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German Pages 703 [704] Year 1987
Gerhard Schulz Zwischen Demokratie und Diktatur
Gerhard Schulz
Zwischen Demokratie und D i k t a t u r Verfassungspolitik und Reichsform in der Weimarer Republik
Bandi
W DE
G Walter de Gruyter • Berlin • New York 1987
Gerhard Schulz
Zwischen Demokratie und Diktatur Die Periode der Konsolidierung
und der
Revision
des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919 —1930
Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage
w G DE
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1987
Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — p H 7, neutral)
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Schulz, Gerhard: Zwischen Demokratie und Diktatur : Verfassungspolitik u. Reichsreform in d. Weimarer Republik / Gerhard Schulz. - Berlin ; N e w York : de Gruyter Bd. 1. Schulz, Gerhard: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919-1930. - 2., durchges. u. erg. Aufl. - 1987
Schulz, Gerhard: Die Periode der Konsolidierung und der Revision des Bismarckschen Reichsaufbaus 1919-1930 / Gerhard Schulz. - 2., durchges. u. erg. Aufl. - Berlin ; N e w York : de Gruyter, 1987. (Zwischen Demokratie und Diktatur / Gerhard Schulz ; Bd. 1) ISBN 3-11-011558-1
© 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikropie) zu vervielfältigen Satz: T h o r m a n n & Goetsch, Berlin/Werner Hildebrand, Berlin D r u c k : Werner Hildebrand, Berlin Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin Printed in G e r m a n y
VORWORT ZUR ZWEITEN
AUFLAGE
Dieses Buch ist seit einer Reihe von Jahren vergriffen. Häufige Nachfragen, denen auch der Wunsch des Verlages entsprach, haben eine Neuauflage seit langem nahegelegt. D a jedoch — nach der Vorstellung des Verlages — die zweite Neuauflage in enger zeitlicher Verbindung mit dem zweiten Band dieses Werkes erscheinen sollte, dessen Abschluß sich erheblich verzögerte, wird dieser Band nun erst nach einer größeren Zeitspanne in neuer F o r m vorgelegt. Zu einer durchgehenden Neubearbeitung bestand kein Anlaß, wenn auch weiter voranschreitende Forschungen in verschiedenen Punkten, zu Teilgebieten oder Unterthemen Ergänzungen und zusätzliche Aufhellungen gegeben haben, was in der Natur der Sache liegt; die bibliographische Anmerkung, die dem Dokumentenanhang folgt, gibt die wichtigsten Hinweise. Zu erwähnen ist, daß ein Teil der in diesem Buche zitierten Akten inzwischen Eingang in größere Quelleneditionen gefunden hat, mithin gedruckt vorliegt, allerdings in geringerem Umfang, als wohl von der Sache her möglich gewesen wäre. Auch dies kann mit Hilfe der bibliographischen Anmerkung leicht ermittelt werden. Im übrigen wurde der T e x t durchgesehen und konnten Druckfehler beseitigt werden. Im Unterschied zur ersten Auflage ist diesem Band ein Register der Namen beigegeben. Tübingen, im Sommer 1987
Gerhard Schulz
AUS DEM VORWORT ZUR E R S T E N
AUFLAGE
Die Darstellung, die hier vorgelegt wird, geht auf eine Abhandlung zurück, die im Jahre 1958 entstand. Sie stand in einem engen Zusammenhang mit einer anderen Untersuchung des Verfassers, die in dieser Zeit abgeschlossen wurde und inzwischen erschienen ist und die sie historisch ergänzen sollte 1 . N o c h vor der Fertigstellung waren die für die Behandlung des gewählten Themas höchst belangvollen Akten der ehemaligen Reichskanzlei nach Deutschland zurückgelangt, so daß der Entschluß zu einer nicht übermäßig aufwendigen, zeitlich begrenzbaren und dennoch intensiven Durcharbeitung innerhalb des gesetzten Rahmens einige Früchte versprach. Die Wirkung der außerordentlich problematischen Reich-Länder-Beziehungen in der inneren Politik der Weimarer Republik 2 ist in jüngster Zeit bereits stärker in Forschung und Erörterung einbezogen worden. Arnold Brecht hat erstmals den Rahmen der von Regionalproblemen ausgehenden Untersuchungen durchbrochen und aus seinen Erfahrungen im Reichs-
1
Gerhard Schulz, Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates, in dem gemeinsamen
Band von Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer, Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln u. Opladen 1960, 2. Aufl. 1962, S. 3 7 1 - 6 8 4 . 2
Die Gliederungsproblematik ist zum ersten Male von Walther Vogel, Deutsche Reichsglie-
derung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 1932, ausführlich dargestellt, die Ergebnisse ihrer Erörterung sind zuletzt von Wolfgang Kothe, Die Gedanken zur Neugliederung des Reiches 1918—1945 in ihrer Bedeutung für Nordwestdeutschland: Westfälische Forschungen. Mitteilungen des Provinzialinstitutes für westfälische Landes- und Volkskunde, 6 Bd./1943—1952. Münster und Köln 1953, S. 1 8 2 - 196, in einem Überblick behandelt worden. Eine Einordnung der Reichsreformbestrebungen in die politische Geschichte der Weimarer Republik hat zuerst Arnold Brecht, Federalism and Regionalism in Germany. The Division of Prussia, N e w Y o r k 1945 (deutsche Ubersetzung: Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preußens, Bonn 1949), danach Karl Dietrich Bracher versucht: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 3. Aufl. Villingen 1960, S. 559-71. U m die Darstellung des Föderalismus- und Länder-Problems im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte hat sich vor allem Geoffrey Barraclough, Factors in German History, O x f o r d 1946 (deutsche Ubersetzung von Heinrich Mitteis: Tatsachen der deutschen Geschischte, Berlin 1947) bemüht.
VIII
Aus dem
Vorwot
zur ersten
Auflage
Innenministerium wie im preußischen Ministerialdienst einiges beigetragen 3 . Waldemar Besson verfaßte eine abgerundete Untersuchung des Beipiels Württembergs in den Grenzen einer „deutschen Staatskrise" 4 ; immerhin hat dieses Buch die Ergänzungsbedürftigkeit des bei weitem vorherrschenden Bildes von der inneren Entwicklung der Weimarer Republik offenkundig gemacht. Bedeutsam ist auch die Behandlung der bayerischen Politik von Karl Schwend 5 , eine politisch sorgfältig abgewogene Darstellung, der eine staatsmännische Absicht nicht zu Unrecht bescheinigt worden ist 6 . Die politischen und persönlichen Erinnerungen eines anderen bayerischen Politikers, des ehemaligen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner 7 , geben in vielen Punkten außerordentlich wertvolle Ergänzungen. Stellung, Politik und Hegemonie Preußens im Föderativsystem der Weimarer Republik, das freilich von dem des Bismarck-Reiches erheblich abwich, sind jedoch bislang im allgemeinen wie im einzelnen systematisch nicht untersucht und berücksichtigt worden, Dieses Buch wendet daher diesem Komplex, den der Verfasser für den wichtigsten neben der Politik der Reichszentralgewalt hält, einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit zu. Die Archivbestände des Preußischen Staatsministeriums in der Verwahrung des Hauptarchivs Berlin-Dahlem, des ehemaligen Preußischen Geheimen Staatsarchivs, ermöglichten die erste eingehende Unterrichtung und Orientierung, luden aber auch zur weiter vordringenden Untersuchung ein. Berufung und Ubersiedlung nach Tübingen haben die Veröffentlichung verzögert. Umfang und Bedeutung der im Fluß befindlichen Diskussion über die letzten drei Jahre der Weimarer Republik und die ihnen folgende nationalsozialistische Machtergreifung haben neben äußeren Gründen den Entschluß zu einer Teilung des Werkes reifen lassen. Tübingen, im Sommer 1963
3
Gerhard Schulz
Neben dem oben genanten Buch auch in: Prelude to Silence. The End of the German Repu-
blic, N e w Y o r k 1944 (deutsche Ubersetzung: Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der deutschen Republik, Wien 1948, S. 7 7 - 8 6 ) . 4
Waldemar Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928—1933. Eine Studie zur
Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959. 5
Karl Schwend, Bayern zwischen Monarchie und Diktatur. Beiträge zur bayerischen Frage
in der Zeit von 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , München 1954. 6
Heinz Gollwitzer, Bayern 1 9 1 8 - 1 9 3 3 : V j Z 3.Jg/1955, S. 367 f.
7
Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution,
München 1958; und zur Ergänzung: D e r schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten, München 1959.
I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
Verzeichnis der Abkürzungen Einleitung: U b e r Geschichtsverständnis und politische Begriffsbildung
XIII 1
Erster Teil: Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar Erstes K a p i t e l : Die parlamentarischen K r ä f t e und ihre Bündnisse Die „improvisierte D e m o k r a t i e " 21 — Politische Lage und historische Rolle der Sozialdemokratie 26 — Beamtentum und Staatsgewalt in der R e v o lution 39 — Die Regierung der Volksbeauftragten 45 — Das Bündnis mit der Obersten Heeresleitung 54
21
Zweites K a p i t e l : Das Zwischenspiel der Rätebewegung Arbeiter- und Soldatenräte ohne System 65 — Friedrich Ebert und der P r i m a t der Konsolidierung 80 — D a s Ende der Rätebewegung 96
65
Drittes K a p i t e l : Die Länder und die Reichsverfassung Verfassungspolitische A n f ä n g e in den Koalitionsparteien 101 — Reichsgewalt und Länder in den ersten Verfassungsentwürfen (Max Weber und H u g o Preuß) 114 — „Souveräne N a t i o n a l v e r s a m m l u n g " und Staatenpolitik 142 — Staatenausschuß. N o t v e r f a s s u n g . Verfassungsausschuß 149
101
Viertes K a p i t e l : A n f ä n g e der Gegenbewegung Bayern und die süddeutsche Opposition 174 — Interregnum und gegenrevolutionäre Bewegung in Bayern. Auswirkungen in Weimar 182
174
F ü n f t e s K a p i t e l : Abschluß und Ergebnis
194
Zweiter Teil: Reichspolitik und Föderalismus Sechstes K a p i t e l : Die A n f ä n g e der zentralistischen Reichspolitik und ihre Gegner Erzbergers Reichsfinanzreform. Die Phase der Zentralisation 215 — Bayerische Kritik. Der „Rechtsstandpunkt" 227 — Behauptung und Position des preußischen Staates 234 — Am R a n d e eines Konfliktes 244 Siebentes K a p i t e l : P r o g r a m m e der Dezentralisation und Autonomiebestrebungen in Preußen Grenzen des Reichszentralismus. Verwaltungsreform und Dezentralisation in Preußen (Erich Koch-Weser, Bill Drews) 249 — Ostpreußischer Autonomismus 266 — Bezirkswirtschaftsräte 297 — Die „Zentralstelle f ü r die Gliederung des Reiches" 302 — Rheinische Autonomiebestrebungen w ä h r e n d der Ruhrkrise 310
215
249
X
Inhaltsverzeichnis
Achtes Kapitel: D e r erste Konflikt. Preußen, Bayern u n d die Einwohnerwehren (1920/21) Fragwürdige politische H o m o g e n i t ä t in Reich und L ä n d e r n 320 — Machtverschiebung in Bayern 328 — Die E i n w o h n e r w e h r e n 333 — E n t w a f f n u n g
320
und Auflösung 349 Neuntes K a p i t e l : D e r zweite u n d der dritte Konflikt. Vom Erzbergermord bis zum Berliner Protokoll (1921/22) Der Konflikt nach der Republikschutzverordnung vom 29. August 1921 364 — Graf Lerchenfelds Politik der Sicherung des Möglichen. Republikschutzgesetz 370 — Das „Berliner P r o t o k o l l " 383 — Bayerische Reaktionen. Verschärfung. N e u e Verhandlungen 393 Zehntes K a p i t e l : Konflikt und Krise 1923 „Das Reich wird auseinanderregiert". Bayerische Rechtsverbände u n d „proletarischer Selbstschutz" 404 — Reichswehr und preußische Exekutive 416 — Ausnahmezustand im Reich. Generalstaatskommissariat in Bayern 421 — Reichsexekution gegen Sachsen 435 — Beendigung des bayerischen K o n fliktes. Ministerpräsidentenkonferenz. Novemberputsch. H o m b u r g e r Vereinbarungen 440
364
404
Dritter Teil: Tendenzen und Probleme einer Reichsreform 1924—30 Elftes K a p i t e l : Reichsexekutive, Reichswehr und Reichspräsident zu Beginn des zweiten J a h r f ü n f t s Entspannung u n d Machtverschiebung im Reich. Reichsreform statt Verfassungspolitik 453 — Erörterung der bayerischen Denkschrift v o m J a n u a r 1924 457 — Konzeptionen der R e i d i s w e h r f ü h r u n g 462 — Versuche einer Revision des Artikels 48 470 — Unitarismus u n d Föderalismus als politische P r o g r a m m e 477 Zwölftes K a p i t e l : Das preußische Problem bis 1927. Dualismus, Hegemonie oder Reichsland Voraussetzungen 486 — Preußische Politik zwischen Reichsregierung u n d L ä n d e r n . O t t o Braun als Ministerpräsident 494 — Zentrumspläne f ü r ein „Reichsland" Preußen 509 Dreizehntes K a p i t e l : Verwaltungs- und Verfassungsvereinfachung und die Anfänge der S p a r d i k t a t u r (1920—27) V e r w a l t u n g s r e f o r m p l ä n e des „ S p a r d i k t a t o r s " 1920 516 — Verwaltungsabbau u n d Dezentralisation. Saemischs Ideal des liberalen Beamtenstaates 527 — D e r Einfluß des Reichssparkommissars und seine Kritiker 538 — D e r unsichere Finanzausgleich. Biersteuerstreit. Besoldungsreform 1927 543 Vierzehntes K a p i t e l : Entstehung und Bedeutung eines gemeinsamen P r o g r a m m s zur Reichsreform (1928—30) A n k ü n d i g u n g einer L ä n d e r k o n f e r e n z 564 — Ein Vorstoß des Reparationsagenten 568 — Großindustrielle F o r d e r u n g e n : Verfassungsänderungen u n d F i n a n z n o t m a ß n a h m e n 574 — Vorbereitungen zur L ä n d e r k o n f e r e n z . Deutschnationale Tendenzen zur allgemeinen Verfassungsreform 577 — D e r Verfassungsausschuß der L ä n d e r k o n f e r e n z vom J a n u a r 1928 585 — Die „diffe-
453
486
516
564
Inhaltsverzeichnis
XI
renzierte Gesamtlösung" 592 — „Juristenkampf" und Staatsdenken im verfassungspolitischen Dilemma 606 Bibliographie
613
DOKUMENTENANHANG I. Reichspolitik und Länder im F r ü h j a h r 1923: Denkschrift des Staatssekretärs in der Reichskanzlei, H a m m , für Reichskanzler Cuno vom 15. April 1923 über die politische Lage und die Ziele der Reichsregierung (Bundesarchiv, Bestand R 43 1/2738)
633
II. Reichsexekutive und Diktaturermächtigung 1926: Stellungnahme des Reichspräsidenten v. Hindenburg f ü r Reichskanzler Marx vom 22. November 1926, mit Paraphe von Marx (Bundesarchiv, Bestand R 43 1/1870)
647
III. Zur Vorgeschichte der Länderkonferenz im Januar 1928 (Bundesarchiv, Bestand R 43 1/1873): Aide-mémoire des Reichsverbandes der Deutschen Industrie für Reichskanzler M a r x vom 23. November 1927 zur Ausgabewirtschaft der öffentlichen Hand
659
Vermerk über eine Besprechung zwischen Reichskanzler Marx, Vertretern der Reidisregierung und Vertretern des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 24. November 1927 über Wirtschaftspolitik und Verfassungsreform
665
Aktenvermerk über einen Vortrag des Reichssparkommissars Saemisch bei Reichskanzler Marx am 17. Dezember 1927 über Verfassungs- und Verwaltungsreform
673
Bibliographische Anmerkung zur Neuauflage Personenregister
679 683
V E R Z E I C H N I S D E R IM ANMERKUNGSAPPARAT BENUTZTEN ABKÜRZUNGEN
Anl BA BStZ
=
Anlage(n) Bundesarchiv zu Koblenz Bayerische Staatszeitung
BVP
=
Bayerische Volkspartei
ChefB DDP
=
Chefbesprechung Deutsche Demokratische Partei
= =
--
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—
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=
DNVP DrS DStP DVP GS HAB
= = = = = —
HBDStR
Deutscher Geschichtskalender, hrsg. von Friedrich Purlitz: Die deutsche Revolution, 4 Hefte Deutsche Juristenzeitung Deutschnationale Volkspartei Drucksachen (des) Deutsche Staatspartei Deutsche Volkspartei Preußische Gesetzsammlung Hauptardiiv (ehemaliges archiv) Berlin-Dahlem
Geheimes Preußisches
Staats-
Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, 2 Bde., Tübingen 1930 u. 32
HWB HZ JböR KPD NiedVRR NSDAP PLT
=
= =
= =
Handwörterbuch Historische Zeitschrift Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Kommunistische Partei Deutschlands Niederschriften der Vollsitzungen des Reichsrats
PrPStM PrRM
=
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Preußischer Landtag Sitzungsprotokolle des Preußischen Staatsministeriums
=
Protokoll der Sitzung des Reichsministeriums
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—
RGBl I RMB
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= =
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Protokoll der Sitzung des Reichskabinetts beauftragten
Reichsministerialblatt Reichstag(s)
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Reichsverfassung SA (Sturmabteilung) der N S D A P Sitzungsberichte des) Sozialdemokratische Partei Deutschlands
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=
Stenographische Berichte
=
Strafgesetzbuch
= =
Volks-
Reidisgesetzblatt (Teil I) Ministerbesprechung (Besprechung der Reichsminister)
RV SA SB er SPD
=
der
XIV Stresemann SS UuF
USP Vh VjZ VNV VORPräs Voss VPLV WPer WTB ZgSt ZPol
Abkürzungen Gustav Stresemann, Vermächtnis, hrsg. von Henry Bernhard, 3 Bde., Berlin 1932/33 SS (Schutzstaffel) der N S D A P Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands und der Gegenwart, eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, herausgegeben und bearbeitet von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler, Band III Unabhängige Sozialdemokratische Partei Verhandlungen Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung Verordnung des Reichspräsidenten Vossische Zeitung Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung Wahlperiode Wolff's Telegraphisches Büro Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Zeitschrift für Politik
ZITIERWEISE
Die Abkürzung a. a. O. wird nur verwendet, wenn ein in der voraufgegangenen Anmerkung zitierter Titel gemeint ist; die Abkürzung ebda, bezieht sich auf die gleiche Stelle (Seite bzw. Aktenstück) des in der voraufgegangenen Anmerkung bezeichneten Titels. Zitate aus Druckschriften werden mit der Seitenangabe S., aus ungedruckten Quellen, soweit sie paginiert sind, mit der Seitenangabe pag. oder, falls nur die Blätter gezählt sind, mit der Bezeichnung fol. r. ( = recte für die Vorderseite) oder jol.v. ( = verso für die Rückseite) vermerkt. Datierungen, die in Quellen enthalten sind, werden mit arabischen Zahlen (z. B. 3. 12. 1920), die übrigen mit ausgeschriebenen Monatsnamen angegeben (z. B. 3. Dezember 1920).
EINLEITUNG
Uber Geschichtsverständnis und politische Begriffsbildung D i e große Rolle, die die politische Wissenschaft in Deutschland im Kreise der überkommenen Geisteswissenschaften zu übernehmen sich anschickt, stellt dem Historiker neue, überaus fruchtbare Fragen, die ihn nicht nur seine Gewohnheiten, sondern auch sein Rüstzeug und das höchsteigene Interesse, durch das er sein T u n bestimmt sein läßt, zu überprüfen zwingt. Wenn Friedrich Meinecke schon bald nach der J a h r h u n d e r t w e n d e dem Historiker das B a d in der Politik ane m p f a h l mit Worten, denen der Schmelz des gewinnenden Optimismus anhaftet und die keinen Zweifel d a r a n lassen, daß Meinecke hiervon eine Verjüngungskur der gesamten Historikerschaft erhoffte, so wird der Historiker heute gemeinsam mit der politischen Wissenschaft den Weg in den letzten R a u m politischer Vergangenheit durch ein weites, noch zu sichtendes u n d zu eroberndes Feld sozialer Realien nehmen müssen. „ D i e Belehrung geht mit der Beziehung verloren, und die Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu sein, muß sich mit einem armseligen Verdienste um unsre Neugier begnügen", schrieb der Dichter, der zugleich u n d mit starkem H e r z e n Historiker w a r , Friedrich Schiller, im „Verbrecher aus verlorener E h r e " . Soll die Geschichte mehr sein, so muß sie wählen: „ E n t w e d e r der Leser muß w a r m werden wie der H e l d " — Schiller nannte „diese Manier . . . eine U s u r p a t i o n des Schriftstellers"; sie „beleidigt die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es z u k ö m m t , selbst zu Gericht zu sitzen", — oder „ d e r H e l d muß k a l t werden wie der Leser, . . . wir müssen mit ihm bekannt werden eh er handelt." „ D e r Freund der W a h r h e i t . . . sucht sie in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele u n d in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmen, und in diesen beiden findet er sie g e w i ß " . D i e „ H e l d e n " unserer Historie sind nicht mehr nur Personen, nicht mehr nur einzelne Menschen. Die „unveränderliche Struktur der menschlichen Seele" ist einzig in einem Gesamten deutungsfähig; und „die veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen" bestimmen, verweisen in den weiten Hinter1
Schulz I
2
Einleitung
grund der sozialen Beziehungen. Hinter dem einzelnen suchen wir nach dem Größeren, nach dem Bedingenden, hinter dem Ephemeren die Zusammenhänge, hinter dem persönlichen Zeugnis die Persönlichkeit, und im Persönlichen suchen wir immer auch die Struktur der Zeit zu entdecken. Im Strukturellen aber suchen wir auch das Drama, das Institutionen, Interessen, Ideen und Personen in unauflösbarer Bezogenheit vor unseren Augen aufführen. Doch das Kennen vor dem Handeln ist nur dem Begreifenden, dem Begriffe-Habenden also möglich; der mit Wirklichkeit erfüllte Begriff erst stiftet und sichert die Beziehung — wenn „der Held wie der Leser" erkaltet. Hier haben wir es mit dem Begriff des Staates zu tun. Er ist im Verlaufe der historischen Entwicklung der Lehre vom Staat in einem außerordentlichen Umfange variiert; die Reihe seiner Erscheinungsmerkmale ist lang geworden. Die klassischen Unterscheidungen weniger Staatsformen — Demokratie, Aristokratie, Monarchie — haben sich differenziert. Die moderne Staatslehre hat sie längst durch die Beobachtung, Beschreibung und Ordnung von Staatsverfassungen ergänzt. Sie gelangt auf diesem Wege dazu, Verfassungs- und Staatstypen auszubilden, die der Vielgestaltigkeit der modernen sozialen und politischen Wirklichkeit näherzukommen trachten, welche nicht erst seit dem Lassalleschen Begriff von der „wirklichen Verfassung"'' — in seinem Vortrag „Uber Verfassungswesen" von 1862 — unaufhaltsam in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das Wort von der „Normativität des Faktischen" erweist sich nicht nur für das konkrete Rechtsleben, sondern auch für die Verfassungsgeschichte als belangvoll, in der Faktisches und Normatives in immer formenreicher werdenden Gestalten vor uns treten. Das bis heute erkennbare Ergebnis ist eine außerordentliche Steigerung der Individualität des Staates, wobei wir allerdings den Raum des Totalitarismus unberücksichtigt lassen, aber auch eine soziologische Beeinflussung der Staatslehre, wie wir es in Deutschland sowohl bei Rudolf Smend wie bei Hermann Heller und auch bei Carl Schmitt beobachten können. Unter diesen Umständen erhalten schließlich auch Begriff und Wesen des Bundesstaates eine höchst exponierte Problematik. Ein wesentliches Charakteristikum des modernen Verfassungsstaates liegt darin, daß er unablässig auf normatives Ordnen der politischen Verhältnisse bedacht ist. Nur in diesem Sinne vermag das Faktische politische — und das heißt auch: übersichtliche und kontrollierbare — Ordnung stiften. Das entscheidende Problem ergibt und ergab sich aus
Einleitung
3
den inneren Spannungen und Differenzen des modernen politisch-sozialen Pluralismus, deren Uberwindung immer besonderer Anstrengungen bedarf und infolgedessen eines Zusammenhalts der politischen Gruppen und Faktoren, die hierzu bereit und geeignet sein könnten. Wir können an dieser Stelle den Begriff der Verfassungspolitik einführen, der eben jene politischen Ziele, Pläne und Methoden zu erfassen, zu wägen und zu untersuchen unternimmt, die die Macht des Faktischen mit dem Normativen in Einklang bringen sollen. Verfassungspolitik in Beziehung zu den Ideen, die der Verfassung zugrundeliegen, bewegt sich keineswegs ausschließlich im juristischen Bereich der Kommentare, Interpretationen und Gerichtsentscheidungen, sondern in den Strömungen der Politik, der großen ebenso wie der kleinen des Alltags. Sie befaßt sich nicht lediglich mit den Normen in ihrer eng begrenzten positiven Bedeutung, sondern mit der ratio der Verfassung, mit Inhalt und Sinn, mit der mit Hilfe der Verfassung gestifteten Ordnung, mit ihrer stets aufs neue deutungsbedürftigen „Räson", wie man in Anlehnung an den Begriff der Staatsräson wohl auch sagen könnte, und ihren mannigfachen politischen Wegen. In Hinblick auf diesen Begriff und der ihm zugrundeliegenden Vorstellungen erscheint es wohl eines Wagnisses wert, die Wirklichkeit des Verfassungsstaates in der pluralistischen Gesellschaft zu erfassen. In diesem Buche soll dies im Hinblick auf einige wesentliche Verhältnisse und Ereignisse im sogenannten „Bundesstaat" der Weimarer Republik geschehen. Wer die Territorialgeschichte Deutschlands während der letzten 150 Jahre überblickt, dem tritt eine zwar im einzelnen durchaus nicht unproblematische, im Ganzen jedoch auf Zusammenfassung, auf Angleichung und Vereinheitlichung drängende Entwicklung deutlich vor Augen. Geographische Regionen haben sidi zu politischen Einheiten geschlossen, kleine Gebiete sind in größeren aufgegangen, überkommene Grenzen haben sich verschoben oder sind verschwunden. Dieser Vorgang ist niemals f ü r eine längere Periode aufgehalten oder unterbrochen worden. Der Rhythmus dieser Entwicklung vermochte sich üiber Strukturen, Traditionen und eingreifende politische Umwälzungen hinweg in überwältigender Großzügigkeit fortzusetzen. Je mehr sich der Abstand weitet, den die Historie gewinnt, desto unbedeutender erscheinen Nuancen und Varianten, die die große, zwingende Kontinuitätslinie beeinträchtigen, die uns, im historischen Sinne freilich, als ein Gesetz erscheint. Bereits die Daten der Statistik lassen es erkennen: Aus 41 Ländern, die sich 1815 im Deutschen Bund vereinigl»
Einleitung
4
ten, waren 1 8 4 8 38 geworden und 1 8 7 1 , bei der Gründung des D e u t schen Reiches, 2 6 . 2 6 L ä n d e r zählte auch die Republik von W e i m a r v o r dem Zusammenschluß der thüringischen Gebiete; 1 9 3 3 — nach der V e r einigung der beiden Mecklenburg — gab es noch 17. 18 L ä n d e r zählten die vier Zonen der Besatzungsmächte im J a h r e 1 9 4 5 . Sieht man von der sowjetischen Zone ab, in der heute alle Ländertraditionen ein E n d e gefunden haben, so bleiben im Gebiet der Bundesrepublik nur nodi —
nach der Wiederangliederung der Saar und sofern man die „ E x -
k l a v e " des westlichen Berlins hinzurechnet — 11 Länder. Als einziges hat sich nur B a y e r n im strengen Sinne einer eigenen Landestradition, wenn auch nicht in seinem Gebietsstande, behauptet. Selbst die beiden Stadtländer H a m b u r g und Bremen sind erheblich erweitert worden und haben im Zuge eines Wachstumsprozesses moderner G r o ß - und H a f e n s t ä d t e den R a h m e n der historischen hanseatischen Gebiete gesprengt. Aus dem Zusammenschluß v o n Baden und Württemberg ist ein neues Gebilde hervorgegangen, das vorher noch niemals bestand; und auch das heutige L a n d Hessen, obgleich es einen geschichtlichen N a m e n führt, ist nicht wesentlich anders als die übrigen L ä n d e r der Bundesrepublik eine politische Neuschöpfung unter Anlehnung an geschichtliche Formen, aber unter dem Einfluß wirtschafts- und verkehrsgeographischer wie administrativ-politischer
Überlegungen. Mit
der
großen Bewegung zur Überbrückung und Verminderung der L ä n d e r grenzen sind — mit einer einzigen Ausnahme — Verdünnung und Beschränkung landesgeschichtlicher Traditionen im politisch-administrativen Gesamtzusammenhang der deutschen Staatsorganisation einhergegangen. Dieses Ergebnis entspricht einer Summe aus den Strukturbildungen der deutschen Geschichte in diesen 1 5 0 Jahren, die die politischen Grenzen und Unterschiede zwischen den L ä n d e r n unaufhaltsam abgeschliffen haben, wie eine ungehindert wirkende N a t u r Mauern und W ä l l e alter Burgen und Bauten bis nahe an die Grenze des Kenntlichen abschleift. Sie löschten die immunisierenden Prinzipien von Legitimität und Souveränität aus; sie führten die einst souveränen Staaten enger zusammen, wiesen sie in die Schranken fester Verfassungen ein, ließen die meisten nach und nach in neuen politisch-administrativen Regionaleinheiten aufgehen und erzeugten modifizierte, zeitweilig stärker, periodisch schwächer hervortretende, im ganzen jedoch fortschreitende K o n zentrationsbewegungen in Wirtschaft und Politik. Das F o r t w i r k e n dieser Tendenz spiegelt sich zwischen den beiden Weltkriegen lange Zeit im jeweiligen Stand der „Reichs- und V e r w a l -
Einleitung
5
tungsreform" wider, über die man bis in die Mitte der dreißiger Jahre hinein nicht zu sprechen müde geworden ist. Sie wollte die letzte Etappe einer gegenüber den großen, ungleich früher als Deutschland nationalisierten Staatswesen des westlichen Europas um Jahrhunderte zurückgebliebenen Entwicklung zum Nationalstaat und zum modernen Großstaat, unter den Verhältnissen einer hochindustrialisierten Gesellschaft, in immer einseitiger werdender Überschätzung der Vorzüge zentralisierter Organisation beschleunigt nachholen. In ihren Bahnen löste sich die Eigenstaatlichkeit der Länder nach und nach im Einheitsstaat des Reiches auf und konnte zuletzt — unter dem erdrückenden Gewicht der totalitären Diktatur — das unitarische Prinzip bis 1945 über jede Form des Föderalismus triumphieren. Doch es scheint uns heute, daß diese Entwicklung ihren Höhepunkt überschritten, daß sie mit dem militärischen Zusammenbruch von 1945 den Zeitraum fortgesetzter Steigerung hinter sich gelassen hat. Im historischen Rückblick auf eine solchermaßen einstweilen zum Abschluß gelangte Periode treten uns die gegenseitigen Beziehungen und die unterschiedlichen Qualitäten der beiden Weisen staatlicher Organisation, die die Jahre der großen Krise voneinander trennen, in aller Deutlichkeit vor Augen, sobald wir die Linie der ihnen gemeinsamen Tendenz verfolgen. Das zuletzt ungehemmte und unbegrenzte Ausgreifen der zentralistisch-unitarischen Tendenz zählte zu den charakteristischen Kennzeichen des totalitären Regimes. Es steht nun freilich außer Frage, daß die Klärung und Erklärung, daß die Untersuchung dieser Gesamtsachverhalte in die Strukturproblematik der Geschichte hineinführt, die f ü r den Historiker mit außerordentlichen Schwierigkeiten aufwartet. Strukturanalysen und Verlaufsgeschichte erscheinen im Bereich der neuen Geschichte nach wie vor ohne Verknüpfungsmöglichkeiten unverbunden nebeneinander und ohne gemeinsame Grundlagen. Es fehlt noch der gelungene, vielleicht nie gelingende Versuch, die Ergründung der sozialen Zusammenhänge mit den empirisch faßbaren politischen Ereignissen in eine ebenso bündige wie harmonische Beziehung miteinander zu bringen. Infolgedessen ist es ein nicht nur zulässiger, sondern ein gebotener Ausweg aus einem hoffnungslos erscheinenden Dilemma, die Mittel so zu wählen, daß in den Begebenheiten die strukturellen Bezogenheiten oder in den Strukturen die Ereignisse durchscheinen 1 . Es bedarf freilich immer 1
Karl Dietrich Bracher, in seinem imposanten, jetzt als Standardwerk
ein-
6
Einleitung
einer Auswahl der Ideen oder Begriffe, um in dem jeweiligen Geschehenen mittels Auswahl, Ordnung und Untersuchung die Probleme der Strukturzusammenhänge sichtbar zu machen. Das eine freilich nur ist evidente Tatsache; das andere bleibt Deutung. Erforschung der Ereignisse und Strukturforschung sind bislang zwei verschiedene Kinder der gleichen Wissenschaft, mögen sie auch die innigsten Beziehungen zueinander pflegen. Die Historie, ihr im allgemeinen mit dem Namen der Zeitgeschichte bezeichneter Teil nicht weniger als jeder ihrer anderen Zweige, leidet freilich in ihren herkömmlichen Erscheinungsweisen unter dem notorischen Mangel einer durchgehenden allgemeingültigen und zugleich bündigen historischen Begriffssprache. Man hat die Forderung erhoben, daß die Begriffssprache der Geschichtsschreibung ausschließlich quellenmäßig sein soll, und damit — sit venia verbo — einem historischen Positivismus das Wort geredet, der zweifellos als unaufgebbare Voraussetzung für eine im letzten exakte detaillierte Deskription historischer Zustände und Vorstellungen gelten muß; doch Historie muß mehr sein als nur Vergegenwärtigung des Gewesenen. Sie bedarf für den Heutigen zuletzt doch wohl immer auch einer allgemeineren, also einer umfassenderen Kategorie als der Ausdrücke, die die zeitgemäße und zeitbedingte Sprache bereithält, von der die Quellen zeugen. Es wäre absurd, wollte sich in unbeirrbarer Konsequenz etwa auch die Zeitgeschichte auf die Quellensprache der Zeit beschränken, die doch auch Wirkungen und Vorstellungen enthält, die sie eben gerade zu ergründen und auf Bestandteile und Herkunftsgründe zurückzuführen bestrebt ist. Wie sollte wohl dieses wesentliche Unterfangen der Objektivierung, der Distanzierung und der Differenzierung dann überhaupt noch verwirklicht werden können? Die Situation des Erforschers der Zeitgeschichte wäre kaum eine andere als die eines Hundes, dem man zum Fressen einen Maulkorb anlegte. Er hat es mit dem schwierigen und größter Mühe bedürftigen, aber auch würdigen Problem zu tun, historisch sinnvolle und doch gleichzeitig auch für uns Heutige allgegeführten Buch, Die Auflösung der Weimarer Republik, sucht den Ausweg aus dem Dilemma in naheliegender Weise, indem er die Darstellung von Strukturthemen auf das erste Jahrzehnt der Republik begrenzt und von der umfangreichen Darstellung der Ereignisse ihrer letzten Jahre getrennt hält. Das hat zu der Mißdeutung geführt, daß in Brachers Darstellung die „Akteure" durch die „Wucht der Strukturen" erdrückt
würden
(Waldemar
Besson,
Württemberg
und
die
deutsche
Staatskrise
1 9 2 8 — 1 9 3 3 , S. 11). Dieses Urteil ist neuerdings revidiert worden: Besson, Neuere Literatur zur Geschichte des Nationalsozialismus, VjZ 9. J g . / 1 9 6 1 , S. 323.
Einleitung
7
mein verbindliche Begriffe zu bilden, Begriffe also, die sowohl dem geschichtlichen Verständnis wie unserer eigenen politischen Tatsachenund Urteilswelt gerecht werden. In andere Worte gewendet: Mit der Lösung dieses höchsteigenen Problems der Zeitgeschichte muß auch die historische Begriffsbildung in eine im allgemeinsten Sinne politische umschlagen; sie wird also zu einer im letzten wahrhaft politisch-wissenschaftlichen2 werden. Im großen und ganzen wird man wohl sagen dürfen, daß der Historiker immer dann, wenn er dieses Ziel vor Augen hat, bei anderen Wissenschaften oder bei der lebendigen Literatur Anleihen nahm und auf die Ausbildung einer eigenen Terminologie mehr oder minder bewußt verzichtete. Das entscheidende und allgemeine Kriterium der für die Historie verwendbaren Begriffe, um sich mit ihrer Hilfe auf eine Ebene zu begeben, von der sowohl Einsichten in strukturelle Zusammenhänge wie Uberblicke über Strukturen und Komplexe möglich sind, ist aber, daß sie Erscheinungen, Merkmale und Zusammenhänge der Geschichte in ihrer ganzen historisch erfüllten Breite und Tiefe auszuschöpfen versuchen und daß sie ihre inhaltliche Fülle und die ihr innewohnenden vielfältigen Bezogenheiten in konkreten politischen Formen sichtbar werden lassen. Die Geschichte des Problems „Reich und Länder" in der kurzen Zeitspanne von 1918 bis 1933 läßt sich als die Geschichte einer Begriffsentleerung, eines fortgesetzt abnehmenden Föderalismus charakterisie!
Hier
und
da
ist
es
Gewohnheit
geworden,
politische
Begriffe
als
Urteils-
k a t e g o r i e n anzusehen und zu benutzen. F ü r eine z u l e t z t v o n C a r l Schmitt gestützte Ansicht
dienen
sie d a n n
schließlich
als
„Kampfbegriffe".
(In
Zusammenhang
einem Versuch z u r K l ä r u n g des F ö d e r a l i s m u s - B e g r i f f s : B o d o D e n n e w i t z , D e r
mit
Föde-
ralismus. Sein Wesen u n d seine Geschichte, H a m b u r g 1 9 4 7 , S. 8 5 ) Politische Begriffe unserer Z e i t sind in ihrer M e h r z a h l historisch-dynamischer
Natur
und daher
nur
jeweils u n t e r Bedingungen zu definieren. Sie können aber auch eine g a n z e S k a l a v o n Sinngehalten
umschließen.
Jedermann
weiß
dies,
wenn
etwa
„ T o t a l i t a r i s m u s " o d e r „ B ü r o k r a t i e " , aber auch v o n „ S t a a t " ist. Dies
schließt jedoch
nicht
w e n d u n g s f ä h i g sein k a n n . welches die Beziehungen
An
aus, d a ß
jeder
dieser
von
„Demokratie",
oder „ V o l k "
dieser Stelle soll indessen nicht untersucht
wissenschaftlicher,
die R e d e
Begriffe wissenschaftlich
ethischer o d e r polemischer
ver-
werden,
Bestandteile
eines politischen Begriffs z u e i n a n d e r sein können o d e r wie sich das V e r h ä l t n i s politischer
Ideen
zu
politischen
Begriffen
darstellt.
Hier
interessiert
ausschließlich
der
politisch-wissenschaftliche. M a n k ö n n t e ihn „politologisch" nennen, w o m i t jedoch in A n b e t r a c h t des U m s t a n d s , d a ß all das, was allgemein über politische Begriffsbildungen zu sagen ist, auch für diesen T e r m i n u s gelten k a n n , im l e t z t e n doch nichts gewonnen wäre.
8
Einleitung
ren und darstellen. Dem positiven, statistisch erfaßbaren Tatbestand, dem äußeren Ergebnis der Geschichte steht der Umstand gegenüber, daß Einheitlichkeit und zentrales Regiment der deutschen Geschichte Jahrhunderte lang ermangelten, daß sich im deutschen Verfassungswesen eine Vielzahl partikulärer Gewalten ausgeprägt hatten und ihre historische „Libertät" zu behaupten suchten. „Germaniam esse irreguläre aliquod corpus et monstro simile, siquidem ad regulas scientiae civilis exigatur", entschied Samuel Pufendorf 1667 als Pseudonymus Severinus de Monzambano 3 . Sein Versuch einer rationalistischen Analyse der deutschen Staatsverhältnisse, die man eine frühneuzeitliche Reichsstaatssoziologie nennen könnte, erklärte dieses Ergebnis der Geschichte aus mannigfachem Verschulden, das sich — „lapsu temporum" — summiert hatte: „per socordem facilitatem Caesarum, ambitionem Principum, turbulentiam Sacerdotum". Diese Lehre von der Irregularität und Monstrosität des Reiches stand unter dem gewaltigen Einfluß des von Jean Bodin übernommenen Souveränitätsprinzips: „ubi igitur non est summa potestas, ibi nec est respublica". Aber aus ihr sprach auch eine föderalistische Reichsreformidee, die die Hoffnung auf die Zukunft und die Wiederherstellung des Reiches in einem Fürstenbundesstaat richtete. All dies gemeinsam hat die Bestandsanalyse Pufendorfs über den Rang ähnlicher Traktate weit herausgehoben und zur klassischen Reichsstaatsschrift des absolutistischen Zeitalters in Deutschland werden lassen. Der Föderalismus verfügt in der deutschen Geschichte über eine lange, an Traditionen überaus reiche Vergangenheit, die sich, schon auf den ersten Blick sichtbar, in der Begriffs- und Bedeutungsgeschichte niedergeschlagen hat. Der Ausdruck Föderalismus ist zwar ebenso, wie es die Begriffe Zentralisation und Dezentralisation sind, modernen Ursprungs; er entstammt der Begriffssprache, die aus der Epoche der Französischen Revolution, Napoleons und der Gründung der Vereinigten Staaten hervorging und in der modernen politischen Ausdrucks3 Severinus de Monzambano (Pufendorf), De statu imperii Germanici, nach dem ersten Druck unter Berücksichtigung der Ausgabe letzter Hand hrsg. von Fritz Salomon (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, III. Bd., 4. Heft), Weimar 1 9 1 0 , S. 126. Verdeutscht und mit einer wichtigen Einleitung versehen von H a r r y Breßlau (Klassiker der Politik, 3. Bd.), Berlin 1922. Eine weit in die neuzeitliche Geschichte Deutschlands zurückgreifende Auswahl verfassungsgeschichtlicher Dokumente hat Elinor v. Puttkamer vorgenommen: Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648 (Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Bd. 7), Göttingen/Berlin/Frankfurt 1 9 5 5 ; dort auch das Kernstück des IV. Kapitels der Severinus-Schrift, S. 39 f.
Einleitung
9
weise außerordentlich viele Spuren hinterlassen hat. Aber schon lange vorher wurden im deutschen Sprachbereich in dem ungefähr vergleichbaren Sinne einer Vereinigung zu einem Ganzen die Wörter „Bund" oder auch „Union" gebraucht. Er hat sich überaus formen- und inhaltsreich entwickelt und mannigfach historisdie Individuationen geschaffen. Es wäre ein kaum entschuldbarer Fehler, vom deutschen Föderalismus im allgemeinen zu sprechen. Noch heute hat, wenn im Osten oder im Norden Deutschlands von Föderalismus gesprochen wird, das Wort einen anderen Klang als in Süddeutschland, etwa in Bayern, wo es in Kreisen, deren repräsentativer Rang außer Frage steht, ein nicht fortzudenkender Bestandteil des politischen Denkens und Forderns geworden ist und in weiten Teilen der Bevölkerung fast tagtäglich in Zeugnissen und Ansprüchen eine überaus lebendige Existenz nachweist. Die historisch begründete Legitimierung allein besagt noch nichts über Qualität, über Art und Kraft föderalistischer Grundsätze und Auffassungen; es wäre jedoch falsch, als Amtsstubenerzeugnis einer anonymen seßhaften Bürokratie abtun zu wollen, was in breiten Schichten der Bevölkerung wirksam ist und seine prägende Lebenskraft verrät, wie es anderseits unangemessen wäre, bloße Amtsstubenkonstruktionen zu zwingenden historischen Sachverhalten emporzudeuten. Der historische, traditionsbestimmte Staatenföderalismus in Deutschland 1 hat auf den administrativen wie machtpolitischen Nutzen straffer Zentralisation in der staatlichen Organisation nicht verzichtet. Die locker gefügte territoriale und soziale, das meint hier ständische Föderation des spätmittelalterlichen Deutschlands wandelte sich mit der Auflösung der Reichseinheit und mit der inneren Umformung der deutschen Staaten im Zeitalter des Absolutismus in einen gänzlich anders gearteten Föderalismus, der sich in erster Linie unter dem prägenden Druck politischer Interessen der stärkeren unter den absoluten souveränen Landesfürsten ausbildete. Preußen im Norden und Bayern im Süden Deutschlands wurden neben dem habsburgischen Österreich die stärksten Beamten- und Militärstaaten dieser Epoche, beide nach streng rationalen Gesichtspunkten stark zentralistisch organisiert und von einem Staatsbewußtsein gestützt, das über Beamtentum und Militär von der patriarchalisch regierten Bevölkerung Besitz ergriff und 4
Konrad Beyerle stellt „Stammesföderalismus" und „dynastischen Föderalismus" einander gegenüber (Art. „Föderalismus", Görres' Staatslexikon, 5. Aufl. 1927, Bd. II, S. 67). Doch diese Differenzierung erweist sich f ü r die jüngere deutsche Geschichte — auch hinsichtlich Bayerns — als irrelevant. Kritisch hierzu auch schon Dennewitz, Föderalismus, S. 32 ff.
Einleitung
10
das sich im engsten Einvernehmen mit der jeweils herrschenden Konfession wie mit der institutionellen Kirche befand. In der Periode konstitutionell-parlamentarischer Reformen behaupteten beide Staaten Existenz und politisches Selbstbewußtsein; und sie blieben auch in dem von Bismarck gegründeten Reich in ihren Fundamenten unangetastet. Bayern erhielt die größten Reservatrechte zugestanden; das ungleich größere und mächtigere Preußen aber war in den Besitz einer hegemonialen Position gelangt, dank derer seine wesensbestimmenden Gewalten, Heer und Verwaltung, auch zum politischen Rückgrat des Reiches wurden. Dieser begemoniale Föderalismus des Deutschen Reiches von 1871 kannte keine Garantie gegen eine allmählich fortschreitende Bedeutungsminderung der anderen Einzelstaatswesen, soweit diese die Verfassungsbestimmungen nicht unmittelbar anrührte.5 Er beruhte auf der übermächtigen Handlungsfähigkeit der stärksten Macht, die als einzige in der Lage gewesen war, das neue Reich aufzurichten, seinen Bestand und seine Weltpolitik unter den gegebenen Umständen des schwankenden Gleichgewichts der großen Mächte Europas nach außen zu sichern." Die kleineren Partner der tonangebenden Bundesmacht vermochten unter Berufung auf historisches und positives Recht ihre Stellung zu bewahren und waren zunächst auch weitgehend durch die legitimistische Achtung des Bundes der Landesfürsten geschützt. Sie konnten indessen auf die Dauer die Vermehrung und Stärkung der Berliner Zentralinstanzen nicht verhindern, die zuletzt unter den Bedürfnissen des Krieges, der Kriegswirtschaft und der Kriegsverwaltung rasch voranschritt. 5
Über die unitarischen Tendenzen im jus non scriptum des Reiches der Bismarck-
schen Verfassung vor allem Gerhard Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit,
Gegenwart
und
Zukunft
(Veröffentlichungen
der
Vereinigung
deut-
scher Staatsrechtslehrer, 1. Heft 1924), S. 14. 6
In diesem Zusammenhang
ist auf die rechtfertigende Lehre von
der
Hege-
monie durch Heinrich Triepel zu verweisen: Die Hegemonie, Stuttgart 1938, bes. S. 48. Charakteristisch und treffend ist die Formulierung Heinrich v. Treitschkes, Bund und Reich, in: Preußische Jahrbücher, 2. Bd., 1876, S. 3 3 9 : „Unser Reich ist in Wahrheit
der die Mehrheit
der Nation
unmittelbar beherrschende
preußisch-
deutsche Einheitsstaat mit den Nebenlanden, welche seiner Krone in föderativen Formen untergeordnet
sind, oder kurz: die nationale Monarchie mit
bündischen
Institutionen." Anschütz würdigte später den gleichen Sachverhalt, indem er sogar vom „hegemonialen Unitarismus" im Deutschen Reich sprach. Bismarck wollte ihn „natürlich
nicht
bekämpfen,
sondern
oder, soweit er sich nicht verschleiern
föderalistisch
beschönigen
und
ließ, denen, die es anging,
machen." (Der deutsche Föderalismus, S. 15).
verschleiern, schmackhafter
Einleitung
11
V o n a n d e r e r A r t ist j e n e r r a t i o n a l e , konstruktive
Föderalismus,
den
die politische I d e e n g e s c h i c h t e v o n L i b e r a l i s m u s u n d D e m o k r a t i e i m a u s gehenden
19. u n d im 2 0 . J a h r h u n d e r t hervorgebracht u n d den
unter B e r u f u n g a u f Theorien O t t o v o n Gierkes7 den
man
genossenschaft-
lichen F ö d e r a l i s m u s g e n a n n t h a t , d e r sich z u n ä c h s t freilich n u r in d e r T h e o r i e a u s z u b i l d e n v e r m o c h t e . Sie legte d e n u n u m s t ö ß l i c h e n C o n s e n s u s aller
Teile
zugrunde
und
läßt
nach allgemein
anerkannten
Rechts-
g r u n d s ä t z e n , die a l l z u m a l u n d g l e i c h e r m a ß e n j e d e r T e i l g e l t e n d m a c h e n k a n n , o h n e d a ß e i n e r d e m a n d e r e n gleich z u sein h a t , d i e jeweils g r ö ßere, integrierende Einheit entstehen. D e r N a c h w e i s im
Historischen
w i r d h i e r z u r L e g i t i m a t i o n f ü r „eine f ö d e r a l i s t i s c h e B e w e g u n g
7
Hiermit
ist
keineswegs
der
„blos
ständische",
sondern
Föderalismus gemeint, den Otto v. Gierke paradigmatisch
im
der
gegen
„territoriale"
„republikanischen
Bundesstaat" der Schweizer Eidgenossenschaft verwirklicht fand. Vgl. Das deutsche Genossenschaftsrecht,
1. Bd.
(Nachdruck
der ersten
Ausgabe
Darmstadt
1954),
S. 531 f. Ober das künftige deutsche Reich urteilte Gierke an einer Schlüsselstelle dieser „Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft" von 1868: „Die Einheit wird sich extensiv zur vollen Nationaleinheit zu erweitern, intensiv aber den Gliedern gegenüber
zu einer vollen Staatseinheit zu verdichten haben. Läßt die rechtliche
Natur des gegenwärtigen deutschen Staatsbau's sich schwer bezeichnen, weil in ihm
staatenbündische,
bundesstaatliche
und
einheitsstaatliche
Elemente
gemischt
sind, so kann die Tendenz seiner Fortentwicklung unmöglich weder auf einen Staatenbund noch auf einen Bundesstaat, sondern ganz allein auf ein einheitliches Reich gerichtet
sein. Eine wahre
Staatengenossenschaft
ist unter
monarchischen
Staaten überhaupt schwer denkbar, unter Staaten, deren Einer die Summe aller anderen an Größe übertrifft, unmöglich. Hier ist allein ein wirklicher Einheitsstaat möglich, in welchem sich eine centralisirte Spitze und eine aus der Gesamtheit der Reichsbürger bestehende genossenschaftliche Grundlage zu einem einzigen staatlichen Gesamtorganismus verbündet. Für die Einzelstaaten bleibt, wenn sie nicht eine unorganische Stellung einnehmen sollen, in einem solchen Reiche nur die Bedeutung von territorialen Gemeinwesen übrig, welche zwischen Gemeinde und Staat mitten inne stehen. Mag sie immerhin eine ausgedehntere Autonomie, Selbstgerichtsbarkeit und Selbstverwaltung und eine eigene monarchische nebst den damit zusammenhängenden Bezirksgemeinden
Eigentümlichkeiten
unterscheiden: eine prinzipielle
Organisation
von Provinzial-
Verschiedenheit
ihrer
oder
Stellung
zum Reich können solche Unterschiede nicht herbeiführen. Sie müssen, wenn anders der einige
deutsche Staat zur Wahrheit werden soll, aufhören, Staaten im Staat
zu sein. Aber freilich, nur die Natur voller,
souveräner
Staaten haben sie auf-
zugeben, nicht die staatliche Natur überhaupt. Denn dem Staate homogene, durch sich selbst bestehende und im Interesse der centralen Einheit nur beschränkte Verbände sollen nicht sie blos bleiben, sondern zu solchen Verbänden sollen in der Form genossenschaftlicher Gemeinwesen auch die Provinzen und Kreise bis herab zur Ortsgemeinde werden." (a. a. O., S. 842 f., Auszeichnungen von Gierke gesperrt).
12
Einleitung
die militärische Aktion unserer Tage". 8 Hugo Preuß versuchte, Theorien und Ideen seines Lehrers Otto von Gierke in die neue Reichsverfassung aufzunehmen und ihnen Wirkung zu verschaffen. Aber auch in der demokratischen Linken, in jenem Teil des revisionistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie, der unter dem Einfluß Eduard Bernsteins stand, fanden vereinzelt föderalistische Gedanken Eingang, die selbst in der formalistischen Abstraktion äußerst theoretischer D a r legungen Beziehungen zu Grund- und Erfahrungssätzen des englischen self-government und zu den Praktiken des local government nicht verleugneten. 9 Uberall dort, wo der demokratische Gedanke an dem Grundsatz festhielt, daß politische Entscheidungen nicht nur nach „unten" gerechtfertigt oder von „unten" gebilligt, sondern von den breitesten gesellschaftlichen Schichten beeinflußt oder bestimmt werden müssen und daß nur eine „möglichst weitgehende Teilnahme des einzelnen Staatsbürgers an der Bildung und Ausbildung des Staatswillens" wahrhaft demokratisch ist, dort stellte sich auch die Überlegung ein, wie das f ü r den einzelnen unübersehbare, unpersönliche Wesen Staat aus kleineren, überschaubaren Teilen aufzubauen sei, so „daß das Schwergewicht der Verwaltung . . . weniger in der Zentralinstanz als in der Lokalinstanz" ruhe.10 Dezentralisation, Man erkennt hierin den Gedanken einer rationalen die theoretisch ebensogut unter unitarischen wie unter föderalistischen Vorzeichen stehen kann, je nachdem, ob das umfassende Gesamte oder ob die Teile als primäre Gebilde angesehen werden. Er steht im logischen Gegensatz zum Prinzip schematischer Zentralisation, die sich ebenfalls mit der Geschichte der Demokratie verbunden hat. 11 Doch 8 Gervinus in seiner posthum veröffentlichten „Denkschrift zum Frieden" (1872), zit. v. Dennewitz, Föderalismus, S. 11 f. Die Stelle beginnt mit dem Satz: „Und wer für die Gesetze, die der Griffel der Geschichte schreibt, nur einigen Verstand und einige Ehrfucht hat, der nennt es nicht Zufall, daß alle größeren germanischen Staatsverbände von Uranfang bündisch geordnet waren." 9
Vgl. den Aufsatz von Eduard Bernstein, Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl, Neue Zeit, X V . Jg. 1896/97, Bd. 2, S. 100—107. Kurz nach der Jahrhundertwende erschien die große Darstellung der Geschichte der englischen Kommunalverwaltung aus der Feder Josef Redlichs in deutscher und bald auch in englischer Sprache: Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901; englisch: Local Government in England, London 1903. 10
Otto Loening, Art. „Dezentralisation", Polit. HWB, hrsg. von Paul Herre, Bd. 1, Leipzig 1923, S. 444 f. " Die juristische Literatur kennt mehrere Abhandlungen über Zentralisation und Dezentralisation; genannt seien vor allem Hans Peters, Zentralisation und Dezen-
Einleitung
13
die Geschichte der politischen Ideen und Theorien kennt keineswegs nur eine „unitarische Konsequenz der Demokratie" 1 2 . Man spricht gelegentlich auch von einem „Gleichgewichtsföderalistnus". Diese moderne Ausprägung des Föderalismus setzt viel stärker als irgendeine in der Vergangenheit Gleichartigkeit und enge Zusammengehörigkeit der Teile voraus, die auch nicht mehr als voneinander abgeschlossene Einheiten gedacht werden. Oberhaupt ist in jüngerer Zeit die Tendenz unverkennbar, daß die Theorie des föderativen Systems die Idee der konkreten Föderation zurückdrängt, so daß der Föderalismus immer häufiger im Grundsätzlichen zu einer rationalen Konstruktion wird, die stets auf ein vorbestimmtes Ganzes bezogen ist und insofern bereits eine gewisse unitarische Konsequenz mit enthält. Man kann in ihm sehr wohl ein Prinzip sehen, das ebensogut den Aufbau v o n Teilen zu einem Ganzen zu begründen vermag wie die reformistische Aufgliederung einer größeren Einheit in kleinere Gemeinwesen, wie es Constantin Frantz zuerst mit der preußischen Monarchie zu tun empfahl. 1 3 Carl Schmitt ist so weit gegangen zu betralisation, Berlin 1928, S. 27 ff.; aus der Vorkriegszeit Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltung, Handbuch der Politik, Bd. I, 1. Aufl. Berlin u. Leipzig 1912/13, S. 179-197. 12 Carl Schmitt, Verfassungslehre, München/Leipzig 1928, Neudruck Berlin 1954, S. 390. Ebenso wie die Demokratie ist der Parlamentarismus einmal f ü r unvereinbar mit dem Föderalismus gehalten worden (Erich K a u f m a n n , Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, Berlin 1917). Carl Schmitt hat an dieser Auffassung festzuhalten versucht, sie jedoch 1931 durch die These modifiziert, die „anscheinend ipso facto" bewiesene „Vereinbarkeit" von Parlamentarismus und Föderalismus sei lediglich dem „Pluralismus" in der staatlichen O r d n u n g zuzuschreiben und „nur durch eine beiderseitige Auflockerung der Geschlossenheit und Festigkeit der staatlichen Einheit gewonnen" worden. Gleichzeitig aber gesteht Schmitt zu, daß Föderalismus und Demokratie, „wenn man sich an die Vorbilder der Vereinigten Staaten und der Schweizerischen Eidgenossenschaft hält", unter bestimmten „konkreten Voraussetzungen" — auf die Schmitt einzugehen unterläßt — doch auch wieder miteinander vereinbar sein können. Unmittelbar darauf bemerkt Schmitt, daß der Föderalismus selbst als ein „Gegenmittel gegen die Methoden eines parteipolitischen Pluralismus" in Frage komme. (Der H ü t e r der Verfassung, Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, N r . 1, Tübingen 1931, S. 95 f.) Man kann hieraus entnehmen, daß es f ü r den darum Bemühten immer schwerer wurde, eine prinzipielle „Unvereinbarkeit" zwischen Parlamentarismus (bzw. Demokratie) und Föderalismus nachzuweisen. 13 Franz W. Jerusalem hat in jüngerer Zeit zwei verschiedene politische Prinzipien des Föderalismus zu unterscheiden versucht (Die Staatsidee des Föderalismus, Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, N r . 142/143, Tübingen 1949, S. 5 f.), tatsächlich jedoch nur die konkreten Ansätze zur Verwirklichung des Prinzips voneinander unterschieden: Einmal soll ein „Bundesstaat" oder Staatenbund ge-
14
Einleitung
haupten, daß ein jeder Bund auf der „wesentlichen Voraussetzung" der „Homogenität aller Bundesmitglieder" beruhe, auf einer „substantiellen Gleichartigkeit, welche eine konkrete, seinsmäßige Übereinstimmung der Gliedstaaten" begründet.14 Sie erst löse die Antinomien des „Bundesstaates" auf und schalte den „existenziellen Konfliktsfall" zwischen Bund und Gliedstaaten aus. Derlei formale Ausdrücke sind gewiß nicht gegen die Gefahr arbiträrer Ausdeutungen und Anwendungen gesichert. Aber es dürfte unbestritten sein, daß ein föderatives System auf die Dauer einer ihm innewohnenden Wahrscheinlichkeit bedarf, daß ein Konfliktsfall mit existenzgefährdenden Folgen für den Bund nicht eintreten wird. Wir begnügen uns hier, auf die Dogmen und Definitionen relativierende und überwindende Historizität des Begriffes hinzuweisen; das aber heißt, daß sowohl seine allgemeine Bedeutung im politischen Denken, sein Platz innerhalb von Theorien wie in Denkgewohnheiten ebenso wie sein Inhalt, seine Beziehungen schaffen, das andere Mal ein gegebener „Zentralstaat" aufgelöst werden. Was dann vom Föderalismus im allgemeinen Sinne noch übrig bleibt, ergibt einen gänzlich formalisierten, substantiell entleerten Begriff: „Ein System von engen und weiteren Gemeinwesen, wobei grundsätzlich jeder, der einem weiteren Gemeinwesen angehört, zugleich auch Glied je eines der engeren Gemeinwesen ist. Von einem föderalistischen Staat kann gesprochen werden, wenn wenigstens einem weiteren Gemeinwesen eine Mehrheit von engeren eingegliedert ist." (a. a. O., S. 22). Das gilt von jeder überlokalen Gebietskörperschaft. Das theoretische Gesamtwerk von Constantin Frantz dagegen liefert noch ein Beispiel d a f ü r , d a ß das gleiche Prinzip in versdiiedenen Dimensionen wirksam werden kann: im sozialen, im staatlichpolitischen und schließlich im globalen Zusammenhang. Diese „universale Idee" des Föderalismus knüpfte an den ständischen Universalismus des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit an und verknüpfte ihn mit dem modernen territorialen Föderalismus. 14 Verfassungslehre, S. 376. Viel gemäßigter hört sich eine späte Äußerung Heinrich Triepels an, die in dem dauernden Übergewicht der zentripetalen gegenüber den zentrifugalen Kräften die Existenzbedingung des föderativen Systems sieht. Zweierlei Föderalismus: Süddeutsche Juristenzeitung, 2. Jg./1947, S. 150. — Schmitt f ü h r t übrigens eine ganze Reihe von Klassifikationen von Homogenitäten der Bevölkerung a u f : z . B . nationale, religiöse, zivilisatorische, soziale, klassenmäßige; als weiteres Element der Homogenität kommt die „Gleichartigkeit des politischen Prinzips" hinzu: „Jedenfalls können entgegengesetzte Arten staatlicher Prinzipien und politischer Gesinnung in einem föderalistischen Gebilde nicht zusammen bestehen." Schmitt erinnert daran, daß alle Bundesverfassungen der neueren Geschichte ausdrückliche Garantien enthalten, die die Staatsform betreffen. Das gilt sogar für die Wiener Bundesakte, die den Mitgliedstaaten landständische Verfassungen vorschrieb, während die Wiener Schlußakte von 1820 ausdrücklich das monarchische Prinzip f ü r alle Mitglieder proklamierte.
Einleitung
15
zu anderen Begriffen und seine Abgrenzungen erklärbaren Veränderungen unterliegen. Der Ausdruck Unitarismus hingegen, den zuerst die Theologie geprägt hat, ist in seiner heutigen Bedeutung das Ergebnis einer jüngeren Periode. Er ist in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 aufgetaucht, aber erst um die Jahrhundertwende von der Staatslehre aufgenommen worden.15 Sein Gebrauch bezeugt das Bewußtwerden eines Spannungsverhältnisses zwischen der erstarkenden Reichsgewalt und den Ländern. Er hat größte Verbreitung als Schlagwort gefunden und wurde besonders während der zwanziger Jahre mit Vorliebe benutzt. In dieser Zeit wurde es üblich, ihn als Gegenbegriff zu „Föderalismus" und adäquat zum Ausdruck „Einheitsstaat" zu verwenden, der den eigentlichen Sinn und das Ziel der unitarischen Tendenz bezeichnet, im Prinzip vom umfassenden größten gegebenen Ganzen auszugehen und seine Untergliederungen ausschließlich im Interesse des Ganzen, weitgehend einander gleich oder ähnlich, zumindest einander vergleichbar, zu bilden. In Verbindung mit der nationalen Bewegung des vergangenen Jahrhunderts hat sich ein nationalstaatlicher Unitarismus ausgebildet, ohne daß dadurch die föderalistischen Theorien und Ideen verdrängt wurden.16 Der Theorie nach ist, wie Constantin Frantz gezeigt hat, auch ein europäischer und ein kosmopolitischer Föderalismus denkbar, der in unserer Zeit erste institutionelle Formen zu bilden beginnt. Unitarismus, der sowohl Formen der Zentralisation als auch solche der Dezentralisation kennt, bezeichnet aber in erster Linie, und davon rührt der häufig polemische Gebrauch dieses 15
Hermann
Rehm,
Unitarismus
und
Föderalismus
verfassung, V o r t r a g in der Gehe-Stiftung, Dresden tarismus
und
Föderalismus
Umgangssprache
im
Deutschen
in
der
deutschen
Reichs-
1 8 9 8 ; Heinrich Triepel,
Reich, Tübingen
hat ihn erst später akzeptiert. Dem
1907.
Historischen
Die
Schlagwörter-
buch von O t t o Ladendorf, Straßburg und Berlin 1907, ist er noch gänzlich bekannt.
Vgl. auch Hans
Venator,
Unitarismus und
Föderalismus
Uni-
politische
im
un-
deutschen
Verfassungsleben mit besonderer Berücksichtigung der Verfassung von 1919, Berlin/ Leipzig 1921. 11
sich
Einen begrifflichen hierbei
Tendenzen
des
Ausgleich sucht W a l t e r
„Bundesstaates"
im deutschen
fassung, Berlin
als
Staatsleben
des
Becker vorzunehmen.
gemeinsamen
Nenners.
Er
bedient
(Föderalistische
seit dem Umstürze der Bismarckschen
Ver-
1928, S. 1). Hierzu grundsätzlich Dennewitz, Föderalismus, S. 9 4 :
„Unitarismus und Föderalismus haben etwas Gemeinsames: beide politischen Prinzipien erstreben einen Zusammenschluß. Doch die beiden Arten des gewollten Zusammenschlusses
sind
sehr
wesensverschieden
voneinander.
unfruchtbar, diese Tatsache des Zusammenschlusses
formal...
Ähnlich auch Anschütz, D e r deutsche Föderalismus, S. 11.
Es
wäre
fassen zu
begrifflich wollen."
16
Einleitung
Ausdrucks im Deutschland der Weimarer Epoche her, eine auf Änderung zugunsten der Zentralgewalt zielende Bestrebung innerhalb einer föderativen Staatsordnung. Ein bis zur Stärke des permanenten Konflikts zunehmendes Spannungsverhältnis von Föderalismus und Unitarismus wurde durch das Verschwinden der monarchischen Souveräne und die mit der Demokratisierung einhergehende Umwandlung des Reiches in eine Republik heraufbeschworen, die als Restitution des Bundes denkbar war, den die Landesfürsten 1871 gegründet hatten, aber auch als Überwindung der Eigenstaatlichkeit der Länder. Die häufig übersehene oder außer Acht gelassene, nichtsdestoweniger unverkennbare Bedeutung dieser Alternative und der mit ihr verknüpften Probleme, die dann im Verlaufe der Geschichte der Weimarer Republik sogar die stärksten Mittel der Machtpolitik mobilisierten, wird im Zuge ideengeschichtlicher Untersuchungen kaum in ihrem wirklichen Maße vorstellbar, so zuverlässig sie die Tiefenschichten der einzelnen Zeugnisse — und eben gerade diese — auch auszuloten vermögen. Der enge Kreis etwa, in dem sich ein Föderalismus zu erkennen gab, der die politische Gestalt des geistigen Deutschland „von Cöln bis Wien und von Bozen bis Königsberg" sein sollte,17 der alle Möglichkeiten der politischen Wirklichkeit wohl abzutasten, aber dennoch zu keinem positiv darstellbaren Programm zu finden vermochte, blieb reich an Gedanken und Empfindungen, blieb auserwählt, aber klein, blieb Geist ohne Partei, lebenerfülltes, farbenfreudiges, verklärtes und für dauernd festgehaltenes Stadium auf dem Wege vom Weltbürgertum zum Nationalstaat, auf dem die Schreckensvorstellungen einer lückenhaft fungiblen Ordnung der vereinheitlichten, „verreichlichten" Nation Halt geboten. Ein derartiges „Programm" für ein föderatives Deutschland ist gewiß ein beachtenswürdiges document intellectuel. Doch außerhalb der individualisierenden Ideengeschichte erscheint es nur relativ, in seiner Bedeutung äußerst begrenzt, im politischen Zusammenhang kaum noch repräsentativ, da es einzig nur in der Abwehr, in Kritik und Negation sichtbar wird. Im letzten spricht sich in ihm die Einsicht in die Größe aller Gefahren aus, die das verspätete Nationwerden der Deutschen heraufbeschwört, die definitive Überzeugung, daß der werdende Nationalstaat im Zustande einer ausgeprägten Geschichte, in der Periode der Industrialisierung, im Grunde ein historisches „zu spät" zu ignorieren unternimmt. In den Aspekten, die sich 17
Von einem Süddeutschen [d.i. Wilhelm Hausenstein], Vereinheitlichung: Der
Neue Merkur, 3. Jg./1919—20, S. 522.
Einleitung
17
von dieser Position aus boten, waren weder die „faden Unitarier in Berlin", noch die „stockfleckige Politikasterei eines professionellen bajuwarischen Provinzialismus", noch der Föderalismus einer „preußischen und gesamtdeutschen Restauration" akzeptabel, weder Zentralisation noch Dezentralisation, kein „administrativer Medianismus" und kein „kasuistisches Programm", das sich föderalistisch nannte. 18 Die geistige Nation sollte nimmermehr zur organisierten Nation werden. Dieser Föderalismus konnte nur in einer absolut unabhängigen Denkungsart bestehen, nicht als politisches Credo einer Gruppe, sondern mit dem höchsten denkbaren Anspruch als „ein absolutes gesellschaftliches Axiom". So schrieb Wilhelm Hausenstein: „Dies Axiom bleibt. Es bleibt gegenüber aller zentralistischer Doktrin und Geschäftigkeit vom deutschen Großkapitalismus bis zur höchst mäßig begabten Intransigenz der äußersten Linken, deren Unitarismus so wenig wie der ihres Widerparts begriffen hat, um was es sich f ü r ein menschliches Deutschland handeln muß". 1 9 Ein solcher, sich in der Abzeichnung seiner fortgesetzen Kompromittierungen äußernder Föderalismus bleibt im ideengeschichtlichen Zusammenhang respektabel, und seine dialektische Darstellungsweise ist wohl des Hervorhebens wert; er verweist uns noch einmal auf die Vielschichtigkeit der Grundlagen und auf die Mannigfaltigkeit der Individuationen der Geschichte des deutschen Föderalismus. Politik hat er indes in der Weimarer Republik nicht gemacht.
18 19
Ders., Föderalismus: Der Neue Merkur, 4. Jg./1920—21, S. 561—564. a. a. O., S. 562.
2 Sdiulz I
ERSTER
TEIL
Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
ERSTES
K A P I T E L
Die parlamentarischen Kräfte und ihre Bündnisse Die „improvisierte
Demokratie"
Es wird sich schwerlich ein besserer Ausdruck finden lassen, mit dem man die Republik, die mit der Verfassung von Weimar ins Leben trat, charakterisieren kann, als das Wort von der „improvisierten Demokratie" 1 . Die politischen Kräfte und Interessen, die an der Umwälzung des Jahres 1918 und an den machtpolitischen Auseinandersetzungen, die sich hieran anschlössen, entscheidenden Anteil hatten, wurden mit diesem Dokument auf ein normatives Ordnungssystem verpflichtet, das keineswegs in allen Stücken Institution geworden, sondern teilweise ein Manifest von Gesinnungen geblieben ist und ein Programm für kommende Jahre und Jahrzehnte. Der notwendige Consensus der Mehrheit wurde dadurch erlangt, daß unüberwindbare Gegensätze fürs erste auf neutralem Boden stillgelegt und endgültige Klärungen vermieden wurden; denn mit dem Sturz der Monarchie waren nicht nur starke oppositionelle Kräfte zur Regierung gelangt; sie hinterließ widerstandsfähige Institutionen und Traditionsbestände, derer sich die Parteien der Republik bedienten, um die Krise des revolutionären Ubergangs abzukürzen. Innerhalb eines Uberblicks, der auch die Endphasen der Republik von Weimar umschließt, gewinnt dieser Umstand erhebliche Bedeutung. Ihm haben daher auch die bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Entstehung der deutschen Republik — allerdings in unterschiedlicher Weise — Rechnung getragen. Sie haben im wesentlichen zwei verschiedene Befunde zutage gefördert und mit differierenden Bewertungen versehen. Der eine enthält den Nachweis des Fehlens 1
Theodor
Eschenburg,
Die improvisierte
Demokratie
der Weimarer
Republik
(Geschichte und Politik, Heft 10), Laupheim/Wiirtt. o. J . — Dieser Ausdruck geht auf einen Artikel von H u g o Preuß zurück: „Die Improvisierung des Parlamentarismus": Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 26. Oktober
1918, wieder
ab-
gedruckt in: Preuß, Staat, Recht und Freiheit. Aus 4 0 Jahren deutscher Politik und Geschichte, Gesammelte Aufsätze, hrsg. v. Theodor S. 3 6 1 — 3 6 4 .
Heuss, Tübingen
1926,
22
/. Die Demokratie
der Kompromisse und die Reichsverfassung
von
Weimar
starker, politisch trag- und handlungsfähiger, zur Herrschaft befähigter Kräfte, die über eine nach allen Seiten gesicherte, als verpflichtend anerkannte parlamentarische Konzeption und über einen unbeugsamen Willen verfügten, ihr zu folgen. 2 Eine solche im politischen wie im historischen Sinne zuverlässige Fundierung der demokratischen Republik wäre ohne zureidiende, d. h. längere Erprobung in der voraufgegangenen Periode der Monarchie kaum zu denken gewesen. Doch für ein zielsicheres Heranwachsen und Gedeihen starker parlamentarischer Kräfte, für eine Aussöhnung der Monarchie mit dem Parlamentarismus also, fehlten die notwendigen Voraussetzungen, wofür die Gründe in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts — nicht nur 2
Hierzu vor allem die genannte wichtige Schrift Eschenburgs; jetzt auch die große Quellenpublikation über die Mehrheitsparteien des Reichstages in der gesamten kritischen Endphase des Weltkrieges: Eridi Matthias und Rudolf Morsey (Bearb.), Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18, 2 Teile (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik, Bd. I), Düsseldorf 1959; vgl. bes. II. Teil, S. 469 ff. — Auch Ernst Fraenkel hat neuerdings in einem Aufsatz, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus: VjZ 8.Jg./1960, S. 323—340, die parlamentarische Eignung der deutschen Parteien kritisch erörtert. Vgl. auch Fraenkels Bemerkung in: Parlament und öffentliche Meinung: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, Berlin 1958, S. 172 ff. — Bezeichnend schon das zeitgenössische Urteil über den Kriegsreichstag: „Das Parlament von 1914 war in seinen Mitgliedern gar nicht fähig zur Bildung einer parlamentarischen Regierung, und Parlamentarismus ohne Parlamentarier im wahren Sinne des Wortes läßt sich nicht einführen." So Viktor Naumann an Staatssekretär Solf am 26. 10. 1918, wiedergegeben in der Quellenpublikation: Die Auswirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, bearbeitet v. Gerhard Schräder u. Hellmuth Weber, hrsg. v. Leo Stern (Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4), Berlin (Ost) 1959, Bd. IV, S. 1686. Kaum anders das zweifelnde Urteil Conrad Haußmanns nach langen Erfahrungen im Reichstag und im interfraktionellen Ausschuß am 5. Oktober 1918: „Das Parlament ist dem großen Wendepunkt nicht gewachsen. Es hat nicht die Menschen, die den Stil für diesen Beginn seiner Herrschaftsperiode finden, aus diesem Grunde ist es fraglich, ob diese Herrschaft behauptet werden kann." (Conrad Haußmann, Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen, hrsg. v. Ulrich Zeller, Frankfurt a. M. 1924, S. 240). Das Phänomen ist bisher allerdings nur teilweise zurückverfolgt und in seinen Gründen untersucht worden. Von der im zeitgeschichtlichen Rahmen außerordentlich bedeutsam gewordenen nordamerikanischen Literatur ist hier vor allem die These vom institutionellen Kompromiß und dem Niedergang der liberalen Bewegung im Bismardc-Reich hervorzuheben: Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957, bes. S. 427 ff. u. 458.
Die parlamentarischen Kräfte und ihre Bündnisse
23
der seiner zweiten Hälfte — zu suchen sind. 3 Aber auch die P a r o l e und die dahinter stehenden Vorstellungen von der Aufrichtung eines p a r l a mentarischen Systems in Deutschland erreichten selbst in den letzten Wochen des deutschen Kaisertums weder einen sonderlich hohen Reifegrad noch parteibildende, integrierende und politisch durchdringende Wirkungen. Weder der Parlamentarismus noch irgendein Aspekt einer neuen Staatsform nach Beseitigung der herrschenden Gewalten vermochte den Funken der revolutionären Erhebung auszulösen und die F l a m m e eines starken politischen Willens zu entfachen. D e r andere Befund ist soziologischer A r t . E r ergibt den Fehlschlag einer sozialen Revolution, die allein die dauerhaften Grundlagen einer durch einen sozialökonomischen Begriffsinhalt präzisierten Demokratie zu schaffen vermocht hätte. W ä h r e n d die erste Gruppe von Beiträgen zur Entstehung der Demokratie in Deutschland von der stillschweigenden Außerachtlassung der sozialen Fragen und all der politischen P r o 3
Hierzu der interessante Aufsatz von Werner Frauendienst, Demokratisierung des
deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms I I . : Z g S t Bd. 1 1 3 / 1 9 5 7 , S. 721 bis 746. D e r Einfluß
des Preußischen
Abgeordnetenhauses
unter der Herrschaft
der
durch das Dreiklassenwahlrecht geschützten Konservativen trug z w a r zur Beseitigung des persönlichen Regiments des Monarchen bei, kann aber nicht als Zeichen einer „Parlamentarisierung"
und
„Demokratisierung"
genommen
werden;
er
entsprach
vielmehr dem Gegenteil, da nicht der parlamentarische Einfluß institutionalisiert und ausgebaut, sondern die dauernde Herrschaft einer sozialen und politischen Minderheit begründet und gesichert wurde, die gemäßigte und linke politische Richtung hingegen ausgeschlossen bleiben sollte. Vgl. schon die Akzentuierung,
in der Sache
richtige Bewertung dieser „Parlamentarisierung" bei Theobald v. Bethmann Hollweg, Betrachtungen
zum Weltkriege,
Bd.
I., Berlin
1919, S. 9 7 ;
einseitig Clemens
Delbrück, D i e wirtschaftliche Mobilmachung in Deutschland 1914, München
v.
1924,
S. 39. Vorsichtiger beschreibt Richard T h o m a den gleichen Sachverhalt als den Weg „zu
einem...
eigentümlich
modifizierten
parlamentarischen
bemerkt aber vollkommen unmißverständlich:
Regierungssystem",
„Es ist der beabsichtigte Sinn des
demokratischen Parlamentarismus, die zahlenmäßige Mehrheit des Gesamtvolkes so gut als möglich zur Geltung und Herrschaft zu bringen."
(Thoma, D e r Sinn des
deutschen Parlamentarismus: Recht und Staat im Neuen Deutschland. Vorlesungen, gehalten i. d. Deutschen Vereinigung f. Staatswissensch. Fortbildung, hrsg. v. Bernhard Harms, Berlin 1929, I. Bd., S. 99 u. 102). Über den deutschen Parlamentarismus der Vorweltkriegszeit und seine Möglichkeiten: Ludwig Bergstraesser, D i e Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland (Geschichte und Politik, Heft 13), Laupheim/ Württ. o. J . , und seine ausführlichere ältere Darstellung, Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland: H B d. Politik, I . B d . : Die Grundlagen der Politik, 3. Aufl. Berlin und Leipzig 1920, S. 3 2 9 — 3 3 6 ; vor allem aber die nach wie vor wichtige Arbeit von Walter Koch, V o l k und Staatsführung vor dem .Weltkriege
(Beiträge
zur Geschichte der nachbismarckischen Zeit und des Weltkrieges, Heft 29), Stuttgart 1935.
24
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
bleme ausgeht, die mit einer Erörterung dieser Fragen verknüpft wäre, erblicken andere gerade in der Umwälzung bestimmter sozialökonomischer Gegebenheiten, die als Grundlagen der politischen Herrschaftsordnung der Monarchie gelten, und demzufolge in der resoluten und unverzüglichen Beseitigung der „obrigkeitlichen und feudalen Elemente" des alten Reiches die große versäumte Chance der demokratischen Revolution. 4 Der Keim zur Auflösung lag dieser Auffassung zufolge schon in den Anfängen der Republik, als die Sozialdemokraten die Leitung der deutschen Politik in ihren Händen hielten und ihre Aufgabe versäumten, vor allem die „Ruhrmagnaten", den ostelbischen Grundbesitz, das alte Beamtentum und das Offizierskorps zu entmachten, das seine Traditionen in die junge Reichswehr der Republik hinübernehmen konnte. Was die Arbeiterbewegung unterließ, wurde dann niemals von den Kräften der bürgerlichen Demokratie angestrebt, geschweige denn erreicht, so daß die Opposition der konservativen Mächte Schritt für Schritt ihre Macht zu restaurieren vermochte, wenn am Ende auch nur mit Hilfe der „völkischen", nationalistischen Massenbewegung. Hierin sprach sich vor allem der unmittelbare Eindruck der Er4 Als erste Darstellung von wissenschaftlichem Rang und Ansehen ist Arthur Rosenbergs Geschichte der Weimarer Republik zu erwähnen, die bereits mit dem Notverordnungs-Regiment der Regierung Brüning, der „Todesstunde der Weimarer Republik" abbricht; jetzt in der von Kurt Kersten besorgten Neuausgabe: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1955, S. 273 ff., bes. S. 277 f., 305, 413 ff., 419, 473 ff.; unter seinem Einfluß auch A. Joseph Berlau, The German Social Democratic Party 1914—1921, New York 1949, S. 260 ff. Auch die jüngeren Untersuchungen zur Novemberrevolution gehören hierher: Rudolf Coper, Failure of a Revolution. Germany in 1918—1919, Cambridge 1955; und Eric Waldman, The Spartacist Uprising of 1919 and the Crisis of the German Socialist Movement. A Study of the Relation of Political Theory and Party Practice, Milwaukee 1958. Sehr ähnliche Auffassungen sind in jüngerer Zeit aber auch von konservativen Autoren ausgesprochen worden: so von Theodor Steltzer, Der 20. Juli und die Bewältigung der Zukunft: Deutsche Rundschau, 87. Jg./1961, S. 830; vorher andeutungsweise auch schon von Hans Schlange-Schöningen, Am Tage danach, Hamburg 1946, S. 19. Im Zusammenhang mit dem Sturz Brünings erhält dieses Urteil eine höchst greifbare und schlechthin paradigmatische Bedeutung. So unter namhaften Historikern zuerst bei Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946, S. 105: „Militaristische, großindustrielle und großagrarische Interessen, miteinander verknotet und auf den Faktor Hindenburg einwirkend, haben den Sturz Brünings zu Wege gebracht, unter dessen Führung Deutschland im Stande gewesen wäre, die schwere wirtschaftliche und geistige Krisis zu überstehen und dem verderblichen Experiment des Dritten Reiches zu entgehen."
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
25
fahrungen aus, die mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, der Machtergreifung der N S D A P und dem Untergang des Weimarer Staates verbunden waren und die nun die Ursachen f ü r dieses so verhängnisvolle Ereignis in einer tieferen Schicht der Geschichte der Republik aufsuchen ließen. Auf diese Weise ist die Geschichte der Sozialdemokratie in den Vordergrund der Erörterung gerückt worden, was auf die außerdeutsche Zeitgeschichtsforschung nicht ohne Anziehungskraft geblieben ist, so daß das Schicksal der Demokratie in Deutschland nicht gerade selten von der inneren Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie abhängig erscheint. Diese Auffassung ergibt sich indes keineswegs nur aus einem politischen Credo, sondern beansprucht allgemeine Geltung, wenn sie auch die Frage nach dem Wie hinsichtlich einer politischen Ausschaltung der Gegenkräfte nicht zu beantworten unternimmt und weiterhin der Diskussion überläßt. Eine wesentliche Einsicht Arthur Rosenbergs behält eben in der Form, in der er sie in Worte faßte, gleichsam als Schlüsselstelle seiner Darlegung von 1935 für die Forschung wohl noch auf längere Sicht stimulierende Bedeutung: „ . . . eine politische Bewegung, die sich nur auf die Stimmzettel verläßt und alle anderen Faktoren vernachläßigt, kann böse Enttäuschungen erleben. Eine Parlamentsmehrheit ist ohnmächtig, wenn sie z. B. die Armee und die entscheidenden Wirtschaftsmächte gegen sich hat. N u r wenn der Rhythmus des parlamentarischen Lebens mit dem der übrigen gesellschaftlichen Kräfte übereinstimmt, kann eine Demokratie wirklich funktionieren". 5 Die Allgemeingültigkeit dieser Einsicht läßt sich kaum in Frage stellen. Man wird sie infolgedessen auch bei einer kritischen Untersuchung der Geschichte der Weimarer Republik nicht außer Acht lassen dürfen, mögen sich auch außerhalb dieses Aspektes eine Fülle von erklärenden Gründen f ü r den Fehlschlag der Demokratie in Deutschland anbieten. Welchen der Maßstäbe, die diesen beiden unterschiedlichen Urteilen über die jüngere deutsche Geschichte zugrunde liegen, man nun aber auch anlegen möchte: im letzten ist ihnen der Befund des Mangels hinsichtlich der Voraussetzungen gemeinsam, des historisch bedingten Mangels, der weder die Inauguration eines gewährleisteten Parlamentarismus zuließ noch die sozialistische Revolution, die nur mit den Instrumenten der revolutionären Diktatur in Gang zu bringen ist. Infolgedessen blieb im Augenblick, da die Monarchie beseitigt war, für jedes neue Regiment einer jeden Partei, die sich nicht selbst zu Grabe 5
A. Rosenberg, Entstehung und Gesdiichte, S. 282 f.
26
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
tragen wollte, sondern eine alsbaldige Konsolidierung der Macht erstrebte, nur der Weg einer bedingten, einer partiellen Herrschaft mit Hilfe vorhandener Institutionen und auch unter Hinnahme einiger unvermeidlicher Traditionsbestände. Damit konnten freilich grundsätzliche Entscheidungen über die Zukunftsformen der Republik keineswegs aufgehoben, ja nicht einmal wirklich aufgeschoben sein. Der wahre Wert der Augenblicksbündnisse hing letztlich doch von den Möglichkeiten ab, die es eröffnete und die sich im Gange weiterer Entwicklungen boten, aus der raschen Konsolidierung ein dauernd funktionsfähiges demokratisches System zu entwickeln. Politische Lage und historische Rolle der
Sozialdemokratie
Das Reich Bismarcks war von verbündeten Fürsten gegründet worden, denen ein loyales Beamtentum diente. Seine leitenden Gruppen hatten sich längst als wichtige politische Faktoren erwiesen und schon vor, aber auch mit der Entstehung parlamentarischer Institutionen politisches Selbstbewußtsein gewonnen, ohne jedoch im Allgemeinen wie im Grundsätzlichen die wesentlichen Charaktermerkmale abzulegen, die die Bürokratien der deutschen Staaten seit ihrer Aufstiegsperiode im Zeitalter des Absolutismus, während der Aufklärung und des frühen Konstitutionalismus mit sich trugen. In den einzelnen Ländern bildeten sie trotz des Nebeneinanders von Adel und Bürgertum im großen und ganzen homogene Körper, da die Elemente der Tradition, der Ausbildung, von Erziehung und Gewohnheit alle anderen überdeckten und der Bürokratie wie der Richterschaft eine im ganzen vorwiegend konservative Prägung gaben. Nach dem Zusammenbruch der militärischen Macht, der gleichzeitig auch der des alten monarchischen Staates war, fiel dem Beamtentum sofort eine neue wichtige Rolle zu. Die vorerst unvermeidliche Beibehaltung der Kriegsnotwirtschafl ließ den zur Macht gelangten Kräften keine andere Wahl, als zu einem Einverständnis mit den Beamten des Reiches und der Länder zu gelangen und den weiten Abstand zwischen parlamentarischen Regierungen und traditionsbewußtem Verwaltungspersonal zu überbrücken. Die Prinzipien des auf dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht beruhenden parlamentarischen Parteienstaates setzten sich im Reich, in den Ländern wie in den Gemeinden durch; die Demokratisierung des öffentlichen Lebens machte jedoch Halt vor der bestehenden Organisation der Verwaltungen, so daß ein bekannter Jurist in einem berühmten Buche des Verwaltungsrechts nicht ohne Grund spä-
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
27
ter sogar die Feststellung treffen konnte, Neues sei „seit 1914 und 1917 nicht nachzutragen", woraus er die Folgerung zog: „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht" 6 . So ist die Weimarer Republik f ü r große Teile ihrer Geschichte zu einem praktikablen Bündnis zwischen Beamtentum und parlamentarischen Parteien geworden, das bis zum Endstadium einer allmählichen Auflösung f ü r beide Seiten zwischen der Bedeutung eines Uberzeugungsbündnisses und eines taktischen Gelegenheitsbündnisses wider die Gesinnung schwankte. Es hatte entscheidenden Anteil daran, daß sich der Territorialstaatsgedanke „nach Fortfall der Dynastien hineingerettet hat in Bürokratien und Parlamente der Länder" 7 . Die Kräfte und Bewegungen, die ein revolutionärer Fortgang der Umwälzung ins Spiel gebracht hätte, wären zweifellos unübersichtlich gewesen; sie hätten eine ungewisse Zukunft verheißen und nach verbreiteter Überzeugung „nicht die Einheit, sondern den völligen Zerfall Deutschlands herbeigeführt". 8 Infolgedessen gab es bald ein H a l t auf neuen Wegen in Gestalt eines Komplexes von Kompromissen, der in der Weimarer Reichs Verfassung zwar keinen erschöpfenden, aber einen vorerst abschließenden verfassungsrechtlichen Ausdruck fand und die Legitimität der regierenden Kräfte, die sich keineswegs vorbehaltlos auf die Revolution berufen wollten, in ausreichender Weise sicherte. Die Geschichte der deutschen Republik beginnt jedoch nicht erst mit diesem Verfassungswerk. Ebensowenig wird man sagen können, daß sein Normensystem die gesamte deutsche Verfassungswirklichkeit umriß; wohl aber trafen die verfassunggebenden Kräfte eine Reihe grundsätzlicher Entscheidungen, die die Verfassungspolitik der deutschen 6
Vorwort zur 3. Aufl. von Otto Mayers Deutschem Verwaltungsrecht, I. Bd. (Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, begr. v. Friedrich Oetker, 6. Abt., I. Bd.), München und Leipzig 1924. 7 Bill Drews, Probleme der Verwaltungsreform: Recht und Staat im Neuen Deutschland. Vorlesungen, gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftl. Fortbildung, hrsg. v. Bernhard Harms, Bd. II, Berlin 1929, S. 73. In der Sache ähnlich deutlich, auf Bayern bezogen, dem gemeinhin die volkstümlichste Eigenstaatlichkeit nachgesagt wird, Karl Schwend, Bayern zwischen Monardiie und Diktatur. Beiträge zur bayerischen Frage in der Zeit von 1918 bis 1933, München 1954, S. 70. In Bayern waren sogar die drei Ministerpräsidenten der Jahre 1920—24 hohe Beamte der vorrevolutionären Zeit. 8
Otto Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem? Berlin 1927, S. 14. Dieser Ansicht entspricht in etwa 3 uch die Hauptthese, die Georg Kotowski, allerdings auf die Politik Friedrich Eberts bezogen, neuerdings vertritt: Die deutsche Novemberrevolution: Aus Politik und Zeitgeschehen. Beilage zur Wodienzeitung „Das Parlament", B 49/60, bes. S. 767.
28
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Regierungen, ja das Schicksal der deutschen Nation in eine neue Richtung lenken sollten. Hierzu zählten die liberalen Grundrechte f ü r alle Deutschen, die Entscheidung zugunsten demokratischer Wahlrechtsgrundsätze im Reich, in den Ländern und in den Kommunen, die Entscheidung f ü r eine parlamentarische Regierungsweise, aber auch zugunsten weit gefaßter Rechte und Befugnisse des Reichspräsidenten, f ü r besondere Rechte des Berufsbeamtentums und f ü r eine Aufgabenteilung zwischen Reich und Ländern, die der Reichsgewalt weit größere Möglichkeiten einräumte, als es die Bismarcksche Bundesverfassung getan hatte. Die Reichswehr, die Nachfolgerin des alten Heeres und Trägerin der militärischen Traditionen, wurde indessen nur in einer einzigen Hinsicht berücksichtigt, die ihre wahre politische Stellung und Bedeutung kaum vermuten läßt: im Zusammenhang mit der Regelung des Oberbefehls, der in die Hände des Reichspräsidenten gelegt wurde. Soweit all dies gemeint ist, dürfen wir sicherlich alle jene Momente, die dazu beitrugen, daß diese Entscheidung über die politisch-rechtlichen Elemente der Republik einer verfassunggebenden Nationalversammlung zufiel, aber auch jene, die das Zustandekommen des Verfassungswerks in seiner endgültigen Form maßgeblich beeinflußten, als „Entscheidungssituation" 9 zusammenfassen. Art und Umfang der wirklich getroffenen Entscheidungen und der weitere Gang der inneren Entwicklung der Republik stehen aber doch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vorgeschichte dieser „Entscheidungssituation", die es daher unbedingt verdient, in die Geschichte der Weimarer Republik einbezogen zu werden. Im Grunde hatten sich schon vor dem Sturze der Monarchie die bestimmenden Mächte der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik ausgebildet. Hierzu zählten die Parteien, im besonderen die innerparlamentarische Koalition der Mehrheitsparteien, die Verwaltungsbürokratie, im besonderen die der Ministerien und der Reichsämter, die in unbeirrbarer Stetigkeit ihre traditionelle Tätigkeit fortsetzte und im Stillen, aber in großem U m f a n g zur raschen Wiederherstellung, zur Fortsetzung und begrenzten Fortbildung altgewohnter Zustände beitrug, die Armee, die bis 1919 unter der Kriegsführung der Obersten Heeresleitung stand, und die revolutionäre klassenkämp* Karl Dietrich Erdmann, Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft: V j Z 3. Jg./1955, S. 7. — Einen umfassenden Uberblick über die Literatur gibt neuerdings der Aufsatz von Eric C. Kolman, Reinterpreting Modern German History. The Weimar Republic: Journal of Central European Affairs, vol. XXI/1962, S. 434—451.
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre
Bündnisse
29
ferische Strömung innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Beziehungen zwischen diesen Mächten näherten sich bereits während der letzten Kriegswochen unter dem dominierenden Gesichtspunkt einer Aufrechterhaltung der „inneren Einheitsfront" zur Erhaltung der nationalen Existenz in einer düsteren Zukunft einem neuen Stadium, dem es von militärischer Seite zugedacht war, den Burgfrieden von 1914 in neuer Form und mit demokratischen Zusätzen zu beleben. Zum ersten Male begegnen wir hier innerhalb der Geschichte der entstehenden Republik einem Augenblick, in dem Demokratie und Diktatur bis zur Unlösbarkeit miteinander verwoben scheinen, so daß es schwer wird, ihre weltenfernen Ursprünge wiederzuerkennen. Die Oberste Heeresleitung Hindenburgs und Ludendorffs gab Ende September 1918 den letzten Anstoß zur Parlamentarisierung der Reichsregierung unter Einbeziehung der Mehrheitssozialdemokraten. 10 Und das hohe Beamtentum der Länder mühte sich um einen Anschluß ihrer Fürstenhäuser, die über „keinen absolut verläßlichen Stützpunkt" mehr verfügten, an die Mehrheiten, die die Parlamente beherrschten, in erster Linie an die Sozialdemokraten, die in der Lage zu sein schienen, „das Vertrauen des Volkes neu" zu gewinnen 11 . Gewiß nicht viele, aber sicherlich die besten Köpfe des Beamtentums besaßen politische Einsicht genug, um die geschichtliche Höhe der Situation zu erfassen und die Schwächen und Fehler des alten Regiments zu erkennen. Mit lebendi10 Als geistiger Vater aller dieser als „Revolution von oben" bezeichneten Maßnahmen, die auf eine parlamentarisch verhüllte Mediatdiktatur mit H i l f e „einer neuen Regierung auf breiter nationaler Basis" hinsteuerten, gilt der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes während der letzten Monate des Kabinetts H e u l i n g , Paul v. Hintze. Der Admiral hatte seine Gedanken zum ersten Male am 28. September 1918 niedergelegt und am folgenden Tage Hindenburg und Ludendorff im Großen Hauptquartier vorgetragen, wo bereits ähnliche Überlegungen angestellt wurden. S. U r k u n d e n der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18, hrsg. v. Eridi Ludendorff, Berlin 1920, S. 522. Hierzu auch Alfred Niemann, Revolution von oben — Umsturz von unten. Entwicklung und Verlauf der Staatsumwälzung in Deutschland 1914—1918, Berlin 1927, S. 105 ff., 120 ff.; Karl Graf v. Hertling, Ein Jahr in der Reichskanzlei, Freiburg i. B. 1919, S. 176; Prinz Max v. Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin und Leipzig 1927, S. 328 ff. Vgl. audi die Mitteilung des Staatsministers Graf Roedern in einer vertraulichen Besprechung des Preußischen Staatsministeriums am 30. 9. 1918, wiedergegeben in der Quellenpublikation: Die Auswirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland IV, S. 1581. Übereinstimmend mit der O H L auch Erzbergers Aufzeichnung vom 2 7 . 9 . 1 9 1 8 : Matthias/Morsey, Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 II, S. 701 ff. 11 Immediatberidit des sächsischen Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten vom 14. 10. 1918, Stern, Auswirkungen IV, S. 1600.
30
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
gern Sinn für das Notwendige bemühten sie sich darum, mit „neuen Gedanken . . . neue Hoffnungen" zu erwecken, die Sozialdemokratie mit der „nationalen Partei" zu versöhnen und „für den Staatszweck" zu gewinnen. So schrieb der leitende sächsische Minister, Christoph Graf Vitzthum v. Eckstädt, am 14. Oktober 1918 seinem König: Auf die Dauer werde „der Wunsch des Volkes . . . nicht zurückgedrängt werden können, sein Schicksal selbst mitzuschmieden, zum mindesten die Tätigkeit der Regierung stärker als bisher zu kontrollieren. Es werden dabei Mittel und Wege gefunden werden müssen, diesem Wunsche entgegenzukommen. Jede schroffe Ablehnung und unversöhnliche Haltung der Regierung würde die unausbleibliche Folge haben, die gesamten sächsischen Sozialdemokraten in das Lager der Unabhängigen, d. h. des Bolschewismus zu treiben, und dies wird unter allen Umständen zu vermeiden sein"12. „Bolschewismus" war das Wort des Schreckens, das hier stellvertretend für all die Ungewißheiten des odiösen Umsturzes steht. Nicht minder denkwürdige Zeugnisse sind aus Bayern wie aus Preußen überliefert, wo zu dieser Zeit sogar über „eine allmähliche Umbildung der Verwaltung" als einem Zugeständnis an die Sozialdemokratie gesprochen wurde 13 . Daß die innere Lage Deutschlands vor und nach dem Sturz der Monarchie so rasch in den Aspekt einer scheinbar unausweichlichen Alternative zwischen nationaler Existenz und radikaler Revolution geriet, lag nicht zum wenigsten an eben der entscheidenden Rolle, die die Sozialdemokratie in der Phase des Umsturzes übernahm. Sie brachte manche Voraussetzungen mit, die ein Bündnis mit den traditionellen Mächten begünstigten. Sie berief sich in der Theorie zwar auch immer wieder auf Selbstverwaltungs- und Räteideen; doch die zentralistisch-machtpolitische Auffassung setzte sich trotz aller Differenzierungsversuche im Verlaufe der tiefgreifenden Erörterungen während der Vorkriegsjahre in der großen Mehrheit der sozialdemokratischen Parteiführer durch.14 Diese Tatsache machte es leicht, die Revolution als einen „elementaren Vorstoß für den Einheitsstaat" zu deu12
a. a. O., S. 1603. a . a . O . , S. 1685 f., 1693, 1762, 1778 ff.; über die f ü r den 8. November vorgesehene, durch den Umsturz jedoch verhinderte Umbildung der bayerischen Regierung berichten die Erinnerungen des damaligen Ministerkandidaten Ernst Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin und Leipzig 1923, S. 30. 13
14
Vgl. Karl Kautsky und Bruno Schönlank, Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie. Erläuterungen zum E r f u r t e r Programm, Berlin 1907, S. 36.
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre
Bündnisse
31
ten, der als bescheidene, dafür aber realistische Alternative zur „unmittelbaren Verwirklichung des Sozialismus" 15 galt. Hierbei wurde der Sinn dieses Vorgangs in der Schaffung einer Staatsform gesehen, die den Fürstenbundesstaat endgültig beseitigte und institutionell überwand. Im Augenblick, da das Reich Bismarcks zusammenbrach, konnte die Sozialdemokratie ihre Tradition und das seit Jahrzehnten erwiesene Beharrungsvermögen ihrer Mehrheit in die Waagschale werfen. Die junge radikale Linke, die sich erst spät von ihr abgespalten hatte, befand sich noch in der Phase erster Entwicklung. Sie hat die Erfahrungen und Nöte der ersten Krise, die die Revolution f ü r sie bedeutete, niemals wirklich bewältigt und sich später der politischen Linie und Ideologie nach dem Diktat einer internationalen Oligarchie unterworfen 1 6 . Einige ihrer Führer sahen während der Revolution ihre entscheidende Chance darin, mit Hilfe der ihnen anhängenden, verhältnismäßig geringen Minderheit die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen und durch unentwegtes Agitieren und Agieren die Konsolidierung einer neuen Ordnung zu verhindern. Vom Ergebnis her betrachtet, trugen sie jedoch dazu bei, daß diese Bewegung ins Uferlose verlief und jede Chance vertan wurde. Im Grunde vollzog sich während des Novemberumsturzes von 1918 und danach die endgültige Scheidung der revisionistisch-parlamentarischen, mit Hilfe zahlreicher Kompromisse zur Regierung gelangenden Sozialdemokratie vom revolutionären ideologischen Sozialismus, die schon seit langem in der proletarischen Arbeiterbewegung angelegt war, mit ihr aufwuchs und sich in den großen innerparteilichen Erörterungen der Vorkriegssozialdemokratie deutlich ausgeprägt hatte. 17 15 O t t o Kirchheimer, Weimar und was dann? (Jungsozialistische Schriftenreihe), Berlin 1930, S. 9. Vgl. auch A. Rosenberg, Entstehung und Geschichte, S. 308: „Man hätte von der deutschen Revolution zumindest erwarten können, d a ß sie die überlebte Kleinstaaterei beseitigen und sofort den deutschen Einheitsstaat verwirklichen würde."
" Über die Kommunistische Partei: Ossip K. Flechtheim, Die Kommunistische Partei Deutschlands in der Weimarer Republik, Offenbach a. M. 1948. 17
Die erste Phase dieser Auseinandersetzung begann mit der berühmten Rede Georg v. Vollmars im Münchener Eldorado-Palast am 1. Juni 1891; vgl. hierzu Reinhard Jansen, Georg von Vollmar. Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 13), Düsseldorf 1959, S. 39 ff. — Die wichtigste Phase setzte nadi der Rüdekehr E d u a r d Bernsteins aus dem englischen Exil und mit seinen Versuchen einer Revision von Parteiprogramm und Parteitaktik ein, die von der weltpolitischen Entwicklung über-
32
I- Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
Diese zunächst v o m parteigeschichtlichen und -politischen P r o z e ß her und dann von der gegenrevolutionären Aktion bestimmte Entwicklung Deutschlands brachte Rechtsbrüche, Rechtsvernichtungen, keiten und Gewalttätigkeiten.
Doch die Aufrichtung
Gewaltsam-
der
Republik
w a r keineswegs das Erzeugnis dieser Erschütterungen; und diese wird man weit weniger als Ursachen denn als sekundäre Begleiterscheinungen der Geburt des Staates von W e i m a r ansehen dürfen und als E r gebnisse des militärischen Zusammenbruchs mit den ihm anhängenden Folgen der militärischen Auflösung, der wirtschaftlichen Umstellungskrise und — für viele Deutsche — des Einsturzes des allzulang aufrecht erhaltenen Gebäudes aus illusionären Hoffnungen und Wünschen. Die „ I m p r o v i s a t i o n " des parlamentarisch-demokratisch ausgestalteten Verfassungstaates von W e i m a r sollte daher besser nicht eine „Revolution" genannt werden — um der Vermeidung denkbarer M i ß verständnisse und um der begrifflichen Klarheit willen, die es nach totalitären Epochen und nach dem A u f k o m m e n totalitärer
Systeme
nicht mehr ratsam sein läßt, für die moderne Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung den Begriff der Revolution anders zu verwenden schattet waren. Hierzu unter verschiedenen Aspekten aus der jüngeren
Literatur:
E r i k a R i k l i , D e r Revisionismus. Ein Revisionsversuch der deutschen marxistischen Theorie
1890—1914.
(Züricher
Volkswirtschaftliche
Forschungen, Bd. 25),
Zürich
1 9 3 6 ; Peter G a y , D a s Dilemma des demokratischen Sozialismus. Eduard Bernsteins Auseinandersetzung mit M a r x , Nürnberg 1954 (dt. Ubers, des amerikanischen Originals: T h e D i l e m m a o f Democratic Socialism. Eduard Bernstein's Challenge to M a r x , New-York
1 9 5 2 ) ; vor allem aber C a r l E . Schorske, German
Social
Democracy
1 9 0 5 — 1 9 1 7 . T h e Development of the G r e a t Schism ( H a r v a r d Historical Bd. L X V ) , Cambridge Mass. 1955. Hierzu auch die eingehende, klug Besprechung von Klaus Epstein, Three American
Studies,
abwägende
Studies o f German
Socialism:
World Politics, vol. X I / 1 9 5 9 , S . 6 2 9 — 6 5 1 . — D e r Verfasser hat sich vor einiger Zeit mit den Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie Aspekt ihrer Stellung zur außenpolitischen Entwicklung
b e f a ß t : Gerhard
Die deutsche Sozialdemokratie und die Entwicklung der auswärtigen
im
Schulz,
Beziehungen
vor 1914, phil. Diss. Freie U n i v . Berlin 1952 (Maschschr.) — Für die Entwicklung während der Novemberrevolution die wichtigen persönlichen Zeugnisse: Paul F r ö lich, 10 J a h r e Krieg und Bürgerkrieg, B d . I : D e r Krieg, Berlin 1 9 2 4 ; Hugo Haase, Sein Leben und Wirken, mit einer Auswahl von Briefen, Reden und Aufsätzen, hrsg. v. Ernst Haase, Berlin o. J . ; K a r l R a d e k , In den Reihen der deutschen R e volution
1909—1919.
Gesammelte
Aufsätze
und
Abhandlungen,
München
1 9 2 1 ; Philipp Scheidemann, D e r Zusammenbruch, Berlin 1921, u. ders., Memoiren eines Sozialdemokraten,
2.
Bde.,
Dresden
1928;
Carl
Severing,
Mein
Le-
bensweg, 2 Bde., K ö l n 1 9 5 0 ; Friedrich Stampfer, D i e ersten 14 J a h r e der deutschen Revolution, Hamburg 1 9 5 3 ; und Heinrich Ströbel, Die deutsche Revolution. Ihr Unglück und ihre Rettung, Berlin 1920.
Die parlamentarischen Kräfle und ihre Bündnisse
33
als in dem vollen Sinne einer totalen U m w ä l z u n g , die mehr oder minder alle gesellschaftlichen Verhältnisse erfaßt und in ihren unwiderstehlichen Sog zieht 1 8 . Unbestreitbar aber, so p a r a d o x dies zunächst auch klingen mag, weisen sozialer Hintergrund und Ursprung
der
deutschen Staatsumwälzung doch auch revolutionäre Züge auf. D e r Kriegsausbruch führte zunächst zum Burgfrieden der politischen Parteien ohne Ausnahme. Doch die „nationale Einheitsfront" der industrialisierten Gesellschaft blieb nur eine befristete Gemeinschaft des Kriegsnotstandes,
die freilich, mit der Länge des Krieges über die
Fristen der anfänglich allzu optimistisch gehaltenen Prognosen hinaus und mit den zunehmenden Anforderungen an die physische und psychische Opferbereitschaft des Volkes gefährdet, fragwürdig und schließlich zweifelhaft wurde. Nach der Revolutionierung Rußlands, als die Machthaber des Sowjetstaates durch zahlreiche K a n ä l e und in mannigfacher F o r m der Sympathieäußerung eine revolutionäre Entwicklung auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung auszulösen suchten und die Parole einer Uberleitung des Krieges in die Weltrevolution v o r bereiteten, 1 9 w a r dann nicht mehr zu erwarten, daß die zur Ruhe gezwungene revolutionäre Minderheit noch länger unbeteiligt bleiben würde und die „nationale Einheitsfront" der ersten Kriegstage wiederhergestellt werden könnte. 18
Zur
Geschichte des Revolutionsbegriffs
neuzeitliche hrsg.
v.
Revolutionsbegriff.
Ingeborg
Horn,
„Novemberrevolution
Entstehung
Weimar
1918"
1955.
von Willibalt
bis auf M a r x : und
Vgl.
Karl
Entwicklung, auch
die
aus
Griewank, dem
Bemerkungen
Der
Nachlaß über
Apelt, Geschichte der Weimarer
die Ver-
fassung, München 1946, S. 35 ff. 19
Zeugnisse einer direkten oder indirekten sowjetischen Einflußnahme auf
die
revolutionäre Bewegung in Deutschland finden sich in der jetzt veröffentlichten reichhaltigen
Sammlung
archivalischer Materialien
aus deutschen Archiven: Die
Aus-
wirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, u. a. Bd. 4, S. 1592 f., 1627,
1639,
1681,
1691,
1783 ff. Die
Auslösung der russischen Oktoberrevolution
deutsche Beeinflussung, ja
sogar
ist dagegen in dieser Quellenauswahl
weder berücksichtigt noch andeutungsweise erkennbar geworden. Vgl. hierzu: Germany and the Revolution in Russia 1 9 1 5 — 1 9 1 8 . Documents from the Archivs of the German Foreign Ministry, ed. by Z. B . Zeman, L o n d o n / N e w Y o r k / T r o n t o 1 9 5 8 ; den Aufsatz von Fritz Fischer, Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Separatfrieden im Osten 1 9 1 4 — 1 9 1 8 ;
H Z B d . 188/1959, bes. S. 2 9 9 ff.; ferner
Werner
Hahlweg, Lenins Rückkehr nach R u ß l a n d 1917 (Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. 4), Leiden 1957. — Das T h e m a der russischen Verbindungen Räterepublik vom F r ü h j a h r
der Münchener
1919 ist jetzt von Helmut Neubauer, München und
Moskau 1 9 1 8 / 1 9 (Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Beiheft 4), München 1958, bes. S. 40 ff., 52 ff., 6 6 ff., für beide Phasen eingehend behandelt worden. 3 Sdiulz I
34
/ . Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Die Idee der sozialistischen Weltrevolution hatte seit den Tagen des Kommunistischen Manifests freilich viel von ihrer Bedeutung für die marxistische Arbeiterbewegung verloren. Daß sie gegen Ende des Weltkrieges von bolschewistischer Seite aufgegriffen und erneut verbreitet wurde, zeugt von dem hohen Grad, den die revolutionären Leidenschaften der siegreichen Uberwinder des Zarenstaates erlangt hatten, aber sicherlich nicht für die theoretische Reife ihrer Ideologie und ganz gewiß nicht für eine realistische Einschätzung der weltpolitischen Situation, in der das greifbar nahe Ende des Krieges die Welt endgültig in zwei Lager, das der Siegermächte und das der Besiegten, zu zerreißen drohte. Doch von keinem der Führer der deutschen Arbeiterbewegung ist zu diesem Zeitpunkt, da jede Aktion vor allem von Friedenssehnsucht und Pazifismus diktiert wurde und da sogar für den „Spartakusbund", trotz des Bekenntnisses zur dritten Internationale, die Parole lautete: „Krieg dem Kriege", 2 0 die Idee der Weltrevolution in der von der bolschewistischen Partei Rußlands propagierten und aktualisierten Form übernommen worden. Selbst die entschieden revolutionäre Bewegung verlief fürs erste in wohlorganisierter Diszipliniertheit. Sie breitete sich an der Wasserkante, von Kiel über Hamburg, Cuxhaven und Bremen bis Wilhelmshaven, aus, danach im Binnenlande zuerst in Großstädten mit großer Arbeiterbevölkerung, außerhalb Berlins vor allem in München, in Leipzig und Braunschweig; sie griff auf Halle, Magdeburg, Köln und Mannheim über und machte sich im Kreise Teltow-Beeskow unmittelbar am Rande der Reichshauptstadt bemerkbar. Doch sie nahm trotz der Kampfparolen des Spartakusbundes, die sich um eine Imitation der brisanten Revolutionsrhetorik von Marx und seinen Vorgängern bemühten, nur den Charakter eines pazifistischen, teilweise, wo die wirtschaftliche Bedrängnis besonders stark empfunden wurde, eines sozialen Radikalismus an, an dem politisch die Stoßrichtung gegen jedwede Erscheinungsform der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse entscheidend war. Die Initiative zur Aktion ging keineswegs von den agitatorisch wirkenden Spartakisten aus, sondern von der aus größeren Betrieben rekrutierten, zentral geleiteten Organisation der „Revolutionären Obleute", die aus der innerparteilichen Opposition gegen den politischen Kurs, den Parteiführung und Reichstagsfraktion der Mehrheitssozialdemokratie 20
Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik, Bd. I: Ein Beitrag zur Ge-
schichte der revolutionären Arbeiterbewegung während des Weltkrieges, Wien 1924, S. 71.
