent „Human Be-In“ in San Francisco seinen in überwiegender Zahl deutlich jüngeren Zuhörern verkündet hatte.129 Kaprow überträgt die Vorstellung, dass Erneuerung nicht innerhalb des bestehenden Systems möglich sei, auf den von ihm umrissenen Kunstkontext. Er stellt damit den ‚Un-Künstler‘ als Aussteiger vor, der sich selbst von der Bürde der Profession befreit – wobei ‚profession‘ in allen Bedeutungsdimensionen gemeint ist, also sowohl im Sinne von Bekenntnis und Berufung als auch im Sinne von angestammter Beschäftigung, Beruf oder Metier. Der Aufruf, den Glauben an das Künstlertum aufzugeben, um mit der Modernisierung Schritt halten zu können, wird mit utopistischem Schwung vorgetragen. Die ironische Formulierung, man habe „nichts als seine Professionen“ zu verlieren, lässt gleichwohl vermuten, dass eben genau mit diesen Professionen in der Kunst alles auf dem Spiel stehe. Der Ausruf „Drop out!“ suggeriert eine einmalige, radikale Geste, wo realiter ein mühsamer Verhandlungs- und Ablösungsprozess stattzufinden hat. An anderer Stelle im Text gesteht Kaprow ein, dass der Künstler die Kunst nicht so einfach loswerden kann, selbst dann nicht, wenn er es vermeidet, das Wort „Kunst“ überhaupt in den Mund zu nehmen.130 Nicht ohne Grund impliziert schon der Titel der Essayserie „The Education of the Un-Artist“, dass das Verlernen des Künstlerseins und Kunstmachens selbst ein Lernprozess ist. Um zunächst zu erreichen, dass Kunst ihren privilegierten Status verliert und nunmehr als 129 Vgl. Andrew Blauvelt, „Preface“, in: Hippie Modernism. The Struggle for Utopia, hg. von dems., Ausst.-Kat. Minneapolis, Walker Art Center, 2015, S. 11–14, hier S. 13. Leary, der als klinischer Psychologe Anfang der 1960er-Jahre an der Harvard University mit bewusstseinserweiternden Drogen experimentierte, pries unter anderem die Erkenntnismöglichkeiten des LSD-Konsums. Er war ein einflussreicher Stichwortgeber für die Hippie-Bewegung. Sein psychologischer und therapeutischer Ansatz ging in die Transaktionsanalyse ein, die in den späten 1960er-Jahren dank des Bestsellers I’m ok, you’re ok von Thomas Harris populär wurde. 130 Vgl. Kaprow 1971/2003, S. 104. Im Original: „Starting from the arts means that the idea of art cannot easily be gotten rid of (even if one wisely never utters the word).“
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„eine von mehreren möglichen Funktionen einer Situation“131 begriffen werden kann, empfiehlt Kaprow, sich mit einer „Haltung der bewussten Spielfreude“132 solchen professionellen Aktivitäten zu nähern, die möglichst wenig mit Kunst zu tun haben. Dabei sei nicht etwa kindisches Verhalten, sondern vielmehr ein hohes Maß an „Sophistication“ gefordert.133 Diese Anregung zum geistreichen Spiel in kunstfernen Tätigkeitsfeldern passt zur oben zitierten Formulierung, der sich stetig modernisierende ‚Un-Künstler‘ werde in wechselnde Beschäftigungen involviert sein. Man kommt – zumal aus heutiger Perspektive – nicht umhin, bei diesen Passagen an eine Prekarisierung des Künstlertums zu denken. Dass ein Künstler sich nebenher als Lehrer, Gärtner, Kurator oder Paketbote verdingen muss, um seine Existenz zu sichern, könnte heute schlichtweg als adäquate Beschreibung der realen Lebensbedingungen des Großteils zeitgenössischer Künstler gelten. Es wirkt befremdlich, dieser Lebensform den Vorzug gegenüber einem (vielleicht auch nur mit kleinen Erfolgen versehenen) Verbleib innerhalb der ‚Kunstkunst‘ zu geben, deren Rahmenbedingungen in vielerlei Hinsicht als notwendiger Schutz dienten, um überhaupt Kunst machen zu können. Einige Künstlerkollegen – vor allem solche, die keine universitäre Anstellung vorzuweisen hatten – empfanden Kaprows optimistisches Wetten auf eine unbestimmte Zukunft ‚nach der Kunst‘ dementsprechend als unverhältnismäßig harsche Abrechnung mit der aktuellen Künstlerschaft. Liest man Kaprows „The Education of the Un-Artist“ allerdings als Auseinandersetzung mit dem Aufbau des CalArts, so legt der Essay nicht zuletzt Zeugnis davon ab, für wie notwendig man in Anbetracht einer neuen Studentenschaft um 1970 eine Erweiterung, Neudefinition und Mobilisierung des Begriffs vom Künstlersein erachtete. Es ging damals nicht nur um die Frage, wofür die jungen Menschen eigentlich ausgebildet werden sollten, sondern auch darum, in welcher Rolle, mit welchem Habitus und Selbstverständnis die Kunstprofessoren vor ihnen auftreten wollten. Die globale Adressierung von Kaprows 131 Ebd., S. 105. Im Original: „[…] one of several possible functions a situation may have, a lowercase attribute.“ 132 Ebd., S. 104. Im Original: „[…] attitude of deliberate playfulness toward all professionalizing activities well beyond art.“ 133 Vgl. ebd.
Aufruf an „die Künstler der Welt“ sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Text in nicht geringem Maße auch Selbstvergewisserung, theoretische Begründung der eigenen Position und privater Bannspruch gegen die Gefahr der Versteinerung durch die Ausübung eines universitären Amtes ist. Judith Adler dokumentiert in ihrer Studie, dass die Frage der Vereinbarkeit von eigener künstlerischer Arbeit, Lehre und Mitarbeit in der Hochschulverwaltung unter den Fakultätsmitgliedern am CalArts ein bestimmendes Thema war. Als „Künstler im Büro“, wie Adler ihre Studie übertitelte, war man in steter Sorge, von der eigenen künstlerischen Praxis abgeschnitten zu sein, die Konzeptionsphase zu Beginn erforderte zudem eine Vielzahl von zeitraubenden Sitzungen. Paul Brach schrieb im Sonderheft zur CalArts-Gründung, er und seine Kollegen hätten früher die krankhafte Angewohnheit gehabt, von den Verantwortlichen als „denen da“ zu sprechen, nun sähen sie sich mit der beängstigenden Situation konfrontiert, die Seiten gewechselt zu haben und selbst zu „denen da“ zu gehören.134 Die Angst, die künstlerische Identität durch die universitäre Funktion überformt zu sehen, spricht auch aus der bei Adler berichteten Anekdote von einem Dekan, der seine Amtszeit direkt mit einer „De-Deaning-Ceremony“ einleitete.135 Die Ausbildung zum ‚Un-Künstler‘, die Kaprow in seinen Essays manifestartig entwarf, muss zunächst als eine Ausbildung verstanden werden, der Kaprow sich selbst verschrieben hatte. Zu der vor dem Fotoapparat eingenommenen Pose des jungen, ernsthaften Malers von 1955 und der lässigen Inszenierung als ‚Happener‘ mit Pfeife in der Autoreifeninstallation von 1961 tritt um 1970 mit dem Konzept des ‚Un-Künstlers‘ also eine dritte Fassung von Kaprows künstlerischer Identität. Er stellte sich selbst die Aufgabe, das eigene Tun nicht auf ein emphatisches Verständnis vom Künstlertum zu gründen und es jederzeit kritisch auf Phrasen tradierter Kunsthaftigkeit hin zu überprüfen. Umgekehrt eröffnete er sich damit eine Möglichkeit, die Verpflichtungen als 134 Vgl. Paul Brach, „[Prolog]“, in: Arts in Society, Sonderheft zu CalArts, 1970, S. 21. Im Original: „Having been affiliated with universities, each of us may be suffering from irreversible brain damage. Part of that brain damage is the habit of saying they; one of the scary things is that now we are they.“ 135 Vgl. Adler 1979, S. 69.
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stellvertretender Dekan und Dozent nicht als Gegensatz zur ‚eigentlichen‘ künstlerischen Praxis im Atelier zu begreifen, sondern vielmehr als willkommenes Betätigungsfeld für den mit geistreicher Spielfreude agierenden ‚Un-Künstler‘. Ganz den sprachspielerischen Winkelzügen seiner Essays entsprechend, bezeichnete sich Kaprow in einem internen Memorandum an die CalArts-Dekane 1970 als „professionellen Nicht-Professionellen“136. In dieser Rolle sah er es als seine Aufgabe an, den Kollegen ein Warnzeichen zu geben, da die Hochschule sich vermehrt mit ungewöhnlichen Anfragen potentieller Studenten konfrontiert sah. Kaprow berichtet in der längeren Notiz von der beeindruckenden Bewerbung einer jungen Frau, die mitteilte, weder ein Portfolio einreichen noch Kunstwerke produzieren zu wollen. „Ich möchte schlicht und ergreifend von dieser Institution insgesamt profitieren, um etwas werden zu können, was ich nirgendwo anders werden kann“, wird sie von Kaprow zitiert. Er nimmt diese Begegnung als Aufhänger, um auf ein Spannungsverhältnis hinzuweisen. Das CalArts stelle sich nach außen als interdisziplinäre Schule und als Hort freier Entfaltung dar, womit berechtigte Begehrlichkeiten auf Seiten der zukünftigen Studenten entstünden. Die Verwaltung habe allerdings überhaupt keine adäquate „Maschinerie“, um die dadurch angelockten unkonventionellen Bewerber, die „ohne bestimmte professionelle Absicht, vielleicht sogar auf der Suche nach einem relevanteren Lebensstil“ zu ihnen kommen, anzunehmen oder abzulehnen.137 Sein Plädoyer für die Etablierung eines geregelten Vorgangs für solche Fälle begründet Kaprow damit, dass er selbst aus genau diesen Gründen das CalArts anziehend gefunden habe: I was drawn to CalArts precisely because here was a chance to have a school that was all of one piece, and that was going to experiment educationally, creatively and socially.138 Weiter heißt es: „I now see some of these qualities lost, perhaps more acutely than others view the situation, 136 Allan Kaprow, Inter-Office Memorandum an alle Dekane aus dem Jahr 1970, Betreff: „Educational Planning“, wiederabgedruckt in: Arts in Society, Sonderheft zu CalArts, 1970, n. p. 137 Ebd. 138 Ebd.
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but I do not believe my concern is merely private. All of us have much to lose.“139 Er sieht bei seinen Kollegen trotzdem eine generelle Offenheit für die jungen Menschen, die nicht nur diese Vision teilen, sondern tatsächlich eine ganz andere Vorstellung von Beruf, Berufung und Professionalisierung mitbringen: The intermedial student, the would-be professional in cooking (or fancy rope-twirling, lovemaking, brainwave feedback research, among other possibilities); the young person who wants to ‚major‘ in nothing and everything; each is welcomed from the heart by a quite sensitive staff […].140 Kaprows Aufzählung möglicher Talente jenseits der in den Künsten vorgesehenen Nischen ähnelt auf frappierende Weise einer Passage im ersten Teil der Essayserie „The Education of the Un-Artist“. Dort empfiehlt er, die ‚un-künstlerische‘ Aktivität ein wenig zu verschieben, um „beispielsweise Buchhalter, Ökologe, Stuntfahrer, Politiker oder Strandstromer“141 zu werden. Die theoretische Reflexion der Künstlerwerdung findet also nicht nur in den publizierten Schriften statt, sondern geht auch in die funktional eingebundenen Schriftstücke des beruflichen Lebens ein. Der Ansatz, sich kunstferne Tätigkeitsfelder spielerisch zu erobern, um so einer Konventionalisierung des kreativen Potentials zu entgehen, wird in einem Umfeld entwickelt, in dem es darum geht, institutionell gebunden ‚etwas‘ zu erlernen – und nicht im Atelier des freien, selbstständig agierenden und zur Existenzsicherung vollständig auf den Kunstmarkt angewiesenen Künstlers. Der spannungsreiche Versuch, am CalArts einerseits tradierte Formen der Professionalität aufzugeben, andererseits Kreative akademisch und mit Blick auf ihren Einsatz in unterschiedlichen Berufsfeldern auszubilden, wird von Kaprows Begriffsarbeit begleitet. Liegen nicht Kaprows Aufzählungen von Tätigkeitsfeldern des ‚Un-Künstlers‘ und Walt Disneys Prognose, in wel139 Ebd. 140 Ebd. 141 Kaprow 1971/2003, S. 104. Im Original: „[…] to slyly shift the whole un-artistic operation […] to become, for instance, an account executive, ecologist, stunt rider, politician or beach bum.“
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chen Berufsfeldern die vollumfänglich ausgebildete, besondere Kreativität der Künstler künftig gebraucht werde, verdächtig nah beieinander? Teilen beide Sprecher nicht den gleichen Fortschritts- und Modernisierungsoptimismus? Für die möglichen Folgen der von Disney unumwunden vorgenommenen Funktionalisierung der künstlerischen Kreativität scheint Kaprow in seiner Essayserie zumindest merkwürdig blind zu sein. Sein utopistischer Vorstoß kennt keine realpolitische Chancen- und Nutzenrechnung. Für ihn steht die Entscheidung, sich selbst zum ‚Un-Künstler‘ auszubilden, in erster Linie für eine Befreiung von Verpflichtungen und die Möglichkeit, zwischen bereits festgeschriebenen Positionen handlungsfähig zu bleiben. Sie bedeutet, dem eigenen Denken, Arbeiten und Handeln einen konzeptuellen Rahmen zu geben, der Konsequenz in der Offenheit erlaubt. Kaprows Aufzählung von Beschäftigungsoptionen ist demnach nicht als Berufsempfehlung zu verstehen. Nicht mehr Künstler sein zu müssen und das, was man tut, nicht mehr „Kunst“ nennen zu müssen, meint in erster Linie, sich bewusst und mit geistreicher Spielfreude auf Unbekanntes einlassen zu können und bislang kunstferne Positionen und Arbeitsweisen testweise zu besetzen. Offenbar kam Kaprow zu dem Schluss, dass all dies auch im Namen eines noch so weit gefassten Kunstbegriffs (beziehungsweise ‚Kunstkunstbegriffs‘) nicht zu verwirklichen sei.
Rückzug aus der Kunst? Kaprow unternahm den paradoxen Versuch, den Begriffen und Kategorien zu entkommen, indem er neue einführte und bestehende differenzierte. In dem Moment, in dem er dies öffentlich, also in den Publikationen, aber auch als Kunstprofessor mit rhetorischem Aufwand formulierte, sah er sich allerdings umso mehr gezwungen, diese Begriffe und Einordnungen wieder und wieder zu diskutieren – und dies tat er nicht nur am CalArts, sondern bei zahlreichen Auftritten an Hochschulen und Ausstellungsinstitutionen. Die 1970er-Jahre bedeuteten für ihn weder den Ausstieg aus der Kunst noch den „Rückzug aus der Kunstwelt“142, wie in der Forschung 142 Ursprung 2003, S. 190.
zu Kaprow immer wieder behauptet wird.143 Stattdessen bewirtschaftete Kaprow in dieser Phase eifrig den von Widersprüchen durchsetzten Grenzbereich des ‚Un-Künstlertums‘. Das hohe Maß an Selbstreflexion und differenziertem Urteilsvermögen, welches er als die notwendige Kapazität des ‚Un-Künstlers‘ bezeichnete, stellte er selbst immer wieder unter Beweis – es gehörte zu seinem intellektuellen Auftritt unbedingt dazu. Seine Entscheidung, aus der Analyse der Kunstgeschichte und dem zeitgenössischen Kunstgeschehen für sein eigenes Handeln als Künstler-Theoretiker-Pädagoge konsequente Schlüsse zu ziehen, setzte einen langwierigen Aushandlungsprozess in Gang, der gleichermaßen im privaten wie im öffentlichen Raum stattfand. Die als „Activities“ bezeichneten Arbeiten dieser Zeit begleiteten diesen Prozess und stellten den Versuch dar, die binären Schemata Kunst/Nicht-Kunst und Künstlichkeit/ Natürlichkeit zu überspringen und konturierte Wahrnehmungs- wie Reflexionssituationen in den alltäglichen Lebenszusammenhang zu implementieren. Jeff Kelley schreibt in seiner biographischen Monographie, Kaprow habe die Activities vorrangig im Rahmen von Lehrveranstaltungen mit Studenten oder bei Anlässen wie Hochzeiten und Reisen mit Freunden realisiert.144 Er erwähnt zwar, dass Kaprow von Kollegen auf die Widersprüchlichkeit hingewiesen worden sei, einerseits die ‚Kunstkunst‘ als überkommen zu bezeichnen, andererseits festangestellter Kunstprofessor zu bleiben und an verschiedenen Orten Activities zu realisieren, sieht diesen Vorwurf aber kompensiert, indem er argumentiert, Kaprow habe selbst bei der Zusammenarbeit mit Galerien immer nur die sozialen Beziehungen als eigentliche Währung betrachtet.145 Damit beschreibt Kelley zwar treffend das Anliegen Kaprows, mechanistische Geschäftsbeziehungen zu vermeiden und die Beteiligten aus der Kunstwelt mit seinem partizipativen und experimentellen Ansatz aus der Reserve zu locken. 143 Außer bei Ursprung findet sich die Aussage, Kaprow ziehe sich Ende der 1960er-Jahre aus der Kunstwelt und damit aus der Öffentlichkeit zurück, unter anderem bei Alex Potts, Experiments in Modern Realism. World Making, Politics and the Everyday in Postwar European and American Art, New Haven, CT, und London 2013, S. 341 sowie bei Schieder 2015, S. 171. 144 Vgl. Kelley 2004, S. 157 und 179. 145 Vgl. ebd., S. 180.
Rückzug aus der Kunst?
Dennoch zeigt unter anderem der Blick in das Archiv der deutschen Galeristin Inge Baecker, mit der Kaprow von 1971 bis 1980 zusammenarbeitete, dass Kaprow zum einen sehr genaue Vorstellungen von der Bezahlung seiner Tätigkeit hatte, zum anderen aktiv nach Kooperationen mit Galerien und Kunstinstitutionen in Europa strebte, um dort seine Arbeiten realisieren zu können.146 Auch wenn die Activities in Privaträumen oder im Stadtraum durchgeführt wurden, den Rahmen für diese Durchführung boten in den USA meist Kunsthochschulen, in Europa kleinere Galerien respektive von Künstlern betriebene Ausstellungsinstitutionen, die sich schon früh Präsentation und Vertrieb von Kunstpraktiken aus dem Umfeld der Konzeptkunst widmeten. Obwohl das öffentliche Interesse an den Aktivitäten des ‚Un-Künstlers‘ vor allem ab Mitte der 1970er-Jahre nachließ, hielt sich Kaprow letztlich bis zu seinem Lebensende als eine Art Doppelagent in der Kunstwelt auf.147 In einem Gespräch mit Kunststudenten, das vermutlich 1972 oder 1973 stattfand, gab Kaprow unumwunden zu, seine Ausbildung als Kunsthistoriker und Maler sei „absolut wirksam in jedem Moment seines Tuns.“148 Trotzdem gehe es um „eine Beseitigung unseres Trainings, unserer Tradition“149. In seinem Versuch, Leichtigkeit und Offenheit zu gewinnen, langfristig auch um den Preis einer geschichtlichen Verortung, hat Kaprow es sich unabweisbar sehr schwer gemacht.
146 Zur Kooperation mit Baecker siehe Günter Herzog, „Die Galerie Inge Baecker“, in: Wärme- und Kälteeinheiten. Allan Kaprow in Deutschland, hg. vom Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung (ZADIK), Nürnberg 2011 (sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels), S. 9–12. Mit seinen Activities gastierte Kaprow in Europa außer in Deutschland unter anderem in Frankreich, Italien, Spanien, Österreich und Polen. 147 Zwar gab es auf Kaprows Seite einige Enttäuschungen über mangelnde Resonanz, welche den Bruch mit der Galeristin Inge Baecker 1980 nach sich zogen, doch Kaprow nahm 1977 an der documenta 6 teil und seine Arbeiten waren im Prinzip ohne Unterlass immer wieder in Gruppenausstellungen zu unterschiedlichsten Themen vertreten. Ab den 1980er-Jahren kamen einige retrospektiv angelegte Ausstellungsprojekte zustande, das Interesse an seinen aktuellen Arbeiten nahm aber merklich ab. 148 Kaprow, Gespräch an der Cooper Union, ca. 1972. Im Original: „Sure, my background is absolutely operating at every point.“ 149 Ebd. Im Original: „[…] elimination of our training, of our tradition.“
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In historischer Perspektive ist es frappierend, dass er sich vom geradezu zwanghaften argumentativen Sezieren des Kunstbegriffs und der schriftlich verfassten Theoretisierung des eigenen Tuns schwerlich lösen konnte, obwohl ihm bewusst gewesen sein muss, dass er damit dem Missverständnis Vorschub leistete, seine parallel entstehenden Activities lediglich als begleitende Illustration dieser Verhandlung des Kunstbegriffs zu lesen. Bis heute verstellt Kaprows theoretische Proliferation häufig die Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Themen seiner künstlerischen Arbeit und der Semantik seiner Partituren. Seine Kunst wird in einem Aufwasch mit seinen pointierten Aussagen über das ‚Kunstkunstsystem‘ mitunter pauschal als institutionskritische Position herbeizitiert – dabei sollte das Spiel mit den Begriffen doch eigentlich dazu dienen, in der Begegnung mit den Activities gerade nicht mehr unablässig über deren Kunsthaftigkeit im Sinne von Ausstellbarkeit, Objektstatus, Autorschaft nachzudenken.150 Noch dazu wurde Kaprows Idee vom ‚Un-Künstlertum‘ schon in den 1970er-Jahren von einem erweiterten Kunstbegriff eingeholt, der es aus heutiger Perspektive müßig erscheinen lässt, jede künstlerische Tätigkeit Kaprows wieder und wieder darauf abzuklopfen, ob es sich denn dabei überhaupt noch um Kunst handelt. Just das CalArts gilt heute als einer der wichtigsten Orte, an denen avancierte Positionen konzeptualistischer Kunst gediehen. Der Konzeptkünstler John Baldessari leitete hier seine Post Studio-Klasse. Baldessaris spielerische Arbeiten brachen ironisch mit allen Erwartungen an Hochkunst, thematisierten Autorschaftsfragen und die Aussagekraft von Bildern, besonders Fotografien, im Verhältnis zu Text oder alltäglicher Handlung. Den Titel ihrer Studie Artists in Offices hatte Judith Adler nicht nur gewählt, um darauf hinzuweisen, dass eine der größten Herausforderungen darin bestand, dass die von der Hochschule angestellten Künstler auf einmal mehr Zeit in Büros als in ihren Ateliers verbrachten. Adler macht darüber hinaus den Vorschlag, die 150 Wie in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet wird, unterscheiden sich Kaprows Arbeiten deutlich von manifest institutionskritischer Kunst, die darauf abzielt, dass die Begegnung mit ihr ständig das Reflektieren auf den sie umgebenden Raum und damit das Hinterfragen der institutionellen Regeln im Ausstellungskontext provoziert.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
Produktion konzeptualistischer Kunst direkt mit der zunehmenden Einbindung von Künstlern in akademische Institutionen ab circa 1965 zusammenzudenken.151 Dass die Kunstausbildung in dieser Zeit – vor allem in den USA – mehr und mehr in einem universitären Rahmen absolviert wurde, brachte auch eine entsprechende Ausdifferenzierung der Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten mit sich. Nicht nur gab es entsprechende Stellen für Kunstprofessoren, sondern zunehmend auch Stipendien für junge Künstler, um an den Kunstfakultäten der Universitäten Projekte durchzuführen oder auszustellen. Die von konzeptualistischen Künstlern selbst erfundene und bespielte neue Rolle des Künstlers als Ideengeber oder ästhetischer Berater sei, so Adler, nicht nur mit Blick auf Beschäftigung in Bereichen wie Wirtschaft, Politik oder Bildung zu verstehen, sondern passe vor allem vorzüglich in die Arbeitswelt der Universitäten.152 Ließen sich in dieser Hinsicht die oben zu Kaprow ausgeführten Überlegungen auch dahingehend resümieren, dass er in den 1970er-Jahren nicht mehr als Happeningkünstler, sondern eher als konzeptualistischer Künstler auftrat? War auch Kaprow also nicht nur ein ‚Künstler im Büro‘, sondern sogar ein ‚Bürokünstler‘? In kunsthistorischer Perspektive erscheint die Conceptual Art als der geeignete Rahmen, innerhalb dessen es nicht nur legitim, sondern angeraten ist, von Kaprows Position in den 1970er-Jahren als Kunst zu sprechen. Kaprow umging die Produktion eines autonomen, ausstellbaren Kunstobjekts, wollte stattdessen für die Konzeption und Vermittlung seiner Activities bezahlt werden, stellte das Authentizitätsund Erfahrungsversprechen des Bildes infrage, arbeitete vorrangig mit Stift, Papier und Schreibmaschine, richtete sich in einer kritisch-ironischen, aber gleichwohl produktiven Haltung gegenüber den Regeln und Verhaltensweisen des Kunstbetriebs ein – all dies sind auch Merkmale einer konzeptualistischen Kunstpraxis. Auch bei einem ersten Blick in die von ihm in den 1970er-Jahren produzierten Booklets (Abb. 11) – dies sei hier bereits vorweggenommen – kommt man nicht umhin, die äußerst sparsame, trockene Ästhetik einer Bedienungsanleitung reflexhaft 151 Vgl. Adler 1979, S. 17. 152 Vgl. ebd.
mit der von Benjamin Buchloh für die Konzeptkunst behaupteten „Unterwerfung der letzten Reste künstlerischen Strebens nach Transzendenz […] unter die unerbittliche Ordnung der gemeinen Verwaltung“153 in Zusammenhang zu bringen. Wird man der Ironie dieser ästhetischen Setzung gewahr, bleibt ihre Nähe zu den repräsentationskritischen wie humorvollen Fotografie-Text-Zusammenstellungen, wie sie etwa der Konzeptkünstler John Baldessari vorlegte. Die theoretische Fassung der Position Kaprows als ‚Un-Künstler‘ oder ‚professioneller Unprofessioneller‘, der sich einer eigenwilligen Forschung und nicht der Herstellung von Objekten verschreibt, gedieh in einem an konzeptualistischer Kunst stark interessierten Umfeld, in dem die Grundhaltung einer „selbstkritischen Reflexivität“154 regelrecht eingeübt wurde. Da sich Kaprows künstlerische Praxis der 1970er-Jahre aber eben nicht nur auf der Basis seiner schriftlich verfassten Programmatik und der erhaltenen Ephemera der Activities bestimmen lässt, wäre es voreilig, ihm rückwirkend das Etikett des Konzeptkünstlers niet- und nagelfest anzuheften. Es würde den entscheidenden Aufwand verdecken, mit dem Kaprow sich der performativen Umsetzung seiner Activities durch freiwillige Teilnehmer widmete. Selbst wenn man der Auffassung Anne Rorimers folgt, die zu dem Schluss kommt, es sei der Konzeptkunst gelungen, gerade über das Unterdrücken von Spuren individueller Autorschaft dann eben doch „Aspekte der physischen und sozialen Realität“ zu behandeln,155 geht dieser Aufwand im Zeichen der Partizipation über die Formate und Anliegen der Konzeptkunst hinaus beziehungsweise zielt er in eine andere Richtung – Kaprow wollte nicht nur die formal gefasste und medial vermittelte Idee für eine Handlung lie153 Benjamin H. D. Buchloh, „Conceptual Art 1962–1969. From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions“, in: October, Bd. 55, 1990, S. 105–143, hier S. 142. Im Original: „What Conceptual Art achieved at least temporarily, however, was to subject the last residues of artistic aspiration toward transcendence (by means of traditional studio skills and privileged modes of experience) to the rigorous and re lentless order of the vernacular of administration.“ 154 Anne Rorimer, New Art in the 60s and 70s, London 2004, S. 275. Zur kritischen Reflexion der künstlerischen Position als Bestandteil des pädagogischen Programms und Anforderung für das Erreichen eines Abschlusses an Kunsthochschulen vgl. auch Singerman 1999, S. 185. 155 Vgl. Rorimer 2004, S. 275.
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11 Allan Kaprow, On Time, Galerie Gerald Piltzer, Paris, 1974, Doppelseite aus der Broschüre, Fotografien: J.-P. Bourgeois, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek.
fern, sondern er wollte auch tatsächlich erleben, wie im Zuge der performativen Realisierung neue individuelle Interpretationen, Erfahrungen, Erkenntnisse und Zustände entstehen.156 156 Schaut man sich die weniger weit gefasste Charakterisierung der Conceptual Art an, wie sie Benjamin Buchloh vorgenommen hat, lässt sich der performative Anteil von Kaprows Kunst nur schwerlich ‚einspeisen‘. Buchloh meint, die Konzeptkunst habe sich gleichermaßen der imaginativen und körperlichen Erfahrung, der physischen Substanz, des Raums der Erinnerung entledigt, wie sie alle Rückstände von Stil, Individualität und Geschick beseitigt habe. Vgl. Buchloh 1990, S. 143. Im Original: „[…] it succeeded in purging itself entirely of imaginary and bodily experience, of physical substance and the space of memory, to the same extent that it effaced all residues of representation and style, of individuality and skill.“ Rorimer kann hingegen überzeugend darlegen, dass das Bild von Konzeptkunst als Totalverweigerung und Dematerialisierungskampagne dringend revidiert werden
Potential der Grauzone: Die Activities Der Begriff ‚Activity‘ tauchte erstmals in den späten 1960er-Jahren als Bezeichnung für Kaprows Arbeiten auf. Zunächst sprach Kaprow von dem „Activity Happening“ als einer Unterkategorie des Happenings, meinte damit aber im Prinzip das, was er immer schon muss, um in den Blick zu bekommen, wie diese Kunst etwa auf Wahrnehmbarkeit des Ephemeren und Flüchtigen, vermittelte Erfahrung und konzeptuelle Rahmung vorgefundener Situationen abzielt. In dieser Perspektive lässt sich Kaprows Kunst zumindest in den erweiterten Horizont einer konzeptualistischen Kunstpraxis stellen, ohne darin allerdings vollständig aufzugehen. Zur jüngeren Neubewertung der vermeintlichen ‚Dematerialisierung‘ und ‚Neutralität‘ der Konzeptkunst siehe auch Conceptualism and Materiality. Matters of Art and Politics, hg. von Christian Berger, Leiden und Boston 2019.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
gemacht hatte. Nur aufgrund der Verwässerung des Begriffs ‚Happening‘ und der in seiner Perspektive missverständlichen Rezeption sah er sich zur Einführung eines zusätzlichen Begriffs gezwungen. Das „Activity Happening“, schrieb er 1967, sei direkt in die alltägliche Welt eingebunden, es ignoriere Theater sowie Publikum und setze auf die Auswahl und Kombination von Situationen, die nicht betrachtet oder kontempliert, sondern selbst umgesetzt werden.157 Einige Jahre später sprach er abermals davon, verschiedene Ausprägungen des Happenings müssten voneinander unterschieden werden. Die von ihm bevorzugte Variante nannte er „activity-type Happening“ und beschrieb sie als aufgabenorientiert und an lebensähnlichen Situationen interessiert.158 Schon ab 1969 bezeichnete Kaprow selbst seine neuen Arbeiten allerdings nur noch mit dem Wort „Activity“ und schnitt damit begrifflich die Verbindungslinie zum Happening deutlicher ab.159 Trotzdem wurde Anfang der 1970er-Jahre im Rahmen von Kooperationen mit europäischen Galerien von seinen aktuellen Arbeiten nicht selten als „Happenings“ gesprochen. Grund hierfür war oftmals schlicht die Zeitverzögerung, mit der Kaprow in Europa als „Erfinder“ oder „Vater“ dieser Kunstform an Bekanntheit gewann. In dem Moment, in dem Kaprow mit der Bezeichnung ‚Activity‘ ein Format meinte, das sich aus dem Happening entwickelt hatte, aber doch markante Unterschiede zu diesem aufwies, kollidierte seine Kunstpraxis nicht selten mit dem auf den Happenings gründenden Ruf, der ihm vorauseilte.160 Im Vergleich zu dem Wort „Happening“, mit dem auf Ereignishaftigkeit verwiesen wird, scheint „Activity“ zu dem partizipativen Ansatz Kaprows deutlich besser zu passen. „Happening“ sagt, dass sich etwas 157 Kaprow 1967/2003, S. 87. 158 Kaprow, Gespräch an der Cooper Union, ca. 1972. 159 Kaprow hielt stets an einer historischen Rahmung fest und startete keinen Versuch, die unter dem Begriff ‚Happening‘ entstandenen Arbeiten rückwirkend mit einem anderen Etikett zu versehen. 160 Noch 1993 schrieb Kaprow in einem Brief an Gino di Maggio von der Fondazione Mudima in Mailand, er sei „auf Gedeih und Verderb der ‚Vater des Happenings‘“ und ergänzt, die Kunstwelt wüsste zwar, wer er sei, nicht aber, was er tue. Er sei ein „verschwommener Mythos“ („a blurry myth“). Allan Kaprow, Brief an Gino di Maggio, 21.6.1993, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series VII., Professional Correspondence, Box 62.
ereignet, „Activity“ hingegen, dass etwas getan wird. In der publizierten Partitur von Baggage, realisiert 1972, berichtet Kaprow, er habe den Begriff ‚Activity‘ von Michael Kirby übernommen und aufgrund der vielen irreführenden Assoziationen rund um den Begriff ‚Happening‘ eingeführt. Ihm gefalle die „neutrale Anmutung“ des Begriffs.161 Kirby hatte allerdings durchaus versucht, die Activity emphatisch als eine „neue Kunstform“162 auszurufen und eine dementsprechend engere Charakterisierung vorgenommen. Eine Activity zeichne sich, so Kirby, vor allem durch Introspektion aus. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücke die Beschäftigung mit den Handlungen, die man selbst ausführt – von außen und für andere sei dieser Vorgang im Prinzip überhaupt nicht wahrnehmbar.163 Kirbys Vorschlag, die Activity als eine Form von Bewusstseinskunst mit einem Interesse an Verinnerlichung zu verbinden, wurde von Kaprow nicht explizit übernommen, traf sich aber durchaus mit seinem Anliegen, den mentalen und emotionalen Vorgängen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als dies in der Anlage der Happenings der 1960er-Jahre der Fall gewesen war. Obwohl Kaprow in den 1970er-Jahren den Activities Schritt für Schritt ein Profil verlieh, das sie als selbstkritische, gleichsam aus einer Revision hervorgegangene Fortführung des Happenings in einem strengeren, konzentrierten und thematisch zugespitzten Modus erkennbar werden lässt, bemühte er sich nicht darum, die Bezeichnung „Activity“ über das Stadium des Behelfsbegriffs hinauszuführen. In späteren Essays sprach er mitunter auch von „nontheatrical performance“164 oder „participation performance“165, bezeichnete aber in der Praxis seine neu entstehenden Arbeiten weiterhin als „Activities“. Seine anhaltende Begriffsarbeit zielte nicht mehr auf Festschreibung und Begründung einer eigenen begrifflich gefassten Kunstform, sondern 161 Allan Kaprow, Begleittext im Entwurf der gedruckten Broschüre zu Baggage, 1972, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 21. 162 Michael Kirby, „The Activity. A new art form“, in: Ders., The Art of Time. Essays on the Avant-Garde, New York 1969, S. 153– 169, hier S. 155. 163 Vgl. ebd., S. 155 und 156. 164 Siehe Kaprow 1976/2003. 165 Siehe Allan Kaprow, „Participation Performance“ [1977], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 181–194.
Potential der Grauzone: Die Activities
diente vielmehr dazu, einzelne Aspekte seiner künstlerischen Haltung immer wieder möglichst präzise neu zu beschreiben. In der Forschungsliteratur zu Kaprow wird die Veränderung der Begrifflichkeit meist mit der Annahme des Rückzugs aus der Kunstwelt und der Öffentlichkeit parallelisiert. So spricht Alex Potts davon, Kaprow habe den Anspruch auf Öffentlichkeit mehr und mehr aufgegeben, stattdessen einen „privateren, rein partizipatorischen Ansatz“ bevorzugt.166 Ähnlich heißt es bei Bernhard Schieder, Kaprow habe sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und „eine neue künstlerische Gattung namens ‚Activity‘“ erfunden“.167 Allerdings handelt es sich nicht nur bei der Annahme eines aktiven Rückzugs aus der Kunstwelt ab Ende der 1960er-Jahre um ein Missverständnis beziehungsweise um eine Heroisierung des Künstlers, der darum ringen musste, weiterhin Öffentlichkeit für seine Arbeiten zu finden, auch die Behauptung von der zunehmenden Privatheit muss relativiert werden. Obwohl es einige Activities gibt, die explizit für Freunde oder als Hochzeitsgeschenk konzipiert wurden, ist der Großteil der Activities nach wie vor darauf angelegt, von einer nicht vorab festgelegten und bekannten Gruppe von Personen in einem öffentlichen Rahmen realisiert zu werden, selbst dann, wenn als Schauplätze die Privatwohnungen der Teilnehmer gewählt werden. Privatheit spielt auf anderer Ebene für Kaprow in den 1970er-Jahren eine entscheidende Rolle: Sie wird zu einem der bestimmenden Themen der Activities jener Jahre. Es ist vor allem der thematische Fokus, der die Activities von den Happenings unterscheidet und formale Veränderungen mit sich bringt. Das Interesse Kaprows richtet sich in den 1970er-Jahren auf eben jene „Grauzonen“, von denen er 1972 sprach, und mit denen der Bereich diffuser Empfindungen, Stimmungen, noch nicht auf den Begriff gebrachter Emotionen und ständigem Austarieren des Zwischenmenschlichen gemeint ist. Das 166 Vgl. Potts 2013, S. 341. 167 Schieder 2015, S. 171. Schieder meint, diese „Erfindung“ manifestiere sich bereits in der Arbeit Self-Service, liegt mit dieser Einschätzung allerdings nicht ganz richtig, denn Self-Service wird von Kaprow auf dem Deckblatt zu den Partituren eindeutig mit „A Happening“ untertitelt. Allerdings spricht Kaprow von den einzelnen Handlungen, die den Teilnehmern in Self-Service angeboten werden, als „verfügbare Aktivitäten“.
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Alltägliche, das schon für die Happenings als Fundus gedient hatte, wird nun einer mikroskopischen Erforschung unterzogen. Was passiert wirklich, wenn Menschen einander begegnen, sich nahekommen, intim werden oder aber sich voneinander abstoßen, entfremden, einander verfehlen? Was geschieht, wenn ich einer konventionalisierten Handlung wie dem Händedruck meine volle Aufmerksamkeit widme? Komme ich meinen Gefühlen näher, wenn ich meine Körperfunktionen überprüfe? Einerseits betreffen die Fragen, denen Kaprow in den 1970er-Jahren nachgeht, die Kategorie der Intimität, verstanden als ein „Kerngehäuse innerhalb des Privaten“168, welches das Selbst umgibt und an dessen Rändern spezifische emotions- und körperbezogene Praktiken walten. Andererseits werden sie so bearbeitet, dass jenes Kerngehäuse ausschließlich in Relation zu seinem Außerhalb in den Blick gerät. Die Activities der 1970er-Jahre sind fast ausschließlich für Duos konzipiert, von denen mehrere die gleiche Partitur unabhängig voneinander und ohne die Anwesenheit des Künstlers realisieren, sich aber danach zu einem Abschlussgespräch mit Kaprow versammeln. Wann das Intime berührt wird und inwieweit sich die Grenzen der Intimität verschieben lassen, ist mithilfe des Gegenübers zu erkunden, das zugleich seine eigenen Beobachtungen und Empfindungen kommuniziert. Weder sollen Gefühle und Körpersensationen stumm erlebt oder erlitten, noch von geschäftigem Geplapper oder Ereignislärm übertönt werden. Stattdessen ist jeder Teilnehmer aufgefordert, sie zu beobachten, zu verbalisieren, zu kommunizieren, zu deuten und womöglich gar zu steuern in Form von Wiederholung, Variation, Regulation oder Überzeichnung. Das Subjekt wird damit einerseits als Souverän gestärkt, sein Handlungsspielraum im Vergleich zu den Happenings sogar erweitert, andererseits wird es in einen Prozess der Vergesellschaftung gezogen, der nicht nur im Hinblick auf die Verwertung der veröffentlichten Informationen ambivalent erscheint. In manchen der späten Happenings hatte Kaprow bereits damit experimentiert, Beobachtung, Reflexion und Kommunikation schon in der 168 Marianne Streisand, „[Art.] Intimität/intim“, in: ÄGB, hg. von Karlheinz Barck, Bd. 3, Stuttgart und Weimar 2010, S. 175– 195, hier S. 180.
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2. Von New York nach Kalifornien, vom Happening zur Activity
schriftlichen Partitur zu berücksichtigen, etwa mittels der Schmelzzeit als Reflexionszeit bei Fluids oder der Filmteams in Publicity. Doch erst in den sogenannten Activities verkompliziert er diese Elemente zu einem anspruchsvollen Anforderungsprofil. In einer selbstkritischen Bewegung problematisiert er damit seinen partizipativen Ansatz, um ihn noch radikaler weiterentwickeln zu können. Wie kann man verhindern, dass die Teilnehmer bloß hörige Vollstrecker sind oder im Fluss der Ereignisse alles an ihnen vorbeirauscht? Wie kann man dem Eindruck entgegenwirken, dass der Einzelne doch wieder nur dazu dient, ein Bild entstehen zu lassen, welches die Schaulust befriedigt? Auf diese Fragen versuchte Kaprow mit den Activities zu antworten, indem er die Themen in den Bereich der Psyche und der Interaktion zwischen zwei Individuen verschob und indem er das Format stärker auf völlig kunstferne Praktiken wie Gruppendiskussion, Feedbacktraining oder teilnehmende Beobachtung bezog. Zur kritischen Befragung einer Kunstform, die von den Teilnehmern selbst realisiert werden muss, gehörte auch die Erkenntnis, einem zu einfachen Konzept von authentischer Erfahrung durch Collage von Partikeln des ‚wirklichen‘ Lebens aufgesessen zu sein. Rückblickend schrieb Kaprow über den Übergang von den Happenings der 1960erzu den Activities der 1970er-Jahre in seinem Essay „Performing Life“:
Doing life, consciously, was a compelling notion to me. When you do life consciously, however, life becomes pretty strange – so the Happenings were not nearly as lifelike as I had supposed they might be. […] A new art/life genre therefore came about, reflecting equally the artificial aspects of everyday life and the lifelike qualities of created art.169 Das neue „Kunst/Leben-Genre“, mit dem die Activities gemeint sind, ist somit nicht als vollendete Entgrenzung der Kunst ins Leben zu verstehen, sondern als Versuch, essentialistischen Vorstellungen von ‚falscher Kunst‘ und ‚echtem Leben‘ zu entgehen. Für die Beschäftigung mit den künstlichen Aspekten des alltäglichen Lebens sowie den lebenshaften und lebendigen Qualitäten gemachter Kunst entwickelte Kaprow im Verlauf der 1970er-Jahre die Activity als ein spezielles Format, das sich von den Happenings auch dadurch unterscheidet, dass es für die Interpreten den Charakter einer Übung annehmen konnte. Das Kalifornien der 1970er-Jahre und das CalArts boten für dieses Unterfangen nicht bloß das zufällige Umfeld, sondern stimulierten es in vielerlei Hinsicht. Die paradoxe Selbstbestimmung in Raum und Zeit, nämlich dezentriert, weit draußen und zugleich näher an der Zukunft zu sein, nahm auch Kaprow für seine Position und Produktion der 1970er in Anspruch. 169 Kaprow 1979/2003, S. 195.
3. Once again and again. Form und Format der Activity
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities Wovon ist die Rede, wenn wir heute über Kaprows Activities sprechen und auf welcher Grundlage lassen sich diese überhaupt interpretieren? Ein detailliertes Werkverzeichnis aller Arbeiten Kaprows liegt bislang nicht vor, jedoch enthält der Katalog zur Retrospektive Art as Life eine chronologische Auflistung aller Arbeiten, die sich aus dem Nachlass Kaprows rekonstruieren lassen, darunter auch nicht realisierte Werke und manche Skizze. Überschaut man diese Chronologie, muss man von rund 160 als „Activity“ bezeichneten Arbeiten sprechen, die zwischen 1970 und dem Tod des Künstlers entstanden.1 Der höchste Grad an Komplexität auf inhaltlicher wie medialer Ebene wird mit ihnen allerdings um die Mitte der 1970er-Jahre erreicht. In dieser Phase bringt Kaprow ein Format hervor, in dem die mediale Erscheinungsweise der Partitur, die Rahmung der Realisation und das performative Repertoire so eng wie zu keinem anderen Zeitpunkt in seinem künstlerischen Werk aufeinander bezogen werden. Unter Bearbeitung eines vergleichsweise eng gefassten thematischen Spektrums wird dieses Format zur Erkundung zwischenmenschlicher Beziehungen eingesetzt. Rund 20 Activities der 1970er-Jahre lassen sich in dieser – inhaltlich wie formal begründeten – Gruppe lose zusammenfassen, wobei für die Jahre 1973 bis 1976 eine besonders hohe Produktivität zu verzeichnen ist. Mit dem erhöhten Aufwand im Hinblick auf die Publikation der Partitur in Form eines broschierten Heftchens (dem sogenannten Booklet), außerdem in einigen Fällen zusätzlich in Form eines Videos, korreliert eine Verkomplizierung der Anforderungen an den einzelnen Interpreten. Denn obwohl im Vergleich zu den Happenings der 1960er-Jahre
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Ab spätestens 1970 und bis zu seinem Lebensende bezeichnete Kaprow nahezu alle neu entstehenden Arbeiten als „Activities“, unabhängig davon, ob er in seiner essayistischen Produktion auch mit anderen einordnenden Begriffen hantierte.
der Materialaufwand deutlich geringer ist und als Orte der Ausführung oftmals die vorhandenen Privatwohnungen der Teilnehmer dienen, werden die Partituren länger, kleinteiliger – und müssen in der überwiegenden Zahl von nur zwei Personen (selten ergänzt zum Trio oder Quartett) bewältigt werden. Bevor dieses Anforderungsprofil genauer herausgearbeitet werden kann, sei zunächst die mediale Erscheinungsweise jener Gruppe der Activities anhand eines Beispiels erläutert. Damit soll in einem ersten Schritt anschaulich gemacht werden, in welcher Form eine Activity in den 1970er-Jahren einerseits auf die zeitgenössischen Teilnehmer zukam und welche Spuren sie andererseits für nachfolgende Rezipienten hinterließ.2 2 Ausgeklammert werden solche Arbeiten, von denen nicht viel mehr als der Titel oder die Skizze einer Partitur bekannt ist. Wie im Folgenden noch eingehender erläutert wird, zeichnen sich die hier bearbeiteten Activities durch eine formale wie inhaltliche Nähe aus. Ausreißer in der Werkphase der 1970er-Jahre sollen dennoch nicht unerwähnt bleiben: Baggage (1972) und Sweet Wall (1970) wurden noch von Gruppen mit nicht festgelegter Teilnehmerzahl realisiert; Creatures (1973) war als Workshop für Kinder konzipiert; bei Air Condition (1973) handelt es sich um ein Solo-Stück; Meteorology (1972), Echo-logy (1975) und Easy (1972) befassen sich thematisch eher mit der systemischen Verklammerung von Mensch und Natur; die Broschüre Standards (1979) war die letzte, die Kaprow produzierte, und zugleich diejenige, die am ehesten als eigenständige Künstlerpublikation durchgehen kann, da mit ihr sehr explizit das Verhältnis von Bild und Text unabhängig von einer performativen Realisierung behandelt wird. Aufgrund ihrer thematischen Nähe, wenngleich in diesen Fällen die Partitur ausschließlich als Typoskript vorliegt, lassen sich außerdem Natural Distances (1976) und Two Appointments (1978) assoziieren, schließlich als späte Beiträge Team (1980) und einzelne Activities der European Tour (1981), die Kaprow als Geschenke für Freunde erdachte. Als Activity zum Thema Freundschaft greift schließlich sogar noch Fall (1995) das Themenspektrum der Activites der 1970er-Jahre auf. Homemovies und Mound Sounds hingegen entstanden zwar bereits 1969, können aber als explizit für Hochzeiten gestaltete Arbeiten dem Korpus thematisch verbunden und in Teilen als Vorgriff des kurz darauf die Produktion leitenden Interesses an intimen Beziehungen gesehen werden. Ab der Zeit um 1980 gewährte Kaprow sich selbst größere Freiheiten und entwarf Arbeiten, die sehr unterschiedlich und in der Aufgabenstellung weniger kleinteilig waren – darunter beispielsweise schlichte
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
Rates of Exchange entstand 1975 und wurde in Kooperation mit der Galerie Stefanotty in New York City realisiert. Die Activity leitet zwei beliebige Personen dazu an, alltägliche Handlungen – einander die Hände schütteln, gehen, sich entkleiden, in den Spiegel schauen – zu verfremden und mit einem über Aufnahmegeräte verzögerten Pseudo-Gespräch zu verschalten. Dies lässt sich einer schriftlich verfassten Anleitung entnehmen (P1). Rates of Exchange ist für zwei Personen konzipiert, die im Text „A“ und „B“ genannt werden. Der Text ist in drei Teile gegliedert, die die Überschriften „Reflecting“, „Walking & Shaking“ sowie „Clothing“ tragen. „Reflecting“ sieht vor, dass zunächst jeder für sich allein einige Fragen auf Band aufnimmt, während er oder sie dabei in den Spiegel schaut, wobei die Fragen an den jeweils anderen adressiert werden. A fragt also beispielsweise, während er sich selbst im Spiegel anschaut: „B, ist dein Haar dreckig? Siehst du das sanfte Leuchten in deinen Augen? Sind deine Wangen heiß? Bist du blass um die Nase? Ist dein Hals attraktiv?“ Die Fragen werden wiederholt gesprochen, bis das Band zu Ende ist. Dann werden die Bänder getauscht und jeder spielt nun das Band des anderen für sich ab – A schaut also nun in die Spiegel und hört, wie B ihn fragt: „A, ist dein Haar dreckig? Siehst du das sanfte Leuchten in deinen Augen? […]“. Der mittlere Teil, „Walking & Shaking“, funktioniert folgendermaßen: A und B treffen sich und nehmen mit zwei gleichzeitig eingeschalteten Aufnahmegeräten einen Satz von Fragen und Antworten auf, wobei die jeweils einander zugeordneten Aussagen nicht recht zusammenpassen. Thema aller Fragen und mit „Ja, …“ eingeleiteten Antworten ist gleichwohl der körperliche Vorgang des Gehens mit Muskelspiel, der Bewegung und poetische Arbeiten für Freunde, deren Anleitung mitunter nur handschriftlich festgehalten wurde und von denen manche in ihrer simplen Absurdität an die Fluxuskunst der frühen 1960er-Jahre erinnern, darunter Taking a Shoe for a Walk (1989). Andere Arbeiten wurden, ähnlich wie die frühen Happenings, von Gruppen im öffentlichen Raum ausgeführt, zum Beispiel Maybe the Shortest Parade (1981). Mit Tire Tower (1979) griff Kaprow sein frühes Environment Yard (1961) noch einmal auf. Vermehrt wurden schließlich auch Activities als Soli für einzelne Personen ohne Publikum konzipiert. Parallel kam es im Rahmen unterschiedlicher Ausstellungen immer häufiger zu Wiederaufführungen beziehungsweise Neuinterpretationen früherer Arbeiten, vor allem der Happenings und Environments der 1960er-Jahre.
der Zehen, dem Beugen des Knies, dem Aufsetzen der Fußsohle auf den Boden, der Größe der Schritte. Nach der gemeinsamen Aufnahme trennen sich A und B, jeder sucht sich einen geeigneten Ort, um dort langsam zu gehen und dabei das Band mit den Fragen und vermeintlichen Antworten abzuspielen. Dabei kommt es zu einer seltsamen Form von Analyse: Der Vorgang des Gehens wird in einzelne Segmente unterteilt, die anschließend extrem verlangsamt und sogar angehalten werden. Die Beschreibung des Vorgangs lautet: gradually freezing walking motions into segments holding each for a time carefully watching positions held.3 Dieser Stillstellungsvorgang wird dann auch gemeinsam wiederholt, diesmal allerdings anhand einer formellen Handlung für zwei Personen, nämlich der des Händeschüttelns. Der dritte Teil, „Clothing“, funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie der erste. Zunächst ist jeder für sich allein und entkleidet sich einmal komplett, um sich daraufhin wieder anzuziehen. Während des Ent- und Ankleidens werden erklärende Kommentare, die mitunter wie Rechtfertigungen wirken, auf Band aufgenommen. A und B treffen sich im Anschluss. A spielt das Band von B ab und zieht sich dabei aus und wieder an, während B ihm zuschaut, dann werden die Rollen getauscht. Aber wie kommen nun diejenigen ins Spiel, die diese Anleitung umsetzen? Kaprow arbeitete in den 1970er-Jahren mit verschiedenen Kooperationspartnern – in den USA waren dies tendenziell eher Kunsthochschulen, eigens aufgelegte Programme für performative zeitgenössische Kunst, manchmal auch Galerien oder Kunstverlage, in Europa hingegen meist Galerien, die in den 1960ern-Jahren neu gegründet worden waren, um zeitgenössische Kunst im Geist der Avantgarde und neue künstlerische Strömungen jenseits der Malerei zu repräsentieren.4 3 P1: Allan Kaprow, Partitur Rates of Exchange, 1975, publiziert in gleichnamiger Broschüre (40,8 × 30,3 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, D’Arc Press New York City und Anna Canepa. 4 Darunter beispielsweise die Galerie Inge Baecker in Bochum, die Galleria Martano in Turin, die Galeria Foksal in Warschau oder die Galerie Piltzer in Paris.
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities
Hatte man sich darauf geeinigt, eine Activity zu realisieren, sorgten die Kooperationspartner für eine Ausschreibung oder Bekanntmachung, mit der jeweils vor Ort freiwillige Teilnehmer gefunden werden sollten. Nicht selten wurden schließlich Personen aus dem Netzwerk der Galerie oder Studenten der betroffenen Kunsthochschule rekrutiert, darüber hinaus nahmen die Galeristen, Kuratoren oder Organisatoren ebenso teil wie Kaprow selbst. Soweit das Studium der Dokumente diesen Schluss erlaubt, wurden die Activities der 1970er-Jahre meist von einer kleinen Gruppe – im Durchschnitt zwischen vier und acht Duos – durchgeführt. Die Realisation wurde gerahmt von einem Vortreffen sowie einem Abschlussgespräch, jeweils moderiert von Kaprow selbst. Bei dem Vortreffen wurde festgelegt, wer mit wem die jeweilige Activity durchführt, ebenso wurden notwendige Hilfsmittel verteilt, im Falle von Rates of Exchange also ein Aufnahmegerät pro Teilnehmer. Die Gruppe der Interpreten lernte in diesem Rahmen auch die schriftliche Anleitung kennen, ergänzt um frei vorgetragene Erläuterungen des Künstlers. Die stets schriftlich durchgearbeitete Anleitung konnte dabei in unterschiedlichen Formen auf sie zukommen. Für die Realisation von Rates of Exchange produzierte Kaprow in Kooperation mit dem Verlag D’Arc Press und der New Yorker Kunstmäzenin Anna Canepa eine zwölfseitige Broschüre, die sowohl den Text als auch Schwarz-Weiß-Fotografien und abschließend eine kurze Erläuterung des Künstlers enthält (Abb. 12). So klar und nüchtern die Aufmachung dieses Hefts auch wirkt, seine Funktion ist keineswegs eindeutig. Am Ende des Erläuterungstextes findet sich folgende Angabe: Rates of Exchange was carried out by a small number of couples in New York City, March 22nd and 23rd, 1975, under the sponsorship of the Stefanotty Gallery. The participants’ own homes, environs and times were used. An initial meeting was held to discuss practicalities and a review of the event followed afterward. […] As usual there was no audience. 2/15/75.5
5 Allan Kaprow, Begleittext in der Broschüre zu Rates of Exchange, New York City: D’Arc Press, 1975.
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Der Text scheint zu bezeugen, dass eine Realisierung der vorliegenden Anleitung bereits stattgefunden hat – das Datum, die Zahl der Teilnehmer und die Rahmenbedingungen werden präzise angegeben. Umso mehr überrascht, dass dem Text – ähnlich einem Eintrag ins Tagebuch, Notiz- oder Skizzenheft – ein Datum hinzugefügt wird, das Auskunft über den Zeitpunkt des Verfassens (und indirekt über den der Publikation des gesamten Hefts) gibt, welches allerdings unmissverständlich vor dem angegebenen Datum der Realisierung liegt. Die Erläuterung des Künstlers wird auf den 15. Februar 1975 datiert, für die Umsetzung werden der 22. und 23. März desselben Jahres angegeben. Der Gestus der Bezeugung („so war es“) entpuppt sich somit als Vorgriff auf etwas („so wird es sein“), das gleichwohl schon zum Zeitpunkt einer nur kurze Zeit später, nämlich ab dem 24. März 1975, erfolgenden Lektüre ebenfalls der Vergangenheit angehören wird – weshalb dem aufmerksamen Leser nichts anderes übrig bleibt, als sich mit dem ambivalenten Eindruck eines „es wird schon so gewesen sein“ zu begnügen.6 Dass das Produktionsdatum der 6 Dieser Eindruck kann sich auch als Trugschluss erweisen. Im Begleittext der Broschüre zu Testimonials ist beispielsweise davon die Rede, diese Activity sei im April 1976 in Warschau realisiert worden – dementsprechend wird diese auch als realisierte Arbeit in Ausst.-Kat. München, Art as Life, 2008 aufgeführt. Eine Recherche vor Ort im Archiv der Galerie Foksal sowie in den Archivalien der Galerie Inge Baecker ergab allerdings, dass diese Realisierung nicht stattgefunden hat. Kaprows deutsche Galeristin Inge Baecker schrieb am 6.10.1976 in einem erhaltenen Brief an den polnischen Künstler Tadeusz Kantor, es habe in Warschau Streit um die Bezahlung von Kaprows Activity gegeben, woraufhin diese abgesagt worden sei. In den schriftlichen Erinnerungen von Wieslaw Borowski, dem Betreiber der Galerie Foksal, ist von Kommunikationsproblemen mit der Galeristin die Rede. Im Zuge des Treffens in Warschau sei Kaprow auf das von ihm geforderte Honorar zu sprechen gekommen und man habe die Realisierung dann kurzfristig absagen müssen. Lediglich ein Gespräch mit Warschauer Kunststudenten fand wohl statt. Borowski spricht von einem netten Abend mit dem amerikanischen Künstler, äußert aber auch, dass er sich diesen weniger „prinzipientreu“ vorgestellt hatte. Vgl. Wieslaw Borowski, Zykrywam to, co niewidoczne, hg. von Adam Mazur und Ewa Toniak, Warschau 2014, S. 440f., Übers. d. Verf. in Zusammenarbeit mit Agnes Cibura. Schon aufgrund der politischen und ökonomischen Bedingungen in Polen funktionierte die Galeria Foksal im Unterschied zu den erfolgs- und gewinnorientierten Galerien amerikanischer Kunstzentren eher wie ein Offspace. Zur Geschichte des Kunstraums siehe Barbara Groß, Galerie Foksal (Warschau). Entstehung, theoretische Texte und das Wirken Tadeusz Kantors in den Jahren 1965–1971, Diss. masch., Erlangen-Nürnberg 2011.
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
Broschüre gut einen Monat vor dem Zeitpunkt der ersten Realisierung in New York liegt, lässt vermuten, dass die Teilnehmer, von denen im Text die Rede ist, genau jene bei dem besagten Einführungstreffen in die Hand gedrückt bekamen, um sie für die Durchführung am selbst gewählten Ort zur Verfügung zu haben – und schließlich, nach Durcharbeitung der Anleitung, schon von sich selbst als Akteuren der ‚historischen‘ Realisierung zu lesen. Dies wirft allerdings Fragen zur Entstehung der im Heft abgedruckten Fotografien auf. Da Kaprow im begleitenden Text nicht von einer vorangehenden, gleichsam ‚originalen‘ Erstrealisierung spricht, sondern stattdessen explizit die zeitlich begrenzte und institutionell verankerte Durchführung vom März 1975 bezeugt, wird deutlich, dass die Fotografien nicht als Dokumentation einer individuellen Realisierung, sondern als schematische, gleichsam stellvertretende Bilder zu verstehen sind. Sobald allerdings die den Vorgriff enthüllende Datierung des Begleittextes ignoriert oder überlesen wird, liegt der Verdacht nahe, die Fotografien seien gleichsam im Zuge der Durchführung im März 1975 entstanden und würden diese somit hier in gedruckter Form bezeugen. Diese eigentümliche Überlagerung der Zeitebenen und daraus erwachsenden Konsequenzen für das Verständnis der Fotografien nahm Kaprow in anderen Activity-Broschüren etwas zurück – er verzichtete dort meist auf die Datierung des Textes und erklärte mehrfach explizit, dass es sich bei den Fotografien nicht um Dokumentationen handele, sondern um gestellte Fotografien zur Veranschaulichung der einzelnen Handlungsschritte. Gleichwohl behielt er die exakte und in Vergangenheitsform vorgetragene Bezeugung der Realisierung im Begleittext bei, wodurch keine der Broschüren in Gänze ihren dokumentarischen Charakter abstreifen kann.7 Noch dazu muss aber auch die vermeintlich 7 Bedenkt man die Publikation Days Off. A Calendar of Happenings, die Kaprow 1970 mit dem Junior Council des Museum of Modern Art in New York veröffentlichte, lässt sich dieses Verwirrspiel hinsichtlich bereits vollzogener Realisation, Dokumentation und Anleitung für noch ausstehende Umsetzungen deutlicher als künstlerische Strategie erkennen. Days Off bedient sich des Formats eines Wand- und Abreißkalenders. Jedem Monat ist ein Happening zugeordnet. Auf den einzelnen Blättern repräsentieren und verzeichnen Text und Bild einzelne Arbeiten Kaprows – die Publikation funktioniert somit als Dokumentation, Katalog, Archiv, Künstlerpublikation
naheliegende Funktion der Broschüre als Grundlage des ersten, offiziellen Realisierungsdurchlaufs zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden. Reiste Kaprow tatsächlich im März 1975 mit einem Stapel gedruckter Broschüren nach New York, um diese dort den über die beteiligte Galerie ermittelten Freiwilligen auszuteilen? Torpediert nicht das Format des Hefts zu Rates of Exchange mit 41 × 30,5 cm, bei vergleichsweise kleinem Schriftgrad, die Möglichkeit einer praktischen Handhabung während der individuellen Realisierung?8 Die Anleitung in Heftform war tatsächlich nicht selten Verhandlungsmasse im Rahmen der vielfältigen Kooperationen Kaprows mit Hochschulen, Galerien, Festivals und Museen – und wurde eher selten schon im Vorfeld von Kaprow in Eigenregie produziert. Schließlich wurden in einigen Fällen die Modelle für die fotografische Illustration der Broschüren erst aus den Reihen der freiwilligen Teilnehmer rekrutiert und somit ist nicht davon auszugehen, dass die fertig gedruckten Hefte schon für die Umsetzung kurz darauf den Teilnehmern zur Verfügung standen. Die im gedruckten Text angegebenen Daten sagen zwar etwas über das Datum der Realisierung aus, nichts aber darüber, wann die Broschüre tatsächlich gedruckt und verteilt wurde. Zu Match, im
und Partiturensammlung für künftige weitere Umsetzungen ohne den Künstler. Kaprow organisiert dabei mit Witz bereits vorhandenes Bild- und Textmaterial neu und spielt mit der Überlagerung mehrerer Zeitebenen: Die Happenings werden im Kalender, der normalerweise eher ein Werkzeug für die Planung zukünftiger Ereignisse darstellt, chronologisch präsentiert und jeweils dem Monat ihrer ursprünglichen Realisierung zugeordnet, wobei zusätzlich der Tag des entsprechenden Datums vermerkt wird. Das Kalenderblatt zum Happening Runner ist beispielsweise mit der großformatigen Angabe „9 February“ versehen. Somit besteht der Kalender lediglich aus einzelnen Tagen, die sich nicht zu einem ganzen Jahr addieren, sondern einzig aus den Daten vergangener Ereignisse resultieren. Catherine Spencer weist in ihrem ausführlichen Aufsatz zu Days Off auf vergleichbare und zeitgleiche Unterfangen hin, darunter den Fluxcalendar von George Maciunas sowie die Editionsprojekte Artists and Photographs von Multiples Inc. sowie Seth Siegelaubs One Month, March 1–31, 1969, ebenfalls eine Mischform aus Kalender, Katalog und Instruktionen zur Umsetzung. Siehe Catherine Spencer, „A Calendar of Happenings. Allan Kaprow, Counter-Chronologies and Cataloguing Performance, c. 1970“, in: Art History, Nr. 3, Juni 2016, S. 568–599. 8 Man braucht einen relativ großen Tisch, wenn man diese Broschüre aufgeklappt platzieren möchte, um etwa beim Einsprechen der Fragen für den Teil „Reflecting“ zwischendurch einen Blick hineinzuwerfen.
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities
12 Allan Kaprow, Rates of Exchange, 1975, Seite aus der Activity-Broschüre mit Fotografien von Bee Ottinger, D’Arc Press New York City und Anna Canepa.
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
August 1975 in Wuppertal realisiert, sind Teile eines Briefwechsels erhalten, die darauf hinweisen, dass die gedruckten Exemplare der zugehörigen Broschüre erst nach Abreise des Künstlers vorlagen. Die von Jürgen Müller-Schneck angefertigten Fotografien, die dem anleitenden Text zur Illustration beigegeben sind, wurden wahrscheinlich in einer Aufnahmesitzung angefertigt, die während des Deutschlandaufenthalts Kaprows in zeitlicher Nähe zu der tatsächlichen Realisierung stattfand. Aus einem auf den 1.12.1975 datierten Brief Johann Heinrich Müllers, damals Geschäftsführer des Kunst- und Museumsvereins Wuppertal, geht hervor, dass Kaprow sich nach Produktion und Verbleib der Hefte erkundigt und eine Zusendung von 200 Stück anstelle von lediglich zehn Belegexemplaren angefordert hatte. Hierauf beichtet Müller, ein versprochener Zuschuss von Dritten sei ausgeblieben, weshalb man nun den größten Teil der Auflage von 1000 Exemplaren für 10.- DM pro Stück verkaufen wolle, um die mit 5000.- DM zu Buche schlagenden Produktionskosten begleichen zu können.9 Schon die Auflagenzahl, die bei den Activity-Heften oft zwischen 500 und 1000 Exemplaren lag, macht deutlich, dass die Verwendung für die Realisierung in kleiner Gruppe nicht den einzigen und auch nicht den primären Zweck darstellte. Der mehrdeutige Charakter der 9 Johann Heinrich Müller, Brief an Allan Kaprow, 1.12.1975, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. Auch ein Hinweis in einem Zeitungsartikel von 1976 deutet darauf hin, dass die Broschüren mitunter erst nach der Realisierung entstanden: „Sie [die Activities] finden privatissime statt. Später rekonstruiert [Kaprow] das Programm Punkt für Punkt für die Kamera – bewusst artifiziell, geometrisch genau, fast klinisch-kühl.“ Gisela Waldheim, „Fotografiertes Happening: Brikett unter der Dusche“, in: Die Welt, 7.10.1976. In der Vorbesprechung zur Realisierung von Frameworks (1976) erwähnte Kaprow selbst, er würde eventuell später eine Broschüre anfertigen: „[…] although probably if I were to print this up in a booklet, which I usually do at some point afterward, I’d make some notes having to do with our experiences […]“. Allan Kaprow in der Vorbesprechung zur Realisierung von Frameworks, 8.8.1976 in Los Angeles, maschinengeschriebene Transkription einer Audioaufnahme, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27. In einem Brief der Geschäftsführerin des Portland Center for the Visual Arts, Mary L. Beebe, schrieb diese anlässlich der kurz bevorstehenden Realisierung von Routine, alles sei vorbereitet, die Teilnehmer eingeladen, „das Skript getippt“. Auch hier erschien die entsprechende Broschüre erst nach der Umsetzung. Brief vom 21.11.1973, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24.
Hefte erlaubte den Vertrieb als eigenständige Künstlerpublikation, die sowohl konzeptuell, dokumentarisch als auch instruktiv verstanden werden konnte. Schon qua Konzeption und Entstehungsgeschichte war den Heften ein Nachleben mitgegeben, verbunden mit der Hoffnung auf weitere, vom Künstler unbemerkte individuelle Interpretationen der Activity.10 Die Produktion der Broschüren vollzog sich nahezu immer im Zuge einer Kooperation des Künstlers mit einer Institution. So konnte Kaprow einerseits versuchen, die Produktionskosten auszulagern, andererseits hatte er denjenigen etwas anzubieten, die nicht gewillt waren, ihm lediglich für Konzeption und Präsenz vor Ort ein Honorar zu zahlen.11 Immer wieder wurde er aufgefordert, zumindest materielle 10 Manche Hefte sind bis heute hin und wieder im (kunstbezogenen) Buchhandel zu erwerben und gehören weltweit zum Bestand zahlreicher Kunstbibliotheken oder Sammlungen von Ephemera, andere hingegen sind außerhalb des Nachlasses von Kaprow oder der Archive damals beteiligter Institutionen nicht aufzufinden. Womöglich war die Auflagenzahl mitunter sehr gering oder es wurden überhaupt nur Probedrucke angefertigt. Es gibt keine Hinweise darauf, dass zu Lebzeiten des Künstlers mit den Broschüren tatsächlich gewinnbringend Handel getrieben wurde oder man sich um eine breit angelegte Distributionsoffensive bemühte. In einem Schriftverkehr mit Otto Piene, damals Direktor des Center for Advanced Visual Studies am MIT, mahnte Kaprow im Nachgang zur Realisierung von Warm-ups nicht nur ein noch ausstehendes Honorar an, sondern zeigte sich auch besorgt über den Verbleib der Broschüren: „In the meantime, please let me have some concrete information about what has been done about the booklets advertizing, distribution and actual copies sold or given out. As you know very well, they are no good to anyone just sitting in a box.“ Allan Kaprow, Brief an Otto Piene, 28.4.1976, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 62. 11 Verschiedene Briefwechsel mit seinen Kooperationspartnern belegen Streitigkeiten über Honorare, von deren Höhe Kaprow sehr genaue Vorstellungen hatte. Deutlich wird, dass mit den Honoraren nicht zuletzt die Relevanz dieser sehr eigenwilligen künstlerischen Position verhandelt wurde, Kaprow also auch im Blick hatte, mit welchen Förderungen und Honoraren andere, besonders angesagte Künstler rechnen konnten. Siehe etwa den Briefwechsel mit Wulf Herzogenrath bezüglich das Projekts „Mein Kölner Dom“ 1980, in dem deutlich spürbar wird, dass Kaprows Forderung von 10.000.- DM Honorar als unangemessen in Relation zu seiner Bedeutung für das internationale Kunstgeschehen betrachtet wird. Allan Kaprow, Brief an Wulf Herzogenrath, 25.7.1980, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker. Karl Ruhrberg, Leiter des Museums Ludwig in Köln, berichtete in einem späteren Brief an Inge Baecker, deutlich enerviert, Kaprow habe ihm am Telefon „in bewegten Worten seine finanziellen Nöte“
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities
Spuren oder dokumentarisches Material der ephemeren Umsetzungen seiner Activities in einem Ausstellungskontext zu inszenieren, nicht selten wurde die Auszahlung eines Honorars an den Ankauf eines ‚Relikts‘ gekoppelt.12 Dies bereitete ihm vor dem Hintergrund seines Programms einer Ausbildung zum ‚Un-Künstler‘ einerseits Schwierigkeiten, andererseits wollte er auf die Zuführung von neuen freiwilligen Teilnehmern über die institutionellen Kooperationspartner nicht gänzlich verzichten.13 Um die Mitte der 1970er-Jahre schien die konzentrierte, formal durchgearbeitete und zu vervielfältigende Broschürenversion der Anleitung in diesen Situationen deshalb den richtigen Fluchtpunkt darzustellen, weil sie mitteilen konnte, dass das Eigentliche eben gerade nicht zu dokumentieren und abzubilden war und sie zudem eine größere Zahl individueller Interpretationen über die ersten Realisierungen hinaus zumindest potentiell ermöglichte. Als Kaprow allerdings Ende der 1970er-Jahre zunehmend den Eindruck gewann, dass die Broschüren vorrangig als Konzeptkunst rezipiert wurden und noch dazu die Beigabe der Fotografien die Teilnehmer in ihren individuellen Umsetzungen hemmte, gab er die Produktion auf und beschränkte sich künftig darauf, den Anleitungstext
im Hinblick auf den Unterhalt der Familie geschildert. Karl Ruhrberg, Brief an Inge Baecker, 3.9.1980, ebd. 12 So etwa geschehen im Rahmen einer Kooperation von Kaprow und seiner deutschen Galeristin Inge Baecker mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Museum in Duisburg 1973. Ein vom Museum forciertes Protokoll schrieb vorab fest, dass das Museum für seinen Beitrag in Höhe von 3000.- DM ein „Objekt (Relikt oder älteres Objekt)“ erhalten müsse. Auf diese Forderung ging Kaprow nur ungern ein, indem er dem Museum eine suggestive Ansammlung vermeintlich originaler Relikte der Umsetzung von Basic Thermal Units hinterließ: eine kleine Zinkwanne mit Thermometer, Alubehälter für Eiswürfel und eine billig gerahmte Fotografie, die den Künstler verschmitzt lächelnd in der Badewanne zeigt – ein Zugeständnis also, das gleichzeitig eine charmante Verweigerung darstellte. Angesichts des eher skurrilen Entstehungszusammenhangs dieser ‚skulpturalen‘ Anordnung war es irritierend, ausgerechnet dieses Objekt 2014 in der ansonsten überaus gelungenen Ausstellung lens-based sculpture. Die Veränderung der Skulptur durch die Fotografie in der Berliner Akademie der Künste anzutreffen. 13 Dieses Dilemma und die daraus resultierenden, mitunter halbherzigen oder ironisch ins Leere laufenden Präsentationsweisen erwähnt Glenn Philips, „Time Pieces“, in: Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, S. 34–41.
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ohne Bebilderung in möglichst schlichter maschinengeschriebener oder gar handschriftlicher Form auszugeben.14 Insgesamt entstanden zwischen 1972 und 1979 neunzehn solcher Activity-Broschüren, die formal eine große Geschlossenheit bei gleichzeitiger Vielfalt in der Heftgröße aufweisen (Abb. 13): flexibler Einband, geheftet, Schwarz-Weiß-Ästhetik bei Einband und Fotografien, serifenlose Schrift mit gefetteten Überschriften, Nummerierung einzelner Anleitungsabschnitte, streng gerasterte Verteilung von Texten und Bildern, breite Seitenränder respektive viel Weißraum auf den einzelnen Seiten, gestellt wirkende Gesten und neutrale Gesichtsausdrücke auf den Fotografien, kleiner Einleitungstext des Künstlers und schriftliche „Bezeugung“ der Realisierung.
14 Kaprow fasste dies 1986 in einem Gespräch wie folgt zusammen: „Das […] war mein Versuch, eine geeignete Anleitung zur Verfügung zu stellen, mit der die Leute zwanglos auf ihre eigene Art meine Events ausführen konnten. Und, wie ich eben sagte, es funktionierte nicht. Eine Anleitung in Form von Broschüren, die gestellte Figuren zeigten, vom Text begleitet, oder entsprechende Film- oder Videoversionen – alle hatten dasselbe Problem, für Nichteingeweihte ziemlich nutzlos zu sein, weil keiner das Notationssystem wirklich verstand. Und deshalb wurden diese Anleitungen zu Kunstwerken und wurden als Kunstwerke gesammelt, als eine Art visuelle und verbale Poesie.“ Kaprow 1986, S. 195. In einem Gespräch im Anschluss an die Realisierung einer Activity 1978 kritisierte Moira Roth die Fotografien in der Broschüre als „klinisch“ und „irreführend“, da sie den Eindruck vermittelten, es handele sich um „eine mechanische Übung“. Kaprow verteidigte dies als Strategie, um deutlich zu machen, dass es sich lediglich um eine „Notation“ handele, die jeder individuell mit Leben füllen müsse. Nachdem auch andere Gesprächsteilnehmer die Rückmeldung gaben, die Fotografien als „zu langweilig“ („too dry“) empfunden zu haben, und vermuteten, es wäre für die Umsetzung befreiender, nur den Text zu haben, kamen Kaprow offenbar selbst Zweifel an dieser Vermittlungsform. Gespräch im Anschluss an eine Activity, 1978, Allan Kaprow, Coryl Crane, Moira Roth, Bruce Reynolds, Audioaufnahme, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Films, Video and Audio Tapes, Box 74, C33, Transkription der Verfasserin. Auch in einem anderen Gespräch Kaprows mit einer kleinen Gruppe von Weggefährten ging es darum, welchen Einfluss die Präsentation der Partitur in Form der Broschüre mit Fotografien oder eines Videos auf die Umsetzung hat. Mehrfach wurde dort betont, dass es schwer sei, sich von den Bildern bei der eigenen Realisierung gänzlich freizumachen. Allan und Vaughan Rachel Kaprow, Ehepaar Simpson, Nancy Buchanan, Peter Kirby, Aussagen über die Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, ca. 1976 in Kalifornien, unveröffentlichtes Gespräch, Audioaufnahme, Allan Kaprow Papers, Getty Re search Institute, Los Angeles, Series X., Films, Video and Audio Tapes, Box 74, Transkription und Übers. d. Verfasserin.
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
13 Drei Activity-Broschüren von Kaprow aus den 1970er-Jahren.
Zu Rates of Exchange fertigte Kaprow allerdings nicht nur eine Broschüre für die schriftliche Anleitung an, sondern zusätzlich eine 46-minütige Video-Version. Als Dozent am CalArts stand Kaprow nicht nur die notwendige Ausstattung zur Verfügung, sondern er lernte dort auch mit Peter Kirby einen Studenten kennen, der sich mit den technischen Details auskannte und ihm für einige Jahre als befreundeter technischer Assistent zur Hand ging. Nach der Fernsehproduktion zu Gas sowie dem Telehappening Hello von 1969, dem bereits besprochenen Einsatz von tragbaren Videokameras für Publicity im Jahr darauf und einer Video-Dokumentation der Realisierung von Scales 1971, legte Kaprow 1974 mit Then erstmals (und letztmals) eine autonome Videoarbeit vor und publizierte im gleichen Jahr den Aufsatz „Video Art. Old Wine, New Bottle“, in dem er seine skeptische Haltung gegenüber den Heilsversprechen des neuen Mediums und dessen Einsatzmöglichkeiten im Bereich der zeitgenössischen Kunst zum Ausdruck brachte.15 Es mag daher zunächst überraschen, dass 15 Allan Kaprow, „Video Art. Old Wine, New Bottle“ [1974], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 148–153. Einen knappen Abriss der Aktivitäten Kaprows mit dem Medium Video gibt Glenn Philips, „[Art.] Allan Kaprow“, in: California Video. Artists and Histories, hg. von dems., Ausst.-Kat. Los Angeles, J. Paul Getty
Kaprow in den 1970er-Jahren neun Videos zu seinen Activities produzierte oder von Kooperationspartnern produzieren ließ und damit sogar direkt Eingang in einige frühe Gruppenausstellungen zur Videokunst fand.16 Die zeitweiligen Experimente mit dem Medium Video schienen sowohl seinen Anspruch auf kritische Zeitgenossenschaft einzulösen als auch das Verhältnis von konzeptuellen zu partizipativen Elementen seiner Activities unter Spannung zu setzen. Kaprows Kritik an der Videokunst zielte vorrangig darauf, herauszustellen, dass mit der Installation von Maschinenparks im Ausstellungskontext allein noch nicht viel gewonnen sei und man nicht annehmen könne, dass die schiere Möglichkeit einer Interaktion von Besuchern mit Kamera und Monitor automatisch Erkenntnis oder gar ein kosmisches Bewusstsein generiert. In diesem Sinne entzog er einerseits seine Acti vities dem Ausstellungsraum und produzierte andererseits Videos, die lediglich als Anschauungsmaterial dienten und die Vorstellung von einer authentischen Dokumentation ebenso wie die Träume von einer weltumspannenden neuen Kommunikationstechnologie enttäuschten. Bei dem Video zu Rates of Exchange (Abb. 14) handelt es sich um eine Verfilmung der Anleitungsbroschüre, allerdings werden die Akteure „A“ und „B“ in der Bewegtbildversion von Sylvia Simpson und Stanley Fried verkörpert, in den Fotografien hingegen von einer unbekannten Frau und Kaprow selbst. Das Video beschränkt sich auf wenige Kameraeinstellungen, die nahezu identisch mit den Museum, 2008, S. 118–121. Bei Then handelt es sich nicht um die Partitur, sondern um eine eigenständige Videoarbeit, die sich ironisch mit dem Versprechen von Ereignishaftigkeit auseinandersetzt. In drei Akten wird jeweils in einer Einstellung eine einfache Situation gezeigt, zu der eine Stimme aus dem Off eine Frage beständig wiederholt. So sieht man beispielsweise einen Mann, der einen Eiswürfel im Mund lutscht, und hört dazu immer wieder die Frage: „How much longer?“. 16 Bei den neun Videos (alle in schwarz-weiß) handelt es sich um diejenigen, die sich an der Ästhetik der Broschüren orientieren und als Bewegtbildversion der Partitur zu verstehen sind: Time Pieces (zwei Fassungen), Routine, 2nd Routine, 3rd Routine, Rates of Exchange, Comfort Zones, Warm-ups, 7 Kinds of Sympathy. Außerdem existieren zu Private Parts (1976) und Common Sense (1977) Videos (in Farbe), die eher dokumentarischer Natur sind. 3rd Routine (1974) ist die einzige Arbeit, bei welcher der Gebrauch von Video-Technologie tatsächlich während der Activity selbst vorgesehen ist – gestellte Begrüßungsszenen zweier Partner sollten hierbei mit Videokamera aufgezeichnet und anschließend gemeinsam gesichtet werden.