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
35
seit Kriegsbeginn verfolgten, und gegen die ihm folgende Gewerkschaftsleitung hervorgegangen war. Die Revolutionären Obleute hatten Anfang 1916 den ersten, im April 1917 den zweiten und Ende Januar 1918, im Zusammenhang mit dem Brest-Litowsker Friedensschluß, den dritten, wesentlich größeren politischen Massenstreik in Szene gesetzt. Diese Streiks verliefen im Hinblick auf die Disziplin und die wachsende Zahl der Beteiligten einigermaßen erfolgreich. Sie führten schließlich, nach längerer Vorbereitung in der Dunkelheit der Illegalität unter polizeilichen und militärischen Zwangsmaßnahmen, in ihrem letzten Stadium, nach den Angaben eines glaubwürdigen Führers, allein in den Berliner Betrieben nahezu eine halbe Million Arbeiter zur politischen Demonstration zusammen 21 . Diese in erster Linie politischen, nur vereinzelt mit wirtschaftlichen Forderungen verknüpften Massenstreiks richteten sich gegen die Fortführung des Krieges, gegen das bestehende Regiment, aber nicht minder entschieden, wenn auch keineswegs mit ähnlich eindeutigen Erklärungen, gegen die Führung der sozialdemokratischen Gewerkschaften und gegen die Partei selbst 22 . Sie bildeten Stationen eines an Härte zunehmenden Kampfes um den Anhang in der Arbeiterschaft und um die politische Führung der Arbeiterbewegung, die der taktischen Konzeption der „revolutionären Gymnastik" zufolge den radikalsten Aktivisten zufallen sollte. Doch bereits der Januarstreik wurde dank der zunächst einheitlichen und dann vermittelnden Haltung der USPDFührung und schließlich dank des Hinzutretens der Mehrheitssozialdemokraten zu einer Angelegenheit der gesamten Sozialdemokratie, sowohl ihrer revolutionären Richtungen wie ihrer reformistischen Mehrheit. Der Entschluß zu diesem im Grundsätzlichen maßvollen und vorsichtigen Ausbrechen der Mehrheitssozialdemokraten unter der Führung Eberts und Scheidemanns aus der Front des parlamentarischgouvernementalen Burgfriedens stellte vorübergehend die Einheit der sozialistischen Arbeiterbewegung wieder her und verschaffte den Mehrheitssozialdemokraten — was f ü r die weitere Entwicklung ungleich wichtiger wurde — die entscheidende Handlungsmöglichkeit in den Wochen des Umsturzes und in den Monaten des kritischen Übergangs, da sie während dieser Phase sowohl innerhalb der Parteien der parlamentarischen Koalition als auch zugleich innerhalb der sozialistischen Bewegung den entscheidenden Platz behauptete. Mit der Zuspitzung
3'
21
a. a. O., S. 6 f., 81 ff., 100 ff.
22
a. a.O., S. 81, 85, 109, 125 ff.
36
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
der militärischen Lage im Laufe des Spätsommers 1918 löste sich dann aber die kleine revolutionäre Aktionsgemeinschaft wieder aus dieser für sie tödlichen Umarmung der Mehrheitspartei, um unter der Autorität Karl Liebknechts, der aus mehr als zweijähriger Haft freigekommen war, weiterreichende und radikalere Aktionen vorzubereiten, die die Revolution herbeiführen, mit dem verachteten „demokratischen Staatsplunder Schluß" machen und eine „Räterepublik nach russischem Muster" aufrichten sollten. Hierfür gewannen sie schließlich auch den Vorstand der USPD, der jedoch eine Verzögerung erwirkte, so daß der entscheidende Schlag, entgegen anfänglichen Plänen, erst auf den 11. November festgesetzt wurde23. Doch die von Kiel und München ausgehende spontane Erhebung der Matrosen und der Arbeiter schritt über die Dispositionen dieser „geplanten" Revolution hinweg und ließ das Gesetz des Handelns wieder auf die besser vorbereiteten Führer der Mehrheitssozialdemokraten übergehen. Partei- und Fraktionsführung hatten verhältnismäßig lange am Burgfrieden vom 4. August 1914 festgehalten und sich auch nach der Sezession des linken Flügels und parteimäßigen Konstituierung der Unabhängigen nur schrittweise und vorsichtig von ihm gelöst, wobei ihre Entschlüsse weit mehr taktischen Erfordernissen nachgaben, als daß sie zu grundsätzlichen neuen Entscheidungen gelangten. Sie folgten in taktischer Anpassung dem Gang der Ereignisse, um der Gefahr des Uberrolltwerdens zu entgehen. Bereits an den großen Diskussionen der Vorkriegsparteitage fällt die Bedeutung des taktischen Elements in den Entschlüssen der Parteiführung auf. „Taktik" meint hier weniger als Politik und deutet keineswegs Programmatik an. Sie ergab sich als das vom Grundsätzlichen der marxistischen Lehre oder des offiziellen Parteiprogramms hergeleitete Verhalten in einer zeitlich begrenzten Situation, mit der auch jede Verbindlichkeit endete. Seit den langen, nicht enden wollenden Diskussionen, die die nebeneinander fließenden Strömungen des Revisionismus nach dem Fall des Sozialistengesetzes heraufbeschworen hatten und die den innerparteilichen Zusammenhang der deutschen Sozialdemokratie jahrelang auf eine harte Probe stellten, verfolgte die Parteiführung die Taktik, sich in einem steinernen Kreis der Abwehr einschneidender Änderungen und Reformen stets auf einen Kurs des unverbindlichen, das wachsende Heer der Anhänger von jeder tiefer gehenden Erschütterung und Auseinandersetzung frei haltenden Ausgleichs zu behaupten. Mag es auch 23
a. a. O., S. 139.
Die parlamentarischen
37
Kräfte und ihre Bündnisse
paradox klingen, so ist es doch wahr: Die deutsche Arbeiterpartei war zwar zu einer gewaltigen Massenpartei aufgestiegen, jedoch friedfertig geblieben und schwerfällig geworden. In der Nachbismarckzeit konnte sie sich zwar eines Zuwachses an liberalen Intellektuellen erfreuen, deren nach außen sichtbare, vornehmlich literarische Tätigkeit viel zur Erhöhung der Anziehungskraft dieser Partei beitrug, aber ohne entscheidenden Einfluß auf die innere Klärung wie auf die Führung der Partei blieb. Die seit der Jahrhundertwende offenkundig krisenhafte Problematik der größten sozialistischen Massenpartei wurde nie gelöst, aber auch niemals über Ansätze hinaus durchdacht, die von Anfang an stets nur bescheidene Kompromisse zuließen. Nach den beiden politischen Massenstreiks von 1916 und 1919 bezog die Taktik nun eine neue Rücksichtnahme ein, ließ sie sich an einen neuen Faktor binden, der in den Zeiten Bebels kaum je problematisch gewesen war: die Stimmung der Arbeiterschaft, in der die Konkurrenz der Unabhängigen wie der Revolutionären Obleute spürbar wurde und den bis dahin monopolartigen Einfluß der sozialdemokratischen Führung zu bedrohen begann. Ihre Taktik ist daher zuletzt auch von der als notwendig erkannten, weniger im Grundsätzlichen bestehenden Absicht bestimmt worden, die verlorene politische Einheit der Arbeiterbewegung zu überbrücken, ein Ziel, das zunädist in der U S P D auch die Gruppe um Hugo Haase anstrebte. Während der Kriegsjahre war die Mehrheitssozialdemokratie aber auch enger an die beiden bürgerlichen Oppositionsparteien des Reichstags, das Zentrum und den Fortschritt, herangerückt. Diese drei Parteien bildeten eine allmählich Zusammenhang gewinnende, wenn auch niemals auf Dauer begründete parlamentarische Mehrheit, die sidi Anfang Juli 1917 in einem inoffiziellen Ausschuß ein „Koordinierungsorgan" schuf 24 , in dem sich die spätere Koalition von Weimar vorbereitete. Die ersten Ansätze einer Verbindung dieser Parteien, noch auf das Gebiet der Außenpolitik beschränkt, waren 1913 und 1914 in den deutsch-französischen interparlamentarischen Konferenzen von Bern und Basel 25 entstanden. Bereits das gelegentliche Zusammengehen 24
Vgl. den Überblick in der Einleitung des Quellenwerkes von Erich Matthias,
Rudolf Morsey, Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18 I, S. X I . 26
Ausführlich hierzu Gilbert
Ziebura, D i e deutsche Frage in der
öffentlichen
Meinung Frankreichs von 1 9 1 1 — 1 9 1 4 (Studien zur europäischen Geschichte aus dem Friedridi-Meinecke-Institut
der Freien Universität Berlin, B d . I ) , Berlin
1955, S.
141 ff.; im Zusammenhang mit den internationalen Ausgleichsbestrebungen innerhalb der Sozialdemokratie: Gerhard Schulz, D i e deutsche Sozialdemokratie und die Idee
38
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
der Sozialdemokraten mit den Forschrittlern in den Landtagen Badens und Württembergs und bei der Reichstagswahl von 1912 deutete die Anfänge dieser Entwicklung an, die jedoch zunächst noch eine positive Beziehung zur Zentrumspartei ausschloß. Die treibende Kraft dieses Bündnisses, der badische Landtagsabgeordnete Ludwig Frank, war sowohl hier wie dort am Werk gewesen und hatte aus der breiten, uneinheitlichen Strömung des Revisionismus die Linie einer entschieden demokratischen, reformistisch-parlamentarischen Partei zu entwickeln versucht, die in dem Brückenschlag hinüber zum linken Bürgertum ihre politische Zukunft sah und auf diese Weise die Opposition der einstigen „Reichsfeinde" Bismarcks zur Koalition des Parlamentarismus zusammenschloß. Die Annahme der Friedensresolution Erzbergers am 16. Juli 1917 dokumentierte nach außen hin die Existenz dieser Koalition, die im Reichstag die Mehrheit besaß und, an die allmählich voranschreitende Veränderung der Verfassungswirklichkeit der Vorkriegszeit 26 anknüpfend, wenn auch in der Praxis noch recht zögernd, ihren Angriff gegen die Bastionen der Monarchie richtete: gegen die monarchische Kanzlerregierung ohne parlamentarische Bindung, gegen das militärische Ernennungsrecht der Monarchen und vor allem gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht. Der gewiß langsame, aber doch sichtbare Vormarsch des Reichstags im politischen Kräftefeld trat eben zu dem Zeitpunkt in die entscheidende Phase ein, als der über Kanzler und Kaiser triumphierende Wille der Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff, die im Volksglauben als nahezu charismatische Führerpersönlichkeiten galten, mit der Durchsetzung des uneingeschränkten U-Bootkrieges und dann schließlich mit dem Sturze Bethmann Hollwegs das Gesetz des Handelns auf dem Gebiete der allgemeinen Politik erlangt hatte. Sie folgte den von ihr angenommenen Gesetzen totaler Kriegsführung, wenn auch in den damaligen Beschränkungen der technischen Mittel und Erfahrungen, unter weitestgehender Ausnutzung aller verfügbaren oder von ihr f ü r verfügbar gehaltenen Kräfte. Den Kaiser entband sie von den Anwandlungen eines persönlichen Regiments wirksamer und endgültiger, als dies je zuvor die Regierung eines Reichskanzlers vermochte 27 , um ihn mehr und mehr als Medium eigener Zwecke und Pläne zu benutzen. Die jahrzehntelang auf Opposition und legislatodes internationalen Ausgleichs: Aus Geschichte und Politik. Festschrift z u m 70. Geburtstag von Ludwig Bergstraesser, Düsseldorf 1954, S. 114 f. 26 27
Vgl. W. Frauendienst, ZgSt Bd. 113/1957. Vgl. die Untersuchung von Fritz H ä r t u n g , Verantwortliche Regierung, K a b i -
Die parlamentarischen
Kräfle und ihre Bündnisse
39
risch prohibitive Einflußnahme 2 8 beschränkten Mehrheitsparteien des Reichstags traten jedoch eben in dem Maße, wie Macht und Stellung des Reichskanzlers dahinschwanden, mit ihm u n d an seiner Stelle als innerpolitische Gegenspieler der militärischen Führung hervor. „Hier politisierendes H a u p t q u a r t i e r und hier P a r l a m e n t ; dazwischen hin und her pendelt der Kanzler", schrieb E d u a r d D a v i d kurz vor dem Sturze Bethmann Hollwegs in seinem Tagebuch nieder. 29 Dieses Pendel wurde in der kurzen Kanzlerschaft Prinz M a x von Badens endgültig fixiert, als die Oberste Heeresleitung die Einbeziehung der parlamentarischen Mehrheit in das Reichskabinett 'durchsetzte und der Prinz dann seinerseits die Verabschiedung des allmächtigen Generalquartiermeisters Ludendorff verlangte, 30 dessen Vertrauenskapital erschöpft war, und sich f o r t a n nurmehr auf die parlamentarischen Repräsentanten in seinem Kabinett stützte. Nach den Reformen vom O k t o b e r 1918 vollzog sich dann mit der Bekanntgabe des Thronverzichts des Kaisers, der Ausrufung der Republik und dem Übergang des Kanzleramtes auf den Führer der Mehrheitssozialdemokraten die eigentliche „revolutionäre" verfassungsgeschichtliche Wende des 9. November, die zunächst die gesamte Verfassungsstruktur in Frage stellte, lokalen und regionalen Entwicklungen freien R a u m gab, aber doch schon bald ihre D y n a m i k verlor u n d ein neues Beziehungssystem zwischen parlamentarischen Parteien, Bürokratie, militärischer Gewalt und radikaler revolutionärer Bewegung entstehen ließ. Beamtentum
und Staatsgewalt
in der
„Revolution"
Die alsbaldige Wiederherstellung der „inneren Ruhe" und der Staatsordnung ohne eindeutiges Übergewicht einer dauernd regierungsfähigen G r u p p e oder Macht läßt sich einesteils psychologisch erklären, zum anderen aus dem vorherrschenden Staats- und Rechtsdenken herleiten, nette und Nebenregierungen im konstitutionellen Preußen 1848—1918: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte, Bd. 44/1932, S. 1—45 und 302—373. 28 Über den „negativen" Einfluß der Reichstagsmehrheit zuerst eingehend M a x Weber, P a r l a m e n t u n d Regierung im neugeordneten Deutschland: Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 169. Vgl. auch L. Bergstraesser, Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland S. 14. 29 Zit. aus dem unveröffentlichten Tagebuch Davids in der Einleitung von Matthias. Der interfraktionelle Ausschuß I, S. X X V I . 30 M a x P r i n z v. Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin u. Leipzig 1927, S. 500 ff.
40
I- Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
das vor allem im Beamtentum, in der gesamten Juristenschaft, in weiten Teilen des Bürgertums und auch innerhalb des Offizierskorps vorherrschte und infolgedessen erheblichen Einfluß auf die politische Urteilsbildung ausübte, die der öffentlichen Meinung zumindest teilweise zugrunde lag. Die in der Phase der Umwälzung maßgebenden Führer der Mehrheitssozialdemokratie haben diesem Umstand, ohne den keiner der Pakte, die sie abzuschließen sich genötigt sahen, je zustande gekommen wäre, in dem gleichen Umfang Rechnung getragen, wie es die bürgerlichen Parteien taten, und auch auf diese Weise den Prozeß der Verbürgerlichung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie vorangetrieben. Das alte Deutschland war nicht nur in den Vorstellungen Bismarcks saturiert. Für das Bürgertum, für große Teile des Beamtentums und des Offizierskorps der Vorkriegszeit ruhte die Welt in festen Angeln und blieb während des Weltkrieges lange Zeit der Glaube an eine Fortdauer des alten Zustandes ungebrochen. Der Zusammenbruch dieser Vorstellung einer von verhältnismäßig langen Friedensperioden begünstigten Welt unter der Herrschaft der europäischen Großmächte führte keineswegs zur Revolutionierung fest eingewurzelter Ordnungskategorien. In nahezu allen Richtungen herrschte mehr oder minder stark das Bedürfnis vor, möglichst schnell aus der Misere des aussichtslos gewordenen Krieges herauszugelangen und den festen Boden solider und dauerhafter Verhältnisse wiederzugewinnen. Am Ende des ersten Weltkrieges war wahrscheinlich einer bei weitem überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes zur Restauration friedlicher und konsolidierter Verhältnisse jedes Mittel Recht, das die Vermeidung oder doch zumindest umgehende Beendigung einer tief wirkenden und stark beunruhigenden Periode der Umwälzungen versprach. In diesem Aspekt bildeten sich die Urteile über revolutionäre Bestrebungen, soziale wie politische Reformen, außenpolitische Entwicklungen und keineswegs zuletzt über Abschluß, Ergebnisse und Folgen des Versailler Friedensvertrages. Diese vorherrschende, mit mannigfachen politischen und persönlichen, zum größeren Teil traditionalen, zum kleineren reformistischen Idealen bereicherte Konzeption einer Wiederherstellung, Sicherung und Aufrechterhaltung der Ordnung, ließ gegenüber revolutionären oder mit dem Odium des Revolutionären behafteten Gruppen und Bestrebungen gar keine andere Wahl als die, sie zu bekämpfen, sie als schlimme Gefahr zu deuten und ihnen jede Legitimität abzusprechen. Das bedrückende Paradigma der russischen Vorgänge und der zu Recht angenommene, im einzelnen indessen weitgehend un-
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre
Bündnisse
41
bekannte Einfluß, den nicht nur das idealisierte Beispiel, sondern auch die zur Herrschaft gelangten Gruppen Rußlands auf den Gang der deutschen Revolution nahmen 31 , ließ um die Wiedergewinnung und Bewahrung der Staatsautorität fürchten. Eine durchdringende, teils der rationalen Analyse widerstrebende, teils unwiderlegbare Furcht trug ohne Zweifel entscheidend zur Verschärfung des Kampfes gegen die bolschewistische „Revolution" bei. Beide Richtungen brachten im Verein mit einer allgemeinen Gewöhnung an Krieg und kriegsmäßige Zustände Gewaltsamkeit und Zerstörung ins Spiel, so daß die politische Atmosphäre einem latent bürgerkriegsartigen Zustand ähnelte, der schließlich in einigen Gebieten, in denen die sozialen Probleme seit langem die stärksten Spannungen hervorgerufen hatten, zeitweilig in offenen Bürgerkrieg überging. Demgegenüber wirkten Beamtentum, Justiz, die in hoher Blüte stehende gelehrte Jurisprudenz und die in ihr wirksame Tendenz zur Kontinuität des positiven Rechts, aber auch die im Bürgertum und in der Staatslehre vorherrschende Auffassung über das Wesen des Rechtsstaates defensiv und restaurativ zugunsten einer positiven Kontinuität. In der deutschen staatsrechtlichen Literatur der Vorkriegszeit spielte der Revolutionsbegriff — im Gegensatz zu älteren Zeiten — gar keine oder nur eine äußerst geringe Rolle. Auch im Denken anerkannter Rechtsautoritäten, die sich auf den Boden der Republik stellten, gewannen Begriffe und Erscheinungen der Revolution keine analysierbare Größe; sie schrumpften zur theoretischen Setzung eines rechtsdemiurgischen Akts, den die juristische Staatslehre benötigte, um die Staatsgewalt nach dem 9. November und ihre Handlungen, den Sprung also vom alten zum neuen Staatsrecht zu legitimieren 32 . Galt die Revolution 31 Zur Tätigkeit der russischen bolschewistischen Botschaft in Berlin: Die Auswirkungen der großen sozialistischen Oktoberrevolution IV, S. 1627, 1689, 1691; auch die Erinnerungen von Rudolf Nadolny, Mein Beitrag, Wiesbaden 1955, S. 62 ff. 32 Vgl. hierzu die juristische Dissertation von W. M. Georg Lenz, Die Revolution in der allgemeinen Staatslehre, Hamburg 1920 (Maschsdir.); auch Walter Lamp'l, Das Recht der deutschen Revolution. Das Problem des Revolutionsrechtes in der deutschen Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie und Rechtsprechung, Hamburg 1921, bes. S. 22 ff.; und die spätere Arbeit von Heinrich Herrfahrdt, Revolution und Rechtswissenschaft. Untersuchungen über die juristische Erfaßbarkeit von Revolutionsvorgängen und ihre Bedeutung für die allgemeine Rechtslehre, Greifswald 1930, S. 1. Uber das „falsche Dogma der Geschlossenheit des Rechtssystems" und die Fiktion „durchgängiger Rechtskontinuität" hat sich vordem bereits Georg Jellinek kritisch geäußert, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., bearb. von Walter Jellinek, Berlin 1914, S. 353.
42
1- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
vordem etwa als eine juristisch nicht qualifizierbare Erscheinung, so gewann sie nunmehr in einem erweiterten Gewände positiver Definitionen aushilfsweise den Charakter einer „gewaltsamen Veränderung des Verfassungsrechtes durch solche Angehörige des Staates, die nicht Träger der Staatsgewalt sind" 3 3 . Dieser Wechsel der „Träger der Staatsgewalt" hatte im Grunde an einem einzigen Tage, am 9. November, stattgefunden und war spätestens mit dem Zusammentritt der verfassunggebenden Nationalversammlung in der höchsten denkbaren Form legitimiert worden. Zwischen diesen beiden Ereignissen fiel lediglich die Entscheidung über die endgültige Fixierung der Regierungskoalition ins Gewicht, die das Bündnis der Mehrheitssozialdemokratie mit den bürgerlichen Parteien des Fortschritts und des Zentrums wiederherstellte. Der Ubergang vollzog sich also, in dieser Weise äußerlich betrachtet, annähernd kontinuierlich und ging mit einer Staatsideologie einher, die „nicht so sehr gegen die alte untergehende gerichtet [war] als gegen eine zweite gleichfalls neue, die von Osten her vorzudringen und die proletarischen Massen zu gewinnen" drohte 34 . Die Ausübung der Staatsgewalt durch die neue Regierung der Volksbeauftragten löste nirgends Proteste aus. Doch die verfügte Sperrung der Diäten für die Mitglieder des Kriegsreichstages führte zu einem Einspruch seines Präsidenten Fehrenbach, der die Anordnung der Reichsregierung einen „gesetzlosen Willkürakt" nannte 35 . Einige Tage später, am 12. Dezember 1918, als der Einmarsch der heimkehrenden Fronttruppen in die Reichshauptstadt in vollem Gange war, berief Fehrenbach nach Besprechungen mit Vertretern der bürgerlichen Fraktionen, sogar den Reichstag „ohne Zustimmung der Regierung" und unter Vorbehalt der Bestimmung von Ort und Zeit der Tagung ein. Diese Demonstration rief ein starkes Echo in der bürgerlichen Presse aller Richtungen hervor und bildete unmittelbar vor dem Zusammentritt der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte eine unübersehbare Mahnung an Volksbeauftragte und Räte, zur parlamentarischen Legitimität zurückzukehren. Die Diktatur der Volksbeauftragten wurde — nach dem treffenden Wort eines Rechtslehrers — „getragen von der Tatsache, daß die Mehrheit des deutschen Volkes nicht gegen sie . . . ist" 3 6 . „Legitimität" war G. Lenz, Die Revolution, S. 10. W. Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 37. 3 5 DGR, S. 195 f. 3 " Ludwig Waldecker, Zur augenblicklichen staatsrechtlichen Wochenschrift 1918, S. 746 f. 33
34
Lage:
Juristische
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre
Bündnisse
43
nach vorherrschender Auffassung unter den Juristen „kein Wesensmoment der Staatsgewalt". „Die Befugnis zur Ausübung der Staatsgewalt war . . . nicht durch den rechtmäßigen Erwerb, sondern durch den tatsächlichen Besitz derselben bedingt" 37 . Hier entschied allein der Besitz der Staatsgewalt: „Im Besitze sein heißt hier im Rechte wohnen." 38 Diese Auffassung galt zwar nicht gänzlich unumstritten; sie setzte sich jedoch durch und blieb erfolgreich. Es stand nur in Frage, wer denn nun wohl in Wirklichkeit „im Besitze" der Staatsgewalt stand. Für Gerhard Anschütz waren dies zu Anfang Dezember 1918 noch „die Exponenten der im Revolutionskampf siegreichen Klasse, die Arbeiter- und Soldatenräte". 39 Doch nicht allein die Bekundung des „Innehabens" durch Treffen von Anordnungen entschied, sondern die Fähigkeit und der Besitz der Mittel, sie durchzuführen, letztlich der an vorherrschenden Staatsvorstellungen gemessene Erfolg. Welcher Art die Maßstäbe waren, die hierbei angelegt wurden, läßt sich aus einer Kundgebung deutscher Rechtsautoritäten ersehen, die im Januar 1919 veröffentlicht wurde. Dem überwölbenden Prinzip der Rechtssicherheit durfte kein Schaden zugefügt werden. Seine Wahrung lag in den H ä n den derer, „die der Rechtspflege und der Rechtslehre dienen". Die Sache des Rechts im Staate bot sich in diesem Aspekt als eigene Sache des institutionellen Gesamtsystems zur Wahrung und Handhabung der Normen und der hierin tätigen Juristenschaft dar. Im Namen der höchsten Amtsinhaber des gesamten Berufsstandes erhoben diese Autoritäten „warnend die Stimme, daß nicht Gesetzgebung, Richtergewalt und Reichseinheit willkürlichen Eingriffen irgendwelcher Art preisgegeben werden". Im Rahmen dieser mit dem positiven Normensystem verbundenen unantastbaren Wesenheiten erkannten sie der Regierung des Umsturzes ein Notstandsrecht zu, erlegten ihr im übrigen aber die Pflicht auf, den kürzestmöglichen Weg zur parlamentarischen Verfassungsmäßigkeit einzuschlagen. „Wir erkennen an", hieß es in dieser Adresse, „daß, wo immer öffentlicher Notstand eine unaufschiebbare Änderung im wohlverstandenen Interesse des Ganzen erheischt, auch einer nur tatsächlich bestehenden Staatsgewalt die Befugnis zum gesetzlichen Einschreiten nicht verwehrt werden kann. Wir bestreiten aber eine solche Berechtigung überall dort, wo ohne eine wirtschaft37
Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., bearb. v. Gerhard Anschütz, Berlin u. Leipzig 1919, Teil I, S. 26. 38 Gerhard Anschütz, Das Programm der Reichsregierung: Juristische Wochenschrift 1918, S. 751. 39
ebda.
44
/. Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
liehe oder sonstige N o t l a g e nur zur Sicherung parteipolitischer Ziele die gegenwärtige Gesetzgebungsgewalt in T ä t i g k e i t tritt und damit in die Rechte der zukünftigen deutschen N a t i o n a l v e r s a m m l u n g oder der v o n ihr zu schaffenden ordentlichen O r g a n e der Gesetzgebung übergreift." 4 0 D e r R a t der V o l k s b e a u f t r a g t e n hatte die am B o d e n schleifenden Zügel der Staatsmacht ergriffen und wurde daher bereitwillig als Zwischenherrschaft a n e r k a n n t , doch zu keinem anderen Zwecke, „als zur Verhütung einer Anarchie und zur E r h a l t u n g der inneren R u h e " , zur E r h a l t u n g der „rechtlichen E x i s t e n z und der F o r t d a u e r des S t a a t e s " , „des materiellen Fortbestands des Gemeinwesens" 4 1 . H i e r u n t e r k o n n t e gewiß sehr viel und sehr Unterschiedliches verstanden w e r d e n ; doch der Gesichtspunkt des „materiellen Fortbestandes des Gemeinwesens" w a r ohne jeden Z w e i f e l kein revolutionärer. I n diesem Sinne traten die B e a m t e n des Reiches und der L ä n d e r in den Dienst der neuen S t a a t s gewalt. I n diesem Sinne wurden sie v o n ihrem Monarchen, dem sie den Treueeid geleistet hatten, von ihrer Treuepflicht entbunden, zugleich aber zur weiteren E r f ü l l u n g ihrer Amtspflichten aufgefordert. D i e A b dankungsurkunde des Kaisers v o m 2 8 . N o v e m b e r 1 9 1 8 enthielt sogar die ausdrückliche E r m a h n u n g , „ d a ß sie bis zur N e u o r d n u n g des D e u t schen Reiches den I n h a b e r n der tatsächlichen G e w a l t in Deutschland helfen, das deutsche V o l k gegen die drohenden G e f a h r e n der Anarchie, H u n g e r s n o t und Fremdherrschaft zu schützen" 4 2 . D e r W e g , den die Regierung der V o l k s b e a u f t r a g t e n einzuschlagen hatte, um sich im Besitz der S t a a t s g e w a l t zu legitimieren, w a r ihr durch die bürgerlich-juristische Staatsideologie vorgezeichnet, ohne die an eine M i t w i r k u n g des B e a m tentums nicht zu denken w a r . M a n darf allerdings den R u f nach einer verfassungsgebenden N a t i o n a l v e r s a m m l u n g nicht schon mit einem B e kenntnis zur parlamentarischen D e m o k r a t i e gleichsetzen.
40
An den R a t der Volksbeauftragten gerichtete Kundgebung des Präsidenten des
Kammergerichts, des Dekans der juristischen Fakultät der Universität Berlin, des Vorsitzenden des Vorstandes der Anwaltskammer in Berlin und des Vorsitzenden des Groß-Berliner Juristenbundes „mit Zustimmung und zugleich im Namen des Präsidenten des Reichsgerichts und des Bayerischen Obersten Landesgerichts, sowie der
Präsidenten
fast sämtlicher
Oberlandesgerichte
und
Oberverwaltungsgerichte,
der juristischen Fakultäten fast sämtlicher deutschen Universitäten und der
Vor-
stände fast sämtlicher Anwaltskammern", wiedergegeben von Lamp'l, Das Recht der deutschen Revolution, S. 56. 41
Reichsgerichtsrat D r . Paul, zit. v. Lamp'l, a. a. O., S. 77 f.
42
D G R , S. 32. Vgl. Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, S. 42.
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre
Die Regierung der
Bündnisse
45
Volksbeauftragten
Die Reichsregierung der Volksbeauftragten verfügte sowohl über eine quasilegitime als auch über eine quasirevolutionäre Begründung ihrer Zuständigkeit, die sie äußerlich zum Zwitter stempelte. Ebert übernahm „unter Zustimmung sämtlicher Staatssekretäre" das Reichskanzleramt von Prinz Max von Baden 43 und bildete erstmals auf dem Wege von Fraktionsverhandlungen eine paritätische Regierung aus Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen. Gleichzeitig betraute er jedoch die Chefs der Reichsämter mit der Weiterführung ihrer Geschäfte, so daß nun Ressortchefs und Volksbeauftragte gleichsam eine zweistufige Reichsspitze bildeten, zwei Gremien, die sich in Reichskabinettssitzungen zu gemeinsamer Beratung, an der auch der preußische Kriegsminister als Chef der militärischen Behörden teilnahm, regelmäßig vereinigten. Zu den Bedingungen, die die Unabhängigen gestellt hatten, gehörte die Gleichberechtigung aller Volksbeauftragten innerhalb des Kabinetts, die Einberufung einer Reichsversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte, die sie als Inhaber der politischen Gewalt betrachteten, und die Vertagung einer verfassunggebenden Versammlung bis „nach einer Konsolidierung der durch die Revolution geschaffenen Zustände". Der Berliner Arbeiter- und Soldatenrat bestätigte indessen noch am 11. November nach heftigen Auseinandersetzungen den Rat der Volksbeauftragten als provisorische Regierung 44 . Dieser Doppelcharakter der obersten Reichsinstanz war jedoch keineswegs die letzte wirkliche Ursache f ü r jenen ernsthaften Konflikt, der ihre Existenz schließlich in Frage stellen sollte. Die Spannungen zwischen den unabhängigen und den mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten war durch die historische, d. h. durch die in der Sozialdemokratie der Vorweltkriegszeit angelegte und während des Krieges vollzogene Spaltung bedingt; sie nahm in der kurzen Zeit der gemeinsamen Regierung den Charakter einer Rivalität parteipolitischer Art an, die sich gewiß teilweise aus den schwierigen Problemen einer grundsätzlichen Orientierung der deutschen Politik ergab, darüber hinaus aber auch aus taktischen und nicht zum Letzten aus persönlichen Differenzen emporwuchs. 43 Aufruf Ebcrts vom 9. November: D G R , S. 36; vgl. Max v. Baden, Erinnerungen, S. 642. 44 D G R , S. 37 ff., 48; Eduard Bernstein, Die deutsche Revolution. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik, Berlin 1921, S. 45 fT. Über „die zwei Quellen der Autorität Eberts" Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preußens, S. 228 f.; auch Apelt, a . a . O . , S. 39.
46
1- Die Demokratie der Kompromisse und die Reicbsverfassung von Weimar
Im offenkundigen Gegensatz zur S P D hatte die U S P D mit erheblichen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen, die es gar nicht erst zur Festlegung eines von der gesamten Partei anerkannten Regierungsprogramms ihrer Volksbeauftragten und nicht einmal zu einer tragfähigen gemeinsamen politischen Konzeption kommen ließen. Diese Partei sah sich durch entschieden revolutionäre, wenn auch keineswegs homogene Minderheitsgruppen, etwa durch die Revolutionären Obleute in Berlin oder durch den über das gesamte Reichsgebiet verbreiteten Spartakusbund, in schwere Bedrängnis gebracht. In dem Dilemma, sich zwischen den revolutionären Strudeln, die ihren linken Flügel zerrissen, und der mit den Kräften der alten Verwaltung und des alten Heeres paktierenden Sozialdemokratie entscheiden zu müssen, war ihre Existenz überhaupt nur noch mit der Wiedergewinnung einer Einheitsfront der gesamten sozialistischen Arbeiterbewegung zu sichern. Doch keine Partei konnte für die unbestreitbaren Schwierigkeiten dieser Situation weniger gerüstet und vorbereitet sein, als es die aus der innerpolitischen Kriegsentwicklung hervorgegangene, jedoch von überaus heterogenen Kräften begründete U S P D war. Ihr wenig hoffnungsvolles Lavieren zwischen dem gewaltig anwachsenden Machtblock zu ihrer Rechten und den Gefahren einer zunehmenden Dynamisierung und des fortschreitenden Zerfalls ihrer Linken spiegelt die Tragik der ebenso von Dogmatik, Theorien und Prinzipienstreitereien wie von allzu leichtherzigem Opportunismus belasteten jüngeren Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung wieder. Sie war weder zu einer ausreichenden Klärung noch zu einer Übereinstimmung in den nächsten politischen Zielen und hinsichtlich des Wesens und des Inhalts demokratischer Reformen gelangt und nahm nun an einer zwar theoretisch vorausgesehenen und programmatisch erfaßten, aber dennoch ohne gründliche Vorbereitung und ohne Selbstsicherheit vollführten Umwälzung teil, die „von oben" wie „von unten" in Gang gebracht worden war. In dem Gremium der sechs Volksbeauftragten, das die beiden letzten Vorkriegsführer der Sozialdemokratischen Partei wieder an einen Tisch zusammenbrachte, ging die Initiative sehr schnell an Friedrich Ebert über, der gemeinsam mit Scheidemann das Kontinuum der Reformen verkörperte, die die Reichstagsmehrheit und die Regierung des Prinzen M a x von Baden eingeleitet hatten. In einer unübersichtlichen Entwicklung konnte die politische Macht ihnen freilich wieder entgleiten. Sie ließ sich nur mit Hilfe der Bündnisse sichern, die die Mehrheitssozialdemokratien eingingen, und dem hieraus folgenden Entschluß zur Wahl und alsbaldigen Einberufung einer verfassungsgebenden Nationalver-
Die parlamentarischen
Kräfte
und ihre
Bündnisse
47
Sammlung. Daß mit dem Verfassungswerk zumindest das dramatische Stadium einer Umwälzung der politischen Verhältnisse abgeschlossen sein würde, lag auf der Hand. In der historischen Betrachtung der Übergangsphase zwischen der Abdankung des Kaisers und dem Beginn der parlamentarischen Republik tritt daher die schrittweise Regulierung der Probleme, die mit dem Sturz der Monarchie und teilweise schon mit den Reformen vom Oktober 1918 in staatsrechtlicher Hinsicht aufgetaucht waren, als Vorgeschichte und Vorbereitung der Reichsverfassung von Weimar in den Vordergrund. Die problematische, schwerlich einheitlich und summarisch abschließend zu beurteilende Tätigkeit der Räte blieb sekundäres Phänomen des Übergangs, das keinerlei bleibende Bedeutung gewann, sofern man von der freilich unbestreitbaren Tatsache absieht, daß ihr Auftauchen in beiden sozialistischen Parteien von einer theoretischen Diskussion begleitet wurde, die als verspätetes, aber überaus aussagekräftiges Zeugnis einer Fortsetzung der politischen Erörterungen der Vorkriegszeit Beachtung verdient. Obgleich die Anregung zunächst von vagen oder legendären Vorstellungen über die russischen Sowjets ausging, so lassen sich doch auch die Bestrebungen nicht übersehen, von den Formen der russischen Revolution Abstand zu gewinnen, die in einzelnen verstreuten Zeugnissen weit mehr politische Programmatik kundtaten, als uns in der Politik der sozialdemokratischen Führer in der Regierung der Volksbeauftragten vor Augen tritt. Die Haltung der drei unabhängigen Volksbeauftragten unterschied sich wohl häufig graduell, weit seltener jedoch prinzipiell von der der Mehrheitssozialdemokraten. Während Ebert unbestrittener Initiator und maßgeblicher Leiter der Politik blieb, der zwar weniger zu reden, dafür aber weit mehr zu entscheiden pflegte als der Revisionist Landsberg und der erfahrene Parteifunktionär Scheidemann, blieben selbst Entschlüsse zu taktischen Schritten unter den drei Unabhängigen unsicher und problematisch. Der an pazifistischen Rechtsprinzipien gebundene Rechtsanwalt Hugo Haase, der sich als Parteivorsitzender in der letzten Vorkriegszeit auch gelegentlich in theoretischen Diskussionen geäußert und hierbei ein gewisses Maß eigener Originalität an den Tag gelegt hatte, fand noch am ehesten bei Dittmann Unterstützung, der gleich ihm zu den prominenten Sozialdemokratischen Parteiführern der Vorkriegszeit zählte. Während jedoch ein großer Teil der internen Auseinandersetzungen unter den Volksbeauftragten zwischen den Juristen ausgetragen wurde, zwischen Landsberg einerseits und dem entschlossen vermittelnden, um die Wiederherstellung der alten Sozial-
48
/• Die Demokratie
der Kompromisse und die Reichsverfassung
von
Weimar
demokratie bemühten Haase anderseits, lagen die Entschlüsse in erster Linie bei Ebert, der nicht nur gelegentlich den Titel des „Reichskanzlers" führte, sondern auch die ständige Geschäftsführung des Rates der Volksbeauftragten in den Händen hielt und sich hierbei der Tätigkeit und Technik der alten Reichskanzlei bediente, in die er einige Gehilfen sozialdemokratischer Provenienz hineinzog. Ebert war von Anfang an die überragende Persönlichkeit unter den sechs Volksbeauftragten, so daß er bald nicht nur wie ein primus inter pares, sondern nahezu wie ein Regierungschef und Staatsoberhaupt amtierte. Haase bemühte sich, die Stellung eines toleranten Regierungspartners zu behaupten. Ihm fehlte jedoch das ebenso sichere wie häufig unvermutete und auch zu undurchsichtigen Entschlüssen neigende Geschick Eberts. Er ermangelte aber auch des verzweifelten Mutes radikaler Entschlossenheit, der seinen unstet-dynamischen Parteigefährten Emil Barth auszeichnete, der mit seinem ungelenken Balancieren zwischen Vollzugsrat und Volksbeauftragten die Situation seiner Kollegen um manches erschwerte und der der einzige im Grundsätzlichen entschlossene Gegner Eberts unter den Volksbeauftragten war und blieb. Barths Geschäftigkeit war indessen viel zu hektisch und voller Ungeschick, seine Redseligkeit zu auffällig, seine Persönlichkeit zu schlecht beleumdet, als daß er sich Ebert entgegenzustellen oder auch nur die Entschlüsse seiner Parteikollegen ih fester umrissene Bahnen zu lenken vermocht hätte. Neben Ebert besaß keiner von diesen Männern den Zuschnitt einer Persönlichkeit, die die ungewöhnliche Situation der Stunde in ihrem Amt zu meistern versuchen konnte. Und Ebert gebot über die Eigenschaften, die seinen Partnern fehlten, gerade in eben dem Umfang, der ihn in die Lage versetzte, gestützt auf die Reste des alten Staates und unter schnellstmöglicher Anwendung der Mittel, die ihm die bündnisbereiten militärischen Machthaber zur Verfügung hielten, die Zeit des Ubergangs zu überstehen und die „Revolution" in ein risikoloses Kontinuum umzuwandeln. In Wahrheit brach mit dem 9. November 1918 nicht die in den theoretischen Schriften angekündigte und ersehnte große historische Stunde der deutschen Arbeiterbewegung an, er gab ihr nur eine Chance, aus der Situation der zur Passivität verurteilten, geistig verhärteten Opposition herauszufinden. Die Volksbeauftragten unter der Führung Eberts nutzten sie in der Weise, daß sie sich als eine freischwebende Instanz oberhalb der Kräfte der Revolution und Gegenrevolution einrichteten in der festen Absicht, recht schnell wieder auf den Boden vollkommen gesicherter Tatsachen zurückzukehren, auf dem sie eine
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
49
Gefährdung von Seiten der Revolution nicht mehr zu befürchten brauchten. Wer meint, daß in der alsbaldigen Herstellung von „Sicherheit und Ordnung" ihre historische Aufgabe lag, wird ihnen die Anerkennung f ü r eine zwar nicht vollendete, aber doch immerhin sichtbare Leistung nicht versagen dürfen 45 . Wer aber den H e r d der deutschen Krise in tieferen Gründen der sozialen und politischen Struktur suchen zu müssen glaubt, in die Verfassungsreform und Beseitigung der Kriegsfolgen nicht hineinreichten, der wird sich mit den Formen und Ergebnissen dieses Übergangs nicht zufrieden geben. Doch soweit sich das historische Urteil auf bekannte Tatsachen und Umstände berufen kann, gab es nach dem Umsturz der Monarchie gar keine eindeutig ausgeprägte Alternative, in der gleichartige Chancen verschiedener Entwicklungen bestanden, wie es vereinfachendem Denken im Nachhinein meist in höchst unrealistischer Weise so gerne erscheint. Vielmehr stellt sich die politische Linie, die man mit dem Namen Friedrich Eberts bündig bezeichnen kann, als ein Weg gegen die relativ geringsten Widerstände dar. Es charakterisiert die Politik dieses Mannes, daß er, umsichtig und sorgfältig abwägend, die gegen Ende des Krieges gewonnene Verbindung zu den unabhängig von der Monarchie existierenden inneren Mächten, soweit sie nicht den Sturz der sozialdemokratischen Herrschaft betrieben oder zu begünstigen schienen, in erstaunlicher Geradlinigkeit aufrecht erhielt und eine Koalitionsregierung vorbereitete, die bereit war, eine neue Reichsverfassung zu schaffen und auf längere Sicht zu stützen. Hierbei gewann er die Hilfe des Beamtentums, und hierbei bot ihm die Oberste Heeresleitung ihre Unterstützung an. Doch diese Bündnisse mit den bürgerlichen Parteien, mit Verwaltung und Heer verlangten den Kampf gegen die sozialistische Linke. Die öffentliche Verwaltung hatte im Verlaufe des Krieges eine gewaltige Bedeutung gewonnen, die sie in diesem Maße nie zuvor besessen. In der Kriegsnotwirtschaft, die zunächst beibehalten werden mußte — von der Rohstoffbeschaffung bis zur Kriegerangehörigenfürsorge und zur allgemeinen Nahrungsmittelversorgung — war das tägliche Leben den Regelungen kommunaler oder staatlicher Fachverwaltungen unterworfen, die intakt bleiben mußten, sollten nicht akute Notstände in den dringendsten Bedürfnissen und Verhältnissen des Lebens ein45
Diese wird in der Gedächtnispublikation besonders gewürdigt: Friedrich Ebert. Kämpfe und Ziele, Dresden o. J., S. 381 ff. Vgl. hiermit das unbarmherzige Urteil in dem brillanten Werk von Carl Schorske, German Social Democracy. S. 124. 4 Sdiulz I
50
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
treten. Hinzu trat als neues Problem die Aufgabe, das Millionenheer der heimkehrenden Soldaten just in dem Augenblick zu demobilisieren, da die bisher der Rüstung und der kriegsmäßigen Versorgung dienende Industrie zur Umstellung gezwungen war. In der Phase allmählicher militärischer Auflösung fielen die Heimkehrenden, die noch außerhalb des Wirtschaftsprozesses standen, vorerst der öffentlichen Hand zur Last, die die bald anwachsenden Arbeitslosenmassen unterzubringen, zu verwenden und zu versorgen hatte. Bald nach Jahresanfang 1919 erlebte Deutschland mit der offiziellen Ziffer von über einer Million unterstützter Arbeitsuchender, die die Gesamtzahl der Demobilisierten indessen bei weitem noch nicht erreichte, die erste Welle einer Massenarbeitslosigkeit, die bald ein politisches wie wirtschaftliches Dauerproblem wurde und ständig mit der inneren Geschichte der Republik von Weimar verbunden blieb 48 . Die geordnete Inganghaltung des Verkehrs und der gesamten formenreichen Apparatur der Verwaltung nicht nur als lokaler Notbehelfe, sondern — unter den Anforderungen der zahlreichen Versorgungsaufgaben — notwendig in regionalen und zentral geleiteten Zusammenhängen, deren Auflösung in der Notzeit die verheerendsten, für die Bevölkerung der Industriezentren am stärksten spürbaren Folgen gehabt hätte, war infolgedessen ein vordringliches Problem. Es wurde auch fast überall erkannt und anerkannt. Die bange Warnung vor der Frühjahrskatastrophe, die über die ausgehungerte Bevölkerung hereinbrechen mußte, sobald der alte eingespielte Versorgungsmechanismus nachhaltig gestört wurde, dürfte nicht nur den Spitzen der neuen Gewalten gegenwärtig gewesen sein47. Infolge46
O t t o Most, Art. „Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenfürsorge": H W B der Kommu-
nalwissenschaften, hrsg. von Josef Brix u. a., Jena 1918 ff., Bd. I, S. 126. 47
Sogar in der programmatischen Kundgebung der K P D , die Anfang Januar 1919
verbreitet wurde, hieß es: „Es ist klar, daß die Versorgung der Städte mit Lebensmitteln, daß das Transportwesen, daß das Geldwesen nicht unabhängig voneinander durch die örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte geregelt werden kann. Wenn die Arbeiter einer Stadt die alten Gewalten zertrümmern und das Heft in die H a n d nehmen, so wird es den Ebert-Scheidemann oder einer anderen bürgerlichen Regierung leicht, ihnen die Lebensmittelzufuhr
zu sperren, sie durch Entziehung
der
Kredite lahmzulegen". (Undatiertes Flugblatt, abgedruckt bei R . Müller, Bürgerkrieg, S. 220.) Die absehbaren Folgen wurden hier als voraussichtliche Zwangsmaßnahmen der Gegenseite dargestellt,
die Gesetze der
Versorgungswirtschaft
nur eben
an-
gedeutet. Man suchte sich ihrer zuweilen aber auch auf höchst radikale Weise zu entledigen. Eine Seite des wirtschaftlichen Dilemmas, in dem sich die Rätediktaturen befanden, wird z. B. durch die ängstliche Drohung des Münchener Volksbeauftragten für das Finanzwesen, des Währungstheoretikers Silvio Gesell, beleuchtet, der, wie R . Müller berichtet, an die Reichsbank telegraphierte: „Die Übertragung des diplo-
Die parlamentarischen Kräfte und ihre Bündnisse
51
dessen zählte der A p p a r a t der alten Verwaltung mit seinen überkommenen Traditionen und Gewohnheiten ebenso zu den Realitäten der Umbruchszeit wie die Reste des Heeres und seine Führer. W o h l ließen sich einzelne Beamte auswechseln oder aus ihren Ä m t e r n doch die administrative E x e k u t i v e in ihrem
entfernen;
Gesamtzusammenhang
konnte nur übernommen oder zerstört werden. In „panikartiger Sorge" v o r einer Versorgungskrise 4 8 erklärte der manschen
Bruches
[zwischen
München
und
Berlin]
auf
das
Geldwesen
würde
Wiederanschluß in beklagenswerter Weise erschweren". K u r z e Zeit danach wurden die Münchener Banken „nationalisiert", die Schrankfächer beschlagnahmt und AusUber
zahlungen in drastischer Weise eingeschränkt. (Bürgerkrieg, S. 195 u. 198.)
andere wirtschaftliche Schwierigkeiten der Münchener Räteregierung, die sogar ein Lebensmittelabkommen mit der parlamentarischen Regierung Hoffmann abschloß, die nach Bamberg geflüchtet w a r : H a n s Beyer, Von der Novemberrevolution zur R ä t e republik in München (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte an der K a r l - M a r x - U n i v e r s i t ä t Leipzig, Bd. 2), Berlin (Ost) 1957, S. 109 ff. G e w i ß nicht zu Unrecht w a r f die Gegenseite den Arbeiter- und Soldatenräten vor, daß ihre ungeregelten Eingriffe „viel Unheil" auf dem Gebiete der Versorgung und des Verkehrs angerichtet hätten. (So in einem von Hindenburg unterzeichneten undatierten Flugblatt der Armeeabteilung B, abgedruckt bei R . Müller, V o m Kaiserreich zur Republik I I , S. 2 8 5 . ) K a u m anders lautete ein A u f r u f des Vollzugsrates des Arbeiter- und Soldatenrates Berlin vom 23. November 1918 (a. a. O., S. 2 5 5 ff.). Versteckte oder offene Aufforderungen
zur
Plünderung
von
Lebensmittellagern,
Geschäften
oder
Warenhäusern (Bericht des Untersuchungsausschusses über die Unruhen in Mitteldeutschland Bd.
10,
vom
November
S. 5 5 7 9 f.)
mögen
1918 zum
bis
Teil
schwierigkeiten und in der Bedrängnis
zum ihre
März
1919,
Erklärung
finden,
in
VPLV
DrS
örtlichen
Nr.
3227,
Versorgungs-
in die sich einzelne Arbeiter- und
Soldatenräte hineinmanövriert hatten. 48
Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, S. 3 0 2 , der im
übrigen dem vollen Ausmaß und den Erscheinungen der „Krise des Augenblicks" keineswegs gerecht wird. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß entschiedene Kritiker der Volksbeauftragten wie Richard Müller und Walter
Oehme
jede angemessene Berücksichtigung der allgemeinen Wirtschafts- und Versorgungslage vermissen lassen. Anders dagegen Friedrich Stampfer, Die ersten vierzehn S. 6 1 ;
u.V.
dems.:
Erfahrungen
und Erkenntnisse.
Aufzeichnungen
aus
Jahre, meinem
Leben, K ö l n 1957, S. 2 2 7 . Beachtung verdient in diesem Zusammenhang, d a ß in geschichtlichen Darstellungen aus dem östlichen Deutschland die objektive wirtschaftliche Notlage z w a r keineswegs abgestritten, aber — mit durchscheinender Tendenz — etwa gegen die Mehrheitssozialdemokraten der V o r w u r f erhoben wird, sie hätten „das großzügige Angebot der sowjetischen Regierung zurückgewiesen, die trotz der großen N o t , die der Zarismus den V ö l k e r n Rußlands hinterließ, dem
deutschen
V o l k als erstes 5 0 0 0 0 Pud Getreide schicken wollte — ein wahrhaftig großartiger Beweis des proletarischen Internationalismus, der selbstlosen H i l f e eines Freundes des deutschen
Volkes".
(Klaus Mammach, Bemerkungen
zur reformistischen
Ge-
schichtsschreibung über die Novemberrevolution 1 9 1 8 : Zeitschrift f. Geschichtswissen4»
52
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Staatssekretär des Reichsernährungsamtes, der Sozialdemokrat Emanuel Wurm, schon gegen Mitte November, daß die Ernährung nur dann gesichert sei, wenn „Körperschaften mit diktatorischer Vollmacht" wirkten 49 . In Anbetracht der Schwierigkeiten, die Ernährungszwangswirtschaft auf dem flachen Lande aufrecht zu erhalten, wird selbst ein solches Wort der Verzweiflung begreiflich. Die „komplizierte Maschine" der Verwaltungsbehörden wurde aus diesem Grunde in jeder nur denkbaren Hinsicht geschont und respektiert. Wenn Ebert vor der Gefahr warnte, daß „in acht Tagen . . . alles ruiniert ist, . . . alles brach liegt, daß alles zusammenbricht", verfehlte dies auch nicht auf die Vertreter des Vollzugsrats des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates seine Wirkung. Ebert offenbarte allerdings eine recht problematische Hochschätzung jeglicher Organisation und des Organisierbaren, die auf die geistige Unbeweglichkeit der Sozialdemokraten ein deutliches Schlaglicht wirft. Soldaten wie Arbeiter und „alle, die mit Organisation zu tun haben", wähnte Ebert dem gleichen einfachen Satz unterworfen: „daß eine Organisation nur funktioniert, wenn sie eine einheitliche Leitung hat und für die Abwicklung einheitlicher Grundsätze bestehen". 60 Der Sieg der auf eine rasche Konsolidierung der einstweiligen Herrschaftsverhältnisse bedachten Mehrheitssozialdemokratie wurde unbestreitbar unter Opfern an sozialistischen Ideen, aber auch an staatsreformerischen Vorstellungen errungen. Gewiß nicht minder schwer wog jedoch die geschäftsmäßig-bürokratische Weise der Aufrichtung einer verfassungsrechtlichen Ordnung, die „den Volksstaat gesetzlich und auf dem Verwaltungswege" zu verankern 51 suchte. Die Sozialdemokratie zeigte sich von Anfang an in Abhängigkeit von der Dienstschaft, VI. Jg./1958 — Sonderheft zum 40. Jahrestag der deutschen
November-
revolution 1918, S. 66 f.) Die Unmöglichkeit, die Tatsache des drohenden wirtschaftlichen Auflösungsprozesses wegzudiskutieren, wird auch durch derartige Argumente deutlich gemacht. Vgl. zu dieser
Frage jetzt auch die ungedruckte Arbeit
von
Wolfgang Elben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik
der Staatssekretäre
vom November
1918
bis Februar
1919,
phil. Diss.
Hamburg 1959 (Maschsdlr.) 49
Protokoll der Reichskabinettsitzung (Volksbeauftragte, Staatssekretäre und Chefs
der Reichsämter und der preußische Kriegsminister
=
PrVB) vom
15. 11. 1918,
Auszug BA, R 43 1/1324. Wurm erklärte sich später mit den Volksbeauftragten der U S P D solidarisch und stellte am 29. Dezember 1918 sein Amt zur Verfügung. 50
Protokoll der gemeinschaftlichen Sitzung des Reichskabinetts und des Vollzugs-
rats vom 1 8 . 1 1 . 1 9 1 8 , BA, R 43 1/1324. 51
So Erhard Auer, Das neue Bayern, München 1919, S. 26.
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
53
Willigkeit und dem Maß an Loyalität, das die Beamten der öffentlichen Verwaltung den neuen Regierungen gegenüber in Berlin wie in den Ländern an den Tag legten, die sich ebenso als Realität erwiesen wie das Millionenheer der heimkehrenden Soldaten. Für den größten Teil der Sozialdemokraten war seit jeher „Regierung" im allgemeinsten Sinn stets ein unvergleichbar wichtigeres Objekt des Interesses als die schwieriger übersehbaren Bereiche der Verwaltung, so daß in der Führung dieser Partei die Ansicht heimisch werden konnte, daß es letztlich nur auf den „Besitz der Staatsgewalt" ankomme und daß alles, was unterhalb der obersten Staatsspitze liegt, neutrale und disponible „Maschinerie" sei, für die man jederzeit, wie Bebel einmal formuliert hat, „eine Menge Geheimräte . . . und vielleicht sogar Minister" gegen „anständige Behandlung und bessere Bezahlung" finden werde52. Die Geschichte der Weimarer Republik hat der Ansicht, daß die Verwaltungs-„Apparatur" samt ihrer qualifizierten Personalausstattung mechanisch arbeite und maschinell zu bedienen sei, die übrigens ganz und gar nicht im ursprünglichen Sinne marxistisch war 53 , fürs erste scheinbar die Bestätigung der historischen Instanz gegeben, aber auf längere Sicht doch die bittere Einsicht reifen lassen, daß die Sozialdemokratie nicht regieren konnte, weil sie „es nie gewollt und deshalb auch nie gelernt" hatte. „Wir haben keine hundert Leute, mit denen man auch nur die allerwichtigsten Posten besetzen konnte", bekannte einer, der es miterlebte 54 . Das völlige Fehlen eines zur Reform befähi52
Protokoll
Hannover... 63
über die Verhandlungen
des Parteitages
der S P D ,
abgehalten
in
1899, S. 127.
M a x Cohen (Reuß) konnte auf der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldaten-
räte am 19. Dezember 1918 (7. Sitzung) den Delegierten das Zitat aus der Adresse des
Generalrates
Frankreich"
der
Internationalen
entgegenhalten,
daß
Arbeiterassoziation
„die
Arbeiterklasse
„Der
nicht
die
Bürgerkrieg fertige
in
Staats-
maschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen k a n n " . Vgl. Walter Oehme, Damals in der Reichskanzlei, Berlin (Ost) 1958, S. 136. M a r x
und Engels
sahen
diese Einsicht als Ergebnis
des Fehlschlags
der
Pariser K o m m u n e an und nahmen sie 1872 auch in die Vorrede zur deutschen Neuausgabe des Kommunistischen Manifests auf. Sie gestanden übrigens im Hinblick auf
diese Erkenntnis
zu, daß
„dies
Programm
stellenweise
veraltet"
und
„ein
geschichtliches D o k u m e n t " geworden war. In späterer Zeit dürfte die Bürokratisierung von Partei und Gewerkschaftsorganisation, schließlich unter dem Einfluß Eberts, auch die H a l t u n g zur Staatsbürokratie beeinflußt haben. Vgl. C . Schorske, German Social Democracy, S. 110 ff. 64
W a l t e r Oehme, D a m a l s in der Reichskanzlei, S. 3 4 4 , zit. als Äußerung
des
sozialdemokratischen Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei Baake. D e r Mangel an Sachkennern führte zu kuriosen Erscheinungen. N u r so lassen sidi Episoden wie
54
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
genden Programms beraubte die Sozialdemokratie aber auch der Möglichkeit, den institutionellen Bereich der Verwaltung nach eigenen Grundsätzen umzubilden und zu demokratisieren. Das Bündnis mit der Obersten
Heeresleitung
Trugen nun schon die zentralistischen Neigungen maßgeblicher sozialdemokratischer Führer und ihre Vorliebe für festgefügte Organisation und bürokratische Zuverlässigkeit zu einer Verfestigung der Verhältnisse mit Hilfe und zugunsten der konservativen Beamtenschaft bei, so senkte sich die Waagschale der Entscheidungen vollends unter dem Entschluß der Obersten Heeresleitung, die militärische Macht innenpolitisch einzusetzen und den Gang der Entwicklung mitzubestimmen. Die Jahre der zunehmend organisatorisch intensivierten, in viele Bereiche des politischen Lebens, der sozialen und ökonomischen Zusammenhänge mit befehlender Zwangsgewalt hineinlangenden Kriegsführung, die das spätere Wort vom „totalen Krieg" in manchen der Aspekte, die es in der Wirklichkeit erschloß, bereits vorwegnahm, und schließlich die aus alledem folgende Übermacht der militärischen über die politische Führung hatten die Stellung der Obersten Heeresleitung in die einer militärischen Diktatur verwandelt. Unter solchen Umständen war im Verlauf von vier Kriegsjahren im Großen Generalstab eine zu eigenständigen Beurteilungen auch der politischen Lagen neigende Gruppe hoher Offiziere herangewachsen, die schließlich nicht nur die militärische Führung Deutschlands repräsentierten, sondern schledithin die korporative Spitze der alten Armee und ihrer Elite, ihres die von Nadolny
berichtete erklären,
der als Rußlandreferent
des
Auswärtigen
Amtes dem offenbar etwas hilflosen Volksbeauftragten Hugo Haase kurzerhand die Fernschreibeverbindung nach Moskau nahm, sich damit aber auch zum H e r r n über wichtige Entscheidungen machte. Zwecke tauglich waren,
(„Ich benutzte die Funksprüche,
und warf
die für
die anderen in den Papierkorb.")
meine
Sogar ein
russisches Bündnisangebot entschied Nadolny aus eigener Machtvollkommenheit. Es ist vermutlich niemals einem der Volksbeauftragten bekannt geworden: „Ich ging mit mir zu Rate, wie man auf das Angebot der Russen reagieren sollte. Es w a r ohne Zweifel ein verführerischer Gedanke, den Krieg mit russischer Hilfe
fortzusetzen
und womöglich doch noch zu einem guten Ende zu führen. Aber andererseits hätte die von den Russen zur Bedingung gemachte Sowjetisierung die Katastrophe unserer Volkswirtschaft zur Folge gehabt. Angesichts dessen konnte die Antwort nur abweisend lauten. In diesem Sinne entwarf ich ein Telegramm nach Moskau, fügte hinzu, die Sowjets sollten mit ihrem Getreide ihre eigene hungernde Bevölkerung ernähren . . ." R . Nadolny, Mein Beitrag, S. 66.
Die parlamentarischen
Kräfte
und ihre
Bündnisse
55
Offizierskorps darstellten. Sie gebot über ein erhebliches Ansehen, das sich mit dem Prestige der Armee und seiner Tradition verknüpfte, während der Klang der Namen ihrer fast schon charismatischen Führer Hindenburg und Ludendorff und die legendäre Gloriole, die sie in der deutschen Öffentlichkeit besaßen, bisweilen gar mit einer unbeirrbaren Siegeszuversicht des uniformierten wie des zivilen Teils der Bevölkerung verwechselt wurde. Das große Prestige der Heerführer wurde nach ihrem Willen von der politischen Führung beinahe bis zuletzt respektiert; sie nahm sogar die alleinige Verantwortung für das von der Obersten Heeresleitung überraschend und gegen erhebliche Widerstände des Reichskanzlers geforderte Waffenstillstandsgesuch auf sich55. R u f und A n sehen der militärischen Führung 59 sollten trotz manchen Versagens" bis zuletzt makellos erhalten bleiben. Später ist dann versucht worden, dieses Ansehen mit Hilfe der „Dolchstoßlegende" auch nach dem mili55
Aufklärung über die Pressepolitik der deutschen Regierung während des Welt-
kriegs gibt die Veröffentlichung der Weisungen für die Kriegspressekonferenz von Kurt Mühsam, Wie wir betrogen wurden. Die amtliche Irreführung des deutschen Volkes, München 1918. Eine der Weisungen vom 16. Oktober 1918 lautete: „Unter allen Umständen muß der Eindruck vermieden werden, als gehe unser Friedensschritt von militärischer Seite aus. Reichskanzler und Regierung haben es auf sich genommen, den Schritt von sich ausgehen zu lassen. Diesen Eindruck darf die Presse nicht zerstören. Sie muß immer wieder betonen, daß die Regierung es ist, die getreu ihren wiederholt geäußerten Prinzipien sich zum Friedensschritt entschloß" (S. 122). Diese Vertauschung der Initiatoren des Friedensschritts enthielt bereits im Keime den Versuch, die Voraussetzungen für eine militärische Rehabilitierung der Obersten Heeresleitung zu schaffen, die nur durch Legendenbildung Zustandekommen konnte. 59
Daß
Ludendorff
in den
kritischen
Tagen
Ende
Juli
1918
Vorschläge
zur
Besserung der Frontlage aus „politischen Gründen", worunter er „die Eindrücke" aul Feind, Heer und Heimat verstand, also ausschließlich aus Prestigegründen ausführte, berichtet Fritz v. Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege
nicht
1914—1918,
Berlin 1939, S. 346. Vgl. auch Rupprecht Kronprinz v. Bayern, Mein Kriegstagebuch, hrsg. von Eugen v. Frauenholz, Bd. I I , München 1929, S. 427. 57
Als ein verhältnismäßig frühes deutliches Zeugnis kritischer Meinungen über
die „frontfremd" werdende O H L jetzt ein Brief des Chefs des Generalstabs des I X . Reservekorps, Oberstleutnant v. Thaer, vom 1 2 . 7 . 1 9 1 6 :
„Kommen wir audi
mit blauem Auge und Gottes Hilfe noch einigermaßen aus diesem Kriege heraus, so werden wir das bestimmt weniger unserer Führung als der Güte der deutschen Truppen, der Tapferkeit der jungen Leutnants und Musketiers zu danken haben." Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der O . H . L . Aus Briefen und Tagebudiaufzeichnungen 1915—1919, unter Mitarbeit v. Helmuth K . G. Rönnefarth hrsg. v. Siegfried A. Kaehler (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philol.-hist. KL, 3. F., N r . 40), Göttingen 1958, S. 74.
56
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
tärischen Zusammenbruch wiederherzustellen58. — Erst der erneute Optimismus Ludendorfis und seine Neigung zur Fortsetzung des Kampfes an den Fronten ohne eine Vorstellung annähernd greifbarer Ergebnisse, nachdem die dritte Note Wilsons die letzte Hoffnung auf einen milden Friedensschluß vernichtet hatte, veranlaßte Reichskanzler Prinz Max von Baden, vom Kaiser die Entlassung des Generalquartiermeisters zu verlangen, der durch seine selbstherrlichen Entschlüsse die Autorität der militärischen Führung verspielt hatte59. Die letzten Tage, die der Monarchie beschieden waren, gingen auch am Großen Hauptquartier nicht ohne Zeichen der Schwäche und der heraufziehenden Krise vorüber. Seit Ende September hatte unter den hohen militärischen Führern, auch bei Ludendorff, in verheerender Weise die Uberzeugung Platz gegriffen, daß nun „nichts mehr zu machen" und daß für Deutschland „der Krieg endgültig verloren" sei.*0 Es bleibt aber trotzdem wahrscheinlich, daß Ludendorff das Waffenstillstandsverlangen von vornherein mit dem stillen Vorbehalt verband, die Friedensbedingungen mitbestimmen und hierbei noch einmal die Stärke des deutschen Heeres in die Waagschale werfen zu können". Doch da er weder ein sonderliches politisches noch psychologisches Einfühlungsvermögen besaß'2, täuschte er sich erneut in der Ein68
Das Bemühen der O H L , „die Schuld an dem U n h e i l . . . zu klären . . . , leider nicht an dem riAtigen Ort, nämlich bei sich selbst", setzte schon während der Frontkrise im August 1918 ein. So Eintragung vom 23.8.1918 von Karl v. Einem, Ein Armeeführer erlebt den Weltkrieg, hrsg. von Junius Alter [d.i. Franz Sontag], Leipzig 1938, S. 428. — Es darf freilich nicht übersehen werden, daß solchen Bemühungen von Seiten der obersten militärischen Führung die auch in bürgerlichen Kreisen bis zuletzt vertretene Auffassung entgegenkam, daß „die Heimat" der „Front in den Rücken fiele und ihr den Dolchstoß versetzte", wenn sie ihre „verdammte Pflicht zum Aushalten" nicht erfüllte und es zur Revolution käme, „solange die äußere Front aushält". Zit. aus einer am 2. November 1918 gehaltenen Rede von E. Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 27. 8 * Max v. Baden, Erinnerungen, S. 498 ff.; vgl. auch die Darstellung bei A. v. Thaer, Generalstabsdienst, S. 246 ff. 40 Rupprecht v. Bayern, Kriegstagebuch II, S. 452, 455; K. v. Einem, Ein Armeeführer, S. 459; Thaer, Generalstabsdienst, S. 232 ff. 11 Dies geht aus den Worten Ludendorffs hervor, die Albrecht v. Thaer am 1.10. 1918 aufzeichnete: „Das werden Sie mir wohl zutrauen, daß ich nicht zu jedem Frieden ja sage! Gewinnen wir aber durch den Waffenstillstand auch nur Ruhe oder sind die Gegner in ihren Forderungen zu fred) oder zeigt sich sonst die Möglichkeit, noch durch Kampf bis aufs Messer unsere Lage zu bessern, dann werden wir, glauben Sie mir, auch bis zum Alleräußersten kämpfen" (Thaer, a. a. O., S. 236). 82
So auch das Urteil Rupprechts v. Bayern, Kriegstagebuch II, S. 399.
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
57
Schätzung der Gegebenheiten und scheiterte er an der überraschenden Entschlossenheit des neuen Reichskanzlers, dem sich auch der Kaiser fügte. In ihrem Kern und in ihrem bedeutendsten M a n n getroffen, verlor die Oberste Heeresleitung ihre entscheidende Stellung als Führung der deutschen Kriegsmacht. D o d i eben in dem U m f a n g , wie das Heer und seine oberste Befehlsstelle ihre Bedeutung als Instrument und Organ der Kriegsführung einbüßten, schickte sich die Oberste Heeresleitung an, sich in den inneren Machtkampf einzuschalten, um die künftige politische Gestalt Deutschlands mitzubestimmen und die Überlieferungen, Organisations- und Erziehungsprinzipien, K o m mandoverhältnisse, Interessen u n d Ideologie des Offiziersstandes des alten Heeres und des Militärischen in ähnlicher Weise in das künftige Staatswesen hinüberzutragen, wie wir dies beim Beamtentum schon sehen konnten, das seine Traditionen in die Verwaltungen des neuen Reiches und der neuen Länder einpflanzte. Unter der geschickten politischen Förderung durch Groener, den Nachfolger Ludendorffs, setzten sich Ansichten und Pläne einiger Offiziere des Großen Generalstabs durch, die man eine gegenrevolutionäre Friedenskonzeption der Obersten Heeresleitung nennen könnte. Groener galt unter Seinesgleichen als besonders beliebter, „welterfahrener", kluger und tüchtiger Offizier, dem z w a r das „offiziersmäßig-soldatische" Äußere fehlte, der d a f ü r aber über Verwaltungserfahrungen und über einige Beziehungen zu den Führern der Arbeiterschaft verfügte. Er w a r gewiß „kein Feldherr und kein T r u p p e n f ü h r e r " , kein Mann großer Strategie, jedoch ein bewährter Organisator und vor allem eine Persönlichkeit, die mehr politische Fähigkeiten besaß als irgend ein anderer General." So w a r denn Groener der rechte Mann in dieser Stunde, der z w a r dem nach Spa entsandten und auf A b d a n k u n g des Kaisers drängenden preußischen Innenminister Drews zunächst eine „ A b f u h r " erteilte, aber vorsichtig genug war, um die G r ü n d e der politischen Leitung in Berlin, die nicht ohne Eindruck auf ihn blieben, sorgsam zu erwägen, so d a ß er schließlich auch seinerseits die Auffassung gewann, d a ß die Person des Kaisers nicht mehr zu 83
Vgl. Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen, Jugend, Generalstab, Weltkrieg, hrsg. v. Friedrich Frh. Hiller v. Gaertringen (Deutsche Gesdiiditsquellen des 19. u. 20. Jahrhs., hrsg. v. d. Hist. Kommission b. d. Bayer. Akademie d. Wissenschaften, Bd. 41), Göttingen 1957, S. 440 f.; Dorothea Groener-Geyer, General Groener. Soldat und Staatsmann, Frankfurt a. M. 1955, S. 87 ff.; auch die Urteile von Thaer, Generalstabsdienst, S. 248, und — stärker negativ betonend — Walther Obkircher, General Erich v. Gündell. Aus seinen Tagebüchern, Hamburg 1939, S. 301.
58
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
halten sei'4. Was aber wirklich zu geschehen hatte, sollte den Entschlüssen der Obersten Heeresleitung vorbehalten bleiben und nicht zur Sache ziviler Stellen werden. Der Pflichtenkodex des entscheidenden Mannes war indessen enger mit dem Lebensinteresse des Heeres und seines Offizierskorps verbunden als mit dem Herrscherhaus, so idaß er nun sogar die zwingende Kraft des Fahneneides in einer zugespitzten Formulierung in Frage stellte65. Groener war realistisch genug, zu erkennen, daß sich die großen, kaum schon in vollem Ausmaß wahrnehmbaren allfälligen Schwierigkeiten, die die Zukunft barg, mit der uneingeschränkten Bewahrung alles Überkommenen kaum bewältigen ließen. Er besaß aber auch genügend Voraussicht und sicheres Gefühl, um das Lebensinteresse der Armee auf eine für sie vorteilhafte Weise wahrzunehmen. In den Tagen, da die ersten Nachrichten von der Kieler Matrosenrevolte in Spa eintrafen, gelangten Hindenburg und Groener bereits zu der „Gesamtauffassung", daß „der schlimmste Feind, dessen sich das Heer zu erwehren" habe, „die Entnervung durch die Einflüsse der Heimat, . . . der drohende Bolschewismus" sei". Doch politische Überlegungen scheinen sich mit dieser Einsicht zunächst noch nicht verbunden zu haben. Um „das Prinzip des Obersten Kriegsherrn nicht unter die Räder kommen" zu lassen, lehnte Groener noch am 6. November einen Thronverzicht Wilhelms I I . ab. In der entscheidenden Aussprache mit den Führern der Mehrheitssozialdemokraten, die an diesem Tage zwar die Person des Kaisers opfern, aber noch grundsätzlich für die Erhaltung der Monarchie eintreten wollten, hielt Groener immer noch unbeirrbar an seinem Grundsatz fest, so daß die S P D keine andere Wahl sah, als „nach links" abzuschwenken und sich auf die Seite der 64
Groener, Lebenserinnerungen, S. 443 f.; Groener-Geyer, General Groener, S. 95.
Die Gegenwart des Kaisers und Hindenburgs mögen freilich die Entschiedenheit Groeners noch beeinflußt haben. Vgl. Thaer, Generalstabsdienst, S. 2 5 1 : „Drews hat einen durchaus
ablehnenden
Bescheid
erhalten.
Groener
soll
ihm
sehr
energisch
gedient haben. Das ist erfreulich und ihm als demokratisch Süddeutschem hätte man hier das kaum zugetraut." 65
Groener zu einem nicht namentlich genannten General, nach seiner eigenen Auf-
zeichnung: „Man solle sich nicht wundern, wenn in Zeiten revolutionärer Gärungen die Begriffe Fahneneid und oberster Kriegsherr wirkungslos und zur Fiktion würden" (a a. O., S. 4 6 1 ) . Nach einer zeitnahen Aufzeichnung des Generals Graf v. d. Schulenburg soll Groener eine solche Äußerung ihm gegenüber gemacht haben. Sch. zitiert: „Fahneneid und Kriegsherr sind nur eine Idee." (Abgedr. v. Niemann, Revolution von oben, S. 325.) "
Groener, Lebenserinnerungen, S. 447.
59
Die parlamentarischen Kräfte und ihre Bündnisse
R e v o l u t i o n zu stellen. A n diesem T a g e zerbrach die Beziehung z w i schen S o z i a l d e m o k r a t i e und O b e r s t e r Heeresleitung 6 7 , die jedoch unmittelbar nach dem U m s t u r z und nach der A b d a n k u n g des Kaisers wieder erneuert werden sollte. I n den dazwischen liegenden vier T a g e n w i d e r f u h r beiden Seiten ein D a m a s k u s , das sie rasch und diesmal a u f lange Sicht wieder zusammenführte und ein Bündnis begründete, das mit dem N a m e n E b e r t und G r o e n e r historisch geworden ist. D i e rasche Verschlechterung der inneren Lage, die zur Auflösung ganzer Divisionen führte, und das D r ä n g e n des Reichskanzlers v e r a n l a ß t e n schließlich auch den G e n e r a l quartiermeister,
„das P r i n z i p des Obersten K r i e g s h e r r n "
fallen
zu
lassen und dem letzten H o h e n z o l l e r n - H e r r s c h e r gegenüber den G e h o r sam des Heeres in F r a g e zu stellen 68 . V o n Berlin aus drängte der Reichskanzler auf die A b d a n k u n g des Monarchen. Doch von entscheidender Bedeutung blieb die H a l t u n g Groeners. I n dem Augenblick, in dem der U m s t u r z zur Tatsache geworden war, blieb f ü r die Offiziere, die um den K a i s e r versammelt waren, nur die A l t e r n a t i v e ,
entweder dem
Obersten Kriegsherrn bis zum L e t z t e n die T r e u e zu halten und ihm weiter zu folgen, was nur K a m p f gegen die H e i m a t heißen k o n n t e , oder sie brachten den Monarchen dazu, das fait a c c o m p l i anzuerkennen und f ü r sich selbst die Folgerung des Rücktritts zu ziehen. I n dieser Situation w a r G r o e n e r der einzige der Generäle, der die realistische Konsequenz aus der völligen Aussichtslosigkeit eines K a m p f e s mit der W a f f e gegen die H e i m a t zog, der das H e e r der sicheren Auflösung entgegengeführt, die E i n h e i t der A r m e e unwiderruflich zerstört u n d der wahrscheinlich der allgemeinen Ausbreitung eines Bürgerkriegs gedient hätte, dessen E n d e nur Schrecken sein konnte. G r o e n e r löste durch das einzige entschiedene W o r t , das der K a i s e r an diesem T a g e zu hören bekam, das B a n d zwischen A r m e e und Herrscher und führte nunmehr das H e e r a u f den gleichen Weg, den das B e a m t e n t u m in Reich und L ä n 67
a . a . O . , S. 451. Vgl. die Schilderung des anwesenden Obersten v. Haeften, die
Prinz M a x wiedergibt:
„Da sagte Ebert: ,Unter diesen Umständen erübrigt sich
jede weitere Erörterung. Jetzt müssen die Dinge ihren Lauf g e h e n ' . . .
Und
zu
Groener: ,Wir danken Ihnen, Exzellenz, für diese offene Aussprache und werden uns stets gern der Zusammenarbeit mit Ihnen während des Krieges erinnern. Von nun an scheiden sich unsere Wege. Wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden.'" ( M a x v. Baden, Erinnerungen, S. 592.) 98
Groener erklärte, das Heer stehe „nicht mehr hinter Euer Majestät"
(Lebens-
erinnerungen, S. 460). Über die Widerstände, die sich Groener und seinem Gehilfen, Oberst Heye, innerhalb des Großen Hauptquartiers Generalstabsdienst, S. 262 ff.
in den Weg stellten,
Thaer,
60
1- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
dem beschritt, indem er die rasch zusammenschmelzenden Reste der militärischen Macht zur Unterstützung Eberts und seiner Regierung einsetzte. Allerdings dachte weder Groener noch irgend jemand in der Obersten Heeresleitung daran, den Volksbeauftragten die Hilfe des Heeres und seines Offizierskorps bedingungslos zur Verfügung zu stellen. Für sie standen Traditionen und Gewohnheiten auf dem Spiel, denen sie ihr Leben gewidmet und denen sie sich — wie es in diesem Maße nur in dem historischen Soldatenberuf geschehen konnte — mit ihrer ganzen Persönlichkeit hingegeben hatten. Der Rückzug aus einer zerstörten Standesexistenz des Offiziers in ein bürgerliches Dasein, das dem militärischen Glanz und Ruhm abhold war, wäre für diese Generation der hohen Offiziere ein vorbild- und beispielloser Vorgang und daher nur schwer oder gar nicht vollziehbar gewesen. Folgerichtig spricht daher aus Groeners Handlungen das Bewußtsein des deutschen Generalstäblers, in der Situation der Staatsumwälzung Generalstab und Heer in die Zukunft hinüberzuretten. Dies bedeutete zunächst ein Anknüpfen an das militärische Prestigedenken Ludendorffs, der das Odium des militärischen Versagens wie die Verantwortung für die Beendigung des Kampfes, ohne sachliche Prüfungen zuzulassen, von vornherein zivilen Stellen aufbürdete, um das Ansehen der Armee ungetrübt zu erhalten®9. Die große Achtung, die Hindenburg genoß, und der Oberbefehl, den der Kaiser in seine Hände gelegt hatte, erleichterten den Übergang, den nun, da das Band des Fahneneides gelöst war, das Offizierskorps nur mit Hilfe eines nahezu einheitlichen Gefühls patriotischer Verpflichtung und eines weitgehend intakten Korpsgeistes, die sich von der Staatsform unabhängig hielten, zu vollziehen vermochten. Die hiermit verbundene geistige Umbildung des von Grund auf monarchisch gesinnten Offizierskorps darf man als weitgehend gelungen bezeichnen. Der Umbruch vom November 1918 leitete einen Prozeß der Umerziehung ein, der freilich so bald noch nicht abgeschlossen wurde, in dessen Verlauf der vorherrschende Typus des uniformierten, in einem personalen Treueverhältnis an den Obersten Kriegsherrn gebundenen Junkers oder Edelmanns manchem neuen Typus, in erster Linie dem ebenso zuverlässigen wie unpolitischen militärischen Tech•* „Die Heeresleitung stellte sich bewußt auf den Standpunkt, die Verantwortung für den Waffenstillstand und alle späteren Schritte von sich zu weisen. Sie tat dies, streng juristisch gesehen, nur mit bedingtem Recht, aber es kam mir und meinen Mitarbeitern darauf an, die Waffe blank und den Generalstab für die Zukunft unbelastet zu erhalten." (Groener, a. a. O., S. 466.)
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre
Bündnisse
61
niker Platz machte, dessen Stellung und soziales Prestige weitgehend von seiner Position innerhalb der Hierarchie des Offizierskorps abhing. Dieser Prozeß begann mit dem im höchsten Grade politischen Einsatz des Offizierskorps auf der Seite der neuen Regierung, „die den Kampf gegen den Radikalismus und Bolschewismus" aufnahm. Dies war Voraussetzung und Grundlage des Bündnisses, das Groener nach Beratung mit dem im Großen Hauptquartier weilenden Friedrich N a u mann in seinem berühmten Telefongespräch mit Ebert am Abend des 10. November 1918 schloß70. Groener hat nachträglich hervorgehoben, daß Hindenburg von seinem Schritt keine Kenntnis hatte, ihn „dann aber" billigte, und daß „die Offiziere der O.H.L. fast ausnahmslos" zu ihm standen. Er selbst gab deutlich zu erkennen, daß er keineswegs in seiner militärischen Stellung als Generalquartiermeister, der lediglich in Übereinstimmung mit dem Obersten Befehlshaber entscheiden konnte, sondern — auch dies war ein Bruch der Tradition — als wegweisender Repräsentant des Offizierskorps handelte, in der später offenherzig eingestandenen Hoffnung, „einen Teil der Macht im neuen Staat an Heer und Offizierskorps zu bringen; gelang das, so war der Revolution zum Trotz das beste und stärkste Element des alten Preußentums in das neue Deutschland hinübergerettet". Unter dem Eindruck der großen Schwierigkeiten, denen sich die neue Regierung ohne annähernd genügende Vorbereitung gegenübersah, ging Ebert ohne Zögern auf das Bündnisangebot der Obersten Heeresleitung ein. Abgesehen von allen Ungewißheiten der Friedensvertragsverhandlungen, die den Horizont der Zukunft verdunkelten, drängten die Probleme der Rückführung der Truppe in die Heimat, ihrer Demobilisation und schließlich der Wiedereingliederung der entlassenen Mannschaften in das Wirtschaftsleben, das nun von aufflammenden Unruhen in den Bergbaubezirken und den Bestrebungen revolutionärer Art bedroht wurde, während die Gefahr des Separatismus im Rheinland nicht nur politische, sondern auch unübersehbare wirtschafl70 a . a . O . , S. 467 ff.; O t t o - E r n s t S d i ü d d e k o p f , D a s Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918—1933, H a n n o v e r / F r a n k f u r t a. M. 1955, S. 14. Inhaltliche Wiedergabe des Telefongesprächs in den Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen deutscher T r u p p e n u n d Freikorps, im A u f t r a g e des O b e r kommandos des Heeres bearb. u. hrsg. von der Kriegsgeschiditlichen Forschungsanstalt des Heeres, 2. Reihe, Bd. V I : Die Wirren in der Reichshauptstadt und im nördlichen Deutschland 1918—1920, Berlin 1940, S. 4; Erich O . Volkmann, Revolution über Deutschland, O l d e n b u r g 1930, S. 68, gibt sogar den telefonischen Dialog zwischen Groener und Ebert wieder, den er jedoch unrichtig auf den 9. N o v e m b e r datiert.
62
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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Weimar
liehe Folgen haben mußte. Ein derart willkommenes Angebot einer wirksamen Unterstützung der Volksbeauftragten konnte nur akzeptiert werden. Sobald sich die Oberste Heeresleitung bereit fand, ihre Loyalität zu bekunden, sah Ebert keinen Anlaß mehr, ihre Hilfe abzulehnen. Mit diesem „Bündnis" 71 hatte er aber auch das Machtmittel gewonnen, um nun das Ziel, die Nationalversammlung, zu sichern, die „Revolution . . . in einen neuen Dauerzustand von Recht und Gesetz" überzuleiten und notfalls, d. h. im Behinderungsfalle, die Unabhängigen aus dem Rat der Volksbeauftragten wieder auszubooten 72 . Ebert sah die Gefahr von links her heraufziehen, von den maßlosen Zielen einer aktivistischen Minderheit, die den Stempel des Bolschewismus nicht zu Unrecht trug, seit dem Versuch Liebknechts am 9. November, innerhalb der Leitung der Unabhängigen Sozialdemokraten seine Forderung durchzusetzen: „Alle exekutive, alle legislative, alle richterliche Gewalt bei den Arbeiter- und Soldatenräten." 73 Infolgedessen nahm Ebert das Bündnisangebot der Macht, die ihm ihre Dienste offerierte, ohne Zögern, doch nicht, ohne einen hohen Preis zu zahlen, an. Groener und der ihn umgebende Kreis der Generalstäbler benötigten ihrerseits die Legitimation durch die höchste Staatsautorität, um den Sturz der Monarchie zu überdauern, um das Offizierskorps in der Rolle einer nationalen Elite zu erhalten, um der Rätebewegung entgegenzutreten und die Befehlsstruktur der Armee zu behaupten, um „Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen und die „Reichseinheit" 71 Vgl. Rosenberg, Entstehung und Geschichte, S. 307 f.; Schüddekopf, ebda. Für die Groener-Kritik im Großen H a u p t q u a r t i e r : Thaer, Generalstabsdicnst, S. 267 ff. D o r t auch das Wort vom „Unglücks-Groener" (S. 287). Neuerdings hierzu die Dissertation von Wolfgang Sauer, Das Bündnis Ebert—Groener. Eine Studie über Notwendigkeit und Grenzen militärischer Macht, phil. Diss. Freie Univers. Berlin 1956 (Maschschr.). ' 2 H e r m a n n Müller-Franken, Die November-Revolution. Erinnerungen, Berlin 1928, S. 76. Die Aussage Groeners im sogenannten Dolch.stoß-Prozeß in München im November 1925, die übrigens in seinen Lebenserinnerungen nicht wiederkehrt, zählte eine umgekehrte Reihenfolge auf und m a ß dem „Hinausdrängen der U S P D aus der Regierung" besondere Bedeutung zu, was sidi wohl aus den Prozeßumständen erklären läßt. Rosenbergs Entgegnung (a. a. O., S. 484 f.) hat den Wert dieser Behauptung bereits etwas zweifelhaft gemacht. Vgl. auch Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten II, S. 341 ff. ,3 Bernstein, Die deutsche Revolution, S. 34, der die Schilderung dieser Szene durch die Erwähnung seines persönlichen Eindrucks ergänzt: „Als er [Liebknecht] aber in der geschilderten Weise der Partei das Bolschewikensystem aufzudiktieren sich anschickte, zuckte es mir wie ein Blitz durch den K o p f : ,Er bringt uns die Konterrevolution.'"
Die parlamentarischen
Kräfte und ihre Bündnisse
63
sichern zu können74. Sie paktierten daher mit der einzigen Machtgruppe, mit der sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt paktieren konnten, mit der rechten Mehrheit der Sozialdemokratie unter der maßgeblichen Führung Eberts,75 der überdies im Besitze des traditionalen Reichskanzleramtes war. Beide Seiten handelten zunächst von ihren weit voneinander entfernten Standpunkten aus vollkommen folgerichtig. Die Oberste Heeresleitung wählte das geringere Übel, um möglichst viel von der Vergangenheit des alten Offizierskorps in die Zukunft hinüberzuretten, während sich Ebert ohne langes Bedenken zu diesem Schritt entschloß, um die angestrebte Stabilisierung der Verhältnisse zu erreichen und die Rivalität der Räte auszuschalten. Fraglich und fragwürdig blieben freilich manche der Auswirkungen, die dieses Bündnis Groener—Ebert zeitigte, das zwar der Obersten Heeresleitung ein neues, recht weites legitimes Operationsgebiet, doch der zivilen Staatsgewalt damit noch längst keine Einwirkung auf militärische Angelegenheiten einräumte75. Es gab weder eine Absprache, noch einen Vertrag, gewisse Zusagen, doch im Grunde nur von begrenzter Dauer und von relativem Wert, soweit die Umstände sie sanktionierten. Und diese waren alles andere als günstig, da Unab74 Vgl. Groener, Lebenserinnerungen, S. 646; Groener-Geyer, General Groener, S. 130; Volkmann, Revolution, S. 65. Charakteristisch ist auch die von Schleicher, schon in dieser Zeit einer der engsten Vertrauten Groeners, ausgesprochene Überzeugung: „Man braucht uns, man wird uns immer braudien, ohne uns geht es nicht, wir sind eine souveräne Macht, denn die Armee, das ist die Reichseinheit." (Zit. v. Rudolf Fischer, Schleicher. Mythos und Wirklichkeit, Hamburg 1932, S. 18.) 75
Bei alledem darf freilich nicht übersehen werden, daß ein nationaler Sozialismus und eine ihm folgende Sozialdemokratie für manchen Angehörigen des Offizierskorps bei weitem nicht die Schrecken verbreitete, die mit dem Ausdruck „Bolschewismus" bezeichnet wurden. Soziale und sozialistische Gedankengänge blieben konservativen Offizierskreisen durchaus nicht völlig fremd, wenn es auch verfehlt wäre, von ausgeprägten Ideen und Theorien zu sprechen. Soweit mit der Agrarstruktur zusammenhängende Fragen außer acht blieben, waren gerade in preußischen konservativen Kreisen immer Neigungen der Kritik, der Abwehr, auch des blanken Unverständnisses des bürgerlichen Erwerbsstrebens wie des Kapitalismus anzutreffen. Sie mit einer Richtung des Sozialismus zu identifizieren, ginge zu weit; aber zweifellos konnten die Kollektivrealitäten und Kollektivideale des Offizierslebens wie die Kommandogewalt über einzelne und Truppenverbände, Korpsgeist und Standesbewußtsein zur Ausbildung sozialer Ideen wie sozialistischer Modellvorstellungen beitragen. (Vgl. Schüddekopf, Das Heer und die Republik, S. 10 f.; gestützt auf das Gutachten von Erich O. Volkmann, Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918: Das Werk des Untersuchungsausschusses der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung und des Reichs-
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I. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
h ä n g i g e u n d S p a r t a k i s t e n e b e n s o entschlossen g e g e n die E x i s t e n z Offizierskorps innerhalb
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getroffenen Abmachungen hinaustrieben,
s a m t e n e u e politische S y s t e m z u s t ü r z e n .
Es war
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nicht z u l e t z t
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Schwächen beider P a r t n e r zuzuschreiben, d a ß der D r a h t , der v o n der R e i c h s k a n z l e i z u r O b e r s t e n H e e r e s l e i t u n g lief, ein „ S y m b o l u n d gleichs a m die N a b e l s c h n u r d e r R e p u b l i k " 7 8 g e w o r d e n ist.
tags, 1919—1930, Reihe IV, 2. Abtig., Bd. 11/2, Berlin 1929, S. 20 ff., das freilich zu stark verallgemeinert und zu wenig differenziert.) Ob nun marxistischer und preußisch-konservativer Machtgedanke, der eine dem revolutionären, der andere dem monarchischen Staat verpflichtet, eng verwandte Züge aufwiesen (vgl. hierzu Hans Rothfels, Marxismus und auswärtige Politik: Deutscher Staat und deutsche Parteien. Beiträge zur deutschen Partei- und Ideengesdiichte, Friedrich Meinecke zum 60. Geburtstag dargebracht, München u. Berlin 1922, S. 307—341) oder sich auf halbem Wege treffen konnten, wie später manche unter den Jüngeren annahmen, blieb einstweilen irrelevant, da an diesem Bündnis sowohl bei Groener, dem solche Gedanken ganz und gar fremd waren, bei der O H L wie bei Ebert und der Mehrheitssozialdemokratie, die gerade keine engen Beziehungen mehr zu Marx hatte, derlei Überlegungen unbeteiligt waren. R . Fischer, Schleicher, S. 28.
ZWEITES
KAPITEL
Das Zwischenspiel der Rätebewegung Arbeiter- und Soldatenräte ohne System Die von sozialistischen Kräften vorangetriebene Revolutionsbewegung fand zunächst einen scheinbar einheitlichen Ausdruck in den Arbeiter- und Soldatenräten, die vorübergehend die Zentren und teilweise auch Leitungsorgane lokaler Aktionen waren und die sich die Mächte der alten Staatsordnung zu unterwerfen suchten, denen der Kampf der Sozialdemokratie seit jeher gegolten hatte: die kapitalistische Wirtschaft, das Militär in seinen traditionellen Formen und die bürokratische Verwaltung. Im Verlaufe des Umsturzes waren diese Arbeiter- und Soldatenräte binnen weniger Tage in weiten Teilen Deutschlands nach dem Vorbild der russischen Sowjets entstanden. In unterschiedlicher Weise erhoben sie den Anspruch, Befugnisse zur Direktion, zu Umgestaltungen, zu Kontrollen oder zu Eingriffen ins Dasein dieser drei Mächte zu besitzen. 1 An einigen Orten entstanden 1 Die Soldatenräte beschränkten sich teilweise und zeitweilig auf militärische Zuständigkeiten; häufig operierten sie jedoch mit den aus den industriellen Betrieben hervorgegangenen Arbeiterräten gemeinsam als lokale revolutionäre Instanzen. Eine gesonderte „wirtschaftliche Rätebewegung" neben einer „politischen" und einer „militärischen" (Peter v. Oertzen, Die großen Streiks der Ruhrarbeiterschaft im Frühjahr 1919. Ein Beitrag zur Diskussion über die revolutionäre Entstehungsphase der Weimarer Republik: V j Z 6. Jg./1958, S. 234) h a t sich erst nach dem Zusammentritt der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g in Theorien, weniger in der Wirklichkeit, ausbilden können. Vgl. die Bemerkungen über „verfälschte R ä t e - I d e e n " bei W a l t e r Oehme, Damals in der Reichskanzlei, S. 108. D e r jüngste Versuch, eine Darstellung und Beurteilung der R ä t e in Deutschland zu geben, ist neben diesem mit persönlichen Erlebnissen unterlegten historischen Bericht v o n O e h m e die Dissertation von Walter Tormin, Zwischen R ä t e d i k t a t u r und sozialer Demokratie. Die Geschichte der R ä t e bewegung in der Deutschen Revolution 1918/19 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, H e f t 4), Düsseldorf 1954. Eine in ihrer Mischung aus persönlichen Erinnerungen, erlangten Informationen und gesammelten Dokumenten und Zeitungsausschnitten wertvolle, noch keineswegs völlig ausgeschöpfte Quelle ist die dreiteilige Veröffentlichung des der U S P D angehörenden Führers der Revolutionären Obleute Berlins und Vorsitzenden des Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte, Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik,
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Schulz I
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I- Die Demokratie
etwas später
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
auch b e s o n d e r e bürgerliche R ä t e ,
von
Weimar
sogenannte
„Bürger-
r ä t e " , die seit F r ü h j a h r 1 9 1 9 in einem u n t e r k o n s e r v a t i v e r
Führung
stehenden „ R e i c h s b ü r g e r r a t " f o r t l e b t e n , u n d in den östlichen, v o n p o l nischen L o s l ö s u n g s b e s t r e b u n g e n b e r ü h r t e n P r o v i n z e n deutsche „ V o l k s r ä t e " , die in die R e i h e der M e r k m a l e einer bürgerlichen u n d n a t i o n a l e n Gegenbewegung gehören und Aufmerksamkeit verdienen. Die Arbeiter- und Soldatenräte bildeten das stärkste Bollwerk der
revolutio-
n ä r e n K r ä f t e , a b e r bei w e i t e m nicht n u r dieser K r ä f t e . D e r ihnen z u g r u n d e liegenden, d e m bolschewistischen Beispiel R u ß l a n d s menen
I d e e nach bildeten
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der
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revolutionären
M a c h t , die v o n u n t e n her, v o n der l o k a l e n E b e n e aus d a s W e r k
der
g r o ß e n politischen u n d s o z i a l ö k o n o m i s c h e n U m w ä l z u n g in G a n g setzte, Bd. I : Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung während des Weltkrieges (Wissenschaft und Gesellschaft, Bd. 3), Wien 1924; Bd. I I : Die NovemberRevolution (dorts. Bd. 4), Wien 1925; und: Der Bürgerkrieg in Deutschland. Geburtswehen der Republik, Berlin 1925. Diese Schriften sind, wenn auch nicht unkritisch, so doch überaus parteiisch und enthalten Einzelheiten, die isoliert dargestellt werden und der Nachprüfung bedürfen; eine nachträgliche Überarbeitung des Tatsachen- und Erlebnismaterials, möglicherweise von fremder Hand, ist an mehreren Stellen unverkennbar. Dem kritischen Leser geben sie jedoch einen detaillierten und nuancierten Uberblick über den Verlauf namentlich der Berliner Ereignisse vom November 1918 bis zum März 1919 wie über die Geschichte der Revolutionären Obleute innerhalb der Arbeiterbewegung Berlins während des Krieges. Sie verschaffen aufschlußreiche Einblicke in die Pläne und in die Geistesverfassung einer revolutionären Minderheitsgruppe, verdienen aber auch deshalb Interesse, weil sie Ansätze einer — vielleicht nachträglich entwickelten — Revolutionsstrategie erkennen lassen, die sich im frühen Schrifttum zur deutschen Geschichte dieser Zeit noch überaus selten finden. Über Arbeiter- und Soldatenräte im einzelnen: Vom Kaiserreich zur Republik, Bd. I, S. 140 ff.; Bd. II, S. 32 ff., 53 ff., 79 ff., 101 ff., 103 ff., 230 ff., Bürgerkrieg, S. 98 ff., 124 ff., 191 ff., 240 ff. Wichtig sind außerdem die Memoiren des einstigen Führers der Sozialdemokraten im Vollzugsrat des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates und späteren Reichskanzlers Hermann Müller-Franken, Die November-Revolution, S. 89 ff. Weitere Literatur bei Tormin. In der offiziösen historischen Literatur Ostdeutschlands ist seit einiger Zeit die Tendenz zu erkennen, die Rolle der Gruppe „Spartakus" gegenüber den Revolutionären Obleuten stärker hervorzuheben. Dies geschieht offenbar in der Absicht, eine Kontinuitätslinie zu konstruieren, die die Einordnung dieser Ereignisse in die Geschichte der K P D ermöglicht. Vgl. die Beiträge in den Sammelbänden: Revolutionäre Ereignisse und Probleme in Deutschland während der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917/18, hrsg. v. Albert Schreiner, Berlin (Ost) 1957; u. die Oktoberrevolution und Deutschland. Protokoll der wissenschaftlichen Tagung in Leipzig 25.—30. November 1957 hrsg. v. A. Schreiner, Berlin (Ost) 1957. Kritisch hierzu jetzt Eberhard Kolb, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918—1919 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 22), Düsseldorf 1962, S. 410 ff.
Das Zwischenspiel der
Rätebewegung
67
bis eines Tages der Kreis zwischen revolutionärer Zentralgewalt und Rätebewegung geschlossen sein und die Revolution gesiegt haben würde. Doch gerade diese Funktion erfüllten die Räte nicht. Eine einheitliche Konzeption existierte allenfalls in den Köpfen einiger Ideologen. Ihr Ideal mag vielleicht auch Anregungen für eine demokratische Belebung der bürgerlichen Lokalverwaltung enthalten. Doch als Instrumente der revolutionären Bewegung erwiesen sich die Räte schon aus dem Grunde als untauglich, weil ihre überwiegende Mehrzahl zum Opfer der Spaltung der sozialistischen Parteien und der Machtkämpfe zwischen Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängigen Sozialdemokraten und Spartakisten wurde und, bereits ehe sich die nur langsam, wenn überhaupt im lokalen Rahmen in Gang kommende revolutionäre Tendenz entfalten konnte, in Abhängigkeit von den Parteizentralen der Länder geriet. Die Idee einer Einheit der Arbeiterbewegung hielt nur kurze Zeit vor, sicherte aber der Sozialdemokratischen Partei weiterhin die Mehrheit ihres alten Anhangs, die sie in den neuen Kämpfen auf ihre Seite zog. Von Anbeginn sah sie sich im Besitze einer Doppelstellung, mit deren Hilfe sie eine „Doppelregierung" nach dem Vorbild der bolschewistischen Phase der russischen Revolution von vornherein mit wachsender Sicherheit auszuschalten wußte: Sie hatte in nahezu allen Ländern Deutschlands die Staatsgewalt übernommen oder eine maßgebliche Beteiligung an ihr erlangt und verfügte gleichzeitig über einen starken, teilweise sogar beherrschenden Einfluß in den Räten, der sich trotz gelegentlicher und örtlicher Abweidlungen, dank einer am Ende allgemein wirksamen Autorität der Berliner Parteiführung unter Friedrich Ebert, dank einer durchdringenden Partei- und Fraktionsdisziplin und schließlich einer langsam sich verbreitenden Aura des Erfolges, zugunsten zentraler Instanzen in Berlin oder in den Ländern auswirkte. Währenddessen schwankte die Mehrheit der Unabhängigen, ohne einheitliche Entschiedenheit zu gewinnen, und verausgabte sich die radikale Linke der Spartakisten und Revolutionären Obleute und der aus beiden hervorgehenden Kommunistischen Partei in dem Bestreben, eine revolutionäre Initiative zu gewinnen und das Eube des ungeduldig erwarteten Zerfalls der Unabhängigen anzutreten. Sie bediente sich der Rätebewegung programmatisch als des notwendigen Vehikels einer proletarischen Revolution und taktisch wie praktisch als eines Instrumentes zur Erweiterung des sehr begrenzten eigenen Einflusses. Da fast überall die Mehrheitssozialdemokraten sowohl die Verfügungsgewalt über den Parteiapparat und den größten Teil der Presse der alten S P D wie 5»
68
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
über ihren maßgeblichen Anteil an den intakten öffentlichen Verwaltungen besaßen, wurden von der Landesebene her auch meist die Räte bald entmachtet, ehe sie mit dem Gebrauch der Macht recht vertraut geworden waren. Dort aber, wo sie zur Domäne des radikaleren Konkurrenten zu werden drohten, sanken sie zu Schauplätzen eines ungleichen Parteikampfes herab. Die Wirklichkeit kannte von Anfang an mehr Differenziationen und Spielarten als die Idee. In ihren ersten Anfängen war die Rätebewegung der Ausdruck einer dünnen Mittlerschicht, die die Absichten ihrer Führer — soweit diese die „action directe" nicht selbst unmittelbar auslösten — so, wie sie sie verstanden, in zahllosen kleineren und größeren, örtlich begrenzten Handlungen zu verwirklichen trachteten. Bisweilen ergaben sich regionale Zusammenhänge. Wo die radikale revolutionäre Observanz in den Räten die Oberhand gewann, ließ sich dieser Vorgang vorübergehend einigermaßen institutionalisieren. Mit den Arbeiter- und Soldatenräten entstanden dann lokale Nebenregierungen, deren Bedeutung von dem Bodengewinn eben der entschiedenen revolutionären Kräfte abhing. Letztlich aber erwies sich doch das Instrument der Räte als ein nach mißverstandenen Vorbildern geschaffenes Instrument, das schon insofern vollkommen inkonmensurabel und im Wesentlichen unvollendet blieb, als die beherrschende Initiative und Macht einer einzigen sozialistisch-revolutionären Partei über alle Räte und deren zunehmende Bindung an eine einzige Parteizentrale wie den Bolschewiki in Rußland fehlte und trotz verbreiteter Versuche der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei wie der Spartakisten, sich eine Machtstellung innerhalb und mit Hilfe der Räte zu verschaffen, auch nicht zustande kam. In der Tat war die U S P D zu heterogen und selbst in ihrer Führung viel zu wenig einheitlich, als daß sich ein Vergleich mit den Bolschewiki Lenins anstellen ließe. Schließlich fehlte die „Rote Miliz", die als Vollzugsorgan die diktatorischen Entscheidungen der Räte unnachsichtig durchsetzte.2 Die russischen Räte entstanden in einem weiten, teilweise menschenarmen Lande, das despotisch regiert worden war, das nur über eine schwach entwickelte Selbstverwaltung und über ein noch schwächeres Parlament verfügte. Die Sowjets waren daher unter den Bedingungen des Umsturzes und der weitgehend zerstörten Verwaltungszusammenhänge auch praktisch notwendige Instrumente, die die alten lokalen Gewalten ablösten und ersetzten und mit Hilfe der Miliz zunächst die 2
R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik II, S. 36.
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
69
örtliche Diktatur inaugurierten, um dann nach verhältnismäßig kurzem Übergang, unter unmittelbarer Leitung der bolschewistischen Partei der Durchsetzung des Willens der Zentralgewalt zu dienen; dies war die letzte Konsequenz aus Lenins Forderung „Alle Macht den Räten". Sie starben ab, sobald die Sowjetrepublik aufgerichtet und die Macht des zentralen Regiments konsolidiert war — ein später Schlag für alle Räteideologen, die mit dem russischen Beispiel operierten. 3 3 Vgl. A. Rosenberg, Entstehung u n d Geschichte der Weimarer Republik, S. 322 f., 325 ff.; auch R . M ü l l e r , Bürgerkrieg, S. 35 ff. Treffend h a t Rosenberg den U n t e r schied zwischen russischen Sowjets und deutschen R ä t e n hervorgehoben: „ . . . der Bolschewismus beruht auf einer straff disziplinierten Partei, in der die Autorität der Spitze sich nach unten d u r c h s e t z t . . . Die Räte, die 1918 im L a u f e der Revolution in Deutschland entstanden, w a r e n . . . keine Schattensowjets, so wie die Bolschewiki sie damals in R u ß l a n d duldeten. D e n n es gab in der deutschen Revolution keine Partei, die imstande gewesen wäre, eine despotische D i k t a t u r über die Räte auszuüben." (a. a. O., S. 286 f.) In ähnlichem Sinne auch R . Müller in seiner Kritik an der deutschen Rätebewegung (Bürgerkrieg, S. 205). Uber die Entstehung der Soldatenräte urteilt nach eigenen Erlebnissen neuerdings Walter Oehme, Damals in der Reichskanzlei, S. 10: „Uberall folgte m a n einfach dem russischen Beispiel, ohne sich zunächst über die Frage der ferneren A u f g a b e der R ä t e u n d ihrer Rolle im System der Staatsgestaltung klar zu werden. Sie w a r e n ganz einfach der nächstliegende Weg, u m den Offizieren die Macht aus der H a n d zu nehmen und die Führung der Truppen der Masse der Soldaten a n z u v e r t r a u e n [ ! ] . . . Ich selbst hielt mit zwei oder drei K a m e r a d e n die Sozialisierung f ü r eine unbedingt sofort zu lösende Aufgabe, ohne jedoch ein klares Bild über den Weg sowie über die Anwendung der dem P r o l e t a r i a t zufallenden Macht zu besitzen." Über die Bewertung des russischen Vorbildes auch a. a. O., S. 103. — Eine frühe, aber ausgeprägt theoretische Vorstellung von den R ä t e n als Institutionen der unmittelbaren Demokratie und zugleich als Instrumenten zur Revolutionierung der Gesellschaft enthielt der v o n Rosa Luxemburg v e r f a ß t e A u f r u f des Spartakus-Bundes, den die »Rote Fahne" vom 14. Dezember 1918 veröffentlichte (wieder abgedruckt in: Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1928, S. 259—263; danach bei Flechtheim, Die kommunistische Partei, S. 237—245): „Die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung ist die gewaltigste Aufgabe, die je einer Klasse und einer Revolution der Weltgeschichte zugefallen ist. Diese A u f g a b e e r f o r d e r t einen vollständigen U m b a u des Staates u n d eine vollständige U m w ä l z u n g in den wirtschaftlichen und sozialen G r u n d l a g e n der Gesellschaft. Dieser U m b a u und diese U m w ä l z u n g können nicht durch irgendeine Behörde, Kommission oder ein P a r l a ment dekretiert werden, sie können n u r v o n der Volksmasse selbst in Angriff genommen und durchgeführt werden . . . Von der obersten Spitze des Staates bis zur kleinsten Gemeinde m u ß . . . die proletarische Masse die überkommenen O r g a n e der bürgerlichen Klassenherrschaft, die Bundesräte, P a r l a m e n t e , Gemeinderäte, durch eigene Klassenorgane, die Arbeiter- und Soldatenräte, ersetzen, alle Posten besetzen, alle Funktionen überwachen, alle staatlichen Bedürfnisse an dem eigenen Klasseninteresse und den sozialistischen A u f g a b e n messen." Eine seit langem notwendige,
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/• Die Demokratie
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und die Reichsverfassung
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Weimar
Ein ganz und gar anderes Bild bot sich in Deutschland. Räte entstanden in Städten und bei militärischen Befehlsstellen, Militärverwaltungen, Truppenteilen, bei Kommunalverwaltungen und staatlichen Verwaltungen und in einzelnen, meist in großen Industriebetrieben. Ihre Tätigkeit erstreckte sich im allgemeinen auf den lokalen Rahmen. Nur in Ausnahmen konnte die Institution der Räte hierüber hinauswachsen. In jedem dieser Fälle standen sie unter dem bestimmenden Einfluß der Unabhängigen Sozialdemokraten, die in Bayern das wohl merkwürdigste, kompromißbedingte Erzeugnis der Rätebewegung entstehen ließen. Hier erhielten die Räte von der lokalen bis zur Landesebene das Aussehen ständeartiger Repräsentationen, die neben einem mit bescheidenen Rechten ausgestatteten Parlament tätig werden, im übrigen die traditionellen Funktionen des Beamtentums keineswegs beschränken sollten.4 Die USPD gewann die Unterstützung des Bayerischen Bauernbundes, der sich mit Hilfe der Bauernräte auf dem Lande einen zunehmenden Einfluß sicherte und zu einer starken Konkurrenz der Christlichen Bauernvereine heranwuchs. Räteregierungen, die diesen Namen wirklich verdienten, gab es, von dem kaum vier Wochen dauernden bayerischen Interregnum im Frühjahr 1919 abgesehen, das von München aus jedoch lediglich die südlichen Teile des Landes beherrschte,5 in keinem deutschen Lande. sehr verdienstvolle Darstellung der Geschichte der russischen Sowjets liegt jetzt in der Arbeit von Oskar Anweiler vor, Die Rätebewegung in Rußland 1905—1921 (Studien zur Geschichte Osteuropas, Bd. V), Leiden 1958. 4 Richard Müller nennt die Münchener Räteregierung vom April 1919 eine „elende gewissenlose Revolutionsspielerei politischer Streber und Cafehausliteraten, die sich an ihren eigenen Worten berauschten und sich im Wirbel der revolutionären Ereignisse nicht zurechtfanden, die, von Ehrgeiz, Eitelkeit und Größenwahn geblendet, das eigene Empfinden, Sehnen und Streben für das der Volksmasse hielten, die eine neue Welt schaffen wollten, von der sie sich selbst noch kein Bild zu geben vermochten und die doch nur unbewußt die Geschäfte der Gegenrevolution besorgten". (Bürgerkrieg, S. 194.) Müller übersieht allerdings, daß ähnliches auch für manches andere Räteunternehmen galt. Uber die Münchener Räteperiode auch die Erinnerungen von Ernst Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit, Berlin u. Leipzig 1923; Josef Hofmiller, Revolutionstagebuch 1918/19. Aus den Tagen der Münchner Revolution, Leipzig 1938; und neuerdings die oben genannten Veröffentlichungen von H . Beyer und H. Neubauer. 5
Hierzu die jetzt von einem biographischen Versuch über Eisner ausgehende Studie von Franz Schade, Kurt Eisner und die bayerische Sozialdemokratie (Schriftenreihe der Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung), Hannover 1961, S. 61 ff.; und die Arbeit von H.Neubauer, München und Moskau 1918/19.
Das Zwischenspiel
der
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Dieses Urteil nimmt auch die Regierung Eisner vom November 1918 nicht aus, die aus dem Münchener Arbeiter- und Soldatenrat hervorging, sich im übrigen jedoch nicht wesentlich von anderen Länderregierungen unterschied. Allein in Braunschweig, Bremen und Hamburg existierten f ü r kurze Zeit Rätesysteme, die mit Hilfe des Delegiertenprinzips die lokalen Instanzen mit einem obersten Arbeiter- und Soldatenrat als höchster Landesinstanz verknüpften, nichtsdestoweniger aber dem Beispiel der russischen Sowjets keineswegs entsprachen. Der Braunschweigische Landes-Arbeiter- und Soldatenrat veranstaltete nach einigen Wochen Kommunal- und Landtagswahlen, die ihm eine parlamentarische Abstützung sicherten und den allmählichen Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise eröffneten. In Hamburg dauerte die Alleinherrschaft des Großen Arbeiter- und Soldatenrates lediglich fünf Tage; nach dieser Zeit entschlossen sich die gleichen Revolutionäre, die eben erst Senat und Bürgerschaft beseitigt hatten, diese wieder einzusetzen und sich selbst mit den Funktionen einer Art zweiter Kammer mit begrenzten Kontrollrechten zu begnügen.' In Bremen verschärften sich vorübergehend die Verhältnisse infolge der Versuche, die der dortige Arbeiter- und Soldatenrat unternahm, auf die Anordnungen der Behörden einzuwirken; hier kam es zu radikalen Entwicklungen und dann zu eben solchen Reaktionen. 7 Seine unumschränkte H e r r schaft führte auch hier nach freien Wahlen zu Gegenaktionen des Bürgertums, noch ehe die Regierungstruppen in die Hansestadt einrückten. Bereits die Tatsache, daß die Räte einzig in kleineren territorialen Gebilden von urbanem Gepräge für kurze Zeit wirklich Regierungsfunktionen zu übernehmen vermochten und legislative Funktionen mit der Oberaufsicht und der unmittelbaren Leitung der Exekutive vereinigten, deutet darauf hin, daß es an den notwendigen Voraussetzungen gebrach, die es ihnen ermöglicht hätten, sich systematisch über die lokale Ebene hinaus emporzuentwickeln. 8 • R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik. II, S. 48; D G R , S. 150, 323 f. 7 D G R , S. 150, 322; R . M ü l l e r , Bürgerkrieg, S. 115 ff. 8 Rosenberg hat sich von seinem Räteidealstaat, den er nach russischem Vorbild in Verbindung mit den historischen Formen der bürgerlichen kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland erdachte, allzu sehr gefangen nehmen lassen („Der Arbeiterrat einer Stadt faßte die f ü r die Stadtverwaltung notwendigen Beschlüsse, und zugleich führte er sie aus. Denn hinter ihm stand die bewaffnete Arbeitermiliz, die als Polizei und überhaupt als Exekutivorgan diente."), so daß zwar eine theoretische Vorstellung, aber keine realistische Schilderung mehr zustande k a m : „Es war leicht möglich, die Räte der einzelnen O r t e zu Landeskonferenzen zusammen-
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Das Verhältnis zur Regierung der Volksbeauftragten unter der Leitung Eberts, der sich auf Beamtentum und Heer stützte und die bürgerlichen parlamentarischen Gruppen an die Regierung heranzuziehen gedachte, war von Anbeginn in einem für die Räte völlig ungünstigen Sinn entschieden. Schon am 11. November 1918, einen Tag nach seiner telefonischen Verständigung mit General Groener, erließ Ebert an die Oberste Heeresleitung telegrafisch eine förmliche Botschaft, mit der er, den traditionalen, nicht den revolutionären Charakter seiner Regierung unterstreichend, bekannt gab, daß er „das Reichskanzleramt übernommen" habe. Seine Botschaft fuhr fort: „Ich danke für die mir ausgesprochene Bereitwilligkeit, mit der von mir gebildeten Regierung zum Wohl des Landes zusammenzuwirken, und bitte die Oberste Heresleitung, zu meiner Verfügung zu stehen". 0 Dem Verlangen Hindenburgs, durch eine Weisung der Regierung das gesamte Feldheer „zur Aufrechterhaltung der Disziplin und Ordnung" zu verpflichten, entsprach Ebert noch am gleichen Tage durch einen grundlegenden Erlaß, der den „unbedingten Gehorsam" im Dienst und das Vorgesetztenverhältnis des Offiziers bestätigte und die Befugnisse der mittlerweile bei allen Verbänden entstandenen Soldatenräte auf eine „beratende Stimme in Fragen der Verpflegung, des Urlaubs, der Verhängung von Disziplinarstrafen" — „zur Aufrechterhaltung des Vertrauens zwischen Offizier und Mann" — beschränkte.10 Sein Erlaß engte sogar die Tags zuvor von der Obersten Heeresleitung getroffenen Anordnung ein, die noch die Einsetzung von „Vertrauensräten" zur „Aufrechterhaltung der Ordnung, Aufsicht über Verpflegung, Entscheidung über Urlaub, Auszeichnungen und Strafen" befahl. 11 Auf zufassen und aus solchen Landeskonferenzen einen Reichsrätekongreß
hervorgehen
zu lassen." (Entstehung und Geschichte, S. 286, 288.) Diesen organischen eines Rätesystems,
das gesetzgebende und ausführende Gewalt in sich
Aufbau
„vereint",
hat es in Deutschland nicht gegeben. Auch die im Münchener Regierungsprogramm Eisners vom 15. November 1918 bekundeten Absichten („Neben dem provisorischen Zentralparlament und dem in der Regierung verkörperten revolutionären Vollzugsausschuß sollen alle einzelnen Verbände und Berufe der Bevölkerung ihre eigenen Angelegenheiten in voller Öffentlichkeit erörtern können. Wir wollen die bisherigen Organisationen parlamentarisieren."), die als theoretischer und programmatischer Beitrag betrachtet werden, aber doch eher — wenn auch mit proletarischem Vorzeichen — ständisch-repräsentative als nach dem sowjetischen Muster gebildete Vorstellungen bekunden, können zur Unterstützung der These Rosenbergs nicht dienen. (Vgl. R . Müller, Vom Kaiserreich zur Republik II, S. 67.) • Die Wirren in der Reichshauptsadt, S. 4. 10
ebda.
11
a. a. O . . S . 6 .
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
Tb
diese Weise bestätigten sich beide Seiten gegenseitig ihre Autorität. Zunächst aber trug die Oberste Heeresleitung im Sinne ihrer Ziele den Nutzen davon. Für die Generalstäbler des Großen Hauptquartiers war der Krieg auch unmittelbar vor wie nach Abschluß des Waffenstillstandes noch lange nicht beendet, sondern wurde er bis zum Abschluß des Friedensvertrags lediglich „mit anderen Mitteln" fortgesetzt. Damit Deutschland nicht „jeden Frieden annehmen" müsse, dem man ihm biete, sollte die Autorität der Regierung, aber auch ein jederzeit kampffähiges Heer erhalten bleiben — oder doch wenigstens der Anschein, daß es intakt sei. Kopflosigkeit, Unsicherheit und Auflösung waren Schreckgespenster, die in alter Gewohnheit, für alle überraschenden Vorgänge in der Heimat die zivile Führung verantwortlich zu machen, nun als „Dolchstoß" gegen die Friedensverhandlungsposition angesehen wurden.12 Der Gedanke an eine militärische Aktion in der Heimat im Zusammenhang mit der Rückführung der Fronttruppe gewann daher im Großen Hauptquartier verhältnismäßig frühzeitig Gestalt. Unmittelbar nach der militärischen Niederlage und nach der Flucht des Kaisers ist die Absicht erkennbar, durch Entsendung von Truppen „die Revolution in der Heimat niederzuschlagen". 13 Da die Auflösungserscheinungen jedoch bereits auf die meisten Truppenteile übergegriffen hatten und an ihren planmäßigen Einsatz nicht mehr zu denken war, entstand schon am 9. November der Plan, zum „Kampf gegen den Bolschewismus" in der Heimat „so schnell wie möglich Freikorps, . . . nur aus sehr sicherem Personal zusammengesetzt," zu bilden." Nichtsdestoweniger standen sich einstweilen noch zwei Absichten gegenseitig im Wege: sofort militärisch einzugreifen, um die revolutionäre Bewegung überall im Keime zu ersticken, oder abzuwarten, bis die militärische Führung wieder über absolut zuverlässige Truppenverbände verfügte, und dieses Ziel dann mit allen möglichen Mitteln anzustreben. Die Entscheidung fiel zunächst im Zusammenhang mit dem Demobilisationsproblem. Ohne Zweifel warf unter den obwaltenden Verhältnissen die geordnete Rückführung und anschließende Auflösung des Millionenheeres der Fronttruppen die schwierigsten Probleme auf. Auch die Frage, welche politischen Folgen die Heimkehr von Hunderttausenden schlecht versorgter Soldaten im Verlaufe eines Winters mit knapper 12
13 11
Thaer, Generalstabsdienst,
a.a.O., S. 261. a. a. O., S. 257, 297.
S. 254.
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von
Weimar
Ernährung und unzureichenden Brennstoffen und in einer womöglich dem Bürgerkrieg zutreibenden Situation mit sich bringen würde, löste sorgenvolle Erörterungen aus. Unter diesen Umständen keimte im Großen Generalstab der Gedanke auf, das Geschehene zu ignorieren und das Demobilisationsproblem zu vertagen, mit Hilfe heimkehrender Truppen „erst Ordnung und Ruhe schaffen, damit Wahlen zu einer Nationalversammlung stattfinden" könnten, in der dann die Mehrheitssozialdemokraten und vielleicht sogar die Bürgerlichen die Mehrheit bildeten, die die „grundlegenden Gesetze" über die neue Staatsordnung zu schaffen hätten.15 Schon am 15. November standen die Grundzüge des Planes fest, dem nach anfänglichem Widerstreben auch Groener seine Zustimmung gab: Aus den Truppen, die aus Frankreich zurückkehrten, sollten nach rascher Prüfung die 10 besten und zuverlässigsten Divisionen ausgesucht und in den Umkreis von Berlin befördert werden, um unter dem Kommando des Generals Lequis in die Reichshauptstadt einzurücken, die Zivilbevölkerung zu entwaffnen und sich schlechthin zu Herren der Situation zu machen.16 In die zweite Novemberhälfte fielen die Vorbereitungen dieser Operation, die „die Ordnung im Lande wiederherstellen" und mit dem Einmarsch der Truppen in Berlin in einer solchen Form beginnen sollten, daß er einen „gründlichen Umschwung herbeizuführen" vermochte.17 Danach wäre wieder der Reichstag einberufen und eine vorläufige Reichsverfassung geschaffen worden; die endgültige sollte das Werk einer späteren Nationalversammlung sein.18 Eine Operation zur Unterstützung der Regierung der Volksbeauftragten wird man dies kaum nennen können. Sie stimmte jedoch im letzten Punkte paradoxerweise gerade mit den Plänen der Unabhängigen überein, denen es in erster Linie um eine Verschiebung der Wahlen zu tun war. Die erste Wahl der Soldatenräte des Großen Hauptquartiers in Spa1" löste starke Beruhigung unter den hohen Offizieren aus. Von dem Mute der Verzweiflung und von Nervosität ergriffen, waren sie nicht mehr bereit, noch länger zu warten. Man wird indessen nicht von 15
a. a. O., S. 269. Thaer nennt als Urheber dieses Planes den Obersten Tiesdiowitz v. Tieschowa (Adjutant Groeners) und Major v. Schleicher, außerdem sich selbst (a. a. O., S. 273). " Volkmann, Revolution über Deutschland, S. 121, der als Urheber dieses Planes wohl irrtümlich Oberst v. Haeften benennt, den Leiter der militärischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und Verbindungsmann der O H L in Berlin. 18 Volkmann, a. a. O., S. 122. 19 Vgl. Thaer, Generalstabsdienst, S. 271 f. 10
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
75
der Existenz eines Planes der Obersten Heeresleitung „zur Wiederherstellung der Regierungsgewalt" 20 sprechen dürfen, welche Regierung auch immer gemeint sein mag; da derartige Pläne sich unmöglich auf militärische Dispositionen beschränken können, die Oberste Heeresleitung ein festes Ziel aber offenbar nicht vor Augen hatte. Wie sich während der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin und vor allem an dem hartnäckigen Kampf gegen ihre Sieben-PunkteEntschließung zeigte, war es der Obersten Heeresleitung einstweilen in erster Linie um die Erhaltung der alten Struktur des Heeres zu tun, um die Aufrechterhaltung der Kommandogewalt, um das Recht der Offiziere zum Tragen der Rangabzeichen, von Orden und Ehrenzeichen, deren Beseitigung der Konferenz als ungemein wichtiges Ziel erschien, das sie überaus zäh verfolgte. 21 Die militärische Kommandogewalt war allerdings weit mehr denn nur ein Symbol. Sie war der Wesenskern einer traditionsbewußten, jedoch verfassungsneutralen Armee. In dieser Phase bestand nur noch ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den Räten und den um die Bewahrung ihrer alten Stellung bemühten Offiziere, drohten sich die politischen Verhältnisse auf einen Klassenkampf der Offiziere um die Beibehaltung ihrer Rolle und gegen das Eindringen ziviler und undisziplinärer Elemente in die bereits in Auflösung befindliche Armee zuzuspitzen. Das entschlossene Auftreten Groeners und des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes vor den Volksbeauftragten und den Mitgliedern des Zentralrats führte dank der günstigen Taktik Eberts zu einem Kompromiß, der den Forderungen der Militärs weitgehend entgegenkam: Die Entschließung der Reichskonferenz wurde durch Beschluß der Volksbeauftragten für Feldheer und Marine ausdrücklich ausgenommen. 22 Die Vertreter der militärischen Macht erklärten sich außerstande, die Demobilmachung zu verantworten: Die militärischen Mitglieder der Waffenstillstandskommission müßten ihre Tätigkeit sofort einstellen, die Angehörigen des Feldeisenbahnwesens könnten den Betrieb nicht mehr aufrecht erhalten und die Offiziere des Kriegsministeriums ihre Geschäfte nicht fortführen, wenn die sieben Punkte der Konferenz durchgeführt würden. Und Groener malte in beredten Worten die Gefahren aus, die die Auflösung der letzten intakten Divisionen heraufbeschwören würde. 20
Die Wirren in der Reichshauptstadt, S. 30. D G R , S. 229 ff. 22 PrVB 20.12. 1918 nachm., BA, R 43 1/1325. Groener, Lebenserinnerungen, S. 475 ( „ . . . dank Eberts geschickter Unterstützung, der wie wenige die Kunst des Abbiegens verstand . . . " ) . 21
76
1- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
Das heimliche Bündnis Groeners mit Ebert mußte in diesem spannungsgeborenen Augenblick sichtbar werden, da es nur noch die Wahl zwischen dem Beschluß der Reichskonferenz und dem Verlangen der Obersten Heeresleitung gab. Die Unabhängigen Barth und Dittmann verharrten bei den Beschlüssen der Konferenz, fest davon überzeugt, daß Arbeiter- und Soldatenräte es sich „einfach nicht gefallen" ließen, „daß Regierung und Zentralrat den wichtigsten Beschluß des ganzen Kongresses für null und nichtig" erklärten und daß dann unweigerlich „die totale Anarchie im Lande" entstünde. Die Mitglieder des Zentralrats dagegen zeigten sich unentschlossen und kompromißbereit, so daß Ebert die Position der Offiziere erfolgreich unterstützen und schließlich gemeinsam mit Haase den Kompromiß formulieren konnte, der den Offizieren des Feldheeres und der Marine ihre Rechte beließ. Dies war eine der letzten Zerreißproben in einer Folge schwerer Belastungen, denen das Bündnis der beiden sozialistischen Parteien innerhalb des kleinen Gremiums der Volksbeauftragten in den wenigen Wochen seines Bestehens ausgesetzt war. Die Kompetenzen zwischen Räten und Behörden waren strittig, seitdem der sozialdemokratische Beigeordnete des Kriegsministeriums, Paul Göhre, die Reihe der Klagen über Schwierigkeiten eröffnet hatte, die durch Eingriffe von Räten und illegalen Delegierten entstanden.23 Hier schon hatten Landsberg und der Vollzugsratsvorsitzende Hermann Müller mit außenpolitischer Begründung eine beschleunigte Einberufung der Nationalversammlung durchzusetzen versucht, die klare Rechtsverhältnisse schaffen sollte.24 Dem Widerstand der USPD-Angehörigen unter den Volksbeauftragten war es indessen zuzuschreiben, daß lediglich ein gemischter Ausschuß der Reichsregierung und des Vollzugsrates entstand, dem die Zuständigkeitsabgrenzung aufgetragen wurde. Einstweilen blieb der Weg zum Rätesystem über die Station einer Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte abgesteckt. Es war vor allem Hugo Haase, der sich um eine Verzögerung der Wahlen zur Nationalversammlung bemühte und nicht einmal die Auffassung akzeptieren wollte, die Alliierten würden nur Friedensverhandlungen mit einer deutschen Regierung führen, die kein Gewaltregime sei. Derartige Nachrichten hielt er für Gerüchte, die deutsche Kreise lancierten; offenbar war er der Uberzeugung, daß die inneren Verhältnisse Deutschlands bei den Friedensverhandlungen 23 21
PrVB 18. 11. 1918 vorm., BA, R 43 1/1324. Ebda.
Das Zwischenspiel
der
77
Rätebewegung
keine Rolle spielten. Wenn auch Haases Ansicht berechtigt erscheinen mag, daß vor allgemeinen Wahlen erst einmal eine politische A u f klärung der Bevölkerung einsetzen müsse, so konnte ihr doch entgegengehalten werden, daß sich die Politik dieser Tage nicht mehr von dem Gesichtspunkt einer Aufklärung der Bevölkerung bestimmen ließ, wie wichtig man ihn sonst auch immer nehmen mag. Die U S P D
hatte
allerdings ein höchst verständliches Interesse an einer länger befristeten Periode des Werbens um Anhänger und Wähler. Es war ihr letztlich darum zu tun, einen möglichst großen Anhang in der Arbeiterschaft zu gewinnen, den sie jetzt noch entbehren mußte, was in erster Linie ihrer organisatorischen wie propagandistischen Schwäche zuzuschreiben war. N u r an wenigen Orten hatte die U S P D den Parteiapparat oder
—
wie etwa in Leipzig, in Halle, in Remscheid, in Solingen und Düsseldorf — die Presse der alten S P D übernehmen können; im allgemeinen blieb sie seit ihrer offiziellen Gründung auf eigene
Organisations-
bemühungen angewiesen, die außerhalb Berlins und von diesen Ausnahmen
abgesehen,
„Freiheit",
keineswegs
günstig
die unter dem früheren
verliefen.
Im
Beispiel
„Vorwärts"-Redakteur
der
Rudolf
Hilferding eine der meist gelesenen Zeitungen Berlins wurde, verlief der Versuch eines Neubeginnens erfolgreich; häufig glückte er jedoch nicht. Die Wahlen zur Nationalversammlung präsentierten daher in recht empfindlicher Weise für die Unabhängigen die Rechnung für die Tatsache, daß mit dem „ A p p a r a t " auch die Mehrheit der Anhängerschaft der alten S P D der Mehrheitssozialdemokratie verblieben war. In den späteren bürgerkriegsartigen K ä m p f e n versuchten Spartakisten wie Kommunisten, Verlagsgebäude und Druckereien in ihre H a n d zu bekommen und so auf gewaltsame Weise den seit Jahrzehnten gesicherten Masseneinfluß
der S P D zu beseitigen. Doch diesen Aktionen, die
unmittelbar dem T e r r o r zusteuerten, blieb zumindest seit dem Eingreifen militärischer Kräfte jeder Erfolg versagt. Geringere Schwierigkeiten zwischen den rivalisierenden
Arbeiter-
parteien tauchten beim Vorgehen der Reichsregierung gegen den Vollzugsrat auf. Wenn auch „alle exekutive, alle legislative, alle richterliche Gewalt bei den Arbeiter- und Soldatenräten" liegen sollte, so war doch der Vollzugsrat, der am 11. November von den Berliner Arbeiter- und Soldatenräten gewählt wurde, gar nicht imstande, diese Forderung zu erfüllen. Ihm kam für kurze Zeit allenfalls der Rang einer Nebenregierung zu, die sich neben dem R a t der Volksbeauftragten etablierte. Seine Anordnungen bezeugen, daß er eine Zeitlang den Anschein der beanspruchten Autorität zu wahren suchte; doch die
78
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
wirklichen Entscheidungen lagen bei den neuen Regierungsgewalten und den alten Verwaltungen, die ihre Tätigkeit stillschweigend fortsetzten und außerhalb der wenigen Zentren der revolutionären Ereignisse die alte Ordnung nahezu ungeschmälert aufrecht erhielten. Daß der Vollzugsrat allen preußischen Landratsämtern Beauftragte der Arbeiter- und Soldatenräte beiordnete,25 blieb ohne umstürzende Folgen, da sie einen länger und tiefer wirkenden Einfluß auf den Vollzug nicht erhielten, der im übrigen in seiner überkommenen Organisation akzeptiert wurde. Die Fiktion, die „politische Gewalt" liege „in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte" 26 , suchte der Vollzugsrat dadurch aufrecht zu erhalten, daß er in seinen Verordnungen und Kundgebungen die tatsächlichen Verhältnisse und seine eigene Bedeutungslosigkeit durch scheinbar autoritative Bestimmungen verschleierte. Schon am 11. November ordnete er kurz und bündig an: „Alle kommunalen, Landes- und Reichs- und Militärbehörden setzen ihre Tätigkeit fort. Alle Anordnungen dieser Behörden erfolgen im Auftrage des Vollzugsrates..."; gleichzeitig hob er jedoch „alle seit Beginn der Revolution im Bereich Groß-Berlins provisorisch gebildeten Körperschaften, auch solche, die den Namen Arbeiter- und Soldatenräte führen" mit sofortiger Wirkung auf.27 Die „zuständigen zivilen und militärischen Stellen" erhielten also ihre alten Befugnisse von der obersten Instanz der revolutionären Bewegung bestätigt. Die „Beauftragten", die ihnen beigeordnet wurden, besaßen zwar Kontrollrechte, mußten dafür aber innerhalb der Verwaltung „die Fernhaltung jeder Störung gewährleisten". Die ihnen offiziell zudiktierten Aufgaben ähnelten den Aufgaben der Soldatenräte nach dem Erlaß Eberts vom 11. November. Die Beschwerde des preußischen Kriegsministeriums und die Vermittlung durch den gemischten Ausschuß, den Volksbeauftragte und Vollzugsrat am 18. November eingesetzt hatten, führte dann zu einer förmlichen Kompetenzabgrenzung zwischen Arbeiter- und Soldaten25 Bekanntmachung des Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte Berlins vom 16. 11. 1918, abgedr. bei R. Müller, Kaiserreich II, S. 252. 2 " Bekanntmachung des Vollzugsrates vom 23. November 1918, R.Müller, a. a. O., S. 253, auch U F III, S. 20 ff., die vorausgegangene Vereinbarung zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und dem Vollzugsrat dorts., S. 19 f. Vgl. auch Oehme, Damals in der Reichskanzlei, S. 47f., 121 ff. 27 Aufruf des Vollzugsrates an die Einwohner und Soldaten Groß-Berlins vom 11. November 1918, R. Müller, a . a . O . , S. 235 f.; auch U F III, S. 12 (dort irrtümlich auf den 12. November datiert; die Veröffentlichung im Reichsanzeiger erfolgte am 12.11. 1918).
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
79
räten und Regierungsorganen. Die Richtlinien, die dank einmütiger Haltung der unabhängigen wie der mehrheitssozialdemokratischen Yolksbeauftragten zustande kamen, billigten dem Vollzugrat zwar bis zur Delegiertenkonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte des Reiches weiterhin die Rolle einer Vertretung sämtlicher Räte „der deutschen sozialistischen Republik" zu, bei denen weiterhin „die politische Gewalt" liegen sollte; in Wirklichkeit besagte dies jedoch nicht sehr viel. Die Exekutive — die von einer Legislative gar nicht abgegrenzt wurde — galt denselben Richtlinien zufolge bereits durch die Bestellung des „Kabinetts" diesem anvertraut. Dem Vollzugsrat blieb wie allen Arbeiter- und Soldatenräten jedes Eingreifen in die Exekutive untersagt. Aber was war in dieser Zeit nicht Exekutive? In Anbetracht der Unbestimmtheit, ja des Fehlens ausdrücklich festgelegter legislativer Zuständigkeiten war diese fiktive Gewaltenteilung in praxi nur eine Bestätigung der Macht des Kabinetts der Volksbeauftragten. Der Vollzugsrat besaß demgegenüber nur den Anschein einer Macht und im übrigen ein unbeschränktes Recht zu diskutieren, zu räsonieren und Beschlüsse zu fassen, die entweder erheblich hinter den Tatsachen nachhinkten oder — wenn sie ihnen einmal vorauszueilen suchten — keineswegs unmittelbar verwirklicht wurden. Seine öffentliche Erklärung vom 23. November stellte fest, daß er den „Volksbeauftragten des Reichs und P r e u ß e n s . . . die exekutive Regierungsgewalt übertragen" habe,28 die sie in Wirklichkeit schon längst ausübten. Unter dem Zwang der starken Fraktion der Mehrheitssozialdemokraten, die kühl und überlegen taktierten, wurde er schnell zu einem verschleiernden Bilde und keineswegs zum Initiator der politischen Entscheidungen der Volksbeauftragten. Mit der Mehrheitsentscheidung der Berliner Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16. Dezember 1918 zugunsten der Einberufung der Nationalversammlung setzte sie auch hier und damit endgültig den Plan der mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten durch.2" Der Fehlschlag des Vollzugsrates lag in der Grenzenlosigkeit seiner Ansprüche begründet, in seiner ebenso unsteten wie weit ausgreifenden, keines der andrängenden Probleme wirklich lösenden Tätigkeit. Er wollte kontrollieren, delegieren, revolutionieren, Gesetze schaffen und Beschlüsse fassen, ohne sich um ihre Ausführung zu kümmern. Er 2 8 R. Müller, a. a. O., S. 255. Zur Tätigkeit des Vollzugsrates die Beschreibung der Atmosphäre und der Ereignisse bei Oehme, a . a . O . , S. 22 ff., 51 ff., 125 ff.; Müller-Franken, November-Revolution, S. 130 ff. 2 9 R. Müller, a. a. O., S. 99 f.
80
I. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
wollte grundsätzlich sein und war zugleich kleinlich und verlor sich nur allzu häufig im Unwesentlichen, ohne auch nur bescheidene Erfolge zu ernten. Er wollte das Rätesystem durchsetzen; aber er wollte auch eine Neugliederung des Reichsgebiets vornehmen, ohne hierzu Zeit zu haben und geeignete Umstände vorzufinden.30 Er wollte nach innen wirken und zugleich nach außen; er wollte die Verwaltung reformieren, Frieden schließen und doch auch die Weltrevolution verkünden; er wurde ein „Mädchen für alles der Revolution" und kam selbst aus den alltäglichsten Schwierigkeiten seiner Geschäftsführung nicht heraus.31 Er absolvierte alle Kinderkrankheiten des Parlamentarismus in gedrängter Folge und ohne sie zu überwinden und wollte dennoch mehr und mächtiger sein, als je ein Parlament sein konnte. In seinen radikalen Entscheidungen lebte der stimulierende Einfluß der russischen Revolution, der er bis ins Groteske hinein nachzueifern sich bemühte. Eine Resolution wandte sich sogar unmittelbar an die siegreichen Völker Frankreichs, Italiens, Englands und Amerikas, um sie mit flammenden Worten aufzufordern, dem deutschen Beispiel zu folgen und ebenfalls Arbeiter- und Soldatenräte zu bilden.32 Die grenzenlose, ebenso hektische wie unkonzentrierte und orientierungslose, am Ende vollkommen ergebnislos bleibende Betriebsamkeit verband sich mit Ansprüchen, die keineswegs geringer oder realistischer waren als jene, die die Parteien eines Siegfriedens noch in der letzten Periode des Krieges erhoben. Der „Schrei nach Weltrevolution", das Bekenntnis zum „internationalen revolutionären Sozialismus", der revolutionäre und der universalistische Anspruch blieben ohne Ziel und ohne Grundlagen, unbelegt durch politische und ökonomische Vorstellungen, schlechthin ohne Räson.
Friedrich Ebert und der Primat der
Konsolidierung
Die unbestimmten Ziele der U S P D innerhalb der Rätebewegung rechtfertigen die Führer der Mehrheitssozialdemokratie in ihrem Entschluß, sich von den Unabhängigen zu lösen. Schritt für Schritt, mit einiger Vorsicht zunächst, doch seit Mitte Dezember 1918 rascher und entschlossener, entzogen sie den Unabhängigen ihre Unterstützung, um auch nach außen hin bei bürgerlichen Kräften Anlehnung zu suchen und 30
Müller-Franken, November-Revolution, S. 102 ff.
31
a . a . O . , S. 110 ff.
32
Abgedr. bei R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik II, S. 236 f.
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
81
zuletzt schließlich sogar militärische Kräfte gegen ihre Widersacher einzusetzen. Auch in München, wo die Leitung der Regierung in den Händen des Unabhängigen Kurt Eisner lag, trat die Veränderung ein. Bereits in den ersten Dezembertagen befaßte sich die Diskussion der Parteimänner mit den Wahlen zur Nationalversammlung. Deutlicher und entschiedener, als es in Berlin geschah, versuchte Eisner, die U S P D auf eine vermittelnde Linie festzulegen, indem er die Ansicht vertrat, daß man „nicht zum alten Parlamentarismus zurückkehren" dürfe, sondern neben der künftigen Nationalversammlung ein „beratendes Nebenparlament der Räte" schaffen müsse33. Eisner hielt bis zu seinem Ende das Rätesystem „immer f ü r den Kern der Revolution" 34 . Ganz anders als die Berliner Parteiführer der Unabhängigen bemühte sich Eisner, im Prinzipiellen an seinem Ziel festhaltend, „den Aufbau des Staates unmittelbar aus dem Ganzen des revolutionären Volkes zu versuchen" 35 , um einen ausgleichenden Kompromiß. Ersuchte, „ausdem Kontrast der Räte und des Parlamentarismus d e n . . . Ausweg zu finden", war aber doch — wie ein glaubwürdiger Zeitgenosse bezeugt — bis zuletzt entschlossen, „die Fehde gegen das parlamentarische System . . . aufzunehmen" 3 ". Für ihn standen jedenfalls nicht die Fragen zur Erörterung, die in dem großen Schnittpunkt der Entscheidungslinien künftiger Reichspolitik für Friedrich Ebert und seine Parteigänger maßgeblich geworden waren: wie die Macht zu konsolidieren sei, wie die Störung des bürokratischen Verwaltungsablaufs verhindert und wie der Machtfaktor — das hieß die Struktur des Heeres — erhalten werden könne. 33
F. Schade, Kurt Eisner, S. 74.
34
Wilhelm Hausenstein, Erinnerung an Eisner: Der Neue Merkur, 3. Jg./1919 bis 20, S. 66. Vgl. auch H. Neubauer, München und Moskau, S. 19, 22, widerspruchsvoll an anderen Stellen (S. 25 f., 28 f., 33 f.), was sich aus der schwankenden Haltung Eisners unter taktischen Rücksichten erklären läßt. 35 Hausenstein, ebda.; vgl. auch Schade, Kurt Eisner, S. 74; vorher schon Josef Hofmiller, Revolutionstagebuch 1918/19. Aus den Tagen der Münchener Revolution, Leipzig o. J., S. 101. 3 ' Hausenstein, a. a. O., S. 67. Etwas abgewandelt im Programm der Regierung des Volksstaates Bayern vom 15. November 1918: „Wir wollen die bisherigen Organisationen parlamentarisieren. Neben den beratenden Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten, die die Richtung des neuen Staates sowohl im Volk wie im Parlament wie in der Regierung anzeigen müssen, wollen wir der Gesamtheit der Bevölkerung die Möglichkeit und die Gewähr geben, ihre Interessen, soweit sie nicht dem Nutzen der Gesamtheit entgegen sind, durchzusetzen." UF III, S. 109.
6
Schulz I
82
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reicbsverfassung
von
Weimar
Doch auch Eisner drang nicht durch. Die mehrheitssozialdemokratischen Minister seiner Regierung standen seinem Gedanken, die Wähler über die R ä t e „auf das Parlament drücken" zu lassen, wenn es „mit der allgemeinen Stimmung nicht" im Einklang sei, innerlich völlig fremd und verständnislos gegenüber. 37 Allerdings bot diese Erklärung leicht sichtbare Angriffsflächen, die nur ein so wenig systematischer und stets auf Improvisation bedachter phantasievoller Kopf wie Eisner aus den Augen verlieren konnte. Es ließ sich eben auch Wohlwollenden nicht plausibel machen, wie ein funktionsfähiges
parlamentarisches
System mit einer beratenden und zugleich kontrollierenden und bevormundenden Tätigkeit der Räte zu vereinbaren wäre. Eine Einhelligkeit der Auffassungen darin, ob die R ä t e als dauernde überparlamentarische Einrichtung oder als ein Provisorium zu betrachten seien, das mit dem Zusammentritt
einer Nationalversammlung
verschwinden
würde, konnte in diesem Stadium der Erörterungen jedenfalls nicht erreicht werden. An einen reinen Rätestaat dachte indessen selbst Eisner nicht mehr. Als bayerischer Ministerpräsident lenkte er seine Regierung auf eine Linie, die nach und nach zur bestimmenden Linie der U S P D in der Rätefrage wurde und dies bis zu den Anfängen der Nationalversammlung blieb. Die Beschränkung, aber auch den Anspruch der Räte auf eine allgemeine Kontrollzuständigkeit gegenüber der gesamten Staats- und Selbstverwaltung 38 durchzusetzen und die Aufsicht des Zentralrates, der an die Stelle des Vollzugsrates trat, über die Gesetzgebung der Nationalversammlung zu verfechten, 38 blieb allerdings ein ganz und gar aussichtsloses Programm, für das die U S P D auf längst verlorenem Boden kämpfte, ehe auch sie es gänzlich fallen ließ und die Forderungen nach Sozialisierung und nach Schaffung wirtschaftlicher Selbstbestimmungsinstitutionen an seine Stelle setzte. Erst die radikale, teilweise selbst den Einfluß der U S P D hinwegreißende Strömung in den Räten der industriellen Ballungsräume des Ruhrbezirks, Mitteldeutschlands und Oberschlesiens zwang auch die Unabhängige Partei auf einen entschlossenen Kurs der Beschränkung, der sich vorübergehend schon zu Beginn der Phase abzuzeichnen schien, in der sich die U S P D mit den Mehrheitssozialdemokraten in die Reichsregierung teilte. Das sozialpolitische Gesetzgebungswerk ihrer gemeinsamen Regie37
Schade, Kurt Eisner, S. 75.
38
Henke am 4. 3 . 1919, VNV StenBer Bd. 326, S. 490.
39
Oskar Cohn am 10. 2. 1919, V N V StenBer Bd. 326, S. 25.
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
83
rung im Rat der Volksbeauftragten ist recht günstig beurteilt worden. 40 In der Tat fällt ein guter Teil des sozialpolitischen Fortschritts der gesamten Weimarer Ära in die beiden letzten Monate des Kriegsjahres 1918. Man darf aber nicht übersehen, daß das Demobilmachungsprogramm einige recht günstige Voraussetzungen für die Novemberund Dezemberverordnungen schufen. Das Demobilmachungsamt trug hieran einen ebensolchen Anteil wie das kurz zuvor geschaffene Reichsarbeitsamt"; und die Fürsorge f ü r die erwerbslosen Demobilisierten wäre ohne leistungsfähige Kommunalverwaltungen nicht denkbar gewesen. Sieht man von der Aufhebung der Gesindezwangsordnung gerade in der Landwirtschaft ab, die die Landarbeiterfrage in ein neues Stadium brachte und neuen Problemen aussetzte, so lag doch das Schwergewicht aller Sozialpolitik der Reichsregierung in diesen Wochen — Einführung des Achtstundentages, allgemeine Arbeitszeitregelung, Einrichtung der Erwerbslosenfürsorge, Neuregelungen der gesetzlichen Krankenversicherung, Unterbringung demobilisierter Soldaten an ihren alten Arbeitsstätten, die Einführung des korporativen Tarifvertragswesens — im Verwaltungsorganisatorischen und im Verwaltungstechnischen. Das Bündnis mit der Bürokratie hat, wie sich hier zeigt, durchaus fortschrittfördernde Seiten gehabt und zur Besserung der sozialen Verhältnisse beigetragen. Die Organisation war eben intakt und disponibel. Die Räte hatten hieran einen allenfalls indirekten Anteil. Die Entscheidungen fielen an zentraler Stelle, setzten allerdings die Einmütigkeit von Unabhängigen und Mehrheitssozialdemokraten voraus. Im Rat der Volksbeauftragten stimmten Ebert und Haase mit dem Staatssekretär des Demobilmachungsamtes, Oberst Koeth, überein, daß eine „Sozialisierung" nur für „reife" Betriebe in Betracht zu ziehen sei, die Erledigung der gesamten Frage jedoch hinter die Probleme der Umstellung der Industrie auf die Friedenswirtschaft zurücktreten müsse; denn von den Erörterungen von Verstaatlichungsmaßnahmen erwartete man nachhaltige depressive Wirkungen, die die Inganghaltung der Wirtschaft wie die Unterbringung von Arbeitskräften in dieser kritischen Periode gefährdeten. 42 Nichtgelingen oder Gelingen der wirtschaftlichen Demobilmachung entschied ohne jeden Zweifel über eine alsbaldige Rückkehr zur normalen Friedenswirtschaft. Die 40
A. Rosenberg, Entstehung und Geschichte, S. 297 f. Friedrich Syrup, Hundert Jahre staatliche Sozialpolitik 1839—1939, hrsg. von Julius Scheuble, bearb. von Otto Neuloh, Stuttgart 1957, S. 234 ff. 41
42
6»
PrVB 21.11.1918, BA, R 43 1/1324.
84
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reicksverfassung
von
Weimar
Entscheidung in dieser Frage sorgte aber auch für die Bewahrung des wirtschaftlichen Systems. Organisatorisch war der reibungslose Ubergang von Seiten der beteiligten Interessenten in sicherer Voraussicht kommender Probleme bereits mit quasimilitärischer Präzision vorbereitet worden. Den doppelten Plan der schrittweisen Entlassung „zuverlässiger" Arbeitskräfte aus dem Heer „nach sorgsamer Auswahl", ihre Zuteilung an Fabriken zugleich mit Rohstoffen und die Fernhaltung der zunächst verbleibenden Truppen von der Heimat bzw. ihre Umbildung zu Verbänden, die im Inneren „gegen bolschewistische Massen" einsatzfähig seien, hatte Walter Rathenau schon am 15. Oktober dem preußischen Kriegsminister Scheuch vorgeschlagen; 43 kurz danach brachte er ihn auch bei den Gewerkschaftsführern durch. Rathenaus überlegenes, menschlich wie sachlich gewinnendes und Vertrauen verbreitendes Verhandlungsgeschick wußte sie auch f ü r den Gedanken einzunehmen, Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Löhne künftig zwischen IndustriellenVerbänden und Gewerkschaften in zentraler Instanz zu vereinbaren 44 . Mit der Klassenkampfideologie ließen sich solche Pläne gewiß nicht vereinbaren; aber sie brachten zunächst erhebliche sozialpolitische Vorteile und wurden infolgedessen nicht nur von mehrheitssozialdemokratischen Gewerkschaftsführern, sondern auch von Unabhängigen gutgeheißen. Sie schützten einstweilen aber auch die existierenden Unternehmensformen der Industrie vor schwereren Erschütterungen und reduzierten die notwendig werdenden Veränderungen auf das geringste denkbare Maß. Auch hier wird die Kompromißstruktur der neuen, infolge der politischen Umwälzung erreichten Verhältnisse sichtbar. Sogar ein Bündnis zwischen Reichsregierung und Militärs zur Niederhaltung innerer Unruhen faßte Rathenau bereits ins Auge. Am 26. Oktober leitete er an Erzberger, den einflußreichen Zentrumspolitiker und Leiter der Zentrale f ü r Heimatdienst, die Empfehlung, „daß einzelne Truppenkörper immun gehalten werden, um bei der äußersten Gefahr der Entstehung von aufrührerischen Sowjet-Behörden eingreifen zu können". 45 Am 5. November begannen die Verhandlungen zwischen der Reichsregierung, der Generalkommission der Gewerkschaften und den Vertretern der Wirtschaft, die zur Schaffung des Reichsamtes für die wirt43
Walther Rathenau, Politische Briefe, Dresden 1929, S. 196 ff.
44
Rathenau, a. a. O., S. 209.
45
a . a . O . , S. 212.
Das Zwischenspiel der
Rätebewegung
85
schaftliche Demobilmachung unter Staatssekretär Koeth führten. 4 6 Fast unberührt von den Ereignissen des 9. N o v e m b e r wurden diese Verhandlungen zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern
fortgeführt
bis zum grundsätzlichen Abkommen über die Regelung der Arbeitsverhältnisse in Verbindung mit der Demobilmachung und zur Schaffung der später so genannten „Zentralarbeitsgemeinschaft" der großen U n t e r nehmerverbände und der Gewerkschaften vom 15. N o v e m b e r 1918 4 7 , das noch a m gleichen Tage von den Volksbeauftragten einmütig anerkannt wurde 4 8 und nun als Ausgangspunkt und Grundlage der sozialpolitischen Maßnahmen der Reichsregierung diente. Die Initiative ging weder von dem Kreis der Volksbeauftragten noch von den sozialistischen Parteien aus. Sie konnte sich jedoch auf die sozialdemokratischen Führer stützen und stieß auf keinen in irgend einer F o r m wirksamen Widerstand der Unabhängigen. Zu schärferen Auseinandersetzungen unter den
Volksbeauftragten
kam es erst gegen Ende N o v e m b e r , als H a a s e mit plötzlicher Entschiedenheit für Verhandlungen mit der polnischen Bevölkerung der O s t p r o vinzen eintrat und hierbei mit Ebert zusammenstieß, der sich für militärische Maßnahmen einsetzte und dieReaktivierung eines Heimatschutzes in Angriff nahm, 4 9 dem die Unabhängigen noch wenige Tage zuvor zugestimmt hatten 5 0 . Die wirkliche Lage in den östlichen Gebieten w a r 41
Vgl. die materialreiche, wenn auch einseitig räsonnierende, durch einen Partei-
jargon
belastete
und
in
ihrem
Wert
verminderte
Arbeit
von
Werner
Richter,
Gewerkschaften, Monopolkapital und Staat im ersten Weltkrieg und in der N o v e m berrevolution ( 1 9 1 4 — 1 9 1 9 ) , (Beiträge zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 1), Berlin (Ost) 1959, S. 2 3 2 ff.; und die Dissertation von
Elben,
Die Kontinuität in der deutschen Revolution. Uber Albert K o e t h , den Leiter der Kriegsrohstoffabteilung
des Kriegsamtes beim Kriegsministerium: Friedrich
Wirtschaft
Die
und Staat.
Deutschland
Entwicklung
vom 17. Jahrhundert
bis
der 1945
staatlichen (Schriften
Facius,
Wirtschaftsverwaltung des Bundesarchivs
—
in 6),
Boppard a. R h . 1959, S. 224 f. 47
Abgedr. U F I I I , S. 14 (f.
48
P r V B 15. 11. 1918 nachm., B A , R 43 1/1324.
49
P r V B 21. 11. 1918, B A , R 43 1/1324.
50
P r V B 19. 11. abds., B A , R 43 1/1324. Die Organisation „Heimatschutz O s t -
wurde in der Kabinettssitzung am 19. November noch nicht mit notwendigen „Grenzschutz-" und „Volksschutzmaßnahmen" begründet, sondern einzig mit der Sicherung der „Lebensmittelvorräte"
—
offenbar vor Plünderungen.
("Erzberger und K a p p
geben alle Garantie, daß hier keine Konterrevolution organisiert wird.") Doch diese Kautelen waren offenbar nur als Konzession an die unabhängigen Volksbeauftragten gedacht. Unerwähnt
blieb
in dieser
Sitzung, daß
der preußisdie
Kriegsminister
gemeinsam mit Göhre bereits durch E r l a ß vom 15. N o v e m b e r ein A O K
„Heimat-
86
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
allerdings wenig übersichtlich — nicht zuletzt infolge unterschiedlicher und wechselnder Entwicklungen innerhalb der Arbeiter- und Soldatenräte, die in der Provinz Posen an vielen Orten die Funktionen der kommunalen Beschlußkörperschaften übernommen hatten und die im posenschen wie im schlesischen Gebiet nun nach Nationalitäten bezirksund provinzweise übergeordnete Instanzen bildeten. Diese „Volksräte" übten als Repräsentationskörper der Volksgruppen in diesen Gebieten ein zunehmend spürbar werdendes Regiment aus. Während sich in Posen nur noch der weichende deutsche Teil der Bevölkerung an die herkömmliche Verwaltungsstruktur anlehnte, wandelten sich die polnischen „Volksräte" zum revolutionären Instrument einer nationalen Selbstbefreiung, die im Laufe des Dezember, vollends nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen dem selbständigen, diktatorisch regierten Kongreßpolen und Deutschland zur nationalen Erhebung wurde. In dem Stadium aber, den die Entwicklung am 21. November erreicht hatte, lagen den Volksbeauftragten nur spärliche, keineswegs ausreichende Nachrichten über Verhältnisse und Entwicklung im Osten vor. Ihr Interesse galt in erster Linie Oberschlesien mit seinem Industrie- und Bergbaugebiet, das in der Kohlenversorgung des östlichen und mittleren Deutschlands eine wichtige Rolle spielte. Diese wurde durch Bergarbeiterstreiks keineswegs weniger bedroht als durch nationale Spannungen oder durch Autonomiebestrebungen, die ähnlich wie im Rheinland auch in Oberschlesien von katholisch-politischer Seite, namentlich vom Zentrum verfolgt wurden, das gleichzeitig Schutz vor polnischer Einflußnahme und vor einer ungewissen Kultur- und Schulpolitik der sozialistischen preußischen Regierung suchte. Die Erörterungen der Volksbeauftragten liefen zunächst nur in theoretisierender Manier ab, führten jedoch zu grundsätzlichen Einwendungen Haases und Barths gegen militärische Aktionen. Diese Seite fürchtete nichts so sehr wie das Odium der Gegenrevolution, die „Redensart von der Gegenrevolution", wie Ebert wegwerfend bemerkte, der schließlich seinen Entschluß durchzusetzen wußte, Truppen in die östlichen Gebiete zu schicken, „um die Volkswirtschaft zu sichern, damit wir in Berlin leben können" 5 1 . Schritt für Schritt tastete sich Ebert weiter vor. Wie kein Zweiter unter den Volksbeauftragten suchte er der Gefahr eines Auseinanderschutz-Ost" zum „Schutz der östlichen Provinzen gegen die aus den Gebieten östlich der Reichsgrenze drohenden Gefahren" gebildet hatte. (Deutscher 16. 11. 1918; U F III, S. 315). 51
PrVB 2 1 . 1 1 . 1 9 1 8 , BA, R 43 1/1324.
Reidisanzeiger,
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
87
fallens des Reiches und den Ablösungsbestrebungen in Bayern wie in Oberschlesien52 entgegenzuwirken. Er stimmte gewiß ohne Einschränkung mit Groener überein, daß die Erhaltung der Einheit des Reiches das nächste und wichtigste Ziel sei53. Das Odium des alten Heeres verbot allerdings noch ein offenes Eingeständnis des Bündnisses, das beide miteinander verband. Zunächst schloß sich auch Ebert dem Willen der Volksbeauftragten an, die Oberste Heeresleitung nicht nach Berlin zu lassen, so daß sie ihr Quartier in Wilhelmshöhe beibehalten mußte 54 . Gleichzeitig griff er aber den Plan auf, eine militärische Organisation in Gestalt einer „Volkswehr zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung" zu schaffen, die der Regierung und den Räten zur Durchführung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehen, die zum Schutze der Lebensmittelversorgung und der Lagerbestände, die jedoch auch als Sicherheitswache gegen jede „Konterrevolution" dienen sollte. Um ein demokratisches und sogar halbwegs ziviles Ansehen dieser — wie es vorgesehen war — in Armeekorpsbezirke gegliederten Volkswehr zu sichern, das sich mit dem alten Milizideal der Sozialdemokratie in Einklang bringen ließ, sprach sich Ebert für ungewöhnliche Einrichtungen aus, die jedoch im Augenblick einer voranschreitenden militärischen Auflösung einige Anziehungkraft besaßen: so f ü r die Selbstverpflegung der verheirateten Volkswehrangehörigen gegen Entschädigung, für ihre Versicherung gegen Dienstschäden und Todesfall, vor allem f ü r Wahl und Absetzung der Truppenführer durch die Mannschaften und für ihre Verpflichtung auf die Republik. Man wird bei diesem Plan an die „Rote Miliz" erinnert, die es in Rußland gab und die, soweit sie nicht als Vorbild diente, doch Anregungen vermittelte und von einer kleinen revolutionären Minderheit bereits von Anbeginn der Staatsumwälzung, allerdings vergeblich, angestrebt wurde 55 . 5
- PrVB 23. 11. vorm., BA, R 43 1/1324. Gordon A. Craig, Reichswehr and National Socialism. The Policy of Wilhelm Groener, 1928—1932: Political Science Quarterly, vol. LXIII/1948, S. 196; vgl. H e r m a n n Müller-Franken, November-Revolution, S. 18. 54 PrVB 3. 12. vorm., BA, R 43 1/1324. 55 Däumig, einer der Führer der „Revolutionären Obleute", war schon am 12. November im Vollzugsrat für die Schaffung einer „Roten Garde" eingetreten. (Vgl. Müller-Franken, November-Revolution, S. 118 f.; R. Müller, Vom Kaiserreich zur Republik II, S. 137 f.) Dem hatten sich aber gerade die sozialdemokratischen Soldatenräte im Vollzugsrat widersetzt. Vgl. die von Müller-Franken wiedergegebene Resolution: „Die durdi ihre Soldatenräte vertretene Garnison von Groß-Berlin muß die Bewaffnung der Arbeiter solange mit Mißtrauen betrachten, als die Regierung, zu deren Schutz sie dienen soll, sich nicht ausdrücklich zu der Nationalversammlung 53
88
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverjassung
von
Weimar
Die unabhängigen Volksbeauftragten zeigten sich von den Gedanken Eberts beeindruckt, die Haase mit der Überzeugung unterstützte, daß „eine organisierte Schutztruppe" dringend vonnöten sei; „sonst können wir Böses erleben". Die organisatorische Initiative des preußischen Kriegsministeriums empfand er allerdings als störende Beigabe, da er seinem derzeitigen Personal und dem in ihm herrschenden Geist das rechte Vertrauen nicht entgegenzubringen vermochte. Doch der wirkliche oder mögliche Einfluß des Kriegsministeriums stand im Augenblick gar nicht auf der Tagesordnung der Ereignisse. Drei Tage nach der Verabschiedung des Volks weh rgesetzes56 hatten sich die Volksbeauftragten mit der Regelung des Einmarsches der heimkehrenden Truppen in Berlin zu beschäftigen, die die Oberste Heeresleitung mittlerweile in einem breiten Ring um die Reichshauptstadt zusammengezogen hatte und die nach dem Vorschlag, den Ebert im Rat der Volksbeauftragten durchzusetzen wußte, binnen neun Tagen in einer Stärke von 35 000 Mann in die Berliner Kasernen einrücken sollten." Der beinahe festliche Empfang und die Vorbeimärsche, die ihnen zuteil wurden, waren wohl dazu angetan, den militärischen Glanz vergangener Tage in die Erinnerung zurückzurufen und den Berlinern wieder die Präsenz militärischer Macht vor Augen zu führen. Ebert hoffte, daß dies die Autorität der Reichsregierung stärken würde. Die politische Bedeutung ihrer vorbehaltlosen Anerkennung und Durchsetzung in der Reichshauptstadt stand in der Tat außer Frage: Die ohne eine Mitwirkung von Vertretern aus dem Reich gebildete Regierung der Volksbeauftragten besaß überhaupt nur dann eine Chance, sich im Reiche Geltung zu verschaffen, wenn sie sich zuvor in Berlin durchgesetzt hatte. Dies war plausibel, galt daher als unmittelbar anzustrebendes Ziel und dürfte Eberts Motive maßgeblich beeinflußt haben 58 . Der vorgesehene Einmarsch der Fronttruppen in die Reichshauptals der alleinigen G r u n d l a g e der Verfassung erklärt." Demgegenüber ist es zumindest mißverständlich, wenn Scheidemann — vom S t a n d p u n k t der Mehrheitssozialdemokraten aus — schreibt: „Alle Versuche, eine bewaffnete Macht zu schaffen, waren bisher fehlgegangen." Aber wohl t r e f f e n d : „Von Tag zu Tag rechneten sie d a r a u f , d a ß es gelingen werde, wenigstens einige Truppenteile zusammenzuhalten und dann zu verwenden im K a m p f e f ü r die demokratische Republik gegen den S o w j e t w a h n sinn." (Memoiren eines Sozialdemokraten II, S. 331 f.). 56
P r V B 6. 12., BA, R, 43 1/1324. Die Aufstellung der „Volkswehr" ging äußerst schleppend v o r sich und f ü h r t e noch mehrfach im R a t der Volksbeauftragten zu Auseinandersetzungen. Zu größerer Bedeutung ist sie nie gelangt. 57 58
P r V B 9 . 1 2 . , BA, R 43 1/1324. Müller-Franken, N o v e m b e r - R e v o l u t i o n , S. 81.
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
89
Stadt 50 begann am 10. und dauerte bis zum 22. Dezember. Am Tage vor Beginn des Einmarsches setzte Groener Ebert die Pistole auf die Brust, indem er in einer f ü r den Reichskanzler bestimmten Aufzeichnung die strikte Ablehnung der f ü r den Einmarsch gestellten Bedingungen des Vollzugsrats verlangte u n d Reichskanzler u n d Regierungsmitglieder aufforderte, „sich zu den T r u p p e n zu begeben zu gemeinsamem K a m p f " . Der kommandierende General der um Berlin versammelten T r u p p e n aber hatte den Befehl erhalten, nach einem vorher festgelegten Plan „selbständig zu handeln, nötigenfalls alle entgegenstehenden Anweisungen von Regierungsorganen oder militärischen Stellen, auch des Kriegsministers, abzulehnen". Es ist infolgedessen gar kein Zweifel möglich, d a ß die Oberste Heeresleitung entschlossen war, selbsttätig vorzugehen und notfalls sogar die vollziehende Gewalt zu übernehmen. 60 Diesem massiven Druck w a r Ebert zweifellos bei weitem nicht gewachsen. Er sah offenbar k a u m noch eine andere Wahl als die der hinhaltenden Vermittlung. Diese eingeengte Entscheidungsmöglichkeit erklärt auch seine Entschlüsse während der nächsten Wochen. Die Folgen der aus bedeutungslosen Anlässen entstandenen Konflikte der Volksbeauftragten mit der Volksmarinedivision und des d a r a u f h i n vom Generalkommando Lequis befohlenen erfolglosen, mit stärksten Auflösungserscheinungen in der eingesetzten T r u p p e endenden Angriffs auf Schloß und Marstall f ü h r t e n zum einstweiligen Zusammenbruch der militärischen Aktion, aber auch zur Schwächung Eberts, der sich um die Jahreswende jedes Machtmittels beraubt und einer ungewissen Entwicklung innerhalb der von T r u p p e n nun wieder fast vollständig entblößten Reichshauptstadt ausgeliefert sah". Die unabhängigen Volksbeauftragten erhielten überdies Kenntnis von dem Druck, den die Oberste Heeresleitung auf Ebert ausgeübt hatte; sie suchten erneut, jetzt mit H i l f e des Zentralrates, die sieben P u n k t e der Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte durchzusetzen," 2 und schieden, als dies erfolglos blieb, und nach langen Debatten über die Ursachen der vorweihnachtlichen Ereignisse aus dem R a t der Volksbeauftragten aus, 58
Die Wirren in der Reichshauptstadt, S. 30. a . a . O . , S. 31, 27 ff.; Volkmann, Revolution über Deutschland, S. 130, 133 ff. 61 Vgl. die deutliche Situationsschilderung von H . Rosenberg, Geschichte und Entstehung, S. 314 ff.; R . M ü l l e r , Vom Kaiserreich zur Republik II, S. 274 ff.; W. Oehme, Damals in der Reichskanzlei, S. 192 ff.; ferner die vom ostdeutschen „Verlag des Ministeriums für nationale Verteidigung" veröffentlichte tendenziöse, aber teilweise auf ungedruckten Ardiivalien beruhende Schrift von K u r t Wrobel, Die Volksmarinedivision, Berlin (Ost) 1957. ' 2 Sdiüddekopf, Heer und Republik, S. 30.
90
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
um offen und vorbehaltlos in das größer werdende Lager der Opposition innerhalb der sozialistischen Bewegung hinüberzuwechseln. Die äußerste Linke, der Spartakistenbund, war ihrem Einfluß jedoch bereits entglitten und stand nun im Begriff, unter dem Namen einer Kommunistischen Partei Deutschlands als neue Organisation die U S P D von links her zu bedrängen und die Fortsetzung und Ausbreitung der revolutionären Bewegung im Sinne des Klassenkampfes zur eigenen Sache zu machen. In dieser jetzt vollkommenen Notlage warfen sich die mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten erneut der Obersten Heeresleitung in die Arme, die sich von der Schlappe, die sie in der Befolgung ihrer Berliner Einmarschstrategie durch Lequis erlitten hatte, nun wieder zu erholen begann und ihre frühere Handlungsfreiheit zurückzugewinnen suchte. Das einzige Machtmittel freilich, über das sie noch gebot, stellten die aus den Resten des Feldheeres hervorgegangenen Freiwilligenverbände dar,63 die sie im Zustand der Unfertigkeit und der noch im Gange befindlichen Aufstellung der Berliner Regierung zur Verfügung stellte. Aus der Mitte des neukonstituierten, ausschließlich mehrheitssozialdemokratischen Rates der Volksbeauftragten nahm Gustav Noske mit der herkömmlichen Zuständigkeit eines „Oberbefehlshabers in den Marken" die militärischen Angelegenheiten mit undifferenzierter Entschlossenheit in die Hand, um sich neben dem am 3. Januar 1919 zum preußischen Kriegsminister ernannten Oberst Reinhardt als neue Kompetenz in Heeresfragen in die von Ebert und Groener begründeten Beziehungen zwischen militärischer und politischer Gewalt einzuschalten. Die militärische Entwicklung nach dem Konsolidierungskonzept der Volksbeauftragten verlief von nun an störungslos und im Ganzen überaus erfolgreich. Jetzt konnte auch im Zentral rat die Aufstellung eines Grenzschutzes im Osten durchgesetzt werden.61 Ohne Einwände von Seiten der Volksbeauftragten übernahm die Oberste Heeresleitung den Oberbefehl und verlegte sie am 12. Februar 1919 ihr Hauptquartier von Kassel nach Kolberg. Es begann die Periode einer begrenzten, die Traditionsbestände wahrenden Transformation der Reste des alten Heeres in eine neue, aus den Freikorps63
Die Wirren, S. 45 ff.
"4 P r V B
3.1.1919
nachm., BA,
R 43
1/1326. Dorts. Leinert: „Es muß
gesagt
werden: Die Armee soll das schützen, was in den Wilsonsdien Friedensbedingungen steht, nämlich die Selbstbestimmung des deutschen Volkes. Das klingt vielleicht alles etwas alldeutsch [ ! ] , es braucht ja aber nicht mit diesen Worten gesagt zu werden."
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
91
und Grenzschutzverbänden hervorgehende Armee, deren äußere, zahlenmäßige Beschränkung zum schwierigsten Problem wurde. In Noske erhielt die Reichsregierung ihren ersten Reichswehrminister, der bald die Zuständigkeiten der Kriegsminister der Länder übernahm; und ein Reichsgesetz vom 6. März 1919 ermächtigte den Reichspräsidenten, „das bestehende Heer aufzulösen und eine vorläufige Reichswehr zu bilden" 65 . Das Jahr 1919, in dem sich diese überwiegend organisatorische Umstellung vollzog, wurde ein blutiges Jahr. Die aufgestellten militärischen Verbände spielten im inneren Leben Deutschlands bei weitem keine geringere Rolle als die Nationalversammlung, die am 6. Februar im stillen und von den Bewegungen dieser Monate bis dahin wenig beunruhigten Weimar zusammentrat. Während der Wahl zur Nationalversammlung und während der ganzen Dauer der Verfassungsdiskussion fielen in anderen Teilen Deutschlands Schüsse und wurden verlustreiche K ä m p f e geführt. 66 Die Reichsregierung hatte erheblich an H a n d lungsfreiheit gewonnen; doch dies äußerte sich zunächst in der Entfaltung der neukonstituierten militärischen Gewalt. Ihr fielen die Räte unmittelbar oder auf mittelbare Weise zum Opfer. Die anhaltende Beunruhigung der Bevölkerung wirkte sich etwa seit den Berliner Januarunruhen 1919 zugunsten der allmählich fortschreitenden Auflösung und des Zerfalls der Räte aus. Sie trieb den Keil zwischen den beiden Tendenzen innerhalb des sozialistischen Lagers 65
R G B l 1919, S. 295. Über die Entstehung der obersten Kommandoorganisation der Reichswehr H a n s Meier-Welcker, Die Stellung der C h e f s der Heeresleitung in den A n f ä n g e n der R e p u b l i k : V j Z 4. Jg./1956, S. 145—160. 66 In Norddeutschland kam es zu einer Reihe längerer und schwerer militärischer Aktionen, im einzelnen: Bürgerkriegskämpfe in Berlin und erneuter Einmarsch militärischer Einheiten, diesmal des Generalkommandos Frh. v. L ü t t w i t z in Berlin am 15. J a n u a r 1919. Verhängung des Belagerungszustandes und schwere, verlustreiche K ä m p f e im Anschluß an den Generalstreik v o m 3. bis 7. M ä r z ; Unternehmen an der Nordseeküste gegen Bremen, Bremerhaven, C u x h a v e n und Emden, im besonderen K ä m p f e der Brigade v. Gerstenberg um Bremen A n f a n g Februar; erneuter Belagerungszustand in Berlin am 2. M a i ; Einmarsch in Stettin im Anschluß an eine größere Streikbewegung im gleichen M o n a t ; und Einmarsch Generai v. Lettow-Vorbecks in H a m b u r g nach voraufgegangenen K ä m p f e n mit der Sidicrheitswehr aus nichtigen Anlässen und gewaltsame Beseitigung der Räte am 1. Juli 1919. Die Wirren, S. 59 ff., 70 f., 79 ff., 107 ff., 123 ff., 127 ff. Einzelheiten über die Berliner K ä m p f e neuerdings bei K a r l - H e i n z Luther, Die nachrevolutionären Machtk ä m p f e in Berlin, N o v e m b e r 1918 bis M ä r z 1919: J b . f. d. Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. V I I I / 1 9 5 9 , S. 187—221.
92
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
immer tiefer, untergrub den ohnehin lockeren Zusammenhalt der Unabhängigen und trieb sie bis dicht an den R a n d des Zerfalls, der sich schon lange vor der endgültigen Auflösung dieser Partei abzuzeichnen begann. Schließlich verschaffte sie der Sozialdemokratie auch in den Augen eines großen Teils der Arbeiterschaft eine Rechtfertigung ihrer Anlehnung an bürgerliche Gruppen und an die großen Mächte der Konsolidierung wie der Tradition. D a s aus der älteren Geschichte der Sozialdemokratie verständliche Fehlen einer für die Mehrheit verbindlichen und praktikablen Theorie machte Arbeiter- und Soldatenräte für eine systematische Tätigkeit und zur systematischen Ausbildung vollkommen ungeeignet. Im Gefolge der endgültigen Wiederherstellung der militärischen Macht unter dem Oberkommando Noskes verloren die Räte auch in der Truppe zusehends ihren Einfluß, ohne nachhaltige Wirkungen auf Struktur und Einrichtungen der Heeresorganisation zu hinterlassen." In der weiteren Folge verfielen auch die Arbeiterräte dem Prozeß eines unaufhaltsamen Zerfalls. Bereits die Frage der Deckung ihrer Kosten verursachte Debatten und blieb am Ende ungelöst. Sobald diese Bewegung mit festen Strukturen alter Ordnung in Berührung kam, geriet sie in Schwierigkeiten und zeigte sie sich unterlegen. 68 " Wie ein Nachruf klingen die Worte Groeners und Landsbergs in einer Reichskabinettssitzung im Januar 1919 (PrVB 21.1.1919 vorm., BA, R 43 1/1326). Groener empfahl bei der Einsetzung von Truppenführern nicht den Offiziersrang, sondern allein die Tüchtigkeit zu berücksichtigen. „Die Sammlung von Truppen ist heute nur möglich durch persönlichen Einfluß der Offiziere." Landsberg: „Die Soldatenräte haben doch auch viel genützt; zwar hat die politische Revolution eine große Menge von Narren auf die Arena gebracht, aber die Vorurteile über die Arbeiter- und Soldatenräte im allgemeinen sind nicht gültig. Ohne ihre Autorität hätten wir das Staatsschiff nicht retten können." Der preußische Kriegsminister Reinhardt vertrat im Februar 1919 zunächst noch ein behutsames Vorgehen, das dieser Stimmung Rechnung trug, „die richtige Mittellinie für die Bedürfnisse des Augenblicks": „Die Soldatenräte und die Vertrauensleute werden bei der Verwaltung der Truppe in ihrem ganzen inneren Leben ebenso ehrlich und nützlich mitwirken können, wie sie die Führung und Verwendung der Truppen den Kommandanten überlassen müssen, die fest auch die Republik zu verpflichten sind." (VNV StenBer Bd. 326, S. 177.) • 8 Nach Verordnung der Reichsregierung vom 13. Januar 1919 (RGBl 1919, S. 37) hatten die Arbeiter- und Soldatenräte bis zum Monatsende über sämtliche Einnahmen und Ausgaben Rechnung zu legen und wurde die Finanzierung der kommunalen Arbeiterräte zur Sache der Landesgesetzgebung erklärt; eine allgemeine Kostendeckungspflicht der Gemeinden, die teilweise behauptet wurde und zu Auseinandersetzungen geführt hatte, galt jedoch als unbegründet. Nach dem Zusammentreten der Nationalversammlung wurde vor allem von Seiten der Deutsch-
Das Zwischenspiel der
Rätebewegung
93
Die nächste Phase in der Entwicklung der Rätebewegung wird dadurch charakterisiert, daß sie sich selbst in den großen Unruheherden im Ruhrgebiet** und in Mitteldeutschland' 0 nun, da die Würfel zugunnationalen
die Finanzierungsfrage
in den Vordergrund
geschoben, um auf
diese
Weise zu einem „objektiven" Bewertungsmaßstab zu gelangen. Hiergegen erklärte nachdrücklich
der
demokratische
(ehemals
nationalliberale)
Reichsfinanzminister
Schiffer am 15. Februar 1919, „daß es durchaus verfehlt wäre, auch vom
finanziellen
Standpunkt aus die Arbeiter- und Soldatenräte in Bausch und Bogen zu verdammen. Das wäre ungerecht und unwahr." Wenn es auch in vielen Fällen
Mißwirtschaft
gegeben habe, so könne doch nicht nachträglich noch Klarheit der Finanzgebarung verlangt werden, „weil die Revolution meist nicht mit Kalkulatoren
zu arbeiten
pflegt und damit gewisse Unterlagen
Zusammen-
für die spätere kalkulatorische
stellung nicht beschafft." ( V N V StenBer Bd. 326, S. 94.) In der Frage der Haftung für die Schäden, die durch Soldatenräte entstanden waren, setzte sich später mit einer Entscheidung
des
Reichsgerichts
in
Zivilsachen
die
Auffassung
durch,
daß
das
Gesetz über die Haftung des Reiches für seine Beamten auch auf Soldatenräte angewendet werden
müsse, da sie O r g a n e der Reichsregierung
gewesen seien.
Das
Prinzip „alle Behörden üben ihre Tätigkeit nur als Organe der jeweils herrschenden Staatsgewalt" drang also nachträglich in juristischen Überlegungen durch, obgleich es kaum der Wirklichkeit von 1918/19 entsprach, in der die politische Konkurrenz und R i v a l i t ä t zwischen R ä t e n und Staatsgewalt, sofern man darunter die anerkannte, sich durchsetzende Zentralgewalt versteht, bei weitem überwog. Vgl. H . H e r r f a h r d t , Revolution und Rechtswissenschaft, S. 66 ff. 6S
Hierzu neuerdings die auf die Ereignisse im rheinisch-westfälischen
Industrie-
gebiet beschränkte Darstellung von Peter v. Oertzen, V j Z 6. J g . / 1 9 5 8 , S. 2 3 1 — 2 6 2 ; auch R . Müller, Bürgerkrieg, S. 127 ff. Die darin mitgeteilten Quellen lassen das Sozialisierungsziel
dieser Bewegung als die Enteignung der „großen Betriebe"
der ursprünglichen Absicht verstehen, die seit J a h r e n unverändert schweren schaftlichen Verhältnisse namentlich der Bergarbeiter zu bessern. Den
in
wirt-
Forderungen
nach Sozialisierung gingen andere nach Erhöhung des Schichtlohnes und nach Auszahlung einer Weihnachtsgratifikation voraus. Erst ihre summarische Ablehnung löste das
Sozialisierungsverlangen
der
Essener
Konferenz
sämtlicher
Arbeiter-
und
Soldatenräte des Ruhrbezirks aus. (R. Müler, a. a. O . , S. 129). Einer der führenden Männer der Sozialisierungsbewegung, der zum „Volkskommissar"
gewählte
Land-
richter Rüben, versuchte — mit vorübergehendem Erfolg — den sofort erkennbaren „anarchischen
Bestrebungen",
auszunutzen
suchten,
mit
die die Lage zum Sturz
dem
Verlangen
nach
der Berliner
einem
„sozialen
Regierungen
Ausgleich'
das
Wasser abzugraben und die Wahlen zur Nationalversammlung auch in diesem Gebiet sicherzustellen. (Auszug der
Essener
Bericht
des
aus dem schriftlichen Bericht Rubens über die Geschichte
Sozialisierungsbewegung
vom
27.
11.
1919
und
seine
Aussage
Untersuchungsausschusses
über
die
Ursachen
und
den
Verlauf
im der
Unruhen im Rheinland und Westfalen, V P L V D r S N r . 3 2 2 8 , Bd. 10, S. 5624 f.). Rüben handelte die Regelung aus, die die Reichsregierung dann durch ihre ordnung vom
18. J a n u a r
1919 verfügte, trat dann von seiner Tätigkeit
Ver-
zurüdt,
suchte jedoch in ständiger Verbindung mit den eingesetzten Reichskommissaren und den
radikalen
„Feinden
der
Ebert-Scheidemann-Regierung"
zu
vermitteln.
Auf
94
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
sten der Nationalversammlung gefallen waren, des unmittelbaren A n griffs auf Regierung und Verwaltung enthielt und ihre Programmtaktik auf eine großzügige, in groben Umrissen dargestellte Sozialisierung der Grundindustrien konzentrierte." Unter dem Eindruck der dieser Seite wurde die Forderung der Betriebsenteignungen zum Instrument des politischen Kampfes, der zwangsläufig zunehmende Unruhen im Gefolge hatte und durch eine militärische Strafexpedition im März 1919 auf drastisdie Weise beendet wurde. 70 Über die Unruhen im Zusammenhang mit dem Generalstreik und den Gegenaktionen, die sich seit dem 24. Februar in den industriellen Regierungsbezirken Merseburg und Erfurt sowie in Thüringen ausbreiteten, der Bericht des Untersuchungsausschusses über die Unruhen in Mitteldeutschland vom November 1918 bis zum 19. März 1919, VPLV DrS Nr. 3227, Bd. 10, S. 5574—84. Vgl. auch R. Müller, Bürgerkrieg, S. 142 f. 71 Das Essener Manifest vom 14. Januar erläuterte das Programm der „Sozialisierung des Kohlenbergbaus" in der Weise: „In diesen kurzen Worten liegt eine Tatsache von ungeheurer Bedeutung. Damit ist die Revolution von der politischen zur sozialen, zur wirtschaftlichen Revolution geworden. Sozialisierung, das ist ein Wort, unter dem sich nicht jeder etwas vorstellen kann. Es bedeutet, daß die Ausbeutung des Arbeiters durch den Unternehmer ein Ende haben soll, daß die großen Betriebe den Kapitalisten genommen und Eigentum des Volkes werden sollen. Niemand soll sich mehr mühelos an der Arbeit anderer bereichern können, allen Arbeitenden sollen die Früchte ihrer Arbeit selbst zugute kommen. Der Anfang soll gemacht werden bei den Bergwerken, bei den Bodenschätzen, die noch mehr als alles andere von Rechts wegen dem ganzen Volke und nicht einzelnen Bevorzugten gehören" (R. Müller, Bürgerkrieg, S. 129). Über seine Vorgeschichte berichtete einer der Angehörigen des in Essen eingesetzten „Neunerrates", der sozialdemokratische Abgeordnete der preußischen Landesversammlung Limbertz. (Protokoll seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuß: VPLV DrS Nr. 3228, Bd. 10, S. 5622). Den Ausgangspunkt bildete die objektive Notlage der Untertagearbeiter, die sich trotz der Revolution bei der fortschreitenden Teuerung verschlechterte und nidit verbesserte. Da sidi nur einzelne Zechen Zugeständnisse abverlangen ließen, viele Zechendirektoren hingegen angesichts der unübersichtlichen Lage und unter Berufung auf die noch ungeklärte Politik der Konzerne die erforderlichen Lohnerhöhungen versagten, begannen die Arbeiter zur Selbsthilfe zu schreiten. Die ersten Essener Konferenzen versuchten diese Bewegung unter dem Schlagwort „Sozialisierung" in den Gleichtakt allgemeiner Bestrebungen einzuordnen; verbindliche Theorien über die Sozialisierung waren jedoch allgemein nicht bekannt. „Es folgte dann [nach den Maßnahmen der Volksbeauftragten] eine Sozialisierungskonferenz nach der anderen, und es trat das Bestreben immer mehr zutage, diese Konferenzen zu benutzen, um zum Generalstreik der Bergleute zu kommen.. Limbertz bezeugte: „Auf der ersten Konferenz hatte ich manche Bedenken geltend gemacht, auf der zweiten noch mehr, so daß ich mich ziemlich verhaßt machte, insbesondere bei den Radikalen. Ich sagte: die Gewerkschaften müssen an dieser ganzen Arbeit beteiligt werden; wir lassen die Gewerkschaften nicht ausschalten... Ich . . . sagte: streikt, soviel ihr wollt, aber nur wenn die Belegschaft es beschließt,
Das Zwischenspiel
der
Rätebewegung
95
Streiks in diesen Gebieten größter industrieller Ballungen verabschiedete die Reichsregierung zwei Verordnungen vom 18. Januar bzw. 8. Februar 1919, durch die sie für die einzelnen Bergbaugebiete Reichsbevollmächtigte einsetzte und von Arbeitnehmern und Unternehmern paritätisch besetzte Arbeitskammern bildete, denen die ständige Beobachtung wirtschaftlicher Vorgänge in den Bergrevieren und die Begutachtung von Sozialisierunganträgen als Aufgabe zugewiesen wurde. Sie beantwortete den regionalen Aufstand mit der Schaffung neuer, regional zuständiger, jedoch von der Reichszentrale abhängiger Instanzen, die eine büromäßige Erledigung anstehender Entscheidungen bei einem Minimum unmittelbar politischer Belastungen der Zentralbehörden, jedoch unter Heranziehung der beteiligten Interessenten gewährleisteten. Aber auch andernorts gewann der Gedanke einer Institutionalisierung der Räte durch eine Reform des wirtschaftlichen Kammerwesens Anhänger.' 2 Das allgemeine Abflauen auch der durch die Idee der Sozialisierung belebten Bewegung läßt sich schließlich daran erkennen, daß sie sich nunmehr der Überführung des Rätegedankens in die Institution der Betriebsräte und bezirklichen Arbeiterräte zuwandte," die die Reichsaber nicht, w e n n 6 Bewaffnete am Tor stehen." (ebda.) Die Radikalisierung schritt vor allem unter der Initiative kommunistischer Emissäre aus Berlin v o r a n , zu denen Karski-Marchlewski und andere Russen bzw. Polen zählten (a. a. O., S. 5622, 5609, 5625 u. 5635 f.). An mehreren O r t e n k a m e n Streiks n u r durch Z w a n g u n d W a f f e n gewalt zustande, so in Mühlheim, Düsseldorf, H a m b o r n u n d Barmen (a. a. O., S. 5622, 5626, 5628 u. 5649). In Mitteldeutschland ging der Generalstreik von dem Verlangen nach „Demokratisierung aller Betriebe als V o r s t u f e f ü r die Sozialisierung" aus. (R. Müller, Bürgerkrieg, S. 142.) Die Idee der Sozialisierung nach den Zeugnissen einzelner politischer u n d theoretisch-ökonomischer Schriftsteller (vgl. die Literaturhinweise bei O e r t z e n , a. a. O., S. 234, Anm. 12) gibt nur in äußerst engen Grenzen Aufschluß über den historischen Rang, die politische Bedeutung u n d den Verlauf der hier interessierenden Ereignisse. Ü b e r die bei bescheidenen A n f ä n g e n verbliebene Tätigkeit der bayerischen Sozialisierungskommission, die E n d e J a n u a r 1919 unter dem Vorsitz O t t o N e u r a t h s zusamentrat, H . N e u b a u e r , München und Moskau, S. 33 f.; vgl. auch O t t o N e u r a t h , Bayerische Sozialisierungserfahrungen, Wien 1920. :2
So der „Wirtschaftsrat H a m b u r g " in einer Eingabe an die Reichsregierung vom 31. 3. 1919, BA, R 43 1/1943. 73 Heinrich Schäfer, D e r A u f b a u der R ä t e v e r f a s s u n g : D e r Z e n t r a l r a t . Mitteilungsblatt des Zentralrates der deutschen sozialistischen Republik, 1. J g . / N r . 6 vom 1 5 . 9 . 1 9 1 9 , S. 3 f. Vgl. Oertzen, V j Z , 6. Jg./1958, S. 248. Es ist allerdings nicht zu verkennen, d a ß auch die Betriebsräte teilweise als „ G a r a n t e n f ü r die Fortdauer der Verwirklichung des Sozialismus" und als besserer Ersatz f ü r die Gewerkschaften angesehen w u r d e n . Vgl. auch Tormin, Zwischen R ä t e d i k t a t u r und sozialer Demokratie, S. 104 ff.
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von
Weimar
regierung nach dem mitteldeutschen Generalstreik als K o m p r o m i ß bereithielt 74 . Das waren und blieben technische Arbeitnehmervertretungen, die die innerbetriebliche O r d n u n g im Ergebnis unberührt ließen u n d die keine Konkurrenten der Organisationsstränge der öffentlichen Verwaltung, aber auch nicht der parlamentarischen Institutionen sein k o n n t e n . " U n d es bezeugte das nahende Ende des gesamten Zwischenspiels der Räte in Deutschland, d a ß der im März 1919 in Berlin ausgebrochene Generalstreik, den die politische u n d die proletarische Solidarität mit den Streikenden in Mitteldeutschland zuwege gebracht hatte, durch die Erörterung der Frage, ob eine Aktion gegen die Reichsregierung bezweckt werden solle oder nicht, in Schwierigkeiten kam und dann im offenen Zwiespalt zwischen Sozialdemokraten und K o m munisten, die sich beide von der Streikleitung fernhielten, endete. Er wurde schließlich von den Unabhängigen sang- und klanglos eingestellt, nachdem die Reichsregierung die letzten, aufs äußerste reduzierten Forderungen nicht einmal beantwortet hatte 7 ". Das Ende der
Rätebewegung
Der „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik" f ü h r t e seit dem Zusammentreten der verfassunggebenden Nationalversammlung nur noch eine Scheinexistenz; er vermochte sich nicht einmal in den Verhandlungen über die Betriebsrätefrage ein ständiges Mitspracherecht zu sichern. Im Mai 1919 erhob er noch einmal seine Stimme, um der Republik einen Katalog von Forderungen zu präsentieren und um eine Änderung der Friedensbedingungen zu verlangen. 77 A n die in 74
Niederschrift über die Verhandlungen über die Beilegung des mitteldeutschen Generalstreiks am 5. M ä r z 1919 in Weimar, BA, R 43 1/1943. 75 Bei den Akten der ehemaligen Reichskanzlei befinden sich zwei vorläufige R e f e r e n t e n e n t w ü r f e des Reichsarbeitsministeriums f ü r ein „Gesetz über die Bezirksarbeiterräte und den Reichsarbeitsrat" vom Dezember 1919 b z w . April 1920, die der N a t i o n a l v e r s a m m l u n g jedoch nicht vorgelegt w u r d e n (BA, R 43 1/1943). Aus einer Referentenaufzeichnung über das Ergebnis der am 19. April 1920 im Reichsarbeitsministerium abgehaltenen Vorbesprechung geht hervor, d a ß keine Einigung erzielt werden konnte (BA, ebda.). Bemerkenswert ist ein Satz aus der Begründung im Schreiben des sozialdemokratischen Reichsarbeitsministers Schlicke zu dem ersten der beiden E n t w ü r f e : „Insbesondere scheint mir die baldige Ablösung der bestehenden, auf keiner gesetzlichen G r u n d l a g e beruhenden Arbeiterräte durch gesetzmäßige Arbeiterräte dringend erwünscht." 76
R. Müller, Bürgerkrieg, S. 161. Resolution des Zentralrates in seiner Gesamtsitzung vom 26. bis 28. 5. 1919, BA, R 43 1/1940. 77
Das Zwischenspiel der Versailles
weilende
Delegation
richtete
97
Rätebewegung er
die E m p f e h l u n g ,
durch
„sachliche Darlegungen . . . die E n t e n t e m ä c h t e d a v o n [ z u ] überzeugen . . . d a ß im Interesse ihrer eigenen Ansprüche weitgehende Änderungen der einzelnen Bestimmungen getroffen werden müssen".
Gleichzeitig
aber appellierte der Z e n t r a l r a t an die Arbeiterschaft der E n t e n t e l ä n d e r , „im Interesse eines dauernden Friedens ihre S t i m m e zu erheben gegen diesen V e r t r a g der Vergewaltigung eines V o l k e s " . D i e F r a g e
dürfe
aber „nicht a u f die F o r m e l annehmen oder a b l e h n e n " gebracht w e r d e n ; man müsse „durch positive politische A r b e i t d a f ü r . . . sorgen, d a ß der Geist, der j e t z t aus den Friedensbedingungen spricht, durch den Geist der Versöhnung und Verständigung ersetzt w i r d " . Aus solchen ungereimten Willenskundgebungen ließ sich gewiß kein politischer E r t r a g gewinnen; n i e m a n d kann sie anders denn als S y m ptome eines Geistes der lange unterdrückten E m p ö r u n g bewerten, der jedoch, plötzlich einem stärkeren politischen Z u g w i n d ausgesetzt, die K r a f t einbüßt und das Ziel verliert, dem er zustrebte. W a s nun noch blieb, w a r gewiß recht dürftig und lohnte kaum die E r w ä h n u n g , wenn nicht die Zuspitzung a u f einen wesentlichen G e d a n k e n auffiele, der die K a p i t u l a t i o n dieser höchsten I n s t a n z , die sich die R ä t e geschaffen h a t ten, v o r den stärkeren Mächten und ihrem Bündnis mit B e a m t e n t u m und V e r w a l t u n g recht deutlich macht. V o n den Arbeiterräten sprang die Resolution des Zentralrates a u f die Forderung nach einer keineswegs näher bezeichneten V e r w a l t u n g s r e f o r m über. O h n e sich um die Verhältnisse in anderen deutschen S t a a t e n zu bekümmern, richtete er sie ausschließlich und u n m i t t e l b a r an die preußische Regierung. D i e V e r w a l t u n g s r e f o r m sollte unverzüglich in Preußen geplant, vorbereitet und durchgeführt w e r d e n ; die preußische Regierung sollte
„die
übrigen deutschen Freistaaten . . . ersuchen", sich mit ihr „wegen A n wendung möglichst einheitlicher Grundsätze bei der R e f o r m der eigenen V e r w a l t u n g ins Einvernehmen . . . [ z u ] setzen". D i e V e r w a l t u n g s reform durfte also nach den Vorstellungen, die im Z e n t r a l r a t herrschten, nicht a u f Preußen beschränkt bleiben. Sie sollte sich
vielmehr
gleichmäßig und nach gleichartigen Prinzipien a u f alle S t a a t e n erstrekken; am E n d e hätte t r o t z vieler Regierungen ein einheitlicher G e s a m t staat stehen müssen. Auch in der R ä t e b e w e g u n g w a r der T r u m p f entdeckt worden, den das Ubergewicht und die V o r m a c h t Preußens in Deutschland bot. U n d um die preußische Regierung zu baldigen E n t schlüssen zu nötigen, sollte „bis zur Durchführung der Verwaltungsreform . . . das System der politischen A r b e i t e r r ä t e zur Sicherung der revolutionären Errungenschaften in W i r k s a m k e i t " bleiben. Schon am 7 Sdiulz I
98
1- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
12. März 1919 hatte der Zentralrat seine ohnehin fragwürdigen materiellen Aufgaben abgetreten, um fortan nur noch „als oberste Instanz der bestehenden Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte", offenbar also als höchster ideeller Repräsentant der im Rückzug befindlichen Rätebewegung, zu bestehen. Doch es verdient der Umstand Beachtung, daß der „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik" seine „ihm übertragene Gewalt" in die Hände der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung legte.78 Sein einheitsstaatliches Vermächtnis schien ihm hier besser aufgehoben als in der von föderalistischen Kräften durchsetzten Nationalversammlung. Das Bild vom Aufkommen und vom Ende der Rätebewegung und von den Konsolidierungsbündnissen der parlamentarischen Kräfte wäre jedoch unvollkommen, wollte man nicht die deutlich erkennbaren Vorboten des späteren Aufstiegs der konservativen, nationalistischen und rechtsradikalen Gruppen berücksichtigen, die an einer im Laufe der Jahre stärker und bedrohlicher werdenden politischen Entwicklung Anteil hatten. Den Kräften mit den Zügen der Gegenrevolution lieh Ebert zum ersten Male dadurch Unterstützung, daß er seinem Bündnis mit der Obersten Heeresleitung schon in den weitreichenden Ermächtigungen des Volksbeauftragten Noske eine dauernde extrakonstitutionelle Verankerung gab, die zumindest zeitweilig in die Nähe einer Militärdiktatur geriet. Man mag das sogenannte Bündnis Ebert—Groener als einen großzügigen, auf den Zeitplan der werdenden Republik, auf das Erfordernis der innerpolitischen Beruhigung wie auf das Wiedergewinnen außenpolitischer Handlungsfreiheit abgestimmten Versuch zur Liquidierung anarchisch wirkender Illusionen rechtfertigen. Die Gesamtheit der militärischen Aktionen läßt sich indessen aus dem umschriebenen Konsolidierungsversuch heraus nicht allein erklären. Sie macht den Haß, mit dem sie die unter den kommunistischen Parolen sich sammelnde politisch erfolglose äußerste Linke die Sozialdemokratie bekämpfte und der sich später als dauernde Belastung der Verfassungskoalition herausstellte, in seinem Keim psychologisch verständlich. Die stark emotional handelnde, von tiefen politischen Enttäuschungen heimgesuchte und von militärischer Gewalt bedrängte Unterklasse der Arbeiterbevölkerung bot sich in den aufeinanderfolgenden wirtschaftlichen Notzeiten als hoffnungslos ausgeliefertes Objekt der radikalen Agitation dar. Das unter solchen Anzeichen verhältnismäßig rasch hereinbrechende, jedoch in jeder Hin78
Schreiben des Zentralrates vom 12. 3. 1919, V P L V D r S 1919 N r . 38.
Das Zwischenspiel der
Rätebewegung
99
sieht unvermeidliche Ende der Räte-Bewegung in Deutschland erhält vor diesem Hintergrund den Anschein historischer Tragik, der den Erfolg der Verfassungsbewegung erheblich beeinträchtigt. Sie wurde gewaltsam niedergeschlagen und war doch bereits ihrer eigenen inhärenten Destruktion zum Opfer gefallen. Der Zerfall der Räte läßt sich an dem Kampf der Parteien in ihnen und schließlich an den Demonstrationen und Aufständen radikaler Gruppen gegen einzelne Arbeiter- und Soldatenräte ablesen.79 Die Re,19 Als Beispiele mögen hier einige Ereignisse im Ruhrgebiet aufgeführt werden. Bottrop wurde M i t t e Februar in einer Aktion, die sich gegen den dortigen Arbeiterund
Soldatenrat
richtete,
der
aus
9
Mehrheitssozialisten,
einem
Unabhängigen,
3 Christlichen Gewerkschaftlern und 2 Polen bestand, von einem stärkeren Verband bewaffneter Spartakisten, die sogar Artillerie zur Beschießung des Amtshauses einsetzten, in einem regelrechten Eroberungsfeldzug genommen. Bei diesen Kämpfen kamen ein Mitglied und mehrere Angestellte des Arbeiterrates ums Leben. In O b e r hausen wurde der Arbeiter- und Soldatenrat, in dem die Mehrheitssozialdemokraten den Ausschlag gaben, am 3. J a n u a r gewaltsam abgesetzt und durch einen Arbeiterund Soldatenrat, der aus Angehörigen des Spartakus-Bundes bestand, ersetzt.
In
Dorsten mußte der örtliche Arbeiterrat, der sich sogar aus einer kommunistischen Mehrheit
und
einer
Minderheit
von
Sozialdemokraten
und
Unabhängigen
zu-
sammensetzte, unter dem Druck Bewaffneter und angesichts entsicherter
Gewehre
zur Abstimmung schreiten. Auch die Essener K o n f e r e n z der vereinigten
Arbeiter-
und Soldatenräte am 11. Februar 1919 stand unter dem Druck eines spartakistischen Aufgebots, das durch Drohung mit Waffengewalt eine Beschlußfassung verhinderte, die sich gegen eine Sonderkonferenz der Spartakisten in Mühlheim gerichtet hätte. Ähnliches ereignete sich in Buer schon im J a n u a r ; in Gladbeck kam es bereits am 17. Dezember 1918 und wiederholt im J a n u a r 1919 zu spartakistischen Demonstrationen gegen den Soldatenrat, die in Schießereien übergingen. D a s Zentrum
der
radikalen Bewegung befand sich in Mühlheim. Sie ging vom dortigen Soldatenrat aus, der sich von Anfang an ausschließlich aus Angehörigen der U S P D Spartakus-Bundes Anordnungen
aus
zusammensetzte Berlin
und der schon gegen E n d e
rebellierte.
Eine
kritische
Phase
1918
erreichten
Vorgänge in Düsseldorf, w o das gespannte Verhältnis zwischen
und des
offen
gegen
auch
die
Mehrheitssozial-
demokraten und Unabhängigen während der Kriegszeit durch lokale Konflikte verschärft worden war. I m Verlauf des Umsturzes gewannen die hier überaus gemäßigten Unabhängigen die Oberhand, die dann sehr schnell von extremen Linksgruppen
spartakistischer,
kommunistischer
und
bolschewistischer
Färbung
an
die
W a n d gedrückt wurden. D a ß die Spitzen der Verwaltung versagten, der Regierungspräsident und der Oberbürgermeister mit anderen Beamten im kritischen Augenblick die Stadt verließen und die städtische Versorgung
in Schwierigkeiten
geriet, er-
mutigte diese Gruppen. Sie brachten es zustande, daß Anfang J a n u a r die öffentliche Gewalt vom Arbeiterrat auf einen von Spartakisten beherrschten Vollzugsrat überging, der die angesetzte Kommunalwahl
störte, Wahlurnen
mit Inhalt ver-
nichtete, prominente Persönlichkeiten der S t a d t als Geiseln festsetzte und schließlich, nachdem er einem von der Demokratischen Partei gemeinsam mit der S P D
7»
ver-
100
/. Die Demokratie
der Kompromisse und die Reichsverfassung
von
Weimar
gierung und die mit dem Bürgertum auf der Grundlage ihres demokratisch-konstitutionellen Programms verbündete Sozialdemokratie benutzten die Ordnungsmächte des alten Staates, Verwaltung und Militär, zur Konsolidierung des neuen Staatssystems. Sie benutzten das Strafrecht zur Abstrafung derer, die im Glauben an einen das Recht zwingenden revolutionären Ausnahmezustand gehandelt hatten;80 sie verhängten Belagerungszustand und Standrecht, um mit den durchschlagenden Mitteln der militärischen Macht den antirevolutionären Gegenstoß nach den weiten Möglichkeiten des Ausnahmerechts zu führen.
anstalteten Demonstrationszug ohne vorherige Warnung durdi einen Feuerüberfall ein gewaltsames und sehr blutiges Ende bereitet hatte, am 11. Januar den Belagerungszustand erklärte und das Standrecht verhängte. (Im einzelnen hierzu der Bericht des Untersuchungsausschusses über die Ursachen und den Verlauf der Unruhen im Rheinland und Westfalen in der Zeit vom 1. Januar bis 19. März 1919, VPLV DrS N r . 3228, Bd. 10, S. 5585—5660.) 80 Von den f ü r das Hauptunruhegebiet des Ruhrkohlenbezirks zuständigen Strafkammern des Landgerichts Duisburg wurden bis zum August 1920 im Zusammenhang mit den Unruhen während der ersten Monate 1919 insgesamt 153 Personen rechtskräftig verurteilt, jedoch in den meisten Fällen die strafgesetzlichen Möglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft, verhältnismäßig niedrige Strafen, Gefängnisund Geldstrafen verhängt, oder Verweise erteilt; 3 Personen erhielten Zuchthausstrafen von mittlerer Dauer. (Anhang zum Bericht des Untersuchungsausschusses, VPLV DrS Nr. 3228, S. 5661—71: Zusammenstellung der Ergebnisse der Strafverhandlungen vor dem Landgericht Duisburg über Straftaten während der Unruhen in der Zeit vom 1. Januar bis 19. März 1919).
DRITTES
KAPITEL
Die Länder und die Reichsverfassung Verfassungspolitische
Anfänge
in den
Koalitionsparteien
War für die Sozialdemokratie, soweit sie in Berlin zu Worte kam, der Einheitsstaat ein unverrückbares näheres oder ferneres Ziel, das indessen auch auf dem Wege über partikuläre Machtpositionen angestrebt werden konnte, eine Art Glaubenssatz, der ohne Rücksicht auf die mannigfachen Formen der jeweiligen politischen Wirklichkeit galt und je nach den Gegebenheiten schwächer oder stärker hervorgehoben wurde, so brachten auch die liberalen Opponenten des wilhelminischen Reiches, soweit sie in der revolutionären Umwälzung von 1918 einen demiurgischen politischen Akt erkannten, aus dem ein neues Staatswesen hervorging, nur geringen Sinn für länderstaatliche Kontinuitäten auf. Die demokratische Uberzeugung, die an dem Grundsatz der Souveränität der aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden verfassunggebenden Nationalversammlung festhielt, konnte sich von Anfang an nicht damit abfinden, daß in den Landesstaaten und im Reich gleiche Entwicklungen nebeneinander herliefen und zu gleichen Ergebnissen führten. Erich Koch-Weser, der spätere Führer der Demokraten, kurz zuvor noch nationalliberales Mitglied des Preußischen Herrenhauses, der als Oberbürgermeister von Kassel im Verein mit dem Vorsitzenden des dortigen Arbeiterrates, dem sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Grzesinski, das alte Regiment fast lautlos in ein neues überführt hatte, vertraute seinem Tagebuch schon frühzeitig den Ärger über die Ungewißheit an, „wie sich die Stellung der Bundesstaaten zum Reich entwickelt". In diesem Punkt schien ihm der Sinn der noch im Gange befindlichen Umwälzung doch recht fragwürdig: „DieRevolutionäre werden konservativ, wenn sie an die praktische Arbeit gehen . . . die Leute machen erst Revolution und haben dann nicht die Festigkeit, sie durchzudenken oder den Mut, sie durchzuführen." 1 Wie fast zur gleichen Zeit Hugo Preuß in seinen ersten Plänen zu einer neuen Reichsverfassung galt es Koch-Weser als selbstverständlichste Sache der Welt, daß 1
BA, Nachlaß Koch-Weser, Nr. 15, pag. 139 f. (Aufzeichnung vom 17. 11. 1918).
102
I. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
kein bundesmäßig organisiertes Deutschland und in ihm kein unversehrter, fortan parlamentarisch regierter preußischer Einheitsstaat erstehen dürfe, daß aus der Revolution nur ein einziger souveräner Körper hervorgehen müsse, der künftig in der Reichshauptstadt Berlin über Schicksal und Gestalt des gesamten Reiches zu befinden habe. „War es schon bedenklich, daß die süddeutschen Staaten alle zu besonderen Nationalversammlungen schreiten, so schlägt es dem Faß den Boden aus, daß . . . die Reichsregierung mit der preußischen Regierung abgemacht hat, daß gleichzeitig mit der deutschen auch eine preußische Nationalversammlung gewählt werden solle. Das wird ja Stückwerk", urteilte Koch schon am 17. November 1918. „Welche von den beiden Versammlungen ist dann souverän? Und was geschieht, wenn z. B. die bayerische Nationalversammlung sich gegen eine erweiterte Reichseinheit sträubt?" Das waren besorgte Fragen, die jemand stellte, für den feststand, daß das Gesetz der Entscheidung von vornherein allein bei der künftigen verfassunggebenden Nationalversammlung liegen werde und daß "tatsächlich doch nur die deutsche Nationalversammlung entscheiden" dürfe, „ob und in welchen Zuständigkeiten in den einzelnen Ländern Landtage gewählt werden sollen. Sie hat auch die Abgrenzungen vorzunehmen, bei denen Preußen in mehrere Länder zu zerlegen und kleine Bundesstaaten zu vereinen sind". 2 Die anfänglichen Differenzen in den Auffassungen ihrer repräsentativsten Männer kennzeichnet freilich die Heterogenität der Demokratischen Partei bereits zur Zeit ihrer Entstehung. Im Gegensatz zu Koch-Weser war Max Weber, der sich nur zögernd für die Republik gewinnen ließ, mit überaus subtilen Begründungen schon während des Krieges dafür eingetreten, den Einfluß der Länder im Bundesstaat zu stärken und den Bundesrat zu „parlamentarisieren". 3 Daß der anfangs stärker im Vordergrund stehende Friedrich Naumann zu dieser Zeit ebenfalls noch anders dachte und erhebliche Bedenken gegen eine parlamentarische Zentralisation hegte, bezeugt eine Notiz vom 4. Dezember 1918, die Theodor Heuß zitiert: Persönlich hege er „die Meinung, daß das amerikanische Vorbild bei unseren Verhältnissen leichter durchzuführen ist als das englische, weil wir auch in Zukunft ein Bundesstaat 2
Nachl. Koch-Weser, Nr. 15, pag. 140.
3
Hierzu Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 bis
1920, Tübingen 1959, S. 329 f. Dieser Gedanke findet sidi vor allem in Webers politischer Publizistik gegen Ende des Krieges, am deutlichsten in dem
Aufsatz
„Die nächste innerpolitische Aufgabe" vom Oktober 1918: M.Weber, Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 337—39.
Die Länder
und die
Reichsverfassung
103
bleiben werden und darum einer gewissen einheitlichen Spitze bedürfen, deren demokratischer Charakter durch Volkswahl gesichert ist. Zu einem rein parlamentarischen Regiment fehlt uns die notwendige Zentralisation der Staatsmaschine und das ebenso dazu notwendige und schwer zu beschaffende Zweiparteiensystem". Die spätere Entwicklung bestätigte in mancher Hinsicht die hier angedeuteten Ansichten. 4 Rückblickende Betrachtungen Naumanns bezeugen indessen, daß er sich bald dem Standpunkt annäherte, den vor ihm schon Koch-Weser eingenommen hatte und auch Hugo Preuß, von dem noch zu sprechen sein wird. Die Vorstellung, daß sich das deutsche Volk erst im Einheitsstaat eine demokratische Verfassung zu geben vermöge, erscheint in merkwürdig spiegelbildlichem Verhältnis zu der Behauptung Bismarcks, es „wäre nicht wahrscheinlich, daß das deutsche Nationalgefühl alle Deutschen in den Frictionen europäischer Politik völkerrechtlich zusammenhalten würde . . . wenn man den Zustand fingirte, daß sämtliche deutsche Dynastien plötzlich beseitigt wären . . . Die Deutschen würden fester geschmiedeten Nationen zur Beute fallen, wenn ihnen das Bindemittel verloren ginge, welches in dem gemeinsamen Standesgefühl der Fürsten liegt" 5 . Koch-Weser machte sich nun, da dieser Zustand eingetreten war, die Überzeugung von der drohenden Gefahr zu eigen,' um Zeit seiner politischen Tätigkeit die Widerlegung dieser Behauptung als die Bewährungsprobe der Demokratie in Deutschland zu betrachten. In seiner Sicht stand die Frage so, wie wohl dem Umstand und den Folgen zu begegnen sei, daß die Umwälzung, der Bundesstruktur des Bismarckschen Reiches entsprechend, in zwei parallelen Vorgängen verlief, die einerseits den Wechsel in der Regierung und Verfassung des Reiches und die Beseitigung der monarchischen Regierungen der Bundesstaaten herbeiführten, anderseits aber auch die alten Formen der historischen Staatlichkeit mit den Mitteln des demokratischen Parlamentarismus zu neuem Leben erweckten. 7 4 Theodor Heuß, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 2. Aufl. Stuttgart u. Tübingen 1949, S. 464. 5 Erinnerung und Gedanke. Kritische Neuausgabe auf Grund des gesamten schriftlichen Nachlasses, hrsg. v. Gerhard Ritter u. Rudolf Stadelmann: Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 15, Berlin 1932, S. 199 f. 6 Ausführliche Betrachtung zu diesem Bismarck-Wort enthält ein Artikel „Verfassung", den Koch-Weser für das Demokratische Handbuch von 1919 schrieb. (Manuskript im Nachl. Koch-Weser, Nr. 54). 7 Zur Darstellung der Vorgänge in den einzelnen Ländern: D G R S. 65 ff.; sowie die Abhandlungen im JböR Bd. IX, 1920, S. 129—290.
104
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
In den meisten Ländern war die Revolution im letzten doch nur Übernahme der Verfügungsgewalt über die Verwaltung, was Friedrich Meinecke, besonders auf Bayern unter Eisner gemünzt, ironisch als ein Hineinkriechen „in das gerade leerstehende Gehäuse" der Staatsidee bezeichnet hat 8 . Die Beseitigung des alten Regiments vollzog sich in vielen Ländern beinahe reibungslos durch Thronverzicht der bisherigen Herrscher, dem die Bildung „revolutionärer" Regierungen unmittelbar nachfolgte. 9 Doch das erwachte Selbstbewußtsein der siegreichen Kräfte machte es den Berliner Zentralbehörden schwer, Weisungen und Anordnungen außerhalb Preußens durchzusetzen, obgleich die Verwaltungen der Länder überall weiter arbeiteten, vielerorts sogar so, als sei gar nichts geschehen. Die Autorität des Berliner Rates der Volksbeauftragten, unter dessen Oberleitung die Reichsämter fortbestanden, mußte sich gleichzeitig nach zwei Richtungen ausweisen und behaupten: nicht nur gegenüber der Konkurrenz der Rätebewegung, sondern ebenso gegen den zentrifugalen Partikularismus in den Ländern. Wenn er dennoch von Anfang an erhebliche Erfolgschancen besaß, so deshalb, weil Ebert in treffender Einschätzung der Lage an allen überkommenen Verbindungen zu den Ländern festhielt und auch den Bundesrat seine Tätigkeit fortsetzen ließ. Wichtig war auch, daß am gleichen Tage, an dem sich der Rat der Volksbeauftragten konstituierte, der Vollzugsrat des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates, der sich als vorläufige Repräsentation der revolutionären Kräfte Deutschlands betrachtete, ein preußisches „Volkskabinett" einsetzte, in dem ebenso wie im R a t der Volksbeauftragten prominente Vertreter der SPD und der U S P D die Ressorts unter sich aufteilten. Auf diese Weise entstanden scheinbar gleichartige politische Verhältnisse zwischen der Spitze des Reiches und der neuen Volksregierung in Preußen, 10 die es erlaubten, die alte, immer als notwendig erkannte Zusammenarbeit zwischen Reichsbehörden und preußischen Behörden" unter den neuen U m ständen fortzuführen. Der Erfolg konnte aber erst dann als völlig gesichert gelten, als sich die Mehrzahl der im Spiel befindlichen politi8
Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. I, München 1957, S. 506. 9 Otto Koellreutter, D i e neuen Landesverfassungen: H B D S t R I, S. 139. 10 D G R , S. 49 f.; Richard Müller, Vom Kaiserreich zur Republik II, S. 54; vgl. auch Rosenberg, Entstehung und Geschichte, S. 246; über die Konkurrenz zwischen Vollzugsrat und Rat der Volksbeauftragten Walter Jellinek, Revolution und Reichsverfassung: JböR Bd. IX/1920, S. 20 ff. " Vgl. Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung, Berlin 1931.
Die Länder und die
Reichsverfassung
105
sehen Interessen f ü r die von den mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten angestrebte Verfassunggebende Nationalversammlung gewinnen ließ. Die Bereitschaft der Demokraten und auch des Zentrums stand nie in Frage. Die Einberufung einer Nationalversammlung entsprach der Hoffnung der demokratisch-parlamentarischen Parteien, dem republikanischen Deutschland einen dauerhaften verfassungsrechtlichen Zustand geben zu können. Sie war aber auch die einzige sichtbare große Chance der konservativen Kreise, aus der unmittelbaren Bedrohung durch die Kräfte, die sich auf der äußersten Linken entwickelt hatten, herauszukommen. Der weitere Gang der Dinge, den zuletzt das Ausscheiden der Unabhängigen Sozialdemokraten aus dem Rat der Volksbeauftragten begleitete, wäre nicht denkbar gewesen ohne die rasche Integration sowohl der bürgerlich-parlamentarischen Kräfte wie der v/esentlichen Bestandteile des alten Beamtentums. Unter der Ägide der beiden Berliner Regierungen blieben die weitaus größten Teile der alten Verwaltungen bis in ihre höchsten Spitzen erhalten. Die Volksbeauftragten nahmen eine Aufteilung politischer Zuständigkeiten unter sich vor, ohne den Aufbau der alten Exekutive anzutasten. Die alten Reichsämter erhielten anfänglich Unterstaatssekretäre und Beigeordnete aus den beiden sozialistischen Parteien, aber auch aus dem Zentrum und der Demokratischen Partei. Das Auswärtige Amt, das preußische Kriegsministerium, Reichsmarineamt, Reichsjustizamt und Reichspostamt behielten jedoch die kaiserlichen Staatssekretäre der Kriegszeit als ihre Leiter; und an die Spitze des Reichsamtes f ü r wirtschaftliche Demobilmachung trat der bisherige Leiter der Kriegsrohstoffabteilung des Kriegsministeriums, so daß jetzt bereits die Regierung des Reiches Parlamentarier und kaiserliche Beamte umfaßte, während sich in Preußen jeweils unter den doppelten Ressortspitzen von Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen das bürokratische Regiment der Unterstaatssekretäre entfalten konnte und einstweilen zwei bürgerliche Minister, Spahn und Fischbeck, im Staatsministerium verblieben. Die preußischen Staatsminister galten seit jeher nur als die „Großbeamten", als die „Repräsentanten des ganzen Organismus der Staatsämter" 12 . Sie waren schon lange nicht mehr ohne Abhängigkeit von den leitenden Beamten ihrer Ministerien, von den Geheimen Räten und 12
Vgl. Theodor Wilhelm, Die Idee des Berufsbeamtentums. Ein Beitrag zur Staatslehre des deutschen Frühkonstitutionalismus, Tübingen 1933, S. 37.
106
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
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Abteilungsdirektoren, deren Tätigkeit häufig über Einigkeit oder Uneinigkeit der Ressortminister entschied. Dem entsprach die Scheidung der staatsmännischen von den unpolitischen, nach späterem Beamtenrecht von „politischen" und „ständigen" Beamten. Nicht die Minister allein waren wirklich stark, sondern auch ihre Beamten, und manche wohl nicht viel mehr als nur die „Sprechminister" ihrer Untergebenen. Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten wurden nicht in den Sitzungen des Staatsministeriums ausgetragen, sondern führten zu Verhandlungen und im Erfolgsfalle zu Vereinbarungen zwischen den Ressorts. Während der Regierungsführung Bismarcks war insoweit eine Änderung eingetreten, als der Ministerpräsident vermittels seines Kanzleramtes im Reich, in dem er unabhängiger war als in Preußen und gegenüber den Staatssekretären der Reichsämter autokratisch die Politik bestimmte, auch seine preußische Position heben und sichern konnte; der innere Geschäftsgang im Staatsministerium blieb indessen unverändert. 13 Gewiß gab es auch in Reichsämtern Fälle, daß wichtige Beamte dank besonderer Sachkenntnisse, die sie in Jahrzehnten erworben hatten, und dank besonderer Fähigkeiten und Neigungen hinter den Kulissen eine überragende Stellung einnahmen, auf die wohl selbst der Reichskanzler Rücksicht zu nehmen sich gezwungen sah; doch sie charakterisieren bei weitem nicht in dem Maße wie in Preußen die Struktur ministerieller Verwaltungen. Bereits hinsichtlich der Personalgrößen wäre ein Vergleich der älteren Reichsämter mit den preußischen Ministerien kaum sinnvoll. Der Ubergang zum parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem hatte andere Voraussetzungen geschaffen. Dieser Wandel der „Exekutivverfassung" 14 warf die Frage nach einer neuerlichen Verknüpfung zwischen Beamtentum und Kabinett auf, die mancher spätere Betrachter als das wichtigste Problem des Beamtentums in der Republik ansah, wobei es natürlich einen Unterschied machte, ob die parlamentarischen Errungenschaften nur von akzidentieller Bedeutung für den historischen Beamtenstaat sein sollten, 15 oder ob nach besonderen Grundsätzen des Beamten für seinen Dienst an der Republik ge13 Vgl. Otto Hintze, Bismarcks Stellung zur Monarchie und zum Beamtentum: Geist und Epochen der preußischen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, hrsg. v. Fritz Härtung, Bd. III, Leipzig 1943, S. 653—683. 14 Arnold Köttgen, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtentums im Staat der Gegenwart: HBDStR II, Tübingen 1932, S. 9. 15 Köttgen, ebda.; ders., Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, Berlin u. Leipzig 1928, S. 91 ff.
Die Länder
und die
107
Reichsverfassung
sucht wurde, die diesem Wandel Rechnung trugen." An dem Verfahren des interministeriellen Aushandelns von Regelungen änderte sich indessen jetzt wie später im Prinzip nicht das geringste. Die Bürokratie blieb weiterhin „stabil". 17 Der hohe Staatsbeamte alten Typs hatte sich stets als Exekutor des Willens einer Obrigkeit legitimiert und in ihren Diensten streng loyal seine Pflichten erfüllt. Die Uberzeugung, daß eine dauerhafte politische Sicherung von Zuständen mehr sei als verbriefte Rechte und daß Institutionen verläßlicher und darum besser seien als eine Konstitution, 18 daß letztlich die Qualität des Staates allein von der Qualität seiner Verwaltung bestimmt werde, gehörte seit der Blüte der Reformzeit des preußischen Beamtentums während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zu seinen unzerstörbaren Überzeugungsbeständen. Es hing im Grunde immer noch — ausgesprochen oder unausgesprochen — an der Vorstellung eines Rechtsstaates mit invariablen sozialen Größen nach dem uneingestandenen, allenfalls frühkonstitutionellen Vorbild einer überschaubaren und regierbaren Ordnung. Die Spitzengruppen des durch den juristischen Bildungsweg hindurchgeschleusten alten Beamtentums hatten im rechtspositivistischen System der Vorkriegszeit, in dem sie sich unübertrefflich auskannten, die höchste Bedeutung erlangt. In Preußen bildeten immer noch die aristokratischen Bestandteile den Kern des hohen Beamtentums, mit dem sich allerdings in zunehmendem Umfang ausgebildete Juristen bürgerlicher Herkunft vereinigten, was jedoch das Übergewicht des Adels keineswegs schon restlos beseitigte.16 Die gleichartige Ausbildung, 14
Vgl. Erich Zweigert, Der Beamte im neuen Deutschland: Volk und Reich der
Deutschen. Vorlesungen, gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, hrsg. v. Bernhard Harms, II. Bd., Berlin 1929, S. 4 6 3 — 4 7 5 . 17
Zweigert, a. a. O., S. 465. Vgl. aber auch die „repräsentative Deutung des Beam-
tenverhältnisses" bei Köttgen im H B D S t R II, S. 8. 18
Zeugnisse hierzu bei Fritz Härtung, Studien zur Geschichte der preußischen
Verwaltung, 3. Teil: Zur Geschichte des Beamtentums im 19. und 20. Jahrhundert (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1945/46, Phil.-hist. Kl., Nr. 8), Berlin 1948, S. 13 f.; wieder abgedruckt in dem Sammelband von Fritz Härtung, Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 238 f. 19
Etwas anders verhielt es sich in den Reichsämtern, obgleich das preußische
Beamtentum
ihr bevorzugtes Personalreservoir bildete, und in den süddeutschen
Ländern. Hierzu Nicolaus v. Preradovich, Die Führungsschichten in Österreich und Preußen
(1804—1918),
europäische
Wiesbaden
Geschichte Mainz,
Bd.
1955 11),
(Veröffentlichungen S.
108 ff. —
In
des
Preußen
Instituts waren
für 1914
10 der 12 Oberpräsidenten, 18 der 35 Regierungspräsidenten und 275 von 489 Land-
108
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reicbsverfassung
von
Weimar
die soziale Stellung und schließlich die mehr und mehr, namentlich in Preußen nach der Kanalrebellion von 1899 vom Staat erstrebte gouvernemental-konformistische Staatsgesinnung sicherten eine sehr weitgehende Homogenität der hohen Staatsbeamten, was bei dem großen Gewicht persönlicher Beziehungen in der Erledigung von Verwaltungsgeschäften von erheblicher Bedeutung war. Die eigentümliche Verschmelzung von individuellem Selbstbewußtsein und bedingungsloser Zuverlässigkeit im Dienst an der bestehenden staatlichen Ordnung begründeten die Vorzüge, einen guten Teil des Rufs und der Leistungsfähigkeit des preußischen Vorweltkriegsbeamtentums, was sich nun auch die parlamentarische Mehrheit zunutze zu machen suchte. Der alte Personalkörper des Berufsbeamtentums brachte jedoch viel Vergangenes in die neue politische Periode des parlamentarischen Staates. Die herrschaftlich gebliebene Form des Dienstes und die im allgemeinen nicht oder nur wenig veränderte Technik und Arbeitsweise und die grundsätzliche Beibehaltung des alten Bildungsganges ließen von A n f a n g an problematische Beziehungen zur parlamentarischen Staatsorganisation entstehen. Man hat daher nicht zu Unrecht von einer „Fremdseele" in der Republik gesprochen,20 womit man, auf die Dauer gesehen, auch das Heer innerhalb des Weimarer Staates hätte bezeichnen können. Hierarchie und Unterordnung waren traditionelle Merkmale der Bürokratie. Die „Obrigkeiten" hatten zwar gewechselt; sonst blieb es jedoch beim Alten: Das Beamtentum wollte in der parlamentarischen Demokratie ebenso wie in der absoluten und in der konstitutionellen Monarchie „immer nur Werkzeug in der H a n d eines übergeordneten Organs" sein21. Diese Theorie vertrug sich aber keineswegs mit dem wirklichen politischen Einfluß der Bürokratie. Eine verhängnisvolle, aber im Grunde ebenso bei demokratischen wie konservativen Politikern und Theoretikern verbreitete Auffassung lief darauf hinaus, daß die „Verwaltung" nicht „in den Kreis der Politik" räten adelig. Von den Landräten, deren Ämter ähnlich wie die Tätigkeit des Offiziers eine besondere Anziehungskraft auf den Adel ausübten, entfielen noch 1916 weit über die Hälfte (54 Vo) auf den Adel; bis 1925 hat sich dieser Anteil dann halbiert (27 %>). Vgl. Hans Karl Behrend, Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratsstellen in den östlichen Provinzen 1919—1933: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, hrsg. vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Bd. VI, Tübingen 1957, S. 200. In den Regierungsbezirken Potsdam und Köslin waren am 1. Januar 1919 sogar 65 °/o der Landräte adelig ( a . a . O . , S. 201). 20 21
Leo Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1923, S. 353. Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum, S. 46.