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities
für die Fotografien der Broschüre gewählten Motiven sind. Auch die äußerst zurückgenommene Mimik der beiden Akteure sowie die Neutralität des Aufführungsortes erinnern an die Ästhetik dieser Bilder. Die Mittel der Videotechnik nutzt Kaprow gleichwohl, indem er Split-Screen und Voice-Over einsetzt. Einen Unterschied zur Broschüre stellt außerdem der medienspezifische Umgang mit der Zeitlichkeit dar. So heißt es im ersten Teil der schriftlichen Anleitung, dass bestimmte, an den Partner gerichtete Fragen so oft dem eigenen Spiegelbild gestellt und dabei mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet werden sollen, bis „das Tonband endet“.17 Im Video werden diese Fragen tatsächlich entsprechend oft wiederholt und es wird jeweils der Name des Partners eingesetzt. Für den Betrachter, der über Minuten der in den Spiegel gestellten Frage „Stanley, sind deine Backen heiß?“ folgen soll, hält dies weder einen besonderen Erkenntnismoment noch einen ästhetischen Genuss bereit. In den Momenten, in denen der Blick des Mannes nach unten geht und seine Rede stockt, vermutet der Betrachter die schriftliche Anleitung auf seinem Tisch und fragt sich befremdet, ob er gerade einem unprofessionellen Schauspieler oder einem widerwilligen Automaten bei der Arbeit zusieht. Als anregende Anleitung für eine eigene Realisierung von Rates of Exchange taugt das Video kaum, eher noch als ironischer Kommentar zur Unmöglichkeit des Abbildens innerer Vorgänge bei äußerer Ereignislosigkeit.18 Kaprows mit Video aufgenommene Ton- und Bewegtbildversionen der Activity-Anleitungen stellten Versuche dar, mit einem Dreh den konzeptuellen Anteil dieser Arbeiten stärker hervorzutreiben und die Unverfügbarkeit der individuellen Durchführungen 17 Im Original: „repeating questions until end of tape“ (P1). 18 Tatsächlich bezogen sich die von Teilnehmern an den Fotografien in den Broschüren kritisierten Punkte in ähnlichem Maße auch auf die Videoversionen. Sanda Agalidi schreibt in einem Text von 1978, an einer kleinen Veranstaltung unter dem Titel „Videotapes as performance scores“ teilgenommen zu haben, bei der Kaprow, sie selbst und vier weitere Teilnehmer, die zuvor eine Videoversion als Anleitung für eine Umsetzung genutzt hatten, über die titelgebende Frage diskutierten. Die Veranstaltung fand am Los Angeles Institute of Contemporary Art statt. Laut Agalidi wurde dabei ausgesprochen, dass die Erfahrungen während der Realisierung oftmals beträchtlich von dem abwichen, was als Stimmung im Video suggeriert wird. Vgl. Sandra Agalidi, „Allan Kaprow. Shaping the Unnoticed“, in: Los Angeles Institute of Contemporary Art Journal, Bd. 22, 1979, S. 60–63.
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14 Allan Kaprow, Rates of Exchange, 1975, Filmstills der Video-Version, s/w, 46 Min., produziert von Anna Canepa Video Distribution.
für spätere Rezipienten explizit zum Thema zu machen. Hierfür testete er das Medium in einem formal begrenzten Rahmen aus, gelangte aber offenbar nicht zu einer eindeutigen und befriedigenden Entscheidung, wie weit er bei der Übertragung der Broschüre in das andere Medium gehen und inwiefern das Video noch eindeutig anleitende Funktion haben sollte. Als Zeichen dieser zumindest graduellen Unentschlossenheit kann die Korrektur verstanden werden, die Kaprow 1975 an dem Video zu Time Pieces vornahm, dann aber mit Rates of Exchange teilweise wieder zurücknahm. Die Produktion des Videos zu Time Pieces hatte Kaprow zunächst 1973 im Auftrag des Neuen Berliner Kunstvereins an Helmut Wietz ausgelagert.19 Der hatte zwei der Berliner Freiwilligen bei einer Umsetzung im Rahmen des von Wolf Vostell koordinierten Festivals ADA: Aktionen der 19 Der 1945 geborene Filmemacher Wietz studierte in den 1970er-Jahren an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, arbeitete früh auch mit der Videotechnik und kooperierte mit der Kunstszene. 1974/75 unterstützte Wietz die Künstlerin Rebecca Horn bei der Inszenierung ihrer Berlin-Übungen in 9 Stücken vor der Kamera.
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
15 Allan Kaprow, Time Pieces, Standbild aus dem vom Neuen Berliner Kunstverein produzierten Film (Helmut Wietz), 1973, s/w, 46 min.
16 Allan Kaprow, Time Pieces, Standbild aus der zweiten Video-Version in Zusammenarbeit mit Peter Kirby, 1975, 29 Min., s/w, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Box 90, V34.
Avantgarde gefilmt und sich dabei um eine möglichst neutrale Anmutung bemüht, die jeden Ausflug ins Anekdotische oder eine Dynamisierung durch Schnittwechsel vermeidet (Abb. 15). Das 47 Minuten lange Ergebnis ist dementsprechend als Dokumentation wenig erkenntnisbringend und als verfilmte Anleitung nicht von hinreichender kompositorischer Klarheit. Kaprow entschied sich wohl aus diesen Gründen dafür, zwei Jahre später ein Remake des Videos zu produzieren. Die neue, nur 30 Minuten lange Version von Time Pieces orientiert sich streng an der Ästhetik der Broschüre und blendet kürzere exemplarische Ausschnitte der einzelnen Handlungsschritte ein (Abb. 16). Die gefilmten Szenen scheinen in einer Laborsituation, frei von jeglicher Markierung durch privates Leben, stattzufinden. Eine Stimme aus dem Off verliest die Anweisungen mit größter Ernsthaftigkeit, als handele es sich um ein wissenschaftliches Experiment. Die zur Schau gestellte Genauigkeit und der Erfüllungseifer lassen die ausgeführten Handlungen wie das Atmen in eine Plastiktüte oder das Anhalten der Luft während des Telefongesprächs umso absurder wirken. Angesichts dieser ästhetisch reizvollen und doppelbödigen Videoversion, welche die Möglichkeit einer dokumentarischen Anmutung durch Betonung des Artifiziellen konsequent
ausschaltet, erstaunt die weniger überzeugend umgesetzte Version von Rates of Exchange. Die überwiegende Zahl derjenigen, die Rates of Exchange in New York 1975 realisierten, kam jedoch weder mit der Produktion der Broschüre noch der des Videos in Berührung. Für alle Activities der 1970er-Jahre gilt, dass die einzelnen Umsetzungen in der Mehrzahl ohne Anwesenheit Kaprows und unbeobachtet von Fotografen oder Kameraleuten stattfanden. Wenn ein Fotograf unabhängig von der Produktion der Broschüre für Dokumentationszwecke hinzugeladen wurde, dann begleitete dieser meist nur eines oder wenige der Duos. Zum fotografischen Material, das zu den Activities existiert, ist an dieser Stelle zusammenfassend dessen ebenfalls heterogener Charakter festzuhalten. Es wurde teilweise mit dem Ziel produziert, in modellhafter Art und Weise die in der Broschüre abgedruckte schriftliche Anleitung zu ergänzen, teils mit der Absicht, fotografische Zeugnisse der Realisation für Kooperationspartner im Nachhinein, zu Bewerbungszwecken oder auch nur als private Erinnerung zu haben.20 In einzelnen Fällen wurden neben den 20 Der Nachlass Kaprows, der zwar umfangreich, aber nicht unbereinigt ist, enthält einige Kontaktbögen und Abzüge
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17 Allan Kaprow, Time Pieces, 1973, Poster/Faltblatt, Neuer Berliner Kunstverein, Fotografien: Alvin Comiter und Jürgen Müller-Schneck.
Broschüren auch andere Arten der Bild-Text-Kombination getestet, so experimentierte Kaprow für Time Pieces ein vorerst letztes Mal mit einer Kombination aus Poster und Faltblatt (Abb. 17), wobei das Poster nicht die Realisierung, sondern die Videoversion des Neuen Berliner Kunstvereins bewarb.21 Die Rückseite von Fotografien, die bei Realisierungen der Activities entstanden sein müssen, darunter auch am Rande aufgenommene Schnappschüsse und private Erinnerungsfotos. 21 Einen Überblick über Kaprows Posterproduktion, vornehmlich jene der 1960er-Jahre, gibt das Heft Daviet-Thery/Dusapin 2014.
präsentiert die Partitur im Original und in deutscher Übersetzung, dazu ein lockeres kleines Interview mit Kaprow zu seinem künstlerischen Konzept. Beigefügt sind Fotografien, wobei Alvin Comiter als Urheber derjenigen „für die Handlungsanweisungen“ und Jürgen Müller-Schneck als Urheber derjenigen „für die Dokumentation“ angegeben wird. Auffällig ist allerdings, dass sich die Fotografien nur dadurch unterscheiden, dass bei der ‚Dokumentation‘ mehr vom umgebenden Raum zu sehen ist, während die Fotografien von Comiter Personen bei der Realisierung in einem neutralen Setting zeigen. Ebenso wurden
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
18 Allan Kaprow, Basic Thermal Units, 1973, Galerie Inge Baecker, Fotografie zur Partitur von Lothar Wolleh: Teilnehmer kühlen den Körper mit Eiswürfeln im Badewasser.
ähnliche Motive für die Nahaufnahmen gewählt und alle Fotografien in ein quadratisches Format gebracht. Eine vollständige fotografische Dokumentation im Sinne einer ausführlichen Fotostrecke, die ein Duo bei allen Schritten einer in ‚echt‘ (also nicht nur als Modell) durchgeführten Interpretation und also auch mit individuellen Abweichungen zeigt, exisitiert für keine der Activities. Die gestellten Fotografien fertigte Kaprow in wenigen Fällen selbst an, mehrfach arbeitete er hierfür neben Alvin Comiter auch mit Bee Ottinger zusammen, in Deutschland ergaben sich über die Vermittlung durch die Galeristin Inge Baecker interessante Kooperationen mit Fotografen wie Lothar Wolleh, Timm Rautert und besagtem Jürgen Müller-Schneck. Diese folgten mehr oder weniger Kaprows Vorstellungen von eher stellvertreterhaften Fotografien respektive Symbolbildern, brachten hierfür aber durchaus auch originelle
eigene Ideen und Interpretationen ein. Wolleh etwa, der als Fotograf der deutschen und internationalen Kunstszene in den 1970er-Jahren sehr gefragt war, fertigte für die Arbeit Basic Thermal Units Bilder von Personen mit Eiswürfeln im Badewasser aus steilem Blickwinkel von oben an (Abb. 18). Der Vorgang, den Körper mutwillig abzukühlen, wird hierdurch mit einer gewissen Intensität versehen. Obwohl man weiß, dass ein Fotograf anwesend war, schließt das oben schwebende Kameraauge die Anwesenheit etwaiger Beobachter geradezu aus und rückt den frierenden nackten Körper in seiner privaten Badezimmerzelle gleichsam objektiv beobachtend ins Bild.22 Für die meisten Teilnehmer ist jedoch, wie bereits erwähnt, davon auszugehen, dass sie im Zuge der tatsächlichen individuellen Umsetzung nichts mit der Produktion solcher Fotografien zu tun hatten. Nach der gemeinsamen Vorbesprechung und dem Studium der schriftlichen Anleitung (in Form der Broschüre oder in Form eines einfachen Typoskripts) bestand die Aufgabe der Teilnehmer zunächst darin, die Rollen von „A“ und „B“ sowie den Ort der Realisierung festzulegen. Bis zu dem bereits festgesetzten Termin für die Nachbesprechung war nun jedes Duo frei in seiner Interpretation. Dabei brachten die Teilnehmer der Activities als Nebenprodukte der Ausführung wiederum neues Ton-, Bild- oder Schriftmaterial hervor.23 Im Fall von Rates of Exchange ist ein Aufnahmegerät wichtiger Mitspieler der beiden Akteure und kommt in jedem der drei Akte zum Einsatz. Es werden jeweils Fragen und Antworten oder rechtfertigende 22 Zu Basic Thermal Units siehe ausführlich Kap. „Kunst als Forschung“. Die vergleichsweise zahlreichen Fotografien, die zu Basic Thermal Units vorhanden sind, lassen sich wohl mit dem später verworfenen Plan erklären, hierzu im Nachgang eine ausführlichere Broschüre zu produzieren. Siehe hierzu Anm. 434. Wolleh fertigte außerdem Fotografien der Umsetzung von Meteorology im Jahr 1972 in Düsseldorf an. Diese Activity spielt aufgrund ihres anderen thematischen Schwerpunkts in der vorliegenden Arbeit keine weitere Rolle. In diesem Fall sind allerdings die Fotografien von Wolleh in höchstem Maße interpretierend und kreieren einen ganz eigenen, stimmungsvollen Eindruck der Essenz dieser Partitur. 23 Überwiegend waren dies die Tonbandaufnahmen, deren Produktion Bestandteil einer Activity war. Bei Likely Stories (1975) entstanden Polaroidfotografien, im Zuge von Basic Thermal Units (1973) behelfsmäßige knappe Notizen, die Temperaturverläufe festhielten, bei der Umsetzung von Time Pieces erleichterten handschriftliche Strichlisten das Mitzählen von Herzschlag, Puls und Atemfrequenz.
Rates of Exchange: Medien und Spuren der Activities
Aussagen aufgenommen, um dann in einem anderen Kontext als Kommentierung einer Handlung wieder abgespielt zu werden. Obwohl die Aufnahmen auf den ersten Blick ausschließlich eine Funktion im Moment der Umsetzung haben, gelangten einige von ihnen in Kaprows Besitz und wurden sogar in seinem Auftrag maschinenschriftlich transkribiert. Das Interesse an diesen Aufnahmen erscheint zunächst absurd, da sie größtenteils nicht mehr mitteilen als die aufzusagenden Sätze, die in der Anleitungsbroschüre ohnehin nachzulesen sind. Geht man das Material durch, fallen allerdings die kleinen Abweichungen, Störungen und zufällig mitaufgezeichneten Nebengespräche auf, die schlaglichtartig gerade das aufblitzen lassen, was die Broschüre und das Video weitestgehend vermeiden, nämlich die Spuren eines individuellen Umgangs mit der gestellten Aufgabe, der von Vergnügen über ernsthaftes Bemühen bis zur Verweigerung reichen konnte. Was aufgenommen werden sollte, war zwar in der Anleitung vorgeschrieben, doch der Zusatz, man solle die entsprechenden Formulierungen „wiederholen, bis das Tape zu Ende ist“, verlangte dann doch nach einer gewissen Haltung gegenüber dem Sprachmaterial. Manche Teilnehmer modulierten die in Endlosschleife beim Blick in den Spiegel gestellten Fragen des ersten Teils („Reflecting“) so monoton, als seien sie ein Apparat ohne Bewusstsein, andere wiederum intonierten mit größtmöglicher Vielfalt und schauspielerischem Einsatz, variierten zwischen laut und leise, verzagt und fordernd, gelangweilt und erregt, oder manipulierten den Auftrag durch Wiederholung einzelner Wörter (Abb. 19). Das Aufnehmen der nicht zueinander passenden Fragen und Antworten zur Gehbewegung im zweiten Teil („Walking & Shaking“) rief bei einigen Teilnehmern noch während der Durchführung Irritationen hervor und so dokumentieren einige Aufnahmen den erhöhten Abstimmungsbedarf darüber, wie diese Aufgabe aufzufassen sei. Eines der Duos begann unvermittelt während der Aufnahme dieses Parts ein Gespräch über Flugangst und erörterte schließlich, ob es wünschenswert sei, sich trotz innerem Widerstand an das neue Zeitgefühl bei Flugreisen zu gewöhnen und die ständige Mobilität als normal zu empfinden.24 24 Audioaufnahmen der Umsetzung von Rates of Exchange, 1975, maschinengeschriebene Transkription, Allan Kaprow Papers,
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Neben die Anleitungen in ihren unterschiedlichen medialen Erscheinungsweisen, Ephemera wie Einladungskarten oder Poster zur Ankündigung sowie das im Zuge einzelner Realisierungen produzierte Sprach- und Bildmaterial treten außerdem die Dokumentationen der Abschlussgespräche, die teilweise aufbewahrt wurden. Auch diese Gespräche wurden manchmal auf Video, häufiger auf Tonband aufgezeichnet und in seltenen Fällen sogar im Anschluss transkribiert. Im Fall von Rates of Exchange sind allerdings keine nennenswerten Spuren dieses Gesprächs erhalten.25 Für manche Activities sind schließlich auch im Rückblick versprachlichte Erinnerungen der Teilnehmer an eine einzelne Durchführung überliefert. Mitunter erschienen diese zeitnah nach der Realisierung in Kunstzeitschriften oder Tageszeitungen.26 Diese Berichte können in Ansätzen Aufschluss über die Interpretationen der Anleitung und die aus der Durchführung gewonnenen Erkenntnisse geben. Die Sichtung des Materials zu Rates of Exchange führt exemplarisch vor Augen, dass eine Annäherung an Kaprows Activities der 1970er-Jahre die Auseinandersetzung mit disparaten Spuren bedeutet, wobei sich mitunter eine Schieflage ergibt, da keinesfalls für alle Activities gleichartiges, also in allen Punkten vergleichbares Material vorliegt. Im Vergleich zur Arbeit mit einem gut erhaltenen Gemälde beziehungsweise dessen Abbildung hat das Sprechen über die Activities schon auf der Stufe der Beschreibung einerseits mit einer relativ großen Menge an Quellenmaterial, andererseits mit permanenter Unverfügbarkeit zu kämpfen – es fehlt schlichtweg das visuelle Gegenüber, auf das man sich fragend, sezierend, deutend beziehen und das ebenso einem späteren Leser für den Nachvollzug dieser Überlegungen vor Augen Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. 25 Einzig das ausufernde Transkript der mündlichen Erzählung einer aufregenden, aber unglücklichen Liebesgeschichte durch eine Teilnehmerin entstammt wohl diesem Kontext, siehe Typoskript in Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. 26 Eher selten wurden solche Berichte direkt multiperspektivisch vorgetragen und publiziert. Ein Beispiel hierfür ist das kleine Konvolut kurzer Erfahrungsberichte und in Auszügen transkribierter Tonbandaufnahmen von Gerald Piltzer, Barbara Radice, Ester Carla de Miro und Victoria Nes Kirby zur Umsetzung der Activity Take Off in Genua 1975, erschienen in The Drama Review, Bd. 19. Nr. 1, 1975, S. 87–94.
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19 Maschinengeschriebene Transkription von Audioaufnahmen aus der Umsetzung von Rates of Exchange, 1975, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26.
gestellt werden kann. Die Versuchung liegt nahe, diese Unverfügbarkeit als Ergebnis einer Entsorgung des traditionellen Werkbegriffs überzubewerten und die Activities in Folge ausschließlich als beispielhafte Antikunstmanifestationen zu beleuchten. Oder aber der Idee zu verfallen, man könne das ‚eigentliche Werk‘ eben doch dingfest machen, wenn man bloß alle Dokumente vergangener Durchführungen ausfindig macht oder sogar ausschließlich die durch eigene Teilnahme beglaubigte ‚Datengrundlage‘ für weitere Erwägungen gelten lässt.27 Doch sind die versammelten Spuren und Dokumente der Activities unterschiedlich zu gewichten und ihre Lückenhaftigkeit muss keinen Makel für die Interpretation bedeuten. Die schriftlich verfasste Anleitung bildet, unabhängig von ihrer jeweiligen medialen Erscheinungsweise, 27 Sofern die Anleitung verfügbar ist, kann mit jeder neuen Realisierung einer Activity – auch ohne Kaprows Moderation – dem Materialkonvolut ein weiterer ‚Datensatz‘ hinzugefügt werden.
das dicht organisierte Gravitationszentrum aller Activities. Das Realisierungspotential der Anleitung stellt hingegen dessen notwendiges, aber eben nur in Dispersion vorstellbares Gegengewicht dar – spannend ist demnach, was in diesem Feld bewegt, also transferiert, transformiert oder übersetzt wird. Es gilt also nicht, die eine authentische, historische Realisierung einer Activity entweder rekonstruieren oder als endgültig verloren beschreiben zu wollen, sondern darum, das flexible Verhältnis zwischen Text und Realisierung als grundlegende Konstellation in den Blick zu bekommen. Das noch greifbare historische oder in eigener Annäherung neu erzeugte disparate Material, das die schriftliche Anleitung mit ihrem Realisierungspotential lose und in unterschiedlichen Abständen umlagert, ist hierbei immer wieder heranzuziehen, um die Analyse zu erweitern, zu vertiefen oder auch punktuell zu durchkreuzen.
Die Sprache der Anleitung und das Prinzip Partitur
Die Sprache der Anleitung und das Prinzip Partitur Um das Verhältnis von schriftlicher Anleitung zu individueller Realisierung besser begreifen zu können, ist zunächst die sprachliche Verfasstheit der Anleitung zu analysieren. Der letzte Absatz des zweiten Parts von Rates of Exchange sei zu diesem Zweck beispielhaft herangezogen: A and B, meeting again shaking hands very slowly freezing motions into segments holding each for a time carefully watching positions held continuing process freezing motions for longer and longer times until impossible Der Satz des Textes auf dem Papier mit seinen vielen Umbrüchen und der spärlichen Zeichensetzung lässt auf den ersten Blick an ein Gedicht denken. Beim Lesen fällt allerdings auf, dass die Zeilenumbrüche die Funktion haben, die im Text beschriebene Handlung in leicht nachvollziehbare Sinneinheiten zu gliedern – womit der Text auf einmal den Eindruck einer kleinschrittig aufgebauten und um Klarheit bemühten Handlungsanweisung erweckt. Im ersten Absatz wird zunächst die Situation beschrieben, in der es zur Handlung kommt („A and B, meeting again“), dann deren ‚Herstellung‘ Schritt für Schritt anschaulich gemacht: Die Hände langsam schütteln, dann den Vorgang des Schüttelns in Segmente unterteilen, jede der so gewonnenen Positionen eine Weile halten, dabei die „eingefrorenen“ Figuren sorgfältig beobachten. Ist dieser Vorgang, lesend oder im handelnden Nachvollzug, verstanden, folgt die sich steigernde Fortführung im zweiten Absatz, welcher besagt, dass der Vorgang nun bis zur Unmöglichkeit wiederholt und dabei immer stärker verlangsamt wird. Der Zeilenumbruch von Zeile zwei zu drei ist hier nicht zwingend notwendig. Er dehnt jedoch den Lesevorgang, wodurch wiederum das Moment der Stillstellung hervorgehoben wird. Auffällig ist, dass der Text jedes
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Anzeichen einer klaren Aufforderung vermeidet, indem auf den Imperativ verzichtet wird. Es heißt nicht etwa: „Schüttelt euch sehr langsam die Hände!“. Stattdessen wird die ing-Form des Verbs gewählt, die im Englischen auf zwei Arten Verwendung findet: zum einen als Present-Participle-Form des Verbs, wie sie im Englischen zum Beispiel in der Zeitform des Present Progressive unter Zunahme eines Hilfsverbs Verwendung findet, um Handlungen auszudrücken, die im Moment des Sprechens ablaufen und für einen Moment andauern; zum anderen als Gerundium mit substantivischer Funktion, zum Beispiel in einem Satz wie „Flying makes me nervous“.28 Die durchgehende Verwendung dieser Verbform, ohne dass dabei tatsächlich ganze Sätze mit Hilfsverb gebildet werden – es heißt also gerade nicht: „They are shaking hands very slowly“ –, stellt einen Kniff dar, mit dem Kaprow den Text selbst prozessieren lässt. Ohne dass von Handlungen erzählt oder zu ihrer Durchführung explizit aufgefordert wird, laufen diese im Moment des Lesens modellhaft ab. An ein Modell oder eine Versuchsanordnung lässt außerdem die Bezeichnung der beiden Akteure mit „A“ und „B“ denken. Dieser Text funktioniert als Anleitung, indem das, wovon die Rede ist, sich als stellvertretende Abstrahierung zu verstehen gibt – und somit nahegelegt wird, nicht bloß eine, sondern mehrere, und im Prinzip sogar unendlich viele, Rückführungen ins Konkrete vorzunehmen. Dass diese Rückführung ins Konkrete wiederum bedeutet, zunächst eine vom Leben abstrahierte, artifizielle Choreografie aufzuführen, ist eine der Pointen dieser Kunst, die in den folgenden Werkanalysen ausführlicher behandelt wird. Die Gestaltung der Broschüren unterstützt den Eindruck, dass der Text weniger auffordernden Charakter hat, als dass er eine bestimmte Handlung sprachlich im Hinblick auf ihren Nachvollzug 28 Ins Deutsche lässt sich die Verwendung der ing-Form bei Kaprow nur schwerlich übersetzen. Das Partizip Präsens, im vorliegenden Beispiel also: „sehr langsam die Hände schüttelnd“, trifft es nicht ganz und wirkt zudem deutlich künstlicher als die originale Version. Für die deutschen Übersetzungen von Activity-Anleitungen wurde daher in den 1970er-Jahren richtigerweise einfach auf den Infinitiv zurückgegriffen, wie man diesen beispielsweise auch für Kochrezepte verwendet (zum Beispiel: Mehl hinzufügen und langsam einrühren). Dem entspräche im vorliegenden Beispiel also: „einander sehr langsam die Hände schütteln.“
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
20 Allan Kaprow, Rates of Exchange, 1975, Seite aus der Activity-Broschüre.
Die Sprache der Anleitung und das Prinzip Partitur
fasst. Die Textpakete sind großzügig und gut lesbar angeordnet, oft mit Kapitelüberschriften versehen (Abb. 20). Die gestellten Fotografien ergänzen stimmig den Modellcharakter des Textes, vergleichbar den bebilderten Anleitungen in anderen, lebenspraktischen Feldern. Als Anregung für das Zusammenspiel von Bild und Text hat Kaprow die damals in Flugzeugsitzen vorzufindenden Karten mit Sicherheitsanweisungen erwähnt (Abb. 21).29 Die Fotografien dienten in diesem Fall dazu, die Anweisungen für das Verhalten im Ernstfall anschaulich zu machen, respektive überhaupt vor Augen zu führen, dass das Geschriebene tatsächlich physisch umgesetzt werden kann. Dabei besteht für denjenigen, der auf diese Karte im Flugzeugsitz hingewiesen wird, kein Zweifel darüber, dass es sich bei den Fotografien um Abstraktionen handelt und nicht um dokumentarische Relikte einer tatsächlich bedrohlichen Situation, in der sich alle Fluggäste tadellos verhielten. Die Fotografien, auf denen die einzelnen Posen der auszuführenden Handlungen überdeutlich zu sehen sind, sollen Sicherheit und Souveränität vermitteln – im Zweifelsfall genügt ein Blick auf das Bild, um sie korrekt nachahmen zu können. Kaprow bedient sich dieses Verweissystems für seine Activity-Broschüren allerdings nicht ohne Ironie. Einem pessimistischen Zeitgenossen werden beim Betrachten der Sicherheitsanweisungen im Flugzeug unwillkürlich die den gestellten Fotogra fien zuwiderlaufenden möglichen Realisierungen vor dem inneren Auge erscheinen (panische Gesichtsausdrücke, hektisches Gerangel oder unbeholfenes Hantieren mit Sauerstoffmasken). Ebenso ist für die Broschüren durchaus einkalkuliert, dass die betont trockenen, sachlichen Fotografien in Kombination mit dem Text, der gerade nicht die Inbetriebnahme eines Geräts oder eine strikt einzunehmende Körperhaltung zum Zwecke der Lebensrettung zum Thema hat, ein gewisses Unbehagen ob der im Zuge einer tatsächlichen Umsetzung zu machenden Erfahrungen hervorrufen. So ist beispielsweise in der Zeitangabe „until impossible“ schon angelegt, eine Situation über die Grenzen des Angenehmen und Interessanten hinaus aushalten zu müssen. Und suggeriert die Fotografie von Kaprow als „A“, der sich vor den Augen von „B“ 29 Darauf wies die Galeristin Inge Baecker in einem Gespräch mit der Verfasserin am 15.2.2016 in Bad Münstereifel hin.
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21 Karte mit Sicherheitshinweisen von American Airlines, 1960er-Jahre.
langsam entkleidet (Abb. 22), nicht eine Sachlichkeit, die im Vergleich zu den Empfindungen von Scham und Befremden während der tatsächlichen Durchführung geradezu absurd anmutet? Mit der sprachlichen Durcharbeitung, die klar konturierte Aufgaben wie unter dem Mikroskop zergliedert, und der Präsentation des Activity-Modells in Form einer Bild-Text-Broschüre gelingt Kaprow eine Weiterentwicklung der Notations- und Anleitungsformen, wie sie mit Fluxus und Happening ab den 1950er-Jahren aufgekommen waren.30 Wie vielen
30 Diese Weiterentwicklung zeigt sich auf sprachlicher Ebene beispielsweise, wenn man den Text, der als Grundlage für sein Happening Gas (1966) diente, mit Rates of Exchange (1975) vergleicht. Ersterer führt keine kleinteiligen Handlungen auf, sondern evoziert vor allem eindrückliche Bilder und inszeniert die Zusammenführung diverser Materialien, Orte und Dinge, die zur Verwendung kommen sollen: Wetterballons, Luftkissenfahrzeuge, Fässer, schwarzes Plastik, Lastwagen und andere Fahrzeuge, Fähren, Krankenhausbetten, Klippen, Schaum. Der Text zu Gas schürt Erwartungen und setzt die Imagination in Gang, regt allerdings sehr viel weniger als Rates of Exchange zum gedanklichen wie zum körperlichen Nachvollzug einzelner Bewegungen und konkreter Interaktionen an.
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
22 Allan Kaprow, Rates of Exchange, 1975, Activity-Broschüre, Detail.
anderen Künstlern der New Yorker Kunstszene, die sich einer gattungsübergreifenden, experimentellen und lose an die Avantgarden anknüpfenden Kunst verschrieben, hatte der Besuch der Kompositionsklasse von John Cage 1958/59 an der New School in Manhattan dem damals 31-jährigen Kaprow hierzu entscheidende Impulse gegeben.31 Cage regte seine
31 Zur Rolle der Cage-Klasse für die amerikanischen Fluxus- und Happeningkünstler siehe Lars Blunck, „Die Erhebung des Zufälligen zum Wesentlichen. Fluxus avant Fluxus: Cage, Kaprow, Brecht“, in: Die Revolution der Romantiker. Fluxus made in USA, hg. von Gerhard Graulich und Katharina Uhl, Ausst.-Kat. Schwerin, Staatliches Museum, Wien 2014, S. 133–152. Mit dem Verhältnis zwischen Cage und den Künsten beschäftigt sich gründlich Branden W. Joseph, Experimentations. John Cage in Music, Art, and Architecture, New York 2016. Kaprows kritische Positionierung zu Cage, von Wertschätzung wie Abgrenzungsbedürfnis bestimmt, wird hier im langen Einleitungskapitel „Interpenetrations and Displacements“ ausführlicher behandelt.
Schüler zum Austesten unterschiedlicher Notationssysteme an und legte selbst für sein berühmtes Stück 4’33 gleich mehrere Partiturversionen vor – diejenige, die unter den jungen bildenden Künstlern die größte Verbreitung fand, war die Textversion, in der Cage komplett auf Notenlinien verzichtete (Abb. 23).32 Was blieb, war die dreifache Setzung des Wortes „tacet“, welches im musikalischen Kontext bedeutet, dass ein Großteil der Instrumente eines Orchesters schweigt, während ein Solo gespielt wird. „Tacet“ meint somit nicht die vollständige Abwesenheit von Klang, sondern eine Stille, während der anderes passiert. Cages radikale Partitur regte dazu an, ein Werk als eine vom Interpreten mit Handlung und Geräusch zu füllende Zeitstruktur zu denken. Die Aufgabe des Künstlers bestand somit darin, über die in einer Partitur verfassten Handlungen einen konturierten Zeitraum auszuweisen und beliebigen Interpreten eine durch eigenes Tun erworbene Erfahrung in Aussicht zu stellen. Die Übernahme des Partiturprinzips aus der Musik und seine Übertragung in eine auch für Nicht-Musiker lesbare Sprache eröffnete neue Gestaltungsspielräume für die jungen Künstler, die keine Gemälde mehr produzieren und jenseits der tradierten Gattungsgrenzen arbeiten wollten. Die sprachlich verfasste Partitur war einerseits minimal genug, um behaupten zu können, man bediene den Kunstmarkt nicht und verzichte auf jede Geste des Künstlergenies; sie konnte im Gegensatz zum Ölgemälde mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln vervielfältigt und verbreitet werden; sie barg schließlich die Verheißung, wie eine Flaschenpost möglichst weit entfernt von ihrem Absender irgendwo umherzutreiben, aufgegriffen und individuell aktiviert werden zu können. Das Repertoire der sprachlichen Formen, medialen Erscheinungs-, aber auch Gebrauchsweisen von Partituren – im Englischen ist hier von „score“ die Rede – wurde von Künstlern wie Yoko Ono, George Brecht, George Maciunas und La Monte Young beständig erweitert. Im Unterschied zu den entweder stärker funktional gedachten oder an sprachlichen Collageprinzipien orientierten Partituren der größer angelegten, einmaligen Happenings entwickelten die Fluxus-Partituren schon früh ein Eigenleben jenseits 32 Vgl. Liz Kotz, Words to Be Looked At. Language in 1960s Art, Cambridge und London 2007, S. 26 und 47f.
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der Fluxus-Konzerte. Viele von ihnen zeichneten sich durch Kürze aus und ihr Reiz ergab sich oftmals auch daraus, dass sie mit einer Unsicherheit bezüglich der Umsetzbarkeit spielten. Gedichten vergleichbar wurden sie in den 1960er-Jahren auch in Anthologien wie der Anthology of Chance Operations und in Zeitschriften veröffentlicht oder auf kleine Kärtchen gedruckt, die wiederum im Set als Multiple Verteilung fanden.33 Die durch Maciunas besorgte Edition Water Yam versammelte 1963 beispielsweise eine große Gruppe der sogenannten Events des Cage-Schülers George Brecht, mit dem Kaprow zeitlebens befreundet war.34 Die forciertesten der Events von Brecht sind keine konkreten Handlungsanweisungen mehr, sondern sprachliche Konzentrate, die auf eine Sensibilisierung der Wahrnehmung abzielen.35 Event for a Year36 kommt dabei sogar komplett ohne Verben aus: EVENT FOR A YEAR one bird, two birds five birds, no birds Die unregelmäßige Zählung der Vögel modelliert in Verbindung mit dem Titel einen alternativen Jahreszyklus – anstelle von kalendarisch festgelegten Jahreszeiten könnte das aufmerksame Beobachten 33 Zum Fluxus-Score siehe unter anderem Anna Dezeuze, „What is a Fluxus Score? (Some Preliminary Thoughts)“, in: Fluxus Scores and Instructions. The Transformative Years. ‘Make a Salad’. Selections from the Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection, Detroit, hg. von Jon Hendricks mit Marianne Bech und Media Farzin, Ausst.-Kat. Roskilde, Museet for Samtidskunst, 2008, S. 25–31. Natilee Harren hat überdies jüngst die eher diagrammhaft aufgebauten, graphischen Partituren der Fluxus künstler in den Blick genommen. Diese hätten eine Transformation des Diagramms von der reinen Visualisierung hin zu einem „operational model“ bewerkstelligt. Vgl. Natilee Harren, Fluxus Forms. Scores, Multiples, and the Eternal Network, Chicago und London 2020, S. 70. 34 Zur Entstehung der Water Yam-Box siehe Gabriele Knapstein, George Brecht: Events. Über die Event-Partituren von George Brecht aus den Jahren 1959–1963, Berlin 1999, S. 26–42. 35 Zu Brechts Events siehe Julia Robinson, George Brecht. Events. Eine Heterospektive, hg. von Alfred Fischer, Ausst.-Kat. Köln, Museum Ludwig, 2005 sowie dies., „From Abstraction to Model. George Brecht’s Events and the Conceptual Turn in Art of the 1960s“, in: October, Bd. 127, Winter 2009, S. 77–108. 36 Eine kleine Karte, die mit diesem Event bedruckt ist, befindet sich in einem größeren Konvolut von Brecht-Events in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series VIII., Artists’ Files, Box 66.
23 John Cage, maschinengeschriebene Partitur für 4’33’’ (1952/1960).
des Vogelvorkommens den Fluss der Zeit strukturieren. Aber ist das „Ereignis“, von dem im Titel die Rede ist, tatsächlich zu beeinflussen oder gar selbst zu erzeugen? Die Handlungsaufforderung, die sich aus dem Text ohne Prädikat herausfiltern lässt, wäre die, das eigene Wahrnehmungsfeld zu erweitern, also das Auftauchen oder den Zug der Vögel ein ganzes Jahr lang auf dem Radar zu haben. Man kann aus dem Zweizeiler also eine Langzeitstudie machen, mit Fernglas, Bestimmungsbuch und Protokollblock, oder aber ihn schlicht zum Anlass nehmen, über das subjektive Erleben und Gestalten von Zeiträumen zu sinnieren. Im Vergleich zu George Brechts Events sind die in ihrem Buch Grapefruit versammelten Texte Yoko Onos zwar deutlicher als Handlungsaufforderungen zu erkennen, doch auch sie spielen mit unterschiedlichen Realisierungsoptionen. Vergleichsweise einfach umzusetzende Aufgaben wie „Light a match and
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watch till it goes out“37 stehen neben solchen, deren tatsächlich physische Ausführung offensichtlich unmöglich ist: „Throw a stone into a sky high enough so it will not come back.“38 Onos ausgiebige Erkundungen, wie ein kleiner Text im weiten Feld von Multiple, Aphorismus, Performanceinstruktion und Denkspiel immer wieder neu und anders verortet werden kann, zeigt die fließenden Übergänge zwischen Fluxus und Konzeptkunst.39 Das aus der Musik übernommene Prinzip der Partitur wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren zu dem gattungsübergreifenden Werkzeug einer Kunst, die sich in erster Linie als experimentell verstand und in diesem Sinne an einer Modellierung von Prozessen mit offenem Ausgang arbeitete. Brecht beschrieb die Partitur als „Signal, das einen auf den Moment selbst vorbereitet“.40 Die Partitur sei ein Mittel, um zukünftige „Ereignisse zu kontrollieren, um zu beeinflussen, was geschieht“, sagte die Tänzerin und Choreografin Anna Halprin, die in den 1960er- und 1970er-Jahren an der Westküste für die gemeinsam mit ihrem Mann, dem Landschaftsarchitekten Lawrence Halprin, im Freien veranstalteten Bewegungs- und Umweltworkshops bekannt war.41 In der Musik bezeichnet der Begriff Partitur „die übersichtliche, Takt für Takt in Notenschrift auf einzelnen übereinanderliegenden Liniensystemen angeordnete Zusammenstellung aller zu einer vielstimmigen Komposition gehörenden Stimmen.“42 Sie zeichnet sich hier also durch Nachvollziehbarkeit und Vollständigkeit aus. Das Werk ist in einer Partitur gleichsam in Gänze repräsentiert, allerdings in einer abstrahierten oder symbolischen, auf jeden Fall 37 Yoko Ono, Grapefruit. A book of Instructions + Drawings, New York 1970. Eine kleinere Vorläuferversion dieser Ausgabe erschien bereits 1964 in Tokio. 38 Ebd. 39 Vgl. hierzu Bruce Altshuler, ‚Art by Instruction and the Pre-History of do it“, in: Do it. The Compendium, hg. von Hans Ulrich Obrist, New York 2013, S. 29–43, hier S. 31. 40 George Brecht in einem unpublizierten Manuskript, zitiert nach Jacquelynn Baas, „Introduction“, in: Fluxus and the Essential Questions of Life, hg. von ders., Ausst.-Kat. Hannover, Chicago und London 2011, S. 1–11, hier S. 2. 41 Anna und Lawrence Halprin, The RSVP cycles. Creative processes in the Human Environment, New York 1969, zitiert nach Kotz 2007, S. 49. 42 [Redaktion], „[Art.] Partitur“, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim u. a. 62007, S. 1260.
also der Rückübersetzung bedürfenden Form. Wenn eine Symphonie oder Oper auf Grundlage einer Partitur aufgeführt wird, so sichert die Partitur einerseits Werktreue ab, andererseits gleicht keine Aufführung der anderen. Sogar dann, wenn die Partitur in konventioneller Notenschrift gegeben wird, legt sie niemals alle Details der Realisierung fest – und gerade in der Interpretation offenbart sich der kreative Spielraum, zeigen sich Können und Finesse, ist sogar eine radikale Neuinterpretation möglich. Dieser Aspekt machte die Partitur für die Künste der 1960er-Jahre besonders interessant.43 Die Partitur als „Aufzeichnungs-, Übertragungs- und Anweisungsmedium“44, so unscheinbar und betont unspektakulär sie auch daherkommen mag, leistet eine grundlegende Neuorganisation der Beziehung zwischen Künstler und Publikum, Kunstwerk und Rezipient im Zeichen der Partizipation. Obwohl Teilnahme wie Teilhabe dabei eine wichtige Rolle spielen, sieht das Partiturprinzip allerdings genau genommen weniger vor, jeden einzelnen an einem Herstellungsprozess zu beteiligen und zum Künstler zu ermächtigen, als ihn vielmehr zum Interpreten in umfassendem Sinne zu emanzipieren. Durch die Hintertür konnte so eine von vielen jungen Künstlern als zu hierarchisch und unfrei wahrgenommene Konstellation gewendet werden: An die Stelle der von ausgewiesenen Experten unter Verwendung von Fachvokabular vorgenommenen Deutung des hermetischen, vom Künstlergenie in den Raum gestellten Werks trat das nonchalant vorgetragene, kleinformatig daherkommende Angebot, sich in Auseinandersetzung mit einer kostengünstig produzierten lesbaren Partitur zum Interpreten eines Ausschnitts des eigenen, alltäglichen Lebensvollzugs oder einer minimal-invasiven Aktion in der „Welt da draußen“ aufzuschwingen.45 43 Gleichwohl man sich zu dieser Zeit natürlich auch in der Musik mit dem Potential der Partitur auseinandersetzte, so etwa Pierre Boulez. Vgl. Peter Weibel, „Notation zwischen Aufzeichnung und Vorzeichnung. Handlungsanweisungen, Algorithmen, Schnittstellen“, in: Notation. Kalkül und Form in den Künsten, hg. von Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt und Peter Weibel, Ausst.-Kat. Berlin, Akademie der Künste, 2008, S. 32–38, hier S. 36. 44 Ebd., S. 37. 45 Wie Obrist in seinem Projekt und dem begleitenden gleichnamigen Kompendium Do it! vorführt, lassen sich zu dem Phänomen ‚Anweisung als Kunstform“ darüber hinaus zahlreiche
Perspektivwechsel: Die Activity als Übung
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Aber sind mit dem gängigen und auch produktiven Begriff ‚Partitur‘ beziehungsweise ‚score‘ tatsächlich alle Dimensionen der Modellierung von Handlungen angesprochen, die bei einer Arbeit wie Rates of Exchange eine Rolle spielen? Zumindest von den knappen Wortkunstwerken der Fluxuskünstler unterscheiden sich Textlänge, Gliederung und Kleinteiligkeit deutlich. Der instruktive Charakter tritt bei Kaprows Formulierungen seiner Activities deutlicher hervor. Sie geben auf den ersten Blick nichts preis und sind als Lektüre eher sperrig, ihre Pointen und kleinen poetischen Momente offenbaren sich erst in der intensiveren Auseinandersetzung. Adressiert man sie dezidierter als Anleitungen, so verschiebt sich der Fokus vom engen Verweisungszusammenhang zwischen Partitur und Aufführung zu einem etwas anders gelagerten Verhältnis zwischen Text und Ausführung. Eine Anleitung führt, Schritt für Schritt, auf etwas hin und zielt darauf, sich selbst überflüssig zu machen. Handelt es sich um eine gut verfasste Anleitung, dann gelingt oder existiert nach ihrer Umsetzung etwas, das selbst nicht schon in der Anleitung abgebildet ist und sich von dieser sogar ablöst: Das Gerät läuft ordnungsgemäß, der Kuchen kommt duftend aus dem Ofen. Nun hält zwar der Interpret am Ende der Realisierung einer Activity kein Produkt in den Händen, aber der Aufbau des Textes suggeriert doch etwas Eigentliches, das sich erst mit der Interpretation und Umsetzung ergibt. Es scheint durchaus darum zu gehen, etwas verhältnismäßig Konkretes zu erreichen oder herauszufinden. Für die Realisierung der angegebenen Handlungen muss man sich dementsprechend einige Zeit nehmen und
diese Anleitungen mit ihrem mehrstufigen Aufbau und sich steigerndem Komplexitätsgrad regelrecht bewältigen. Es sei aus diesem Grund ein weiterer Begriff eingeführt, der dabei helfen soll, die Activity als spezifisches Format in den Blick zu bekommen – Format wird hierbei nicht verstanden als standardisierte Blattgröße, sondern als fest umrissene Präsentationsform, wie etwa in der Verwendung des Begriffs ‚TV-Formate‘.46 In der Auseinandersetzung mit Partitur und Anleitung wird das Tun tendenziell als sekundäres Element gedacht, steht also das Medium im Vordergrund, welches dieses Tun ermöglicht, anstößt, konzipiert. Kaprows Activities stattdessen als Übungen zu adressieren, bedeutet eine Erweiterung: Das Wie des Tuns erhält Kontur, der Interpret wird als Übender verstanden und somit die Frage nach ‚Erfüllung‘ (der Aufgabe) und Partizipation noch einmal anders gestellt.
Die Activity lässt sich als Übung begreifen im Sinne eines, wie Kai van Eikels formuliert, „konzipierten, ausgedachten und ausgearbeiteten Performativs“, welches das Durchlaufen eines „Sets von Vollzugsfiguren“ vorsieht.47 Gemeinhin wird unter Übung ein „Verfahren zur Aneignung und zur Verbesserung von Kenntnissen und Fähigkeiten“ verstanden, „das durch wiederholtes Vollziehen bestimmter Tätigkeiten gekennzeichnet ist und sich sowohl auf körperliche als auch auf geistige Tätigkeiten bezieht.“48 Üben kann
mehr oder weniger überzeugende Beispiele zusammentragen, die sich vorrangig mit dem Moment des Delegierens, also der Auslagerung der Ausführung eines Kunstwerks, befassen und so Konzepte von Autorschaft, Original und Virtuosität hinterfragen. Die Zusammenstellung von Obrist, von der er meint, sie entpuppe sich als „roter Faden in der Kunstgeschichte“, ist allerdings insofern suggestiv, als sie in großer Zahl solche Arbeiten versammelt, die vor allem für den Ausstellungsbetrieb interessant sind und Kuratoren vor spannende Probleme stellen – beziehungsweise nimmt Obrist selbst eine Rahmung vor, mit der er diese Arbeiten notorisch auf das Kuratieren bezieht. Vgl. Hans Ulrich Obrist, „Introduction“, in: Do it. The compendium, hg. von dems., New York 2013, S. 15–27. Die Partituren im Geiste von Fluxus sind hingegen eher als Werkzeuge zu begreifen, mit denen kleine Fenster oder sogar Türen ins (absurde) Leben geöffnet werden können.
46 „Als Format gilt in der Medienbranche die auf Serialität angelegte Sendereihe einer Talkshow, Gameshow, Telenovela oder eines Kulturmagazins.“, schreiben Magdalena Nieslony und Yvonne Schweizer in einem Sammelband, der sich der zunehmenden Verwendung und Produktivität des Formatbegriffs in der Kunstwissenschaft annimmt und in einem zweiten Schritt nach der „sozialen Funktionsweise von Formatierungen“ fragt. Magdalena Nieslony und Yvonne Schweizer, „Für eine sozio-politische Geschichte der Formate“, in: Format. Politiken der Normierung in den Künsten ab 1960, hg. von dens., München 2020, S. 10–27, hier S. 12 und S. 24. 47 Kai van Eikels, Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie, München 2013, S. 245. 48 [Redaktion], „[Art.] Übung“, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 24, Mannheim, Wien und Zürich 91979, S. 81.
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„pädagogisch inszeniert“49 entlang skriptbasierter Übungsaufgaben stattfinden, mit oder ohne Trainer, Meister, Übungsleiter, Lehrer. Der Vollzug des Übens ist, gleichwie er das Spielen eines Instruments, Ballettfiguren, Meditation, das Küssen, Manieren oder den Habitus des Wissenschaftlers betrifft, unvertretbar und inkorporiert. Als wiederholtes Tun entfaltet das Üben konservierende wie transformierende Kraft und es kann ebenso Automatismen begünstigen wie Variation und Innovation hervorbringen.50 Daran schließt sich ein Konflikt von Selbst- und Fremdführung an, der den Komplex Üben / Übung an das fundamentale Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und damit zwischen Autonomie, Selbstverwirklichung und Normativität rückbindet. Mit der Übung verbindet sich die Sehnsucht nach Souveränität, zugleich die Sorge um die Unterwerfung unter ein Regime. „Übungen“, schreibt Christoph Menke in Auseinandersetzung mit der in zwei Richtungen strebenden Verwendung des Übungsbegriffs bei Michel Foucault, „sind Medien der Subjektivierung“ und „zugleich […] Medien der Sozialisierung“.51 Menke geht von der Entdeckung aus, dass der Übung sowohl in Foucaults Texten zur Macht als auch in seinen späteren Texten zur Ästhetik der Existenz und den Technologien des Selbst in der Antike (und ihrer Transformation im frühen Christentum) eine wichtige Bedeutung zukommt, sie dabei allerdings gegensätzliche Positionen einnimmt. Während Foucault in Überwachen und Strafen schreibt, die Übung gewährleiste „Steigerung wie Beobachtung und Qualifizierung“52 und richte sich auf eine „nie abzuschließende Unterwerfung aus“53, spricht er in einem späteren Text davon, keine Technik, keine berufliche Fähigkeit lasse sich ohne Übung
49 Malte Brinkmann, Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform, Paderborn 2012, S. 15. 50 Vgl. zu diesem Aspekt Sophie Merit Müller, Körperliche Un-Fertigkeiten. Ballett als unendliche Perfektion, Weilerswist 2016, S. 7. 51 Christoph Menke, „Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz“, in: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, hg. von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt am Main 2003, S. 283–299, hier S. 288. 52 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, S. 208. 53 Ebd., S. 209.
erwerben.54 Darüber hinaus sei auch „die Kunst des Lebens“ ohne die Askese als „Übung eines selbst durch sich selbst“ nicht zu lernen.55 Er interessiere sich mehr und mehr für „die Technologien individueller Beherrschung, für die Geschichte der Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt“, bekannte Foucault an anderer Stelle.56 Hier also gehört die Übung zur Ausbildung eines „ästhetisch-existentiellen Selbstverhältnisses, in dem die Form unseres Lebens zu einer ‚Sache der persönlichen Entscheidung‘ wird“57, dort hingegen dient sie der Disziplinierung. Menke schlägt vor, diese Gegensätzlichkeit vor dem Hintergrund von Foucaults geschichtsphilosophischer Diagnose so zu verstehen, dass in den Disziplinargesellschaften der Neuzeit das Bewusstsein für die Macht des Subjekts im Sinne eines „Sichselbst-führen-Könnens“ zunehmend abgedrängt und geschwächt wird.58 Im Hinblick auf eine zeitgenössische Diskussion dessen, was Übung sein kann und was das Üben vermag, versucht Menke den Befund seiner Foucault-Lektüre für die Frage fruchtbar zu machen, inwiefern „anders übend“59 jene Macht zurückgewonnen werden kann, ohne dabei wiederum in die Falle einer „disziplinären Selbstbeziehung“60 zu tappen. Der Unterschied zwischen den Übungen einer Ästhetik der Existenz und denen der Disziplinarmacht bleibe gleichwohl, so Menke, „ebenso minimal, wie er normativ ein Gegensatz ums Ganze ist“.61 Eine Haltung, welche die „ästhetische Freiheit zur Selbstüberschreitung“62 praktiziere, könne hierbei den entscheidenden Unterschied machen. 54 Michel Foucault, „Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten“, in: Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt am Main 1987, S. 265–292, hier S. 285. 55 Ebd. 56 Michel Foucault, „Technologien des Selbst“ [1984], in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4, hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main 2005, S. 966– 999, hier S. 969. Zum Begriff siehe auch Friedrich Balke, „[Art.] Selbstsorge/Selbsttechnologie“, in: Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider, Stuttgart und Weimar 2008, S. 286–291. 57 Menke 2003, S. 284. 58 Ebd., S. 293. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 297. 61 Ebd., S. 299. 62 Ebd.
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Das Potential der transformativen Kraft der Übung zu heben, darum geht es auch Peter Sloterdijk in seiner umfangreichen Abhandlung zur „Anthropotechnik“.63 Dabei erlaubt er sich eine universal-anthropologische Perspektive, in der der Mensch als Wesen erscheint, das mit einem Reservoir mentaler und physischer Übungsverfahren versuche, den „kosmischen und sozialen Immunstatus angesichts von vagen Lebensrisiken und akuten Todesgewissheiten zu optimieren.“64 Den Willen zur Übung und ihre Ausrichtung sieht Sloterdijk allerdings historischen Veränderungen unterworfen, die im 20. Jahrhundert im Zeichen einer „Wiederverweltlichung des asketisch zurückgezogenen Subjekts“65 gestanden hätten. Die Verpflichtung auf das In-der-Welt-Sein hatte in Sloterdijks Erzählung allerdings auf lange Sicht als Preis einen empfindlichen Verlust an „Vertikalspannung“ und die ausnahmslose Einhegung aller in die „Vereinigten Staaten der Gewöhnlichkeit“66. Es sei deshalb an der Zeit, „die Formen des übenden Lebens zu vergegenwärtigen“67 und sie auf ihre Wiederverwendbarkeit zu prüfen, um den Menschen zwar nicht aus der Welt, aber zumindest aus der „Stumpfheit, der Niedergeschlagenheit, der Verranntheit, vor allem aber aus der Banalität“68 herauszuführen. Dieser Aufruf zum Training und dazu, wieder in Form zu kommen, bleibt bei Sloterdijk allerdings nicht auf das persönliche Leben bezogen, sondern wird in den Kontext einer Selbstverpflichtung auf die angesichts drohender Katastrophen dringend zu verfassenden „Ordensregeln“ der Zivilisation und ihren Vollzug in „täglichen Übungen“ gesetzt.69 Ähnlich wie Menke geht es also auch Sloterdijk darum, in einem neuen, anderen Üben als Mensch Souveränität zurückzuerlangen.70 63 Siehe Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Berlin 2009. 64 Ebd., S. 23. Sloterdijks Rede von der „Immunologie“ lässt sich durchaus in Beziehung zu der seit einigen Jahren in interdiszplinären Projekten beforschten Resilienz setzen. 65 Ebd., S. 693. 66 Ebd., S. 692. 67 Ebd., S. 698. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 714. 70 Da Sloterdijk verschiedene Argumentationsstränge mit jeweils eigenen Begrifflichkeiten in ein großes Buch zu schmieden versucht, nimmt der Text keine wirklich kohärente Form an. Manche Passage, in der der Autor mit Wortschöpfungen um
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Im Hinblick auf Kaprows Activities ist ‚Übung‘ nicht im engsten Sinne nur als der unangenehme und nach vorgefassten Regeln ablaufende Vorgang zu verstehen, der nötig ist, um Erlerntes zu inkorporieren, zu perfektionieren und automatisch, ohne weiteres Nachdenken, abrufen zu können, sondern stattdessen als spezifisch organisierte Praxis, die Formwahrungs- wie Formgebungsprozesse betrifft und mit der ein eigenes Wissen ausgebildet wird.71 Über gewisse Verfahrensfragen hinaus – etwa den Umgang mit Wiederholung, Perfektibilität, Überprüfung betreffend – lässt sich das Nachdenken über die Übung und das Üben für ein Verständnis der Activities fruchtbar machen. Gerade der mit Foucault, Menke und Sloterdijk skizzierte Horizont, vor dem das transformative, ja kritische Potential der Übung in Erscheinung treten kann, ist hierbei im Blick zu behalten. Aber auch der größere Rahmen einer praxisorientierten Gesellschaftstheorie wird mit dem Fokus auf die Übung relevant – und entpuppt sich dabei sogar als historische Bezugsgröße. Denn die Anerkennung und Erforschung sozialer Praktiken, verstanden als vom „know-how abhängige, von sich wirft, entpuppt sich beim Interpretieren als sprachlicher Taschenspielertrick ohne Mehrwert. Im Schlussteil des Buchs häufen sich apokalyptische Szenarien, es ist die Rede von der „Großen Katastrophe“ [sic!] und dem „totalen Crash“, wobei (vermutlich mit Absicht) nicht ganz klar wird, ob damit nun der Weltuntergang durch Klimawandel, die Globalisierung oder die „Integrationskrise“ gemeint ist. Beschworen wird in jedem Fall eine Souveränitätskrise in jeder Hinsicht. Sich üben, das bedeutet für Sloterdijk Straffung, Spannung, Haltung, Streben nach Höherem, auch Selbstdisziplin. Man wird den Verdacht nicht los, dass Sloterdijk allzu gern bereit wäre, all jene links liegen zu lassen, denen die Immunologisierung qua Übung nicht recht gelingen mag – oder für die eben Immunologisierung genau jenes Einsinken in die Banalität bedeuten mag, die Sloterdijk mit Isaac Babel als die „Konterrevolution“ kennzeichnet. Nichtsdestotrotz enthält der Text viele glänzende Aperçus und anregende, diskussionswürdige Abschnitte, die den Übungsbegriff in unterschiedlichsten Feldern beleuchten. 71 Oftmals wird das Üben dem Lernen gegenüber als inferior bezeichnet. Dies kritisiert Brinkmann wie folgt: „Die pädagogischen Möglichkeiten der Übung werden bisher wenig genutzt, weil sie nicht im Blick liegen. [Die Gründe dafür] liegen auch im pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs selbst, der Autonomie, Aktivität, Selbststeuerung bzw. Kontingenz und Unverfügbarkeit von Lernen und Bildung beschwört, aber die ‚Zumutungen des Erziehens‘ und die notwendigen Formen und Technologien, dieses zu inszenieren, schamhaft umgeht oder übergeht.“ Brinkmann 2012, S.15. Zum Verhältnis von Üben und Lernen vgl. außerdem ebd., S. 38–40.
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einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte inkorporiert ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ Artefakten annehmen“72, erlebte in den Sozialwissenschaften der 1970er-Jahre eine Konjunktur, die auch Kaprow als Stimulans diente. Nicht zuletzt hat man mit der Übung einen Begriff an der Hand, der den Aspekt der performance einblendet, ohne damit zwangsläufig PerformanceKunst zu meinen.73 Kaprows künstlerischer Ansatz
72 Andreas Reckwitz, „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 32, Nr. 4, August 2003, S. 282–301, hier S. 289. 73 Das Begriffsduo Performance / Performativität mit all seinen Bedeutungsdimensionen aufzufächern, sprengt an dieser Stelle den Rahmen. Für eine erste Orientierung bieten sich an: Eckhard Schumacher, „Performativität und Performance“, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt am Main 2002, S. 383–402 sowie Marie-Luise Angerer, „Performance / Performativität“, in: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, hg. von Hubertus Butin, Köln 2006, S. 241–245. Sehr grob gesprochen wird in der Kunstwissenschaft mit dem Begriff ‚Performance‘ tendenziell vor allem Performance art assoziiert, also eine Aufführungspraxis, für die Präsenz, Unwiederholbarkeit und ein Bruch mit den Fiktionsstrategien wichtig sind, welche dem klassischen Theater zugeschrieben werden. ‚Performativität‘ meint hingegen ein Konzept, das auf die Sprechakttheorie John L. Austins (siehe John L. Austin, How to do things with words [1955], Oxford 1975) zurückgeht und im heutigen Verständnis maßgeblich von Judith Butlers Theorie einer nicht vorgängig gegebenen, sondern erst im wiederholten Vollzug kulturell normierter Akte sich konstituierenden Geschlechtsidentität geprägt wurde, somit also nicht vorrangig im Feld der Künste beheimatet ist. Siehe Judith Butler, „Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory“, in: Performing Feminism. Feminist Critical Theory and Theatre, hg. von Sue-Ellen Case, Baltimore und London 1990, S. 270–282. Die gängige Auffassung von Performativität dreht sich im Kern darum, dass Sprechakte und körperliche Handlungen wirklichkeitskonstituierend sind, also nicht bloß auf etwas verweisen, sondern dieses selbst vollziehen. Zahlreiche theoretische Ansätze der letzten Jahrzehnte erreichen ihren hohen Grad an Komplexität dadurch, dass sie die Konzepte von Performance und Performativität wechselseitig fruchtbar machen, was wiederum zu einer beträchtlichen Anreicherung der Bedeutungsdimensionen beider Begriffe geführt hat. Den umfassenden Versuch, eine „Ästhetik des Performativen“ vorzulegen, die auch für andere, nicht-künstlerische Arten von Aufführungen gilt, hat beispielsweise Erika Fischer-Lichte 2004 mit gleichnamigem Buch unternommen.
hat zwar insofern seinen festen Platz in der Geschichte der Performance-Kunst, als er großen Anteil an dem „Performativierungsschub“74 hatte, der sich im Laufe der 1950er-Jahre anbahnte und mit dem dann seit den 1960er-Jahren anstelle von objekthaften Werken zunehmend Ereignisse hervorgebracht wurden.75 Betont man allerdings das partizipatorische Element, den Verzicht auf Publikum und das Zurücktreten des Künstlers in die Reihen der Teilnehmer, dann tritt das Happening in ein Spannungsverhältnis zur Performance-Kunst im engeren Sinne, wie sie RoseLee Goldberg verstand.76 Von den frühen Performances eines Chris Burden, einer Carolee Schneemann oder Marina Abramović unterscheiden sich die Activities auf formaler Ebene in entscheidenden Punkten: Kaprow agiert nicht selbst als Performer auf der Bühne; es geht nicht um die Öffnung, Störung oder Provokation des Verhältnisses zwischen Performer und Publikum; die Activities werden mehrfach und von verschiedenen Personen auf Grundlage eines Skripts durchgeführt; der nackte Körper wird nicht als vorrangiges Medium oder Material eingesetzt und bewusst exponiert. In seinen theoretischen Texten, in denen er fortwährend damit beschäftigt war, kleinteilige Begriffsarbeit zu leisten und seinem eigenen Ansatz Kontur zu verleihen, versuchte Kaprow selbst, dieser Differenz mit der Unterscheidung zwischen „theatrical performance“ und „nontheatrical performance“ beizukommen, womit er billigend in Kauf nahm, den ursprünglich an die Happenings gerichteten Vorwurf der Theatralität verspätet auf die zeitgenössische Garde der Performance-Kunst umzulenken.77 Jenseits der theoretischen 74 Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004, S. 24. 75 Vgl. ebd, S. 29. 76 RoseLee Goldberg meinte, als einziges verbindliches Merkmal den Live-Charakter ausmachen zu können („live art from artists“). Siehe RoseLee Goldberg, Performance Art. From Futurism to the Present, London und New York 1979 sowie dies., Performance. Live Art since the 60s, New York 1998. 77 Auch von anderer Seite wurde freilich Performance als Kunstform, anders als bei Goldberg, theoretisch ambitionierter gefasst. Etwa als spezifisch körperzentrierte, mitunter auch explizit feministische Aktionsform, wofür ergänzend der Begriff ‚Body Art‘ eingeführt wurde, der dann auch performative Situationen einschloss, die sich nicht live vor Publikum, sondern zum Beispiel allein im Atelier oder vor einer Videokamera abspielen. Siehe hierzu Lea Vergine, Body Art and Performance,
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Revierkämpfe fällt allerdings auf, dass Kaprow der einfache, ursprüngliche Wortsinn des ‚to perform‘ nicht nur präsent war, sondern er mit ihm genau jene Facette von ‚performance‘ angesprochen sah, die ihn interessierte. Mit der „nontheatrical performance“ assoziierte Kaprow – durchaus überraschend – die Bedeutung von ‚performance‘ im Sinne von: einen Job erwartungsgemäß ausführen, eine Aufgabe erfüllen, Leistung abliefern.78 Damit scheint die ursprüngliche Offenheit des Begriffs auf, mit dem die ganze Bandbreite des auf- und des ausführenden Vollziehens von Handlungen gemeint ist – und mit dem sich die ‚performance‘ eines Künstlers nicht vorrangig als schöpferische oder expressive Aufführung, sondern auch als Durchführung eines Experiments, Unternehmen einer Befragung oder Absolvieren einer Übung denken lässt. Mehr noch: Bevor ‚performance‘ eine Kunstform wurde, hatte Herbert Marcuse erklärt, die zeitgenössische Gesellschaft folge dem „performance principle“, und damit gemeint, sie organisiere sich auf allen Ebenen entlang den Maßstäben ökonomischen Wettbewerbs.79 Marcuses „Performer“ ist der moderne Mensch, für den das Realitätsprinzip so gleichbedeutend mit dem Leistungsprinzip geworden ist, dass er sogar seine „erotische Performance“ mit seiner „gesellschaftlichen Performance“ auf Linie bringt, ohne dazu explizit gezwungen werden zu müssen.80 Man muss dieser Kulturkritik nicht zwingend folgen, aber Mailand 1974 sowie Amelia Jones, Body Art. Performing the Subject, Minneapolis und London 1998. Peggy Phelan brachte schließlich als signifikantes Alleinstellungsmerkmal und politische Agenda performativer künstlerischer Praxis ein, dass diese Repräsentationserwartungen unterlaufe und einen unmediatisierten, ephemeren Zugriff auf das Reale unternehme. Siehe Peggy Phelan, Unmarked. The Politics of Performance, London u. a. 1993. 78 Vgl. Kaprow 1976, hier S. 173. Er schreibt dort: „Ordinarily, a performance is some kind of play, dance, or concert presented to an audience – even in the avant-garde. But actually there are two types of performance currently being made by artists: a predominant theatrical one, and a less recognized nontheatrical one. They correspond, interestingly, to the two meanings the word performance has in English: one refers to artistry, as in performing on the violin; the other has to do with carrying out a job or function, as in carrying out a task, service, or duty – viz. a high-performance engine.“ 79 Herbert Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston, MA, 1955, S. 44. 80 Ebd., S. 46. Zum „performance principle“ bei Marcuse vgl. Hauke Brunkhorst und Gertrud Koch, Herbert Marcuse zur Einführung, Hamburg 1990, S. 80.
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sie fördert eine begriffsgeschichtliche Dimension zutage, deren Rückholung in den Performance-Diskurs Kai van Eikels‘ zurecht anmahnt.81 Aufgerufen ist mit ‚performance‘ auch das perpetuum mobile eines Lebensvollzugs in Gesellschaft, in dem das ‚Funktionieren‘ Fluch und Segen zugleich ist und die eigene Systemstelle nicht auf Lebenszeit vergeben wird, sondern immer wieder neu, aktiv, alert, bestenfalls sich steigernd eingenommen, aus- und vollführt werden muss.82 Die Activities im Anschluss an diese weniger eng kunstwissenschaftlich gefasste Auffassung von ‚performance‘ als Übungen zu untersuchen, schärft den Blick für zwei miteinander verbundene Aspekte. Der erste betrifft das Verständnis für ein Handeln, das auch dort ernstgenommen und nicht als bloßes Gehorchen missverstanden werden will, wo es unkreativ ist, wo mit ihm also zunächst lediglich vollzogen, ausgeführt, wiederholt, weitergemacht wird. Wer die Activities vollziehend interpretiert, erfährt und verficht die Eigenwilligkeit des Handelns in seinem Unterschied zum Herstellen, wie ihn besonders eindrücklich Hannah Arendt beschrieben und verteidigt hat.83 Der zweite betrifft das Anforderungsprofil, das mit diesen Übungen ausgebildet wird. Inwiefern haben sie tatsächlich formierendes oder transformierendes Potential – und inwiefern verhandeln sie auf einer selbstreflexiven Ebene die Fallstricke des Übens gleich mit?
81 Vgl. Eikels 2013, S. 27 sowie S. 30f. Kai van Eikels verwirft in seinem umfang- und einfallsreichen Buch Die Kunst des Kollektiven. Performances zwischen Theater, Politik und Sozio ökonomie einen bloß formal auf bestimmte Kunstphänomene zugeschnittenen Performance-Begriff ebenso wie er sich dagegen ausspricht, die Performativität „zur neuen interaktiven Ressource des Kreativen zu erklären.“ Ebd., S. 15. 82 John McKenzie geht sogar so weit, davon zu sprechen, das Performance-Prinzip löse im 20. Jahrhundert das von Foucault erörterte Disziplinierungs-Dispositiv ab. Vgl. John McKenzie, Perform or else. From Discipline to Performance, New York 2001, S. 18. 83 Siehe Arendt 1967/2015, darin insbesondere das Kapitel (S. 281–293) zur Auseinandersetzung mit Platos Unterscheidung zweier Stadien des Handelns, archein und prattein, die Arendt kritisiert, da er mit ihr das ausführende Handeln von dem neu anfangenden, etwas in Gang setzenden Handeln künstlich geschieden habe und zentrale Merkmale des Handelns somit abqualifiziert beziehungsweise in einem Herrschaftsverhältnis hierarchisiert werden.
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Time Pieces: Ausführen, Durchhalten, Abweichen Wer die schriftliche Anleitung zu Rates of Exchange genau studiert, wird sie intuitiv als eine Übungsaufgabe lesen. Nicht nur die bereits besprochenen Aspekte der sprachlichen Form spielen dabei eine Rolle, sondern vor allem auch die Tatsache, dass hier Handlungen nur äußerst knapp genannt, nicht aber deren Folgen und Implikationen erörtert werden. Die Frage: „Und was passiert, wenn man das wirklich macht?“, stellt sich beim Lesen unweigerlich ein. Zugleich offenbart sich auch ein gewisser Schwierigkeitsgrad schon beim ersten Überfliegen des Textes. Deutlich wird dem an Umsetzung Interessierten damit ein Schritt-für-Schritt-Verfahren empfohlen und er wird darauf vorbereitet, für diese Übung ein merkliches Kontingent an Zeit, Aufmerksamkeit und physischer Anstrengung aufwenden zu müssen. Dabei gibt der Aufgabentext selbst keinerlei Hinweise auf ein zertifizierbares Ergebnis. Das Ziel besteht weder darin, ein Rätsel zu lösen oder einen Wert zu errechnen noch in der Beherrschung einer Choreographie. Stattdessen hat man es mit einer Übung zu tun, die in weitestem Sinne in den Bereich der Wahrnehmungs-, Selbst- und Körpererfahrungsübungen gehört. Solcherlei Übungen stellen eine subjektive Erfahrung in Aussicht, die am eigenen Leib gemacht wird und deren Erkenntnisgewinn maßgeblich davon abhängt, dass der Übende sich auf eine Aufgabe einlässt, die ihm etwas abverlangt oder gar unangenehm ist und deren Ausführung keine direkte Befriedigung bringt. Wiederholungen, Momente des Aushaltens und Elemente der bewussten Selbstbeobachtung sind Charakteristika dieser Art von Übungen. Im Fall von Rates of Exchange stellen das wiederholte Aussprechen der immer gleichen Textfragmente sowie die extreme Verlangsamung der Bewegungsabläufe eine Herausforderung dar. Die Angaben zur Dauer dieser Vorgänge lauten: „for longer and longer times“, „until no longer possible“, „until impossible“ und „until end of tape“.84 Deutlich wird dem Ausführenden damit signalisiert, dass ihm etwas entgeht, wenn er zu früh abbricht und der Sinn der Übung sich nicht offenbart, wenn man nicht wieder und wieder genau in dem 84 P1.
Moment dranbleibt und weitermacht, in dem man eigentlich aufhören will, weil man sich unwohl fühlt, den Eindruck hat, die Aufgabe längst verstanden zu haben und deshalb ungeduldig wird oder aber das Gefühl bekommt, mit dieser Aufgabenstellung an der Nase herumgeführt und bloßgestellt zu werden. Wer hingegen die Aussagen zur Gehbewegung (Abb. 24) vorab rund dreißig Minuten lang wieder und wieder auf Band gesprochen hat, der wird mit einer entsprechend differenzierten Voreinstellung die Gehanalyse im Anschluss bewältigen. Er wird seine Hüftverschiebungen spüren, darauf achten, ob der Zeh im Schuh sich hebt, wenn der Fuß aufgesetzt wird und bemerken, wie schwerlich ein Schritt dem anderen gleicht. Wiederholung und Verlangsamung der Handlungselemente konfigurieren in Rates of Exchange keine Virtuosität oder besondere Anmut, eher schon wirken die Bewegungen holprig, fremdartig, unbeholfen und wackelig, bestenfalls wie solche eines unsportlichen Erwachsenen, der versucht, es einem Kind beim Balancieren gleichzutun. Die Einübung von Achtsamkeit oder Körperbewusstsein bildet jedoch nur einen Teil der Aufgabenstellung. Die Bewältigung der titelgebenden „Wechselkurse“, verstanden als Steuerung von Austauschprozessen, bildet den eigentlichen Spannungsbogen der Übung. Sprachliche Versatzstücke werden ausgesprochen, ohne dass sie sich in ein kohärentes Gespräch fügen. Um Sinnhaftigkeit zu generieren, müssen die Interpreten selbst im Geiste die Satzteile hin- und herschieben und auf Passung überprüfen oder ergänzen. Sie sind Ausführende beziehungsweise Aufsagende eines Skripts und müssen gleichzeitig ständig gegen dieses Skript arbeiten, um nicht zu bloßen Robotern zu werden. Sie können dies tun, indem sie mit der Intonation spielen oder aber, indem sie versuchen, in die Wiederholungen hinein oder parallel zu ihnen eigene Gedankenstränge zu entwickeln. Die Übung ist geprägt von der über die Aufnahmegeräte hergestellten Verschiebung der Ebenen und zeitlichen Dissoziierung: Der Blick in den Spiegel ist zugleich eine Befragung des abwesenden Gegenübers und kehrt verzögert in umgekehrter Form zurück; Kolonnen von Fragen und Antworten gehen knapp aneinander vorbei, laufen aber doch parallel ab und scheinen eine Art von Erklärung liefern zu wollen; der intime Akt des Entkleidens wird ebenso wie der zivilisatorische Akt des Ankleidens
Time Pieces: Ausführen, Durchhalten, Abweichen
24 Allan Kaprow, Rates of Exchange, 1975, Seite aus der Activity-Broschüre.
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mit rechtfertigenden Aussagen versehen und der Beobachtung unterzogen, wodurch privates Selbst und öffentliche Person ineinander verschoben werden. All diese Aspekte im Prozess gedanklich zu bearbeiten und sich selbst dabei zu beobachten, grenzt an Überforderung und bildet doch zugleich die entscheidende Herausforderung dieser Übung, die auch für die anderen Activities zentral ist. Weniger kompliziert erscheint auf den ersten Blick die bereits erwähnte Arbeit Time Pieces (P2), die ebenfalls das Thema des Austauschs behandelt. Auch hier scheint es zunächst hauptsächlich um gesteigerte Körperwahrnehmung zu gehen: Puls- und Atemfrequenz sollen in unterschiedlichen Situationen registriert und einem Partner übermittelt werden. Bei der Registrierung und Übermittlung helfen Aufnahmegeräte und Telefone. Der erste Teil („Pulse Exchange“) widmet sich dem Puls, der zweite („Breath Exchange“) dem Atem, im dritten („Pulse-Breath-Exchange“) erhöht sich die Schwierigkeit, weil die ersten beiden Teile kombiniert werden.85 Die Interpreten müssen im ersten Teil zunächst wiederholt ihre Pulsschläge für eine Minute laut zählen und dabei ein Tonbandgerät mitlaufen lassen, sich dann gegenseitig anrufen und die Zählung am Telefon noch einmal durchführen, das Ganze danach bei einem Treffen abermals wiederholen und schließlich noch einmal, nachdem sie eine Treppe hinaufgestiegen sind. Der zweite Teil wiederholt diese Schritte, diesmal wird allerdings die Anzahl schneller Atemzüge in einer Minute gezählt und am Ende sogar gefordert, dass die beiden Personen für eine Minute von Mund zu Mund ein- und ausatmen. Im dritten Teil geht es darum, den Atem anzuhalten und dabei den Puls zu zählen. Er endet damit, dass beide Personen Treppen steigen, dabei für eine Minute den Atem anhalten, Puls zählen, in eine Plastiktüte ausatmen, diese verschließen und mit dem Partner austauschen, der dann für die letzte Einheit den Atem des anderen aus dem Plastikbeutel verwenden soll. Die Überprüfung der Körperfunktionen, die normalerweise ein Arzt am Patienten vornimmt, wird für Time Pieces extrahiert, kombinierend
85 P2: Allan Kaprow, Partitur Time Pieces, 1973, Typoskript mit Fotografien von Alvin Comiter, getackert, Text in Englisch und deutscher Übersetzung, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24.
variiert und semantisch in den Bereich zwischenmenschlicher Kommunikation übersetzt. Die Umsetzung erfordert zunächst eine Konfrontation mit der Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers, die manch einen an den (natürlich stets zu lange zurückliegenden) Erste-Hilfe-Kurs erinnern mag, womöglich aber auch an eigene Erfahrungen mit Krankheit oder an Momente, in denen der Körper besonders gefordert war. Was dann folgt, ist eine groteske Verkomplizierung der achtsamen Überprüfung, indem die Zählungen von Pulsschlägen und Atemzügen als Informationen aufgezeichnet, übermittelt und wiederum abgehört werden. Sie werden eingespeist in einen durch Minuteneinheiten strukturierten zwischenmenschlichen Austauschprozess. Hierbei kommt es allerdings zwangsläufig zu Spannungen zwischen schriftlicher Partitur und Realisierung. Die gewissenhafte, aber eben auch automatisiert wirkende Umsetzung der Übung, wie sie auf unterschiedliche Weise in den beiden Videos zu Time Pieces präsentiert wird, ist realiter kaum zu schaffen. In der dichten Folge von Fühlen, Atmen, Zählen, Geräteinschalten, Bandabhören und Treppelaufen in ständig neuen Kombinationen kommt irgendwann ein Punkt, an dem das System kollabiert. Tatsächlich birgt die Aufgabenstellung ein so großes Fehlerpotential, dass die Realisierung einer Slapsticknummer gleichen oder bei den Beteiligten zu Wutanfällen führen kann. Auch eine bis zum Schluss ernsthafte und konzentrierte Durchführung wird immer wieder von kleineren Pannen unterbrochen werden (Abb. 25).86 Die absurde Pointe der Arbeit liegt darin, dass die Messung und Vermittlung der Vitalfunktionen so kompliziert gemacht werden, dass damit Lebendigkeitszeichen anderer Art hervorgebracht werden können: Es wird gelacht und geflucht, um die Spannung abzubauen. Der Effekt ist dann also genau gegenläufig zu dem 86 Diese Einschätzung der Umsetzbarkeit resultiert unter anderem aus Gesprächen mit Personen, die sich an der Ausführung von Time Pieces 2019 versuchten, sowie einem Selbstversuch. Spuren von Pannen während der Umsetzung in Berlin 1973 finden sich aber auch in Form handschriftlicher Anmerkungen auf der Partitur, die besagen, dass einmal das Tonband nicht ausreichte, dann ein Anruf aus der öffentlichen Telefonzelle mehrfach von Ungeduldigen aus der Warteschlange unterbrochen wurde, schließlich das Aufnahmegerät den Geist aufgab. Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24.
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25 Allan Kaprow, Time Pieces, 1973, Seite einer Partitur mit handschriftlichen Notizen während der Umsetzung in Berlin, aufbewahrt in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24.
Eindruck, den die in der gedruckten Anleitung abgebildeten Fotografien vermitteln (Abb. 26–28). Die holprige Bewältigung des Übungsdurchlaufs evoziert Fragen nach der Aussagekraft der Messergebnisse und auch Einsprüche gegen die solcherart erzwungene Befassung mit der eigenen Körperlichkeit, mangelnde Fitness, Erschöpfung oder Gebrechlichkeit eingeschlossen. Schließlich ist der körperliche Aspekt von Time Pieces auch Abstoßungspunkt, um darüber nachzudenken, wie sich interpretieren lässt, was man gerade getan hat. Es gehört zum Wesen der Acti vities, dass mit der Durchführung nicht gleichsam blitzartig eine zuvor verborgene Bedeutung auf der Hand liegt. Der Übungscharakter verlangt, dass die Ausführenden in ein gemeinsames Tun für begrenzte Zeiträume eintauchen und Widerstände überwinden, aber die Übungen sind gleichzeitig so gebaut, dass über ihre Auslegung und Sinnhaftigkeit permanent nachgedacht und gesprochen werden muss, um mit ihnen überhaupt zu Rande zu kommen. Momente intensiver Körpererfahrung sowie solche authentisch
empfundener Nähe und Intimität wechseln sich immer wieder mit Phasen ab, in denen die Umsetzung der Aufgaben als künstlicher Vorgang empfunden wird, den eine befremdliche Uneigentlichkeit auszeichnet. So wie das Thema der Lebendigkeit im Zuge der Realisierung von Time Pieces aufgefächert wird, kann die Activity auch in einem übertragenen Sinne verstanden und befragt werden. Zeigt sie uns das menschliche Leben als eines, in dem unablässig Lebendigkeitsgrade bestimmt und übermittelt werden müssen? Lässt sich das als Kommentar auf eine hypochondrische Gesellschaft lesen, in der der Beweis körperlicher Funktionstüchtigkeit die einzig wirklich wichtige Botschaft geworden ist? Oder lässt nicht genau andersherum das maximale Zurückfahren lautlicher Äußerungen auf Pulszählung und Atemzüge diese zum Platzhalter werden? Dann ließe sich diese Übung auch als abstrahierte Form einer Annäherung zweier Menschen deuten, die einander Bestätigungen ihrer Lebendigkeit zukommen lassen, Lebendigkeitsäußerungen hervortreiben und sich gegenseitig ihrer
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
26 Allan Kaprow, Time Pieces, 1973, Seite der Partitur aus der Broschüre für Aktionen der Avantgarde (ADA), Berlin, Fotografie: Alvin Comiter.
27 Allan Kaprow, Time Pieces, 1973, Seite der Partitur aus der Broschüre für Aktionen der Avantgarde (ADA), Berlin, Fotografie: Alvin Comiter.