Die Länder und die
Reichsverfassung
109
gehörte, sondern nur den T e i l des Staates u m f a ß t e , „in dem der S t a a t anderen
Zwecken
dient oder nur die technischen M i t t e l
für
seine
politischen F u n k t i o n e n schafft". 2 2 Auch die preußische Regierung begann mit einer Verwaltungspolitik, die die B ü r o k r a t i e der Vorkriegszeit in erster Linie als eine bestechliche und bei aller Einseitigkeit gut durchgebildete
„un-
Beamten-
schaft" ansah und ihre politischen Eigenheiten nur im Schatten der Tatsache erblickte,
d a ß „sie gleichwohl in administrativer
Hinsicht
funktionierte". 2 3 D e n sozialdemokratischen Ministern lag d a r a n , w o l l ten sie sich f ü r längere Zeit einrichten, das M i ß t r a u e n , den H o c h m u t und die A n m a ß u n g der hohen B e a m t e n , die sie umgaben, zu überwinden und sich im übrigen die „in administrativer H i n s i c h t " wohlfunktionierende Beamtenschaft dienstbar zu machen. D i e D i s k r e p a n z zwischen V e r w a l t u n g s k o n t i n u i t ä t und Verfassungsänderung ist dann später v o n demokratischen P o l i t i k e r n als „unheilvolle S p a n n u n g z w i schen Verfassung und V e r w a l t u n g " , die Situation der R e p u b l i k „ Z u s t a n d der H a l b h e i t "
angesehen worden. 2 4 Z w a r w ä r e ein
als „Er-
f a h r u n g s s a t z " , d a ß „der machtpolitische Schwerpunkt immer in der V e r w a l t u n g liegt", einseitig und in hohem G r a d e ergänzungsbedürftig; immerhin aber k o m m t er der entscheidenden Einsicht nahe, d a ß angesichts des U m f a n g s und der traditionellen Bedeutung des B e a m t e n tums keine Entwicklung des Verfassungsrechts ohne gesicherte H i l f e leistung der V e r w a l t u n g zu erwarten
war. Zweifellos k o n n t e
und
durfte sich die „ D e m o k r a t i e der V o l l z i e h u n g " nicht a u f das O r g a n i sationsschema der parlamentarischen „ D e m o k r a t i e der Gesetzgebung" beschränken 2 5 . Lebensfähige D e m o k r a t i e n setzen vielseitige und fest 22
R u d o l f Smend, Die politische G e w a l t im Verfassungsstaat und das Problem der
Staatsreform: Festgabe für Wilhelm K a h l , Tübingen 1923, S. 16. 23
O t t o Braun, Von Weimar zu Hitler, N e w Y o r k 1940, S. 50.
24
Ansätze zu einer politischen Soziologie der Verwaltung als einer „auf bestimmte
Zwecke eingestellten Personeneinheit"
enthält die Schrift des Bürgermeisters
von
Berlin-Kreuzberg, Carl H e r z , Die Verwaltungsreform als Aufgabe der Demokratie (Heft
13
der
Schriftensammlung
des
Allgemeinen
Deutschen
Beamtenbundes
—
A D B ) , Berlin 1927, die aus einem R e f e r a t auf dem 2. Kongreß des A D B hervorgegangen ist. (Vgl. S. 11). 25
Hans Kelsen, Vom Wesen und W e r t der Demokratie, 2. Aufl. Tübingen 1929,
S. 71. Unausgesprochen deutete sich bei K . die Befürchtung an, die völlige demokratische
Gleichartigkeit
von
Willensbildung
und
Vollzug
könne
die
Trennung
der Gewalten aufheben, was K . als Vertreter des liberalen demokratischen
Staates
verhindern
wollte. K . zeigte sich aber ebenso bemüht um eine Aufhebung
zumindest
praktische
kratischer
Vollziehung
Milderung und
des
Idealkonfliktes
demokratischer
zwischen
Willensbildung.
oder
autokratisch-büro-
Kontrollierte
Gesetz-
110
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverjassung
von
Weimar
verwurzelte institutionelle Sicherungen voraus. Wo jedoch — was später in wachsendem Maße geschah — der Tradition des Beamtentums gerade darin gefolgt wurde, daß man die „Führung der Staatspolitik" — im Gegensatz zur Parteipolitik — bei den Beamten suchte, die „als Antipoden der Partei" einen neutralen Verwaltungsstaat verkörperten, der sogar durch „feste rechtliche Trennungsmauern" jeder Annäherung entzogen sein sollte,26 wo solche historisierenden Interpretationen des Beamtenrechtes Fuß faßten, dort war freilich die Verantwortung gegenüber der „Verfassung als oberster Norm der Amtstätigkeit" 27 , der sich der Beamte durch seine Eidesleistung verpflichtete, in schwerwiegender Weise in Frage gestellt. Auch in München trat in der zweiten Dezemberhälfte eine ähnliche Veränderung der Verhältnisse wie in Berlin ein. Die der Mehrheitssozialdemokratie angehörenden Kabinettsmitglieder, voran der Innenminister Erhard Auer, begannen, um eine militärische Macht zu schaffen und für sich zu gewinnen, die Bildung einer Bürgerwehr einzuleiten und zu fördern, die sich von Anfang an auf militärische und politische Kräfte des alten Regimes stützte. Doch das gemeinsame Ziel einer föderativen deutschen Republik und der Gedanke an eine bayerisch-süddeutsche Front gegen Berlin führte gegen Ende des Jahres Auer und Eisner zunächst wieder zusammen. Auer zog seine Zustimmung zur Bürgerwehr zurück, und der Ministerrat lehnte sie einmütig ab.28 Die Front der Gemeinsamkeit schien gerade zu dem Zeitpunkt wiederhergestllt, da in Berlin die Koalition zwischen S P D und U S P D endgültig auseinanderbrach. Dieses erneuerte sozialistische Bündnis hat jedoch auch hier Kompromisse und Zusammenarbeit zwischen Beamtentum und Regierung in der ersten Übergangsperiode weder nachhaltig gestört noch beeinträchtigt, so daß die Spitzen der Bürokratie auch hier ein vorerst etwa gleichwertiges Gegengewicht gegen die Räte bildeten und sich zunächst beide, wie aus dem vorläufigen Verfassungsgrundgesetz erkennbar, auf Kosten parlamentarischer Institutionen durchsetzten. Schon wenige Tage nachdem Eisner in seinem ersten Regierungsmäßigkeit und Dezentralisation der Verwaltungsorganisation erschienen ihm als hierfür geeignete Prinzipien. Auf die personalpolitischen Probleme ging K.s Erörterung der Grundsätze noch nicht ein. « Vgl. Röttgen, HBDStR II, S. 13. Wilhelm, Idee des Berufsbeamtentums, S. 32. 28 Schade, Kurt Eisner, S. 79 ff. 2
27
Die Länder
und die
Reichsverfassung
111
programm der Bevölkerung Bayerns „die rascheste Durchführung einer nicht nur formellen, sondern lebendig tätigen Demokratie" versprochen hatte, beauftragte er den Geheimrat Joseph v. Graßmann vom Verkehrsministerium mit der Bildung einer Kommission und der Einleitung von Vorarbeiten für eine bayerische Verfassung. In diese Kommission holte Graßmann einige hohe Ministerialbeamte, den Geheimrat v. Müller aus dem bayerischen Außenministerium und die Ministerialräte v. Stengel und Stenglein, außerdem den Würzburger Staatsrechtler Robert Piloty. Eisner selbst nahm an den Vorarbeiten zur bayerischen Verfassung nur geringen Anteil. Etwas stärker war sein Interesse an einem vorläufigen Staatsgrundgesetz, dessen Einleitung er selbst schrieb und das am 4. Januar 1919 vom Ministerrat beschlossen wurde. Umso bemerkenswerter ist der Inhalt dieses Verfassungsprovisoriums, daß weder ein einziges Recht des Landtags fixierte, noch das parlamentarische Mißtrauensvotum kannte, wohl aber dem „Gesamtministerium" als der „obersten vollziehenden Gewalt" das Recht zugestand, Beschlüsse des Landtags innerhalb von vier Wochen einem Referendum zu unterwerfen. Ergab sich in dieser Volksabstimmung eine Mehrheit „gegen den Landtag", so war er aufzulösen; entschied sie „gegen das Gesamtministerium", so sollte es zurücktreten. Einzelheiten, die die Auslegung dieser Bestimmungen umgrenzen konnten, fehlten. Hingegen enthielt dieses vorläufige Grundgesetz eine wichtige beamtenrechtliche Norm: „Die Beamten haben das unbeschränkte Recht ihrer staatsbürgerlichen Betätigung. Die Rechte der Beamten bleiben unangetastet". Der Rest des Grundgesetzes, soweit es nicht bloße Programmsätze enthielt, befaßte sich lediglich mit den allgemeinen Grundrechten, der Eigentumsgarantie und mit dem Wahlrecht. Zum Überfluß wurde am 4. Februar zwischen dem Ministerrat und dem Aktionsausschuß der Arbeiter- und Soldatenräte eine gemeinsame Resolution beschlossen, die ausdrücklich festlegte, daß die Arbeiter- und Bauernräte „keine gesetzgebende oder vollziehende Gewalt" hätten. Dafür erhielten die Zentralräte ein Gesetzesinitiativrecht innerhalb des Landtags und ihre Mitglieder die Immunität zugestanden. Wenn man von einem „Räteministerium" Eisners spricht, so ist darunter lediglich eine Regierungsweise zu verstehen, bei der sich Ministerium und Verwaltung mit Hilfe unechter Räte von den Bedingungen eines echten parlamentarischen Systems frei hielten. 29 , e Vgl. Robert Piloty, Die Bayerische Verfassung vom 14. August 1919: J b ö R IX/1920, bes. S. 133 ff.
112
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Eisner selbst zeigte sich allerdings nur in begrenztem Umfang an Verfassungsfragen interessiert. Alle diese Bündnisse und Verhandlungen waren taktischer Art, sichernde Dämme gegen einen Zerfall oder ein zielloses Auseinanderfließen der politischen Kräfte, die Eisner für sein Programm zu benötigen glaubte. Der Geist dieses späten Epigonen des deutschen Idealismus, den eine humanitäre Emanzipationsidee in die Reihen der Sozialisten verschlagen hatte, entflammte jedoch für größere Ziele. Gewiß war es mehr als nur persönlicher Ehrgeiz, was Eisner verführte, nach der Rolle des Initiators einer mitteleuropäischen Erneuerung zu streben und München in die des Vororts eines neuen Weltbürgertums hineinzudrängen. Sein tragisches Ende verklärt die Rolle dieses Mannes, der sich der bayerischen Politik im Augenblick des Zusammenbruches zwar mit gelegentlichem Geschick als geborenen Vermittler, aber dennoch in einem vollständigen Mißverständnis hinsichtlich der Machtverhälnisse, der herrschenden politischen Bestrebungen und ihrer Voraussetzungen diesseits und jenseits der deutschen Grenzen angenommen hatte. So griff Eisner nach Aufgaben, denen er nicht gewachsen war, und drängte er in eine außenpolitische Rolle, in der er einen unübersehbaren Dilettantismus an den Tag legte.30 Bereits der äußerst partikularistische Kurs Eisners in Bayern beschwor vorübergehend eine nicht ungefährliche Entwicklung herauf. Die bayerische Politik ging anfangs im wesentlichen auf programmatisch-parteipolitische Grundsätze zurück, die es Eisner und dem Münchener Arbeiter- und Soldatenrat unmöglich erscheinen ließen, sich mit der führenden Rolle der Mehrheitssozialdemokraten in Berlin abzufinden und schon gar nicht mit einer Koalition unter Einschluß bürgerlicher Parteien. An dem Verhältnis Bayerns zur Berliner Reichsregierung war freilich auch die Tätigkeit bayerischer Ministerialbeamter nicht unbeteiligt. 31 Eine Reichskonferenz der deutschen Staaten, die am 25. November zum ersten Male nach dem Umsturz die Vertreter der revolutionären Regierungen mit einem Gefolge hoher alter Beamter in Berlin zusam30 Vgl. die geistvollen Erörterungen von Wilhelm Hausenstein, Der Neue Merkur, 4. Jg./1920—21, S. 561 ; ferner audi die Lobrede auf Eisner dorts., 3. Jg./1919—20, 5. 56—68. Die biographischen Ansätze in der Arbeit von Franz Schade, Kurt Eisner, enthalten wertvolle Ergänzungen und Korrekturen der konservativen, mit Konjekturen arbeitenden Darstellung in den Aufzeichnungen von Josef Hofmiller, Revolutionstagebuch 1918/19, bes. S. 150 ff. 31 Schwend, Bayern, S. 70 f.; auch Erich Kaufmann, Gefahren für die deutsche Einheit: Der Tag, Nr. 275 vom 26. 11. u. Nr. 276 vom 2 7 . 1 1 . 1 9 1 8 .
Die Länder
und die
Reichsverfassung
113
menführte, ließ den K o n f l i k t offen zutage treten, der letztlich zu einem K o n f l i k t tinter den Unabhängigen Sozialdemokraten wurde und der nun die entscheidende Erörterung des staatsrechtlichen Verhältnisses der deutschen Staaten zur Berliner Zentralgewalt in unübersichtliche Strudel zu ziehen drohte. Teils „entsetzlich zielloses Geschwafel, teils ancien regime" — a m E n d e jedoch eine „einigermaßen richtunggebende Resolution E b e r t s " , die angenommen w u r d e ; so beurteilte Koch-Weser von K a s s e l aus die Ereignisse, die an diesem T a g e in der Reichshauptstadt abliefen. 3 2 D i e schärfsten Auseinandersetzungen lösten die A n griffe Eisners auf den P r i m a t der außenpolitischen Handlungsfreiheit aus, den die Reichsregierung im Hinblick auf die Friedensverhandlungen in die Waagschale w a r f und den namentlich Staatssekretär Solf vertrat. 3 3 Eisner sprach v o n Solf wie von Erzberger als Männern der Gegenrevolution u n d schlug sogar die Bildung eines provisorischen Präsidiums der L ä n d e r mit außenpolitischen Entscheidungsbefugnissen vor. D e r sächsische Minister Lipinski unterstützte ihn indirekt, indem er V e r w a h r u n g dagegen einlegte, d a ß „im Interesse des Friedens alle Sozialisierung hintangestellt werden soll". D i e Sozialisierung durfte nach seiner A u f f a s s u n g nicht zugunsten des Friedens hinausgeschoben werden. Hiergegen trat auf der Seite der Unabhängigen neben anderen E d u a r d Bernstein a m entschiedensten auf, der d a r a u f hinwies, d a ß das „weitverzweigte V o l k s Wirtschaftsleben" unmöglich in kurzer Zeit sozialisiert werden könne, daß man aber so schnell wie möglich zum Frieden k o m m e n müsse. Diese A u f f a s s u n g f a n d schließlich das Echo der Mehrheit. F a s t überraschend ergab sich trotz der heftigen Reden Eisners, d a n k der geschickten Leitung der Berliner Volksbeauftragten, Übereinstimmung darin, d a ß die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g möglichst bald einzuberufen u n d d a ß m a n grundsätzlich an der Reichseinheit festhalten werde. D i e unmittelbaren Folgen, die sich f ü r die künftige Stellung der L ä n d e r ergaben, lagen darin, d a ß nun eine Reichsverfassung vorbereitet wurde, ehe die L ä n d e r an die Ausarbeitung eigener Verfassungen gingen u n d d a ß damit an den stufenweisen A u f b a u eines neuen deutschen Bundes von unten nach oben, den Eisner als K o m p r o miß vorschlug, nicht mehr z u denken w a r . D i e Zentralregierung in Berlin gewann ein verfassungspolitisches Praevenire, einen nicht mehr aufzuholenden zeitlichen Vorsprung vor den Einzelstaaten, der in der nächsten Phase zu einem verfassungsrechtlichen P r i m a t werden konnte. M 33
8
Nachl. Koch-Weser, N r . 15, S. 145 f. Protokoll der Staatenkonferenz, abgedruckt D G R , S. 58 ff.
Schulz I
114
1. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
Reichsgewalt und Länder in den ersten Verfassungsentwürfen (Max Weber und Hugo Preuß) Die Verfassung des neuen Deutschlands mußte nunmehr den Problemen der rechtlichen Form und politischen Existenz der Länder wie des Ausbaus und der Begrenzung der Reichsgewalt eine dauerhafte Lösung geben. Nach Lage der Dinge stand es außer Frage, daß der künftigen Größe und Stellung des historischen Soldaten- und Beamtenstaates Preußen, des Kernlandes des Hohenzollernreiches, eine entscheidende Rolle zukommen würde. Die zentralistische Struktur der einheitsstaatlichen Verwaltung hatte ja den Verlauf der revolutionären Umwälzung schon in der Anfangsphase nicht unwesentlich beeinflußt. Beinahe ohne jede Unterbrechung blieb die Verfügungsgewalt der Berliner Zentrale erhalten, die die bürokratische Staatsorganisation in ihren Dienst nahm, um die öffentliche Ordnung und die Versorgung der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Das politische Leben regte sich an ihrer höchsten Spitze und in der lokalen Ebene. Die politischhistorischen Landschaften, die Provinzen, entwickelten, vom Rheinland, von den ethnisch gespaltenen und gefährdeten Grenzgebieten und von Ostpreußen abgesehen, noch kein grundsätzliches und allgemeines Verlangen nach regionaler Selbstbestimmung oder erweiterten Selbstverwaltungsrechten und gingen im entscheidenden Augenblick keineswegs darauf aus, zu einem solchen Ziele mit gleichen Interessen aufzutreten und sich gegenüber den Berliner Zentralbehörden durchzusetzen. Von den erwähnten Ausnahmen abgesehen, bewies auch hier der preußische Staat selbst in dem entscheidenden Augenblick der Umwälzung seine zusammenfassende, zusammenhaltende, aber auch einebnende Kraft. Vom alten Staat blieb in erster Linie die Verwaltung, die nicht erst seit 1918 und nicht nur in der Sicht der politischen Linken als reformbedürftig galt, wenn auch jedes größere Projekt zur Reform des Obrigkeitsstaates bis zum Zusammenbruch graue Theorie und die Geschichte der inneren Verwaltung Preußens die eines immer wieder ansetzenden, aber stets niedergehaltenen Reformwillens geblieben war. 34 Doch un34
Über die Pläne des letzten preußischen Innenministers Drews und die, die
ihnen vorausgingen und die v o r allem eine Reform in der zweistufigen preußischen Mittelinstanz
betrafen,
Fritz
Härtung,
Studien
zur
Geschichte
der preuß.
Ver-
waltung, Zweiter Teil: Der Oberpräsident (Abhandlgen. d. Preuß. Akad. d. W i s s , Jg. 1943, phil.-hist. K I , N r . 4), Berlin 1943, S. 60 ff.; jetzt auch Härtung, Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, S. 331 ff.
Die Länder
und die
115
Reicbsverfassung
gleich stärker als die Verwaltungsreform hatte seit längerem die Wahlrechtsfrage die Öffentlichkeit erregt. In einem der hervorragendsten publizistischen Beiträge zur Reform des reaktionären Dreiklassenwahlrechtes, die bis zum Ende des Weltkrieges heiß umstritten war, enthüllte Max Weber 1917 den Zusammenhang zwischen den inneren politischen Verhältnissen Preußens und seiner hegemonialen Stellung innerhalb des Reiches als dem Schlüssel zu einem System der „dynastisch-bürokratischen Pfründenversicherung" und „weitgehenden Kontrollfreiheit der Bürokratie". 35 Die auf der Tagesordnung stehende und darum unausweichliche Demokratisierung und Parlamentarisierung und die notwendige Begrenzung des bürokratischen Einflusses mußten diesem hegemonialen „Föderalismus", den Weber mit ironischer Distinktion in Anführungszeichen tat, ein Ende setzen. Die Empfehlungen des angesehenen Gelehrten rückten zunächst die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen in den Vordergrund der Betrachtungen. Ihr Ziel lag indessen oberhalb der preußischen Politik und der preußischen Zustände. „Der Strom der Parlamentarisierung muß vor allem in die Kanäle des Reiches geleitet werden", schrieb Max Weber, womit er, auf die systembegründende Wahl und Auswahl politischer Persönlichkeiten bedacht, nicht nur eine Ausweitung oder Ergänzung von Rechten meinte, die der Reichstag innehatte, sondern mehr noch eine neuartige Zusammensetzung des Bundesrats aus Repräsentanten der Parteien in den Einzelstaaten. Ihr verfassungsmäßiger Einfluß auf die Reichsregierung sollte eben über den Bundesrat auf eine Ebene gehoben werden, die es erlaubte, das alte Regiment des Beamtentums in kontrollierbare Schranken zu weisen. Dies war ein Gedanke, den Weber dann nach dem Zusammenbruch, als die Wahlrechtsfrage praktisch entschieden war, noch ausführlicher und gründlicher erörterte und den er wegen der „repartierten Anrechte" an der Reichsspitze als „Repartitionsföderalismus" bezeichnete. Nach Kriegsende stellte Max Weber als einer der profiliertesten Sprecher eines „freien Kompromisses" mit dem Sozialismus wie kaum ein anderer überaus sorgfältige und sachkundige Erwägungen darüber an, was verfassungspolitisch zu tun sei. Angesichts der noch im Flusse 35
P a r l a m e n t und R e g i e r u n g im n e u g e o r d n e t e n
melte
politische
ersten
Auflage
Schriften, zitiert,
S. 2 3 5 .
(Hier
die bei w e i t e m
und
im
Deutschland. M . W e b e r , folgenden
verbreiteter
ist
als
wird
stets
die zweite,
Gesam-
nadi
der
erweiterte
A u f l a g e , neu hrsg. v . J o h a n n e s W i n c k e l m a n n , Tübingen 1 9 5 8 , der im übrigen eine vergleichende Seitenübersicht a n g e f ü g t ist, die die Beziehung zwischen beiden lagen jederzeit herzustellen
erlaubt.)
Auf-
116
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
befindlichen Entwicklung bemühte er sich, gewissermaßen die politischen Existenzfragen aufzuwerfen und unter den theoretischen Lösungen, die seiner schöpferischen Phantasie in reichem Maße einfielen, die in der Praxis am vorteilhaftesten und zugleich aussichtsreichsten erscheinende auszuwählen. In seinen Schriften und Reden während der Umbruchszeit wog er das Für und Wider so sorgsam ab, daß das Verständnis nicht eben leicht fällt. Sie sind praktisch-politischer Natur, Musterbeispiele politisch-pragmatischen, gewiß nicht voraussetzungslosen Denkens. Weber suchte den Ansatzpunkt seiner Überlegungen in auffälliger Nähe der Mehrheitssozialdemokratie. Vielen ihrer „ökonomisch geschulten Mitglieder" wähnte er — nach einem Bekenntnis vom 1. Dezember 191836 — „bis zur UnUnterscheidbarkeit nahezustehen". Doch rücksichtslos sprach er seine tiefe Verachtung der Rätebestrebungen, der „Liebknechtbande", und all dessen aus, was er als „Totengräberarbeit am Sozialismus" ansah; des „Revolutionskarnevals", mit welchem Wort er das schmerzlich empfundene Fehlen ausgeprägter politischer Persönlichkeiten auf der Linken ausdrückte, das sich durch eine „Anzahl von Revolutionsinteressenten" nicht ersetzen ließ. Dies erklärt Webers Entschluß, mit eigener Person für „die große demokratische republikanische Partei" des Bürgertums zu werben, so daß man 3 * Das neue Deutschland, Bericht der F r a n k f u r t e r Zeitung über eine am 1. Dezember 1918 gehaltene R e d e M a x Webers: Gesammelte politische Schriften, S. 377 bis 380. N e b e n dieser R e d e ist hier v o r allem auf die wichtige Artikelfolge „Deutschlands künftige S t a a t s f o r m " zu verweisen; sie erschien im N o v e m b e r 1918 in der F r a n k f u r t e r Zeitung, die Weber w ä h r e n d der Umbruchszeit mehrfach zu W o r t e kommen ließ. (Gesammelte politische Schriften, S. 341—376). Einzelne E r gänzungen lassen sich dem Buch v o n W o l f g a n g J. Mommsen, M a x Weber und die deutsche Politik 1890—1920, S. 326 ff., entnehmen, der sich auch auf ungedruckte Quellen stützt. Mommsen wählte, offenbar unter dem Eindruck späterer staatsrechtlicher Erörterungen, f ü r diesen Teil seines Buches eine überwiegend systematische Darstellung, um der außerordentlich komplizierten D a r l e g u n g und Begründung, die Weber dem „plebiszitären Reichspräsidenten" widmete, u n d der etwas v e r ä n d e r t e n K o n t u r i e r u n g seiner A u f f a s s u n g gegenüber der, die sich in den Schriften v o n 1917 ausdrückte, gerecht zu werden. Wenn Weber auch dem künftigen Reichspräsidenten sehr große Befugnisse einräumte und ihn b e w u ß t m e h r und mehr in den V o r d e r grund seiner verfassungspolitischen Überlegungen schob, so darf doch nicht verk a n n t werden, d a ß die vielschichtige Problematik, die Weber — allerdings in nicht immer übersichtlicher Weise — durchging, erst nach u n d nach zu dieser zunächst n u r sekundären Lösung h i n f ü h r t e . V o n der bei Weber häufig anzutreffenden H e r v o r hebung der politischen Persönlichkeit u n d seiner unentwegten Suche nach den Modalitäten der Führerauslese in der Politik ist in diesen mit institutionellen Problemen angefüllten Beiträgen zur Verfassungspolitik verhältnismäßig wenig zu finden.
Die Länder und die
Reichsverfassung
117
ihn den geistigen V ä t e r n der Demokratischen P a r t e i zurechnen darf. Seine Berufung a u f die „Reserven der deutschen W i r t s c h a f t " wie auf die Erfordernisse „einer ganz neu auszustattenden
Volkswirtschaft"
lassen ihn, trotz mancher anderslautenden Ä u ß e r u n g auch in dieser Zeit des Umbruchs nicht als Sozialisten, sondern als einen mit den T a t sachen vertrauten bürgerlichen Liberalen erkennen — wenn auch als fast einmaligen, vorbildlosen T y p u s . D e m scharfsinnigen Wirtschaftswissenschaftler w a r es von A n f a n g an eine Selbstverständlichkeit, d a ß weder „mit Maschinengewehren" noch mit „todesmutigen
Glaubens-
kämpfern",
„mit
Hysterie
weder
zufälliger
„mit
dilettantischen
Literaten"
Massenversammlungen"
wenigsten eine Sozialisierung durchzuführen legenden Gelehrten
eine
noch
der
Neuordnung,
w a r . D e m kühl
am über-
lag daran, die Einsicht zu verbreiten, d a ß
die
Zukunft der Wirtschaft der „geschäftlich geschulten G e h i r n e " bedurfte, die sich nur unter den U n t e r n e h m e r n finden ließen; und ohne F r a g e w a r sie a u f R o h s t o f f e und a u f K r e d i t e aus dem Ausland angewiesen. W e b e r gehörte zu den wenigen Publizisten, die den ökonomischen E r w ä g u n gen das P r i m a t unter allen politischen Erörterungen zuerkannten und den Finger auf den entscheidenden P u n k t der künftigen
Auslands-
beziehungen
geschehen
der
deutschen
Volkswirtschaft
legten:
Was
konnte, m u ß t e daher auch von den siegreichen Kriegsgegnern Deutschlands abhängen. Doch „die feindlichen Regierungen waren „rein bürgerlich", so d a ß nach Webers Folgerung nur eine bürgerlich-kapitalistische Wirtschaft a u f K r e d i t e und H i l f e n aus dem Ausland rechnen durfte. „Eine rein proletarische Regierung aber, auch die beste", so meinte W e b e r , w a r „für das Ausland k r e d i t u n f ä h i g " . 3 ' „ K a n n " , fragte er, „der U n t e r n e h m e r wirtschaftlich so ausgeschaltet
so
werden,
wie die vielbeklagte politische O h n m a c h t des Bürgertums den L a i e n vermuten l ä ß t ? " Diese F r a g e stellen, hieß sie verneinen: „ M a n mag es bedauern oder nicht: das ist nicht der F a l l . Zeitlage sowohl wie D a u e r lage unserer Wirtschaft verhindern e s " . W e b e r sah z w a r
„wahrlich
keinen G r u n d , die H e r r e n der Schwerindustrie zu lieben", und hielt es — hierin der S o z i a l d e m o k r a t i e verbunden — f ü r „eine H a u p t a u f gabe der D e m o k r a t i e " , ihren „verderblichen politischen E i n f l u ß a u f das alte R e g i m e zu brechen . . . " „Wirtschaftlich" aber blieb „ihre L e i stung nicht nur u n e n t b e h r l i c h " ; sie wurde es „gerade mehr als je j e t z t , w o unsere ganze Wirtschaft und alle ihre Erwerbsgelegenheiten
neu
organisiert werden müssen". 3 8 K e i n e Gewerkschaft, noch weniger ein 37
Ges. politische Sdiriften, S. 350.
38
a. a. O . , S. 353 f.
118
I. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
staatssozialistischer Beamter, schrieb Weber, könne „diese Funktionen ersetzen". Die „wirtschaftliche Zukunftsorganisation" Deutschlands sollte nun auch in der Frage „Einheitsstaat oder Bundesstaat?" entscheiden. „Vom Standpunkt der Sozialisierung ist möglichster Zentralismus dringend erwünscht"; doch „jede privatwirtschaftlich selbständige Organisation durch freie Unternehmer . . . kann sich mit dem Föderalismus vertragen, und auch über die einzelstaatlichen Grenzen hinweg Teilwirtschaftsgebiete syndizieren, wenn nur Recht, Währung, Handelspolitik und Produktionssteuern einheitlich geordnet sind". 3 'Die eine Bedingung verlangte nach der unitarischen, die andere erlaubte auch eine föderalistische Lösung. Weber ließ keinen Zweifel daran, daß ihm selbst „eine möglichst unitarische Lösung" am Herzen lag.40 Doch damit war die wichtigste Frage für ihn noch keineswegs entschieden. Seine nüchternen Erwägungen bezogen auch den deutlich erkannten Widerspruch ein, „daß sachliche Gründe der Zukunft für eine starke zentralistische, Reminiszenzen aus der Vergangenheit aber sowie Stimmungen und politische Macht- und Interessenkonstellation der Gegenwart . . . für die föderalistische Lösung, innerhalb dieser aber für das Delegationsund Repartitionsprinzip, wie es im bisherigen Bundesrat verkörpert war, ins Gewicht fallen werden"41. Zu den alten Abneigungen gegen die preußische Hegemonie, die Weber schon früher an den Tag legte, traten in diesem Augenblick politische Bedenken gegen das Berliner Regiment, so daß er nun die Macht der Reichszentrale zugunsten eines „gesunden Föderalismus" begrenzt, ihre Verbindung mit der preußischen Staatsspitze künftig gelöst und die „großpreußischen Bestandteile der Verfassung am unbedingtesten beseitigt" wissen wollte. Im Gegensatz zu anderen Theoretikern glaubte Weber jedoch nicht an eine wirkliche Möglichkeit, ja nicht einmal an die Zweckmäßigkeit einer dauernden Zerschlagung Preußens. Er fürchtete finanzielle und verwaltungstechnische Schwierigkeiten und überdies die Gefahr eines ostelbischen Partikularismus, die keinesfalls aus der Luft gegriffen war. In jedem Falle mußte dem von Berlin aus verwalteten Gebiet ein gewaltiges Gewicht sicher sein, was zu einer alsbaldigen Konsolidierung der deutschen Verhältnisse wohl beitragen konnte. Diesem machtpolitischen Aspekt des preußischen Problems hat sich Weber keineswegs verschlossen. Immerhin hielt er es aber doch für richtig, verschiedene Vor" a. a. O., S. 350. 4 ° a. a. O., S. 369. 41 a. a. O., S. 360 f.
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Reichsverfassung
119
schlage einer Prüfung zu unterziehen und die Empfehlung von N o r mativbestimmungen f ü r die künftige Verfassung aufzugreifen, die die Konstituierung neuer Staaten oder die Verschmelzung bereits bestehender auf dem Wege über Volksbegehren und Volksentscheiden der betroffenen Bevölkerung ermöglichen sollte. Für die Abgliederung und Neubildung wären in erster Linie preußische Landesteile, f ü r die Verschmelzung die kleinen Staaten der norddeutschen Tiefebene — außer Hamburg und Bremen die thüringischen Staaten — und Hohenzollern in Betracht gekommen. Die Zerteilung Preußens hätte seiner Meinung nach „prämiiert" werden können, indem man neben der Mindestgröße von einer Million Einwohnern „ f ü r die Zulassung als Staat" für das Volksbegehren eine verhältnismäßig niedrige Mindeststimmenzahl innerhalb der neuen föderativen Einheit festlegte; Weber hielt ein Fünftel der Wohnbevölkerung f ü r angemessen.42 Sehr günstige Aussichten scheint er den hiermit eröffneten Möglichkeiten letztlich aber doch wohl nicht beigemessen zu haben. Von Reichs wegen eine planmäßige Neuaufteilung der deutschen Landkarte vorzunehmen, wie es später Koch-Weser anstrebte, hielt er zwar f ü r ein rationelles Verfahren, doch f ü r „sicher aussichtslos, da die Staaten sich dem nicht fügen würden". Er verkannte auch keineswegs die Problematik, die sich ergeben mußte, wenn das Abgliederungsverlangen von den steuerkräftigen Teilen Preußens ausging, so daß am Ende nur die ärmeren Teile übrig geblieben wären. Nicht zuletzt in Anbetracht der Rolle, die die preußische Verwaltung während des Verlaufs der Umwälzung übernahm, kam Max Weber bald, schneller und früher als Preuß, vollständig von dem Gedanken einer Aufteilung Preußens ab.43 Weber besaß einen in seltener Weise ausgeprägten Sinn für politische Proportionen, aber auch, ohne sich zu ihnen bekennen zu müssen, f ü r die wirkliche Macht von Traditionen und Gewohnheiten. Nicht so sehr die Veränderung der politischen Landkarte erschien ihm wichtig als vielmehr die „Aufgabenverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten" und die ständige Beteiligung der Staaten an der vom preußischen Übergewicht entlasteten Regierung, sowohl an der Gesetzgebung als auch an der Verwaltung des Reiches. Mit diesem Gedanken leitete er als einer der Ersten zur Reichsreform nach dem Sturz der Monarchie über. Den Aufbau des künftigen Deutschlands hielt Weber—nach Klärung der wirtschaftlichen Voraussetzungen — vor allem anderen für eine 42 43
a. a. O., S. 355. Mommsen, Max Weber, S. 327 f.
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/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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Weimar
Verfassungsfrage und innerhalb dieser in erster Linie f ü r eine Frage der Organisation der Reidisspitze. In längeren Untersuchungen über ihre zweckmäßigste, doch angesichts der Verwirklichungsmöglichkeiten wahrscheinlichste Form widmete er zwar auch den Föderativsystemen der Vereinigten Staaten wie der Schweiz besondere Beachtung; doch er gab sich keineswegs mit der Übernahme ausländischer Vorbilder zufrieden, sondern stellte ihre Leistungen und ihre Grenzen einander gegenüber, um sie kritisch auf ihre Übertragbarkeit hin zu überprüfen. Der nordamerikanische Föderalismus, der eine konsequente Gewaltenteilung zwischen Staatenregierungen und Bundesregierung durch Trennung sowohl der sachlichen Zuständigkeiten wie der Aufgaben der d a f ü r erforderlichen Beamtenkörper und der zur Verfügung stehenden Einnahmequellen derart entwickelt hat, daß die beiderseitigen Verwaltungsapparate von der Spitze bis zum Boden „wie selbständige, sich nie vermischende Röhrensysteme nebeneinander" herlaufen, dieses Vorbild hielt Weber aus Gründen der künftig in Deutschland notwendigen Sozialpolitik f ü r nicht annehmbar. Die Eigenverwaltung des Schweizer Bundes hingegen befand er in Anbetracht der künftigen öffentlichen Finanzwirtschaft f ü r die deutschen Bedürfnisse zu gering, so daß — alles in allem — die Notwendigkeit blieb, „ein eigenes und neues Föderativsystem" zu schaffen: unter den gegebenen Umständen „eine möglichst unitarische Lösung". Nach eingehender Untersuchung verwarf Weber die mit sichtlicher persönlicher Sympathie erörterte Lösung mit einem „Staatenhaus", das von einer kleineren Zahl landschaftsweise aus direkten Wahlen hervorgehender Vertreter der dort jeweils herrschenden Parteien — ähnlich dem Senat der Vereinigten Staaten — gebildet werden und oberhausartig neben einem Volkshaus (Reichstag) stehen sollte. Dies wäre eine Lösung im Sinne seines „Reichsparlamentarismus" der Kriegszeit gewesen. Weber kehrte jedoch wieder zum alten Bundesrat, allerdings mit vermindertem Gewicht Preußens, und zur föderalistisch-repräsentativen „Repartition" der Reichsregierung zurück, da er es f ü r ausgeschlossen hielt, daß die neuen Staatenregierungen auf ihre Selbständigkeit in der „Vergebung von Amtspfründen" und auf ihre herkömmliche Rolle innerhalb der alten Einrichtung verzichten würden. Noch andere Erwägungen sprachen hierfür. „Auch sachlich" sei, wie Weber meinte, „die Behandlung der Finanzprobleme und also des Reichsbudgets in einer solchen Körperschaft von Delegierten und durch Fachministerien instruierten Beamten durchaus das Gegebene. Die Staatenhauslösung müßte also zugunsten der Bundesratlösung fallen.
Die Lander
und die
Reichsverfassung
121
Geschieht dies aber und fällt damit die Möglichkeit eines wirklichen Reichsparlamentarismus fort — da ja die von den Einzelparlamenten kontrollierten Abstimmungen des Bundesrats durch das Reichsministerium nicht vor dem Volkshaus des Reichs (Reichstag) parlamentarisch zu verantworten sind", dann aber sprach nach Weber „sehr vieles f ü r die Schaffung eines plebiszitären Reichspräsidenten als H a u p t der Exekutive und Inhaber eines suspensiven Vetos" und vor allem mit dem Recht, „an die Volksabstimmung zu appellieren", wenn anders zwischen dem Bundesrat und den „Vertrauensleuten" des Parlaments keine Einigung herbeizuführen sein sollte, also der Konflikt zwischen föderativen und unitarischen Instanzen drohte 44 . Die Stellung des künftigen deutschen Staatsoberhauptes ergab sich dann nach dieser Erörterung letztlich aus der Funktion eines Hüters der föderativen und unitarischen Bestandteile der Verfassung und als des Herrn des letzten Ausgleichs, den Weber für unentbehrlich hielt. Seine komplizierten und keineswegs leicht verständlichen Darlegungen waren weit davon entfernt, ein vollendetes Verfassungssystem anzubieten. Der Umsicht ihres Autors konnten nicht die großen Ungewißheiten entgehen, die sich aus der Notwendigkeit, die gewaltig angewachsene Reichsschuld abzubürden und zu einer „Art der Sozialisierung" zu gelangen, ebenso zwangsläufig ergeben mußten wie aus den noch in jeder denkbaren Hinsicht ungeklärten Finanzverhältnissen — „in einem Bundesstaat das, was die wirkliche Struktur am entscheidensten bestimmt". Eben aus diesem Grunde beschied sich Weber mit der „nur hypothetischen, alle Möglichkeiten offenlassenden Form", die zeigen sollte, daß eine der „großpreußischen Struktur" entbundene, „nicht auf dynastischem 44
Ges. politische Schriften, S. 374. Es ist doch wohl nicht völlig korrekt, zu sagen, d a ß „das unitarische Gegengewicht zur föderalistischen Ländervertretung . . . nicht der Reichstag, sondern der plebiszitäre Reichspräsident bilden" sollte (Mommsen, a. a. O., S. 332), auch nicht auf G r u n d des von Mommsen herangezogenen, bisher unbekannten Zitates, das übrigens erkennen läßt, d a ß Weber nunmehr (Dezember 1918) auch weitere Folgen, die sich aus der Stellung des Reichspräsidenten ergeben m u ß t e n , wie er sie sich dachte, in seine Betrachtungen einzubeziehen begann. U n s erscheint es als eine wesentliche Eigenheit der allmählich, jedoch fortgesetzt mutierenden, ungewöhnlich rationalistischen Publizistik M a x Webers, d a ß sein logisch konsequent folgerndes Durchdenken von Problemen schrittweise zu Ergebnissen gelangte, über die es dann nach und nach zu weiterreichenden Folgerungen f o r t schritt. D e r liberale Balancegedanke, der dem „plebiszitären Reichspräsidenten" zugrunde lag (Mommsen, a. a. O-, S. 348), erhielt immer mehr Vollkommenheit, bis er schließlich die im R a h m e n des Verfassungsdenkens nicht mehr steigerungsfähige politische Figur des charismatischen demokratischen Führers hervorbrachte und damit aus-gedacht war.
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/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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Weimar
Boden stehende föderalistische Verfassung überhaupt sinnvoll möglich ist." Mit ihrer Hilfe wollte er die „demokratischen Errungenschaften dauernd sichern", jedoch „nur in den Formen einer paritätisch bürgerlich-sozialistischen Regierung" und eingedenk des Umstandes, daß sowohl die sozialistische wie die bürgerliche Demokratie der Ideologen . . . ausgespielt" hatte 45 . Er glaubte nicht, daß es Sinn hätte, über die Existenz der Einzelstaaten hinwegzuschreiten und ihre faktisch vorhandene Macht nicht von vornherein in das Verfassungssystem einzubeziehen; aber Weber wollte durch eine ausgewogene Balance föderativer und unitarischer, parlamentarischer, repräsentativer und plebiszitärer Elemente unter allen Umständen eine politisch funktionsfähige Reichseinheit sichern, die ihm ausreichend erschien, den künftigen schweren Belastungsproben gewachsen zu sein. Seine Vorschläge hielten sich daher innerhalb des Rahmens konsequenter und durchgreifender Reformen der Bismarckschen Reichsverfassung, um den Kreis gesammelter Erfahrungen und voraussichtlicher Wirkungen nicht allzu weit zu überschreiten. Dem Schwünge freier Phantasie mochte sich Weber durchaus nicht in dem Maße anvertrauen wie seinen reichen historischen Kenntnissen und seiner Befähigung zur logisch-analytischen Kritik theoretischer Möglichkeiten und Entwicklungen. Sein Blick in die Zukunft ist indessen vor Illusionen keineswegs bewahrt geblieben. Wenn es Weber auch, von seiner Mitwirkung am Preußschen Verfassungsentwurf abgesehen, nicht vergönnt war, in die Verfassungspolitik der nächsten Zeit einzugreifen, und ihm sogar ein Mandat für die Nationalversammlung versagt blieb, um das er sich kurze Zeit bemühte, so gingen dodi von seinen subtilen Darlegungen bemerkenswerte Ausstrahlungen aus. Es ist bekannt, daß partielle Gedankengänge in späteren Diskussionen immer wieder durchbrachen, so daß ihr Einfluß auf den Verlauf der Verfassungsentwicklung von imponderabiler Größe ist und ihr Autor bis auf unsere Tage einen unverrückbaren Platz in der Geschichte des deutschen parlamentarischen Verfassungswesens einnimmt. Es kann kaum einen Zweifel geben, daß Webers Äußerungen während der Umsturzzeit auch auf einzelne Führer der Sozialdemokratie Einfluß übten, wenigstens soweit sich unter ihnen vor und während des Krieges eine stärkere Bereitschaft eingestellt hatte, auf Stimmen aus dem Bürgertum zu hören, und daß schließlich die von Weber vertretene Erkenntnis Beachtung fand, „daß . . . Minderheitsregierungen und der Versuch, das nun einmal nicht zu 45
Ges. politisdie Schriften, S. 375.
Die Länder
und die
Reichsverfassung
123
entbehrende Bürgertum in eine politisch entrechtete Parialage zu drängen, in der Meinung, es so als technisches Personal benutzen zu können, sehr schnell an der Wucht der Tatsachen zerschellen würde". 49 Auch die künftige Ebert-Forschung wird sich noch dem Problem der Bedeutung und Abgrenzung solcher Einflüsse zu widmen haben. Max Webers unbestechlicher Sachlichkeit, seine ständig Tendenzen und Überzeugungen mit Möglichkeiten und Folgen konfrontierende, mit gründlichen Kenntnissen unterlegte Dialektik suchte nach der künftigen politischen und ökonomischen Wirklichkeit, die sich vor der Gegenwart hinter Schleiern verbirgt; und in ihr, nicht in der eigenen liebgewonnenen Überzeugung suchte er die Zukunftsaussichten der kapitalistischen Wirtschaft zu ergründen, in der er weder für Funktionäre noch für Bürokraten einen Platz wähnte. E r gestand nichtsdestotrotz die Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung des Berufsbeamtentums zu, obgleich er der Bürokratie im Bunde mit den länderstaatlichen Dynastien während des Krieges auf das heftigste entgegengetreten war. Doch jede der gesellschaftlichen Mächte versuchte er auf eine ihr zugedachte Rolle in einem „gesunden", ökonomisch geordneten öffentlichen Leben zu beschränken. Diese Rationalisierung der Verfassungsverhältnisse im Rahmen des politisch Möglichen dürfte Weber wohl als die eigentliche Aufgabe des von der Last des persönlichen Regiments einer reformfeindlichen Monarchie befreiten „neuen Deutschlands" angesehen haben. Den Auftrag und die unmittelbare Befugnis zur Schaffung eines offiziellen Verfassungsentwurfes legten die Volksbeauftragten jedoch nicht in die Hände des bürgerlichen Heidelberger Soziologen Max Weber, sondern in die des bürgerlichen Berliner Staatsrechtlers Hugo Preuß, „von dem die Mär umging, daß er bereits einen fertigen Entwurf in der Tasche" hatte, 47 und der kurz nach dem Sturze der Monarchie unter Berufung auf seine offene Sprache im alten Staate 48 das Bürgertum zur Mitwirkung aufgerufen und an die neue Regierung die Mahnung gerichtet hatte, sofort eine Nationalversammlung einzuberufen. 49 Noch am gleichen Tage war er, nach kurzer Konkurrenz mit "
a. a. O., S. 380.
47
Mommsen, Max Weber, S. 326.
48
Schon im Jahre 1917 hatte Preuß einen Vorschlag zur parlamentarischen Ver-
fassungsreform im Reich und in Preußen ausgearbeitet. Er ist abgedruckt in der Aufsatzsammlung
von Hugo Preuß, Staat,
deutscher
und
Politik
Geschichte,
mit
Recht und
einem
Freiheit. Aus 40
Geleitwort
von
Theodor
Jahren Heuss,
Tübingen 1926, S. 2 9 0 — 3 3 5 . 49
In dem berühmten programmatischen
Obrigkeitsstaat?"
im
Berliner
Tageblatt,
Aufsatz Nr.
583
„Volksstaat vom
14.
oder
11.
verkehrter
1918,
wieder
124
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
einer Kandidatur Max Webers, 50 zum Staatssekretär des Reichsamts des Innern ernannt worden, als der er zielbewußt und schnell die Wahlvorbereitungen und die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für die Nationalversammlung einleitete. E r rief einen kleinen Verfassungsausschuß zusammen und eröffnete die Vorberatungen, noch ehe unter den Volksbeauftragten Einmütigkeit über die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung erreicht war, indem er das Problem des inneren Reichsaufbaus zur Erörterung stellte.51 Hugo Preuß hatte sich an den Rechtssystemen von Gneist, Laband und an der organischen Staatslehre Otto v. Gierkes gebildet; er hatte auch, wie sich an gelegentlichen Aufrissen tieferer Schichten seines Denkens erkennen läßt, in der vorhegelschen deutschen idealistischen Philosophie Boden gefaßt, vor allem aber starke politische Anregungen aus Josef Redlichs Geschichte der englischen Selbstverwaltung 52 erhalten. Schon als Berliner Hochschullehrer und fortschrittlicher Stadtverordneter war er ein Mann der liberalen Opposition gegen das wilhelminische Deutschland gewesen. Die Beziehungen seines Denkens und Trachtens zu dem des nur um wenige Jahre jüngeren Max Weber sind gering. Beider Herkunft und Ausgangspunkte, aber auch ihre wissenschaftliche Schulung lagen weit voneinander getrennt. Zwischen beiden lag die ganze Breite und Weite des liberalen deutschen Bürgertums der Vorweltkriegszeit. Mag es auch nicht entscheidend ins Gewicht gefallen sein, daß sich Weber sein persönliches Bekenntnis zur Monarchie als der besten Staatsform selbst noch nach dem Sturze der Hohenzollern bewahrte, während Preuß Republikaner der Geabgcdruckt in: Staat, Recht und Freiheit, S. 3 6 5 — 3 6 8 . Vgl. Erich Eyck, Geschichte der Weimarer Republik, I. Bd.: Vom Zusammenbruch des Kaisertums bis zur Wahl Hindenburgs, Erlenbach-Zürich u. Stuttgart 1954, S. 79 f.; auch den Nadiruf, den der Staatssekretär im Reichsinnenministerium Zweigen Hugo Preuß am 10. Oktober 1925 im Reichsrat widmete (NiedVRR Jg. 1925, § 572). 50
Mommsen, M a x Weber, S. 297, jetzt mit Quellenbeleg; vorher schon Friedrich
C. Seil, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 387. 51
Walter Jellinek, der sich auf die unveröffentlichte
„Aufzeichnung über die
ersten Verhandlungen im Reichsamt des Innern vom 9. bis 12. Dezember 1918 über die
Grundsätze
deutschen
des
der
konstituierenden
Verfassungsentwurfs"
stützte
Nationalversammlung
(Entstehung
und
Ausbau
vorzulegenden der
Weimarer
Reichsverfassung: H B D S t R I, Tübingen 1930, S. 129). Ausführlicher berichtet neuerdings über
die Verhandlungen
des Verfassungsausschusses
W. J. Mommsen,
Max
Weber, S. 350 ff. 52
Vgl. Hugo Preuß, Selbstverwaltung,
Gemeinde, Staat, Souveränität:
Staats-
rechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestag der Doktor-Promotion, 2. Bd., Tübingen 1908, S. 197—245.
Die Länder und die
Reichsverfassung
125
sinnung war, so stellte doch schon Webers Hervorhebung der Persönlichkeit und der Führerauslese in der Politik das Vertrauen auf die Gewißheit einer „natürlichen Aristokratie" in der Gesellschaft der Gleichberechtigung, das Preuß hegte, in den weiteren Folgerungen letztlich in den Schatten. Der von Haus aus eingeschworene Gegner der „Obrigkeitsregierung" 53 war ebenso wie Weber in dem Sinne Demokrat geworden, daß er f ü r die Beteiligung aller, auch der besitzlosen Klassen am Staat eintrat, dafür, daß die politische Willensbildung aus der Institution des allgemeinen gleichen Wahlrechts und dem Personalausleseverfahren der Parteien erwachsen sollte. Doch wenn irgendetwas geeignet wäre, die Klüfte zwischen empirischem und dogmatischem politischen Denken geradezu schlagartig vor Augen zu führen, so könnte dies ein Vergleich der Weberschen mit der Preußsdien Publizistik gerade zu dieser Frage sein. Der Begriff des Volksstaates, den Preuß dem historischen Obrigkeitsstaat entgegenstellte, beruhte auf der Vorstellung einer „vollkommenen Identität des Staates und des politisch organisierten Volkes". 54 Der bestimmende Einfluß von persönlichen Vorbildern und Ideen ist bei Preuß ungleich unmittelbarer spürbar als bei Weber. Den Ansätzen der Genossenschaftstheorie seines Lehrers Gierke getreu, faßte er den „demokratischen Rechtsstaat" 55 als „Selbstorganisation" der Gesellschaft auf5* mit dem dann später stärker hervorgehobenen Ziele einer „Integrierung der Klassen wie der Massenunterschiede" 57 . Dieser demokratische Staat wird durch die Verwirklichung von Rechtsfiguren geschaffen; dies wiederum geschieht systematisch-prinzipell sowohl in konstitutioneller wie in institutioneller Hinsicht. Die Balance der Gewalten nach liberalen Vorbildern, auf die dann Preuß in seiner Verfassungskonzeption zurückgriff, begegnete Ge53 Preuß Jena 1916, Staatsform im K a m p f e
zog in seiner Kriegsschrift, Das deutsche Volk und die Politik, 2. Aufl., S. 57 ( l . A u f l . 1915) das historische Fazit: „Der Kern der modernen ist ihr Gegensatz zur Obrigkeitsregierung, mit der sie historisch überall gestanden hat."
54
a . a . O . , S. 110. Preuß, Staat, Redit und Freiheit, S. 428. 56 Vgl. die Habilitationsschrift von H u g o Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, Berlin 1889, S. 261 ff.; aber auch noch die begründende Denkschrift zum ersten Verfassungsentwurf vom 3. Januar 1919, zuletzt abgedruckt in Staat, Recht und Freiheit, S. 368—394 (bes. S. 370); sowie die letzte, Fragment gebliebene Schrift, Reich und Länder. Bruchstücke eines Kommentars der Verfassung des Deutschen Reiches, aus dem Nachlaß hrsg. v. Gerhard Anschütz, Berlin 1928, S. 58. 55
57
Preuß, Reich und Länder, S. 42 f.
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/• Die Demokratie
der Kompromisse und die Reichsverfassung
von
Weimar
danken und Vorschlägen Max Webers. Es darf indessen nicht übersehen werden, daß auch andere derartige Ideen entwickelt hatten, die sich Preuß zu eigen machen konnte. Sie standen namentlich bei der von ihm ebenfalls konzipierten Institution des plebiszitären Reichspräsidenten Pate.58 Man kann es schon einen verbreiteten Brauch unter den liberalen Staatstheoretikern dieser Zeit nennen, daß sie den Präsidenten gegen den Monarchen im konstitutionellen System auszuwechseln trachtet, so daß der später nicht zu Unrecht geprägte Ausdruck von der „konstitutionellen Demokratie" wohl auch einen hintergründigen Doppelsinn haben konnte.59 Das institutionelle Problem des künftigen Verwaltungsaufbaus suchte Preuß auf der Grundlage der Selbstverwaltung zu lösen, die ihm als liberale Tradition, von seinen eigenen Studien her wie aus persönlicher kommunalpolitischer Erfahrung im besonderen Maße vertraut war und für ihn die Wärme unmittelbarer Lebensnähe besaß. Schon seine Äußerungen in der Vorkriegs- und während der Kriegszeit zielten auf eine Verknüpfung von Selbstverwaltung und parlamentarischer Verfassung hin.60 In seiner Polemik gegen das monarchische Staatswesen der Vorkriegszeit hatte Preuß schon frühzeitig nach ihm geeignet er53 Etwa Erich Kaufmann, Grundfragen der künftigen Reichsverfassung, Berlin 1919, S. 20 ff. Auf den von Preuß nicht selbst bezeugten Einfluß der Theorie des parlamentarischen Regierungssystems von Robert Redslob hat neuerdings Ernst Fraenkel aufmerksam gemacht: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Bd. 219/20), Tübingen 1958, S. 48 ff.; und danadh, teilweise kritisch hierzu, Mommsen, Max Weber, S. 342 ff. 59
Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 200. Außer der Habilitationsschrift, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften, vor allem: Preuß, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, I. Bd.: Entwicklungsgeschichte der deutschen Städteverfassung [mehr nicht erschienen], Leipzig 1906; und Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, Tübingen 1908 (Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband). Uber Preuß: neben der ungedruckten Arbeit von Günther Gillessen, Hugo Preuß. Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, phil. Diss., Freiburg 1955 (Masdischr.) ; das Geleitwort von Theodor Heuss in der Aufsatzsammlung Staat, Recht und Freiheit; die immer noch bemerkenswerte, auch die damalige geistige Position ihres Verfassers charakterisierende geistreiche kleine Schrift von Carl Schmitt, Hugo Preuß. Sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre (Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Nr. 72), Tübingen 1930; Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, Stuttgart 1950, S. 764 ff.; und Hans Herzfeld, Demokratie und Selbstverwaltung in der Weimarer Epoche (Schriftenreihe des Vereins zur Pflege kommunalwissenschaftlicher Aufgaben e. V., Berlin, Bd. 2), Stuttgart 1957, S. 14 ff. 60
Die Länder
und die
Reicbsverfassung
127
scheinenden Mitteln für den großen Versuch zur Überwindung des „Obrigkeitsstaates" Ausschau gehalten und seinen Blick zuerst auf die ihm wohl vertrauten Einrichtungen der kommunalen Selbstverwaltung gerichtet, die er bis zur Höhe einer umfassenden nationalen Anstalt fortbilden wollte. Romantik und Idealismus, Genossenschaftstheorie, nationale Idee und weltbürgerliches Bewußtsein verflocht er auf rationale Weise zu einer denkwürdigen Einheit, die das eigentlich Originelle in seinen Schriften bildete. Dem künftigen Deutschland war es nach der Anschauung von Preuß zugedacht, nicht mehr länger eine fortgesetzte „Stärkung der Staatsgewalt" zu erleben, sondern vor allem anderen „politische Erziehung eines unpolitischen Volkes" zu üben; zu diesem Zweck sollte die „organisierte Volksgemeinschaft" zum „körperschaftlichen Volksstaat" werden und mit einer „Wiederbelebung der Städtefreiheit" beginnen." Dies alles betraf freilich nur den status internus. Außenpolitische Fragen ließ diese idealistische Erörterung gänzlich außer Acht; Weber hatte realistischer gedacht. Man erkennt in dem organischen, keineswegs dogmatisch begründeten, anfangs als großdeutsche Verwirklichung ausgeführten „demokratischen Föderativgedanken" 82 die verpflichtende Position wieder, von der das liberale und nationale Deutschland im 19. Jahrhundert vor seinem Pakt mit dem Preußen Bismarcks den Kampf gegen ein preußisch beherrschtes Kleindeutschland, aber auch gegen die obrigkeitlichen Staatsbürokratien der dynastischen Länder führte. In diesem historischen Kampf wogen politische Programme und Vernunftgründe ungleich schwerer als staatliche Traditionen und bürokratische Gewohnheiten. Sie erklären auch, warum Preuß weit entschiedener und bedingungsloser als Weber an die Beseitigung Preußens dachte und sich weder mit parlamentarischen Reformen noch mit einer Beseitigung oder Minderung seiner verfassungsrechtlichen Hegemonie begnügte. Das Ideal des „aus Selbstverwaltungsbezirken stufenweise aufsteigenden Staatsorganismus" duldete keinen preußischen Einheitsstaat im Verbände des Reiches. Man könnte glauben, Grundsätze wiederzu61
Das deutsche Volk und die Politik, S. 70 ff. u. 90 ff.
62
Dieser Ausdruck ist in der Verfassungsdenksdirift vom 3. Januar 1919 enthalten:
Staat, Recht und Freiheit, S. 392. Man braucht ihn keineswegs als Kompromiß oder Zugeständnis an süddeutsche Gegenkräfte anzusehen. Ein Bekenntnis zum „Bundesstaat" in der Form eines „aus Selbstverwaltungsbezirken stufenweise aufsteigenden Staatsorganismus"
als dem „ I d e a l . . .
des modernen Staates" findet sich schon in
einer Schrift von 1887, Nationalitäts- und Staatsgedanke: Staat, Recht und Freiheit, S. 536.
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/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
erkennen, die der schwäbische Liberale Paul Pfizer im Vormärz mehrmals ausgesprochen hatte, sobald man gewahr wird, in welcher Weise Preuß den Gedanken abwandelte, den historischen Hegemonialstaat in eine Anzahl souveränitätsloser großer Selbstverwaltungsbezirke mit begrenzter Gesetzgebungsgewalt aufzugliedern, die größeren unter den übrigen deutschen Staaten — mit vereinfachten und revidierten Grenzen — ihnen gleichzustellen und die kleineren in ihnen aufgehen zu lassen83. Preuß wurde hierdurch nicht nur zum Vater der liberaldemokratischen Staatsreform, sondern auch zum Vater der Gliederungsproblematik innerhalb einer über das Verfassungswerk von Weimar sich fortsetzenden Reichsreform. Blieben in Preußen nach den Steinschen Reformen kommunale Selbstverwaltung und staatliche Verwaltung streng voneinander getrennt, so verlangte nun die „organisatorische Rechtsidee" von Preuß eine „einheitliche genossenschaftliche Organisation von unten herauf", die eine „äußerste Erweckung des Gemeingeistes durch die Teilnahme des Volkes am öffentlichen Leben, der Regierten an der Regierung" erreichen"4 und die, einem universalen nationalpädagogischen Erziehungssystem gleich, den teilnehmenden Bürger aus dem engeren Kreis kommunaler Erfahrungen Schritt für Schritt bis an die großen Dinge der Politik heranführen sollte. Das war ein kühner idealistischer Plan von gewaltigen Ausmaßen, der bei der Lage der Verhältnisse, wenn je, dann nur durch eine vollständige Umbildung des Verfassungsrechts auf den Weg der Reformen gebracht werden konnte. Er enthielt nicht nur das Projekt einer Vereinheitlichung des Kommunalrechts, das bis in die preußischen Provinzen hinein zersplittert war, sondern auch — was noch viel schwerer wog — die Befreiung der Selbstverwaltung und ihre Ermächtigung zu „selbständigem Handeln" und schließlich die Bildung einer „Mehrheit von beschränkt autonomen kommunalen Gebietskörperschaften, deren organische Einheit die staatliche Gebietskörperschaft" bilden sollte. Die Republik als vollkommenes Gebilde eines selfgovernment etwa nach englischem Muster, in dem sich local und central government ihrem Prinzip nach widerspruchsfrei ineinanderfügen, war ein fast utopisch erscheinendes Ideal63 Der Hinweis auf Pfizer findet sich bei Theodor Heuss, Friedrich Naumann, S. 462 f.; über Pfizer die Arbeit von Cornelia Popitz, Paul Pfizer und sein „Briefwechsel zweier Deutschen", phil. Diss., Freie Universität Berlin 1951 (Maschschr.), 64 Entwicklungsgeschichte des deutschen Städtewesens, S. 278. Vgl. auch die Besprechung der Geschichte des englischen selfgovernment von Josef Redlich durch Preuß, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränität, S. 206 ff.
Die Länder und die
Reichsverfassung
129
bild, das in dieser inneren Konsequenz kaum jemals dargestellt worden war und das in der deutschen Realität beträchtliche Widerstände gewärtigen mußte. Jeder Versuch eines Neubaus des Reiches stieß auf die schwierige Problematik der Länderstaatlichkeit und warf überdies die Frage nach der Existenz des preußischen Staates und seiner historischen Organisationsform mit der zweistufigen Mittelinstanz auf. Nach Preuß hätte die theoretische Alternative bestanden, die Selbstverwaltung bis zur Provinzial- und Landesebene emporzuführen und auszubilden und Länder und Provinzen zu gleichrangigen Selbstverwaltungskörpern höherer Ordnung werden zu lassen oder die Länder einem allmählich fortschreitenden Einebnungsvorgang zu überantworten und als Mittelbehörden zu Instanzen der staatlichen Verwaltung ohne politisches Schwergewicht zu machen, also dem alten Status der Provinzen Preußens anzugleichen, um die lokale Selbstverwaltung und gleichzeitig die Reichsgewalt zu stärken. Die Neugliederungsidee, die von der Liquidation der gesamten historischen preußischen Erbschaft ausging, verbunden mit der Doktrin von der Wesensgleichheit der Gebietskörperschaften lokaler wie regionaler Art, hat von Anbeginn an den Weg der Verwirklichung der Preußschen Verfassungspläne besonders beschwerlich gestaltet. Mehr als partielle Erfolge standen hier kaum zu erwarten. Preuß selbst scheint sich auch bald schon keinen großen Täuschungen hierüber mehr hingegeben und absehbaren Kompromissen beträchtliche Reservationen eingeräumt, unter dem Eindruck späterer Entwicklungen sogar einige seiner wesentlichen Absichten abgeleugnet zu haben. 65 Dem historischen Betrachter entgeht nicht der Anschein mangelnder Konsequenz oder fehlender Entschlossenheit, nicht das Widersprüchliche in der Durchsetzung seiner Pläne. E r muß aber auch das taktische Geschick in Rechnung stellen, daß Preuß zumindest zeitweilig, wenn auch nicht mit gleichbleibendem Erfolg, an den T a g legte. Allerdings lassen sich hiermit nicht alle Widersprüche erklären. Eine endgültige Aufhellung wird noch anderer als der bisher bekannten Quellen bedürfen. Bereits in den Verhandlungen des Verfassungsausschusses im Reichsamt des Innern war die Alternative zwischen Einheitsstaat und Föderativstaat die von A n f a n g an heftig umstrittene "zentrale Frage". 6 " Schon in diesem Gremium, daß Preuß zusammengerufen hatte, deu65 Mommsen, Max Weber, S. 355, erwähnt eine Behauptung von Preuß, daß der später umstrittene § 11 des ersten Verfassungsentwurfes von Weber formuliert worden sei, und weist ihre Unrichtigkeit nadi. •• Mommsen, a . a . O . , S. 351.
9 Sdiulz I
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I- Die Demokratie
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und die Reichsverfassung
von Weimar
teten sich die Parteiungen an, die dann die Geschichte der Republik von Weimar beherrschen sollten. Die Sozialisten verschiedener Richtungen, Max Quarck, der österreichische Gesandte Ludo Moritz Hartmann und Joseph Herzfeld, vertraten die unitarische Richtung, der in seinem Bemühen um die Aufteilung Preußens auch Preuß und sein engster Mitarbeiter im Reichsamt des Innern, der dort für Verfassungsfragen zuständige Geheimrat Alfred Schulze, zuneigten. Die Rolle einer Opposition ergriff M a x Weber, der entschlossen war, das Faktum zu akzeptieren, daß sich die Einzelstaaten und ihre Bürokratien längst auf dem festen Boden gesicherter Realitäten befanden. Inwieweit er schon zu diesem Zeitpunkt hiermit im Recht war, mag dahingestellt bleiben. Die Frage erübrigt sich, da eine allgemeine Tendenz zweifellos erfolgreich in diese Richtung drängte und der Rat der Volksbeauftragten nach Lage der Dinge keinesfalls imstande gewesen wäre, diese Entwicklung zu hindern, selbst wenn er es versucht hätte. Am allerwenigsten aber konnten sich das Reichsamt des Innern oder dieser Verfassungsausschuß flüchtiger Existenz als Instanzen betrachten, die der teils im Gange befindlichen, teils vollzogenen Entwicklung vermittels verfassungspolitischer Programme Halt zu gebieten und die Dinge in andere Bahnen zu lenken vermochten. Max Weber hatte gewiß nicht Unrecht, wenn er mit gewohnter Leidenschaft gegen theoretische Spekulationen doktrinärer Unitarier zu Felde zog und die Uberzeugung kundtat, daß „ein weitgehender Föderalismus durch die Tatsachen gefordert [werde], so sehr an sich der Unitarismus vorzuziehen sei".' 7 Hierbei sah er sich von Riezler, dem Vertreter des Auswärtigen Amtes, dem Unterstaatssekretär Lewald vom Reichsamt des Innern und dem demokratischen Hamburger Senator Petersen unterstützt, die von Haus aus keineswegs Föderalisten waren. Dem Staatenhaus-Vorschlag von Preuß nach dem Muster der Paulskirchenverfassung stimmte Weber, der ihn selbst mit unverkennbarer Sympathie erörtert hatte, schließlich zu; er setzte jedoch eine Einschränkung der Delegiertenstimmen des größten Staates auf höchstens ein Drittel der Staatenhausmitglieder durch, die sich nur gegen Preußen auswirken konnte. Weber ließ sich aber auch für andere erhebliche Eingriffe in das bisherige Dasein der Einzelstaaten gewinnen. Es gehört zu den merkwürdigen Paradoxa, an denen die Verfassungsgeschichte der deutschen Republik keineswegs arm ist, daß gerade die am meisten umstrittenen Bestimmungen des Entwurfes unter seiner Mommsen, a. a. O., S. 353, dem auch weitere Einzelheiten über die Verfassungsverhandlungen vom 9. bis 12. Dezember zu entnehmen sind.
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maßgeblichen Mitwirkung zustande kamen. Von diesem Ergebnis her betrachtet, hat auch er noch die wirkliche Stärke der derzeitigen Triebkräfte des Föderalismus bei weitem unterschätzt. Form und Existenz der Staaten erblickte er im Grunde doch zu sehr vor dem Hintergrund der Vergangenheit und ihrer gewohnten Gegebenheiten, so daß ihm die neue Belebung der Eigenstaatlichkeit, die sich sowohl in Preußen wie in Bayern und in manchem der kleineren Staaten auch außerhalb der von Weber im übrigen zweifellos richtig eingeschätzten Beharrungskraft der Bürokratie vollzog, in ihrer vollen Bedeutung zuletzt doch entging. Überdies ist ihm auch eine Überschätzung der unitarischen Grundsätze der Sozialdemokratie unterlaufen, in der die seit längerem zur Gewohnheit gewordene, wenn auch nicht immer ausgesprochene Scheidung von nahen und fernen Zielen die Folge hatte, daß sie zwar den Charakter eines Bekenntnisses gewannen, ihre unmittelbare politische Verbindlichkeit jedoch von Ort zu Ort, von Fall zu Fall und nach mannigfachen Gegebenheiten wechselte. Die sozialistischen Unitarier, die ihm im Verfassungsausschuß gegenübersaßen und deren Einwände Weber ebenso wie Preuß berücksichtigen mußte, zählten keineswegs zu den Führern der SPD und der USPD in den Ländern, die ihre eigene Politik betrieben und bei diesen Beratungen nicht zu Worte kamen. Dem Kritiker der Bürokratie und ihres politischen Einflusses mußte es schon beinahe Selbstverständlichkeit sein, Hugo Preuß darin zu unterstützen, daß der Einfluß des Reiches auf die Verwaltungspraxis in den Einzelstaaten im Verhältnis zur Vergangenheit erheblich verstärkt wurde. Von ihm rührte der Gedanke her, zu diesem Zweck Normativbestimmungen in die Reichsverfassung aufzunehmen und der Kontrolle eines Reichsverwaltyngsgerichts zu unterwerfen. Preuß fand die stärkere Lösung der Anweisungs- und Kontrollbefugnis des Reiches, deren Aussichten Weber wegen des vermuteten Widerstandes der Staaten jedoch recht skeptisch beurteilte. Und da er, wie er es früher ausgesprochen hatte, eine vereinfachende Revision der politischen Landkarte zwar für schwierig, aber doch letztlich wünschenswert hielt, vermochte ihn Preuß auch für den Gedanken zu gewinnen, neue Staatenbildungen von Reichs wegen zu fördern. Obgleich Weber erklärte, daß er an einen „Zerfall Preußens in mehrere Staaten" nicht glauben könne, arbeitete er für den später so umstrittenen Neugliederungsparagraphen 11 des ersten Verfassungsentwurfs sogar einen eigenen ausführlichen Vorschlag aus, der eine überaus komplizierte Prozedur unter Einschaltung der Volksinitiative und des Reichspräsidenten vorsah, die Preuß allerdings wesentlich vereinfachte, ehe er ihn in
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I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
seinen Entwurf aufnahm. Die Mindesteinwohnerzahl eines zum „Staat" erhobenen Verwaltungsbezirks, die Weber entgegen seinen im November geäußerten Gedanken auf drei Millionen hinaufgeschraubt hatte, setzte Preuß wieder auf zwei Millionen herab; überdies führte er eine Bestimmung ein, die auch die Vereinigung einzelner Staaten miteinander ermöglichen sollte, was die Bestimmung dieses Paragraphen auch außerhalb Preußens anwendbar und damit belanglos machte. Von Weber rührten auch die Normativbestimmungen des § 12 des ersten Entwurfes her, die in der äußerlich milden Form von Reichsgarantien das demokratische Wahlrecht für die Volksvertretungen der „Freistaaten" und die Vertretungskörperschaften der Gemeinden, das Vertrauensvotum für die Regierungschefs der Staaten — „verantwortliche Verwaltungsleiter" nannte sie Weber bezeichnenderweise — und das Enqueterecht für Länder und Gemeinden einführten und die Selbständigkeit der Gemeindeverwaltungen, jedoch unter Vorbehalt der Kontrolle der Gesetzmäßigkeit ihrer Maßnahmen und der Finanzgebarungen, gewährleisteten. Die Reichsgarantie wollte Weber mit dem Recht zur Anrufung des Reiches durch Volksinitiative oder parlamentarische Minderheiten, der Einschaltung des Staatsgerichtshofes und auch des Reichspräsidenten besonders wirksam gestalten. Diese verfassungsmäßig-institutionelle Verankerung der Demokratie in den Staaten und Gemeinden mag im Hinblick auf die Gefahr monarchischer Restaurationsversuche als ausreichend angesehen werden; sie sicherte eine formale politische Homogenität, sah indessen noch keineswegs den Konfliktsfall voraus, der sich bei gänzlich voneinander verschiedener Zusammensetzungen der Parlamente des Reiches und der Länder denken ließ, sofern man eine radikale Zuspitzung der parteipolitischen Verhältnisse in Rechnung zog. Daß Weber die Möglichkeit von Konflikten zwischen Institutionen des Verfassungsrechts überhaupt nicht ernsthaft in Betracht zog, mag wohl auf die starke, zur Herstellung des Ausgleichs befähigende Stellung des plebitszitären Reichspräsidenten zurückzuführen sein, die er im Sinn hatte und die auch in diesen Verhandlungen sein wichtigstes Anliegen gewesen zu sein scheint, mit dem er sich jedoch gegen den hartnäckigen Widerstand der Sozialdemokraten nur zum Teil und nur dank eines geschickten Kompromißvorschlages von Preuß durchsetzte. In dem unmittelbaren „Kompromißprodukt" des Verfassungsausschusses kann man weder einen Sieg der einen noch einen der anderen Auffassung sehen. D a ß Preuß manche saloppe Formulierung schärfer und präziser oder auch juristisch praktikabler und weniger angreifbar
Die Länder und die
133
Reicbsverfassung
zu fassen wußte, dürfte ihm freilich eine letzte Überlegenheit gesichert haben. Widersprüche lassen sich bei Weber wie bei Preuß aufzeigen. Ihre Ursachen, die wohl auch in manchen Imponderabilien des Ablaufes dieser Tage vom 9. bis zum 12. Dezember verborgen liegen, sind auf Grund der Aufzeichnungen über die Verhandlungen sicherlich nicht vollständig zu erklären; hier sind nur die Ergebnisse festzuhalten. Wie jüngst bekannt geworden ist, versuchte Weber, Preuß nachträglich noch einmal von der Richtigkeit seines Bundesrats-Vorschlags zu überzeugen. Nach der Rückkehr in seine süddeutsche Umgebung waren ihm erneut Bedenken gekommen, daß der Verfassungsentwurf den Staaten zu viel auferlegte, was sie nicht zu tragen bereit waren. Besorgt und mahnend schrieb er an Preuß: „Nie werden die Einzelstaaten-Regierungen sich aus der mitbeschließenden Stellung auch in der Verwaltung herausdrängen lassen"."8 Hierin sollte er freilich Recht behalten. Das System mit dem Reichspräsidenten und dem Bundesrat an der Reichsspitze, zu dem Weber nun wieder zurückkehrte und das er während der weiteren Verhandlungen in der Öffentlichkeit in Schrift und Rede durch beharrliches Eintreten für den aus der unmittelbaren Volkswahl hervorgehenden Reichspräsidenten mit dem Initiativrecht zum Volksreferendum ohne Gegenzeichnung, als Haupt der Reichsexekutive und Herrn über die Reichsexekution nachdrücklich zu fördern versuchte," scheiterte an dem beharrlichen Widerstand der Sozialdemokraten und der Unabhängigen. Nachdem seine Kandidatur für einen Sitz in der Verfassunggebenden Nationalversammlung nicht zustande gekommen war, lieh Weber in dieser hart umkämpften Frage noch einmal den Sprechern der Demokratischen Partei im Verfassungsausschuß zu Weimar, Koch-Weser und Friedrich Naumann, seine indirekte Unterstützung. Die unvollkommene Lösung, die auf die Dauer keine der streitenden Parteien befriedigte, mußten sie als Niederlage mit ihm teilen; nichtsdestoweniger teilten sie kaum einen seiner Beweggründe, am wenigsten seine Idee der dualistischen, den Parlamentarismus mediatisierenden Reichsspitze. Den ersten Entwurf einer Reichsverfassung, den Preuß auf Grund der Verhandlungen des von ihm zusammengerufenen Ausschusses fertigstellte 70 und mit einer ausführlichen Begründung Anfang Januar 1919 vorlegte, bot, wenn auch nur als „allgemeiner Teil der künftigen •8 Von Mommsen, a . a . O . , S. 3 6 6 , zit. B r i e f Webers an Preuß vom 2 5 . 1 2 . 1 9 1 8 . "
Vgl.
den
Aufsatz
in
der
Berliner
Börsenzeitung:
Der
Reichspräsident
( 2 5 . 2 . 1 9 1 9 ) : Ges. politische Schriften, S. 3 9 0 — 3 9 3 . 70
Dieser erste E n t w u r f (Vorentwurf) wurde nicht veröffentlicht. E r ist abgedruckt
134
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Reichsverfassung" gedacht, ein geschlossenes Bild von bemerkenswerter Vollkommenheit. Führt man sich die Ideen, die Preuß vor dem Kriege publiziert hatte, sowie die Zeitumstände vor Augen, den Stand der Zentralisation, die der Krieg gebracht hatte, so wird man hinter diesem Verfassungsprojekt ein Programm erkennen, das von der Konzeption, die Max Weber vertreten hatte, in beträchtlichem Maße abwich. Der Entwurf sah eine verstärkte Selbstverwaltung der Gemeinden vor, was auf Kosten der zentralisierten Staaten ging, deren Beamte hinsichtlich der Ausführung von Reichsgesetzen der unmittelbaren Dienstaufsicht und Dienststrafgewalt des Reiches unterstellt wurden. Folgerichtig beschränkten die Grundsätze für die Landesverfassungen auch die Staatsaufsicht über die Gemeinden, erklärten sie die Ortspolizei zur Sache der Gemeinden und räumten sie sogar den kommunalen Vertretungskörperschaften das Recht zu öffentlichen Untersuchungen gegenüber Regierung und Staatsverwaltung ein. Die kommunale Selbstverwaltung erhielt also bedeutsame Rechte auf Kosten der „Freistaaten", nicht minder aber auch die zentralen Organe des Reiches. Mit dem Staatenhaus räumte Preuß den Staaten wohl auch Einfluß auf die Reichsgesetzgebung ein, jedoch nicht auf die Verwaltung; und nicht die Regierungen bestimmte er als delegierende Autoritäten, wie es dem Konstruktionsprinzip des Bundesrats und auch den Weberschen Vorschlägen entsprochen hätte und später beim Reichsrat auch wirklich der Fall war, sondern die Landtage. Dem Reich hingegen wurde das unmittelbare Eingriffsrecht in die Verwaltungen der Freistaaten zugestanden, soweit es sich um die Durchführung von Reichsgesetzen handelte, für die dem Reich keine eigenen Behörden zur Verfügung standen. Mit meisterlicher Hand hatte der Staatssekretär die unitarische Linie, die in den Besprechungen sichtbar geworden war, hervorgehoben und diesem Verfassungsplan deutlich einen einheitsstaatlichen Gesamtcharakter gegeben. Zwar sprach der § 1 noch in einer auf Max Weber zurückgehenden Formulierung 71 von den „bisherigen Gliedstaaten"; dies blieb aber unverkennbar bloß historische Anknüpfung und diente in der Quellensammlung zum deutschen Reichsstaatsrecht, zusammengestellt von Heinrich Triepel, 3. Aufl., Tübingen 1922, S. 7—11. Uber den Inhalt der einzelnen Entwürfe unterrichtet Walter Jellinek, Revolution und Reichsverfassung: J b ö R IX/1920, S. 46 ff. Der bis heute einzige geschlossene Versuch einer Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Weimarer Reichsverfassung ist die Darstellung von Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, Mündien 1946. 71
Mommsen, a. a. O., S. 365.
Die Länder und die
Reichsverfassung
135
der Feststellung des Gebietskörpers des Reiches. Die Gliederungsbestimmung des Entwurfes ging nicht vom Reich als einem Bund von „Freistaaten" aus, sondern setzte das Ganze des Reichsgebietes als gegebene Einheit voraus und lehnte sich allenfalls noch mittelbar an historische Größen an. Freilich wurde Preußen von diesem Prinzip am stärksten betroffen, so daß man, mit einem gewissen Vorbehalt in bezug auf den Gebrauch dieses Begriffs, sagen kann, daß Preuß mit der Unitarisierung des Reiches die Auflösung Preußens anstrebte. Der § 29 teilte das gesamte Reichsterritorium unter Einschluß Deutsch-Österreichs und Deutsch-Böhmens provisorisch — „bis sich die neuen Freistaaten gebildet haben" — in 16 „Gebiete" ein,72 die, der Begründung zufolge, zu möglichst „potenzierten Selbstverwaltungskörpern" ausgestaltet werden sollten, so daß man auch ohne allzu große Phantasie schon in diesem Entwurf die Grundzüge des „dezentralisierten Einheitsstaates" späterer Erörterungen erkennen kann. Sehr sicher war sich Preuß seiner Sache aber doch wohl nicht. Hierfür spricht die Aufnahme der im Dezember diskutierten Prozedur zur Staatenbildung in die Bestimmungen des § 11, die die Frage offen läßt, ob hier oder ob im Neugliederungsgedanken doch nur die Töne einer Zukunftsmusik angeschlagen wurden. Weber dürfte schwerlich an eine Vorwegnahme der Reichsneugliederung durch Verfassungsnormen gedacht haben; aber auch Preuß scheint sich einen Rückzug auf die Position des Heidelbergers zumindest offengehalten zu haben, denn in der Begründung finden wir den Satz: „Diese Umgestaltung [d. i. die Neugliederung] . . . kann freilich nicht einfach von oben her dekretiert werden, vielmehr muß die freie Selbstbestimmung der Bevölkerung... die Initiative ergreifen, das Reich nur leitend . . . wirken" 73 . Diese Bemerkung entsprach ohne jeden Zweifel dem Sinn des § 11 und der Absicht seines Verfassers. Es erhebt sich aber die Frage, welche Bedeutung dann überhaupt noch der Aufnahme der Gebietsgliederungsbestimmung in den Verfassungsentwurf zukommen konnte, von der die Begründung an anderer Stelle sagte: „Es wäre gewiß eine ungemeine Erleichterung für das neue Verfassungswerk, wenn es darauf verzichten könnte, diese heikle und gefährliche Frage anzupacken; jedoch würde dieser Verzicht zugleich die Verpfuschung des neuen Verfassungswerkes selbst bedeuten" 71 . Es fällt schwer, sich des Eindrucks 72 Ihre Namen lauteten: Österreich, Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Thüringen, Obersachsen, Rheinland, Westfalen, Niedersadisen, Brandenburg, Schlesien, Preußen, Hamburg, Bremen, Lübeck, Wien und Berlin. 7 3 Staat, Recht und Freiheit, S. 379.
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I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
zu erwehren, daß Preuß zwei zwar theoretisch und formal miteinander zu vereinbarende, aber angesichts ihrer Vorgeschichte und ihrer Begründung schlechterdings miteinander unvereinbare Bestimmungen aufnahm, um sich für den weiteren Gang der Erörterungen eine taktische Reserve zu verschaffen und zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten offenzuhalten. Mit dem Plan einer Neugliederung Deutschlands nach rationalen Prinzipien drang Preuß aber schon in der Vorbereitungsphase der Reichsverfassung nicht durch. Die Erwägungen, die die Volksbeauftragten am 14. Januar anhand dieses Entwurfs anstellten, 15 bezeugen, daß sich dieses Gremium selbst nach Auszug der Unabhängigen nur unter größten Schwierigkeiten zu gemeinsamen Auffassungen gegenüber diesen neuen und unbekannten Problemen durchrang. Wenn es diesem Entwurf nach verhältnismäßig geringfügigen Abänderungen zustimmte, so lag dies an den unentschlossenen Einsprüchen und an der überlegenen Art, mit der Hugo Preuß seinen Vorschlag erfolgreich zu verteidigen wußte. Unter den wichtigsten Änderungen, die Preuß zugestand, zählten die Aufnahme der von Ebert „aus politischen und taktischen Gründen" verlangten „scharfen, ins Auge fallenden Betonung gewisser demokratischer Gesichtspunkte: persönliche Freiheit, Freiheit der Wissenschaft in ihrer Lehre, Gewerbefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw.", sowie die Streichung des § 29, der die Reichsgliederungsbestimmung enthielt. Die Frage der Grundrechte entschied der Geheimrat Schulze mit der Bemerkung, er „werde sie aus der 48er Verfassung abschreiben, soweit sie" noch paßten. Am stärksten zeigten sich die Volksbeauftragten über die Zukunft Preußens beunruhigt. Daneben befremdete die Bestimmung über das Staatenhaus, die am Ende aber diesmal noch ohne Einsprüche hingenommen wurde, und schließlich die vorgesehene starke Stellung des Reichspräsidenten, an der gerade Ebert Anstoß nahm, der wohl fürchtete, sie in dieser Form seinen Parteifreunden nicht zumuten zu können. Der Unentschiedenheit der regierenden Sozialdemokraten verhalf niemand so deutlich und so wortreich zum Ausdruck wie der Volksa. a. O., S. 370. 75
Stenogr. Aufzeichnung über die Sitzung der Volksbeauftragten am 14. 1. 1919
in der Reichskanzlei, B A , R 43 1/1863. Anwesend waren die Volksbeauftragten Ebert,
Scheidemann,
Landsberg
und
Wissel,
Leinert,
der
spätere
Präsident
der
verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung, die Staatssekretäre der Reichsämter Preuß, G r a f Rantzau, v. Krause, Unterstaatssekretär Schröder, der preußische Kriegsminister Oberst Reinhardt, Ministerialdirektor Meuschel und Geheimrat Schulze.
Die Länder
und die
Reichsverfassung
137
beauftragte Landsberg. Zu Beginn der Beratung nannte er es noch das entscheidende Ergebnis der Revolution, daß mit ihr das Gesetz, nach dem Preußen existiert hatte, abgelaufen war: „Preußen hat seine Stellung mit dem Schwert erobert, und dieses Schwert ist zerbrochen. Wenn Deutschland leben soll, muß Preußen in der bisherigen Gestalt sterben". Bis zum Ende der Konferenz hielt diese Stimmung allerdings nicht vor. Der demokratische Grundsatz der Selbstbestimmung zwang ihm doch auch wieder Bedenken auf, da er ihn nicht gegen, sondern f ü r Preußen anwenden zu müssen glaubte. Das Selbstbestimmungsrecht, das den anderen deutschen Staaten gewährt werden sollte, wollte er Preußen nidit vorenthalten. Nicht nur das gesamtstaatliche Interesse einer deutschen Demokratie sprach mit, sondern auch die Berufung auf ein „preußisches" Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung innerhalb des gesamten preußischen Staatszusammenhanges. Das war eine überraschende neue Konstruktion, deren Urheber den Konflikt mit einem ganz anders gearteten, im Rheinland, in Oberschlesien wie in Ostpreußen denkbaren Selbstbestimmungsanspruch der Provinzen, die aus dem alten Staatsgebilde herausstrebten, nicht einmal zu ahnen schien. Landsbergs Äußerungen führen mit bezwingender Eindeutigkeit vor Augen, wie sehr die sozialdemokratischen Führer in der politischen Umwälzung weitgehend eine „antidynastische" Bewegung sahen, die ihr Ziel nun nahezu erreicht hatte. Landsberg war es auch, der Verhandlungen mit den Ländern vorsdilug und diese als erster erneut ins Spiel brachte. Es scheint, daß unter den Volksbeauftragten nur noch die preußische Karte stach, seitdem der preußische Kriegsminister Reinhardt offenbar eindrucksvoll die Preußen „innewohnende staatenbildende Kraft" ins Feld geführt und den Standpunkt des Heeres umrissen hatte: „Es ist sehr die Frage, ob ohne ein starkes Preußen die so sehr verschiedenen Teile Deutschlands zentripetale Kraft [genug] besitzen, um der Versuchung zu widerstehen, mit außerdeutschen Nachbarstaaten in Verbindung zu treten". Da man sich f ü r den Preußschen Neugliederungsvorschlag nicht erwärmen konnte und ein deutscher Einheitsstaat vorerst unrealistisch blieb, wie Weber voraussah und worüber sich auch die Volksbeauftragten einig wurden, erschien nun gerade die Erhaltung des preußischen Machtgebildes in seiner hegemonialen Bedeutung als das erste Gebot der Stunde, wie der anwesende Militär so anschaulich darzulegen wußte. Vom „Ablauf des Gesetzes", das diesen Staat regiert hatte, w a r fortan nicht mehr die Rede. Die sozialdemokratische Politik entwickelte sich von diesem Tage an in doppelgleisiger Bahn: In Ver-
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/. Die Demokratie
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und die Reicbsverfassung
von Weimar
Handlungen mit den Staatenregierungen versuchte sie so viel wie möglich von einem deutschen Einheitsstaat zu verwirklichen, zumindest „die Einheit in der Reichsgesetzgebung und Reichsverwaltung beim Postwesen, Eisenbahnwesen, Schulwesen, Steuerwesen", wie Ebert formulierte; doch für die nächste Zukunft behauptete sie den preußischen Einheitsstaat, in dem sie einstweilen über eine sichere Position verfügte. Hierin gab es zwischen Volksbeauftragten, Zentralrat und preußischer Staatsregierung keinerlei Differenz. Die einheitsstaatliche Organisation des Reiches blieb ferneres Ziel der S P D ; um das mögliche Nächste zu erreichen, verlangte sie, das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung auf die Existenz der einzelnen Staaten zu beschränken. Friedrich Ebert fand die verbindende Formel, daß die Reichseinheit nur „auf föderativer Grundlage" verwirklicht werden könnte, also in der Weise, daß er auf den „demokratischen Föderativgedanken" von Hugo Preuß zurückgriff. Er beschritt den Weg seiner Gefährten mit sichtlichem Zögern und vermochte sich offenbar mit dem Gedanken einer neuen preußischen Hegemonie noch nicht so schnell auszusöhnen. In erstaunlicher Übereinstimmung mit Max Weber noch mehr als mit Preuß, der in seinem Kreis für die bürgerliche Linke sprach, hielt Ebert an der Meinung fest, daß Preußens Machtstellung innerhalb des Reiches sorgsam begrenzt werden müsse. Ungleich leichter machte es sich hingegen Scheidemann mit der fatalistischen Feststellung, der deutsche Einheitsstaat sei eben nicht zu verwirklichen. Dieser in seiner Partei überaus populäre Mann dürfte damit freilich die Empfindungen vieler Parteianhänger ausgedrückt haben, die es für das Klügste hielten, sich auf das einmal Erreichte zu beschränken. Die treibende Kraft war und blieb aber auch weiterhin Hugo Preuß, der nun jeden einzelnen Teil seines Entwurfs mit sehr gründlichen Erläuterungen versah. Er bekannte sich jetzt mit auffälligem Nachdruck zum Föderalismus und zu einem Föderativstaat, der jedoch nicht an den bestehenden politischen Gebilden haften sollte. Man möchte annehmen, daß einige Gedanken Max Webers selbst noch nach den Verhandlungen im Dezember ihren Eindruck auf Preuß nicht verfehlten und sich als fruchtbare Anregungen niederschlugen. Doch fortan wird man in dem Berliner Staatsrechtler den entscheidenden Mann der Staatsreform sehen müssen, den die Revolution nach langem Harren endlich zum Zuge gebracht hatte und der nun mit wachsendem Erfolg seine Ideen entfalten konnte. Freilich begannen sie sich jetzt mit erkennbaren Fortschritten, sicherlich unter dem Einfluß der „bundesstaatlichen" Erklärungen der süddeutschen Staatenkonferenz
Die Länder
und die
Reichsverfassung
139
in Stuttgart, 7 9 von dem Druck des anfangs vorherrschenden Unitarismus zu lösen. Des bundesstaatlichen Grundsatzes wegen restaurierte er die Stellung der Einzelstaaten nun auch durch Übernahme der Staatenhauskonstruktion in seinen E n t w u r f , die jetzt eine merkwürdige repräsentative Durchbrechung der plebiszitären Lineatur in der K o n struktion der obersten Reichsorgane bildete. In Übereinstimmung mit Weber wollte er in ihr die Parteien, keinesfalls die Regierungen der Staaten zu Worte kommen lassen, von denen er befürchtete, daß sie das Staatenhaus als eine gesicherte Bastion benutzten, in der sie auf lange Sicht ihre Rechte verschanzen konnten. Einer vollständigen und dauerhaften
Restauration
der einzelstaatlichen
Rechte
aber
wollte
Preuß als erklärter Gegner partikularer Souveränitätsansprüche jedoch um keinen Preis die H a n d bieten. Es mag wohl sein, daß er manche der späteren Gefährdungen, in die die Konflikte zwischen Reich und L ä n dern die Republik stürzten, hellsichtig voraussah und befürchtete und in vorausschauender Fürsorge auszuschalten suchte So beharrte er auch nach Aufgabe der nicht mehr länger haltbaren generellen Neugliederung bei der Möglichkeit einer
fließenden
Veränderung
der alten
Grenzziehungen im norddeutsch-preußischen Staatengebiet. Alle seien sich darüber einig, stellte Preuß fest: „Der größte Bundesstaat muß kleiner werden und die kleinen Bundesstaaten müssen größer werden". U n d er wollte „durchaus damit einverstanden sein, wenn die preußische Nationalversammlung eineLiquidationsVersammlung sein würde". Allerdings gewinnt man den Eindruck, daß der C h e f des Reichsamts des Innern es aber doch vermied, Sozialdemokraten wie Landsberg und Militärs wie Reinhardt allzu frontal gegenüberzutreten: denn in Bezug auf praktische Ziele und Wege versagte er sich mit peinlicher Sorgfalt '* A m 2 7 . u n d 2 8 . D e z e m b e r von Bayern, Württemberg
f a n d d o r t eine Aussprache der
Regierungen
und B a d e n statt, die den Beschluß faßten,
1918
„gemeinsam
a u f eine Neueinrichtung des Reichs a u f bundesstaatlicher G r u n d l a g e " , a u f Schaffung einer
„aktionsfähigen
wirken.
Bemerkenswert
Aufgabe"
der
Reichsregierung" ist
eine
Länderregierungen
Stelle
und
auf
dieser
einen
Erklärung,
bezeichnete,
„die
baldigen die es
deutsche
Frieden als
hinzu-
„vornehmste
Einheit
vor
jeder
E r s c h ü t t e r u n g zu b e w a h r e n . . . Sie lehnen ausdrücklich jede Sonderbündelei ab und halten a m
Reich
in seiner bundesstaatlichen
alle G a u e in Deutschland
Gestaltung
fest. D a m i t
bewahren
v o r den i m m e r deutlicher e r k e n n b a r e n N a c h t e i l e n
sie
einer
ausschließlichen Z e n t r a l v e r w a l t u n g , die unsere L a n d e s r e g i e r u n g e n zu u n t e r g e o r d n e t e n P r o v i n z i a l b e h ö r d e n herabdrücken w ü r d e " . ( D G R , S. 5 1 5 f.) D i e T e n d e n z , die P r e u ß in Berlin n ä h r t e , h a t t e m a n hier also e r k a n n t . E n t g e g e n den Absichten Eisners hielt m a n es jedoch für klüger, Reichsfreundlichkeit an den T a g zu legen. H i e r z u Schwend, B a y e r n zwischen M o n a r c h i e u n d D i k t a t u r , S. 5 4 f.
auch
140
I. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
jeden neuen eindeutigen eigenen Vorschlag. Berücksichtigt man demgegenüber die großzügigen Gliederungspläne, die der Entwurf enthalten hatte und die bezeugen, daß es Preuß durchaus nicht an Kühnheit der Vorstellung gebrach, so möchte man annehmen, daß er selbst seinen Verfassungsvorschlag kaum anders denn als ein sorgfältig durchdachtes Experiment betrachtete. Nachdem ihn die Einwände Max Webers nicht überzeugen konnten, erprobte er auf diese Weise Art und Stärke der Widerstände. Das dürfte seine Bereitschaft, Kompromisse zu schließen, in etwa erklären. Die Uberzeugung, „nicht einfach von oben dekretieren" zu dürfen, wog für den gesinnungsstarken Gegner jedes obrigkeitlichen Ordnungstyps gewiß schwerer als nur ein aus Augenblicksrücksichten formulierter Grundsatz. Infolgedessen blieben die eigenen Vorschläge „Unterlagen", nach denen die „Nationalversammlung . . . die Verfassung aus eigener Machtvollkommenheit beschließen" sollte, und darüber hinaus die Umschreibung eines Ideals, das er ihr anempfahl und für das er unter sich wandelnden Umständen mit wechselnden Mitteln warb. Trotz allem blieben innere Logik und Konsequenz auch in dem am Tage nach der Wahl zur Nationalversammlung veröffentlichten amtlichen Entwurf erhalten." Wer die Augen nicht verschloß, konnte auch die Absicht nicht übersehen, die Staaten zu Selbstverwaltungskörperschaften höherer Ordnung umzugestalten. Preuß ließ nun den Neugliederungsplan endgültig fallen und respektierte das einstweilige Fortbestehen der „Freistaaten", legte aber ausdrücklich fest, daß es dem deutschen Volke freistehe, „ohne Rücksicht auf die bisherigen Ländergrenzen neue deutsche Freistaaten innerhalb des Reichs zu errichten" (§ 11). Dieser Erklärung kam insofern Bedeutung zu, als die Bestimmungen dieses Paragraphen Grenzänderungen und Länderbildungen verhältnismäßig leicht zuließen, die Neubildungen allerdings an die bekannte Bedingung einer Mindesteinwohnerzahl von 2 Millionen banden. Dieser Entwurf hat die endgültige Form der Reichsverfassung zwar beeinflußt, jedoch noch keineswegs das weiterhin umstrittene Verhältnis zwischen Reich und Ländern endgültig festgelegt, das nun sofort auf neue Weise mahnend und in Formen heftiger Reaktion in den Vordergrund drängte. „Der Entwurf stellt keine Weiterbildung der Bismarckschen Verfassung dar, sondern knüpft an die einheitsstaatlichen Tendenzen der Verfassung der Paulskirche an", berichtete, " Reichsanzeiger Nr. 15 vom 20. 1. 1919, 1. Beilage, wieder abgedruckt bei Triepel, Quellensammlung, S. 11 ff. Entwurf und Denkschrift vom 4. Januar.
Die Länder
und die
Reichsverfassung
141
in der Sache nicht zu unrecht, der bayerische Gesandte Ritter v. Preger, der eben erst nach Berlin gekommen war. 78 „Die Revolution" wolle „die Abschaffung der Souveränität der Einzelstaaten, die sie zu autonomen Verwaltungskörpern herabdrücken will", schrieb der geschulte Jurist an die eigene Revolutionsregierung in München, wo freilich „Revolution", „Demokratie" und „Föderalismus" zu Worten anderen Klanges und anderen Inhalts geworden waren als in Berlin und letztlich immer noch die einzelstaatliche Souveränität Inbegriff des Politischen blieb. Die bayerische Presse aller Richtungen lehnte Entwurf und Denkschrift ab; und Eisner, der nach dem Mißerfolg in der bayerischen Landtagswahl nach neuer Legitimation suchte, benutzte ähnliche Stimmungen in Stuttgart und Karlsruhe, um auf ein gemeinsames Vorgehen zu dringen und die Trumpfkarte einer Ministerpräsidentenkonferenz auszuspielen. Die Reichsregierung sah einem ersten Konflikt nicht nur mit den süddeutschen Ländern, sondern auch mit Preußen entgegen, so daß Ebert, der bis dahin das Verlangen Eisners, die Länder an den Verfassungsvorbereitungen zu beteiligen, kühl zurückgewiesen hatte, jetzt keine andere Wahl blieb, als das präsidiale Handwerk der Vermittlung zu ergreifen und erneut die Regierungen aller Staaten nach Berlin einzuladen. Sollte der Nationalversammlung ein möglichst weit entwickelter Verfassungstext vorgelegt werden und ihre Erörterung in einigermaßen übersehbaren Bahnen ablaufen, so mußte eine Vorentscheidung von Gewicht zustande kommen und der offizielle Regierungsentwurf weit mehr als nur „Material" sein, das jeder Ausschuß wieder zerreden konnte. Infolgedessen entschloß sich Ebert, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen und mit den Ländern gemeinsam die Vorentscheidung möglichst weit voranzutreiben. So ließ sich die Gefahr eines süddeutschen Gegenstoßes endgültig neutralisieren, der freilich einiges von seinen Schrecken verloren hatte, seitdem die Konferenz der süddeutschen Regierungen in Stuttgart nach theatralischer Eröffnung keinen Eisnerkurs eingeschlagen, sondern statt eines oppositionellen Südbundes nur eine Demonstration hervorgebracht und bekundet hatte, daß man auch hier die „von allen örtlichen Einflüssen" befreite „volle Handlungsfreiheit der Reichsleitung" als Notwendigkeit anerkannte. 79 Diese Wendung war nichts anderes 78
Schwend, Bayern, S. 72 f.; die Erklärung der bayerischen Regierung:
DGR,
S. 441 f. 79
Diese Erklärung wurde auch von der Sorge um die Versorgung der Bevölke-
rung diktiert. Die vier Länder mahnten Reichsregierung und preußische Regierung, „alsbald
für
Wiederherstellung
geordneter
Zustände"
im
Ruhrkohlengebiet
zu
142
1• Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
als eine Zurechtweisung des allzu rührigen Eisner: Sie erkannte die Haltung der Volksbeauftragten den Räten gegenüber an und unterließ es in kluger Vorsicht, einstweilen das Verhältnis der Staaten zur Reichszentrale zu diskutieren. „Souveräne
Nationalversammlung"
und
Staatenpolitik
Die 129 Vertreter deutscher Regierungen, die sich dann am 25. J a nuar 1919 zur zweiten Staatenkonferenz im Reichsamt des Innern versammelten, repräsentierten mehr ancien régime als Revolution. Neben 84 hohen und höchsten Beamten der Länder und der obersten Reichsbehörden und 5 höheren Offizieren saßen 35 parlamentarische Politiker, Minister, Volksbeauftragte und der Gesandte Österreichs. 80 Die sorgen, da sie schlimme Folgen für die „Weiterführung des Wirtschaftslebens Süddeutschlands"
befürchteten.
Sie
wollten
übrigens
unmittelbar
am
„Lebensmittel-
bezug aus dem Ausland" beteiligt werden. Immer wieder l ä ß t sich die Entdeckung machen,
daß
den partikulären
Tendenzen
teilweise
redit
handfeste
Motive
zu-
grunde lagen und daß ihnen ebenso konkrete Grenzen gesetzt waren. ( D G R , S. 316). 80
„Aufzeichnung über die Besprechung im Reichsamt des Innern vom 25. J a n u a r
über den der verfassungsgebenden Verfassungsentwurf", B A , R 4 3
deutschen Nationalversammlung
vorzulegenden
1/1863, auf der die folgende Darstellung
beruht,
soweit nicht anders angegeben. Die Schilderung vom Standpunkt der bayerischen Staatspolitik aus, die Schwend, Bayern, S. 7 2 ff. gibt, wird von einer
stereotypen
Polemik gegen P r e u ß beherrscht. Das Bündnis der parlamentarischen Gruppen mit dem alten Beamtentum trat in dieser K o n f e r e n z greifbar in Erscheinung. Die Reichsregierung entsandte außer Preuß den Unterstaatssekretär im Reichsamt des Innern, Lewald, einen Geheimen Oberregierungsrat und einen Geheimen Regierungsrat aus diesem Amt. Ähnlich
waren
das Auswärtige Amt, das Reichs wirtschaftsamt,
das
Reichsschatzamt, das Reichsarbeitsamt, das Reichsjustizamt und das Reichspostamt vertreten — teilweise durch Chefs, die ihre Ämter während des Krieges innehatten. Die Vertretungen der Länder sahen nicht anders aus. Das preußische Innenministerium war u. a. durch den Unterstaatssekretär Freund und den Leiter der politischen Abteilung, Ministerialdirektor
Meister, vertreten, zwei M ä n n e r , die auch in
den
späteren Beziehungen zwischen dem Reich und Preußen eine R o l l e spielten. Unter den Beratungsteilnehmern befand sich eine Reihe von Vertretern der Länder, deren Namen sich während der Ä r a von Weimar in irgendeiner Form mit der langen K e t t e von Auseinandersetzungen verknüpfte, so der bayerisdie mächtigte
zum Bundesrat
Graf
zwischen der Reichsregierung und den
Gesandte
Ritter v. Preger,
v. Holtzendorff
und
der
der sächsische Geheime
Ländern Bevoll-
Legationsrat
Poetzsch, der hessiche Gesandte Frh. v. Biegeleben, der thüringische Bevollmächtigte zum Bundesrat, Wirklicher Geheimer R a t Paulsen, der braunschweigisdie Gesandte Boden
u. a. Keiner
von ihnen
w a r neu in seinem A m t . Alle entstammten
der
Monarchie und verkörperten Tradition und K o n t i n u i t ä t ; einige spielten später im Leben politischer Parteien eine R o l l e , wie z. B . der später zum sächsischen Ministerialdirektor ernannte Poetzsch-Heffter in der Deutschen Demokratischen Partei.
Die Länder und die
Reichsverfassung
143
Staaten hatten Traditionen und Überlieferungen in einem Umfange mobilisiert, daß nur noch vorsichtiges Operieren helfen konnte. Eberts zurückhaltende und betont maßvolle Eröffnungsansprache war wohl darauf bedacht, den Eindruck zu erwecken, daß es der Reichsregierung keineswegs um die Durchsetzung entschiedener Lösungen zu tun war. Da sie in diesem Augenblick die Sprache der Macht weder führen mochte, noch zu führen imstande gewesen wäre, beschritt sie unter Eberts Leitung den Weg, in offenen Verhandlungen mit einem Plenum autorisierter Vertreter der Staaten vom revidierten Preußschen Entwurf soviel wie möglich zu retten. Dieses Verfahren der Verhandlung in der Repräsentantenkonferenz sollte indessen nicht nur an diesem Tage und nicht nur in der Phase der Verfassungsberatungen angewandt werden. Ebert versprach, auch „künftig eine engere Fühlung zwischen der Reichsleitung und den Vertretern der Freistaaten in allen politisch wichtigen Fragen der Reichspolitik" herbeizuführen; und Preuß schloß sich ihm an. Von den entschiedenen Einheitsstaatlern, die keinen Zweifel an der ausschließlichen Entscheidungsgewalt der Nationalversammlung aufkommen lassen wollten, gänzlich unbemerkt, bahnte sich die Webersche Bundesratslösung durch die Hintertür des Verhandlungszugeständnisses ihren Weg in den neuen Verfassungsbau. Preuß nahm nun ausdrücklich von dem Plan Abstand, „den großzügigen Gedanken einer vollkommenen deutschen Einheit zu verwirklichen, weil die Verwirklichung an den Tatsachen scheitern müßte", und gab seine persönliche Überzeugung in der Form kund, daß er sein Verständnis für die süddeutschen Staaten beteuerte, die einen deutschen Einheitsstaat doch „nur als eine Verpreußung ganz Deutschlands auffassen" würden. Äußerst behutsam warb er jetzt für den Gedanken der allgemeinen Staatsreform, indem er auf den Ehrenkodex der Republik anspielte, in der die deutschen Staaten nicht einfach die Erben des „Souveränitätsschwindels der alten Teilfürsten sein" dürften; die Gestaltung der deutschen Einheit müsse „nach dem Siege der republikanischen Staatsform notwendig fester verankert sein, als es vorher der Fall war", und daher auch die „Kompetenz etwas fester gefaßt" werden. Um mit dieser Tatsache zu versöhnen, die im Verfassungsentwurf offen zutage lag, wandte er die vielfältigen Mittel seiner Beredsamkeit an, deutete er aber auch die Bereitschaft zu Kompromissen an. Preuß wählte nunmehr schlechthin den Weg partieller Staatsreformen. Indirekt erkannte er sogar die Reservatrechte nach dem Art. 78 Abs. 2 der Reichverfassung von 1871 an, indem er zusagte, ihre Ab-
144
I. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
änderung jeweils nur mit Zustimmung des berechtigten Staates vorzunehmen. Er erklärte ausdrücklich, daß der Entwurf die süddeutschen Staaten in ihren historischen Formen unbehelligt lassen wolle, und begründete diese Entscheidung mit einer besonderen Qualifizierung, die sie aus historischen Gründen in ein besseres Recht zu setzen schien als die Territorien Norddeutschlands und namentlich Preußen: Die süddeutschen Staatenbildungen seien zwar „auch nicht natürlich erwachsen, aber durch den Geist Napoleons in so geschickter, verwaltungstechnisch genialer Weise gestaltet worden, daß sie jetzt hundert Jahre lang ihre Existenzfähigkeit gezeigt" hätten. Die politische Landkarte Norddeutschlands dagegen habe sich lediglich „nach dynastischen Eigentumsrücksichten" entwickelt. Diese allzu deutlich um taktisches Geschick bemühte Verteidigung des süddeutschen Standpunktes befriedigte allerdings nur wenige. Unter den Süddeutschen weckte sie Mißtrauen, unter den Norddeutschen Widerspruch. Die preußischen Minister fühlten sich zu entschiedenem Widerstand herausgefordert, als sie hören mußten, daß der Entwurf der Reichsregierung auf eine Beseitigung der Hegemonie Preußens und auf eine verfassungsrechtliche Beschränkung seiner historischen Rolle hinauswollte. Selbst die Erklärung, mit der Preuß am Ende seiner Erläuterungen einzulenken suchte: daß man trotz allem „zunächst auf eine Zerschlagung Preußens verzichten" und die weitere Entwicklung abwarten wolle, konnte ihren Protest nicht mehr aufhalten. In seinem Eifer, zu überreden und die Skepsis der Anwesenden zu überwinden, war der Schöpfer des Verfassungsentwurfs, wie sich zeigte, weit über das Ziel hinausgeschossen. Das verfassungspolitische Programm, das er entworfen hatte, wagte er am Ende dieser Verhandlungen kaum noch vernehmlich zu verteidigen. Mit Worten allein war jetzt nichts mehr auszurichten, da die Tatsachen so weit gediehen waren, daß die deutschen Staaten nun auf konkrete Zusicherungen ihrer Rechte ausgingen. Alle Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich als ganz und gar unzureichend, die Aussichten, die sich mit der überraschend milde ausgefallenen Verlautbarung der süddeutschen Ministerpräsidentenkonferenz vom Dezember verknüpften, als Täuschung. Die Zugeständnisse, die Preuß den Süddeutschen machte, blieben nutzlos und vermochten nicht zu beeindrucken. Vor allem Eisner zeigte sich von den Reden der Reichspolitiker völlig unberührt und folgte einem offenbar festgelegten Konzept, indem er einen Antrag Bayerns, Sachsens, Württembergs, Badens und Hessens einbrachte, daß die Nationalversammlung als erstes ein „vorläufiges Reichsgrundgesetz" schaffen müsse, dessen
Die Länder und die
Reichsverfassung
145
Entwurf die Reichsregierung gemeinsam mit einem Staatenausschuß erarbeiten und das nur unter der Voraussetzung völliger Übereinstimmung zwischen Nationalversammlung und Ausschuß in Kraft treten dürfte. Die endgültige Verfassung sollte dann von der Nationalversammlung in einer nicht festzusetzenden Zeit beraten, die endgültige verfassungsrechtliche Regelung einstweilen also auf die lange Bank geschoben werden. Das Gewicht des von den Regierungen bestellten Staatenausschusses wäre vorerst gesichert gewesen und der politischen Entwicklung in den Ländern außerhalb der Kontrolle Berlins freie Bahn gegeben worden. Wohin die Reise gehen konnte, ließ sich am bayerischen Beispiel ablesen. Eisner hielt ebenso unbeirrt an der Räteinstitution fest wie an dem Grundsatz der „Selbstbestimmung Bayerns" innerhalb der „Vereinigten Staaten von Deutschland, die Österreich einschließen", wie es die erste bayerische Regierungserklärung vom 15. November 1918 formuliert und eine Erklärung vom 2. Dezember bekräftigt hatte 81 . Wiederholt trat er für eine weitertreibende revolutionäre Entwicklung in den einzelnen Ländern ein, die er mit Hilfe des „konstitutiven Elements der kommenden Demokratie in der Weltentwicklung", wie er rhetorisch effektvoll verkündete, dem Einfluß der Berliner Koalition zu entziehen suchte. Allerdings waren es nicht nur innerpolitische, sondern auch außenpolitische Gründe, die Hoffnung auf die Gunst französicher Beziehungen 82 wie die persönliche Lust an der Exkursion ins Weltpolitische, letztlich die Vorstellung, eines Tages als radikaler Friedensstifter aufzutreten, die bei Eisners Entschließung mitsprachen. Der überaus originelle, von Einfällen getriebene und stets sehr selbstherrlich auftretende Literat hatte diese Konferenz von seinem Standpunkt aus wohl vorbereitet. Als dem Antrag der fünf süd- und mitteldeutschen Staaten einiger Erfolg sicher schien, stellten Bayern, Württemberg und Baden sofort ausgearbeitete Richtlinien f ü r das vorläufige Grundgesetz zur Diskussion, die schon in ihrem ersten Grundsatz die Gegenkonzeption eines prononcierten Föderalismus verrieten, die hinter den Stand der Bismarckschen Reichsverfassung zurückgehen und einen deutschen Bund demokratischer Staaten schaffen wollte. „Die vereinigten Republiken Deutschlands bilden auch fernerhin einen Bund. Der Eintritt anderer Volksgenossenschaften ist vorbehalten". Angesichts eines solchen mehr staatenbündlerischen als bundesstaatlichen Zieles, das in
10
81
DGR, S. 78 ff. u. 271; Schwend, Bayern, S. 49 u. 52.