Time Pieces: Ausführen, Durchhalten, Abweichen
Lebendigkeit versichern. Die nur symbolisch zu verstehende Versorgung des jeweils anderen mit Atemluft stellte dann nicht nur ein absurdes Finale, sondern auch eine Art von romantischem Höhepunkt dar. Zwei Individuen werden in Time Pieces schrittweise in eine systemische Relation gebracht, die durchaus als das bewegliche Bild einer Beziehung betrachtet werden kann, in der Lebendigkeit – körperlich, sinnlich, lebenspraktisch – gemeinsam formuliertes Ziel und gefährdete Größe zugleich ist. Diese Zwiespältigkeit von Lebendigkeitssehnsucht und Vitalismusdogma ist eine, die sich auch, wenngleich formal anders gefasst, im Werk des Konzeptkünstlers On Kawara finden lässt. Seine Arbeit I Am Still Alive, entstanden ab 1969, besteht aus fast 900 Telegrammen, die er an Freunde und Bekannte schickte und auf denen stets nur die Botschaft „I am still alive“ sowie der Name des Absenders zu lesen waren. Auch hier erscheint die Bekundung des Lebendigseins als geradezu zwanghaft abgefragte und ausgelieferte Statusmeldung, aber auch als existentielle Botschaft, deren Verifizierung von einem Empfänger abhängt, also gewissermaßen ‚erhört‘ werden muss. Das Prinzip der Serialität wird von Kawara auf spezifische Weise umgelenkt: Es wird dem Künstler selbst zur übungshaften Anforderung und kommt auf den Rezipienten als Mischung aus selbstverwalterischer Strenge und pathetischer Anrufung zu. Das ist ex trem banal und doch geht es um Leben und Tod. Die kurzen Telegrammnachrichten bezeugen zwar die rastlose Mobilität des Künstlers und fungieren somit als Ausweis besonderer Lebendigkeit, führen aber auch vor Augen, dass gerade der wiederholte Ausruf, am Leben zu sein, dessen unweigerliches Verrinnen und stete Gefährdung nur umso stärker betont. Trotz formaler Unterschiede arbeiten Kawara und Kaprow beide mit Wiederholungen, die doppeltes Potential bergen: einerseits die Gefahr, in Automatismus und Monotonie zu kippen, andererseits die Chance, das Leben im alltäglichen Vollzug und steten Fluss der Zeit bewusst zu machen. Einmal ist es nur der Künstler selbst, einmal sind es die Interpretenduos einer vom Künstler entworfenen Aufgabe, in beiden Fällen aber wird eine Form der Selbstaktualisierung praktiziert: Jemand bestätigt mit und vor einem Gegenüber beständig sein Am-Leben-Sein mittels einer eigentlich banalen Tätigkeit.
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28 Allan Kaprow, Time Pieces, 1973, Fotografie zur Partitur von Alvin Comiter.
Indem sich die Activities aus vertrauten Elementen zusammensetzen, diese aber verfremdet, verlangsamt, mediatisiert und auf absurde Art miteinander kombiniert werden, betonen die Übungen in einem ersten Schritt eher Vorgänge des Verlernens und der Antivirtuosität als solche des Erlernens und der Beherrschung bestimmter Körperfigurationen. Dies verbindet sie mit den zeitnahen Entwicklungen im Bereich des Tanzes. Künstlerinnen, die selbst Tänzerinnen und Choreographinnen waren, wie Yvonne Rainer, Trisha Brown oder Simone Forti, arbeiteten ab den frühen 1960er- und in die 1970er-Jahre hinein mit auf den ersten Blick einfachen Aufgabenstellungen, die dazu führen sollten, dass die Tänzer nicht länger eine Abfolge kunsthafter Bewegungen vor dem Publikum möglichst mühelos erscheinen lassen, sondern sich stattdessen mit simplen Bewegungsabläufen intensiv auseinandersetzen.87 In 87 Zu parallelen Entwicklungen in Tanz und bildender Kunst dieser Zeit siehe das Vorwort in Dance, hg. von André Lepecki, London und Cambridge 2012 (Whitechapel: Documents of Contemporary Art). Außerdem grundlegend Sally Banes, Terpsichore in Sneakers. Post-Modern Dance, Middletown, CT, 21987. Lohnenswert sind auch die Überlegungen zur Auffassung des Körpers und seinem Einsatz in performativen (und tänzerischen) Arbeiten der 1960er-Jahre bei Elise Archia, The
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
29 Simone Forti, Slant Board, 1961, Bilder einer Realisierung im Oktober 1968, L’Attico, Rom.
ihren Dance Constructions (1961) stellte Simone Forti einfache Settings her, in denen die Performer Aufgaben wie Klettern oder Ziehen zu bewältigen hatten und die Zuschauer ihnen dabei zusahen (Abb. 29).88 Yvonne Rainer erdachte Choreographien wie We Concrete Body. Yvonne Rainer, Carolee Schneemann, Vito Acconci, New Haven und London 2016. 88 Forti berichtete, dass ihr die Idee zu diesen frühen Arbeiten kam, als sie eine Fotosequenz des Fotopioniers Eadweard Muybridge sah, die einen nackten Körper beim Holzhacken zeigte: „[…] Die verschiedenen Momente, in denen dieser mit dem Gewicht und dem Schwung der Axt umgeht. Der Mann und seine Bewegung ergaben Sinn und besaßen eine Schönheit“. Simone Forti, „Die Dance Constructions“, in: Simone Forti. Mit dem Körper denken, hg. von Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat. Salzburg, Museum der Moderne, München 2014, S. 80. Zu den Dance Constructions siehe außerdem Meredith Morse, Soft is Fast. Simone Forti in the 1960s and after, Cambridge, MA, und London 2016, Kapitel 4, insb. S. 84–97. Forti lernte Kaprows Werk zunächst in der New Yorker Reuben Gallery kennen, 1970 kam sie dann ans CalArts und war dort lose mit Kaprows Werk in Berührung. Man habe einander nicht intensiv wahrgenommen, berichtete Forti in einem Telefongespräch mit der Verfasserin im März 2016. Erst nach Kaprows Tod, als Forti an einem Reenactment von 18 Happenings in 6 Parts teilnahm, sei Kaprows Kunst auch in ihr Bewusstsein als Tänzerin gerückt. In Kaprows erstem Happening gab es eine winzige ‚Choreographie‘, die sich auf einfache Bewegungen wie das Abknicken eines Knies beschränkte, die zu einem eher roboterhaften Ablauf zusammengesetzt waren. Denkt man außerdem an das Sequenzieren und Verlangsamen von Bewegungsabläufen in Rates of Exchange, so lässt sich für Kaprow vermuten, dass er ebenfalls von den fotografischen Bewegungsstudien Muybridges inspiriert gewesen sein könnte. Damit wäre er, wie Forti, zugleich in guter Gesellschaft verschiedener Künstler der Konzeptkunst, die Muybridge in den 1960er-Jahren für sich entdeckten. Das Interesse an Serialität, Wiederholbarkeit und Methodik stand dabei im Vordergrund. Als eines von vielen Zeugnissen dieser Rezeption siehe Mel Bochner, „The Serial Attitude“, in: Artforum, Dezember 1967, S. 28–33.
Shall Run (1963), in der eine Gruppe von Tänzern ausschließlich die titelgebende Laufbewegung in Variationen aus- und vorführt. In ihrer minimalistischen Tanzpraxis zielte sie auf eine „aufgabenhafte“ Qualität der Bewegungen.89 Indem sie Amateure mit komplizierteren Choreographien betraute und professionelle Tänzer gewöhnlichste Bewegungen in Wiederholung ausführen ließ, durchbrach sie sowohl die Erwartungen der Zuschauer als auch die Routinen der Performer. Den Aufführungen ihrer Choreographien haftete dementsprechend oftmals noch der Charakter der Probe an. Zwischen Ausführungs- und Aufführungssubjekt waren die Grenzen verwischt, der Reiz ergab sich aus den kleinen Abweichungen innerhalb einer Sequenz wiederholter Bewegungen oder dem Vergleich individueller Umsetzungen einer einzelnen physischen Aufgabe.90 Aussagekräftig und 89 Carrie Lambert-Beatty verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff „tasklike“. Carrie Lambert-Beatty, „Recuperating Performance“, in: Gloria. Allora & Calzadilla, hg. von Lisa D. Freiman, Ausst.-Kat. La Biennale di Venezia, Pavillon der Vereinigten Staaten von Amerika, Indianapolis, München und andere 2011, S. 48–59, hier S. 54. 90 Rainer selbst beschrieb eine ihrer Choreographien des Jahres 1965 mit den Worten: „Its repetition of actions, its length, its relentless recitation, its inconsequential ebb and flow all combined to produce an effect of nothing happening.“ Yvonne Rainer, „On Dance for 10 People and 12 Mattresses Called Parts of Some Sextets“ [1965], in: Dance, hg. von André Lepecki, London und Cambridge 2012 (Whitechapel: Documents of Contemporary Art), S. 48. Als ein Beispiel für die Verwischung der Grenzen zwischen Probe und Aufführung wird Rainer aufgeführt bei Sabeth Buchmann, Ilse Lafer und Constanze Ruhm, „Putting Rehearsals to the Test. Introduction“, in: Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory, and Politics, hg. von dens., Berlin 2016
Time Pieces: Ausführen, Durchhalten, Abweichen
durchaus programmatisch zu verstehen ist der Titel, den Rainer einer Gruppe von Performances gab, die zwischen 1966 und 1968 entstanden: The Mind Is a Muscle betont nicht nur die untrennbare Verbindung von Körper und Geist, sondern formuliert auch, dass beide gleichermaßen trainiert werden können und formbar sind. Dabei hatte Rainer weniger Optimierungsstrategien im Sinn, als es ihr um den Zusammenhang zwischen aktivem Verlernen und Transformationsprozessen ging. Ihre choreographischen Arbeiten setzten die Praktizierenden Situationen aus, in denen sie mit ihren Körpern Bewegungen vollziehen mussten, die zunächst einmal weder ästhetische Effekte produzierten noch Möglichkeit zur Expression boten. In Gang gesetzt wurde so aber – auch für das Publikum – eine neuartige Wahrnehmung des ausprobierenden, funktionierenden und übenden Körpers.91 Wenige Jahre nach Rainer entdeckte auch Bruce Nauman das Potential selbst entworfener Körperübungen für seine Kunst. Aus dem Impuls heraus, in (Publication Series of the Academy of Fine Arts Vienna, 19), S. 10–20. Zu Rainers sehr reflektiertem Umgang mit der Beziehung zwischen Publikum und Performer, der sich auch in dem Einsatz von Aufzeichnungsmedien beziehungsweise der Produktion von Filmen (etwa Lives of Performers, 1972) niederschlug, siehe Carrie Lambert-Beatty, Being watched. Yvonne Rainer and the 1960s, Cambridge, MA, 2008. Die Autorin will vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in den 1960er-Jahren hierin auch eine Kritik an der massenmedialen Darbietung von Körpern für den Betrachter erkennen. 91 In einem zweiten Schritt ergab sich daraus wiederum eine neuartige Ästhetik, die in Tanz und Performance der folgenden Jahrzehnte weiterentwickelt wurde. Carrie Lambert-Beatty stellt Rainers Programm in einen spannenden Zusammenhang mit dem Einsatz von Akrobaten, Turnern oder Pianisten in der Kunst von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla. Sie beobachtet dort ein vergleichbares Interesse an der invertierten Ausübung von Fertigkeiten – so lassen Allora & Calzadilla etwa professionelle Pianisten auf einem präparierten Piano spielen, in dem sie sich stehend befinden und gezwungen sind, die Tastatur falsch herum zu bedienen. Lambert-Beatty sieht sowohl bei Rainer als auch bei Allora & Calzadilla eine Auseinandersetzung mit der inzwischen von den Neurowissenschaften als „Neuroplastizität“ bezeichneten Eigenschaft des menschlichen Gehirns, sich umorganisieren und teilweise auch ‚reparieren‘ zu können, mithin also nicht nur manipuliert, sondern auch durchaus gezielt trainiert werden zu können. Vgl. Carrie Lambert-Beatty, „Recuperating Performance“, in: Gloria. Allora & Calzadilla, hg. von Lisa D. Freiman, Ausst.-Kat. La Biennale di Venezia, Pavillon der Vereinigten Staaten von Amerika, Indianapolis, München und andere 2011, S. 48–59, passim.
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seinem Atelier etwas zu tun, ohne dabei ein Kunstobjekt zu produzieren, begann Nauman 1967 damit, allein vor der Film- oder Videokamera absurde physische Aufgaben in Dauerschleife zu erfüllen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Vorgang des Gehens. In Walking in an Exaggerated Manner Around the Perimeter of a Square sieht man den Künstler, wie er ein mit Klebeband auf dem Boden markiertes Quadrat abläuft und dabei den Körper nach jedem Schritt wieder in die Kontrapostpose bringt. Als in Bewegung versetzte klassische Standfigur kommt er selbstredend nur langsam voran und der gesamte Vorgang strahlt keine natürliche Anmut und Ausgewogenheit aus, sondern wirkt eher manieriert und ermüdend. Die einstündige Videoarbeit Slow Angle Walk (Beckett Walk) von 1968 zeigt Nauman, wie er sich abermals nach einem zuvor festgelegten Schema durch sein Atelier bewegt (Abb. 30). Die Arme hinter dem Rücken leicht verschränkt, geht er, ohne dabei die Knie anzuwinkeln, was wiederum ein ständiges Beugen oder Schwingen der Hüfte erfordert. Das fest installierte Kamera- und Recorderset erscheint einerseits als neutrales Aufzeichnungsmedium, mit dem zunächst sogar eher die Abwesenheit von Publikum betont wird, andererseits konditioniert es den streng die Regeln befolgenden Körper, indem eine bestimmte Dauer – nämlich die des Films oder Videobands – für diese Übung vorgegeben wird und die schiere Präsenz der Apparate daran gemahnt, dass die Erfüllung der Aufgabe später von Dritten überprüft werden kann. Der Titelzusatz gibt einen Hinweis darauf, dass mit der Ausübung grundloser, aber gleichwohl erschöpfender Aufgaben eine Nähe zu Samuel Becketts Schriften besteht. Ähnlich wie Naumans inszenierte Körper vollziehen auch Becketts anonym wirkende Figuren ihre oftmals banalen Handlungen in einer Art Raster, das durch die Wiederkehr des Immergleichen gebildet wird.92 Ohne dass jemals darüber Auskunft gegeben würde, warum diese Handlungen bestimmten, eigentlich widersinnigen Regeln unterliegen, mühen sich die Subjekte mit ihnen ab. Betrachtet man Naumans Tapes oder arbeitet sich lesend durch die seitenlange 92 Vgl. Anja Osswald, Sexy Lies in Videotapes. Künstlerische Selbst inszenierung im Video um 1970. Bruce Nauman, Vito Acconci, Joan Jonas, Berlin 2003, S. 76.
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30 Bruce Nauman, Slow Angle Walk (Beckett Walk), 1968, Stills aus Video, s/w, 60 Min.
Passage in Becketts Molloy, in der der Protagonist den von Nauman adaptierten Gang mit steifen Beinen zu absolvieren hat, so befällt einen nicht selten eine „seltsame Leere“, wie Antje Osswald treffend beschreibt.93 Zugleich kann die körperliche Unbeholfenheit der Akteure aber auch ein geradezu zärtliches Mitgefühl wecken, das nicht als Mitleid mit einem individuellen Schicksal, sondern als Empfindung für die Absurditäten moderner menschlicher Existenz und die eigentümliche Würde eines zugerichteten Lebens verstanden werden kann. Die kurz skizzierten Positionen von Rainer und Nauman zeigen das breite Spektrum des 93 Ebd.
gestalterischen Umgangs mit einfachen Bewegungsabläufen in übungshaften Szenarien in den Künsten um 1970. Mit seinen Activities greift Kaprow solche Entwicklungen auf, indem er – im Unterschied zu den früheren Happenings – einzelne Bewegungsund Handlungsabläufe ins Zentrum rückt und von den Teilnehmern zum Teil „bis zur Unmöglichkeit“ wiederholen lässt. Der Händedruck und der Gehvorgang in Rates of Exchange werden sequenziert, verlangsamt und verfremdet, in Time Pieces wird das Überprüfen und Mitteilen der Vitalfunktionen so ausgeweitet, dass es den Takt des gesamten Tuns bestimmt. Ähnlich wie bei Rainer werden Handlungen, die normalerweise intuitiv vollzogen werden, so gerahmt und als Aufgabe neu gestellt, dass sie sich seltsam anfühlen, für Beobachtung präpariert und über diesen Umweg einer wiederum bewussteren Ausführung zugänglich gemacht werden. Mit Nauman verbindet Kaprow das Interesse am Absurden und dem erschöpfenden Befolgen bestimmter Aufgaben, die zunächst sinn- und zwecklos erscheinen. Im Unterschied zu Nauman und Rainer sind die körperlichen Übungen bei Kaprow allerdings Teil eines komplizierteren Formats und werden nicht vor Publikum oder einer Kamera ausgeführt. Keine der Activities der 1970er-Jahre besteht aus einer einzelnen Bewegung oder stellt allein motorische Abläufe ins Zentrum. Die mehrteiligen Übungen offenbaren im schrittweisen Vollzug, der Momente authentischer Verkörperung wie irritierender Entfremdung gleichermaßen kennt, auch ein metaphorisches oder erzählerisches Potential. Rates of Exchange handelt dann von der Frage, wie Kommunikation zwischen Innen- und Außenwahrnehmung vermitteln kann, und davon, wie schwierig Konvention und sprachliche Formel mit innerem Erleben in Deckung zu bringen sind; Time Pieces lässt sich als Reflexion über die Behauptung von Lebendigkeit und deren Abhängigkeit von einem Gegenüber lesen. Die Engführung von Performance mit Übung, Training und Aufgabenstellung in der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre lässt sich auch als Echo einer Popularisierung von psychowissenschaftlichen Techniken und zen-buddhistischen Übungen vernehmen, wobei es schwierig und ab einem gewissen Punkt auch müßig ist, hier für einzelne künstlerische Positionen jeweils den Anteil verschiedener Einflüsse
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genauestens bestimmen zu wollen oder aber die künstlerischen Manifestationen notorisch in eine Vorreiterrolle zu drängen. Festzuhalten ist zunächst schlicht und ergreifend ein um 1970 stetig größer werdendes Interesse daran, selbst aktiv zu werden und sich mithilfe bestimmter Aufgaben über körperliche wie geistige Prozesse bewusst zu werden – häufig mit dem Ziel, positive Veränderungen einzuleiten, die vom Individuum auf die Gesellschaft übergreifen sollten. Erkundung des Selbst und die Aktivierung seiner Potentiale lautete die Stoßrichtung unzähliger Selbsthilfebücher dieser Zeit.94 Verbindendes Merkmal der vor allem in alternativen Milieus und der New Age-Kultur angesagten Selbsttechniken war die Überwindung von Dualismen, vor allem der Trennung von Körper und Geist beziehungsweise Leib und Seele. Als Prototyp jener Selbsthilfebücher kann die bereits 1951 erstmals erschienene Einführung in die Gestalt Therapy gelten, die in den 1960er-Jahren hohe Auflagen auch deshalb erreichte, weil sie den Leser direkt anspricht und ihn auffordert, den gestalttherapeutischen Ansatz mittels kleiner Selbstversuche zu erkunden.95 Die Übungen zielen darauf, den Praktizierenden jenes „Gewahrsein“96 zu vermitteln, das für die Gestalttherapie als ganzheitliche Methode zur Selbstentfaltung zentral ist. Vorgeschlagen werden hierfür vor allem Wahrnehmungs- und Selbstbeobachtungsexperimente, die etwa aktives Umdenken, Einfühlung, Vorstellungskraft oder
94 Selbsthilfebücher mit Titeln wie The Language of Feelings (David Viscott), How to Be Awake and Alive (Mildred Newman) oder I’m OK – you’re OK (Thomas A. Harris) dominierten in den 1970er-Jahren in den Vereinigten Staaten die Bestsellerlisten, Buchhandlungen richteten eigene Abteilungen für dieses Genre ein. Vgl. Moskowitz 2001, S. 219 und 224. Viele solcher Bücher enthielten kleine Übungen, Aufgaben oder Fragebögen, die den Lesern dabei helfen sollten, den vorgestellten psychowissenschaftlichen Ansatz selbst anzuwenden. 95 Der Begründer der Gestalttherapie, Frederick S. Perls, lebte zu dieser Zeit in San Francisco und praktizierte seine ganzheitlichen Methoden am Esalen Institute in Big Sur. Der Ort stellte eine Kombination aus alternativem Bildungszentrum, Kurort und Wellness-Center dar und gilt als Zentrum der Entstehung des Human Potential Movement. 96 Fredrick S. Perls, Ralph F. Hefferline und Paul Goodman, Gestalt-Therapie. Wiederbelebung des Selbst, Stuttgart 21981, S. 11. Im Original: „awareness.“ Dies. Gestalt Therapy. Excitement and Growth in the Human Personality, New York 1951, S. viii.
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Kontrastbildung schulen.97 Eine Aufgabe besteht darin, sich einen Handlungsvorgang vor dem inneren Auge zu vergegenwärtigen und sich dann die Bewegungen in umgekehrter Reihenfolge vorzustellen.98 An anderer Stelle wird dazu aufgefordert, zunächst auf äußere Wahrnehmungen zu achten, beispielsweise darauf, was man sieht oder riecht, und sich dann „in scharfer Gegenwendung“ auf innere Vorgänge wie Muskelspannung, Gefühle und Gedanken zu konzentrieren.99 Weitere Übungen nehmen die Atmung in den Blick oder fordern im Kapitel „Verbalisieren“ dazu auf, sich selbst dabei zuzuhören, wie man „in Gesellschaft Worte produziert“ und auszuprobieren, wie die eigene Stimme klingt, wenn man sie auf Tonband aufnimmt.100 Während für Bruce Nauman die Kenntnis dieser Übungen belegt ist und in der Forschung der jüngsten Zeit zunehmend diskutiert wird, ist ein ähnlicher Zusammenhang für Kaprows Activities zumindest seit deren Entstehungszeit nicht hergestellt worden. Was Nauman betrifft, so werden hier vor allem die Arbeiten untersucht, die ab 1969 entstanden, als er zunächst damit aufhörte, selbst als Performer vor der Kamera zu agieren und stattdessen Installationen – häufig unter Verwendung von Videotechnik – entwarf, die den Besuchern innerhalb eines relativ festgeschriebenen Rahmens Reaktionen abverlangten. Eric C. H. de Bruyn betont, dass diese nicht nur im Hinblick auf die Rezeption phänomenologischer Theorien kontextualisiert werden sollten, sondern auch mit Ansätzen und Methoden der Verhaltensforschung in Beziehung gesetzt werden können, als deren „mächtigen Seitenast“ er die Gestalttherapie nach Perls bezeichnet.101 Nicht nur weil Kaprow im 97 Grundlage hierfür ist die gestaltpsychologische Unterscheidung von ‚Figur‘ und ‚Grund‘ und die Annahme, dass „im gesunden Zustand das Verhältnis zwischen Figur und Grund ein Prozess dauernden und doch sinnvollen Vortretens und Zurückweichens [ist].“ Perls/Hefferline/Goodman 1951/1981, S. 13. 98 Vgl. ebd., S. 59. 99 Vgl. ebd., S. 94. 100 Vgl. ebd., S. 114. 101 Naumans Werk imitiere deren Übungen, kämme sie dabei aber auch gegen den Strich – zum Beispiel mit der Arbeit Body Pressure (1974), die Ausstellungsbesucher schriftlich dazu auffordert, den ganzen Körper gegen eine Wand des Ausstellungsraums zu pressen und sich vorzustellen, dass der Gegendruck vom eigenen Körper ausgehe. Vgl. Eric C. H. de
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3. Once again and again. Form und Format der Activity
gleichen Jahr wie Nauman nach Pasadena zog und die beiden dort in persönlichem Kontakt standen, ist davon auszugehen, dass Kaprow als einem an didaktischen Formaten interessierten Hochschullehrer gerade die über kleine Übungen funktionierende Vermittlungsform des gestalttherapeutischen Ansatzes ebenfalls bekannt war. Offensichtliche Parallelen lassen sich in der Aufforderung zu Selbstbeobachtung und erhöhter Aufmerksamkeit für konkrete innere und äußere Vorgänge erkennen, vor allem aber auch in der Idee, Wahrnehmungen qua Übung umlenken und gezielt einsetzen zu können. Ein deutlicher Unterschied zu den Aufgaben in Gestalt Therapy liegt wiederum in der komplizierten und interpretationsbedürftigen Komposition verschiedener Übungselemente zu einem oftmals tagesfüllenden Programm – das wiederum nur einmal und dabei gerade nicht in mönchischer Abgeschiedenheit eines an sich arbeitenden Individuums absolviert wurde. Dieser Umstand ist auch einer der Aspekte, die Kaprows Activities der 1970er-Jahre von zen-buddhistischen Übungen unterscheiden, mit denen sie allerdings – ebenso wie der gestalttherapeutische Ansatz – den Versuch einer Überwindung der Trennung von Körper und Geist gemeinsam haben. Die Tatsache, dass Kaprow ab seinem Wechsel an die University of California in San Diego 1978 selbst Zen praktizierte, führt in der Forschung, die sich mit Kaprows Werk nur punktuell beschäftigt, immer wieder zu der Überbetonung einer vermeintlichen Überführung von Kunst in Zenpraxis oder vice versa.102 Kelley legt Bruyn, „Korridor, Tunnel und Labyrinth. Bruce Naumans Räume zur Verhaltenskontrolle“, in: Bruce Nauman. A Contemporary, hg. von Eva Ehninger, Basel 2018, S. 201–231, hier S. 210f. Als explizite Auseinandersetzung Naumans mit gestalttherapeutischen Übungen können zudem die Instructions for a Mental Exercise gelten, die 1969 live und 1973 noch einmal für eine Videoaufzeichnung umgesetzt wurden. Der erste Teil der Aufgabe besteht darin, auf dem Boden zu liegen (auf dem Rücken) und sich vorzustellen, dass sich der Boden um einen herum hebt, der zweite Teil sieht vor, auf dem Boden zu liegen (auf dem Bauch) und sich vorzustellen, dass man in den Boden sinkt. Vgl. hierzu Suzanne Hudson, „Widerstände“, in: Bruce Nauman. Disappearing Acts, hg. von Kathy Halbreich, Ausst.-Kat. Basel, Laurenz-Stiftung, Schaulager, 2018, S. 136–143, hier S. 139. 102 Vgl. Kelley 2004, S. 200f. Kaprow praktizierte unter der Leitung von Charlotte Joko Beck. Die Vorgeschichte zu Kaprows Auftritt als Zen-Schüler bildet die eher intellektuelle Auseinandersetzung der amerikanischen Nachkriegsavantgarden
in dem letzten Kapitel seiner biographischen Monographie, das er mit „Zen“ betitelte, nahe, dass viele Widersprüche, mit denen Kaprow persönlich und als Künstler rang, schließlich in einem von Zen inspirierten Equilibrium sozusagen sicher verwahrt waren. Er hebt allerdings mehrfach hervor, dass man die Acti vities selbst höchstens als „säkulare, operationelle Versionen bestimmter Zen-Praktiken“ bezeichnen könne, deren wichtigstes Merkmal für Kaprow darin bestanden habe, dass „jegliche Antwort nur in der alltäglichen Erfahrung herausgearbeitet werden konnte, nicht im Kopf.“103 An Kelley angelehnte und pauschal vorgetragene Behauptungen wie die von Stephen Zepke, der kritisiert, die Activities stellten – im Unterschied zu den Happenings – „simple Versprechen einer mystischen Transzendenz des Lebens“ dar und zielten (zu seinem Bedauern) eher auf Meditation als auf politische Aktion; 104 oder jene von Ellen Pearlman, die schreibt, Kaprows Arbeiten der 1970er-Jahre seien extrem verknappt und umfassten mitunter nur noch ein einmaliges Ausatmen oder einen Strich auf
mit Zen und ostasiatischer Philosophie, die Kaprow beispielsweise bei John Cage erleben konnte. Die Vermittlung des Zen-Buddhismus in den Vereinigten Staaten vollzog sich vor allem über die populären Schriften von Daisetz T. Suzuki, der selbst allerdings ein aus Japan ausgewanderter Englischlehrer und kein Zen-Meister war. Suzuki propagierte eine spezielle Variante des Zen-Buddhismus, die sich als anschlussfähig an das amerikanische Interesse für die Mystifizierung alltäglicher Dinge und Handlungen entpuppte oder womöglich sogar selbst von den Schriften Ralph Waldo Emersons und Henry David Thoreaus beeinflusst war. Siehe hierzu George Leonard, Into The Light of Things. The art of the commonplace from Wordsworth to John Cage, Chicago 1994. Des Weiteren Rick Fields, How the Swans Came to the Lake. A Narrative History of Buddhism in America, Boston, MA, 31992 sowie zur spezifischen Liaison Kaliforniens mit Mystik und asiatischer Religion Ilene Susan Fort, „Altered State(s). California Art And the Inner World“, Reading California. Art, Image, and Identity, 1900–2000, hg. von ders., Stephanie Barron und Sheri Bernstein, Berkeley, Los Angeles und London 2000, S. 31–48. 103 Kelley 2004, S. 204. 104 Stephen Zepke, „Becoming a Citizen of the World. Deleuze Between Allan Kaprow and Adrian Piper“, in: Deleuze and Performance, hg. von Laura Cull, Edinburgh 2009, S. 109–125, hier S. 121. Zepkes grundsätzliches Anliegen ist es, hervorzuheben, inwiefern Kaprows Kunst im Sinne der Theorien von Deleuze und Guattari verstanden werden kann.
Time Pieces: Ausführen, Durchhalten, Abweichen
dem Papier, verzerren hingegen, was die Activities der 1970er-Jahre auszeichnet.105 Festzuhalten ist, dass Kaprows Activities nicht vorrangig auf Körpererfahrung fokussierte Übungen sind, sondern auch Transfer- und Interpreta105 Ellen Pearlman, Nothing and Everything. The Influence of Buddhism on the American Avant-Garde 1942–1962, Berkeley 2012, S. 84. Pearlmans Studie gibt einen sehr guten Überblick und führt konkret Figuren, Texte und Praktiken des Buddhismus ein, die für die amerikanische Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert relevant waren. Ihre kurzen Passagen zu Kaprow reihen allerdings eher Informationen aneinander, statt diese auch zu verknüpfen. So folgt die oben genannte Aussage, mit der Pearlman Kaprow die Haltung eines „Haiku-Meisters in einem Zen-Kloster“ zuschreibt, ohne argumentative Verbindung auf eine knappe Beschreibung des Environments Eat von 1964.
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tionsübungen. Die der Übung eigene Spannung z wischen Verfestigung und Veränderung wird hierbei Teil der Realisierungserfahrung, da die Übungsaufgaben selbst schon eine wechselnde Dynamik von Ausführung und Auslegung, Verkörperung und Objektivierung vorsehen. Gleichwohl handelt es sich nicht um Übungen, die ausschließlich selbstreflexiv ihre Übungshaftigkeit ausloten. Es sind auch sehr dezidiert Partnerübungen, die von Annäherung, Intimität, Austausch und Kommunikation handeln. Die konkrete Beziehung der beiden Interpreten einer solchen Übung wird in der Ausführung selbst zum Thema und bestimmt den Verlauf mit, zudem werden aber auch Aspekte von zeitgenössischer Beziehungsführung auf einer eher generellen Ebene bearbeitet.
4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
Comfort Zones: Annäherung der Körper und Synchronität der Gedanken Die Activities zeichnen sich schon aufgrund ihres Formats durch ein hohes Maß an Intimität aus: Es gilt, etwas ohne Publikum selbst und mit dem eigenen Körper zu tun, sich dabei zu beobachten und dies vielleicht sogar in der eigenen Wohnung durchzuführen. Schon mit der Verpflichtung auf die Ausführung im Duo wird die Intimität allerdings auch selbst zum Gegenstand der Übung. Das Gegenüber ist leiblich anwesender Brieffreund und Sparringspartner in einem. Im Gespann lässt sich die Intimität als fragile Fracht handhaben und als Sphäre ermessen. Rates of Exchange erprobt beispielsweise, inwiefern der Händedruck so manipuliert werden kann, dass er zwei Individuen für eine Phase intensivster Begegnung aneinander bindet. Zuvor wird die penible und ausdauernde Selbstbetrachtung im Spiegel von den auf Tonband aufgezeichneten, unablässig wiederholten Fragen des anderen begleitet, die mal fürsorglich, mal übergriffig wirken können. Die Activity Comfort Zones, die im Folgenden ausführlich behandelt werden soll, ist als eine Übung zu begreifen, mit der die Frage nach der Verfasstheit und dem Wert von Intimität auf grundsätzlicher Ebene aufgeworfen wird. Comfort Zones (P3) wurde an zwei Tagen im Juni 1975 von sieben Paaren in Madrid realisiert. Die Übung ist so angelegt, dass sich zwei Personen über insgesamt acht Etappen einander nähern. Die Aufgabenstellung lag sowohl als einfaches Typoskript (Abb. 31) als auch in Form einer Broschüre vor, deren Fotografien Kaprow selbst angefertigt hatte. Den Teilnehmern in Madrid gab Kaprow außerdem ein Blatt mit knappen Hinweisen (Abb. 32), in denen er zum einen empfahl, die ersten beiden Teile im späteren Verlauf des Tages der Vorbesprechung durchzuführen, alle weiteren dann am darauffolgenden Tag, „eingebaut in den Tagesablauf“.1 Zudem präzisierte 1 Im Original: „fitted into daily routine“. Allan Kaprow, Informationsblatt für die Teilnehmer von Comfort Zones in Madrid,
er, dass der private Ort für die Durchführung nicht unbedingt die eigene Wohnung sein müsse, sondern ein frei zu wählender Ort, an dem das Duo so ungestört wie nur möglich agieren könne. Comfort Zones beginnt mit einer Übungseinheit, die noch in getrennten Räumen zu absolvieren ist: A and B, thinking of each other telephoning when the thought is strongest caller saying only „now“2 Der erste Teil von Comfort Zones ist eine Konzentrationsübung, denn Kaprow vermerkt in kleiner Schriftgröße: „für 2 bis 4 Stunden, an privaten Orten“ (Abb. 33). Die Aufgabe bezieht sich auf eine Alltagserfahrung, die den Teilnehmern vertraut ist: Man denkt über etwas nach und dabei plötzlich auch an eine bestimmte Person. Dies kann sich lediglich auf einer banalen Ebene bewegen, wenn es zum Beispiel mit einer noch zu erledigenden Aufgabe verbunden ist, aber auch eine Intensität annehmen, welche die Sphäre des Alltäglichen verlässt – und sich womöglich sogar mit Phänomenen der außersinnlichen Wahrnehmung wie der Telepathie in Verbindung bringen lässt. Was sich im Alltag allerdings meist nur momenthaft (oder zufällig?) ereignen kann, wird in der Übung versuchsweise auf einen längeren Zeitraum ausgedehnt. Der Interpret muss seine Gedanken beobachten und immer wieder in eine Richtung lenken, gleichzeitig ihre Intensität einzuschätzen lernen, um entscheiden zu können, wann „der Gedanke am stärksten“ ist. Ist er es dann, wenn man die andere Person möglichst klar vor sich sieht, wenn man ein gemeinsames Erlebnis in Erinnerung rufen kann, Juni 1975, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. 2 P3: Allan Kaprow, Partitur Comfort Zones, 1975, publiziert in gleichnamiger Broschüre (32,5 × 22,1 cm) mit Fotografien von Allan Kaprow, in Zusammenarbeit mit der Galeria Vandrès, Madrid, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. So auch die folgenden längeren Zitate.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
31 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Typoskript-Version der Partitur mit Anmerkungen, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26.
32 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Hinweisblatt für Teilnehmer in Madrid, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26.
wenn einen der Gedankengang zu einem passenden Begriff für das Verhältnis zueinander führt oder wenn einen das Verbundenheitsgefühl wie ein woh liger Schauer überläuft? Welche Art der gedanklichen Abschweifung ist förderlich und welche hinderlich, um die Gedanken wieder auf den abwesenden Anderen zu bringen? Eine zusätzliche Herausforderung stellt die Übermittlung dar – lässt sich ein Gedanke halten, während man die Wählscheibe in Bewegung setzt und das Telefon klingelt? Was passiert schließlich, wenn die eigenen Gedanken von dem „Jetzt“-Signal des anderen unterbrochen werden? Die Aufgabe kann quälend werden, wenn man über zwei Stunden direkt neben dem Telefon sitzt und auf den Anruf wartet. Sie kann amüsant werden, wenn sich die Gedanken überschlagen, nonstop das Telefon klingelt oder gar beide gleichzeitig anrufen und die Leitung besetzt ist. Der Einstieg in Comfort Zones funktioniert
wie ein Test, ob beide Teilnehmer ungefähr die gleiche Auffassung dieser Übung haben, sie also mit ähnlicher Ernsthaftigkeit oder vergleichbarem Spieltrieb umsetzen. Derart eingestimmt, ist der zweite Teil der Übung „nachts, an privatem Ort, für ungefähr 2 Stunden“ zu absolvieren: A and B, sitting silently in a room B, periodically turning off the light and later turning on the light A, trying to anticipate these decisions saying „now“ when the thought comes strongest Das Signal „jetzt“ für den Moment, in dem der Gedanke am stärksten ist, wird als bekanntes Element aus dem ersten Teil übernommen. Nun aber befinden sich beide Personen gemeinsam in einem Raum und die Aufgabe besteht darin, zu antizipieren, wann der
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33 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Galeria Vandrès, Madrid, Doppelseite aus der Activity-Broschüre, Fotografien: Allan Kaprow.
Partner das Bedürfnis verspürt, das Licht ein- und auszuschalten. Nicht nur an die andere Person zu denken, sondern sogar ihre Gedanken zu lesen, erscheint auf den ersten Blick als absurde Steigerung des Schwierigkeitsgrads. Auch wenn dies vage an ein parapsychologisches Experiment erinnert, geht es doch im engeren Sinne nicht um Telepathie, sondern um die Fähigkeit, die leibliche Präsenz und Stimmung des anderen mitzufühlen. Personen, die einander vertraut sind und sich verbunden fühlen, kennen Situationen, in denen eine Kommunikation ohne Worte gelingt oder der eine genau den Gedanken laut formuliert, den der andere gerade gedacht hat. Im Rahmen der Übung geht es nun darum, über eine gewisse Dauer die Herstellung solcher Koinzidenzen zu erproben. Während Kaprow sich in vielen anderen Activities mit nonverbaler Kommunikation im Sinne von Gesten auseinandersetzt, behandelt Comfort
Zones subtilere Formen der Abstimmung. Lässt sich erspüren, wann der andere die Dunkelheit nicht mehr aushält? Schafft man es überhaupt, seine Gedanken auf diesen Punkt hin zu konzentrieren? Derjenige, welcher den Part von „B“ übernimmt, kann entscheiden, ob er eher manipulativ, konsensorientiert oder experimentell – beziehungsweise virtuos – mit der Aufgabe umgeht. Ersteres gefährdet das Vertrauensverhältnis zum Partner, das Zweite ist erstrebenswert, fühlt sich aber womöglich einengend an, letzteres wäre in diesem Fall besonders anspruchsvoll. Erst wenn beide Partner sich in gleichem Maße auf die Übung einlassen, besteht die Möglichkeit, Varianten zu testen und sich Freiheiten zu nehmen, etwa indem man versucht, gemeinsam in einen bestimmten Rhythmus des Ein- und Ausschaltens zu kommen. Im dritten Teil von Comfort Zones werden die Körper miteinbezogen. Die Aufgabe lautet:
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
A and B, pressing against either side of a closed door trying to fit the outline of each other saying, when the fit seems close, only „now“ repeating again and again until certain Eine Szene, die in vielen romantischen Filmen eingesetzt wird, um einen Wendepunkt in der Paarbeziehung zu illustrieren, könnte als Vorlage für diese Übungseinheit gedient haben: Nach einem Konflikt (oder vor einer Versöhnung) verharren beide Personen für einen Moment auf den beiden Seiten einer geschlossenen Tür, sinnen dem Grad ihrer Distanzierung oder Verbundenheit nach und spüren dabei womöglich mit den Händen an der Tür dem (noch) entzogenen Körper nach. In Comfort Zones realisieren die Interpreten das Paradox einer körperlichen Begegnung durch eine geschlossene Tür. Sie drücken ihre Körper von beiden Seiten gegen die Tür und versuchen, die Position des Partners zu erahnen, um sich dieser anzupassen. Das durch die Tür gesprochene „jetzt“ signalisiert die Vermutung, man habe richtig „getroffen“, da allerdings beide gleichzeitig versuchen, Passgenauigkeit herzustellen, sind immer wieder Korrekturen notwendig. Das Übungsziel wird angegeben mit dem Moment, in dem beide sich sicher sind, dass ihre Körper sich berühren würden, wäre nicht die Tür zwischen ihnen. Es geht um eine intuitive Einfühlung. Entscheidend ist lediglich, dass beide sich „sicher“ sind, den Abschluss der Übung erreicht zu haben, sich die Position im Verhältnis zum Partner auf der anderen Seite also schlichtweg richtig anfühlt. Die körperliche Annäherung wird im vierten Teil noch einmal anders ausgetestet, abermals allerdings ohne dass tatsächlich eine Berührung stattfinden würde. Folgendes wird gefordert: A, walking slowly toward standing B B, saying only „now“ when A’s too close A, halting repeating again and again, testing whether the gap narrows or increases Auch in diesem Part geht es darum, Nähe zu ermessen. Dass man einander „zu nah“ kommen kann, wird als gegeben vorausgesetzt – womit selbst Paaren, die bis zu diesem Punkt die Übung mit Bravour gemeistert
haben, in Erinnerung gerufen wird, nicht voreilig in den körperlichen Nahbereich des anderen einzudringen. Obwohl diesmal der eine steht und der andere sich bewegt, gibt es keine Aufteilung in eine ‚aktive‘ und eine ‚passive‘ Rolle. Beide ermitteln Schritt für Schritt gemeinsam, welche Faktoren den zugelassenen Abstand beeinflussen. Kaprow verweist im Begleittext der Broschüre darauf, Comfort Zones spiele mit dem sozialwissenschaftlichen Begriff „territorial bubbles“.3 Gemeint ist damit, dass jeder Mensch sich durch eine unsichtbare Schutzzone von seiner Umwelt abgrenzt, wobei diese situations- und kulturabhängig ist. Im öffentlichen Raum etwa wird Körperkontakt meist als sehr unangenehm empfunden, während unter Freunden dieser ‚Sicherheitsabstand‘ oft deutlich kleiner ist. Im vierten Teil der Übung wird getestet, inwiefern sich eine solche Komfortzone sogar momenthaft vergrößern oder verkleinern kann, sobald man den sie bestimmenden Parametern größte Aufmerksamkeit schenkt. Im fünften Teil (Abb. 34) werden die Rollen getauscht und die Bedingungen verschärft: B, rushing from a distance at standing A swerving at collision point repeating again and again trying to lock eyes A, saying „now“ when eyes hold * * * B, instantly halting rush, holding A’s eyes until one or the other looks away Der eine rennt immer wieder auf den anderen zu und dreht kurz vor einer Kollision ab. Dabei versucht er, den Blick an denjenigen des Partners zu heften. Mit dem Signalwort „jetzt“ wird die Bewegung gestoppt und die Partner halten Augenkontakt. Das Blickduell am Ende unterstreicht den konfrontativen Charakter dieser Übungseinheit. Augenkontakt suchen, halten und vermeiden wird als Kräftemessen verstanden. In der Durchführung kann ein ganzes Spektrum möglicher Botschaften in die Blickbegegnung eingelassen sein: von Verführung über Herausforderung bis hin zu Provokation. 3 Allan Kaprow, Begleittext in der Broschüre Comfort Zones, siehe P3.
Comfort Zones: Annäherung der Körper und Synchronität der Gedanken
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Das latente Konfliktpotential wird im darauffolgenden sechsten Teil noch einmal zurückgenommen zugunsten einer abermals sehr zaghaften körperlichen Annäherung: A and B, sitting down silently facing each other from a distance inching chairs toward each other locking eyes throughout until knees almost touch * * * each pressing hands to other’s hands increasing and releasing pressure until one says „now“ Auf zwei Stühlen sitzend, nehmen die beiden Interpreten zunächst über eine gewisse Distanz hinweg Augenkontakt auf – hier knüpft die Aufgabe also direkt an den vorherigen Teil an. Sie rücken dann Stück für Stück mit ihren Stühlen aufeinander zu, bis sich ihre Knie beinahe berühren. Währenddessen halten sie Augenkontakt. In einem zweiten Schritt heben sie die Arme, legen ihre Hände aufeinander und lassen den Druck zu- und abnehmen (Abb. 35). War im vierten Teil noch die Distanz der Körper in steter Verhandlung, wird hier nun wortlos die Intensität der Berührung gesteuert. Der Ausspruch des Wortes „jetzt“ fungiert als Signal, mit dem einer der beiden die Übung beenden kann. Die siebte und vorletzte Übungseinheit (Abb. 36) greift die bereits im fünften Teil angelegten Momente der Grenzüberschreitung auf und stellt für die meisten Interpreten vermutlich die größte Herausforderung dar: A and B on knees, facing head to head slowly and silently moving in a line across a space B, periodically drooling onto floor A, wiping it up locking eyes throughout repeating until B is dry B, saying „now“ Diese Aufgabenstellung wirkt verstörend, da sie mit dem vermeintlichen Gebot der Dezenz bricht. Bei allem Anspruch und aller Zumutung boten die bisherigen Einheiten doch immer auch die Option der
34 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
Zurückhaltung, die geforderten Bewegungen waren spärlich und gefasst, zum Teil sogar den Blicken des Partners entzogen. Eben noch sollten sich die Knie nur beinahe berühren, nun wird gefordert, sich von Angesicht zu Angesicht auf allen Vieren durch den Raum zu bewegen. Dabei soll der eine hin und wieder „auf den Boden sabbern“, der andere den Speichel aufwischen. Der Vorgang wiederholt sich, bis „B“ bekundet, einen trockenen Mund zu haben. Die Aufgabe konfrontiert die Interpreten mit Scham- und Ekelgefühlen und sorgt für Irritationen, denn sie verlangt eine explizite Handlung, ohne dass deren Kontext explizit gemacht würde. Es gibt keinen Rahmen, der dieses Tun als Rollenspiel markiert, in dem eine Person ein Tier oder Kleinkind darstellt. Aber die Aufgabe, vor einer anderen Person Speichel auf den Boden tropfen zu lassen oder den Speichel des anderen aufzuwischen, ist zu drastisch, um sie gänzlich ohne Überwindung, gleichsam auf Probe umsetzen zu können. An dieser Stelle offenbart Comfort Zones die ganze Ambivalenz der Übung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Die Interpreten müssen sich spätestens an diesem Punkt mit ihrer eigenen Motivation auseinandersetzen. Dabei können unterschiedliche
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
35 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
36 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
Comfort Zones: Annäherung der Körper und Synchronität der Gedanken
Szenarien – teilweise auch mit Überschneidungen – eintreten: Was bislang noch als freiwillige Aktion empfunden wurde, wird nun als fremdbestimmter Übergriff enttarnt und man fragt sich, wie Kaprow einen überhaupt so weit bringen konnte, diese seltsamen Dinge zu tun; der innere Widerstand wird überwunden, weil man nach Durchführung der ersten sechs Einheiten davon ausgeht, dass auch diesmal eine echte Erfahrung zu machen ist, welche die bloße Lektüre nicht ermöglicht; das Duo hat bereits eine so starke gemeinsame Auffassung der Übung entwickelt, dass es auch für diesen Teil eine souveräne Interpretationsweise findet, die unangenehme Gefühle zulässt, aber vor Entblößung schützt; das Duo interpretiert die Übung eher konfrontativ, möchte ein gewisses Durchhaltevermögen demonstrieren und fühlt sich gerade bei diesem Part herausgefordert, in der Umsetzung die körperlichen Aspekte zu betonen und das Gegenüber zu provozieren. Im siebten Teil von Comfort Zones geht es nicht mehr um eine schrittweise erfolgende Annäherung oder sich steigernde Aufmerksamkeit für die Präsenz des anderen, sondern um eine Wiederholung, die lediglich von einem äußeren Faktor begrenzt wird. Beide Interpreten sind Teil eines Kreislaufs: Verschmutzen und Reinigen, Absondern und Aufnehmen, Hingeben und Akzeptieren – und wieder von vorne… Sie befinden sich dabei in körperlicher Nähe und auf Augenhöhe, aber gleichermaßen in einer Position, die von der zivilisierten Haltung eines erwachsenen Menschen abweicht und an die Fortbewegung von Tieren oder Kleinkindern erinnert. Diese doppelte Konnotation der Positur – Triebwesen einerseits, schutzbedürftiges Wesen andererseits – umreißt den Bedeutungsspielraum dieser Übung. Was hier ausgeführt wird, ist weder Geschlechtsverkehr noch Säuglings- oder Krankenpflege, sondern eine konkret zu verkörpernde Abstraktion beider Vorgänge. Die Interpreten navigieren sich selbst durch diese Übung und sie können dies nur mit ihren eigenen Körpern, Gefühlen und Gedanken tun – trotzdem bewegt sich das Tun insofern in einer Sphäre des Uneigentlichen, als es immer auch für etwas anderes stehen kann. Dieser Überschuss kommt erst im siebten Teil der Übung richtig zum Tragen. Der Verlust des Speichels erinnert an die mangelnde Kontrolle der Körperfunktionen eines Kindes oder Greises, aber
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auch an eine Ejakulation. Der Partner beseitigt die Spuren mit einem Tuch, was wiederum als Akt der Fürsorge, Empfänglichkeit oder Vertuschung verstanden werden kann. Schon während der Ausführung ist das Duo damit befasst, diese Bedeutungsdimensionen anzudenken und in die eigene Interpretation einfließen zu lassen. Es gehört zu den wichtigsten Charakteristika der Activities, dass die Ebenen der Konzeption und Vorstellung, Durchführung sowie Deutung ineinander verschoben sind. Kaprows Text legt Fährten, enthält aber keinen versteckten Schlüssel, der, würde man ihn denn finden, alles schlüssig erklärt. Ohne ins Gleichnishafte zu kippen, bringt Comfort Zones vielmehr latente Ähnlichkeiten ins Spiel, die während der Durchführung ständig neu akzentuiert und aktualisiert werden können. Die Beseitigung von Sperma nach dem Geschlechtsakt als mütterliche Geste? Oder das Aufwischen der Spucke als stoisch-mechanische Antwort auf das körperliche Begehren? Die ‚Reinigungskraft‘ als Erleidende eines Übergriffs? Oder als Fordernde, die das Gegenüber sukzessive aussaugt? Das Duo als eingespieltes Team, das selbst auf allen Vieren noch die Aufgabenteilung einhält und mit der Körperlichkeit ohnehin vertraut ist? Oder als Liebespaar, dem der Umgang mit Körperflüssigkeiten zum erotischen Manöver wird? Gleichsam als Vorspiel entpuppt sich diese Übungseinheit schließlich mit Blick auf den achten und letzten Teil von Comfort Zones, dessen Aufgabenstellung wie folgt lautet: A and B, slowly and silently walking toward each other Locking eyes throughout Pressing against each other Increasing and decreasing pressure slightly Both trying to anticipate these decisions Saying „now“ when the thought comes strongest Until both by chance say „now“ at once Verschiedene Elemente dieser Übung sind den Interpreten bereits bekannt: Aufeinander zugehen, Augenkontakt halten, den Druck bei der Berührung der Körper erhöhen und zurücknehmen, die Entscheidung des anderen antizipieren, das Wort „jetzt“ in dem Moment sprechen, in dem der Gedanke „am stärksten“ ist. Zum ersten Mal allerdings berühren
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
sich nun die Körper in Gänze. Die beiden Partner drücken ihre Körper im Stehen aneinander und lassen diese Berührung ‚atmen‘, indem sie den Druck mal ein wenig vergrößern, mal zurücknehmen. Die Herausforderung besteht darin, dabei nicht auf den eigenen, sondern auf den Rhythmus des anderen zu achten und sogar ein sprachliches Signal zu senden, wenn man das besonders starke Gefühl hat, der andere werde nun den Druck wieder erhöhen oder zurücknehmen. Das Ende dieser Übung – und damit von Comfort Zones insgesamt – erfolgt in dem Moment, in dem beide „zufällig“ das Wort „jetzt“ gleichzeitig aussprechen. Die einprägsamen letzten Worte der Partitur lesen sich beinahe wie eine Gedichtzeile. Das regelmäßige Metrum und die Konsonanz von „chance“ und „once“ lassen den Satz harmonisch, klar und beinahe feierlich wirken. Tatsächlich ist hiermit auch inhaltlich ein Schlussakord gesetzt: Erstmals wird das „jetzt“-Signal nicht nur in eine Richtung oder aneinander vorbei geschickt, sondern gleichzeitig ausgesprochen. Hat das Meisterduo dank engmaschiger Koordinierungsarbeit am Ende also das Schicksal auf seiner Seite oder beendet hier lapidar der Zufall alle Anstrengungen, das Stadium eines echten Miteinanders zu erreichen? Die momenthafte physisch-psychische Synchronität kann als Erlösung wie als glückliche Fügung verstanden werden. Tritt sie nicht ein, hängen die beiden Übenden in einer quälenden Endlosschleife fest – oder haben die Chance auf einen Ewigkeitsmoment als das Jetzt atmende Monade. Das Übungsziel ist Nähe, Gleichklang, Verständigung; wann und wie dies empfunden wird, kommt auf das jeweilige Paar an. Im Zentrum von Comfort Zones steht die Frage nach der Annäherung ohne Selbstverlust und der Chance auf eine Übereinstimmung von Innen- und Außenwelt. Mit der titelgebenden Komfortzone ist nicht nur im übertragenen Sinne die Bequemlichkeit aufgerufen, die Menschen daran hindert, sich auf andere Lebensformen, Meinungen oder Abläufe einzulassen. Die Übung befasst sich mit der fein abgestuften Palette der Empfindungen zweier Menschen, die einander näherkommen. Das Gespräch als naheliegendes Mittel wird ausgespart, dafür werden alle möglichen Formen der räumlichen und körperlichen Annäherung schrittweise durchgeführt und künstlich in die Länge gezogen. Comfort Zones erkundet so die
verschiedenen Dimensionen der Intimität – und seine Interpreten leisten geradezu performative Begriffsarbeit, wie im Folgenden näher ausgeführt wird. Mit „Intimität“ ist zum einen der (auch rechtlich) geschützte Bereich des Persönlichen oder Privaten angesprochen. Intimität kann als Sphäre verstanden werden, die das Selbst umgibt und gleichermaßen Zugangs- wie Ausdrucksmöglichkeiten regelt. Tatsächlich wurde und wird Intimität immer wieder auch als eine atmosphärische oder räumliche Kategorie behandelt – so verbinden sich mit dem Begriff Adjektive wie ‚nah‘, ‚vertraut‘, ‚verborgen‘, ‚geheim‘, ‚gemütlich‘ oder ‚warm‘ und das Intime wird gegen das Monumentale, Zeremonielle, Öffentliche und Offizielle abgegrenzt.4 Schließlich ist „Intimität“ lange – vor allem in wissenschaftlicher Literatur und Ratgebern – verhüllend im Sinne von „Sexualität“ verwendet worden. Mit der Intimsphäre ist in diesem Zusammenhang meist ganz konkret der Genitalbereich gemeint. Spätestens in den 1980er-Jahren zeichnete sich laut Marianne Streisand eine Verschiebung hinsichtlich Gebrauch und Bewertung der Begriffe ab. Intimität und Sexualität wurden immer häufiger als unvereinbar gegenübergestellt. ‚Sex‘ galt in dieser Perspektive als unpersönliches, rein körperliches Phänomen, während ‚Intimität‘ ein von ‚echter‘ Nähe und gegenseitiger Verantwortung geprägtes Verhältnis meinte.5 Die Verwendung des Begriffs ‚Intimität‘ ist also auch insofern interessant, als dieser einerseits das Innere, Innerliche, Seelische und Körperliche betrifft, andererseits aber auch genutzt werden kann, um soziale Beziehungen zu beschreiben. „Hier ist er“, schreibt Streisand, „ein relationaler Begriff, der ein in einer bestimmten – nämlich nahen, vertrauten, persönlichen – Weise gestaltetes Verhältnis anzeigt.“6 Intimität erscheint in dieser Perspektive als eine zwischenmenschliche Sphäre, die Bindung gewährleistet und den Ausdruck von Gefühlen er4 Vgl. Streisand 2010, hier S. 177. 5 Marianne Streisand, Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der Intimität auf dem Theater um 1900, München 2001, S. 36. 6 Ebd., S. 35. Streisand vermutet, dass der regelrechte Boom des Intimitätsbegriffs im Gefolge der sogenannten Kommunitarismusdebatte der 1980er und 1990er-Jahre mit dieser Begriffsdimension zusammenhängt. In der Debatte um die (Un)möglichkeit von Gemeinschaftsbildung jenseits der Familie und des Arbeitsplatzes spielte die Frage nach den Bedingungen für Intimität und dem Wert intimer Beziehungen eine besondere Rolle.
Comfort Zones: Annäherung der Körper und Synchronität der Gedanken
möglicht, sich aber auch aus genau diesen Elementen speist und dementsprechend bewirtschaftet werden muss, um zu bestehen. Comfort Zones ist eine Übung, in der Intimität zwischen zwei Subjekten hergestellt und zugleich Intimität als Schutzzone des Selbst verhandelt wird. Die Annäherung vollzieht sich auf räumlicher, körperlicher und mentaler Ebene. Ständig sind die beiden Partner miteinander befasst und aufeinander bezogen, müssen dabei aber immer auch sich selbst prüfen. Die konzentrierten und komplizierten Aufgaben zwingen die Interpreten dazu, auch feinste Nuancen der Gestimmtheit und minimale Grenzüberschreitungen wahrzunehmen. Die aufkommenden Gefühle – Scham, Widerwille, Unlust, aber auch Zuneigung, Empathie oder Erregung – sind keine Nebenprodukte, sondern Ereignisse, denen für das Absolvieren der Übung größte Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Comfort Zones verläuft nicht streng linear, vielmehr beleuchten die Übungseinheiten unterschiedliche Facetten. Intimität wird weder als fixe Eigenschaft einer Beziehung noch als unhinterfragter Wert an sich behandelt. Im Zentrum steht vielmehr die Frage danach, welche Intimität überhaupt erstrebenswert ist und wie sie sich tatsächlich praktizieren lässt. Am Ende der Übung passt buchstäblich kein Blatt mehr zwischen die beiden Interpreten. Den Sicherheitsabstand haben sie zuvor in mühevoller Kleinstarbeit abgebaut, jetzt gelingt ihnen eine lebendige Berührung, an der beide – mit Leib und Seele – in wechselseitiger Verbundenheit gleichberechtigt Anteil haben. Was aber, wenn die Interpreten diesen Abschluss als Zumutung empfinden? Denkbar, dass die zunehmenden Abstimmungsanforderungen für manchen Teilnehmer Intimität geradezu verhindern. Denkbar auch, dass einer im Verlauf der Übung mehr und mehr den Eindruck hat, nicht mehr er selbst zu sein. Dass in diesem Fall nicht unbedingt der Übende sich als gescheitert erklären muss, legt ein kleingedruckter Hinweis am Ende der Partitur nahe, der den gesamten Übungsaufbau mit einem Fragezeichen versieht: (Note: sequence of parts are reversable, beginning with part 8 and ending with part 1)7 7 P3.
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Unabhängig davon, ob es Interpreten gibt, die tatsächlich zum Zweck des Vergleichs im Anschluss die Übung auch noch einmal in umgekehrter Reihenfolge ausführen, unterstreicht diese Notiz doch auf elegante Weise, dass es in Comfort Zones darum geht, Bedeutungs- und Handlungsspielräume zu ermessen. Allein der kleingedruckte Hinweis führt die Möglichkeit ins Feld, den ersten Part, in dem es nur darum geht, besonders stark an den abwesenden anderen zu denken, als den Part zu interpretieren, der die größte Intimität unter Beweis stellt – oder eben die gesamte Übung so aufzufassen, dass sie davon handelt, wie sich mit zunehmender räumlicher und körperlicher Distanz trotzdem ein intimes Verhältnis beziehungsweise eine Beziehung aufrechterhalten lässt. Mehrdeutig ist Comfort Zones auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Intimität und Sex. Nimmt man den gesamten Übungsverlauf in den Blick, so lässt sich dieser auch als Abstraktion eines sexuellen Akts verstehen: Schrittweise Annäherung der Körper, mal sanfter, mal heftiger und mit wiederholten Bewegungen, Beschäftigung mit der Körperflüssigkeit des Partners, passgenaue Koordination, richtiges Timing und dann der gemeinsame Höhepunkt („until both by chance say ‚now‘ at once“). Diese mögliche Lesart ist jedoch nicht als Pointe zu bewerten, mit der jegliche Latenz und Unbestimmtheit von Comfort Zones letztendlich aufgelöst wäre. Das Explizite wird nicht gegen das Implizite ausgespielt und der Übungsmodus bewahrt seinen Eigensinn. Etwas bleibt immer befremdlich an den Handlungen, die in Comfort Zones auszuführen sind – weder gehören sie in das Reich der Fiktionen, noch sind sie einfach der alltäglichen Lebenspraxis entnommen. Ihre Fremdartigkeit gewährleistet, dass die Activity auch als Reflexionsmedium funktioniert. So lässt sich anhand von Comfort Zones nicht nur darüber nachdenken, was Intimität überhaupt ist und wo sie sich verorten lässt, sondern auch (durch eine Situation der Uneigentlichkeit geschützt) erproben, mit welchen Praktiken sie sich womöglich herstellen lässt. Dabei wird eine Gleichberechtigung beider Partner und damit indirekt auch beider Geschlechter einerseits vorausgesetzt, kann sich aber andererseits auch als besondere Herausforderung entpuppen. Die geradewegs groteske Umständlichkeit, mit der die Partner in Comfort Zones einander nahekommen, legt Zeugnis ab von dem Versuch, eine Beziehung so zu
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
37 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
gestalten, dass Vertrautheit ohne Ich-Verlust möglich ist – und kolportiert zugleich mit sanfter Ironie die ungelenken und unangenehmen Begleiterscheinungen dieses Unterfangens. Im Fall von Comfort Zones fertigte Kaprow die Fotografien für die Broschüre selbst an. Die gleichen Modelle, die auf diesen Fotografien zu sehen sind, wirkten außerdem in einem 17 Minuten langen Film mit, den der Künstler vermutlich in einem Zuge mit der Erstellung der Fotografien drehte.8 In beiden Produktionen setzte Kaprow auf Strenge und Spärlichkeit, die er für diese Medien angeraten sah, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um die Dokumentation
8 Allan Kaprow, Film Comfort Zones, 1975, 16mm, 17:10 Minuten, s/w, produziert mit der Galeria Vandrès, Madrid, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Films, Videos and Audio Tapes, Box 98, F 48.
einer individuellen Umsetzung, sondern um gestellte Bilder mit demonstrativem Charakter handelt.9 Die von Kaprow bearbeiteten Kontaktbögen für die Fotografien der Broschüre zeugen von dem Bedürfnis, jegliche Details der Räumlichkeit – etwa Deckenbeleuchtung oder Rohre – zu tilgen, die Lichtverhältnisse der Aufgabenstellung anzupassen und die Figuren möglichst vor weißem Hintergrund freizustellen. Trotzdem geht es nicht bloß um den Anschein von Neutralität, sondern auch darum, die Intensität der Übung bildhaft zu evozieren. Wiederholt arbeitet 9 Die Bewegtbildversion ist als verfilmte Broschüre zu betrachten, insofern die Anleitung Schritt für Schritt als Text eingeblendet wird und dann kurze Einstellungen folgen, in denen die beiden Figuren das tun, was auch auf den Fotografien zu sehen ist. Wer sich von dem Film im Unterschied zu der Broschüre genaueren Aufschluss über Realisierungsmöglichkeiten erhofft, wird also enttäuscht.
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38 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
Kaprow mit der Kombination von Gesamtansicht und Nahaufnahme, ohne dass sich dies zwangsläufig aus der schriftlichen Aufgabenstellung ergeben würde. Den Aufgabenteil, in dem die Partner sich an die beiden Seiten einer geschlossenen Tür drücken, bebildert Kaprow mit zwei Fotografien (Abb. 37) Die obere zeigt die Frau von hinten in Dreiviertelansicht, wie sie mit abgewinkelten Armen und gespreizten Fingern offenbar versucht, eine bestimmte Position an der Tür einzunehmen. Das Bild darunter zeigt den Mann schräg von hinten gesehen, allerdings in Nahaufnahme. Er drückt sein Gesicht gegen die Tür und hat daneben die flache Hand, mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger, platziert. Obwohl im Text, ohne dies weiter auszuführen, suggeriert wird, dass der ganze Körper gegen die Tür gepresst werden soll, setzen die Fotografien vor allem die Hände in Szene. Nicht zuletzt gedeckt durch Assoziationen an zahlreiche Szenen in romantischen Filmen vermittelt dieses Bild – auch dann, wenn man den Text ausblendet – den Versuch einer Kontaktaufnahme, um räumliche und körperliche Trennung zu überwinden. An anderer Stelle in der Broschüre isoliert Kaprow
39 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Seite aus der Activity-Broschüre.
in doppelter Hinsicht die Aussprache des Wortes „now“ als Schlüsselmoment der Übung. Eine Fotografie zeigt die Nahaufnahme des Gesichts der jungen Frau, die im Heft „B“ verkörpert, während sie mit dem Mund überdeutlich das Wort „now“ formuliert (Abb. 38). Herausgehoben wird die Formulierung des Signalworts nicht bloß durch den Fokus auf das Gesicht und vor allem den Mund, sondern auch durch die Position der Fotografie auf der Doppelseite: Sie wird auf der rechten Seite im Vergleich zu dem darüber ordentlich im Raster des Seitenlayouts positionierten Bild deutlich nach unten und rechts außen verschoben und somit auch aus dem Verlaufsgefüge des einzelnen Übungsteils gelöst. Dass Comfort Zones die beiden Interpreten in einem Ausdauer erfordernden Prozess eng aufeinander bezieht, macht Kaprow mit einer weiteren Bildstrecke deutlich. Neben den Text, in dem beschrieben wird, wie die Interpreten sich auf Stühlen und bei ständigem Blickkontakt einander nähern sollen, platziert Kaprow drei Fotografien (Abb. 39). Die erste zeigt das Duo aus einigen Metern Entfernung einander gegenüber auf Stühlen sitzend, die Hände schon angelegt, um diese nach
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
40 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
vorn zu rücken, ohne den Blick voneinander abzuwenden. Im Prinzip hätte dieses Bild genügt, um die Aufgabe zu illustrieren, oder Kaprow hätte die Perspektive beibehalten und in zwei weiteren Bildern schlicht und ergreifend die sukzessive Annäherung verbildlichen können. Stattdessen aber kombiniert er das erste Bild mit zwei ganzfigurigen Ansichten der beiden Interpreten aus deutlich geringerem Abstand. Der Betrachter wird so in ein regelrechtes Blickduell involviert, der konfrontative Aspekt hervorgehoben. Gleiches wiederholt sich auf der folgenden Doppelseite (siehe Abb. 35). Kaprow belässt es nicht bei einer gleichberechtigten respektive neutralen Ansicht, die zeigt, wie die beiden Partner im Sitzen die Hände aneinanderlegen, sondern intensiviert diesen Moment der Berührung, indem er zwei Bilder hinzufügt, die abermals den Blick ins Gesicht der ernsthaft konzentrierten Interpreten erlauben. Den Abschluss der
Broschüre bildet die letzte Einzelseite des Hefts mit zwei übereinander platzierten Fotografien (Abb. 40). Sie folgen auf den Text, der dazu anleitet, dass beide Partner erstmals ihre kompletten Körper aneinanderdrücken, den Druck zu- und abnehmen lassen und „jetzt“ sagen, wenn das Empfinden der Veränderung besonders stark ist. Diese Aufgabenstellung lässt sich kaum durch Bilder explizieren. Kaprow scheint sich dementsprechend geradezu für eine entgegengesetzte Strategie entschieden zu haben: Er verdichtet die vielfältigen Implikationen dieser letzten Übung schrittweise zu einem einprägsamen und atmosphärisch dichten Bild. Er zeigt zunächst, wie die Partner aufeinander zugehen, dann auf der letzten Seite, wie sich ihre Körper auf ganzer Länge berühren – und fügt dem als Schlusspunkt einen Ausschnitt eben jenes ‚Standbildes‘ hinzu, das die beiden Köpfe im Profil nah heranholt. „A“ hat das Kinn leicht nach oben
Comfort Zones: Annäherung der Körper und Synchronität der Gedanken
gestreckt und sachte an der Stirn von „B“ platziert, ohne dass seine Lippen diese berühren würden. Beide haben die Augen geöffnet, scheinen aber ins Leere respektive nach innen zu blicken. Die Lippen sind leicht geöffnet, als könnte ihnen gerade Atem ebenso wie ein hingehauchtes „now“ entweichen. So endet die Broschüre Comfort Zones mit einem Bild, das Intimität als ein Verhältnis der Vertrautheit zwischen zwei Menschen zeigt, die sich ihrer selbst bewusst sind. Deutlich zeichnen sich ihre Profile vor dem weißen Hintergrund ab und berühren sich lediglich an einem einzigen Punkt. Da die schriftliche Anleitung nicht näher spezifiziert, wie hier zwei Körper aneinandergedrückt werden sollen, ist es durchaus denkbar und vielleicht sogar praktikabler, diese Berührung in der performativen Umsetzung als Umarmung zu realisieren. Gewählt wurde dennoch ein Bild, das Nähe, nicht aber einen Akt der Verschmelzung zeigt. Der gezielte Einsatz von Nahaufnahmen wird auch im Film zu Comfort Zones augenfällig.10 Kaprow, der im Vorfeld ein sehr detailliertes „Shooting script“ anfertigte (Abb. 41), lässt darin mehrfach in lediglich sekundenlangen Einstellungen auf eine Gesamtansicht beider Interpreten eine Nahaufnahme folgen, die mitunter noch extremer ausfällt als diejenige in der Broschüre. So holt Kaprow beispielsweise das Gesicht der Interpretin beim Aussprechen des Worts „now“ so nah heran, dass Kinn und Stirn sogar angeschnitten werden, und gibt ein Close-up der aneinandergepressten Hände zu Teil 6 der Übung. Die Szene auf beiden Seiten der verschlossenen Tür wird durch Nahaufnahmen der tastenden Hand und der Mimik des intensiven Horchens in ihrer Wirkung ebenso gesteigert wie die Schlusseinstellung (Abb. 42). Die fotografischen und filmischen Bilder, die Kaprow zu Comfort Zones produzierte, entbehren jeglichen Ausdrucks heftiger Affekte, verdichten aber in der Zusammenschau den Eindruck von psychischer Intensität. Sie kennzeichnen das Unterfangen dieser Übung als eines, das Ernsthaftigkeit, 10 Womöglich hatten in diesem Fall sogar spezifische Qualitäten des Mediums Film Einfluss auf die Produktion der Fotografien. In der Broschüre setzt Kaprow mehrfach drei Fotografien so untereinander, dass die obere und untere vom Rand des Hefts leicht angeschnitten werden. Die so gestaltete Seite lässt vage an einen Filmstreifen denken und suggeriert, dass hier eine Bilderfolge vor den Augen des Betrachters langsam abläuft.
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41 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Shooting Script für den Film zur Activity, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26.
42 Allan Kaprow, Comfort Zones, 1975, Standbild aus dem Film, 16mm, 17:10 Minuten, s/w, produziert mit der Galeria Vandrès, Madrid, aufbewahrt in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Films, Videos and Audio Tapes, Box 98, F 48.
Selbstbeobachtung sowie Konzentration erfordert, weil die Sphäre der Intimität mit jenen vielfach abgestuften, oftmals diffusen und wechselhaften „Grauzonen des Fühlens“11 korreliert, deren performative Erforschung Kaprow sich mit seinen Activities zur Aufgabe gemacht hatte.
11 Siehe Kap. „Potential der Grauzone: Die Activities“.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
Routine: Beziehungen am Telefon Wenn Intimität als Sphäre und Atmosphäre der Nähe und Vertrautheit begriffen wird, die herzustellen und aufrechtzuerhalten von den Beteiligten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, Sensibilität und Einfühlungsvermögen verlangt, dann gilt dies für das Telefongespräch mit einem Freund oder Partner im Besonderen. In der Zeit um 1970, in der der private Telefonanschluss in amerikanischen Haushalten bereits standardmäßig vorhanden war, schuf das Telefon neuartige Möglichkeiten, auch über größere Distanzen hinweg Beziehungsgespräche zu führen, die Körperlichkeit des anderen wahrzunehmen und miteinander intim zu werden.12 In mehreren Activities finden sich, wie in Comfort Zones, Übungseinheiten, in denen die Interpreten lediglich über das Telefon miteinander verbunden sind. Die Interpreten der Activity Loss (P4) wurden beispielsweise aufgefordert, Wasser zu trinken und Wasser zum Kochen zu bringen sowie darauf zu warten, bis ersteres als Urin wieder ausgeschieden wird und letzteres verdunstet ist. Die Flüssigkeitsmengen sollten jeweils gemessen werden, um dann einen anderen Teilnehmer anzurufen und ihm mitzuteilen, „das gleiche zu tun“.13 Zudem konnte der Interpret Anrufe mit entsprechenden Aufträgen erhalten, musste dann also erneut eine bestimmte Menge Wasser trinken oder dem kochenden Wasser im Topf hinzufügen. Loss wurde anlässlich eines Besuchs von Kaprow in New York von vierzehn Personen realisiert, die einander bekannt, zum Teil auch miteinander befreundet waren. In einer kurzen Vorbesprechung einigte man sich darauf, die Umsetzung auf die Dauer von drei Stunden zu begrenzen, um sich danach
12 Die Zahl der privaten Telefonanschlüsse in den Vereinigten Staaten erhöhte sich zwischen 1946 bis 1979 von 19,6 auf 107,1 Millionen. Vgl. Boy Lüthje, Die Neuordnung der Telekommunikationsindustrie in den USA. Krise fordistischer Akkumulation, Deregulierung und Gewerkschaften, Wiesbaden 1993, S. 145. Martin Mayer gibt 1977 an, nahezu 95% aller amerikanischen Haushalte seien inzwischen mit einem Telefon versehen. Vgl. Martin Mayer, „The Telephone and the Uses of Time“, in: The Social Impact of the Telephone, hg. von Ithiel de Sola Pool, Cambridge, MA, und London 1977, S. 225–245, hier S. 226. 13 P4: Allan Kaprow, Partitur Loss, 1973, Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20.
zum Abendessen wiederzutreffen. Im Unterschied zu den meisten anderen Activities, in denen immer nur zwei Personen miteinander interagierten, durften innerhalb dieser drei Stunden alle Interpreten miteinander telefonieren. „Trinken, kochen, urinieren, telefonieren“, wie in der Partitur aufgelistet, wurden als stete Parallelprozesse von der gesamten Kleingruppe am Laufen gehalten. Der Akt des Telefonierens wirkte dabei einerseits als Beschleuniger: Andauernd klingelte das Telefon; Leitungen waren besetzt; ständig wurden neue ‚Wasserstände‘ gemeldet und forderten eine Reaktion; das Ende der Aktion, das im Booklet mit „bis die Blase leer ist, bis der Topf leer ist“ angegeben ist, wurde immer weiter hinausgezögert. Andererseits bot sich die Möglichkeit, über das Telefonieren die Gleichbehandlung aller Teilnehmer zu manipulieren, andere Personen also auf einen Anruf warten zu lassen oder absichtlich übertriebene Wassermengen mitzuteilen, um die Person am anderen Ende der Leitung in Verlegenheit zu bringen. Im Unterschied zu manchen Werken der Pop Art, die den Telefonapparat als nahezu fetischartiges Objekt inszenierten und als omnipräsenten Gegenstand dem Bestand der in der Kunst darstellungswürdigen Objekte hinzufügten, untersuchte Kaprow das Telefonieren als neuartige kommunikative Praxis, deren Konturen um 1970 in den Vereinigten Staaten gerade erkennbar wurden, da sich das Telefonieren hier besonders schnell als eine der wichtigsten Kommunikationsformen etablieren konnte.14 Dies lag auch darin begründet, dass es sich als kompatibel mit der amerikanischen Kommunikationskultur erwies, die einseitige Kommunikation ablehnte, Schnelligkeit und direkte Rückfragemöglichkeit schätzte und im geschäftlichen wie gesellschaftlichen Umgang informellere und individuellere Kommunikationsweisen erlaubte.15 Der private Telefonanschluss ermöglichte es, auch banale Informationen einem räumlich Abwesenden direkt mitzuteilen, sofort Antwort zu erhalten und auf diese wiederum reagieren zu können. Über das Telefon konnte eine intime Gesprächssituation 14 Vgl. Werner Rammert, „Wie das Telefon in unseren Alltag kam… Kulturelle Bedingungen einer technischen Innovation und ihrer gesellschaftlichen Verbreitung“, in: Telefonieren, hg. von Jörg Becker, Marburg 1989 (Hessische Blätter für Volksund Kulturforschung, 24), S. 77–87, hier S. 83. 15 Vgl. ebd, S. 86.
Routine: Beziehungen am Telefon
hergestellt werden, ohne dass einer der beiden Gesprächspartner hierfür die geschützte Atmosphäre seiner privaten Wohnung verlassen musste. Während des Telefonierens konnte man – sofern nicht eine dritte Person mit im Raum war – unbeobachtet bleiben und sogar während des Sprechens anderen Tätigkeiten nachgehen. Im Unterschied zum Briefeschreiben konnten sich die Partner bei einem Telefongespräch, so formulierte Dieter Wellershoff 1980, „wechselseitig anregen, ergänzen und korrigieren und so einen Prozess in Gang bringen, der ständig unvorhersehbare Wendungen durchlaufen kann.“16 Dabei konnten die Gesprächsinhalte sogar irgendwann in den Hintergrund treten, weil stattdessen das gemeinsam im Fluss gehaltene Sprechen vorrangig dazu diente, das Gefühl gemeinsam erlebter Präsenz und besonderer Vertrautheit aufrecht zu erhalten. „Im uferlosen Gespräch“, schrieb Wellershoff, „übersteigt das Telefon seine ursprüngliche Bestimmung als ein Instrument der raschen, sachlichen Information und wird zu einem virtuellen Raum der Intimität.“17 Flatrate-Tarife für Ortsgespräche erlaubten in den Vereinigten Staaten der 1970er-Jahren zunehmend exzessiv ausgedehnte oder den häuslichen Alltag beständig durchschießende Telefongespräche mit Liebespartnern, Freunden und Bekannten.18 In seinem Lied New York Telephone Conversation, erschienen auf dem Album Transformer im Jahr 1972, verewigte Lou Reed die typischen Versatzstücke eines Telefongesprächs der New Yorker Kunst- und Partyszene: Es geht um Klatsch und Gerüchte, die Frage, wohin man am Abend ausgeht und was man anzieht, darum, wer reüssieren konnte und wer sich blamiert hat. Das Telefon ermöglicht hier eine Verlängerung, Nach- und Vorbereitung der Partygespräche, es verstrickt die Akteure eines sozialen Netzwerks in immer engere Feedbackschleifen, indem es die Pausen zwischen 16 Dieter Wellershoff, „Singlegespräche oder der Gesang der Sirenen“, in: Mensch Telefon, hg. von Margret Baumann und Helmut Gold, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main, Museum für Kommunikation, 2000, S. 157–159, hier S. 158. Das Material dieses Textes basiert auf Wellershoffs Novelle Die Sirene von 1980. 17 Ebd. 18 Mayer gibt 1977 an, dass rund 90% der Haushalte mit Telefonanschluss vom sogenannten „flat-rate-service“ profitieren, also eine monatliche Gebühr für Ortsgespräche zahlten. Vgl. Mayer 1977, S. 226.