82
Sdiwend, a. a. O., S. 48 f.
Schulz I
146
Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
überraschender Weise den Rahmen der veröffentlichten Stuttgarter Vereinbarungen vom Dezember 1918 durchbrach, nahm es kaum noch Wunder, daß die Länder auch an der Außenpolitik des Reiches beteiligt zu werden und den Abschluß und die Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge von ihrer Zustimmung abhängig zu machen wünschten. Als dann auch die preußischen Regierungsvertreter den Verfassungsentwurf heftiger Kritik unterzogen und die Stimmung gegen Preuß sich allgemein verbreitete, gab es für Eisner kein Halten mehr. Im Eifer der Redeschlacht nannte er den Staatssekretär einen „Zentralisten und Unitarier", der lediglich „als Taktiker . . . Rücksicht auf gewisse historisch gewordene Empfindlichkeiten" nehme. Und schließlich entschlüpfte ihm sogar die Bemerkung, daß man auf seiner Seite gar nicht daran denke, die „absolute Souveränität der Nationalversammlung" anzuerkennen, die er bei Beginn der Verhandlungen noch keineswegs in Frage zu stellen gewagt hatte. Die weitere Diskussion drohte die Versammlung immer weiter von den Prinzipien des Preußschen Entwurfs fortzuziehen und in ungewisse Bahnen zu treiben. Der Widerstand der Länder war nahezu geschlossen und hatte die Parteien hoffnungslos aufgespalten; Ebert, Eisner, Heine, David und Gradnauer und selbst die beiden Demokraten Preuß und Fischbeck standen gegeneinander. Der preußische Ministerpräsident Hirsch protestierte gegen die Bestimmungen des § 11, die er ein „Signal für die Auflösung Preußens" nannte, wie gegen den „unhaltbaren Zustand", daß „die Vertretung des preußischen Volkes" auf das Schicksal preußischer Landesteile, die aus dem preußischen Staatsverband hinausstrebten, keinen Einfluß haben sollte. Allerdings glaubte auch Hirsch, den Süddeutschen die Furcht vor einer „Verpreußung" Deutschlands durch Belehrungen nehmen zu können, in denen er die Bedeutung Preußens kleiner darstellte, als sie in Wirklichkeit gewesen war. Zu dieser Zeit konnte man kaum noch im Zweifel sein, daß sich die Volksbeauftragten in Berlin schwerlich ohne die Unterstützung der preußischen Exekutive bis zu diesem Punkt der Entwicklung behauptet hätten. Hirsch gab dennoch vor, nicht an eine künftige Hegemonie Preußens glauben zu können, die er ausschließlich in den Personalunionen mit der Reichsspitze und im preußischen Staatseisenbahnwesen begründet sah, so daß, da beides künftig entfiel, das alte Preußen „für immer verschwunden" sei und die Staaten sich „annähernd gleich" gegenüberstünden. Befürchtete Preuß monarchische Reaktionen von einem preußischen Einheitsstaat, so erblickte Hirsch in einem einheitlichen „demokratischen und sozialen Preußen" gerade eine Gewähr für
Die Länder und die
Reichsverfassung
147
die Demokratie in Deutschland. Der sarkastische sozialdemokratische Advokat Wolfgang Heine, der das preußische Justizressort verwaltete, fand das konträre Argument gegen Preuß zugunsten des von diesem so genannten „preußischen Notbaus" des Reiches und bestritt schlechthin das Vorhandensein eines „einheitlichen deutschen Gefühls" nach dem verlorenen Kriege. Es klingt trefflich realistisch, wenn er die Tatsache würdigte, daß die „Revolution . . . als eine Reihe lokaler Revolutionen begonnen" hatte; doch er begründete hiermit die Notwendigkeit, lediglich das anzuerkennen, „was sich da von selbst gestaltet hat". Der Albdruck der Anarchie zwang nach seiner Meinung gerade zur Erhaltung der alten Staaten, die er nicht nur als politische, sondern „in erster Reihe [als] wirtschaftliche Gebilde" auffaßte, so daß das Argument ihres „dynastischen" Ursprungs nicht mehr verfing. Landsberg, wie schon in der Vorbesprechung am 14. Januar, und der Handelsminister Fischbeck schlugen sich auf die gleiche Seite, die sich nun mit den Wortführern der Regierungen Bayerns, Württembergs und Badens trotz aller inneren Unterschiede zu einer geschlossenen Opposition vereinigte. Angesichts einer solchen Mehrheit fiel es nicht mehr nennenswert ins Gewicht, daß der sächsische Innenminister Gradnauer zugunsten des Preußschen Entwurfs zu vermitteln suchte, und auch nicht, daß Eduard David, der hier als Unterstaatssekretär für das Auswärtige Amt sprach und weit vorausschauend das Problem aufzeichnete, das bereits wie eine schwere Hypothek auf dem eben nodi im Bau befindlichen Gebäude der Republik lastete und das dann die späteren Bemühungen um eine Reichsreform ebenso anhaltend wie im Ergebnis erfolglos zu bewältigen versuchten. E r trat als einziger noch für eine Auflösung des preußischen Kolosses inmitten der deutschen Vielstaaterei ein, um aus seinen Teilen auf dem Wege über die Verfassung einen einheitlichen Staat aufzubauen. „Wenn es uns nicht gelänge, eine starke nationale Einheit zu schaffen", umriß David unbewußt das Koch-Wesersche Problem, „so wäre das eine Unfähigkeitserklärung der Republik, und es würden andere Mächte kommen, um diese zentrale Gewalt auf anderem Wege wiederherzustellen". Im vollendeten Gegensatz zu Hirsch äußerte er die Auffassung, daß „das neue Preußen . . . noch gefährlicher als das alte" sein könne; „denn die heutigen preußischen Minister haben hinter sich das demokratische Parlament und haben damit eine stärkere Position." Die Gegensätze lägen „fast in der Natur der Sache, wenn zwei beinahe gleich starke Gestalten in denselben Dingen zu regieren haben". Als Erster wies David auf die Problematik 10»
148
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
hin, die sich aus einer denkbaren Heterogenität der zentralen Gewalten in Berlin ergeben mußte: daß ein preußisches demokratisches Parlament neben dem Reichstag eine Macht bilden würde, „die es der preußischen Regierung ermöglichte, noch ganz anders der Reichsregierung in die Speichen zu fahren als früher". War bisher in erster Linie die preußische Verwaltung, die zwei Drittel des Reichsterritoriums regierte, als gewichtiges Politikum in Erscheinung getreten, so mußte für die Zukunft nun auch das Gewicht einer nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie zustande kommenden Regierung in Rechnung gestellt werden, die sich auf Verwaltung und Parteienmehrheit stützte. Bei der Beurteilung dieser neuartig gesehenen Zusammenhänge und ihrer Auswirkungen konnten die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit den künftigen Möglichkeiten nicht Schritt halten. Aber David war Unitarier und hielt am Ende doch nichts mehr von einer regionalen Aufteilung des preußischen Staates, sondern suchte den Ausweg in seiner Verknüpfung mit der Spitze des Reiches sowohl durch Personalunion in den Ämtern der Staatsoberhäupter und der Regierungschefs, nach dem Vorbild der Bismarckschen Lösung, wie auch der übrigen Minister, sodann mit Hilfe eines Parlamentes für preußische Fragen, das nach dem Prinzip des jus eundi in partes als Versammlung der preußischen Mitglieder aus dem Reichstag hervorgehen sollte. Von einem „großen demokratischen einheitlichen Preußen" das auf diesem Wege als „reichsunmittelbares Land" im Reich aufginge, erhoffte David, daß es auch eine starke Anziehungskraft auf die kleineren Staaten Nordund Mitteldeutschlands ausüben und auf diese Weise den „Grundstode des Reiches" als künftigen Einheitsstaates bilden würde. Mit diesen fortan nicht mehr ruhenden Gedanken, die bewiesen, daß sich auch ein anderer Weg zur Auflösung Preußens denken ließ als der der Neugliederung, versuchte David erfolglos, die süddeutsche und die preußische Partei voneinander zu trennen und die fast geschlossene Front gegen den Preußschen Verfassungsentwurf aufzubrechen, um die Diskussion in Fluß zu halten. Diese Vorschläge, die detaillierter, in Einzelheiten abgeändert, im Grundgedanken jedoch ähnlich später nach jahrelangen Erörterungen als „differenzierte Gesamtlösung" präsentiert wurden, stießen zu keiner Zeit südlich der Mainlinie auf Gegenliebe. Es kennzeichnet das retardierende Wesen der partikulären Staatlichkeiten und ihrer in Berlin versammelten Regierungen oder Regierungsvertreter, daß ihr staatlicher Föderalismus selbst unter dem immer noch spürbaren Hauch der Revolution über das Prinzip des status quo nicht hinausgelangte. Die Aussprache des 25. Januar — dieser Umstand
Die Länder und die
Reichsverfassung
149
begründet unser Interesse an ihr — hat den prägenden Kreis überkommener, traditioneller staatsorganisatorischer Probleme und Vorstellungen deutlich erkennbar gemacht, gleichzeitig aber in Staunen erregender Vollständigkeit fast alle auch später in Frage stehenden Probleme aufgefunden und denkbare Lösungen erörtert: eine lockere Föderation mit schwacher Reichsspitze, den Bundesstaat unter einer mit stärkeren Kompetenzen ausgerüsteten Reichsregierung, das Reich mit einem neutralisierten „Reichsland" oder auch mit einem selbständigen Staat Preußen. Doch die Konferenz endete vorerst ausweglos in einer Sackgasse zwischen verfestigten Fronten; der Entwurf, den Preuß mit Zustimmung der Volksbeauftragten vorgelegt hatte, war im Augenblick so gut wie durchgefallen. Ebert sah keinen besseren Ausweg, als den von Eisner veranlaßten Antrag der fünf südlichen Staaten aufzugreifen und die Versammlung zur Einsetzung eines Ausschusses zu bewegen, der die Aufgabe erhielt, den Entwurf eines provisorischen Grundgesetzes zu beraten, gleichzeitig aber die Arbeiten an dem vorliegenden Verfassungsentwurf fortzusetzen. Welche Bedeutung man auch immer den bis zu diesem Tage gediehenen Vorarbeiten zur Reichsverfassung beimessen möchte, es steht außer Frage, daß die Entwicklung fürs erste um ein beträchtliches Stück zurückgeworfen worden war. Die Staatenkonferenz brachte in keiner Richtung eine Klärung, sondern hinterließ ein unentwirrtes Bild gegeneinander- und auseinanderstrebender Meinungen und Interessen. Seit diesem 25. Januar war es so gut wie Gewißheit, daß ein endgültiges Ergebnis der Verfassungsverhandlungen den Kreis des Kompromisses noch weiter ziehen mußte, als bis dahin in Aussicht zu stehen schien.
Staatenausschuß.
Notverfassung.
Verfassungsausschuß
Der am nächsten Tage zusammentretende Staatenausschuß hatte als erstes den „Rechtsgrund f ü r die Souveränität der Nationalversammlung" wiederherzustellen 83 und, um erfolgversprechende Verhandlungen über das vorläufige Grundgesetz und die künftige Verfassung beginnen zu können, einigermaßen sichere, als verbindlich anerkannte Grundlagen zu schaffen. In der Erfüllung dieser Aufgabe sah sich die Kommission dadurch wesentlich unterstützt, daß nach den Erregungen 8 ® „Aufzeichnung über die Beratungen des auf Grund des Beschlusses der Staatenvertreter vom 25. Januar zusammengetretenen Ausschusses im Reidisamt des Innern vom 26. bis 30. Januar 1919", BA, R 43 1/1863.
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I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
des Vortags alsbald Nüchternheit in dieses kleinere Gremium einzog und eine ruhige Atmosphäre verbreitete, die sachliche, trotz unüberbrückbar erscheinender Gegensätze doch verhältnismäßig rasch voranschreitende Erörterungen ermöglichte. Eduard David, der einstige hessische Gymnasiallehrer auf dem Unterstaatssekretärsposten des Auswärtigen Amtes, führte die Sache des Reiches,84 während der Gesandte Ritter v. Preger und der preußische Unterstaatssekretär Freund neben dem Minister Heine als kundige und geschickte Sprecher der Staaten hervorragten und bereits ein unübersehbares Zeichen gaben, daß sich das künftige verfassungspolitische Schicksal Deutschlands in dem schmalen Dreieck zwischen den Berliner Regierungen beiderseits der Wilhelmstraße und München entscheiden würde. Neben ihnen blieb Eisner keine rühmliche Rolle mehr vorbehalten. Seine Bedenken gegen den Preußschen Entwurf, die er jetzt in kühlerer Atmosphäre in dem Satz zusammenfaßte, im Falle seiner Annahme falle „Bayern zu neun Zehntel dem Zentrum zu", klangen nach den voraufgegangenen Fanfarenstößen fast schon wie eine Schamade. D a er mit seinen heftigen Vorstößen am Ende war, entschloß er sich zu einem gemäßigtem Tempo und verschmähte er auch das Mittel der Besänftigung nicht, die das schwankende Gebäude seiner Ideen nur auf noch tönerneren Füßen ruhend erkennen ließen als zuvor. Er hielt es jetzt für richtig, seinem vortägigen Angriff auf die Souveränität der Nationalversammlung die Beschränkung auf den bayerischen Selbstbehauptungswillen folgen zu lassen: „Die Souveränität der Nationalversammlung bestreiten wir an sich nicht, unter der Voraussetzung, daß sie es vermeidet, uns Unmögliches zuzumuten". In dieser Weise freibleibend ließ sich mit der Entscheidung der Nationalversammlung, auf die sich jetzt alle Blicke richteten, gewiß nicht verfahren. Der badische Minister Haas hatte diesen Satz Eisners schon mit der Feststellung entkräftet, daß der Souveränität der Nationalversammlung „freilich nicht durch das Veto eines Einzelstaates, wohl aber durch den Widerstand anderer Machtzentren" eine Schranke gesetzt sei. Der Sprecher dieses Landes, das ebenso wie Württemberg von einer großen Koalition regiert wurde und an dem die stärkeren Erschütterungen der politischen Wende beinahe spurlos vorübergegangen waren, meinte hiermit gewiß nicht 84
D a der A u f z e i c h n u n g keine Anwesenheitsliste beiliegt, ist nicht mit Sicherheit
festzustellen, o b P r e u ß z u g e g e n w a r . Weil aber keine einzige Ä u ß e r u n g v o n o d e r einem a n d e r e n Sprecher
des Reichsamts
des I n n e r n e r w ä h n t w i r d
und
ihm die
Leitung der D i s k u s s i o n bei D a v i d lag, steht z u v e r m u t e n , d a ß sich P r e u ß , obgleich ihm der V o r s i t z ü b e r t r a g e n w o r d e n w a r , zurückgezogen hatte.
Die Länder und die
Reichsverfassung
151
nur die Parteien, sondern deutete vor allem auf die konstitutionelle Idee des Liberalismus hin. Der reine Reichsparlamentarismus — wenn das unter der „Souveränität der Nationalversammlung" verstanden werden sollte — lief nach dem derzeitigen Stand der Dinge freilich ebenso Gefahr, als politische Utopie entlarvt zu werden, wie es soeben erst mit der Idee des vollkommenen Einheitsstaates geschehen war. Um eine wohldurchdachte Balance der Gewalten, die nicht allein eine zentrale, sondern auch eine regionale sein mußte, kam die junge Republik nach wie vor dem Inkrafttreten der Verfassung nicht mehr herum. Das revolutionäre Rechtsprinzip, auf das sich David berief, „die Nationalversammlung schafft neues Recht. Sie vertritt das gesamte Volk und die einzelnen Staatsvölker", war durch die rasche Erstarrung der Revolution, bevor sie die einzelnen Staaten, ihre Regierungen und Verwaltungen hinwegschwemmte, im Grunde doch schon hinfällig geworden. An der Richtigkeit der Feststellung des württembergischen Delegierten v. Blume, „die süddeutschen Staaten bestehen noch, und die vorläufige Verfassung kann nicht über ihre Köpfe weg beschlossen werden", war nach den letzten Ereignissen kaum noch zu zweifeln. Die Debatte der Kommission bewegte sich denn auch alsbald in die Richtung des Problems, in welcher Form das ständige Mitspracherecht der Länder dauerhaft und zweckmässig verankert werden könne, und umkreiste immer enger die bekannte Alternative, die schon der Dezemberausschuß so lange und ausgiebig erwogen hatte: Staatenhaus nach dem Vorschlag von Hugo Preuß oder Bundesratslösung in der alten oder einer ihr angenäherten Form. Die unsicher gewordene Haltung der bayerischen Regierungsmitglieder suchte der Jurist und Diplomat Ritter v. Preger durch seine eigene Argumentation wett zu machen, um das plötzlich verwaist erscheinende Gebäude der bayerischen Staatsräson wieder zu beleben. Eisner befand sich unweigerlich auf dem absteigenden Wege seiner revolutionären Laufbahn, so daß sein Berliner Auftritt vom 25. J a nuar nur noch einem letzten großen Spiel im Drama des Widerstandes gegen die begonnene Wendung der Verhältnisse gleicht. Fast überall vollzog sich in diesen Tagen im Gefolge der Wahlen zur Nationalversammlung und zu den konstituierenden Landesversammlungen der endgültige Umschwung zum parlamentarischen Verfasungsstaat, der das Ende der revolutionären Bewegung besiegelte. Die bürgerlichen Parteien, die sich im Wahlkampf auf mehr oder minder ähnliche Programme festgelegt hatten, 85 erhoben sich zu ihrer vollen 85
DGR, S. 327 ff.
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und die Reichsverfassung
von
Weimar
Größe und beendeten die Rolle einzelner demagogischer Persönlichkeiten, die sich als Initiatoren der Entwicklung fühlten. Vor die Wahl gestellt und unübersehbarer außenpolitischer Schwierigkeiten im Gefolge der Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen ansichtig, entschied sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in allen Ländern für innere Ruhe, Ordnung und Sicherkeit, die man am ehesten von einer baldigen Verabschiedung der Verfassung erwarten durfte. Die konstitutionelle Partei war ins Riesengroße gewachsen, das Häuflein der „Revolutionsinteressenten" nur eine kleine Minderheit. Und mit dem Bürgertum begannen sich die alten Mächte wieder zu regen und erneut in den Vordergrund des politischen Szenariums zu rücken: die Reste des Heeres in Gestalt einer Vielzahl verschiedenartiger militärischer Verbände, die aus der Umbruchsphase hervorgingen und die Rolle des willkommenen Helfers gegen die Überreste der Revolution übernahmen, und die Bürokratie, die eine zwar zahlenmäßig kleine, jedoch einflußreiche Bürokratie des Reiches und eine größere der Einzelstaaten war. Der beginnende politische Wandel in der bayerischen Hauptstadt, der freilich bald schon in die Wirrnis entschiedener, auf radikalste Weise ausgetragener Gegensätze abgleiten sollte, deutete sich in dem geräuschlosen Wechsel der Initiatoren der bayerischen Verfassungspolitik an. Wenn diesem Begriff innerhalb der Geschichte der Republik von Weimar eine erhebliche und für die Zeit- und Ereignisspanne zwischen Umsturz und Verfassungsannahme eine erhöhte Bedeutung zukommt, so wird er in diesen Ausschußverhandlungen, in der durchsichtigen Mischung politischer Konzeptionen und Programme, staatsrechtlicher Theorien und Dispute, diplomatischer und advokatorischer Kunst in hervorragendem Maße anschaulich. Der Gesandte Ritter v. Preger formulierte die These der konservativen süddeutschen Opposition, die jetzt Eisners progressiv-revolutionäre Opposition ablöste: „Bezüglich der Fortgestaltung der Reichsverfassung gibt es zwei Ansichten: Die eine nimmt an, daß die Verfassung durch die Revolution zerschlagen sei; das würde zur Folge haben, daß das Reidi aufs neue gegründet werden müßte. Richtig dürfte die zweite Ansicht sein, wonach die Verfassung nur soweit außer Kraft getreten ist, als die Revolution gewisse Organe und Einrichtungen beseitigt hat". Beseitigt waren nach Pregers Meinung nicht die Monarchien schlechthin, sondern das „Kaisertum", die Hegemonie Preußens und der Reichstag, wobei er einstweilen offen ließ, ob er hierunter die Institution oder das aufgelöste Kriegsparlament verstand. Die übrigen Verfassungsinhalte sollten dagegen weiterbestehen,
Die Länder und die
Reicbsverfassung
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namentlich die Reservate des Artikels 78 und die Vorschriften über den Anteil der Staaten an der Gesetzgebung. Ritter v. Preger zog aus dieser These die gleiche Folgerung, die bereits Max Weber vorausgesagt hatte: daß an die Stelle des Bundesrates ein gleichartiges Organ treten müsse; denn ein Staatenhaus wäre „nur eine schlechte zweite Auflage des Volkshauses". Sein Antrag, einen Staatenausschuß nach dem Vorbild des alten Bundesrats „als gleichberechtigten Faktor der Gesetzgebung neben dem Reichstag" einzusetzen — noch nicht mit Befugnissen in der Verwaltung, wie Weber es wollte — und die in diesem Zeitpunkt der Verfassungsvorbereitung eingetretenen Verhältnisse zu verewigen, begegnete jedoch dem Widerspruch Preußens. Unterstaatssekretär Freund wollte eine solche Beschränkung des Parlaments ebensowenig anerkennen wie das Staatenhaus. Er verlangte einen Bundesrat mit verminderten Zuständigkeiten in der Gesetzgebung, mit dem Recht zu einem Veto, das sich jedoch nach Entscheidung des Reichspräsidenten durch ein Referendum aufheben ließ, aber auch mit Befugnissen in der Verwaltung gemäß dem Preußschen Vorschlag. Der erfahrene Verwaltungsfachmann war natürlich des Vorteils gewiß, den diese Lösung f ü r Preußen bot, das jetzt einzig und allein nur noch das große Gewicht seiner Verwaltung in die Waagschale der deutschen Innenpolitik zu werfen und infolgedessen ein größeres Interesse an der künftigen Ausgestaltung der Exekutivorgane des Reiches hatte als an einer verfassungsmäßigen Beschränkung der zentralen Volksvertretung. Allein auf diese Weise vermochte Preußen Raum f ü r eigene Bewegungsfreiheit zu behalten, ohne daß die anderen Länder Rechte auf Kosten der Reichsgewalt erhielten. Mit Unterstützung des württembergischen Finanzministers Liesching und ohne sonderlichen Widerstand setzte Freund die Schaffung des „Reichsrats" als Körperschaft „zur Wahrnehmung der Interessen der deutschen Freistaaten auf den Gebieten der Gesetzgebung und der Verwaltung des Reichs" durch 8 '. 89
Bei der Wahl dieses Ausdrucks, der übrigens schon 1871 zur Erörterung gestanden hatte, sprach die engere sprachliche Beziehung zu dem Wort „Reichstag" mit. Bismarck lehnte diese Benennung noch mit der Begründung ab, sie „würde sowohl durch ihr Verhältnis zu dem .Reichstage' der Reichsverfassung als auch infolge der staatsrechtlichen Bedeutung, welche ihr in Österreich und Bayern beigelegt und dadurch in die staatsrechtliche Terminologie eingeführt ist, die Stellung des Bundesrats nicht richtig bezeichnen, denn sie würde zu der Vorstellung veranlassen, d a ß im deutschen Reichsrate wie im deutschen R e i c h s t a g e . . . nicht eine Repräsentation einzelner Staaten, sondern eine Repräsentation der Gesamtheit zu finden sei". (Immediatbericht vom 29. 3. 1871, Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 6 c, bearb. v. Werner Frauendienst, Berlin 1935, S. 1 f.)
154
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der Kompromisse
und die Reichsverfassimg
von
Weimar
Um seine Aufgaben genau und eingehend zu formulieren, wurde ein engerer Ausschuß aus Vertretern Preußens, Bayerns, Württembergs und der Hansestädte eingesetzt. Erst nachdem die Behandlung dieser Frage bis dahin gediehen war, kam der Ausschuß auf die erste Aufgabe zurück, deretwegen er ins Leben gerufen worden war. Aber auch in diesem Teil konzentrierte sich die Beratung bald wieder auf die Möglichkeit einer Verankerung des Staatenausschusses im vorläufigen Reichsgrundgesetz. Nach längerer Debatte wurde für den § 2 des Entwurfs festgestellt, daß Gesetzesvorlagen nur nach Anhörung eines Staatenausschusses an die Nationalversammlung gelangen dürften, der sich aus je einem Vertreter der Regierungen von Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Deutsch-Österreich, von einem der drei Hansestädte und drei Vertretern der mittleren und kleineren Ländern zusammensetzen sollte. Gegen diese Lösung erhob als einzige die bayerische Regierung Einspruch,8' ohne jedoch den weiteren Gang der Dinge aufhalten zu können. Die ständige Verbindung zwischen der „von den innerbayerischen Verhältnissen absorbierten Regierung" in München und der bayerischen Gesandtschaft in Berlin riß ab,88 so daß die bayerische Stimme in der Reichshauptstadt jetzt allein die des Gesandten war, dessen Entscheidungen auch nach Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar am 6. Februar den Ausschlag gaben. Die bayerischen Regierungsmitglieder hielten sich fern. Das Schicksal der von Bayern ver37
Mitteilung Eberts in der Besprechung der Volksbeauftragten und der Ressort-
chefs des Reiches am 3 1 . 1 . 1919 (Aufzeichnung BA, R 43 1/1863). Schwend, Bayern, S. 79, datiert die Entscheidungen des bayerischen Ministerrats auf den 28. Januar. Das erscheint fraglich in Anbetracht der Tatsache, daß der Staatenausschuß
erst
gegen Ende seiner Beratungen, die sich über die Zeit vom 26. bis zum 30. Januar erstreckten, in dem umfangreichen Protokoll
allerdings nicht tageweise
unterteilt
sind, den Entwurf des vorläufigen Reichsgrundgesetzes feststellte. Auch sonst enthält die Darstellung von Schwend einzelne Angaben, die sich an H a n d des Protokolls nicht bestätigen lassen und die Vermutung zulassen, daß sie auf Differenzen zwischen den Unterlagen Schwends und den Akten der Reichskanzlei zurückgehen. 88
Schwend, ebda. Es hat den sicheren Anschein, daß der Kontakt zwischen dem
auf sich selbst gestellten Gesandten Ritter v. Preger und der Regierung Eisner schon zu Ende Januar gestört wurde. Dies könnte die oben erwähnten Differenzen erklären. In den Memoiren von Ernst Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 211 ff. werden nur zwei Verhandlungen bayerischer Regierungsmitglieder in Weimar erwähnt. Der im Vergleich zur Schilderung anderer Ereignisse kurz und farblos ausgefallene Bericht E. Müllers nennt als Daten für diese Verhandlungen den 12. bzw. den 1 7 . — 2 1 . Juni 1 9 1 9 ; zu dieser Zeit waren die Verfassungsberatungen bereits in ihrem letzten Stadium.
Die Länder und die
Reicbsverfassung
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folgten Politik in der Verfassungsfrage hing infolgedessen ausschließlich von den Immediatbeziehungen Pregers zu den Volksbeauftragten ab, die er seinem diplomatischen Status verdankte. Ebert, der jetzt unter Hinweis auf die Friedensverhandlungen auf rasche Erledigung des Entwurfs der Notverfassung drängte, 89 räumte die letzten Widerstände in einer Besprechung mit den Vertretern Bayerns, Württembergs, Badens und Sachsens am 8. Februar aus, die der künftige Reichspräsident dazu benutzte, einige entgegenkommende Erklärungen abzugeben, so daß der bayerische Gesandte nunmehr „auf eine gütliche Verständigung" in der Frage der Reservatrechte hoffen durfte 90 . Freilich verpflichtete diese Besprechung allenfalls Ebert, nicht die Nationalversammlung, in der er lediglich die stärkste und disziplinierteste Fraktion hinter sich wußte. Das konnte aber f ü r Bayern ein Grund mehr sein, sich f ü r den Reichspräsidenten und die Ausgestaltung seiner Stellung einzusetzen und unmittelbar mit ihm Verbindung zu halten — eine Politik, die in den zwölf Jahren der Berliner Tätig59
Hierzu Ebert in der oben zit. Besprechung der Reichsregierung am 31. Januar. Ein Brief, den der bayerische Gesandte am 10. Februar 1919 an Ebert richtete, memorierte den Inhalt dieser Unterredung Eberts „mit den süddeutschen Vertretern" in folgender Weise: Am 8. Februar „hatten Euer Hochwohlgeboren die Güte, namens der Reichsregierung zu erklären, daß Sie eine Majorisierung der süddeutschen Freistaaten hinsichtlich der ihnen zustehenden Sonderrechte nicht wünschten, sondern über die noch strittigen Fragen eine gütliche Verständigung zwischen Reich und Einzelstaaten anstrebten und daß Sie die bestimmte H o f f n u n g hegten, d a ß auch die Parteien, wenn auf sie in diesem Sinne von der Reichsregierung eingewirkt werde, diesen Standpunkt teilen werden. Im Vertrauen darauf, daß es d a n k der von Euer Hochwohlgeboren gegebenen Zusage gelingen werde, bei der Ausgestaltung der endgültigen Verfassung auf dem Verständigungswege zu einer Einigung über die zwischen der Reichsregierung und Bayern noch strittigen Punkte zu kommen, sieht die bayerische Regierung davon ab, bei den Beratungen über das provisorische Verfassungsgesetz ihre abweichende Meinung zu § 4 Absatz 1 des E n t w u r f s [er lautete: „Die künftige Reichsverfassung wird von der Nationalversammlung verabschiedet. Es kann jedoch der Gebietsstand der Freistaaten nur mit ihrer Zustimmung geändert werden".] darzulegen. Sie würde jedoch genötigt sein, die grundsätzliche Frage in der Nationalversammlung aufzurollen, falls es nicht gelänge, bei den Verhandlungen zu einer für die bayerische Regierung annehmbaren Vereinbarung zu gelangen oder falls der Entwurf bei den Beratungen in der Nationalversammlung eine Verschärfung im unitarischen Sinne erfahren sollte". (BA, R 43 1/1863) Schwend, Bayern, S. 80, streift dieses Ereignis, bemerkt jedoch, daß Preger — „verlassen von seiner Regierung in München" — nur noch über die allgemeine Instruktion verfügte, nach seinem Gewissen zu handeln. Wollte man dem folgen, so wäre offenkundig, d a ß der Gesandte in seinem Versuch, Ebert zugunsten der Reservatrechte zu binden, ihm die Umstände seiner freihändigen Verhandlungsführung keineswegs offenbarte. 90
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der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
keit Ritter v. Pregers zur Tradition werden sollte. Infolgedessen beschränkte sich die Reaktion der süddeutschen Vertreter im Staatenausschuß auf die Bekanntgabe eines milden Vorbehalts, der die Entscheidung über die Sonderrechte der Staaten ausdrücklich von der Annahme des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt trennte, was die Stimmabgabe der süddeutschen Mitglieder der Versammlung zugunsten des Gesetzes nur erleichtern konnte. Die Wirkungen des süddeutschen Vorstoßes vom 25. Januar waren damit entschärft. Unter solchen Umständen konnte schon vier Tage nach Zusammentreten der Nationalversammlung das inzwischen von der Reichsregierung nochmals veränderte vorläufige Grundgesetz ohne größere Schwierigkeiten durchgebracht werden. 81 Es bezeichnete ausdrücklich die Feststellung der künftigen Reichsverfassung wie auch „sonstiger dringlicher Gesetze" als Aufgabe der Nationalversammlung, knüpfte jedoch die Einbringung von Vorlagen der Reichsregierung an die Zustimmung des Staatenausschusses, der sich in derselben Weise und aus derselben Gesamtzahl von Mitgliedern zusammensetzte wie der bisherige Bundesrat. Für den Fall, daß eine Ubereinstimmung zwischen Reichsregierung und Staatenausschuß nicht zustande kommen sollte, sah diese „Notverfassung" vor, daß beide ihre Entwürfe der Nationalversammlung getrennt zur Beschlußfassung vorlegten, und, falls bei Gesetzesbeschlüssen Nationalversammlung und Staatenhaus nicht übereinstimmten, daß der Reichspräsident die Entscheidung durch eine Volksabstimmung herbeiführte. Keiner dieser Fälle ist in den sechs Monaten der Geltung dieses Grundgesetzes jemals eingetreten. Die endgültige Beschlußfassung über die neue Reichsverfassung durch die Nationalversammlung war in jedem Falle gesichert. Das einzige, allerdings wesentliche Zugeständnis, das die vorläufige Reichsverfassung den „Freistaaten" machte, blieb die Garantie ihres Gebietsstandes, der nur noch mit ihrer Zustimmung verändert werden durfte. Trotz der wenig beschränkten souveränen Entscheidungsbefugnis, die die Notverfassung der Nationalversammlung zugestand, bleibt doch auch weiterhin die große, wenn auch hintergründige Bedeutung des Staatenausschusses recht erheblich. Er war keineswegs in einem minderen Sinne Figurant innerhalb der Gewaltenkonstellation der jungen Republik als die Verfassunggebende Nationalversammlung. 81
Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar (RGBL 1919, S. 169).
Vgl. auch Jellinek im JböR IX/1920, S. 31 ff.
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Seit ihrem Zusammentreten führten jetzt die drei großen Parteien das Wort, Sozialdemokraten, Demokraten und Zentrum, das sich ebenso wie die beiden Rechtsparteien den Namen einer Volkspartei zugelegt hatte und vorübergehend als „Christliche Volkspartei" auftrat, das bis zum Ende der parlamentarischen Regierungsweise unentbehrlicher Bestandteil sämtlicher Reichsregierungen war und gemeinsam mit den beiden anderen Parteien die preußische und weit stärker als die Sozialdemokratie, wenn auch zu keiner Zeit ausschließlich, die Reichspolitik beeinflußte. Diese Koalition von Weimar gebot über 328 von 423 Abgeordneten, also über annähernd vier Fünftel der Nationalversammlung und bildete etwa in einem den Anteilen der Parteien entsprechenden Verhältnis die erste parlamentarische Reichsregierung der Republik, so daß die SPD die eine, die beiden bürgerlichen gemeinsam die andere Hälfte der 14 Ministersitze erhielten. Kurz zuvor noch hatte der „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik" seine Stimme gegen die „schädliche Wiedererstarkung einzelstaatlicher Hoheitsrechte, die über die Geltendmachung landsmannschaftlicher Selbstverwaltungsund Kulturinteressen hinausgeht," und f ü r den Einheitsstaat erhoben: für „die territoriale Neugliederung des ganzen deutschen Gebiets", aber auch für „die Eingliederung der Arbeiter- und Soldatenräte in die künftige Reichsverfassung zur Verstärkung der Arbeitervertretung und ihrer Produktionsinteressen, sowie zur volkstümlichen Gestaltung des Wehrwesens" 92. Die Regierung des Reiches hatte mit dieser raschen Klärung der inneren Verhältnisse ein bemerkenswertes Ergebnis erzielt und einen gewaltigen Schritt voran getan, durch die Schaffung einer Notverfassung tatsächlich nichts verloren; denn sie konnte vorerst ohne unmittelbare Bedrängnis auf der gewonnenen Grundlage operieren. Ebert wußte diesen Erfolg wohl in Rechnung zu ziehen, nicht so sehr dagegen Preuß, dem die Kapitulation vor der Tatsache, daß die Staaten „ohne Unterschied der Parteirichtung . . . auf ihrer absoluten Selbständigkeit" bestanden, wie Weber vorausgesehen hatte, überaus schwer fiel6''. Die Konzession, zu der er sich gezwungen sah, brachte den Hauptteil des Gedankengebäudes seiner Verfassungskonzeption zum endgültigen Einsturz. „Das einzige, was uns hier noch hilft", resümierte er, „ist, daß 82 Adresse des Zentralrates an die deutsche Nationalversammlung in Weimar vom 4 . 2 . 1919, unterzeichnet v. Max Cohen, Abschr. für den Rat der Volksbeauftragten, BA, R 43 1/1863. 93
Besprechung der Reichsregierung am 31. Januar 1919.
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Bayern so extreme Forderungen stellt, daß kein anderer mitmacht". Es blieb nur noch die „Kompetenzfrage", in der Preuß jetzt dringend zum Widerstand riet: „Wenn wir uns in der Organisation schwächen lassen sollen und auch gleichzeitig in der Kompetenz, so können wir die Verantwortung für einen solchen Entwurf nicht mehr übernehmen". Hier lagen allerdings Möglichkeiten, die die erfahrenen Reichsbeamten sofort ergriffen, nachdem Preuß berichtet hatte, daß die Kompetenzen mit den Einzelstaaten noch gar nicht des näheren erörtert worden waren. Man schwenkte umgehend auf jene Linie ein, die der preußische Unterstaatssekretär Freund soeben für sein Land projektiert hatte; denn es war wohl denkbar, Zugeständnisse hinsichtlich der künftigen „Organisation" des Reiches zu machen und dennoch „schärfsten Widerstand" in der Frage der „materiellen Kompetenzen" zu leisten' 4 . Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Schiffer, der erkennen ließ, daß er mit den Finanzministern der Länder in Verbindung stand, die sich bisher den Plänen der Reichsregierung am wenigsten widersetzt hatten, äußerte sich voller Zuversicht im Hinblick auf die künftige Entwicklung, die nach seiner Meinung „die größere Vereinheitlichung des Reiches . . . weniger aus Neigung als aus Not ganz von selbst" bringen werde: „Eine Anzahl von kleinsten Staaten wird leistungsunfähig und mehr oder minder waldeckisiert". D a er nicht glaubte, daß sich der Bundesrat alter Form auf die Dauer neben dem Reichstag behaupten könnte, aber wohl einsah, daß sich das Staatenhaus nach dem Vorschlag von Preuß nicht durchsetzen ließ, schlug er eine simultane Zusammensetzung des künftigen Bundesrates sowohl aus gewählten wie aus ernannten, zwar nicht an Instruktionen gebundenen, aber durch die Regierungen jederzeit abberufbaren Mitgliedern vor. Im übrigen stand es auch für ihn außer Frage, daß sich die Reichsregierung in der Zuständigkeitsfrage nichts abhandeln lassen durfte. Der Gedanke des sozialdemokratischen Staatssekretärs des Reichsernährungsamtes Wurm hingegen, die unitarischen Bestrebungen in der Bevölkerung, die „kein Verständnis für die Quisquilien der Einzelstaaten" habe, durch stärkeren Ausbau des Referendumsrechts vor das Gefährt der Reichspolitik zu spannen, wurde für weniger brauchbar erachtet, da er gerade die denkbaren regionalen Besonderheiten der Auffassungen und Stimmungen der Bevölkerung nicht berücksichtigte, die durch Veranstaltung eines Referendums womöglich gar belebt oder überhaupt erst ausgelöst werden konnten. Überdies bestanden kaum * 4 Staatssekretär v. Krause, ebda.
Die Länder
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Aussichten für die Annahme eines solchen Vorschlages im Staatenausschuß. Doch darin herrschte bei Volksbeauftragten wie Ressortdiefs des Reiches vollkommene Übereinstimmung mit Ebert, daß die Notverfassung das äußerste Maß dessen darstellte, „was das Reich den Einzelstaaten gestatten" konnte, und daß es daher in der auftauchenden Kompetenzfrage mit größter Energie „den Kampf in der Nationalversammlung" aufnehmen müßte. 95 Wenn es auch ein unsicheres Geschäft gewesen wäre, die gesamte Bevölkerung für die unitarischen Ziele aufzurufen, so wußte Ebert doch, daß die Mehrheit der Nationalversammlung unter seiner Autorität zu einer Macht gegen die Regierungen der Staaten werden konnte. In dem Unterausschuß, den der Staatenausschuß eingesetzt hatte, schritt die Einigung über die künftige Stellung der Länder am 31. Januar rasch voran, 96 so daß schon am 1. Februar der Staatenausschuß erneut zusammentreten konnte. Konstruktion und Tätigkeit des späteren Reichsrates wurden zwischen den Beamten des Reichsamtes des Innern und den Vertretern der Staaten unter maßgeblicher Beteiligung Preußens nahezu definitiv ausgehandelt: die Zusammensetzung aus Bevollmächtigten der Regierungen, die jederzeit abberufen werden können, jedoch nicht an Instruktionen gebunden sind, die Öffentlichkeit der Vollsitzungen neben geheimen Ausschußsitzungen und, gegen die Stimme Ritter v. Pregers, die Bestimmung, daß der Vorsitz immer durch ein Mitglied der Reichsregierung geführt werden sollte. In diesem verhältnismäßig kleinen Gremium der Vertreter der größeren Staaten ließ sich sogar Einmütigkeit darüber erreichen, daß die kleineren, mit Ausnahme der Hansestädte, nicht erhalten bleiben und bei der Feststellung des Reichsratsstimmrechts unter Druck gesetzt werden sollten, um sie zu freiwilligem Zusammenschluß zu zwingen. Zu diesem Zweck wurde die Eine-Million-Einwohner-Formel erfunden, die die Bedingung für die Entsendung eines Reichsratsbevollmächtigten für jeden Staat bis zu dieser Mindestvolkszahl hinaufschraubte und damit zu Lasten der Länder mit geringerer Bevölkerung das Prinzip des staat" 5 ebda., Ebert. 66
„Aufzeichnung über die Verhandlungen des am 30. Januar 1919 eingesetzten
engeren Ausschusses im Reidisamt des Innern vom 31. Januar 1/1863.
Anwesend
waren
Preuß,
Unterstaatssekretär
Lewald,
1919", BA, R 43 Geheimer
Ober-
regierungsrat Schulze, Geheimer Regierungsrat Apelt und Regierungsrat v. Zahn vom Reidisamt des Innern, Unterstaatssekretär Freund, Gesandter Ritter v. Preger, der sächsische Ministerialdirektor v. Sichart, der württembergisdie Liesching und der Hamburgische Senator Schaefer.
Finanzminister
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liehen Delegationsmodus in der Stimmenrechtsdefinition durchbrach. Außerdem beschloß der engere Ausschuß auf Vorschlag von Preuß, das Referendumrecht des Reichspräsidenten im Falle der Nichtübereinstimmung von Reichsrat und Reichstag fakultativ zu fassen und damit Macht und Verantwortung des Präsidenten zu heben, wie auf Vorschlag des sächsischen Vertreters, den Reichsrat mit dem Zustimmungsrecht zum Erlaß allgemeiner Verwaltungsvorschriften und mit einem Informationsrecht gegenüber der Reichsregierung auszustatten. Wie kaum anders zu erwarten, löste die Eine-Million-Klausel am nächsten Tage den heftigsten Widerspruch der kleineren Staaten, Braunschweigs, der beiden Mecklenburg, Weimars und Gothas, aber auch des nicht selbst betroffenen Hessen aus.97 Auf Antrag des hanseatischen Delegierten wurden daraufhin die Hansestädte, ohne H a m burg, das infolge seiner Einwohnerzahl von dieser Klausel ohnehin nicht betroffen wurde, nicht mehr ausgenommen; anderseits erhielten die kleinen Staaten das Recht zugestanden, beim Vorliegen „überwiegend wirtschaftlicher Gründe" die Zulassung eines eigenen Vertreters im Reichsrat beantragen zu können. In dieser Sitzung war es gerade Preuß, der durch seine ohne Widerspruch entgegengenommene Interpretation der Beschlüsse des Vortages die Instruktionsbefreiung der künftigen Reichsratsmitglieder tatsächlich wieder entwertete. Er legte jetzt die Delegation zum Reichsrat als Vertretung der Länderminister aus, die er infolgedessen auch „für die Stimmabgabe verantwortlich" machte; alle weiteren Regelungen sah er als „Interna" der Staaten an. Preuß vollzog hier offensichtlich die Wendung der Reichsregierung auf seine eigene Weise. Es hat den Anschein, daß er sich jetzt mit dem neuen Gedanken vertraut machte, den Reichsrat zu einer eigengesetzlich arbeitenden Körperschaft auszugestalten, indem er den nicht grundsätzlich an Instruktionen gebundenen Bevollmächtigten eine starke Rückendeckung bei den Ministern zu verschaffen, jedoch nicht grundsätzlich von den Regierungen der Staaten abhängig zu machen suchte. Preuß wollte die Reichsratsmitglieder zu Verbindungsleuten, gleichsam zu Diplomaten der Fachressorts machen, was immerhin eine, wenn auch begrenzte Aussicht bot, die Verhandlungen des Reichsrats zu Ressortvertreterkonferenzen zu gestalten, wie sie zwischen den Ressorts des Reiches wie der größeren Länder fast ständig an der Tagesordnung waren, und, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, von "7 „Aufzeichnungen über die Beratungen in dem Ausschuß der Staatenvertreter im Reichsamt des Innern vom 1. Februar 1919", BA, R 43 1/1863.
Die Länder und die
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den differenzierenden Bedingungen der Koalitionsverhältnisse und -rücksichten der Länderregierungen zu entlasten. Von dieser Neuerung versprach sich Preuß offenbar eine Möglichkeit, die größeren Stimmenanteile der größten Staaten zu neutralisieren. Vermutlich dachte er auch, auf diese Weise eine Gruppe länger amtierender, mit Reichsgeschäften vertrauter Fachbeamten der Länder zu schaffen, deren Tätigkeit sich allmählich zugunsten des Reiches auswirken würde. Der bayerische Gesandte hatte am Vortage die Bemerkung eingeworfen, daß die Reichsratsmitglieder grundsätzlich nicht Minister sein dürften, da sonst die Gefahr bestünde, „daß sie eine Politik auf eigene Hand" trieben. Er hatte dieses Gefahrenmoment für eine einheitliche Landespolitik dem Reiche gegenüber also erkannt, die Preuß, ohne auf der Ministerernennung zu bestehen, nun in entgegengesetztem Sinne auszunutzen versuchte. Der Chef des Reichsamtes des Innern wandte jedenfalls recht differenzierte Mittel an, um von seinen Grundsätzen soviel wie möglich zu retten, selbst wenn nur begrenzte Erfolge in Aussicht standen. Als Unterstaatssekretär Freund die Staatenneubildungsbestimmung des Preußschen Entwurfs so faßte, daß einzelne Freistaaten ihre gegenseitigen Grenzen verändern, sich zu neuen Staaten vereinigen oder sich in mehrere Staaten teilen konnten, drohte dem umstrittenen und verschrienen § 11 plötzlich die Gefahr, zu einer Handhabe für zwischenstaatliche Grenz- und Organisationsänderungen innerhalb des Reiches nach dem Willen der Staatenregierungen, jedoch unter Ausschaltung der Reichsregierung zu werden. Da Preußen als das größte Land für sich nichts zu befürchten brauchte, wohl aber Nutznießer dieser Bestimmung sein konnte, wollte Preuß ihr nicht zustimmen. Die derzeitige preußische Regierung hatte deutlich genug erkennen lassen, daß sie nicht im entferntesten daran dachte, auf Loslösungsbestrebungen innerhalb des preußischen Staatsgebiets anders als mit schärfster Anwendung der ihr zu Gebote stehenden Machtmittel zu erwidern. 98 98
Ein
Erlaß
der
Regierung
Hirsch
vom
10.
Dezember
1918
erklärte
solche
Bestrebungen zu Gefährdungen des Gemeinwohls und wies sämtliche Behörden an, sich hiernach „unweigerlich zu richten" und „allen dem zuwiderlaufenden Eingriffen unnachsichtlich entgegenzutreten". ( D G R , S. 2 6 1 ) . Während dieser E r l a ß jedoch noch „die künftige staatsrechtliche Gestaltung Preußens" der Nationalversammlung überlassen wollte, deren Zusammentritt damals noch in weiter Ferne lag und kaum vor März erwartet wurde, hieß es in einer Bekanntmachung
der gleichen
Regierung
vom 30. Januar 1 9 1 9 : „Bereits in unserer Bekanntmachung vom 10. Dezember ist darauf hingewiesen, daß die künftige staatsrechtliche Gestaltung Preußens durch die preußische 11
Schulz 1
[!]
verfassunggebende
Versammlung
bestimmt
werde
und
daß
allen
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und die Reichsverfassung
von Weimar
Den Einwendungen von Preuß suchte Freund dadurch zu begegnen, daß er die Errichtung einer besonderen Vermittlungsstelle empfahl, die Zusammenschlußbestrebungen von Reichs wegen fördern sollte. Dieses zweifelhafte Erzeugnis taktischer Augenblickserwägungen, das, soweit sich voraussehen ließ, kaum in der Lage sein konnte, ernsthaft die Wirkung der von Freund beantragten Bestimmungen zur Staatenneubildung zu beeinflussen, fand dann schließlich doch die Zustimmung von Preuß, der sie aber wohl in anderer Absicht als ihr geistiger Urheber in Reserve zu halten gedachte." Uberraschenderweise traten auch andere Staatenvertreter für ernsthafte Zusammenschlußbemühungen ein, so daß die Freundschen Vorschläge im Augenblick in unerwartetem Maße an Realität gewannen. Der hessische Gesandte Freiherr v. Biegeleben und der thüringische Vertreter Paulssen der bereits auf einen thüringischen Staatenzusammenschluß hinarbeitete, verwandten sich für eine Pflichtklausel, die allen Ländern mit 500 000 Einwohnern oder weniger den Zwang zum Zusammenschluß zu einer Größe von mindestens zwei Millionen Einwohnern auferlegte; damit war eine Zwei-Millionen-Formel geboren. Auch von ihr durfte Preußen erhebliche Gewinne erwarten, dem die Staatenenklaven von Oldenburg, Braunschweig, Anhalt und auch die Hansestädte Bremen und Lübeck, also außer Hamburg die wichtigsten deutschen Seehäfen, mangels anderer Anschlußmöglichkeiten zufallen mußten, so daß sämtliche Gebiete der norddeutschen Tiefebene in einer einzigen politischen Einheit zusammengefaßt worden wären. Derartige territoriale Eroberungen mit verfassungspolitischer Hilfe waren freilich nicht nach dem Geschmack derer, die noch die Furcht vor der preußischen Hegemonie kannten und ihr noch eben auf das entschiedenste und endgültig zu Leibe gehen wollten. Wenn auch der Nutzen auf der Hand lag, den die überalterte Staatenbildung im mitteldeutschen Raum von einer solchen Bestimmung haben mußte, so mochte sich doch die Mehrheit der Versammlung solchen Vorschlägen nicht anschließen. Die Vorstellungen über die künftige Form des deutschen Föderalismus wurden noch von dem Prinzip beherrscht, an der jeweiligen Form des Bestehenden festzuhalten und durch einen vielfältigen Rechtsschutz abVersuchen, Teile von Preußen loszureißen, mit Nachdruck entgegenzutreten sei", (a. a. O., S. 423). 99
Preuß erklärte seine Zustimmung zur Vermittlungsstelle unter ausdrücklicher Distanzierung von den Intentionen des Antragstellers: „vorausgesetzt, daß auch hinter ihr ein gewisser Nachdruck stünde, was nadi dem Freundschen Antrag nicht der Fall ist.". (Beratungen am 1. Februar 1919).
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zusichern, und waren noch keineswegs f ü r einmütige Entschlüsse reif. Infolgedessen mußte die Konferenz auseinandergehen, ohne eine endgültige Entscheidung über Sinn und Inhalt des Paragraphen 11 gefunden zu haben, und sich nach Weimar vertagen. Es blieb daher einstweilen, tatsächlich aber auch noch in der nächsten Zukunft ungewiß, in welchem Umfang wirklich mit der hier sichtbar gewordenen Tendenz gerechnet werden mußte, aus kleineren Staaten größere und leistungsfähigere Regionalgebiete zu formen, die dann, mit den alten Rechten der Staaten ausgestattet, der Reichspolitik womöglich gar noch energischer entgegentreten konnten als bisher. Eine Neugliederung wäre wohl als eine Annäherung an die Preußschen Ziele zu verstehen gewesen, aber eben nicht die Erhaltung der Staatlichkeit alter Art. In der folgenden Konferenz in Weimar schritt dann jedoch die Klärung der langen Reihe noch offen gebliebener Fragen binnen vier Tagen bis zur Reife eines neuen Entwurfs fort. 100 Dieses Ergebnis wäre vermutlich nicht so bald erreicht worden, wenn sich die Sprecher des Reiches nicht einer sehr zurückhaltenden Taktik befleißigt und das Feld in erster Linie den Ländervertretern überlassen hätten, die jetzt die sie wichtig dünkenden Bestimmungen weitgehend gegenseitig und zum Teil auch gegeneinander aushandelten. Die Reichsregierung zog sich, gewiß schon im Zeichen der Behandlung, die Ebert den Vertretern Süddeutschlands angedeihen lassen wollte und die dann in seiner Erklärung vom 8. Februar zum Ausdruck kam, 101 auf die Rolle einer zweifachen Vermittlerin zwischen den Staatenvertretern sowie zwischen Staatenausschuß und Nationalversammlung zurück. Die letzte und endgültige Entscheidung erwartete sie nunmehr, wie es auch die vorläufige Reichsverfassung vorschrieb, von den Verhandlungen in der Nationalversammlung, in der sie einer stärkeren Unterstützung ihrer ursprünglichen Absichten sicherer sein durfte als von Seiten der Staatenvertreter. Von dem ursprünglichen Plan Eberts, mit einem vollständigen Verfassungsentwurf vor die Nationalversammlung zu treten, wohl um ihn dann Stück f ü r Stück zu verteidigen, war freilich nicht mehr viel übrig geblieben. Die Staaten hatten sich stärker erwiesen als vorausgesehen. Das Verhandlungsergebnis bedurfte infolgedessen gerade der kritischen und revidierenden Behandlung in der Verfassunggebenden Nationalversammlung. 100 Niederschrift über die „Verhandlungen der Staatenvertreter im Fürstenhaus in Weimar", 5 . - 8 . 2 . 1 9 1 9 , BA, R 43 1/1863. 101
n*
vgl. o., Anm. 90.
164
/• Die Demokratie
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und die Reichsverfassung
von Weimar
Der Erfolg dieser Wendung war zunächst, daß die Sprecher Preußens, voran Freund, zeitweilig den Ton angaben und daß sich die Vertreter Bayerns unter der Führung des Gesandten Ritter v. Preger durch ihr hartnäckiges Bestehen auf den Reservatrechten trotz der anfänglichen Unterstützung, die sie teilweise bei den Vertretern Württembergs und Badens fanden, zusehends unbeliebter machten und unbeabsichtigt in eine Isolation hineinmanövrierten, so daß sie in wichtigen Fragen die Initiative oder das entscheidende Votum den Preußen überlassen mußten. Preuß selbst bemühte sich, jeden Konflikt mit den Vertretern des größten Landes zu vermeiden und mußte es infolgedessen geschehen lassen, daß aus dem Entwurf auch die Reste der Bestimmungen verschwanden, in denen eine Möglichkeit zur Anwendung gegen Preußen in seiner derzeitigen Gestalt lag. Der einzige wichtige Antrag, den Hugo Preuß stellte, griff auf die Zwei-Millionen-Klausel vom 1. Februar zurück und brachte die vorgeschlagene Zwangsvorschrift in die Form eines Rechtes zu reichsgesetzlicher Regelung nach erfolgloser Vermittlung des Reiches. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch an dem von Freund geführten Widerspruch. Bei den Vertretern der preußischen Regierung hatten sich inzwischen Bedenken sowohl gegen die Festlegung einer Zwei-Millionen-Grenze wie gegen die Reichsvermittlung und den Zwangsweg eingestellt, so daß sie die einfache Ablehnung jeder weiteren Erörterung vorzogen. Sie fürchteten offenbar Fußangeln, die leicht aus späteren zusätzlichen Klauseln entstehen konnten, sobald erst einmal die Grundsätze im Verfassungsentwurf verankert waren. Angesichts der ungewissen Wege, die diesem in der Nationalversammlung noch bevorstanden, in Anbetracht herrschender Stimmungen und Interessen in anderen Ländern, die keineswegs zugunsten der alten Hegemonialmacht ausschlugen,102 und der Absichten des Chefs des Reichsamtes des Innern nimmt die vorausschauende Selbstsicherung der preußischen Staatspolitik kaum Wunder. In sehr wirksamer Weise lieh ihr Riezler, der Sprecher des Auswärtigen Amtes, seine Hilfe, indem er auf das Übergreifen dieser Frage „in die Auslandspolitik" hinwies und damit ein Argument lieferte, das im 102
Der Braunschweigische
Gesandte Boden charakterisierte die Alternative,
sich auf Grund der von Preuß gewünschten Bestimmung für die Länder sdiweig und Anhalt ergeben hätte: Lösung
die
Braun-
„Entweder sie gehen in Preußen auf. Diese
dürfte nicht im Sinne des Antrags Preuß liegen, dem schon das jetzige
Preußen zu groß ist. Oder sie werden zu einigermaßen selbstgenügsamen Staaten vergrößert; das geht nur, wenn Preußen Gebiet dazugibt. Ob es dies im gehörigen Umfang tun wird, ist mir recht zweifelhaft".
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Staatenausschuß großen Eindruck hervorrief: „Frankreich möchte Deutschland zerstückelt sehen und begünstigt die Loslösungsbestrebungen des Rheinlandes, die sich jetzt als solche von Preußen aufspielen". Riezler befürchtete vom § 11 „eine Aufmunterung zur Bildung neuer Staaten" und wollte daher seine Fassung geändert wissen; denn „nicht ein Ansporn, sondern eine Schranke f ü r solche Bestrebungen ist nötig". Die außenpolitischen Verhältnisse ließen sich in der Tat nicht übersehen. Solange die Beziehungen zu Frankreich unkonsolidiert blieben, mußte die Existenz Preußens neben allem anderen auch ein Politikum der äußeren Politik sein, was übrigens, wenn auch in geringerem Umfang, f ü r jede Art einer umfangreichen Neugliederung im Sinne des Einheitsstaates zu berücksichtigen war. Max Weber hatte schon im Dezember, nach den Verhandlungen im Reichsamt des Innern auf außenpolitische Gesichtspunkte hingewiesen und an Preuß geschrieben, daß man die Verfassung keinesfalls „formell ,unitarischer' machen" konnte als geschehen, „weil dies das Mißtrauen der Entente allzu stark erregt und uns 20 bis 30 Milliarden mehr Kosten, Pfandbesitz und Landabtretung gekostet hätte. D a liegt ja die zentrale Schwierigkeit". 103 Riezler fügte solchen Bedenken jetzt andere hinzu, die f ü r die Aufrechterhaltung Preußens sprachen, das den größten Teil der unmittelbar gefährdeten Grenzgebiete unter seiner intakten Verwaltung hatte. Er verhalf damit den energisch vorgebrachten preußischen Einwendungen gegen den Antrag des Chefs des Reichsinnenressorts zum durchschlagenden Erfolg. In diesem Zusammenhang spielte auch das Gesandtschaftsrecht der Staaten eine Rolle, an dem Preger f ü r Bayern und Poetzsch f ü r Sachsen festhielten. D a die innerdeutschen Gesandtschaften ebenso wie die ausländischen den diplomatischen Status besaßen und ihre Gesandten dem diplomatischen Corps angehörten und da die neue bayerische Regierung in Bern und Wien eigene Auslandsvertretungen unterhielt und seit 1917 ein päpstlicher Nuntius in München residierte, drohten in diesem Punkte innerpolitische und äußere Beziehungen miteinander zu verschmelzen. Freilich konnte man hierin eine nach dem Ergebnis des Krieges in gewissem Umfang verständliche Reaktion darauf erblicken, daß die Beteiligung der Staaten an der deutschen Außenpolitik in der Vorkriegszeit, wenn auch nicht ohne ihre eigene Schuld, auf Formalien und ein Minimum wirksamer Einflüsse zusammengeschrumpft war und während der Julikrise des Kriegsausbruchjahres sich als nahezu be10
» Brief vom 25. Dezember 1918, zit. W. J. Mommsen, M a x Weber, S. 366.
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deutungslos erwiesen hatte104. Immerhin erklärte jetzt Preger, der Befürchtungen hinsichtlich partikularistischer außenpolitischer Ambitionen seiner Regierung vorbeugen mußte, daß sie auf „fremde Vertretungen in Bayern . . . kein Gewicht" lege; denn diese könnten „unter Umständen Spionennester sein". Daß die bayerische Regierung unter den gegebenen Verhältnissen einer ausländischen Mission schwerlich das Aufenthaltsrecht zu verweigern vermochte, sollte sich indessen schon ein Jahr später zeigen, als sich der französische Gesandte Dard in München niederließ. Die drei süddeutschen Staaten zeigten sich auch lebhaft an der verfassungsmäßigen Verankerung eigener Militärverwaltungen interessiert und wiederholten das alte Ringen um das Heeresreservat. Der bayerische Militärbevollmächtigte Major Sperr wähnte sich angesichts des Kriegsausgangs sogar zur Vertretung der erstaunlichen These berechtigt, daß sich militärisch gesehen, „die Notwendigkeit des Einheitsheeres . . . bisher noch nicht erwiesen" habe105. Der preußische Kriegsminister Oberst Reinhardt versuchte zu vermitteln, indem er nur für die größten Länder eigene Oberkommandos und eigene Militärverwaltungen vorschlug, was vor allem der Macht Preußens zugute gekommen wäre. Verfassungsmäßig sollte jedoch die Militärverwaltung dem Reiche zustehen und die Wahrung der Einheit der Militärpolitik einem Reichswehrministerium anvertraut werden. Hiermit wollten sich aber weder die drei süddeutschen Länder noch Hessen und Sachsen-Meiningen zufrieden geben, die am Ende dann doch einen anderen Kompromiß vorzogen, der die Regelung der Militärfrage nicht verfassungsmäßig zur Sache des Reiches machte, aber immerhin der künftigen Regelung durch Reichsgesetze vorbehielt. Die Vertreter Bayerns sahen allerdings gerade hierdurch ihre wesentlichen Wünsche zurückgewiesen, so daß sie als einzige dieser Vereinbarung ihre Zustimmung versagten. Die preußischen Bestrebungen, mit Hilfe allgemein gefaßter einzelstaatlicher Rechtsansprüche die alte Hegemonie wiederherzustellen, 104 Hierzu von bayerischer Seite Schwend, Bayern, S. 46 f. In diesen Zusammenhang gehört audi die Problematik der von Eisner initiierten Veröffentlichung bayerischer Dokumente zum Kriegsausbruch im November 1918. Vgl. Pius Dirr, Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, München 1924. Aufschlüsse über Tätigkeit und Bedeutung des Bundesratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten gibt die Untersuchung von Ernst Deuerlein. Der Bundesratsausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten 1870—1918, Regensburg 1955. 105 Niederschrift der Verhandlungen vom 5. bis 8. Februar 1919.
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blieben bei der verfassungsrechtlichen Militärfrage nicht stehen. Unterstaatssekretär Freund rettete das länderstaatliche Polizeirecht in denkbar größtem Umfang vor dem Zugriff des Reiches. Das Gebiet der öffentlichen Sicherheit blieb nach seinem Antrag grundsätzlich den Einzelstaaten vorbehalten, mit Ausnahme lediglich derjenigen Gebiete, „die f ü r das ganze Reich nur einheitlich geregelt und verwaltet werden können." Sei es, daß die bayerischen und die badischen Abgesandten diese Formel zu ungenau fanden, sei es, daß sie einen allzustarken einseitigen Nutzen Preußens f ü r möglich hielten; sie schlössen sich ihr jedenfalls nicht an. Sie wurde ohne ihre Zustimmung angenommen. Freund war es auch, der die unter starker Anteilnahme Webers entstandenen Gemeindeverfassungs- und Enqueterechtsgarantien im § 12 des Preußschen Entwurfs jetzt mit sächsischer, bayerischer, württembergischer und badischer Unterstützung zu Fall brachte. Sogar die Streichung des gesamten Paragraphen hing an einem seidenen Faden und wurde nur von einer geringen Mehrheit verhindert; Freunds Feststellung, Enquetefragen seien Landessache und Gemeindeangelegenheiten und gehörten nicht in die Verfassung, drang jedoch durch. Die Erörterung der künftigen Besteuerung dagegen, die erstmals den Komplex der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reich und Ländern berührte und die Probleme eines Finanzausgleichs von Ferne sichtbar werden ließ, ging dank preußischer Hilfe einigermaßen zugunsten des Reiches aus. Die Sprecher Bayerns und Sachsens in dieser wichtigen Angelegenheit, die Ministerialdirektoren v. Wolf und v. Sichart, waren f ü r den vorgesehenen Übergang sämtlicher Steuerarten auf das Reich nicht zu haben und verlangten die Biersteuer, die Branntweinsteuer, vor allem aber die wichtige Einkommensteuer f ü r die Länder. Der sächsische Bevollmächtigte hielt bereits eine grundsätzliche Scheidung der Steuerquellen zwischen Reich und Ländern f ü r unerläßlich; die anderen Sprecher befürworteten Vorbehalte f ü r einzelne Steuerarten. Den Einkommensteuer-Vorbehalt unterstützten außer Bayern auch Sachsen und Sachsen-Meiningen; f ü r den Bier- und BranntweinsteuerVorbehalt traten Bayern, Württemberg und Baden ein, so daß es schließlich entscheidend auf das Votum Preußens ankam, das der sozialdemokratische Finanzminister Südekum mit großer Entschiedenheit gegen diese Aufsplitterung der steuerlichen Finanzquellen abgab. Als einziger verwies er auf die voraussichtlichen Schwierigkeiten der Finanzlage Deutschlands, die nach dem verlorenen Krieg nur durch Zusammenfassung aller Kräfte und in Anbetracht der noch unübersehbaren, aber ohne Zweifel umfangreichen finanziellen Kriegsfolgen
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verschiedener Art nur mit Hilfe einer rationellen Zusammenfassung aller verfügbaren Kräfte gemeistert werden konnte. Spätestens dieser Punkt der Verhandlungen enthüllt die völlig ungenügende Beweglichkeit der meisten Staatenvertreter und das tief Problematische der theoretischen Staatskontinuität, soweit sie mit einer beharrlich festgehaltenen Vertragsthese unter Berufung auf Inhalt und Sinn der Verfassung von 1871 verfochten wurde. Die politische Entwicklung der Zwischenzeit, Krieg und Zusammenbruch hatten unwiderruflich Tatsachen geschaffen, die eine konstitutionelle Staatsreform keineswegs ausreichend zu erfassen vermochte, falls sie sich nicht mit einer umfassenden Rationalisierung der inneren Verhältnisse verband, die zugleich Belebung und Leistungssteigerung sein konnte. Das Problem einer ausreichenden Finanzierung der zweifellos gewaltigen künftigen Reich saufgaben, die keinen Vergleich mit der Vergangenheit mehr erlaubten, ließ sich nicht verleugnen. Das aber hieß am Ende nichts anderes, als daß die Höhe der historischen Situation von denen, die sich zu Treuhändern der Länderinteressen aufschwangen, bei weitem nicht nur Geschick, Energie und Beharrlichkeit in dem Ringen um alte oder neue Rechte verlangte, sondern daß sie die Frage nach der Lebensfähigkeit der Länder ebenso im Gesichtswinkel der unausweichlichen Nachkriegsbelastungen der Republik zu stellen und zu prüfen wußten. Die Konferenz fand jedoch nur einen Kompromiß, dem die Vorläufigkeit auf den ersten Blick anzumerken war. Die Mehrheit stellte sich auf die Seite Südekums und lehnte die Vorbehalte der süddeutschen Länder ab. Sie beschloß die verfassungsmäßige Verankerung allgemeiner einheitlicher Reichssteuern, aber Besteuerung nach Landesgesetzen. Dem Reich wurde das Verfügungsrecht über die Steuerquellen zugestanden, jedoch nicht die Bestimmung über die Besteuerungsart und auch nicht die Verfügung über die Steuerverwaltung. Der Entwurf, der schließlich auf Grund dieser Verhandlungen zustande kam, bezeichnet den äußersten Punkt, den die Bestrebungen zur Restauration des alten Bundesstaatensystems erreichten.10' Auf Antrag 10i Wenn Sdiwend bemerkt, daß Preger, Sperr und Wolf den Kampf um die alten Reservatrechte „mit halbem, kompromißbereitem Herzen" geführt hätten (a. a. O., S. 83), so gilt das gewiß nicht von ihrer Verhandlungsführung in der Konferenz der Staatenvertreter, sondern wohl lediglich im Hinblick darauf, daß sie den beschlossenen Entwurf, gegen den sie viele Einwände vorbrachten, im bayerischen Ministerrat am 17. Februar verteidigten. D a ß sie trotzdem das Endprodukt der Verhandlungen in München durchbrachten, beweist, daß auch sie die derzeitigen Grenzen des altstaatlichen Föderalismus erkannten und den Entwurf als optimales Ergebnis einschätzten.
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Reichsverfassung
169
des hessischen Gesandten Freiherr v. Biegeleben wurde auch ein noch nicht näher ausgeführtes Gesetzesinitiativrecht des Reichsrats aufgenommen. U n d sogar die ursprünglich vorgesehene Eingangsformel wurde abgewandelt. In der ersten Fassung lautete sie: „Die Staatsgewalt liegt beim deutschen Volke." Ein Vorschlag des badischen Ministers H a a s schwächte sie mit Unterstützung Württembergs und der Hansestädte zu dem nahezu bedeutungslosen Ausdruck ab: „Die Staatsgewalt liegt beim Volke", der in wenig verpflichtender Form die A b lösung des monarchischen durch das demokratische Prinzip k u n d t a t . Die am 12. Februar gebildete neue Reichsregierung nahm dann noch ihrerseits einige Änderungen vor. Sie strich die militärischen Bestimmungen und fügte einen Katalog von Gesetzgebungszuständigkeiten des Reiches ein,107 der dann in den Beratungen des Staatenausschusses nach Annahme der vorläufigen Reichs Verfassung langwierige Verhandlungen heraufbeschwor, ohne d a ß in der Frage des Vollzugs u n d der Einrichtung von Reichsbehörden auf den Gebieten der gesetzgeberischen Reichskompetenz eine vollständige Einigung zustande kam. Preger wünschte eine Bestimmung, nach der die Einrichtung von Reichsbehörden zum Vollzug der Reichsgesetze verfassungsändernder Gesetze bedurfte; er legte also den Katalog der gesetzgeberischen Zuständigkeiten im engsten Sinne aus u n d wollte jede Veränderung im status quo der Verwaltungsorganisation, auch wenn sie auf verfassungsmäßig festgelegten Reichszuständigkeiten beruhen sollte, als Verfassungsänderung ansehen, eine Auffassung, der man in abgewandelter Form auf bayerischer Seite auch später noch begegnete. Die Vertreter der Reichsressorts suchten unter Hinweis auf die im Bismarckreich beobachteten Praktiken zu widersprechen, die in der T a t f ü r die bayerische Auffassung keine Rechtfertigung lieferte. Die Errichtung oberster Reichsbehörden geschah bis zum J a h r e 1918 mittels kaiserlicher E r lasse, nicht aber auf G r u n d verfassungsändernder Gesetze. Freilich nahm die bis dahin eingeschränkte Tätigkeit des Reichstages diesem Vergleich die Überzeugungskraft. Preger sah sich aber doch im Verlauf der Debatte, in der die Sekundanten ausblieben, immer mehr in die Enge getrieben u n d den von ihm aufgestellten Grundsatz bald dahin107 Drucksachen zu den Verhandlungen des Staatenausschusses, Nr. 4. Die als Bd. I der Protokolle der Vollsitzungen des Reichsrates veröffentlichten Niederschriften über die Verhandlungen des Staatenausschusses enthalten lediglich die Beschlüsse. Die vollständigen Aufzeichnungen über die Beratungen des Staatenausschusses vom 18. bis 20. Februar 1919 sind bisher unveröffentlicht: BA, R 43 1/1863.
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/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
gehend modifiziert, daß das Reich auf Grund seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeiten lediglich oberste Reichsbehörden errichten dürfe, der Vollzug aber grundsätzlich Sache der Landesverwaltungen sei. Damit war jedoch der Punkt der Zuständigkeitsfrage erreicht, an dem es sich zeigte, daß das Reich „festzubleiben" entschlossen war. Unterstaatssekretär Lewald vom Reichsamt des Innern ließ hieran auch keinen Zweifel und bemerkte: „Eine solche Erklärung würde die Reichsregierung nicht dauernd binden können". D a jedoch die Staaten nicht zu resignieren gedachten, konnte die Zuständigkeitsfrage trotz längerer Erörterungen weder nach der einen noch nach der anderen Seite abschließend geklärt werden. Der Staatenausschuß trat dann am 21. Februar nochmals zusammen, um den Entwurf in einer zweiten Lesung zu behandeln, 108 fand aber auch an diesem Tage nicht zu wesentlich besseren Ergebnissen. Die Bestimmungen über die Aufteilung und den Zusammenschluß von Gliedstaaten und über die endgültige Aufschlüsselung der Stimmen im Reichsrat blieben ebenfalls offen. Kurz nach dieser Beratung legte Preuß den zweiten amtlichen Verfassungsentwurf der Reichsregierung der Nationalversammlung vor.10* Er löste das Zuständigkeitsproblem in der Form, daß er eine Reihe von einzelstaatlichen Sonderrechten auf Gebieten festlegte, auf denen das Reich nur jeweils im Vertragswege die Zuständigkeiten eines Staates übernehmen können sollte. Das galt u. a. für das Heerwesen, die Seeschiffahrt, Post- und Telegraphenwesen, Eisenbahnen und Wasserstraßen, Bier- und Branntweinbesteuerung. Ein preußisches Übergewicht im Reichsrat blieb dadurch erhalten, daß dieser Entwurf zur Bestimmung der höchsten Stimmenzahl auch den einer Mindestzahl hinzufügte. Man sieht, daß die preußischen Staatsinteressen sich auch noch außerhalb der Sitzungen des Staatenausschusses Einfluß verschafften. Die erste Beratung der Nationalversammlung endete mit der Überweisung dieses Entwurfs an einen Verfassungsausschuß, in dem Vertreter aller Parteien der Versammlung dreieinhalb Monate hindurch über eine Neufassung berieten, die dann in der zweiten Hälfte des Monats Juni zu weiterer Behandlung wieder an die Nationalversammlung zurückging.110 Dort fanden den ganzen Juli über die zweite 108
Niederschrift BA, R 43 1/1863.
Dieser zweite Regierungsentwurf befindet sich unter den Drucksachen der Nationalversammlung: Vh V N V (Anl zu den StenBer Bd. 335), Nr. 59. 109
110
Anl zu den StenBer Bd. 336, Nr. 391: Mündlicher Bericht des 8. Ausschusses
Die Länder und die
Reichsverfassung
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sowie die dritte Lesung der Verfassung statt, die noch einzelne wesentliche Änderungen brachten, ehe der endgültige Text der neuen Reichsverfassung am 31. Juli 1919 mit 262 gegen 75 Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei, der Deutschen Volkspartei, der Unabhängigen Sozialdemokraten und einiger bayerischer Abgeordneter, darunter der des Volksparteilers Heim, bei einer Stimme Enthaltung angenommen wurde und an die Stelle der vorläufigen Reichsverfassung trat." 1 Die Tätigkeit des Verfassungsausschusses war, wie kaum anders zu erwarten, mit tiefen Eingriffen in den mit den Staatenvertretern vereinbarten Entwurf der Reichsregierung verbunden. „Die Neigung, dem Reiche viel zu geben, wird immer stärker", notierte Koch-Weser am 14. März; und er lieferte die Begründung hierzu, indem er auf die Haltung der Parteien zur Rechten anspielte: „Früher fürchteten die Rechte und das Zentrum den radikalen Reichstag, jetzt beginnen sie auf dem Gebiet des Schul- und Kirchenwesens die viel radikaleren Tendenzen mancher Einzelstaaten zu fürchten und suchen beim Reiche Schutz".112 Das galt in erster Linie f ü r Preußen, dessen künftige Stellung und Politik immer wieder aufs neue als ungewisse Frage auftauchte, die den Abgeordneten der Nationalversammlung den zuversichtlichen Blick in die Zukunft nahm. Eine flüchtige, allerdings recht merkwürdige Möglichkeit, die preußische Frage zugleich mit der Ausgestaltung des künftigen Reichspräsidentenamtes zu lösen, scheiterte in den internen Parteidebatten. Die Aufzeichnungen Koch-Wesers bezeugen, daß der Gedanke auftauchte, außer dem Reichspräsidenten nach dem Vorbild von Württemberg und Hessen auch für Preußen einen Präsidenten als Staatsoberhaupt einzusetzen. Es beleuchtet die gedankliche Experimentierfreudigkeit und ihre geringe politischtheoretische Begründung, daß dieser Gedanke in der einheitsstaatlichen Richtung für zweckvoll gehalten wurde. Koch-Weser fand zwar die in dieser Form sichtbare Zerklüftung der obersten Staatsspitzen bedenklich, neigte aber doch der Ansicht zu, daß der preußische „Großstaat" eines besonderen „ruhenden Pols in der Erscheinungen Flucht" bedürfte, worunter Koch ein festes und dauerhaftes „Gegengewicht gegen das Parlament" und die voraussichtlichen Wechselfälle der Koalitionsverhältnisse verstand. Wenige Tage vor Eröffnung der preußischen über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs vom 18. Juni 1919, unterzeichnet von Beyerle, v. Delbrück, Düringer, Gröber, H a u ß m a n n , Kahl, Katzenstein, Koch(Weser), Mausbach, Quarck, Sinzheimer, Spahn und Weiß. 111 Veröffentlicht am 14. August 1919, RGBl 1919, S. 1383. 112 Nachl. Koch-'Weser, N r . 15, S. 196.
172
/. Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
Verfassungsgebenden Landesversammlung waren dann die Dinge gar so weit gediehen, daß die preußische Regierung die Wahl eines „Notpräsidenten" vorbereitete, als überraschend Ebert eingriff, der auch hier wieder, über den Ereignissen stehend, im entscheidenden Augenblick hervortrat, da er, wie Koch wohl nicht unrichtig vermutete, die Konkurrenz eines preußischen Kollegen befürchtete. 113 Der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung beriet dann daraufhin sogar über ein Gesetz, das den einzelnen Staaten ausdrücklich verbieten sollte, vor Annahme der deutschen Reichsverfassung eigene Landesverfassungen zu beraten oder „Notpräsidenten" zu wählen. KochWeser suchte zu vermitteln, riet zu Verhandlungen mit den Regierungen und brachte den Gedanken auf, „zwecks Gewinnung von Zeit zur endgültigen Erledigung" Ebert kurzerhand auch zum preußischen Notpräsidenten zu wählen. Dieser Vorschlag hatte nur taktische und persönliche Gründe; Koch-Weser bezeugt, daß „von einer obligatorischen Personalunion zwischen dem Reich und Preußen nicht die Rede sein" sollte. Freilich mußte eine dergestaltige Okkupation des Reichspräsidentenamtes von Preußen her, auch wenn man sie einstweilen nur als Interimistikum auswies, kaum weniger Opposition von süddeutscher Seite gewärtigen, als sie den Gliederungsplänen von Preuß zuteil geworden war. Aber selbst bis zum Stadium solcher Erörterungen reifte dieser Gedanke nicht heran. Er scheiterte vorher schon sowohl an dem Widerspruch Lobes, der die kaum zum Schweigen gebrachte Abneigung der Sozialdemokraten gegen das Reichspräsidentenamt mit neuem Nachdruck gegen ein preußisches Pendant geltend machte, als auch am Zentrum, das die Belange des preußischen Staates vorerst als eine ganz und gar zweitrangige Angelegenheit betrachtete und dem Gedanken seiner Auflösung in dieser oder jener Form im Grunde immer noch weit näher stand, die Frage eines preußischen Staatsoberhauptes jedenfalls keineswegs zu erörtern gedachte. Aber nun ließ sich auch ein Protest des Preußischen Staatsministeriums nicht mehr aufhalten, das schließlich den Staatenausschuß für eine Ablehnung des Verbotsgesetzes mobilisierte und diese Projekte von der Tagesordnung der Nationalversammlung verbannte. „Trotz der Gleichförmigkeit der politischen Richtungen" schien in der Tat, wie sich hier bereits zeigte, „eine einheitliche Politik der Ministerien im Reich und Preußen nicht gewährleistet". 1 " 1,3
TagebuAeintragung vom 1. 3. 1919, Nachl. Kodi-Weser, Nr. 15, S. 180 ff. a . a . O . , S. 1821.
Die Länder und die
Reichsverfassung
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Stärkung und Ausgestaltung der Reichsgewalt wurden fortan unabhängig von der preußischen Frage vorangetrieben. Koch-Weser brachte im Verfassungsausschuß Mitte März im Sinne des schon von Max Weber skizzierten Gedankens „ein klares Programm der Arbeitsteilung f ü r Reich und Länder" durch; auch die Wahl dieser Termini, die dann in der Begriffssprache des Weimarer Staates heimisch wurden, ging auf Koch zurück. 115 Der zur Klärung der Zuständigkeitsfrage eingesetzte Unterausschuß des Verfassungsausschusses nahm auf seinen Antrag hin einen erweiterten Katalog der Reichszuständigkeiten als neuen Artikel 9 in den Verfassungsentwurf auf. „Sieg auf der ganzen Linie", triumphierte Koch-Weser am 17. März, um jedoch schon am nächsten Tage die Bedenken hinzuzufügen: „Ich ahne schon, wie die großen Theoretiker der Jurisprudenz mich durchhecheln werden. Die Bahnen der überlieferten Jurisprudenz verlassen, ist f ü r sie immer ein Verbrechen". 11 ' Doch was hier als Problem der Jurisprudenz nach überlieferten Vorstellungen erschien, w a r in Wirklichkeit von hohem politischen Rang und von zukunftsschwerer Bedeutung.
115
Eintragung vom 4.3., Nachl. Koch-Weser, N r . 15, S. 189. Nach!. Koch-Weser, N r . 15, S. 196 f.
VIERTES
KAPITEL
Anfänge der Gegenbewegung
Bayern und die süddeutsche
Opposition
Gegen die Beschneidung der Länderrechte, die Koch in den Entwurf hineinbeförderte, setzten sich die Länderregierungen sofort zur Wehr. Doch der bayerische Gesandte, von dem bei der Natur der Sache die schärfste Entgegnung zu gewärtigen war, sah sich jetzt durch den Umsturz und die völlig ungewisse Entwicklung der Dinge in Bayern gehemmt. Bis zum Ende der Verfassungsarbeiten in Weimar war infolgedessen eine entschiedene bayerische Opposition so gut wie gänzlich unmöglich. Dies schuf zugleich aber auch die Voraussetzungen für einen extremen föderalistischen Kurs der bayerischen Politik, die sich zeitweilig durch die ohne ihre Beteiligung zustande gekommene Reichsverfassung kaum gebunden fühlte. Seit Beginn des neuen Jahres bahnte sich hier eine Machtverschiebung an, die zunächst als Krisis der Verhältnisse zwischen SPD und USPD begann. Nach der Landtagswahl vom 12. Januar 1919, die das erhebliche Uberwiegen der Mehrheitssozialdemokraten auch in Bayern bestätigt hatte, verlor die regierende Parteienkoalition im Gesichtswinkel der parlamentarischen Arithmetik jeglichen Wert. Infolgedessen strebte auch in Bayern die SPD fortan nach größerer Bewegungsfreiheit und zeigte sie sich jetzt bündnisbereit gegenüber dem Bauernbund und den Demokraten, die sich hier Deutsche Volkspartei nannten. Es fiel ihr nicht schwer, alle Bindungen an die zur Splittergruppe zusammengeschmolzene USPD zu opfern, die für derartige Pläne nicht zuhaben war. Eisners Uhr war bereits abgelaufen, als er sich auf der zweiten Ministerpräsidenten-Konferenz in Berlin am 25. Januar für ein föderatives Deutschland einsetzte und dann zu Beginn des folgenden Monats beim Internationalen Sozialistenkongreß in Bern die These von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands vertrat. In diesem Punkte steigerte dieser ganz aus der Kraft der Ideen lebende, für Macht und Politik gänzlich unbegabte Mann seine allzu rasch und oberflächlich gewonnene Uberzeugung bis zum dogmatischen Fanatismus. Während sich die
Anfänge
der
Gegenbewegung
175
Lage im Februar zuzuspitzen begann, weilte Eisner volle acht Tage in Bern. Währenddessen griff in München die Empörung gegen diesen merkwürdigen und vielen unbegreiflichen Eifer des Ministerpräsidenten um sich. Sie nahm von den nationalen Kreisen ihren Ausgang, verbündete sich jedoch alsbald mit der Rivalität der Sozialdemokraten, so daß die Entscheidung allein in den Händen der mehrheitssozialdemokratischen Minister lag, die jetzt den Weichenhebel für den weiteren Gang der bayerischen Ereignisse stellen konnten. Am 12. Februar berief Innenminister Auer auf den 21. den bayerischen Landtag ein und erließ der Wehrminister Roßhaupter einen an alle wehrfähigen Männer Bayerns gerichteten Aufruf zur Bildung eines „Volksheimatschutzes", was eine unmittelbare Gegenbewegung der radikalen Richtung auslöste. 1 Der aus Bern zurückkehrende Eisner deckte jedoch die in seiner Abwesenheit getroffenen Maßnahmen und stellte sich schützend vor die angegriffenen Minister der SPD. Er erklärte sich aber auch bereit, die angesetzte Demonstration persönlich anzuführen, um die Einheit der Linken zu retten. Noch einmal schien sich die Vermittlungskunst Eisners zu bewähren und seiner Partei vorübergehend wieder die Führung zu sichern. Die Werbestelle zur Bildung der Volkswehr wurde der Kontrolle der Räte unterstellt und die künftigen Erlasse des Militärministeriums der Gegenzeichnung durch den Vollzugsausschuß der Räte unterworfen. Für einen Augenblick des Übergangs schien die Ruhe wiederhergestellt und der Einfluß der Räte gesichert zu sein, dank eines erneuten Kompromisses, der die Zusammenarbeit der U S P D mit der S P D sichern sollte.2 Aber noch am gleichen Tage vollendete sich der endgültige Bruch. Das Doppelattentat gegen Eisner und Auer entzog beide Männer, die bis dahin die Führung in den Händen hielten — den einen endgültig, den anderen für längere Zeit — dem politischen Machtkampf. Fürs erste gewann dann die radikale Bewegung an Boden. Der Konflikt zwischen Räten und parlamentarischer Regierung spitzte sich nach diesen Geschehnissen aufs äußerste zu. Bereits die Nürnberger Vereinbarungen zwischen Mehrheitssozialdemokraten, Unabhängigen und Bauernbündlern, die sich in den ersten Märztagen 1919 ergaben, enthielten ein erneutes Entgegenkommen gegenüber dem Rätesystem, wurden jedoch von dem bereits unter kommunistischem und anarchistischem Einfluß stehenden Rätekongreß, der zu gleicher Zeit in 1 s
F. Sdiade, Kurt Eisner, S. 85. a. a. O., S. 86 f.
176
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
München tagte, erst nach längerem Streit und gegen den Willen einer starken Minderheit anerkannt. Die einberufene Sitzung des Landtags wurde „zu einer kurzen Tagung" mit dem einzigen Zweck, „weitgehende Vollmachten" an die Regierung zu übertragen. Die Vertreter der Parteien in Nürnberg hatten sich bereits zu weit exponiert, ohne noch der Zustimmung ihrer Mitglieder und vor allem des Landtags selbst sicher zu sein. Diese Bedrängnis war offenbar von einzelnen Teilnehmern des Rätekongresses klar erkannt worden. Hiervon zeugt die Erklärung eines der Redner, der die Abmachungen mit den lapidaren Worten charakterisierte: „Wenn der Landtag die Vereinbarung annimmt, richtet er sich selbst". 3 Zunächst war die neue Regierung nahezu ausmanövriert. Als die Räte zu diktatorischen Maßnahmen schritten, zu denen auch Bestimmungen über die Zensur der Presse gehörten, die freilich in erster Linie die bürgerliche Presse hart trafen, zerriß jede Verbindung zwischen Zentrum und Sozialdemokraten. Das Zentrum hielt sich fortan strikt abseits und verpflichtete sich der Taktik, „die Revolution möglichst schnell abwirtschaften zu lassen, auf daß die Reaktion umso eher und sicherer komme". 4 Auch die Demokraten wurden schwankend in ihrer Haltung; sie hofften jedoch auf eine Rückkehr der Sozialdemokraten zu einer Politik der mittleren Linie und suchten den Weg, den das Zentrum beschritt zu vermeiden, um keine rein bürgerliche Opposition entstehen zu lassen und die Mehrheitssozialdemokraten unrettbar in die Arme „der sehr viel fähigeren und entschlosseneren radikalen Elemente" 5 zu treiben. So verblieben sie einstweilen noch in Unterhandlungen mit den Sozialdemokraten, wenn auch in schwankender Zuversicht, daß sie sich wieder in das Lager der Weimarer Koalition hinüberziehen ließen. Die sozialdemokratischen Zugeständnisse an die Räte waren freilich in der Tat kaum als wohlbedachte Abkehr von den parlamentarisch-demokratischen Grundsätzen ihres Programms anzusehen, sondern auch nach der Ansicht des preußischen Gesandten in München „nur durch das Versagen ihrer Führer und durch den Wunsch zu erklären, mitzumachen, um Schlimmeres zu 3
Bericht des preuß. Gesandten in München, G r a f Zech, vom 10. 3. 1919, Abschr.
BA, R 43 1 / 2 2 1 2 . In der sich auf die revolutionäre Taktik der radikalen Bewegung beschränkenden Studie von H . Neubauer, München und Moskau, S. 42 ff., ist der sogenannte „Nürnberger Kompromiß" nur summarisch erwähnt; eingehend E . Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 149 ff. 4
G r a f Zech, ebda.
5
Diese Charakterisierung von G r a f Zech, ebda.
Anfänge der
Gegenbewegung
177
verhüten" — ein Bestreben freilich, daß, wie Graf Zech hinzufügte, „in der heutigen Weise fortgesetzt, zum Allerschlimmsten führen" müsse'. Um „einen Krach" mit den Radikalen zu verhindern, zeigten sich die Sozialdemokraten sogar gegen eigene Überzeugung bereit, das politische Rätesystem in Bayern zu verewigen, wohl meinend, dadurch dem „Krach" auch auf die Dauer aus dem Wege gehen zu können, der freilich nicht nur von der Linken, sondern ebenso von der Mitte oder von der Rechten ausgelöst werden konnte. Ein Blick auf die Entwicklung in Berlin und auf große Teile des übrigen Reichsgebiets hätte schon zu dieser Zeit belehren können, daß die Situation weit mehr gegenrevolutionäre als revolutionäre „Reife" zeigte. Für einen raschen Fortgang der Verhandlungen im Weimarer Verfassungsausschuß wirkte sich die mit einem fortgesetzten Bodenverlust der bayerischen Staatsregierung verknüpfte Entwicklung der Verhältnisse zunächst keineswegs ungünstig aus. Die bayerischen Unterhändler im Staatenausschuß hatten einen schweren Stand, da die von ihnen vorgebrachten Wünsche bei weitem nicht mehr das Gewicht besaßen, das ihnen andernfalls zugekommen wäre. Und bürgerliche wie sozialdemokratische Mitglieder der Nationalversammlung bezogen in der Mehrzahl bereitwillig ihre Plätze innerhalb der Fraktionen, die für die Bayerische Volkspartei immer noch das Zentrum war, wenn sich auch in den Voten des einflußreichen „Bauerndoktors" Georg Heim 7 der kommende Bruch bereits andeutete. Doch diese vorübergehende Gunst der Lage innerhalb des Verfassungsausschusses erlaubte angesichts der ungewissen Zukunft, der die Verhältnisse in Bayern zutrieben, doch keine Voraussage über eine wirkliche Lösung der bayerischen Probleme, deren Bedeutung über die Landesgrenzen hinauszuwachsen begann. Schon jetzt hielt es der Münchener Gesandte, Graf Zech, für angezeigt, mit Entschiedenheit vor allzu sorglosem Vorgehen warnen zu müssen. „Das schnellere Tempo der hiesigen Entwicklung b e d i n g t . . . ein schnelleres und stärkeres Zurückschlagen des Pendels nach der Seite der Reaktion hin", urteilte er von seinem Münchener Standort aus. „Wenn auch bei den Weimarer Verhandlungen der jetzige Z u s t a n d . . . vielleicht eine momentane Erleichterung bedeutet, so darf doch nicht übersehen werden, daß unter Umständen die kommende Reaktion die • Ebda. 7
Vgl. jetzt die biographische Studie von Hermann Renner, Georg Heim,
Bauerndoktor. Lebensbild eines „ungekrönten Königs", München/Bonn/Wien S. 166 ff., 183. 12
Schulz I
der i960,
178
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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Abmachungen der Revolution nicht anerkennen, aber doch zum mindesten, daß die — tatsächlich ja immer stärkere — Exekutive die Ausführung des von der Legislative Beschlossenen sabotieren wird". 6 Die kommenden Dinge sollten zeigen, wie treffend der Gesandte urteilte. Inmitten der veränderten Verhältnisse Bayerns begann jetzt eine spezifisch bayerisch-föderalistische Volkspartei der breiten bürgerlichen und bäuerlichen Mittelschichten ihren Aufstieg, der Ende Mai 1919 zur Regierungsbeteiligung in einer Koalition mit der SPD führte und ihr im März des nächsten Jahres die Zügel der bayerischen Politik für die Dauer von 13 Jahren zufallen ließ. Mit der Bayerischen Volkspartei erwuchs ein starkes, dem Parteienstaat angemessenes Bindeglied zwischen dem Bürokratenföderalismus der Amtsstuben und Ministerien und dem volkstümlichen traditionsbewußten Bayerntum. Unter dem starken Einfluß der ebenso phantasiebegabten wie eigenwilligen populären Persönlichkeit des Bauernführers Georg Heim hatte sie sich bereits kurze Zeit nach dem Zusammenbruch aus dem bayerischen Zentrum gebildet und die alten Programme dieser Partei durch neue föderalistische Ideen und ein spezifisches bayerisches Staatsbewußtsein überholt. In den Worten Heims erhielten sie gelegentlich einen staatenbündlerischen Sinn, den er durch Ausblicke nach dem deutschsprachigen Restösterreich und nach Frankreich, von dem er Schutz und Förderung eines neubelebten, von der preußischen Vormachtstellung entlasteten Föderalismus deutscher Staaten erwartete, in den weiter gespannten Rahmen europäischer Beziehungen einrückte.8 Auf diese Weise bildete die BVP ähnlich wie vorübergehend das rheinische Zentrum, dessen Führer sich im Dezember 1918 für eine rheinische Eigenstaatlichkeit einsetzten,10 jedoch niemals aus dem Verbände von Reich und Partei hinausstrebten und nach Offenlegung der französischen Pläne bald wieder zur Stärkung des Reichszentrums beitrugen, eine starke zentrifugale politische Kraft von verbreiteter Volkstümlichkeit. „Es gibt einen herrlichen Weg, den auch viele akzeptieren können, und das ist die Brechung der Vormachtstellung Preußens durch ein streng föderalistisch gegliedertes Deutschland mit zentralisierter Außenpolitik, gemeinschaftlicher Wirtschaftspolitik, Rechtspflege, Heer und Milizsystem, aber mit Kommandogewalt bei den Ländern und in allem 8
Graf Zech in seinem Bericht vom
9
Vgl. die Charakterzeichnung bei Schwend, Bayern, S. 61 ff.
10
10.3.1919.
DGR, S. 159 ff.; vgl. Schwend, a. a. O., S 59 f.; H . Renner Georg Heim, S. 166.
Anfänge
der
Gegenbewegung
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übrigen, besonders in den Beamten-, Personal- und Kulturfragen, weitgehender Selbständigkeit und Selbstverwaltung. Das ist ein Programm, das ein Deutscher vertreten kann, und Frankreich würde damit die Vormachtstellung Preußens f ü r alle Zeiten brechen und sich gegenüber einem durchaus friedlichen Deutschland sehen", so schrieb Heim noch im Juli 1920 an Karl Graf Bothmer, 11 zu einer Zeit also, in der der Frieden geschlossen und die neue Verfassung geschaffen war. In diesem persönlichen Bekenntnis des einflußreichen Mannes spricht sich die optimistische Kraft dieses bayerischen Föderalismus aus, der wesentlich mehr Anschaulichkeit und populäre Überzeugungskraft besaß als die Rechtsdeduktionen hoher Staatsbeamter und gelehrter Juristen, der — wie die Persönlichkeit Heims — viel Konservativismus in sich barg, der wohl auch in die politische Idylle abgleiten konnte und vor der politischen Stagnation keinen Schutz bot. Dies war der Hintergrund der föderalistischen Programme, mit denen die Bayerische Volkspartei unter Losungen wie „Bayern den Bayern" vor die Öffentlichkeit trat, die, genau genommen, stets nur Übertreibungen waren und auch nur sein konnten. Allerdings stand Georg Heim selbst in ihrer frühesten Zeit keineswegs f ü r die Bayerische Volkspartei schlechthin. Er suchte auch niemals als Politiker des bayerischen Staates Verantwortung und war im Grunde Föderalist selbst innerhalb seines Landes und innerhalb seiner eigenen Partei. Doch er war im Anfang ein starker belebender Geist und über Jahre eine maßgebliche Persönlichkeit innerhalb der bayerischen Politik. In der Nationalversammlung bemühte sich Heim neben dem jungen Münchener Rechtshistoriker Konrad Beyerle um die Verteidigung der Belange des Föderalismus. Doch seine Rolle läßt sich mit der des Juristen, der kein Bayer von Geburt her war und jahrelang in Norddeutschland gelebt hatte, im letzten nicht vergleichen. Sie blieb auf den engeren Kreis der Fraktion und der ihm offenbar wenig zusagenden Plenardebatten beschränkt. Heim wies den bayerischen Gesandten darauf hin, daß das bloße Festhalten an der Vertragstheorie und der Anspruch auf Erhaltung der alten Reservatrechte die Existenz des bayerischen Staates noch lange 11
Zit. v. Sdiwend, Bayern, S. 68. H . R e n n e r , Georg Beziehungen Heims zu französischen Kreisen 1919 hat Wilhelm Hoegner hingewiesen: Die verratene Republik. Gegenrevolution, München 1958, S. 46 u. 100 f.; über die auch Renner a. a. O., S. 175 ff. 12'
H e i m , S. 179. Auf die neuerdings auch wieder Geschidite der deutschen näheren U m s t ä n d e jetzt
180
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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nicht sicherte, sondern daß die wirkliche Gefahr für die Länder von den Gesetzgebungskompetenzen des Reiches drohte. 12 Das hatte zwar Preger gewiß nicht übersehen, wie sein Verhalten im Staatenausschuß bewies; doch der Kampf um den status quo absorbierte und isolierte die bayerischen Unterhändler in einem solchen Maße, daß sie immer wieder den anfänglich so sicher erscheinenden Boden einer geschlossenen süddeutschen Interessenkoalition unter den Füßen verloren. Bald nach Beginn der Beratungen des Verfassungsausschusses ging die Reichsregierung zu gesonderten Verhandlungen mit einzelnen Ländern über, und es gelang ihr, die Front der Süddeutschen aufzulösen, so daß Bayern bald allein stand und der vollkommen isolierte Abgeordnete Beyerle im Verfassungsausschuß im März die Streichung eines Reservatrechts nach dem anderen erleben mußte. Ritter v. Preger erstattete am 22. März dem Ministerrat einen alarmierenden Bericht. 13 Doch weder der zurückhaltende Ministerpräsident Hoffmann noch der Landtagsausschuß ließen sich jetzt, in Anbetracht der zunehmenden innerbayerischen Schwierigkeiten, zu drastischen Schritten bewegen, wie sie Preger offenbar beabsichtigte. Eine Entschließung des Ausschusses benötigte mehrere Wochen, ehe sie über den Landtag nach Weimar gelangte, und hinterließ dort begreiflicherweise keinen tiefen Eindruck. Die bürokratische Diplomatie suchte infolgedessen nach einem Ausweg, auf dem sie wirkungsvoll vorgehen konnte. Noch kurz vor dem Anbruch des Räteinterregnums in München leitete sie eine neue Konferenz der drei süddeutschen Staaten und Hessens in Stuttgart ein, die zwar in zweitägiger Verhandlung am 28. und 29. März die zerbrochene Front der süddeutschen Opposition nicht wieder vollends zu kitten vermochte und sogar recht heftige Meinungsverschiedenheiten zutage förderte, aber Bayern vorübergehend aus seiner Isolation wieder heraushalf. 14 Hoffmann, der selbst wenig Initiative entfaltete, überließ seinen Verfassungsjuristen den Hauptteil der Erörterungen, 15 die sich nun um so höhere Ziele setzten und auf einen gemeinsamen Schritt der vier Regierungen hinauswollten, der die bereits vom Verfassungsausschuß ge12
Schwend, a. a. O., S. 84.
13
Hierzu und zum Folgenden Schwend, a. a. O., S. 88 ff.
14
Undatiertes Telegramm sowie Bericht vom 1. 4. 1919 über den Verlauf der
Stuttgarter Konferenz, beide vom Auswärtigen Amt an die Reichskanzlei gerichtet, BA, R 43 1/1863. 15
Schwend, Bayern, S. 94 f., führt in diesem Zusammenhang den Finanzminister
Neumaier, den Gesandten Ritter von Preger und den Ministerialdirektor Geheimrat v. Graßmann auf.
Anfänge
der
Gegenbewegung
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strichenen Reservatrechte erneut auf die Tagesordnung befördern, den Ubergang der Bahnen und der bayerischen wie der württembergischen Post auf das Reich verhindern und außerdem jede künftige reichsgesetzliche Behandlung von Kirchen- und Schulangelegenheiten grundsätzlich ausschalten sollte. Als Ergebnis dieser Verhandlungen kam eine Protestnote mit den Unterschriften von drei sozialdemokratischen Regierungschefs und des demokratischen Finanzministers einer unter sozialdemokratischer Führung stehenden Regierung zustande, die der württembergische Gesandte am 6. April der Reichsregierung überreichen k o n n t e " und die jetzt als gewichtige Stimme einer wieder erstandenen süddeutschen Opposition bewertet werden mußte. Sie richtete sich gegen eine Reihe von Beschlüssen des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung, „soweit sie von der Regierungsvorlage abweichen", die sie als eine Schwächung der Gliedstaaten bezeichnete, was „ihre freudige Mitarbeit am Wiederaufbau des Reiches" lähmen würde. Die Forderungen, die die vier Regierungen hieran anknüpften, suchten nicht nur den Entwurf des Staatenausschusses in allen Einzelheiten wiederherzustellen, sondern auch Vorschläge, die erst im Verlaufe der Verhandlungen des Verfassungsausschusses aufgetaucht waren, wieder aus der Welt zu schaffen oder doch im Sinne des Entwurfs abzuändern. Sie befaßten sich mit der strittigen Frage der Festlegung der Reichszuständigkeit, die stets nur auf dem Wege der Verfassungsänderung erweitert, mit der Reichsaufsicht und mit der Verwendung von Landesangehörigen als Beamten in der unmittelbaren Reichsverwaltung innerhalb der einzelnen Gliedstaaten, die verfassungsmäßig verankert werden sollte. Sie äußerten Bedenken gegen die beabsichtigte „Verstärkung des preußischen Ubergewichts im Reichsrate", nahm die Erhebung von Zöllen und Gebrauchssteuern, einen „angemessenen Anteil" an allen Reichssteuern sowie die gesamte Einkommensbesteuerung für die Länder in Anspruch und wollten dem Reich lediglich ein Zuschlagsrecht bei sehr hohen Einkommen einräumen. Die Aufstellung von Grundsätzen für die Zulässigkeit und Erhebungsart von Landes- und Kommunalsteuern gestanden sie dem Reich nur insoweit zu, als Doppelbesteuerungen und "
Aufzeichnung über die Beschlüsse der süddeutschen L ä n d e r k o n f e r e n z in Stutt-
gart am 2 9 . 3 . 1 9 1 9 , unterzeichnet vom bayerischen Ministerpräsidenten H o f f mann, dem württembergischen Staatspräsidenten Bios, dem badischen
Ministerpräsidenten
Geiß und dem hessischen Finanzminister Henrich, B A , R 43 1/1863. Einen Bericht über Verlauf
und Ergebnisse der K o n f e r e n z enthält die Badische
N r . 162 v o m 6 . 4 . 1919.
Landeszeitung,
182
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
Steuerbenachteiligungen auszuschließen waren. Und schließlich verlangte sie, daß die Neubildung von Ländern ebenso wie die Abtrennung von Landesteilen nicht durch einfaches Reichsgesetz möglich sein dürfte. Diese umfangreiche Liste von Forderungen erhielt noch ein zusätzliches Gewicht dadurch, daß sich auch der sozialdemokratische sächsische Ministerpräsident Gradnauer dazu bewegen ließ, dem Präsidenten der Nationalversammlung ebenfalls eine Reihe von Bedenken gegen Beschlüsse des Verfassungsausschusses zu unterbreiten, 17 so daß nunmehr die Regierungen sämtlicher größeren und mittleren Staaten mit der einzigen Ausnahme Preußens einmütig in Opposition zum Verfassungsausschuß standen. Doch gerade in dieser für die Pläne der Reichsregierung recht heiklen Situation kam der Ältestenrat des bayerischen Landtages überein, auf das Militär- und das Biersteuerreservat zu verzichten und die von der bayerischen Bürokratie bislang so zäh verteidigte Position in einer wesentlichen Stelle aufzugeben.18 Erst dies schuf einigermaßen günstige Voraussetzungen für weitere Verhandlungen mit dem Reich. Hierbei dürfte die Entwicklung der innerbayerischen Verhältnisse entscheidend mitgesprochen haben, die der Staatsregierung gar keine andere Wahl mehr ließ, als jetzt die Beziehungen zum Reich möglichst ungestört zu erhalten.
Interregnum und gegenrevolutionäre Bewegung in Bayern. Auswirkungen in Weimar Rätebewegung und im Geheimen bewaffnete gegenrevolutionäre Gruppen und Gesellschaften lieferten sich seit dem November-Umsturz ein Duell, das nach dem Anschlag auf Eisner die politische Szenerie Bayerns beherrschte. Auf dem flachen Lande hatten sich schon seit längerem Gruppen gebildet, die sich „Einwohnerwehren" oder „Bürgerwehren" nannten, deren militärischer Wert freilich noch zwischen dem einer Stammtischrunde und einer Milizeinheit schwankte und die sich „auf allerlei Schleichwegen auch Waffen" zu beschaffen wußten. Auch in München sammelte sich ein Geheimbund „zum Kampf gegen den Umsturz" um den Landtagsbibliothekar Buttmann, den Verleger Max 17
der
Erwähnt von Schwend, Bayern, S. 96. Die sächsische Regierung hatte sich auf Stuttgarter
Konferenz
vertreten,
jedoch
nicht
die
Beschlüsse
unterzeichnen
lassen. Es hat den Anschein, daß der sächsische Vertreter der hierzu erforderlichen Legitimation ermangelte. 18
Schwend, a. a. O., S. 96 f.
Anfänge
der
Gegenbewegung
183
Lehmann und einen höheren Ministerialbeamten namens Roth, die später noch von sich reden machen sollten. Solche Bünde fanden in der bayerischen Hauptstadt den denkbar günstigsten Boden; denn bereits im Sommer 1918 war hier unter dem Namen Thüle-Gesellschaft ein politischer „Geheimorden" entstanden, der sich schon in den Tagen der Monarchie zu dem Ziele „deutsch-völkischer Erneuerung und Rassereinheit" bekannte. 19 Seit November unterhielt er Verbindung zu Verbänden und Gesellschaften ähnlicher Art, denen er „Rückhalt oder Führung gewährte", während sich in einem ihm nahestehenden Presseorgan, dem „Münchener Beobachter", als politische Propagandisten tätige Literaten wie Dietrich Eckart, Alfred Rosenberg und Gottfried Feder an die breite Öffentlichkeit wandten und sie im Sinne des „völkischen" Nationalismus der Gesellschaft bearbeiteten. Unter diesen Umständen wäre eine offizielle Zulassung der militärischen Anwerbung, die das offene Auftreten der im geheimen bewaffneten Organisationen und ihre Anerkennung zur Folge haben konnte, politisch gewiß nicht ungefährlich gewesen und bleibt das Zögern der bayerischen Regierung bis zu einem gewissen Grade wohl verständlich. Doch die vom Rat der Volksbeauftragten in Berlin f ü r das gesamte Reich beschlossene Aufstellung von Grenz- und Heimatschutzverbänden f ü r den Osten gestaltete die Lage überaus schwierig. Auf der einen Seite gelangten die Versuche zur Schaffung militärisch verwendbarer republikanischer Freiwilligentruppen zu keinem ernsthaften Ergebnis. Auf der anderen bedurfte es nur eines Anstoßes, um einsatzfähige Einheiten unter alten bayerischen Kommandeuren und Einwohnerwehrführern regelrecht aus dem Boden zu stampfen; ihre politische Bedeutung wurde allerdings in München nicht zu Unrecht f ü r problematisch gehalten. Es schien infolgedessen ein erster Konflikt zwischen der bayerischen Regierung und der Reichsregierung in Aussicht, als der bayerische Ministerrat auf Drängen der Arbeiter- und Soldatenräte am 10. Februar 1919 ein allgemeines Anwerbungsverbot erließ und die 19 Darstellungen aus den Nachkriegskämpfen Deutscher T r u p p e n u n d Freikorps im A u f t r a g e des O b e r k o m m a n d o s der Wehrmacht bearb. v. d. Kriegsgeschichtl. Forschungsanstalt des Heeres, IV. Bd.: Die N i e d e r w e r f u n g der Räteherrschaft in Bayern 1919, Berlin 1939, S. 6 f. Über die A n f ä n g e der illegalen Bewaffnung in der Gegend von Rosenheim seit Dezember 1918 und die Entstehung der bayerischen Einwohnerwehr berichtet ausführlich Rudolf Kanzler, Bayerns K a m p f gegen den Bolschewismus. Geschichte der bayerischen Einwohnerwehr, München 1931, S. 10 ff. Uber die ThüleGesellschaft und ihre Beziehungen zur späteren N S D A P auch H . Neubauer, München und Moskau, S. 86 f.
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Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Reichsregierung am nächstfolgenden Tage den einstigen Kommandeur des Infanterie-Leibregiments, Oberst Ritter v. Epp, beauftragte, auf dem thüringischen Truppenübungsplatz Ohrdruf ein „Bayerisches Freiwilligenkorps für den Grenzschutz Ost" aufzustellen 20 . Lediglich die Wirren, die der Eisner-Mord heraufbeschwor, verhinderten das Austragen dieses Gegensatzes, der die Verfassungsverhandlungen in Weimar ohne Zweifel noch stärker belastet hätte. Fürs erste schlug das Pendel der allgemeinen Stimmung unter dem Eindruck der Ermordung Eisners, aber auch der Weimarer „Unitarisierungsbestrebungen" und nicht zuletzt der gleichzeitigen radikalen Entwicklung in der ungarischen Hauptstadt gewaltig zugunsten der Räte aus. Die Regierung Hoffmann hatte sich bis Anfang April jeder Heranziehung militärischer Kräfte versagt und sah sich nun, jeden Machtmittels bar, einer völlig orientierungslosen und tatenunlustigen Masse gegenüber, ohne sich zu einer entschiedenen Aktion durchringen zu können, während die links von der U S P D stehenden Zirkel keineswegs untätig blieben. 21 Die wirkliche Macht ging auf die Räte über, die am 4. April die Tagung des Landtags verhinderten, den Belagerungszustand verhängten, den Generalstreik verkündeten und Presseveröffentlichungen beschlagnahmten. Doch unverzüglich traten die geheimen Organisationen in Tätigkeit. Sie mobilisierten zunächst von München aus den Widerstand, woraufhin die Rätediktatur zum Gegenschlag ausholte und die Verhälnisse bis in den Bürgerkrieg hinein forttrieb. Auf Empfehlung des Auswärtigen Amtes hin sperrte der Reichsbankpräsident alle bayerischen Staatsguthaben bei der Reichsbankstelle in München.22 Die Anzeichen einer zum Äußersten entschlossenen Gegenwehr des kommunistisch beherrschten Zentralrats der Räte 20
Die Niederwerfung der Räteherrschaft, S. 10.
21
Alarmierende Situationsberichte sind enthalten in einem Telegramm des preu-
ßischen Geschäftsträgers in München an das Auswärtige Amt vom 1 . 4 . 1919, in einer ausführlichen
Mitteilung
Reichsministers Graf ebenfalls
des Auswärtigen
Brockdorff-Rantzau
in den ersten
Apriltagen
Amtes an den in Weimar vom
abgefaßten
9 . 4 . 1919 und einen Bericht des
weilenden undatierten,
sozialdemokratischen
Politikers Stücklen an Scheidemann, R 43 1/2212. Vgl. die Schilderung der Münchener Vorgänge Anfang April 1919 bei H . Neubauer, München und Moskau S. 59 ff.; auch E. Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 198 ff.; R. Kanzler, Bayerns Kampf, S. 4 f. 22
Referentennotiz zu dem genannten Bericht des Auswärtigen Amtes an Graf
Broekdorff-Rantzau;
Telegramm
des Reichsbankdirektoriums
amtierende bayrische Regierung vom 1 1 . 4 . 1919, R 43 1/2212.
an die in
Bamberg
Anfänge
der Gegenbewegung
185
nötigte schließlich das Reichswehrministerium zum Eingreifen. Dies geschah nun in vollem Einverständnis mit der Regierung Hoffmann, die lediglich darauf drängte, daß keine preußischen, sondern nur süddeutsche Truppen zu dieser „Strafexpedition" verwendet wurden und das Freikorps Epp eine andere Firma erhielt. 23 Dem trug Reichswehrminister Noske dadurch Rechnung, daß er außer preußischen, württembergische und bayerische Truppen zur Verfügung stellte, selbst den Oberbefehl übernahm, wobei er sich der Hilfe des Stabes des Reichswehrgruppenkommandos I unter General v. Lüttwitz bediente, jedoch nach Vereinbarung mit dem bayerischen Militärbevollmächtigten in Berlin den bayerischen General Ritter v. Möhl zum „Bayerischen Oberbefehlshaber" ernannte, den er nach Bereitstellung weiterer in Thüringen und Sachsen liegender Truppen in einer besonders vereinbarten Form dem preußischen General v. Oven unterstellte, der indes keine politische Handlung vornehmen durfte, ohne General Ritter v. Möhl und dessen politischen Berater Ewinger zu konsultieren. Nach der militärischen Operation sollten die preußischen Truppen dann schleunigst abtransportiert und die bayerischen zu einer eigenen Reichswehrbrigade zusammengefaßt, sollte die Lösung eines aktuellen Problems also auf diese Weise in die langfristige Organisationsplanung des Reichswehrministeriums eingefügt werden. 24 Bei der Ernennung des Brigadekommandeurs tauchten jedoch erneut Schwierigkeiten auf. Während Generalleutnant v. Oven unter Berufung auf Noske und in Übereinstimmung mit Münchener militärischen Kreisen den Oberst Ritter v. E p p durchzusetzen versuchte, bestand die Regierung Hoffmann auf einer anderen Lösung. Am Ende erhielt als Kandidat des Kompromisses Generalmajor Ritter v. Möhl dieses Kommando, das in der militärorganisatorischen wie in der politischen Entwicklung innerhalb Bayerns noch einige Bedeutung erlangen sollte. Ministerpräsident Hoffmann hatte noch im letzten Augenblick, am 14. April, die Aufstellung einer bayerischen Volkswehr angeordnet, sah sich aber angesichts des raschen Ablaufs der Ereignisse und der militärischen Aktionen, die Anfang Mai zur Niederschlagung der 23
Schreiben Ministerpräsident H o f f m a n n s an Scheidemann vom 1 7 . 4 . 1 9 1 9 , R 43 1/2212. 21
E n t w u r f der Direktive des Reichswehrministers „ f ü r die T r u p p e n f ü h r u n g bei der O p e r a t i o n nach München" vom 2 2 . 4 . 1 9 1 9 (Absdir.) und Mitteilung über die Fernsprüche des bayrischen Ministeriums für militärische Angelegenheiten an den bayrischen Militärbevollmächtigten in Berlin und an das Rechswehrministerium vom 2 3 . 4 . 1919, R 43 1/2212.