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den Begegnungen füllt – so wird der Sprecher am Beginn des Songs gar von einem Anruf aus dem Schlaf gerissen. Dennoch entlarvt Reed nicht einfach nur das Telefon als Katalysator oberflächlicher Gesellschaftskommunikation und gemeinsamer Selbstbespiegelung, sondern schält schließlich auch heraus, dass das Geplapper am Telefon letztlich der Angst vor der Einsamkeit entspringt: „I am calling, yes I’m calling just to speak to you. For I know this night will kill me, if I can’t be with you.“ Von der Banalität des Geredes springt Reed direkt zur Großstadtnacht als Bedrohung der Existenz, sofern man sie denn allein verbringen muss. Die Stimme und den Atem am anderen Ende der Leitung zu hören, wird zur lebensrettenden Maßnahme. Loss verknüpft das Telefonieren im Freundesund Bekanntenkreis mit häuslichen Tätigkeiten und körperlichen Vorgängen. Es wird als organischer Bestandteil des sich selbst verzehrenden alltäglichen Lebens behandelt, in dem sich die immer gleichen Handgriffe, Gespräche und Haushaltsarbeiten wiederholen, zugleich der Körper beständig vor sich hin wirtschaftet. Allerdings hat – im Unterschied zum Kochen und Urinieren – das Telefonieren immer automatisch Anteil an den häuslich-körperlichen Kreislaufsystemen zweier Personen und schließt somit kurz, was eigentlich parallel läuft. Loss betont diese Eigenart des Telefonierens und seine möglichen Konsequenzen, indem es die bekannten inhaltlichen Elemente solcher Telefongespräche – wie das Verbreiten von Klatsch, Nacherzählen alltäglicher Begebenheiten, Berichte über Befinden und Vorhaben – durch die abstrakte Übermittlung simultan ablaufender häuslicher und körperlicher Tätigkeiten ersetzt. Während die im Zuge der Realisierung von Loss geführten Gespräche dadurch gerade nicht mehr die Spontaneität, Vertrautheit und Ungezwungenheit der außerhalb dieser Activity geführten Telefonate im Freundeskreis haben, wird deren Charakteristik performativ abstrahiert: Wie das Gespräch im Fluss gehalten wird, um sich gegenseitig des tagtäglichen Überlebens zu versichern, fügen die Interpreten dem Körper und dem Topf immer wieder Wasser hinzu, überwachen dessen Verwandlung und Verschwinden, scheiden Wasser aus. Die bloß in übertragenem Sinne fluide Qualität des durchs Kabel geschickten Gesprächs, das immer wieder neu entspringt und vor
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
sich hin sprudelt, keine feste Gestalt annimmt und über das Ohr in die Körper, Seelen und Betriebsabläufe der Beteiligten einsickert, wird hier wörtlich genommen und in einer künstlichen Situation regelrecht gehandhabt und körperlich erfahrbar gemacht. Andere Activities von Kaprow rücken das Telefonat als Zwiegespräch und Teil der intimen Kommunikation in den Mittelpunkt. Satisfaction (Abb. 43) beginnt mit vier Kürzesttelefongesprächen der Interpreten, die lediglich aus einem Satz bestehen, der mit bestätigenden oder ablehnenden Lauten beantwortet wird (P5).19 Mit den vier Sätzen werden Formulierungen durchdekliniert, die allein den Akt des Anrufens als Anzeige einer gedanklichen Verbindung und Beweis der Zuneigung auszeichnen. Beim ersten Anruf reicht hierfür noch das bloße Nennen des Namens („Hier ist…“), der zweite Anruf wird begründet mit „Ich habe gerade an dich gedacht“, beim dritten Anruf wird die rhetorische Frage „Weißt du, wie sehr ich an dich denke“ formuliert, beim vierten Anruf mit dem Satz „Du musst bestimmt gerade an mich denken“ schließlich schon eine Erwiderung gefordert. Der jeweils Angerufene entscheidet selbst, ob er auf den Satz mit einem zustimmenden „mh-hm“ oder mit einem ablehnenden „mh-mh“ reagiert.20 Kaprows Skript für diesen telefonischen Wechselgesang, der zugleich als Aufwärmübung für die anschließenden, titelgebenden Befriedigungsszenarien dient, wirkt bei genauer Betrachtung wie ein Kondensat jener Daten, die in den 1970er-Jahren von den ersten Vertretern der Konversationsanalyse erhoben wurden. Im Anschluss an Erving Goffmans Studien zur sozialen Interaktion und Harold Garfinkels ethnomethodologischen Ansatz entdeckte beispielsweise Emanuel Schegloff schon früh, dass sich die Erforschung von Telefongesprächen für die Konversationsanalyse fruchtbar machen ließ. Hierfür wurden Telefongespräche aufgezeichnet, transkribiert und dann auf wiederkehrende Strukturen hin untersucht.21 Diesen 19 P5: Allan Kaprow, Partitur Satisfaction, 1976, publiziert in gleichnamiger Broschüre (27,9 × 21,5 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, in Zusammenarbeit mit M. L. D’Arc Gallery, New York City, und Anna Canepa, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27. 20 Ebd. Im Original: „A, replying: unh-hunh (or) uhn-uhn.“ 21 Die Forschung konzentrierte sich zunächst auf die Innovationsund Technikgeschichte des Telefons, so etwa John Brooks, Telephone. The first hundred years, New York 1975. Ab 1970
Aufwand musste Kaprow nicht betreiben, um seine kleine Telefonnummer für Satisfaction zu entwickeln – aber es ist zu vermuten, dass er mit ähnlichem Interesse seine eigenen und die Telefonate seiner Mitmenschen beobachtete. Im Unterschied zum Wissenschaftler, der den Menschen am Telefon ihre Formulierungen und Vermittlungsbemühungen ablauscht, um sie dann minutiös zu analysieren, in Formeln zu strukturieren und zu kommentieren, übersetzte Kaprow seine Beobachtungen wiederum in ein Übungsformat, das den Interpreten Gelegenheit bot, ohne weitere Zuhörer spielerisch Gestaltungsspielräume und Gelingensbedingungen einer bestimmten Telefonsituation miteinander durchund aufzuführen. Die extreme Verdichtung der Gespräche auf ihr Grundgerüst und vokale nonverbale Äußerungen legt offen, wie implikationsgesättigt und deshalb missverständlich und manipulationsanfällig schon die kleinsten Versatzstücke einer intimen Konversation am Telefon sein können. Allein die Schwierigkeit, „mh-hm“ oder „mh-mh“ über das Telefon so klar zu prononcieren, dass der Partner den Grad der Zuneigung richtig deuten kann, birgt je nach Auffassung und Ausgangssituation dramatisches wie komödiantisches Potential. Das intime Telefonat mit seinen subtilen Zuneigungsbekundungen wird in der Activity als gekonnte, die Fallstricke und Unzulänglichkeiten mitspielende Performance aufbereitet. Schon früh in seiner Geschichte wurde das Telefon „libidinös besetzt“, imaginierte man also seinen Einsatz für eine „Fernverständigung in Liebesdingen“.22 Die positiven wie negativen Auswirkungen des Telefongesprächs auf die Gestaltung von intimen Beziehungen waren um 1970 ein präsentes Thema nahm allerdings auch die eher soziologisch orientierte Erforschung des Telefons und des Telefonierens Fahrt auf, siehe beispielhaft den Sammelband The Social Impact of the Telephone, hg. von Ithiel de Sola Pool, Cambridge, MA, und London 1977. Zum Telefongespräch als Gegenstand der Konversationsanalyse siehe Emanuel A. Schegloff, „Identification and Recognition in Interactional Openings“, in: ebd., S. 415–450. In der Nachfolge von Schegloff und seinen Kollegen Harvey Sacks und Gail Jefferson steht Robert Hopper, Telephone Conversation, Bloomington 1992. 22 Marli Feldvoß, „Telefon und Kino. Vom gemeinsamen Ursprung zur idealen Partnerschaft“, in: Mensch Telefon, hg. von Margret Baumann und Helmut Gold, Ausst.-Kat. Frankfurt am Main, Museum für Kommunikation, 2000, S. 199–213, hier S. 199.
Routine: Beziehungen am Telefon
43 Allan Kaprow, Satisfaction, 1976, D’Arc Gallery, New York und Anna Canepa, Cover der Activity-Broschüre, Fotografie: Bee Ottinger.
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und wurden besonders in romantischen Filmen facettenreich durchgespielt. Ermöglichte das Telefon einerseits eine Ausdehnung des intimen Zwiegesprächs, erwiesen sich doch bestimmte Eigenschaften des Telefonats für die romantische Interaktion als problematisch: Zum einen musste aufgrund des fehlenden Augenkontakts und der körperlichen Distanz über lautliche Signale die Authentizität des Gesagten und volle Aufmerksamkeit des Gesprächspartners sichergestellt werden, zum anderen konnte sich die mit dem Telefonapparat potentiell gegebene ständige Erreich- und Verfügbarkeit als Fluch entpuppen. Das quälende Warten auf den Anruf des Geliebten, die Empörung darüber, dass die Angerufene den Hörer nicht abhebt, das Hadern, wann der richtige Zeitpunkt für einen Rückruf gekommen ist, die permanente Sorge, im entscheidenden Moment nicht erreichbar zu sein und so die erhoffte Liebeserklärung zu verpassen – das Telefon brachte einen neuen Rhythmus in die zeitliche Ordnung romantischer Anbahnungen. Das klingelnde Telefon als Folterinstrument und Heilsversprechen inszenierte Kaprow in der Activity Message Units (P6).23 Zwei Personen halten sich an zwei unterschiedlichen Orten auf, sollen in der Nacht nach und nach vier Glühbirnen zum Leuchten bringen und diese bei Tag nach und nach wieder ausschalten. Eine Person übermittelt dem Partner über das Telefon, dass sie die erste Lampe angeschaltet hat, woraufhin dieser das gleiche tut. Der räumlich getrennt stattfindende gleiche Vorgang wird also über das Telefon mit zeitlicher Verzögerung parallelisiert. Künstlich in die Länge gezogen wird das Erhellen der Nacht allerdings dadurch, dass die Interpreten das Telefon bei jedem Anruf etwas länger läuten lassen, bevor sie abheben. Laut Anleitung soll das Telefon beim letzten Anruf ganze achtzig Mal klingeln, bevor abgehoben wird – zweifelsohne eine Aufgabe, deren Ausführung einige Überwindung kostet und das Reaktionsgebot des Apparats feinsäuberlich herauspräpariert. Abermals setzt Kaprow in Message Units das Telefon ein, ohne dass tatsächlich auch das Führen 23 P6: Allan Kaprow, Partitur Message Units, 1972, Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20. Die Activity wurde im Februar 1972 am CalArts sowie im Mai des gleichen Jahres an der State University of Illinois realisiert.
eines Telefongesprächs vorgesehen ist. Es entsteht eine Situation, in der das Telefon auf einmal wirklich zwischen den menschlichen Akteuren steht, einen Abstand anzeigt und über die Zeit verfügt. Auf andere Weise befasst sich Routine (P7) damit, wie beim Telefonieren zugleich räumlich-physische wie zwischenmenschliche Distanz ab- oder aufgebaut wird. Routine wurde im Dezember 1973 in Kooperation mit dem Portland Center for the Visual Arts in Oregon realisiert und besteht aus fünf Teilen, von denen drei Telefonate enthalten.24 Die erste dieser Telefonübungen lautet: phoning a friend saying something asking that it be repeated hearing the reply holding the phone at arm’s length saying something else asking that it be repeated listening for the reply stepping away from the phone a bit saying something else a bit louder asking that it be repeated listening for the reply moving off farther and farther each time saying something more loudly asking that it be repeated listening for the reply (asking again that it be repeated if one can’t hear) until it’s impossible to hear Das Telefonat besteht hier lediglich aus der Wiederholung ein- und derselben Formulierung, die von den beiden Interpreten selbst gewählt werden kann. Der Inhalt des Gesagten ist irrelevant, denn es geht abermals um ein Element der wiederkehrenden Struktur intimer Telefonate: Die direkte Wiederholung von 24 P7: Allan Kaprow, Partitur Routine, 1973, publiziert in gleichnamiger Broschüre (27,9 × 21,5 cm) von 1975 mit Fotografien von Alvin Comiter, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24. Laut Broschüre nahmen rund zwanzig Paare teil. Die folgenden Zitate sind der Partitur laut Broschüre entnommen.
Routine: Beziehungen am Telefon
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44 Allan Kaprow, Routine, 1973, Doppelseite aus der Activity-Broschüre, Fotografien: Alvin Comiter.
Gesprächsteilen fungiert oftmals als Bestärkung des anderen, hält das Gespräch im Fluss und dient der Überprüfung, ob man den anderen richtig verstanden hat. Kaprow reduziert dieses Element in seiner Anleitung so stark, dass das von den Interpreten geführte Gespräch an die Kommunikation über Funkgeräte erinnert, bei der die ständige wechselseitige Wiederholung des gleichen Wortes nur noch dazu dient, zu bestätigen, dass der Funkkontakt überhaupt korrekt funktioniert und aufrechterhalten werden kann. Die Interpreten von Routine schaffen absurderweise selbst widrige Bedingungen für ihr Telefonat, indem sie sich immer weiter vom Hörer entfernen, bis sie einander nicht mehr verstehen können (Abb. 44). Das immer schwächer werdende Echo konterkariert die Überwindung der räumlichen Entfernung, die das Telefon als Kommunikationsmedium eigentlich auszeichnet. Mit diesem performativen Kniff wird infrage gestellt, ob das Telefon per se zwei Menschen einander näherbringt – und Distanz in umfassenderem Sinne ermessen. Im vierten Teil
von Routine wird diese erste Übung variiert. Diesmal geht es darum, eine Formulierung am Telefon nicht abwechselnd zu wiederholen und sich dabei vom Hörer zu entfernen, sondern sie so oft gleichzeitig auszusprechen, bis dies „nicht länger möglich ist“. Die Anleitung hierzu besagt: phoning a friend saying something repeating it once or twice saying “OK, now let’s say it together” saying it, together, again and again until no longer possible being phoned by a friend hearing something said once or twice being asked to repeat it together saying it, together, again and again until repeating is no longer possible.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
45 Allan Kaprow, Routine, Doppelseite aus der Activity-Broschüre.
In einer Gegenbewegung zur ersten Übung am Telefon werden die beiden Telefonpartner hier also möglichst eng aneinander gebunden, ihre Stimmen regelrecht miteinander verwoben. Das Telefongespräch wird dem Dialogprinzip enthoben, gleichsam von der Übermittlungsfunktion bereinigt und in eine Art Mantra überführt, mit dem bis zur Erschöpfung ein Zugleich-Sein der Partner hergestellt wird. Der darauffolgende fünfte Teil der Übung kombiniert den Gebrauch des Telefons mit dem eines Spiegels (Abb. 45). Die Aufgabe besteht darin, mithilfe eines Taschenspiegels die eigenen Augen und den eigenen Mund zu betrachten und dem Partner am Telefon zu beschreiben. Nachdem dies wechselseitig erfolgt ist, sollen beide jeweils mit aufgesperrtem Mund in den Spiegel starren. Die Activity endet mit einem ‚Duell‘, das an ein bekanntes Kinderspiel erinnert: Wer zuerst blinzelt oder den Mund schließen muss, soll den Telefonhörer auflegen und das Gespräch beenden:
looking at one’s eyes and mouth in a pocket mirror describing them to a friend on the phone friend doing same each staring at his/her reflected eyes without blinking staring at his/her opened mouth without closing it saying nothing hanging up when the eyes must blink when the mouth must shut. Diese dritte Telefonübung hinterfragt abermals das dialogische Prinzip des Telefongesprächs. Diesmal wird zwar tatsächlich geredet, aber nicht unbedingt miteinander. Stattdessen werden zwei Selbstgespräche, wörtlich sogar Selbstbespiegelungen, durch das Telefon geschickt. Der jeweils andere ist lediglich
Affect: Aufnehmen, Verfremden, Kommunizieren
Zuhörer und nimmt eine Rolle ein, die in gewisser Hinsicht an einen Therapeuten erinnert, indem seine schiere Anwesenheit am anderen Ende des Telefons den anderen dazu motiviert oder auch diszipliniert, eine Selbstbefragung nicht nur still vorzunehmen, sondern auch tatsächlich zu verbalisieren und auszusprechen. Das spielerische Duell am Ende lässt aber auch eine andere, deutlich ironischere Interpretation zu: Jeglichen Inhalts entleert zwingen die Partner einander, in einer Endlosschleife der miteinander kurzgeschlossenen Selbstbespiegelung auszuharren. Sie starren sich selbst an, stumm über einen Apparat verbunden, bis einer sich selbst aus dem Spiel nimmt.
Affect: Aufnehmen, Verfremden, Kommunizieren Ebenso wie das Telefon kommt in den Activities auch das tragbare Tonbandgerät gleich mehrfach zum Einsatz. Es wird bei Kaprow weder mit einem technophilen Interesse noch mit einem experimentell medienkünstlerischen Ansatz behandelt. Wie beim Telefon handelt es sich auch bei dem Tonbandgerät respektive Kassettenrekorder um eine Technologie, deren Gebrauch um 1970 zwar Aktualität hatte, aber doch schon im Begriff war, alltäglich und intuitiv zu werden.25 Als Taktgeber, Protokollinstanz, Distanzierungsmittel und Kommunikationsassistent hat das Tonbandgerät, mit dem Audiosignale in guter Qualität aufgezeichnet und auch wieder abgespielt werden können, für viele der Übungen insofern instruktiven 25 Dies unterscheidet Kaprows Umgang mit Medien von den zeitgleich stattfindenden Vorstößen der Künste in den Bereich der Informations- und Computertechnologie und entsprechende Versuche, diese im Hinblick auf künftige Einsatzmöglichkeiten mitzugestalten. Solcherart interaktive, mit Prozessoren und Programmierung arbeitende Kunst war (unter anderem) 1970 in der von Jack Burnham kuratierten Ausstellung Software. Information technology: its new meaning for art zu erleben. Auch Kaprow war Teil dieser Ausstellung, allerdings mit der Arbeit Work, die sich mit Wertschöpfungsprozessen und Marketing beschäftigte. Live-Video-Übertragung und Werbeanzeigen sollten hierbei so eingesetzt werden, dass das Streichen einer Wand einzig dem Zweck diente, dass verschiedene Institutionen und Personengruppen (Sponsoren, Malerfirmen, Kinobetreiber, Ausstellungsinstitution) für sich Werbung machen konnten. Siehe Software. Information technology: its new meaning for art, hg. von Jack Burnham und Karl Katz, Ausst.-Kat. New York, The Jewish Museum, 1970.
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Charakter, als es die Interpreten zu einer wechselseitigen Vermittlung von Selbst- und Fremdwahrnehmung motiviert.26 Die für zwei Personen konzipierte Übung Affect (P8), die im Oktober 1974 in Kooperation mit der Galleria Martano in Turin realisiert wurde, besteht aus drei Teilen, in denen die beiden Interpreten zunächst ihre Hände, dann den ganzen Körper mithilfe von Wasser aufwärmen und abkühlen sollen.27 Mit dem Einsatz von Tonbandgeräten wird dieser Vorgang nach und nach vom Bereich individueller Körpererfahrungen in den zwischenmenschlicher Beziehungen übertragen. Den ersten Teil von Affect setzen beide Teilnehmer getrennt voneinander zu Hause um. Sie halten jeweils eine Hand in kaltes, die andere in heißes Wasser, lassen sie danach an der Luft trocknen und sprechen die „Gefühle“28, die sie dabei haben, auf Band. Danach treffen sich die beiden Interpreten, um sich zunächst gegenseitig ihre Aufnahmen vorzuspielen. Dann hält Person B zunächst ihr Gesicht in heißes Wasser und trocknet es anschließend vor einem Ventilator, dann in kaltes Wasser, um es anschließend mit einem Föhn zu trocknen. Person A hingegen hat die Aufgabe, während dieses Vorgangs ihre „Gefühle für B“ auf Band zu sprechen. Abermals hören beide 26 Die Verwendung von Aufnahmegeräten ist neben der im Folgenden behandelten Arbeit Affect für diese Activities vorgesehen: Time Pieces, Useful Fictions, Rates of Exchange, Take-off, Coryl’s Birthday Piece. Bereits in der kleinen Arbeit Purpose, die Teil der 1969 von Kaprow in Berkeley für das Projekt Other Ways konzipierten Six Ordinary Happenings war, kam ein Aufnahmegerät zum Einsatz – allerdings noch nicht, um die Teilnehmer zur Aussprache zu bewegen, sondern um die Geräusche eines Produktionsprozesses aufzuzeichnen und zugleich das Fehlen eines Kunstobjekts zu betonen. Der Interpret wird hier zum Vermittler zwischen Materialisierung und Dematerialisierung. Die Anleitung zu Purpose lautet: „Making a Mountain of Sand / Moving it repeatedly / until there is no mountain / Recording the work sounds / Rerecording them / until there is no sound of work / Listening to the tapes.“ 27 Die Galerie, damals wichtiger Treffpunkt der avantgardistisch gesinnten Turiner Kunstkreise, existiert heute nicht mehr. In einer E-Mail bestätigte die Galeristin Liliana Dematteis der Verfasserin, dass Affect dort tatsächlich von mehreren Paaren realisiert wurde und wohl auch noch Tonbänder mit Aufzeichnungen existieren. Leider brach der Kontakt danach krankheitsbedingt ab und die Verfasserin hat bislang keinen Zugang zu diesem Material erhalten. 28 Im Original: „feelings“. P8: Allan Kaprow, Partitur Affect, 1974, publiziert in Englisch und italienischer Übersetzung in der Broschüre 2 Measures (33,8 × 24,5 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Martano Editore, Turin.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
danach zusammen die Aufnahme an. Der dritte Teil beginnt damit, dass Person A nun ihre Hand in kaltes Wasser hält und danach die Hand von B drückt, diesmal Person B ihre „Gefühle für A und B“ auf Band spricht. Zuletzt stellt Person A sich mit ihrem ganzen Körper unter heißes Wasser, drückt sich danach an den trockenen Körper von B und beide warten, bis die Körper wieder getrocknet sind. Währenddessen spricht Person B abermals die „Gefühle für A und B“ auf Band und zum Schluss werden die Aufnahmen gemeinsam angehört. Es fällt auf, dass Kaprow das Tonbandgerät nicht einsetzt, um ein hörbares Geschehen aufzuzeichnen. Der Rekorder läuft nicht einfach mit, sondern er zieht überhaupt erst etwas hervor, das aufgenommen werden kann. Einmal eingeschaltet, übernimmt das Gerät die Rolle des neutralen Zuhörers und fordert mit Präsenz und leisem Betriebsgeräusch dazu auf, ad hoc auszusprechen, was man empfindet. Dabei gibt das Tonband beziehungsweise die Kassette auch eine Zeitdauer vor, welche nicht zwangsweise ausgeschöpft werden muss, aber zumindest als Erwartungsraum wirkt. Die Aufnahmesituation macht den entscheidenden Unterschied: Es geht nicht nur darum, Aufmerksamkeit und Selbstbeobachtung zu üben, sondern um Versprachlichung. In der hörbaren Aussprache erst werden Körperwahrnehmung, Empfindungspartikel, diffuse Stimmungen oder gedankliche Abschweifungen benannt, verknüpft, reflektiert und vielleicht sogar in eine Erzählung gebracht. Der Versprachlichungsdruck wird noch erhöht durch das Wissen um die spätere Veröffentlichung der Aufnahme vor dem Partner. In den mehrfach erfolgenden Aufnahme- und Abspielsitzungen wird eine Situation hergestellt, die einem moderierten Gespräch (oder einer Paartherapiesitzung) durchaus vergleichbar ist – bloß ist der Dritte eben ein Gerät, dessen Vermittlungsleistung darin besteht, Reflexionen zu motivieren, zu speichern und dann mit zeitlicher Verzögerung zur Wiedervorlage zu bringen. Im zweiten und dritten Teil der Übung kommt es allerdings zu einer seltsamen, asymmetrischen Aufgabenverteilung: Eine Person macht die körperliche Erfahrung, während die andere ihre Gefühle für den Partner und die Beziehung zueinander formulieren soll. Wer Affect interpretiert, stolpert zunächst über diesen Teil der Anleitung, weil der Beginn suggeriert, man habe es
mit einer Körperbewusstseinsübung zu tun, wie sie damals vor allem in Kalifornien vielerorts praktiziert wurden. Tatsächlich geht es aber darum, Wärme und Kälte, Nässe und Trockenheit von der Körper- auf die Emotions- und Beziehungsebene zu übertragen. Wer dem Skript folgt, der findet sich bald gezwungen, eine kreative Transferleistung zu vollbringen. Vergleichsweise leicht wäre es, schlichtweg zu beschreiben, was der andere beim Vollzug der körperlichen Übung tut oder wie man sich selbst dabei fühlt. Stattdessen wird aber gefordert, darüber nachzudenken, inwiefern die Gefühle für die andere Person als warm oder kalt, die gemeinsame Beziehung als nasse oder trockene Angelegenheit beschrieben werden kann. In dem kurzen Text für die Broschüre erläutert Kaprow, dass Affect mit Redensarten spiele, in denen die Adjektive warm und kalt auf Charaktereigenschaften bezogen oder zur Beschreibung von zwischenmenschlichen Beziehungen eingesetzt werden.29 Auch die Fotografien, die in der Broschüre neben dem anleitenden Textteil abgebildet sind, machen darauf aufmerksam, dass die temperaturbezogenen Begriffe womöglich in übertragenem Sinne zu lesen sind – am Waschbecken und an den Töpfen sind übergroße, handgemalte Zettel mit den Beschriftungen „hot“ und „cold“ angebracht, die für die praktische Durchführung völlig unnötig sind (Abb. 46). Sie parodieren nicht nur innerbildlich das Genre der Bedienungsanleitung, sondern können auch als der sprichwörtliche Wink mit dem Zaunpfahl, der den Interpreten dabei helfen soll, sich einen Reim auf diese Aufgabenstellung zu machen, gesehen werden. Das Interpretenduo wird in Affect zum Erkundungsteam. Es hantiert mit Requisiten, manipuliert Körperempfindungen und produziert Formulierungen für das nicht messbare Zwischenmenschliche. In wechselnden Rollen bilden die Interpreten über die Übung hinweg ein gemeinsames Konglomerat aus Anschauungsobjekt, Erfahrungssubjekt und Reflexionsinstanz. Das Tonbandgerät schafft dabei weniger Nähe, als es Abstände erzeugt: Die Abhörsitzungen unterbrechen das körperliche Tun, trotz räumlicher Nähe sprechen die Partner niemals direkt zueinander und das eben Gesprochene ertönt noch einmal (mit anderem Klang) aus dem Apparat. Der Einsatz 29 Vgl. Begleittext in der Broschüre zu Affect, P8.
Affect: Aufnehmen, Verfremden, Kommunizieren
des Tonbandgeräts folgt der paradoxen Logik dieser Übungen: Intimität wird verhandelt, indem sie gerade nicht auf direktem Wege erzeugt wird. Der für Kaprows Activities charakteristische Einsatz des Tonbandgeräts unterscheidet sich deutlich von dem exzessiven Umgang Andy Warhols mit dieser Technologie. Im Rückblick sprach Warhol gern von einer „Ehe“, die er mit seinem tragbaren Aufnahmegerät eingegangen sei.30 Zwischen 1965 und 1967 folgte Warhol dem Schauspieler und Factory-Star Robert Olivo, genannt Ondine, tagelang mit seinem tragbaren Kassettenrekorder durch New York und zeichnete die zahllosen Gespräche auf, die dieser mit den nicht weniger schillernden anderen Figuren der New Yorker Kunst- und Partyszene führte. Das Audiomaterial erlangte ein Nachleben in Form des Buchs a, das 1968 erschien. Warhol beauftragte vier Frauen, darunter zwei Schülerinnen, eine Auswahl von vierundzwanzig einstündigen Aufnahmen zu transkribieren.31 Das so entstandene Manuskript mit zahlreichen Tipp- und Rechtschreibfehlern wurde von Warhol lediglich punktuell bearbeitet, die Identität der Sprecherinnen und Sprecher zudem durch Pseudonyme verschleiert.32 a suggeriert im Ergebnis, vierundzwanzig Stunden im Leben Ondines ungefiltert wiederzugeben, allerdings komplett reduziert auf die Tonspur.33 Das wilde Leben der New Yorker Bohème mit seinen hochgeputschten Emotionen, fiesen Lästereien, kreativ ausgebreiteten Banalitäten, Drogenexperimenten und ungebändigten Begierden offenbart sich als rauschhafter kollektiver Sprechakt, der für den außerhalb dieser Szene stehenden Leser auf weiten Strecken allerdings zusammenhangloses Gestammel bleibt. Im Unterschied zu den als Bewusstseinsstrom verfassten inneren Monologen der modernen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist das Sprechen in a unablässig auf andere ausgerichtet, sei es am Telefon, bei Treffen auf der Straße 30 Andy Warhol und Pat Hackett, Popism. The Warhol Sixties, New York 1980, S. 149. 31 Vgl. zur Entstehung des Buches Victor Bockris, „a: A Glossary“, in: Andy Warhol, a. A Novel [1968], London 2009, S. 453–458, hier S. 453. 32 Vgl. ebd. 33 Stadler gibt an, es handele sich lediglich um das Tonbandmaterial von 18 Stunden. Siehe Gustavus Stadler, „My Wife. The Tape Recorder and Warhol’s Queer Ways of Listening“, in: Criticisim, Bd. 56, Nr. 3, 2014, S. 425–456.
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46 Allan Kaprow, Affect, 1974, Seite aus der Activity-Broschüre 2 Measures, Martano Editore, Turin, Fotografien: Bee Ottinger.
oder in den Institutionen des Nachtlebens und in Warhols Factory. Es ändert seine Richtung mit jeder Begegnung, jedem Zwischenruf, es formt sich neu und nutzt sich ab in der ständigen Rede mit und über andere, gerät in verzweifelten Leerlauf, wenn das Gegenüber nicht schnell genug reagiert. Warhol tritt in a weder als Erzähler noch als Verfasser in Erscheinung, bleibt allerdings auch nicht dauerhaft hinter dem Aufnahmegerät verborgen, stattdessen ist er selbst Gesprächspartner und Gesprächsthema. Mit seinem Einsatz des tragbaren Aufnahmegeräts unterwerfe Warhol die Sprache den „Prinzipien des Ready-Mades“
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und einer „Ästhetik des Index“, schreibt hierzu Liz Kotz, und nehme somit in Kauf, dass diese auf die Stufe unverständlichen Rauschens zurückfallen könne.34 Tatsächlich verbindet sich mit dem Verfahren Warhols der zweischneidige Anspruch, das eigene soziale Habitat mit einem (zumindest auf den ersten Blick) geradezu fundamentalistischen Authentizitätsanspruch zu verewigen. Nichts, so vermittelt a dem Rezipienten, charakterisiert die Lebensform dieser Menschen zu genau diesem Zeitpunkt mehr als ihr assoziatives, spontanes, chaotisches und selbstbezügliches Sprechen über- und miteinander. In dessen ungefilterter Wiedergabe kommt – schwarz auf weiß – dann aber auch die tragische Dimension dieses Lebens zum Ausdruck. Warhol setzt die zeitgenössische Technologie ein, um damit Strategien der Mimesis zu aktualisieren, wie sie in der Kunst vor allem seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufs Neue erprobt wurden.35 Zu dieser Aktualisierung gehört auch, dass der Umgang mit Aufnahmegeräten nicht als verfälschend deklariert wird, sondern dass das moderne Leben als eines begriffen wird, in dem das Selbst sich ohnehin immer auch in Rollenspiel, Performanz und Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung konstituiert. Tragbare Tonbandgeräte und bald auch Kassettenrekorder waren ab den späten 1960er-Jahren für den Privatgebrauch verfügbar und führten zu exzessiven Aufzeichnungspraktiken.36 Warhol erzählte rückblickend: 34 Vgl. Kotz 2007, S. 266. 35 Mimesis hier mit Erich Auerbach verstanden als die ernste, problematische und tragische Darstellung beliebiger Personen des alltäglichen Lebens in ihrer zeitgeschichtlichen Bedingtheit. Siehe Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], Tübingen, Basel 102001 (Sammlung Dalp). 36 Eine umfassende Untersuchung zur Bedeutung dieser Praktiken für den Bereich der Kunst konnte die Verfasserin bislang nicht ausfindig machen. Zu den vielen Spuren, die den Zugriff der Kunst auf Technologien der Audioaufzeichnung belegen, zählt die 1973 von William Furlong gemeinsam mit Michael Archer gegründete Audio-Zeitschrift Audio Arts. Es handelt sich um ein ausschließlich auf Kassetten veröffentlichtes Magazin, für das viele Interviews mit Künstlern, zunächst vorrangig aus dem Bereich der Konzeptkunst, geführt, aber auch akustische Originalarbeiten produziert wurden. Vgl. Manuela Ammer, „[Art.] William Furlong, Audio Arts, 1973“, in: See this Sound. Versprechungen von Bild und Ton, hg. von Cosima Rainer, Stella Rollig, Dieter Daniels und ders., Ausst.-Kat. Linz, Lentos
Everyone, absolutely everyone, was tape-recording everyone else. Machinery had already taken over people’s sex lives – dildos and all kinds of vibrators – and now it was taking over their s ocial lives, too, with tape recorders and Polaroids.37 Die Tonbandgeräte und Kassettenrekorder begleiteten und ermöglichten um 1970 die zahlreichen Unterfangen, komplexes Sprachgeschehen und vollständige Gespräche im Nachhinein auf wiederkehrende Strukturen hin zu untersuchen. Sie befeuerten und veränderten außerdem das Prinzip der Aussprache und des Bekenntnisses, das zu den zentralen Elementen psychoanalytischer und anderer therapeutischer Verfahren, aber eben auch der eher politisch motivierten Consciousness-Raising-Gruppen gehörte. Im Unterschied zu den klassischen Reflexions- und Bekenntnismedien Tagebuch und Brief erhoffte man sich von der neuen Technologie ein spontaneres und befreiteres Sprechen und gab mit ihr den Spezifika mündlicher Äußerungen – Intonation, Räuspern, Versprecher, Stammeln, Wiederholungen – größeres Gewicht. Private, wissenschaftliche und künstlerische Umgangsweisen mit der neuen Technologie gingen um 1970 fließend ineinander über. Mal war das Audiomaterial nur dazu da, um noch einmal transkribiert und dann lesend analysiert zu werden, mal sollte es im Moment der Aufnahme eine Versprachlichung motivieren, dann wieder sollte gerade die einmalige Tonspur selbst für die Nachwelt bewahrt werden – beispielsweise bei den weit verbreiteten innerfamiliären Aufnahmen erster kindlicher Sprechversuche.38 Die Künstlerin Mary Kelly kombinierte in Post-Partum Document diesen privaten Gebrauch des Aufnahmegeräts mit Techniken der Buchführung und Dokumentation. Ihr zwischen 1973 und 1979 in sieben Sektionen entstandenes Werk thematisiert die intime Erfahrung Kunstmuseum, Köln 2010, S. 258. Der künstlerische Umgang mit Kassettenrekordern berührt den Bereich der radiophonen Kunst, welche erst in jüngster Zeit näher erforscht wird. Siehe Radio as Art. Concepts, Spaces, Practices, hg. von Ursula Frohne u. a., Bielefeld 2019. 37 Warhol/Hackett 1980, S. 291. 38 Dieser Gebrauch ist auch für die Familie Kaprow in Form einer im Nachlass aufbewahrten Tonbandaufnahme überliefert, die während eines Familientreffens entstand und auf der man die Eltern hört, wie sie den kleinen Sohn, der gerade seine ersten Worte sprechen kann, dazu animieren, etwas ins Mikrofon zu sagen.
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der Mutterschaft (einer berufstätigen Künstlerin) als emotionale, psychische, aber auch intellektuelle Herausforderung. Den Schwerpunkt von Post-Partum Document bildet die Auseinandersetzung mit dem Prozess der Sozialisation des Sohnes und der hierfür zentralen Entwicklung des Spracherwerbs.39 Kelly verwendete verschiedene Formen des Protokollierens, die wissenschaftliche Exaktheit mit subjektiver Reflexion verbinden. Das nach Abschluss der mehrjährigen Arbeit herausgegebene Buch Post-Partum Document zeigt eine Fotografie, auf der die Künstlerin mit ihrem Sohn und einem Tonbandgerät zu sehen ist (Abb. 47). Auf dem Boden sitzend beugt sich die Mutter zu dem auf ihrem Schoß sitzenden Sohn hinunter, der das externe Mikrofon des Aufnahmegeräts in der Hand hält und direkt in die Kamera blickt. Das Bild scheint einerseits einen entspannten und vertrauten Umgang des Kindes mit Aufnahmegerät und -situation zu dokumentieren, kann aber im Werkkontext auch als Kommentar zur Verhandlung der Subjektwerdung gelesen werden: Das mit der klassischen Position des Kindes im Schoß der Mutter angedeutete Machtgefüge ändert sich durch das aktive Ergreifen des Mikrofons und den Blick nach vorne, die ungestörte Selbstbezüglichkeit der Mutter-Kind-Einheit wird durch das Einschalten gleich zweier Geräte respektive Aufzeichnungsmedien aufgebrochen. Während Warhol das Aufnahmegerät mitlaufen lässt, um dem Leben seine zahllosen Sprechakte abzulauschen, stellen Kelly und Kaprow zeitlich begrenzte und markierte Aufnahmesituationen her. Kaprows Übungen leiten eher nicht dazu an, Gespräche aufzuzeichnen und später zu analysieren, sondern Erfahrungen zu reflektieren und dann miteinander zu teilen. Innerhalb der Activities entstehen oftmals Momente der Stille, in die hinein einer der Interpreten auf Band spricht. Die Aufnahmetechnik motiviert und diszipliniert Selbstgespräche, die zugleich im Rahmen der Übung zumindest vor dem Partner auch veröffentlicht werden und so Einfluss auf den weiteren Verlauf der Interpretation haben. Obwohl die Versprachlichung einen Moment der 39 Siehe zur Entstehungsgeschichte des Werks und den vielfältigen Bezügen zu Psychoanalyse, Sprachphilosophie und Konzeptkunst den Band Rereading Post-Partum Document. Mary Kelly, hg. von Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat. Wien, Generali Foundation, 1999.
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47 Mary Kelly und ihr Sohn während einer Aufnahmesitzung für Post-Partum Document, 1975, Fotografie: Ray Barrie.
Selbstversicherung während der Durchführung der Übung gewährleisten kann, liegt Kaprows Einsatz des Aufnahmegeräts die Idee zugrunde, zunächst einmal eine (in seinen Augen) fälschlich angenommene Authentizität des Erlebens und der Souveränität im Umgang miteinander zu stören. Die Aufnahme- und Abspielpraxis ist Teil des intrikaten Geflechts von Verfremdungs-, Abstraktions- und Realisierungsmechanismen, das Kaprows Übungen insgesamt kennzeichnet. Einige Aussagen Kaprows in einer Unterhaltung, die er 1985 mit seiner zweiten Ehefrau Coryl Crane nach der gemeinsamen Realisierung einer Activity führte, offenbaren, wie sehr er auch zu diesem späten Zeitpunkt noch an das Erkenntnispotential und Potenzierungsvermögen einer im Übungsformat gezielt über das Tonaufnahmegerät vermittelten Wahrnehmung glaubte.40 Bei der Übung, die beide 40 Audioaufnahme eines privaten Gesprächs von Allan Kaprow und Coryl Crane im Anschluss an die gemeinsame Umsetzung
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zuvor anlässlich ihres Geburtstages umgesetzt hatten, war es darum gegangen, im Verlauf des Tages an verschiedenen Orten immer wieder den anderen in einem Spiegel zu beobachten und Beschreibungen des anderen auf Band zu sprechen. Crane äußerte im Anschluss Bedenken, das Aufnahmegerät manipuliere die Empfindungen und verhindere unbefangenes Sprechen. Kaprow bekannte daraufhin, sein Grund für den Einsatz des Aufnahmegeräts liege genau darin, „dass du dich damit unwohl fühlst und ich mich damit unwohl fühle.“ Das Aufnahmegerät helfe dabei, sich ständig bewusst zu machen, was man gerade tut und bewahre davor, in stumpfe Routine zu verfallen. Es sei, sagt Kaprow, ein Mittel zur „Rahmung“, womit er auf eine Vokabel des Sozialwissenschaftlers Erving Goffman zurückgreift.41 Crane erwidert, man könne doch auch ohne Rahmung eine „reale Erfahrung“ machen. Darauf folgt eine längere, ruhig geführte Diskussion, in der Crane den Verlust einer „direkten Kommunikation“ beklagt und Kaprow vorwirft, einer „echten Erfahrung“ in der Übungssituation trotz der sorgfältigen Vorbereitung keine Chance zu geben. Dieser zeigt sich verwundert über ihre „Reserviertheit“, wo doch die durch technische Mittel erzeugten Distanzen und Umwege ohnehin längst zur Conditio des modernen Lebens gehörten. Er lehnt ihre Kritik als Bevormundung ab, weil er dahinter die Auffassung vermutet, es gebe ein „richtiges Verhalten“, von dem er nicht abweichen dürfe. Er stellt fest, dass für ihn der Vorgang des Aufnehmens und Abspielens ein Feedback ermögliche, das nicht weniger wertvoll sei als das direkte Gespräch oder eine Berührung: Listening to my voice, especially on a bad tape recorder, it comes back as new, fresh, strange and that kind of feedback (…) is very valuable. I can’t tell you exactly how, (…) but it does make me bigger than me and bigger than us.42 einer Activity zu Cranes Geburtstag, 1985, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Films, Videos and Audio Tapes, Box 76, Transkription der Verfasserin. Die folgenden Aussagen und Zitate entstammen dieser Quelle. 41 Ebd. Wortlaut im Original: „I see the tape recorder has the exactly equivalent role as the mirror, as a framing device.“ Kaprows Goffman-Rezeption wird an späterer Stelle ausführlicher behandelt. 42 Ebd.
Aussagen wie diese erhellen, wie Kaprow sich über einen Zeitraum von rund fünfzehn Jahren eine Aufnahmepraxis so zu eigen gemacht hatte, dass sie seinem vertrackten Bedürfnis nach Lebendigkeit und Erneuerung nachkommen konnte. Sich selbst und das Gegenüber auf Distanz bringen zu können und sich über Umwege zu begegnen, barg in seinen Augen ein Versprechen, das „größere Bild“ in den Blick zu bekommen und sich aus den Verstrickungen des alltäglichen Beziehungsgeschehens zu befreien. Während allerdings für Kaprow das Unwohlsein mit dem Aufnahmegerät nur ein produktives Distanzierungsmoment anzeigte, deutet sich in Cranes Aussagen an, dass dieses auch als Anzeichen einer sich vollziehenden Entfremdung empfunden werden konnte. Die unterschiedlichen Auffassungen davon, wie gemeinsam eine authentische Erfahrung zu machen und ob das Format der Activity dabei hilfreich ist, führen zu Spannungen, die Kaprow mit einer sprachlichen Formel abzufangen versucht, die geradewegs aus dem Lehrbuch eines Mediators oder Paartherapeuten stammen könnte: „Ich bin dir dankbar dafür, dass Du das aufbringst, denn ich lerne etwas.“ Damit werden die Differenzen jedoch keineswegs beseitigt, sondern ihnen wird allenfalls friedliche Koexistenz verordnet. Es geht in diesem Gespräch nicht mehr nur um das Tonbandgerät, sondern um eine generelle Rückmeldung, die den Künstler mit einer Problematik konfrontiert, die seinen Arbeiten strukturell zu eigen ist: Ihre Ambivalenz im Hinblick auf die Zugangsvoraussetzungen der Interpreten wird zum wunden Punkt, wenn die Übung als beschädigender Übergriff auf ein intuitives Selbstverständnis empfunden wird, dessen virtuose Handhabung mittels Verfremdung, Reflexion, Kommunikation, Fiktionalisierung indirekt vorausgesetzt wird. In der Auseinandersetzung klingt an, dass Kaprow mit seinem lässigen Auftreten und seiner notorischen Hervorhebung des spielerischen Charakters seiner Activities über die zwanghaften, zerstörerischen und erzieherischen Dimensionen, die ihnen als Übungen eben auch innewohnen, mitunter wohl zu leichtfertig hinwegging. Für die Broschüre zu Affect posierten 1974 Kaprow und seine damalige Ehefrau Vaughan Rachel. Eine Folge von drei Bildern ist dem letzten Teil der Übung zugeordnet (Abb. 48). Sie zeigen Kaprow als „A“, der sich mit nacktem Oberkörper unter eine
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48 Allan Kaprow, Affect, 1974, Seite aus der Activity-Broschüre.
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Dusche stellt und danach seinen Oberkörper an die entkleidete Partnerin drückt. Im letzten Bild der Folge stehen sie einander nackt gegenüber, schauen sich in die Augen und sie spricht dabei in das Mikrofon des Aufnahmegeräts. Die Bilder wären ohne die nebenstehende Anleitung unverständlich, doch in einem Punkt verdichten sie den Text zu einem aussagekräftigen Bild. Während im Text angegeben wird, dass A und B sich trennen, darauf warten, bis ihre Körper getrocknet sind und B währenddessen ihre Gefühle für sich und den Partner aufspricht, bringt die entsprechende Fotografie die Körper der beiden Partner eng zusammen. Die im Text nicht ausgeschlossene Option, sich für diesen Teil der Übung räumlich voneinander zu entfernen, wird damit auf visueller Ebene ausgeblendet. Gesetzt wird ein Bild, das von Intimität und Entfremdung gleichermaßen spricht: Zwei Menschen sind vertraut genug, um sich entkleidet einem Selbstversuch zu unterziehen und für diesen Zweck sogar ein Aufnahmegerät mit ins Badezimmer zu nehmen, das dann genau zwischen den nackten Körpern platziert wird und Aussagen über den Beziehungsstatus einfordert.
Useful Fictions: Spiegelungen und Beziehungsgeschichten Im Gespräch mit Coryl Crane erwähnte Kaprow, er setze das Tonbandgerät in seinen Activities genau wie den Spiegel als „Gerät zur Rahmung“ ein.43 Die Parallelisierung von Spiegel und Tonbandgerät überrascht, da der Spiegel als Objekt alltäglichen Gebrauchs und als klassisches Motiv der bildenden Kunst zunächst deutlich weniger Potential für eine experimentelle Kunstpraxis zu haben scheint als die erst kurz zuvor für den Massengebrauch entwickelte Aufnahme- und Abspieltechnik. Ein Blick in die Felder Kunst, Design und Architektur sowie Sozial- und Psychowissenschaften der 1970er-Jahre zeigt allerdings, dass die Beschäftigung mit Spiegeln und Spiegelungen zu dieser Zeit Konjunktur hatte. Auch mit der Verwendung von Spiegeln positionierte sich Kaprow also – ähnlich wie bei Telefon und Aufnahmegerät – als Zeitgenosse, der für sich in Anspruch nahm, einem aktuellen 43 Ebd.
medientheoretischen Diskurs eine eigene Nuance hinzufügen zu können. In seinen Übungen schlägt er den Interpreten eine Gebrauchsweise von Spiegeln und Tonbandgeräten vor, die in einem ersten Schritt deren Werkzeugcharakter betont. Als bewegliche „Geräte zur Rahmung“ nehmen die beiden Interpreten der Partnerübungen diese buchstäblich selbst in die Hand, um Befragungs- und Beobachtungsszenen aufzuführen, Distanzierungs- und Annäherungsversuche durchzuführen, Perspektivwechsel herzustellen und so der Frage nachzugehen, wie sie zueinander stehen. Anhand der Activity Useful Fictions, die 1975 in Kooperation mit der Galleria Schema in Florenz realisiert wurde und als komplizierte Vorläuferversion jener kleinen Übung gelten kann, die Kaprow 1985 mit seiner Partnerin durchführte, lässt sich dieser Ansatz besonders gut nachvollziehen.44 Useful Fictions (P9) besteht aus drei Teilen und ist – zumindest in der Erscheinungsform als Bild-Text-Broschüre – dem Künstlerpaar Eleanor und David Antin gewidmet, dem Kaprow in Kalifornien freundschaftlich verbunden war.45 Als Ort für die Übung ist ein langsam ansteigender Hügel oder eine Treppenanlage vorgesehen. Hat das Duo den passenden Ort für sich identifiziert, absolviert es dort drei Auf- und Abstiege unter Einhaltung einer speziellen Choreographie: Zunächst gehen die beiden Interpreten hintereinander vorwärts den Hügel oder die Treppe hinauf, dann rückwärts hinunter, im zweiten Teil rückwärts hinauf und vorwärts hinunter, um dann schließlich beide Wege Rücken an Rücken zu bewältigen. Während der Auf- und Abstiege hält jeweils die vordere Person einen Spiegel in der Hand, mit dessen Hilfe sie den Partner beobachten kann, der wiederum damit beschäftigt ist, ihre Bewegungen nachzuahmen. Die Anleitung sieht bei Wiederholung der gleichen Elemente einen ständigen Positions- und Richtungswechsel vor, wodurch sich die Interpreten 44 An der Realisierung in Florenz im Dezember 1975 waren überwiegend Studenten der dortigen Kunstakademie beteiligt. Vgl. Desdemona Ventroni, „La galleria Schema a Firenze. Azioni e communicazioni (1972–1976)“, in: Ricerca di Storia dell’arte, Bd. 98, 2009, S. 37–48, hier S. 46. 45 P9: Allan Kaprow, Partitur Useful Fictions, 1975, publiziert in gleichnamiger Broschüre (29,6 × 21 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Schema Informazione Press, als Entwurf aufbewahrt in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27.
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49 Allan Kaprow, Useful Fictions, 1975, Galleria Schema, Florenz, Doppelseite aus der Activity-Broschüre (Entwurf), Fotografien: Bee Ottinger.
gemeinsam in der Variation eines Themas üben. Die Synthese bildet der dritte Teil, in dem beide zunächst Rücken an Rücken den Hügel hinaufgehen, dabei jeweils die Bewegungen des anderen nachahmen und sich über Spiegel beobachten, die sie in den Händen halten. Der letzte Abstieg erfolgt Rücken an Rücken ohne Spiegel, danach trennen sich die Wege der beiden Interpreten. Die im Dreischritt sich verkomplizierenden dualen Auf- und Abstiegsunternehmungen werden von Aufnahmesitzungen flankiert. Nach jeder Bewegungseinheit ist eine der beiden Personen laut Anleitung dazu aufgefordert, die „Geschichte des Aufstiegs“ respektive die „Geschichte des Abstiegs“ zu erzählen und dabei das Tonbandgerät mitlaufen zu lassen (Abb. 49). Diese Sprechübungen finden jeweils vor Ort, beispielsweise am Fuß des Hügels oder am oberen Ende der Treppe statt. Der Partner ist dabei also anwesend und hört vermutlich zu, wie der andere seine Erzählung auf Band spricht. Drei
zusätzliche Aufnahmesituationen sind außerdem jeweils im Anschluss an den gemeinsam absolvierten Auf- und Abstieg vorgesehen. Der erste Teil endet damit, dass „A“ für sich allein die Geschichte von Auf- und Abstieg noch einmal erzählt und mit dem Tonbandgerät aufzeichnet, am Ende des zweiten Teils obliegt „B“ diese Aufgabe, am Ende des dritten Teils lautet der Auftrag an beide: when alone, telling stories of ascent and descent recording them on tape Während der Spiegel das bewegliche Bild des Partners einfängt und wie ein Rückspiegel überhaupt erst ins Blickfeld rückt, was sonst unsichtbar bliebe, motiviert das Aufnahmegerät dazu, sich an einer Erzählung zu versuchen und somit eine flüchtige Erfahrung in Worte zu fassen. Spiegel und Tonbandgerät
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fungieren in Useful Fictions als Mittel zur Rahmung, indem mit ihnen etwas abgesondert und ausgezeichnet wird, dem so besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. Die Aufnahmesituation fördert ein erzählendes Sprechen und klammert den direkten Einspruch des Gegenübers aus, den der Vortrag in einer normalen Gesprächssituation womöglich provozieren würde. Der Spiegel dient nicht der Selbstbetrachtung oder Überprüfung des äußeren Erscheinungsbildes, sondern lenkt den Blick von der Umgebung ab und auf den Partner im Windschatten. Gespiegelt wird aber auch noch auf einer anderen Ebene, nämlich wenn der eine die Bewegungen des anderen „kopiert“, wie es in der Anleitung heißt. Im Spiegel sieht die vorne laufende Person also den Partner, aber zugleich auch eine nachgeahmte Version ihrer selbst, sozusagen die performative Interpretation ihres Aufstiegs. Die Person, die nachahmend auf der hinteren Position läuft, wird wiederum in ihrer Nachahmung des Partners auch auf sich selbst zurückgeworfen: Ahmt sie Kopf- und Armhaltung des Partners nach, wird sie unweigerlich auch sich selbst in dem Spiegel sehen, den der Partner vor ihr trägt. So ist der Spiegel ein Ort, an dem sich Blicke und Körper treffen und es zu einer Art Austausch der Reflexionen kommt. Useful Fictions verklammert die beiden Interpreten und lässt sie wie ein geschlossenes System auf und ab durch die Landschaft spazieren: Wer vorne geht, der läuft langsam, weil er mit dem Spiegel in der Hand nicht nach vorne beziehungsweise auf seine Füße schauen kann – und wer hinten geht, der bewegt sich langsam, weil er den anderen nachahmt. Ungelenk, etwas ruckelig und, von außen betrachtet, wenig virtuos vollziehen sich diese Auf- und Abstiege. Die Positionen werden irgendwann austauschbar und es lässt sich nicht mehr eindeutig bestimmen, wer eigentlich vorausgeht und wer nachfolgt. Unabhängig davon, wie exakt die Nachahmung ausfällt und wie streng der Akt des Kopierens interpretiert wird, geht es in dieser Übung vor allem darum, eng aufeinander bezogen zu bleiben, ohne dabei auf der Stelle zu treten (Abb. 50). Die Rückkopplungsschleife, in der die Partner sich dank Spiegelblick und Nachahmung befinden, lässt an eines der neuartigen Verfahren denken, mit denen sich die experimentelle und medienaffine Kunst um 1970 intensiv beschäftigte. Die jüngsten Entwicklungen im Bereich der Videotechnik ermöglichten
Closed Circuit-Installationen, in denen bewegtes Bild und Ton ohne Zeitverzögerung aufgenommen und abgespielt werden konnten. In einem einfach rückgekoppelten Aufnahme-Wiedergabe-Set konnte ein Betrachter beziehungsweise Ausstellungsbesucher also seinem elektronischen Spiegelbild begegnen. Anhand verschiedener Closed Circuit-Videoinstallationen entwickelte Rosalind Krauss in einem 1976 publizierten Essay die folgenreiche These, man habe es dabei mit einer „Ästhetik des Narzissmus“ zu tun.46 „Selbstverkapselung“47 sei omnipräsent in den Werken der Videokunst. Das Subjekt werde zwischen Kamera und Monitor ein-, somit jedes externe Objekt ausgeklammert und alle Aufmerksamkeit in das Selbst investiert.48 Es sei aus diesem Grund sogar unpassend, argumentiert Krauss, von Video überhaupt als einem physischen Medium zu sprechen.49 Es bestehe ein fundamentaler Unterschied zwischen der Reflexivität modernistischer Kunst, die eine Strategie darstelle, um aus dem Inneren heraus eine Asymmetrie zu erzeugen, und der „Spiegel-Reflexion“ im Videofeedback, welche nach Aneignung und dem Auslöschen der Differenz von Subjekt und Objekt strebe.50 Ein Zustand der „narzisstischen Einzäunung“51 stellt in dieser Perspektive die Bedingung und zugleich den Abstoßungspunkt ausgerechnet jenes neuen Genres und damit auch jener neuen Technologie dar, von der sich nicht nur viele Künstler erhofften, sie möge ein globales Bewusstsein schaffen und das Versprechen echter Interaktion und Partizipation einlösen.52 Auch 46 Rosalind Krauss, „The Aesthetics of Narcissism“, in: October, Bd. 1, 1976, S. 50–64. 47 Ebd., S. 53, Übers. d. Verfasserin. 48 Vgl. ebd., S. 57. 49 Vgl. ebd. 50 Ebd., S. 56f. 51 Ebd., S. 64, im Original: „narcissistic enclosure“. 52 Gleichwohl erscheint es übertrieben, wenn man, wie Slavko Kacunko, Krauss’ folgenreichen Essay so versteht, als würde diese die Videokunst insgesamt pathologisieren, mit einem negativen Votum belegen und damit den Grundstein für die „Irrtümer (der) frühe(n) kunsthistorische(n) Forschung“ legen. Vgl. Slavko Kacunko, Spiegel – Medium – Kunst. Zur Geschichte des Spiegels im Zeitalter des Bildes, München 2010, S. 768. Richtig ist zwar, dass Krauss bei weitem nicht alle neuen Ansätze der Videokunst im Blick hat und diese stark auf die Feedbacktechnik verkürzt, aber sie geht in ihrem Essay doch zumindest darauf ein, dass es auch Umgangsweisen mit dem Closed-Circuit-Verfahren gibt, die offenbar ihren ersten Beobachtungen zuwider laufen.
Useful Fictions: Spiegelungen und Beziehungsgeschichten
50 Allan Kaprow, Useful Fictions, Seite aus der Activity-Broschüre.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
Kaprow äußerte Einwände gegen die Vorstellung von Video als einer per se partizipativen und emanzipativen Technologie. In seinem Aufsatz „Video Art. New Bottles, old wine“ warnte er 1974, dass ein Aufbau von Videofeedback-Systemen im Ausstellungskontext das „klare Bedürfnis nach Privatheit“53 negiere. Es sei falsch, zu glauben, dass Personen automatisch etwas Erhellendes tun würden, wenn man ihnen an einem privilegierten Ort „komplizierte technische Spielzeuge“ zur Verfügung stelle.54 Viele solcher Arbeiten, in denen Kameras installiert und auf einem Monitor live die so entstehenden Bilder gezeigt würden, seien zwar „höchst interessant“, aber auch „entmutigend“, da sie sich letztlich auf den „Glanz der Maschinen“ verlassen würden statt Selbsterkenntnis oder aktive Reflexionsarbeit zu fördern: „Wir erliegen dem Leuchten der Kathodenstrahlröhre während unser Geist abstirbt.“55 Während Krauss gerade auf die Transparenz der elektronischen Ausstattung abhob, stellte Kaprow also deren übermäßige Anziehungskraft heraus. Seine Kritik zielt nicht generell auf das Ansinnen, mit elektronischen Mitteln Situationen der Selbstbetrachtung zu erzeugen, sondern vielmehr auf die Gefahr eines Leerlaufs dieser Aufbauten, wenn das involvierte Subjekt sich vorrangig den Tricks einer neuen Technologie ausgesetzt sieht. Als Kritiker einer Fortschreibung der modernistischen Kunst und vor allem des zu ihr gehörenden Ausstellungsbetriebs war in Kaprows Augen eine narzisstische Selbstbespiegelung wohl eher dort zu vermuten, wo Krauss Reflexivität verortet sah. Aber auch dem Medium Video, welchem er gleichwohl nicht gänzlich ablehnend gegenüberstand, traute er in dieser Hinsicht letztlich nicht zu, aus der Fixierung auf Kunsthaftigkeit auszubrechen. Um Reflexivität ging es Kaprow gleichwohl und Useful Fictions lässt sich vor diesem Hintergrund einerseits als ironischer Kommentar zu den fest installierten Closed-Circuit-Situationen der jungen Medienkunst deuten, andererseits als Versuch, reflexive Bespiegelungspraktiken ein- und auszuüben. 53 Kaprow 1974/2003, S. 151. Kaprow lehnt in seinem Essay nicht jede Art von Videokunst ab, sondern sondiert vielmehr kritisch das Feld und sichtet dabei ein größeres Spektrum als Krauss in ihrem theoretisch anspruchsvolleren Text. 54 Ebd. Im Original: „some sophisticated toys to play with“. 55 Ebd., S. 153. Im Original: „We succumb to the glow of the cathode-ray tube while our minds go dead.“
Die Auf- und Abstiegsszenen in Useful Fictions führen vor, wie zunächst ohne technologische Hilfsmittel eine Feedbackschleife installiert werden kann, in der zwei Personen sowohl beobachten als auch beobachtet werden und in der ihre Bewegungen miteinander verschaltet sind. Der Rückgriff auf den Spiegel als anachronistisches Medium garantiert zwar einen gewissen Verfremdungseffekt, birgt aber nicht die Gefahr, alle Aufmerksamkeit auf den „Glanz der Maschinen“ zu lenken. Dem Träger des Spiegels ist es zudem möglich, das Spiegelbild beweglich zu halten, also unterschiedliche Einstellungen vorzunehmen. Schließlich werden in Useful Fictions zu einem gewissen Grad Spiegelungs- und Reflexionsphase voneinander getrennt. Bei den Auf- und Abstiegen gilt die Konzentration der über Spiegelungen gesteuerten und zugleich beobachteten gemeinsamen Anstrengung. Die Reflexionsarbeit findet in den eingeschobenen Aufnahmesitzungen statt, in denen Assoziationen, die sich vorher eingestellt haben, formuliert, verknüpft und weitergedacht werden können. Dabei spricht (bis auf den dritten Teil) stets nur eine Person, während die andere zuhört. Die Feedbackschleife wird somit gelockert oder vielmehr gedehnt, indem ein zeitverzögerndes Element eingebaut wird. Der Partner ist nicht gezwungen, direkt auf das zu reagieren, was der andere auf Band spricht, das Gesagte wird aber ohne Zweifel die Durchführung des nächsten Auf- oder Abstiegs beeinflussen. Als Gegenentwurf zu dem zwischen Kamera und Monitor eingeklemmten Subjekt, wie Krauss es charakterisiert, präsentiert Useful Fictions eine sich durch Raum und Zeit bewegende Zweiereinheit, die zwar zur Langsamkeit und Wiederholung gezwungen ist, aber nicht der narkotisierenden Wirkung des „elektronischen Spiegels“56 verfällt. Indem die beiden Partner selbst für begrenzte Zeit in übertriebener Manier als geschlossenes System handeln, aktivieren sie zugleich ein metaphorisches Reservoir fern jeder Maschinentheorie. Es geht darum, was es bedeutet, wenn zwei Menschen eine Verbindung eingehen und sich dazu entschließen, gemeinsam durchs Leben zu gehen. In einer equilibristischen Übung tarieren die Partner, samt sprichwörtlichem ‚Auf und Ab‘, das Gleichgewicht zwischen Vertrautheit und 56 Kacunko 2010, S. 702.
Useful Fictions: Spiegelungen und Beziehungsgeschichten
Entwicklungsbedürfnis aus. Wie behält man einander im Blick und kommt trotzdem voran? Mit den Positions- und Richtungswechseln werden Rollen und Konstellationen durchgespielt: Mal geht der eine, mal der andere voraus, während der Partner sich anpasst und nachfolgt – und einer der Aufstiege wird sogar rückwärtsgewandt bewältigt. Im Umgang mit dem Spiegel werden herkömmliche Gebrauchsweisen und Spiegelmetaphorik ineinander geblendet. Der Blick in den Spiegel während der Durchführung vorgeschriebener Bewegungsabläufe ist in der Tanzprobe geläufig, wo er der Überprüfung dient, ob die ausgeführte Bewegung oder Pose auch von außen so wahrgenommen wird, wie der Tänzer oder die Tänzerin sie empfindet und wie sie wirken soll. In Useful Fictions wird der Spiegel allerdings so ausgerichtet, dass nicht vorrangig die eigenen Bewegungen darin beobachtet werden, sondern deren Nachahmung durch den Partner. Der Blick in den Spiegel zeigt den anderen, der sich eigentlich außerhalb des Blickfelds befindet. In ihm sieht man aber zugleich sich selbst – beziehungsweise das, was der Partner mühevoll, spielerisch oder bedacht von einem wiederzugeben versucht. Diese bewegliche ‚Kopie‘ im Rückspiegel ist notgedrungen ungenügend im Vergleich zu einem herkömmlichen Spiegelbild des eigenen Gesichts und Körpers: Wenn man nicht bewusst übertriebene Bewegungsgesten vollführt, kann die Suche nach den Spuren seiner selbst in diesem Spiegelbild sogar nahezu erfolglos bleiben. Andererseits vermag sich in diesem beweglichen Bespiegelungskabinett eine soziale Dimension zu offenbaren, die über die schiere Nachahmung von Bewegungen weit hinausgeht. Im Zuge der Interpretation weicht der Eindruck des Kopierens und schafft Raum für Akte der Einfühlung. Die vom Spiegel übermittelte Reflexion erscheint dann nicht als minderwertige Version, sondern als Zeichen eines physisch-psychischen Mitempfindens, dessen sich der jeweils Vorausgehende über den Rückspiegel versichern kann – oder das ihm so überhaupt bewusst wird. Auf dieser Ebene wird mit den Spiegelpraktiken in Useful Fictions die Vorstellung verhandelt, dass ein Individuum sich seiner selbst erst bewusst wird, indem es sich in anderen spiegelt, von diesen also ein Bild seiner selbst zurückgeworfen bekommt, zu dem es sich wiederum verhalten kann. Der Psychologe
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R. D. Laing, dessen Thesen um 1970 auch in der gegenkulturellen Szene große Verbreitung fanden, argumentierte in dem Buch Interpersonal Perception: Self-identity is constituted not only by our looking at ourselves, but also by our looking at others looking at us and our reconstitution and alternation of these views of the others about us.57 Der Vorgang einer sozial bedingten Individuation wird von Laing als andauerndes Beobachtungs szenario beschrieben, in dem die Ausbildung einer Identität maßgeblich davon abhängig ist, wie das Individuum seine Wirkung auf andere einschätzt oder wahrnimmt und dementsprechende Anpassungen vornimmt. Ein ‚Selbst‘ wird somit nicht einfach erworben und dann besessen, sondern konstituiert sich im ständigen Abgleich zwischen Eigen- und Außenwahrnehmung. Dabei spielen weniger die flüchtigen Begegnungen oder exponiertes Zurschaustellen im öffentlichen Raum eine Rolle, als jene Rückmeldungen, die das Subjekt von den Personen bekommt, mit denen es sich verbunden fühlt: All identities require an other: some other in and through a relationship with whom self-identity is actualized.58 Diese Vorstellung einer Realisation der eigenen Identität im Austausch mit einem Gegenüber birgt das vitalistische Versprechen einer im Prinzip offenen und in vielfältigen Beziehungen mehr als nur graduell gestaltbaren Identität. Zugleich wird hiermit indirekt die Partnerschaft mit der Hypothek belegt, als vornehmlicher Ort der Selbstfindung jene ständigen Beobachtungs- und Rückmeldekreisläufe in Gang zu halten. Als Spiegel- und Nachahmungsübung erlaubt Useful Fictions den Interpreten, sich zu dem Konzept eines in sozialen Beziehungen und wechselseitiger Dauerbeobachtung konstituierten Selbstbilds in ein reflexives Verhältnis zu setzen und eine Rückbindung an die eigene Lebenserfahrung vorzunehmen.
57 Ronald D. Laing, Herbert Phillipson, and A. Russell Lee, Interpersonal Perception: A Theory and Method of Research, London 1966, S. 5. 58 Ronald D. Laing, Self and Others, Baltimore 1971, S. 82.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
51 Joan Jonas, Mirror Piece II, 1970, Performance, Emanu-El YMHA, New York, Fotografie: Peter Moore.
Fühle ich mich gehemmt oder bestätigt von dem, was der andere von mir zeigt? Welches Bild gebe ich dem anderen zurück – eine mechanische Kopie oder eine mitfühlende Interpretation? Was davon wird ihn stärker verunsichern? Wann schlägt die Differenz in Entfremdung um und wann wird die Beobachtung zur intimen Blickbeziehung? Wird Useful Fictions von zwei Personen umgesetzt, die bereits ein partnerschaftliches Verhältnis haben, kann die Übung so zweifelsohne zum Beziehungstest werden. Den Akt der Selbstbetrachtung mittels Spiegel in einen sozialen Kontext zu verschieben, war eine Operation, die auch zahlreiche andere Künstlerinnen und Künstler ab Mitte der 1960er-Jahre vornahmen. In der Architektur, Objekt- und Installationskunst wurden Spiegel oder spiegelnde Oberflächen eingesetzt und die Video- und Performancekunst experimentierte mit komplexen Beobachtungsszenarien, in denen die vielfältigen psychologischen und soziologischen Implikationen des Spiegelns bearbeitet wurden. In den Performances Mirror Piece I (1969) und Mirror Piece II (1970) stattete die Künstlerin Joan Jonas Tänzerinnen und Tänzer mit lebensgroßen Spiegeln aus, die diese im Verlauf der Performance bewegten oder wie einen Schild vor ihrem Körper trugen (Abb. 51).
Den Zuschauern wurde so immer wieder der Blick auf die – vornehmlich weiblichen – Körper verwehrt und sie erblickten stattdessen sich selbst. Am Ende von Mirror Piece I hingegen wurde der Spiegel wieder zum Gegenüber für die Tänzerinnen, indem sie auf dem Boden liegend für längere Zeit mithilfe des großen Spiegels ihre Körper examinierten und sich in einen Zustand der Selbstbetrachtung zu versenken schienen. Jonas’ Mirror Pieces arbeiteten die Rede von der Frau und dem weiblichen Körper als Projektionsfläche auf performative Weise durch. Die Künstlerin inszenierte die Spiegel in ihren Performances so, dass sie gleichermaßen ihre absorbierenden wie reflektierenden Eigenschaften zeigten. Sie konfrontierten die Zuschauer mit ihrem eigenen Blick auf das Bühnengeschehen und machten die Machtstrukturen eines Blickgefüges selbst zum Thema, insbesondere solche zwischen den Geschlechtern. Die Mittel der Performance nutzend, versetzte Jonas die Reflexionen in Bewegung, sodass das Publikum zwar selbst zum Beobachtungsobjekt wurde, seines gespiegelten Bildes allerdings niemals für längere Zeit habhaft werden konnte. Indem die Spiegelung des Zuschauers direkt am verspiegelten Körper der Tänzerin zu sehen war, erschien es einerseits so, als könne der Bühnengraben regelrecht übersprungen werden, andererseits wurden die Individuen auf Distanz gehalten.59 Die überwiegend weiblichen Tänzerinnen konnten die Spiegel beinahe wie eine Waffe einsetzen, um den Blick umzulenken, andererseits büßten sie so eine gewisse Bewegungsfreiheit ein und nahmen auch sich selbst die Möglichkeit, eine Blickbeziehung zum Gegenüber aufzubauen. Indem sie die Spiegelplatten hin- und hertrugen, konstruierten und dekonstruierten sie zudem immer wieder aufs Neue die Bilder, die von den Personen und dem Raum im Spiegel zu sehen waren. Cristina Albu sieht darin eine Demonstration der aktiven Rolle, die das Subjekt im Austausch mit anderen bei der Konstruktion von Erfahrungen einnimmt: 59 Zum Spiegel als Mittel zur Verringerung oder Vergrößerung von Distanz in den Performances von Joan Jonas vgl. Julienne Lorz und Andrea Lissoni, „Distance, Framing, Co-existence, and Layering: Joan Jonas’ Artistic Processes“, in: Joan Jonas, hg. von dens., Ausst.-Kat. London, Tate Modern, München 2018, S. 10–27, hier S. 21f. Der Begriff ‚framing‘ wird im Aufsatz, obwohl im Titel aufgeführt, nicht weiterführend kontextualisiert, sondern lediglich vage auf die rahmende Funktion des Ausstellungsraums bezogen.
Useful Fictions: Spiegelungen und Beziehungsgeschichten
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By shifting the angle of the reflective panels to conceal or reveal images of their surroundings, the performers showed how individuals are constantly involved in building the experience of the present by focusing their attention on different parts of the perceptual field or by bringing into awareness memories of the past. Mirror Piece I vividly conveyed the active construction of experience, highlighting its dependence on our interaction with others and the space we inhabit.60 Der Gebrauch des Spiegels als Mittel, um Einstellungen vornehmen zu können, Blickrichtungen zu manipulieren und Wahrnehmung zu steuern, erinnert an Kaprows Umgang mit diesem Gegenstand. Auch in Useful Fictions verhindert der Spiegel zunächst einmal den gewohnten Blick in die umgebende Landschaft und auf den Weg, der vor einem liegt, und bringt stattdessen auf irritierende Weise – noch dazu seitenverkehrt – ins Sichtfeld, was eigentlich nicht zu sehen gewesen wäre. Ähnlich wie bei Jonas lenkt der Spiegel die Aufmerksamkeit um und kann durch den Einsatz in Bewegung sogar Momente der Desorientierung oder des Schwindels hervorrufen. Während Jonas’ Mirror Pieces mit Körperbild, Reflexion und Bewegung arbeiten, spielt in Useful Fictions allerdings auch die Sprache eine wichtige Rolle und wird in das Spiel mit Reflexion und Reflexivität einbezogen. Eine vergleichbare Zusammenführung von Spiegelbild und Sprache nahm Dan Graham mit seiner Performance Performer/Audience/Mirror 1977 in Amsterdam vor (Abb. 52). Der Künstler selbst platzierte sich hierfür stehend vor einer großen Spiegelwand, der das Publikum auf Stühlen gegenübersaß. Im Verlauf der Performance beschrieb Graham zunächst sich selbst, dann das Publikum. Im Anschluss drehte er sich um, sodass er sich und das Publikum im Spiegel sah und wiederholte die Beschreibungsvorgänge. Die Zuschauer hatten während der gesamten Performance ihr eigenes Spiegelbild sowie das ihrer Mitzuschauer direkt vor Augen, sodass jede Regung, jedes Verziehen der Mundwinkel oder möglichst 60 Cristina Albu, Mirror Affect. Seeing Self, Observing Others in Contemporary Art, Minneapolis und London 2016, S. 64. Albu befasst sich in ihrer Studie anhand ausgewählter Beispiele mit dem weiten Feld der Spiegel und spiegelnden Oberflächen in der Kunst von 1960 bis heute.
52 Dan Graham, Performer/Audience/Mirror, 1977, Amsterdam, De Appel Arts Center.
unauffällige Wechseln der Sitzposition in einer Art analogem Closed-Circuit-Verfahren direkt übertragen wurde und für alle registrierbar war. Im Vergleich dazu wirkte Grahams sprachliche Erfassung solcher Details verzögert und unvollständig, hatte aber wiederum unmittelbar Einfluss auf das Verhalten des Publikums. Indem Graham seine Beobachtungen ad hoc formulierte und aussprach, fokussierte und lenkte er die Wahrnehmung seines Publikums, das zugleich selbst zum Betrachtungsgegenstand wurde. Der Spiegel diente in dieser Performance als Übertragungsmedium, Überprüfungsinstrument und Implikationsmedium. Er band die Zuschauer in das performative Feedbackverfahren ein, erlaubte den Abgleich zwischen reflektiertem Bild und subjektiver sprachlicher Äußerung und ließ alle Teilnehmer die Ansicht sehen, die normalerweise dem Performer auf der Bühne vorbehalten bleibt. Jonas, Graham und Kaprow verbindet, dass sie in ihren Werken die optische und die metaphorische
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
Dimension des Spiegelns verknüpfen. Mirror Piece, Performer/Audience/Mirror sowie Useful Fictions arbeiten nicht nur performativ mit dem Effekt beweglicher Spiegelbilder, sondern behandeln – mit unterschiedlichen Akzenten – auch in übertragenem Sinne das Bild von Gesellschaft als einem über zahlreiche Beobachtungs- und Feedbackkreise miteinander verbundenen System von Subjekten. Die Gefahr der Selbstbezüglichkeit und Weltverlorenheit, die dem Akt des Spiegelns mit seiner „Verfehlung der Triangulierung“61 seit dem Narziss-Mythos zugeschrieben wird, ist in diesen Arbeiten nicht unbedingt aufgehoben, wird aber neu verortet. Denn die Selbstbetrachtung im Spiegel ist hier nicht zu haben, ohne dabei zugleich andere und deren Wahrnehmung seiner selbst mitzusehen und in ein Gespinst der Reflexionen verwickelt zu werden – sie ist mithin weniger ein Akt des Ausharrens oder der Versenkung als eine potentiell immer schon sozialisierte und sozialisierende Tätigkeit. Während der Schwerpunkt in den oben genannten Werken von Jonas und Graham allerdings eher auf dem Individuum in kollektiven Beobachtungsprozessen und in diesem Zuge auch dem Infragestellen der Bühnensituation liegt, verdichtet Kaprow das Spiegelspiel zur Partnerübung ohne Publikum. Das Duo als kleinstmögliche Verhandlungseinheit steht dabei nicht einfach pars pro toto für die Gesellschaft. In der intimen Atmosphäre dieser und anderer Übungen wird vielmehr ausgeleuchtet, inwiefern die Partnerschaft der Ort ist, an dem die Feedbackschleifen besonders eng gezogen sind und jeder Vorgang der Vermittlung von Selbst- und Außenwahrnehmung sowohl großes Konflikt- als auch Übereinstimmungspotential bietet. Kaprow rückt in den Activities die Partnerschaft als Generator und Krisenherd ins Zentrum. Er nimmt sich damit den gleichen Untersuchungsgegenstand wie der bereits erwähnte Psychologe Ronald D. Laing vor. Laing und seine Kollegen entwickelten und erläuterten ihre Methode zur Erforschung der „Interpersonal Perception“ anhand von Studien, die sie mit Ehepaaren durchgeführt hatten, darunter auch
solchen, die sich wegen Eheproblemen in therapeutische Beratung begeben hatten. Mit ihrer Methode wollten sie die Irrtümer jener psychologischen Forschung ausräumen, so die Autoren, der es bislang nicht gelungen sei „das Verhalten einer Person als Funktion des Verhaltens einer anderen zu sehen.“62 Laings Ansatz berücksichtigte die ganze Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen auch in ihren vermeintlich banalsten Äußerungen und stellte so eine Perspektive bereit, mit der die psychische Krise eines Individuums als Beziehungskrise ausgewiesen werden konnte. Im Rahmen der Studien kam ein Fragenkatalog zum Einsatz, mit dessen Hilfe die vom Berater angeleiteten Ehepartner den Missverständnissen und Fehleinschätzungen in ihrer Beziehung auf die Spur kommen sollten. Die Fragen zielten jeweils darauf, sowohl das eigene Verhalten als auch die eigene Erfahrung in der Beziehung zu verbalisieren, zusätzlich Auskunft darüber zu geben, wie man das Verhalten des Partners in der gleichen Situation wahrgenommen habe und wie man die Erfahrung einschätzt, die der Partner dabei gemacht hat. Aus den Antworten beider Personen sollte eine Erkenntnis darüber gewonnen werden, wie sehr sich das Paar womöglich bereits in einem „Teufelskreis von fehlangepassten Interpretationen, Erwartungen, Unterstellungen und Gegenunterstellungen“63 befand und wie dieser mithilfe einer Korrektur jener „fehlangepassten Interpretation“ durchbrochen werden konnte. Dem Vorgang der „Interpretation“ kam in Laings Beschreibung von Zweierbeziehungen besondere Bedeutung zu:
61 Rolf Haubl, „Spiegelmetaphorik. Reflexion zwischen Narzißmus und Perspektivität“, in: Ohne Spiegel leben. Sichtbarkeiten und posthumane Menschenbilder, hg. von Manfred Faßler, München 2000, S. 159–180, hier S. 170.
62 Ronald D. Laing, Herbert Phillipson, and A. Russell Lee, Interpersonelle Wahrnehmung [1966], Frankfurt am Main 1971, S. 19. 63 Ebd., S. 34. 64 Ebd., S. 22.
Unser Erfahren eines anderen impliziert die spezielle Interpretation seines Verhaltens. Sich geliebt zu fühlen, bedeutet, wahrzunehmen und zu interpretieren, d. h. zu erfahren, dass die Handlungen eines anderen solche der Liebe sind. Die Alteration meiner Erfahrung meines Verhaltens auf deine Erfahrung meines Verhaltens hin – hier liegt das Problem.64
Useful Fictions: Spiegelungen und Beziehungsgeschichten
Diese Annahme einer im Miteinander zu entwickelnden Interpretationskompetenz lässt sich ohne Umstände auf eine Partnerübung wie Useful Fictions beziehen. Zum einen birgt schon die Aufgabe, den Partner zu ‚kopieren‘, das Potential, im Zuge der Realisierung als Interpretationsvorgang ausgelegt zu werden. Der an zweiter Stelle laufende Partner kann entscheiden, ob er beispielsweise eine bestimmte Gehweise des Partners in übertriebener Manier nachahmt oder die Bewegungen des Partners in eine feinfühlig-elegante Version übersetzt. Schließlich sind beide über den Spiegel miteinander verbunden, wodurch zarte mimische Andeutungen direkt interpretiert und beantwortet werden können – etwa indem auf ein Augenzwinkern entweder mit einem Lächeln oder mit einer Verfinsterung der Miene reagiert wird. Eine sehr viel weitreichendere Interpretationsleistung wird allerdings in den Aufnahmesitzungen gefordert. Die Aufgabe lautet in der schriftlichen Partitur schlicht, „die Geschichte von Aufstieg und Abstieg zu erzählen“. Bei der Umsetzung stolpern viele Interpreten wohl zunächst über den Begriff „Geschichte“. Wie soll das befremdlich miteinander verbundene Aufsteigen genug Stoff für eine Geschichte hergeben? Die Auslegung bleibt den Interpreten überlassen, deren eingesprochene Texte allerdings allein durch die Formulierung der Anleitung schon als Geschichten markiert sind. Bezieht man zusätzlich den Titel der Activity Useful Fictions mit ein, so ergibt sich ein konzeptioneller Überbau, der dazu anregt, gerade keine strenge Grenze zwischen vermeintlich authentischem Sprechen und artifizieller Fiktionalisierung zu ziehen. Wo Laing ins Feld führt, dass im Bereich des Zwischenmenschlichen oftmals eine gelungene oder falsche Deutung des Verhaltens des Partners sehr konkrete Konsequenzen hat, legt Useful Fictions den Interpreten nahe, ihre Aussagen über die gemeinsam vollführte Übung von Anfang an als Interpretationen zu begreifen, die das Erlebte transformieren und einen Effekt auf die nächste Übungseinheit haben werden. Wie den Interpreten der Spiegel als Werkzeug in die Hand gegeben wird, wird ihnen auch im Hinblick auf ihre sprachlichen Äußerungen eine souveräne Position zuerkannt. Der somit eröffnete Gestaltungsspielraum erlaubt den lakonischen Bericht wie die poetische Schilderung. Tonfall, Sprechdynamik und Wortwahl vermögen
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dem gerade Erlebten eine bestimmte Färbung zu geben und beeinflussen auf diese Weise die Stimmung, in der sich die beiden Interpreten zueinander, ihrem Tun und dem sie umgebenden Raum ins Verhältnis setzen. Indem im Verlauf der Übung zehn Erzählungen übereinandergeschichtet werden, ist außerdem die Möglichkeit einer nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen Weiterentwicklung dieser Berichte angelegt. Nicht nur Revisionen oder Erweiterungen sind hier denkbar, sondern auch eine sehr viel weitreichendere Übertragung der Übungssituation auf die eigene Lebenserfahrung. Die schriftliche Anleitung legt bei genauem Hinsehen nicht fest, von welchen Auf- und Abstiegen überhaupt die Rede sein soll. Wer sich fragt, ob er hier womöglich gerade die Struktur oder Dynamik seiner eigenen Beziehung aufführt, der mag auch an den Punkt kommen, die Geschichte dieser Beziehung als Auf- und Abstiegsprojekt mit wechselnden Konstellationen zu erzählen. Die titelgebenden „nützlichen Fiktionen“65 wären dann nicht nur die Deutungen und Rückspiegelungen im konkreten zwischenmenschlichen Verkehr, sondern auch die Episoden, die man einander von den Etappen des gemeinsamen Lebens erzählt und die sich zu einer Beziehungsgeschichte verfestigen können. Kaprows Übung fällt in eine Zeit, in der sich die Beziehungsgeschichte regelrecht zu einem eigenen Genre entwickelte, wie David Shumway in seiner Untersuchung Modern Love darlegt. In den 1970er-Jahren bildete sich ein neuer Intimitätsdiskurs heraus, der nicht mehr die schwierige Suche nach der großen Liebe mit der Ehe als natürlichem Ziel ins Zentrum rückte, sondern das Funktionieren 65 An anderer Stelle verwendet Kaprow die Formulierung „useful fictions“ unter Hinweis darauf, dass er diese vom Philosophen Hans Vaihinger entliehen habe. Vgl. Allan Kaprow, „Doctor MD“ [1973], in: Ders., Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley u. a. 2003, S. 127–129, hier S. 129. Vaihingers einschlägiges, auf einer Auseinandersetzung mit Kant beruhendes Werk Die Philosophie des Als Ob, erstmals 1911 erschienen, wurde auch in den Vereinigten Staaten ausgiebig rezipiert, wobei eine Nähe von Vaihingers Fiktionalismus zu Positionen des amerikanischen Pragmatismus bemerkt wurde. Vaihingers zentrales Argument besteht darin, dass gerade auch im Bereich der Naturwissenschaften und Mathematik Annahmen oder Theorien akzeptiert werden und sogar von Nutzen sind, obwohl sie unter streng logischen oder experimentell überprüfbaren Kriterien nicht haltbar sind.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
von partnerschaftlichen Beziehungen, die nicht automatisch auf Ewigkeit angelegt sind.66 Parallel zum Boom der Gesprächstherapie für Paare arbeiteten unzählige Selbsthilfe- und Ratgeberbücher zu diesem Thema meist mit Fallbeispielen, die in Form einer „Geschichte der Beziehung von A und B“ vorgestellt wurden. Dabei spielte vor allem die Entwicklung der Beziehung eine wichtige Rolle. Erzählt wurde von der Ausprägung bestimmter Verhaltensund Kommunikationsmuster sowie eigener Rituale und schließlich der Auseinandersetzung mit den für diese bestimmte Beziehung geltenden Streitpunkten. Kommentare, Einschätzungen und Reflexionen der Partner gingen in diese Texte direkt ein, wodurch die Beziehungsgeschichte von Beginn an als multiperspektivisches Erzählunterfangen angelegt war. In Literatur und Film trat die Beziehungsgeschichte im Verlauf der 1970er-Jahre zunehmend in Konkurrenz zur Romanze und romantischen Komödie und brachte eine ganze Reihe neuartiger Liebesfilme und Eheschilderungen hervor, deren Ende nun auch in der Auflösung einer gescheiterten Beziehung oder gar der Scheidung bestehen konnte.67 In dem 1977 veröffentlichten Film Annie Hall von Woody Allen wendet sich der Protagonist Alvy Singer gleich zu Beginn direkt an die Zuschauer und gesteht ihnen: Annie and I broke up, and I still can’t get my mind around that. You know, I keep sifting the pieces of the relationship through my mind and examining my life and trying to figure out where did the screw-up come.