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und die Reichsverfassung
von
Weimar
Münchener Rätediktatur führten, der Initiative beraubt und zur Resignation gezwungen. 25 Stellung und Ansehen seiner Regierung waren nicht nur in Bayern schwach, sondern auch außerhalb des Landes auf dem denkbar niedrigsten Stande angelangt. Die Erschießung des Räteführers Levine, das nicht nur auf das Schuldkonto des in München eingesetzten Reichswehrkommandos ging, sondern auch auf das der bayerischen Regierung, die in Abwesenheit des Ministerpräsidenten das Todesurteil bestätigte, während der Vertreter des Reiches vergeblich zu intervenieren versuchte,2' hatte keineswegs zur Beruhigung der Einwohner Münchens beigetragen. Die Atmosphäre war für das Handwerk der Gerüchtemacher und Agenten wie geschaffen; hierin hatte der militärische Feldzug gegen das Räteregiment nichts gebessert. Der preußische Gesandte glaubte jetzt auch, von der Entente geförderte Separationsbestrebungen zu erkennen und vor ihnen warnen zu müssen. Immerhin blieb sein Urteil nicht nur im Hinblick auf die Haltung der Sozialdemokraten und der Demokraten, sondern auch in Bezug auf den bayerischen Teil des Zentrums, die sich formierende Bayerische Volkspartei, im Grunde nicht ohne Zuversicht: Ob diese Partei „mit der Parole der Loslösung vom Reiche — selbst wenn sie ihren Wählern das Gericht durch die Versicherung schmackhaft macht, es handle sich nur um einen politischen Schachzug, der dem Lande Vorteile bringen werde und nicht von langer Dauer sein würde — über eine genügende Majorität verfügen würde, um die Trennung wirklich zu vollziehen, bleibt bei der Art, wie der Reichsgedanke trotz aller gelegentlichen Schimpfereien im Lande doch feste Wurzeln gefaßt hat, immer zweifelhaft". 27 Allerdings mußte Graf Zech den hohen Grad der Unzufriedenheit und das nie ganz ruhende Gerede über einen neuen Umsturz 2 ' auch weiterhin vermerken und die hieraus folgende allgemeine Unsicherheit auf dem politischen Terrain Münchens mit steter Besorgnis beobachten. Der dramatischen Klage gegen eine „Sucht, alles in Spreeathen zusammenzufassen und so das weite deutsche Land geistig, politisch und wirtschaftlich auszusaugen", 29 schlössen sich schließlich auch die Münchener Sozialdemokraten an, so daß im großen emotiona25
Vgl. Die Niederwerfung der Räteherrschaft, S. 41 ff., 100 ff.
Bericht des preußischen Gesandten Graf Zech an das Auswärtige Amt vom 28.5. 1919, R 43 1/2212. 2 7 Ebda. 24
28
Bericht vom 28. 8. 1919, R 43 1/2212.
Münchener Post, N r . 214 vom 15. 9. 1919, durch den preuß. Gesandten dem Auswärtigen Amt übermittelt. 29
Anfänge
der
Gegenbewegung
187
len Strom einer mißmutigen, stark beunruhigten Volksstimmung politische Meinungen und Urteile zusehends an Klarheit verloren. Vorerst aber, nach der bayerischen Expedition, sah die Lage für die Reichsregierung besser aus als zuvor. Im Bewußtsein der günstiger gewordenen Position, jedoch auch zu versöhnlichem Austrag bereit, lud Reichsministerpräsident Scheidemann wenige Tage vor Abschluß der ersten Beratung des Verfassungsausschusses die Regierungen des Stuttgarter Protestes auf den 28. Mai zu einer gemeinsamen Besprechung ein,30 um mit ihnen die strittigen Punkte erneut zu erörtern. Die Reichsregierung war auf Beseitigung der kompakten Opposition bedacht und suchte dies nicht ohne beträchtliches Entgegenkommen zu erreichen. Sie erklärte sich nunmehr bereit, die Fassung des derzeitigen Artikels 9 so weit einzuschränken, daß dem Reich innerhalb der Zuständigkeiten der Reichsgesetzgebung ein Einspruchsrecht gegen Landesgesetze lediglich auf dem Gebiet der Sozialisierung und der Gemeinwirtschaft zustehen sollte, auf dem die „politische Homogenität" nach dem bayerischen Beispiel durch das Vorprellen einzelner Länder im Augenblick einer gewissen Gefährdung ausgesetzt schien, daß im übrigen aber die Länder bis zur Regelung eines Gegenstandes durch Reichsgesetze freie H a n d behielten, wie es dann auch der hierauf beruhende Artikel 12 der Reichsverfassung endgültig bestimmte. Des weiteren gestand die Reichsregierung unter anderem eine Normativbestimmung zu, nach der Beamte der Reichsverwaltung „in der Regel" im Heimatgebiet zu beschäftigen waren, aber auch, daß Länderneubildungen nur nach Zustimmung der beteiligten Länder oder — und dies auf Grund eines Volksbegehrens oder bei Vorliegen eines überwiegenden Gemeininteresses — durch verfassungsändernde Reichsgesetze möglich sein sollten, und schließlich, daß der Erlaß von Verwaltungsvorschriften f ü r die Ausführung von Reichsgesetzen sowie die Aufsicht über ihren Vollzug durch Beauftragte des Reiches der Zustimmung der Länder bedurfte. Unerwähnt blieb in den Angeboten Scheidemanns nur die Frage einer Übergangsfrist f ü r die Uberleitung der Zollverwaltung auf das Reich. Im ganzen gewannen die Länder beträchtliche Vorteile. Zwar ließ sich die Reichsregierung die vom Verfassungsausschuß festgelegten Zuständigkeiten nicht wieder nehmen; doch sie milderte ihre Wirkung, so daß sie nun den Länderregierungen erträglicher erschienen. Diese 30
„Niederschrift über Verhandlungen zur Ä n d e r u n g einiger Bestimmungen des E n t w u r f s einer Verfassung des Deutschen Reichs", BA, R 43 1/1863.
188
I- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Abmachungen wurden in einer Konferenz der Führer der Regierungsparteien bekannt gegeben, die zusagten, sich in ihren Fraktionen für die neue Lösung einzusetzen, was dann auch geschah, so daß sie nach Beginn der zweiten Beratung vom Verfassungsausschuß übernommen werden konnten. Die süddeutschen Länder hatten mit ihrem Schritt weit mehr Erfolg, als einem Protest gegen die Aufteilung der Hälfte der preußischen Reichsratstimmen auf die Provinzialparlamente beschieden war, die man im Preußischen Staatsministerium als ein „Ausnahmegesetz gegen Preußen" empfand. 31 Der preußische Ministerpräsident mußte es am Ende hinnehmen, daß trotz dieser „für die ganze staatliche Entwicklung Preußens ausschlaggebenden Bedeutung der Angelegenheit" hieran nichts mehr geändert wurde. Das Zentrum unter dem Einfluß Erzbergers 32 wie die Sozialdemokratie neigten in ihren Reichsspitzen nach wie vor einer Stärkung der Reichsgewalt unter „Zerschlagung Preußens" zu. Es sind kaum Zweifel möglich, daß sie das Schicksal dieses Landes doch noch in ihrem Sinne zu entscheiden versucht hätten, wenn ihnen nicht die Uneinigkeit der Demokratischen Partei als Hindernis im Wege gestanden hätte. Im Juli befaßte sich die Demokratische Fraktion mit dem Problem, wie ein Kompromiß mit den beiden anderen Parteien herbeizuführen sei.33 Der Frankfurter Bürgermeister Luppe und der rheinische Abgeordnete Falk setzten sich dafür ein, das Erfordernis verfassungsändernder Gesetze für Gebietsänderungen zu streichen, um auf diese Weise eine Einigung anzubahnen. Dieser Vorschlag scheiterte aber an dem Widerspruch Koch-Wesers, der seine Fraktion davor warnte, bei einer Entscheidung „führend oder mitwirkend zu sein", mit der man „weder etwas retten noch Ruhm erwerben" könne, und der mit dieser Ansicht schließlich die Mehrheit hinter sich brachte. Die preußische Frage hatte nach dem Ausscheiden von Hugo Preuß und seinen Parteifreunden aus der Reichsregierung im Juni angesichts der ständigen Opposition der Süddeutschen selbst in Schreiben des preußischen Ministerpräsidenten Hirsch an den Reichsminister-
31
präsidenten vom 4 . 6 . 1 9 1 9 , BA, R 43 1/1863. Klaus Epstein, Matthias Erzberger and the Dilemma of German Democracy,
32
Princeton, New Jersey 1959, S. 287 f., 336 ff., 379. Einen Überblick über die Veränderungen in der Politik des Zentrums bis zur Länderkonferenz vom Januar 1928 unter
sorgfältiger
Charakterisierung
der
Ausgangsposition
1918/19
enthält
die
Arbeit von Gerhard Senger, Die Politik der Deutschen Zentrumspartei zur Frage Reich
und
Länder
1918—1928
(Hamburgische
Universität.
Abhandlungen
Mitteilungen aus dem Seminar für öffentliches Recht, Heft 27), Berlin 1932. 33
Tagebucheintragung Koch-Wesers vom 9. 7. 1919, Nachl., Nr. 15, S. 272 f.
und
Anfänge
der
Gegenbewegung
189
dieser Partei viel von ihrer Aktualität verloren. Einen Alleingang wagten aber weder das Zentrum noch die Sozialdemokratie, die in diesem Punkte ihre sonst so eindrucksvolle Geschlossenheit vermissen ließ. Während der beiden letzten Lesungen der Verfassung in der Nationalversammlung unterließen beide Parteien weitere Schritte. Eine eindeutige Lösung in dieser oder jener Richtung war damit endgültig ausgeschlossen; die künftige Stellung und Gestalt des Staates Preußen im deutschen Staate mußte weiterhin Problem bleiben. Die Demokratische Partei erwies sich während der Verfassungsberatungen mehrfach als Zünglein an der Waage und hatte eine höchst einflußreiche Position inne. Die Gründe lagen teilweise darin, daß jener kleine, aber wichtige Teil unter den hohen Beamten des Reiches, der Kommunen und der meisten Länder mit protestantischer Bevölkerungsmehrheit, der sich in der Umbruchsphase den Regierungsparteien zuwandte, die Demokratische Partei bei weitem bevorzugte und ihr allein schon aus diesem Grunde den Stempel einer bürgerlichen Staatsund Verfassungspartei aufzudrücken suchte. Als seine hervorragenden und einflußreichen Sprecher dürfen Männer wie Koch-Weser und Schiffer gelten. Begünstigt wurden ihre Bemühungen durch den Umstand, daß eben diese Partei eine Mittel- und Mittlerstellung zwischen den beiden anderen Regierungsparteien und den Parteien außerhalb der Koalition bezog. Das galt freilich nicht f ü r die Alternative zwischen Einheitsstaat und Bundessystem. Aber in der preußischen Frage wählte die Demokratische Partei am Ende eine verhältnismäßig moderierte Taktik; und in den Erörterungen über das Reichspräsidentenamt tat sie sich schon vorher als stärkste, von den Parteien der Rechten unterstützte Gegnerin der Sozialdemokratie hervor. Ihre Sprecher im Verfassungsausschuß, Koch-Weser, Ablaß und Naumann, bewegten sich in ihren Äußerungen in der Nähe der Auffassungen, die wir von Max Weber her kennen. Sie plädierten f ü r ein künftiges Staatsoberhaupt, das sie als Gegenspieler des Reichstags auffaßten und das dem „reinen Parlaments-Absolutismus" die Zügel einer plebiszitären und dadurch höher legitimierten und mittels vorgesehener Notregelungen der Verfassung tätig werdenden Gewalt anlegen sollte. Die Verfassung räumte dann dem Präsidenten aber doch nur die Rechte und Befugnisse ein, die schon der erste Preußsche Entwurf enthalten hatte: außer den repräsentativen und herkömmlichen Funktionen des Staatsoberhauptes — Vertretung des Reiches nach außen und Ernennung von Reichsbeamten und Offizieren — den militärischen Oberbefehl, das formell ungebundene Recht der Ernennung und Entlassung von Reidiskanz-
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1. Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
lern, die Befugnis zur Reichsexekution, das das Referendumsrecht gegen den Reichstag hatte, vom Ergebnis her betrachtet, schon zu aufgezeichnet, auf der dann auch Ausgleich Verfassungsparteien zustande kamen.
Notverordnungsrecht und wie den Reichsrat. Preuß Anfang die mittlere Linie und Einigung unter den
Zu den Befürwortern „einer kraftvollen Präsidentschaft", deren Ziele über die Preußsche Konzeption hinauswiesen, gesellte sich noch in der letzten Phase der Verfassungsberatungen die späte Stimme eines der angesehensten bayerischen Ministerialbeamten, des Geheimrats v. Graßmann, in dem gut Informierte den Vater des Entwurfs der bayerischen Verfassung sahen 34 . E r deutete die aufkeimende Hoffnung der Süddeutschen an, dem Reichstag und vor allem der Reichsregierung eine starke Reichsspitze als H o r t der Länder entgegenstellen zu können. D a die zurückhaltende und auf Vermittlung bedachte Haltung Eberts für die Länder günstig angeschlagen war, bestanden solche Annahmen nicht zu Unrecht. Immerhin war offenkundig geworden, daß die von einer breiten Strömung in den linken Parteien getragene, ständig an Popularität gewinnende Präsidentschaft Eberts sowohl innerhalb der Reichsregierung als auch unter den Parteiführern der Koalition wie in der Nationalversammlung genügend Autorität besaß, um eigene Vorschläge und Ansichten mit Erfolg vertreten zu können. Ebert war unter den Verhältnissen der Umbruchsperiode zum großen Mann des vielseitigen Ausgleichs geworden zwischen Reichsregierung und Länderregierungen, zwischen Sozialdemokratie und Bürgerlichen, zwischen rechts und links. Nichts lag daher für die Interessenten an solcher Vermittlung näher, als auch für die Zukunft auf eine verfassungsmäßig stark unterbaute Position des Reichspräsidenten zu setzen, vor allem den Reichspräsidenten von der Gegenzeichnung zu befreien und dafür einzutreten, daß in einzelnen Fällen „eine rein persönliche E n t scheidung des Reichspräsidenten" möglich und „staatsrechtlich sichergestellt" werde 35 . Man darf in den Äußerungen Graßmanns gewiß die offizielle Stimme Bayerns sehen, das seit der Niederschlagung des Münchener Rätezwischenspiels von einer Koalition der Sozialdemokraten mit der Bayerischen Volkspartei und den Demokraten regiert wurde. Eine zu starken persönlichen Entscheidungen ermächtigte Persönlichkeit an der Spitze des Reiches galt jetzt wie später in Süd34
Bericht des preuß. Gesandten in München an das Auswärtige Amt vom
1.7.
1919, Abschrift für die Reichskanzlei, BA, R 43 1/1863. 35
Joseph v. Graßmann, Reichspräsident und Reichsregierung: BStZ N r . 161 vom
1. 7. 1919.
Anfänge
der
Gegenbewegung
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deutschland als sicherstes Unterpfand einer föderativen Staatsordnung, weil sie das Sicherheitsventil gegenüber unitarisch wirkenden Reichsinstitutionen betätigen konnte. Man darf nicht übersehen, daß diese spezifischen föderalistischen Interessen in Süddeutschland als verspätete Gelegenheitsverbündete der demokratischen Fraktion in der Nationalversammlung zwar keine wirksame Hilfe mehr bringen konnten, aber doch dazu beitrugen, daß die von der Verfassung nicht zur Gänze ausgefüllte Vorstellung vom Reichspräsidenten als eines eigenständigen Gegengewichts „einer absolut unbeschränkten Parlamentsmehrheit" 118 nicht nur in der Nationalversammlung, sondern während der gesamten Periode der Weimarer Republik „gleichsam in der Luft" 37 schwebte. Die letzten Entscheidungen indes lagen im Schatten außenpolitischer Einflüsse. Die Versailler Friedensverhandlungen und ihr Abschluß beherrschte auch die Schlußphase der Verhandlungen der Nationalversammlung und die Beziehungen der Länder zum Reich während dieser Wochen. Um nicht die Verantwortung für die Unterzeichnung des Versailler Vertrages tragen zu müssen, waren die Demokraten im Juni aus der Reichsregierung ausgeschieden und hatten hierdurch deren Stellung sowohl in der Nationalversammlung wie den Ländern gegenüber erheb lieh geschwächt. Schon im März 1919 hatte das Auswärtige Amt auf die außenpolitischen Gefahren eines Beschlusses über die Zugehörigkeit Österreichs zum Reich und damit auf die außenpolitisch gesetzten Schranken ihrer Tätigkeit hingewiesen. 38 Da die Verfassungsurkunde trotzdem nicht auf die Nennung Österreichs verzichtete, mußte die Nationalversammlung schon frühzeitig die Erfahrung machen, daß ihrer Entscheidungsfreiheit auch außenpolitische Grenzen gesetzt waren. 39 Selbst der Ausdruck „Reich" in der Begriffssprache des letzten 3a Der Abgeordnete Ablaß im Verfassungsausschuß: V N V Anl zu den StenBer Bd. 336, Nr. 391, S. 460, auch S. 232 ff. u. 278. 37 Vgl. W . J . Mommsen, Max Weber, S. 376. Der sozialdemokratische Abgeordnete Fischer gebrauchte dieses W o r t im Verfassungsausschuß zwar in einem anderen Zusammenhang; trotzdem aber behält der von Mommsen ausgedrückte Sinn seine Gültigkeit. Fischer bemerkte an der gleichen Stelle: „Wir können die Macht des Präsidenten durch die Verfassung noch so sehr einschränken, in einer aufgeregten Zeit wird er eine so ausschlaggebende Rolle spielen, daß das Parlament dagegen ohnmächtig ist". (Protokolle des Verfassungsausschusses, Vh V N V Bd. 336, S. 274). 3 8 Notiz Koch-West-rs vom 22. 3. 1919, Nachl., Nr., 15, S. 198. 99 Clemenceau protestierte gegen den Artikel 61 Abs. 2 der Reichsverfassung, der „Deutschösterreich" für den vorgesehenen Fall seines Anschlusses an das Deutsche Reich bereits das Recht zur „Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl" erteilte. Bis „dahin" sollten „die Vertreter Deutsch-
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/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Verfassungsentwurfs, der ja nur der Problematik von Begriffen wie „Staat", „Bundesstaat" oder „Staatenbund" aus dem Wege gehen sollte, erregte namentlich in der französischen Presse Mißfallen, wo die Übersetzung in „Empire" als frühzeitiger Auftakt eines revanchedürstenden Imperialismus aufgenommen wurde und ein schlimmes Echo fand. Der Wunsch nach einem baldigen Abschluß der Verfassungsverhandlungen wuchs daher mit ihrer Dauer. Infolgedessen mäßigten sich auch die Gegensätze. Dies galt jetzt fast ohne Einschränkung auch für Bayern. Um für den Fall einer Nichtunterzeichnung des Friedensvertrags auch die möglichen Folgen in Erwägung ziehen zu können, die im Gefolge eines für möglich gehaltenen Vorstoßes oder gar eines Sonderfriedensangebotes der Entente an Bayern zu gewärtigen waren, forderte die Reichskanzlei, die mit einer solchen Möglichkeit rechnete, Ende Mai 1919 eine Stellungnahme sowohl vom Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der bayerischen Staatsregierung, die noch in Bamberg residierte, wie vom preußischen Gesandten an, der in München verblieben war. Der Geheime Legationsrat Riezler telegraphierte aus Bamberg, daß nur nach militärischer Besetzung und nur für die Dauer einer Okkupation „mit Hilfe des klerikalen Adels" ein Sonderfrieden zustande kommen könnte. Der Süden würde völlig gewiß „in dem Augenblick zum Reiche drängen, in dem die französische Besatzung das Land wieder verläßt". Riezler glaubte, daß selbst eine Vereinigung Bayerns mit Österreichs beratende Stimme" haben. Die französische N o t e bezeichnete diese Bestimmung keineswegs zu Unrecht als Verletzung des Art. 80 des Versailler Vertrages und als unvereinbar mit der Aditung der österreichischen Unabhängigkeit, da sie Österreich den deutschen Ländern gleichstelle, was allerdings in formaler Hinsicht nicht zutraf. Die N o t e enthielt ein Ultimatum, das eine Kraftloserklärung des Art. 61 Abs. 2 innerhalb von 14 Tagen verlangte, andernfalls die alliierten und assoziierten Mächte gedächten, „unmittelbar die Ausdehnung ihrer Besetzung auf dem rechten [richtig: auf das rechte] Rheinufer zu befehlen". (Übersetzung f ü r die Reichskanzlei, BA, R 43 1/1864). Clemenceau gab sich mit einer beruhigenden Antwortnote der deutschen Regierung nicht zufrieden, sondern teilte dem Vertreter Deutschlands den Text einer kurzen Erklärung mit, die von der Verfassunggebenden Nationalversammlung angenommen werden sollte und die den Art. 61 Abs. 2 der Reichsverfassung sogar ausdrücklich als „ungültig" bezeichnete. (Referentennotiz über ein Telegramm der deutschen Vertretung in Versailles vom 12.9.1919, BA, R 43 1/1864). 10 Tage später wurde dann von dem bevollmächtigten deutschen Vertreter, Frh. v. Lersner, in Versailles ein Protokoll unterzeichnet, das im wesentlichen den Text der verlangten Erklärung und außerdem eine Klausel über ihre Billigung durch die deutschen gesetzgebenden Gewalten enthielt. Der Text ist abgedruckt bei W. Jellinek, JböR IX/1920, S. 104. Vgl. auch im gleichen Bande Herbert Kraus, Der Friedensvertrag von Versailles, S. 304.
Anfänge
der
Gegenbewegung
193
Deutsch-Österreich hieran auf die Dauer nichts ändern, sondern daß dies letztlich „über freilich schwerste Jahre hinweg mit einer Verjüngung des Reichsgedankens abschließen" würde. 40 Am Ende seien Okkupation und Sonderfriedensschluß „für die deutsche Einheit kaum gefährlicher als die Unterzeichnung eines vernichtenden Friedens, bei dem die Berliner Führung das Odium der Verelendung zu tragen hätte und Frankreich unter Ausnutzung dieser Stimmung in die Lage versetzt würde, nach einigen Jahren dem leidenden Süden die Bürde der ihm vom Norden diktierten Lasten zu erleichtern". Im Falle der Nichtunterzeichnung des Friedens und einer Besetzung waren nach Riezlers Auffassung die Gefahren für die deutsche Einheit auf die Dauer keineswegs außerordentlich groß. Wichtig blieb ihm nur, „daß München vor Einmarsch der Entente nicht Spartakus überlassen und dann von der Entente befreit wird und daß der Plan gelingt, die legitime bayerische Regierung im unbesetzten Gebiet zu erhalten". Diesem Votum schloß sich Graf Zech „vollinhaltlich" an. Auch er hielt „ständige Lockungen [der] Entente auf die Dauer für gefährlicher als brutale Zwangsmaßregeln" 41 . Wenn auch bei beiden Berichterstattern die persönliche Einstellung zu den Versailller Friedensbedingungen mitgesprochen und vielleicht auch der Teil eines Wunsches die Feder geführt haben dürfte, daß der Friedensvertrag nicht unterzeichnet werden möge, so bleibt doch die hohe Einschätzung der nationalen Substanz der bayerischen Bevölkerung und der Reichstreue Bayerns für den Fall einer Entente-Besetzung durch diese wohlinformierten Beobachter sehr bemerkenswert. In den inneren Verhältnissen Bayerns zeichnete sich bereits unübersehbar die Gegenbewegung von rechts her ab, die die Phase der Räte endgültig abschloß. Davon, daß das Rätesystem „sich verewigen" könnte, was Graf Zech noch ein Vierteljahr zuvor befürchtet hatte, 42 konnte nun nicht mehr die Rede sein.
40
Telegramm Riezlers an die Reichskanzlei vom 1 . 6 . 1 9 1 9 , Abdruck als Reichs-
ministerialsadie BA, R 43 1/2212. 41
Telegramm an das Auswärtige Amt vom 2. 6. 1919, Reichsministerialsache B A ,
R 43 1/2212. 42
Bericht vom 10. 3. 1919, B A , R 43 1/2212.
13 Schulz I
FÜNFTES
KAPITEL
Abschluß und Ergebnis Die außenpolitischen Aspekte bewirkten die letzte, noch erforderliche Mäßigung der bayerischen Opposition. Am 12. Juni beschloß der bayerische Ministerrat, ohne den Landtag entscheiden zu lassen, bei der bevorstehenden Verabschiedung der Reichsverfassung keinen Widerspruch zu erheben, 1 obwohl vom Standpunkt der bayerischen Staatspolitik aus keineswegs sämtliche Beschwerdepunkte beseitigt waren. Die Verhandlungen wegen des Übergangs von Bahn und Post auf das Reich dauerten noch an und führten erst am 22. Juli zu einem Kompromiß, der den Termin für die endgültige Übernahme der Verkehrseinrichtungen auf den 1. April 1921 festsetzte. Auch ein von der Seite des sozialdemokratischen preußischen Ministers f ü r Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Konrad Haenisch, ausgegangener Versuch, den Schulkompromiß zu Fall zu bringen, den seine Partei mit dem Zentrum geschlossen hatte, und die Kultusminister der größeren Länder zum Einspruch zu bewegen, 2 konnte weder die dritte Lesung hinauszögern noch das Ergebnis verändern. Und nicht nur die Bundesdiplomatie der Länderministerien schwieg oder ließ sich ausmanövrieren; die Reichsregierung ging jetzt ebenfalls sorgsam jedem neuen Konflikt vor Abschluß der Verfassungsberatungen aus dem Wege. Einen letzten Versuch des Zentrumsministers Bell im Zusammenhang mit Erörterungen des Gliederungsartikels innerhalb des Reichskabinetts, vor Verabschiedung der Verfassung die Frage der 1
Schwend, Bayern, S. 99. Haenisch lud „auf eine A n r e g u n g . . . von süddeutscher Seite" E n d e Juli die Kultusminister der größeren Länder zu einer K o n f e r e n z in Berlin ein, zu der die Minister Badens u n d Hessens, ein Vertreter des sächsischen Kultusministeriums und ein Mitglied der bayerischen Gesandtschaft erschienen. Die hierbei festgestellten Bedenken gegen die vom Verfassungsausschuß beabsichtigte Regelung der Schulfrage f ü h r t e n jedoch nicht zu positiven Gegenvorschlägen, sondern lediglich zu der Forderung, zu einer erneuten Beratung des Schulkompromisses die Kultusminister der Länder hinzuzuziehen. Ihr schloß sich auch die Regierung von Lippe-Detmold an. Die Reichskanzlei leitete dieses Verlangen jedoch nicht einmal an das Reichskabinett weiter. (Abschrift einer ausführlichen Mitteilung Haenischs mit einem P r o t o k o l l der K o n f e r e n z vom 22. Juli an den Reichsinnenminister, BA, R 43 1/1863). 2
Abschluß
und
Ergebnis
195
Reichseinheit „nochmals im Sinne einer strafferen Herstellung des Einheitsstaates zu prüfen", lenkte Reichsfinanzminister Erzberger in den weniger gefährlichen Vorschlag um, einen engeren Ausschuß des Kabinetts einzusetzen und diesem die Aufgabe zuzuweisen, den Verfassungstext „daraufhin durchzugehen, daß alle Hindernisse beseitigt werden, die etwa noch gegen die Entwicklung zum Einheitsstaat in der Verfassung enthalten sein könnten" 3 . Seine Kabinettskollegen stimmten dem Zentrumsführer zu und beauftragten den Reichsinnenminister David mit der Federführung in dieser Angelegenheit. An der Absicht, den Einheitsstaat herbeizuführen, hielten sie fest. Erzberger wollte jedoch unter Vermeidung neuer Verhandlungen mit ungewissem Ausgang durch resolute Ausschöpfung aller verborgenen Möglichkeiten, hauptsächlich wohl durch redaktionelle Ausfeilungen die günstigste denkbare Ausgangsstellung für eine alsbald fortschreitende Entwicklung zu diesem Ziele gewinnen, an dem dann, wenn auch in ständigen Modifikationen nach Rücksichten auf die wechselnden Koalitionen und die innerpolitische Machtverhältnisse, auch die nächsten folgenden Reichsregierungen festhielten. Das Problem der Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Reich und Ländern erfuhr auch in den späteren staatsrechlichen Auslegungen, die dem Verfassungswerk der Weimarer Nationalversammlung zuteil wurden, verschiedene Behandlungen, in denen zwei deutlich voneinander geschiedene Richtungen zu erkennen sind. 4 Während eine an der Staatlichkeit der Länder festhielt, repräsentierte eine andere die Auffassung, die im Gefolge der politischen Entwicklung allmählich das Übergewicht erhielt, daß 1919 „die Schwelle zum Einheitsstaate bereits überschritten worden" sei und daß nur noch ein „Gesetz der Formenerhaltung trotz Wesensveränderung" die alten Länder bewahrt und neu organisiert habe, „als ob sie noch ganz die alten Staatsaufgaben zu erfüllen" hätten. 5 Hierin zeichnete sich die allgemeine unitarisch3
P r R M vom 10. 7. 1919, Auszug BA, R 43 1/1863. An Stelle eines umfänglichen Literaturnachweises sei hier auf die Übersicht bei Walter Becker, Föderalistische Tendenzen, S. 62 ff., verwiesen. Eine eingehende Darlegung der Problematik des „zusammengesetzten Staates" unter Würdigung von Staatspraxis und staatsrechtlichen Auffassungen und Tendenzen enthält das klassisch zu nennende Werk von H a n s Nawiasky, Grundprobleme der Reichsverfassung. Erster Teil: Das Reich als Bundesstaat, Berlin 1928, bis heute die eindruckvollste juristische Untersuchung des Föderalismus-Problems in der politischen Wirklichkeit der Weimarer Republik. 4
5
Fritz Poetzsch-Heffter in der Denkschrift „Schwierigkeiten im Verfassungsleben": Verfassungsausschuß der Länderkonferenz. Beratungsunterlagen 1928, hrsg. 13»
196
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von Weimar
föderalistische Konfliktslinie der Ära der Weimarer Republik ab. Materielle föderalistische Organisationsprinzipien entwickelten sich freilich nur schwach. Grundsätzliche Fragen föderativer Organisation rückten weit seltener in den Vordergrund als die speziellen Beziehungen zwischen der Reichsregierung und einzelnen Ländern, da sich die föderalistische Ideenwelt, soweit sie politisch wirksam zum Zuge kam, vorwiegend in Formen eines konservativen „Staatsföderalismus" 6 präsentierte. In dem Gegensatz Föderalismus-Unitarismus äußerten sich unter den institutionellen und konstitutionellen Bedingungen der Republik aber stets mannigfach originäre Spannungen und Probleme, die sich aus dem politischen und sozialen Spiel der Kräfte ergaben. Schwierigkeiten spiegelten schon die begrifflichen Regelungen wider. Man sprach gelegentlich gerne noch wie im alten Deutschland vom „Bundesstaat". Dieser Ausdruck war freilich nie ganz exakt, denn er ließ sich nicht nur für das Ganze, sondern auch für den Teil in Anspruch nehmen; er hat sich aber nichtsdestoweniger in der Literatur durchsetzen können. Die Einzelstaaten wurden anfangs häufig auch „Freistaaten" genannt. Später nahm man dann mehr und mehr nach dem Vorbild der Reichsverfassung zu der betont neutralen Ausdrucksweise Zuflucht, die von „Reich und Ländern" sprach und sich verhältnismäßig rasch einbürgerte, obgleich sie in der Juristensprache bis dahin keineswegs üblich war und über den Vorzug besonderer begrifflicher Präzision zweifellos nicht verfügte. Föderalisten hatten keinen Anlaß, den Ausdruck „Staat" im Sinne einer qualifizierenden Unterscheidung anders als „Land" gebrauchen zu müssen; jene Staatsrechtler aber, die den Ländern einen eigenen Staatscharakter absprachen, weil sie ihn allein „dem Reich" als dem deutschen Gesamtstaat zubilligten, waren durchaus nicht geneigt, einen Bundescharakter des Reiches begrifflich zu fixieren. „Reich" machte die höhere, die umgreifende Staatlichkeit gegenüber den Ländern deutlich, die, ohne volle eigene Souveränität zu besitzen, das Ansehen eigener Staatlichkeit behielten. Anderseits aber enthielt doch die Gegenüberstellung „das ganze Reich" und „die Länder" eine deutlich erkennbare Tendenz gegen den vom Reichsministerium des Innern, Berlin 1929, S. 449. Alle Länder hätten Gepräge großer autonomer November
Selbstverwaltungsverbände"
„das
erhalten, schrieb auch im
1919 einer der Urheber der bayerischen Verfassung,
die am
gleichen
Tage verkündet wurde wie die Reichsverfassung. (Robert Piloty im J b ö R I X / 1 9 2 0 , S. 152.) ' Diesen Ausdruck verwendete die Denkschrift des Bundes zur Erneuerung des Reiches, Die Reichsreform, Berlin 1933, S. 34.
Abschluß und Ergebnis
197
Einheitsstaat und konnte infolgedessen als ein Zugeständnis an die föderalistischen Kräfte gedeutet werden. In Wahrheit freilich bewies diese Nomenklatur tatsächlich „gar nichts für den staatsrechtlichen Charakter dieser politischen Gemeinwesen und folglich auch nichts für den staatsrechtlichen Charakter des Reiches als Einheitsstaat oder Bundesstaat". 7 „The Federalist" Alexander Hamiltons und James Madisons, 8 eine Magna Charta des Föderalismus im modernen Großstaat, stellte den Einklang von „nationalem" und „föderativem" Prinzip in der gleichberechtigten legislativen Zusammenarbeit des Repräsentantenhauses als der Körperschaft der vom Volke unmittelbar gewählten Abgeordneten und des Senats als des Hauses der von den Einzelstaaten entsandten, jedoch nicht weisungsgebundenen Vertreter her. Die Selbstverwaltungsrechte der zum Bunde zusammengeschlossenen Einzelstaaten blieben unangetastet, die Souveränität des Gesamtstaates war unbestritten. Dieses gedanklich reine Schema, das uns wie das verwirklichte Idealbild eines demokratischen Föderalismus erscheint, steht mit seiner klassischen rationalen Scheidung, Begrenzung und ausgewogenen Zusammenführung partikulärer und nationaler Interessen in unverkennbarem Kontrast zu dem unitarisch-föderalistischen Gebilde historischer Staatlichkeiten auf deutschem Boden, das in der Vorgeschichte der Reichsverfassung Zug um Zug wiedererstanden ist. Selbst die Aussicht auf eine Zerstörung der während der Revolution weiterhin unpopulär gewordenen preußischen Staatstradition hatte die 7
H u g o Preuß, Reich und Länder, S. 2 8 .
8
Die Aufsätze, die Alexander Hamilton und seine Gefährten 1787 in N e w Y o r k
in freier Folge publizierten, sind als geschlossenes Werk veröffentlicht worden: The Federalist, Philadelphia 1826. Sie sind außerdem enthalten in der Sammlung The Works of Alexander Hamilton, hrsg. v. John C. Hamilton, 7 Bde., N e w
York
1 8 5 0 — 5 1 . Die erste deutsche Untersuchung ist die von Wilhelm Kiesselbach, Der amerikanische Federalist. Politische Studien für die deutsche Gegenwart,
Bremen
1 8 6 4 ; die jüngste entstammt der Periode von Weimar: Walter Gerhard, Das politische System Alexander Hamiltons von
Auszügen
enthalten:
Adolf
1 7 8 9 — 1 8 0 4 , Hamburg
Rein, Die
drei großen
1929. Eine Sammlung Amerikaner,
Hamilton,
Jefferson, Washington. Auszüge aus ihren Werken (Klassiker der Politik, hrsg. v. Friedrich Meinecke u. Hermann Oncken, 7. Bd.), Berlin 1923, S. 5 4 — 1 2 0 ; Hamilton, Madison and J a y on the Constitution. Selections from the Federalist Papers, hrsg. u. eingel. v. Ralph H . Gabriel (The American Heritage Series, hrsg. v. Oskar Piest, Number handlung
Seven), New Y o r k über
die
1954.
Entstehung
Vgl. die erste deutsche wissenschaftliche
der
nordamerikanischen
Bundesverfassung
Abvon
Eduard Reimann, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika im Ubergange von Staatenbund zum Bundesstaat, Weimar 1855 (Neudruck Stuttgart
1955).
198
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
Vertreter der Länder von den Grundsätzen des historischen Staatenföderalismus nicht abzubringen vermocht. Und um die neue Verfassung über die heikle Klippe einer Ratifikation durch die einzelnen Landtage hinüberzuretten, nahm sogar Hugo Preuß im Verfassungsausschuß zu einer Erklärung Zuflucht, mit der er letzlich die revolutionäre Grundlage der Verfassunggebenden Nationalversammlung und damit auch den Ausgangspunkt seines eigenen ersten Verfassungsentwurfs verleugnete, indem er das Verfassungswerk nur noch als „eine unter besonderen Umständen und durch besondere Ereignisse veranlaßte Verfassungsänderung" bezeichnete." Das Beharrungsvermögen traditionaler Kräfte trug in erstaunlichem Umfang den Sieg über die revolutionären davon; die Berufung auf die Verfassung des Bismarckschen Reiches spielte die letzthin entscheidende Rolle. Selbst unter Verfassungsjuristen, die Männer der Republik waren, galt die Verfassung der Weimarer Nationalversammlung als Station eines Verfassungsfortbildungsprozesses, der keineswegs zum Ende gelangt war und eine fortschreitende positive Anpassung des Normensystems an die Realität und die Praktikabilität politischer Machtverhältnisse zur Folge hatte.10 Der Text der Reichsverfassung von Weimar bildete eine eigentümliche Mischung aus Elementen der Bismarckschen Reichsverfassung und aus neuen, der Umbruchphase von 1918/19 entstammenden Gedanken. Im Artikel 165 schlugen sich die Überreste der Rätebewegung, des politischen Ausdrucks der revolutionären Bewegung schlechthin, in eng begrenzter Weise nieder. Die Rätebewegung als revolutionäre Bewegung spielte längst keine nennenswerte politische Rolle mehr. Zu der inneren Aushöhlung durch den Kampf zwischen Mehrheitssozialisten und Unabhängigen und den äußeren Widerständen in den Verwaltungen, im Heer, in der Wirtschaft, in Parlamenten und Regierungen war das Mißtrauen der Ententemächte hinzugekommen, die bei den ersten Verhandlungen über die Verlängerung des Waffenstillstandes dem Reich einen Finanzierungsstop für sämtliche Räte auferlegt hatten". Sie fanden in den Monaten nach der Verabschiedung • Protokolle des Verfassungsausschusses: Vh V N V Bd. 336, S. 26. 10 Uber Verfassungsänderungen nach der Weimarer Reichsverfassung belehren die Kommentare zu Art. 76. Vgl. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., Berlin 1933. S. auch die allgemeine Abhandlung von Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953. 11 Mitteilung Eberts in der gemeinsamen Sitzung des Zentralrates und des Reidiskabinetts am 1 5 . 1 . 1 9 1 9 nachm., BA, R 43 1/1326: „Die Entente befürchtet, daß sidi unsere Reidisfinanzlage verschlechtert; sie nimmt lädierlicherweise an, daß wir
Abschluß und Ergebnis
199
der Verfassung ein sang- und klangloses E n d e ; die letzten Stationen ihrer Geschichte erregten kaum noch verbreitetes Interesse. Nach dem zweiten R ä t e k o n g r e ß bemühte sich der Z e n t r a l r a t um einen gesetzlichen Schutz der Mitglieder von A r b e i t e r - und Soldatenräten bei der legalen Ausübung ihrer T ä t i g k e i t und um k o m m u n a l e b z w . staatliche Finanzierung der Räte 1 2 . D e r Sinn eines solchen Vorstoßes k o n n t e nur in dem Versuch liegen, eine allgemeine G a r a n t i e der derzeitigen R ä t e und ihre Legalisierung zu erlangen. D i e Reichskanzlei erwiderte sechs Wochen später, zu einem Z e i t p u n k t , da die Versailler
Vertragsver-
handlungen und damit die außenpolitischen P r o b l e m e längst in den V o r d e r g r u n d des politischen Szenariums getreten waren,
hinhaltend
und reichlich undeutlich, d a ß sie nur die T ä t i g k e i t der Mitglieder von A r b e i t e r - u n d Soldatenräten als legal ansehe, die v o n den zuständigen Behörden m i t A u f g a b e n betraut worden seien; über „die G r e n z e der bisherigen Befugnisse der A r b e i t e r r ä t e " bestehe jedoch „keine völlige K l a r h e i t . J e d e n f a l l s haben sie sich aller Übergriffe a u f das G e b i e t der Gesetzgebungs- und Verordnungsgewalt, der Gerichtsbarkeit und der selbständigen E x e k u t i o n zu e n t h a l t e n " . I h r e Finanzierung sei Sache der Landesgesetzgebung. 1 3
Diese allgemeine A b w ä l z u n g eines
gewordenen politischen Problems a u f die Landeszuständigkeit zur schrittweisen
Liquidation
und Selbstliquidation
lästig führte
der noch
vor-
handenen Arbeiterräte 1 4 . Als neue Arbeiterratswahlen fällig wurden, bestrebt sind, unsere Zahlungsunfähigkeit herbeizuführen und daß unsere Langmut bei inneren Unruhen auf dieses Bestreben zurückzuführen ist. Bei den neuen Verhandlungen besteht die Gefahr, daß wir den ganzen Goldvorrat der Reithsbank nach Paris überführen müssen." 12
Schreiben
des
Zentralrates
an
die
Reichsregierung
vom
28. 4. 1919,
BA,
R 43 1/1941. 13
Bescheid des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei Albert vom
10.6.1919,
nach vorheriger Stellungnahme des Reichsarbeitsministers Bauer, BA, R 43 1/1942. 14
Am
Winnig
7. August
1919
forderte z. B. der ostpreußische Oberpräsident
sämtliche Landräte
Kreistagen
seiner Provinz
Beschlüsse darüber
in einem
herbeizuführen,
ob
Rundschreiben
eine
Kontrolle
auf,
des
August in den
Landrates
durch den Arbeiterrat bestehen solle oder nicht. (Der Zentralrat, l . J g . / N r . 6 vom 15.9.1919,
S. 7 ff.) Am
13. Oktober ordnete Winnig
an, daß kein Anlaß
mehr
bestehe, an weiteren Kontrollen der Landräte festzuhalten; die Landräte bzw. die Kreisausschüsse sollten jedoch regelmäßig „mit Vertretern der werktätigen Bevölkerung Sitzungen" abhalten. Weiter heißt es: „Ich halte es aber doch für zweckmäßig, die sogenannten Vollzugsausschüsse bei den Regierungen als ein Organ noch aufrechtzuerhalten,
das den Regierungspräsidenten
der werktätigen Bevölkerung geordnete
Organe
an
den
von
Wünschen
und
unterrichtet und das auch Beschwerden Regierungspräsidenten
weitergibt."
Stimmungen über nach-
(Abschr.
BA,
200
1- Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung, von
Weimar
erhoben die Reichsminister „schwerste Bedenken". Erst als eine Besprechung in der Reichskanzlei das politisch Inopportune einer sofortigen Beseitigung der Betriebs- und Wirtschaftsräte in einer für die Ministerialbeamten überzeugenden Weise ergaben15 und jede Befürchtung zerstreute, „daß der Zentralrat sich vielleicht nicht entschließen könnte, im rechten Moment abzutreten", einigte man sich darauf, Wahlen „im Bedarfsfalle", jedoch nicht unter Verwendung öffentlicher Mittel stattfinden und den Zentralrat als Provisorium „bis zum Zusammentritt des Reichswirtschaftsrats" amtieren zu lassen und sogar zu finanzieren.16 Beinahe völlig widerstandslos — soweit es den Zentralrat angeht — wurde damit eine Beziehung der existierenden Reste der Rätebewegung zu künftigen gesetzlichen Wirtschaftsräten konstruiert und ihre beabsichtigte Überführung in verfassungsrechtlich und gesetzlich begründete Institutionen angedeutet, nachdem der Artikel 165 der neuen Reichsverfassung ein Programm zur Bildung eines Reichswirtschaftsrates und von Bezirkswirtschaftsräten als Generalrepräsentanten wirtschaftlicher Interessen aufgenommen hatte, denen nichts Sozialistisches mehr anhaftete. Die Betriebsräte verwirklichte das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920, während die gesetzgeberischen Vorarbeiten zur Schaffung von Bezirksarbeiterräten und eines Reichsarbeiterrates, die dieser Artikel ebenfalls vorsah, nur R 43 1/1942.) N a d i einer Entschließung der preußischen Verfassunggebenden Landesversammlung vom 28.11.1919 durften vom 1. April 1920 an die noch bei Oberpräsidenten, Regierungspräsidien und Landratsämtern tätigen Beauftragten der Arbeiterräte keine Entschädigungen mehr aus Staatsmitteln zu erhalten. (Der Zentralrat, l . J g . / N r . 15 vom 17.2.1920, S. 1.) Die Konferenz der bayerischen Arbeiterräte nahm, dem Mitteilungsblatt des Zentralrates zufolge, fast zur gleichen Zeit beinahe einstimmig eine Entschließung an, daß Arbeiterräte keine politischen Rechte hätten und sich „nur auf wirtschaftlichem Gebiete" betätigen sollten (a. a. O., S. 5). 15 Protokoll einer Besprechung Reichswirtschaftsminister Schmidts und Unterstaatssekretär Alberts mit Vertretern des Zentralrates in der Reichskanzlei am 12.9.1919, BA, R 43 1/1942. Bemerkenswert ist die parteitaktische Argumentation des Zentralratsmitgliedes Faaß, die das Protokoll festhält: Der Arbeiterratsgedanke dürfe „nicht abgetötet werden, sonst hat der Zentralrat keine Mittel zur Gegenwirkung. Alle Arbeiter, die für den Rätegedanken Sympathie haben, würden nach links herübergehen. Wenn wir uns nicht organisieren, werden wir in eine sehr üble Lage kommen. Die Unabhängigen werden sich, wenn wir abtreten, sofort an unsere Stelle setzen." " So, gemäß dem Ergebnis der Besprechung am 12.9.1919, ein Beschluß in der Sitzung des Reichsministeriums am 22.9. (Ausz. aus d. Protokoll BA, R 43 1/1942) und ein Rundschreiben des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei an die Regierungen der Länder (Entwurf mit Abgangs vermerk vom 17.9. 1919 BA, R 43 1/1942).
Abschluß und Ergebnis
201
in das Stadium der Referentenentwürfe gelangten.17 Die melancholische Resignation eines großindustriellen Befürworters einer .sozialistischen Politik, Walther Rathenaus, war schon vorher zu dem treffenden Urteil gelangt, daß die „sogenannte Verankerung der R ä t e . . . eine Verlegenheitsformel war. Die werdende Reichsverfassung ist ein Kompromiß partikularistischer und liberaler Gedankenreste ohne auch nur den Versuch, den sozialen Geist in einer neuen Staatsform zu verkörpern". 18 Die föderalistischen Momente, die Rathenau „partikularistisch" nannte, erwiesen sich für die Ausführung der Rätebestimmung der Reichsverfassung bei weitem hinderlicher als der liberale Geist. Namhafte Sprecher der Großindustrie West- und Süddeutschlands wandten sich seit dem Ende der Kriegshandlungen mit größter Entschiedenheit gegen zentralistische Einrichtungen und Bestrebungen innerhalb der Wirtschaft und sorgten dafür, daß der Kurs auf völligen Abbau der Kriegswirtschaft bis zum Ziele innegehalten und rasch verfolgt wurde. Auch gegen die Sozialisierung wandten sie sich in erster Linie mit dem Verlangen nach Beseitigung oder Verhinderung jeder Art von Zentralisation in administrativer Hinsicht. Privatrechtliche Fragen spielten in der öffentlichen Erörterung eine weit geringere Rolle. Gegen die „Sozialisierungsidee" erhoben die deutschen Industriellen zu dieser Zeit vor allem anderen den Vorwurf, daß die Sozialisierung mit einer „falschen zentralistischen Organisation" verbunden sei.18 Im Hinblick auf „gemeinwirtschaftliche" Experimente kann man ihre Haltung je17
Bei den Akten
der ehemaligen
Reichskanzlei
befinden sich zwei
vorläufige
Referentenentwürfe des Reichsarbeitsministeriums für ein „Gesetz über die Bezirksarbeiterräte und den Reichsarbeiterrat" vom Dezember 1919 bzw. April 1920, BA, R 43 1 / 1 9 4 3 . Aus einer Referentenaufzeichnung über das Ergebnis der am 19. April 1920 im Reichsarbeitsministerium abgehaltenen Besprechung des zweiten Entwurfes (Bezirksarbeiterräte) geht hervor, daß keine Einigung erzielt werden konnte, (ebda.) Die Beratungen sind allerdings noch weitergegangen. Ein „vorläufiger Referentenentwurf" aus dem Reidisarbeitsministerium, der am 16. 11. 1920 dem preußischen Staatskommissar für die Verwaltungsreform übersandt wurde, findet sich im Nachlaß Drews, N r . 12, B A . Das Reichsarbeitsministerium operierte jedoch nur noch sehr vorsichtig. Im Begleitschreiben wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, „daß eine Stellungnahme des Reidisarbeitsministeriums mithin noch nicht vorliegt" Den
Verhandlungen
im vorläufigen
Reichswirtschaftsrat
sollte nicht
vorgegriffen
18
Rathenau, Politische Briefe, S. 264.
19
Hannes Pyszka, Wirtschaftswege in die Zukunft: Wirtschaftliche
Nachrichten
werden.
aus dem Ruhrbezirk, l . J g . / N r . 28, 1 6 . 1 0 . 1 9 2 0 , S. 5 4 3 (Sondernummer „Organische Wirtschaft").
202
/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
doch keineswegs einheitlich nennen, wohl aber zwiespältig und unklar. Vereinzelt ließ sich die Ansicht hören, der Bolschewismus habe „ohne Zweifel" nicht nur zerstörerische Kräfte, sondern auch neue Ideen und Formen entbunden, denen auch manche Seite des Rätewesens zugeredinet wurde: in erster Linie freilich die Wendung gegen den Parlamentarismus, „die uns allen aus dem Herzen gesprochen ist", wie ein namhafter Repräsentant der westdeutschen Großindustrie bekundete. 20 Der Rätegedanke war nicht tot. Er wandelte sich jedoch im Sog industrieller Interessen Stufe um Stufe zur Organisationsidee einer quasiständischen Repräsentation, die mit dem Parlamentarismus keine Verbindung pflegen sollte. Doch diese Bemühungen stießen sich an traditionalen Zuständigkeiten der Kommunen und vor allem der Länder auf dem Gebiete des Handels und des gewerblichen Kammerwesens, in die ein Einbruch vorerst nicht möglich schien.21 Unter wesentlicher Anteilnahme der Generalkommission der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände innerhalb der Zentralaiheitsgemeinschaft war die Rätebewegung zu einem wirtschaftsständischen Problem geworden. Der revolutionäre Höhenflug wich endlosen Debatten über Bezirksarbeiterräte und Reichsarbeitsrat, Bezirkswirtschaftsräte und Reichswirtschaftsrat, die jedoch nur den vorläufigen Reichswirtschaftsrat verwirklichten. Nach der am 11. August vom Reichspräsidenten und der Reichsregierung gemeinschaftlich unterzeichneten und damit in Kraft gesetzten Reichsverfassung konnte es, äußerlich betrachtet, zunächst wohl so scheinen, als sei die Beziehung Reich-Länder wieder der nahe gekommen, die die Reichsverfassung von 1871 geschaffen hatte. Der Reichstag, die Reichsregierung, das Reichsoberhaupt und die Reichs vertretung der Länder selbst, der Reichsrat, bildeten die zentralen Organe, die die Reichseinheit konstituierten und dauernd aufrecht erhielten. Doch in 20
Wiedfeldt, Vorsitzender der Handelskammer Essen und der Vereinigung der Handelskammern des niederrheinisch-westfälischen Industriebezirks; Niederschrift über die Beratung zur Frage der künftigen Wirtschaftsorganisation zu Essen am 2. 10. 1920, BA, Nachl. Drews, Nr. 13, pag. 138. 21 Unter Hinweis auf die „durch die Landesgesetzgebung geregelte Zuständigkeit der Handelskammern" verlangte der Preußische Minister für Handel und Gewerbe, Fischbeck, mit Schreiben vom 1. 12.1919 vom Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform Beteiligung an künftigen Besprechungen über die Bildung von Bezirkswirtschaftsräten. BA, Nachl. Drews, Nr. 12, pag. 1. Staatskommissar Drews entgegnete, offenbar in beruhigender Absicht, daß nach den mit dem Reichswirtschaftsministerium geführten Verhandlungen Schwierigkeiten nicht entstehen dürften, da die Bezirkswirtschaftsräte nur gutachtlich tätig sein würden (ebda.).
Abschluß
und
Ergebnis
203
Wirklichkeit entstand in Weimar eine Verfassung, in der die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen dem deutschen Gesamtstaat und seinen einzelstaatlichen Gliedern auf Entwicklungen angewiesen war und von Entwicklungen bestimmt wurde, die der Dynamik der politischen Kräfte unterlagen. Der Kreis der Zuständigkeiten der unmittelbaren Reichsverwaltung (Artikel 78—101) umschloß die Reichszuständigkeiten der alten Reichsverfassung, die Außenpolitik, die Verteidigung des Reiches, die „unter Berücksichtigung der besonderen Landsmannschaftlichen Eigenarten" durch ein Reichsgesetz einheitlich — ohne Reservate — geregelt werden sollte, und sogar das Kolonialwesen, das keine Bedeutung mehr besaß, aber der Tradition zuliebe mitgeschleppt wurde. Er schloß aber auch weitere und neue Bereiche ein: die gesamte Verwaltung von Zöllen und Verbrauchssteuern, während die Einrichtungen der Abgabenverwaltung der Länder bei der Durchführung von Reichsabgabengesetzen auch den Vorschriften des Reiches unterliegen sollte, und weiter das gesamte Post- und Telegraphenwesen Bayerns und Württembergs, das im Bismarckreich Gegenstand von Rechtsreservaten geblieben war, und ebenso die bayerischen Staatsbahnen. Die Ablösung dieser Reservate befristete die Verfassung (Artikel 170 bzw. 171) bis zum 1. April 1921, um den betroffenen Ländern entgegenzukommen und den Ubergang durch Verhandlungen über die Modalitäten der neuen Organisation zu mildern. Der Artikel 17 schuf eine gewisse Normierung des Verfassungsrechts der Länder, indem er f ü r jedes Land eine „freistaatliche Verfassung" und eine Volksvertretung auf Grund allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahlen nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts vorschrieb. Er berücksichtigte das Prinzip der „politischen Homogenität", indem er in Bezug auf diesen formalen demokratisch-parlamentarischen Grundsatz eine Gleichartigkeit der Glieder des Reiches untereinander und mit dem Reiche sicherte; die „konstitutionelle Demokratie" war also gleichzeitig auch eine formale. Die Bestimmungen des Artikels 17 verlangten von den Ländern die Einführung des parlamentarischen Systems jedoch keineswegs in der gleichen Weise, wie es im Reiche bestand. 22 Das parlamentarische System 22 Das größere parlamentarische Gewicht der f ü r das Reich gültigen Bestimmung, die bereits in dem von M a x Weber herrührenden Vorschlag enthalten w a r , ergibt sich aus einem Vergleich des W o r t l a u t s der Artikel 17 und 54 der Reichsverfassung. Artikel 17 Abs. 1 Satz 3 lautet: „Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung." Er entspricht dem H e r k o m m e n des konstitutionellen Verfassungsrechts und
204
/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
von
Weimar
sollte seine volle Ausgestaltung an der Spitze des Reiches erfahren; unbestimmt war die Vorschrift f ü r die Länder gehalten; und für die Gemeinden blieb das Kommunalrecht zuständig, das Sache der Länder war. Ein voll ausgebildetes parlamentarisches System war den Ländern jedenfalls nicht zugedacht und sollte ihnen auch nicht etwa durch den Artikel 17 aufgezwungen werden. Das Reich erhielt die stärkeren parlamentarischen Garantien. Föderalisten konnten darin einen Unterpfand für die Achtung der „Verfassungsautonomie" der Länder erblicken. Der Artikel 18 indessen, der erst nach schweren Mühen im Verfassungsausschuß unter lebhafter Mitwirkung des rheinischen Zentrums zustande gekommen war, stellte eine ernste Bedrohung des historischen Staatenföderalismus dar. Er ließ künftige Möglichkeiten einer Neugliederung des Reichsgebietes selbst gegen den Willen des betroffenen Landes zu. Die Änderung des Gebietsstandes und die Neubildung von Ländern innerhalb des Reiches konnte durch verfassungsänderndes Reichsgesetz, stimmten die unmittelbar beteiligten Länder zu, sogar durch ein einfaches Reichsgesetz vorgenommen werden. Ein einfaches Reichsgesetz genügte auch, wenn eines der beteiligten Länder nicht zustimmte, die Gebietsänderung oder Neubildung aber durch den Willen der Bevölkerung gefordert wurde, falls ein „überwiegendes Reichsinteresse" im Spiele war. Vor allem aber hatte die verfassungsmäßige Scheidung und Enumeration ausschließlicher und konkurrierender Gesetzgebungsbefugnisse des Reiches (Artikel 6—11), die weder leicht übersichtlich noch in der Sache ohne Schwierigkeiten war, alle Länder einer gewissen Ungewißheit künftiger Entwicklungen überantwortet. Der Zuständigkeitskatalog ging von der Trennung zwischen Reichs- und Länderverfassungs- bzw. Verwaltungsrecht aus (Artikel 5), legte die Gesetzgebungszuständigkeit des Reiches fest (Artikel 6), bestimmte einen weiteren Bereich der Bedürfnisgesetzgebung, in dem das Reich eine an Bedingungen geknüpfte Zuständigkeit besaß (Artikel 7 und 8) und darüber hinaus auf einigen Gebieten das Recht zum Erlaß von Grundsätzen (Artikel 9, 10 und 11). Der Artikel 12 sicherte f ü r alle verbleibenden Gebiete die Zuständigkeit der Länder. Artikel 13 übernahm das alte Verfassungsprinzip, daß das Reichsrecht Landesrecht ist keineswegs dem Artikel 54 nachgebildet, der nämlich heißt: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht."
Abschluß
und Ergebnis
205
bricht. Nicht minder mannigfaltig sah die Zuständigkeitsregelung auf dem Gebiet des Verwaltungswesens aus. Artikel 14 sicherte die grundsätzliche Ausführung von Reichsgesetzen durch Landesbehörden, ließ jedoch reichsgesetzliche Änderungen dieser Regelung zu. Artikel 15 führte die Reichsaufsicht über diese Tätigkeit der Landesbehörden ein; und Artikel 16 enthielt die Sollvorschrift, daß die mit der unmittelbaren Reichsverwaltung in den Ländern betrauten Beamten „in der Regel" Landesangehörige sein sollten. Die Kategorie der konkurrierenden Befugnisse schuf also keine endgültige und dauerhafte Abgrenzung, sondern ließ den Entscheidungen des Reiches, wenn es weitere Bereiche an sich ziehen wollte, womit es dann auch die bisherigen landesrechtlichen Regelungen auf diesem Gebiet außer Kraft setzte, einen breiten Raum. Da der Katalog beider Kategorien verhältnismäßig umfangreich war, lieferte er dem Reich ein Reservoir beträchtlicher Möglichkeiten, seine Macht allmählich zu verstärken, indem es neue Gebiete einer zentralen gesetzlichen Regelung unterwarf. Hiergegen besaßen die Länder nur einen bedingten Schutz in Gestalt ihres legislativen Mitwirkungsrechts im Reichsrat. Die Zusammensetzung des Reichsrates beruhte auf einem Delegiertenschlüssel nach Landesgröße (Artikel 61). Für die Zusammensetzung der Ausschüsse galt jedoch im Gegensatz zu den Vollsitzungen die Parität der größeren und mittleren Länder (Artikel 62); und zahlreiche Verhandlungen wurden in der Versammlung der Vereinigten Ausschüsse und nicht im Plenum geführt. Einschneidende Bestimmungen f ü r Preußen enthielten Artikel 61 Absatz 1 Satz 4, der den preußischen Stimmanteil im Reichsrat auf zwei Fünftel begrenzte, und Artikel 63, der die Hälfte der preußischen Stimmen der Staatsregierung und ihrem Weisungsrecht entzog und den Provinzialselbstverwaltungen zuwies. Preußens hegemoniale Stellung hatte also im Reichsrat eine starke Einschränkung erfahren, so daß es nur in Gemeinschaft mit den nächstgrößeren Ländern erfolgreich operieren konnte. Macht und Bedeutung des Reichsrates haben im Verlauf der Geschichte der Weimarer Republik geschwankt, waren jedoch teilweise recht erheblich. Grundsätzlich w a r der Reichsrat gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan neben dem Reichstag (Artikel 69, 74 und 76), darüber hinaus in einer Reihe besonderer Zuständigkeiten Verwaltungspartner der Reichsregierung (Artikel 77); schließlich besaß er ein Informationsrecht gegenüber der Reichsregierung, das ihm eine gelegentliche Zusammenarbeit mit den Reichsministerien erlaubte (Artikel 67). Die Summe der Wirkungen und Möglichkeiten dieser Rechte machte ihn
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/. Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung von Weimar
zu einem wichtigen, unentbehrlichen Bundesgenossen der Reichsregierungen, zumindest solange das parlamentarische Verfassungssystem intakt war. So hat das Verfassungswerk von Weimar die Gewichte in der neuen deutschen Staatsorganisation zwar verteilt, nicht aber dauerhaft geordnet, sondern vielmehr für eine reformierende Veränderung disponiert. 23 Das Problem des Föderalismus präsentierte sich nach zwei Seiten: als Behauptung des Bestandes an Rechten und Kompetenzen der Länder und als konstruktive Einflußnahme auf die politische Willensbildung des Reiches, auf die legislativen Entscheidungen ebenso wie auf die Grundsätze der ausführenden Tätigkeit der Reichsbehörden oder der auftragsweisen Erledigungen durch Länderverwaltungen. 24 Neue Regelungen ließen sich allerdings nur unter weitgehender Schonung aller beteiligten Interessen denken. Das föderative Element in der Reichsorganisation bestimmte auch die Konstruktion des Staatsgerichtshofs, einer besonderen richterlichen Instanz zur Schlichtung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes sowie von Streitfällen zwischen Ländern und zwischen Reich und Ländern, die den Verfassungsschutz als einen Rechtsschutz der Länder aktivierte. Die generelle Klausel, die diesen Gerichtshof im Artikel 19 zum Institut der Reichsverfassung machte, ist im Staatenausschuß auf Antrag Preußens entstanden. Juristisch-prozessual hätte diese Institution wohl imstande sein können, „ein Gleichgewicht zwischen Zentral- und Landesgewalt" zu sichern, zwar nicht dergestalt, daß sie eine Entwicklung in unitarischer oder in föderalistischer Richtung ausschließen, aber doch so, „daß sich jede Entwicklung nur in den Bahnen des Rechts, ohne willkürliche Vergewaltigung des einen oder des anderen Teils vollziehen" konnte 25 . Die Vollstreckung der Urteile des Staatsgerichtshofs oblag dem Reichspräsidenten, der auch durch diese Bestimmung als „unparteiischer" Hüter der unitarischen 23
Über die verfassungsrechtliche Unsicherheit des Föderalismus nach der
Wei-
marer Reichsverfassung: Richard Thoma, Das Reich als Bundesstaat: H B D S t R
I,
S. 182. 24
Hierzu
die
juristische
Untersuchung
von
Karl
Bilfinger,
Der
Einfluß
der
Einzelstaaten auf die Bildung des Reichswillens. Eine staatsrechtliche und politische Studie, Tübingen 25
1923.
Heinrich Triepel, Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, in der Festgabe
der Berliner Juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, Tübingen 1923, S. 162.
Abschluß
und
Ergebnis
207
wie der föderativen Bestandteile der Reichsverfassung charakterisiert wurde. U m jedoch die Diskrepanz zwischen dem Erreichten und dem Gewollten voll zu ermessen, muß man Hugo Preuß selbst zitieren, der schon 1922 mit bitterer Resignation schrieb, die neue Reichsverfassung habe die Erhaltung der alten „Buntscheckigkeit" des Reiches besiegelt. Er nannte es bereits nach den ersten Erfahrungen der Republik schlechthin „widersinnig, als politische und administrative Gliederung des republikanischen Reiches die dynastischen Zufallsbildungen der überkommenen 25 Einzelstaaten beizubehalten". 28 Man wird kaum noch sagen dürfen, daß die Weimarer Verfassung in ihrer endgültigen Gestalt auf den Ideen von Hugo Preuß oder irgendeiner anderen Persönlichkeit der Umbruchsperiode beruhte. Einige ihrer Prinzipien gingen wohl mehr oder minder indirekt auf Hugo Preuß zurück; doch wollte man mehr behaupten, so täte man ihr wie ihm nur Unrecht. Sie war in weit stärkerem Maße „das Produkt obrigkeitsstaatlichen Denkens"". Sie kam in mehrfacher Hinsicht im Prinzip kaum anders zustande als die größeren Gesetze des Bismarck-Reiches: Die Reichsämter arbeiteten ihre Bestimmungen im einzelnen aus und suchten sie im Parlament des Reiches — hier in der Verfassunggebenden Nationalversammlung — durchzubringen. Von diesem Wege herkömmlicher Ublichkeiten wich der Umstand ab, daß im Stadium allererster Vorberatungen f ü r einige Tage ein unbürokratisches Gremium dem Chef des Reichsamtes des Innern zur Seite stand und in offener Diskussion alle wesentlichen Verfassungsprobleme erörterte und seine eigenen Grundsätze abwandelte, daß später dann der Kreis der beteiligten Ressortvertreter nicht allein den obersten Reichsbehörden entnommen wurde, deren künftige Gestalt und Zuständigkeit ja noch in Frage stand und eben der Aufklärung in der Verfassungsdiskussion bedurfte, und daß schließlich der Verfassungsausschuß der Nationalversammlung mit vergleichbarer, aber stärkerer Initiative und mit größerem Effekt zum Ergebnis beitrugen als jemals vorher der Reichstag. Die maßgebliche Beteiligung hoher Beamter des Reiches sowie der Länder ist indessen unverkennbar. Als Prämie f ü r seine eigene Leistung in der Umbruchsperiode verlieh sich das Beamtentum die 2
' Uber den Artikel 18 der Reichsverfassung, wieder abgedruckt in der Aufsatzsammlung von Preuß, U m die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924, S. 33. 27 Zu dieser Feststellung gelangt Ernst Fraenkel, wenn auch aus anderen Gründen als den in diesem Zusammenhang dargelegten (Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, S. 53).
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/• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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Weimar
Institutsgarantie des Artikels 129 in Verbindung mit dem Artikel 130 der Reichs Verfassung.2' Sie ermöglichte ihm den reibungs- und verlustlosen Ubergang aus den alten Staatsverhältnissen in die neuen, billigte ihm die demokratischen Grundrechte, Wahl- und Organisationsfreiheit zu und garantierte ihm die wohlerworbenen Rechte auf Amt, Titel, Rang, Versorgung, Hinterbliebenenbezüge und auf Einsicht in die Personalakten. Dafür verlangte der parlamentarische Staat die Innehaltung der alten Beamtenpflichten des Gehorsams, der Amtsverschwiegenheit und des achtungswürdigen Verhaltens im Sinne der Staatsautorität. Man konnte allerdings sagen: „Demokratie und Beamtentum sind . . . keine Feinde, sie sind Freunde". Das parlamentarische System verlangte wohl insofern Von ihm „eine gewisse Resignation", als es „ausführendes Werkzeug in der Hand eines Vorgesetzten" war,29 mit dem die politische Überzeugung des Beamten, falls er eine hatte, nur in seltenen Fällen übereinstimmte; doch es hielt sich „stabil", während Regierungen und Minister „labilen" Verhältnissen unterworfen blieben. Daß die Beamtenschaft unter diesen Umständen, an der Vergangenheit gemessen, „politischen Einfluß . . . eingebüßt" hätte, wird man gewiß nicht sagen dürfen; denn ihr großer wirklicher Einfluß war im Ergebnis und meist auch der Herkunft nach keineswegs unpolitisch. Die Spitzen des qualifizierten hohen Beamtentums gehörten ebenso zur herrschenden gesellschaftlichen Oberschicht der Weimarer Ära wie die Männer der Großindustrie und der Bankwelt, die Großagrarier des preußischen Ostens, die Großen der Presse und die Führer der maßgebenden Parteien. Dem Beamtentum, auch den leitenden Kommunalbeamten, verdankte die Republik nicht wenig von der Blüte ihrer hohen liberalen Kultur. Es hatte sich mit dem Sturz der Monarchie vom Hofstaat und vom überlegenen Prestige des Gardeoffiziers emanzipiert, was freilich durchaus nicht so weit ging, daß damit auch das Militärische und im besonderen der Offizier sein altes Sozialprestige 28
Aus der umfangreichen Literatur hierzu: Friedrich Giese, Das Berufsbeamtentum, 2. Aufl. Berlin 1930, S. 25; Wilhelm Schröder, Was verstanden Beamtenschaft und N a t i o n a l v e r s a m m l u n g 1919 u n t e r wohlerworbenen Rechten der Beamten?, Beamten-Jahrbuch 1931, S. 424; u n d der Beitrag eines der angesehensten hohen Beamten der Republik, des Staatssekretärs Erich Zweigert, D e r Beamte im neuen Deutschland: Volk und Reich der Deutschen II, Berlin 1929, S. 460—475. 29 Diese Ä u ß e r u n g Zweigerts, a. a. O., S. 465, wird m a n nicht wörtlich u n d allgemein verstehen dürfen. Es ist aber sicherlich richtig, die N o t w e n d i g k e i t einer gewissen politischen „Resignation" der Berufsbeamten aus den wirklichen Verhältnissen des parlamentarischen Staates von Weimar zu folgern.
Abschluß
und
Ergebnis
209
eingebüßt hätte. Der Weg aus der Monarchie in die Republik wurde den Beamten auf jede nur denkbare Weise erleichtert; für viele begann er mit Beförderungen, für manche mit besseren Besoldungen. Bevor die Garantien der Reichsverfassung zustande kamen, hatte die preußische Regierung mit einer Verordnung vom 26. Februar 1919 zwar rechtliche Handhaben geschaffen, politische Beamte aus Ermessensgründen in den Ruhestand zu versetzen;30 doch sie machte bis zum Kapp-Putsch von ihnen nur in wenigen Fällen und auch danach nur in sehr zurückhaltender Weise Gebrauch. Audi innerhalb der Reichsressorts gab es zunächst nur Umbesetzungen, Versetzungen und Pensionierungen lediglich auf Antrag der Beamten.31 Selbst in der Handhabung der beamtenrechtlichen Verfassungsbestimmungen wurde auf Beschluß der Reichsregierung peinlich genau auf äußerste Beschränkung geachtet. Wohl sollten „Förderungen von Bestrebungen zur Beseitgung der republikanischen Staatsform" beim „politischen Beamten nicht geduldet werden"; doch mit Ausnahme offenkundig antirepublikanischer Bestrebungen gedachte die Reichsregierung der außerdienstlichen politischen Betätigung sämtlicher Beamten nur mit größter Schonung und Liberalität zu begegnen: „Da alle politischen Parteien Änderungen der Verfassung anstrebten, könne Beamten die Teilnahme an solchen Bestrebungen außerhalb des Amtes nicht versagt werden"32. 30
GS 1919, S. 33. Auf G r u n d des Gesetzes betr. die Pensionierung von Reichsbeamten infolge der Umgestaltung des Staatswesens vom 12. September 1919 (RGBl 1919, S. 1654). Es gestattete Beamten bestimmter Kategorien, die 2 Monate später genau festgelegt wurden, bis zum 31. März 1920 ihre Zurruhesetzung zu beantragen, auch wenn nicht die üblichen Voraussetzungen zum Pensionsbezug — eingetretene Dienstunfähigkeit oder Vollendung des 65. Lebensjahres — gegeben waren. Dieses Gesetz ermöglichte also die freiwillige Pensionierung aus politischen Gründen. Den preußischen Bestimmungen über die Entlassung politischer Beamter, die übrigens dem Beamtenrecht der Monarchie entnommen waren, folgten vergleichbare reichseinheitliche Regelungen erst mit dem Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutz der Republik vom 21. Juli 1922 (RGBl I 1922, S. 590). Einige Länder führten ähnliche Handhaben schon früher ein. Zur Beamtenpolitik der Reichsregierung im allgemeinen s. die aufschlußreichen Bemerkungen des einstigen Reichsinnenministers Wilhelm Külz, Deutschlands innerpolitische Gestaltung: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918—1928, Berlin 1928, bes. S. 73 f. Über die Stellung der politischen Beamten im Reich und in den Ländern unterrichten im einzelnen die beiden Arbeiten von Wolfgang Lenze, Der politische Beamte, jur. Diss. Königsberg 1933, und O t t o Goldberg, Die politischen Beamten im deutschen Rechte, jur. Diss. Leipzig 1932. 31
S2 Ausz. a. d. P r R M vom 8. 9. 1919; Ausführungen des Reichsinnenministers David, denen das Reithsministerium im vollen U m f a n g zustimmte (BA, R 43 1/1864). Der unmittelbare Anlaß hierzu lag in einer Anfrage des oldenburgischen Minister-
14
Schulz 1
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I• Die Demokratie
der Kompromisse
und die Reichsverfassung
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Weimar
Stillschweigend erkannte sie Bestrebungen zur Verfassungsreform, auch zur grundsätzlichen, sofern nicht unverhüllt die Restauration der Monarchie angestrebt wurde, als legitim, ja als politische Selbstverständlichkeit an. Der Verfassungskompromiß von Weimar galt allen Beteiligten als Gewinnung eines neuen Rechtszustandes, der dem revolutionären Teil der Umwälzung ein Ende setzte. Dem Beamtentum aber wurde von höchster Instanz ausdrücklich verbrieft, daß die politische Verbindlichkeit des neuen Verfassungswerks begrenzt sei und ein Fortgang der Staatsreformen sich von selbst verstehe. Es stand allerdings angesichts der in Wirklichkeit offenbar gewordenen Verhältnisse noch in Frage, welche Hoffnungen man berechtigterweise auf den „verständigen Medianismus" zur „eigenen Weiterbildung" der Verfassung 33 setzen durfte. Die Handhabenden dieser „Weiterbildung" mußten sich nach Lage der Dinge jedenfalls in erster Linie auf die hohen Beamten als die Techniker der Verwaltung und auf die Staatsrechtsjuristen als Interpreten der Verfassung stützen. Die Verfassung war konsolidiert, und die Nationalversammlung war legitimiert. Doch die politischen Gewalten befanden sich in fortgesetzter Bewegung. Das gilt für das Verhältnis der Zentralgewalt des Reiches zu den Ländern, aber nicht minder für die Beziehungen der zentralen Instanzen des Reiches untereinander, des Reichstags, der Reichsregierung, des Reichsrats und der „überwölbenden Autorität" des „plebiscitaren Reichspräsidenten". Er war Haupt der Exekutive, besaß das Vetorecht und das Recht, an Volksabstimmungen zu appellieren; er war Hüter der föderativen und unitarischen Bestandteile der Reichsverfassung. Hierin hatte Max Weber die wichtigste und notpräsidenten vom 22. 8. 1919, ob der Beamte durch den Eid auf die Republik „nur die Verpflichtung" übernehme, bei Ausübung seines Dienstes die Reidisverfassung genau zu beachten, oder ob er auch die Verpflichtung habe, „außerhalb des Dienstes 1. für die Reichsverfassung einzutreten und 2. Bestrebungen auf Änderung der Reichsverfassung entgegenzuwirken und 3. sich selbst Äußerungen und der Teilnahme an Bestrebungen, die auf Änderung der Reichsverfassung abzielen, zu enthalten". (Abschr. für den Unterstaatssekretär der Reichskanzlei, ebda.) Die von Unterstaatssekretär Schulz unterzeichnete Antwort vom 1 7 . 9 . 1 9 1 9 übernahm im wesentlichen den Wortlaut der Kabinettsentscheidung vom 8. September, fügte ihr jedoch noch einen wichtigen ergänzenden Hinweis an: „Eine andere Frage ist es, wie weit einzelne Arten von Beamten, namentlich solche politischen Beamten, deren ersprießliche Amtsführung eine gewisse Zurückhaltung bei der Ausübung der ihnen in der Verfassung gewährleisteten Freiheiten erfordert, sich im öffentlichen Leben einer Betätigung zur Beseitigung der republikanischen Staatsform zu enthalten haben." (Abdruck für sämtliche Reichsminister, kursiv vom Verf.) 33
A. Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, S. 350.
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und
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wendigste Funktion des Reichsoberhauptes gesehen, die das Scharnier beweglich halten sollte zwischen der zentralen Gewalt auf der einen und den Bestandteilen föderativer Selbständigkeit auf der anderen Seite. Wie eine Büchse der Pandora wollte er dem Reichspräsidenten ein Gefäß von Rechten anvertrauen, aus dem jeweils nach seinem Ermessen föderative Rechte oder zentrale Machtbefugnisse entnommen werden konnten: ein Referendum oder ein Veto gegen Beschlüsse der Reichsregierung, wenn sie der Reichsrat nicht zu akzeptieren gedachte, oder eine Inanspruchnahme der Diktaturgewalt nach dem Artikel 48 und womöglich das Inmarschsetzen militärischer Verbände gegen eine widerstrebende Landesregierung. Damit aber war die Entwicklung der deutschen Verfassungsgeschichte in das Stadium einer Konkurrenz zwischen Staatsoberhaupt und Regierungschef gelangt. Der Reidiskanzler war freilich keineswegs für alle Zeiten ein ebenbürtiger Gegenspieler; denn dies setzte einen intakten Zustand des Reichstags voraus. Es war sicherlich ein Fehler der Verfassungskonstruktion, daß sie einen starken Reichspräsidenten schuf, ihm jedoch differenzierte Gewalten gegenüberstellte, deren Disparation weder durch eine institutionelle noch durch eine prinzipielle konstitutionelle Sicherung verhindert wurde. Wir sprechen daher mit Recht vom Endstadium der Weimarer Republik als dem der „Auflösung" des Verfassungsstaates von Weimar und meinen damit die Auflösung der parlamentarischen Grundlage der Regierungsgewalt. Die späteren Präsidialkabinette hingen von der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten ab; sie beruhten auf dem Artikel 48. Dies beeinträchtigte notgedrungen die Bedeutung des Artikels 54, auf Grund dessen der Reichskanzler „die Richtlinien der Politik" bestimmte. Aber auch der Artikel 73, der das Referendumsrecht des Reichspräsidenten begründete, beschränkte im Zusammenhang mit dem Artikel 74 die Macht des Reichstags, enthielt also im Grunde eine antiparlamentarische Tendenz, die allerdings in der späteren Geschichte der Weimarer Republik keine Bedeutung erlangte. Im Reichspräsidenten konzentrierten sich bereits innerhalb des Rahmens der Verfassung eine Fülle von Rechten und Machtmitteln, die diesen höchsten Träger reichsrechtlicher Zuständigkeiten weit über die Rolle eines repräsentativen Staatsoberhauptes hinaushoben. Seine verfassungsrechtlichen Beziehungen zur Reichsregierung begründeten für diese neben der parlamentarischen zumindest eine eventuelle präsidiale Abhängigkeit, während der Reichspräsident noch darüber hinausreichende Befugnisse besaß, hinter denen Zahl und Bedeutung seiner Verpflichtungen und Abhängigkeiten weit zurückstanden. Bereits der 14»
212
/. Die Demokratie der Kompromisse und die Reichsverfassung von Weimar
Text der Reichsverfassung vermag die zuerst und am entschiedensten von Max Weber gewollte Tatsache nicht zu verbergen, daß Person, Tätigkeit und Beschränkungen des Reichspräsidenten auch weitgehend über die Wirklichkeit des Verfassungslebens entschieden. Wenn schon zu Beginn Befürchtungen in dieser Hinsicht bestanden, so sind sie durch die spätere Entwicklung der deutschen Republik noch weit übertroffen worden. Einer Dynamisierung der endogenen Rechtsbeziehungen des Bundesstaates war der Weg gewiesen. Der Bundesstaat galt von Anfang an als fortbildungsbedürftig; die Reichsverfassung, als Vereinbarungsdokument und Grundsatzkatalog zustandegekommen, wurde zum Interpretationsmaterial für Juristen.
ZWEITER
TEIL
Reichspolitik und Föderalismus
S E C H S T E S
K A P I T E L
Die Anfänge der zentralistischen Reichspolitik und ihre Gegner Erzbergers
Reichsfinanzreform.
Die Phase der
Zentralisation
Nach den ereignisreichen Monaten des Frühjahrs und des Sommers 1919 brachte der Herbst etwas Entspannung und damit einen ruhigeren Ton in die Verhandlungen, die dem Beschluß der Verfassung nachfolgten. Im Oktober kehrten die Demokraten wieder in die Reichsregierung zurück; Schiffer löste Erzberger als Vizekanzler ab, ohne ihm für die nächsten Monate den ersten Rang im Kabinett 1 streitig zu machen, und amtierte außerdem als Reichsjustizminister. Geßler trat an die Spitze des neu errichteten Wiederaufbauministeriums; und in der Nachfolge von Preuß und D a v i d übernahm Koch-Weser die Leitung des Reichsinnenministeriums. Mit dieser Umbildung der Reichsregierung des sozialdemokratischen Kanzlers Bauer ging die Führung der inneren Reichspolitik tatsächlich in die H ä n d e der drei das Durchschnittsmaß ihrer Ministerkollegen überragenden bürgerlichen Politiker Erzberger, Koch und Schiffer über, die nunmehr die Einheitsstaatspläne unter dynamischer Fortentwicklung der Reichszuständigkeiten vorantrieben, zuerst und am folgenreichsten auf dem entscheidend wichtigen Gebiet der Finanz- und Steuerpolitik. Erzbergers Finanzreform, die sich in ihren Anfängen auf Vorarbeiten des Reichsschatzamtes aus der letzten Kriegszeit stützen konnte 2 , 1
V g l . die Eindrücke, die O t t o Geßler aus seiner ersten M i n i s t e r t ä t i g k e i t wieder-
g i b t : Geßler, Reichswehrpolitik in der W e i m a r e r Z e i t , hrsg. v. K u r t S e n d t n e r , Stuttg a r t 1958, S. 1 1 4 ; auch R o s e n b e r g , E n t s t e h u n g und Geschichte der W e i m a r e r R e p u blik, S. 352, 364 f. 2
H i e r z u K . E p s t e i n , M a t t h i a s E r z b e r g e r , S . 338 f f . ; P a u l Beusch, D i e N e u o r d n u n g
des deutschen F i n a n z w e s e n s , M ü n c h e n - G l a d b a c h
1 9 2 0 ; eine k n a p p e Obersicht über
die F i n a n z r e f o r m E r z b e r g e r s enthält auch die A r b e i t v o n H i l d e m a r i e
Dieckmann,
J o h a n n e s P o p i t z . E n t w i c k l u n g und W i r k s a m k e i t in der Zeit der W e i m a r e r R e p u b l i k (Studien zur Europäischen Geschichte a u s d e m Friedrich-Meinecke-Institut der Freien U n i v e r s i t ä t Berlin, B d . I V ) , Berlin i 9 6 0 , S. 18 f f . ; eine eingehende, im um
Würdigung
der
nationalökonomischen
und
finanzwissenschaftlichen
besonderen Gesichts-
p u n k t e bemühte D a r s t e l l u n g liegt in der ungedruckten A r b e i t v o n G a b r i e l e H ö f l e r vor, E r z b e r g e r s F i n a n z r e f o r m u n d ihre R ü c k w i r k u n g a u f die bundesstaatliche S t r u k -
216
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
zielte auf die Liquidation der ins Riesenhafte gestiegenen Reichsschulden, also auf die Ordnung des Etats und zugleich auf eine Revision des gesamten Finanzsystems, dessen Leistungsfähigkeit in Anbetracht der künftigen Belastungen aus den Kriegsfolgen gewaltig angehoben werden mußte. Der Krieg hatte eine Gesamtschuld des Reiches von rund 148 Milliarden Mark hinterlassen, wovon 51 Milliarden auf Schatzanweisungen entfielen. In den ersten drei Monaten 1919 stiegen die unfundierten Schulden um weitere 13 Milliarden an,3 und die Zukunft ließ neue, mit den Maßverhältnissen der Friedensjahre unvergleichbare Anforderungen erwarten: die Versorgung der Kriegsopfer und der Hinterbliebenen, der entlassenen Berufssoldaten, die Unterstützung von Erwerbslosen, Wohnungsbau, Ernährungshilfen, Entschädigungen für Kriegsverluste, Wiederaufbauarbeiten in Ostpreußen, Erstattung von Liquidationsschäden, die die Deutschen im Ausland betroffen hatten, Aufnahme und Unterbringung von Umsiedlern aus den abgetrennten Gebieten und schließlich die Reparationen, die die Siegermächte verlangten und deren wirklichen Umfang noch kein Mensch voraussah. Für die meisten dieser Verpflichtungen trat das Reich als Generalschuldner ein. Daß es sie nicht mehr mit den Mitteln der Matrikularbeiträge der Länder, die unter diesen Umständen gewaltige Höhen erreicht hätten, aber auch nicht im Rahmen der Kriegssteuergesetzgebung erfüllen konnte, war nur allzu verständlich. Das Reich bedurfte der Generalverfügung über die wichtigsten Steuerquellen; eine Finanzreform an Haupt und Gliedern blieb infolgedessen unvermeidlich. Erzbergers Steuerreform legte den Grund für die weitere Entwicklung der Reichsfinanzpolitik; man muß sie „eine geschlossene Leistung von größtem Ausmaß" 4 nennen, die allerdings weder mit den späteren Reparationsverpflichtungen noch mit den Schäden des Ruhreinmarsches und den Belastungen des passiven Widerstandes und dem Währungsverfall rechnete. Die überaus dynamische Persönlichkeit Erzbergers wußte den Grundsatz der festen Haltung, die die Reichsregierung während der Verfassungsverhandlungen in der Zuständigkeitsfrage eingenommen hatte, nach der Annahme der Reichsverfassung schnell und zielbewußt in finanzpolitische Reformen umzusetzen. Finanz- und Steuerhoheit tur des Reiches vorwiegend am bayerischen Beispiel, phil. Diss. Freiburg i. Br. 1955 (Masdischr.). 8 Johannes Popitz, Die deutschen Finanzen 1918—1928, in dem Sammelwerk: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918—1928, Berlin 1928, S. 182 f. 4 Popitz, a . a . O . , S. 188.
Anfänge der zentrall ¡tischen Reichspolitik
und ihre Gegner
217
gingen mit der Reichsverfassung auf das Reich über, das nach Artikel 8 das Recht des Zugriffs auf alle Steuern und des Ausschlusses jeder konkurrierenden Inanspruchnahme gleicher Steuerquellen durch Länder und Gemeinden besaß und auf Grund des Artikels 11 auch über die Möglichkeit verfügte, Grundsätze über die Zulässigkeit und Erhebungsart von Landesabgaben aufzustellen, die eine Schmälerung der Einnahmen des Reiches nach sich ziehen konnten. Die Steuerreservate Bayerns, Württembergs und Badens waren gefallen, 5 die Matrikularbeiträge abgeschafft; und im Artikel 83 hatte sich der Grundsatz durchgesetzt, daß das Reich die Zölle und Verbrauchssteuern durch eigene Behörden verwalten durfte. Hierin lagen die Voraussetzungen der Reichsfinanzpolitik und f ü r die Schaffung eines einheitlichen Steuersystems, das das Reichsfinanzministerium auch in den späteren Jahren der Republik ohne wesentliche Unterbrechungen, wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln anstrebte, vervollkommnete oder ausbaute. Diese im Verhältnis zu den inneren Verhältnissen dieser Periode überaus stetige Politik trug wesentlich zum unitarischen Ausbau des Reiches bei und wurde daher auf Seiten der Länder nur zu häufig als „finanzielle Aushöhlungspolitik" empfunden und verurteilt'. Die Absicht einer schnellen Sanierung der Reichsfinanzen führte zu einer raschen Konzipierung und Durchführung der ersten und bahnbrechenden Maßnahmen auf diesem Wege, zu einer radikalen Hinaufsetzung der Einkommensteuersätze und zu tiefen Eingriffen in die Kapitalsubstanz wie in die Produktion. Das wirkliche Steueraufkommen blieb jedoch weit hinter den Schätzungen zurück, die dem Gesundungsplan Erzbergers zu Grunde lagen, so daß sich trotz dieser scharfen Heranziehung des Kapitals, die zudem nicht, wie beabsichtigt, die Klassen der Reichen und Kriegsgewinnler, sondern in erster Linie die des mittleren Besitzes traf, das erhoffte Ergebnis ausblieb. Der nicht in dieser Form vorausgesehene rapide Kaufkraftverlust der Mark und die nicht einkalkulierten starken Belastungen der Reichsfinanzen durch die Höhe der Reparationen und schließlich die Rheinlandbesetzung werfen die Frage auf, ob sich ein vorerst „eingeengtes Notprogramm" 7 der Reichsregie5
Ebensowenig war ein generelles Reservat bestehen geblieben. „Ein notwendiges Steuerreservat zugunsten der Bundesstaaten kennt die Reichsverfassung n i c h t . . . " (Albert Hensel, Der Finanzausgleich im Bundesstaat in seiner staatsrechtlichen Bedeutung, Berlin 1922, S. 117). * Vgl. Sdiwend, Bayern, S. 113. 7 Popitz, Die deutschen Finanzen, S. 184. Allerdings ist hervorzuheben, daß Popitz, wie Hildemarie Dieckmann, a. a. O., S. 15 ff., im einzelnen nachweist, erst
218
/ / . Reichspolitik
und
Föderalismus
rung bei gleichzeitiger rascher Stärkung der wirtschaftlichen Kapazitäten am Ende nicht doch besser bewährt hätte als diese überhastete Reichssteuerpolitik, die von dem Fehler einer Überschätzung der steuerlichen Möglichkeiten ebensowenig wie von einer illusionären Verkennung der wirtschaftlichen Zukunftsaussichten freizusprechen ist. In diesem Gesichtswinkel kann einer Kritik an der von Erzberger eingeleiteten materiellen Steuergesetzgebung, die bald auf vielerlei Entgegnungen stieß, aber auch an der Neuregelung des formalen Steuerrechts eine Berechtigung nicht bestritten werden. Was „der Idee nach" verständlich und vertretbar erschien, brauchte dies keineswegs in den Einzelheiten der Durchführung zu sein. Aber selbst die Prinzipien, die dem Plane Erzbergers zu Grunde lagen, liegen im diffusen Licht unterschiedlicher Bewertungen. Es kann nicht außer Acht bleiben, daß sich Erzbergers politische Ziele bei weitem nicht nur auf eine zweifellos erforderliche finanzielle Sanierung beschränkten, sondern in bewußter Komplexion zugleich auch andere Vorhaben einbezogen. Er wollte gleichzeitig die Inflation bekämpfen und die Währung stabilisieren, ohne den Weg des Staatsbankrotts zu wählen, der ihm in Anbetracht der starken Beteiligung großer Volksteile an der Kriegskostenfinanzierung unverantwortbar erschien; und er verfolgte sozialpolitische Absichten. Hierbei wird die ideologische Komponente Erzbergers sichtbar. in der Stabilisierungsperiode eine begrenzte Kritik an der materiellen Steuergesetzgebung der Erzberger-Zeit vertrat, an der er selbst, „noch kaum Ministerialrat,. . . schon als erster Mann des Hauses" (Wilhelm Markull, Reden bei der Abschiedsfeier der Beamtenschaft des Reichsfinanzministeriums f ü r Johannes Popitz am 7. Februar 1930, als Manuskript gedruckt, S. 13) einigen Anteil hatte. An der positiven Beurteilung der Steuerrechtsreform unter Erzberger hingegen hat Popitz später festgehalten, wenn er sich auch als jemand bekannte, der „an den alten Staatsgebilden, ihrer Geschichte und ihren kulturellen und wirtschaftlichen Missionen hängt", und schon in der Zeit der Ereignisse „die Schnelligkeit und die Übergangslosigkeit des Prozesses" kritisch vermerkte. (Popitz, Die Neuordnung der Finanzverfassung von Reich, Ländern und Gemeinden durch das Landessteuergesetz: Preuß. VerwaltungsBlatt, 41.Jg./1920, S. 316.) Popitz distanzierte sich von jenen, die, wie er sagte, „völlig unitarisch eingestellt" waren; er glaubte aber an die unausweichliche N o t wendigkeit des Opfers föderalistischer Traditionsbestände. (Vgl. auch Popitz, Die Steuerpolitik des Reiches: Recht und Wirtschaft, 9. Jg./1920, S. 57—64; u. Das Gesetz über die Reichsfinanz Verwaltung: Deutsche Juristen-Zeitung, 24. Jg./1919, S. 778—785.) Es ist gewiß nicht berechtigt, in den Leitern der Reichsfinanzpolitik nur Bekenntnis- oder Berufsunitarier zu erblicken, was bei den Äußerungen jener durchleuchtet, die sich in Popitz „die zentralisierenden Tendenzen der Reichsbürokratie personifiziert dachten". (Besson, Württemberg und die deutsche Staatskrise, S. 87.)
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
Gegner
219
Die Einführung der progressiven Einkommensbesteuerung war gegenüber der Vorweltkriegszeit eine bahnbrechende Neuerung, die das Steuersystem mit einem Schlage im Sinne Max Webers „sozialisierte", d. h. den modernen sozialen Verhältnissen anpaßte. Gleiches gilt von der Erbschaftssteuer. Die steil ansteigende Staffelung der Steuersätze, die bei der Einkommensteuer bereits unverhältnismäßig hoch, mit 10 Prozent des Einkommens, einsetzte und bis zu 60 Prozent hinaufreichte und die bei der Erbschaftssteuer in Kombination mit anderen progressiven Besteuerungen des Erwerbs im äußersten Fall erst bei 90 Prozent seiner Höhe ihre Grenze fand, war deutlich kapitalfeindlich. Erzberger wollte „dem Ruf nach Sozialisierung Gehör verschaffen" 8 und mit seiner Steuerreform einen Teil des „Sozialstaats der Zukunft" 8 verwirklichen. Kam er in der Sache den Forderungen, die die Sozialdemokraten in der Nationalversammlung erhoben, recht nahe, was ihnen die Unterstützung der Reformgesetze wesentlich erleichterte, so lastete ihm doch die Kritik die Urheberschaft f ü r die zweifellos nicht beabsichtigten, nichtsdestoweniger aber unausweichlichen Folgen auf. Die scharfe und rücksichtslose Heranziehung von Vermögen und Kapitalgewinnen zu einmaligen, sehr hohen Abgaben — außerordentlichen Kriegsabgaben, Kriegsabgaben vom Vermögenszuwachs und Reichsnotopfer — wirkte sich psychologisch und wirtschaftlich ungünstig aus, da sie die Kapitalbildung der Wirtschaft hemmte, die gerade in der Phase der Umstellung auf die Friedensproduktion dringend der Investitionen im großen Umfang bedurfte und nicht nur vom ausländischen Kapitalmarkt, sondern auch von den im Ausland angeleg8 V N V StenBer Bd. 327, S. 1378 ( 8 . 7 . 1 9 1 9 ) ; dort auch Erzbergers W o r t : „Ein guter Finanzminister ist der beste Sozialisierungsminister." (S. 1377.) D e n n : „Gerechte Steuern stellen eine rasch wirkende, vorzügliche Sozialisierung dar." (S. 1376 f.) 8 StenBer Bd. 331, S. 3843, ferner S. 3835 f. (3.12.1919). Die Wortwahl Erzbergers verrät unmittelbare Bezüge auf die katholische Soziallehre, die nach dem Weltkriege eine neue, entschiedene Ausprägung erhielt. In seiner Rede vor der Nationalversammlung am 3. Dezember w a n d t e er sich gegen den „Großkapitalismus der letzten Jahrzehnte", kündete er eine „Besteuerung des übermäßigen Aufwandes ' an, verurteilte er den „Individualismus", die „Uberspannung des Eigentumbegriffes" und die „Entstehung eines mammonistischen Geistes", um ihm eine „sozialorganischc Auffassung unseres gesamten wirtschaftlichen und sozialen Geschehens" und den „Gedanken des Solidarismus" entgegenzustellen. Vgl. K. Epstein, Erzberger, S. 346 f. u. 373 ff.; auch das differenzierte, den Gedanken einer bloß taktischen Annäherung an die S P D ausschließende Urteil von Gabriele Höfler, Erzbergers Finanzreform, S. 30 ff.
220
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
ten Vermögen abgeschnitten war. Die Steuermoral wurde in unrealistischer Weise überbeansprucht und dezimiert. Gerade die größten Vermögen und die Kriegsgewinne, die auf einen Höchstsatz von 172 000 Mark reduziert werden sollten,10 suchten sich dem Zugriff zu entziehen, so daß die volkswirtschaftlich bedenkliche und in der deutschen Situation gefährliche Erscheinung der Kapitalflucht nach wenigen Jahren zu neuen scharfen Gegenmaßnahmen zwang. Die teilweise unvermeidbare Verzögerung der größeren Zahlungsleistungen ließ überdies Teile des Aufkommens an Steuern und Abgaben der fortschreitenden Markentwertung zum Opfer fallen, so daß sich am Ende gerade der mittlere und kleinere Vermögensbesitz, den das Einkommensteuergesetz trotz beginnenden Wertverfalls schon bei 5000 Mark in Höhe von 10 Prozent für beitragsfähig hielt und der verhältnismäßig frühzeitig seinen steuerlichen Verpflichtungen nachkam, in verhängnisvoller Weise in Mitleidenschaft gezogen sah. Zudem erwies sich die Parole der „Sozialisierung" als Täuschung; denn die Reduzierung von Vermögen, Kriegsgewinnen und Einkommen blieb ohne irgendeine wesentlich strukturverändernde ökonomische Konsequenz. Das Reich verfügte weder über die Mittel, noch verfolgte es die Absicht, das gewaltig erhöhte Steueraufkommen in Gestalt von Investitionen und Investitionsförderungen in großem Umfange einzusetzen und auf die Gestaltung der Wirtschaft Einfluß zu gewinnen. Es gelang ihm aber auch bei weitem nicht, seine vielseitigen Verpflichtungen zu erfüllen, so daß es weiterhin zur Notenpresse seine Zuflucht nahm. Die Inflation erhöhte die scharfe Wirksamkeit der höchsten Steuersätze, da bei zunehmender Geldentwertung eine fortgesetzt wachsende Zahl von Veranlagten mit mittlerem und sogar kleinerem Besitz in die Klasse der Höchstbesteuerten aufstieg. Der Wettlauf der Gesetzgebung 10
K . E p s t e i n , a. a. O . , S. 347. „ N i e m a n d , der Millionen verdient h a t " , so kriti-
sierte P o p i t z 1928, „ l ä ß t sich ohne äußersten, auch mit den Mitteln selbst der besten Verwaltung
nicht ü b e r w i n d b a r e n
Widerstand
diese
Gewinne
auf
172 000
M. . . .
beschneiden, u n d ebensowenig ist selbst die beste S t a a t s m o r a l und noch viel weniger eine zerrüttete, wie sie nach K r i e g und Zusammenbruch b e s t a n d , S t e u e r s ä t z e n gewachsen, wie sie f ü r d a s N o t o p f e r vorgesehen w a r e n . . . "
( D i e deutschen F i n a n z e n ,
S. 189). Inzwischen haben wir — nicht nur in D e u t s c h l a n d — zeitweilig
ähnliche
und noch s t ä r k e r e Besteuerungen erlebt, so d a ß m a n solchen Worten keine G ü l t i g keit f ü r alle Zeit beilegen kann. Vgl. auch die B e m e r k u n g e n über
Steuerbelastung
und S t e u e r m o r a l v o n G ü n t e r Schmölders, D a s I r r a t i o n a l e in der öffentlichen F i n a n z wirtschaft.
Probleme
der
Finanzpsychologie
(Rowohlts
deutsche
Enzyklopädie),
H a m b u r g i 9 6 0 , S. 80. Sie treffen auch S t i m m u n g e n und Real tionen an der Wende der deutschen Steuerpolitik 1919/20.
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
Gegner
221
mit dem rapiden Währungsverfall vermochte weder diese „Scheingewinnbesteuerung"" zu beseitigen und die Mittelschichten vor großen Verlusten zu bewahren, noch dem Reich eine gleichmäßige Einnahmenhöhe zu sichern. Diese Entwicklung entsprach nun freilich keineswegs den
Inten-
tionen der Finanzpolitik Erzbergers; sie läßt jedoch historisch den Fehlschlag des von Erzberger eingeleiteten und unter höchst unsicheren Voraussetzungen
vollzogenen Experiments in gewaltigem
Ausmaße
offenkundig werden. Seitdem darf die F a m a von dem progressiven sozialen Prozeß als Konsequenz einer steilen und hoch hinaufreichenden Staffelung der Steuersätze unter Einsichtigen als zerstört gelten, so daß er nur noch als Waffe zur Zerstörung mittlerer und höherer Besitz- und Einkommensgruppen bewertet werden kann. D a s Steuerprogramm Erzbergers machte aber auch vor den unteren Erwerbsschichten nicht H a l t . Die Einkommensteuer bezog schon von einer verhältnismäßig tiefen unteren Grenze an Löhne und Gehälter ein. U n d die indirekten Abgaben der Verbrauchssteuern, deren Beseitigung zu den
klassischen
Forderungen
aller
sozialistischen
Parteien
zählte,
wurden keineswegs aufgehoben, sondern ebenfalls erhöht. Diese F o r men der Besteuerung konnten unmöglich Sozialreformen im Gefolge haben; sie leiteten vielmehr den ersten A k t der in der Inflation rapide fortschreitenden
Depossedierung
breiter bürgerlicher
Mittelschichten
ein und trugen zu einer krassen Ausbildung der Klassenunterschiede zwischen einer sehr dünnen Oberschicht mit großen Reichtümern und der großen, in zunehmendem U m f a n g von einer Tendenz zur wirtschaftlichen Nivellierung erfaßten Masse der Bevölkerung bei. Neue öffentliche Sozial- und Fürsorgeaufgaben ergaben sich als Folgen dieser Entwicklung. Unter diesen Aspekten ist es nicht verwunderlich, daß die Welle an Unpopularität, die die Steuerreform Erzbergers auslöste und die nicht zuletzt durch seine radikale Abwendung von jener Politik, die er in der Vergangenheit verfolgt hatte, und die daraus folgenden mannigfachen politischen und persönlichen Feindschaften gegen ihn bald auf den Höhepunkt getrieben wurde, in den süddeutschen Ländern die heftigsten Reaktionen hervorrief. Hier empfand man nach dem kaum verschmerzten Verlust der Reservate die drei wichtigsten
Reform-
gesetze, das Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung, 1 2 die Reichsab11
Dieser Ausdruds bei G. Höfler, Erzbergers Finanzreform, S. 115.
18
Vom 10. 9. 1919 ( R G B l 1919, S. 1591).
222
II. Reichspolitik und
Föderalismus
gabenordnung 13 und das kurz nach dem Rücktritt Erzbergers von der Nationalversammlung beschlossene Landessteuergesetz, 14 das eine „Steuergemeinschaft" von Reich und Ländern und damit die Grundlage des künftigen Finanzausgleichs bildete, als eine rasche Folge harter Schläge, was die ohnehin gedämpfte Verfassungsfreudigkeit schon frühzeitig stark beeinträchtigte und dazu führte, daß sich in die Be wertung gesetzlicher Regelungen, die auf die Initiative der Reichsregierung zurückgingen, leicht Akzente einschlichen, die den Reichsministerien eine perfide Verfassungspolitik unterstellten. Erzberger hat es auch an bewußten oder unbewußten Schärfen den Ländern gegenüber nicht fehlen lassen und seinem Werk keineswegs mit T a k t und unter Schonung vorhandener Empfindlichkeiten zur Wirklichkeit verholfen, wenn er es mit überflüssigem Nachdruck in das Licht einer zielstrebigen Reichspolitik und in den Zusammenhang einer noch viel weiter reichenden unitarischen Konzeption rückte. Was Preuß in den Anfängen seiner Verfassungsarbeit nicht erreicht hatte, damals aber in erster Linie gegen das Fortbestehen Preußens gerichtet war, schien jetzt Erzberger mit dem neuen und stärkeren Mittel einer formal durch Verfassungsbestimmungen und im übrigen durch die herrschende Mehrheit in der Nationalversammlung gedeckten Reichsfinanzpolitik ohne jede Rücksicht auf Süddeutschland durchsetzen zu wollen. Der Reichsfinanzminister hatte schon in einer Länderministerkonferenz am 13. Juli die Absicht angekündigt, eine einzige Einkommensteuer zu schaffen und einen eigenen „Erhebungsapparat" des Reiches in Gestalt einer Reichsfinanzverwaltung aufzubauen, sich also nicht mit den Bestimmungen des Artikels 83 der Reichsverfassung zu begnügen. 16 Hierdurch löste er einen Protest des bayerischen Land13
Vom 13. 12. 1919 (RGBl 1919, S. 1993).
14
Vom 30. 3. 1920 (RGBl 1920, S.
15
402).
Erwähnt von J. Popitz, Zehn Jahre Reichsfinanzverwaltung: Steuer-Archiv 1929, S. 313; auch Schwend, Bayern, S. 114 f., der der Konferenz das Datum 14. Juli gibt. Der Art. 83 Abs. 1 R V wurde lediglich als einstweilige Bindung der Länder genommen. Er setzte die Verwaltung von Zöllen und Verbrauchssteuern durch das Reich fort, limitierte aber nicht die künftigen Zuständigkeiten des Reiches, das in ihm nur den Ansatz zu einer Reichsverwaltung sah und die Verwaltung der Besitzsteuern nach dem Gesetz über die Reichsfinanzverwaltung auf den Art. 14 stützte: „Die Reichsgesetze werden durch die Landesbehörden ausgeführt, soweit nicht die Reichsgesetze etwas anderes bestimmen." Dieses „soweit" ist praktisch als „wenn" aufgefaßt worden. (Vgl. Fritz Poetzsch, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, vom 1. Januar 1920 bis 31. Dezember 1924: JböR XIII/1925, S. 35, auch S. 231 f.) Der Art. 8 gab dem Reich das Recht zur „Gesetzgebung über die Ab-
Anfänge
der zentralistischen
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223
tages aus, der sein Einnahmebewilligungsrecht, eines der grundlegenden historischen Parlamentsrechte, erheblich eingeschränkt und sich schon „auf die Ebene einer Kommission zur Verteilung der vom Reich den Einzelstaaten noch zugebilligten Zuschüsse herabgedrückt" sah.1" Daß die Reichsregierung nach der Annahme der Reichsverfassung über diesen Protest hinwegging und zum 1. Oktober die Übernahme der Finanzverwaltung auf das Reich vollzog, mußte die erregten Gemüter derer, die sich schon immer gegen zentrale Regelungen gestellt hatten, noch mehr beunruhigen. Erzberger deutete zudem in aller Öffentlichkeit ausdrücklich die einheitliche Reichsfinanzreform als „wirkungsvollen Schritt zur Schaffung des deutschen Einheitsstaates" und beseitigte so selbst jeden Zweifel, daß die Organisation der reichseigenen Landesfinanzämter einem sehr weit gesteckten Ziel folgte und daß sie gerade deshalb „mit großer Machtvollkommenheit ausgestattet" wurden, weil sie „den ersten Schritt" auf dem Wege zu „künftigen Reichsprovinzen" darstellen sollten, die Erzberger, wie er freimütig eingestand, am liebsten schon im Zuge der Reichsfinanzreform geschaffen hätte, wenn er „allein Herr gewesen" und nicht zur Rücksichtnahme auf die Länder gezwungen gewesen wäre.17 Da allein Bayern in drei Landesfinanzamtsbezirke, München, Nürnberg und Würzburg, zerfiel, gaben u n d sonstigen Einnahmen, soweit sie ganz oder teilweise f ü r seine Zwecke in Anspruch genommen w e r d e n " . (Zur Entstehung dieser mehrmals in W o r t l a u t und Sinn v e r ä n d e r t e n Bestimmung: G. Höfler, Errbergers F i n a n z r e f o r m , S. 144 ff.) Dieser Artikel schrieb des weiteren aber vor, d a ß das Reich bei der Inanspruchnahme von Abgaben oder Einnahmen, die bisher den Ländern zustanden, „auf die E r h a l t u n g der Lebensfähigkeit der Länder Rücksicht zu nehmen" hatte. Die Reichsabgabenordnung tat das hinsichtlich der Einkommen- wie der Körpersdiaftssteuer in der Form, d a ß sie ihnen nach M a ß g a b e einer Beteiligungsquote, die in wechselnder H ö h e festgesetzt wurde, einen Anteil am A u f k o m m e n dieser Steuern zuwies, der zunächst dem Verhältnis ihrer Steuerkraft entsprach — im Unterschied zum A u f teilungsschlüssel bei den Steuerüberweisungen der Vorkriegszeit, der von der Bevölkerungszahl ausging. Dies w a r die „Besteuerungsgemeinschaft", die P o p i t z von einem unitarisch organisierten Dotationssystem unterschieden wissen wollte. (Die deutschen Finanzen, S. 188.) D e r § 3 3 des Landessteuergesetzes (und entsprechend der § 35 des Finanzausgleichsgesetzes) w a n d e l t e n dieses P r i n z i p jedoch insofern ab, als sie die steuerschwachen Länder, deren E i n k o m m e n s t e u e r a u f k o m m e n stark hinter den mit H i l f e der Bevölkerungszahl errechneten Durchschnittssatz zurückfiel, zusätzlich aus Reichsmitteln dotierten und so vor den Folgen ihrer Steuerschwäche — indirekt zu Lasten der anderen L ä n d e r — bewahrten. U b e r Einkommensteuer und Finanzausgleich unterrichten die entsprechenden Artikel von Johannes P o p i t z im H W B S t 4. Aufl., 3. Bd., Jena 1926, bes. S. 446 und 1028 f. " Sdiwend, Bayern, S. 115. " V N V Sten Ber Bd. 330, S.2938
(8.10.1919).
224
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
konnte auch kein Zweifel herrschen, daß man sich an der Spitze des Reichsfinanzministeriums sogar mit Gliederungsplänen befaßte, die noch tiefer in die historischen Regionalstaatenbildungen eingriffen als diejenigen, die Preuß zu Beginn des Jahres bekanntgegeben hatte, und die sogar auf Kosten des bayerischen Gebietszusammenhanges gingen. Erzberger war zutiefst von der unabdingbaren Notwendigkeit der Unitarisierungspolitik überzeugt, als daß er sich durch entgegenstehende Uberzeugungen beirren ließ. Bayern, in dem die föderalistische Staatsauffassung am tiefsten verwurzelt war, leistete infolgedessen „den größten Beitrag zum Widerstand gegen die Reform Erzbergers zu dessen Lebzeiten wie auch nach seinem Tode". 1 9 Weitere Sorgen bereitete in dieser Zeit die Art des in der Reichsverfassung festgelegten Übergangs von Eisenbahnen und Post auf das Reich.10 Er wurde vorzeitig vollzogen, weil sich Bayern und Württemberg außerstande sahen, die mit der Unterhaltung dieser Betriebe verbundenen, fortgesetzt wachsenden Lasten weiterhin zu tragen. Dennoch knüpfte sich an die Forderung nach finanzieller Abfindung, die die Länder erhoben, eine Kette anhaltender Querellen. Die Postabfindungsfrage blieb in Beziehung auf Bayern wie auf Württemberg gar bis zum Ende der Republik ohne eine Lösung, die die Beteiligten als endgültig anerkannten. In die letzten Monate des Jahres 1919 und in die ersten des nächsten Jahres fiel eine Vielzahl von Verhandlungen, Regelungen und Maßnahmen, die für die rasche Ausführung der Reichsverfassung sorgten und in Bayern schnell und schmerzlich die veränderten staatsrechtlichen Verhältnisse spürbar werden ließen. Die Bestandsliste bayerischer Eigenstaatsrechte verminderte sich hier auf einige Überbleibsel symbolischer Art sowie einzelne organisatorische und beamtenrechtlich interessante Sonderbestimmungen, die politische Bedeutung lediglich insofern besaßen, als sie den ehemaligen bayerischen Staatsbeamten an einigen Stellen in den neuen Reichsverwaltungen das Gefühl einer besonderen Eigenständigkeit gaben. Die Gegenforderungen, die Bayern bei der Übernahme der Eisenbahnen auf das Reich erhob, mündeten in finanzielle Ersatzansprüche ein; überdies erhielten die bayerischen Eisenbahndirektionsbezirke eine eigene „Kokarde" zugestanden in Form ihrer Unterstellung unter eine neu ein18
G. Höfler, Erzbergers Finanzreform, S. 138.
19
Hierzu Gerhard Lassar, Reichseigene Verwaltung unter der Weimarer Verfas-
sung. Zwei bes. S. 174 ff.