66 Vgl. Shumway 2003, S. 136. 67 Siehe hierzu ausführlich ebd., passim. Als Beispiel für jene neuartigen Eheschilderungen, die Ehe weniger als Versorgungs- oder Schicksalsgemeinschaft, sondern als eine Sonderform von Partnerschaft behandeln, in der zwei Individuen mit gleichberechtigten Bedürfnissen um Intimität, Selbstentfaltung und Auslebung der Sexualität ringen, nennt Shumway verschiedene Texte von John Updike, darunter den Roman Couples von 1968. Siehe ebd., S. 188ff. Was das Verhältnis zum Genre der Romanze betrifft, geht Shumway auch darauf ein, dass viele der Filme, die er dem neuen Genre der Beziehungsgeschichte zuordnet, zugleich sehr bewusst mit Vorstellungen und Bildern von Romantik arbeiten, diese allerdings meist ironisch als von Filmen, Werbung und Romanen angetriebene und im realen Leben nur schwer einzulösende Erwartungen darstellen. Siehe ebd., S. 174ff.
Mit dieser Aussage wird vorweggenommen, dass der Zuschauer die Geschichte einer gescheiterten Beziehung präsentiert bekommt und der gesamte Film als Fallgeschichte präsentiert wird. Es folgen dementsprechend in diskontinuierlicher Erzählweise szenenhafte Vignetten, welche die Beziehung zwischen Alvy und Annie zu charakterisieren vermögen – eben jene „Stücke der Beziehung“, die Alvy laut eigener Aussage wieder und wieder durchgeht, um sich einen Reim darauf zu machen, warum sie nicht funktioniert hat. Der Zuschauer, den Alvy mitunter wie einen Therapeuten anspricht, vermag die Fallstricke der zwischenmenschlichen Dynamik dieses Paars dabei schneller zu erkennen als die beiden Beziehungsteilhaber, die sich munter um Kopf und Kragen reden und deren völlig unterschiedliche Einschätzungen ein und derselben Situation stellenweise ausschließlich der Zuschauer registrieren kann. Obwohl Annie Hall die Beziehung zwischen Alvy und Annie in der Retrospektive behandelt, wird die Suche nach einer partnerschaftlichen Beziehungserzählung als fortlaufendes Projekt und somit Bestandteil der Beziehung selbst gezeigt. Die vielen Gespräche, die beide miteinander, aber auch vor anderen und zwischenzeitlich vor ihren Therapeuten führen, sind auch Versuche, ein schlüssiges Narrativ ihrer Zweisamkeit zu gewinnen, um ihre Liebesgeschichte wortwörtlich fortschreiben zu können. Auch Useful Fictions arbeitet mit der Idee, dass einem Paar die Geschichte der eigenen Beziehung nicht bloß widerfährt, sondern es an ihrem Narrativ mitstrickt, indem es sich immer wieder reflexiv zu den Strukturen seiner Beziehung ins Verhältnis setzt und Beschreibungen seiner spezifischen Paarkonstellation vornimmt. Das zyklische Auf und Ab, das in Useful Fictions gleichermaßen symbolisch auf- wie konkret durchgeführt wird, stellt ein wiederkehrendes Muster vieler Beziehungsgeschichten dar, unabhängig davon, ob diese nun in der Literatur, im Film oder als Fallstudie in der Ratgeberliteratur präsentiert werden. Intendiert ist damit die Einsicht in eine gleichsam natürliche Dynamik jeder individuellen Beziehung, die zwar unausweichliche Tiefpunkte einschließt, aber mit ihren unterschiedlichen Phasen auch eine gewisse Vorhersehbarkeit bietet. Useful Fictions bietet Anlass, über solche Vorstellungen, unterschiedliche Beziehungsentwürfe und -verläufe nachzudenken.
Beziehungsarbeit und Intimität in der Kunst der 1970er-Jahre
Die beiden Interpreten werden hierfür allerdings zunächst aus ihrem alltäglichen Kommunikations- und Interaktionsgewebe herausgeschnitten und in eine etwas befremdliche Übungssituation versetzt. Dies stellt einerseits eine Herausforderung dar und kostet etwas Überwindung, kann andererseits aber auch als befreiender Akt begriffen werden: Die Übung ist das dritte Element, das die beiden Partner auf ungewohnte Weise zusammenbringt und Möglichkeiten der Annäherung bereithält, indem es sie durch die artifizielle Aufgabenstellung in ihrer intuitiven Umgangsweise stört. Führt ein Paar oder ein einander vertrautes Duo diese Übung miteinander durch, findet es sich nicht in der Situation wieder, seine tagtäglichen Beziehungsgespräche zwecks Analyse in einem anderen Rahmen oder sogar unter Aufsicht wiederholen zu müssen. Laings Fragebogentest zielte darauf, Kommunikation und Verhalten zweier Beziehungsteilnehmer in ein wissenschaftliches Idiom zu übersetzen, um die zwischenmenschlichen Verwicklungen und Verwerfungen zu systematisieren – diese standen dann allerdings auch umso solider und vermeintlich unhintergehbar zwischen den Befragten. Demgegenüber offenbart sich Useful Fictions in der Durchführung als sinnlich-poetisches Intermezzo, mit dem etwaige Diskussionen und interne Redemuster unterbrochen, die Glieder gelockert, Perspektiven dynamisiert, Vorstellungen und Bilder von Zweisamkeit und Partnerschaft freigesetzt werden. Die Offenheit, mit der sich die Interpreten in ihren Erzähleinheiten mal konkret auf die artifizielle Übungssituation, dann in übertragenem Sinne auf ihre tatsächliche Partnerschaft beziehen können, findet ihr Echo in dem insgesamt großen Interpretationsspielraum, den diese Activity anbietet, ohne dabei in völlige Beliebigkeit abzugleiten. Useful Fictions ist nicht nur eine Geh- und Spiegelübung, sondern vor allem auch eine Übertragungsübung, die allerdings nicht darauf zielt, eine höhere und über den Intellekt zugängliche zeichenhafte Ebene gegen eine niedere körperlich-sinnliche auszuspielen. In verdichteter Form lässt sich mit Useful Fictions eine Erfahrung machen, die selbst wiederum in die Erzählungen des gemeinsamen Lebens Eingang finden und im Hinblick auf viele Aspekte der Beziehungsführung hin befragt und weitergedacht werden kann.
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Beziehungsarbeit und Intimität in der Kunst der 1970er-Jahre Comfort Zones, Affect, Routine und Useful Fictions bieten nicht bloß eine Form der Selbsterfahrung in Zweisamkeit, sondern sie modellieren Perspektiven auf Partnerschaftlichkeit und Beziehung. Vergegenwärtigt man sich die Szenen oder bewegten Bilder, die bei den Umsetzungen entstehen können, so sieht man Duos, die sich in unterschiedlichen Abständen durch Raum und Zeit bewegen – mal sind die Partner nah beieinander, berühren sich sogar, dann sind sie lediglich über mediengestützte Kommunikation miteinander verbunden. Zu meistern sind Übungen, in denen die Beteiligten mit feinem Sensorium ganz bei sich und zugleich immer auf einen anderen ausgerichtet sein müssen. Wie hierbei mittels konkreter körperlicher Aus- und Aufführung abstrakt vorgefasster Aufgaben intime Situationen auf ihre Strukturen und Bedingungen hin interpretiert werden können, erinnert sowohl an die Arbeiten, die Vito Acconci in den frühen 1970er-Jahren umsetzte als auch an die Gruppe der Relation Works von Marina Abramović und Ulay. Die Relation Works umfassen vierzehn Performances, die zwischen 1976 und 1979 auf Basis der von Abramović und Ulay in ihrem Manifest Art Vital niedergelegten Regeln entstanden und in Kooperation mit Galerien oder Off-Spaces vor Publikum umgesetzt wurden.68 Es sind radikale, physisch extrem anspruchsvolle Performances von hoher Stringenz und konzeptueller Klarheit, in denen Abramović und Ulay mit den Ressourcen ihrer eigenen Beziehung arbeiteten. Ihr Anliegen sei gewesen, „die Ängste und Schwierigkeiten [zu] erforschen, die ein Beziehungsgefüge mit sich bringt“, formulierte Ulay.69 In einer Performance verschlossen Abramović und Ulay ihre Nasenlöcher und beatmeten sich für zwanzig Minuten gegenseitig, in einer anderen saßen sie für siebzehn Stunden Rücken an Rücken mit verknoteten Haaren. Stets ging es dabei auch um ein Kräftemes68 Die Relation Works sind gesammelt aufgeführt in Marina Abramović und Ulay, Relation Work and Detour, Amsterdam 1980. 69 Ulay im Gespräch, zitiert nach Dominic Johnson, „Willensschlacht. Die Relation Works von Ulay und Marina Abramović“, in: Ulay. Life-Sized, hg. von Matthias Ulrich, Ausst.-Kat. Frankfurt, Schirn Kunsthalle, Leipzig 2016, S. 120–131, hier S. 121.
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
53 Marina Abramović und Ulay, Relation Work, Relation in Space, Biennale Venedig, 1976.
sen zweier als gleichberechtigt verstandenen Partner von verblüffend ähnlichem körperlichen Erscheinungsbild.70 Vertrauen und Fürsorge bildeten die Grundlage, um gemeinsam Grenzen überschreiten und sich zum Durchhalten anspornen zu können. Eine der bekanntesten Arbeiten dieser Serie ist Imponderabilia, 1977 in einer Galerie in Bologna realisiert. Abramović und Ulay standen sich in einem schmalen Durchgang nackt gegenüber. Die Besucher waren mithin aufgefordert, sich zwischen den beiden nackten Körpern hindurchzupressen, um in den anderen Ausstellungsraum zu gelangen, wobei sich eine Berührung der Körper nicht vermeiden ließ. Die Tatsache, dass die Performance nach neunzig Minuten vorzeitig von der Polizei beendet wurde, hat dazu beigetragen, dass sie bis heute meist zuvorderst 70 McEvilley spricht von den Arbeiten unter anderem als „mystisch-philosophische Annäherungen an das Konzept des Zwei-in-Eins, der gegenseitigen Abhängigkeit von Unterschieden – schließlich der Austauschbarkeit gegensätzlicher Kräfte.“ Thomas McEvilley, Art. Love. Friendship. Marina Abramović und Ulay, Kingston 2010, S. 40. Während der Dauer ihrer Beziehung und Zusammenarbeit lebten beide Künstler die Idee einer Auflösung geschlechtlicher Differenz und waren fasziniert vom Hermaphrodismus. Vgl. Johnson 2016, S. 123.
als provokative Aktion verstanden wird, in der nackte Körper einen sterilen Ausstellungsraum entweihen und das Verhältnis zwischen Kunstobjekt und Betrachter grundlegend erschüttert wird. Die Performance lebt allerdings auch davon, dass hier zwei Menschen austesten, was mit ihrer Intimität geschieht, wenn diese vom privaten in den öffentlichen Bereich gezogen wird. Zu beobachten war, wie die beiden körperlich und seelisch sehr vertrauten Künstler in der statuarischen Positionierung ständig in Verbindung blieben, obwohl sie einander nicht berührten. Je nachdem, wie die Besucher reagierten und wie sich die Stimmung im Raum veränderte, konnten sie sowohl das Bild zweier souveräner, starker und buchstäblich unumgänglicher Körper abgeben als auch das eines verletzlichen Paares, dessen Intimität gegen die Gesellschaft behauptet werden muss. Relation in Space (Abb. 53) wurde im Jahr 1976 realisiert und dauerte knapp eine Stunde. Unbekleidet liefen die beiden Künstler in einem begrenzten Raum immer wieder aneinander vorbei. Anfänglich streiften sie einander nur leicht am Arm, mit zunehmender Geschwindigkeit wurden die Begegnungen heftiger, bis es schließlich zu ernsthaften Zusammenstößen kam. Das Grundmotiv ähnelt dem der Activity Comfort Zones stark. In Comfort Zones vollzieht sich die Annäherung der beiden Partner allerdings künstlich verlangsamt und, sozusagen dekonstruiert, in mehreren Übungseinheiten, die nacheinander einzelne Aspekte von Intimität und Zweisamkeit behandeln. Demgegenüber ist Relation in Space auf Unmittelbarkeit aus. Die Aufgabenstellung ist einfach und die Spannung entsteht aus dem nicht geprobten Zusammenspiel der beiden Körper, denen es obliegt, die vorgesehene Steigerung zu steuern. Ohne Pausen und ohne Absprachen vollzieht sich eine Annäherung hier live vor Publikum. Die nackten Körper sind präsent, ihre Arbeit und Energie ist sicht- und hörbar, die immer heftiger werdenden Zusammenstöße lassen auch den Zuschauer kurz zusammenzucken. Die Herausforderung von Comfort Zones besteht darin, Introspektion und Aufmerksamkeit für den Partner miteinander in Verbindung zu bringen, subtile Schwingungen wahrzunehmen und darauf zu reagieren – Relation in Space zwingt aufgrund seiner Eigendynamik dazu, intuitiv und schnell zu interagieren,
Beziehungsarbeit und Intimität in der Kunst der 1970er-Jahre
den Körper gleichsam laufen zu lassen und Konfrontation nicht zu vermeiden, sondern sogar zu provozieren. Von unterschiedlichen Seiten kommend versuchen sich beide Arbeiten daran, Zweisamkeit als ein Synchronisierungsprojekt auszuweisen, in dem zwei Kräfte miteinander gekoppelt werden und sich in einem Kontinuum des Zugleich-Seins begegnen. Relation in Movement fand in einer leeren Brunnenanlage in Paris statt. Mit einem Transporter, in dem die Künstler zu dieser Zeit wohnten, fuhren sie dort für sechzehn Stunden ohne Unterbrechung im Kreis – Ulay saß am Steuer, Abramović zählte durch ein aus dem Fenster gehaltenes Megafon die Anzahl der Runden mit. Eine absurde und zweckfreie Handlung war das, die als Extremerfahrung letztlich nur den Künstlern selbst zugänglich war. Dank der formalen Strenge und gestützt durch Dokumentation in Film und Fotografie funktioniert Relation in Movement allerdings auch als bewegtes Bild einer bestimmten Auffassung von Partnerschaft. Das Paar bewegt sich in seinem Gehäuse wie ein Planet auf eigener Umlaufbahn, stur den Kurs haltend, Runde um Runde. Wie lange man dazu imstande ist, wird gleichwohl der Welt da draußen respektive der Öffentlichkeit verkündet. Ist das Durchhalten eine Leistung? Hofft das Duo darauf, zu weiteren Runden angefeuert zu werden? Ähnlich wie bei den Activities von Kaprow spielen auch hier über die einmalige Aufführung hinaus unterschiedliche Übertragungsebenen ineinander. Das Bild von Steuermann und Ansagerin, die (theoretisch unendlich lange) gemeinsam ihre Runden drehen, lässt sich sowohl auf das zeitliche Kontinuum des eingespielten Beziehungsalltags mit seinen Ritualen und Rollenverteilungen beziehen als auch auf ein ganzes Leben, das in einem gemeinsamen Rhythmus verbracht wird. Diese Art von thematisch abgestecktem, aber Nahaufnahme wie Weitwinkel zulassenden Interpretationsspielraum, eröffnet, wie bereits besprochen, auch Useful Fictions von Kaprow. Anders als dies in den Werken von Abramović und Ulay sowie den Activities von Kaprow angelegt war, inszenierte Vito Acconci in vielen seiner performativen, ebenfalls übungshaften Arbeiten ungleiche Konstellationen und übergriffige Verletzungen der Intimsphäre. Wie Abramović und Ulay setzte auch Acconci seinen eigenen Körper als zentrales Medium ein und nutzte seine eigenen intimen Beziehungen
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54 Vito Acconci, Scene Steal, Super 8, Farbe, 3 Minuten, Juli 1970, Performer: Acconci und Kathy Dillon.
recht explizit für sein künstlerisches Schaffen, in dem es häufig um Geständnisse, Voyeurismus, Schuldgefühle und Befriedigung sowie Verletzung des Körpers ging. Anfang der 1970er-Jahre realisierte Acconci mehrere Performances mit seiner Partnerin Kathy Dillon, die zum Teil live vor Publikum stattfanden, zum Teil als Videoperformances konzipiert waren. Der kurze Film Scene Steal (Abb. 54) aus dem Jahr 1970 zeigt Dillon nackt der Kamera zugewendet, während Acconci sich bekleidet vor ihr befindet und der Kamera dabei den Rücken zuwendet. Acconci versucht nun über mehrere Minuten, den Blick der Kamera respektive des späteren Zuschauers auf die nackte Partnerin zu versperren. Dillon weicht immer wieder aus, Teile ihres Körpers sind zu sehen, doch es gelingt dem Künstler erfolgreich, sie seinerseits mit vollem Körpereinsatz zu verdecken. Diesem Schema entgegengesetzt, ist in Pryings Dillon diejenige, die sich der Präsentation vor der Kamera entzieht. Während der 1971 realisierten Performance saßen die Zuschauer in einem Auditorium, vor dessen erster Reihe Acconci und Dillon vor einer Kamerafrau agierten, deren Videosignale mittels Live-Feedback auf einen Monitor übertragen wurden, der mittig
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4. Zu zweit sein. Übungen in Intimität
vorne am Bühnenrand platziert war. Die Zuschauer sahen die agierenden Körper der Performer also nur von hinten und mussten sich für einen Blick auf die Gesichter den Close-up-Videoaufnahmen zuwenden. Über die Dauer von zwanzig Minuten versuchte nun Acconci, seiner Partnerin die Augen zu öffnen, indem er sie festhielt und schließlich mit den Fingern ihre Augenlider nach oben zog. Selbst in den kurzen Momenten, in dem ihm dies gelang, verdrehte Dillon allerdings die Augen, sodass lediglich das Weiß ihrer Pupillen zu sehen war. Während die nackte Frau in Scene Steal daran gehindert wird, sich zu zeigen, soll sie diesmal dazu gezwungen werden, den Mann anzuschauen und damit zugleich ihrer Rolle als Performerin gerecht zu werden und sich vor der Kamera zu offenbaren – deutlich zeigt die Verteilung der Positionen ein geschlechtsspezifisches Machtgefälle, das dem Publikum in extremer, den Körper fordernder und angreifender Form vorgeführt wird. Film- oder Videokamera, Letztere mit der neuartigen Möglichkeit der Live-Übertragung eines elektronischen Bildes, wurden dabei so verstanden, dass sie den Voyeurismus und die Kontrollfunktion des Publikums ebenso wie den Exhibitionismus der Performer apparativ verdoppelten oder verstärkten. Die Grenzüberschreitung betraf nicht primär die manipulativen und gewaltsamen Aspekte der intimen Beziehung selbst, sondern vor allem die Tatsache, dass hier eine Öffentlichkeit in die intime Sphäre der Partnerschaft einbezogen wurde.71 In Pull, 1971 vor Publikum mit einer Dauer von dreißig Minuten realisiert, präsentierten Acconci und Dillon eine andere Art der Blickbeziehung. Dillon stand im Zentrum und drehte sich langsam um die eigene Achse, Acconci umkreiste sie mit etwas Abstand, wobei beide die Aufgabe hatten, sich unablässig in die Augen zu schauen. Richtungswechsel und Veränderung der Geschwindigkeit waren erlaubt, durften aber nicht dazu führen, dass der Blickkontakt abbrach. Auch hier ist die Konstellation zunächst 71 Barbara Engelbach weist zu Recht darauf hin, dass das Festhalten an einer konventionellen Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit die Bedingung dafür darstellt, dass diese Konfrontation beider Bereiche entsprechende Wirkung entfalten kann. Vgl. Barbara Engelbach, Zwischen Body Art und Videokunst. Körper und Video in der Aktionskunst um 1970, München 2001, S. 103.
von Ungleichheit gekennzeichnet: Sie ist eher passiv, ohne Bewegungsspielraum, er ist aktiv, umkreist sie und hält sie durch körperliche Präsenz und festen Blick gefangen. Aber es gibt, ähnlich wie bei Pryings, durchaus Spielraum für Dillon, ihre Position während der performativen Ausarbeitung in eine der Stärke zu verwandeln: Sie kann sich als Auge des Orkans begreifen oder als machtvolle Figur im Zentrum, die ihn mit minimalen Mitteln in Schach hält. Die Aufgabe erlaubt verschiedene Umsetzungsvarianten, jede mit anderen Effekten. Die Blickbeziehung kann mit erotischer Spannung aufgeladen sein, als gegenseitige Kontrolle oder Duell begriffen werden. Zudem gab Acconci in einem Vermerk an, dass sie die Performance auch mit getauschten Rollen noch einmal durchführen könnten.72 Acconci verfasste zu Pull und ähnlichen Arbeiten eine Notiz, die veranschaulicht, welches Erkenntnisund Transformationspotential er seinen Stücken zuschrieb: These pieces can be used, later, as schemes for stages in a relationship – time out – back off for a while from the relationship (each person can try out either role); forecast (anticipate the potential course of a relationship); test (reveal certain imbalances in an existent relationship); rehearsal (try out the role one would like to play in the future).73 Die Art und Weise, wie die Partner sich während der Umsetzung verhalten, was sie empfinden und wie sie mit in einer etwaigen weiteren Realisierung umgehen würden, lässt verschiedene Perspektivierungen zu, die sich wiederum unterschiedlich auf die Auffassung der eigenen Beziehungsdynamik auswirken: War die Performance ein temporäres Zurücktreten von der Beziehung, die Vorhersage künftiger Entwicklungen, ein Test, der ein Ungleichgewicht zum Vorschein brachte oder eine Probe für eine künftige neue Rollenverteilung? Ähnlich wie dies für Kaprows Activities sowie die Relation Works von Abramović und Ulay zu verzeichnen war, sind also auch 72 Vito Acconci. Diary of a Body, 1969–1973, hg. von Vito Acconci, Sarina Basta und Garrett Ricciardi, Mailand 2006, S. 261. 73 Ebd.
Beziehungsarbeit und Intimität in der Kunst der 1970er-Jahre
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Acconcis Duo-Stücke als performative Beziehungsarbeit zu begreifen, die sich nicht in der einmaligen Performancesituation erschöpft. Vielmehr kann eine Arbeit wie Pull als Reflexionsmedium oder Modell dienen, um über die „verschiedenen Stadien“ einer konkreten Beziehung nachzudenken. In dem weiten Spektrum der Performance-Kunst und Body Art der 1970er-Jahre blitzen Partnerschaft, Beziehung und Intimität als Themen auf, die mit der für diese Kunstformen grundlegenden Betonung von Körperlichkeit, Aushandlung und Prozess auf natürliche Weise verbunden zu sein scheinen. Kontur erlangt die Auseinandersetzung mit diesen Themen besonders in jenen Arbeiten, die – wie Kaprows Activities – für zwei Personen konzipiert oder sogar von Paaren selbst umgesetzt wurden. Intimität wird in Werken wie Comfort Zones, Affect, Routine und Useful Fictions, aber auch den Relation Works von Abramović und Ulay oder den Partnerarbeiten von Acconci als Qualität und Anforderung spätmoderner Partnerschaften herausgearbeitet, aber durchaus auch als potentielle Gefährdung der Autonomie und Ziel manipulativer Übergriffe erkannt. In der Umsetzung solcher Aufgaben geht es darum, Prozesse der körperlichen, seelischen, gedanklichen Annäherung zu vollziehen und einen konzentrierten Modus geteilter Aufmerksamkeit – einerseits auf das eigene Empfinden und Nachdenken, andererseits auf die Selbstoffenbarung und Kommunikationsangebote des Partners – zu trainieren. Dies entspricht den Grundzügen der Intimitätskultur der 1970er-Jahren, in der mit dem Wunsch nach Authentizität und Selbstoffenbarung sowie gesunder Sexualität auch die Sprache der Rechte und des Aushandelns Einzug in Schlafzimmer und Haushalt hielt.74 Anthony G iddens beschrieb diesen Vorgang als eine begrüßenswerte „Demokratisierung“75. Die „reine Beziehung“, befreit vom Reproduktionszwang und getragen von einer Idee sexueller Gleichberechti-
gung, beinhalte ein Versprechen von Intimität, die Möglichkeit von Intimität bedeute wiederum das Versprechen auf Demokratie.76 In Bezug auf Kaprows Activities bemerkte Sanda Agalidi 1979 nach der Realisierung einer dieser Übungen, ihnen sei „ein Sinn für Symmetrie und Fairness“ zu eigen.77 Gegenüber den anderen oben genannten Partnerübungen zeichnen sich Kaprows Activities tatsächlich durch ein besonders hohes Maß an Vermittlung, Kommunikation und Abstimmung aus. Aber auch den Arbeiten von Abramović und Ulay ist ein Sinn für Symmetrie und Fairness nicht abzusprechen, während Acconci stärker auf die auch in einer Liebesbeziehung schwer hintergehbare Ausübung von Macht und Verletzung der Intimsphäre abhebt. Grundlegend unterscheiden sich Kaprows Activities von den anderen Positionen allerdings durch den konsequent partizipativen Ansatz und den Verzicht auf Publikum. Die Umsetzung der Übungen durch mehrere freiwillige Interpretenduos im Rahmen eines Workshop-Formats stellte eine Besonderheit des Kaprowschen Ansatzes dar. Die exemplarische Veranschaulichung von Wahrnehmungsvorgängen und zwischenmenschlichen Spannungen durch einen oder mehrere Künstlerkörper vor Publikum gab es hier nicht. Ob sich ein einzelner Interpret während der unbeobachteten Realisierung einer Activity als Body Art- oder Performance-Künstler begriff, war unerheblich. Stattdessen aktivierte Kaprow, wie im Folgenden erläutert wird, für seine Partnerübungen auf mehreren Ebenen einen anderen, eigentlich kunstfernen Bezugsrahmen: Intimität und Beziehung wurden unter Auseinandersetzung mit den Perspektiven und Praktiken der Sozialwissenschaften und Psychodisziplinen der 1970er-Jahre zum Thema gemacht. Dies sollte nicht ohne Auswirkungen auf den Erfahrungsund Deutungshorizont bleiben, wie er sich den Interpreten der Activities darbot.
74 Vgl. Illouz 2018, S. 224. 75 Giddens 1993, S. 11.
76 Vgl. ebd., S. 107 und S. 203. 77 Agalidi 1979, S. 62.
5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung Dem heutigen Rezipienten präsentieren sich die Activities in erster Linie in Form der schriftlichen Partitur und der Text-Bild-Broschüren. Zu ihrer Entstehungszeit sah Kaprow allerdings eine spezifisch gefasste Übungssituation für die Durchführung seiner Activities vor. Jede Übung sollte von mehreren Duos getrennt, aber im gleichen Zeitraum absolviert werden. Gerahmt wurde die Realisierung von einer Vorbesprechung und einer von Kaprow moderierten anschließenden Feedbackrunde, in der die Erfahrungen und Ergebnisse zusammengetragen wurden. Dieselbe Anleitung von mehreren Personen umsetzen zu lassen, lässt sich auf den ersten Blick als ironische Aufnahme der seriellen Verfahren der Minimal Art verstehen, im Zusammenspiel mit der Vor- und Nachbesprechung offenbart dieser Ansatz auf den zweiten Blick allerdings auch eine Nähe zur Durchführung von wissenschaftlichen Experimenten. Lässt sich davon sprechen, dass jede individuelle Realisierung einen Datensatz für eine größer angelegte Studie lieferte? Mit dem anschließenden Gespräch wurde einer Zusammenführung der Ergebnisse zumindest eindeutig ein Mehrwert zugemessen und die Teilnehmer konnten ihre Interpretationen durchaus als Beiträge zu einer größeren Versuchsanordnung verstehen. Aber auch in die Übungen selbst sind Verfahren eingelassen, die sich im Kontext der Wissenschaftskultur um 1970 als forschungsinformierte Praktiken erkennen lassen. Welche Wissenschaften und mit ihnen verbundene Methoden hierbei eine Rolle spielen und wie eng deren spezifische Auffassung auch mit den Inhalten der Übungen verknüpft war, darüber kann in einem ersten Schritt die Realisierung der Activity Basic Thermal Units Aufschluss geben. Basic Thermal Units (P10) wurde im März 1973 in vier Städten im Ruhrgebiet realisiert (Abb. 55). Laut einem Zeitungsartikel nahmen insgesamt
etwa sechzig Paare daran teil.1 An jedem Ort fand sich eine Gruppe von Duos zusammen, die jeweils unterschiedliche Korrelationen des Erwärmens und Abkühlens von Räumen und Körpern erprobten. Kaprow konzipierte die Activity gemeinsam mit seiner deutschen Galeristin Inge Baecker so, dass sie wie eine Versuchsreihe über den Zeitraum einer Woche ablief. Für die Teilnehmer in Essen lautete die Aufgabenstellung: „Heating a Body, Heating a Room“, in Duisburg: „Heating a Room, Cooling a Body“, in Bochum: „Cooling a Room, Cooling a Body“ und schließlich in Remscheid: „Cooling a Room, Heating a Body“ (Abb. 56).2 Die Teilnehmer, darunter auch Kaprow und Baecker, bildeten Duos und konnten ihre privaten Räume für die Umsetzung nutzen. Manche von ihnen wurden dabei von Fotografen begleitet, um Bildmaterial für eine geplante Publikation anzufertigen, andere ließen sich offenbar von einer dritten Person zu privaten Zwecken während der Realisierung fotografieren.3 Entsprechend der aufgeführten Kombinationen forderte die Übung dazu auf, sich via Telefonverbindung über die entweder mit Thermometer gemessene Raumtemperatur oder die gefühlte Körpertemperatur zu informieren und jeweils adäquate 1 JAT, „[Art.] Weg von der Norm“, in: Deutsche Zeitung / Christ und Welt, 30.3.1973. Von den meisten dieser sechzig Realisierungen – sofern sie überhaupt alle stattgefunden haben – sind in den Archiven keine Spuren zu finden. 2 P10: Allan Kaprow, Partitur Basic Thermal Units, 1973, Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20. 3 In den Allan Kaprow Papers im Getty Research Institute finden sich vorbereitende Materialien für eine Broschüre zu Basic Thermal Units, die allerdings in gedruckter Form nicht gefunden werden konnte. Notizen von Kaprow lassen darauf schließen, dass er plante, in die Broschüre nicht nur die schriftliche Partitur und gestellte Fotografien, sondern auch „tatsächliche Dokumente“ der Realisierung aufzunehmen, also Fotografien, die während einer tatsächlichen Umsetzung entstanden, Protokolle der Teilnehmer oder Transkripte mündlicher Aussagen aus den anschließenden Gesprächen. Diese Erweiterung der Broschüre um einen eindeutig dokumentarischen Aspekt wurde allerdings verworfen und auch für keine andere Activity umgesetzt.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
55 Allan Kaprow spricht über Basic Thermal Units, Museum Folkwang, Essen, 14.3.1973, Fotografie: Inge Baecker.
56 Allan Kaprow, Basic Thermal Units, 1973, Galerie Inge Baecker, Bochum, Partitur als Typoskript.
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung
Maßnahmen zu ergreifen, um die eigene Temperatur schrittweise entsprechend den Angaben des Partners anzupassen. Das Ende der Übung wird mit einer Formulierung bezeichnet, die darauf zielt, dass die Grenze, an der diese nicht mehr fortgeführt werden kann, von der jeweiligen Erfahrung der Teilnehmer bestimmt wird: „until too cold“ oder „until too hot“. Zur Orientierung empfahl Kaprow gleichwohl einen ungefähren Zeitraum von drei Stunden Dauer pro Realisierung. Als gemeinsamer Rahmen aller individuellen Durchführungen fungierten ein Vorgespräch sowie eine zweistündige Abschlussbesprechung im Kunstmuseum Bochum, bei der die Teilnehmer aufgefordert waren, ihre Erfahrungen zusammenzutragen. Obwohl die einzelnen Durchführungen also ohne Aufsicht und Publikum stattfanden, wusste sich jeder einzelne dem größeren Projekt verbunden und konnte Vermutungen darüber anstellen, wie wohl die anderen Personen die gleiche beziehungsweise variierte Aufgabe meistern würden. Der festgesetzte zeitliche Rahmen und die angekündigte Nachbesprechung an einem öffentlichen Ort unter Anwesenheit von Pressevertretern, des Künstlers und der Organisatoren schufen zudem eine gewisse Verbindlichkeit. Obwohl dies nicht Teil der schriftlichen Anleitung war, wurden die Teilnehmer offenbar angeregt, in einer ihnen passend erscheinenden Form die Ereignisse und Erfahrungen zu protokollieren. Im Archiv der Galeristin Inge Baecker sind neben Fotografien mehrere Schriftstücke erhalten, die Zeugnis davon ablegen, wie der Anschein von Wissenschaftlichkeit auf unterschiedliche Weise in die Interpretationen von Basic Thermal Units Eingang fand. Die Fotografien, die von den Fotografen Timm Rautert und Lothar Wolleh sowie von Inge Baecker selbst stammen, inszenieren einerseits die Intensität, andererseits die absurden Züge der zur Regulierung der Temperatur ergriffenen Maßnahmen: Eine Teilnehmerin steht mit mehreren Kleidungsschichten und Pelz im Wohnzimmer am Telefon (Abb. 57), Kaprow selbst kühlt sich mit Plastikbeuteln ab, die mit Eiswasser gefüllt sind (Abb. 58), ein Teilnehmer wechselt von Unterwäsche zu dickem Pullover (Abb. 59 und 60). Auch die Fotografien, welche noch stärker modellhaften Charakter haben, zeigen entsprechende Maßnahmen: Ofen heizen mit geöffneter Tür (Abb. 61), Ventilatoren rotieren, Personen tupfen sich den Schweiß von der Stirn und halten
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57 Allan Kaprow, Basic Thermal Units, Teilnehmerin in Essen, 15.3.1973, Fotografie: Timm Rautert.
58 Allan Kaprow kühlt seinen Körper ab während Basic Thermal Units, 1973, Privatwohnung in Bochum, Fotografie: Inge Baecker.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
59–60 Teilnehmer von Basic Thermal Units in Duisburg, Fotografie: Timm Rautert.
62 Fotografien zur Partitur Basic Thermal Units von Lothar Wolleh.
61 Fotografie zur Partitur Basic Thermal Units von Lothar Wolleh.
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung
sich Eiswürfel an Hals und Knöchel (Abb. 62).4 Die während der Durchführung angefertigten Protokolle und im Nachhinein verfassten Berichte sprechen allerdings in ihrer Heterogenität eine weitaus differenziertere Sprache. Sie teilen nicht nur etwas über die unvorhersehbare Dynamik des Verlaufs mit, die in einigen Versuchen zu einem abrupten Ende der Übung führte, sondern auch über die Bemühungen, sich selbst im Tun möglichst umfänglich über die eigenen Empfindungen, Stimmungsschwankungen und Körpersensationen zu informieren. Schon das bloße Notieren des Ablaufs bereitete in der realen Situation Schwierigkeiten, da zwar das Thermometer verlässliche Messdaten lieferte, die Körpertemperatur aber nur in einem sehr kleinen Spielraum messbar manipuliert werden konnte und ansonsten lediglich gefühlsmäßig geschätzt werden musste. Der Anrufer musste also entscheiden oder im Telefongespräch austarieren, welcher Grad von Erwärmung oder Abkühlung für die nächste Aktion des Partners gelten sollte. Entsprechend vage, unsicher oder mit Erläuterungen versehen, nehmen sich die entsprechenden Mitschriften aus. Eine Notiz (Abb. 63) vermerkt die Körpertemperatur überhaupt nicht, sondern lediglich die angeforderten Schritte zur Absenkung sowie zum Schluss gleichsam ersatzweise die Temperatur des Badewassers, in dem sich der Körper befindet und das zuvor mithilfe von Eiswürfeln auf 15 Grad Celsius abgekühlt wurde.5 Eine andere Teilnehmerin aus Bochum wählte zwei unterschiedliche Aufschreibesysteme, die sie jeweils mehrfach wie offizielle Dokumente beglaubigte, indem sie sie mit Datumsstempel, Adressstempel, Unterschrift und der 4 Die Fotografien von Timm Rautert überlassen sich dabei eher dem mehr oder weniger starken Inszenierungswillen der Teilnehmer, diejenigen von Wolleh hingegen sind zwar auch im Kontext einer einzelnen Umsetzung entstanden und zeigen Teilnehmer aus dem Ruhrgebiet, sind aber deutlicher als gestellte Fotografien mit demonstrativem Charakter konzipiert, wie Kaprow sie für seine Broschüren vorsah. Auch der quadratische Bildzuschnitt einzelner Fotografien von Wolleh im Nachlass Kaprows deutet darauf hin, dass diese womöglich der schriftlichen Partitur mit dem charakteristischen, gerasterten Layout zugeordnet werden sollten. 5 Notizzettel (deutschsprachig) mit Zeit- und Temperaturangaben, entstanden während der Realisierung von Basic Thermal Units im Ruhrgebiet 1973, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19.
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63 Notiz zu einer Realisierung von Basic Thermal Units 1973 im Ruhrgebiet.
Angabe „Protokoll“ versah. Auf einem Papierbogen, wie er zum Beispiel für das Aufschreiben des Verlaufs von Herz- oder Wehenfrequenzen verwendet wird, visualisierte sie die Entwicklung der von ihr verantworteten Raumtemperatur im Übungszeitraum zwischen 11.45 Uhr und 13.08 Uhr (Abb. 64).6 Die gezeichnete Kurve mit ihren Ausschlägen in der zweiten Hälfte suggeriert ein augenfälliges Ergebnis der durchgeführten Übung und übersetzt den individuellen, zwischenmenschlichen Abstimmungsprozess in ein Diagramm, das wissenschaftlichen Standards der Genauigkeit, Lesbarkeit und Vergleichbarkeit Genüge tut. Zusätzlich wählte die Interpretin für ein ausführlicheres Protokoll ein Blatt mit drei Spalten, das in der Mitte Raum für Erläuterungen ließ (Abb. 65).7 Dort notierte sie, dass ihre Partnerin zunächst anruft und mitteilt, noch keine Abkühlung des Körpers 6 M. H., gezeichnetes Diagramm mit Zeit- und Temperaturangaben, entstanden während der Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ebd. 7 M. H., maschinenschriftliches Protokoll zur Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ebd.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
64 Diagramm zu einer Realisierung von Basic Thermal Units 1973 in Bochum.
65 Protokoll zu einer Realisierung von Basic Thermal Units 1973 in Bochum.
„zu spüren“, knapp zwanzig Minuten später jedoch überschlagen sich die Ereignisse, weshalb sie die einzelnen Schritte im Nachgang mit einem Asteriskus im Protokoll einfügt. Nicht ohne Sinn für Humor beschreibt sie das Ende der Übung um 13.08 Uhr mit den Worten: „Dr. U. bricht ab, sie sagt: sie erstarrt. Ende“ und unterstreicht das Wort „Ende“ zweifach. Während linke und rechte Spalte mit Uhrzeit und Raumtemperatur eindeutige Angaben liefern, bildet die breite mittlere Sektion des Protokollblatts ab, was dem objektiv Messbaren zuwiderläuft: Die Schwierigkeit, das eigene Körperempfinden in eine Gradzahl zu übersetzen, aber auch das ständige Verfehlen der Übereinstimmung. So sinkt auf einmal die Raumtemperatur bei geöffnetem Fenster zu schnell ab und es muss gegengesteuert werden. Schon während der
Übung erkennt die Teilnehmerin, dass Basic Thermal Units entgegen der simpel anmutenden Anleitung nicht nach einem einfachen Aktion-Reaktion-Schema funktioniert und mit unvorhersehbaren Effekten zu rechnen ist. Dieses Wissen macht sie sich zunutze, wenn sie während der Durchführung in das holprige System eingreift, indem sie eine andere Form der Korrelation von Raum- und Körpertemperatur testet: „Dr. U: Das Wasser ist unangenehm. Sie fröstelt, aber sie glaubt, ihre Körpertemperatur sei nicht niedriger. Ich öffne das Fenster, weil sie glaubt, das kalte Wasser nicht mehr lange zu ertragen.“ Um der leidenden Übungspartnerin entgegenzukommen, senkt sie proaktiv die Raumtemperatur und beschleunigt somit das Geschehen.
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung
Die Partnerin am anderen Ende der Telefonleitung wählte eine offenere, weniger an naturwissenschaftliche Aufschreibetechniken erinnernde Form, um ihre Erlebnisse festzuhalten (Abb. 66).8 Die genaue Angabe der Uhrzeit dient ihr als Strukturelement, dahinter notiert sie stichwortartig die Geschehnisse. Auffällig ist, dass sie den aufzuschreibenden Erlebniszeitraum ausdehnt und bereits für den Morgen des Tages der Realisierung den ersten Eintrag macht. Sie schreibt, dass sie feststellt, kein funktionstüchtiges Badethermometer zu haben und deshalb in der Drogerie eines kaufen gehen muss. Im zweiten Eintrag bekennt die Teilnehmerin, mit dem Gedanken einer Absage des „Happenings“ zu spielen, weil ihr der Eingriff in das eigentlich vorgesehene Tagesprogramm bereits jetzt zu groß erscheint, davon jedoch absieht, um die Partnerin nicht zu enttäuschen. Wie andere Teilnehmer auch, vermerkt sie die Unmöglichkeit, die Veränderung der eigenen Körpertemperatur unabhängig von umgebenden Faktoren, hier vor allem der Temperatur des Badewassers, zu beobachten, und lässt eine gewisse Frustration erkennen: „[…] kann eigene Abkühlung nicht schätzen. Will aufhören.“9. Erst bei einer Wassertemperatur von 6 Grad Celsius verspürt sie schließlich „das Gefühl von Kälte“ und kann dies der Partnerin übermitteln. Ein Teamprotokoll legten zwei andere Teilnehmer aus Bochum vor, indem sie den Verlauf in der Badewanne in der linken Spalte direkt dem Verlauf im Zimmer in der rechten Spalte gegenüberstellten (Abb. 67).10 Dabei beschränkten sich Randolph Calderoni und Kay Mengelbier ausschließlich auf die technischen Angaben und von außen sichtbaren Aktionen, also Uhrzeiten beziehungsweise Zeitdauern, Temperaturen und Abkühlungsgrade sowie Handlungen („Heizung ab“, „Fenster ganz auf“, „Zugabe von Eiswürfeln und einem Eisblock“). In Kombination mit der durchgehenden Verwendung von Abkürzungen (etwa „W. T.“ für Wassertemperatur oder „subj.“ für subjektiv) und der Bezeichnung des Teilnehmers als „Versuchsperson“ wird so ein Schriftstück erzeugt, 8 U., maschinenschriftliches Protokoll zur Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ebd. 9 Ebd. 10 Randolph Calderoni und Kay Mengelbier, maschinenschriftliches Protokoll zur Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ebd.
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66 Protokoll zu einer Realisierung von Basic Thermal Units 1973 in Bochum.
das den Anschein größter Objektivität und Kontrolle über ein zu beobachtendes Geschehen erweckt. Summarisch halten die beiden Teilnehmer auf Seite zwei verschiedene Körperreaktionen fest, darunter „äußerste Beherrschung unter 10 Grad Celsius“. Neben der abschließenden Rückmeldung, dass allen Mitwirkenden dieses Ereignis „unvergesslich“ bleiben werde und sie jederzeit wieder bereit wären mitzumachen, fällt der Vermerk auf, dass „alle weiteren ‚Feelings‘ […] bei der Generalbesprechung im Kunstmuseum festgehalten wurden“.11 Dieser Hinweis relativiert das vorliegende Dokument, das mit der Wiedergabe eines offenbar gänzlich reibungslosen und messbaren Ablaufs wohl doch nicht die ganze Geschichte zu erzählen scheint. Die gefühlsmäßigen Vorgänge zu schildern, behielt man sich für das Gespräch in 11 Tonbänder dieses Gesprächs konnten bislang nicht ausfindig gemacht werden.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
der Gruppe vor, das laut einem Zeitungsartikel rund zwei Stunden dauerte und in dem die Teilnehmer zum einen das Glücken und Misslingen der Abstimmung mit dem Partner, zum anderen die Wirkung der ungewöhnlichen Temperaturveränderungen in den Mittelpunkt stellten: Überheizen des Zimmers bis 35 Grad wurde als Anregung bis zur Euphorie erlebt. Gefühle der Isoliertheit standen Erlebnissen gegenüber, die an die Grenze der Gedankenübertragung führten. Aber als Wichtiges [sic] wurde die Abweichung von der Norm registriert, das Durchbrechen des Lebensklischees.12 Mit den vier Varianten des innerhalb eines festgelegten Zeitraums von mehreren Teilnehmerduos durchzuführenden Prozesses hat Kaprow Basic Thermal Units nicht als einmaliges Ereignis, sondern als Versuchsreihe angelegt. Der Arbeit deshalb pauschal „Wissenschaftlichkeit“13 zu attestieren, wie Charlotte Kraft dies tut, greift jedoch zu kurz, und auch die Beschreibung als „Experiment“ bedarf näherer Erläuterung. Fehlt es Basic Thermal Units nicht genau an dem, was die Grundlage eines jeden naturwissenschaftlichen Experiments ist, nämlich an einer Hypothese, die es durch das Experiment zu bestätigen – oder zu verwerfen – gilt? Nähme man als Ergebnis dieses Experiments etwa die Temperatur, die von den Paaren jeweils am Ende erreicht wurde, so ließen sich zwar Daten vergleichen, doch die daraus abzuleitenden Aussagen wären unsinnig, geschweige denn anwendbar. Dass es offensichtlich nicht darum geht, valide Ergebnisse zu erzielen oder eine Hypothese zu verifizieren (beispielsweise: „Ja, die in Abstimmung vorgenommene Abkühlung von Raum- und Körpertemperatur vollzieht sich im Durchschnitt um 20 Minuten schneller als die in Abstimmung vorgenommene Erwärmung“), liegt auf der Hand. Basic Thermal Units ist so angelegt, dass sich während der Ausführung
67 Team-Protokoll zu einer Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973.
12 JAT 1973. 13 Charlotte Kraft, „Wärme- und Kälteeinheiten. Allan Kaprow in Deutschland“, in: Wärme- und Kälteeinheiten. Allan Kaprow in Deutschland, hg. vom Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung (ZADIK), Nürnberg 2011 (sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels), S. 13–31, hier S. 23.
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung
immer mehr Variablen ergeben, die den Fortgang beeinflussen und ihm eine zuvor nicht absehbare Dynamik verleihen. Dieser Versuchsanordnung ist die Implosion des steuerbaren, protokollierbaren und planvollen Ablaufs schon eingeschrieben. Schließlich produziert Basic Thermal Units über alle vier Städte und Varianten hinweg lauter Einzelfälle und im Abschlussgespräch werden anstelle von Messdaten Erfahrungen zusammengetragen. Dass man überhaupt im Nachgang über das zuvor Erlebte ins Gespräch kommen kann, ist aber wiederum dem verbindlichen Rahmen zu verdanken. Der Verlauf folgt somit einem Dreischritt: Ein modellhaft formuliertes Konzept wird zunächst durch die Fülle individueller Realisierungen zugleich konkretisiert wie atomisiert, die so entstandenen Einzelteile werden dann aber wieder zueinander in Beziehung gesetzt und versuchsweise in eine gemeinsame Erzählung eingebettet. Obwohl eine positivistische Wissenschaftskultur auf diese Weise torpediert und auch parodiert wird, sind der experimentelle Geist und das forschende Ethos einer Activity wie Basic Thermal Units nicht als bloße Rhetorik abzutun. In seiner Polemik gegen die Kunst der Neo-Avantgarden hatte Hans Magnus Enzensberger schon in den 1960er-Jahren von dem „Experiment als Bluff“14 gesprochen, mit dem die jungen Künstler ihre „mangelnden Ergebnisse“15 zu kaschieren versuchten. Anlass dieser scharfen Kritik war der zunehmende Gebrauch der Begriffe ‚Experiment‘ und ‚experimentell‘ in den Bildenden Künsten um 1960, in deren Kontext sie oftmals schlicht mit einem kühnen Auftritt des Künstlers, dem Einsatz von Elektronik oder der Zersetzung des Werkbegriffs gleichgesetzt wurden. Kaprow verband das Selbstverständnis als experimenteller Künstler schon früh mit der Idee von einer künstlerischen Forschung, die sich selbstbewusst im Reigen der unterschiedlichen Wissenschaften würde positionieren können. Mehr als zehn Jahre, bevor Kaprow am CalArts mit der programmatischen Verpflichtung aller Künste auf die Haltung des Forschers und den Mut zum Experiment offene Türen
14 Hans Magnus Enzensberger, „Die Aporien der Avantgarde“, in: Ders., Einzelheiten, Frankfurt am Main 1964, S. 290–315, hier S. 310. 15 Ebd.
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einrannte, hatte er während seiner Anstellung an der Rutgers University erfolglos mit den befreundeten Kollegen Robert Watts und George Brecht in einem Antrag auf Fördermittel für das „Project in multiple dimensions“, welches unter anderem die Einrichtung eines „Forschungslabors“16 an der Abteilung für Bildende Künste vorsah, mit dem Argument geworben, die künstlerische Arbeit sei als eine der wissenschaftlichen Tätigkeit verwandte „Forschung“17 zu begreifen und müsse sich „den aktuellen Stand der Wissenschaft und Technologie für die Untersuchung neuer Medien und Materialien zunutze machen“18. Kaprow gehörte somit zur ersten Generation der universitär verankerten Künstler, die – durchaus schon mit hochschulpolitischem Kalkül – von künstlerischer Forschung sprachen und diese explizit mit Praktiken der Wissensproduktion in wissenschaftlichen Disziplinen in Verbindung setzten. Das frühe Bild einer künstlerischen Forschung zeigte tendenziell den Künstler schon als jene Figur des ‚Un-artist‘, der zwar nicht die Seiten wechselt, aber gleichsam als Künstler ohne Eigenschaften versuchsweise in die Rolle des Biologen, Ingenieurs oder Informatikers, Anthropologen oder Psychologen schlüpfen kann, um einer Frage nachzugehen, die ihn interessiert und für die ihm als Maler, Bildhauer oder Zeichner nicht die adäquaten Mittel zur Verfügung zu stehen scheinen. Die selbstbewusste, aber auch fortschrittsgläubige Annahme, mit diesem Vorgehen eine innovative Energie zu entwickeln, die nicht nur die Künste, sondern auch die anderen Wissenschaften in positivem Sinne erneuern könne, spielt als Relikt der zwischen Souveränitätsverlust und Phantasien universaler Steuerung schwankenden Wissenschaftsund Technologiekultur der 1970er-Jahre noch heute in der Diskussion um Artistic Research als Grundmodus künstlerischen Arbeitens, akademische Disziplin und Drittmittelmagnet eine zentrale Rolle.19 16 Aus dem Typoskript dieses Projektantrags zitiert Gabriele Knapstein (in eigener Übersetzung), vgl. Knapstein 1999, S. 83. 17 Ebd., S. 81. 18 Ebd. Knapstein berichtet außerdem, dass George Brecht, mit dem Kaprow gemeinsam die Kompositionsklasse von John Cage besuchte, davon sprach, er sehe sich als ‚Forscher-Künstler‘, vgl. ebd., S. 9. 19 Vgl. Elke Bippus, „Künstlerische Forschung“, in: Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, hg. von Jens Badura u. a., Zürich und Berlin 2015, S. 65–68, hier S. 65. Zur gegenwärtigen
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
Die Rede von der künstlerischen Forschung war aber schon in den 1970er-Jahren im Hinblick darauf unbestimmt, ob man wissenschaftskritisch agierte, die Kunst also die Wissenschaft mit deren eigenen Mitteln schlagen konnte, oder ob es vielmehr darum ging, den Künsten über eine Einbindung in den Wissenschaftskontext zu größerer Relevanz zu verhelfen. Den Begriff ‚Forschung‘ zu verwenden, erschien aus diesem Grund deutlich attraktiver als die eindeutigere Überblendung von ‚Kunst‘ mit ‚Wissenschaft‘. Die Entscheidung für einen emphatischen Forschungsbegriff zielte darauf, Neugier, Risiko und Unsicherheit zu betonen – und somit nicht Kunst als die bessere Wissenschaft in Stellung zu bringen, sondern sich mit denjenigen zu alliieren, die ihr forschendes Tun als Gegenbewegung verstanden zu der Vorstellung von Wissenschaft als notwendigerweise positivistisch, rationalistisch und abgehoben vom gesellschaftlichen wie politischen Tagesgeschäft. Bruno Latours 1998 in der Zeitschrift Science publizierter Ruf „Die Wissenschaft mag tot sein, aber lange lebe die Forschung!“20 formuliert in zugespitzter Form eine unerwartete Gegenläufigkeit der Konzepte ‚Forschung‘ und ‚Wissenschaft‘, wie sie sich rückblickend in dem Diskussion um Artistic Research siehe auch Sibylle Peters, „Vorwort“, in: Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, hg. von ders., Bielefeld 2013, S. 7–21 sowie Sven Beckstette, Tom Holert und Jenni Tischer, „Artistic Research. Vorwort“, in: Texte zur Kunst, H. 82, Juni 2011, S. 4. 20 Bruno Latour, „From the World of Science to the World of Research“, in: Science, Bd. 280, H. 5361, 1998, S. 208f. Latour bemerkt in diesem kurzen Text den Übergang von einer Kultur der Wissenschaft zu einer Kultur der Forschung, der längst im Gange sei. Während Wissenschaft mit Gewissheiten operiere und von ihr erwartet wird, kalt, geradlinig und abgehoben zu sein, verschreibe sich Forschung der Ungewissheit, sei „warm, verstrickend und riskant“ (Übers. d. Verf.). Sich im Zeichen der Forschung von dem Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts zu verabschieden, sieht Latour als Chance, um die Wissenschaften zurück in die Gesellschaft zu holen und an der kollektiven Erarbeitung von Problemlösungen, etwa in Bezug auf den Klimawandel, zu beteiligen. Latour verknüpft seinen wissenschaftskritischen Ansatz, der ihm selbst mitunter den Vorwurf einbrachte, der Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse vollends den Boden zu entziehen, an anderer Stelle mit einer expliziten Kritik des Poststrukturalismus, dessen Theorien über die Relativität und Konstruiertheit von Fakten er spätestens angesichts von Fake-News und Verschwörungstheorien als äußerst problematisch und nicht mehr zeitgemäß erachtet. Siehe etwa Bruno Latour, Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich und Berlin 2007.
Versuch einer Positionierung der Künste als forschender Disziplin in den 1970er-Jahren schon andeutete. Basic Thermal Units ist somit weder ein im Rahmen der Kunst durchgeführtes streng wissenschaftliches Experiment noch lediglich die künstlerische Parodie eines Experiments. Die Activity schafft eine Situation, in der die Teilnehmer sich selbst unter ungewohnten Bedingungen, aber in vertrautem Umfeld erforschen, ohne dabei am Ende ein Ergebnis – oder ein Kunstwerk – zu produzieren. Nicht das Experiment als Methode, sondern das Experimentieren als Praxis mit offenem Ausgang stellt hierbei die Bezugsgröße dar. Es ist deshalb gewollt, dass die vielen Variablen und die eigentlich unmögliche Verknüpfung von objektiven und subjektiven Informationen die Teilnehmer immer wieder in der Durchführung behindern und sie auf ihr gemeinsames und voneinander abhängiges Tun zurückwerfen. Obwohl die Ironie der Aufgabenstellung die in der Wissenschaft geforderte verifizierende Funktion eines Experiments unterläuft, stellt die Rahmung des Unterfangens als Forschung erst die Verbindlichkeit her, die benötigt wird, um die Übung durchzuführen und sich dabei immer wieder von sich selbst zu distanzieren und zum Objekt der Beobachtung zu machen. Mit ihr wird den subjektiven Empfindungen in all ihren Schattierungen Realität und Relevanz zugesprochen, nicht umgekehrt dem Experiment aufgrund bloß subjektiver Daten und mangelnder Ergebnisse die Gültigkeit abgesprochen. Die oben erläuterten unterschiedlichen Aufzeichnungen und im Abschlussgespräch gehörten mündlichen Berichte zeigen den Spielraum auf, innerhalb dessen Basic Thermal Units als Forschungsprogramm verwirklicht werden konnte, changierend zwischen nüchternem Protokoll und Erlebnisbericht. Eine Teilnehmerin, die im Verlauf der Übung die Raumtemperatur von 18 auf 35 Grad Celsius erhöhte, überschritt mit ihrem mehrseitigen, ausformulierten Text die Grenzen wissenschaftlicher Verschriftlichungsverfahren (Abb. 68).21 Mit ausladender, mitunter schwer zu entziffernder Handschrift brachte sie einen Bericht zu Papier, in dem die Temperaturen
21 A. R., handschriftlicher Text zur Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19.
Basic Thermal Units: Kunst als Forschung
und Uhrzeiten zunehmend an den Rand gedrängt werden und einem Bewusstseinsstrom Platz machen, wie er etwa aus der Literatur Virginia Woolfs bekannt ist. Irritierte Fragen der Kinder („Was soll das?“), diverse Ablenkungen und gedankliche Abschweifungen zu noch nicht erledigten alltäglichen Aufgaben finden genauso Eingang in diesen Text wie Körper- und Temperaturempfindungen, etwa, dass „der Körper immer kleiner, die Kleider immer erdrückender“ werden oder dass der Fotograf Timm Rautert „Kälte ausstrahlt“. Mehrfach beschreibt sie Mitgefühl für die Partnerin, deren Part sie für deutlich anstrengender hält und für deren Wohlergehen sie sich mitverantwortlich fühlt. Abschließend bestätigt sie eine Aussage ihres Mannes, dass jede Aktivität, so unsinnig sie auch sei, einen voll ausfüllen könne, und plädiert dafür, es sei ein „gutes Zeichen der Freiheit“, sich „voll dem Unsinn hinzugeben“. „Ergebnis ist Unsinn nur ich hab’s mir selbst gewählt. Der Realität eins auf die Nase hauen“, resümiert sie und hebt damit gegen allen Anschein der Strenge das subversive Moment der Aktion hervor. Ihr Umgang mit der von Kaprow gestellten Aufgabe zeigt, dass sie die Verbindlichkeit der Versuchsanordnung nicht als Korsett wahrnimmt, sondern als Eröffnung der Möglichkeit, den Körper im privaten Raum anders zu erfahren, an seine Grenzen zu bringen und gleichzeitig den privaten Raum zu verfremden, indem man nach alltäglichen Maßstäben unvernünftige Handlungen in ihm ausführt. Die Ebene der verschriftlichten Reflexion über Sinn und Unsinn des eigenen Tuns sowie über das Empfinden von Scham verleiht dem Text bei aller Schludrigkeit und Humorigkeit das Gewicht einer echten Selbstbefragung in der Traditionslinie jener „Technologien des Selbst“, deren Entwicklung Michel Foucault in Ansätzen für die Antike und das frühe Christentum erarbeitet hat und zu denen er auch die unablässige Schreibtätigkeit, in Briefen oder dem Tagebuch, zählte.22 Die Interpreten von Basic Thermal Units üben sich im Herstellen, Aushalten und Beeinflussen von Relationen und Relativitäten. Als Handelnde in einem System mit Feedback machen sie die Erfahrung, dass vermeintlich subjektive und objektive Größen austauschbar und gleichermaßen kontextabhängig 22 Foucault 1984/2005, S. 978: „Das Selbst ist etwas, worüber man schreibt, ein Thema oder Gegenstand des Schreibens.“
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68 Text einer Teilnehmerin zur Realisierung von Basic Thermal Units (Auszug).
werden. Fühlen und Messen werden bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschoben. Der Titel der Arbeit und die von Kaprow und seinen Kooperationspartnern gebrauchte Abkürzung desselben, „BTU“, spielen mit der in Nordamerika verbreiteten Maßeinheit „British thermal unit“. Mit dieser wird die Menge an Hitze angegeben, die gebraucht wird, um die Temperatur von einem Pfund Wasser um ein Grad Fahrenheit zu erhöhen. Kaprows modifizierte Formulierung „Basic Thermal Units“ suggeriert eine andere, noch grundlegendere Maßeinheit, die im Zuge der Übung zur Anwendung kommt oder experimentell ermittelt wird – sich aber in jeder Hinsicht als relativ und Sache der Kommunikation, Abstimmung und sozialen Kompetenz erweist. Das ironische Spiel mit einer alternativen Maßeinheit erinnert
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
an Marcel Duchamps 3 stoppages étalon von 1913/14. Duchamp wies sich selbst an, drei einen Meter lange Fäden aus einem Meter Höhe fallen zu lassen und die zufällig erzeugten Formationen auf Leinwand zu fixieren. Später fertigte er auf Grundlage der drei unterschiedlichen Linienkurven Holzlineale an, mit denen die per Zufallsprinzip ermittelten alternativen Metermaße theoretisch zur Anwendung kommen konnten.23 3 stoppages étalon kann als Zeugnis einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den exakten Wissenschaften verstanden werden, deren Verfahren Duchamp allerdings adaptierte, um gegen den Rationalismus und Positivismus das Singuläre und radikal Individualistische auszuspielen.24 Duchamp geht so vor, „nach wissenschaftlichen Standards absurde Experimente in die Tat umzusetzen, um die Konventionalität und Relativität wissenschaftlicher Axiome zu visualisieren“25. Auf dieser Linie agierte auch Kaprow, der für Duchamps Position großen Respekt zeigte, wenn er Basic Thermal Units als Übung zur Ermittlung eines neuen relativen Grundmaßes für die zwischenmenschliche Aufwärmung und Abkühlung entwarf.26 Trotzdem ist Basic Thermal Units – und 23 Zur Entstehungsgeschichte des Werks siehe Herbert Molderings, Kunst als Experiment. Marcel Duchamps 3 Kunststopf-Normalmaße, München und Berlin 2006 (Passerelles, 8). 24 Siehe hierzu das Kapitel „Radikaler Individualismus“ in: Ebd., S. 134–147. 25 Ebd., S. 53. 26 Duchamp und Kaprow begegneten sich im New York der 1960er-Jahre, wo der ältere Künstler einige Happenings besuchte und Kaprow zu zwei wichtigen Stipendien verhalf. Duchamp sei, so Kaprow in einem Interview 1986, besonders faszinierend gewesen als „eine Gestalt aus dem Untergrund, die immer noch lebendig, und zwar sehr lebendig war.“ Kaprow 1986, S. 205. Duchamps Experimentierfreude und seinen Bruch mit dem Traditionalismus und Konservativismus beschrieb Kaprow als vorbildhaft für ihn und seine Weggefährten, die einen Weg jenseits des abstrakten Expressionismus suchten. Er selbst habe gedacht, „seine [Duchamps] Idee eines beweglichen Rahmens“ mitnehmen, ihre „Stoßrichtung [umkehren]“ und in das Alltagsleben übertragen zu können. Ebd., S. 207. Daraus spricht die für die populäre Duchamp-Rezeption insgesamt typische Überbetonung des Ready-Mades als einer folgenreichen Geste, mit der die engen Grenzen der Kunsthaftigkeit gelockert und das Feld der Möglichkeiten, etwas als Kunst wahrzunehmen, radikal erweitert wurden. Duchamp, den Kaprow für einen „enttäuschten (weil zu intelligenten) Romantiker“ hielt, bot dem jüngeren Künstler jedoch auch Orientierung im Hinblick auf eine andere Art der Positionsbestimmung, die besonders bei der Arbeit an den Activities der 1970er-Jahre virulent wurde: „Ich sprach auf Duchamps
sind die anderen Activities der 1970er-Jahre – nicht bloß schaler Aufguss eines einstmals radikalen Versuchs, über das ernsthafte Spiel mit Verfahren und Wahrheitsanspruch der exakten Wissenschaften zu einer neuen, tatsächlich unkonventionellen und experimentellen künstlerischen Haltung und Praxis zu gelangen, um „der Wissenschaft nicht das letzte Wort [zu] überlassen“,27 wie Duchamp in einem Gespräch bekannte. Denn in Basic Thermal Units wird weniger das Individualistische gegen das Normierte und ‚Normale‘ inszeniert als vielmehr das Soziale gegen das Technisch-Abstrakte. Nicht nur vermeintlich objektive Messdaten werden dabei relativiert, sondern auch die subjektiven Empfindungen und Körpersensationen. Hinter dem ironischen Spiel mit Wissenschaftlichkeit steht eine Erforschung der Verhältnismäßigkeit jeder individuellen Existenz und damit die Einbindung des in steter Übung zu erstreitenden Handlungsspielraums des Einzelnen in ein soziales Feld. Diese Einblendung des Sozialen sowie das Interesse an dem Verhalten und Agieren einer über Selbst- und Fremdbeobachtung in einer spezifischen Situation verschalteten Kleingruppe lässt schließlich eine ganz anders gelagerte Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft zutage treten. Als Bezugsgröße für die Erarbeitung seiner Activities galten Kaprow – anders als Duchamp – nicht die Naturwissenschaften, sondern die Sozialwissenschaften und Psychodisziplinen seiner Zeit.28 Es sind Positionen der Sozialwissenschaften, Anthropologie, Sozialpsychologie und Psychologie, deren Methoden, Perspektiven, Themen und Anliegen in den Activities Widerhall finden. Als Un-artist wollte Kaprow seine künstlerische Forschung am Ende weder Kunst noch Wissenschaft eindeutig zuschreiben. Privatheit an, die philosophische Seite von ihm, und das interessiert mich nach wie vor sehr – wie unser Verstand arbeitet. Und ich fühlte auch den Drang, Teil einer Gruppe zu sein, als soziales Wesen. Duchamps Beitrag war so klar zweideutig, dass er auf beide Arten wirksam sein konnte, individuell oder sozial. Es ist eine Frage des vorsichtigen Änderns der Einstellung.“ Ebd. S. 206f. Siehe zur Duchamp-Rezeption außerdem Kaprow 1973/2003. 27 Duchamp 1966 zu Dore Ashton, zit. nach Marcel Duchamp, Interviews und Statements, hg. von Serge Stauffer, Ostfildern-Ruit 1992, S. 198. 28 Der Begriff „Psychodisziplinen“ wird, wie in der Einleitung bereits ausgeführt, von Nikolas Rose übernommen. Vgl. Rose 1996, S. 10.
Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags
Die Auseinandersetzung mit den sozial- und psychowissenschaftlichen Tendenzen seiner Zeit erschien ihm als notwendiges Studium, um intellektuelle und gesellschaftspolitische Zeitgenossenschaft beweisen zu können. Im Unterschied zu Duchamps Rezeption der exakten Wissenschaften führte diese Auseinandersetzung aber nicht zu einer radikal individualistischen Kritik wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche, sondern zu der Vorstellung, Interessen zu teilen und über disziplinäre Grenzen hinweg Forschung zu betreiben. Der Anspruch einer Entgrenzung der Kunst ließ sich in dieser historischen Situation nicht nur als Auflösung der Gattungsgrenzen und Erweiterung des Werkbegriffs, sondern auch als selbstbewusste Öffnung gegenüber bestimmten wissenschaftlichen Formaten und Positionen ausbuchstabieren. Dass dies möglich war, ohne sich deshalb automatisch mit einer positivistischen Wissenschaftskultur in Übereinstimmung zu finden, lag an dem veränderten Kräfteverhältnis innerhalb der Wissenschaftslandschaft selbst. Spätestens mit der gesellschaftsverändernden Kraft der Gegenkultur der 1960er-Jahre gewannen die Sozial- und Psychowissenschaften auch in ihren populärwissenschaftlichen oder anwendungsbezogenen Formen an Gewicht. Die Fragen nach der Verfasstheit der Gesellschaft, ihrer Fähigkeit, drängende politische, soziale, ökonomische und ökologische Krisen zu bewältigen sowie ihrer Rolle für die verschiedenen Emanzipationsprozesse rückten einzelne Thesen und Erklärungsmodelle dieser Wissenschaftsfelder ins Zentrum öffentlicher Debatten, wobei sie mitunter im kulturkritischen Gewand erschienen. Die amerikanische Wissenschaftslandschaft um 1970, deren Wurzeln in den 1930er- bis 1950er-Jahren liegen, zeichnete sich durch eine Vielfalt unkonventioneller und unorthodoxer Forschungsansätze, ein großes Interesse an der Erforschung des alltäglichen Lebens und eine hohe Anschlussfähigkeit an gesellschaftspolitische Fragestellungen aus. An den Rändern dieser Landschaft sind auch die Activities als experimentelle Übungen zu situieren. Dies sei im Folgenden anhand zweier wissenschafts- und kulturhistorischer Komplexe eingehender erläutert. Der erste betrifft die paradigmatische Änderung der Blickrichtung, mit der die eigene Kultur ins Feld der Beobachtung gerät, der zweite das Interesse an Feedbackprozessen und Gruppendynamik.
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69 Allan Kaprow, Rates of Exchange, 1975, Activity-Broschüre, Detail, Fotografie: Bee Ottinger.
Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags Das Beobachten gehört zu den Elementen, die in Kaprows Übungsprogrammen wiederholt vorkommen. Es ist dabei nicht als ein Gegenpol zu Aktion oder Bewegung angelegt, sondern als eine Form von Praxis, die ebenso wie andere Praktiken Effekte zeitigt und den weiteren Fortgang beeinflusst. Beobachten ist in den Activities zudem häufig mit einer bestimmten und nicht ohne Umstände auszuführenden körperlichen oder kommunikativen Tätigkeit verbunden, es kann sich somit nur gegen Widerstände in ein Zuschauen oder den umherschweifenden Blick des Flaneurs verwandeln. In Rates of Exchange wird zunächst die eigene Mimik im Spiegel während des unablässigen Einsprechens von Fragen an den abwesenden Partner beobachtet, dann die sequenzierte und verlangsamte Bewegung des eigenen Gehens sowie das gegenseitige Händeschütteln, schließlich das Ent- und Ankleiden des Partners. Wer Rates of Exchange performativ interpretiert, der erzeugt selbst eine Verlangsamung und Stillstellung, welche ihm die routinierte und flüchtige Bewegung zum Zwecke der Beobachtung präpariert und zugleich seine Aufmerksamkeit bindet (Abb. 69). Das Händeschütteln
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
wird zum Bild und Reflexionsgegenstand: Was alles kann der Händedruck bedeuten, von Begrüßung über Beileidsbekundung bis zur Besiegelung eines Abkommens? Wie gelingt es dann, Eindeutigkeit über diese Bedeutung herzustellen – damit das Händeschütteln, ähnlich dem Aussprechen des Satzes „Ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau“ in der Sprechakttheorie John L. Austins, tatsächlich das Beabsichtigte bewirkt? Welchen Eindruck von mir vermittelt schließlich mein Händedruck – wirkt er sicher ausgeführt und kräftig genug, zugleich nicht gewaltsam? Ehe sich jedoch diese Assoziationen weiter ausführen und erörtern ließen, beginnt der Arm zu schmerzen. Die eigene Hand wirkt wie abgetrennt vom Rest des Körpers und die Hand des Partners wird einem unangenehm. Der Blick löst sich, trifft den des Gegenübers, man verständigt sich, die Übung zu beenden. Zahlreiche solcher Beobachtungsszenarien ziehen sich wie ein roter Faden durch Kaprows Activities der 1970er-Jahre. Der interessierte, forschende Blick ist entscheidend, um stumpfes Ausführen der Aufgaben zu vermeiden. Er wird nicht einfach vorausgesetzt, sondern ist Bestandteil der Übungen, indem das zu Beobachtende konkret benannt wird und abgegrenzte Phasen der Beobachtung kenntlich gemacht sind. Der Standort des Beobachters ist dabei niemals außerhalb des Geschehens zu verorten. Wenn nicht Beobachten und Agieren direkt miteinander verknüpft werden, dann sind schnelle Rollenwechsel vorgesehen, die es nicht erlauben, sich dauerhaft auf den Beobachterposten zurückzuziehen. Dementsprechend schwanken die Protokolle, Aufzeichnungen und mündlichen Berichte im Nachhinein – wie im Fall von Basic Thermal Units – zwischen Objektivierung und Subjektivierung. Sich in der Selbst- und Fremdbeobachtung bei der modellhaften Ausführung alltäglicher Handlungsweisen zu üben, das geht als Programm weit über eine Aktivierung des Kunstbetrachters hinaus und offenbart ein Verständnis von Partizipation, das sich weder im Mitmachen oder einer demonstrativ aktionistischen Darbietung noch in der Hingabe an einen Strom der Ereignisse erschöpft. Im übenden Vollzug mobilisiert sich die Haltung des Interpreten als eine mehrfach ausgerichtete und im umfänglichsten Sinne aufmerksame, von Erkenntnisinteresse geleitet und fähig zur Selbstreflexion.
Der Anspruch an eine spezifische Partizipation, der sich erst mit den Activities in dieser Art konkret formuliert, lässt sich mit einer Unterscheidung verdeutlichen, die der Ethnograph James P. Spradley im Rückblick auf die 1970er-Jahre zur Erklärung einer sich stetig wachsender Begeisterung erfreuenden Methode der sozialwissenschaftlichen Disziplinen wählte. Spradley unterschied den „gewöhnlichen Teilnehmer“ von dem „teilnehmenden Beobachter“,29 welcher zwar von außen wie ein gewöhnlicher Teilnehmer wirkt, sein Involviertsein jedoch (im Stillen) mit einem Beobachtungsinteresse verbindet.30 Wo der gewöhnliche Teilnehmer in seiner Wahrnehmung viele Kleinigkeiten ausschalten muss, um im komplexen sozialen Leben Überforderungen zu vermeiden, zeichnet den teilnehmenden Beobachter laut Spradley eine „explizite Aufmerksamkeit“31 aus. Da Spradleys Text als Handbuch für all jene gedacht ist, die mithilfe der teilnehmenden Beobachtung Feldstudien betreiben wollen, zählt er außerdem sechs Merkmale auf, welche diese Methode auszeichnen: zweifaches Anliegen im Sinne von Teilnahme und Beobachtung, besondere Aufmerksamkeit, Weitblick (auch Randständiges auf dem Radar haben), Wechsel zwischen Insider- und Outsider-Erfahrung, Introspektion und Aufzeichnung.32 Diese Kriterien lassen sich für die Interpreten der Übungen Kaprows ebenso in Anschlag bringen. Wem es gelingt, diese Aufgaben als teilnehmender Beobachter zu bestreiten, dem wird zweifelsohne der größte Erkenntnisgewinn zuteil, zugleich bieten die Übungen an, sich in dieser Methode zu versuchen. Spradleys Ansage an die Aspiranten, man werde im Zuge der teilnehmenden Beobachtung lernen, „sich selbst als Instrument der Forschung zu verwenden“33, könnte 29 James P. Spradley, Participant Observation, New York 1980, S. 53. Die teilnehmende Beobachtung stellt in der Ethnografie bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Standardmethode der Feldforschung dar. Der Ethnologe Bronislaw Malinowski gilt als der erste, der mit seiner stationären Feldforschung auf Neuguinea die Forderung nach teilnehmender Beobachtung praktisch umgesetzt und theoretisch fundiert hat. Vgl. Brigitta Häuser-Schäublin, „Teilnehmende Beobachtung“, in: Methoden ethnologischer Feldforschung, hg. von Bettina Beer, Berlin 2008, S. 37–58, hier S. 39. 30 Vgl. Spradley 1980, S. 53. 31 Ebd., S. 55. 32 Vgl. ebd., S. 56f. 33 Ebd., S. 57.
Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags
ebenso aus dem Mund Kaprows stammen, dessen Activities dem menschlichen Individuum zutrauen, im Handeln das Handeln zu analysieren und sich selbst als Teil eines sozialen Systems zu beobachten. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung dürfte ihm unter anderem dank seiner Lektüre der Schriften Erving Goffmans geläufig gewesen sein, der in der Einleitung zu seiner Dissertation schrieb, für sich selbst sogar die Haltung des „beobachtenden Teilnehmers“ zu favorisieren.34 Auch im familiären Bereich könnten teilnehmendes Beobachten oder beobachtendes Teilnehmen aufgrund der Profession von Kaprows Schwester Miriam, die zu ihrem Bruder ein enges Verhältnis pflegte, ein Gesprächsthema gewesen sein. Miriam ‚Mimi‘ Kaprow promovierte 1978 im Fach Anthropologie und widmete sich in ihrem darauffolgenden Forschungsprojekt als engagierte teilnehmende Beobachterin den New Yorker Feuerwehrmännern, deren heroische Arbeitskultur sie gegen Proletarisierungs- und Bürokratisierungstendenzen verteidigte.35 Spradley leitete seine bis heute einschlägige Einführung Participant Observation 1980 mit einem Vorwort ein, das rückblickend die 1970er-Jahre als eine Phase fundamentaler Umwälzungen in den Sozialwissenschaften und ihrer Anwendung in verwandten Berufsfeldern charakterisiert. Wachsendes Interesse an qualitativer Forschung habe sich mit einer Veränderung der Blickrichtung verbunden:
34 Im Wortlaut: „My real aim was to be an observant participant rather than a participating observer.“ Erving Goffman, Communication Conduct in an Island Community, Diss. masch., University of Chicago, IL, 1953, S. 2. Kelley spricht punktuell davon, Kaprow habe in unterschiedlichen Phasen seines Schaffens Texte von Goffman gelesen, bezieht das aber nicht ausführlicher auf die künstlerischen Arbeiten. Vgl. Kelley 2004, S. 51 und 180. 35 Die Ergebnisse ihrer Feldstudie in der New Yorker Feuerwache konnte sie aufgrund ihres frühen Todes nicht mehr vollständig veröffentlichen. In Ansätzen sind sie nachzulesen in Miriam Lee Kaprow, „Magical Work. Firefighters in New York“, in: Human Organization, Bd. 50, 1991, S. 97–103. Im Nachruf der Feuerwehrmänner auf ihre teilnehmende Beobachterin gibt Chief Fred Scheffold zu erkennen, dass ihm völlig bewusst war, als Objekt der Beobachtung einem Verfremdungsverfahren zu unterliegen, wenn er schreibt: „We were her natives“. Vgl. Fred Scheffold, „Mimi’s Natives“, in: Anthropology of Work Review, Bd. 19, Nr. 2, 1999, S. 28.
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A quiet revolution has spread through social sciences and many applied disciplines. A new appreciation for qualitative research has emerged among educators, urban planners, sociologists, nurses, psychologists, public interest lawyers, political scientists, and many others. There has come a profound realization that people every where have a way of life, a culture of their own, and if we want to understand humankind we must take these cultures seriously. Qualitative research – called ethnography by anthropologists – has come of age. […] But, no longer relegated to exotic cultures in far-off places, ethnography has come home, to become a fundamental tool for understanding ourselves and the multicultural societies of the modern world.36 Der beschriebene Wandel betraf nicht nur eine Methode, sondern auch den Forschungsgegenstand: An die Stelle exotischer Kulturen traten die mannigfaltigen Lebensformen, Arbeitsweisen, Freizeitrituale der eigenen Kultur. Dem teilnehmenden Beobachter eröffneten sich somit Forschungsfelder vor der eigenen Haustür und im Familien- und Freundschaftskreis. Dieser umgedrehte ethnographische Blick bedeutet allerdings nicht selten eine Erschütterung der Zugehörigkeiten, denn er kann sowohl eine Exotisierung des zu Beobachtenden als auch des Beobachters bewirken. Das Vertraute wird betrachtet, als sei es fremd, es wird also bewusst auf Distanz gebracht. Damit ergibt sich, wie Klaus Amann und Stefan Hirschauer beschreiben, auch eine nicht unbedeutende Verschiebung hinsichtlich des Ziels dieser Forschung. Die Erkenntnisleistung liege beim Verfremden des Eigenen, so die Autoren, mithin nicht primär im Erklären oder Verstehen, sondern in der „Explikation“.37 Kaprow, mit seinem Selbstverständnis als ‚Un-Künstler‘ und Forschergeist, dürfte sowohl die Vorstellung einer Standortverschiebung zugunsten neuer Perspektiven auf das Gewohnte als auch jenes Forschungsprogramm eines vor dem Erklären liegenden Entfaltens oder 36 Spradley 1980, S. v. 37 Klaus Amann und Stefan Hirschauer, „Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm“, in: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, hg. von dens., Frankfurt am Main 1997, S. 7–52, hier S. 13.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
70 Allan Kaprow, 3rd Routine, 1974, Köln.
‚Ausdrücklichmachens‘ des eben nur vermeintlich Vertrauten entgegengekommen sein. Auch ohne sich im strengsten Sinne als Sozialwissenschaftler oder Ethnograph auszuweisen, bot die teilnehmende Beobachtung einen Bezugspunkt, um das vage Interesse an einem bestimmten Thema im Zuge einer selbstorganisierten und ohne technische Ausstattung durchzuführenden Feldstudie in ein Wissen umzuwandeln, das wiederum als Grundlage oder Material für künstlerische Arbeiten dienen konnte. Parallel zu der von Spradley rückblickend auf die 1970er-Jahre beschriebenen Umwendung der ethnographischen Perspektive auf das eigene Lebensumfeld erfand Kaprow mit dem Activity-Format eine höchst eigenwillige Art von Alltagssoziologie. In 3rd Routine behandelte Kaprow 1974 das Begrüßungs- und Abschiedsverhalten zweier Personen. Die eine wurde aufgefordert, allein auf einem Videoband aufzuzeichnen, wie sie die andere grüßen und verabschieden würde – und zwar so oft, bis sich
„der Effekt genau richtig“ anfühlte.38 Im Anschluss setzte sich diese Person in einen anderen Raum und wartete auf die Ankunft des Partners, dessen Begrüßung wiederum ausschließlich über ein Closed-Circuit-Videoverfahren übertragen wurde. Danach schauten sich beide gemeinsam die Aufzeichnungen an und wechselten schließlich die Rollen für eine zweite Runde (Abb. 70). Der einmalige Einsatz eines solchen Video-Feedback-Verfahrens, wie es zur gleichen Zeit auch in Therapie und Sozialforschung eingesetzt wurde, zielte auf einen Verfremdungseffekt, mit dem die performative Qualität eines alltäglichen Vorgangs erkennbar wurde.39 Ähnlich wie schon beim Händedruck in Rates of Exchange konnte der Interpret auch hierbei verschiedene Stadien im Verhältnis zu diesem Akt durchleben: Eine Handlung, die sich zunächst authentisch und zielsicher anfühlt, erscheint auf einmal seltsam und offenbart sich als lediglich eine von unzähligen möglichen Ausführungen, mithin als ein Akt, der gestaltet, manipuliert und personalisiert werden kann – mit je unterschiedlichen Effekten. Maneuvers (P11), realisiert im Jahr 1976 in Neapel, widmet sich einem Vorgang, der ebenso wie der Händedruck und das Grüßen dem Repertoire konventionalen Handelns entnommen ist, jedoch ungleich komplexer ausfällt: Zwei Personen gehen durch eine Tür. In der Broschüre zu Maneuvers ist der Anleitung ein einseitiger einführender Text vorangestellt (Abb. 71). Darin nennt Kaprow als Aufhänger für das Thema dieser Übung die Aussage Charles Baudelaires, sein Freund Eugène Delacroix gehöre zu jenen Männern, welche die Wendung „mon cher Monsieur“ in zwanzig verschiedenen Weisen sagen 38 Siehe die Partitur zur Activity in Kelley 2004, S. 190f. 39 Zum Einsatz von Video in Therapie und Verhaltensforschung um 1970 siehe Peter Sachs Collopy, The Revolution Will be Videotaped. Making a Technology of Consciousness in the Long 1960s, Diss. masch., University of Pennsylvania 2015. Kelley erwähnt, dass Kaprow in dieser Zeit auch die Studien des Anthropologen Ray Birdwhistell wahrnahm. Vgl. Kelley 2004, S. 180. Dieser erforschte Körpersprache beispielsweise, indem er eine Reihe von Personen in der gleichen Situation unbemerkt filmte und dieses Material später (auch rückwärts und in Slow-Motion) abspielte und genau beschrieb, um vergleichen und wiederkehrende Muster feststellen zu können. Diese Methode führte Birdwhistell unter anderem in dem Film Microcultural Incidents in Ten Zoos (1971) vor, der Beobachtungen von Familieninteraktion beim Füttern von Elefanten zeigt.
Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags
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71 Allan Kaprow, Maneuvers, 1976, Framart / Studio, Neapel, Doppelseite aus der Activity-Broschüre, Fotografien: Allan Kaprow.
könnten.40 Wer angesichts dieses überraschenden Einstiegs Worte über zwei der prominentesten Figuren der Kunst des 19. Jahrhunderts erwartet, wird freilich enttäuscht. Baudelaires Delacroix dient Kaprow nicht als Exemplum künstlerischen Genies, sondern als Gewährsmann für eine mehr oder weniger gut beherrschbare Praxis des gesellschaftlichen Lebens. So fährt Kaprow in seinem Text mit der allgemein gehaltenen Aussage fort, die Formen höflichen Verhaltens böten genügend Raum für die Übermittlung komplexer Botschaften. Als ein Beispiel für dieses im 40 Allan Kaprow, Begleittext zu P11: Maneuvers, 1976, publiziert in Englisch und italienischer Übersetzung in gleichnamiger Broschüre (32,3 × 24,4 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Framart / Studio, Neapel, Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Neue Buchkunst (Hanns Sohm). Die entsprechende Passage, in der Baudelaire beschreibt, Delacroix‘ Höflichkeit habe wie ein „Prisma“ vielfältigste Nuancierungen annehmen können, findet sich in: Charles Baudelaire, L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix [1885], in: Ders., Œuvre complètes: L’art romantique, hg. von Jacques Crépet, Paris 1925, S. 1–41, S. 25.
alltäglichen Vollzug oft unbemerkte Vokabular der Konventionen nennt er die verschiedenen Möglichkeiten, wie zwei Personen im Zusammentreffen das Durchschreiten einer Tür regeln. Wer dem oder der anderen die Tür aufhält und wer zuerst hindurchgeht, wird dabei von Kaprow nicht als anthropologische Konstante, sondern als Sache kultureller Prägung und gesellschaftlicher Verhandlung gesehen – die allerdings den ‚Türverkehr‘ niemals bis ins letzte Detail zu regeln vermögen, weshalb dieser Vorgang stets auch ein Reservoir an ad hoc entstehenden kleinen Rivalitäts- oder Annäherungsdramen bereithält. Im ostentativen Erklärtonfall verweist Kaprow außerdem auf aktuelle gesellschaftliche Transformationsprozesse, die dazu führen, dass in der entsprechenden Situation auch neue Hierarchieverhältnisse ausgedrückt werden können: In cultures which are facing changes in women’s and men’s roles, the traditional male gesture of reaching for and holding open a door for a
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woman can meet with either rebuke or knowing smiles. In other vein, one can be „shown the door“ (be ordered to leave) with almost the same gross body movements as when being invited to go first. But there is never any doubt about what is meant.41 Mit dem Aufbrechen tradierter Geschlechterrollen, so die Feststellung, wird die Konvention, wie ein Mann und eine Frau gemeinsam eine Tür durchschreiten, um bislang ungewohnte Alternativen erweitert, die sich vor allem in der diesen Vorgang begleitenden Körpersprache und Mimik Ausdruck verschaffen. Die nahezu gleiche Körpersprache könne allerdings auch dann zum Einsatz kommen, wenn eine Person der Tür verwiesen wird, stellt Kaprow fest. Trotzdem bestehe in der jeweiligen Situation kein Zweifel darüber, was gemeint sei. Dieser Text offenbart – wie fast alle vergleichbaren Vorspanntexte in den Activity-Heften – eine bestimmte Haltung. Hier spricht weder das individualistische Künstlersubjekt noch der scharfzüngige Kunsttheoretiker, stattdessen eine Persona, die sich auf ein durch eigene Beobachtung erworbenes oder zumindest nachvollzogenes Wissen stützt, dieses jedoch in größere, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge zu stellen vermag. Sie tritt auf als lässige Vermittlerin einer Soziologie des Alltags. Das gewählte Beispiel ist anschaulich und nachvollziehbar, der Einstieg didaktisch aufbereitet. Auf Fachjargon wird verzichtet. Die Rahmung der Übung durch diesen Text, der wohl den Gedanken ähnelt, die Kaprow in den Nachbesprechungen der Realisierungen äußerte, macht unmissverständlich klar, dass dem forschenden Interesse an einer alltäglichen Situation das Potential zuerkannt wird, etwas über gesellschaftliche Veränderungen in Erfahrung zu bringen. Das eigene Verhalten als etwas zu begreifen, das sowohl einer Normierung und Konditionierung unterworfen wie als soziale Praxis gestaltbar ist, wird als Auffassung implizit schon mitgeteilt. Tatsächlich erfahren wird dies allerdings in der Übung selbst, die von Kaprow als „übertriebenes Arrangement“42 des kompetitiven Potentials beim gemeinsamen Durchschreiten einer 41 Ebd. 42 Ebd.
Tür bezeichnet und ironisch mit einem Begriff aus der Sprache des Militärs versehen wird. In drei Akten ist ein Duo aufgefordert, unter Berücksichtigung bestimmter Regeln jeweils fünf selbst gewählte Eingänge zu durchschreiten. Schon der erste Teil des ersten Aktes stellt allerdings den gewohnten Vorgang auf den Kopf. A und B sollen rückwärts hintereinander durch einen Eingang gehen, dabei der eine dem anderen ein „Du zuerst“ zurufend. Direkt im Anschluss erfolgt die Umkehrung, beide gehen also vorwärts zurück durch die gleiche Türöffnung, wobei der Vorangehende „Danke mir“ zu sagen hat, was vom anderen mit „Danke dir“ beantwortet wird. Um das Verwirrspiel zu perfektionieren, gibt die Anleitung an, man möge die „Routine“ anhand von vier weiteren Türen wiederholen. Im zweiten Akt wird die Schwierigkeitsstufe erhöht, indem das Durchschreiten um das Öffnen einer Tür ergänzt wird. Zunächst soll dabei der Moment hergestellt werden, in dem zwei Personen gleichzeitig ihre Hand auf den Türgriff legen, daraufhin mit einer Entschuldigung zurückziehen, somit aber gezwungen sind, den Vorgang des Durchquerens erneut in Angriff zu nehmen. Dies tun die Partner dann unter Rückgriff auf die im ersten Akt eingeübte Choreographie, indem sie sich nämlich gemeinsam rückwärts der Tür nähern, diese auch erfolgreich öffnen, dann ein „Nach dir“ aussprechen und sie gemeinsam durchqueren. Auch diese „Routine“ soll mit vier weiteren Türen wiederholt werden. Der dritte Akt schlägt eine weitere Variante vor, mit der das Problem der Reihen- und Rangfolge vermeintlich gelöst werden kann. Diesmal gehen die Personen schlicht und ergreifend nacheinander durch die Tür, regeln dies aber mithilfe eines Geld transfers. Einer bietet dem anderen Geld an, dieser kann annehmen oder ablehnen. Hier geht die Übung über die spielerische Verfremdung einer vertrauten Situation hinaus, indem sie ihr tatsächlich ein neues Element hinzufügt. Die absurden Versuche, den Durchgangsverkehr fair zu regeln, gipfeln in dem Einsatz von Geld als Tausch- und Kommunikationsmittel. Die aus- und aufzuführenden Manöver lassen das Durchqueren einer Türöffnung als banalen, einzig dem Zweck des Betretens oder Verlassens dienenden Akt gänzlich in den Hintergrund treten. Sie präparieren stattdessen heraus, was außerhalb des Rahmens der Activity vielleicht momenthaft wahrgenommen,
Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags
dann aber übergangen oder überspielt wird, um den zweckgerichteten Vollzug nicht zu stören. Dem teilnehmenden Beobachter hingegen, für den jedes Detail relevant und sprechend ist, zeigen sich womöglich schon diese tatsächlichen Situationen als slapstickartige Szenen, in denen zwei Menschen sich abmühen, unterschiedliche Auffassungen von zuvorkommendem Verhalten unter einen Hut zu bringen. Das Format der Übung nutzend treibt Maneuvers gleich zu Beginn diese latente Absurdität hervor und bringt die Verhältnisse so offensiv durcheinander, dass die Interpreten nicht mehr wissen, wo vorne und hinten respektive drinnen und draußen ist. Als würde man eine Videoaufnahme vor- und zurückspulen, gehen sie vorwärts und rückwärts durch die Türen, sich verdrehte Formeln zurufend, und vollbringen somit das Kunststück, weder erster noch zweiter beziehungsweise eben beides zugleich zu sein. Der erste Teil funktioniert wie eine Lockerungsübung für Körper und Geist. Hat man erst einmal die Scheu abgelegt und sich der eigenen Ungeschicklichkeit angenommen, lässt sich dieser Part als durchaus befreiende kleine Choreografie ausführen, zugleich bedeutet das Einüben derselben eine performative Erforschung des zu behandelnden Problems. Solchermaßen eingestimmt, bietet der zweite Teil die logische Steigerung. Nun gilt es, nicht nur das Durchqueren, sondern auch das Öffnen der Tür gemeinsam zu meistern. Dabei wird zunächst erneut eine von vielen als peinlich oder zumindest unangenehm empfundene Situation exponiert, nämlich der gleichzeitige Griff zur Türklinke, der meist eine von Floskeln und unsicher ausgeführten Bewegungen begleitete Klärungsphase erfordert, um einen zweiten oder gar dritten Zusammenstoß vor der Tür zu vermeiden. Im Übungsmodus wird eine gleichermaßen virtuose wie groteske Auflösung dieser Konfliktsituation ausprobiert: Beide gehen nebeneinander rückwärts auf eine Tür zu, öffnen diese, sagen einander ein „Nach dir“, durchqueren und schließen sie. Die Klärung der Frage, wer zuerst geht oder dem anderen die Tür aufhält, wäre mit der gelungenen Synchronisierung der Körper schlichtweg aufgehoben. Im Vollziehen allerdings überwiegt die Unbeholfenheit. Selbst bei mehrfacher Wiederholung werden die Bewegungen nicht flüssig, geschweige denn als natürlich empfunden – stattdessen wird solcherlei Artistik bloß zur Quelle für neue
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Momente der Peinlichkeit und Lächerlichkeit. Darauf reagiert der dritte Teil, indem die Koordination der Körper aus dem Spiel genommen und durch einen Geldtransfer ersetzt wird. Der gesamte Vorgang wird zu einer wortwörtlichen Verhandlungssache, indem der eine bei dem anderen das Passierrecht erwerben kann, um dann allein durch die Tür zu gehen. Maneuvers geht es weder um die schlichte Wiederholung und Präsentation eines alltäglichen Phänomens noch um die Erarbeitung tatsächlich praktikabler alternativer Konventionen. Mit den Mitteln der Übertreibung und Verfremdung wird zunächst eine Banalität überhaupt als Problem aufgeworfen. Wie unter einem Vergrößerungsglas entpuppen sich bestimmte Bewegungen und Umgangsformen erst in dem Moment als verkrampft, schambesetzt und konfliktanfällig, in dem sie in artistisch-spielerische Übungen verwandelt werden sollen. Die dreistufige Entfaltung des Themas umfasst nicht nur dessen physische Bearbeitung, sondern bietet auch Anlass zum Gespräch. Da die Bewältigung der Aufgaben ohne Absprache nicht zu meistern ist, ergeben sich immer wieder kleinere Gesprächseinheiten, die mühelos das Thema vertiefen, indem etwa ähnliche Situationen des eigenen Lebens erinnert und anekdotisch wiedergegeben werden oder bereits eine Kommentierung des eben Vollzogenen einsetzt. Die Spannung entsteht bei Maneuvers aus der Verquickung von größter Ernsthaftigkeit mit vollkommener Absurdität – und sie kann sich je nach Verlauf der Übung in eine der beiden Richtungen hin entladen. Einer Hermeneutik des Verdachts folgend, lässt sich jede Mikrobewegung, jeder Seitenblick im Zuge der Regelung des Türverkehrs deuten und verkomplizieren, andererseits erlauben die slapstickartigen Szenen auch ein Lachen, das die Problemhaftigkeit selbst in Frage stellt und sich mit der belustigten Einsicht in die nicht abzustellende Absurdität vieler Situationen des gesellschaftlichen Lebens begnügt. Gerade mit dieser Unentschiedenheit vermag Maneuvers jedoch eine Stimmung aufzugreifen, die mit jenen Veränderungen der Geschlechterrollen zusammenhängt, von denen im Einführungstext zur Übung in betont entspannter, geradezu deeskalierender Weise die Rede ist. Bedenkt man, dass der Second-Wave Feminism in den USA auch darauf abzielte, vermeintlich unverdächtige Umgangsformen auf mit ihnen immer
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wieder neu gefestigte Unterdrückungsstrukturen hin zu untersuchen, so lässt sich problemlos auch eine abendfüllende Auseinandersetzung imaginieren, in der über eine Emanzipation von der patriarchalen Geste des Türaufhaltens und der damit einhergehenden fundamentalen Erschütterung tradierter Umgangsformen diskutiert wird. Nicht nur gegenüber den Gegnern der feministischen Bewegung, auch innerhalb derselben, wurde der Grad der Emanzipation oder das Gelingen des Emanzipationsprojekts nicht selten an der Zurückweisung oder Inanspruchnahme jener kleinen Gesten des Zuvorkommens (Wein einschenken, in den Mantel helfen, die Rechnung übernehmen) festgemacht.43 Maneuvers setzt an 43 Die Soziologin Laurel R. Walum sprach in einem 1974 veröffentlichten Aufsatz davon, mit der „Türzeremonie“ bestätigten sich die „Gender-Identitäten“ beider Geschlechter. Dieser einfache Vorgang realisiere in gewisser Hinsicht die „Ideologie des Patriarchats“, beschreibt Walum und bezieht sich dabei auf die von Kate Millet in Sexual Politics (1970) erarbeiteten Werte einer patriarchalen Gesellschaft. Einer Frau die Tür aufzuhalten sei einerseits ein Akt der Höflichkeit, gleichzeitig aber auch ein politischer Akt, da er das patriarchale System bestätige. Mit ihren Studentinnen und Studenten erarbeitete Walum mittels theoretischer Auseinandersetzung und kleinen experimentellen Übungen, die den Krisenexperimenten Garfinkels ähneln, eine Typologie unterschiedlicher und auch gegensätzlicher Umgangsformen mit der „Profanierung“ des Rituals und dem Verletzen vormals verbindlicher Regeln beim gemeinsamen Durchqueren einer Tür. Dabei wird der Einfluss der Frauenbewegung auf entsprechende Situationen anhand von Aussagen der beteiligten Studierenden klar herausgestellt. Wenn patriarchale Gesten immer seltener ausgeführt würden, so resümiert Walum, dann bestünde Hoffnung, dass der Umgang der Geschlechter miteinander in Zukunft von einer „menschenfreundlichen Perspektive“ getragen werde. Laurel Richardson Walum, „The Changing Door Ceremony. Notes on the Operation of Sex Roles in Everyday Life“, in: Urban Life and Culture, Bd. 2, H. 4, 1974, S. 506–515. Diese politisch ambitionierte Betrachtung von Walum lässt sich mit einer wenige Jahre später veröffentlichten sozialpsychologischen Untersuchung kontrastieren. Hier führten Wissenschaftler mit 84 Männern und 84 Frauen eine experimentelle Erhebung durch, mit der – ebenfalls anhand des gemeinsamen Durchquerens von Türen – untersucht werden sollte, inwiefern eine Person die Chance erhöhen kann, dass eine andere sich ihr gegenüber „höflich und hilfsbereit“ verhält, indem sie ihr die Tür öffnet. Als ein Ergebnis nannten die Wissenschaftler die Bestätigung der These früherer Studien, dass „Frauen unhöflicheres Verhalten als Männer“ zeigten. Das Aufhalten der Tür wird hier also wieder (oder immer noch) als unverdächtiger Akt der Höflichkeit präsentiert. Marton Goldman, Chuck Florez und Gary L. Fuller, „Factors affecting courteous behavior“, in: The Journal of Social Psychology, Nr. 115, 1981, S. 169–174. Einer anderen Person die Tür aufzuhalten gehört zu den Höflichkeitsformeln,
dieser Stelle an – der Moment, in dem zu regeln ist, wer zuerst durch die Tür geht oder diese öffnet, hat hier seine Unschuld schon verloren, die vertrauten Regeln und Gesten funktionieren nur noch bedingt, die Zusammenstöße häufen sich. Einzuüben ist allerdings nicht die eine, von einer der Parteien geforderte, korrekte Alternative, sondern zunächst einmal ein befreiter, eben spielerischer Umgang mit der neu gewonnenen Unsicherheit. Gemeinsam durch die Tür zu gehen, wird in Maneuvers als demokratisches Projekt und freier Akt zweier gleichberechtigter Individuen verhandelt. Nicht ohne Ironie ist vor diesem Hintergrund der Einfall einer Herstellung dieser Gleichberechtigung mittels Geldtransfer, mit dem hinter die praktikable Option einer für alle Beteiligten in jeder Situation zufriedenstellenden Regelung ein deutliches Fragezeichen gesetzt wird. Beschrieb Andy Warhol als das „große Ding der 60er“ die Vorstellung, sich überall Zutritt verschaffen und erfolgreich gegen „jedes soziale Hindernis“ opponieren zu können – weshalb er den Ausruf: „Wie können Sie es wagen…!“ zu den meistgehörten dieser
die bis heute auffällig oft beispielhaft herangezogen werden, um zu diskutieren, wie es um den Feminismus beziehungsweise die Befreiung der Frau steht. Wiederholt wird in diesem Kontext die Kritik formuliert, der Feminismus habe höfliches und ritterliches Verhalten insgesamt diskreditiert, von anderer Seite hingegen wird Frauen der Vorwurf gemacht, solche Gesten weiterhin zu genießen und damit patriarchale Strukturen selbst zu reproduzieren. Prominenz erlangte das Thema in jüngerer Zeit unter anderem mit der Äußerung der Schauspielerin Emma Watson, getätigt in einem Interview anlässlich ihrer Rede vor den Vereinten Nationen zur Kampagne „HeForShe“ 2015, sie habe nichts dagegen, wenn ein Mann ihr die Tür aufhalte, die entscheidende Frage sei bloß, ob es ihm etwas ausmache, wenn sie das gleiche tue: „Chivalry should be consensual.“ Diese Position hat ihre Wurzeln in der Betonung der Wahlfreiheit und des spielerischen Umgangs mit Geschlechterrollen, die aus den Reihen des Third-Wave Feminism der 1990er-Jahre vorgetragen wurde. Siehe hierzu R. Claire Snyder-Hall, „Third-Wave Feminism and the Defense of ‚Choice‘“, in: Perspectives on Politics, Bd. 8, Nr. 1, 2010, S. 255–261. Snyder-Hall fasst ebenda auch zusammen, inwiefern es bereits innerhalb des Feminismus der zweiten Welle rivalisierende Auffassungen zur Kritik an vermeintlich patriarchalen Gesten gab, die in den 1970er-Jahren zu Brüchen innerhalb der Bewegung führten. Teile der Frauenbewegung konzentrierten sich auf das Erreichen gleicher Möglichkeiten für beide Geschlechter, während radikalere Kräfte das gesamte sex/gender-System aus den Angeln heben wollten und sämtliche Bereiche der Privatsphäre einer Kritik unterzogen.
Maneuvers: Teilnehmende Beobachtung und Soziologie des Alltags
Zeit rechnet –,44 erkennt Kaprow mit seiner kleinen Manöverkritik den von feministischer Seite in den 1970er-Jahren vorgebrachten Einwand an, dass in Bezug auf Geschlechterrollen längst noch nicht alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, ohne damit explizit ein politisches Programm zu unterschreiben. Die doppelte Rolle des teilnehmenden Beobachters setzt sich fort bis in die performative Bearbeitung der mit den einzelnen Übungen als Probleme aufgeworfenen Alltagsphänomene. Ihr zu eigen ist eine Unentschiedenheit zwischen Einmischung und Distanzierung, die allerdings nicht als Manko, sondern als in gesellschaftlichen Umbruchsphasen adäquate Lebenshaltung durchaus empfohlen wird. Das Bekenntnis zum Handeln bedeutet damit auch die Anerkennung der Unvorhersehbarkeit seiner Effekte. An die Stelle einer streng intentionalen Handlungsauffassung, in der das individuelle Durchsetzen und pflichtethische Ertragen von Konsequenzen dominiert, tritt die Idee von einem sozial situierten Handeln, das situationsbedingt und kontextabhängig ist – und dessen Strukturen sich am besten anhand von Beispielen aus dem alltäglichen Leben untersuchen lassen. Schon im Essay „The Legacy of Jackson Pollock“ hatte Kaprow dem Alltäglichen eine zentrale Rolle für die Weiterentwicklung der Kunst zugeschrieben. Sich von den Räumen und Objekten des alltäglichen Lebens einnehmen, ja sogar „blenden“ zu lassen und diese als Material zu verwenden, beschrieb er als nächsten logischen Schritt auf dem Weg zu einer neuen Kunst ohne Kunsthaftigkeit.45 Klingt hier noch die Assemblage als Verfahren an, mittels Integration gefundener, vorzugsweise niederer Gegenstände in ein Werk, Environment oder Happening eine Art Realitätseffekt zu erzielen, betraf Kaprows Auffassung von dem Alltäglichen schon in den 1960er-Jahren, explizit dann aber mit den Activities der 1970er-Jahre nicht mehr Gegenstände oder Materialien, sondern Handlungen. Nicht nur hinsichtlich des forschenden 44 Warhols Aussage im Wortlaut: „The sixties were one confrontation after another, till eventually every social obstacle had been confronted. […] The idea that anybody had the right to be anywhere and do anything, no matter who they were and how they were dressed, was a big thing in the sixties.“ Warhol/ Hackett 1980, S. 43. 45 Vgl. Kaprow 1958/2003, S. 7.
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Blicks auf die eigene Kultur, sondern auch mit der Vorstellung, diese sei vor allem im Feld des Alltäglichen aufzuspüren, befand sich Kaprow im Einklang mit den neuen Themen der Sozialwissenschaften seiner Zeit. „Alltag“, schrieb Norbert Elias im 1978 erschienenen Sammelband Materialien zu einer Soziologie des Alltags, sei „geradezu ein Schlüsselbegriff einiger zeitgenössischer Schulen der Soziologie“ geworden.46 Elias führte allerdings aus, der Begriff ‚Alltag‘ bleibe diffus, wenn nicht der für den jeweiligen soziologischen Ansatz unausgesprochen mitgeführte Gegensatz verstanden würde. So werde ‚Alltag‘ beispielsweise als durch Routinen bestimmte Zeit von den Phasen des Außergewöhnlichen abgegrenzt, im Sinne von Privatleben gegen die Sphäre des Öffentlichen gestellt oder als Ereignisbereich des täglichen Lebens von dem unterschieden, was in der traditionellen Geschichtsschreibung als relevantes Ereignis behandelt wird.47 Mal begreife man den Alltag als „die Sphäre des natürlichen, spontanen, unreflektierten Erlebens und Denkens“, dann aber auch „genau anders herum Alltag als Inbegriff des ideologischen, naiven, undurchdachten und falschen Erlebens.“48 Deutlich wird mit den von Elias etwas ruppig zugespitzten Gegensätzen, dass die soziologische Hinwendung zum Alltäglichen programmatische Züge annehmen konnte. Die sozialwissenschaftliche Erforschung von ‚Alltag‘ war sowohl innerhalb der eigenen fachlichen Disziplin als auch in gesellschaftspolitischem Sinne in Stellung zu bringen. Kaprows Bearbeitung alltäglicher Praktiken, wie sie mit den Activities der 1970er-Jahre in forcierter Form zutage tritt, ist vor diesem Hintergrund nur unzureichend erfasst, wenn man wie Alex Potts das Alltägliche als Kennzeichen eines „modernen Realismus“49 identifiziert, der
46 Norbert Elias, „Zum Begriff des Alltags“, in: Materialien zur Soziologie des Alltags, hg. von Kurt Hammerich und Michael Klein, Sonderheft Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1978, S. 22–29, hier S. 22. Siehe auch Don H. Zimmerman und Melvin Pollner, „Die Alltagswelt als Phänomen“, in: Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, hg. von Elmar Weingarten, Fritz Sack und Jim Schenkein, Frankfurt am Main 1976, S. 64–104. 47 Vgl. Elias 1978, S. 24. 48 Ebd., S. 26. 49 Potts 2013, S. 3. Als weitere wichtige Elemente eines „modernen Realismus“ nennt Potts das Gewöhnliche („vernacular“) sowie die materielle Substanz der Dinge.
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bei Kaprow darauf abziele, die künstlerische Form als „identisch mit der Struktur alltäglicher Rituale“50 zu erfahren. Genauer wäre davon zu sprechen, dass Kaprow das Alltägliche in einer mimetischen Tradition behandelt, wenn er programmatisch banale Akte, Momente der Scham, Szenen der Lächerlichkeit oder Entblößung zum Thema macht.51 Aber dieser erneute Anlauf im Zeichen der Mimesis setzt eben nicht mehr auf den ‚erhebenden‘ Rahmen der Kunst oder das Konzept der ‚Bildwürdigkeit‘. Mit der Verschiebung in das Feld der Praxis und dem ein- und ausübenden Charakter der Activities wird vielmehr die Repräsentation selbst mobilisiert. Merkmal dieser Übungen ist, dass mit ihnen abstrahiert und verkörpert, beobachtet und teilgenommen, verfremdet und kopiert wird – und dabei nicht festgeschrieben ist, in welchem dieser Modi überhaupt eine authentische Erfahrung stattfindet oder der Eindruck von Wirklichkeit sich einstellt. Diese praktische Verhandlung von Repräsentations- und Verkörperungsfragen spielt sich allerdings höchstens noch mit einem Bein auf kunsttheoretischem Terrain ab. Ebenso sehr teilt sie Anliegen der mit neuen Perspektiven und Verfahren arbeitenden Sozialwissenschaften, die sich dem Alltagsleben mit demokratischem und emanzipatorischem Ethos als dem „einzigen Subuniversum“ zuwandte, „in das wir uns mit unseren Handlungen einschalten können“52 und in dem „Handlungsbereiche anfallen, für die jeder Akteur kompetent ist“53. Auffällig ist, dass Kaprows Vorgehen und die praxisorientierte, qualitative Sozialforschung um 1970 gerade dort erstaunliche Parallelen aufweisen, wo es um das Aufspüren jener Situationen geht, in denen sich Interaktion im Alltag als äußerst kontextreflexiv entpuppt und es unter Krisenbedingungen zu geradewegs absurden Szenen kommen kann. Zwei der prominentesten amerikanischen Sozial- und Interaktionsforscher, 50 Ebd., S. 325f. 51 Mimesis verstanden im Sinne Auerbachs, siehe oben, Kap. „Affect: Wahrnehmen, Verfremden, Kommunizieren", Anm. 35. 52 Alfred Schütz, „Don Quixote und das Problem der Realität“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, hg. von Arvid Brodersen, Den Haag 1972, S. 102–128, hier S. 119. 53 Kurt Hammerich und Michael Klein, „Alltag und Soziologie“, in: Materialien zur Soziologie des Alltags, hg. von dens., Sonderheft Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1978, S. 7–21, hier S. 12.
Erving Goffman und Harold Garfinkel, nutzten unterschiedliche Distanzierungs- oder Verfremdungsmittel, um vermeintlich routinisierte, konventionale oder banale alltägliche Handlungsakte zum Sprechen zu bringen und ihnen Aussagekraft hinsichtlich der Beschaffenheit des gesellschaftlichen Gewebes und der Bedeutung des Know-hows der an ihm wirkenden Akteure zu entlocken.
Rollenspiele und Krisenexperimente: Kaprow, Goffman, Garfinkel Sowohl Erving Goffman als auch Harold Garfinkel stehen für einen methodisch unorthodoxen Wissenschaftsstil, der ihnen einerseits den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit einbrachte, andererseits dazu führte, dass ihre Forschungen auch außerhalb der Fachwelt rezipiert wurden und zu individueller Anwendung oder Nachahmung anregten. Goffman publizierte 1956 mit dem Buch The Presentation of Self in Everyday-Life, das zu einem Bestseller der Wissenschaftsliteratur wurde, die Grundzüge seiner Soziologie.54 Obwohl der Text eine Vielzahl theoretischer Fragen behandelt, ist er anschaulich geschrieben und beinhaltet eine Reihe von Passagen, in denen Goffman sein Talent als Verfasser lebendiger Mikrostudien unter Beweis stellt. Der teilnehmenden Beobachtung beziehungsweise beobachtenden Teilnahme als Grundlage seiner Soziologie verpflichtet, betonte Goffman, es sei nicht damit getan, den Menschen, deren Kreise man betritt, bloß zuzuhören, man müsse vielmehr „auch auf ihre kleinen Stöhner und Seufzer achten, während sie ihr Leben meistern.“55 54 Vgl. Hubert Knoblauch, „[Art.] Erving Goffman. The Presentation of Self in Everyday Life“, in: Hauptwerke der Soziologie, hg. von Dirk Kaesler und Ludgera Vogt, Stuttgart 2000, S. 162–166, hier S. 162. Der Titel der 1969 erschienenen deutschen Übersetzung lautete: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Tatsächlich verlief die Goffman-Rezeption gegenläufig. In der Fachwelt ließ das Interesse an seinen Schriften in den späten 1960er-Jahren nach, während außerhalb der Soziologie auch noch sein Buch Frame Analysis von 1974 auf breites Interesse stieß. Vgl. Charles Lemert, „Goffman“, in: The Goffman Reader, hg. von Charles Lemert und Anna Branaman, Malden und Oxford 1997, S. ix-xliii, hier S. xv. Der 1922 geborene Goffman lehrte bis 1969 an der University of California in Berkeley. 55 Erving Goffman, „Über Feldforschung“, in: Kommunikative Lebenswelten. Zur Ethnographie einer geschwätzigen Gesellschaft,
Rollenspiele und Krisenexperimente: Kaprow, Goffman, Garfinkel
Die Einstimmung auf das Feld der Beobachtung setzte für Goffman die Bereitschaft zu Einfühlung und sogar Mitgefühl voraus. Sein Verständnis für die Tricks und Strategien, die angewendet werden, um als Individuum in der Gesellschaft zu bestehen, und das Bedürfnis nach Bestätigung des Selbstbildes sowie die prinzipielle Unsicherheit des Selbst gründeten in einer philanthropischen Haltung. Die „kleinen Stöhner und Seufzer“ als Zeichen einer Anstrengung, die schon dort vollbracht wird, wo es nur um das alltägliche Leben geht, waren für Goffman ebenso wie die Absurdität und Peinlichkeit mancher Interaktionsrituale würdig, einer näheren Untersuchung und ausführlichen Darstellung unterzogen zu werden. Goffman richtete seine Aufmerksamkeit auf die Beobachtung des sozial situierten Handelns im Zeitalter des Individualismus. Er entdeckte mit Blick auf einfache soziale Interaktionen die „Dialektik des Regelwerks konkret gelebter Sozialität“56 und arbeitete heraus, wie soziale Situationen das Selbst formen. Das Individuum habe, so Goffman, „ein einziges Selbst für sich allein […], aber die Bestätigung dieses Besitzes ist doch gänzlich das Produkt gemeinsamer zeremonieller Arbeit.“57 Um die mannigfaltigen Erscheinungsformen dieser „zeremonielle[n] Arbeit“, die als dynamischer Vorgang zu begreifen ist, nicht bloß zu beobachten und episodenhaft wiederzugeben, sondern auf Distanz zu bringen und in einen sinnstiftenden Horizont zu stellen, entwickelte Goffman im Verlauf seiner Karriere mehrere Begriffssysteme, ohne das erklärte Ziel, diese am Ende zu einem geschlossenen Theoriegebäude zusammenzufügen. In The Presentation of Self in Everyday Life bediente sich Goffman aus dem Begriffsreservoir der Theaterwelt. Er beschreibt darin den Menschen als Darsteller, der weniger damit beschäftigt ist, sein innerstes Selbst auszudrücken, als durch sein Spiel hg. von Hubert Knoblauch, Konstanz 1996, S. 261–269, hier S. 263. Pierre Bourdieu lobte Goffman in seinem Nachruf als den Entdecker der „Infinitesimale“ für die Soziologie – also jener Kleinigkeiten, die landläufig als nicht feststellbar gelten, weil sie größer als Null, aber kleiner als jede noch so kleine positive reelle Zahl sind. Vgl. Pierre Bourdieu, „Le découvreur de l’infiniment petit“, in: Le Monde, 4.12.1982. 56 Jürgen Raab, Erving Goffman, 2. überarb. Aufl., Konstanz und München, 2014, S. 81. 57 Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main 1971, S. 94.
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einen bestimmten Eindruck bei anderen zu erwecken. Die Pointe der Theatermetaphorik Goffmans besteht darin, dass sie nicht darauf abzielt, Scheinheiligkeit zu entlarven und jenseits des Theaters die eigentliche und authentische Sphäre auszumachen. Stattdessen wird das Selbst in letzter Konsequenz nicht mehr als etwas lokalisiert, das seinem Besitzer entspringt, sondern als „dramatische Wirkung“58 einer vom Darsteller (performer) und dem ihn umgebenden Ensemble (team) glaubwürdig dargestellten Szene verstanden. Dabei wird die zu spielende und vom Publikum anzuerkennende Rolle nicht streng normativ und statisch verstanden. Vielmehr kann jedes Individuum situationsbedingt unterschiedliche Rollen verkörpern oder auch – sofern sie zuvor gut eingeübt wurden – von ihnen abweichen, sich distanzieren oder kunstfertig mit ihnen umgehen.59 In Goffmans Modell der sozialen Welt läuft das alltägliche Leben nicht als ruhiger, steter Fluss der Routinen ab, sondern ist in jedem Moment durchzogen von Abstimmungs- und Absicherungsvorgängen, die glücken oder scheitern können. „Wir müssen bereit sein zu sehen“, schreibt Goffman, „dass der Eindruck von Realität, den eine Darstellung erweckt, ein zartes, zerbrechliches Ding ist, das durch das kleinste Missgeschick zerstört werden kann.“60 Das Erzeugen eines Anscheins von Wirklichkeit oder Normalität sowie die Mechanismen, nach denen Akteure in einer Situation festlegen, wie diese zu deuten und in welchem Register – beispielsweise spielerisch oder ernsthaft – sie fortzuführen ist, beschäftigten Goffman verstärkt in seinen nachfolgenden Studien.61 Mit Goffman teilte Kaprow das Interesse daran, wie interagierende Akteure im Vollzug kontextreflexiver Praktiken Gesellschaft herstellen. Das Bild vom Individuum als performer und einem im sozialen Rollenspiel zu stabilisierenden Selbst, welches von Goffman in einer Vielzahl von Mikrostudien entwickelt wurde, ist zudem als Bezugspunkt für Kaprows 58 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag [1969], München 142014, hier S. 231. 59 Zu Goffmans Konzept der „Rollendistanz“ siehe Raab 2014, S. 92. 60 Goffman 1969/2014, S. 52. 61 Zu nennen sind hier vor allem Interaction Ritual (1969), Relations in Public (1971) sowie Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience (1974).
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Verständnis von performance produktiv zu machen. Kaprows immer wieder betonte Abgrenzung vom Theater als Kunstform liegt auch darin begründet, dass er wie Goffman von Rollen und Theater zunächst in einem ausschließlich metaphorischen Sinn sprach. Auch Kaprows Ausgangspunkt ist die Beobachtung alltäglicher Situationen mit soziologischem Interesse. Sein partizipativer Ansatz kommt mit den Activities schließlich als eine eigenständige Anwendung der Goffmanschen Rollentheorie zum Tragen: Die Interpreten der Activities spielen auf einer ersten Ebene lediglich insofern eine Rolle, als sie sich selbst spielen. Sie sind also gewissermaßen schon als „Goffmenschen“62 gedacht, deren sozialisiertes Selbst ausund aufführungsabhängig ist. Kaprows Ansage, sich den „artificial aspects of everyday life“63 zuzuwenden, lässt erkennen, dass seine programmatische Hinwendung zum Alltäglichen ähnlich multidimensional wie jene von Goffman ist – und somit auch die von Elias beklagten dichotomischen Konzeptionen übersteigt. Das alltägliche Leben wird weder als dumpf, unbewusst und banal noch als besonders wahrhaftig, authentisch und unverdorben begriffen. Die Akteure des alltäglichen sozialen Lebens sind stattdessen ebenso kompetent wie gefährdet in ihrer ständigen Vermittlung zwischen Selbst, Rolle, Mitspielern und Publikum, welche Momente der Passung – und somit des geteilten Eindrucks von Authentizität und Wirklichkeit – ebenso hervorbringen kann wie Momente der Verfehlung und Verwechslung von Wirklichkeitsebenen. Dass die Lektüre der Texte Goffmans seinen Blick schärfte für die vielen Bedeutungsebenen und Ausführungsmöglichkeiten der Interaktionen des täglichen Lebens, die dadurch hervorgerufenen Missverständnisse, Täuschungsmanöver und das stets „merkliche Risiko, geringfügigen Peinlichkeiten ausgesetzt zu sein“64, darauf wies Kaprow selbst punktuell hin und für seine Activities wählte er ganz ähnliche Szenen sozialer Interaktion, wie Goffman sie in seinen Büchern beschrieb. In seinem 1977 erschienenen Essay „Participation Performance“ rekapitulierte Kaprow, Goffman sei es in The Presentation 62 Der Begriff ist übernommen von Ronald Hitzler, „Der Goffmensch. Überlegungen zu einer dramatologischen Anthropologie“, in: Soziale Welt, Jg. 43, H. 4, 1992, S. 449–461. 63 Kaprow 1979/2003, S. 195. 64 Goffman 1969/2014, S. 222.
of Self in Everyday Life gelungen, alltägliche Routinen „als Gegenstand einer Analyse in Anführungszeichen zu setzen.“65 Seine Activities sah Kaprow im Sinne einer künstlerischen Forschung aber als eigenen Beitrag, der der soziologischen Betrachtung eine weitere Ebene hinzufüge: What is interesting to art though, is that everyday routines could be used as real offstage performances. […] Intentionally performing everyday life is bound to create some curious kinds of awareness. […] Without either an audience or a formally designated stage or clearing, the performer becomes simultaneously agent and watcher. She or he takes on the task of ‚framing‘ the transaction internally, by paying attention in motion.66 Die Activity, so lässt sich Kaprow verstehen, funktioniert als zweites Anführungszeichen, mit dem das von Goffman erkannte und mit begrifflichen Mitteln freigestellte performance-Potential alltäglicher sozialer Interaktion den Akteuren selbst überhaupt erst bewusst werden kann. Wo die Erkenntnisse des Soziologen, so suggeriert Kaprow, erst begrifflich auf Distanz gebracht und in einer sprachlichen Schilderung vermittelt werden müssen, eröffnet die Activity einen Lern- und Bewusstmachungsprozess in actu. Der Topos des Malers, der sichtbar macht, was dem menschlichen Auge unter normalen Umständen verborgen bleibt, wird hier abgelöst von der Figur des wissenschaftsinformierten Vermittlers, der unkonventionelle Mittel für diese Bewusstmachung erdenkt. Kaprows Argumentation geht an dieser Stelle allerdings über manche Finesse der Goffmanschen Soziologie hinweg, deren Kenntnis die Passage gleichwohl verrät. Der von Kaprow in einfache Anführungszeichen gesetzte Begriff ‚framing‘ ist Goffmans 1974 erschienenem Buch Frame Analysis entnommen. Diese Studie widmete sich dem Repertoire der Verhaltensweisen sowie gestischen, mimischen und sprachlichen Mittel, die Menschen zur Verfügung stehen, um miteinander die Handlungs- und Deutungszusammenhänge einer Situation und somit 65 Kaprow 1977/2003, S. 187. 66 Ebd., S. 188f.
Rollenspiele und Krisenexperimente: Kaprow, Goffman, Garfinkel
auch deren Wirklichkeitsstatus festzulegen. Diese ‚Rahmungen‘ setzen voraus, dass eine Person in einer sozialen Situation gleichzeitig agiert, beobachtet und eigene wie fremde Handlungen interpretiert. Hatte Goffman schon in The Presentation of Self in Everyday Life immer wieder beschrieben, inwiefern das Gelingen der gemeinsamen Arbeit auf der Bühne des sozialen Lebens im Prinzip den andauernden Wechsel zwischen Handeln, Beobachten, Korrigieren, Reagieren voraussetzt, arbeitete er mit der Rahmen-Analyse noch deutlicher heraus, dass das, was er mit begrifflichen Mitteln für eine Modellbildung hervorzuheben sich vorgenommen hatte, von den Akteuren selbst – zumindest implizit – bereits gewusst und angewendet wurde. Die für ein Erkennen notwendige Rahmung einer Situation, die Kaprow für die performer seiner Übungen in Anspruch nimmt, ist in Goffmans Perspektive bereits Bestandteil sozialer Interaktionen. Goffman beschreibt fünf „Modulationen“67, mit denen Tätigkeiten aus dem sogenannten primären Rahmen in etwas transformiert werden, das dieser Tätigkeit nur nachgebildet ist. In dem Kapitel zu „Sonderausführungen“68 beschäftigt sich Goffman mit Übungen, Proben und Demonstrationen als Erscheinungsformen einer Modulation, die eine aktuelle Situation in einen Zusammenhang stellt, in dem sie „zu unverkennbar anderen als den ursprünglichen Zwecken aufgeführt wird.“69 Diese „Probeläufe“ seien, so bemerkt er, „ein wichtiger Bestandteil des modernen Lebens, aber von der Sozialwissenschaft bisher nur wenig als etwas Eigenständiges erörtert worden.“70 Im Anschluss an Goffman hätte Kaprow seine eigenen Übungen als eine jener „Sonderausführungen“ charakterisieren oder sie als Ergänzung dieser Gruppe zurechnen können – und damit sogar die Gelegenheit gehabt, die Unterscheidung zwischen ‚wirklich‘ und ‚künstlich‘ oder ‚fiktiv‘ elegant ad acta zu legen. Dass er diese Möglichkeit versäumte oder schlicht nicht sah, mag zum einen zeigen, wie notorisch er selbst immer wieder auf die Diskussion der Unterscheidung von Kunst und Leben zurückkam, 67 Im Original: „keyings“. Erving Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience, New York u. a. 1974. 68 Im Original: „technical redoings“. Ebd. 69 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 92016, S. 71. 70 Ebd., S. 72.
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zum anderen schlicht dem strategischen Anliegen geschuldet sein, nicht am Ende als reiner Übersetzer oder Adept einer populären soziologischen Theorie zu gelten. Löst man sich allerdings von der allzu eng gefassten Frage nach Einfluss oder Adaption, dann lässt sich zumindest feststellen, dass Kaprows Activities nicht nur im Hinblick auf ihren Themenbereich und die Inanspruchnahme der teilnehmenden Beobachtung, sondern auch mit ihrer praktischen Überlagerung von ‚real‘ und ‚als-ob‘ Parallelen zu bestimmten Verfahren sozialer Interaktion aufweisen, die von der zeitgenössischen Soziologie beschrieben wurden.71 71 Bernhard Schieder hat die Activities ebenfalls punktuell und äußerst knapp mit Goffmans Soziologie zusammengebracht, ohne dabei allerdings in wissenschaftshistorischer Perspektive zu sprechen oder Kaprows eigenen Hinweisen auf Goffman nachzugehen. Schieder bezieht die von Goffman in Rahmen-Analyse beschriebenen Modellierungsvorgänge auf die von ihm als „liminale Situationen“ bezeichneten Phasen, in denen „Wahrnehmungsweisen, die für Activities typisch sind“, temporal ausgedehnt werden und somit in den alltäglichen Erfahrungskorridor hineinwirken können. Damit betont Schieder völlig zurecht, dass die Durchführung der Activities zwar zeitlich abgegrenzt war, es aber schon durch die zeitliche Erstreckung ganz selbstverständlich zur Überlappung mit alltäglichen Vorgängen kommt, etwa in den Pausen, bei Mahlzeiten und begleitenden Gesprächen. Schieder spricht mit Goffmans Ansatz von der Möglichkeit, dass zudem auch nach dem Beenden der als-ob-Situation der Activity durch entsprechendes „Heraufmodellieren“, dank dem in der Activity geschulten Bewusstsein soziale Interaktionen als „selbstzweckhafte Spiele“ erscheinen können. Schieder 2015, S. 181f. Mir scheint allerdings, dass Schieder (mit Blick auf nur sehr wenige Werkbeispiele) den zweifellos vorhandenen spielerischen Charakter überbetont, wenn er davon schreibt, dass die Activity „Rollenbewusstsein“ schule, mit dem dann zeitweise auch die außerhalb der Activity liegende „Alltäglichkeit fiktive Züge annimmt.“ Ebd. Es gibt in den Activities keine Rollen wie in einem Theaterstück, sondern lediglich mit „A“ und „B“ bezeichnete, betont eigenschaftslose Positionen in einem Übungsschema – was die Interpreten dann daraus machen, ist insofern Rollenspiel, als sie im Sinne Goffmans während der Realisierung mit dem Eindruck arbeiten, den sie beim Gegenüber hervorrufen, sich mit diesem abstimmen und zwischen Momenten der Passung und solchen der Entfremdung navigieren müssen. Fiktionalisierung ist für die Activities eher auf der Ebene des Erzählens relevant, das vor dem Tape Recorder oder in den Abschlussgesprächen provoziert wird. Es erwächst aus der für diese Übungen sehr viel grundlegenderen Aufforderung, das, was miteinander durchgeführt wird, zu interpretieren und metaphorisch zu verstehen, also sinnstiftenden Übertragungsprozessen zuzuführen. Damit kann dann aber auch der Kosmos des Alltäglichen überstiegen werden und die Activity zur grundsätzlichen und eher
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
Mit Harold Garfinkel erlangte in den späten 1960er-Jahren ein weiterer mit Alltagsphänomenen befasster Sozialwissenschaftler größere Bekanntheit außerhalb der Fachwelt, und dies zunächst in Kalifornien.72 Garfinkels Ethnomethodologie unterlief starre Vorstellungen von sozialer Ordnung, indem sie versuchte, Makrostrukturen auf die ständige Wiederholung geschickter Praktiken in konkreten Situationen zurückzuführen.73 Garfinkel selbst nahm sich als Ausgangspunkt der Frage an, wie es gelingen könne, die „sichtbaren, aber unbemerkt bleibenden […] Hintergrundkennzeichen alltäglicher Szenen“74 einer Untersuchung zu unterziehen. Im Unterschied zu Goffman, der vor allem begriffliche Mittel wählte, um das von ihm Beobachtete auf Distanz und in den Griff zu bekommen, entwickelte Garfinkel eine experimentelle Methode, die man als eine performativ gerahmte teilnehmende Beobachtung beschreiben könnte. Er setzte diese vor allem als Lehrmethode ein, mit der er seine eigenen Studenten auf die Lektüre des Felds alltäglicher Interaktionen einzustimmen versuchte. Den Kern seiner sogenannten Krisenexperimente, die er selbst eher im Sinne von Demonstrationen und nicht als Experimente verstanden wissen wollte, beschrieb Garfinkel selbst wie folgt: „Was das Verfahren betrifft, so bevorzuge ich es, mit vertrauten Szenen anzufangen und zu fragen, wie sich Unruhe stiften lässt.“75 Seine oftmals mehrteiligen und an Komplexität zunehmenden Aufgaben sahen vor, den Ablauf alltäglicher Ereignisse durcheinanderzubringen, indem vorab eine die normale Organisation der Interaktion durchkreuzende Regel festgelegt, diese aber den anderen Beteiligten nicht mitgeteilt wurde. Die Folgen dieser Regelverletzung sollten dann intellektuell-philosophischen Befassung mit Selbst- und Weltverhältnissen anregen. 72 Vgl. Werner J. Patzelt, „[Art.] Harold Garfinkel. Studies in Ethnomethodology“, in: Hauptwerke der Soziologie, hg. von Dirk Kaesler und Ludgera Vogt, Stuttgart 2000, S. 136–139, hier S. 137. 73 Vgl. Reckwitz 2003, S. 283. 74 Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology [1967], Cambridge 1984, S. 36. 75 Ebd., S. 37. Anstelle von „Unruhe“ ließe sich auch „Durcheinander“ einsetzen. Im Original: „Procedurally it is my preference to start with familiar scenes and ask what can be done to make trouble.“ Zu den Krisenexperimenten (im Original: „breaching experiments“) siehe in konziser Form auch George Ritzer, Sociological Theory, New York u. a. 41996, S. 378–380.
im Kontrastverfahren die ungeschriebenen Gesetze selbst zum Vorschein bringen oder kommentieren. Eine dieser Aufgaben Garfinkels bestand darin, sich in seinem eigenen Zuhause für mindestens fünfzehn Minuten wie ein Kostgänger („boarder“) zu verhalten, der bloß zu Gast ist und keinerlei persönliche Beziehung zu den ihn umgebenden Personen hat.76 Ein Großteil der vierzig Studentinnen und Studenten, die diese Aufgabe umsetzten, berichteten danach von verblüfften, irritierten und verärgerten Reaktionen sowie dem Versuch der Vertrauten, sich das seltsame Gebaren zu erklären oder Maßnahmen zu ergreifen, um wieder Normalität herzustellen. In einigen Fällen brachte das Experiment – aufgrund des äußerst reservierten, zurückhaltenden und stoischen Auftritts des ‚Gasts‘ – Vermutungen über schädigende Auswirkungen des Studiums oder mangelnden Respekt des Kindes gegenüber den Eltern hervor.77 Bemerkenswert erschien Garfinkel auch, dass nach erfolgter Aufklärung der unwissenden Teilnehmer des Experiments in mehreren Fällen Vermutungen darüber angestellt wurden, welche der zuvor getätigten Aussagen oder Verhaltensweisen tatsächlich der Rolle zuzuschreiben und welche ernst gemeint gewesen waren. Mit den Krisenexperimenten Garfinkels liegt aus den Reihen der Soziologie um 1970 eine „situationsinvasive Methode“78 vor, die darauf abzielte, das allzu Vertraute durch Störung sichtbar zu machen und die damit über die gängige teilnehmende Beobachtung und anschließende schriftliche Analyse hinausging. Die von einzelnen, vorab instruierten Forschern herbeigeführte Brechung des geordneten sozialen Miteinanders nahm dabei nicht den Rang eines vollwertigen Experiments ein und produzierte Daten nur in Form von nachgetragenen Berichten oder Gesprächsprotokollen. Ansatz und Struktur dieser Krisenexperimente ähneln einer Activity wie Maneuvers durchaus. Wenn Kaprow die Interpreten auffordert, die tagtäglich geräuschlos ausgeführten Regeln des geordneten Grenzverkehrs an der Türöffnung abzuändern und wiederholen zu lassen, 76 Zur Aufgabenstellung und ihrer Durchführung siehe Garfinkel 1967/1984, S. 47–49. 77 Ein Großteil der teilnehmenden Studenten lebte noch bei den Eltern. 78 Amann/Hirschauer 1997, S. 12.
Rollenspiele und Krisenexperimente: Kaprow, Goffman, Garfinkel
betätigt er sich ganz im Sinne Garfinkels als ‚trouble-maker‘. Die Activity rahmt nicht einfach einen spezifischen Abschnitt alltäglicher Erfahrung, um diesen überhaupt oder intensiver erfahrbar zu machen, sondern sie ist als Übung konzipiert, in der Elemente tagtäglicher sozialer Interaktion variiert, neu kombiniert und verfremdet werden. Im Unterschied zu Garfinkel ermächtigen Kaprows Übungen allerdings jeden Beteiligten zum Forscher in eigener Sache und trennen nicht zwischen dem manipulativen teilnehmenden Beobachter und den unbemerkt zur Reaktion gezwungenen Ausführenden des Normalbetriebs. Es erfolgt kein Eingriff in das Interaktionsgewebe des Alltags, sondern die Übertragung in eine Übungsaufgabe. Lassen sich die Activities somit als soziologische Meta-Forschung oder – genau andersherum – als vorgängige, echte Grundlagenforschung charakterisieren? Zweifelsohne ist vorstellbar, dass ein Gespräch im Anschluss an ein von Studierenden Garfinkels durchgeführtes Krisenexperiment ähnliche Beobachtungen und Reflexionen hervorbringt wie ein Abschlussgespräch Kaprows mit Studierenden, die zuvor eine seiner Activities realisiert haben. In gleicher Weise ist aber auch denkbar, dass in den 1970er-Jahren eine Arbeit wie Maneuvers als eine Art Übung zweiter Ordnung auf die mit der Alltagssoziologie als Disziplin eingeführten Methoden und Per spektiven bezogen wird. So offenbart sich schließlich, dass die unorthodox-sozialwissenschaftlichen und die unkünstlerisch-künstlerischen Forschungsprogramme von der gleichen Problematik begleitet werden. Gemeint ist die Rückwirkung des Verfremdeten auf das, was zu verfremden war, um als evident überhaupt wahrgenommen werden zu können. Dem eigenen Alltag als Feld kann man sich schwerlich wieder entziehen, hat man ihn einmal als solches identifiziert und praktizierend betreten. Nicht selten bergen die gewonnenen Erkenntnisse Direktiven, die den eigenen Lebensvollzug betreffen. Während „Alltagswelt als Phänomen“79 noch unentwegt neue Forschungsfelder und Feldforschungen provozierte, kommentierten manche der beteiligten Akteure schon in den späten 1970er-Jahren ein gewisses Unbehagen darüber, in welcher Form die Soziologie des Alltags sich jenseits des akademischen 79 Siehe Zimmerman/Pollner 1976.
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Apparats verselbstständigte. So leiteten Kurt Hammerich und Michael Klein das von ihnen herausgegebene Sonderheft zum Thema mit folgender Beobachtung ein: Man spricht ‚soziologisch‘ – wie in einem verselbständigten Sprachspiel – über gesellschaftliche Erscheinungen, als seien diese fremde, hier und jetzt nicht mehr unmittelbar greifbare und konkretisierbare Phänomene.80 Die Pioniere der Alltagsforschung konnten in den 1970er-Jahren im Dschungel des ‚normalen‘ Lebens schon ihrem Echo begegnen. Dem erweiterten Kreis der Eingeweihten waren nicht mehr die Augen zu öffnen, vielmehr teilte man bereits eine Sprechweise und konnte die Befremdung der eigenen Kultur gleichsam als Spiel betreiben. Es formulierten sich erste Bedenken, ob man die Erkenntnis über die Mechanismen des Sozialen mit dem Verlust authentischer Erfahrung zu bezahlen hatte oder das Eigene durch die wissenschaftliche Brille so weit abgerückt war, dass es für alltagspolitische und lebenspraktische Forderungen nicht mehr einzuholen war. Gleichzeitig trieb der pädagogische Impetus des Jahrzehnts, in dem – so Ulrich Raulff zugespitzt – „jeder jeden erziehen, […] jeder vermitteln [wollte]“81, die Suche nach Methoden zur Bewusstmachung an. In der Fülle der Ratgeberliteratur dieser Zeit, die sozial- und psychowissenschaftliche Ansätze mit unterschiedlichem Mehrwert kombinierte und popularisierte, hallt nach, was einige Jahre zuvor als Entdeckung der dynamischen Praktiken unter der Oberfläche der sozialen Ordnung begonnen hatte. In dieser Phase sind die Activities zu verorten und vor dieser Gemengelage wird offenbar, dass Kaprow sich womöglich nicht umfänglich darüber im Klaren war, ob er seine Übungen für die bereits Eingeweihten oder die noch Einzuweihenden konzipierte – beziehungsweise er jeweils mit unterschiedlichen Reaktionen zu rechnen hatte. Es bleibt eine Unklarheit darüber bestehen, in welchen Anteilen die Activities Forschungsergebnisse zum Nachvollzug aufbereiten, den Befund – und sei es der einer Ereignishaftigkeit des Alltags überhaupt – also 80 Hammerich/Klein 1978, hier S. 8. 81 Raulff 2014, S. 101.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
voraussetzen, oder neue Erkenntnisse produzieren. Sie sind schon Resultate jener von Spradley beschriebenen geänderten Blickrichtung und geben sich doch als erste Erkundungen. Diese latente Widersprüchlichkeit ist ebenfalls zu bemerken, wenn man sich genauer anschaut, wie die Interpreten der 1970er-Jahre das spezifische Format der Activity als Übung für Duos mit Nachgespräch in kleiner Gruppe beschrieben und bewerteten – und welche Rückwirkungen dies auf die Erfahrungs- und Interpretationsmöglichkeiten der Übungsinhalte haben konnte.
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe Während nur einige wenige Tonband- oder Videoaufnahmen der im Anschluss an die Durchführung der Activities geführten Gespräche erhalten sind, geben allerhand kleinere Artikel in Zeitschriften und Zeitungen Auskunft über deren Verlauf. Deren Verfasser hatten mitunter mehrere Funktionen, schrieben also als Pressevertreter oder Kunstkritiker, waren nicht selten aber auch selbst Teilnehmer. Eine klare Trennung zwischen dem authentischen Kunst ereignis auf der einen und dem die Einordnung und Einspeisung in den Markt beziehungsweise das Kunstsystem vornehmenden kritischen und kenntnisreichen Beobachter auf der anderen Seite existierte nicht.82 Mit den rahmenden Einführungs- und Abschlussgesprächen wurde jeder Teilnehmer dazu aufgefordert, nicht in erster Linie Rapport zu erstatten, sondern eine kritische Einordnung vorzunehmen – dieser wiederum hatte Kaprow sich direkt zu stellen, konnte sie also weniger leicht von sich weisen wie den auf Grundlage eines Ausstellungsbesuchs verfassten Text eines Rezensenten. Die verstreuten Quellen lassen eine Tendenz bezüglich der Themen 82 Es konnte sogar vorkommen, dass ein nachträglicher Erfahrungsbericht aufgrund der Expertise der Teilnehmerin selbst zu einer sozialpsychologischen Abhandlung inklusive Fußnoten geriet, die dann als kunstkritischer Beitrag erschien: Astrid Wick-Kmoch, „Sozialpsychologische Aspekte von Kaprows Activity Frames of Mind“, in: Kunstforum International, Bd. 24, 1977, S. 140–151. Die Psychologin und Psychotherapeutin Wick-Kmoch veröffentlichte gemeinsam mit ihrem Mann Rainer Wick 1979 bei DuMont in Köln den Band Kunstsoziologie. Bildende Kunst und Gesellschaft.
und Argumente feststellen, die in den Abschlusssitzungen zur Sprache kamen. Zum einen wurden Durchführungsschwierigkeiten und Widerstände, aber auch ‚Aha-Erlebnisse‘ berichtet, zum anderen nahm die Frage nach der Etikettierung des Formats großen Raum ein. Mit letzterer rutschte das Gespräch oftmals schon auf eine metareflexive Ebene, bevor überhaupt die Ergebnisse, also die bei Durchführung gemachten Erfahrungen, in aller Ausführlichkeit berichtet worden waren. Es existierte offenbar ein starkes Bedürfnis, gemeinsam darüber nachzudenken, was man da gerade gemacht hatte, ganz im Sinne der von Erving Goffman in der Rahmen-Analyse eingangs formulierten Grundsatzfrage: „Was geht hier eigentlich vor?“83. Die Überlegungen, die zu dieser Frage gesponnen wurden, verdoppelten und erweiterten die ohnehin vorhandene Ambivalenz der Kaprowschen Theorie-und-Praxis-Konstellation, indem sie einerseits wieder und wieder die Frage nach der Kunsthaftigkeit oder Nicht-mehr-Kunsthaftigkeit des Ganzen aufrollten, andererseits Vorschläge aufbrachten, die Übungen in die Nähe kunstfremder Praktiken zu rücken. Rückblickend lässt sich nicht mehr eindeutig unterscheiden, inwiefern diese Einordnungsversuche sich auf den bereits von Kaprow gespurten Bahnen bewegten oder tatsächlich neu von den Teilnehmern oder Rezensenten ins Spiel gebracht wurden. Unbenommen davon jedoch illustrieren sie, wie stark das Nachdenken über das eigenwillige Format der Activity mit der Frage nach ihrem Mehrwert verbunden war. In dem Moment, in dem nicht mehr vorrangig als relevant galt, ob die Activity einen gelungenen Beitrag zur Kunstgeschichte leistete, hatten sich Kaprows Übungen mit anderen zeitgenössischen Phänomenen hinsichtlich ihrer Wirkkraft, Lerneffekte und Erkenntnispotentiale – aber eben auch Zumutungen und Disziplinierungsgesten – zu messen. Augusto Minucci resümierte in einem Artikel für La Stampa 1974 den Befund der lebhaften Abschlussdiskussion zur Activity Affect mit den Worten, man habe „vor allem die Lust am Kommunizieren entdeckt“. Einig seien sich die Teilnehmer gewesen, dass dies zwar keine figürliche Malerei mehr sei, die man im Salon aufhängen könne, sich mit der Activity aber 83 Goffman 2016, S. 16. Im Original: „What is it that’s going on here?“, Goffman 1974, S. 8.
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe
„ein menschliches Maß“ wiederentdecken lasse.84 In einem 1975 erschienenen Bericht fragte Mirella Bandini Kaprow nach dem „Modus“ der jüngsten Activities und man stimmte darin überein, von diesen auch als einer „Form von Soziologie“ mit „psychodynamischem Aspekt“ sprechen zu können.85 Ob es sich hier nicht eher um eine „Gruppentherapie-Situation“ als um „Kunstschaffen“ handele, wollte wiederum Sandy Ballatore 1976 von Kaprow zur Activity Warm-ups wissen, worauf dieser mit Zustimmung reagierte.86 Auf die Nähe zu therapeutischen Methoden ging auch James T. Hindman in einem 1979 veröffentlichten Artikel näher ein: The organization and arrangements of the work are somewhat similar to the dynamics of group therapy in the Human potential movement: people share interests, ventilate feelings and frustrations, act out mutual concerns in exercises, and then process their experiences collectively.87 Während Hindman die Ähnlichkeiten der Activities mit Gruppentherapieverfahren referierte, sahen sich andere Berichterstatter angesichts ähnlicher Diagnosen bemüßigt, Abgrenzungen vorzunehmen. In einer
84 Augusto Minucci, „Nelle Gallerie Torinesi: Happening freddo e caldo“, in: La Stampa, 18.10.1974. Die komplette Passage liest sich im Original wie folgt: „A sera, i partecipanti si sono reuniti in galleria per ascoltare la registrazione. E nata una discussione stimolante e divertente dove ognuno non solo ha scoperto che certe azioni consunte dall’uso possono essere reinventate e dare sensazioni nuove, ma sopratutto ha scoperto il piacere di communicare. Cosa c’entra tutto ciò con l’arte figurativa? si dirà. Ben poco e vero: gli happening non si appendono in salotto, però possono farci riscoprire quella misura umana che la civiltà della macchina ha distrutto.“ Mit der „civiltà della macchina“, die das menschliche Maß in der Kunst zerstört habe, meint Minucci vermutlich nicht bloß allgemein die Kultur des Maschinenzeitalters, sondern spielt auf eine im Auftrag des „Istituto per la Ricostruzione Industriale“ ins Leben gerufene Zeitschrift gleichen Namens an, die – durchaus im Geiste des italienischen Futurismus – bis 1979 überaus erfolgreich den wirtschaftlichen Aufschwung Italiens mit ingenieurswissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Beiträgen zur Technologisierung begleitete. 85 Mirella Bandini, „Allan Kaprow“, in: Deta, Nr. 16/17, Juni 1975, S. 60–67, hier S. 66. 86 Sandy Ballatore, „The ‚Un-Artist‘ observed“, in: Artweek, Bd. 7, 13.3.1976, S. 1f, hier S. 2. 87 James T. Hindman, „Self-Performance. Allan Kaprow’s Activities“, in: The Drama Review, Bd. 23, Nr. 1, 1979, S. 95–102.
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Rezension für den Tagesspiegel berichtete Heinz Ohff 1976 über Kaprows Activity Frames of Mind, die anlässlich der Berliner Festwochen realisiert worden war. Ohff bringt darin zunächst den Verdacht zum Ausdruck, „es handele sich um eine introvertierte Sache, die etwas mit Gruppentherapie oder dem neuerdings modernen ‚Sensitivity-Training‘ zu tun habe“, gibt dann allerdings insofern Entwarnung, als er mitteilt, sein Kollege Heiner Stachelhaus habe sich als Teilnehmer „sehr lobend“ geäußert und diesem Verdacht widersprochen.88 Janice Ross schwang sich in ihrem Artikel „Excursions into Behavior“, erschienen 1978, sogar zu der Aussage auf, Kaprows spezieller Kunstform komme eine Vorreiterrolle zu. Er folge nicht etwa aktuellen Psychotrends, sondern seine Kunst habe vielmehr das gegenwärtige Klima der Selbstwahrnehmung und Selbstanalyse mit hervorgebracht.89 Vorsichtiger argumentierte Jonathan Crary in einem Text über Kaprows Activities, der 1976 im Arts Magazine erschien. Eine Ähnlichkeit der Activities mit „Sensitivity-Gruppen“ und „Psychotest-Methoden“ wollte Crary nur auf einer oberflächlichen Ebene sehen. Kaprows Arbeiten seien im Unterschied dazu viel weniger von der „Präsenz einer autoritären Figur“ abhängig und verfolgten kein spezifisches Ziel.90 Lobend hob er hervor, die Arbeiten zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie unvorhersehbar seien und ihnen die Annahme zugrunde liege, dass Paradoxien und Ambiguität für jedwede Form von sozialer Interaktion zentral seien.91 Zwar bezeichne Kaprow seine Arbeit selbst mitunter als „Forschung“, doch sein Werk nehme niemals „die Form einer wissenschaftlichen Untersuchung“ an.92 Die Resultate einer distanzierten Beobachtung sozialer Phänomene interessierten Kaprow nicht, vielmehr gehe es ihm um das „Wissen des gesunden
88 Heinz Ohff, „Im Dialog mit sich selbst. Happenings von Kaprow und Vostell während der Festwochen“, in: Der Tagesspiegel, 15.9.1976. 89 Janice Ross, „Excursions into Behavior“, in: Art Week, Bd. 9, Nr. 2, 14.1.1978, S. 7f. 90 Jonathan Crary, „Allan Kaprow’s Activities“, in: Arts Magazine (New York), Bd. 51, September 1976, S. 78–81, hier S. 81. 91 Vgl. ebd. 92 Ebd., S. 80. Damit nimmt Crary, vermutlich unbewusst, eben jene tendenzielle Gewichtung von „Forschung“ gegen „Wissenschaft“ vor, von der oben bereits oben die Rede war.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
Menschenverstandes“93, welches in der aktiven Teilhabe an sozialen Begegnungen erworben werde. Der „praktische Ertrag“ dieser Werke sei „Selbst-Erkenntnis“, so Crary.94 Vor allem Anforderungsprofil und Format der Activities ließen diese für die Zeitgenossen in die Nähe aktueller psychowissenschaftlicher Methoden und Trends rücken. Begriffe wie ‚Sensitivity-Training‘, ‚Gruppentherapie‘ und ‚Humanpotential-Bewegung‘ rufen dabei einen prominenten Teilbereich der immer populärer werdenden Psychodisziplinen der 1970er-Jahre auf. Dessen Kern bildete die Gruppendynamik als Forschungsgegenstand, wissenschaftliche Disziplin und Sozialtechnologie. Gruppendynamische Ansätze erlebten um 1970 einen Aufschwung und spielten eine wichtige Rolle in der schon von Zeitgenossen als ‚Psychoboom‘ apostrophierten Phase einer enormen Popularisierung von Psychotherapie und Psychologie.95 Die 1970er-Jahre brachten eine Unzahl neuer Therapieformen, aber auch semitherapeutischer Praktiken wie Coaching, Beratung und Personalentwicklung hervor und überführten diese aus dem Bereich wissenschaftlichen Spezialistentums in das weite Feld der Do-it-yourselfKultur. Bezeichnend für diese Zeit ist, dass einander ähnliche Praktiken und Ansätze mit unterschiedlichen individuellen, politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zielen eingesetzt werden konnten. Dies lässt sich auch für die Konjunktur der Gruppendynamik und ihre verschiedenen Anwendungsbereiche nachzeichnen, die in den 1970er-Jahren als
93 Ebd. Im Original: „commonsense knowledge“ 94 Ebd. 95 Vgl. Tändler 2016, S. 9. Eva Moskowitz geht sogar so weit, den Psychoboom der 1970er-Jahre in den Vereinigten Staaten mit einer neuen Religion gleichzusetzen: „Self-awareness became the new religion; trust, intimacy, and communication, the gospel. In this religion, all institutions, social mores, or actions that blocked awareness came under attack, and all those that promoted self-realization and emotional honesty were praised.“ Moskowitz 2001, S. 219. Siehe zu dem Aufstieg des „therapeutischen Diskurses“ außerdem Illouz 2018. Illouz schreibt, dass im 20. Jahrhundert „mit Ausnahme des politischen Liberalismus und der marktwirtschaftlichen Sprache kein anderes kulturelles Bezugssystem einen so entscheidenden Einfluss auf die Modelle des Selbst ausgeübt [hat]“. Ebd., S. 17.
regelrechter „Kleingruppenkult“96 oder gar „Gruppensucht“97 wahrgenommen wurde. Die Geschichte der Gruppendynamik reicht zurück in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und zu dem Psychologen Kurt Lewin, der nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten ein sozialpsychologisches Programm experimenteller Gruppenarbeit entwickelte. Diese zielte darauf, psychische Prozesse und Verhaltensweisen der menschlichen Interaktion zu erforschen, um funktionierende Methoden für eine Verhaltensänderung zu finden.98 Lewin verfolgte einen reformerischen Ansatz und war davon überzeugt, dass allein ein demokratischer Erziehungs- und Führungsstil, der sich durch Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft auszeichne, sowohl die Zufriedenheit der Gruppenmitglieder als auch deren Arbeitsmotivation erhöhe.99 Die gesellschaftlichen Umgangsformen zu demokratisieren galt mithin als bestes Mittel zur sozialen Befriedung. Lewins angewandte gruppendynamische Forschung wurde 1947 in Form des National Training Laboratory for Group Dynamic in Bethel, ME, kurz NTL, institutionalisiert.100 Kurz zuvor hatten Lewin und seine Mitarbeiter bei einer Konferenz eine entscheidende Entdeckung gemacht, die den Grundstein für das Format legte, mit dem sich zahlreiche, als Multiplikatoren fungierende Führungskräfte aus Wirtschaft, 96 In einem Interview, das Stewart Brand 1976 mit Margaret Mead und Gregory Bateson für das Magazin The CoEvolution Quarterly führte, spricht Bateson vom „small group cult“. Stewart Brand, „For God’s Sake, Margaret. Conversation with Gregory Bateson and Margaret Mead“, in: Cybernetics/Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. 2, hg. von Claus Pias, Zürich und Berlin 2004, S. 301–312, hier S. 303. 97 André Béjin, „Auf dem Weg zur ‚Allgemeinen Selbst-Verwaltung‘? Über Psychotherapie, Verhaltenstherapie und Sexualtherapie“, in: Diktatur der Freundlichkeit. Über Bhagwan, die kommende Psychokratie und Lieferanteneingänge zum wohltätigen Wahnsinn, hg. von Initiative Sozialistisches Forum, Freiburg 1984, S. 130–138, hier S. 136. Die Originalfassung erschien bereits 1977 in den Cahiers internationaux de sociologie. 98 Vgl. Tändler 2012, S. 145. 99 Vgl. Kurt Lewin, „Experiments in Social Space“ [1939], in: ders., Resolving Social Conflicts. Selected Papers on Group Dynamics, hg. von Gertrud Weiss Lewin, New York 1948, S. 71–83. Ebd. ist auf S. 83 von „human betterment“ als Ziel die Rede. 100 Zur Geschichte des Labors aus der Perspektive eines ihrer Mitarbeiter siehe Jerrold I. Hirsch, The History of the National Training Laboratories 1947–1986. Social Equality through Education and Training, New York u. a. 1987.
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe
Bildungswesen und Verwaltung in den folgenden Jahren am NTL einer gruppendynamischen ‚Re-education‘ unterzogen.101 Für die besagte Konferenz waren als Neuerung kleinere Arbeitsgruppen eingeführt worden, die jeweils aus Leiter, Teilnehmern und Beobachtern bestanden. Bei einem der abendlichen Treffen, die dazu dienten, dass die Beobachter von den Arbeitsgruppen berichteten, erschienen spontan auch einige der vorigen Teilnehmer und lösten eine heftige Diskussion aus, als sie zum Ausdruck brachten, dass sie mit der Beschreibung ihres Verhaltens durch die Beobachter nicht einverstanden seien. Lewin reagierte begeistert auf dieses unerwartete Echo und beschloss, daraus Konsequenzen für seine Forschung zu ziehen.102 Entwickelt wurde daraufhin das Format der sogenannten T-Gruppen-Laboratorien, in denen Gruppen von etwa acht bis zwölf Personen in mehrtägigen bis mehrwöchigen Übungsseminaren interagierten und das später meist unter dem Begriff ‚Sensitivity-Training‘ geführt wurde.103 Die Gruppenmitglieder waren dabei sowohl Teilnehmer als auch Beobachter und wurden aufgefordert, ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Interpretationsansätze zum Verhalten der anderen miteinander zu teilen. Das Programm bestand aus Gesprächsrunden, Übungen und Theorieeinheiten. Auch nach Lewins Tod behielt man das von ihm erarbeitete Programm des Gruppenprozesses bei: Zunächst fand eine ‚Auftauphase‘ („unfreezing“) statt, die dazu diente, eingeschliffene Verhaltensmuster zu irritieren, danach wurde an der Veränderung gearbeitet, schließlich sollte das Geübte auf einem neuen Niveau stabilisiert werden.104 Besonders der Eröffnungsphase kam eine wichtige Bedeutung zu. Der Trainer sollte hierbei ein Vakuum erzeugen, indem er darauf verzichtete, konkrete Aufgaben zu stellen oder Vorschläge zu machen. Die Gruppe musste sich somit in einer Art Naturzustand zunächst selbst konstituieren. Die unterschiedlichen Reaktionen während dieses Vorgangs, die bereits auf Tonband aufgezeichnet wurden, lieferten in der 101 Zur Verwendung des Begriffs ‚re-education‘ bei Lewin und seinen Mitarbeitern siehe ebd., S. 19 sowie Tändler 2016, S. 368. 102 Schilderungen des Ereignisses sind nachzulesen bei Hirsch 1987, S. 16–19 sowie bei Bröckling 2008, S. 330f. 103 Vgl. Tändler 2016, S. 368 sowie Bröckling 2008, S. 331. Der Buchstabe „T“ steht für Training. 104 Vgl. ebd., S. 332.
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Folge das Material, um Verhalten, Kommunikationsweise und Rollenverteilung der einzelnen Teilnehmer zu reflektieren.105 Im weiteren Verlauf wurden manchmal auch kürzere Rollenspiele durchgeführt, die entweder nonverbal angelegt waren, um somit die Reflexion der Körpersprache zu fördern, oder so funktionierten, dass mittels humorvoll überzogener Darstellung eine Distanz zum eigenen Bild der Berufsrolle hergestellt wurde.106 Der Einsatz von Rollenspieleinheiten ging in Teilen auf die Technik des Psychodramas zurück, die der Psychiater Jakob Levy Moreno in den 1930er-Jahren entwickelt und in den nachfolgenden Jahrzehnten praktiziert und ausgebaut hatte.107 Das Sensitivity-Training zielte nicht darauf, psychische Erkrankungen zu behandeln, sondern wurde häufig als „Therapie für Normale“108 begriffen, womit zugleich zum Ausdruck gebracht wurde, dass vor ausgewiesenen Defiziten 105 Vgl. ebd., S. 333. 106 Vgl. Adolf Martin Däumling, „Sensitivity Training“ [1973], in: Gruppendynamik der Gegenwart, hg. von Peter Kutter, Darmstadt 1981, S. 133–155, hier S. 148. Die ursprüngliche Fassung dieses Textes erschien bereits 1968, dann 1973 in überarbeiteter Form. 107 Vgl. ebd. Moreno setzte die Gruppe an die Stelle des Duos aus Analytiker und Patient und erarbeitete seine Techniken des spontanen therapeutischen Rollenspiels in bewusster Abgrenzung zu Freud, dem er eine Angst vor Spiel und Ausdruck unterstellte („fear of acting out“). Zitiert bei: Ferdinand Buer und Ulrich Schmitz, „Psychodrama und Psychoanalyse“, in: Morenos therapeutische Philosophie. Die Grundideen von Psychodrama und Soziometrie, hg. von Ferdinand Buer, Opladen 1989, S. 111–157, hier S. 134. Der Einsatz kreativer Techniken wie Rollenspiel, Rollentausch, Spiegeltechnik oder Stegreifspiel ist auch in der dynamischen Gruppenpsychotherapie zu finden, die Ideen von Lewin und Moreno mit einem psychotherapeutischen Ansatz verbindet. Siehe Gertraud Pölzl, „Kreative Techniken in der Dynamischen Gruppenpsychotherapie“, in: Gruppentherapie und Gruppendynamik – Dynamische Gruppenpsychotherapie. Theoretische Grundlagen, Entwicklungen und Methoden, hg. von Maria Majce-Egger, Wien 1999, S. 287–292. 108 Hans-Rainer Teutsch und Gertraud Pölzl, „Sozialpsychologische Wurzeln und Aspekte der Methode – Die Entwicklung der Gruppendynamik und deren Auswirkungen auf die Dynamische Gruppenpsychotherapie“, in: Gruppentherapie und Gruppendynamik – Dynamische Gruppenpsychotherapie. Theoretische Grundlagen, Entwicklungen und Methoden, hg. von Maria Majce-Egger, Wien 1999, S. 17–34, hier S. 29 sowie Däumling 1973/1981, S. 137. André Béjin wies ebenfalls auf die andere Seite dieser Medaille hin, indem er kritisierte, gruppendynamische Trainings würden, indem sie auf „eine gegenseitige Kontrolle der Gleichen“ zielten, letztlich „auf fatale Weise normalisierend wirken“. Vgl. Béjin 1984, S. 136.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
im zwischenmenschlichen Kontakt niemand gefeit ist. Im Gegenteil: Die große Verbreitung des Sensitivity-Trainings als Methode, um zu lernen, wie „eigene und fremde Verhaltensweisen subtil aufeinander abzustimmen [sind]“109, war nicht zuletzt Zeichen einer zunehmend als unzureichend empfundenen Kommunikationsfähigkeit bei gleichzeitig immer größerem Kommunikationsbedarf. Als „kommunikative Schlüsseltechnologie“ kam deshalb – bald auch in Europa und über die Trainings des NTL hinaus – dem Feedback herausragende Bedeutung zu. Den Begriff ‚Feedback‘ hatte Lewin schon früh aus der Kybernetik entlehnt, wo er ursprünglich den Vorgang der Steuerung eines Systems durch das wiederholte Einschalten von Arbeitsergebnissen bezeichnete.110 Im Sensitivity-Training wurde Feedback von der Kleingruppe in einem Zuge eingeübt und angewendet. In explizit hierfür ausgewiesenen Gesprächseinheiten sollten die Gruppenteilnehmer sich um eine möglichst klare und objektive Beschreibung des Verhaltens ihrer Gegenüber bemühen, wobei vor allem die emotionalen Anteile gespiegelt werden sollten. Auf der anderen Seite ging es darum, sich im gelassenen Empfangen der Rückmeldung zu üben und nicht direkt in den Verteidigungsmodus zu gehen. Das Versprechen der Feedback-Technik, wie es auf dem ersten Höhepunkt ihrer Verbreitung in den späten 1960er-Jahren kursierte, war ein doppeltes. Sie sollte zum einen die „innere Befreiung zu differenzierter Auffassungs- und Ausdrucksmöglichkeit“111 ermöglichen, also dabei helfen, dass ein jeder seine Selbstbefangenheit überwindet und das volle Potential der zwischenmenschlichen Interaktion ausschöpft. Zum anderen sollte sie Eingang in die Kommunikation der Arbeitswelt finden und dort eine „neue Autorität“112 im Sinne eines von der Gruppe getragenen Führungsstils etablieren, von dem man sich größere Effizienz und bessere Ergebnisse versprach. Mit der Entwicklung einer Methode zur Ablösung des Autokraten durch den gruppenorientierten Synkraten sahen sich die Verfechter des Sensitivity-Trainings in einer 109 Däumling 1973/1981, S. 149. 110 Zum kybernetischen Feedback-Begriff siehe Norbert Wiener, The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society, Boston, MA, 1950. 111 Däumling 1973/1981, S. 136. 112 Ebd., S. 154.
gesellschaftlich relevanten Vorreiterrolle und waren davon überzeugt, dass in allen Bereichen der Gesellschaft parallele Bestrebungen zu erwarten waren.113 Lässt sich somit wirklich, wie Crary summiert, lediglich von einer oberflächlichen Verwandtschaft zwischen Sensitivity-Training und Activities sprechen? Oder spricht aus dieser Beurteilung doch vor allem die Ambition des Kunstkritikers, der dem zeitgenössischen Künstler zumindest insofern eine eigene, abständige Position sichern muss, als er diesen nicht einfach als Nachahmer oder Mitarbeiter eines sozialtechnologischen Projekts präsentiert? Abermals lässt sich in diesem Zusammenhang für Kaprows Arbeiten der 1970er-Jahre eine Form der Zeitgenossenschaft bemerken, die aus einem bestimmten Blickwinkel durchaus Gefahr läuft, in reiner Zeitgeistigkeit zu verpuffen. Zumindest scheute sich Kaprow nicht, in einer Phase, in der schon von „Gruppensucht“ und „Kleingruppenkult“114 die Rede war, die kleine bis mittelgroße Gruppe als Ressource für seine Activities, genauer als Ressource für das Generieren einer Effektmäßigkeit derselben, zu aktivieren und aus diesem Grund dem Abschlussgespräch besondere Bedeutung zuzumessen. Seinem Verhältnis zu Forschung und den Methoden der Sozialwissenschaften vergleichbar, schlug Kaprow sich auch in diesem Zusammenhang nicht auf die Seite der Warner oder apodiktischen Kritiker, sondern fügte dem vielfältigen Bestand der gruppendynamischen Selbsterfahrungsformate beredt und selbstbewusst sein eigenes hinzu. Neben die Elemente Forschungsethos, teilnehmende Beobachtung, Alltagssoziologie und Krisenexperiment tritt nun die eigenwillige Adaption der Idee einer „Therapie für Normale“. Mittels Anwendung von Feedback sollten auch Kaprows Teilnehmer die subtile Abstimmung von Eigen- und Fremdwahrnehmung üben, eingeschliffene Verhaltensweisen aufbrechen, ihre Selbstbefangenheit überwinden. Während zeitgleich viele Künstler eine Übertragung des kybernetischen Feedbackmodells in Closed-Circuit-Video-Installationen vornahmen, die häufig mit der Rückkopplung von Beobachtern spielten, ist Kaprows Auffassung von Feedback tatsächlich 113 Vgl. ebd. 114 Siehe oben, Anm. 96 und 97.