Studien:
JböR
XIV/1926,
S.
1—231,
über
die
Verkehrsverwaltung
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
Gegner
225
gerichtete „Zweigstelle Bayern" des Reichsverkehrsministeriums. Ähnlich wurde im Verlauf der Vereinheitlichung des Post- und Telegraphenwesens f ü r die Zuständigkeit der bayerischen Verkehrs-, Betriebs- und Personalverhältnisse eine besondere Münchener Abteilung des Reichspostministeriums geschaffen, die unter der Leitung eines Staatssekretärs stand, der aus der bayerischen Beamtenschaft kam, und die zu drei Vierteln aus Beamten bestehen sollte, die die bayerische Staatsangehörigkeit von Geburt besaßen. Der Artikel 78 der Reichsverfassung nahm den Ländern auch das ausländische Gesandtschaftsrecht. Lediglich Frankreich unterhielt einseitig vom April 1920 bis zum 30. Juni 1934 eine diplomatische Niederlassung in München, 20 wobei es sich auf den Schlußsatz der Präambel des Friedensvertrages von Versailles berufen konnte, der von der Aufnahme amtlicher Beziehungen der alliierten und assoziierten Mächte zu einzelnen Staaten Deutschlands sprach. Die Reichsregierung hatte gegen eine Verwirklichung dieser deutlich bekundeten Absicht noch 1919 im Rahmen ihrer Möglichkeiten Vorkehrungen getroffen, indem sie die Länderregierungen ersuchte, jede fremde Macht bzw. jede Vertretung eines fremden Staates an das Auswärtige Amt zu verweisen, dem die Pflege der auswärtigen Beziehungen im Sinne der Reichsverfassung ausschließlich oblag. 21 Tatsächlich blieb der französische Versuch, in München diplomatisch Fuß zu fassen, ein Einzelfall, dem überdies sonderliche politische Bedeutung nicht beschieden war. Wesentlich uneinheitlicher gestaltete sich das in der deutschen Staatengeschichte wurzelnde innerdeutsche Gesandtschaftswesen. Unter dem Druck Preußens 22 und auf Verlangen der Reichsregierung, die die Regelung der Beziehungen zu wie zwischen den Ländern auf den Reichsrat zu konzentrieren gedachte, konnte dieser Zweig der innerdeutschen Diplomatie im Anfang erheblich eingeschränkt werden. Das Reich stützte sich hierbei auf den zunächst kaum umstrittenen Grundsatz, 20
Hans-Joachim Schreckenbach, Innerdeutsche Gesandtschaften 1867—1945: Archivar und H i s t o r i k e r : Studien zur Archiv- u n d Geschichtswissenschaft. Z u m 65. Geburtstag von Heinrich O t t o Meisner ( N r . 7 der Schriftenreihe der Staatlichen Archivverwaltung), Berlin (Ost) 1956, S. 408, Anm. 12. 21
Rundschreiben des Reichskanzlers Bauer an sämtliche Länderregierungen vom
1 2 . 1 2 . 1 9 1 9 , Abdruck BA, R 43 1/2327. 22 Schon im M ä r z 1919 drohte Preußen mit einer eigenen Außenpolitik u n d mit der Neubesetzung eines preußischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, wenn nicht die „gliedstaatlichen Gesandtschaften beseitigt w ü r d e n " . Schreiben des preußischen Ministerpräsidenten Hirsch an das Auswärtige A m t vom 14.3. 1919, Abschr. BA, R 43 1/2327. 15 Sdiulz I
226
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
daß „mit dem Fortfall der Monarchien innerhalb des Reichs und mit der durch die Reichsverfassung teils schon begründeten, teils angebahnten Vereinheitlichung eine Umwandelung der bisherigen verfassungsrechtlichen Zustände Deutschlands eingetreten" sei.23 Die Verhandlungen, in denen sich die Reichsregierung um ihre Aufhebung bemühte, erstreckten sich über mehrere Monate. Sie führten zu dem Ergebnis, daß die größeren Länder vorübergehend ihre diplomatischen Verbindungen untereinander aufhoben; die größeren unter ihnen, Bayern, Sachsen, Württemberg und Hessen, stellten jedoch nach kurzer Unterbrechung derartige quasidiplomatische Vertretungen wieder her. Zeitweilig unterhielten auch Preußen in München und Mecklenburg-Schwerin bei der preußischen Regierung eigene Gesandtschaften. 24 D a ß es bei den meisten dieser Beziehungen weit mehr um die Wahrung äußeren Ansehens und um die Erhaltung traditioneller Rechtsansprüche als um politisch bedeutsame Einrichtungen ging, mag man daraus ersehen, daß im Juli 1920 die bayerische Regierung zum Ausdruck brachte, daß sie sich nicht „das Recht verwehren" lassen wollte, Gesandtschaften zu unterhalten, obgleich sie ihre Vertretungen mit Ausnahme der in Berlin doch eben erst aufgehoben hatte, allerdings später wieder errichtete. 25 Die herrschende staatsrechtliche Lehrmeinung behalf sich mit der Auffassung, daß die Gesandtschaften und Konsulate deutscher Länder „keinerlei diplomatischen Charakter" besäßen, 26 was indessen in der Praxis keineswegs durchgehend anerkannt wurde. 27 Am 25. August löste sich auch das bayerische Ministerium f ü r militärische Angelegenheiten auf. 28 Die voraufgegangenen und nachfolgen23
Rundschreiben des Reichskanzlers vom 12. 12. 1919. Hierzu Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 65 ff.; Schreckenbadi, Innerdeutsche Gesandtschaften, S. 409, gibt die Zahl der innerdeutschen Missionen für 1925 mit 30 an. Diese Zahl u m f a ß t auch die Vertretungen bei der Reichsregierung, die fast alle Länder unterhielten. 25 Poetzsch, a. a. O., S. 67 f. 26 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar (14. Aufl. Berlin 1933), Kommentar zu Art. 78 Abs. 1, übereinstimmend mit der bereits im Rundschreiben des Reichskanzlers vom 12. 12. 1919 geäußerten Auffassung. 27 Vgl. K u r t H . Wahl, Die deutschen Länder in der Außenpolitik, Stuttgart 1929, S. 98 f. Eine Reichsratsvorlage der Reichsregierung, die auf eine Aufhebung des diplomatischen Status der innerdeutschen Missionen hinzielte, wurde nach bayerischen Gegenvorstellungen fallen gelassen. (Schreiben des bayerischen Ministerpräsidenten Graf Lerchenfeld an Reichskanzler Wirth vom 2 2 . 1 0 . 1 9 2 2 , BA R 4 3 1/2262.) 28 Schwend, Bayern, S. 107. 24
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre Gegner
227
den Verhandlungen verschafften Bayern nur noch insofern eine Sonderstellung, als das ganze Land Rekrutierungsbezirk einer geschlossenen Reichswehreinheit, der 7. Division, wurde, die neben der Reidiskokarde die weiß-blaue bayerische beibehielt. I h r K o m m a n d e u r erhielt die Bezeichnung eines bayerischen Landeskommandanten, den der Reichspräsident als oberster Befehlshaber n u r auf Vorschlag der bayerischen Regierung ernannte und der auch bei der Besetzung nachgeordneter Stellen im Benehmen mit der Landfesregierung die bayerischen Interessen wahrzunehmen hatte. Eine engere, in den anderen L ä n dern nicht übliche Beziehung zwischen dem Reichswehrkommandanten und der Landesregierung, die jedoch keineswegs die letzte Rolle des bayerischen Kriegsministers fortsetzte, war also von vornherein festgelegt. Die Befugnis der bayerischen Regierung, bei öffentlichen N o t ständen den bayerischen Reichswehrteil entweder über den Landeskommandanten oder über den Reichswehrminister zur Hilfeleistung a u f z u f o r d e r n , konnte freilich auch politisch belangvoll werden; denn sie gab der persönlichen Entscheidung des Landeskommandanten ein Gewicht, das ihn, wie sich später zeigte, in bedenklichem U m f a n g in das innerpolitische Kräftespiel einbezog u n d Schwierigkeiten in den Kommandoverhältnissen hervorrief, obgleich das Wehrgesetz vom 23. M ä r z 1921 die zentralen Entscheidungen u n d Befehlsbefugnisse f ü r die gesamte Reichswehr eindeutig in die H ä n d e weniger Männer in Berlin legte: in die des Reichspräsidenten, des Reichswehrministers und des Chefs der Heeresleitung. 2 '
Bayerische Kritik.
Der
„Rechtsstandpunkt"
Die Reservatrechte hatten sich also samt u n d sonders verflüchtigt und mehr oder minder äußerlichen Sonderregelungen Platz gemacht, die im Prinzip keine schwerwiegende politische Bedeutung zu besitzen brauchten. Wenn man das in Bayern auch nach den langen Verhandlungen in Weimar einstweilen mehr oder weniger resigniert hinnahm, so berührte doch der A u f b a u der Reichsfinanzverwaltung 3 0 und die mit einem raschen und radikalen Anziehen der Steuerschraube zu Lasten 29 RGBl I 1921, S. 329; s. auch Geßler, Der A u f b a u der neuen Wehrmacht: Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918—1928, S. 90. 30 Für die Einzelheiten der Verhandlungen im Verfassungsausschuß wie im Staatenausschuß und zum Widerstand Bayerns sei auch hier nochmals auf die wichtige ungedruckte Arbeit von G. H ö f l e r , Erzbergers F i n a n z r e f o r m , S. 139 ff., verwiesen.
15'
228
IL Reichspolitik
und
Föderalismus
der besitzenden Mittelschichten verbundene neue Reichsbesteuerung höchst unangenehm. Die schnelle Folge aller unitarischen Neuerungen, die unter der Ägide Erzbergers eingeleitet und entscheidend vorangetrieben wurde, förderte alsbald das Mißvergnügen an der Reichsverfassung, der sich in diesem Lande weite Kreise der Bevölkerung in dem Gefühl einer beschämenden Hilflosigkeit ausgeliefert fühlten. Es richtete sich zunächst gegen die von den Sozialdemokraten geführte Regierung, die dieser Entwicklung nicht Einhalt gebot und dies auch gar nicht konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Die Bayerische Volkspartei, die von der Rechtstendenz profitierte, die mit dem Räteinterregnum einsetzte, wollte sich bei 66 von 180 Abgeordneten in der Landesversammlung nicht noch länger mit zwei von elf Ministern abfinden. Sie wußte die sich ausbreitende Stimmung f ü r ihre eigenen Ziele zu nutzen und sich an die Spitze der Bewegung gegen die Reichspolitik zu setzen, die von den bayerischen Deutschnationalen, die sich Mittelpartei nannten, und von der mächtigen Organisation des Christlichen Bauernvereins am stärksten genährt und vorangetrieben wurde. Unter dem Einfluß von Männern wie Georg Heim bediente sie sich, auch nachdem die entschieden revolutionären Kräfte ausgeschaltet waren, des einmal mobilisierten Vehikels gegen links und verknüpfte sie durch erfolgreiche Kunstgriffe die Opposition gegen die bayerische Regierung der Revolutionszeit mit der Opposition gegen die Verfassung der Republik. Hierbei entstand jenes Bündnis der blau-weißen Opposition gegen Berlin mit der schwarz-weißroten Reaktion, die die Bewegungsgesetze der bayerischen Politik während der nächsten vier Jahre bestimmte, in der die Männer um Heini im Hintergrund die Fäden knüpften und Ritter v. Kahr, der populäre protestantische Beamte aus dem Fränkischen, Regierungspräsident in München, mehr und mehr in den Vordergrund trat und bald das Heft in der H a n d hielt. Man sparte nicht mit handfesten Vorwürfen gegen die bayerischen Politiker der Linken, denen man sogar die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses androhte „zur Ermittlung der Personen, welche an der Vernichtung der staatlichen Selbständigkeit Bayerns die Schuld tragen". 31 Wenn solche, zweifellos von Ressentiments beflügelten Drohungen audi noch Einzelerscheinungen blieben, und keineswegs die politischen Ziele der Bayerischen Volkspartei auswiesen, so waren sie doch als Vorboten einer ins radikale Fahrwasser abgleiten31
Bericht des preußischen Gesandten in München, Graf Zech, an das Auswärtige A m t vom 3. 12. 1919, Abschr. f. d. Reichskanzlei, BA, R 43 1/1872.
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Gegner
229
den Tendenz bedeutsam genug, als daß man sie in Berlin noch übersehen durfte. Eine vielsagende Situationsanalyse, die das alte Sprachrohr des bayerischen Zentrums veröffentlichte 3 2 und in der die beachtlichen ideologischen Reserven sichtbar wurden, über die die bayerischen Föderalisten verfügten, ging auch mit den Unterhändlern des bayerischen Staates während der Verfassungsverhandlungen ins Gericht, indem sie jetzt mit großem Nachdruck gerade der bisher mit unbeirrbarer Festigkeit verfochtenen These von der Rechtskontinuität zwischen dem
alten
Bundesstaat und dem neuen Reich entgegentrat. Hiermit wollte der Autor dieses Artikels aber nicht etwa über das Ergebnis der Weimarer Verfassungsverhandlungen die die bayerischen
resümieren, sondern gerade der Position,
Vertreter bezogen hatten, den
empfindlichsten
Schlag versetzen. Diese „ F i k t i o n " , so stellte er fest, „schränkte die Verhandlungsbasis der Einzelstaaten ganz wesentlich ein, oder sie vernichtete sie". Eine gemeinsame Abwehrfront der süddeutschen Staaten kam nicht zustande, was sich allein schon aus dem Festhalten
am
„Rechtsstandpunkt" ergab, da dieser nach der Bismarckschen Reichsverfassung keineswegs für alle Staaten die gleichen Rechte beinhaltete, ebensowenig aber ein geschlossener Wille zur Behauptung der staatlichen Selbständigkeit innerhalb der Länder. 3 3 Infolgedessen
„mußte
der K a m p f zwischen dem politischen Machtwillen der zentralistischen Bestrebungen und den politischen Widerstandskräften des Föderalismus notwendig mit dem Siege des ersten enden". In Bayern war der staatliche Selbstbehauptungswille nach dem Urteil des Kritikers in der „unheilvollen Verkettung der ,demokratischen' und der zentralistischen Bestrebungen einerseits und der ,kommunistischen' und der partikularistischen
Bestrebungen
anderseits"
erstickt.
Diese
beiden
Richtungen enthielten das fortwirkende Erbe der Aufspaltung der deutschen Sozialdemokratie; sie hätten bei der „rein negativen Leistung der Vernichtung
der monarchischen
Staatsform"
zusammen-
gewirkt. A u f dieser „negativen" Grundlage habe die Notwendigkeit eines neuen rechtlichen Aufbaus des Reiches bestanden, jedoch keine Rechtskontinuität, an der man festhalten konnte. „Jede Abweichung 32
Zur
Geschichte
der
Vernichtung
der
bayerischen
Selbständigkeit:
Bayerischer
K u r i e r , N r . 3 2 4 v o m 1 9 . 11. 1 9 1 9 . M a n geht w o h l nicht fehl, w e n n m a n die Initiatoren dieses a n o n y m erschienenen A u f s a t z e s im Kreise um G e o r g H e i m 33
sucht.
H i e r i n s t i m m t auch ein historisch-erklärender, offenbar in rechtfertigender
sicht geschriebener A r t i k e l
des G e s a n d t e n
Ritter v. Preger
K u r i e r " überein ( B S t Z N r . 2 2 5 v o m 1 3 . 9 . 1 9 1 9 ) .
mit
dem
Ab-
„Bayerisdien
230
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
von diesem Grundgedanken" des Föderalismus mußte nach Ansicht des Autors „rettungslos ins Verderben führen". Audi diese Stimme kam aus dem Lager derer, die die Regierung H o f f m a n n unter Anklage stellten, und schrieb die mit scharfer Logik deduzierten vermeintlichen Unterlassungssünden der eben erst vollendeten Vergangenheit ausschließlich auf ihr Schuldkonto. Doch sie hielt sich insofern noch mit einiger Vorsicht zurück, als sie dem politischen Kampf die Bahn eines kommenden verfassungspolitischen Ringens wies, in die sie auch die Regierung hineinzudrängen suchte, indem sie ihr offen die Aufgabe stellte, dem bayerischen Staat eine bessere Rechtsgrundlage zu sichern als ihm nach der Reichsverfassung von Weimar noch zukam. D a ß aber das Verfassungswerk der Nationalversammlung hier kaum anders denn als Durchgangsstadium angesehen und daß eifrig auf das Ziel einer Verfassungsrevision hingesteuert wurde, trat hier bereits deutlich zutage. Auf dieser Seite war man jedenfalls nicht bereit, auf die Dauer eine Reichsverfassung hinzunehmen, deren „entscheidende Folgerung" man darin sah, „daß der rechtliche Aufbau des Reiches an keine Rechtsschranke irgendwelcher Art (außer der Unmöglichkeit der Wiedereinführung der Monarchie) gebunden" sei. So überlegen diese Autoren aber auch zu tief lotenden Gedankengängen ansetzten, sobald es galt, die wirklichen oder vermeintlichen Fehler der letzten Vergangenheit aufzuspüren, so sehr begrenzten sie doch mit merkwürdig anmutender Sorgfalt ihren Blick in die Zukunft auf die Aspekte einer bayerischen Staatsidee, f ü r die sie warben, die sie mit allen Mitteln der ihnen zu Gebote stehenden Uberzeugungskraft populär zu machen und auf diese Weise neu zu beleben trachteten, die sie in unwandelbarer Beharrlichkeit und mit Entschiedenheit festhielten, so daß f ü r die schüchtern aufkeimenden Triebe eines gesamtdeutschen politischen Bewußtseins hier nur wenig Raum blieb. Diese programmatische Schwäche des an Geschichte und Tradition gebundenen Staatsföderalismus, die sich keineswegs auf die erste Phase der Reaktion auf den Abschluß des Weimarer Verfassungswerkes und seine frühesten Folgen beschränkte, 34 trug zu manchem Mißverständnis über 34
Waldemar Besson hat neuerdings den bayerischen wie den württembergischen Föderalismus als einen „feineren Föderalismus" von dem „gröberen Föderalismus" Preußens und anderer Länder unterschieden (Württemberg und die deutsche Staatskrise, S. 90 f.). Für Württemberg verbindet er diese Unterscheidung mit einer Qualifizierung der Staatsidee. Natürlich konnten sich Intensität und Volkstümlichkeit der Staatsidee in den historisch stagnierenden Staatswesen Bayerns und Württembergs besser erhalten als in dem in fortgesetzter Expansion begriffenen Preußen. Dort verdünnte sie sich im Verlauf des immer neue Gebiete einbeziehenden Inte-
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
Gegner
231
die wirkliche Natur der bayerischen Bestrebungen bei. Das Schlagwort „Separatismus", dem in Wahrheit nur ein sehr begrenzter Sinn zukam, das in Berlin aber leicht einen gespenstischen Klang erhielt, erklärt sich grationsprozesses; nichtsdestoweniger läßt sich eine preußische Staatsidee w ä h r e n d der Weimarer Periode keineswegs seltener und in einer mindestens ebensolchen Eigenständigkeit antreffen wie eine bayerische, wenn sie auch bei weitem nicht so urwüchsig und nicht ganz so p o p u l ä r w a r wie diese, was man auch v o r dem H i n t e r grund der sozialen wie der konfessionellen Verhältnisse sehen m u ß . D e r Geschichte Bayerns in den Jahren 1918—1933 sind in letzter Zeit mehrere Darstellungen gewidmet worden (vgl. auch die Besprechung von H e i n z Gollwitzer, Bayern 1918 bis 1933, VjZ 3. Jg./1955, bes. S. 380 ff.), d a r u n t e r die schon mehrfach zitierte von Karl Schwend u n d die sadikundige, mit ebensoviel Leidenschaft wie aphoristischer Kunstfertigkeit geschriebene Studie von Werner Gabriel Zimmermann, Bayern und das Reich 1918—1923. Der bayerische Föderalismus zwischen Revolution u n d Reaktion, München 1953. So eifrig Zimmermann die bayerischen Verhältnisse aber auch untersucht hat, so sehr bleibt doch bedenklich, d a ß er die „revolutionären" Parteien und die Weimarer Koalition z w a r temperamentvoll, aber wenig differenziert beurteilt. Indem Z i m m e r m a n n schließlich die Existenz der Monarchie zum R a n g eines Prüfsteins erhebt, der Bayerischen Volkspartei sogar ein „Versagen in der S t a a t s f o r m f r a g e " vorwirft und das W o r t von einem „föderalistischen Verrat an der monarchischen S t a a t s f o r m " p r ä g t (S. 171), geht er noch über Heim hinaus und charakterisiert er u n b e w u ß t selbst den engen Sinn eines Föderalismus, der nicht mehr als Bauprinzip gesamtstaatlicher O r d n u n g taugen kann, sondern ein romantischer Anspruch ist, der sich auf einen „unbedingten Wert" gründet (S. 190) und jeder Diskussion entzieht. D e r E r t r a g f ü r Verständnis und Verständigung v o n Föderalismus und Unitarismus ist daher, was dem A u t o r sicherlich bewußt ist, recht gering. Im Gegensatz zu diesen Ideen ist es nun äußerst bemerkenswert, d a ß Besson in seiner Darstellung des württembergischen Beamtenföderalismus eine Kategorie der „unpolitischen" Sachlichkeit entwickelt, mit der er die Arbeitsweise eines kleinstaatlichen konservativen Beamtentums auf eine Ebene allgemeiner Gültigkeit zu erheben versucht. Eine bisweilen karge Sachlichkeit f ä l l t in der T a t jedem auf, der sidi mit Sitzungsprotokollen und Aktenstücken der Regierungen b e f a ß t ; der Verf. kann aus seiner Kenntnis von Akten der Reichskanzlei, noch mehr des preußisdien Staatsministeriums, von preußischen und Reichsministerien diesen Eindruck, den Besson aus württembergischen Archivalien gewonnen hat, nur bestätigen. Sie w a r die selbstverständliche Folge von Verwaltungsüberlieferungen und -gewohnheiten, der gleichmäßigen juristischen Schulung und der eigentümlichen Erziehung der höheren Beamten in Deutschland. H i n z u kamen die meist sorgfältig gewahrten Modalitäten der P r o t o k o l l f ü h r u n g , die beispielsweise im Preußischen Staatsministerium etwas anders waren als im Reichsministerium; dieser U m s t a n d ermöglicht meist schon auf den ersten Blick die richtige Z u o r d n u n g eines Protokolls zur jeweiligen Behörde, ohne d a ß Abweichungen in Hinsicht auf die „Sachlichkeit" festgestellt werden müssen. Ähnliches gilt f ü r Selbstverwaltungskörperschaften und Spitzenverbände, soweit deren Arbeitsweise im wesentlichen von juristisch geschulten Beamten mit Verwaltungserfahrung bestimmt wird. Die Sozialwissenschaft e r f a ß t den hier angedeuteten Sachverhalt seit Max Weber unter dem Begriff der Bürokratie, der sicherlich weniger mißverständlich ist als der Ausdruck „Sachlichkeit".
II. Reichspolitik
232
und
Föderalismus
nicht zum wenigsten aus undeutlichen programmatischen Anspielungen auf Verbundenheiten mit dem Alpenland Deutsch-Österreichs, die ja auch von der Nationalversammlung und in der Reichsverfassung bekundet, jedoch durch französische Interventionen politisch ausmanövriert worden waren. Daß die französische Regierung dabei Erklärungen, sobald sie von München ausgingen, anders zu bewerten schien und jedenfalls anders behandelte als die des Reichsparlaments und daß man das Bewußtsein hiervon in den Kreisen um den Bauernführer Georg Heim recht offen zur Schau trug, dürfte vieles zu den Besorgnissen in Berlin beigetragen haben. Während der Erörterungen über die Annahme des Versailler Vertrages kam sogar die Befürchtung auf, daß Bayern im Falle einer Ablehnung Sonderabmachungen mit den Alliierten treffen und der Fortbestand des Reiches in der Gestalt der Bismarckschen Gründung zweifelhaft würde.35 Wenn ernsthafte Absichten dieser Art existiert haben, so wird man doch die Aussichten ihrer Verwirklichung nicht überschätzen dürfen.36 Die Gefahren, die für die Pfalz vorübergehend bestanden, kamen kaum für das gesamte bayerische Staatsgebiet in Betracht. Trotz allem war der Vorwurf des Separatismus tatsächlich doch mehr eine preußische Vokabel als ein für die Reichspolitik relevanter Terminus, auch wenn er schließlich die Beziehungen zwischen München und der Reichsregierung in Mitleidenschaft zog. Die innere Entwicklung in Bayern bis zur völligen Separation der Bayerischen Volkspartei von der Zentrumspartei schritt während der nächsten Monate letztlich auch unter dem Eindruck von Vorgängen innerhalb der preußischen Staatsgewalten voran. Der preußische Gesandte, dem die Reichsregierung die prompten und ebenso ausführlichen wie stets temperamentvollen Benachrichtigungen aus München während der kritischen Perioden verdankte, erhielt von seinem Ministerpräsidenten die Weisung, der antipreußischen Stimmung und den Klagen über die „Verpreußung" sowohl in der öffentlichen Meinung wie bei der Regierung Bayerns entgegenzutreten.37 Graf Zech wußte den Berliner Regierungen sehr viel von 35
Mitteilungen und Tagebucheintragung
General Groeners vom 29. 5. 1919, ab-
gedruckt bei Dorothea Groener-Geyer, General Groener, Soldat und
Staatsmann,
Frankfurt a. M. 1955, S. 1 5 2 ; und Reginald H . Phelps, Aus den Groener-Dokumenten: Deutsche Rundschau, 76. J g . / 1 9 5 0 , S. 735. 38
Über
die Beurteilung
der Verhältnisse in Bayern
durdi die
diplomatischen
Vertreter Preußens und der Reichsregierung s. o. S. 186. 37
Anweisung des Präsidenten des Preußischen
2 3 . 9 . 1919, Absdir. BA, R 43 1/1863.
Staatsministeriums, Hirsch,
vom
Anfänge
der zentralistischen
Reicbspolitik
und ihre
Gegner
233
dieser „Hetze gegen Preußen" zu berichten, die sich zu einem „Agitationsmittel der innerbayerischen sowohl wie der bayerischen zwischenstaatlichen Politik herausgebildet" habe: „Alles, was kritisiert werden soll, wird schematisch als ,preußisch' gebrandmarkt, weil diese Etikette nun einmal gang und gäbe ist, wenn es sich darum handelt, die öffentliche Meinung zu erhitzen". 38 Ähnliches konnte zu dieser Zeit auch in anderen Gebieten beobachtet werden; selbst in Berlin fehlte es ja nicht an Gegnern des preußischen Staates. Hier wie dort war die Opposition gegen „Preußen" — was immer auch darunter verstanden wurde — zu einem „inner- und parteipolitischen Kampfmittel" geworden, das nur allmählich an Wirksamkeit einbüßte. Es nimmt kein Wunder, daß sie in Bayern, wo der historische Gegensatz zwischen N o r d und Süd solange fühlbar gewesen war, besonders auffällig den Ton der Gazetten bestimmte. Die Berichte des jungen preußischen Diplomaten mußten in den Amtsstuben der preußischen Ministerien Verstimmung erzeugen und bei der Reichsregierung Befremden hervorrufen. Die auf dringliche Warnungen abgestimmten Berichte, die hinter diesen Vorgängen und Stimmungen in der bayerischen Hauptstadt das Regiment „separatistischer Gedankengänge" zu erkennen glaubten, begaben sich jeder Steigerungsmöglichkeit, so daß fast unterschiedslos in Bayern immer nur eine gleiche, von der Volkspartei dirigierte Politik am Werke schien, der Zech das Ziel einer Wiederaufrichtung der bayerischen Monarchie und der Einverleibung Tirols und des übrigen Österreichs unterstellte. Die späteren Vorgänge haben einige seiner Warnungen, allerdings gerade nicht die vermuteten Ziele des „Separatismus", keineswegs ins Unrecht gesetzt; sorgfältig aufeinander abgestimmte, mit dem größten Maß denkbarer Objektivität messende Untersuchungen von Zeit und Verhältnissen in München, die in Berlin alles andere als wohlvertraut waren, enthielten diese Berichte indessen nicht.39 Von seiner Stellung und seinen politischen Aufgaben 38
Bericht des preußischen Gesandten in München an das Auswärtige A m t v o m
3. 1 2 . 1 9 1 9 , Absdlr. BA, R 43 1/1872. 39
In einem Schreiben, das Graf Zech am 2 6 . 1 . 1 9 2 0 an das Auswärtige
Amt
richtete, wandte er sich gegen eine Äußerung, daß die B V P auf dem Boden der Reichseinheit stehe: „Wie ich in meiner bisherigen Berichterstattung
nachdrücklich
hervorzuheben mich beehrt habe, ist das wichtigste Charakterzeichen der Bayerischen Volkspartei ein die Reichseinheit auf das schwerste bedrohener Partikularismus, der sich mehr und mehr zum unverhüllten Separatismus umbildet". (Absdir. f. d. Reichskanzlei BA, R 43 1/1872.) D a r a u f h i n erbat Unterstaatssekretär Albert nähere Mitteilungen über die der Reichseinheit entgegenwirkenden Bestrebungen der B V P (Entwurf mit Abgangsvermerk v o m 2 8 . 2 . 1 9 2 0 ) . Graf Zech schränkte darauf sein
234
II, Reichspolitik
und
Föderalismus
her war es freilich nicht so sehr erstaunlich, daß der preußische Gesandte nicht stets mit Bedacht zwischen dem, was er für die spezifischen Interessen des Staates halten konnte, dessen Belange er wahrzunehmen hatte, und solchen des Reiches unterschied, die wohl auch mancher andere von diesem Münchener Beobachtungsposten aus nicht immer gegeneinander abzuwägen vermocht hätte. Der indirekt erkennbare Zwiespalt, in dem sich der Münchener Gesandte in seiner Eigenschaft als Diplomat zweier Regierungen befand, enthüllt nicht so sehr die Problematik des innerdeutschen Gesandschaftswesens in dieser Zeit als vielmehr die plötzlich wieder zutage tretende Interessenkoalition zwischen preußischer und Reichspolitik.
Behauptung
und Position
des preußischen
Staates
Die preußische Regierung war mit der Reichsverfassung keineswegs in vollem Umfang und mit der unitarischen Politik der Reichsregierung unter dem Einfluß Erzbergers noch viel weniger einverstanden. 40 Finanzminister Südekum, der Finanzexperte der Sozialdemokraten, hatte sich schon im Juli 1919 im Finanzausschuß der Nationalversammlung entschieden gegen die Pläne Erzbergers gewandt; 41 allervorher summarisches Urteil etwas ein und erwiderte, daß die BVP „natürlich . . . in ihren programmatischen Erklärungen niemals die Abtrennung Bayerns vom Reich offiziell proklamiert und hat das auch gar nicht tun können. Dazu ist die Partei, in der sich neben christlichen Arbeitern Vertreter des Mittelstandes, des Klerus und des Großgrundbesitzes befinden, viel zu wenig homogen. D a ß aber Teile der Partei mit dem Gedanken einer Abtrennung Bayerns vom Reich kokettiert haben, davon kann sich jeder überzeugen, der einige Wochen lang an O r t und Stelle die Parteiblätter liest, mit Parteimitgliedern spricht und die Vorgänge in der Partei aufmerksam prüft". (Schreiben an Albert vom 2. 3. 1920.) •,0 Die oben erwähnte Anweisung Hirschs an Graf Zech vom 23. 9.1919 enthält grundsätzliche Ausführungen über die Auffassung des Preußischen Staatsministeriums und läßt das Bemühen der preußischen Regierung erkennen, von der unitarischen Reichspolitik abzurücken: „Die Preußische Regierung hat zwar mehrfach zu erkennen gegeben, d a ß sie mit der Ausgestaltung des Reiches zu einem Einheitsstaat und daher mit dem Aufgehen Preußens im Reich grundsätzlich einverstanden sei, und sie ist auch der Ansicht, d a ß diese Entwicklung durch den Verlust des Krieges und insbesondere durch die Finanznot wesentlich gefördert werden wird, trotzdem kann man im Zweifel sein, ob das in letzter Zeit eingeschlagene Tempo nicht überstürzt ist und ob dabei nicht manche Imponderabilien außer acht geblieben sind, deren Nichtbeachtung sich u. U. sogar zu einer schweren Belastungsprobe für den Bestand des Reiches auswachsen könnte. An allen diesen Dingen ist aber die Preußische Regierung vollständig unbeteiligt." 41
K. Epstein, Matthias Erzberger, S. 339.
Anfänge der zentralistischen Reichspolitik und ihre Gegner
235
dings unterließ es das Staatsministerium im Unterschied zur bayerischen Regierung vorerst, die preußische Verfassunggebende
Landes-
versammlung in die Angelegenheit hineinzuziehen, was bei der Ä h n lichkeit
der
Parteiverhälnisse
in
der
Berliner
Landesversammlung
und in der W e i m a r e r N a t i o n a l v e r s a m m l u n g zu dieser Z e i t vermutlich a u f Schwierigkeiten gestoßen wäre, die der Staatsregierung ein ungewisses Schicksal bereitet hätten. H i e r b e i fiel ins Gewicht, d a ß die drei P a r t e i e n
der Regierungskoalitionen
keine preußischen
Landes-
organisationen bildeten, die sich mit den Landesparteien in anderen Ländern
vergleichen
demokratischen
ließen.
Partei
In
den
Reichsvorständen
wie des Zentrums und der
der
Sozial-
Demokratischen
P a r t e i w a r das Aufgehen Preußens im Reich bereits vollzogene T a t sache, so d a ß sich erst die neu entstehenden F r a k t i o n e n der Landesversammlung als preußische Parteiorgane konstituierten. Z u
diesem
Z e i t p u n k t aber w a r das S t a d i u m einer selbständigen, in engster V e r bindung mit dem Staatsministerium stehenden F r a k t i o n s p o l i t i k ,
wie
sie sich später unter dem starken Einfluß O t t o Brauns wie der F r a k tionsgewaltigen H e i l m a n n und H e ß ausbildete, bei weitem noch nicht erreicht. D i e Lage Preußens erlaubte daher keine offene, von
den
Parteien
Die
gestützte
Frontbildung
gegen
die
Reichsregierung.
preußische Staatspolitik blieb a u f die inneren Bereiche von ministerium
und V e r w a l t u n g
beschränkt
und
im übrigen
Staatsauf
mehr stillschweigende Unterstützung traditioneller Mächte
die
angewie-
sen, soweit sich in ihnen eine preußische Staatsidee auch über die R e v o l u t i o n hinweg lebendig erhalten hatte. I n der A t m o s p h ä r e der neu sich belebenden L ä n d e r p o l i t i k und der sich formierenden bayerischen Opposition fiel dem in seinem Besitzstande vorerst gesicherten Preußen fast schon von selbst die R o l l e eines übermächtigen R i v a l e n unter den deutschen L ä n d e r n zu, dessen P o l i t i k einen gehörigen Druck a u f die Reichspolitik auszuüben vermochte.
Der
versammlung
alte
Dualismus
Reich-Preußen,
t r o t z der anfänglich
Staatszusammenhanges
abzielenden
den
a u f Zerstörung
die des
Gliederungspläne
Nationalpreußischen
von
Preuß
gänzlich aus den Augen verloren und den der Staatenausschuß ohne die gebührende A u f m e r k s a m k e i t abgetan und erledigt hatte, k o n n t e unter diesen U m s t ä n d e n nicht lange verborgen bleiben. E i n z i g D a v i d und K o c h - W e s e r hatten früh genug das P r o b l e m e r k a n n t und waren mit den ihnen zu G e b o t e stehenden M i t t e l n für großzügig umrissene Lösungsversuche eingetreten, am E n d e aber doch a u f die Seite derer getreten, die die E r h a l t u n g des preußischen Staates für das Gesetz der
236
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
Stunde hielten, das sich angesichts der ungewissen Entwicklung im bayerischen Gebiet und der offenkundigen Gefährdungen der Grenzen, die überwiegend Preußens Grenzen waren, in diesem Augenblick in der Tat als das Lebensgesetz der deutschen Republik darstellte. Die Tagesordnung der Ereignisse in der Vorgeschichte der Reichsverfassung schritt daher alsbald über diese beiden Stimmen hinweg, ohne daß das Dualismusproblem auch nur f ü r kurze Zeit in seiner vollen Bedeutung erfaßt wurde. Allein Koch-Weser behielt dann auch später noch Stellung und Einfluß, um seine Gedanken genauer zu fassen und eigene Pläne zu entwickeln. Im entscheidenden Augenblick aber fehlte es an ausreichender Klarheit darüber, ob die „Republikanisierung" Deutschlands gegen Preußen durchgeführt werden mußte und durchgeführt werden konnte — dann wären allerdings andere Mittel erforderlich gewesen als die angewandten, um seine hegemoniale Stellung zu erschüttern, — oder ob sie gerade und in erster Linie mit Hilfe der Mittel des preußischen Staates zu erreichen war; dann hätte es der engsten nur denkbaren Verbindung zwischen der preußischen Exekutive und einer sich vor allem anderen auf Preußen stützenden Regierung des Reiches bedurft. Dieses halbe Ergebnis beleuchtet aber auch die zeitweilige Schwäche Preußens. Die lokale Nähe der Reichsregierung, die in den Wochen der Unsicherheit die Sache des Reiches von der Preußens nicht mehr zu unterscheiden erlaubte, war hieran in erster Linie schuld. Auch in späteren Situationen äußerster N o t ist diese Identifikation von Reichsinteressen und preußischem Interesse immer wieder in der Art einer unvermeidlichen Zwangsläufigkeit vollzogen worden. Aber auch der Umstand wirkte mit, daß keine der Parteien, die die Koalition von Weimar bildeten, — und die äußerste sozialistische Linke ebensowenig — ein preußisches Staatsbewußtsein an den Tag zu legen bereit war. Allerdings konzentrierte sich der rechte, nationale Flügel des Vorkriegsrevisionismus in der Sozialdemokratie in bemerkenswerter Geschlossenheit auf die preußische Regierung. Nach dem Ausscheiden der U S P D w a r Wolfgang Heine Justiz- und dann Innenminister, Paul Göhre, der einstige Pfarrer, der von den NationalSozialen Friedrich Naumanns zur Sozialdemokratie gestoßen war, zuerst Staatssekretär im Kriegsministerium, dann im Staatsministerium, Albert Südekum Finanzminister und der gewandte Konrad Haenisch, Freund und Gefolgsmann Parvus-Helphands, der abenteuerlichsten Gestalt in der deutschen Sozialdemokratie, preußischer Kultusminister geworden. In der Nationalversammlung setzte sich
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
Gegner
23 7
vor allem Heine im Namen seiner Regierung, aber nicht immer in Übereinstimmung mit seinen Parteifreunden nachdrücklich und geschickt f ü r die Erhaltung der „großen einheitlichen Verwaltungsorganisation" Preußens ein.42 Im Staatenausschuß taten sich die preußischen Vertreter wie die anderer Länder als Kritiker des Preußschen Entwurfs hervor; sie trugen schließlich zu dem Kompromiß des Artikels 18 in der Form bei, die er in der Reichsverfassung erhielt." Hierbei zeichnete sich schon jener doppelseitige Grundsatz ab, den die preußischen Regierungen bis zur Endphase der Weimarer Republik nahezu unverändert verfolgten: die Idee des deutschen Einheitsstaates, mit der Wirklichkeit eines beharrlich behaupteten zentralisierten preußischen Staates in eins zu setzen, wie es als Erster Heine in Weimar mit der Erklärung andeutete, daß „phantastische Pläne" einer Neugliederung oder der Loslösung von Provinzen, „die nicht aus dem Bedürfnis des ganzen preußischen Volkes hervorgehen und die darauf hinauslaufen, Preußen zu zerstückeln", eben gerade „vor der Idee des einheitlichen Deutschen Reiches" nicht zu verantworten seien.44 Zu den Verteidigern der Existenz des preußischen Staates während des Jahres 1919 zählte aber auch die letzte Oberste Heeresleitung, die dank ihres engen Verhältnisses zum Reichsoberhaupt, das in dem sogenannten „Bündnis Ebert-Groener" symbolhaften Ausdruck und greifbare Gestalt fand, zu einer Größe der inneren Politik in der Republik aufstieg. In einigen programmatischen Äußerungen Groeners ist das erste deutlich formulierte Gegenstück zu der Reichserneuerung nach den genossenschaftlich-demokratischen Plänen von Hugo Preuß enthalten, das Bismarcks preußische Reichsgründung mit vergleichbaren Mitteln unter den veränderten Verhältnissen erneuern wollte. Wieder sollte „die Durchführung des deutschen Einheitsstaates" von Preußen ausgehen, wie Groener an Ebert schrieb: „Preußen muß Deutschland werden, und dieses Deutschland muß vor allen Dingen innere Politik treiben, die Politik eines modernen Friedrich Wilhelm I." 45 Dieses Ziel verlangte „in erster Linie die 42
V N V StenBer bes. Bd. 326, S. 457 f. u. 481; Bd. 328, S. 1808; Bd. 329, S.2153 f. H i e r z u audi die Memoiren von Paul Hirsch, D e r Weg der Sozialdemokratie zur Macht in Preußen, Berlin 1929, S. 175 f. 44 V N V StenBer Bd. 326, S. 458. 45 Von Schleicher entworfenes Schreiben aus Kolberg vom 27. 6. 1919, abgedruckt bei Dorothea Groener-Geyer, General Groener, S. 385 f.; auszugsweise bei Reginald H . Phelps, Deutsche Rundschau, 76. Jg. 1950, S. 535; vgl. auch Wilhelm Groener, 43
II. Reichspolitik
238
und
Föderalismus
restlose Wiederherstellung der Staatsautorität", das hieß „Mitarbeit des Offizierkorps", „Regierung des Beamtenwesens", Beseitigung der Arbeiterräte — „bei Sperrung der Bezüge und festem Auftreten ein Kinderspiel", wie Groener meinte — und „Entfernung aller charakterschwachen Persönlichkeiten" aus ihren Stellungen. Der gleiche Begriff „Einheitsstaat" deckte zur gleichen Zeit entgegengesetzte Ziele: Preuß erstrebte ein liberales, demokratisches Deutschland auf dem Wege über die Auflösung des preußischen Staates; die O H L hingegen folgte machtpolitischen Überlegungen unter Voraussetzung des außenpolitischen Primats in eben der Situation, die sich aus der militärischen Niederlage Deutschlands ergeben hatte. Der einfachste und direkte Weg, um Deutschland „zunächst auf der Stufe eines Staates zweiten Ranges" zu behaupten und „die 60 Millionen deutschen Volkes fest zusammenzuhalten" lag nach Ansicht dieser Männer, die an militärisches strategisches Denken gewöhnt waren, in der Erhaltung und in der Stärkung des preußischen Staates. Von der norddeutschen Tiefebene ausgehend, würde man dann ein „neues deutsches Reich" errichten können; „das feste Staatsgefüge" Preußens sollte „modernisiert und . . . ausgebaut werden zum neuen Deutschland". Den anderen Ländern Deutschlands indessen war kein anderes Schicksal zugedacht, als zu „verschwinden, sobald man dies auf gütlichem oder gewalttätigem Wege durchsetzen kann . . ."46 Freilich hatten die Erfahrungen der ersten Übergangsphase mit ungewissen Befugnissen und geringer Verfügungsgewalt der Reichsministerien und im besonderen das bayerische Zwischenspiel unter Eisner und den Münchener Räten gezeigt, daß der Zustand des Reiches nur zu sehr dem einer gerüstlosen Hülle ähnelte, die dringend wirksamer Stützung in Gestalt exekutiver Hilfen bedurfte, die sich in den zuverlässig arbeitenden preußischen Verwaltungen in erster Linie anboten. Offizielle preußische Erklärungen haben daher auch schon frühzeitig die Alternative — deutscher Einheitsstaat oder preußischer Staat im alten Besitzstand — messerscharf präzisiert: als Warnung vor dem „denkbar ungeeignetsten Weg" einer „Zerschlagung Preußens in leiLebenserinnerungen, S. 646; Gordon A. Craig, Reichswehr and N a t i o n a l Socialisra. The
Policy
LXIII/1948,
of
Wilhelm
Groener
S. 196; ferner Rudolf
1928—1932:
Political
Science
Quarterly,
Fischer, Schleicher. Mythos und
vol.
Wirklichkeit,
Hamburg 1932, S. 18. 4
' Vortrag Groeners vor den Offizieren der Obersten Heeresleitung am 19./20. 5.
1919 (Wilhelm
Groener,
Groener, S. 145 f.).
Lebenserinnerungen,
S. 495; D .
Groener-Geyer,
General
Anfänge der zentralistischen Reicbspolitik
und ihre Gegner
239
stungs- und lebensunfähige Zwerggebilde" 4 7 oder als Forderung nach „Aufrechterhaltung des freien unteilbaren Preußens, bis der deutsche Einheitsstaatsgedanke a u f der ganzen L i n i e " siegen werde. 4 8 D i e Reichsverfassung von W e i m a r sicherte die E x i s t e n z der S t a a t s organisation Preußens, nicht jedoch seinen alten Einfluß a u f das Reich. D i e H ä l f t e der preußischen V e r t r e t e r im Reichsrat m u ß t e von den Provinzialausschüssen gewählt und entsandt werden; die Reichsverfassung w o l l t e damit den Selbstverwaltungen der P r o v i n z e n entgegenk o m m e n . Infolgedessen verfügte Preußen als einziges L a n d über ernannte und über gewählte V e r t r e t e r im Reichsrat, der im übrigen wie der einstige Bundesrat den Anstrich einer diplomatischen V e r s a m m l u n g hatte, in der die V e r t r e t e r der L ä n d e r , Minister, Gesandte und meist höhere Ministerialbeamte, als „ H a u p t b e v o l l m ä c h t i g t e " ,
„Bevollmäch-
t i g t e " oder „Stellvertretende B e v o l l m ä c h t i g t e " namens ihrer R e g i e r u n gen mit der Reichsregierung verhandelten. Obgleich rund drei Fünftel des gesamten Reichsgebietes und fast acht D r e i z e h n t e l der Reichsbevölkerung zu Preußen gehörten, verfügte es nach A r t i k e l 61 der Reichsverfassung unter Einschluß der Provinzialdelegierten nur über den H ö c h s t anteil von zwei Fünftel aller S t i m m e n im Reichsrat; das waren 2 6 , später 2 7 ,
so d a ß
der von
der
preußischen
Regierung
instruierte
H a u p t b e v o l l m ä c h t i g t e nur 13 S t i m m e n abgeben konnte. D a s preußische Staatsministerium zögerte z w a r den gesetzlichen V o l l z u g dieser Bestimmung bis zum M a i 1 9 2 1 hinaus und sorgte für eine möglichst einheitliche
Stimmabgabe
aller
preußischen
k o n n t e aber dem G r u n d g e d a n k e n
Reichsratsmitglieder,
des Verfassungsartikels,
der
die
preußischen P r o v i n z v e r t r e t e r v o m politischen Willen des S t a a t s m i n i steriums unabhängig machte, nicht entgegenhandeln. 4 9 D a s hatte zur R e d e des Ministerpräsidenten
47
Hirsdi
zur E r ö f f n u n g
der
verfassungsgebenden
preußischen L a n d e s v e r s a m m l u n g a m 1 3 . 3 . 1 9 1 9 (abgedruc&t bei H i r s d i , D e r W e g der S o z i a l d e m o k r a t i e , S. 2 2 9 ) . 48
Regierungserklärung
in
der
preußisdien
Landesversammlung
am
20.3.1919
( H i r s d i , a . a . O . , S. 2 3 3 ) . 48
I m einzelnen hierzu die Untersuchung v o n K a r l - H e i n z Sdioppmeier, D e r E i n -
fluß P r e u ß e n s a u f die Gesetzgebung des Reiches ( A b h a n d l u n g e n zur
Reichsverfas-
sung, hrsg. v . W a l t e r Jellinek, H e f t 4 ) , Berlin 1 9 2 9 . D i e Reidisregierung h a t später Versuche
der
preußisdien
Regierung,
den
Provinzialvertretern
Empfehlungen
im
Sinne einer einheitlichen A b g a b e der preußisdien S t i m m e n im R e i d i s r a t zu geben, in
der
Weise
unterstützt,
daß
sie
die
Auffassung
vertrat,
„die
Gestaltung
Stimmrechts der v o n den preußischen P r o v i n z i a l v e r w a l t u n g e n bestellten
des
Mitglieder
des R e i c h s r a t s " sei „nach der Reichsverfassung eine innere Angelegenheit P r e u ß e n s " . (Von
Staatssekretär
Zweigert
unterzeichneter Bescheid des Reichsministers
des
In-
240
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Folge, daß seit 1921 konservative und zur Rechten zählende Persönlichkeiten mit den preußischen Vertretern in den Reichsrat einzogen. Sie wurden vor allem von den Provinzialverwaltungen der östlichen Provinzen bestellt; unter ihnen befanden sich politisch profilierte Männer wie etwa Freiherr von Gayl als Vertreter Ostpreußens, der sich stets als Gegenspieler der preußischen Regierung und der Weimarer Koalitionsparteien betrachtete und zeitweilig beträchtlichen Einfluß besaß. 50 Anderseits aber sah sich nun die Reichsregierung infolge der Auflösung der Personalunion von Reichskanzleramt und preußischer Ministerpräsidentschaft des zuverlässigen Armes der preußischen Verwaltung beraubt. Die vollkommene Trennung Preußens von der Reichsspitze und die Zurückdrängung seines Einflusses durch Minderung seines Anteils an gebundenen Stimmen im Reichsrat, war in jeder Hinsicht Stückwerk, das die unmittelbaren Beziehungen zwischen den beiden Berliner Regierungen löste, die hegemoniale Machtstellung Preußens im Reich aber nur zeitweilig beeinträchtigte und sich im ganzen weder als sonderlich zweckvoll, noch in irgendeinem Sinne als erfolgreich erwies. Die potentielle Macht, die in dem einheitlich verwalteten größten Territorium und seiner Bevölkerung, seiner Wirtschafts- und Steuerkraft, in dem großen Verwaltungsapparat und in der Schulung wie in den Erfahrungen seines Beamtenheeres lag, ließ sich nicht ausschalten, solange dieses Land in seiner Einheit erhalten blieb. Preußen zeigte sich schon bald stark genug, um der Reichsregierung gegenüber eine vorteilhafte Stellung zu beziehen, da die Reichsverfassung die eigenverantwortliche Erfüllung der Verwaltungsaufgaben zum eigentlichen Daseinsinhalt der Länder gemacht hatte und die verbleibenden Verwaltungen, nachdem Militär-, Finanz-, und Verkehrshoheit zum Übergang auf das Reich bestimmt worden waren, nirgends in dem U m f a n g zu politischer Bedeutung gelangen und eine politische Macht bilden konnten wie in Preußen. Seine große und nern vom 2. 9. 1924 auf die Beschwerde einer Ortsgruppe des Schleswig-HolsteinerBundes, Durchschi. BA, R 43 1/1030.) 50 Zu den 1921 bestellten preußischen Reichsratsmitgliedern gehörten neben Freiherr v. Gayl der ehemalige L a n d r a t v. Bredow (Provinz Brandenburg), der ehemalige Staatsminister v. Trott zu Solz (Hessen-Nassau), der ehemalige Oberpräsident V. Guenther (Niederschlesien), Graf Behr-Behrenhoff (Pommern), Landschaftsrat v. d. Wense (Hannover), Graf Praschma-Falkenberg (Oberschlesien), die der D N V P angehörten oder ihr sehr nahestanden, ferner der Landwirtsdiaftsexperte der D V P , Schifferer — Gut Charlottenhof bei Edcernförde (Schleswig-Holstein).
Anfänge der zentralistischen
Reichspolitik
241
und ihre Gegner
wichtige Exekutive, die über die innere Verwaltung, die Kommunalaufsieht, die Polizei und damit die Ordnung und Sicherheit in zwei Dritteln des Reichsgebietes, Landesfinanzen, Wirtschaftsunternehmen, Liegenschaften, Forsten und Domänen, über das Gerichtswesen, Strafvollzug, Schul- und Hochschulverwaltung gebot, bildete eine mächtige, für die Politik des Reiches unentbehrliche Vollzugsorganisation. D a jede N o r m ihre zwingende K r a f t verliert, sobald die Machtmittel der Exekutive mit ihr in Widerstreit treten, blieb das Reich in den wichtigeren Fragen der inneren Politik, die ein Tätigwerden der Verwaltungen verlangten, notwendig auf Preußen angewiesen. Die preußische Regierung war daher nicht nur primus inter pares unter den Länderregierungen, sondern „die eigentliche Reichsregierung für zwei Drittel des deutschen Reiches". 51 Wie später eine in den preußischen Ressorts zirkulierende Denkschrift feststellte, herrschte ein offenkundiges „Mißverhältnis zwischen Zuständigkeitsfülle und Exekutionsschwäche im Reiche", so daß vor allem in den frühen Jahren des Übergangs „das Auseinanderfallen von Kompetenz und Polizeiexekutive" drohte und „die Lage des Reichs in unseren unruhigen Zeitläufen eine dauernd gefährdete" war. 5 2 D a die Personalunion in der höchsten Staatsspitze entfiel, besaß weder Preußen noch das Reich eine zuverlässige Sicherung gegen allzu weitgehende politische Divergenzen. Bei den starken außen- wie innenpolitischen Anforderungen an die Republik garantierten diese Verhältnisse einen stabilen Dauerzustand zumindest f ü r den Fall nicht, daß wechselnde parlamentarische Mehrheiten zu politischen Differenzen zwischen Reichsregierung und preußischer Regierung führten. Die erwähnte Denkschrift bemerkte, daß „die Gleichmäßigkeit der im Reich und Preußen betriebenen Regierungspolitik davon abhängig" sei, „daß die parlamentarischen Mehrheiten im Reichs- und L a n d t a g eine gleichmäßige Politik betreiben. Die Reibungsmöglichkeiten, die in diesem Verhältnis von Reichs- und L a n d t a g liegen, steigern sich in dem Maße, in dem die Legislaturperioden beider Parlamente zeitlich auseinanderfallen und in dem die Verschiedenheit der beiderseitigen Majoritätsbildungen auf die Zusammensetzung der Regierungen zurückwirkt". 51
Walter V o g e l , Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in
Vergangenheit
und G e g e n w a r t , L e i p z i g und Berlin 1932, S . 92. 52
V e r v i e l f ä l t i g t e r D e n k s c h r i f t - E n t w u r f des S t a a t s s e k r e t ä r s im preußischen Innen-
ministerium F r e u n d „ U r s a c h e n und A u s w i r k u n g e n der neu entstandenen
Reibungs-
möglichkeiten" z w i s d i e n Reichs- und preußischen I n s t a n z e n v o m 14. 3. 1921 Rep. 327/27). 16 Sdiulz I
(HAB,
242
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Im Grunde hatte sich die Republik unter den Bedingungen der parlamentarischen Verfassungen nicht sehr weit von dem früheren Zustand entfernt, in dem eine „partikularistische Haltung des Preußischen Staatsministeriums Trockenlegung des Reiches" 53 bedeutete. Unter solchen Umständen hätte die Beschränkung des preußischen Anteils am Reichsrat auf zwei Fünftel und des den Weisungen des Staatsministeriums unterworfenen Anteils sogar auf ein Fünftel der Stimmen überhaupt nur dann sinnvoll sein können, wenn die Reichspolitik unter den Reichsratsstimmen der anderen Länder einer ständigen Unterstützung einigermaßen sicher gewesen wäre. Sie mußte stattdessen mit einer differenzierten und stets labilen Mehrheit rechnen, die die Gesetzgebungstätigkeit der Reichstagsmehrheit in wirksamer Weise blockierren konnte. Immer aber blieb die Reichsregierung auf Preußen und seine Exekutivorganisation angewiesen. Dieser Zustand barg bei der starken Belastung der Reichspolitik in den folgenden Jahren schwerwiegende Probleme in sich, die es nicht verwunderlich erscheinen lassen, daß sowohl von Seiten des Reiches wie von der preußischen Regierung wiederholt Versuche zu seiner Änderung unternommen wurden. Der erste dieser Versuche betraf die neue preußische Behörde des Staatskommissars f ü r die öffentliche Ordnung, die seit dem 21. Juli 1919 bestand und wie keine zweite Traditionen des alten Vewaltungsund Polizeistaates mit geheimdienstlichen Erfahrungen der Kriegszeit vereinigte und in den Dienst der republikanischen Staatsregierung stellte, jedoch ohne sie der unmittelbaren Kontrolle durch das Staatsministerium oder durch die Landesversammlung zu unterwerfen. Bedeutung und Macht dieser Einrichtung und ihre innerpolitische Rolle während der ersten Jahre unter der Weimarer Verfassung lassen sich kaum hoch genug veranschlagen. Es nimmt kein Wunder, daß ihre im Geheimen betriebene recherchierende Tätigkeit an den preußischen Landesgrenzen keineswegs H a l t machen wollte und in dem Gesichtswinkel des größtmöglichen Erfolges wohl auch schwerlich H a l t machen konnte, zumal die anderen Länder ähnlicher Einrichtungen entbehrten. Möglichkeit wie Notwendigkeit eines Zusammenarbeitens also entfielen. Angesichts der Dienste, die die Tätigkeit und die Informationen dieser Behörde auf Veranlassung des Preußischen Staatsministeriums 53
So im Immediat-Bericht Bismarcks vom 22. 1.1878 über eine notwendige „Zerlegung des Reichskanzleramtes in einzelne Reichsämter", die eng mit preußischen Ressorts, im besonderen mit dem preußischen Finanzministerium zusammenzuarbeiten hätten. (Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 6, C, S. 99.)
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
Gegner
243
auch der Reichsregierung leisteten, tauchte in der Reichskanzlei alsbald der Plan auf, sie zu einer Reichsinstanz zu erheben und fortan preußische und Reichsinteressen auf dem gleichen Gebiet in einheitlicher, jedoch erweiterter Zuständigkeit wahrnehmen zu lassen. Sie wäre dann zu einer machtvollen Zentralstelle für die Erarbeitung der Handhaben und zur Ausübung der aus dem Artikel 48 der Reichsverfassung ableitbaren Ausnahmerechte geworden, die der Reichskanzlei vor allem als Waffe „zur Bekämpfung der nicht nur über Preußen,
sondern
gleichmäßig über das ganze Reich ausgebreiteten Strömungen und B e wegungen der radikalen Kreise" unentbehrlich erschien 54 . Dieses Vorhaben wurde von den politischen Ereignissen der nächsten Monate überholt und scheiterte dann nach dem Rücktritt des Staatskommissars von Berger am Vorabend des Kapp-Putsches an der Persönlichkeit seines Nachfolgers Weismann, der sich eine der einflußreichsten Positionen im neuen preußischen Staate aufbaute und zunächst als einer der wichtigsten Informatoren der Reichsregierung, später als Staatssekretär des Preußischen
Staatsministeriums
bis 1932
eine
Schlüsselstellung
zwischen den Regierungen Preußens und des Reiches inne hatte. Schon
frühzeitig deutete sich hier das Problematische
der
Ver-
bindung zwischen Reich und Preußen auf einem Gebiet an, auf dem das
Fehlen
einer
außermilitärischen
exekutivfähigen
Reichsinstanz
schmerzlich werden konnte und eine gewaltige Überlegenheit
der
preußischen
als
Staatseinrichtung
offen
zutage
lag. Sie vermochte
einzige die Aufgabe zu übernehmen, „für das preußische Staatsgebiet alle Bestrebungen, die auf Störung der öffentliche Ruhe und Ordnung, auf wirtschaftliche Sabotage,
auf
illegale Aufwühlung
der
Volks-
leidenschaften gerichtet sind, zu überwachen, ihnen durch Maßnahmen der vollziehenden Gewalt entgegenzutreten und durch Aufklärung der öffentlichen Meinung entgegenzuwirken . . . Zur Erfüllung der dem Staatskommissar außerhalb der Bearbeitung der Ausnahmemaßnahmen zufallenden . . . Obliegenheiten", so heißt es, „ist von ihm eine weit verzweigte Nachrichtenorganisation
geschaffen
worden. Diese
setzt
ihn in den Stand, am zuverlässigsten und genauesten über die innere Lage . . . sowohl in Preußen und in seinen Provinzen als auch in den einzelnen Ländern und Staaten eingehend unterrichtet zu sein. Ihm stehen die Mittel für eine zur zutreffenden Beurteilung der tatsächlichen 54
Verhältnisse
Geheime
erforderliche
Denkschrift,
wahrscheinlich
2 2 . 12. 1 9 1 9 , B A , R 4 3 1 / 2 3 0 5 .
16i:
Vergleichung von
der
verschiedensten
Unterstaats;ekretär
Albert,
vom
244
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Nachrichten zur Verfügung". 55 Das bedeutete gewiß sehr viel in einem Lande, in dem wichtigste politische Entscheidungen nur allzu häufig nach unzulänglichen Eindrücken oder gar nach dem Hörensagen fielen und die systematische und nachkontrollierbare, mit sachgerechter Sorgfalt betriebene Untersuchung und Erörterung politischer Zusammenhänge in den Kinderschuhen steckte. Es war von einer geradezu bedrohlichen Einmaligkeit. Am Rande eines Konfliktes Der nächste der Vorstöße Preußens fiel in die gleiche Zeit und ging von der preußischen Landesversammlung aus, die in einer Mehrheitsentschließung am 17. Dezember 1919 das Staatsministerium beauftragte, noch vor der Einbringung der preußischen Verfassung die Reichsregierung zu veranlassen, mit den Regierungen der Länder Verhandlungen über die Errichtung des deutschen Einheitsstaates aufzunehmen. Sie knüpfte unmittelbar an die letzte Empfehlung des Zentralrates an und erklärte der überraschten Öffentlichkeit, so als seien nicht soeben erst die Verhandlungen über die Reichsverfassung abgeschlossen worden und als habe es keinen Staatenausschuß und kein preußisches Staatsinteresse gegeben, daß nunmehr „Preußen bereit sei, im deutschen Einheitsstaat aufzugehen, wenn dieselbe Bereitwilligkeit auch bei den anderen Ländern" bestünde. 5 ' Daß auf diese Voraussetzungen vorläufig nicht zu rechnen war, hatte sich in den Verfassungsverhandlungen während des zurückliegenden Jahres längst herausgestellt. Dieser Erklärung konnte daher keine andere Bedeutung zukommen als die, daß sie die von der Staatsregierung aufgestellte Alternative, deutscher Einheitsstaat oder preußische Staatspolitik und Hegemonie, in aller Öffentlichkeit hervorkehrte und die Fraktionen der drei Regierungsparteien, unter Einschluß des Zentrums, auf der Linie einer preußischen Initiative zeigte, die sie mit der Idee des deutschen Einheitsstaates legitimierte. Als erstes löste sie eine unvorhergesehene Kettenreaktion in Bayern 55
Ebda.
56
Die Entschließung entsprach einem Antrag der drei Regierungsparteien (Mehr-
heitssozialdemokraten, Deutschen Demokraten und Zentrum), der mit 2 1 0 Stimmen ( U S P D - , SPD-, D D P - und Zentrumsabgeordnete) gegen 32 ( D N V P und D V P ) angenommen wurde. 158 Abgeordnete fehlten bei der Abstimmung, davon 117 unentschuldigt, unter ihnen Preuß, Troeltsch, V P L V 7. Bd., Sp. 8 4 0 7 ff.
Frh. v. Richthofen, Severing
u. a.
SBer
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre Gegner
245
aus. Ministerpräsident H o f f m a n n sah sich schon zwei Tage später veranlaßt, dem Reichskanzler mitzuteilen, daß „die Verhandlungen der preußischen Landesversammlung über Errichtung eines deutschen Einheitsstaates" in der „bayerischen Öffentlichkeit große Beunruhigung hervorgerufen" hätten, um sofort das probate Gegenmittel einer Staatenkonferenz vorzuschlagen. Namens der bayerischen Regierung ersuchte er um Einberufung einer Konferenz von Vertretern der Regierungen und der Parteien der Landtage und des Reichstags. 57 Der Hinweis auf vorherrschende Stimmungen in der bayerischen Öffentlichkeit war gewiß nicht fehl am Platze; am schwersten aber wog die konsternierte Uberraschtheit der Einsichtigen unter den angesehensten Männern Bayerns. Robert Piloty, bayerischer Jurist und demokratischer Politiker, der noch wenige Wochen zuvor für die Reichsverfassung eingetreten war und die Bayern aufgefordert hatte, ihre „politischen Kräfte aktiv der Willensbildung im Reiche zuzuwenden", 5 ' wollte auch jetzt die „mittlere Linie" nicht verlieren und verteidigte vor der aufgeregten Volksmeinung das „Maßhalten hüben und drüben". 5 9 Doch er fand bittere Worte für die Landesversammlung, die nun Preußen „zum Führer des radikalen Unitarismus" machte; Preußen, das „in der außerordentlichen Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit seiner gesellschaftlichen und völkischen Bestandteile . . . in sich selbst nicht mehr den staatlichen H a l t " finde, wolle „führen, gleichviel wohin". Wenn aber bereits gemäßigte Persönlichkeiten, die für allzu deutliche bayerische Sonderbestrebungen von H a u s aus nicht zu haben waren, solche Töne anschlugen, dann sah es in der breiten Öffentlichkeit noch weit schlimmer aus. Die Presse führte jetzt fast allerorten ein radikales Wort, dem sich die Parteien kaum so bald entziehen konnten, aber wohl auch nicht entziehen wollten.' 0 In einer sofort ein57
T e l e g r a m m an Reichskanzler B a u e r v o m 1 9 . 1 2 . 1 9 1 9 , B A , R 43 1/1872.
58
R o b e r t P i l o t y , J b ö R I X / 1 9 2 0 , S. 152. D e r A u f s a t z w u r d e a m 8 . 1 1 . 1 9 1 9
ab-
geschlossen. 59
P i l o t y , D e r E i n h e i t s s t a a t : B S t Z N r . 308 v o m
21.12.1919.
E b d a . Rückschauend charakterisierte am 9. 2. 1920 die preußische Gesandtschaft die nach der R e s o l u t i o n entstandene L a g e : „ E s läßt sich nicht verkennen, d a ß der Einheitsstaatsbeschluß des Preußischen L a n d t a g s hier sehr viel G i f t hinterlassen und d a s parteipolitische
Leben
Bayerns
mit Zündstoff
v e r s o r g t hat, der
noch
immer
f o r t w i r k t . Müssen doch nodi s t ä n d i g früher durchaus reichstreue B l ä t t e r von
der
F ä r b u n g der .Münchener N e u e s t e n Nachrichten' und der ,Münchener P o s t ' der Stimm u n g der Abonnenten z u L i e b e mehr partikularistische Ideen zur Schau tragen, als dies ihrer eigentlichen G e s i n n u n g entspricht. V o r d e m Einheitsstaatsbeschluß hatten
11. Reichspolitik
246
und
Föderalismus
berufenen Protestsitzung des bayerischen Landtages lehnten die Abgeordneten der Demokratischen Partei, des Bauernbundes, der Mittelpartei und der Bayerischen Volkspartei mit gegenseitig sich überbietender Lautstärke die preußische Resolution einmütig ab; nur die SPDFraktion wahrte Zurückhaltung und hielt mit der Formel von der „organischen Herbeiführung des Einheitsstaates" — um den Preis einer Niederlage — die Tür nach der anderen Seite offen.61 Damit erweiterte sie jedoch nur den Riß zwischen sich und den anderen Parteien, die nun zu einer geschlossenen Opposition zusammenrückten. Otto Geßler, der als Sendbote der Reichsregierung nach München eilte, meldete Gefahr nach Berlin: Das „ungeheure Aufsehen", das der preußische Antrag erregte, liefere „der partikularistischen Bewegung den gewünschten Agitationsstoff"; nicht nur die bürgerlichen Parteien, sondern auch „in der Sozialdemokratie eine starke Minderheit" stünden ihm „scharf ablehnend gegenüber". 62 Sein Empfinden, daß die bayerisdie Regierung unter dem Druck einer stark bewegten öffentlichen Meinung kaum noch Handlungsfreiheit besaß, war so stark, daß er das Ergebnis einer Ministerratssitzung, der er beiwohnte, ohne Einschränkung als Empfehlung unmittelbar nach Berlin weitergab: den preußischen Antrag "raschestens" zu erledigen. Entweder lehnte das Reichskabinett ihn ab und teilte das schon „in den nächsten Tagen" der Öffentlichkeit mit, wobei es sich „auf die Reichsverfassung zurückziehen" und dem Reichstag die weitere Initiative überlassen mußte; oder falls sie den Antrag „in Instruktion nehmen" wollte, müßte es bei der vorgeschlagenen Länderbesprechung bleiben. Jedenfalls kam jetzt, wie Geßler drastisch äußerte, „alles darauf an, daß das Schwein nicht lange wild im Lande herumläuft". Doch der wichtigste Mann der bayerischen Politik dieses Augenblicks saß nicht im bayerischen Ministerkollegium und blieb für Geßler unsichtbar. Georg Heim hatte seine Minen gelegt und betätigte nunmehr die Zündschnur, um den bayerischen Teil der Koalition von Weimar ein für alle Male in die Luft zu sprengen. Die preußische Resolution die Zeitungen eine solche Nachgiebigkeit gegenüber der öffentlichen M e i n u n g nicht nötig." (Abschr. im Nachl. K o c h - W e s e r , N r . 82.) Eine Reihe dieser zitiert
Fritz
Poetzsch,
Vom
Staatsleben
unter
der
Weimarer
Pressestimmen
Verfassung
(vom
1. J a n u a r 1 9 2 0 bis 3 1 . D e z e m b e r 1 9 2 4 ) : J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 73 f. 91
Berichte hierüber u . a . Voss N r . 6 4 7 v o m 2 0 . 1 2 . 1 9 1 9 ;
in der Deutschen Zei-
tung, N r . 5 7 4 v o m gleichen T a g e ; Ubersicht bei Poetzsch, ebda. • 2 Schreiben
Geßlers
an
Unterstaatssekretär
2 3 . 12. 1 9 1 9 , B A , R 43 1/1872.
in
der Reichskanzlei
Albert
vom
Anfänge
der zentralistischen
Reichspolitik
und ihre
247
Gegner
kam ihm so zupaß, daß er es für klüger hielt, den nächsten Schritt der Reichsregierung nicht mehr abzuwarten. Das von der bayerischen Presse abgehaltene Volksgericht, das über ein J a h r bayerischer und deutscher Geschichte urteilte, schonte selbst die Bayerische Volkspartei nicht. Zunächst wurden die Abgeordneten in Weimar unter Druck gesetzt. Ein Organ des Christlichen Bayerischen Bauernvereins, der eigentlichen Domäne Heims, bezichtigte gar die Mitglieder der Bayerischen Volkspartei in der Nationalversammlung, die für die Reichsverfassung gestimmt hatten, in aller Öffentlichkeit des Landesverrats. 6 3 Nach der kurzen Pause, die die Weihnachtsfeiertage auferlegten, führte Heim am 29. Dezember in einer großen Bauernversammlung zu Regensburg seinen ersten scharfen Angriff gegen die Reichsverfassung, der in einer von der Versammlung angenommenen Entschließung gipfelte, die eine baldige Verfassungsrevision und für die Länder eine unabhängigere Stellung von der Reichsregierung forderte. In den Verhandlungen, die H e i m mit dem Bayerischen Bauernbund führte, zeichnete sich dann der Gedanke einer breiten mittelständischen, vom agrarischen Sektor beherrschten Gruppierung ab, die, nachdem die Räteidee sich überlebt hatte, von dieser Seite her auf einen Einbruch in das demokratischparlamentarische
Verfassungssystem
abzielte
und
der
Bayerischen
Volkspartei die Unterstützung des Christlichen Bauernvereins zu entziehen drohte. Wenn auch diese Verhandlungen bald scheiterten, so genügte doch das Zwischenspiel, um die für den 8. J a n u a r 1 9 2 0 einberufene Landesversammlung der Volkspartei unter erheblichen Druck zu setzen. Hierbei kam Heim auch noch ein Mißgriff Erzbergers zu H i l f e , der die durch die unitarische Reichspolitik verursachte und durch die preußische Resolution jäh geschürte Aufregung auf den Höhepunkt trieb. Der
Reichsfinanzminister
wählte
die
Gelegenheit
einer
Rede,
die er am 4. J a n u a r in Stuttgart hielt, um seinen württembergischen Landsleuten die Grundzüge des Einheitsstaates in einem von ihm entworfenen Bild des künftigen Deutschlands vor Augen zu führen, das nach der Schaffung der Reichsfinanzverwaltung in der nächsten Etappe eine „Verreichlichung" des Justizwesens bringen sollte. So richtig es war, der Bevölkerung Süddeutschlands zu zeigen, daß auch der Versailler Vertrag
notwendig
innen-
wie verfassungspolitische
Folgen
haben mußte und daß sich die Lebensrechte des Föderalismus nicht mehr allein mit der Berufung auf die Vergangenheit begründen lie" 3 Hierzu Schwend, Bayern, S. 127 ff.
248
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
ßen. In dieser Situation, in der eine starke gegen Berlin und die Reichspolitik aufgebrachte Stimmung herrschte, schüttete Erzbergers Proklamation weiterer unitarischer Ziele noch ö l in lodernde Flammen. Fast zwangsläufig mußte sie als Bestätigung der preußischen Entschließung vom 17. Dezember durch die Instanz des Reiches gedeutet werden. Die Landsleute Erzbergers zeigten sich nach dieser Reue arg verschnupft; und in Bayern, wo sich sofort die rechte und die bürgerliche Presse ihrer bemächtigten, um sie weidlich für ihre Zwecke auszunutzen, brachte sie das Maß der Empörung zum überfließen. Auf dem Parteitag der Bayerischen Volkspartei am 8. Januar, auf dem nun auch Heinrich Held, der gemäßigte Vorsitzende der Landtagsfraktion auf die Seite Heims trat, fiel die Entscheidung für den Antrag des „BauernDoktors", sofort die Arbeitsgemeinschaft mit dem Zentrum in der Nationalversammlung aufzulösen. Damit zerschnitt die Bayerische Volkspartei die letzten Fäden, die sie mit ihrer Nährmutter verbanden, um für die nächsten Jahre der eigenen Linie einer bayerischen, den Interessen des bäuerlich-bürgerlichen Mittelstandes gehorchenden Politik zu folgen. Das Ende der Regierung Hoffmann konnte unter diesen Umständen nur noch eine Frage der Zeit sein, in der sich die Konstruktion einer regierungsfähigen Oppositionsmehrheit unter den bürgerlichen Kräften des Landtags vorbereitete. Das Schicksal der Weimarer Koalition hing in Bayern nur noch von den Entschlüssen ab, die die demokratische Fraktion traf. Die vorweihnachtliche Münchener Mission Geßlers zeitigte den Erfolg, daß sie die Lebensdauer der von dem Pfälzer Sozialdemokraten Hoffmann geführten Regierung um eine kurze Frist verlängerte.
SIEBENTES
KAPITEL
Programme der Dezentralisation und Autonomiebestrebungen in Preußen Grenzen
des Reichszentralismus. Verwaltungsreform lisation in Preußen (Erich Koch-Weser, Bill
und DezentraDrews)
Die Reichsregierung neigte unter dem Einfluß Koch-Wesers dazu, die Gelegenheit, die die Entschließung der preußischen Landesversammlung geschaffen hatte, nicht ungenutzt dahingehen zu lassen. Sie überging zwar das bayerische Verlangen, erneut eine Länderkonferenz einzuberufen und die Verfassungsfrage zum Gegenstand weiterer Verhandlungen zu machen, die die Reichsregierung nur allzu leicht in eine unbequeme Lage bringen konnte und die Reichsverfassung in ein fragwürdiges Licht setzte. Koch ergriff jedoch die Initiative, um das Verhältnis zur preußischen Regierung zu klären. Im vollen Bewußtsein, zu den wenigen Männern seiner Partei zu zählen, die auch auf der Rechten respektiert wurden, 1 jedoch jeder pathetischen und vordergründigen Tätigkeit abhold, stellte er seine Amtszeit gleichsam in den Dienst eines allgemeinen Beweises für die Richtigkeit seiner Einsicht, „wie wenig es heute auf großzügige Pläne und wie sehr es auf ruhige Arbeit ankommt". Dem in der Selbstverwaltung geschulten, hochbefähigten Verwaltungsfachmann war auch als Politiker Nüchternheit des Handelns wie des Redens erstes Gebot. Die kristallene Klarheit seines undoktrinären Denkens blieb trotz1
Nicht ohne Selbstgefühl schrieb Koch-Weser seiner Frau am 12. Februar, von Damaschke sei ihm erzählt worden, Oberst Bauer habe „als Abgesandter Ludendorffs mit ihm verhandelt und dabei erklärt, Koch und Schwander [einstiger Bürgermeister von Straßburg, später Staatssekretär des Reichswirtschaftsamtes, letzter Statthalter von Elsaß-Lothringen, 1919 Oberpräsident der P r o v i n z Hessen-Nassau] seien die beiden einzigen Leute in der Demokratischen Partei, die m a n brauchen könne". (Nachl. Koch-Weser, N r . 21). Koch-Weser ist dabei gewiß nicht die F r a g w ü r digkeit dieses „man" entgangen; er hat sich durch solche Versuche in der Vorbereitungszeit des Kapp-Putsches keineswegs moralisch bestechen lassen. Uber den Politiker Koch-Weser ist in der Memoirenliteratur über diese Zeit bisher verhältnismäßig wenig gesagt worden. Vgl. neuerdings O t t o Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, hrsg. v. K u r t Sendtner, Stuttgart 1958, S. 388 u. 407 f.
250
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
dem nicht ohne Brillanz, sein Einfallsreichtum nicht ohne den gelegentlichen Zuschnitt des Großzügigen. Was dem Stile seiner vollendeten Sachlichkeit, die freilich folgenschwere Irrtümer keineswegs ausschloß, an unmittelbar wirkender Überzeugungskraft gebrach, das ergänzte ein fast schon überreifer intellektueller Scharfsinn. In diesen frühen J a h r e n der Republik, ehe Fehlschläge seine Urteile überschatteten, verkörperte er in einer seltenen Fülle viele von den wesentlichen Eigenschaften, die die Politiker wie die Politik der Weimarer Demokratie in ihren besten Teilen auszeichnete. Die hingebende sachverständige A r beitsweise des qualifizierten Kommunalpolitikers und das selbstsichere Auftreten in der Verfolgung politischer Pläne und zugleich die unentwegt kritische Betrachtung der eigenen Sache, die wie von Ferne immer wieder einen geläuterten, in den Erfahrungen des Weltkrieges und der Niederlage von den gröberen Verschlackungen befreiten Glauben an die N a t i o n und ihre bessere künftige Gestalt durchschimmern ließ, und nicht zuletzt die Gleichgültigkeit gegenüber dem bloß Äußerlichen vereinigte Koch mit hervorstechenden Eigenschaften des Juristen und des Beamtentums alter Prägung, dessen Repräsentant er nicht nur in seiner Amtszeit als Reichsinnenminister war. E r vertrat es jedoch ohne jeden Enthusiasmus, der seiner N a t u r gar nicht lag, als eine unausweichliche Notwendigkeit, als erste Bedingung einer rationellen Staatsorganisation, wie es ähnlich auch bei M a x Weber zu beobachten war. E r kannte die Klagen der Ressorts und war sich des Dilemmas wohl bewußt: „Nehmen sie ihre neuen Leute, so bleiben die R ä d e r einfach stehen. Behalten sie die alten Leute, so klappert die Mühle wenigstens w e i t e r . . . " 2 . D a ß dieses „Klappern der alten Mühle" viel Fragwürdiges an sich hatte, blieb auch Koch-Weser nicht verborgen. Die menschlich interessante, wenn auch in mancher Hinsicht tragische Seite seiner Persönlichkeit lag in einer merkwürdigen Mischung bis zur H a r t n ä k kigkeit sich steigernder T a t k r a f t und Entschlossenheit und stets wacher Skepsis, der alle Entscheidung doch immer wieder nur als keineswegs leichte und im A n f a n g auch stets mit vielen Zweifeln verknüpfte Wahl zwischen zwei Übeln erschien. Optimismus vermochte Koch wohl nur selten auszustrahlen; und im Zugreifen bewies er weit weniger Sicherheit und Glück als in vielen seiner hintergründigen Urteile. Seinem T u n haftete manches Kennzeichen der stillen Uberzeugung eines ebenso unausweichlichen wie unwillkommenen Zwanges zum Handeln an, dem der unausgesprochene Zweifel von Anfang an innewohnte. Seine 2
Koch im gleichen Brief vom 12. 1. 1919.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
251
Schritte und Wege blieben daher trotz offenkundigen Verhandlungsgeschicks im letzten zu häufig nur unsicher. Die wirklich errungenen Erfolge standen in keinem Verhältnis zu den Anlagen und Geistesgaben dieses Mannes. Das mag auch die in späteren Jahren deutlich bemerkbare Vereinsamung seiner Entschlüsse und schließlich die Resignation, die sein Urteil umhüllte, in vielem, wenn auch vielleicht noch nicht in allem verständlich machen. Zu Beginn 1920 stand Koch-Weser unmittelbar vor dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn. Das Ziel, das er sich steckte, war groß und der wahrlich gewaltigen Aufgabe der Fortbildung des Verfassungsrechts, die die Entscheidungen des Sommers hinterlassen hatten, wohl angemessen. Dem erfahrenen Verwaltungsmann, der in der Nationalversammlung den sichersten Blick für Verwaltungs- und Zuständigkeitsfragen und ihre politische Bedeutung bewiesen hatte, konnte das Gewicht nicht verborgen bleiben, das Preußen und seine Verwaltung mit der Wiederherstellung des alten Staatszusammenhangs und seiner alten Rolle innerhalb des Reiches gewann. Als einer der ersten entwickelte er hieraus die ihm notwendig dünkenden Konsequenzen. Seine Zugehörigkeit zum einstigen preußischen Herrenhaus ermöglichte es dem ehemaligen Kasseler Oberbürgermeister, die Verbindung zu einigen einsichtsvollen Persönlichkeiten aus den herrschenden Kreisen der Monarchie zu pflegen. Männer wie Bethmann Hollweg und Graf lloedern zählten zu dem Berliner Bekanntenkreis des Reichsinnenministers 3 und gewannen durch ihn auch engere Beziehungen zu der jungen Republik. Kochs Einfluß im Reichskabinett war indessen keineswegs unbestritten. Der Weg zum Reichskanzler führte über Schiffer und Erzberger, deren Zustimmung zu seinen Plänen er sich keineswegs sicher war. Z w a r vermerkte Koch, daß beide in einer persönlichen Besprechung mit ihm einig wurden, „daß es zunächst auf Personalunion von Ministern ankomme"; 4 Kochs weitere Aufzeichnungen lassen aber keinen Zweifel, daß es ihm nicht gelang, den sozialdemokratischen Regierungschef für seine Absichten zu gewinnen, daß jedoch die wirklichen Schwierigkeiten hier wie auch später vor allem von Schiffer ausgingen. 5 Es waren wohl in erster Linie persönliche Gründe Schiffers, 3 Nachl. Koch-Weser, N r . 21 (Aufzeichnung vom 3. 1. 1920). Koch e r w ä h n t Bethmann Hollweg („doch ein prächtiger Mensch"), Graf Roedern, Riezler, Bethmanns Schwiegersohn Graf Zech, Gesandten in München, den er einen „klugen Politiker" nennt. 4
Ebda.
3
Die persönlichen V o r w ü r f e , die Koch-Weser gegen Schiffer erhob, waren teil-
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und
Föderalismus
die den Reichskanzler dazu brachten, trotz der ungünstigen Erfahrungen, die die Reichsregierung mit ihrem Vorgehen in Süddeutschland machen mußte, einem offiziellen Programm „zur allmählichen Verreichlichung", darunter der nach Kochs Meinung „absolut nicht eilenden Verreichlichung der Justiz" seine Zustimmung zu erteilen, das Erzberger dann schon zwei Tage später mit so eklatantem Mißerfolg in Stuttgart verkündete. Koch sah richtig voraus, daß „aus dem preußischen Antrag . . . auf diese Weise gar nichts" herauskommen könnte; „über ein Programm . . . wird wütend gekämpft werden". Ihm blieb nur der Auftrag, eine Denkschrift anzufertigen, die er schon nach einigen Tagen als abgerundete Darstellung einer Staats- und Verwaltungsreform vorlegte.® Ihre sorgsam formulierten, abgewogenen U r teile lassen erkennen, daß ihr Verfasser zwischen streitenden Parteien, nach bestem Wissen vorausschauend, Vernunft, politische Ruhe und vor allem Form und Sinn der neuen Reichsverfassung zu bewahren trachtete. Auf diese Grundsätze suchte er das unitarische Programm der Reichsregierung zu verpflichten, innerhalb des im Rahmen der Reichsverfassung Möglichen die geschlossene Konzeption einer künftigen Reichsorganisation zu entwickeln. Seine Denkschrift begann mit einer Verfassungsinterpretation und formulierte aus ihr heraus die verfassungspolitischen Ziele. D a ß dieser Ausdruck einen Sinn hat, wird man anhand dieser Denkschrift nicht bestreiten können. In seinem Licht streifen die Normen den ihnen anhaftenden neutralen Positivismus ab und limitieren und dirigieren sie gleichermaßen den politischen Willen, der hier auf eine Staatsorganisation gerichtet ist, die parlamentarisches System und Verwaltungsstaat obrigkeitlicher Herkunft und weise recht heftig und zeugen von einer verbissenen Gegnerschaft, die sich im Nachlaß Kocb-Wesers in dieser Form sonst nirgends
findet.
In diesem
Zusammenhang
unterstellte er, „ d a ß es nur die Absicht ist. mich nicht hochkommen zu lassen". • 33 Seiten umfassende Denkschrift, die am 12. 1. 1920 an Ministerialrat Brecht in die Reichskanzlei gelangte, BA, R 43 1/1872. Als „unverbindliche
Unterlage"
diente Koch eine „Skizze", die Brecht angefertigt und, nachdem sie Unterstaatssekretär
Albert
gesehen,
am
5.1.
dem
Reichsinnenminister
übergeben
hatte.
(Durchschi, mit P a r a p h e Bauers ebda.) Sie enthielt in der Hauptsache eine Ü b e r sicht über die Regelung der Zuständigkeiten in den einzelnen Verwaltungsgebieten nach der Reichsverfassung und vermerkte in kurzer Form die jeweiligen Zielsetzungen f ü r spätere Neuregelungen, denen Koch jedoch in vielen Fällen nicht folgte. D e r G r u n d z u g der Ausarbeitung Brechts w a r unitarischer u n d zentralistischer als die Denkschrift Koch-Wesers. Sie verdient als Zeugnis f ü r die in der Reichskanzlei herrschenden Auffassungen Beachtung, die bis zur Denkschrift Koch-Wesers auch die der Reichsregierung waren.
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und Autonomiebestrebungen
in Preußen
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Prägung zum lebensfähigen Kompromiß bringen und in eins verschmelzen soll. Die Denkschrift ging davon aus, daß eine mehr bundesstaatliche oder mehr einheitsstaatliche Interpretation der Reichsverfassung durchaus zweifelhaft sein konnte; doch sie wies einige nicht anzweifelbare Errungenschaften zugunsten der Reichseinheit auf, die die Verfassung von 1871 nicht kannte. Bereits der Katalog der Zuständigkeiten des Reiches war weiter und gründlicher gefaßt als im Bismarck-Reich. Wichtiger als die „verfehlte" „vertikale Zuständigkeitsverteilung" der alten Reichsverfassung, die einige Sachgebiete ausschließlich dem Reiche, die anderen ausschließlich den Einzelstaaten vorbehielt, erschien die Aufgabe einer „horizontalen Teilung", 7 die nach Koch davon auszugehen hatte, daß grundsätzlich „auf allen Gebieten die oberste Schicht gesetzgeberischer und verwaltungstechnischer Anordnungen Angelegenheit des Reiches ist, während im Interesse einer gesunden Dezentralisation den Ländern die Unterschichten verbleiben müssen". Mit dieser Stelle beginnt die eigentliche Entstehungsgeschichte der Idee des „dezentralisierten Einheitsstaates", die sich ein volles Jahrzehnt hindurch fortentwickelte und schließlich in den Vorschlägen des Verfassungsausschusses, den die Länderkonferenz von 1928 einsetzte, ihre letzte Form finden sollte. Schon auf dieser ersten Stufe einer Artikulierung und Limitierung der unitarischen Reichspolitik kehrten einige Elemente der ursprünglichen Verfassungspläne von 1918/19 wieder, jedoch in veränderter Gewandung. Die Denkschrift Koch-Wesers wiederholte den bereits f ü r Preuß wesentlichen Gedanken, die Länder zu „hochpotenzierten Selbstverwaltungskörpern" umzugestalten; doch sie legte weit mehr Gewicht auf die verwaltungspraktische Darstellung der Reichsgewalt als Preuß, hingegen weit weniger auf Gliederungspläne und gar keins auf die Zerschlagung Preußens. Für Koch stand außer Frage, daß seine Ziele nur allmählich, Schritt für Schritt, „ohne erhebliche Reibungen" verwirklicht werden konnten, und „daß es mindestens zehn Jahre lang dauern" werde, ehe „das durch die Reichsverfassung gegebene Zuständigkeitsprogramm" zu erfüllen war. Der Katalog der dem Reiche eingeräumten Zuständigkeiten konnte „auf Jahrzehnte hinaus" ausreichen, um „im Wege der Gesetzgebung das Reich dem Typus eines Einheitsstaates anzunähern". Dennoch wollte er das Mittel der Verfassungsänderung nicht gänzlich ausschließen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen nach 7
Dieser Ausdruck findet sich auch in der Skizze Brechts.
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Föderalismus
der alten Reichsverfassung, so meinte Koch, könne das Reich nunmehr jederzeit seine „gesetzmäßige Zuständigkeit aus eigenem Entschlüsse im Wege der Verfassungsänderung erweitern". Dieser Ansicht lag wohl der unausgesprochene Glaube an die Dauerhaftigkeit der Mehrheitsverhältnisse, die in der Nationalversammlung bestanden, zugrunde, aber auch die Oberzeugung, daß der Reichsrat kein Hemmnis bilden könnte, da er im Gegensatz zum einstigen Bundesrat kein dem Reichstag gleichberechtigter Faktor der Gesetzgebung mehr war. Koch hielt es für sicher, daß sich sein Einspruchsrecht jederzeit durch Volksentscheid beseitigen und infolgedessen neutralisieren ließe. Hierin gab er sich freilich einer sehr schweren Täuschung hin. Diese Unterschätzung des Reichsrats beruhte auf der gleichen Überschätzung plebiszitärer Entscheidungen, die das hohe Ansehen des plebiszitären Reichspräsidenten begründete. Es erscheint als ein merkwürdiges, allerdings durchaus nicht einmaliges Paradoxon, daß dieser Mann, der einen klaren Blick f ü r die politische Bedeutung von verwaltungsmäßigen und gesetzgeberischen Zuständigkeiten bewies und gelegentlich kunstvollen rationalen Konstruktionen zuneigte, seiner Vorstellung von der Volkssouveränität eine irrationale, im Mythos der volonte générale wurzelnden Zuversicht in das Plebiszit zugrunde legte, das er f ü r das Regulativ der Demokratie hielt. Neu war an dieser Denkschrift, daß sie innerhalb der Reichsregierung erstmals eine strikte Begrenzung des Vereinheitlichungsprogramms zur Erörterung stellte, um die Länder f ü r die ihnen zugedachten Aufgaben lebensfähig zu erhalten. Heer und Steuerwesen waren, wie Koch bemerkte, „mindestens bis an die Grenze des Erträglichen vereinheitlicht worden", die Verhandlungen zur Übernahme des Verkehrswesens, Post, Eisenbahn und Wasserstraßen im Gange. „Weiter zu gehen", schrieb Koch, „wäre nicht nur f ü r die heutigen Gliedstaaten, sondern auch f ü r die künftigen Selbstverwaltungskörper, wenn anders man ihnen noch irgend eine Bewegungsfreiheit belassen will, unerträglich." Bereits die Justiz wollte er im Gegensatz zu Schiffer keiner summarischen „Verreichlichung" mehr unterwerfen. Sorgfältig wog er Vorteile und Nachteile einer „horizontalen Teilung" gegeneinander ab. Für eine Einschaltung des Reichsjustizministeriums in das Justizwesen der Länder sprachen die Aussicht auf eine straffe Lenkung der Staatsanwaltschaften, was angesichts der Umstellungsschwierigkeiten der Justiz zwischen Monarchie und demokratischem Verfassungsstaat sicherlich von Nutzen sein konnte, sowie die Notwendigkeit, die O r gane der Rechtsprechung enger an die der Reichsgesetzgebung heran-
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in
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zuziehen. Dagegen sprachen Zweckmäßigkeit und größere Sparsamkeit einer Aufsicht durch Organe, die der Rechtsprechung näher stehen und über eine eigene Finanzverwaltung verfügen, aber auch die Möglichkeiten einer besseren Richterauswahl im kleineren Bezirk, mit dem der Richter in seiner Laufbahn besser vertraut werden kann. Diese ausgeprägte Fürsorglichkeit für die Pflege einer ländermäßig geordneten Justiz entsprach den anschaulichen Vorstellungen Kochs von einer lebensvollen Rechtspflege, die den großen Apparat verabscheuten und der engen Verbundenheit des Richters und des gesamten Justizwesens mit den sozialen Verhältnissen, unter denen Recht gesprochen werden soll, den Vorzug gaben. Hierin wird man freilich eine etwas optimistische Einschätzung der Justiz in den Ländern unter den neuen Verhältnissen der Republik erkennen müssen, die spätere Ereignisse keineswegs allgemein und in vollem Umfang rechtfertigen sollten. A m Ende gelangte Koch-Weser nach eingehender Prüfung der Argumente für eine Vereinheitlichung der Justiz wie der Gegengründe doch zur Einsicht, daß die ersten die letzten überwogen; aber er vermochte ihre Übernahme durch das Reich dennoch „nicht als eine dringliche Aufgabe anzusehen". Koch bemühte sich, die Liste des Dringlichen aufs engste zu begrenzen. Z w a r sprach er sich für eine stärkere Einheitlichkeit im Schulwesen aus, doch diese sollte nicht über die Regelung von Grundsatzfragen hinausgehen und keineswegs in die Schulverwaltungen der Länder und Gemeinden eingreifen. 8 Nicht einmal die Polizei hielt er reif für einen Übergang auf das Reich; und gar zur Änderung der Reichsverfassung in irgend einem Punkte sah er vorerst überhaupt keinen Anlaß. M a n wird infolgedessen nicht sagen dürfen, daß Koch nennenswerte Eingriffe in das innere Leben der Länder vorhatte; eher ist das Gegenteil der Fall. Seine Denkschrift verlangte eine Mäßigung, wie sie bis dahin im Reichskabinett noch nicht vertreten worden war. Wenn sie später, nach ihrem Bekanntwerden, in den süddeutschen Ländern M i ß fallen erregte, so ging dies in erster Linie auf die Erörterung der „ U m wandlung dieser Gebilde in Selbstverwaltungskörper mit einer Verfassung, wie wir sie in unseren großen Städten haben," zurück, die freilich innerhalb dieser Denkschrift eine wichtige Rolle spielte. Über die Verfassungen, die sich die Länder gaben, ergoß sich das volle M a ß der K r i t i k Kochs, die auch insofern vor der Reichsverfassung nicht H a l t machte, als er in ihr den „Charakter der Länder als Staaten . . . 8
Hierin
übereinstimmend
mit
Brecht,
b e s t i m m u n g e n in e i n e m Reichsschulgesetz
der
die Z u s a m m e n f a s s u n g
empfahl.
der
Rahmen-
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und
Föderalismus
noch zu sehr betont" und sie dazu verurteilt fand, „daß sie den ganzen großen A p p a r a t eines jederzeit vom Vertrauen der Volksvertretungen abhängigen Ministeriums mit sich herumschleppen und dadurch bei den in Deutschland auf unabsehbare Zeit hinaus bestehenden Verhältnissen genötigt sind, mit Koalitionsregierungen zu arbeiten, die auch bei der Ausübung kleiner Verwaltungsbefugnisse und bei Besetzung von Beamtenstellen in einem Maße vom Parlament abhängig sind, das . . . in die kleinen Verhältnisse der Länder gar nicht hineinpaßt". Zumindest für die kleineren Länder der norddeutschen Tiefebene ließ sich die Berechtigung dieses Einwandes nicht von der H a n d weisen. Schließlich war kaum einzusehen, daß politische Gebilde auf Grund ihrer historischen Vergangenheit um jeden Preis über eine andere Verfassung verfügen mußten als die größten Städte des Reiches, obgleich ihre Einwohnerzahlen hinter diesen zurückblieben oder sie nur wenig überschritten, zumal die Entscheidung der Bevölkerung hierbei keineswegs in Frage gezogen wurde. Koch hatte freilich mit dem gesamten Länderparlamentarismus nicht viel im Sinn, weil er ihn lediglich im Aspekt der Gefahren sah, die die Reichspolitik bedrohen oder komplizieren konnten. Vom Standpunkt der Reichsregierung mochte es in der T a t „eine wesentliche Entlastung bedeuten, wenn ihr nicht in den Landtagen der Länder immer wieder in ihre Maßnahmen hineingeredet würde, und wenn sie in ihrem Bestände nicht von K o n flikten abhängig bliebe, die in irgendwelchen Ländern innerhalb der nun einmal auf lange Zeit hinaus notwendigen Koalition dadurch entstehen, daß sich dort streitbare Elemente an die Spitze stellen und eine Einzelfrage wichtiger nehmen, als diese im Rahmen des gesamten Reichsinteresses ist". Koch ging aber keineswegs so weit, hierin einen baldigen Wandel herbeiführen zu wollen. D a r a n hinderte ihn seine Achtung vor der Verfassung ebenso wie seine Einsicht in die politische Unmöglichkeit einer umstürzenden Neuregelung. Im Vertrauen auf die aufbauende K r a f t künftiger Entwicklungen warnte er davor, daß die eben geschaffene „ F o r m zerbrochen" werde und empfahl er „dringend, anläßlich des [preußischen] Antrages an diesen Fragen, die eben erst durch die Reichsverfassung geregelt" worden waren, nicht mehr zu rühren; sie seien „besonders kritisch und den L ä r m nicht wert". 9 9 Brecht bemerkte zu dieser Frage: „Die völlige Aufgabe der Landesregierungen bleibt aber ferneres Ziel." Im Unterschied zu Koch erwog er bereits die Anwendung des Mittels der Verfassungsänderung. Ihm schwebte die Ersetzung der Länderregierungen durch Landeshauptleute vor, die von den Landtagen gewählt, aber erst nach Bestätigung durch die Reichsregierung eingesetzt werden sollten.
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in Preußen
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Da Koch nichts von laut verkündeten offiziellen Programmen hielt, die Grundlinie der künftigen Politik, wie er sie sich dachte, aber deutlich genug in seiner Denkschrift festgelegt zu haben glaubte, beschied er sich fürs erste mit einem Minimum an demnächst realisierbaren Plänen, die er jedoch mit großer Energie verfocht. Zu diesem Zeitpunkt hielt Koch noch eine sehr begrenzte Wirksamkeit des Reichsrats für gewiß und wähnte er „eine völlige Beseitigung dieser Einrichtung unrichtig und eine Verbesserung dieser Einrichtung nicht dringlich". 10 Wesentlich bestimmter verlangte seine Denkschrift etwa die Aufhebung der Gesandtschaften der Länder oder die Anbahnung gewisser Mindestgrößen der Länder, um sie für ihre Aufgaben lebensfähig zu erhalten. Vor allem aber legte Koch auf die künftige Ausgestaltung des Verhältnisses Preußens zum Reich großen Wert. H a t t e er schon in der Nationalversammlung d a f ü r gesorgt, daß die Provinzen im Reichsrat vertreten wurden, so wollte er auch jetzt und künftig die Dezentralisation Preußens vorantreiben. Allein aus diesem Grunde hielt er es f ü r geboten, Verhandlungen über den preußischen Antrag auf solche mit Preußen zu beschränken. Er wollte die preußische Regierung dazu bewegen, von sich aus eine konsequente Dezentralisation des Staatsaufbaus einzuleiten, die preußischen Gesandtschaften aufzulösen und nach dem Vorbild der „Staatssekretarisierung" der Kriegsjahre 11 einige Reichsminister in das Staatsministerium aufzunehmen, um die ständige Zusammenarbeit der wichtigsten Ministerien des Reiches und Preußens zu sichern und beide Staatsorganisationen aneinanderzuschweißen.12 Einer Änderung der Reichsverfassung hätte es auch hierzu nicht bedurft. Koch-Weser hatte das Problem der Dezentralisation in Preußen noch unter Verzicht auf eingehende Untersuchungen aufgeworfen. Eine just zur gleichen Zeit entstandene Denkschrift von preußischer Seite gewinnt daher besondere Beachtung als Ergänzung und nähere Ausführung zu diesen Gedanken. Ihr Autor, der letzte Innenminister der preußischen Monarchie, Bill Drews, galt als überragende Autorität in allen Fragen der preußischen Verwaltung und des Beamtenrechts, was 10
Brecht schlug in seiner Ausarbeitung vor, die Beibehaltung des Reichsrates einer P r ü f u n g zu unterziehen. 11
Vgl. H . Golschmidt, Das Reich und Preußen im K a m p f , S. 114 ff, 124. D e r Gedanke der Dezentralisation fehlte vollständig in der Skizze Brechts, obgleich auch sie das preußische Problem erwähnte. Doch Brecht w a n d t e sich sogar ausdrücklich gegen den Gedanken einer Verschmelzung von Reichsministerien und preußischen Ministerien „trotz naheliegender Vorteile", um die „unparteiische Stellung der Reichsregierung" zu erhalten. 12
17
Schulz I
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und
Föderalismus
die neue preußische Regierung dadurch anerkannte, daß sie ihn zum Staatskommissar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform ernannte. Seine Denkschrift „Deutscher Einheitsstaat und preußische Verwaltungsreform" vom 27. Januar 192013 verfolgte ebenfalls das Ziel einer Dezentralisation Preußens, und ebenso wie bei Koch-Weser bildete bei Drews die Institution der Selbstverwaltung auf höherer Ebene den „grundsätzlichen Träger der Exekutive für die zentrale Reichsverwaltung". Formal betrachtet, lag dies wohl auch im Sinne der von Preuß aufgestellten These: „Es gibt begrifflich wie praktisch keinen anderen Weg zu wirklicher Dezentralisation der Verwaltung als den Weg der Selbstverwaltung". 14 Nur dachte Drews viel mehr an Verwaltungspraxis und Verwaltungsorganisation und etwas weniger an politische Zwecke und Konzeptionen als Preuß und war für Drews im letzten doch der von der Zentrale regierte Einheitsstaat nach dem Beispiel der historischen Großstaatsorganisation Preußens das bestimmende und unverrückbare Ziel: „Daß man dies wollen muß, steht außer Frage." Die ausgebaute Selbstverwaltung, die Drews wünschte, war Mittel zu diesem Zweck. Sie entsprach dem Gedanken einer durchgehenden Rationalisierung der Verwaltungspraxis, der eine größtmögliche Einheit und Übersichtlichkeit unter weitestgehender Schonung und Berücksichtigung der Interessen der konstituierenden Teile zu verwirklichen strebte; sie beschäftigte ihn in erster Linie als selbst verantwortliche Auftragsverwaltung. Dieser hervorstechende Unterschied zu Preuß wirft ein bezeichnendes Licht auf die von preußischer Verwaltungserfahrung und Tradition geprägten Ideen von Drews. Sie dürften aber 13 Vervielf. Exemplar für den Reichskanzler von 1/1872; auch BA, Nachl. Drews, Nr. 90, fol. 45—51. Denkschrift Drews vom Sommer 1917 „Grundzüge die erst 1919 veröffentlicht wurde. Vgl. H. Heffter, im 19. Jahrhundert, S. 767 f. 14
14 Seiten Umfang, BA, R 43 Sie knüpfte an die ältere große einer Verwaltungsreform" an, Die deutsche Selbstverwaltung
Preuß, Verwaltungsreform und Staatsreform in Österreich und Preußen: ZPol Jg. V/1912, S. 231. Die Definition, die Drews seinem Selbstverwaltungsbegriff zugrunde legte, reichte inhaltlich jedoch in andere Bezirke hinein: „Selbstverwaltung bedeutet nicht nur Verwaltung nach freier, eigener Entschließung ohne Anweisungsrecht einer übergeordneten Stelle, sondern auch auftragsweise Verwaltung von Angelegenheiten, über die die materielle Entscheidung einer übergeordneten Stelle zusteht, nach den Anweisungen dieser Stelle durch selbstgewählte und selbstbestellte Organe eines Selbstverwaltungsverbandes." Dieses Prinzip sollte keineswegs auf die kommunalen Instanzen beschränkt bleiben, sondern nach dem Gedanken einer „restlosen Durchführung der Selbstverwaltung in dem von Gneist vertretenen Sinn", wie Drews an anderer Stelle seiner Denkschrift erklärte, auch auf neuen, vor allem auf wirtschaftlichen Gebieten angewendet werden.
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in
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auch in erheblichem Umfang den Vorstellungen seiner neuen preußischen Umgebung und der Adressaten seiner Denkschrift entgegengekommen sein. Drews versuchte sie zu überzeugen, daß das Reich vorerst gar nicht in der Lage war, eine „Zentralisierung in der Reichsinstanz" vorzunehmen. „Eine Zentralisierung von heute auf morgen", meinte Drews, „würde geradezu zur Desorganisation der betroffenen Verwaltungszweige führen." Noch weniger aber hielt Drews die sofortige Aufteilung Preußens für angezeigt, die „nicht die deutsche Einheit, sondern die Zersetzung und den Partikularismus innerhalb Deutschlands" und die in gefährlichem Ausmaß um sich greifenden „zentrifugalen Tendenzen" fördern würde. Die Sonderungs- oder gar Autonomiebestrebungen in einigen preußischen Provinzen ließen sich freilich nicht übersehen und mußten nach Ansicht von Drews vor allem in Zukunft berücksichtigt werden. Seine Denkschrift wies den Weg, „die nun einmal tatsächlich vorhandenen Selbständigkeitsbestrebungen der verschiedenen landsmannschaftlichen Gebilde unter Aufrechterhaltung und im Rahmen des preußischen Staates in erträgliche, die Beteiligten selbst befriedigende Bahnen der Betätigung [zu] leiten". Diese Aufgabe schien Drews eine von der Lokal- bis zur Provinzialebene fortgeführte „Kommunalisierung" erfüllen zu können 15 , die den Provinzialverbänden das Recht übertrug, „Angelegenheiten, die in erster Linie nicht von allgemeinem Staatsinteresse, sondern von speziellem provinzialem Interesse sind", provinzialrechtlich zu ordnen, ihnen einen großen Teil der bisher von unmittelbaren Staatsbehörden versehenen Verwaltungszweige anvertraute und das Recht zur Bestellung eigener Beamten verlieh. Auf einzelnen Gebieten, zu denen Drews beispielsweise die Sicherheitspolizei zählte, sollten staatliche Verwaltungen, auf allen aber staatliche Gesetzgebungszuständigkeiten bestehen bleiben; alle übrigen Geschäfte der bisher nicht kommunalen Behörden innerhalb der Provinz wären jedoch auf die Provinzialselbstverwaltung delegiert worden, die sie dann „im Auftrage und nach Anweisung der Zentralbehörde" mit ihren eigenen Beamten erfüllen sollte. Um Aufsicht und Kontrolle der Zentralbehörden zu sichern, wurde f ü r jede Provinz ein Staatskommissar vorgesehen, „der den Verkehr der zentralen Instanzen mit den Provinzen und umgekehrt vermittelt, um ein Sichdurchkreuzen von Maßnahmen der verschiedenen Ministerien nach Möglichkeit zu verhüten . . . " Dieser Staatskom15 E n t w ü r f e und Ausarbeitungen zur Reform der preußischen Landgemeindeordnung wie der preußischen Kreisordnung im Nachl. Drews, N r . 91 und N r . 93.
17*
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und
Föderalismus
missar war nichts anderes als das, was der preußische Oberpräsident schon nach der Provinzialordnung von 1815 sein sollte: „der in der Provinz residierende ständige Kommissar und Vertrauensmann der Staatsregierung für alle Verwaltungszweige", an den schon Stein gedacht hatte. Künftig sollte er der einzige „politische Beamte" sein, eine Kategorie, die Drews im übrigen gerne abschaffen wollte. Das Vorbild der großen Staatsreform im vorkonstitutionellen Preußen leuchtete in mancher Wendung auf, die Drews gebrauchte, schließlich auch in seiner eigenen Beurteilung einer „grundlegenden Umgestaltung unserer Staatsverwaltung", von der er meinte, daß sie „eine konsequente Durchführung der großen Idee der Selbstverwaltung bedeuten würde . . . deren nur teilweise Verwirklichung schon einmal in schweren Zeiten dem todwunden Staate neue Kräfte und neues Leben zugeführt hat . . . " Man wird es kaum noch dahinstellen können, ob hiermit ein angemessener Maßstab gefunden worden war. Er bestätigt indessen, daß auch in der reformistischen Richtung der preußischen Beamtenschaft, die vor dem Kriege nicht zum Zuge gekommen war, weit mehr traditionsgebundene Vorstellungen als neuartige Situationsanalysen und daß gar keine Ansätze einer politischen Theorie anzutreffen waren. Im Unterschied zu der klaren und einfallsreichen, verhältnismäßig umfangreichen Darlegung der Strukturprinzipien der reformierten Verwaltung blieben die Auswirkungen auf die politischen Verhältnisse ebenso wie die Beteiligung politischer Organisationen und Interessen und schließlich auch des Staatsbürgers, der in den Stein— Hardenbergschen Reformen als Ziel doch eine erhebliche Rolle gespielt und den auch Hugo Preuß ursprünglich vor Augen hatte, erstaunlicherweise ganz und gar unerörtert. Offenkundig hielt Drews das Beamtentum f ü r das Rückgrat auch des neuen Staates, den er, weitgehend auf sein Verwaltungssystem reduziert, betrachtete, wobei er die Überzeugung aussprach, daß „weit über 90 Prozent aller Verwaltungsangelegenheiten" nichtpolitische Angelegenheiten sind und nur „nach rein rechtlichen Motiven" entschieden werden sollten. Die Institution des „Commissarius des Ministeriums" in der Provinz, eines Statthalters des Reiches in der Mittelinstanz, läßt ebensowenig wie Drews' Gedanken zum Beamtenwesen einen Zweifel bestehen, daß er an die Entwicklung parlamentarischer Ansätze in den preußischen Provinzen nicht zu denken vermochte. Zu gleicher Zeit, da KochWeser seine Kritik an der Entfaltung des „Länderparlamentarismus" mit der notwendigen Stärkung der Reichsgewalt begründete, fand Drews mit dem Ausbau der Provinzialverwaltung zu Selbstverwal-
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tungskörpern auch schon das Mittel, ihn auf kommunale Dimensionen zurückzuführen, um, dem gleichen Ziele zustrebend, „die höchste Zusammenfassung und Entwicklung aller Kräfte des gesamten deutschen Vaterlandes" anzubahnen. Mit Rücksicht mehr noch auf wirtschaftliche als auf politische Gründe glaubte Drews, daß „ein tatkräftiges Beschreiten dieses Weges, das . . . das organische Aufgehen Preußens in die zu Ländern umgestalteten Provinzen nach sich ziehen würde", letztlich auch das beste Mittel bildete, den lebhaften Widerstand der deutschen Länder gegen den Einheitsstaat zu überwinden, so daß „die gegenwärtig aus traditionellem Partikularismus noch widerstrebenden Teile des Reichs die wirtschaftliche Notwendigkeit einer vernünftigen Zentralisation mehr und mehr einsehen und sich nicht nur äußerlich mit ihr abfinden, sondern bei ihrer Verwirklichung und Ausführung auch völlig mitwirken werden". Auf diese Weise „mündet die Frage der preußischen Verwaltungsreform aus in die größere Frage des deutschen Einheitsstaates"." Im deutschen Einheitsstaat der überaus optimistischen Drewsschen Endlösung hätten sich dann die Zuständigkeiten der Länder „auf einer mittleren Linie zwischen der Zuständigkeit der früheren Bundesstaaten und der bisherigen preußischen Provinzen bewegen" müssen. Diese Denkschrift bezeugt, daß man zwar auch in Preußen an Reformen, doch in erster Linie an Reformen der Verwaltungen dachte, daß sich aber der Vorschlag Koch-Wesers, die Gelegenheit für zweiseitige Verhandlungen zwischen den Regierungen des Reiches und Preußens zu nutzen, vor einem realistischen Hintergrund bewegte. Auch die Einheitsstaatsresolution der Landesversammlung war letztlich ein Zeichen der noch im Flusse befindlichen, noch vor einer Klärung der Verhältnisse innerhalb Preußens stehenden Entwicklung und bot daher eine — wenn auch ungewisse — Möglichkeit, auf sie Einfluß zu gewinnen. Die Entgegnung der Reichsregierung auf den Beschluß der preußischen Landesversammlung lief denn auch in der Tat darauf hinaus, Preußen an den Verhandlungstisch zu bringen." Sie erklärte sich auf dem Boden der Reichsverfassung, der zufolge „jede weitere Vereinheitlichung . . . nur im Einverständnis mit den beteiligten Landesregierungen erfolgen" könnte. Solche Verhandlungen mit den Länderregierungen hielt die Reichsregierung jedoch „im gegenwärtigen Augenblick für nicht angebracht". Sie gab daher als ihren " Denkschrift vom 27. 1.1920. 17 Von Brecht entworfene und von Albert abgezeichnete Mitteilung an die preussische Regierung, undatiert, BA, R 43 1/1872.