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe
ideengeschichtlich in der Nachfolge Lewins zu sehen. Obwohl Kaprow die Feedbackschleifen in den Übungen mitunter durch den Einsatz von Geräten verlängert – indem beispielsweise ein Teilnehmer erst seine Erfahrungen auf Tonband aufspricht, diese dann dem Partner vorspielt und vice versa – sind die Apparate doch nur dezente Hilfsmittel und die Rückkopplung ist sozial, nicht technisch gedacht. Die Übungen sind so angelegt, dass Feedbackrunden in den Partituren nicht eigens ausgewiesen werden müssen, sondern sich gleichsam von allein einstellen, sobald das Duo ernsthaft versucht, die Aufgaben gemeinsam zu bewältigen. Ähnlich wie bei dem verfremdenden Blick auf alltägliche Verhaltensweisen ist auch in dieser Hinsicht die Ausführung eine Frage des ‚Eingeweiht-Seins‘: Wer bereits erfüllt ist vom Erkenntnisgewinn der Feedback-Methode oder diese auch im Alltag schon explizit von seinem Gegenüber einfordert, wird die Activity als Abstimmungsübung maximal austesten, vielleicht auch in Grund und Boden diskutieren – anders wird es Teilnehmern ergehen, die mit dieser Praxis noch weniger vertraut sind oder womöglich nicht über besagte „differenzierte Auffassungs- und Ausdrucksmöglichkeit“115 verfügen. Lewin und seine Nachfolger waren überzeugte Anhänger der Wachstumslogik und sahen ihre Trainingsmethode gleich als doppelten Beitrag: Die im Feedback geübte Selbstöffnung und Verpflichtung auf Verbalisierung führe zu einem Wachstum der Informationsmengen, wovon man sich einerseits den Ausbau persönlicher Ressourcen, andererseits die effizientere Steuerung des Zusammenlebens versprach. Während die Kybernetiker von einer Regierungsmaschine träumten und Buckminster Fuller seine Gebrauchsanleitung für das Raumschiff Erde zum Zwecke einer „universalen Evolution“ verfasste,116 115 Siehe oben, Däumling 1973/1981, S. 136. 116 Eine „Staatsmaschine“ oder „staatliche Denkmaschine“ empfahl etwa Pierre Berteaux als die „rentabelste aller Investitionen“ in einem Vortrag 1963, der im Anschluss unter anderem von Arnold Gehlen und Arthur Koestler, dem Verfasser von Ghost in the Machine, diskutiert wurde. Vgl. Pierre Berteaux, „Maschine, Denkmaschine, Staatsmaschine. Entwicklungstendenzen der modernen Industriegesellschaft“, Referat im Rahmen der Bergedorfer Gespräche der freien industriellen Gesellschaft am 25.2.1963, hg. von Kurt Körber, Hamburg 1963, S. 9f. Als ganzheitlich designte Maschine, die auch als solche gewartet werden muss, wollte Buckminster Fuller das
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installierte die Übertragung des Feedbackmodells bereits wirksame Praktiken für eine neu verstandene, prozessuale, auf ständige Optimierung zielende Regelung menschlichen Miteinanders. Die massenhafte Produktion von Daten in Form von Gesprächsprotokollen, Rückmeldeformularen und Evaluationsbögen erschien paradoxerweise geradezu als notwendiges Mittel, um den vom Club of Rome 1971 angekündigten „Grenzen des Wachstums“ etwas entgegenzusetzen.117 Kaprows Activities sollten von diesem Kontext nicht vorschnell abgelöst werden. Zu erinnern ist an die verblüffenden Parallelen, welche die Zusammenschau von Disneys 1970 verkündeter Aufforderung, die Künste müssten mit dem dynamischen Wachstum und Wandel der Gesellschaft Schritt halten, indem sie ihr kreatives Potential ausbauen und in die Gesellschaft einspeisen, mit Kaprows Idee der Freisetzung und Multiplizierung von Ressourcen durch die Ausbildung zum ‚Un-Künstler‘ ergab. Als Übungen, die noch dazu als universell, also für ‚jedermann‘, konzipiert waren, sind Kaprows Activities nicht einfach von der Ambivalenz zwischen Befreiung einerseits und Disziplinierung andererseits freizusprechen, die auch dem Projekt des Sensitivity-Trainings anhaftet. Kaprows pädagogisches Programm, das auf eine – wenngleich nicht messbare, so doch subjektiv sagbare – Wirksamkeit seiner Activities abhob, ließe sich durchaus mit dem Lewinschen Dreischritt ‚unfreezing – change – refreezing‘118 umschreiben, wobei dieser in Lewins wie Kaprows Perspektive kein einmaliger Durchlauf, sondern ein immer wieder neu zu startender Prozess war. Wenn Crary bemerkt, die Activities seien im Gegensatz zu den Trainings der Gruppendynamiker und Versuchen der Psychologen weniger von der „Präsenz einer autoritären Figur abhängig“, so verschleiert dies außerdem einerseits, dass die Trainer des Sensitivity-Trainings durchaus dazu angehalten waren, die Gruppe aus sich selbst heraus Raumschiff Erde verstanden wissen. Vgl. Richard Buckminster Fuller, Operating manual for spaceship Earth, Carbondale, IL, 1968, S. 46. Zur Vorgeschichte kybernetischer Regulationsideeen im Bereich des Sozialen und Politischen siehe Joseph Vogl, „Regierung und Regelkreis“, in: Cybernetics/ Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. 2, hg. von Claus Pias, Zürich und Berlin 2004, S. 67–79. 117 Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachtums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 118 Siehe oben, Bröckling 2008, S. 332.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
wirksam werden zu lassen, und andererseits, dass Kaprow sein Mitwirken als Teilnehmer und vor allem als Moderator des Abschlussgesprächs selbst für das Gelingen seiner Activities als wichtig erachtete. Er war nicht nur neugierig auf die Umsetzung, für die er Mitstreiter benötigte, sondern sah sich auch in der Verantwortung mittels Moderation dafür zu sorgen, dass die Durchführung nicht ins Chaos abglitt, Beleidigungen vermieden und die Teilnehmer zum Gespräch angeregt wurden. Als international bekannter Künstler und rhetorisch überaus begabter Pädagoge und Redner mag Kaprow auf den Verlauf der Activities – im Positiven wie im Negativen – vielleicht sogar stärkeren Einfluss gehabt haben als ein Leiter auf das Agieren seiner Trainingsgruppe. Und doch gehen die Activities in einem Vergleich mit dem Format des Sensitivity-Trainings nicht vollständig auf. Eine Optimierung von Arbeitsabläufen etwa hatte Kaprow keineswegs im Sinn und auch über das Verhandeln von Rollenverteilungen in einer Gruppe geht das szenenhafte Sezieren von Zweisamkeit in seinen Übungen deutlich hinaus. Obwohl Kaprows auf Vermittlung, Kommunikation und durchaus auch Selbstdisziplin gründender Ansatz im Geiste der Lewinschen Absicht einer Demokratisierung der Umgangsformen steht, scheint das in seine Übungen eingelassene Feedbacktraining geradezu unter Spannung zu stehen. Um diesem Befund genauer nachzugehen, ist es fruchtbar, eine etwas anders gelagerte Feedbackpraxis der Zeit um 1970 in den Blick zu nehmen, deren Verwandtschaft mit den Activities von den oben zitierten zeitgenössischen Berichterstattern – explizit auch von Crary – außer Acht gelassen wurde. Eine Fährte, die zu dieser Praxis führt, lässt sich allerdings in der damals kursierenden Fachliteratur zum Sensitivity-Training aufstöbern. Während dort viel von Rollen im Beruf, flachen Hierarchien und Kommunikation in Teams die Rede ist, blitzt punktuell auch die private und vor allem partnerschaftliche Kommunikation als Trainingsfeld auf. Bezeichnend ist allerdings, dass Adolf Martin Däumling in seinem 1973 erschienenen Überblicks aufsatz zum Sensitivity-Training als erstes Beispiel für eine misslingende Kommunikation ausgerechnet den „typische[n] Ehestreit“ nennt.119 Angesichts der 119 Däumling 1973/1981, S. 133.
massiven Umwälzungen im Bereich der Geschlechterbeziehungen, die sich zu dieser Zeit vollzogen und deren Austragung sogar mit dem reißerischen Etikett des „Geschlechterkampfs“ versehen wurde,120 wirkt der „typische Ehestreit“ als Problem doch beinahe harmlos. Tatsächlich hatte sich die Landkarte der zu demokratisierenden Bereiche seit dem Beginn des gruppendynamischen Projekts so drastisch erweitert, dass dessen universalistischer Anspruch ernsthafte Risse bekam. Die Trainingsmanuale bereiteten nur unzureichend darauf vor, dass in einer Sitzung womöglich die gesamte Kommunikation und ebenso die Verteilung von Positionen in einem Unternehmen von einer Feministin der zweiten Welle auf den Prüfstand gestellt werden würde. Die Frauenbewegung – in den Vereinigten Staaten Women’s Liberation Movement – schuf sich um 1970 jedoch mit den „Consciousness-Raising“-Sitzungen ihr eigenes, radikaleres gruppendynamisches Format. Immer mehr Frauen trafen sich in dieser Zeit in kleinen Gruppen, um über privat erfahrene Ungerechtigkeit, körperliche wie psychische Gewalt und uneingelöste Emanzipation zu sprechen. Die kleine Gruppe sollte die Frauen dazu ermutigen, zuvor stumm Hingenommenes zu artikulieren und in einem Feedbackprozess die individuellen Berichte miteinander zu verbinden, wodurch Gemeinsamkeiten und Verhaltensmuster herausgearbeitet und als Bestandteile einer systematischen Unterdrückung erkannt wurden. Ausdruck und Analyse eigener Gefühle wurden als spezifisch weibliche Kompetenzen ins Zentrum der Sitzungen gerückt, sollten aber im Gruppenzusammenschluss die Bausteine für ein wachsendes „Klassenbewusstsein“ bilden.121 Consciousness-Raising galt als 120 So etwa das 1973 mit großer medialer Aufmerksamkeit als „Kampf der Geschlechter“ durchgeführte Tennismatch des ehemaligen Profis Bobby Riggs gegen die auf der Weltrang liste weit oben platzierte Spielerin Billie Jean King, die sich öffentlich für die Frauenbewegung einsetzte. Vgl. Schulman 2001, S. 159f. 121 Vgl. Kathie Sarachild, „A Program for Feminist Consciousness Raising“, in: Notes from the Second Year. Women’s Liberation. Major Writings of the Radical Feminists, hg. von Shulamith Firestone und Anne Koedt, New York 1970, S. 78–80, hier S. 79. Sarachild setzt das Wort „class“ in Anführungszeichen. Ellen Herman fasst unter Rückgriff auf die Feministin Pamela Allen die vier Phasen dieser feministischen Gruppenarbeit wie folgt zusammen: „Opening up – sharing – analyzing – abstracting.“ Herman 1995, S. 298.
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe
zentrale Praxis des Feminismus, deren Entstehung und Entwicklungspotential von den verschiedenen feministischen Strömungen allerdings unterschiedlich beschrieben wurde.122 Catharine A. MacKinnon fasst Consciousness-Raising rückblickend als „Analysetechnik, Organisationsstruktur, praktische Methode und Theorie sozialer Veränderung“ zusammen.123 Als zentrale Entdeckung bezeichnet sie, dass Machtlosigkeit als gleichzeitig internalisiertes wie externalisiertes Prinzip erkannt werden konnte.124 Das Gefühl von Ohnmacht konnte als solches ernst genommen werden, ohne zugleich als bloß privatpsychologisches Problem oder gar Hirngespinst abgetan zu werden. Mit den Betreibern des Sensitivity-Training teilten die Aktivistinnen des Consciousness-Raising die Abgrenzung ihrer Methode von Psychotherapie und Psychoanalyse.125 Den Vorwurf, ihre Praxis sei 122 In Korrelation mit der eigenen Agenda betonten manche Feministinnen, Consciousness-Raising sei aus der Studentenbewegung heraus entstanden, andere wiederum verorteten den Beginn eher in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Während ein Teil der Frauenbewegung die Sitzungen als Freiraum ausschließlich für Frauen begriff und schon die Artikulation persönlicher Erlebnisse als Ermächtigung verstand, forderten andere, dass die Ergebnisse der Sitzungen in konkrete politische Forderungen oder Organisationen mit praktischem Nutzen überführt werden sollten. So äußerte etwa Betty Friedan die Befürchtung, Consciousness-Raising halte die Frauen in einer „Nabelschau“ gefangen, die zu nichts führt. Zitiert nach Herman 1995, S. 299. Joan Didion zweifelte in einem spitzzüngigen Essay daran, ob die Teilnehmerinnen jener Sitzungen wirklich den klassenkämpferischen Furor der theoretischen Vorkämpferinnen teilten: „These are converts who want not a revolution but ‚romance‘, who believe not in the oppression of women but in their own chances for a new life in exactly the mold of their old life.“ Joan Didion, „The Women’s Movement“ [1972], in: Dies., The White Album. Essays, New York 2009, S. 109–118, hier S. 118. Einen Überblick über die Entwicklung des Consciousness-Raising in den USA und die mitunter harsch geführten Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung bietet Lisa Maria Hogeland, Feminism and its Fictions. The Consciousness-Raising Novel and the Women's Liberation Movement, Philadelphia 1998, S. 25–35. Hogeland sagt, dass Consciousness-Raising im Verlauf der 1970er-Jahre selbst eine Konventionalisierung erlebte und schließlich – auch manipulativ – genutzt werden konnte, um nur noch bestimmte, einander ähnelnde Narrative zu produzieren. Vgl. ebd., S. 35. 123 Catharine A. MacKinnon, „Feminism, Marxism, Method, and the State: An Agenda for Theory“, in: Signs, Bd. 7, Nr. 3, 1982, S. 515–544, hier S. 519f. 124 Ebd. 125 Vgl. Hogeland 1998, S. 29. Einer von vielen zeitgenössischen Texten, der sich mit der Gegenüberstellung von
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lediglich eine Form von laienhafter Gruppentherapie, empfanden sie als Versuch, die Ambitionen der Frauenbewegung kleinzuhalten und die politische Dimension des Privaten zu verkennen.126 „Wir sind nicht krank, sondern unterdrückt“, resümierte etwa Beverly Jones.127 Ebenso wie das Sensitivity-Training zielte auch das Consciousness-Raising darauf, Feedbackeffekte in der Kleingruppe zu nutzen, um Bewusstsein und Verhalten gleichermaßen zu transformieren. Im Gegensatz zu den Betreibern des Sensitivity-Trainings, die ihre Methode letztlich als Schmiermittel für eine lautlos schnurrende, produktive demokratische Gesellschaftsmaschine einsetzten, streuten die Feministinnen mit ihren Sitzungen allerdings Sand ins Getriebe.
‚therapeutisch‘ und ‚politisch‘ (respektive ‚privat‘ und ‚politisch‘) in Bezug auf das Consciousness-Raising auseinandersetzt, ist Carol Hanisch, „The Personal is Political“, in: Notes from the Second Year. Women’s Liberation. Major Writings of the Radical Feminists, hg. von Shulamith Firestone und Anne Koedt, New York 1970, S. 76–78. Siehe außerdem Pamela Allen, „Der Freiraum“, in: Women’s Liberation. Frauen gemeinsam sind stark! Texte und Materialien aus der neuen amerikanischen Frauenbewegung, hg. von Barbara Becker, Frankfurt am Main 1977, S. 59–68. 126 Vgl. Irene Peslikis, „Resistances to Consciousness“, in: Notes from the Second Year. Women’s Liberation. Major Writings of the Radical Feminists, hg. von Shulamith Firestone und Anne Koedt, New York 1970, S. 81. Zur politischen Abgrenzung des Consciousness-Raising von psychotherapeutischen Gruppensitzungen siehe Herman 1995, S. 298f. 127 Beverly Jones, „The Dynamics of Marriage and Motherhood“, in: Sisterhood is powerful. An Anthology of Writings from the Women’s Liberation Movement, hg. von Robin Morgan, New York 1970, S. 46–61, hier S. 61. Im Original: „I cannot make it too clear that I am not talking about group therapy or individual catharsis (we aren’t sick, we are oppressed).“ Bei dieser Abgrenzung handelt es sich vor allem um den Versuch, eine Pathologisierung auf Kosten der Politisierung abzuwenden. Tatsächlich sind gerade im Hinblick auf die Gruppendynamik die Grenzen zwischen Therapie, Training, Coaching und Consciousness-Raising in den 1970er-Jahren als fließend wahrgenommen worden, was sich schon darin zeigt, dass man sowohl gruppendynamische Psychotherapie als auch Sensitivity-Training auf die Ideen Lewins zurückführen konnte. Auch André Béjin führt all diese Formen unter dem Trend zur Selbsterfahrung in der Gruppe zusammen, siehe Béjin 1984. Der (ungeplanten und durch Reibung produktiven) Allianz von Psychologie und Feminismus in den 1970er-Jahren schreibt Eva Illouz besondere Bedeutung für eine „neue Disziplin intimer Bindungen“ zu, die ihrer Ansicht nach durchaus im Kontrast zum Kult der Authentizität, Direktheit und Spontaneität der 1960er-Jahre stand. Vgl. Illouz 2018, S. 233.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
Allan Kaprow kam um 1970 in engen Kontakt mit dem Consciousness-Raising. Als Professorin am CalArts entwickelte Judith Chicago das von ihr 1969 begründete Feminist Art Program weiter, das Elemente der Frauenbewegung aufnahm und diese Ansätze mit einer radikalen, antiautoritären Pädagogik verband.128 Chicago installierte das Feminist Art Program im Curriculum der Kunsthochschule, weil sie die Reflexion darüber anregen wollte, was es bedeutet, als Frau Kunst zu machen und ob dies notgedrungen mit einer Verleugnung von Weiblichkeit einhergehen muss.129 Die Consciousness-Raising-Sitzungen, die innerhalb des Programms stattfanden, waren eng mit einer Erkundung neuer Formen künstlerischen Ausdrucks und einer – um das feministische Element erweiterten – Kritik des männlich codierten Künstlertums verbunden. 1971 ergänzte die Künstlerin Miriam Schapiro das CalArts-Kollegium und realisierte gemeinsam mit Chicago im Jahr darauf das Womanhouse, bis dato einzigartige Verbindung von feministischer Kunst- und Ausstellungsproduktion, emanzipierendem Team-Building und Consciousness-Raising-Gesprächen. Nachdem das Womanhouse von den Teilnehmerinnen des Projekts eigenhändig renoviert worden war, wurde die Küche des Hauses als Raum für entsprechende Sitzungen genutzt, die restlichen Räume sukzessive mit künstlerischen Arbeiten und Performances gefüllt, bis das gesamte Haus einem feministischen Environment glich.130 Durchgeführt wurden dabei auch performative Workshops, die mittels Rollenspiel geschlechterstereotypes Verhalten bearbeiteten, wobei im Anschluss an jede Spieleinheit systematisch eine Feedback-Runde erfolgte. Kaprow zeigte reges Interesse an den Aktivitäten des Feminist Art Program, nicht zuletzt, da einige seiner Studentinnen dieses besuchten und seine Frau 128 Dazu zählte etwa Paulo Freires 1968 erstmals erschienene Pädagogik der Unterdrückten. Siehe Janet Sarbanes, „Educating for Autonomy, Educating for Art. Some Evocations of Radical Pedagogy, in: In the Canyon, revise the Canon, hg. von Géraldine Gourbe, Annecy und Lescheraines 2015, S. 23–28. 129 Vgl. Laura Meyer, „The Woman’s Building and the Feminist Art Community“, in: The Sons and Daughters of Los Angeles. Culture and community in L. A., hg. von David E. James, Philadelphia 2003, S. 39–62, hier S. 41. 130 Siehe Miriam Schapiro, „The Education of Women as Artists: Project Womanhouse“, in: Art Journal, Bd. 31, Nr. 3, 1972, S. 268–270 sowie Sorkin 2021, S. 144–147.
Vaughan sich der Frauenbewegung anschloss.131 Laut Jeff Kelley hatte die Consciousness-Raising-Praxis insofern Einfluss auf Kaprows Kunstpraxis, als mit ihr eine Verbindung von performativer Produktion und anschließendem Reflexionsgespräch in der Kleingruppe initiiert und erprobt wurde.132 Kelley betont allerdings zugleich, Kaprow habe seine Kunst im Gegensatz zu Chicago und Schapiro nicht in den Dienst einer konkreten Politik stellen wollen.133 Etwas anders akzentuiert Géraldine Gourbe die Situation. Sie beschreibt Chicagos Pädagogik der Ermächtigung als ernstzunehmende Herausforderung für Kaprow und betont, die Begegnung mit dem Feminist Art Program habe seine bisherige künstlerische Praxis erschüttert.134 Dabei orientiert sie sich an Aussagen, die Kaprow in einem Gespräch mit Moira Roth 1981 tätigte. Er erwähnte, das Programm von Chicago habe ihn beeindruckt und eingeschüchtert.135 Nach 131 Siehe Sokup 2008. 132 Vgl. Kelley 2004, S. 155. An anderer Stelle, S. 191, spricht Kelley zudem ohne Verweis auf eine Quelle von „feministisch inspirierten Sensitivity-Training-Sitzungen“ am CalArts, die er unter anderem als Mitauslöser für die Scheidung Kaprows von seiner Frau identifiziert wissen will. Unklar bleibt, ob es eine solche programmatische Kombination aus Sensitivity-Training und Consciousness-Raising dort gegeben hat oder es sich dabei lediglich um einen von Kelley vorgenommenen Versuch der Charakterisierung der dortigen Praxis handelt. Darauf, dass Consciousness-Raising als spezifisch feministische Gesprächstechnik zum Teil mit eher vom Sensitivity-Training kommenden Formaten durchaus friedlich koexistieren konnte, weist Suzanne Lacys Aussage hin, manche Gesprächsformate im Umfeld des Feminist Art Program seien eher den damals populären „Encounter-Gruppen“ entliehen gewesen. Vgl. Suzanne Lacy, „Between Radical Art and Critical Pedagogy“, Interview (geführt von Elana Mann), in: In the Canyon, revise the Canon, hg. von Géraldine Gourbe, Annecy und Lescheraines 2015, S. 31–47, hier S. 34. Der Begriff der ‚Encounter-Gruppe‘ geht auf den Psychotherapeuten Carl R. Rogers zurück, der in der Nachfolge Lewins das Potential der „geplanten, intensiven Gruppenerfahrung“ für Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung und Verbesserung interpersonaler Kommunikation erkannte. Rogers 1974, S. 9. Methode und Ziel der angeleiteten Encounter-Gruppe ähneln dem Sensitivity-Training stark. Beide Ansätze eint, dass sie, so Rogers, auf „das Entstehen von Vertrauen in kleinen Gruppen, das Mitteilen des Selbst, das Feedback“ setzen. Ebd., S. 156. Laut Moskowitz haben Mitte der 1970er-Jahre bereits rund 6 Millionen Amerikaner Erfahrungen mit der Praxis des „encountering“ gemacht. Vgl. Moskowitz 2001, S. 219. 133 Vgl. Lacy 2015, S. 34. 134 Vgl. Gourbe 2021, S. 222. 135 Im Wortlaut sagt Kaprow: „I was impressed originally by what Judy [Chicago] had done up in Fresno State, to which
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe
der Begegnung mit den Consciousness-Raising-Sitzungen am CalArts habe er die Funktion von Gruppengesprächen neu überdacht.136 Gourbe berichtet außerdem von einem Workshop im Jahr 1972, den Kaprow und Chicago gemeinsam leiteten. Während des Workshops habe die Künstlerin Faith Wilding Kaprow scharf unterbrochen und dafür kritisiert, mit keinem Wort darauf einzugehen, dass viele der alltäglichen Tätigkeiten, die er einsetze, explizit weiblich konnotiert seien. Darauf folgte eine lebhafte Diskussion, in der Kaprow seine Vorstellung einer Aufwertung banaler und vermeintlich unkreativer Tätigkeiten einer deutlich konkreter politisierten Lesart ausgesetzt sah.137 Dass diese Konfrontation über das Format des Kleingruppengesprächs mit Feedbackmethode hinaus auch Eingang in die Themen der Activities fand, darauf deutete bereits die Analyse von Maneuvers hin. Der Akt des gemeinsamen Durchquerens einer Tür wurde in Maneuvers als performativ zu bearbeitendes Problem aufbereitet, dessen vielfältige Implikationen im Hinblick auf Geschlechterrollen im Verlauf der Übung immer offensichtlicher wurden. Weder der einführende Text im Booklet noch die Partitur sprachen diese Dimension hingegen direkt an. Das Format der Activity selbst barg die Möglichkeit, in dieser Hinsicht tatsächlich etwas offen und vieldeutig zu lassen – beziehungsweise den Grad der Politisierung oder Individualisierung jedem einzelnen Realisierungsprozess der beteiligten Duos selbst anheimzustellen. Genau diese mittels engmaschiger Feedbackschleifen vorgenommene graduelle Bestimmung wird so den Interpreten als Aufgabe gestellt. Vor diesem Hintergrund wäre es leichtfertig, das Format der Activities beziehungsweise den Einsatz Vaughan and other friends had gone, that is, only as women, because men where not invited, and I thought that was rather frightening, to say the least.“ Allan Kaprow, Interview (geführt von Moira Roth), 1981, Audio und Transkript verfügbar über Smithsonian, Archives of American Art, Washington, URL: https://www.aaa.si.edu/collections/interviews/oral-history-interview-allan-kaprow-12195#transcript [zuletzt abgerufen am 31.3.21]. 136 Ebd. 137 Gourbe 2021, S. 222. Zur Frage nach dem politischen Gehalt vermeintlich unverdächtiger alltäglicher Verrichtungen siehe auch Martha Rosler, „For an Art against the Mythology of Everyday Life“ [1979], in: Dies., Decoys and Disruptions. Selected Writings 1975–2001, Cambridge und London 2004, S. 3–8.
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von Kleingruppe und Feedback entweder aus dem Sensitivity-Training oder dem Consciousness-Raising heraus erklären zu wollen – und daran die Entscheidung zu knüpfen, ob man sie als politische oder apolitische, affirmative oder subversive Kunst kategorisiert. Die Activities stattdessen in der Spannung zwischen diesen beiden Feedbackpraktiken zu platzieren, bringt jene Irritation wieder zum Vorschein, von der auch die anfangs aufgeführte Suche der Zeitgenossen nach dem richtigen Bezugsrahmen für diese seltsamen Übungen Zeugnis ablegt. Der im Rückblick geschilderte Moment der Störung, den das Zusammentreffen von Kaprow mit dem Feminist Art Program hervorrief, kann als symptomatisch für jenen widersprüchlichen Bezugsrahmen verstanden werden. Die Activities enthalten Elemente von zwei einander verwandten, aber mit unterschiedlicher Agenda daherkommenden gruppendynamischen Unternehmungen der Zeit um 1970, die durchaus auch für die Zeitgenossen als solche erkennbar waren. Gleichsam als ideengeschichtliche Spuren sind in den Activities sowohl das Erbe eines universalistischen Denkens im Sinne einer Erforschung des Allgemeinmenschlichen zwecks Konstitution einer humanistischen und demokratischen Gesellschaft als auch die Erschütterung dieses Denkens eingelagert. Aufgrund ihres Übungscharakters sprachen Kaprow wie die Teilnehmer den Activities eine formative – vielleicht sogar manipulative – Kraft zu. Der explizite Gehalt dieser Transformation war allerdings selbst Verhandlungsgegenstand jener unzähligen Feedbackschleifen, welche die Durchführungen der Activities erzeugten. Auch Crarys kunstkritische Einordnung der Activities lässt sich mit diesem Wissen noch einmal neu, nämlich als Beitrag zu einer in den publizistischen Raum erweiterten Feedbackrunde lesen. Crary erwähnt zwar in seinem Text mit keinem Wort, dass er selbst wenige Monate vor Publikation des Artikels Teilnehmer der Activity Satisfaction gewesen ist, wird allerdings in einem Zeitungsartikel vom Mai 1976 als Übungspartner von John Perreault identifiziert.138 Die beiden jungen Kunstkritiker – Crary war 138 John Perreault, „Experience with an Experience“, in: The Soho Weekly News, 6.5.1976. John Perreault arbeitete als Kunstkritiker, Dichter, Kurator und Künstler in New York.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
72 Allan Kaprow, Satisfaction, 1976, Fotografie für die Activity-Broschüre: Bee Ottinger.
damals 25, Perreault 29 Jahre alt – realisierten Satisfaction im Frühjahr des Jahres gemeinsam mit einer von Kaprow in New York versammelten Gruppe, zu der auch Pierre Restany, Denis Oppenheim, David Antin und Roselee Goldberg zählten.139 Satisfaction umfasst fünf Akte, in denen es um nonverbale Kommunikation und Ausdrucksformen von Zuwendung
Als Kunstkritiker berichtete er früh über die Arbeiten von Künstlerinnen und drückte Wertschätzung für die Anliegen der feministischen Bewegung aus. 139 Diese Teilnehmer werden von Perreault aufgeführt. In der zugehörigen Broschüre ist von „4 Gruppen à 4 Personen“ die Rede, die „Satisfaction“ in ihrer alltäglichen Umgebung ausgeführt hätten. Perreault berichtet allerdings, einige hätten nach dem Studium der Partitur einen Rückzieher gemacht.
geht (Abb. 72).140 Die Partner telefonierten zunächst miteinander, wobei der eine Phrasen wie „Denkst du an mich?“ oder „Weißt du, wie sehr ich an dich denke?“ formulierte, der Partner darauf mit einem zustimmenden „mh-hm“ oder einem ablehnenden „mh-mh“ antwortete.141 Im zweiten Teil forderte eine Person den Partner auf, sie zu loben, anzuschauen, zu trösten, zu füttern, zu küssen oder zu baden und zeigte gestisch und mimisch, wie sie sich dies vorstellte. Der Partner konnte die Aufforderung annehmen oder ablehnen. Im nächsten Schritt wurde der Vorgang wiederholt, diesmal erteilte jedoch eines der anderen Duos die Aufforderungen und führte ihre Umsetzung modellhaft vor – an die Stelle der intimen Zweisamkeit trat also die kleine Gruppe, die das Potential besaß, eine Umverteilung der Aufmerksamkeit vorzunehmen und jedem der vier Teilnehmer theoretisch die Möglichkeit bot, diese zu manipulieren und sich einen neuen Verbündeten zu suchen. Den Abschluss bildeten folgerichtig die Telefonate zweier neu gebildeter Duos (C telefonierte mit A, D telefonierte mit B), in denen abermals Anziehung oder Ablehnung ausgedrückt werden konnte. Satisfaction führte die Teilnehmer unversehens in das verminte Gelände der Liebesbeweise. Die titelgebende „Befriedigung“ konnte man sich nicht einfach verschaffen, stattdessen war man auf das Entgegenkommen des Partners angewiesen. Gefangen in den Versuchen, Erwartung und Erfüllung zur Passung zu bringen, kam jeder kleinsten Geste größte Bedeutung zu. Satisfaction verlangte den Übenden einiges ab, warf sie doch den einen zurück in eine kindliche Bedürftigkeit und ließ den anderen mit der Aufgabe zurück, sich auf die Wünsche des Bedürftigen einzulassen. Während Crary in seinem Aufsatz über Kaprow lediglich das Skript von Satisfaction kurz zusammenfasst, teilt Perreault in seinem Artikel etwas über die persönliche Erfahrung mit, die er im Zuge der Umsetzung gemacht hatte. Er berichtet, zunächst „kalte Füße“ angesichts der Partitur bekommen zu haben. Zufrieden sei er dann aber damit gewesen, einen ihm bislang unbekannten Übungspartner zugeteilt bekommen zu haben. Erfreut sei man sich darüber einig gewesen, den ersten Part mit dem Telefongespräch „besonders elegant“ ausgeführt zu haben.142 Perreault gesteht, seinem Partner gefallen zu wollen: 140 Siehe P5 sowie Kap. „Beziehungen am Telefon“. 141 P5. 142 Perreault 1976. Die Formulierung lautet: „After the telephoning […] we both agree that our execution of Kaprow’s script is supremely elegant.“
Das Selbst in Gesellschaft: Feedback und Kleingruppe
Meanwhile, he is younger than I. He is handsome. Does he know that I am gay? […] His apartment. His perfect teeth. I try not to smile because last Sunday I saw myself on Channel 7 and I was dismayed about my teeth.143 Perreault schildert Details der Durchführung des zweiten Teils in Crarys Appartment, zeigt sich beeindruckt davon, wie gut es seinem Partner gelingt, übergriffige oder peinliche Situationen zu vermeiden We are sitting on his sofa, quite far apart and his idea of comforting him has to do with the pillows. I do what he wants but then I surprise him by giving him one of my pillows. We are building up a situation of mutual trust. But now we are getting into the hard part. He puts a strawberry in my mouth. I put a strawberry in his. I give him back what he has given me. But he is testing me. I surprise him by agreeing to feed him a cigarette butt. He does not choke. Kissing and bathing he handles very well too. I am afraid that he is going to ask me to kiss him upon the mouth. I don’t want to do that. We explore or he explores what it means to ask another man to kiss you. It is an anthology of proper male kissing.144 Unversehens gilt es, allzu (homo)erotische Fahrwasser zu umschiffen – beide Teilnehmer bemühen sich offensichtlich darum, die Handlungen auf einer symbolischen Ebene zu belassen und beweisen Einfallsreichtum im Erdenken von Ersatzhandlungen. Anstelle des nackten Körpers im Wasser wird beispielsweise lediglich eine Hand in warmem Kaffee gebadet. Die vertrauliche Atmosphäre, in der jeder darauf achtet, den anderen nicht zu verletzen, wird gestört, als das zweite Duo die Szene betritt. Perreault schildert es als „Aufeinanderprallen“ zweier völlig gegensätzlicher Interpretationsweisen. Die Durchführung des anderen Duos sei im Vergleich zu ihrer eigenen „nicht geistreich“ gewesen und so entschied Perreault, seinen „neuen Freund Jonathan“ vor der erniedrigenden Aufforderung, einen hölzernen Korb anzunagen, zu bewahren. „C und D kommen aus 143 Ebd. 144 Ebd.
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einer anderen Welt. Haben Sie das Skript nicht verstanden?“, bringt er seine Frustration über das aus seiner Sicht mangelnde Einfühlungsvermögen der Mitspieler zum Ausdruck. Er gibt an, sich dem ersten Teil der anschließenden Besprechung unter Angabe falscher Gründe entzogen zu haben: Jonathan, my friend, I did not come home to write. I had come home to digest. Your kindness was far too erotic.145 Zu einem späteren Zeitpunkt sei er wieder zur Gruppe hinzugestoßen und habe versucht Kaprow zu erklären, er empfinde das Stück als pornographisch und es habe ihm sexuelle Träume beschert. Perreault spricht in der ersten Person und gewährt sich selbst lediglich die Ironie als Schutz, während Crary sich vollständig auf die Position des objektiven Kunstkritikers zurückzieht. Crary beschreibt, ordnet ein, unterscheidet, grenzt ab, um die eigenwilligen aktuellen Arbeiten eines bekannten Künstlers zu charakterisieren und sich damit zugleich seine eigene Identität als Kunsthistoriker und -kritiker zu ‚erschreiben‘. Perreault stellt angesichts seiner eigenen Beteiligung die Möglichkeit der distanzierten kunstkritischen Beurteilung einer solchen künstlerischen Arbeit selbst in Frage – und verlängert mit seiner Schilderung intimer Details im Kulturteil einer Zeitung den schmalen Grat zwischen Selbsterkenntnis und Zurschaustellung über die eigentliche Activity-Situation hinaus in den öffentlichen Raum. Das Geständnis der erotischen Gefühle und anschließenden Frustration entbehrt nicht einer gewissen Peinlichkeit – und stellt doch gerade deshalb die vielfältigen Versuche einer festen Einrahmung der Activities bloß. Obwohl Perreaults Text im Vergleich zu Crary deutlich ironischere und weniger sachliche Töne anschlägt, nimmt er seinen Gegenstand doch auf eine andere Weise ernst, indem er den analytischen Abgleich mit anderen Phänomenen zugunsten eines reflektierenden Erlebnisberichts zurückstellt. Es geht nicht mehr um die Frage, was so eine Activity eigentlich ist oder nicht ist, sondern darum, was sie den Übenden abverlangt und welche Emotionen, Affekte und Imaginationen sie dabei auslöst. 145 Ebd.
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5. Zwischenmenschliches als Forschungs- und Trainingsgegenstand
Team: Lose Fäden und widersprüchliche Erfahrungen Mit den Activities der 1970er-Jahre wurden Vorstellungen von Partnerschaft und dem Wert der Intimität mobilisiert. Deutungs- und Übertragungsmöglichkeiten, die in der jeweiligen Anleitung konzeptuell angelegt waren, konnten mit jeder individuellen Realisierung aufs Neue geprüft, gedreht, angereichert, ausformuliert und weitergesponnen werden. Blickt man auf die Interpretationen der 1970er-Jahre zurück, so fällt allerdings auf, dass die dem Format explizit eingeschriebene Partizipation durchaus auch Spannungsverhältnisse zum Vorschein brachte, die Kaprows Prognosen überstiegen und den ersten Anschein eines spielerischen Experiments bald unterliefen. Dies gilt unter anderem für die Activity Team (P12), die 1980 von Kaprow und seiner Partnerin Coryl Crane umgesetzt und deren Partitur mitsamt einem knappen Text von Kaprow kurz darauf im Magazin High Performance publiziert wurde.146 Team schickt zwei Partner mit Fadenknäuel und Walkie-Talkie in die Wüste. Dort sollen sie parallel zueinander, aber außerhalb der Sicht- und Hörweite des Partners, über die Distanz von fünf Meilen ihre Schnur abwickeln. Im Anschluss ist vorgesehen, dass die Plätze getauscht werden und jeder die Schnur des anderen wieder aufwickelt. Die Walkie-Talkies dienen als notwendiges Abstimmungsinstrument, um abzusichern, dass der Weg tatsächlich parallel verläuft. Wann immer einer der beiden aufgrund eines Hindernisses nach links oder rechts abbiegen muss, soll er dies dem Partner über Funkkontakt mitteilen, damit dieser das gleiche tun kann. Die erfolgreiche Abstimmung der beiden Wanderrouten bildet schließlich die Voraussetzung dafür, die Positionen zu tauschen, das jeweilige Schnurende des anderen zu finden, schließlich entlang der Schnur den Weg des anderen zurückzuverfolgen und dabei abermals über Funkkontakt etwaige Richtungswechsel durchzugeben. Die Lektüre der Anleitung lässt einen idealtypischen Ablauf vor dem inneren Auge erscheinen: Zwei Menschen bewegen sich getrennt 146 P12: Allan Kaprow, Partitur Team, 1980, publiziert im Magazin High Performance, Bd. 3, Herbst/Winter 1980, anlässlich L. A .’s Public Spirit Performance Festival.
voneinander, aber in enger Abstimmung, auf parallelen Bahnen in die Wüste hinein, wobei der Partner jede Abweichung von der geraden Linie verdoppelt, so dass beide Personen sich am Ende immer noch im gleichen Abstand zueinander befinden – und ein jeder schließlich beim Aufwickeln der Schnur des Partners zugleich die Kopie der eigenen Bewegungslinie zurückverfolgt. Als kunstgeschichtliche Referenz für diese Aufgabe nannte Kaprow die Mikropartitur Draw a straight line and follow it von La Monte Young aus dem Jahr 1960.147 Kaprow verwandelte Youngs Vorlage in eine aufwändige Partnerübung, in der das Verfolgen der Schnur an das Befolgen der Angaben des Partners gebunden ist – und aus der einen gezeichneten Linie zwei bewegliche Ariadnefäden werden. Die mythologische Konnotation wird von Kaprow zwar nicht explizit erwähnt, in der Publikation der Partitur allerdings doch insofern aufgerufen, als dort in Großaufnahme ein Fadenknäuel mit einem losen Ende zu sehen ist (Abb. 73). Die mit der Schnur hergestellte Verbindung zum Mythos um Ariadne, die Theseus einen Faden mitgibt, mit dessen Hilfe er den Weg aus der labyrinthischen Höhle des Minotaurus zurück zu seiner Geliebten findet, evoziert im Unterschied zu Youngs Vorlage die Gefahr des Verirrens und die Hoffnung auf Rettung. Zudem weist sie das Unterfangen nicht als Soloprojekt aus, sondern als eines, an dem zwei Personen – genauer: zwei Liebende – beteiligt sind. Auch die abwandelnde Adaption des mythologischen Stoffes ist programmatisch zu verstehen. Nicht zuletzt der Titel weist darauf hin, dass sich die Interpreten als „Team“ begreifen sollen und ein Gelingen nur möglich ist, wenn beide bereit sind, auf die Aufforderung des Partners hin in die Abweichungen von der Route einzuwilligen.148 An die Stelle des männlichen Helden, der sich aus der misslichen Lage befreit und unversehrt zur Geliebten zurückkehrt, tritt das Duett zweier Partner, die gleichberechtigt sowohl für den jeweils eigenen Weg durch 147 Vgl. Allan Kaprow, Text zur Realisierung von Team, publiziert gemeinsam mit der Partitur im Magazin High Performance, Bd. 3, Herbst/Winter 1980. Verschiedene Künstler interpretierten Youngs besagte Composition 1960 No. 10 in den 1960er-Jahren neu, so beispielsweise Nam June Paik unter dem Titel Zen for Head. 148 In der Anleitung heißt es dementsprechend zur Abstimmung der Marschrouten per Walkie Talkie: „each complying as much as possible.“ P12.
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73 Allan Kaprow, Team, 1980, Partitur mit Bericht von Kaprow im Magazin High Performance.
die Wüste als auch für die glückliche Zusammen führung am Ende verantwortlich sind. Die Idee, einen Weg getrennt, aber gemeinsam zurückzulegen, verbunden über ein Kommunikationsmedium, und dabei eine Spur hinterlassend, die am Ende beide wieder zusammenführt, erwies sich in der Umsetzung, die Kaprow und seine Lebensgefährtin Coryl Crane im Jahr 1980 in der Wüste nahe Los Angeles unternahmen, als überaus schwierig.149 Crane und Kaprow merkten kurz nach Beginn, dass die in einem Elektronikgeschäft entliehenen Sprech149 Zur Realisierung siehe Kelley 2004, S. 201f, basierend auf Aussagen von Kaprow. Kaprow, Text zur Realisierung von Team, 1980.
funkgeräte nicht richtig funktionierten. Crane konnte zwar Kaprows Durchsagen verstehen, er ihre allerdings nicht. Sie versuchte zunächst, sich mit Störgeräuschen verständlich zu machen und so in einer Art Code die Anzahl der Schritte und Richtungsangaben zu übermitteln, verlor aber schnell die Orientierung. Im schwierigen Terrain hätte die funktionierende Funksprechverbindung die Navigation sichern sollen, doch so geriet die Übung zu einer Odyssee. Phasen, in denen beide sich auf das Abwickeln des Fadens konzentrierten oder beglückt die Natur studierten, wurden zunehmend von Momenten der Sorge und Frustration abgelöst. Auch der mit Mühe herbeigeführte Tausch der Positionen, nachdem beide sich zufällig an einer abgelegenen Tankstelle
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wiedergefunden hatten, brachte keine Ruhe in die Ausführung, denn Kaprow konnte den Faden seiner Partnerin nicht finden und der Funkkontakt brach völlig zusammen. Nach acht anstrengenden Stunden des Umherirrens durch die Wüstenhitze mit panischen Versuchen, den anderen zu finden, oder in der Hoffnung, selbst gefunden zu werden, trafen sich Crane und Kaprow schließlich an ihrem Auto wieder. Crane hatte ein großes Bündel aufgewickelten Faden dabei, Kaprow hingegen wurde mit leeren Händen von einem freundlichen Helfer abgeliefert, den er zuvor fünfzehn Meilen entfernt von der Route ausfindig gemacht und um Hilfe gebeten hatte. Crane verfasste nach der Umsetzung einen Text, in dem sie nicht nur den Verlauf des Tages und die vielen emotionalen Schattierungen dieser Erfahrung schilderte, sondern auch beschrieb, inwiefern sich ihr die Realisierung von Team im Rückblick als „Metapher unserer Beziehung“, „Spiegel meiner Selbst“ und „Geschichte unseres gemeinsamen Lebens“ darstellte.150 Die Grundkonstellation der Übung – trotz Entfernung beieinander zu bleiben – entspreche ihrer (damaligen) Lebenssituation, die von dem Versuch geprägt sei, eine noch junge und in eine unsichere Zukunft navigierende Partnerschaft in Form einer Fernbeziehung zu führen, bei der beide Partner ihre Unabhängigkeit bewahren konnten. Der „Akt des Kommunizierens“ sei sowohl für ihr gemeinsames Leben als auch für Team zentral, um zu verhindern, dass man einander verliert. In ihrem privaten Leben sei es nicht das Funksprechgerät, sondern das Telefon, das einerseits benötigt werde, um die Beziehung über Distanz aufrechtzuerhalten, andererseits „doch bloß die Tatsache betont, dass wir getrennt sind.“ Über diese Verbindungspunkte zwischen den Herausforderungen der eigenen Beziehung und jenen der Aufgabenstellung hinaus verstand Crane 150 Coryl Crane, maschinenschriftlicher Text zur Realisierung von Team, 1980, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 29 sowie Coryl Crane, Aussagen zur Realisierung von Team im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles. Kelley zog für seine Wiedergabe der Ereignisse Cranes Aussagen nicht heran. Die Zitate im Folgenden entstammen dem besagten Text von Crane aus dem Jahr 1980.
allerdings auch den tatsächlichen Verlauf von Team als aufschlussreich im Hinblick auf die Dynamik ihrer Partnerschaft zu Kaprow: The walkie-talkie, our communication tool, was unreliable, and distorted and blocked what we had to say to each other. […] It is a metaphor for our individual struggle to communicate directly – to speak and be heard – to truly hear and to respond. I got lost on ‚my‘ side. Allan did too – we were both clear on ‚his‘ ground. I am involved with every ‚tree‘, Allan sees context, patterns, structures – he is aware of the ‚forest‘. Returning was a simple matter for me, I followed his directions, found the string and traced it back. Allan could not follow my directions and never found my string, then he decided to find his own way. Allan often gets lost in ‚my‘ life, as I do in ‚his‘. In the desert I was absorbed by its visual beauty, the animal presence, human traces. I focus on details in my life and work, often losing sight of the whole picture. And then I am lost. Momentarily afraid. […] In the desert I wanted to share my experience and was frustrated and angry when I couldn’t, I was lonely, and had to deal with being on my own. Then becoming aware of myself, in context, I found I was alone, self-sufficient, and quite able to find my own way.151 Die aufgrund der technischen Probleme erschwerte Abstimmung interpretiert Crane als Metapher für ihr tägliches Ringen um eine direkte, gleichberechtigte und empathische Kommunikation. Auch das im Zuge der Durchführung entstandene Ungleichgewicht erscheint ihr sprechend. Auf seinem Gebiet sei die Sache klar gewesen – sein Walkie-Talkie funktionierte, er konnte den Faden ab- und sie ihn mithilfe seiner Anweisungen später auch wieder aufwickeln. In ihrem Terrain hingegen war der ursprüngliche Plan schnell obsolet. Sie war frustriert, weil sie sich nicht mitteilen konnte, verlor über der Betrachtung von Details die Orientierung und musste schließlich 151 Ebd.
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hinnehmen, dass der Partner ihren Faden nicht mehr ausfindig machen und einsammeln konnte. Crane sieht diesen Befund nicht explizit als Zeichen eines ungleichen Machtgefüges, lässt aber anklingen, dass die Unterschiede in der Herangehensweise ein Konfliktpotential bergen. Als derjenige, der Strukturen sieht und das große Ganze im Blick behält, scheint Kaprow gegenüber seiner Partnerin im Vorteil, die sich von den kleinen Dingen am Wegesrand ablenken lässt. Crane beschreibt allerdings, dass sich ihre Selbsteinschätzung änderte, als sie sich über den Kontext ihres Tuns bewusst wurde. Die Selbstbeschreibung als der fragilere Part des Gespanns, der verloren geht und das Gelingen der Unternehmung gefährdet, weicht der Einsicht, trotz allem selbstständig zu sein und einen eigenen Weg finden zu können. Ausgerechnet die Emanzipation von der Übungsaufgabe hält somit einen bestärkenden Moment der Selbsterkenntnis bereit. Cranes Aussagen dokumentieren die Bereitschaft, die Übung zur Selbsterkundung und als Beschreibungswerkzeug einzusetzen. Sie geht in ihrem schriftlichen Versuch, die tatsächliche Realisierung von Team abermals zeichenhaft zu lesen, allerdings auch über Kaprows eigene Berichterstattung hinaus. Dieser beschränkte sich in dem kurzen Text, den er begleitend zur Partitur im Magazin High Perfor mance publizierte, auf einige Gedanken zur formalen Einordnung der Activity, an die er eine leichtfüßige Zusammenfassung der Ereignisse anschloss. Seine Schilderung dient vor allem dazu, demonstrieren zu können, wie stark die Realisierung, auch durch das Mitwirken des Zufalls, von dem in der Partitur nahegelegten Verlauf abweichen kann. Im Vergleich der beiden Texte deutet sich an, dass die Activities gerade im Hinblick auf die Verhandlung von Partnerschaft, Beziehung und Intimität mitunter von den Interpreten schärfer und direkter ausgelegt wurden, als Kaprow dies selbst in Texten oder dokumentierten Gesprächen explizierte. Angeklungen ist diese Konstellation bereits beim Blick auf die unterschiedlichen publizistischen Äußerungen im Anschluss an die Realisierung von Satisfaction – John Perreaults Einlassungen zielten darauf, ein Unbehagen zu explizieren, das aus einer Rivalität von impliziterer und expliziterer Ausführungsvariante der besagten Activity resultierte. Er sprach aus, dass die Realisierung
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bei ihm erotische Fantasien in Gang setzte, die er allerdings meinte unterdrücken oder durch abermalige Abstraktion beziehungsweise Verlagerung ins Zeichenhafte umschiffen zu müssen, um einerseits den Partner nicht zu beschämen, andererseits dem Anspruch Kaprows gerecht zu werden, von dem er sich offenbar zu einem Akt der Sublimation aufgerufen sah. Kaprows Übungen scheinen eine Befragung der Verhältnisse in den Blick zu rücken, ohne deren Dynamik, Tiefendimension und Konfliktpotential schon offenkundig eingepreist zu haben. Nimmt man diesen Befund ernst, so werden die Activities der 1970er-Jahre im Rückblick als Beitrag zur Bewältigung einer Transformation der Subjektkultur erkennbar, die gerade erst im Begriff war, von den Interpretinnen und Interpreten ebenso wie vom Künstler selbst überhaupt realisiert und vollzogen zu werden. Besonders die Momente der Abwehr, des Widerspruchs und der Spannung – zwischen den beiden Interpreten, zwischen Kaprow und der Teilnehmergruppe, aber auch zwischen individueller Interpretation und Übungsprogramm – sind in dieser Hinsicht bemerkenswert und fruchtbar zu machen. Von der Umsetzung der Activity 7 Kinds of Sympathy 1976 in Wien kehrte Kaprow frustriert zurück und berichtete seinen Freunden von einer feindseligen Atmosphäre.152 In 7 Kinds of Sympathy (P13) geht es zunächst um die Aufwertung jener kleinen Handgriffe und Gesten, die ein Mensch meist unbewusst durchführt, während er sich auf eine andere, aufwändigere Tätigkeit, etwa das Lesen eines Textes, konzentriert: Räuspern und Hüsteln, Kratzen, die Nase Schnäuzen, Nachfühlen, ob das Portemonnaie sich noch in der Hosentasche befindet. Im Rahmen der Übung besteht die Aufgabe des Partners darin, diesen nebensächlichen nonverbalen Äußerungen – die innerhalb der Activity dann allerdings bewusst für den Beobachtenden aufgeführt werden – seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken und sie nachahmend
152 Nancy Buchanan, Aussagen über eine Unterhaltung mit Kaprow in den späten 1970er-Jahren zur Realisierung von 7 Kinds of Sympathy in Wien, im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles.
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74 Allan Kaprow, 7 Kinds of Sympathy, 1976, Wien und Galerie Inge Baecker, Bochum, Doppelseite aus der Activity-Broschüre, Fotografien: Bee Ottinger.
zu verdoppeln.153 Darauf folgt ein Zwischenspiel, in dem die entsprechenden Gesten in eine nonverbale Kommunikation überführt werden, ein Hüsteln des einen also mit einem Räuspern des anderen beantwortet wird. Schließlich werden sie als intime Akte der Fürsorge noch einmal neu inszeniert (Abb. 74). Der eine verschafft zunächst dem anderen Erleichterung, indem er ihn an juckenden Stellen kratzt. Die letzte Aufgabe besteht darin, dass der eine den anderen füttert und dabei dessen Mundbewegungen kopiert. Ein mit despektierlichem Unterton verfasster Bericht in einer österreichischen Zeitung lässt vermuten, dass die Interpreten in Österreich diese Übung entweder ins Alberne zogen und sich darüber lustig machten oder die Aufgaben so interpretierten, dass sie ins Gewaltsame kippten, indem sie etwa den
153 P13: Allan Kaprow, Partitur 7 Kinds of Sympathy, 1976, publiziert in gleichnamiger Broschüre (27,9 × 21,5 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, Galerie Inge Baecker, Bochum, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27.
Partner zur Völlerei zwangen.154 In einem Gespräch mit Freunden nach seiner Rückkehr in die Heimat verfiel Kaprow bei der Schilderung der Wiener Ereignisse in ein humoristisch-überzogenes und eher pauschales Psychologisieren. Die Wiener seien „wie umherlaufende Fallstudien von Sigmund Freud“, berichtete der Künstler, und lebten zwar in einer „Kultur von Windbeuteln und Amoretten“, seien aber doch „innerlich sehr streng“. Während der Umsetzung hätten sie zwar „libertäres Gebaren“ an den Tag gelegt, in der Diskussion allerdings jegliche Aussagen über Empfindungen oder eine Reflexion des soeben Erlebten und Gezeigten verweigert.155 Das Gespräch, in dem diese Aussagen fielen, wurde im Anschluss an eine weitere Realisierung von 7 Kinds of Sympathy geführt, zu der Kaprow nach den frustrierenden Erfahrungen in Wien seine Frau Vaughan und vier weitere Freunde einberufen hatte. Gemeinsam hatte man die Übung, die Kaprow selbst als „leichtfüßig“156 begriffen haben wollte, in Kalifornien noch einmal umgesetzt. In dem auf Tonband aufgezeichneten Gespräch kommen unterschiedliche Empfindungen zur Sprache.157 Während Kaprow und seine Frau Vaughan von vergnüglichen Stunden berichten und zum Ausdruck bringen, ihre Umsetzung sei getragen gewesen von dem Versuch, dem anderen Aufmerksamkeit und Fürsorge zukommen zu lassen, gibt das Duo aus Sylvia und Jerry Simpson an, erhebliche Spannungen und Rivalität erlebt zu haben. Sie hätten mehrfach überlegt, die Realisierung abzubrechen und lange Diskussionen darüber geführt, warum es ihnen Probleme bereitet. Sie störte sich an seiner Ungeduld und an mangelnder 154 Vgl. Erwin Melchart, „Allan Kaprows Wiener Aktivität. Kunst & Kauen“, in: Neue Kronen Zeitung, 30.3.1976. 155 Allan Kaprow, Aussagen zur Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, unveröffentlichtes Gespräch mit Freunden, ca. 1976, Audioaufnahme, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series X., Films, Video and Audio Tapes, Box 74, Transkription und Übers. d. Verfasserin. Im Original: „They were walking case studies out of Sigmund Freud. […] Although everyone of them seemed to be libertine in their manners, when we came to doing the piece, there was in the discussion afterwards almost total silence. […] They had no experience, no reflections about it… couldn’t even describe the circumstances. […] They live in a culture of cream puffs and cupids, but on the inside they are very tight.“ 156 Ebd. Im Original: „a light-hearted piece“. 157 Aussagen im Folgenden basierend auf dem Gespräch ebd.
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Bereitschaft, sich auf das Unterfangen einzulassen, er fühlte sich von ihr an die Öffentlichkeit gezerrt und mit seinen Hemmungen bloßgestellt. Das dritte Duo, bestehend aus Nancy Buchanan und Peter Kirby, die im Unterschied zu den anderen einander lediglich freundschaftlich verbunden waren, erzählt, dass es sich einen ganzen Tag Zeit nahm für die Realisierung und dabei sowohl Momente der Verbundenheit und Einfühlung als auch solche der Scham erlebte. Rund dreißig Jahre später erinnerten sich die gleichen Akteure in einem zwei Jahre nach Kaprows Tod geführten Gespräch erneut an 7 Kinds of Sympathy. Diesmal bringen allerdings Sylvia Simpson und Vaughan Rachel Gefühle zum Ausdruck, die in der damaligen Konstellation unausgesprochen blieben. Rachel gibt im Nachhinein zu, dass sie ihre Traurigkeit über die in dieser Zeit immer offenkundiger werdenden Eheschwierigkeiten nur mühsam zu verbergen vermocht habe.158 Simpson sagt, die Activities hätten die Eigenschaft, einen „in Situationen zu bringen, die alles andere als angenehm sind“. Besagte Übung habe sie „grausam“ gefunden. Insbesondere der Moment, in dem ihr Partner sie mit Babynahrung füttern sollte, habe konfliktreiche innerfamiliäre Verhaltensmuster schonungslos offengelegt.159 Noch einmal aufzurufen sind in diesem Zusammenhang schließlich die Diskussionen, denen Kaprow im Kontext feministischer Bestrebungen am CalArts ausgesetzt war. In den Augen einiger Kunststudentinnen und Kolleginnen hätte man die formal radikalen Activities auch inhaltlich im Hinblick auf Geschlechterrollen und Gleichstellung deutlich radikaler auffassen können als der Künstler selbst dies nahelegte. Die klar gefassten und sauber präsentierten Anleitungen schienen von einem Idealzustand zweier gleichberechtigter Partner – A und B – auszugehen, die sich darin üben, ihr Miteinander handelnd zu erkunden und Momente der Passgenauigkeit und Intimität spielerisch auszutarieren. Der Feminismus der zweiten Welle, der sich in Kaprows direktem
Umfeld Gehör verschaffte, war hingegen darum bemüht, Strukturen der Ungleichbehandlung und die Wirkkraft von Rollenzuschreibungen aufzudecken. Gleichberechtigung war in dieser Perspektive eine Forderung, auf deren noch ausstehende Einlösung gepocht werden musste. Die Grundannahme der Übungssituation entpuppte sich in der Realisierung unter dieser Prämisse als Problem: War die Übung geeignet, eine Gleichberechtigung in utopischem Minimalzustand zu installieren oder kehrte sie gleichsam aus Versehen unerbittlich hervor, wie weit man von dieser noch entfernt war? Brachte sie womöglich ein wichtiges Thema auf, ohne zu diesem aber die wirklich entscheidenden und tatsächlich politischen Fragen zu stellen? Damit wäre anhand der Auslegung der Activities ein für die sehr bewegliche Diskurslandschaft um 1970 nicht ungewöhnliches Phänomen zu beobachten: Vermeintlich progressive Beiträge konnten sich im Zuge einer positiven Rezeption oder Adaption plötzlich als revisionsbedürftig entpuppen.160 Der bereits erwähnte, um 1970 auch in gegenkulturellen Kreisen populäre Ansatz der interpersonellen Wahrnehmung des Psychologen Ronald D. Laing stellte beispielsweise eine neuartige Perspektive bereit, mit der Kommunikations- und Expressionsfähigkeit sowie Einfühlungsvermögen beider Partner als Grundlagen für das Führen einer zufriedenen Beziehung betont wurden – in der schriftlichen Schilderung der Fallstudien durch das Psychologenteam fällt allerdings auf, dass für die Erklärung einer „gestörten Ehe“ an keiner Stelle die geschlechtsspezifische Rollenverteilung in Betracht gezogen wird und die Ehefrau etwa gefragt würde, wie sie sich in der Rolle als Mutter und Hausfrau erlebt. Stattdessen ruft der in objektivem Gewand daherkommende, von den Eheberatern verfasste Bericht über den Fall von „Mr. und Mrs. Jones“ sogar das Zerrbild einer launenhaften, zeternden Ehefrau auf, die ihren Mann im häuslich-familiären Bereich unterdrückt, wofür als Grund lediglich privatbiographisch
158 Vaughan Rachel, Aussage über die Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles. 159 Sylvia Simpson, Aussage über die Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, ebd.
160 So geschehen in großem Umfang bei der feministischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die zunächst aufgrund ihrer Anerkennung weiblichen Begehrens von der Frauenbewegung aufgegriffen, dann aber heftig dafür kritisiert wurde, an einer Essentialisierung von Weiblichkeit mitzuarbeiten, die der Emanzipation entgegenstehe. Siehe Herman 1995, S. 276–303.
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„ihr Neid auf ihre Brüder“ ausgemacht wird.161 Einerseits proklamierte Laings Methode also, dass beide Partner gleichermaßen die Fähigkeit erlangen sollten, die Wahrnehmung ihrer selbst durch den anderen in ihre eigene als Korrektiv einzubeziehen und zu verbalisieren, wie sie in einer bestimmten Situation das Verhalten des Partners respektive dessen Reaktion auf das eigene wahrgenommen haben. Andererseits sperrte sie die beiden Akteure in das Hin und Her einer beständigen Selbstrelativierung und selbstbezüglichen Supervision, ohne dabei zu einer Befragung der Macht gesellschaftlicher Normen für Ehemann und Ehefrau vorzustoßen, wie sie zur gleichen Zeit von feministischer Seite formuliert und theoretisch erarbeitet wurde. Die Bewertung der Activities im Hinblick auf die jüngsten Problembeschreibungen der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren konnte ähnlich ambivalent ausfallen. Die Künstlerin Aviva Rahmani, die als Stipendiatin am CalArts ihren Abschluss machte und dort mit Kaprow zusammenarbeitete, sprach dies rückblickend offen aus. In einem Gespräch brachte sie ihre Anerkennung dafür zum Ausdruck, dass Kaprow als „phänomenaler Lehrer“ die Anliegen der feministischen Studentinnen unterstützt habe und trotz „all ihrer Wut“ mit ihnen im Gespräch geblieben sei. Aber sie äußerte auch, er habe bei der Kontextualisierung seiner Arbeiten „Fragen der Macht“ ignoriert und nicht zugeben wollen, dass seine Activities selbst ein gehöriges Maß an Wut enthielten.162 All diese Spuren damaliger Konflikte und Deutungsrangeleien, 161 Laing/Phillipson/Lee 1966/1971, S. 148. Das Resümee für den leidenden Ehemann zielt hingegen eher auf eine Ermächtigung gegenüber der Frau im häuslichen Bereich, die zur Vermeidung von Streitereien führen soll: „Mr. Jones fühlt sich jetzt vielleicht etwas weniger abhängig von den unverständlichen Launen seiner Frau. […] Er mag imstande sein, sich seiner Frau gegenüber zu Hause eher durchzusetzen und seine eigenen Bedürfnisse geltend zu machen, wenngleich der Gewinn in dieser Hinsicht nicht sehr bedeutend sein wird.“ Ebd. 162 Aviva Rahmani, Aussage zu ihrer Wahrnehmung Kaprows am CalArts in den 1970er-Jahren im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles. Aussage im Wortlaut: „A lot of his pieces involved anger, but he refused it.“ Rahmani realisierte unter anderem die Activity Message Units und wirkte auch in der Videoversion der Anleitung mit. Heute bezeichnet sich Rahmani auf ihrer
die auf den ersten Blick rein anekdotisch anmuten, lassen erahnen, dass Kaprows Übungen schwerlich auf einer Seite der Frontlinie zu positionieren sind. Sie lassen sich weder als politische Instrumente für eine gesellschaftliche Revolution verklären noch als Zeugen einer konservativen Haltung in avantgardistischem Gewand denunzieren. Stattdessen sind ihnen Widersprüchlichkeiten eingeschrieben, die der Künstler selbst wohl höchstens vage erahnte, deren Entfaltung dank Multiplikation der Akteure in den vielfältigen Realisierungen aber die eigentliche Zeitgenossenschaft der Activities beschreibt.
Die Activities im Zeichen eines Wandels der Subjektkulturen Um diese Überlegung zu vertiefen, lohnt es sich, die 1970er-Jahre noch einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten. So kommen Übergangsphänomene in den Blick, zu denen sich die vorangegangenen Analysen der Activities mit ihren teils widersprüchlichen Befunden auf spannungsvolle Art und Weise in Beziehung setzen lassen. Die Zeit um 1970 zeigt sich heute als Transformationsschwelle, in der verschiedene Subjektkulturen mit ihren unterschiedlichen Praktiken der Beziehungsführung und Selbstbefassung noch gleichzeitig in Kraft sind. Zu erklären ist dies mit einem komplexen Wandel der Subjektkulturen in der Moderne, dessen Grundlinien der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Studie Das hybride Subjekt zeichnet. Er fusio niert und erweitert dabei die beiden großen Narrative der beständig zunehmenden Individualisierung einerseits und der fortschreitenden Disziplinierung und Selbstkontrolle andererseits. Reckwitz geht davon aus, dass die Moderne „keine eindeutige, homogene Subjektstruktur produziert“, stattdessen macht er drei differente, miteinander konkurrierende und einander nur langsam ablösende Subjektkulturen innerhalb der Moderne aus: „Die Form des moralisch-souveränen, respektablen Subjekts“ der bürgerlichen Kultur, das „extrovertierte Angestelltensubjekt“ der organisierten Moderne und schließlich das Homepage selbst als „art activist“ und arbeitet im Bereich ökologischer Kunst.
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postmoderne Modell einer „kreativ-konsumtorischen Subjektivität“.163 Anteil an dem Einsetzen einer neuen Subjektkultur hatten laut Reckwitz jeweils auch „minoritäre kulturelle Gegenbewegungen“, namentlich die Bewegung der Romantik, die Avantgarden am Beginn des 20. Jahrhunderts und die counter culture der 1960er-Jahre, indem sie „zentrale Sinnelemente“ für die Transformation der dominanten Subjektkultur zur Verfügung stellten.164 Wendet man diesen Ansatz für das vorliegende Thema an, so kann zunächst festgehalten werden, dass Kaprows Activities in einer Phase konzipiert und realisiert werden, in der einerseits das Angestelltensubjekt noch abgeschwächt normative Kraft hat, andererseits die alternativen Lebenspraktiken der Gegenkultur schon insofern zu einer Institutionalisierung gefunden haben, als sich eine neue, postmoderne Subjektkultur abzeichnet oder sogar dezidiert angestrebt wird.165 Besonders im Bereich der zwischenmenschlichen und intimen Beziehungen sowie jener Aktivitäten, in denen „das Subjekt unmittelbar ein Verhältnis zu sich selbst herstellt“166 und die Foucault als Technologien des Selbst beschrieben hatte, manifestiert sich dieser Wandel. Genau diese Bereiche sind es auch, denen sich die Activities der 1970er-Jahre widmen. Mit dem in der Übung vorge163 Reckwitz 2006, S. 15. Reckwitz’ Studie an dieser Stelle fruchtbar zu machen, bietet sich auch deshalb an, weil der Autor zwar im Prinzip über Subjektkulturen der westlichen Moderne spricht, tatsächlich aber einen großen Teil seiner Argumentation mit der Auswertung amerikanischer Texte und Diskurse bestreitet. Reckwitz geht es um „dominante Subjektkulturen“, die gleichsam modellhafte Wirkung entfalten, und er schickt selbst voraus, dass selten Vertreter einer Subjektkultur sozusagen in Reinform auftreten, stattdessen mit generationell bedingten Überlappungen zu rechnen ist. 164 Vgl. ebd., S. 17. Reckwitz betont, dass die Subjektkulturen der Moderne generell als „hybride Arrangements historisch disparater Versatzstücke“ (ebd., S. 20) verstanden werden sollten und somit nicht von harten Brüchen ohne Kontinuität gesprochen werden kann. Auch betont er, dass es immer wieder Rekurse auf historisch zurückliegende Subjektkulturen gab, um sich von der gerade noch mehrheitlich geltenden abzugrenzen. 165 Reckwitz verwendet den Begriff ‚Postmoderne‘ für „die gesellschaftlich-kulturelle Gesamtformation, die in den 1980er-Jahren als umfassende Subjektordnung die Dominanz der organisierten Moderne ablöst.“ Ebd., S. 444. In späteren Texten verwendet Reckwitz anstelle des Begriffs der ‚Postmoderne‘ eher den der ‚Spätmoderne‘. 166 Ebd., S. 17.
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nommenen Eingriff in den eigenen Lebensvollzug und Gefühlshaushalt artikulierten sich deshalb die Widersprüche, Transformationshoffnungen und Perspektivwechsel, die jener Wandel in jedem einzelnen Individuum in Gang gesetzt hatte, ohne dass hierfür immer schon Begrifflichkeiten parat gewesen wären. Für die Subjektkultur der von Reckwitz als „organisierte Moderne“ bezeichneten Phase von 1920 bis 1970 war die Idee eines in das soziale Kollektiv quasi-natürlich eingebetteten Subjekts zentral. Eine als demokratisch verstandene, auf Ausgleich und Konfliktvermeidung bedachte Gruppenorientierung wurde nicht als Zwang zur Konformität, sondern als positive Identitätsdefinition verstanden. Wichtig war eine „soziale Sensibilität, in der permanent das Bild des eigenen Selbst bewusst gemacht wird, das die […] Subjektinszenierung bei Anderen hervorrufen wird.“167 Für die Auffassung persönlicher Beziehungen war die Idee einer „peer society“ leitend, die sich auch in der veränderten Sicht von der Ehe als möglichst unkomplizierter und anregender Partnerschaft niederschlug.168 Angestrebt wurden die souveräne Handhabung unterschiedlicher Rollen und die Fähigkeit zur Soziabilität im Sinne des angenehmen, ungezwungenen Miteinanders von Gleichen. An die Stelle einer Ausrichtung entlang formaler Moralität trat die Fähigkeit zur „gelockerten Informalität“ und einem extrovertierten, sozial gewandten, aber stets an Normalität orientiertem Verhalten. Gewährleistet wurde dies durch beständige Selbst- und vor allem Fremdbeobachtung sowie Affektkontrolle und Diskreditierung tiefer Gefühle bei gleichzeitiger Kultivierung von Peinlichkeits- und Schamgefühl.169 Anteil an der Implementierung und Ausübung dieser Subjektkultur hatte die Verbreitung diagnostischer und therapeutischer Diskurse, die ‚normales‘ Verhalten als interpretationsbedürftig darstellten und Methoden bereitstellten, die dem Subjekt Leitlinien für den sozialen Erfolg boten sowie „die Normalität seiner Entwicklung einschätzten“170, wobei auch hier die Selbstbeobachtung ‚sozial‘ respektive interaktiv situiert wurde, etwa in der Eheberatung oder in
167 168 169 170
Ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 363 und 368. Vgl. ebd., S. 418. Ebd., S. 422.
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Feedbacktrainings. Der Soziologe David Riesman prägte in seiner 1950 erstmals erschienenen und alsbald zum Bestseller avancierten Studie The Lonely Crowd den Begriff des ‚außenorientierten Charakters‘ für den amerikanischen Vertreter dieser neuen Subjektkultur, den der Autor vom ‚innengeleiteten Charakter‘ der bürgerlichen Persönlichkeitskultur unterschied.171 Die Gesellschaft der ‚außengeleiteten Charaktere‘ bildet die Matrix, in der sich jene Happenings Kaprows abspielten, in denen mittelgroße Gruppen eine Aufgabe gemeinsam zu bewältigen hatten und die somit eine von der Last tatsächlicher Produktivität befreite, spielerische Teamerfahrung boten und thematisierten – darunter Fluids, Moving oder auch Publicity. Anteile dieser Subjektkultur, ihrer Praktiken und Perspektiven, sind aber auch in den Activities auf den ersten Blick beispielsweise mit der Betonung des Gruppengesprächs und dem weitgehenden Verzicht auf Solostücke noch wirksam. Im Vergleich zu den früheren Happenings wird die Kleingruppe nun distinkter gefasst, in Untereinheiten aufgeteilt und – in Anlehnung an sozial- und psychowissenschaftliche sowie feministische Feedbacktechniken – als Korrektiv und Reflexionsinstanz eingesetzt. Die in der Realisierung agierende Zweiereinheit wird zumindest zu Beginn tendenziell noch als Mikro-Gesellschaft gedacht, deren Abstimmungs- und Kommunikationsverhalten sich in Arbeiten wie Basic Thermal Units oder Time Pieces (wenngleich mit ironischen Brechungen) modellhaft untersuchen lässt. Vor allem die in den Activities noch nachhallende
171 David Riesman, The Lonely Crowd. A study of the changing American character [1949], New Haven und London 2001. Im Original ist von „inner directed“ und „other directed character“ die Rede. Auch aufgrund des etwas missverständlichen Titels wurde Riesmans Studie offenbar von einigen Zeitgenossen als alarmierende Kulturkritik gelesen, wogegen sich Riesman in einem 1969 ergänzten Vorwort vorsichtig verwahrte. Er habe nicht sagen wollen, dass der Übergang vom innen- zum außengeleiteten Charakter unbedingt eine Entwicklung zum Schlechteren sei, schreibt Riesman dort. In seiner Beschreibung des außengeleiteten, mit einem sozialen Radar ausgestatteten Typs gehe es weniger um Konformität als um „Resonanz“. Vgl. David Riesman, „Twenty years after – A second preface“, in: Ebd., S. xxi-xxxi, hier S. xxiiif. The Lonely Crowd erreichte vor allem in der Taschenbuchausgabe Verkaufszahlen von über einer Million Exemplaren. Vgl. Todd Gitlin, „Vorwort“, in: Ebd., S. xi-xix, hier S. xii.
Rezeption von Goffman und Garfinkel mit ihrer Beobachtung und experimentellen Untersuchung des alltäglichen, ‚normalen‘ Handelns, der Facetten sozialer Interaktion und dem Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung ist in den Grundzügen noch als Auseinandersetzung mit einer auf gelingende Soziabilität und Extroversion ausgerichteten Formation des Subjekts zu erkennen. Dass die Teilnehmer der späten Happenings und frühen Activities in zeitlicher Nähe sowohl als außengeleitete Radartypen auftreten, wie Riesman sie beschrieben hatte, als auch sich in Abgrenzungsbewegungen zu dieser Subjektordnung versuchen, kann der Vergleich zweier Arbeiten des Jahres 1969 verdeutlichen, die jeweils anlässlich einer Hochzeit entstanden. Homemovies (Abb. 75) stellte eine Art Hochzeitsgeschenk für Catherine und Daniel Schmidt dar und wurde im Juli 1969 realisiert.172 Das im Untertitel als „A marriage Happening“ bezeichnete Stück umfasst die fünf Teile „Hello“, „Trip“, „Goodbye“, „Hello“ und „Copycat“. Die von Freunden des Paares durchzuführende Aufgabe bestand darin, verschiedene alltägliche Begegnungsszenen des P aares als Videoaufnahme zu betrachten, diese nachzuahmen und sich dabei ebenfalls aufnehmen zu lassen. Zweimal ging es dabei um eine Szene, in der das Paar sich trifft und begrüßt, einmal um eine Verabschiedungsszene, einmal um den Moment, in dem das Paar gemeinsam zu einer Reise aufbricht.173 Den Abschluss bildete ein gemeinsames Sichten des Materials, bei dem das Brautpaar aufgefordert war, die Nachahmungen abermals nachzuahmen – also sich selbst durch die Brille seiner Freunde nachzuspielen. Was mit der Hochzeit als zeremoniellem Akt verbunden ist, wird in Homemovies spielerisch 172 Allan Kaprow, Partitur Homemovies, Marriage Happening, Metuchen, New Jersey und New York, Juli 1969, Poster mit Partitur, aufbewahrt in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 17. Unterlagen im Archiv deuten darauf hin, dass bei der Umsetzung womöglich leichte Veränderungen der Partitur in Form zusätzlicher Imitationsrunden vorgenommen wurden. Eine Teilnehmerliste belegt, dass neben dem Brautpaar rund zwölf Personen und deren Kinder bei der Realisierung mitmachten. 173 Ob damit auf eine Hochzeitsreise angespielt wird oder der Verlauf einem Charakteristikum der Beziehungsgeschichte des beschenkten Paares Rechnung trägt, ließ sich nicht näher ermitteln.
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reinszeniert: Das Paar tritt in die Öffentlichkeit und wird nun als Gespann wahrgenommen. Bezeichnenderweise besteht das Geschenk für das Ehepaar in einem Akt der Beobachtung, Verdopplung und Verstärkung seines tagtäglichen Verhaltens im Umgang miteinander. Die Hommage der Freunde bringt das Ehepaar als sozialen Akteur hervor, der gesehen wird, auf den andere reagieren und der wiederum selbst seine Außenwirkung editieren kann. Im Dezember desselben Jahres entwickelte Kaprow mit Moon Sound (P14) eine seiner ersten als Activity bezeichneten Arbeiten für die Hochzeit von Heide und Dick Blau, dem Stiefsohn des CalArts-Leiters Herbert Blau. Moon Sound wurde als feierliche Zeremonie mit Familie und Freunden des Brautpaares in Los Angeles und der umgebenden Wüstenlandschaft realisiert.174 Die als Typoskript erhaltene Partitur ist in vielen Teilen kryptisch. In einem kurz vor dem Ereignis abgeschickten Brief an Kaprow berichtete Dick Blau von seiner Beziehung zu Heide in der Absicht, eine bestimmte „Stimmung“ für ein „Event“ zur bevorstehenden Hochzeit zu evozieren.175 Er erzählt davon, dass dem gemeinsamen Entschluss zur Heirat Phasen des Zweifels und Spannungen aufgrund ihrer beider Ehrgeiz im Bereich des Theaters vorausgegangen seien. Er habe aber jetzt zum ersten Mal das Gefühl, dass die Zeit der Unentschiedenheit vorbei sei. Beide hätten sie aufgrund ihrer Lebensgeschichten mit „Bildern des Zerfalls“ zu kämpfen und es komme ihnen vor, als würden sie, indem sie heiraten, „einem archaischen Gefälle“ etwas entgegensetzen.176 Blau schreibt außerdem, Heide habe 174 P14: Allan Kaprow, Partitur Moon Sound, 1969, Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20. Laura Cull verifizierte im Briefwechsel mit Herbert Blau kurz vor dessen Tod 2013, dass Moon Sound tatsächlich realisiert wurde und mit einem gemeinsamen Abendessen aller Beteiligten im Haus der Eltern des Bräutigams endete. Vgl. Laura Cull, Theatres of Immanence. Deleuze and the Ethics of Performance, Houndsmill, Basingstoke und New York 2013, S. 254. 175 Dick Blau, maschinenschriftlicher Brief an Allan Kaprow vom 13.12.1969, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 17. Blau schreibt: „I see that I’m suggesting a mood.“ 176 Ebd. Blau benennt diese Belastungen der Vergangenheit konkret: „With visions of disintegration inbred by our families, time, world, nature, both Heide and I – for quite different reasons – are acting againgst an archaic inclination when we marry. She fled Germany and death. I am often harried
75 Allan Kaprow, Homemovies, Marriage Happening, Metuchen, New Jersey und New York, Juli 1969, Poster mit Partitur.
[sic! vermutlich gemeint „harassed“ oder „worried“?] by my mother’s divorce and my first father’s death. I’m not sure why or how, but it’s there.“
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76 Allan Kaprow, Moon Sound, Activity für die Hochzeit von Helga und Richard Blau, El Mirage Dry Lake, CA, 1969, Typoskript der Partitur.
entschieden, eine alte Brosche in Form eines goldenen Halbmonds als Kopfschmuck zu tragen – dies könnte Kaprow zum Motiv des Mondes inspiriert haben, welches sich als roter Faden durch die Arbeit zieht. Auch die im Sommer des gleichen Jahres erfolgte Mondlandung wird, wenngleich im Brief von Blau nicht erwähnt, hierbei sicherlich eine Rolle gespielt haben. Wie in Homemovies fungieren auch in Moon Sound die Freunde als Zeugen der Partnerschaft, diesmal jedoch wird das Paar nicht beobachtet, sondern
vielmehr betrachtet. Verhaltensstudie und Nachahmung spielen hier keine Rolle mehr. Moon Sound ist eine feierliche, stille Arbeit. Die Anwesenden vollziehen eine auf das Brautpaar zugeschnittene, individuelle Zeremonie, in der es um Gleichklang, Versenkung und einen Moment des Zugleich-Seins geht. Mehrere Formulierungen in der Partitur suggerieren, dass die Beteiligten ein Gespür für das richtige Timing entwickeln müssen, damit die Realisierung (und damit in übertragenem Sinne die Vermählung) gelingt: Jeder soll zu Beginn „seinen Platz finden“, sodann bestimmte Handlungen „zur richtigen Zeit“ ausführen (Abb. 76). Nach einer Eröffnungsphase, in der alle Personen sich weit verstreut aufhalten, macht das Paar mithilfe von blinkenden Lichtern auf sich aufmerksam und die Gesellschaft versammelt sich in seiner Nähe. Dem Mond am Wüstenhimmel, in dessen Angesicht der Vorgang vollzogen wird, entsprechen auf der Ebene der Requisiten „silberne Scheiben“, auf denen die Personen Platz nehmen. Die Betrachtung des Mondes (und später auch die des Brautpaares) wird über kleine Spiegel vollzogen, die die Beteiligten in den Händen halten. Kosmos und Körper werden so direkt miteinander verbunden. In Moon Sound geht es darum, einen Akt zu kreieren, der jene Balance zwischen Autonomiebedürfnis und Hingabe würdigt, die das Paar für sich gefunden hat. Damit aber erzählt Moon Sound nicht nur von dem Wunsch nach einer alternativen Zeremonie, die private Erinnerung und uralte Symbolik an die Stelle allgemeingültiger und offizieller Formeln setzt, sondern auch von einer Veränderung im Erleben und Beschreiben von Beziehungen, die sich im Gefolge der kulturellen Revolution der 1960er-Jahre vollzog. Gegen die „Dominanz des Angestelltensubjekts“177 artikulierte sich in den 1960er-Jahren eine alternative Subjektkultur. Das Streben nach einer extrovertierten Sozialorientierung wurde in dieser Zeit von der Entdeckung einer „reichhaltigen Innenwelt, die es vom Subjekt zu entfalten gilt“178, abgelöst. Rationalismus und Normalitätsprinzip setzten die Vertreterinnen und Vertreter der Gegenkultur das Subjekt „des entgrenzten und spielerischen Begehrens nach
177 Reckwitz 2006, S. 441. 178 Ebd., S. 446.
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intensiven Erfahrungen des Ichs“179 entgegen. Die New Yorker Happeningszene bot zumindest in ihrer Hochphase diesem Begehren und Austesten ‚abnormalen‘ Verhaltens ein Spielfeld. Grenzüberschreitungen und provokatives Verhalten inszenierte Kaprow punktuell in Aktionen wie dem Spring Happening von 1961 (Abb. 77), in dem einer der Interpreten in einem schmalen dunklen Gang mit einem Rasenmäher auf die Teilnehmer zurannte oder in Household von 1964, in dem junge Frauen Marmelade von Autodächern schleckten. Indem für jedes Happening ein spezifischer Ort ausgewiesen und eine Zeitspanne festgelegt wurde, präsentierte sich die neue Kunstform als Angebot, eine einmalige und einzigartige Erfahrung abseits gängiger Kunstbetrachtung und normorientierter Geselligkeit zu machen. Als der wachsende Erlebnishunger der gegenkulturellen Sphäre immer stärker auch nach dem Ausleben von Aggressionen, dem Erzeugen von Schockmomenten und Ekel sowie der offensiven Präsentation nackter, sexualisierter Körper suchte, ruderte Kaprow allerdings zurück. Er bemühte sich um eine Präzisierung seiner Vorstellung von Partizipation und der Bedeutung der Partitur als gemeinsamer Grundlage der Realisierung, bekannte in Gesprächen seine Abneigung gegen Chaossituationen und rückte von der Verwendung des Begriffs ‚Happening‘ ab. Mit dem Activity-Format wurde schließlich mehr der Aspekt der Übung, weniger derjenige des Spiels akzentuiert. Ohne dass Kaprow dies selbst programmatisch trennscharf hätte formulieren können, standen seine Activities im Zeichen einer sich langsam herausschälenden postmodernen Subjektkultur, die Impulse der Gegenkultur aufnahm, regulierte und institutionalisierte, ohne dabei aber gleich alle Verbindungen zur Subjektkultur der organisierten Moderne zu kappen. In der postmodernen Subjektkultur entsteht laut Reckwitz eine „neue Kultur der Intimität.“180 Persönliche Beziehungen werden Mittel, aber auch Bedingung für den Ausdruck des Selbst und die Entfaltung seiner Potentiale. Die Partnerschaft wird nicht mehr als regelhaftes System gesehen, sondern als „Expressionsgemeinschaft reziproker, immer wieder neuer und momenthafter Anregungen der beiden Ichs 179 Ebd., S. 443. 180 Ebd., S. 527.
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77 Allan Kaprow, A Spring Happening, März 1961, Reuben Gallery, New York, Fotografie: Robert R. McElroy.
modelliert.“181 War die Ehe der organisierten Moderne nach außen auf Soziabilität, im Inneren aber auf Kontrolle von Affekten und Expressivität ausgerichtet, so zeichnet sich die intime Beziehung der postmodernen Kultur durch eine stärkere Introvertiertheit aus, in die allerdings auch Freunde des Paares oder Familienmitglieder hineingezogen werden können. Das Innenleben wird minutiös beobachtet, reflektiert und kommuniziert. Der Beziehungsalltag ist durchzogen von Praktiken der „Verhandlung und Vertrauenssicherung“182 einerseits und „romantisch-expressiven Praktiken der Ich-Kommunikation und des romantischen Erlebens“183 andererseits. Ein hoher Kommunikations- und Stimulationsaufwand ist nötig, um den Zerfall der Partnerschaft abzuwenden, der dann droht, wenn „die beiden Individuen ihre psychische Autopoiesis jeweils in unterschiedliche Richtungen und verschiedenen Geschwindigkeiten betreiben.“184 Das postmoderne Subjekt bestimmt sich auch in der Abgrenzung zu denjenigen,
181 Ebd., S. 536. 182 Ebd. 183 Ebd. 184 Ebd.
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die ihre persönlichen Beziehungen nicht zu gestalten verstehen, keine Emotionen nach außen dringen lassen oder denen es an ‚originellen‘ Gefühlen und vielschichtigem inneren Erleben zu mangeln scheint. Als Praktiken, die das Subjekt darin üben, eine Relation zu sich selbst herzustellen und die ihm gemäße Form der Selbstverwirklichung immer wieder neu artikulieren zu können, dienen um 1980 schließlich auch sportliche und gesundheitsorientierte Aktivitäten sowie zunehmend die auf Selbsterkundung und Selbstdarstellung zielende Verwendung neuer Medien. So entsteht, schreibt Reckwitz, „die kulturelle Form eines experimentellen Subjekts, das sich darin trainiert, mit diversen Repräsentationen und Sinneswahrnehmungen ergebnisoffen zu hantieren.“185 Vor allem in der Auseinandersetzung mit Intimität sind Kaprows Activities der 1970er-Jahre Zeugen des Übergangs in die von Reckwitz skizzierte postmoderne Subjektkultur. Sie weisen ein Anforderungsprofil auf, das in den Grundzügen dazu angetan ist, die Praktiken einer neuen Kultur der Intimität zu üben: Die Duos müssen zu einer gemeinsamen Interpretation finden und einander vertrauen; körperliche Nähe wird stets schrittweise und unter enormem Abstimmungsaufwand hergestellt; inneres Erleben wird gegenüber dem Partner und in der Kleingruppe verbalisiert und analysiert; Beziehung wird als fragiles Projekt feingradiger Annäherungs- und Austauschprozesse zweier individueller Existenzweisen erkundet; oftmals gilt es dabei, auch eher unangenehme Selbstbeobachtungs- und Befragungsvorgänge auszuhalten. Ob dies dann in der Umsetzung eher einer Untersuchung bereits gelebter neuer Kommunikations- und Umgangsweisen in abstrahierter Form gleichkommt oder aber die Einübung noch unvertrauter Beziehungspraktiken bedeutet, hängt von dem ab, was die einzelnen Interpreten bei Realisierung ‚im Gepäck‘ haben. Tatsächlich geht es vorrangig um die Aktivierung von bereits vorhandenen Potentialen und ein Praktizieren mithilfe des eigenen Reservoirs an Gefühlen, Erinnerungen, Körpererfahrungen sowie Metaphern und Imaginationen. Manchen Teilnehmern fiel es nicht nur leichter, sich auch Fremden gegenüber zu öffnen und Rückmeldung zu erhalten, sondern sie erhofften sich von dem Format 185 Ebd., S. 556.
vielleicht sogar eine therapeutische Wirkung oder ernsthafte Erschütterung ihres Selbst und ihrer intimen Verhältnisse. Anderen wiederum erschien es sogar als Zumutung, ohne Publikum mit dem eigenen Partner konstruierte Akte der Fürsorge oder gegenseitigen Betrachtung durchzuführen. Manch einer integrierte die Übungssituation problemlos in seine private Sphäre und achtete bei der Umsetzung vor allem darauf, sozusagen mit sich selbst übereinzustimmen, ein anderer begriff sie trotz des fehlenden Publikums als von außen verfügten, im Licht der Öffentlichkeit stehenden Akt und sorgte sich sehr darum, den Eindruck, den er beim Gegenüber und in der Gruppenbesprechung hervorrief, zu kontrollieren. Obwohl das vollständige Absolvieren der Übungen für manche Interpreten ein Überwinden von Widerständen bedeutete, inszenieren die Activities weder Extremerfahrungen, noch kalkulieren sie Schock- und Provokationsmomente. Da sie mit ihrer spezifischen Struktur stets in einem Modus der konkret verkörperten Indirektheit verbleiben, proklamieren sie gerade keine Selbstentgrenzung. Das Subjekt in Beziehung ist hier keines der unbändigen Lust oder des tiefen Schmerzes, das notfalls auch auf Kosten der körperlichen Unversehrtheit und ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Normen sich selbst spüren will. Ebensowenig weisen die Activities explizit in die Richtung eines flamboyanten Spiels mit fluiden Identitäten oder einer Dekonstruktion geschlechtsspezifischer Repräsentationsweisen. Wer die Übungen durchführt, erfährt sich als Forschender, der im Tun etwas umkreist und vermittelt, das ihm zugehörig erscheint und doch nur dann spürbar wird, wenn es in Relation zu einem Außen tritt: Es geht um Intimität als geteilte Sphäre, die Beziehung ermöglicht und ihr Qualität verleiht. Formen der Maskerade mit dem Ziel, alternative Seinsweisen und Identitätsoptionen auszutesten, erscheinen hierbei eher als hinderlich, während authentisches, gleichsam unentfremdetes Auftreten die beste Startposition bietet, um die Übung zu bewältigen und einen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Dies ist allerdings nicht mit der Proklamation eines befreiten Subjekts im Sinne einer umfassenden Entfremdungskritik gleichzusetzen, wie sie Herbert Marcuse als Impulsgeber der neuen Linken für die industrielle Wohlstands- und Konsumgesellschaft formulierte. Marcuses Diagnose
Zwischen Politisierung des Privaten und Tyrannei der Intimität
einer „fortgeschrittenen Stufe der Entfremdung“, in der ein „falsches Bewusstsein, das gegen seine Falschheit immun ist“186, die manipulierten Subjekte daran hindere, das ganze Ausmaß ihrer Entfremdung zu erkennen, impliziert die essentialistische Vorstellung einer wahren Natur des Menschen, die in und durch bestimmte Repressionsmechanismen verschleiert ist. Den Activities liegt dagegen ein stärker soziologisch und praxeologisch informiertes Subjektverständnis zugrunde. So ist Entfremdung hier nicht ein systematisch installiertes Missverhältnis, sondern vielmehr ein situativ auftretender, temporärer Zustand. Weil die Interpreten dieser Übungen unablässig damit beschäftigt sind, sich zu sich selbst, zu anderen und zu einer spezifischen, aber zeitlich begrenzten Situation ins Verhältnis zu setzen, erfahren sie auch Momente der Entfremdung – Momente nämlich, in denen sie eines Bezugs verlustig gehen, der vorher gegeben war beziehungsweise weiterhin Geltung beansprucht. Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“187 ist in der Logik der Activities eine geradezu notwendige Erfahrung, die sich aus der Doppelstruktur der Übung (Einüben/Ausüben) ergibt und als reflexive Ressource mobilisiert wird. Wenn der Interpret auf einmal das Gefühl hat, sich wie eine Marionette zu bewegen, ohne dabei etwas zu empfinden, ihm der Partner, der dem gemeinsamen Tun volle Aufmerksamkeit schenkt, auf einmal weit entfernt und unerreichbar vorkommt oder wenn dem Interpretenduo die gemeinsame Handlung auf einmal völlig absurd erscheint, dann muss dies nicht als Fehlinterpretation verstanden werden, die zum Missglücken der Aufgabe führen wird. Die Übungen sind umgekehrt so angelegt, dass sich der Eindruck des Gelingens oder gar der Virtuosität nur aus der Spannung zu dem jederzeit möglichen Abgleiten in eine Bezugs- oder Beziehungslosigkeit erzeugen lässt. Das Intimitäts- und Authentizitätsversprechen der neuen, von äußeren Zwängen befreiten Beziehungskultur ist selbst nicht ohne eine Steigerung der 186 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch [1964], Neuwied und Berlin 51972, S. 31f. Zu Marcuses Entfremdungskritik siehe Rahel Jaeggi, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt am Main und New York 2006 (Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, 8), S. 47f. 187 Ebd., S. 44.
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Empfindlichkeit zu haben, die wiederum dazu führt, dass ausgerechnet der vertraute Nahbereich oder das Zusammenleben als „Fälschung“188 empfunden werden kann. Bedrückende Berichte über Momente der Nähe, in denen eine vermeintliche Nebensächlichkeit – ein falscher Tonfall, eine unsanfte Bewegung, eine aus dem Nebenzimmer vernommene Radionachricht – verursachen kann, dass man das intime Zusammensein auf einmal nur noch wie ein unbeteiligter Beobachter wahrnimmt und das Gefühl hat, an dem doch vermeintlich eigenen Leben überhaupt nicht mehr teilzunehmen, waren genuiner Bestandteil der vom Privaten ausgreifenden Selbstoffenbarungs- und Wahrhaftigkeitsprojekte der frühen 1970er-Jahre, bevor dann um 1980 zunehmend ironisches Sprechen kultiviert und Blödelei zur „akzeptablen Umgangsform“189 erklärt wurde.
Zwischen Politisierung des Privaten und Tyrannei der Intimität Von manchen Zeitgenossen wurde dieser latente Krisenmodus der postmodernen Subjektkultur mit ihrem feinen Sensorium für jeden Rückfall ins „Repertoirehafte“190, dem Verlangen danach, dass „jederzeit jede Veränderung möglich sein [muss]“191 und ihrer Perspektive, in der alles, was „nach Bestimmung, Schema, Identität aussieht, schon auf den ersten Blick 188 Mit der Aussage, ihr gemeinsames Leben sei doch „falsch, eine Fälschung“, wendet sich die Hauptfigur Georg Laschen in Nicolas Borns Roman Die Fälschung (1979) in einem Brief an seine Frau. Nicolas Born, Die Fälschung, Hamburg 1981, S. 260. Born schildert in seinem Roman krisenhafte Prozesse der Welt- und Selbstentfremdung auf mehreren Ebenen, da Laschen einerseits als journalistischer Berichterstatter im Libanonkrieg an der Wahrhaftigkeit seiner Textproduktion und dem Zustand „moralischer Empörung“ zweifelt, andererseits als Ehemann und Vater sein Leben zunehmend als „spukhaft“ empfindet und unter dem Gefühl „panischen Eingezwängtseins“ leidet. 189 Felsch 2015, S. 113. 190 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977), Frankfurt am Main 1977, S. 158. In seinem Journalbuch thematisiert Handke die tagtäglichen, oftmals scheiternden Versuche, Selbst und Welt in ein stimmiges Verhältnis zu bringen. Die in kurze Einträge mündenden Selbstbeobachtungen schildern vielfach augenblicks- oder gar überfallhafte Umbrüche in der Wahrnehmung einer Situation. 191 Rutschky 1980, S. 52.
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als Inbegriff von Einschränkung und Entfremdung [erscheint]“192, als besorgniserregendes Symptom gedeutet. Christopher Lasch attestierte der amerikanischen Gesellschaft 1979 eine „narzisstische Kultur“, in der jeder politische Veränderungswille aufgegeben worden sei und man sich ins Private zurückziehe.193 Anstrengungen würden nur noch im Bereich der „psychischen Vervollkommnung“ unternommen, etwa indem man „seine Gefühle kennenlernt“ und auf gesunde Ernährung und Wohlbefinden achtet.194 Der „neue Narziss“ erwarte stets direkte Belohnung, sei jedoch niemals zufriedenzustellen.195 Gleichzeitig geschichtsvergessen und unfähig, sich für die Zukunft zu rüsten, sei er – trotz aller „Illusionen von Omnipotenz“ – in seinem Selbstwertgefühl vollständig von anderen abhängig, unsicher und bezweifle sogar die „Realität seiner eigenen Existenz“.196 Lasch wollte seine pessimistische Diagnose als Abgesang auf den Individualismus der liberalen, bürgerlichen Gesellschaft verstanden wissen, dessen Eigenschaften er in der Kultur des Narzissmus pervertiert sah. Sei die Welt für „den rauhbeinigen Individualisten“ noch eine „leere Wildnis gewesen, die von ihm in Form zu bringen war“, sehe der Narzisst sie lediglich als Spiegel.197 Mit seiner Kritik am Psychoboom stand Lasch keineswegs allein da.198 1974 hatte bereits Richard Sennett in seiner großen Studie The Fall of Public Man die „Verdrängung der res publica durch die Annahme, gesellschaftlicher Sinn erwachse aus dem Gefühlsleben der Individuen“ beklagt.199 Dass die 192 Ebd. 193 Vgl. Lasch 1979, S. 29. 194 Ebd. Im Original: „[…] what matters is psychic self-improvement: getting in touch with their feelings, eating healthy food, […] immersing themselves in the wisdom of the east, jogging, learning how to ‚relate‘, overcoming the ‚fear of pleasure‘.“ 195 Vgl. ebd, S. 22f. 196 Vgl. ebd., S. 38 und S. 22. 197 Vgl. ebd. Im Original: „For the narcissist the world is a mirror, whereas the rugged individualist saw it as an empty wilderness to be shaped to his own design.“ 198 Vor ihm warnte bereits Philip Rieff, der „Triumph des Therapeutischen“ führe zu einer Erosion traditioneller und religiöser Formen der Gemeinschaftsstiftung. Siehe Rieff 1966. Zur Kritik an der steigenden Popularität von Psychologie und Psychotherapie vgl. außerdem Tändler 2012, S. 23. 199 Sennett 2013, S. 587. Sennett verhandelt in seinem Buch das Verhältnis zwischen der Sphäre des Privaten und der
Gesellschaft gegenwärtig als kalt und unpersönlich empfunden werde, sei selbst schon als Symptom einer Generation zu lesen, die dem Psychischen und dem Selbst übermäßigen Wert beimesse, konstatierte er.200 Sennett sah eine „Besessenheit von der Intimität“201 am Werk, die auf die Sphäre des Öffentlichen ausgreife und dort zersetzende Wirkung entfalte, indem beispielsweise in jeder Form des Miteinanders die Enthüllung der eigenen Empfindungen vor anderen gefordert werde. Die „Erwartung, Nähe erzeuge Wärme“ werde schließlich allerdings doch enttäuscht, so Sennett, denn „je näher die Menschen einander kommen, desto ungeselliger, schmerzhafter, destruktiver werden ihre Beziehungen zueinander.“202 Er kritisierte die Ablehnung jeglicher Form von Repression oder Beschränkung als geschichtsvergessen und auf falschen Annahmen basierend. Zu leugnen, dass „der Kommunikation zwischen den Menschen irgendwelche Schranken gesetzt werden sollten“ oder dass „dem Selbst Schranken gesetzt sind“, befördere den Verlust des Glaubens an ein öffentliches Leben statt ihn aufzuhalten.203 Die kulturkritischen Invektiven, wie sie unter anderem von Lasch und Sennett in den 1970er-Jahren vorgetragen wurden, standen in komplementärem Verhältnis zu den auch praktisch vollzogenen Versuchen, auf einer Politisierung des Privaten zu beharren und somit zunächst im Bereich der persönlichen Beziehungen, der Sexualität, der Selbstverwirklichung und des häuslichen Alltags jenen Bewusstseinswandel zu erreichen, den man gesamtgesellschaftlich einforderte. Vor allem die „therapeutische
Sphäre des Öffentlichen in historischer Perspektive und mit einem kulturphilosophischen Ansatz, wobei das Verhalten im öffentlichen Raum der Großstädte London und Paris im 19. Jahrhundert den Hauptgegenstand der Untersuchung bildet. Sennett macht allerdings keinen Hehl daraus, dass der Blick zurück auch das Fundament für eine Kritik der Gegenwart liefern soll, in der er das urbane und zivilisierte Leben auf dem Rückzug und insgesamt die Gesellschaft in falsche Annahmen vom Wert der Intimität verstrickt sieht. 200 Vgl. ebd., S. 70. 201 Ebd., S. 589. 202 Ebd., S. 586. 203 Ebd., S. 458f. Seine Kritik zielt vor allem auf eine von ihm diagnostizierte Intimisierung des öffentlichen Lebens, die allerdings rückwirkend auch den Bereich des Privaten deformiere, da diesem nunmehr sein natürliches Gegengewicht fehle.
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Vergemeinschaftung“204 als eine in und mit der Kleingruppe vollzogene Arbeit am Selbst wurde, wie bereits oben besprochen, in diesem Sinne politisch aufgeladen. Für die Activities ist vor diesem Hintergrund die eingangs formulierte These noch einmal aufzurufen, dass diese sich weder als politische Instrumente für eine gesellschaftliche Revolution verklären, noch als Zeugen einer konservativen Haltung in avantgardistischem Gewand abtun lassen. Sie transportieren zunächst den Anspruch, sich einem bereits stattfindenden kulturellen Wandel nicht zu verschließen, ihn vielmehr als Herausforderung anzunehmen und sich handelnd wie reflektierend zu ihm ins Verhältnis zu setzen. Intimität wird als Wert und Qualitätsmerkmal postmoderner Beziehungen einerseits thematisch ins Licht gerückt, andererseits als Ressource für den Übungsvorgang selbst genutzt, indem dieser ohne Publikum und an einem von den Interpreten als geschützt empfundenen Ort stattfindet. Eine eindeutige Politisierung alltäglicher zwischenmenschlicher Situationen, etwa im Hinblick auf die Geschlechterordnung, nehmen die Activities nicht vor – wenngleich diese von einzelnen Interpreten in der Durcharbeitung hervorgebracht oder zumindest als Leerstelle ausgewiesen werden konnte, ohne dass der Künstler damit das Experiment für gescheitert hätte erklären müssen. Aber es ist eben ein Charakteristikum der Activities, dass sie gerade keine alternativen Lebensformen vorstellen oder eine gänzlich andere Welt beziehungsweise neue Gesellschaft imaginieren. Das Zusammentreffen der Teilnehmer ist nicht als Modell einer Kommune gedacht, die Durchführung der Activities verheißt keinen Ausstieg aus der Realität oder der Verantwortung, die Widersprüche eines bürgerlichen Lebens auszuhalten, und das Abschlussgespräch ist nicht dazu angetan, dass aus ihm eine politische Aktion erwächst. Die Activities greifen in den Lebensvollzug der Interpreten ein, indem sie diesen für eine abgegrenzte Zeitdauer unterbrechen und durch eine als Übungsaufgabe konstruierte Aktivität ersetzen, in der wiederum aus dem zwischenmenschlichen Alltag vertraute Handlungselemente verfremdet, wiederholt und reflektiert werden. Formative Kraft entfalten die Übungen nicht, indem sie die Interpreten normativ 204 Tändler 2012, S. 166.
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gesetzte gegenkulturelle Verhaltensweisen durchlaufen lassen. Sie wirken, indem sie die Interpreten in einem Modus der Uneigentlichkeit körperlich vollziehen lassen, was gerade Gegenstand eines fundamentalen gesellschaftlichen Wandels und zugleich ein Gewebe ist, in das sie ohnehin längst verstrickt sind. So vielschichtig dieser Wandel war, so unterschiedlich waren auch die Erfahrungen, die die Interpreten im Zuge der Umsetzung machten. Dass in den Activities noch eine von Goffman geprägte Vorstellung vom Subjekt mitschwingt, welches seine Identität im gesellschaftlichen Rollenspiel ausbildet, zugleich aber schon einer neuen Intimitätskultur Rechnung getragen wird, zu der die Verpflichtung auf ein gewisses Maß an Innerlichkeit gehört, bleibt dabei ein Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt und wohl auch erst mit historischem Abstand als solcher erkennbar wird. Als Werke einer Zeit des Übergangs lassen die Activities ihre Interpreten einerseits als mitteilsame, an der Beobachtung von sozialem Verhalten und Gemeinschaftlichkeit interessierte performer auftreten, fordern von ihnen aber andererseits, in sich hineinzuhorchen, ihren Körper zu spüren und die Introspektion zur Grundlage für die Abstimmung mit dem Gegenüber zu machen. Es ist die Engführung zweier konkurrierender Subjektkulturen, welche die Activities derart unter Spannung setzt, dass die zeitgenössischen Interpreten sich nicht selten überfordert fühlten oder die Übung ins Komische zogen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Die Activities der 1970er-Jahre geben weder, wie Stephen Zepke beklagt, das „simple Versprechen einer mystischen Transzendenz des Lebens“,205 noch mobilisieren sie die Vorstellung einer eminent politischen Dimension privater Handlungen. Der Modus, in dem ihre Interpreten agieren, lässt Skepsis zu und schließt momenthafte Entfremdungserfahrungen nicht aus. Er fordert eine Haltung des Reflektierens und Deutens, kein Überwältigen aller Widersprüche. Kaprows Arbeiten sind – trotz der Möglichkeit ihrer Wiederaufführung heute – als zeitgebundene Werke zu sehen, die mit Blick auf bestimmte Veränderungen ihrer Zeit und nicht zuletzt auch für jene 205 Zepke 2009, S. 121. Zepkes Anliegen ist es, herauszuarbeiten, inwiefern Kaprows Kunst im Sinne der Theorien von Deleuze und Guattari verstanden werden kann.
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gesellschaftliche Gruppe konzipiert wurden, die um Selbstversicherung bemüht, mit den Spielarten der Selbstbefassung vertraut, aber auch eingebunden in spezifische Versorgungs- und Verantwortungszusammenhänge war. Es sind ästhetische Übungen für die Vertreter der gebildeten Mittelschicht und der creative class in den urbanen Zentren und somit für jene, die an der Herausbildung einer dominanten Subjektkultur ebenso maßgeblich beteiligt waren wie sie sich von deren Transformation herausgefordert fühlten; Übungen schließlich sowohl für die in der Lebensmitte befindlichen Arrivierten wie für deren Kinder, die sich als Studenten – vielleicht sogar Kunststudenten – zu der in Veränderung begriffenen Kultur der Elterngeneration ins Verhältnis setzen mussten. Mit diesem Wissen lässt sich schließlich ein letzter Bogen schlagen, der die Activities doch wieder in eine größere kunsthistorische Erzählung zurückholt: nämlich als spätmodernes Analogon zur impressionistischen Kunst des 19. Jahrhunderts, die den zeitgenössischen, und vor allem den bürgerlichen, Betrachtern ihre eigene, in Bewegung geratene Subjektkultur vor Augen stellte und in Form von Bildern zum Genuss, zur Bestätigung und Selbstversicherung, aber auch zur Reflexion und Kritik anbot. Die Kunst des Impressionismus erkundete Position und Beziehungen des Individuums in der städtischen Gesellschaft, widmete sich Freizeitverhalten, Konsum und dem öffentlichen Auftritt. Ausgerechnet Meyer Schapiro, bei dem Kaprow studierte und seine Abschlussarbeit in Kunstgeschichte schrieb, stellte schon in einem 1937 veröffentlichten Aufsatz Überlegungen dazu an, inwiefern die impressionistische Malerei nicht nur durch formale Neuerungen besticht, sondern auch ein Bewusstsein für neue gesellschaftliche Freiheiten repräsentierte und beförderte.206 Diese Fährte 206 Siehe Meyer Schapiro, „The Nature of Abstract Art“ [1937], in: Ders., Modern Art. 19th & 20th Centuries. Selected Papers, New York 1978, S. 185–211. Schapiro war für Kaprow nicht nur die zentrale Vermittlerfigur in Sachen Kunstgeschichte, sondern sicherlich auch deshalb prägend, weil er ein ausgewiesenes Interesse an aktueller künstlerischer Produktion hatte und eine kategoriale Trennung von Kunstgeschichte und Kunstkritik ablehnte. Siehe zu Schapiro in diesem Kontext Kerstin Thomas, „The art historian among artists. Kunstkritik und Kunstgeschichte bei Meyer Schapiro, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 78, H. 1, 2015, S. 45–64. Thomas bezeichnet
nahm T. J. Clark einige Jahrzehnte später auf, als er in seinem Buch The Painting of Modern Life der Beobachtung nachging, dass sich die impressionistische Malerei einerseits in den Waren- und Bilderverkehr der modernen Gesellschaft gleichsam komplizenhaft einfügte, andererseits auch ein Unbehagen an den Effekten der Modernisierung zum Ausdruck brachte.207 Was der impressionistischen Kunst das öffentlich präsentierte, diskutierte und käufliche Gemälde war, erschien Kaprow allerdings nicht mehr als das geeignete Medium, um den abermals von einem Modernisierungsschub erfassten sozialen und intimen Beziehungen seiner Zeit nahezukommen und sich aus einer Position der beobachtenden Teilnahme zu ihnen zu stellen. Die Form, die Kaprow hierfür fand, ist so gestrickt, dass sie dieses Thema genau dort facettenreich entfaltet, wo es jetzt hinzugehören scheint: nicht mit anderen vor einem Objekt, sondern in der Sphäre zwischen zwei Subjekten. Die vielfältigen und viel frequentierten städtischen Räume und Salons, die in und mit der impressionistischen Kunst noch als Aushandlungsorte eines neuen Subjektivierungsprogramms präsentiert, eröffnet und bespielt wurden, sie sind für diese Übungen nicht mehr signifikant. Die Mobilisierung des Selbst als Ressource, die Kultivierung von Aufmerksamkeit für den eigenen Körper, die kommunikative Abstimmung mit dem Partner, das Erzeugen von Nähe – all dies benötigt in der folgerichtigen Logik der Activities zumindest temporäre Abgeschiedenheit und den Entzug visueller Reize. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeitgenossenschaft, gleichsam die Überprüfung des eigenen Modernitätslevels, die mit der impressionistischen Kunst noch auf der Ebene einer – allerdings genuin ambivalenten – bildlichen Repräsentation verlief, sie ist den Interpreten der Activities nur im körperlich-reflexiven Vollziehen der gestellten Aufgaben und deren sprachlicher Nachbereitung Schapiros Haltung als „kritischen Relationismus“ (Ebd., S. 57) und es ließe sich durchaus darüber nachdenken, ob Kaprow mit seinen Activities nicht gewissermaßen diese Haltung als strukturgebendes Prinzip in die künstlerische Arbeit selbst überführt – schon während der Realisierung der Activities werden deren Kritik und Interpretation von den Teilnehmern direkt mitproduziert und fallen dementsprechend vielstimmig sowie relational aus. 207 Vgl. T. J. Clark, The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and His Followers, New York 1985, S. 15.
Zwischen Politisierung des Privaten und Tyrannei der Intimität
zugänglich. Distanzierung, Verfremdung, Kritik, jede Geste der Nicht-Identität ist damit jedoch nur noch von innen heraus möglich. Dieser einschließende Charakter der Arbeiten ist konzeptuell zwingend, stellt aber auch eine echte Zumutung dar. Eine
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Zumutung, wie sie in der Phase penibler und ernsthafter Selbstbefragungen und Beziehungsverhandlungen der 1970er noch durchaus passend erschien, aber doch jederzeit drohte, unter ihrem eigenen Gewicht zusammenzubrechen.
6. Schluss: The (other) Legacy of Allan Kaprow?
Haben wir über die Beschäftigung mit den Activities ein anderes Bild von Kaprow gewonnen? Wohin führt uns der Vorschlag, unsere Beziehungen performativ zu erforschen, neue Kommunikations- und Beobachtungsweisen einzuüben und uns mit den ‚Forschungsergebnissen‘ der anderen auseinanderzusetzen? Hat dies einen Nachhall in der Kunst nach Kaprow gefunden? Als Happening-Künstler ist Kaprow in der jüngeren zeitgenössischen Kunst vielfach rezipiert und zitiert worden, nicht zuletzt in Form verschiedenartiger Reenactments seiner Environments und Happenings. Christoph Schlingensief übernahm 2006 für seine Aufführung Kaprow City an der Berliner Volksbühne den innovativen Aufbau von 18 Happenings in 6 Parts. Er schuf ein rotierendes Bühnenbild mit durch semitransparente Folien abgetrennten Kompartimenten, in denen ein Teil der Zuschauer Platz nehmen durfte, während die anderen den Szenen, die sich lose mit dem Unfalltod Prinzessin Dianas befassten, lediglich über eine Videoübertragung oder vom traditionellen Zuschauerraum aus folgen durften. Kaprows Idee einer Collage aus unzusammenhängenden Handlungsfetzen, in der die Zuschauer mehrfach die Plätze wechseln mussten und niemand die Chance hatte, alles zu sehen oder zu überblicken, wurde von Schlingensief in für ihn typischer Manier gesteigert und geradezu perfide angewendet, um die Zuschauer aus ihrer Komfortzone zu holen. Kaprow formalisierte die Handlungselemente mit geradezu choreografischem Elan, sortierte den luftigen Raum rechtwinklig und konfrontierte mit feiner Ironie Versatzstücke, Ideen und Ausdrucksformen verschiedener Kunstformen so, dass sie vor allem davon sprachen, wie Kunst 1959 nicht mehr zu machen war – oder nur um den Preis, dabei albern, mechanisch, unauthentisch oder gestrig zu wirken. Schlingensief hingegen packte seine Kaprow City voll mit Kostüm und Material, Körperlichkeit und Medienrummel: eine klaustrophobische Projektionsmaschine, in der die rotierenden Zuschauer auch mit der Monstrosität ihrer eigenen Schaulust konfrontiert waren.
Schlingensiefs Hommage dachte die innovative Aufführungs- und Zuschauersitation der 18 Happenings in 6 Parts kongenial weiter, befeuerte aber auch die Vorstellung vom Kaprow-Happening als latent übergriffigem, theatralem oder spektakelhaftem Ereignis. Die Impulse, die der Kaprow der 1960er-Jahre der Kunstwelt gab und die in der Retrospektive 2006 erstmals für die Nachwelt mit Material unterfüttert wurden, bestehen vor allem in der radikalen Aktivierung des Publikums, dem Aufsuchen und Bespielen kunstferner Räume, der Überführung von Collage- und Assemblagetechniken ins Feld der Handlungen sowie der Verräumlichung eines offen und nicht objektförmig gedachten Werks. Die Einbettung des Kaprows der 1970er-Jahre in das größere Kunstgeschehen gestaltet sich deutlich schwieriger. Ausstellungs- und rezeptionsgeschichtlich taucht dieser Kaprow wie ein Chamäleon auf: Er spielt eine Rolle in der Geschichte des CalArts, er hat seinen Platz in einer Geschichtsschreibung kalifornischer Performancekunst und Body Art, er taucht in frühen Ausstellungen zu Videokunst und Kommunikationstechnologie auf. Im Fahrwasser eines wachsenden Verständnisses für den ‚Look‘ und die Medienkomplexe konzeptualistischer Kunst stoßen schließlich seine Activity-Booklets und -Videos heute wieder auf größeres Interesse. Aber in all diesen Konstellationen und Rezeptionszusammenhängen erscheint dieser Kaprow nicht als Pionier, sondern eher als Beobachter, Kommentator und eigenwillige Randfigur. Der Kaprow der 1970er ist ein Suchender, souverän zwar im öffentlichen Auftritt und pädagogischen Engagement, aber auch selbstkritisch in der Einsicht, seine künstlerischen Formate weiterentwickeln und neu ausbuchstabieren zu müssen, was denn ‚Leben‘ überhaupt – in der Gegenwart der Siebziger – bedeutet. Die vorliegende Studie zu den Activities hat den Versuch unternommen, diese Arbeiten weniger ‚betriebsintern‘ zu denken und stattdessen verstehen zu wollen, wie dieses sehr spezifische performative Format seine Interpreten begreift und wohin es sie bewegt. ‚Leben‘ wird mit den Activities zunächst einmal
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6. Schluss: The (other) Legacy of Allan Kaprow?
vor allem als der tagtägliche zwischenmenschliche Verkehr aufgefasst: Man trifft sich und geht miteinander um, man wartet auf den anderen, bemüht sich, ihn zu verstehen und versucht, ihm nahe zu kommen. Der individuelle Lebensvollzug, so die Grundannahme, ist eingebettet in soziale Strukturen. Aber: Je genauer man sich die Regeln, Strukturen und Prämissen des Zwischenmenschlichen anschaut – indem man sie etwa sequenziert, verlangsamt, wiederholt oder mit Anführungszeichen versieht – desto fragwürdiger werden sie. An diesem Punkt kommt die Intimität ins Spiel, die entstehen kann, wenn zwei Menschen sich über diese Fragwürdigkeit verständigen und gleichwohl Momente der Passung, ein Zugleich-Sein, generieren können. Dies ist eines der zentralen Themen, das mit den Activities in übungshafter Form körperlich wie intellektuell verhandelt wird. Dabei, so eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit, kommt es allerdings zu Spannungsverhältnissen, die sich auch in historischer Perspektive nur mühsam – und sicherlich nicht zur Gänze – auflösen lassen. Sie lassen sich umreißen als eine durchaus irritierende Konkurrenz unterschiedlicher Auffassungen vom Verhältnis zwischen Selbst und Gesellschaft. Diese Konkurrenz lässt sich von heute aus als prägnantes Phänomen der Umbruchsphase um 1970 erkennen. Eingeübt war, vor allem in der amerikanischen Mittelklasse, die Kultur eines zur Soziabilität fähigen und auf Sozialität angewiesenen Subjekts, das sich in einer als offen und demokratisch verstandenen Gesellschaft in ständiger Rückkopplung mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern bewegt, verhält und formt. Befeuert von den gegenkulturellen Vorstößen der Jugend in den 1960er-Jahren, kam es allerdings in den Siebzigern vermehrt zu einer Sehnsucht nach Selbstbefragung und auch einem wahrhaftigeren, authentischeren Ausdruck von Gefühlen. Intimität war das neue Versprechen und erstrebenswerte Ziel einer Beziehung zwischen zwei Menschen (egal ob Partnerschaft, Ehe oder Freundschaft), die in diesem Sinne Nähe, Selbstoffenbarung und Selbstentfaltung gewährleisten sollte. Damit ergab sich die Frage, wie das, was sich innerhalb der engen, intimen Beziehungen formierte, an den Bereich des Gesellschaftlichen rückbinden ließ. Konnte das als Modell fungieren, um auch die Gesellschaft selbst zu einem Zusammenschluss kreativer, authentischer, zur Kommunikation
fähiger Wesen zu machen? Oder war die kleine Einheit, ob Paar, Gruppe oder Gemeinschaft, nicht viel eher dazu angetan, sich von einer Eingemeindung in größere Strukturen fernzuhalten? In der Debatte um die „Tyrannei der Intimität“, die Sennett konstatierte, oder die „narzisstische Kultur“, die Lasch beklagte, spielten solche Fragen eine Rolle. Vor allem aber wurde von feministischer Seite die Trennung zwischen dem Privaten und dem Politischen noch einmal auf ganz andere Weise kritisiert, indem das alltägliche und häusliche Leben als Schauplatz der Unterdrückung der Frau und Perpetuierung traditioneller Geschlechterrollen problematisiert wurde. Harmlose Gesten wie das Aufhalten einer Tür wurden in den Siebzigern auf einmal überaus brisant, der Gesprächsbedarf wuchs immens, vieles erschien nun abstimmungs- und verhandlungsbedürftig. Die Wendung ins Intime war meist weniger ein heilsamer Rückzug als ein mitunter schmerzhafter und konflikt reicher Vorgang der Auseinandersetzung mit divergierenden Bedürfnissen und Entfremdungserfahrungen. Mit den Activities brachte Kaprow ein Format ein, das darauf setzte, dass ein jeder diese Probleme selbst zu erforschen hatte und sich diese nur übend, also durch- und ausführend, klarmachen konnte. Mit diesem Aspekt ist die Frage nach einer anders gelagerten zeitgenössischen Rezeption Kaprows in der Kunst noch einmal aufzugreifen. Die kubanische Künstlerin Tania Bruguera, die sich einer pädagogisch-aktivistischen künstlerischen Praxis verschieben hat, bemerkte in einem von Lorenzo Fusi geführten Interview 2010, sie habe erst spät entdeckt, wie progressiv Kaprow gewesen sei mit seinen Gesten, die stets nur „auf leise Art politisch“ waren. „It is not an open declaration, but a process of personal understanding“, fasst Bruguera die Haltung Kaprows zusammen, die sie auch im Zentrum ihrer eigenen Praxis sieht, welche unter anderem die Vereinigung Immigrant Movement International mit eigenen Workshops und Bildungsprogrammen hervorbrachte.1 Noch unmittelbarer als Bruguera bezieht sich Suzanne Lacy auf Kaprows künstlerische Praxis. Sie
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Tania Bruguera, Interview anlässlich der Liverpool Biennale (geführt von Lorenzo Fusi), 2010, URL: https://www.taniabruguera. com/cms/465-0-Tania+Bruguera+interviewed+by+Lorenzo+ Fusi.htm [abgerufen am 2.8.21].
6. Schluss: The (other) Legacy of Allan Kaprow?
kam unter anderem am CalArts als Studentin mit Kaprow in Kontakt und war danach lebenslang mit ihm befreundet. Lacy bezeichnet ihre Arbeit als „New Genre Public Art“ – statt Skulpturen im öffentlichen Raum zu platzieren, arbeitet sie schon seit den späten 1970er-Jahren außerhalb musealer Institutionen in Projekten mit örtlich gebundenen Personengruppen, die ihre eigenen Erfahrungen zu einem bestimmten Thema einbringen. Im Sinne Kaprows hat sie kein Problem damit, dass die Grenze zwischen Kunst und sozialer Arbeit hierbei verwischt, ihr Schwerpunkt liegt einzig darauf, bedeutungsstiftende Interaktion zu ermöglichen. In einem Interview hebt Lacy hervor, von Kaprow vor allem etwas über die Formalisierung von Handlungen und das Erarbeiten einer Methodik gelernt zu haben.2 Diese Elemente hat sie als wichtige Voraussetzung für eine gelingende Interaktion in ihren partizipativen Ansatz integriert, dann aber explizit politische Themen wie Vergewaltigung, Grenzkonflikte oder Polizeigewalt mit jeweils konkreter räumlicher Verortung gemeinsam mit den Teilnehmern erforscht. Mit den „leisen“ politischen Implikationen von Kaprows Werk befasste sich außerdem die Künstlerin Sharon Hayes in ihrer kritischen Wiederaufnahme des Environments Yard im Jahr 2012. Sie nahm den Titel der Arbeit Kaprows wörtlich und baute ihre Version auf der freien Wiese des Marble Cemetry auf, der ersten konfessionslosen Grabstätte der Stadt New York. Statt Autoreifen versammelte sie Schilder, die sie während einer Reise durch die USA gesammelt hatte oder im Nachhinein nach originalen Vorlagen reproduzieren ließ. Es sind Schilder, die Menschen in ihren privaten Vorgärten aufgestellt hatten – sie sprechen Warnungen aus, fordern zum Spenden auf und teilen mit, für welchen Kandidaten die Hausbesitzer bei der nächsten Wahl votieren werden. Diese öffentlich gemeinten Botschaften auf privatem Grund zieht Hayes wiederum auf einem öffentlich begehbaren Grundstück zusammen. Während Kaprow einst mit den aufgetürmten Autoreifen den Innenhof einer Galerie ‚beschmutzte‘, verhandelt Hayes die Frage nach 2 Suzanne Lacy, Interview (geführt von Moira Roth), 1990, Transkript der Audioaufnahme verfügbar über Smithsonian, Archives of American Art, Washington, URL: https://www. aaa.si.edu/download_pdf_transcript/ajax?record_id=edanmdm-AAADCD_oh_215585 [abgerufen am 2.8.21].
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der Verortung des Politischen im öffentlichen Raum und überführt den monochrom schwarzen Autoreifenberg in die bunte Kakophonie eindeutiger politischer Bekenntnisse. Neben dieser direkten Auseinandersetzung mit dem frühen Kaprow lassen sich aber auch andere Arbeiten von Hayes, gleichwohl sie nicht partizipativ angelegt sind, als zeitgenössisches Echo der in den Siebzigern zur Debatte stehenden Politisierung oder Entpolitisierung im Privaten verstehen. Die Künstlerin arbeitet dabei mit der Stimme als einem Element, das in besonderer Weise eine Sphäre der Intimität zwischen Performerin und Zuschauer herzustellen vermag. Für Everything Else Has Failed! Don’t You Think It’s Time For Love verlas sie über ein Mikrofon an einer belebten New Yorker Straßenecke an fünf Tagen Briefe an eine anonyme geliebte Person. In die Formulierungen von Verlangen und Begehren waren Kommentare über traumatische Kriegserfahrungen eingeflochten – die private Korrespondenz wurde zur öffentlichen Rede. In der Videoinstallation Parole folgen die Zuschauer der Performerin Becca Blackwell, die sich Tonaufzeichnungen aus dem Jahr 1969 auf Kassette anhört und dabei wiederum mit einem Aufnahmegerät die Abspielgeräusche dieses veralteten, analogen Mediums mitschneidet. Blackwell nimmt außerdem die Geräusche in ihrem privaten Raum auf – wie es sich anhört, wenn der Schlüssel im Schloss umgedreht wird, die eigenen Atemgeräusche bei Nacht, das kochende Wasser auf dem Herd. Schließlich verlässt sie das Haus, mit Kopfhörer und Mikrofon in der Hand, um nun eine weiträumigere, gleichsam öffentlichere Klanglandschaft einzufangen, zu der auch theoretische wie aktivistische Formulierungen zu radikalem Feminismus, Homosexualität und Queerness gehören. Hayes’ Arbeit besticht durch die individuelle Präsenz verkörperter Rede, der die stille Protagonistin nicht als passive Rezipientin, sondern als aktive Zuhörerin gegenübergestellt wird. Hayes greift die reflexiven Aufnahmepraktiken der Sechziger und Siebziger auf, indem sie nicht nur originale Tonspuren wiederabspielt, sondern zeitgenössischen Akteuren dabei folgt, wie sie neue Schichten hinzufügen, um Verbalisierung ringen und mit ihrer eigenen Stimme Abstrakta einen Körper geben. Die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Sprechen, intimer Liebesbekundung und theoretischem Abriss werden hierbei bewusst verwischt.
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6. Schluss: The (other) Legacy of Allan Kaprow?
Ähnlich wie bei Bruguera und Lacy wird auch bei Hayes das Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen und Kommunikation politisch konkreter gefasst als bei Kaprow in den 1970er-Jahren. Bei den hier skizzierten Positionen der 2000er-Jahre könnte man vielleicht davon sprechen, dass es politisch mutigere, zugleich identitätspolitisch angereicherte Wiederaufnahmen der um 1970 verhandelten Frage nach dem Politischen im Privaten und der Intimisierung des Politischen sind. Damit sei abschließend angedeutet, dass die vorliegende Untersuchung zu Kaprows Activities der 1970er-Jahre Ansatzpunkte für ein Weiterdenken vor allem auch in Verschränkung mit kultur- oder diskursgeschichtlichen und interdisziplinären Perspektiven bietet. Die Frage, welche Rolle die Sozialwissenschaften als Leitdisziplin in den Künsten ab 1960 spielten und wie dies mit dem Ansatz künstlerischer Forschung zusammenhängt, ist bislang nur an einzelnen Fallbeispielen diskutiert worden. Ebenso könnte es erhellend sein, den Psychoboom und die Selbstbefragungen beziehungsweise Innenschautrips
der Kunst in den Siebzigern einmal in einem größeren Bild zusammenzubringen. Als ein mit diesem Phänomen verwandter Bereich steht eine ausholende Studie zum Gebrauch des Tonbandgeräts und den experimentellen, dokumentarischen, therapeutischen und diskursiven Aufnahmepraktiken vor allem der 1970er-Jahre noch aus. Schließlich hat die vorliegende Studie mit dem Aspekt der Übung darauf hingewiesen, dass es in dem weiten Feld der Performance-Kunst durchaus sinnvoll sein kann, solche Phänomene gesondert zu betrachten, die an Übungen und Formen von Training erinnern. Das Nachdenken über Form und Anforderungen einer Übung kann gerade für den Bereich, in dem Performance und Partizipation eine Rolle spielen, neue Gesichtspunkte erschließen – deutlicher kann somit herausgestellt werden, was es bedeutet, wenn der Künstler nicht mehr als Stellvertreter deviante, riskante, expressive Unternehmungen aus- und vorführt, sondern jeden Einzelnen in die Pflicht nimmt, zuallererst an und mit sich selbst Kommunikations-, Gestaltungs- und Formierungsprozesse durchzuführen.
Partituren ausgewählter Activities der 1970er-Jahre
Die folgenden Partituren wurden von der Verfasserin auf Grundlage der hier aufgeführten Dokumente vollständig transkribiert. Es wird ergänzend lediglich auf die jeweils ersten Realisierungen verwiesen, wie sie in den gedruckten Broschüren von Kaprow angegeben sind. Laut Angaben in den Broschüren nahmen durchschnittlich zwischen zehn und zwanzig Personen an einer Realisierung teil und nutzten hierfür ihre Privatwohnungen oder selbst gewählte Orte.
P1 – Rates of Exchange, 1975
publiziert in gleichnamiger Broschüre (40,8 × 30,3 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, D’Arc Press New York City und Anna Canepa. Realisierung laut Broschüre im März 1975 in New York in Kooperation mit der Stefanotty Gallery. P2 – Time Pieces, 1973
Typoskript mit Fotografien von Alvin Comiter, getackert, Text in Englisch und deutscher Übersetzung, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24. Realisierung im Rahmen von ADA: Aktionen der Avantgarde, West-Berlin, September 1973. P3 – Comfort Zones, 1975
publiziert in gleichnamiger Broschüre (32,5 × 22,1 cm) mit Fotografien von Allan Kaprow, in Zusammenarbeit mit der Galeria Vandrès, Madrid, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. Realisierung laut Broschüre im Juni 1975 in Madrid. P4 – Loss, 1973
Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20. P5 – Satisfaction, 1976
publiziert in gleichnamiger Broschüre (27,9 × 21,5 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, in Zusammenarbeit mit M. L. D’Arc Gallery, New York City, und Anna Canepa, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27. Realisierung laut Broschüre im April 1976 in New York. P6 – Message Units, 1972
Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20. P7 – Routine, 1973
publiziert in gleichnamiger Broschüre (27,9 × 21,5 cm) von 1975 mit Fotografien von Alvin Comiter, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24. Realisierung laut Broschüre im Dezember 1973 in Portland in Kooperation mit dem Portland Center for the Visual Arts.
208
Partituren
P8 – Affect, 1974
publiziert in Englisch und italienischer Übersetzung in der Broschüre 2 Measures (33,8 × 24,5 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Martano Editore, Turin. Realisierung laut Broschüre im Oktober 1974 in Turin in Kooperation mit der Galleria Martano. P9 – Useful Fictions, 1975
publiziert in gleichnamiger Broschüre (29,6 × 21 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Schema Informazione Press, als Entwurf aufbewahrt in den Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27. Realisierung laut Broschüre im Dezember 1975 in der Umgebung von Florenz in Kooperation mit der Galleria Schema. P10 – Basic Thermal Units, 1973
Typoskript, siehe Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, Abb. 211–214. Realisierung im März 1973 in Essen, Duisburg, Bochum und Remscheid in Kooperation mit der Galerie Inge Baecker, Bochum. P11 – Maneuvers, 1976
publiziert in Englisch und italienischer Übersetzung in gleichnamiger Broschüre (32,3 × 24,4 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Framart / Studio, Neapel, Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Staatliche Museen zu Berlin, Sammlung Neue Buchkunst (Hanns Sohm). Realisierung laut Broschüre im März 1976 in der Umgebung von Neapel. P12 – Team, 1980
publiziert im Magazin High Performance, Bd. 3, Herbst/Winter 1980, anlässlich L. A .’s Public Spirit Performance Festival. P13 – 7 Kinds of Sympathy, 1976
publiziert in gleichnamiger Broschüre (27,9 × 21,5 cm) mit Fotografien von Bee Ottinger, Museum des 20. Jahrhunderts, Wien, Galerie Inge Baecker, Bochum, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 27. Realisierung laut Broschüre im März 1976 in Wien. P14 – Moon Sound, 1969
Typoskript, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 20.
Partituren – P1
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Rates of Exchange Reflecting A and B, each privately taping these questions looking into a mirror throughout: (speaking partner’s name), is your hair dirty is your brow creased with care do you see the soft glow in your eye are your cheeks hot is your nose pinched is your mouth generous do you have a weak chin is your neck attractive
is the body’s balance shifted, while walking, from leg to leg is as much weight on the left leg as on the right is the toe pointed up when putting the foot down does the back foot go down when the forward one comes up
repeating questions until end of tape examining face throughout
does muscle contraction in the calf cause vibration of the upper leg
exchanging tapes
do both feet leave the ground if one is walking fast
playing them back in private looking into mirror throughout
are both feet parallel when going through a walking action
Walking & Shaking
are the hips always level when stepping up or down
A and B, meeting A, taping these questions B, taping these answers (set by set, both recorders on)
does covering long distances affect the length of the stride
(B)
(A) is the foot one third the length of a step are there 500 equal steps to take
yes, there are small changes along the way yes, one foot is normally in a stabilizing position yes, the outside of the foot extends diagonally away from the line of forward movement
210
Partituren – P1
yes, the steps relative to distance are greater when the feet are small
playing tape of questions and answers throughout
yes, the knee is bent gently as the toe pushes the body forward
continuing process freezing motions for longer and longer times (well beyond end of tape) until no longer possible
yes, there is a slight tension in the arch and this readies the leg for its springing motion
*
yes, the ball of the right foot automatically lowers the gripping action of the toes on the ground
A and B, meeting again shaking hands very slowly freezing motions into segments holding each for a time carefully watching positions held
yes, there is a slight motion of the inside toe as it strikes the ground yes, short persons taking short steps tend to move more rapidly than tall persons
continuing process freezing motions for longer and longer times until impossible
Clothing yes, the wide toed shoes permit the natural spreading motion of the toes when walking yes, the city pavement alters the walking movement used in the country
A and B, each privately undressing and dressing taping these statements throughout: I’m removing my right shoe because it’s tight
repeating questions and answers until end of tapes
I’m removing my left one because it belongs with my right one
A and B separating each finding a private place to walk walking slowly carefully watching each step
I’m taking off my socks/ stockings to see my feet
gradually freezing walking motions into segments holding each for a time carefully watching positions held
I’m removing my shirt/ blouse to change it I’m taking off my pants/ skirt to be dry cleaned I’m removing my underwear because I’m warm
Partituren – P1
I’m undressed because it’s natural * I’m putting on my underwear because I’m naked I’m putting on my pants/ skirt to be more comfortable I’m putting on my shirt/ blouse for a change I’m putting on my socks/ stockings because I look ridiculous without them I’m putting on my shoes for added height I’m dressed to be seen
A and B, meeting A, playing B’s tape, undressing dressing (as B watches) B, doing same (as A watches)
211
212
Partituren – P2
Time Pieces Note: Time Pieces is arranged for any even number of participants. An initial meeting to discuss practicalities, and a review afterwards to exchange experiences and their implications, are considered part of the overall structure of the Activity.
Pulse Exchange
Breath exchange
turning on a tape recorder counting aloud one’s pulse for a minute (noting count) once again… and again… listening to tape
turning on a tape recorder breathing rapidly into mike for a minute counting breaths (noting count) once again… and again… listening to tape
telephoning a partner counting aloud one’s pulse for a minute (noting count) playing previous tape over phone
telephoning a partner breathing rapidly into mouthpiece for a minute counting breaths (noting count) playing previous tape over phone
partner doing same partner doing same meeting somewhere one counting aloud his/her pulse for a minute (noting count) once again… other counting aloud his/her pulse for a minute (noting count) once again…
climbing some stairs together turning on both tape recorders counting aloud, and together, each other’s pulse for a minute (noting count) listening to each tape recorders off counting aloud, and separately, each other’s pulse for a minute (noting count)
climbing some stairs together turning on both tape recorders each partner breathing into his/her mike for a minute counting breaths (noting count) listening to each tape recorders off again, each partner breathing for a minute countings breaths (noting count)
breathing into each other, mouth-to-mouth, for a minute drawing the breath in and out (noting count) once again… and again…
Partituren – P2
Pulse-Breath-Exchange turning on a tape recorder holding one’s exhaled breath for a minute counting pulse by tapping mike (noting count) once again… and again… listening to tape telephoning a partner holding inhaled breath for a minute counting pulse by tapping mouthpiece (noting count) playing previous tape over phone partner doing same
meeting somewhere each partner holding exhaled breath for a minute counting each other’s pulse by blinking eyes (noting count) climbing some stairs together turning on both tape recorders each partner holding inhaled breath for a minute each counting his/her pulse by tapping mike (noting count) listening to both tapes at once
again, climbing stairs together holding inhaled breath for a minute each counting his/her pulse (noting count) exhaling breath into plastic bag, sealing it once again, climbing stairs together inhaling each other’s bagged breath
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214
Partituren – P3
Comfort Zones A and B, thinking of each other telephoning when the thought is strongest caller saying only “now”
A and B, sitting silently in a room B, periodically turning off the light and later turning on the light A, trying to anticipate these decisions saying “now” when the thought comes strongest
A and B, pressing against either side of a closed door trying to fit the outline of each other saying, when the fit seems close, only “now” repeating again and again until certain
A, walking slowly toward standing B B, saying only “now” when A’s too close A, halting repeating again and again, testing whether the gap narrows or increases
B, rushing from a distance at standing A swerving at collision point repeating again and again trying to lock eyes A, saying “now” when eyes hold * * * B, instantly halting rush, holding A’s eyes until one or the other looks away
A and B, sitting down silently facing each other from a distance inching chairs toward each other locking eyes throughout until knees almost touch * * * each pressing hands to other’s hands increasing and releasing pressure until one says “now”
A and B on knees, facing head to head slowly and silently moving in a line across a space B, periodically drooling onto floor A, wiping it up locking eyes throughout repeating until B is dry B, saying “now”
A and B, slowly and silently walking toward each other Locking eyes throughout Pressing against each other Increasing and decreasing pressure slightly Both trying to anticipate these decisions Saying “now” when the thought comes strongest Until both by chance say “now” at once
(Note: sequence of parts are reverseable, beginning with part 8 and ending with part 1)
Partituren – P4
Loss drinking an amount of water boiling an amount of water waiting for an amount to be: urinated or evaporated telephoning someone doing the same: being telephoned by someone doing the same: to drink that amount of water or to add that amount of water to the water boiling continuing: drinking boiling urinating telephoning until the bladder is empty until the pot is empty
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216
Partituren – P5
Satisfaction 1
2
A, telephoning B, saying: this is – B, replying: unh-hunh hanging up
A (with B) saying to B: praise me (or) look at me (or) comfort me (or) feed me (or) kiss me (or) bathe me
B, telephoning A, saying: are you thinking of me A, replying: unh-hunh (or) unh-unh hanging up A, telephoning B, saying: I was thinking of you B, replying: unh-hunh hanging up B, telephoning A, asking: do you know how much I think of you A, replying: unh-hunh (or) unh-unh hanging up A telephoning B, saying: you must be thinking of me B, replying: unh-hunh hanging up
showing how B, answering: unh-hunh (or) unh-unh complying if agreeable A, repeating request or choosing another B, answering complying or not till options are exhausted
Partituren – P5
217
3
4
C and D (with A and B) saying to A: praise B (or) look at B (or) comfort B
C, telephoning A, saying: this is – A, replying: unh-hunh hanging up
showing how A, answering: unh-hunh (or) unh-unh complying if agreeable C and D, nodding or shaking heads C and D, repeating request or choosing another A, answering complying or not C and D, nodding or shaking heads till options are exhausted * * * C and D, saying to B feed A (or) kiss A (or) bathe A showing how B, answering: unh-hunh (or) unh-unh complying if agreeable C and D, nodding or shaking heads C and D, repeating request or choosing another B, answering complying or not C and D, nodding or shaking heads till options are exhausted
C, again telephoning A, asking: did you like me A, replying: unh-hunh (or) unh-unh hanging up C, again telephoning A, saying: I like you A, replying: unh-hunh hanging up * * * D, telephoning B, saying: this is – B, replying: unh-hunh hanging up D, again telephoning B, asking: did you understand me A, replying: unh-hunh (or) unh-unh hanging up D, again telephoning B, saying: I am really sad for you B, replying: unh-hunh hanging up
218
Partituren – P6
Message Units (night)
(day)
turning on a blinking light bulb calling someone phone ringing 10 times when answered, saying “I’ve turned on the 1st blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine one”
answerer turning off 1st blinking light bulb calling caller phone ringing 50 times when answered, saying “I’ve turned off the 1st blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine off ”
turning on 2nd blinking light bulb calling again phone ringing 20 times when answered, saying “I’ve turned on the 2nd blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine one”
turning off 2nd blinking light bulb calling again phone ringing 60 times when answered, saying “I’ve turned off the 2nd blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine off ”
turning on 3rd blinking light bulb calling again phone ringing 30 times when answered, saying “I’ve turned on the 3rd blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine one”
turning off 3rd blinking light bulb calling again phone ringing 70 times when answered, saying “I’ve turned off the 3rd blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine off ”
turning on 4th blinking light bulb calling again phone ringing 40 times when answered, saying “I’ve turned on the 4th blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine one”
turning off 4th blinking light bulb calling again phone ringing 80 times when answered, saying “I’ve turned off the 4th blinking light bulb” answerer saying “OK, I’ll turn mine off ”
Partituren – P7
219
Routine 1
3
standing somewhere facing a friend holding a large mirror
planning to meet a friend
trying to catch one’s reflection signalling to tilt the mirror variously until the reflection is caught both moving apart a few steps repeating process moving apart again and again repeating process until it’s no longer possible to see oneself
2 phoning a friend saying something asking that it be repeated hearing the reply holding the phone at arm’s length saying something else asking that it be repeated listening for the reply stepping away from the phone a bit saying something a bit louder asking that it be repeated listening for the reply moving off farther and farther each time saying something more loudly asking that it be repeated listening for the reply (asking again that it be repeated if one can’t hear) until it’s impossible to hear
both approaching from a distance turning around, walking backwards toward each other, looking into a pocket mirror until the reflection of both faces are very clear making an eye movement the other copying it copying again and again until tired making a mouth movement the other copying it copying again and again until tired moving apart (still looking into mirrors) repeating process moving apart again and again copying until face movements are no longer clear
4 phoning a friend saying something repeating it once or twice saying “OK, now let’s say it together” saying it, together, again and again until no longer possible being phoned by a friend hearing something said once or twice being asked to repeat it together saying it, together, again and again until repeating is no longer possible
220
Partituren – P7
5 looking at one’s eyes and mouth in a pocket mirror describing them to a friend on the phone friend doing same each staring at his/her reflected eyes without blinking staring at his/her opened mouth without closing it saying nothing hanging up when the eyes must blink when the mouth must shut
Partituren – P8
221
Affect 1
3
A (at home), putting both hands in water (one in hot, one in cold),
A, putting hand in cold water, until hands feels cold
until a hand feels hot and a hand feels cold
clasping B’s dry hand
removing hands, waiting for them to dry tape recording feelings throughout
separating hands, waiting for them to dry
* * *
B, tape recording feelings about A and B, throughout
B (also at home), doing same
A, getting into hot water until the body feels hot
2
pressing body to B’s dry body separating, waiting for bodies to dry
A and B (meeting), playing to each other their tapes B, tape recording feelings about A and B, throughout B, putting face in hot water, until face feels hot sitting in front of electric fan, until face is dry A, tape recording feelings about B, throughout
B, putting face in cold water, until face feels cold blowing hot air on face with hair dryer, until face is dry A, tape recording feelings about B, throughout A and B, listening to the tapes
A and B, listening to the tapes
222
Partituren – P9
Useful Fictions 1 A and B (close behind) walking up long hill (or flights of stairs) A, holding large mirror before face keeping eyes on B’s reflection, throughout B, copying A’s movements at top, A telling story of ascent tape recording it B, listening
B and A (close behind) walking forward down hill (or flights of stairs) B, holding mirror before face keeping eyes on A’s reflection, throughout A, copying B’s movements at bottom, B telling story of descent tape recording it A, listening B, alone, retelling story of ascent and descent recording this on tape
B and A (close behind) walking backward down hill (or flights of stairs) 3 B, holding mirror before face keeping eyes on A’s reflection, throughout A, copying B’s movements
A and B (close behind) walking back to back up long hill (or flights of stairs)
at bottom, A telling story of descent tape recording it B, listening
both holding large mirrors before faces keeping eyes on each other’s reflections, throughout copying each other’s movements
A, alone, retelling story of ascent and descent recording this on tape
at top, A telling story of ascent then B telling story of ascent tape recording them
2
B and A (close behind) walking back to back down hill (or flights of stairs)
A and B (close behind) walking backward up long hill (or flights of stairs) A, holding mirror before face keeping eyes on B’s reflection, throughout B, copying A’s movements at top, B telling story of ascent tape recording it A, listening
neither looking into mirrors copying what’s sensed of each other’s movements at bottom, each going own way when alone, telling stories of ascent and descent recording them on tape
Partituren – P10
223
Basic Thermal Units HEATING A BODY HEATING A ROOM
COOLING A BODY COOLING A ROOM
(for perhaps three hours adding layers of clothes one after the other feeling the body get warm
(for perhaps three hours lying in a bath decreasing the temperature of the water gradually adding ice feeling the body cool
phoning someone to raise their apartment’s heat by the increase felt in the warming body, e. g. 5°, 8°, 10°… phoning repeatedly until the body’s too hot or until the room’s too hot saying, or hearing, that the limit is reached) HEATING A ROOM COOLING A BODY (for perhaps three hours increasing the temperature of a room watching the thermometer’s rise, e. g. 5°, 8°, 10°… phoning someone to lower their body’s heat by shedding clothes by applying ice packs until the body feels 5°, 8°, 10°… cooler phoning repeatedly until the room’s too hot or until the body’s too cold saying, or hearing, that the limit is reached)
phoning someone to lower their room’s temperature by the decrease felt in the cooling body, e. g. 5°, 8°, 10°… by opening a door, a window, by using an air-conditioner… watching the thermometer’s fall phoning repeatedly until the body’s too cold or until the room’s too cold saying, or hearing, that the limit is reached) COOLING A ROOM HEATING A BODY (for perhaps three hours decreasing the temperature of a room by opening a door, a window, by using an air-conditioner… watching the thermometer’s fall, e. g. 5°, 8°, 10°… phoning someone to raise their body’s temperature by lying in a bath increasing the heat of the water until it feels 5°, 8°, 10°… warmer phoning repeatedly until the room’s too cold or until the body’s too hot saying, or hearing, that the limit is reached)
224
Partituren – P11
Maneuvers 1
3
A and B passing backwards through a doorway one before the other
A and B locating still another door
the other, saying you’re first passing through again moving in reverse the first, saying thank me being thanked locating four more doors repeating routine
2 A and B locating still another door both reaching to open it saying excuse me passing through together saying excuse me both reaching to close it saying excuse me backing in reverse to door both reaching to open it saying after you passing through together both reaching to close it saying after you locating four more doors repeating routine
passing through one before the other the first, saying I’ll pay you the second, accepting or not locating four more doors repeating routine
Partituren – P12
Team 1 two partners in the desert (a mile or so apart) (in touch by walkie-talkie) one, unrolling about a five-mile line to the east (moving right or left around obstacles) telling the other to unroll her/his line the same way (straight ahead, or so many paces to the right or left) partner complying execpt when obstacles prevent it (moving then to the right or left) telling the other to do the same each complying as much as possible continuing in this way until for each there is no more line
2 partners walking to the south and north finding the ends of each other’s lines
3 re-winding the line telling each other to move in the directions they find it (to the right, straight ahead or left) both winding continuing to make adjustments to the positions of each other’s lines until for each there is no more line
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Partituren – P13
7 Kinds of Sympathy A, writing occasionally blowing nose
(later) A and B, close together
B, watching copying A blowing nose continuing
B, holding tissue to A’s nose A, occasionally blowing into it B, clearing throat in reply continuing
(later) B, reading A’s writing occasionally scratching groin, armpit A, watching copying B scratching
(later) B and A, close together B, describing and pointing to itching in groin and armpit
continuing
A, scratching where B itches occasionally coughing
(later)
B, continuing description instructing A until relieved
A, examining something occasionally feeling something in pocket B, watching copying A feeling for something
A, occasionally coughing
(later) A, feeding silent B
continuing copying B’s mouth movements saying: open chew swallow (later) continuing B, examining A’s object occasionally coughing A, watching clearing throat in reply continuing
Partituren – P14
227
Moon Sound (desert dry lake bed moon sounds) the couple finds its PLACE (makes a large silver disc) (sits in center) (looks at moon in mirrors)
each other one finds his PLACE (makes a large silver disc) (sits in center) (looks at moon in his mirror)
moon sounds moon lights at the right time each one goes to find the couple at the right time the couple turns on a blinking light each one sits near couple’s silver disc (looks at couple in his mirror) couple looks at one another (listens to the moonsoaked ground listens) when the right time comes the couple leaves at that time each other one leaves (desert dry lake bed night) (cloud sounds) (rain sounds) looking the couple finds their PLACE (waits watches) each other one finds his PLACE (ignites flares looks as it listens) lights burn out night sounds couple ignites two flares (looks at one another) the others come to couple sit and watch flares burn out listening listening departure
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1973, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker. Müller, Brief an Kaprow, 1975 – Johann Heinrich Müller, Brief an Allan Kaprow, 1.12.1975, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26. Rachel, Aussagen über Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, 2008 – Vaughan Rachel, Aussage über die Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles. Rahmani, Aussagen über Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, 2008 – Aviva Rahmani, Aussage zu ihrer Wahrnehmung Kaprows am CalArts in den 1970er-Jahren im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles. Ruhrberg, Brief an Baecker, 1980 – Karl Ruhrberg, Brief an Inge Baecker, 3.9.1980, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker. R., Text zur Basic Thermal Units-Realisierung, 1973 – A. R., handschriftlicher Text zur Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19. Simpson, Aussagen über Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, 2008 – Sylvia Simpson, Aussage über die Realisierung von 7 Kinds of Sympathy, im Rahmen eines öffentlichen Gesprächs anlässlich der Retrospektive Art as Life, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 2008, Aufzeichnung aufbewahrt im privaten Videoarchiv von Peter Kirby, Los Angeles. U., Protokoll zur Basic Thermal Units-Realisierung, 1973 – U., maschinenschriftliches Protokoll zur Realisierung von Basic Thermal Units in Bochum 1973, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19, 0203. [Unbekannt], Anmerkungen Time Pieces-Realisierung, 1973 – [Unbekannt], handschriftliche Anmerkungen auf der Partitur zu Time Pieces während der Umsetzung in Berlin, 1973, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 24. [Unbekannt], Notiz zur Basic Thermal Units-Realisierung, 1973 – Notizzettel (deutschsprachig) mit Zeit- und Temperaturangaben, entstanden während der Realisierung von Basic Thermal Units im Ruhrgebiet 1973, ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19. [Unbekannt], Rates of Exchange-Aufnahmen, 1975 – Audioaufnahmen der Umsetzung von Rates of Exchange, 1975, maschinengeschriebene Transkription, Allan Kaprow Papers, Getty Research Institute, Los Angeles, Series III., Project Files, Box 26.
Register
Personen Abramović, Marina und Ulay 86, 139–141, 143 Acconci, Vito 139, 141–143 Arendt, Hannah 34, 87 Baecker, Inge 57, 65 (Anm. 6), 74, 145, 147 Birdwhistell, Ray 160 (Anm. 39) Brecht, George 80, 81, 82, 153 Bruguera, Tania 204, 206 Cage, John 22, 32, 80, 81 Crane, Coryl 50, 125–126, 128, 184–187 Crary, Jonathan 173, 174, 177, 181–183 Debord, Guy 32, 33, 35 Dewey, John 1, 2, 16 Disney, Walt 44, 46, 47, 48, 50, 55, 76, 177 Duchamp, Marcel 156–157 Forti, Simone 93, 95 Fried, Michael 36–37 Garfinkel, Harold 17, 116, 166, 170–171, 192 Goffman, Erving 17, 116, 126, 159, 166–169, 172, 192, 199
Graham, Dan
135–136
Activities und Happenings Affect 5, 121–123, 126, 139, 143, 172, P8 Basic Thermal Units 69 (Anm. 12), 74, 145–157, 192, P10
Comfort Zones 101–113, 139, 140, 143, P3 Fluids 33–35 Gas 26–28 Homemovies 63 (Anm. 2), 192–193 Loss 114–115, P4 Maneuvers 160–165, 170, 171, 181, P11 Message Units 118, 190 (Anm. 162), P6 Moon Sound 63 (Anm. 2), 193–194, P14
Begriffe Activity 2, 37, 59–62, 63, 76, 83, 164, 171, 172, 177, 181 Beobachtung, teilnehmende 158–160, 170, 176, 183 Consciousness-Raising 10, 18, 124, 178–181
Hayes, Sharon 205–206 Hockney, David 42 Jonas, Joan 134–136 Kawara, On 93 Kelly, Mary 124–125 Kirby, Peter 28 (Anm. 23), 70, 189 Lacy, Suzanne 204–205, 206 Lasch, Christopher 10, 198, 204 Lewin, Kurt 174–178 Maciunas, George 26, 47 (Anm. 102), 80, 81 Nauman, Bruce 95–96, 97, 98 Ono, Yoko 80, 81–82 Pollock, Jackson 22, 23 Rainer, Yvonne 93, 94–95, 96 Reckwitz, Andreas 5, 18, 190–191, 195–196 Ruscha, Ed 42 Schapiro, Meyer 21, 49, 180, 200 Sennett, Richard 10,198, 204 Szeemann, Harald 37–38 Warhol, Andy 12, 32, 123–124, 125, 164
Publicity 28–29 Rates of Exchange
63–67, 70–72, 74–76, 77–79, 88–90,
96, 101, 157, 160, P1
Routine 68 (Anm. 9), 118–121, P7 Satisfaction 116, 181–182, 187, P5 Team 18, 63 (Anm. 2), 184–187, P12 Time Pieces 17, 71–73, 90–93, 96, 192, P2 Useful Fictions 124–134, 135, 136–139, 141, 143, P9 3rd Routine 160 7 Kinds of Sympathy 69 (Anm. 14), 187–189, P13
Experiment, experimentell
82, 88, 145, 152–154, 156,
170
Feedback 192
9, 28, 126, 130, 132, 135–136, 160, 176–179, 181,
242
Register
Feminismus
8, 23, 49, 164 (Anm. 43), 165, 179–180, 189,
205
Forschung, künstlerische
17, 46, 153–154, 156–156,
171, 173, 206
Intimität
3, 5, 8–10, 17, 61, 101, 108–109, 137, 143,
195–197, 198–199
Kleingruppe
Performance 30, 31, 36, 46, 60, 86–87, 96, 143, 168, 206 Sozialität 11, 167, 204 Soziologie des Alltags 17, 162, 165–166, 171 Spektakel 12, 13, 31, 32–33, 35, 37, 203 Spiegel 64, 120–121, 126, 128–137, 194 Tape Recorder/Tonbandgerät 71, 74–75, 121–124,
10, 17, 18, 114, 174, 176, 179, 180, 192, 196,
199
Partitur als Prinzip (score) 63, 77, 79–83, 90 Partitur als Broschüre mit gestellten Fotografien (booklet) 58, 63, 65–70, 72–74, 77–79 Partitur als Video 69 (Anm. 14), 70–72
126, 128, 206
Telefon Übung
17, 90, 102, 114–121, 128, 145, 182, 186 2, 9, 17, 83–87, 88, 91, 93, 96, 97, 99, 126, 169, 171, 195, 197, 206
Videokunst
28, 45, 70, 130, 132, 204
Abbildungsnachweise
Für alle Werke von Allan Kaprow gilt © Allan Kaprow Estate. Courtesy Hauser & Wirth. Genaue Angaben zu Fotografen, beteiligten Galerien und Aufbewahrungsort der Archivalien sind im Partiturenanhang zu finden. Abb. 1, 12, 20, 22, 24, 26, 27, 28, 43, 46, 48, 69, 72, 74: Privatbesitz Wörsdörfer, Reproduktion: Servicezentrum Digitalisierung und Fotodokumentation (SDF) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Abb. 2, 16, 19, 25, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 76: Getty Research Institute, Los Angeles (980063), © J. Paul Getty Trust. Abb. 3: Fotografie: Vaughan Rachel, Flaunt Magazine, Nr. 93, 2008, S. 74–83, hier S. 76. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 4: Fotografie: Ken Heyman. Abb. 5: Fotografie: Peter Moore, © Northwestern University, aus: Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004, S. 107. Abb. 6: Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, S. 185. Abb. 7: Fotografie: Burton Berinsky, aus: Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004, S. 118. Abb. 8: Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004, S. 150. Abb. 9: Fotografie: Dennis Hopper, aus: Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004, S. 102. Abb. 10: The California Institute of the Arts Photographic Materials Collections, 1964–1993, CalArts-004, Series 1, Negatives, Box 1, Folder 28, Courtesy of California Institute of the Arts Library and Institute Archives. Abb. 13: Larissa Arlt, Servicezentrum Digitalisierung und Fotodokumentation der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Abb. 15: Time Pieces. Videokunst seit 1963, hg. von Marius Babias, Kathrin Becker und Sophie Goltz, Neuer Berliner Kunstverein, Köln 2013, S. 137. Abb. 17: Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, S. 41. Abb. 18, 61: Fotografie: Lothar Wolleh © Lothar Wolleh Estate, Berlin. Aus: Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, S. 215 & 217. Abb. 23: Getty Research Institute, Los Angeles, © 1960 by Henmar Press Inc., New York. Abb. 29: L’Attico Archive, Fabio Sargentini, aus: Simone Forti. Mit dem Körper denken, hg. von Sabine Breitwieser, Ausst.-Kat. Salzburg, Museum der Moderne, München 2014, S. 53. Abb. 30: Bruce Nauman. Disappearing Acts, hg. von Kathy Halbreich, Ausst.-Kat. Basel, Laurenz-Stiftung, Schaulager, 2018, S. 83. Abb. 44, 45, 71: Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Sammlung Neue Buchkunst (Hanns Sohm). Abb. 47: Mary Kelly, Post-Partum Document, London, Boston und andere 1983, Innencover. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 49, 50: Getty Research Institute, Los Angeles (980063), © Galleria Schema. Abb. 51: Fotografie: Peter Moore, © Northwestern University, aus: Joan Jonas. Performance Video Installation, 1968–2000, hg. von Johann-Karl Schmidt, Ausst.-Kat. Galerie der Stadt Stuttgart, Ostfildern-Ruit 2001, S. 43. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023.
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Abbildungsnachweise
Abb. 52: Cristina Albu, Mirror Affect. Seeing Self, Observing Others in Contemporary Art, Minneapolis und London 2016, S. 119. Abb. 53: Out of Actions. Zwischen Performance und Objekt 1949–1979, hg. von Paul Schimmel, Ausst.-Kat. The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, Ostfildern 1998, S. 101. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 54: Vito Acconci. Diary of a Body, 1969–1973, hg. von Vito Acconci, Sarina Basta und Garrett Ricciardi, Mailand 2006, S. 195. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023. Abb. 55: Wärme- und Kälteeinheiten. Allan Kaprow in Deutschland, hg. vom Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Nürnberg 2011 (sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels), S. 52. © Inge Baecker, ZADIK, A004, X, 15. Abb. 56: Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, S. 232. Abb. 57, 59, 60: Wärme- und Kälteeinheiten. Allan Kaprow in Deutschland, hg. vom Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Nürnberg 2011 (sediment. Mitteilungen zur Geschichte des Kunsthandels), S. 64. © Timm Rautert, ZADIK A4, X, 14. Abb. 58: Ebd., S. 55. © Inge Baecker, ZADIK, A4, X, 14. Abb. 62: Ebd., S. 60. © Lothar Wolleh Estate, Berlin. ZADIK, A4, X, 17. Abb. 63, 66, 67, 68: Fotografie: Wörsdörfer, Aufbewahrungsort: ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19. Abb. 64, 65: ZADIK | Zentralarchiv für deutsche und internationale Kunstmarktforschung, Universität zu Köln, Bestand Galerie Inge Baecker, A4, VIII, 19. Abb. 70: Jeff Kelley, Childsplay. The Art of Allan Kaprow, Berkeley und Los Angeles, London 2004, S. 192. Abb. 73: Allan Kaprow. Art as Life, hg. von Eva Meyer-Hermann, Andrew Perchuk und Stephanie Rosenthal, Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst, 2006, London 2008, S. 276. Abb. 75: Ebd., S. 210. Abb. 77: Fotografie: Robert R. McElroy, Getty Research Institute, Los Angeles. Nicht in allen Fällen ist es der Verfasserin gelungen, etwaige Rechteinhaber ausfindig zu machen und zu kontaktieren.