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Entschluß bekannt, „die innere Umwandlung . . . in aller Ruhe und ohne Überstürzung durchzuführen . . . und die Erfahrungen abzuwarten und zu nutzen . . . , die sich hierbei ergeben". Wie Koch-Weser empfohlen hatte, erklärte sich das Reich im Hinblick auf das Vereinheitlichungsprogramm einstweilen als saturiert. Es ließ indes keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es an „einer weiteren Vereinheitlichung der Verwaltung als Ziel der Entwicklung" festhielt, fortan „jedoch nur in der Weise, daß gleichzeitig eine starke Dezentralisation innerhalb der Verwaltung, und zwar auch innerhalb Preußens, in weitestmöglichem Umfange stattfindet". Dieser »Weg einer Dezentralisation" wurde in einer gemeinsamen Sitzung der Reichsregierung mit der preußischen Staatsregierung, die am 30. Januar 1920 stattfand, zum Beschluß erhoben. 18 Koch-Weser versuchte jetzt, Preußen für die Mission zu gewinnen, innerhalb seiner eigenen Grenzen den deutschen Einheitsstaat durch Dezentralisation seiner Verwaltung mitzubestimmen. Um dies in die Wege zu leiten und ein Zusammenwirken beider Regierungen zu erreichen, unterbreitete er dem Preußischen Staatsministerium den offiziellen Vorschlag, sich eng an das Reichskabinett anzuschließen und einer Wiedervereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten zuzustimmen. Das gleiche sollte mit den Innenministerien des Reiches und Preußens geschehen, falls nicht die wichtigsten Mitglieder des Reichskabinetts gleichzeitig Sitz und Stimme im preußischen Kabinett erhielten. Beide Regierungen waren sich jedoch darin einig, daß die Entwicklung „organisch zu gehen habe", daß die Zuständigkeiten des Reiches zwangsläufig „weiter wachsen würden und daß infolgedessen künftige Regelungen nicht allein aus zweiseitigen Verhandlungen zwischen dem Reich und Preußen hervorgehen könnten", sondern einer Beteiligung der Länder bedurften, aber auch, daß die Reichsverfassung ausreichte, um „die einheitlichen Grundlagen des Reiches zu erhalten und auszubauen". Will man in dieser Überzeugung auch eine politische Zielsetzung sehen, woran nach dem Vorausgegangenen keineswegs zu zweifeln ist, so darf man diese Ministersitzung als den Beginn einer „Reichsreform" innerhalb der Grenzen betrachten, die die Reichsverfassung setzte. D a ß sie zunächst die Etappe einer differenzierten Lösung ins Auge faßte, drückte das amtliche Kommunique dieser Sitzung dadurch aus, daß es die — vorsorglich erwähnten — „Besorgnisse, namentlich bei den süddeutschen Staaten, als ob das Reich 18
Niederschrift B A , R 43 1/1872. Hierzu Hirsch, Der Weg der Sozialdemokratie,
S. 181 ff.
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beabsichtige, gegen ihren Willen ihre politischen Rechte zu schmälern, . . . als unbegründet" zurückwies." Die unmittelbaren Anregungen Koch-Wesers an die preußische Regierung konzentrierten sich auf drei Punkte: möglichst weitgehende Dezentralisation der gesamten Verwaltung, „verfassungsmäßig oder gewohnheitsgemäß" Aufnahme von Reichsministern in die preußische Regierung und schließlich Beseitigung der preußischen Gesandtschaften bei den anderen deutschen Ländern, was auf der bereits seit Wochen von der Reichsregierung verfolgten Linie lag.20 Tatsächlich ist nur das letzte geschehen, überdies mit Ausnahme Bayerns, wo die preußische Gesandtschaft nur zeitweilig, endgültig erst 1931 aufgehoben wurde. Fürs erste bewirkten diese Vereinbarungen jedoch eine sichtbare Aktivität. Zur weiteren Klärung der praktischen Fragen setzten beide Regierungen einen gemeinsamen Ausschuß ein, der sich aus drei Reichsministern und drei preußischen Ministern zusammensetzte. Von preußischer Seite gehörten ihm Ministerpräsident Hirsch, Innenminister Heine und Minister f ü r Volkswohlfahrt Stegerwald an. Doch nur f ü r flüchtige Augenblicke durfte sich Koch-Weser der Hoffnung hingeben, seinen Willen „nun doch so ziemlich . . . durchgesetzt" zu haben, 21 da auf preußischer Seite bereits jeder Wille versiegt war, sich an einer Lösung zu beteiligen, die von der Initiative des Reiches bestimmt wurde. Schon bald zeigte sich, daß dank der hinhaltend lavierenden 19
Im v o l l e n Wortlaut abgedruckt bei Poetzsch, J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 72. D o r t w i r d
jedodi irrtümlich als T a g der gemeinsamen Kabinettssitzung der 3. Februar genannt. D i e s e m Fehler liegt vermutlich das D a t u m der Veröffentlichung des K o m m u n i q u e s zugrunde.
Koch
leitete
dieses K o m m u n i q u e
an
die
Presse. Es gibt
korrekt
die
Grundlinie seiner Denkschrift wieder, enthält allerdings W e n d u n g e n , die er, w i e er schreibt, in Rücksicht auf die süddeutschen Länder „ziemlich diplomatisch" a b f a ß t e ; „ . . . bei der Empfindlichkeit der Süddeutschen darf m a n nicht einmal recht deutlich sagen, d a ß m a n ohne G e w a l t dem Einheitsstaat zustrebt". ( A u f z e i c h n u n g v o m 3. 2. 1920, N a d i l . Koch-Weser, N r . 21.) 20
A m 21. N o v e m b e r 1919 w u r d e bei einer Besprechung der Reichsminister
mit
den Ländervertretern vereinbart, „daß die Bildung diplomatischer Korps an anderen Orten als am Sitze der Reichsregierung mit allen zur V e r f ü g u n g stehenden Mitteln zu verhindern sein wird". Weiter w u r d e festgestellt, d a ß zwischen den Ländern nur staatsrechtliche,
keine völkerrechtlichen
Beziehungen
deutschen
bestünden.
Die
preußische Regierung erklärte sich bereit, ihre Gesandtschaften bei den Ländern zum 1. April 1920 a u f z u h e b e n . Vorsichtig ersuchte die Reichsregierung auch die anderen Länderregierungen, diese „Grundsätze einer P r ü f u n g z u unterziehen".
(Rundschrei-
ben Reichskanzler Bauers an sämtliche Länderregierungen v o m 12. 12. 1919, Abschr. B A , R 43 1/2327.) 21
Nachl. Koch-Weser, ebda.
264
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Taktik der preußischen Minister eine Erörterung weiterer Fragen in schier uferlose Schwierigkeiten geriet. Der Ausschuß der sechs Minister hat tatsächlich mehr auf dem Papier existiert als in "Wirklichkeit. Nicht nur Struktur und Personal der alten Verwaltung erwiesen sich als Widerstand gegen eine derartig umfangreiche Reform, f ü r die Drews bereits im Kriege wesentliche Unterlagen und Entwürfe erarbeitet hatte; er fand zu jeder Zeit auch bei führenden Politikern der Regierungsparteien Unterstützung, die sich dabei bisweilen zu ihren Parteiverbänden in den einzelnen Landesteilen in Widerspruch setzten. Aus diesem Bündnis ergab sich eine schier unüberwindliche Opposition des preußischen Staates. Freilich wirkte sich jetzt auf alle Dezentralisationsbestrebungen der besonders ungünstige Umstand aus, daß der Abstimmungskampf in den östlichen und nördlichen Grenzzonen Preußens, deren Reichszugehörigkeit auf dem Spiel stand, seinem Höhepunkt zueilte und auch der Reichsregierung die H ä n d e band. Ubergänge von einer begrenzten Provinzialautonomie dieser Zonen zur Separation ließen sich nicht ausschließen, wurden jedenfalls befürchtet, so daß die Vertagung grundsätzlicher Regelungen bald auch der Reichsregierung angeraten schien und es ihr nur noch darauf ankam, möglichst bindende Erklärungen f ü r die nächste Zukunft abzugeben. Der sinkende Stern Erzbergers beraubte das Reichskabinett seiner aktivsten Kraft, so daß das Vorhaben der Reform auf Seiten des Reiches alsbald nur noch auf die beiden Augen Koch-Wesers gestellt war, der von Schiffer, dem zweiten Mann des Kabinetts, kaum Unterstützung erwarten durfte. Während das Auswärtige Amt eine „organische Fortentwicklung" der innerpreußischen Verhältnisse aus außenpolitischen Erwägungen begrüßte, 22 sah sich Koch auf der anderen Seite doch viel wirksameren Einwänden der preußischen Ressorts gegenüber. 23 Als dann Schleswig-Holstein kurz vor der Abstimmung in der zweiten Zone eine stärkere Selbstverwaltung verlangte, zeigte sich Innenminister Heine nach anfänglichem 22 Reichsaußenminister Köster schrieb an Koch-Weser am 12. 5. 1920, durch seine Pläne würde „der gegen uns gerichteten Politik gewisser Ententekreise ein wesentlicher Angriffspunkt genommen". (BA, R 43 1/1872.) 23 Ein Rundschreiben des Preußischen Ministers für Volkswohlfahrt, Adam Stegerwald, vom 13. 3. 1920 an die Reichsminister und die preußischen Staatsminister entwertete die preußische Zustimmung zu der Denkschrift Koch-Wesers dadurch, daß es die „im Interesse der einheitlichen Leitung des Gesamtstaates notwendigen Aufsichtsrechte" geltend machte und die Dezentralisation an die Bedingung knüpfte, „daß bei Umgestaltung der Staatsgewalt eine Schwächung der letzteren in ihrer Stellung gegenüber den Selbstverwaltungskörpern vermieden wird". (BA, R 43 1/1872.)
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
265
Preußen
Widerstreben schließlich zwar bereit, in einer längeren Erklärung einiges davon in Aussicht zu stellen. Doch diese von Koch begrüßte Möglichkeit, „eine Brücke zu schlagen zu denen, die zwar gute Deutsche, aber keine guten Preußen sind", scheiterte an dem Widerstand Leinerts, des sozialdemokratischen Präsidenten der preußischen Landesversammlung, der sich in alle Preußen betreffenden Verhandlungen einschaltete und jede Konzession an die Schleswig-Holsteiner ablehnte, „bloß um ein p a a r D ö r f e r zu retten", weil man damit „die Brandfackel in ganz Preußen" werfe. Dieser hannoversche Sozialdemokrat befürchtete vor allem Auswirkungen auf die weifisch-hannoverschen Autonomiebestrebungen, die Leinert, wie er wiederholt bekannte, aufs entschiedenste bekämpfte. 2 4 Kochs Uberzeugung, „wer es mit Preußen gut meint, muß die Autonomie fördern", stieß bei den führenden preußischen Sozialdemokraten auf das geringste Verständnis, da ein Kompromiß mit autonomistischen Kräften ganz und gar undenkbar schien. Die Berichterstattung des Staatskommissars für die öffentliche Ordnung vermittelte den Eindruck, daß innerhalb dieser Bewegung eine von den Rechtsparteien unterstützte, entschieden gegenrevolutionäre Richtung Einfluß gewann, zu der keine Brücke hinüberführte. Der aus mannigfachen Quellen gespeiste, politisch und sozial heterogene hannoversche Autonomismus wurde in wachsendem Maße zum Auffangbecken monarchistischer Bestrebungen, die, weit über die Provinzgrenzen hinaus, über große Teile des Reichsgebietes verbreitet waren und von einer unversöhnlichen Gegnerschaft gegen die in Berlin regierenden Parteien ausgingen. 25 Diese politische Oppositionsbildung, die sich ge24
Aufzeichnung v o m 3 . 3 . 1 9 2 0 , Nachl. Koch-Weser, N r . 21.
25
Ein von Staatssekretär Albert als Reichsministerialsache in U m l a u f
Bericht des Staatskommissars v . Berger zählt folgende Richtungen
für Reichskanzler Bauer v o m
gesetzter 1 2 . 9 . 1919
innerhalb der hannoverschen Bewegung a u f :
1.
rein hannoversche, die in den Bestrebungen der Weifenpartei ihren Ausdruck
„eine findet,
der nur an der Selbständigkeit H a n n o v e r s liegt", 2. „eine niedersächsische, deren B e f ü r w o r t e r das Heil Deutschlands nach einer Zerschlagung Preußens in einer norddeutschen Vorherrschaft des niedersächsischen S t a m m e s s i e h t " ; ihr hingen auch Angehörige der D N V P und der D V P an. „Auch die Deutsch-Hannoveraner
würden
wohl diesem Bestreben zustimmen, wenn nicht in den völkisch zu Niedersachsen gehörenden Teilen zu viel durch U n a b h ä n g i g e und Spartakisten verseuchte
Mittel-
punkte wären ( H a m b u r g , Bremen, Braunschweig)". D i e Deutsch-Hannoversche Partei beherrschte nach der Schilderung Bergers d a s flache L a n d sowie große Teile der kleineren und mittleren Städte. Aber auch innerhalb der organisierten Arbeiterschaft griff die Stimmung f ü r ein selbständiges H a n n o v e r um sich. Zur weifischen Bewegung zählte S t a a t s k o m m i s s a r v. Berger einen großen Teil des Adels. Aber auch d a s Militär war von ihr beeinflußt; in ihrer H a n d befanden sich über d a s g a n z e L a n d
266
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
gen die historische L i n k e innerhalb der deutschen Parteien richtete, sich teilweise mit regionalen Sonderbewegungen verbündete u n d auf diese Weise sich jeweils im regionalen Z u s a m m e n h a n g zu kristallisieren und auszuprägen versuchte, begann bereits nach den Ereignissen des S o m mers 1919 bedrohliche F o r m e n anzunehmen. Sie läßt deutlich werden, wie wenig verwaltungspolitisch beschränkte Erörterungen einer allgemeinen Dezentralisation die politischen Bewegungen einer in der U m f o r m u n g begriffenen Wirklichkeit zu erfassen und zu berücksichtigen vermochten. J e d e n f a l l s kann die Erkenntnis nicht abgewiesen werden, daß solcherart verfestigte politische Gegensätze historischer und prinzipieller N a t u r durch die Begünstigung regionaler Sonderungen sicherlich nicht entschärft, wahrscheinlich aber wesentlich verstärkt werden konnten. Ebenso muß wohl in F r a g e gestellt werden, ob solche Bewegungen durch die G e w ä h r u n g eines „kommunalisierten" P r o v i n z statuts wirklich nennenswert zu beeinflussen waren. Doch diese G e f a h ren der ersten J a h r e der R e p u b l i k wurden von der Reichsregierung offenbar geringer eingeschätzt als v o n den preußischen Ministern.
Ostpreußischer
Autonomismus
N o c h schwieriger stand es mit der östlichen P r o v i n z , in der größere Grenzbezirke einer ungewissen politischen Zukunft entgegensahen, und die nach der Abtretung Posens u n d eines Großteils Westpreußens unter wesentlichen Erschwerungen der Verkehrsverbindungen zu leiden hatte. D i e F o r t f ü h r u n g der Lebensmittelbewirtschaftung und die zentralen wirtschaftlichen M a ß n a h m e n von Berlin aus, die wenig Rücksicht auf die in mancher Hinsicht unbestreitbare „ S o n d e r l a g e " Ostpreußens nahmen, löste in diesem Teile Altpreußens einen Reichsüberdruß aus, der sich gelegentlich in heftigen Drohungen Luft machte und verstreute Waffendepots. Sie habe „über Kölner Mittelsleute" Verbindung mit maßgebenden Londoner Kreisen aufzunehmen versucht. Auch zu Gruppen in Bayern, Ostpreußen, Schlesien und Pommern unterhielt sie Beziehungen. Diese gesamte, weitverzweigte Organisation rechnete nach der Mitteilung des Staatskommissars mit kommunistischen Unruhen in Hannover, die „sofort und mit größter Energie aus eigener Kraft niedergeschlagen" werden sollten; im Anschluß hieran wolle man die Monarchie in Hannover ausrufen und ein Mitglied des Hauses Cumberland gewinnen. Staatskommissar v. Berger schloß seinen Bericht mit der Konjektur: „Der treibende Gedanke der ostpreußisch-pommerschen Verbindungsleute scheint der zu sein, auf dem Umwege über Hannover resp. über die Schaffung einer hannoverschen Monarchie zur Wiederherstellung der Monarchie überhaupt gelangen zu können." (BA, R 43 1/2303.)
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
267
die Gefahr einer Lösung v o m Reich in unmißverständlicher Deutlichkeit an die W a n d malte. Solche Bestrebungen waren zuerst durch die Isolierung der P r o v i n z infolge des Friedensvertrages genährt
wor-
den. 26 Bis dahin hatte man in Berlin ähnlich drastische Anspielungen auf eine Separation kaum von bayerischer Seite zu hören bekommen. Sie standen hinter den wenig unterstützten Proklamationen des rheinischen Provinzialseparatismus nicht zurück, jedoch mit dem U n t e r schied, d a ß sie in Ostpreußen sogar von Persönlichkeiten herrührten, die im Vordergrund des öffentlichen Lebens standen und als offizielle Repräsentanten der Republik auftraten. Auch der sozialdemokratische Oberpräsident August Winnig hatte solchen Stimmen Nachdruck verliehen und v o r dem Provinzialparteitag der ostpreußischen S P D das Gespenst der nicht mehr zu verhindernden Loslösung heraufbeschworen — „wenn das Reich Ostpreußen nicht versorgen k a n n " 2 7 . Im Preu26
Schon am 17. Mai 1919 schlug Oberpräsident Winnig dem Preußischen Staats-
ministerium einige Sonderregelungen
für seine Provinz vor mit der Begründung:
„Wenn auch die Abtrennung Ostpreußens vom Stammgebiet des Reichs noch nicht feststeht, so erfordert
die derzeitige Lage doch eine Vorsorge für den
immerhin
möglichen Fall, daß diese Abtrennung Tatsache werden sollte." (Abschr. eines Schreibens Winnigs an das Preußische Staatsministerium, H A B , R e p . 9 0 / 1 0 6 6 . ) Eine gewisse „Vorsorge" hatte die Reichsregierung — nicht die preußische Regierung
—
schon getroffen und bereits durdi eine Verordnung vom 19. 1. 1919 eine vorläufige Provinzialversammlung für Ostpreußen als einziger preußischer Provinz ins Leben gerufen. Sie setzte sidi aus den in Ostpreußen gewählten Mitgliedern der N a t i o n a l versammlung und der preußisdien Landesversammlung zusammen. ( D G R , S. 4 1 9 ) 2
' Bericht der Kölnischen Zeitung vom 6. 2. 1920. Erklärlicherweise wurden der-
artige Erscheinungen und Vorkommnisse in der westdeutschen Presse, die separatistischen Tendenzen abhold war, mit großer Sorgfalt vermerkt und verurteilt. Ein Artikel „Los von B e r l i n ! " , der in der „Rheinischen Volksstimme", N r . 37 vom
14.2.
1920 erschien, behauptete sogar, der „sozialdemokratische Oberpräsident Winnig" sei „bekanntlich nur äußerlich Sozialdemokrat, in Wirklichkeit aber Deutschnationaler. Durch diese geschickte Schiebung haben die D [ e u t s c h - ] N [ a t i o n a l e n ] alle Sozialdemokraten Ostpreußens in ihrer H a n d " . U m die im Westen kaum verständlichen Ereignisse im Osten Preußens und Deutschlands einigermaßen hinreichend zu erklären, übersah man geflissentlich, daß ein großer Teil der ostpreußischen Sozialdemokratie hinter Winnig stand. — Über die Zeit der R ä t e und die Tätigkeit Winnigs in O s t preußen bis zum Kapp-Putsch liegt eine auf den Oberpräsidialakten der Provinz beruhende Untersuchung von R u d o l f K l a t t v o r : Ostpreußen unter dem Reichskommissariat 1 9 1 9 / 1 9 2 0 (Studien zur Geschichte Preußens, hrsg. v. Walther Hubatsch, Bd. 3), Heidelberg 1958. D e r etwas mißverständliche Titel bezieht sich auf die B e zeichnung „Reichskommissar für O s t - und Westpreußen und die besetzten ehemals russischen G e b i e t e " , den Winnig vor seiner Ernennung zum Oberpräsidenten
(als
Nachfolger Batockis im J u n i 1919) führte. E r hat nichts mit dem hier im Folgenden erwähnten „Reichskommissariat" zu tun.
II. Reichspolitik
268
und
Föderalismus
ßischen Staatsministerium beobachtete man diese Erscheinung äußerlich mit Toleranz, in der Sache jedoch gänzlich unbeeinflußt, ohne den Forderungen,
die in und von dieser P r o v i n z erhoben wurden,
in
irgendeiner Hinsicht entgegenzukommen. 2 8 Diese Taktik des milden Tones bei sachlicher Zurückhaltung oder Gleichgültigkeit w a r bis ins J a h r 1 9 2 0 hinein von einem gewissen E r f o l g begleitet, nachdem sich extremistische Versuche, eine militante Defensivpolitik im Osten einzuleiten und für diesen Zweck sogar die Entstehung eines deutschen Oststaates in K a u f zu nehmen, als völlig aussichtslos erwiesen hatten. 2 8 28
A u f die Behandlung der Angelegenheiten Ostpreußens im Preußischen Staats-
ministerium im einzelnen einzugehen, ist hier nicht der O r t . D e r V e r f . beabsichtigt, dies in einer späteren Arbeit nachzuholen. H i e r ist nur die unnachgiebige Haltung des leitenden Mannes in der preußischen Ernährungswirtschaft, des Staatskommissars für Volksernährung, Unterstaatssekretär Peters, auf der einen und die ständige B e fürwortung
des
Standpunktes
Winnigs
durch
den Ministerialdirektor
im
Staats-
ministerium und Wirklichen Geheimen R a t Nobis auf der anderen Seite zu erwähnen. 29
Zu den entschiedensten Parteigängern
die Abtrennung
Westpreußens
und
für
eines bewaffneten
die Aufrichtung
Widerstandes
eines deutschen
gegen Staates
zählte Wilhelm Frh. v. G a y l , Sohn eines Generals und einstigen Feldzugskameraden des Generalfeldmarschalls v. Hindenburg, 1 9 1 6 — 1 9 1 8 C h e f der Abteilung für P o l i tik und innere Verwaltung
beim Oberkommando
Ost, danach
Landeshauptmann
und C h e f der Militärverwaltung von Litauen-Nord in K o w n o , dem späteren Staat Litauen, an dessen Entstehung Gayl maßgebenden Anteil hatte. Seit Jahresbeginn 1919 leitete Frh. v. G a y l eine neugeschaffene Abteilung Heimatschutz beim O b e r präsidenten von Ostpreußen, v. Batocki-Bledau. Über die Separationsabsiditen von 1919 unterrichtete eine Aufzeichnung Gayls vom 6. 6. 1936, B A , Nachl. Frh. v. G a y l , N r . 6. D i e leitenden Gedanken waren demzufolge: „dem drohenden Einmarsch der Polen [in Westpreußen] bewaffneten Widerstand zu leisten und es auf einen E n t scheidungskampf ankommen zu lassen. I m N o t f a l l sollte der Osten sich v o m Reich trennen und vorübergehend einen eigenen Oststaat bilden, dessen
Wiedervereini-
gung mit dem Reich zu gegebener Stunde erfolgen sollte". Von den Vätern dieses Planes nennt G a y l Winnig, Batocki und den Regierungspräsidenten v. Oppen
in
Allenstein. E r scheiterte an den Gegenvorstellungen des Generals v. Below, dem sich schließlich Batocki anschloß. G a y l schildert die entscheidende Unterredung zwischen beiden, die am 19. 6. 1919 in Danzig stattfand. Selbst die späte Erinnerung spiegelt noch das um innerdeutsche Verhältnisse und Konsequenzen vollständig
unbeküm-
merte Urteil dieses bislang nur mit ostpolitischen Problemen befaßten Mannes: „Dem Entschluß
des verdienten Heerführers
und des Oberpräsidenten,
der mein
Lehr-
meister in vielen Dingen gewesen war, glaubte ich mich fügen zu müssen. Ich bin aber heute noch der Ansicht, daß der bewaffnete Widerstand einen großen Teil von Westpreußen hätte retten können. Wenn mit eiserner Faust gegen die versuche von
Sabotage-
Anfang an durchgegriffen wurde, hätte der innere Widerstand
im
Keime erstickt werden können. Sobald wir die Fahne wieder entrollt hätten, wäre der Zustrom von Freiwilligen aus ganz Deutschland trotz der ablehnenden H a l t u n g
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
269
Damit wurden auch die Reste der Ostpolitik hinfällig, die deutsche militärische Stellen während des Krieges verfolgt hatten und deren Grundlinien auch für die Zukunft beibehalten werden sollten. 30 Zwar änderte sich nichts für Ostpreußen, aber ebenso auch nichts für Berlin; und mit der Zeit überlebte sich der wenig steigerungsfähige Ton der ostpreußischen Agitatoren, so daß die Suche nach anderen Auswegen erforderlich schien, zumal der Gedanke einer Separation bei dem noch ungewissen politischen Schicksal der Gebiete östlich der Weichsel und nördlich der Memel kaum ernsthafter Erwägungen würdig war. Ende Februar 1920 erlangte Winnig die Zustimmung des preußischen Ministerpräsidenten zum Empfang einer ostpreußischen Delegation, deren Größe und Zusammensetzung ihm selbst überlassen blieb. 31 Der Oberpräsident tat daraufhin alles, was in seinen Kräften stand, der Regierung groß geworden. Den militärisch schlecht ausgerüsteten Polen wären wir gewachsen gewesen. Eine Wiederaufnahme des allgemeinen Kriegs (!) war bei der Kriegsmüdigkeit aller Völker nicht zu erwarten (!) . . . Wir hätten vollendete Tatsachen geschaffen, auf deren Grundlage neue Verhandlungen wenigstens einen Teil von Westpreußen und damit die Verbindung mit Ostpreußen hätten retten können." D a ß der Entscheidung General v. Belows Erörterungen über eine Wiederaufnahme des Kampfes im Osten unter den höchsten Reichswehrstellen vorausgingen, ist Gayl offenbar unbekannt geblieben. Uber die H a l t u n g der Reichswehr in Verbindung mit der Unterzeichnung des Versailler Friedens berichtet Gordon A. Craig, The Politics of the Prussian Army 1640—1945, O x f o r d 1955, S. 368 ff. 30
Die Einordnung dieser Pläne in eine großzügige, keineswegs annexionistische, aber entschieden antipolnische Ostpolitik verrät eine „streng vertrauliche" gedruckte Denkschrift Frh. v. Gayls vom 3 0 . 4 . 1 9 1 9 „Die litauische Frage und die augenblicklichen Verhältnisse in Litauen", deren Empfängerkreis nicht genannt ist (15 S., BA, Nachl. Frh. v. Gayl, N r . 5). Über den A u f b a u eines „Systems der Kreiskommissare" im Befehlsbereich des Grenzschutz-Oberkommandos N o r d zu dem Zweck, an der „Polenfront den Widerstand auch in der Bevölkerung zu stärken", und die militärische Sonderstellung der örtlichen Grenzzone Friedrich v. Rabenau, Seeckt. Aus seinem Leben 1918—1936, Leipzig 1940, S. 121; neuerdings auch die Arbeit von Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und N S D A P . Beiträge zur deutschen Geschichte 1930 bis 1932 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 11), Stuttgart 1962, S. 18 ff. 31
Das Drängen Winnigs auf Abhaltung dieser Besprechung wurde nachdrücklich von Nobis unterstützt. Am 23. Februar mahnte er Hirsch: „Mit der Ostpreußenbesprechung kann aus politischen Gründen nicht mehr lange gewartet werden!" (Handschriftl. Anmerkung zu einer Vorlage für den Ministerpräsidenten, HAB, Rep. 90/1066). Zwei Tage später traf ein Telegramm Winnigs ein, das die Festsetzung der Besprechung auf den 9. März erbat. D a r a u f h i n erhielt der Oberpräsident die Antwort des Ministerpräsidenten: „Ersuche Vertreter der Provinz nadi dortigem Ermessen einzuladen." (Handschriftl. Entwurf des Antworttelegramms vom 27.2. 1920 ebda.)
270
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
um dieser Konferenz von vornherein das Aussehen eines sehr energischen Vorstoßes ostpreußischer Sonderinteressen zu geben. Eine Denkschrift, die der preußische Ministerpräsident wenige Tage später erhielt,32 malte mit dringlichen Worten die katastrophalen Folgen der bereits Wochen währenden verkehrsmäßigen Abschnürung Ostpreußens vom Reichsgebiet aus und verlangte unter Anspielung auf den Einsatz militärischer Machtmittel nach Maßnahmen des Reiches gegen Polen: „Wenn nicht mit aller Gewalt in engem Zusammenarbeiten mit der Provinzialinstanz Ostpreußens der Durchgangsverkehr erzwungen wird, ist der von Polen und den Ententeländern geförderte Zusammenbruch des wirtschaftlichen Lebens kaum aufzuhalten." Darauf folgte die knapp ummäntelte Forderung auf Gewährung einer politischen Sonderstellung Ostpreußens, um die Gefahr des Schlimmeren, mit der man zu rechnen und zu operieren wußte, zu vermeiden: „Gerade der Wunsch, Ostpreußen als preußische Provinz und damit als Bestandteil Deutschlands lebensfähig zu halten, ist die Unterlage für die gestellten Anträge. Eine Loslösung vom Reiche, auch nur in wirtschaftlicher Beziehung, würde von allen Ostpreußen als das größte Unglück empfunden werden." In eine weniger durch amtliche Rücksichten diktierten Sprache übersetzt, die sich der Oberpräsident seinem höchsten Vorgesetzten gegenüber versagen mußte, hieß dies, daß die Provinz für ihr Verbleiben beim Reich eine Reihe von Sonderwünschen präsentierte, die der Oberpräsident als Vertreter der Provinzialinteressen dem Staatsministerium selbst vortrug. Die Liste seiner Anträge war überaus umfangreich und erstreckte sich keineswegs nur auf wirtschaftspolitische Gebiete (Bevorzugung der Provinz in der Belieferung von Rohstoffen, Fabrikaten und Kohlen; Ermächtigung des Oberpräsidenten zum Erlaß von Verordnungen auf wirtschaftlichem Gebiet, für die Zwangsbewirtschaftung, die Brennholzverwertung, Torfgewinnung, in Handels-, Verkehrs- und Steuerfragen), sondern bezweckte eine beispiellose allgemeine Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten. Hierzu gehörte — im Rahmen der preußischen Verwaltung — die Einrichtung einer besonderen „Abteilung Landesschutz" beim Oberpräsidenten, die als Provinzialbefehlsinstanz für die gesamte Sicherheits-, Kriminalpolizei und Landgendarmerie, für eine eigene Nachrichtenabteilung, die Grenzpolizei, für Wasserschutz, technische Nothilfe und für die Einwohnerwehr gedacht war. Schließlich ver3 2 „Denkschrift betreffend die besondere Wirtschaftsgestaltung der Provinz Ostpreußen nach Abschnürung vom Reiche infolge des Friedensvertrages" vom 4 . 3 . 1920, vervielf., ebda.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
271
langte Winnig die Einsetzung des Oberpräsidenten als „Reichskommissar f ü r den Osten", dem „sämtliche wirtschaftlichen und polizeilichen Staats- und Reichsstellen" unterstellt werden, dem ein ständiger „Provinzial-Wirtschaftsrat" aus ernannten Mitgliedern „aller wichtigen Erwerbsstände" zur Seite stehen und dem umfangreiche Ermächtigungen „in allen Fragen der Ein- und Ausfuhr" erteilt werden sollten. Darüber hinaus beantragte der Oberpräsident die Errichtung eines „ostpreußischen Bureaus", einer Art Gesandschaft in Berlin, und das Zugeständnis der grundsätzlichen Einschaltung der Provinzialstellen „vor Erlaß aller f ü r die Provinz wichtigen Anordnungen". Ostpreußen wollte also auf eigenen Füßen stehen, nicht nur die Zuständigkeitsbereiche innerhalb der preußischen Verwaltung zugunsten der Provinzialinstanz verändern, sondern ein Land des Reiches besonderen Rechtes werden — allerdings in anderen Hinsichten als die historischen Länder. Die Rechts- und VerwaltungsgeBiete der herkömmlichen Landeshoheit, Kultus, Kirche und Schulwesen, Justiz sowie Beamtenrecht, interessierten keineswegs, lediglich die Polizei, soweit sie nicht Angelegenheit der Gemeinden war, und im übrigen gerade jene Objekte, die Gegenstand der Vereinheitlichungspolitik der Reichsregierung waren: Steuer- und Zollwesen, vor allem aber Grenzpolizei und Grenzschutz, Verkehr und "Wirtschaft unter Einschluß des Außenhandels. Die neuen Rechte und Befugnisse der Provinzialinstanz sollten jedoch nicht etwa einer Selbstverwaltungskörperschaft übertragen, sondern auf das Amt des zum Reichskommissar erhobenen, als Reichsbeamten ernannten, von jeder Mitwirkung parlamentarischer Organe oder Kräfte entbundenen Oberpräsidenten konzentriert werden. Wollte man den ganzen Umfang seiner Macht und Ermächtigung treffend ausdrücken, so hätte man ihn schon den Reichsstatthalter eines Reichslandes nennen können. Die Denkschrift begründete all dies mit den bekannten Hinweisen auf die besonderen Schwierigkeiten, die sich im Gefolge des Versailler Vertrages f ü r Ostpreußen ergeben hatten, mit den Hemmnissen des Verkehrs und der Notwendigkeit des Grenzschutzes und der Grenzüberwachung, aber auch mit grundsätzlichen Einwänden gegen eine zentralisierte Verwaltung. Interesse verdient auch der Vorschlag, diese Ziele ohne Einschaltung des Reichstags durch eine „Verordnung des Reichsrats" zu verwirklichen, also unter Heranziehung und mit Hilfe der Länder, deren sich die Väter dieser Denkschrift offenbar sicher glaubten. Die ostpreußische Sozialdemokratie schloß sich einen Tag später mit einer eigenen Denkschrift für die Staatsregierung den Anträgen Win-
272
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
nigs an, 33 die sie lediglich dadurch abwandelte, daß sie den Gedanken einer parlamentarisch ausgestalteten Provinzialautonomie nicht gänzlich verbannte. Sie ließ den Wirtschaftsrat für eine Übergangszeit gelten, um ihn später und endgültig durch ein aus allgemeinen Wahlen hervorgehendes Wirtschaftsparlament zu ersetzen, dessen Beschlüsse für die Provinz bindend sein sollten, „sofern die Reichsregierung von dem ihr in jedem Fall zustehenden Einspruchsrecht nicht Gebrauch" machte. Insofern erhielt der vorgeschlagene Reichskommissar-Oberpräsident, ohne daß seine Befugnisse in der gleichen Weise umschrieben wurden wie in der anderen Denkschrift, eine Provinzialkörperschaft zur Seite gestellt, die die Sonderstellung Ostpreußens womöglich noch stärker hervorhob. Die Autoren dachten sogar an eine vollständige Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reichstag und Wirtschaftsparlament. Das Einspruchsrecht des Reiches sollte der Reichskommissar ausüben, dem Wirtschaftsparlament dagegen aber noch das Recht zustehen, bei einem besonderen, dafür zu bestimmenden Gerichtshof eine Entscheidung über die Wirksamkeit des Einspruchs und gegebenenfalls dessen Aufhebung zu beantragen. Diese Zweiteilung der Provinzialinstanz in ein parlamentarisch-legislatives Organ und ein Präsidialamt mit besonderen exekutiven Ermächtigungen und Aufträgen, die sowohl von Seiten des Reiches wie von Seiten der Selbstverwaltungskörperschaften der Provinz erteilt werden sollten, verfolgte den Gedanken der „Autonomie" noch weiter, bildete den Charakter eines Reichslandes Ostpreußen noch deutlicher aus und griff noch stärker in das geltende Verfassungsrecht ein als die Denkschrift des Oberpräsidenten; von Preußen war in ihr überhaupt nicht mehr die Rede. Beide Vorschläge steckten zwei verschiedene Bahnen ab, die jedoch in die gleiche Richtung führten. An dem von ihm festgesetzten Tag, dem 9. März, erschien der ostpreußische Oberpräsident an der Spitze einer großen Provinzialdelegation im preußischen Innenministerium zu den Verhandlungen über die Forderungen der Provinz, die sich über zwei Tage erstreckten 34 . 33
Denkschrift
des
Provinzialverbandes
Ostpreußen
der
SPD
vom
unterzeichnet von den Mitgliedern der preußischen Landesversammlung
6 . 3 . 1920, Andersch,
Borowski, Seemann und dem Nationalversammlungsmitglied Schulz, vervielf. H A B , Rep. 9 0 / 1 0 6 6 . 34
„Niederschrift über die Verhandlung der Ostpreußenkonferenz im Festsaal des
preußischen Ministeriums des Innern am 9. und 11. M ä r z 1 9 2 0 " , H A B , Rep. 9 0 / 1 0 6 6 . Bisher ist nicht festzustellen gewesen, ob Winnigs Wahl des 9. M ä r z in einem Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch am 13. März stand, der in den bisherigen D a r -
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
273
Gleich zu Beginn kam Heine den Ostpreußen mit der Erklärung entgegen, daß das Staatsministerium bereits die unmittelbare Angliederung einer Geschäftsstelle für ostpreußische Fragen vorgesehen habe. Dies sollte allerdings das einzige nennenswerte Zugeständnis bleiben. Im Verlaufe der längeren Aussprache wurden einige Gegenstände, wie Verkehrsfragen, Formen der Zwangswirtschaft, eine stärkere militärische Grenzsicherung usw., in spätere Sonderbesprechungen mit den Stellungen vorwiegend von der Seite der militärischen Aktion unter der Leitung von Lüttwitz und Ehrhardt her untersucht worden ist. (Hauptsächlich Karl Brammer, Fünf Tage Militärdiktatur. Dokumente zur Gegenrevolution, Berlin 1920; und neuerdings Gordon A. Craig, Politics, S. 375 ff.; sowie H a r o l d J. Gordon, Die Reichswehr und die Weimarer Republik 1919—1926, F r a n k f u r t a. M. 1959, S. 107 ff.) Die Ostpreußen-Konferenz gab dem ostpreußischen Generallandschaftsdirektor K a p p jedenfalls Gelegenheit, sich in diesen Tagen in Berlin aufzuhalten. Die Anwesenheitsliste enthält außer den N a m e n Winnigs und Kapps die des Oberpräsidialrats v. Hassel und des Regierungspräsidenten von Gumbinnen, Magnus Frh. v. Braun. Frh. v. Braun gibt in seinen Memoiren an, K a p p wie zufällig am 10. März in einem Berliner Hotel gesehen zu haben. (M. v. Braun, Von Ostpreußen bis Texas. Erlebnisse und zeitgeschichtliche Betrachtungen eines Ostdeutschen, Stollhamm/Oldenburg 1955, S. 181.) Die Anwesenheitsliste der Konferenz am 9. M ä r z zeigt jedoch die Namenszüge beider dicht beieinander. Außerdem gehörten repräsentative Männer der ostpreußischen Landwirtschaft zur Delegation: der Präsident der Landwirtschaftskammer Ostpreußen, Brandes-Zaupern, Landeshauptmann Graf BrünnedcBelsdiwitz, Graf zu Dohna-Schlobitten, Graf Eulenburg-Prassen, die bekanntesten Sprecher des großagrarischen Magnatentums, der Reichs- und Staatskommissar für das ostpreußische Abstimmungsgebiet und spätere Vertreter Ostpreußens im Reichsrat, Wirklicher Geheimrat Oberregierungsrat Frh. v. Gayl. Ferner erschienen von ostpreußischer Seite der demokratische Königsberger Oberbürgermeister Lohmeyer, der sozialdemokratische Königsberger Polizeipräsident Lübbring, einige Vertreter wirtschaftlicher Kammern und Provinzialinstitutionen, Mitglieder des Provinziallandtages, des Preußischen Staatsrats und der Landesversammlung, darunter die Sozialdemokraten Andersch und Borowski, sowie der spätere demokratische Nachfolger Winnigs im Oberpräsidentenamt, Siehr. Das Preußische Staatsministerium wurde durch Hirsch, die Minister Heine, Südekum und Braun und eine Anzahl hoher Beamter vertreten, die Unterstaatssekretäre Peters und Döhnhoff, die Ministerialdirektoren Nobis, Meister u. a., die Reichsregierung durch Koch-Weser, Reichsverkehrsminister Bell, am zweiten Tage auch durch Reichskanzler Bauer und drei Abteilungsleiter des Auswärtigen Amtes (v. Simson, Frh. v. Stockhammern und Mertens). Erzberger erlebte in diesen Tagen das Ende seines Prozesses gegen Helfferich und hatte sich bereits von seinem Amt als Reichsfinanzminister zurückgezogen; am 12. März trat er auch offiziell zurück. Auffällig ist das Fehlen eines Vertreters der Gewerkschaften; auch der Preußische Minister für Volkswohlfahrt Stegerwald war nicht zugegen und von der Konferenz nicht unterrichtet worden, was später mit einem technischen Versehen erklärt wurde. (Schriftwechsel Stegerwaids mit Hirsch vom 13. bzw. 20.3. 1920, H A B , Rep. 90/1066.)
18 Sdiulz I
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und
Föderalismus
zuständigen Ressorts verwiesen, so daß am Ende nur noch als einziges, allerdings sehr wesentliches Anliegen der ostpreußischen Seite übrig blieb: der Wunsch nach Änderung der Behördenorganisation zum Zwecke einer Zusammenfassung aller Provinzialinstanzen in den Händen des Oberpräsidenten-Reichskommissars und der Erlaß besonderer Ermächtigungen für Ostpreußen. Im übrigen war zu den Punkten, die während der Sitzung vorgetragen, erörtert und begründet wurden, noch die Forderung hinzugetreten, einen besonderen Bearbeiter für ostpreußische Angelegenheiten im Auswärtigen Amt einzusetzen, der ein „aus Ostpreußen stammender und mit den Verhältnissen dieser Provinz vertrauter Referent" sein sollte. Beide Restfragen wollte das Reichskabinett am folgenden Tage beraten. Inzwischen hatte Koch-Weser neue Pläne für Preußen entwickelt.35 In diesem Zusammenhang befaßte sich die Reichsregierung gemeinsam mit den preußischen Ministern am nächsten Tage mit dem Vorschlag der Ernennung eines Reichs- und preußischen Staatsministers für die besetzten Gebiete, den Reichsminister Bell, und mit dem Projekt einer Personalunion zwischen dem Reichsinnenminister und dem preußischen Innenminister, das David unterstützte. Koch ergänzte sein anfängliches Programm überdies nach den Ostpreußen-Verhandlungen vom 9. März, die Gunst der Aktualität ausnutzend, durch den Antrag, einen Reichs- und Staatskommissar für Ostpreußen einzusetzen, der allerdings seinen Sitz in Berlin haben und als unbürokratischer ständiger Beauftragter beider Regierungen, aber nicht etwa als Chef einer autonomen Provinzialverwaltung tätig werden sollte.38 Die Minister35
Aufzeichnung v o m 6 . 3 . 1 9 2 0 , Nachl. Koch-Weser, N r . 21.
38
Aufzeichnung Koch-Wesers v o m 10. 3 . 1 9 2 0 . Bemerkenswert ist in der Begrün-
dung, die Koch gab, der H i n w e i s auf die Leistungsschwache der Ministerialbürokratie in wirtschaftlichen Fragen, „ . . . daß die Bürokratie schon vor dem Kriege den großen Wirtschaftsfragen nicht mehr gewachsen sei, daß sie aber heute die plötzlichen Entscheidungen, die die abgetrennten Gebiete verlangten, bei ihrer Schwerfälligkeit und Vielgestaltigkeit einfach nicht leisten könne". D a v o n waren jedoch die preußischen Minister nicht zu überzeugen. Koch bemerkte hierzu: „ D i e Preußen sind hart wie immer und wollen nichts als eine preußische Stelle schaffen. D a s wird dann irgendeine Regierungsstelle, die ein bißchen verwaltet, aber keine Politik macht, sich nicht bei den Reichsstellen durchsetzt und keine politische Verantwortung
trägt.
Außerdem wollen die Ostpreußen einen Reichskommissar in Königsberg, der in Personalunion mit dem Oberpräsidenten stehen soll, und einen
Bezirkswirtschaftsrat,
die berechtigt sein sollen, alle wirtschaftlichen Reichsgesetze außer Kraft z u setzen. D a s ist natürlich eine Unmöglichkeit, zumal Ostpreußen ohnehin nichts abliefert. U n d Winnig, der sich durch seine Nicht-Ablieferung beliebt macht und auch politisch schwach ist, kann als Reichskommissar gar nicht in Frage kommen." U n d kurz
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
275
sitzung verlief für alle Beteiligten unerfreulich und mit einem Zwischenspiel, das die Ostpreußen als Demütigung empfanden und das sie arg verschnupfte, 37 so daß die Fortsetzung der Ostpreußenkonferenz am 11. M ä r z , in der Koch die Ergebnisse der Kabinettssitzung vortrug, in der denkbar ungünstigsten Atmosphäre stattfand. 3 8 Zwar begegneten sich beide Regierungen schließlich in der Auffassung, daß die ostpreußischen Sonderbestrebungen angesichts der unsicheren außenpolitischen Lage, in Anbetracht der bisherigen Erfahrungen mit den ostpreußischen Agrarinteressen und der „politisch schwachen H a l t u n g " Winnigs politisch nicht ungefährlich seien und daß man ihnen infolgedessen nicht nachgeben dürfte. Für die Reichsregierung, vor allem für Koch-Weser, bedeutete dies jedoch einen vorläufigen Verzicht, die Gelegenheit für den A n f a n g einer Dezentralisation in Preußen zu nutzen, ohne daß sie eine dauerhafte Konsolidierung ihrer Beziehungen zum Preußischen Staatsministerium erreichte. Der preußische Ministerpräsident verfolgte die Taktik, den von den Ostpreußen ausgehenden Druck unvermindert auf die Reichsregierung wirken zu lassen und sich selbst eines nachgiebigen Tones zu befleißigen. Dadurch geriet der Reichsinnenminister in die Lage, die Abweisung der ostpreußischen Forderungen formulieren und gleichzeitig die Position der preußischen Regierung mit diplomatischer Vorsicht respektieren zu müssen. Was bei dieser Gelegenheit für ihn noch möglich war, geschah dadurch, daß er Vorsorge traf, daß künftig auch das Reich neben Preußen f ü r ostpreußische Sonderwünsche zuständig wurde. Doch ein Ergebnis zugundarauf entfährt ihm angesichts der unfruchtbaren Erörterungen mit den preußischen Ministern der Stoßseufzer: „Fast jeder Deutsche wird, sobald er regiert, ein Bürokrat von Feldwebelkaliber." 3 ' Hirsch hatte aus eigener Initiative der ostpreußischen Delegation ihre Zuziehung zur Sitzung der Reichsregierung zugesagt, dies jedoch dem Kabinett verschwiegen. Als die Ostpreußen erschienen, wurden sie nicht zur Sitzung zugelassen. In dem mehrfachen Hin und Her, das daraufhin entstand, ehe eine Aufklärung möglich war, zog sich die Delegation demonstrativ zurück. (Aufzeichnung KochWeser, ebda.) 38 K a p p und Hassel waren gar nicht mehr erschienen. Koch erwähnt einen Wortwechsel mit Graf Eulenburg, „der persönlich unverschämt wird", Mißverständnisse („die Versammlung will aber auch mißverstehen") und unerfüllbare Forderungen der Ostpreußen, „großenteils L e u t e . . . , die sich freuen, wenn die Regierung versagt". („Die Leute verlangen gegenüber den polnischen Vertragsbrüchen eine Besetzung der Bahnlinie des Korridors durch deutsche Truppen. Als ob ein neuer Krieg das arme Ostpreußen nicht am meisten gefährden würde.") Erst gegen Ende bemerkte Koch: „Allmählich beruhigt sich jetzt die Stimmung, und die Vernunft bricht sich Bahn." (Aufzeichnung vom 11.3.1920.) 18*
276
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
sten einer Verfassungspolitik der dezentralisierenden Reformen war auf diesem Wege nicht zu erreichen. Die vom Staatsministerium zugesicherte Ostpreußenstelle war als eine Konstruktion gedacht, die ebenso zur Reichsregierung wie zur preußischen Regierung in Beziehung stand, „damit dort die ostpreußischen Wünsche und Beschwerden in Zukunft einheitlich vorgebracht werden könnten". Man einigte sich auf den merkwürdigen Kompromiß, daß der Leiter dieser Stelle als Vertreter des Oberpräsidenten anzusehen und seinen Weisungen unterworfen sein, daß er aber an der Beratung ostpreußischer Fragen sowohl im Reichskabinett als auch im Preußischen Staatsministerium beteiligt werden sollte.39 Doch die Regierungen erklärten sich weder mit der Ernennung eines Reichskommissars für Ostpreußen noch mit der Übertragung besonderer exekutiver Befugnisse oder legislatorischer Ermächtigungen auf einen Wirtschaftsrat bzw. auf den Oberpräsidenten einverstanden. Die Reichsregierung wollte sich zwar in der Nationalversammlung um die Ermächtigung bemühen, für bestimmte Gebiete wirtschaftliche Ausnahmeregelungen zu treffen; sie erkannte jedoch keineswegs eine Sonderstellung Ostpreußens an. Die politisch wichtigen Hauptforderungen der Ostpreußen blieben also unerfüllt. Für die Zukunft ¡stand allenfalls eine wirtschaftliche Sonderbehandlung in Aussicht. Hirsch bemerkte in seinem Schlußwort, daß die Erhaltung Ostpreußens beim Reich in alter Form grundsätzlich entschieden sei; er deutete aber auch die Linie künftiger Kompromisse an, durch entgegenkommende Behandlung wirtschaftlicher Sonderwünsche das Verlangen nach einer politischen Sonderstellung der Provinz aufzuheben. 40 Die Sprecher der ostpreußischen Interessen zeigten sich von diesem Ergebnis freilich nicht befriedigt, so daß von einer wirklichen Einigung am Ende dieser Konferenz kaum die Rede sein kann. Und selbst den Kompromiß, der die Verhandlungen dieser Tage beendete, stellte die innere Krise, den der Marsch der revoltierenden Truppen des Lagers Döberitz auf die Reichshauptstadt am frühen Morgen des 13. März auslöste, einstweilen wieder in Frage. Das überraschende Gelegenheitsbündnis, das der ostpreußische Provinzialpolitiker Kapp mit General v. Lüttwitz und den Führern der 39
Dieses letzte Zugeständnis wurde nach dem Kapp-Putsch nicht erfüllt.
40
Etwas ausführlicher als die Niederschrift über die Konferenz berichtet über den
Schlußteil, im besonderen über die Schlußansprache Hirsdis, W T B N r . 481 vom 12. 3. 1920, H A B , Rep. 9 0 / 1 0 6 6 .
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
177
nach den Versailler Bedingungen und den Abrüstungsvorschriften überzähligen, zur Auflösung bestimmten und nunmehr zur Meuterei entschlossenen Truppen einging," und das klägliche Ende dieses Putsches begrenzte auch die erste, zeitweilig dramatisch bewegte Phase der ostpreußischen Autonomiebestrebungen. Dem verzweifelten „Alles oder Nichts" der revoltierenden Militärs, dem sich der ehrgeizige ostpreußische Generallandschaftsdirektor mit Unterstützung seines provinziellen Anhangs anvertraute, ohne in den Rechtsparteien des Reichsgebiets Boden zu gewinnen, verschaffte ihm f ü r wenige Tage die Gelegenheit, nach der Reichspolitik zu greifen und sich selbst an die Spitze der Regierungen des Reiches und Preußens aufzuschwingen und damit den ersten Versuch seit 1918 zu unternehmen, Reichskanzleramt und preußische Ministerpräsidentenschaft wieder in einer H a n d zu vereinigen. 42 41 Die Vorgeschichte des Kapp-Putsches ist noch nicht in allen Einzelheiten a u f geklärt. Einem zusammenfassenden Bericht, den der Staatskommissar f ü r die öffentliche O r d n u n g , Gesandter v. Berger, nach dem Rücktritt von seinem A m t e erstattete, l ä ß t sich entnehmen, d a ß die Verbindung zwischen K a p p und L ü t t w i t z erst im letzten Augenblick, k u r z vor Beginn des Putsches, also nach dem Scheitern der Ostp r e u ß e n k o n f e r e n z in Berlin, zustande k a m . „ O b v o r dem 13. 3. 1920 irgendwelche Abmachungen zwischen K a p p u n d dem General v. L ü t t w i t z bestanden haben, ob die Einsetzung einer Regierung K a p p v o n L ü t t w i t z vor dem 13.3. beabsichtigt w a r , darüber sind vorläufig positive Tatsachen noch nicht bekannt. Wenn solche Abmachungen bestanden haben, müssen sie ganz vertraulicher N a t u r gewesen sein; u n d die entsprechenden Vorkehrungen müssen so verborgen gepflogen worden sein, d a ß O r g a n e der Regierung nicht im Stande waren, Kenntnis zu erlangen." (Verv. D e n k schrift „Die Tätigkeit des Staatskommissars f ü r die öffentliche O r d n u n g , anläßlich des Staatsstreiches am 13. 3. 1920", undatiert, BA, R 43 1/2305.) Dieses Urteil verdient besonderen Wert in Anbetracht des Umstandes, d a ß Berger selbst nicht als Unbeteiligter gelten k a n n , da sich die Generäle v. L ü t t w i t z u n d v. Oldershausen am 5. und 6. M ä r z seiner bedienten, um ihre Vorstellungen u n d Forderungen an den Reichspräsidenten heranzutragen, der d a n n nach Vermittlung des Staatskommissars die Generäle v. Lüttwitz, v. O v e n u n d v. Oldershausen zu einer Aussprache empfing. Nach dem Scheitern dieser Vermittlungsaktion, die dem Putsch voraufging, reichte der Staatskommissar am 8. M ä r z sein Rücktrittsgesuch ein. W ä h r e n d des Putsches unterstützte Berger d a n n die Vermittlungsaktion des Generals Maerker bei der nach Stuttgart geflohenen Reichsregierung. Sein Bericht vom 8. 3. 1920 an den Präsidenten des Preußischen Staatsministeriums, den auch der Reichskanzler u n d mehrere Minister des Reiches u n d Preußens erhielten, sein Rücktrittsgesuch wie die zu seiner Rechtfertigung v e r f a ß t e Denkschrift enthalten autoritativ klingende positive Interpretationen der Absichten der mit der L ü t t w i t z - G r u p p e identifizierten „Rc-chtsbewegung", der Berger offenbar große Chancen gab, „da ihr mit gewaltsamen Mitteln nicht zu begegnen ist". (Bericht vom 8 . 3 . 1920, BA, R 43 1/2305.) 1,2
Koch-Weser vermerkte über ein Gespräch „am Dienstag" (wohl der 16. März,
II. Reichspolitik
278
und
Föderalismus
Der Fehlschlag dieses unbesonnenen Unternehmens war von Anfang an unausbleiblich. „Diese alten Preußen von [der] Art des Herrn Kapp sind Meister in der Behandlung der äußeren Dinge dieser Welt, aber Stümper in der Behandlung der Menschen", schrieb Koch-Weser in der kontemplativen Ruhe seines D-Zug-Abteils, das er mehr mit der Ironie eines selbstbewußten Überlegenen als eines Flüchtenden betreten hatte. „Technisch ist der Aufruhr glänzend vorbereitet, psychologisch ist er Fuscherarbeit. Technisch ist Herr Kapp ein Bonaparte, psychisch ein Hauptmann von Köpenick. So macht man Revolten, aber keine Revolutionen". 43 Hierfür waren freilich ehemalige Königlich preußische Generäle und Stabsoffiziere von Haus aus ebensowenig geeignet wie der ostpreußische Generallandschaftsdirektor. Die Entscheidungen, die diesem Mann nur persönliches Unglück brachten, zeitigten indessen, obgleich die Reichsregierung und Nationalversammlung bald wieder Herren der Lage waren, Auswirkungen, die die noch wenig konsolidierten Verhältnisse nach vielen Seiten hin wieder in Fluß brachten. Reichspräsident und Reichsregierung, mit Ausnahme des Vizekanzlers Schiffer, zogen sich sofort nach Dresden zurück, wo sie eine ängstliche Regierung antrafen, so daß ihre Lage hier kaum sicherer schien als in Berlin. Noch in der nächsten Nacht reisten sie nach Stuttgart weiter. Hier durfte die exilierte Spitze des Reiches des Zusammenbruchs der Rebellion harren. Unter den Reichsministern bewahrte Koch die selbstverständlichste Zuversicht. Mit geradezu enthusiastischem Vergnügen erlebte er den gewaltsamen Abbruch der langweiligen und am Ende festgefahrenen Verhandlungen mit den preußischen Ministern in dem Bewußtsein, jetzt die Zügel in die Hand nehder Tag vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung in Stuttgart) mit einem „hervorragenden
Parteifreund
aus
Ostpreußen"
(vielleicht
dem
späteren
Ober-
präsidenten Siehr), den Koch „fragte, was es mit den Selbständigkeitsbestrebungen Ostpreußens sei, das sich allein doch überhaupt nicht halten könne", worauf er die bemerkenswerte Antwort erhielt: „Solche Vernunft gerade spielte bei H e r r n K a p p keine Rolle. Kapp sei so ehrgeizig, daß er Ostpreußen selbständig machen würde, wenn er nur Aussicht habe, dort acht Tage König zu sein und in das Buch der Geschichte eingetragen
zu werden."
(Nachl. Koch-Weser,
N r . 21, undatiert.)
Das
Charakterbild eines psychopathischen Sonderlings mit anomalen Neigungen, der auch in Rechtskreisen keinen guten Leumund besaß und nur dank seiner Beziehungen zu Ludendorff in Berlin als Politiker ein gewisses Ansehen gewonnen hatte, zeichnet ein undatierter Bericht des Staatskommissars v. Berger „in Sachen K a p p " , BA, R 43 1/2305. 43
„Gedanken auf einer Nachtreise von Dresden nach Stuttgart" (vom 15. 3. 1920),
Nachl. Koch-Weser, N r . 24.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
279
men zu können. 44 Geßler trennte sich in Nürnberg von seinen Ministerkollegen, um sich über die L a g e in München zu unterrichten, wo der Anstoß, den die aus Berlin eintreffenden Nachrichten gaben, bereits genügte, um die Regierungskoalition endgültig zerfallen zu lassen. Wieder setzte eine ereignisreiche Entwicklung ein, deren Verlauf sich in den Ländern und Regionen entschied, ohne daß die Reichsregierung einen nennenswerten Einfluß üben konnte. Mit einem Schlage sieht man Deutschland in mehrere Zonen geteilt. Vollkommen unberührt blieben die Länder des Südwestens, in denen sich die Regierungen der Weimarer Koalitionsparteien behaupteten, Württemberg, Baden und Hessen, 45 die kleinen Länder Norddeutschlands, die Hansestädte und die nördlichen Provinzen Preußens. In der Reichshauptstadt leiteten S P D und Gewerkschaften mit dem Generalstreik die Gegenaktion ein, an der sich die hohen Beamten der preußischen und der Reichsministerien beteiligten 4 ' und die den militärischen Aufstand rasch zum Erliegen brachte. Vier Tage nach Beginn des Aufruhrs sah sich K a p p zum Abtreten und zur Flucht, der größte Teil der Truppen, die Berlin besetzt hielten, zum Abzug gezwungen. Die sich rasch ausbreitende Streikbewegung und die hinter ihr stehenden Kräfte hinderten auch die mit dem Aufruhr sympathisierenden Kreise in den östlichen preußischen Provinzen am Eingreifen, die sich in Schlesien, vor allem aber auch in Ostpreußen regten, wo ein Teil des hohen Beamtentums und die Führer der Reichswehr mit den Herzen auf der Seite K a p p s und des Oberpräsidenten standen, was indessen dank der isolierten Lage dieser Provinz ohne Einfluß auf die Vorgänge im übrigen Reichsgebiet blieb. Lediglich in den beiden Mecklenburg vermochte der dort kommandierende General v. Lettow-Vorbeck die Regierungen vorübergehend zum Rücktritt zu zwingen. 4 ' In den industriellen Gebieten Mitteldeutschlands kam es zu heftigen Machtkämpfen, die erst nach der Niederlage der Putschregierung in Berlin endgültig entschieden wurden. Im Rheinland und in Westfalen löste der Generalstreik einen zunächst erfolgreich verlaufenden Arbeiteraufstand aus, der sich nach dem Zusammenbruch des Kapp-Putsches in einem Aufruhr gegen die Reichsregierung fortpflanzte und erst A n f a n g April gewaltsam und 44 Vgl. Geßler, Reichswehrpolitik, S. 123 f.; so auch das Selbstzeugnis Kochs vom 14.3. in einem Brief an seine Frau. (Kopie im Nachl. Koch-Weser, N r . 25.) 45 Vgl. die Erklärungen, die bei Poetzsdi, J b ö R XIII/1925, S. 4 f., sowie bei Brammer, Fünf Tage Militärdiktatur, S. 37, abgedruckt sind. 4 8 Brammer, a. a. O., S. 52 ff. 4 1 a. a. O., S. 38 f.
280
II. Rcichspolitik
und
Föderalismus
unter Verwendung vorher am Putsch beteiligter Truppen niedergeworfen werden konnte. In Bayern dagegen vollzog sich fast im Stillen eine Gegenbewegung, die der Sozialdemokratie die Regierungsgewalt für immer aus den Händen wand und die die Ära der Bayerischen Volkspartei eröffnete. Im Ganzen bewirkte der Putsch eine wesentliche Veränderung der innenpolitischen Verhältnisse. Für kurze Zeit schien es, als ob die Gewerkschaften dauerhaften Einfluß gewännen; Legien und einige Gewerkschaftsführer befaßten sich sogar vorübergehend mit dem Gedanken einer reinen „Arbeiterregierung". 48 Dem widersetzten sich Bürgertum und Industrie sowie die agrarischen Verbände, die sowohl im Süden wie im Osten Deutschlands bereit waren, in gesammelter Front gegen das vorzurücken, was sie als eine „Entrechtung des Bauernstandes" und als „Verfassungsbruch" verschrien und „mit Einstellung der Bauernarbeit" bekämpfen wollten.'19 Diese merkwürdige „Verfassungstreue" einer von grobschlächtigen Interessen geleiteten Demagogie befand sich in gar erstaunlicher Gemeinschaft mit Forderungen nach radikaler Beseitigung der parlamentarischen Verfassung, nach „schleuniger Schaffung einer mit größerer Machtvollkommenheit versehenen obersten Reichswirtschaftsspitze aller schaffenden Stände", die etwa mit der Ankündigung verknüpft wurden, „sich geschlossen gegen weitere Nichtbeachtung auflehnen" zu wollen. 50 Unter diesem Druck aus zwei einander entgegengesetzten Richtungen mußte die alte Regierung einer festeren Konstruktion weichen. Reichskanzler Bauer wurde von dem bisherigen Reichsaußenminister Hermann Müller abgelöst, der über 48
D i e Frage der Arbeiterregierung, die sicherlich in einem Teil der S P D , einem
Flügel der U S P D und der K P D Unterstützung gefunden hätte, erörtert A. Rosenberg, Entstehung und Geschichte, S. 490 f. Seine Behauptung, daß „in diesem Moment (Ende März) . . . tatsächlich die v o n Legien beherrsdite S P D . . . für die Arbeiterregierung" zu haben war, geht jedoch zu weit. Sie übersieht, daß sich gerade populäre sozialdemokratische Führer wie Ebert, H e r m a n n Müller, auch O t t o Braun, die sich keineswegs ausschalten ließen, niemals auf eine solche Koalition mit den unsicheren Kräften der äußersten Linken eingelassen hätten. Realistisch können allenfalls die Versuche genannt werden, eine stärkere politische Einschaltung der Gewerkschaften zu sichern, die in der Tat in der nächsten Zeit eine größere Rolle spielten. 48
Gemeinsames Telegramm des Christlichen Bayerischen Bauernvereins
(Heim),
des Bayerischen Bauernbundes, des Bundes der Landwirte und des Deutschen Bauernbundes an den Reichskanzler v o m 25. 3. 1920, BA, R 43 1/1864. 50
Telegramm des Deutschen Landbundes an den Reichskanzler v o m 30. 3., BA,
R 43 1/1864; ähnlich ein Telegramm des Pfälzer Bauernvereins v o m 7. 4. 1920, das unumwunden einen agrarischen Generalstreik ankündigte, falls sich die Reichsregierung den Gewerkschaften nicht widersetzen
würde.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
281
eine größere Autorität in der Sozialdemokratie verfügte als sein Vorgänger, sich aber auch gegen die Gewerkschaften stark machte; und Geßler, der bayerische Liberale, der später offen bekannte, daß ihm „die Republik nicht Herzenssache" und daß er „höchstens Vernunftrepublikaner" war, 51 folgte dem umstrittenen Noske als Wehrminister. Koch-Weser, der sich als der stärkste Geist in gefährlicher Stunde erwiesen hatte, blieb weiterhin Reichsinnenminister und löste nunmehr Schiffer als Vizekanzler ab, der mit der Ernennung Seeckts zum Chef der Heeresleitung, die sein Vorgänger, General Reinhardt gewünscht hatte und die Ebert nach mehrmonatigem Zögern Anfang Juni bestätigte, eine überaus wichtige Entscheidung hinterließ. 52 Die „wichtigste Acquisition" war jedoch der neue Reichsfinanzminister, der bisherige Chef des badischen Finanzressorts, Joseph Wirth, der neben Geßler das süddeutsche Element im Reichskabinett verstärkte. 53 Auch Preußen erhielt zur gleichen Zeit eine neue Staatsregierung unter Otto Braun, der von härterer Natur war als sein Vorgänger Hirsch. Gemeinsam mit dem an die Spitze des Innenministeriums rückenden Severing, der sich bei der Bekämpfung des Ruhr-Aufstandes hervorgetan hatte und ebenfalls in breiten Schichten der Sozialdemokratie größeres Ansehen genoß als der Berliner Rechtsanwalt Heine, begann der neue Ministerpräsident nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Reichspolitik 54 den allmählichen Ausbau Preußens zu einem Bollwerk der 51
Geßler, Reichswehrpolitik, S. 130. Vgl. Geßler, a . a . O . , S. 134 und die A u s f ü h r u n g e n Sendtners im Anhang, S. 549 ff., mit dem Nachweis, d a ß diese „entscheidende Weichenstellung" von General R e i n h a r d t ausging, der am Tage des Kapp-Putsches als Chef der Heeresleitung zurüdcgetreten war, weil sein Vorschlag, mit den regierungstreuen T r u p p e n gegen die Putschisten den K a m p f um Berlin a u f z u n e h m e n , nicht durchdrang. Hierdurch wird die Darstellung von Friedrich v. R a b e n a u , Seeckt, S. 228 f., aber auch die von H . G o r d o n , Die Reichswehr und die Weimarer Republik, S. 128 f., ergänzt. In diesem A k t der Übergabe der maßgeblichen Kommandoposition an einen starken M a n n des Militärs darf man eine weitere Station einer eigenständigen „Reichswehrpolitik" sehen, die in der Geschichte der Republik eine allmählich an Bedeutung gewinnende Rolle spielte. (Über die Bestätigung Seedcts: Rabenau, a . a . O . , S. 248.) Auch sie bildete einen Faktor der Reichseinheit, wenn auch zu keiner Zeit den einzigen, wie Rabenau meint (a. a. O., S. 247). 52
53 U n t e r Geßler gelangte eine Reihe hoher bayerischer Offiziere in die Reichsw e h r f ü h r u n g , die den Minister vor der kühlen „Luft in den obersten Regionen des Reichswehrministeriums unter dem Einfluß des Generals v. Seeckt" b e w a h r t e n : der erste Chef des Truppenamtes, Oberst Frh. v. K r e ß , der Chef der Presseabteilung, M a j o r v. Giehrl, und im Stabe Geßlers K a p i t ä n z. S. N e u r e u t h e r und der aus dem Weltkrieg bekannte H a u p t m a n n v. N i e d e r m a y e r . 54 Am 6. J u n i 1920 f a n d die Wahl des ersten Reichstags der Republik statt, die
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
inneren Verwaltung und der inneren Politik, in dem sich die Koalition von Weimar verschanzte. Problem Nummer eins blieb für das Staatsministerium die Behandlung der gefährdeten Grenzgebiete, unter denen die Lösung der oststarke Gewinne der U S P D (81 statt bisher 22 Sitze) wie der Rechtsparteien, D N V P (66 statt 42), D V P (62 statt 22 Mandate) und B V P (erstmals eine eigene Fraktion mit 20 Abgeordneten), brachte, die Weimarer Koalition zu einer Minderheit werden (mit insgesamt 227 statt bisher 327 M a n d a t e n ) und n u r noch die Alternative G r o ß e Koalition oder Minderheitsregierung übrig ließ. D a die Sozialdemokraten eine Regierungsbeteiligung ablehnten, k a m nur die bürgerliche Minderheitsregierung Fehrenbach-Heinze (Zentrum, D V P , D D P ) zustande, die im Verhältnis zur v o r a u f g e g a n genen Reichsregierung im wesentlichen lediglich eine Ablösung der sozialdemokratischen Minister durch M ä n n e r darstellte, die die Deutsche Volkspartei präsentierte. Ihre elfmonatige Amtszeit zählte d a n n zu den längsten Regierungsperioden
im
ersten J a h r z e h n t der Republik. Im übrigen m u ß darauf hingewiesen werden, d a ß der verhältnismäßig häufige Wechsel der Reichskanzler bei weitem nicht im gleichen M a ß e Wechsel in der Reichspolitik brachte u n d nicht über die K o n t i n u i t ä t e n an der Spitze wichtiger Ressorts hinwegtäuschen d a r f : Die Außenpolitik lag immerhin länger als sechs J a h r e (August 1923 bis O k t o b e r 1929) in den H ä n d e n
Stresemanns;
an der Spitze des Reichswehrministeriums stand fast acht J a h r e hindurch (März 1920 bis J a n u a r 1928) Geßler, d a n n f ü r vier J a h r e ( J a n u a r 1928 bis Mai 1932) General Groener, der in einer f r ü h e r e n Periode der Republik drei J a h r e hindurch — in vier Kabinetten — Reichsverkehrsminister w a r (Juni 1920 bis August 1923). D e m Reichswirtschaftsressort standen w ä h r e n d der letzten sieben J a h r e der Republik
(Januar
1926 bis J a n u a r 1933), v o n einer kurzen Unterbrechung abgesehen, n u r zwei M ä n ner vor, Curtius und W a r m b o l d .
Das Reichsarbeitsministerium w u r d e acht J a h r e
hindurch, in zwölf Kabinetten, (Juni 1920 bis J u n i 1928) v o n dem Z e n t r u m s m a n n Heinrich Brauns geleitet u n d das Reichspostministerium immerhin in sechs Kabinetten (Februar 1919 bis N o v e m b e r 1921) von Giesberts u n d später über fünf J a h r e ( J a n u a r 1927 bis Mai 1932) von dem Bayern Schätzel. Die verhältnismäßig a u f fällige K o n t i n u i t ä t in den letztgenannten Ressorts ergab sich in Rücksicht auf die Ü b e r n a h m e wichtiger Verwaltungszweige aus dem Hoheitsbereich der Länder. Das Reichspostministerium b e f a n d sich in der Periode der Postabfindungsverhandlungen zwischen Reich und L ä n d e r n nach der Stabilisierung siebeneinhalb J a h r e
(Januar
1925 bis Mai 1932) immer in der H a n d eines Mannes der B V P . D a s Reichsinnenressort u n d das Reichsfinanzministerium dagegen blieben die ewigen O p f e r häufiger Wechsel in der Leitung, deren Ergebnis in der wachsenden Bedeutung der Staatssekretäre dieser Ministerien lag, die allein schon an ihrer verhältnismäßig häufigen Teilnahme an Reichskabinettssitzungen zu erkennen ist. Koch-Weser behauptete vom O k t o b e r 1919 bis zum Mai 1921 die längste Amtszeit an der Spitze des Reichsinnenministeriums bis zum A m t s a n t r i t t Severings (Juni 1928), der zwei M o n a t e länger in diesem Ministerium blieb. H i e r wuchs Staatssekretär Zwegert zwischen E n d e 1921 und Mai 1932 zum wichtigsten M a n n h e r a n ; im Reichsfinanzministerium
wurde
dies im L a u f e der J a h r e 1925/26 Popitz, der es bis Jahresende 1929 blieb. Tatsächlich begann im Sommer 1920 die Ä r a des bürgerlichen Regiments in der Reichspolitik und endete die Koalition der Linken.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
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preußischen Frage am dringendsten erschien. Die Provinzen mit Abstimmungsgebieten, Ostpreußen, Schleswig-Holstein und Oberschlesien, blieben von der auf den 6. Juni 1920 festgesetzten Reichstagswahl ausgenommen und damit einstweilen auf künstliche Weise vor dem mit voller Schärfe einsetzenden Parteienkampf bewahrt. Dennoch bewirkte der Kapp-Putsch in seinen weiteren Folgen auch im agrarischen Osten eine stärkere Absetzung der politischen Gegensätze, womit auch die Forderungen und Fragen, die auf der Berliner Ostpreußenkonferenz ungelöst geblieben waren, erneut in den Vordergrund gelangten und sich mehrfadi komplizierten. Die auflebenden Diskussionen über rechtliche Stellung und Zusammensetzung eines Bezirkswirtschaftsrats in Ostpreußen standen fortan unter dem Vorzeichen einer stärkeren politischen Einschaltung der Gewerkschaften, die danach trachteten, die Frage der Schaffung einer solchen Einrichtung gleichmäßig f ü r das ganze Reichsgebiet zu lösen. Dies beschwor eine scharfe Opposition der agrarischen Interessentenkreise herauf, die eine besondere Behandlung agrarischer Gebiete und namentlich Ostpreußens verlangten, um ihr eigenes Gewicht, das sie nun einmal innerhalb des Wirtschaftsaufbaus dieser Gegenden besaßen, auch in den wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften zur Geltung zu bringen. Die preußische Staatsregierung sah sich in ihrem Bestreben, durch eigene Maßnahmen von der drängenden Initiative der Reichsregierung loszukommen und ihre universale Zuständigkeit auch f ü r alle künftigen Regelungen der östlichsten Provinz des Landes zu behaupten, angesichts der stärkeren Ausformung politischer Gegensätze innerhalb Ostpreußens bald wachsenden Schwierigkeiten gegenüber. Mit wachsendem zeitlichen Abstand von den März-Verhandlungen stellten sich daher in den Ressorts zunehmende Bedenken gegen die vereinbarten Lösungen ein, die das Fehlen allgemeiner Grundsätze einer Ostpreußenpolitik auf Seiten der Staatsregierung immer fühlbarer werden ließen. Im Grunde erwies sich hierin die Richtigkeit der von Koch beifallslos festgestellten Unzulänglichkeit der Ministerialbürokratie, mit ungewöhnlichen wirtschaftlichen und politischen Notlagen fertig zu werden; und solange sich die Mitglieder des Staatsministeriums in erster Linie wie Sprecher ihrer Ressorts verhielten, blieb dieser Zustand unverändert. Es fehlte gewiß nicht an einzelnen ausgezeichneten Urteilen und Vorschlägen. Doch sie vermochten meist nicht mehr, als die allgemeine Richtung innerhalb der Ressorts zu bestimmen. Allgemeine Verbindlichkeit erlangten sie erst nach interministeriellen Verhandlungen kraft
284
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
Beschlusses des Staatsministeriums, im günstigsten Falle durch Übertragung der Federführung in bestimmten Angelegenheiten auf ein einziges Ministerium. Aber gerade in den hier interessierenden Fragen klafften die Meinungen während der frühen Periode der republikanischen preußischen Regierung, solange Stellung und Rechte des Ministerpräsidenten noch keineswegs hinreichend definiert waren und sich noch manches Relikt einstiger engerer Verbundenheit mit Ressorts des Reiches erhalten hatte, weiter auseinander als zuvor. Die Stärke und Widerstandskraft der preußischen Ministerialbürokratie beruhte auf ihrem festen Zusammenhang mit den Beamtenkörpern der auf breitem Untergrund ruhenden Verwaltungen, aus denen sich in langerprobten obrigkeitlichen Ausleseverfahren die wirklichen Ganglien der Ressorts regenerierten, die die Erfahrungen, Traditionen und mannigfach empfundenen Verpflichtungen einer jahrelang geübten Fachverwaltung bewahrten und aufhoben. In diesen Bedingungen der preußischen Verwaltungsorganisation lag aber gelegentlich auch eine Schwäche gegenüber der locker geordneten, von der Reichskanzlei koordinierten, teamartigen Arbeit der Reichsministerien begründet, die mit Ausnahme der Reichsfinanzverwaltung über einen solchen Unterbau nicht verfügten. Hier, in diesen kleineren, leichter übersehbaren Kreisen hoher Beamter, wo die internen Fäden der Ministerien in den Händen der Staatssekretäre zusammenliefen, konnte sich in manchen Fällen schneller und erfolgreicher, wenn auch nicht immer ohne Schwierigkeiten, eine enge Zusammenarbeit zwischen Bürokratie und Ministern einstellen als in den großen preußischen Ministerien, wo der Minister zur Unterstützung eigener Pläne meist schon einer breit angelegten, unter den Bedingungen des Beamtenrechts kaum in kürzester Frist zu verwirklichenden Personalpolitik bedurfte, die ihm die zuverlässige Mitarbeit zumindest seiner nächsten Umgebung sicherte.55 Im Jahre 1920 hatten sich indessen derartige Regeln noch keineswegs durchgesetzt, so daß allein die internen Komplikationen, die von so schwierigen Problemen ausgingen wie von dem der ostpreußischen Selbstbestimmung innerhalb des Reiches oder des preußischen Staatsverbandes, noch in Gestalt ungeminderter Gegensätze zutage traten. Das Landwirtschaftsministerium suchte in dieser Zeit wie auch später 55 Natürlich begründeten diese innerministeriellen Gesichtspunkte nur einen Teil der preußischen Beamtenpolitik, die z. B. im preußischen Innenministerium auch noch andere Ursachen hatte, wie von Eberhard P i k a r t , Preußische Beamtenpolitik 1918 bis 1933: V j Z 6. Jg./1958, S. 119—137, dargelegt w o r d e n ist. Vgl. G e r h a r d Schulz, Die A n f ä n g e des totalitären Maßnahmenstaates, S. 478 ff.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
285
dem D r ä n g e n und M a h n e n der ostpreußischen Interessenten entgegenz u k o m m e n . U n t e r der Leitung O t t o Brauns, der dieses Ressort noch eine Z e i t l a n g beibehielt, e m p f a h l es wirtschaftliche Sonderregelungen und blieb es das einzige der preußischen Ministerien, das sich für die Anerkennung
einer ostpreußischen
wirtschaftlichen
Vertretung
sprach. Bei der E r ö r t e r u n g dieser F r a g e entdeckte es einen
aus-
„Zusam-
menhang der ostpreußischen Wünsche mit den namentlich v o n E x z e l lenz D r e w s vertretenen G e d a n k e n der Verleihung größerer Selbständigkeit f ü r alle P r o v i n z e n " und v e r t r a t es die Meinung, d a ß „man an dieser brennenden F r a g e nicht mehr l ä n g e r " werde „vorbeigehen dürf e n " . 5 6 D o c h gerade hierin f a n d es keineswegs Unterstützung bei den anderen Ministerien, die in den Angelegenheiten dieser P r o v i n z teilweise ganz andere politische Ziele verfolgten und allgemein die F r a g e einer
künftigen
Ausgestaltung
der
Provinzialselbstverwaltung
nur
zögernd dem Innenministerium überließen. D e r Christliche G e w e r k schaftsführer A d a m S t e g e r w a l d als Minister f ü r V o l k s w o h l f a h r t
er-
blickte den „Schwerpunkt der O s t p r e u ß e n gegenüber zu verfolgenden P o l i t i k nicht in der Schaffung v o n formalen Einrichtungen, sondern in der Durchführung einer kräftigen Siedlungspolitik" und unterstellte den Interessenvertretern des Großgrundbesitzes, d a ß sie bestrebt seien, „die A u f m e r k s a m k e i t der Regierung von der K o l o n i s a t i o n a b - und mehr a u f allgemeine politische R e f o r m e n zu lenken". 5 7 S o berechtigt der K e r n dieser W a h r n e h m u n g auch war, so wenig e r f a ß t e sie doch die F r a g e der Provinzialselbstverwaltung und erschöpfte sie die P r o b l e m a t i k der wirtschaftlichen Lage Ostpreußens. Auch das „weitvorausschauende Siedlungsprojekt mit starker staatlicher U n t e r s t ü t z u n g " , das S t e g e r w a l d j e t z t schon ankündigte, ließ noch sehr lange a u f sich w a r ten.
In
der weiteren
Erörterung
der O s t p r e u ß e n p o l i t i k
trat
dann
das Ministerium f ü r V o l k s w o h l f a h r t erst zu einem späteren Z e i t p u n k t wieder hervor. D i e nächsten Entscheidungen lagen, unter der Leitung des Ministerpräsidenten, bei den Ministern f ü r Finanzen, f ü r L a n d wirtschaft und H a n d e l . Das
drängende
Verlangen
nach K l ä r u n g
der in O s t p r e u ß e n
als
drückend empfundenen und durch polnische Behinderungen und zeitweilige Sperrung des Durchgangsverkehrs aus dem Reichsgebiet 58
Schreiben
des
Ministers
für
Landwirtschaft,
P r ä s i d e n t e n des S t a a t s m i n i s t e r i u m s v o m 1 . 6 . 1 9 2 0 Rep. 57
Domänen
und
Forsten
an
(beide M a l e O t t o B r a u n ) ,
im den
HAB,
90/1066. Schreiben
des M i n i s t e r s
für
Volkswohlfahrt
m i n i s t e r i u m s v o m 5. 10. 1 9 2 0 , H A B , R e p .
90/1067.
an
den
Präsidenten
dos
Staats-
286
II, Reichspolitik
und
Föderalismus
April 1920 erneut verschärften Situation, das ununterbrochen und in ungewöhnlich heftiger Tonart an das Staatsministerium herangetragen wurde, ließ sich schon deshalb nicht ignorieren, weil nach der MärzKonferenz stets die Einschaltung von Reichsministerien zu gewärtigen war. Noch am Tage vor dem Kapp-Putsch hatte ein Beamter des Oberpräsidiums vom Reichswirtschaftsministerium das Zugeständnis einer allgemeinen Herabsetzung der Ablieferungskontingente f ü r Ostpreußen erreicht.58 Und während der letzten Amtstage des Oberpräsidenten Winnig ging dem Ministerpräsidenten eine dringlich formulierte Mahnung zu, aus „allgemeinen politischen Gründen" umgehend einen Bezirkswirtschaftsrat f ü r Ostpreußen einzuberufen und ein Ermächtigungsgesetz zu erlassen, die er dann an den Reichswirtschaftsminister weiterleitete. 59 D a sich der Gedanke, eine Provinzialselbstverwaltung mit besonderen wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten zu schaffen, in den Plan umwandelte, einen Bezirkswirtschaftsrat zu bilden, wie ihn die Reichsverfassung bereits vorsah, war jetzt zweifellos eine Zuständigkeit des Reiches gegeben. Aber auch das verstärkte politische Gewicht der Gewerkschaften kam zur Geltung, als das Reichsarbeitsministerium unter der Leitung des Sozialdemokraten Schlicke mit den zuständigen preußischen Ministerien Verhandlungen über zwei Verordnungen eröffnete, die die Rechtsgrundlage für Gestalt und Tätigkeit eines „vorläufigen Bezirkswirtschaftsrats von Ostpreußen" schaffen sollten. Offenkundig wurde hier die Ostpreußenfrage als günstige Gelegenheit angesehen, die sich im Sinne eines Präzedenzfalles zugunsten der Gewerkschaften lösen ließ, und damit völlig verkannt. Der eine der Entwürfe bestimmte Aufgaben und Zusammensetzung des Bezirkswirtschaftsrates, während sich der andere mit der Bildung eines besonderen Bezirksarbeiterrates befaßte, den der Artikel 165 der Reichsverfassung vorsah, der jedoch vermutlich bei diesen Verhandlungen als ein Novum unter den derzeitigen Zugeständnissen an die Gewerkschaften auftauchte. Denn es hat den Anschein, daß er die preußische Regierung überraschte, da sie nach formeller Zustimmung sofort von ihm abrückte. 60 D a ß vielleicht alle unmittelbar Be58 Niederschrift über die Verhandlung im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, H A B , Rep. 90/1066. 59 Telegramm Winnigs an Hirsch vom 2 5 . 3 . 1 9 2 0 und dessen Schreiben an den Reichswirtschaftsminister (Entwurf mit Abgangsvermerk vom 31.3.), HAB, Rep. 90/1066. 60 Im Preußischen Staatsministerium gefertigte Aufzeichnung über eine „Besprechung im Reichsarbeitsministerium über die Schaffung besonderer Vertretungs-
Deientralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
287
teiligten an ein zeitbedingtes Zugeständnis an die Arbeitnehmerseite dachten, ohne große Hoffnungen auf ihre Verwirklichung zu nähren, ließe sich daraus schließen, daß die hervorgehobene hauptsächliche Aufgabe des Arbeiterrates in der Wahrnehmung der Interessen der Arbeiter und Angestellten und der Delegation ihrer Vertreter in den Bezirkswirtschaftsrat lag, eine Aufgabe, die sonst die gewerkschaftlichen Organisationen wahrnehmen sollten. Wahrscheinlich hätte die vorgesehene Ermächtigung der preußischen Regierung, dem Arbeiterrat „ Aufsich ts- und Verwaltungsbefugnisse anderer A r t " zu übertragen, — wie es merkwürdig unbestimmt hieß 61 — diesem, wäre sie Wirklichkeit und von ihr stärkerer Gebrauch gemacht worden, womöglich mehr Bedeutung geben können als dem Bezirkswirtschaftsrat. Es bedurftte nicht erst der späteren Erfahrungen, um von vornherein zu erkennen, daß dies in der Agrarprovinz zu allem anderen als zu einer Befriedigung geführt hätte. Diesem episodischen Wiederauftauchen der Idee der Arbeiterräte in der Gestalt einer ostpreußischen Provinzialinstitution wird man daher wohl keine sonderliche Bedeutung beilegen dürfen. Der Entwurf der Verordnung über den vorläufigen Bezirkswirtschaftsrat war ungleich umfangreicher, sorgfältiger und gründlicher ausgearbeitet, wenngleich er auch keineswegs die geforderte Institution mit legislatorischen, exekutiven oder administrativen Ermächtigungen schaffen wollte.' 2 Ein großer Teil der vorgesehenen Bestimmungen bekörperschaften in Ostpreußen am 16.3. 1920" mit den Texten der Verordnungsentwürfe, HAB, Rep. 90/1066. Sie stellt fest, daß preußischerseits zwar grundsätzlich auch dem Entwurf einer Verordnung über den Bezirksarbeiterrat zugestimmt, jedoch in diesem Fall eine provisorische Regelung für Ostpreußen abgelehnt werde, da hiervon eine Verzögerung der anderen Verordnung zu befürchten sei. In der Sache hieß das nichts anderes, als daß man dieser Verordnung eben nicht zustimmte, was aber offenbar nicht deutlich in Erscheinung treten sollte. Die Begründung war übrigens sicherlich berechtigt: Es sei „kaum anzunehmen, daß es gelingen würde, die Verordnung über den Bezirksarbeiterrat in der kurzen, noch zur Verfügung stehenden Zeit in dem Ausschuß der Nationalversammlung durchzubringen; denn diese Verordnung würde zu erheblich mehr Kontroversen Anlaß geben als die über den Bezirkswirtschaftsrat". " Art. 165 Abs. 5 der Reichsverfassung lautete etwas anders: „Den Arbeiter- und Wirtschaftsräten können auf den ihnen überwiesenen Gebieten Kontroll- und Verwaltungsbefugnisse übertragen werden." 62 Als Aufgaben des Bezirkswirtschaftsrates nannte der Entwurf (§ 15): „Die wirtschaftlichen Interessen der Provinz Ostpreußen und der mit ihr zu einem Wirtschaftsbezirk vereinigten Landesteile wahrzunehmen sowie eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und eine angemessene Berücksich-
288
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
schäftigte sich mit der Zusammensetzung des
Bezirkswirtschaftsrates
und mit der Regelung seiner Beziehungen zur Staatsregierung, die eine solche Fülle von Eingriffsrechten erhielt, d a ß v o m Selbstverwaltungsprinzip nur wenig übrig blieb. D i e Staatsregierung sollte die Z a h l der Mitglieder und ihre Aufschlüsselung a u f die
repräsentationsfähigen
sozialen G r u p p e n bestimmen; sie k o n n t e außerdem die A u f n a h m e von V e r t r e t e r n besonders wichtiger Betriebe verfügen und weitere zur B e stellung von V e r t r e t e r n berechtigte Körperschaften bestimmen sowie Vorschriften über die Besetzung von Ausschüssen erlassen. Sie sollte die Geschäftsordnung des Bezirkswirtschaftsrates genehmigen und ebenso wie die Reichsregierung und der vorbereitende Reichswirtschaftsrat über alle Sitzungen unterrichtet werden, zu denen diese drei Instanzen auch nach freiem Ermessen eigene V e r t r e t e r entsenden durften, die in jedem F a l l e gehört werden mußten. D a n a c h w ä r e der
Bezirkswirt-
schaftsrat w o h l zu einer A r t B e i r a t der Regierungen in wirtschaftlichen F r a g e n der P r o v i n z geworden, vielleicht dazu geeignet, den unmittelbaren D r u c k von Interessengruppen
auf Provinzialverwaltung
und
Ministerien abzufangen und unter beider K o n t r o l l e zu neutralisieren. Staatsregierung und Reichswirtschaftsministerium beeilten sich, diese V e r o r d n u n g über den vorläufigen Bezirkswirtschaftsrat von O s t p r e u ß e n im Reichsrat durchzubringen. 6 3 Doch gleich nach ihrem B e k a n n t werden machten sich so starke B e d e n k e n geltend, d a ß die preußische Regierung sie noch v o r E i n t r i t t in die V e r h a n d l u n g e n wieder von der Tagesordnung absetzen l i e ß . " W e r hinter diesen Bedenken zu suchen tigung der allgemeinen Verbraucherinteressen herbeizuführen." Um den besonderen Forderungen Ostpreußens zu entsprechen» sollte er 1. „vor Erlaß von Bestimmungen auf wirtschaftlichem oder sozialem Gebiet, die den Bezirk allein oder
vor-
wiegend betreffen oder für diesen von besonderer Bedeutung sind, gehört werden" und 2. „die Reichs- und Landesbehörden unmittelbar auf wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse des Bezirks hinweisen und Vorschläge für deren Befriedigung machen" können. Außerdem sollte er natürlich die den Bezirkswirtschaftsräten allgemein zugedachten Aufgaben übernehmen: die nach dem Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 (RGBl, S. 147) dem Bezirkswirtschaftsrat übertragene Tätigkeit ausüben und sich gutachtlich zu den Berichten und Eingaben der Kammern des Wirtschaftsbezirkes an die Zentralbehörden äußern; „zu diesem Zweck sorgt die Staatsregierung dafür, daß der vorläufige Bezirkswirtschaftsrat
von derartigen Gutachten und Berichten
umgehend Kenntnis erhält." 83
Sie ging dem Reichsrat am 28. April 1920 zu, D r S R R Jg. 1920, N r . 138.
64
Ein handschriftlicher Referentenvermerk
im Staatsministerium vom
6.5.1920
enthält die Mitteilung über die Absetzung des Entwurfs von der Tagesordnung der nächsten Reichsratssitzung. „Da die Vorlage im wesentlichen eine Blankettvollmacht für die preußische Staatsregierung darstellt, ist vereinbart worden, daß zunächst in
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
289
war, zeigte sich, als das Staatsministerium wenig später eine Regierungskommission nach Königsberg entsandte, die in einer Konferenz mit Vertretern des ostpreußischen Wirtschaftslebens die bittere Erfahrung machen mußte, daß nicht nur die Sprecher der Großlandwirtschaft, sondern nicht weniger nachdrücklich die Repräsentanten der kommunalen wie der wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften, der staatlichen Behörden, der Arbeitgeber wie der Arbeitnehmer wieder zu einem geschlossenen Widerstand gegen die in Berlin ausgearbeitete Verordnung zusammengefunden hatten und jede Beratung des Entwurfs ablehnten. 95 Die vorgesehene Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern verärgerte beide Partner, weil sie keine präjudizierende Klärung von Fragen wünschten, die im gesamten Reichsgebiet noch nicht geregelt waren, indessen alsbald geregelt werden sollten, wobei sich offenbar jeder im Besitz der jeweils günstigeren Chancen wähnte. Überdies wurden gewiß nicht grundlose Bedenken angemeldet, daß in dem vorgesehenen Bezirkswirtschaftsrat kein „schnell arbeitendes Gremium" zustande kommen werde, sondern lediglich eine Versammlung, die sich nur mit inneren Meinungsverschiedenheiten beschäftigen und kaum in Berlin Einfluß gewinnen könne. Die Konstruktion dieses Rates wich zu weit von den Vorschlägen ab, die Ostpreußen vor der Märzkonferenz der Staatsregierung unterbreitet hatte. Dieses Ergebnis wurde daher nur als unechtes Zugeständnis empfunden, f ü r das sich in Ostpreußen niemand mehr erwärmte. Infolgedessen beantragten die Sitzungsteilnehmer einstimmig, diesen Entwurf endgültig zurückzuziehen," und erklärten sie ihren Wunsch auf Bildung eines ostpreußischen Wirtschaftsrats f ü r erledigt. Sie zogen jetzt ein kleineres, arbeitsfähiges Sachverständigen-Kollegium zur ständigen Beratung des Oberpräsidenten der ungewissen Größe eines mit unklaren Befugnissen ausgestatteten Bezirkswirtschaftsrats vor. Allerdings hatte man die alten Hoffnungen auf ein ostpreußisches Ermächtigungsgesetz noch keineswegs begraben, sondern glaubte gerade jetzt, durch Beschränkung in der Königsberg noch über Ausfüllung der Blankettbestimmungen zwischen einigen Ministerialkommissaren . . . sowie Vertretern Ostpreußens verhandelt wird." H A B , Rep. 90/1066. 65 Schreiben des Ministers f ü r H a n d e l und Gewerbe Fischbeck an den Präsidenten des Staatsministenums vom 18.5. 1920 mit „Aufzeichnung über die Sitzung am 14. Mai 1920 in Königsberg", H A B , Rep. 90/1066. 86 Das geschah d a n n auch ausdrücklich in der 51. Reichsratssitzung am 24. 6. 1920 (Nied V R R Jg. 1920, § 634).
19 Schulz I
290
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
einen Frage einer für Ostpreußen günstigen Klärung der anderen neue Aussichten zu eröffnen." Diese taktisch gedachte Bescheidung der Königsberger Konferenzteilnehmer kam einer Entwicklung zugute, die bei dem dauernden Verzicht der Staatsregierung auf den Ausbau von Institutionen der Provinzialselbstverwaltung am Ende nur die politische Stellung des stärksten wirtschaftlichen Interessenten, des Grundbesitzes, festigte. Bereits kurze Zeit nach dem Kapp-Putsch war ein „Wirtschaftsausschuß der Ostpreußischen Landwirtschaft" hervorgetreten, der nun unter der Führung des Generallandschaftsdirektors v. Hippel, 68 des Nachfolgers Kapps, mehr und mehr als selbstgestaltete Interessenvertretung der vom Großgrundbesitz beherrschten Landwirtschaft in den Vordergrund rückte. Hippel setzte die Politik der Drohungen fort, hielt der Staatsregierung ihre „nicht eingelösten" Zusagen vor und belehrte sie, daß es „ein Irrtum [sei] anzunehmen, daß Ostpreußen sich mit dem jetzigen Zustand abgefunden" habe." E r unterstellte ihr, daß sie sich „einer notwendigen, schwierigen Lage" zu entziehen trachte, und wiederholte nicht nur die bekannte Forderung nach einem Ermächtigungsgesetz, sondern griff erneut auf das Projekt eines ostpreußischen Wirtschaftsausschusses zurück, das sich zwar nunmehr erledigt hatte, was die agrarischen Interessenten indessen nicht hinderte, ihren Vorstoß auch mit dieser Nichterfüllung des „vereinbarten Programms" zu begründen. Die Ungeduld, mit der diese Forderungen vorgetragen wurden, äußerte sich nicht nur in der verschärften Tonart der Eingaben des Wirtschaftsausschusses, sondern auch in übertrieben selbstbewußten Hinweisen auf die eigene Stärke und in primitiv anmutender Rücksichtslosigkeit, in der man mit den Berliner Regierungen umsprang: Die ostpreußische Landwirtschaft sei „durdi ihre vollkommen durch67
Dies läßt sich aus einer ergänzenden Mitteilung des Handelsministers an den
Präsidenten des Staatsministeriums vom 19. 5 . 1 9 2 0 entnehmen. In diesem Schreiben ließ Fischbeck keinen Zweifel darüber, daß er selbst ein solches Ermächtigungsgesetz nicht befürwortete. Seiner Auffassung nach sollte es aber „wesentlich
zur
Beruhigung der Ostpreußen beitragen, wenn die zugesagte Ostpreußenstelle" als Vertretung des Oberpräsidenten in Berlin „umgehend eingerichtet würde". H A B , Rep. 90/1066. •8 Eine Darstellung der politisch wie wirtschaftlich außerordentlich einflußreichen Stellung des Generallandschaftsdirektors bei dem chronischen, immer schlimmere Folgen zeitigen Kapitalmangel der Landwirtschaft in Ostpreußen möchte der Verf. einer anderen Arbeit vorbehalten. "
Schreiben Hippels namens des Wirtschaftsausschusses an das Staatsministerium
vom 28. 8. 1920, H A B , Rep. 9 0 / 1 0 6 7 .
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
291
geführte Organisation stark genug, sich . . . mit Erfolg zu widersetzen. Es liegt aber in dringendem nationalen Interesse, der Provinz innere Kämpfe zu ersparen".' 0 Diese Bestrebungen fielen mit ähnlichen, allerdings anders begründeten zusammen, die Vertreter der westdeutschen Schwerindustrie im Verein mit süddeutschen und hanseatischen Interessenten in anders ausgeprägten Wirtschaftsgebieten Deutschlands verfolgten und die in einer Konferenz in Essen am 2. Oktober mit einer heftigen Kritik an der Wirtschaftspolitik des Reiches in das helle Licht der Öffentlichkeit traten. Das Verlangen nach wirtschaftlicher Autonomie schien jetzt zu einem Schlagwort zu werden, das nicht nur den preußischen Einheitsstaat bedrohte. Als dann auch bei einem Aufenthalt in Königsberg Anfang Oktober der Reichspräsident und der Reichswirtschaftsminister mit einer Fülle von Klagen über die Lage der Provinz bestürmt wurden,71 schien eine schnelle Regelung der ostpreußischen Frage, ehe sie sich zur allgemeinen Beunruhigung auswuchs, nunmehr unumgänglich. Handelsminister Fischbeck riet nach wie vor ganz entschieden davon ab, irgendeine „Autonomie" zu gewähren, da sie „mit den allgemeinen preußischen und deutschen Wirtschaftsinteressen schlechterdings unvereinbar sei". Er empfahl, „die Mißstimmung in Ostpreußen . . . dadurch zu bekämpfen . . . , daß die allgemeine Wirtschaftspolitik des Reiches wie die innere Politik Preußens sich in gesunden Bahnen bewegten, nicht aber durch Sondermaßnahmen zu Gunsten einer Provinz, die in ihren weiteren Auswirkungen nur zu einem Zerfall der Wirtschaftseinheit und damit der politischen Einheit des Reiches führen können". 72 Das Gewicht dieses Votums und der letzten Erfahrungen drückte sidi dann in der schärferen Konturierung der Schreiben „an den H e r r n Reichslandwirtschaftsminister" vom 2. 1 0 . 1 9 2 0
70
schrift a. a. O.). Den unmittelbaren Anlaß bildete eine vom Oberpräsidenten fügte 85
Beschränkung
Pfennig.
1,10 Mark
(In
des Verkaufspreises
den stärker bevölkerten
angestiegen.)
Der
für
Milch
Reichsgebieten
Landwirtschaftsausschuß
Siehr sei dem „politischen Terror"
innerhalb
der
(Abver-
Provinz
auf
war er inzwischen
auf
behauptete,
Oberpräsident
der Konsumenten erlegen und der
„Straßen-
terror" diktiere die „Lebensbedingungen" der ostpreußischen Landwirtschaft. Diese maßlose Sprache selbst aus Anlässen von begrenzter Bedeutung hat sich in den späteren Jahren einer objektiven Krisenlage der Landwirtschaft nach Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung in unvorstellbarer Weise gesteigert. 71
Mitteilung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei Albert an den Staatssekre-
tär des Staatsministeriums Göhre vom 8. 10. 1920, a. a. O. 72
Schreiben Fischbedcs an den Präsidenten des Staatsministeriums vom 8. 10. 1920,
a. a . O . 19»
292
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Ostpreußenpolitik des Staatsministeriums aus, die wieder zu den Ergebnissen der Märzkonferenz zurückkehrte und an dem Grundsatz festhielt, weder eine wirtschaftliche Autonomie noch ein Ermächtigungsgesetz f ü r Ostpreußen zu erörtern, dafür aber der Provinz „in Einzelfragen möglichst" entgegenzukommen. 73 Eine sogenannte zweite Ostpreußenkonferenz, die am 26. Oktober 1920 in Berlin stattfand, im Unterschied zur ersten jedoch nur die Spitzen von Reichs- und preußischen Ressorts ohne Beteiligung von Vertretern Ostpreußens zusammenführte, ergab darin Übereinstimmung, die Politik des Reiches und Preußens künftig auf diese Linie festzulegen. 74 Die wirtschaftlichen Zugeständnisse an die Provinz beschränkten sich allerdings auf den engsten nur denkbaren Rahmen, auf generelle Frachtkostenermäßigung und auf besondere Befugnisse eines Delegierten des Wirtschaftsministeriums f ü r Ein- und Ausfuhr, die dem Handelsverkehr der Provinz zugute kommen sollten. U m die Stellung des Oberpräsidenten innerhalb der Provinz in Anbetracht der f ü r ihn schwierig werdenden Lage zu verbessern, griff man eine Anregung auf, die vom preußischen Finanzminister ausging, den Oberpräsidenten zu beauftragen, „eine Sachverständigenkörperschaft nach freier Vereinbarung aller beteiligten Kreise zusammenzusetzen und mit einer Verfassung auszustatten". Die Erfahrungen mit dieser Körperschaft sollten später bei der allgemeinen Gesetzgebung über die Wirtschaftsräte berücksichtigt werden. 75 Damit konnte dem Oberpräsidenten eine Unterstützung, der Provinz eine repräsentative, die Zentralbehörden wenig belastende wirtschaftliche Körperschaft gegeben und zugleich das für das Reich und Preußen gleichermaßen peinliche Problem der nach Verfassungsvorschrift zu errichtenden Bezirkswirtschaftsräte vorläufig umgangen werden. Oberpräsident Siehr erfüllte diesen Auftrag noch vor 73
Aktenvortrag v o m 26. 10. 1920 mit Paraphe v o n N o b i s , a. a. O.
" D e r offiziellen K o n f e r e n z ging eine „Vorbesprechung" im Reichskanzlerhause am 25. Oktober voraus, die bereits eine wesentliche Klärung erreichte. (Protokolle a . a . O . ) Als Anwesende sind vermerkt: v o n Seiten der Reichsregierung Reichskanzler Fehrenbach, Reichsinnenminister Koch, Reichswirtschaftsminister Scholz, Reichsschatzminister v. Raumer, Reichsernährungsminister Hermes, die Staatssekretäre Müller,
Schroeder,
Reichspräsidenten, Ministerpräsident
Boye,
Pressechef
Ministerialdirektor Braun,
Heilbron Meißner,
Innenminister
und von
Severing,
der der
Chef
der
preußischen
Handelsminister
Albert,
Kanzlei
des
Regierung
Fischbeck,
die
Staatssekretäre Göhre und R a m m , der Staatskommissar für Volksernährung H a g e dorn u. a. 75
Schreiben des Finanzministers an den Präsidenten des Staatsministeriums v o m
2 6 . 1 0 . 1920, a. a. O.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
293
Preußen
Ablauf des Jahres und umgab sich mit einem wirtschaftsständischen Beirat aus 82 Mitgliedern, von denen aber auf die Landwirtschaft nur eine überaus kleine Gruppe entfiel; 7 ' dafür verfügten die Wirtschaftszweige der Industrie und des Gewerbes, von denen gewiß die wirtschaftliche Zukunftsentwicklung der Provinz abhing, über weit größere Anteile. W ä r e diese systematische Zumessung der wirtschaftlichen Bedeutung vom Staatsministerium ausgegangen, so hätte man darin gewiß eine politische Wegweisung erblicken können, die freilich viel Konsequenz verlangte. So aber blieb dies eine Entscheidung aus dem Ermessen des Oberpräsidenten, die ihm nur starke W o r t e und Demonstrationen der Landwirtschaftsorganisationen eintrug. Dieser Provinzialwirtschaftsrat war kaum noch ein schwacher Abglanz einer Körperschaft mit Selbstverwaltungsrechten, was nun um so schwerer wog, als er die Aufgabe einer Integration aller wirtschaftlichen Interessen der Provinz ohnehin nicht zu erfüllen vermochte. Es nimmt daher kein Wunder, daß ihm keine besondere Rolle zu spielen beschieden war. Die sich mehrenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Provinz ließen sich gewiß nicht mit diesen Mitteln beheben, zu denen nun noch die längere Zeit verzögerte Schaffung der Institution eines „Vertreters des Oberpräsidenten von Ostpreußen im Reichs- und Staatsministerium" hinzutrat. So herrschte weiterhin die Unzufriedenheit in der Landwirtschaft, die sich gegen die Zentralbehörden richtete und mit dem Schlagwort von der vernachlässigten „Kolonie" O s t p r e u ß e n " eine 79
Schreiben des Oberpräsidenten
vom 2 8 . 1. 1921
sowie die v o m
an das Staatsministerium
Oberpräsidenten
v o m 5. 12. 1 9 2 0
erlassene Satzung
des
und
„zunächst
nicht mit staatlichen Funktionen betrauten Provinzialwirtschaftsrats für O s t p r e u ß e n " v o m 2 4 . J a n u a r , in abgeänderter F o r m v o m 14. M ä r z 1 9 2 1 (a. a. O . ) . Z u den 82 M i t gliedern gehörten lediglich 10 „ V e r t r e t e r der ländlichen Arbeitgeber", Landwirtschaftskammern,
einer v o m
Deutschen
Bauernbund
und
5 von
den
lediglich 4
vom
Wirtschaftsausschuß der ostpreußischen Landwirtschaft benannt, dagegen 10 A r b e i t geber aus H a n d e l , Industrie und Gewerbe, 4 aus dem H a n d w e r k , insgesamt 2 4 V e r treter der Arbeitnehmer, darunter
10 v o n den Landarbeitergewerkschaften,
den Freien Gewerkschaften, 2 v o m D G B und v o m schaftsring, ferner V e r t r e t e r der K o m m u n a l v e r b ä n d e ,
Hirsch-Dunckerschen
der Beamtenschaft, der
sumverbände, H a u s f r a u e n v e r b ä n d e usw. D e r Delegationsmodus erkennen, die Beteiligung
des Großgrundbesitzes
von Kon-
läßt das Bemühen
auf einen symbolischen
begrenzen und anderseits die schwach entwickelten gewerblichen
6
Gewerk-
Rest
zu
Wirtschaftszweige
zu stärkerer Geltung zu bringen. 77
Ein
Aufsatz
des Geheimrats
v.
Hippel,
Ostpreußen,
die
deutsche
Kolonie:
Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, VI. J g . / 1 9 2 1 , S. 3 4 9 — 3 5 2 , den der V e r f . dem derzeitigen Ministerpräsidenten zusandte, enthielt eine K l a g e über die Zentralisation, die im Staatsministerium kaum überhört werden durfte, wiewohl der O p t i -
294
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
gefährliche Feindschaft gegen Berlin und die Republik propagierte und der Staatsregierung die Lösung des Problems, zwischen den berechtigten und unberechtigten Forderungen dieser Provinz zu scheiden, nicht eben leicht werden ließ. Der praktisch bedeutungslose Ertrag der getroffenen neuen Regelungen, die bald anwachsenden Klagen der Provinz und eine rasch zunehmende Arbeitslosigkeit in ihren wenigen Industriestädten ließen dann doch auch im Staatsministerium Zweifel aufkommen, „ob sich dieses [bisherige] Verfahren auf die Dauer wird aufrecht erhalten lassen. Das deutsche Reich in seiner augenblicklichen Gestalt ist nun mal kein einheitliches Wirtschaftsgebiet mehr, sondern zerfällt in zwei durch eine unfreundlich gesinnte Macht voneinander getrennte Teile, von denen der kleinere, von lauter fremden Zollgrenzen umgebene, in vieler Hinsicht zu einem Sonderleben gezwungen ist und daher Anspruch hat, daß dieser Tatsache . . . mehr Rechnung getragen wird, als dies bisher vielfach der Fall ist".78 Und der preußische Landwirtschaftsminister äußerte jetzt, daß das Staatsministerium besser täte, auf neuen Wegen „führend voranzugehen, statt den Anschein zu erwecken, daß es sich nur widerwillig vorwärts schieben lasse". An Gelegenheit zu mismus, der sich an eine Selbständigkeit der Provinz knüpfte, weidlich überspannt erscheint: „ . . . nicht eine allgemeine Anordnung enthält die Möglichkeit, sie [die Lebensbedingungen Ostpreußens] der Sonderlage einer Kolonie anzupassen, die, räumlich getrennt, nur an den langen dünnen Fäden einer Eisenbahn und dürftiger Schiffahrt mit dem Vaterlande zusammenhängt. Aus dieser einen Quelle, der Verkennung der wirtschaftlichen Tatsache, daß eine Kolonie wirtschaftspolitische Sonderbedürfnisse hat und daß diese berücksichtigt werden müssen, fließen in immer stärkerem Strom die ostpreußischen Beschwerden und verdichten sich zu dem Gefühl des Vernachlässigtseins. (Es ist Grundsatz der englischen Verwaltungskunst, daß sie ihre Kolonien in der Zugehörigkeit zum Mutterlande wirtschaftliche Vorteile finden läßt, ihnen im übrigen aber freie Hand läßt. Deutschland handelt umgekehrt, es überschüttet Ostpreußen mit Berliner Reglementierung...) . . . gehörte Ostpreußen nicht zum Deutschen Wirtschaftsgebiet, so wäre es in glänzender Lage und könnte leicht die deutschen Lasten mittragen . . . Diese . . . Entwicklung [der ostpreußischen Sonderbestrebungen] ist frei von parteipolitischen Gesichtspunkten oder beruflichen Sonderinteressen. Im Gegenteil, die Wirtschaftslage schafft so starke Gemeinsamkeit aller ostpreußischen Einzelinteressen, daß in der Provinz nur diejenigen Männer noch Gefolgschaft finden, deren Politik auf eine Zusammenfassung eingestellt ist Deutschland hat nur noch eine Kolonie; es sollte sie pflegen." Hier wird der Wechsel von der politischen zur ökonomischen Akzentuierung des ostpreußischen Autonomismus deutlich greifbar. 78
Handschriftl. Entwurf eines Schreibens des Ministerpräsidenten Braun an den preußischen Innenminister mit Abgangsvermerk vom 23.2.1922, HAB, Rep. 90/1067.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
295
positiver Betätigung werde es nicht fehlen." Aber eine wenig später abgefaßte Denkschrift des Oberpräsidenten über ein Ostpreußenprogramm, 80 die eine „berufungslose Sonderbehandlung Ostpreußens in wirtschaftlicher, kultureller und politischer Beziehung" jetzt ebenfalls für nötig hielt, damit „die deutsche Grenze nicht letzten Endes an die Oder zurückgedrängt" werde, erhielt auf einer dritten Ostpreußenkonferenz, zu der diesmal der mittlerweile federführend gewordene preußische Innenminister einlud, trotz lebhafter Unterstützung durch den preußischen Landwirtschaftsminister doch nur Zustimmung zu ihrem allgemeinen Teil, nicht f ü r die Durchführung des in ihr enthaltenen „staatspolitischen Grundsatzes". 81 Mit diesem „Grundsatz" war nichts anderes gemeint als die Wiederkehr der bekannten Forderung nach einer rechtlichen Sonderstellung, die auch Siehr jetzt, wenn auch in einer mit Bedacht gewählten nuancierten Ausdrucksweise vorbrachte. Er umschrieb sie mit dem Vorschlag eines „Ermächtigungsgesetzes in veredelter Form", das er ein „Ermächtigungsgesetz zur Wiederherstellung der Wirtschaftsintensität" nannte, mit einer Stärkung der Stellung des Oberpräsidenten, „um ihm eine einheitliche Führung der gesamten ostpreußischen Wirtsdiafts- und Kulturpolitik und eine spezifische Mitwirkung bei den Problemen der Außenpolitik im Rahmen der preußisch-ostpreußischen Bedürfnisse zu ermöglichen", und mit der Bereitstellung erforderlicher Mittel f ü r den außerordentlichen und den ordentlichen Etat. Das w a r zwar weniger und aucli maßvoller formuliert als die zwei Jahre älteren Forderungen Winnigs, doch in der Substanz nidits wesentlich anderes. U n d was im einzelnen und genau unter den „Äquivalenten" zu verstehen war, „die Ostpreußen instand setzen, der dem Versailler Vertrag innewohnenden Tendenz der völligen Abgrenzung Ostpreußens vom Reich und seiner A u f saugung durch Polen erfolgreich zu widerstehen", blieb vorerst ebenso ungeklärt wie die Erfüllung der vom Oberpräsidenten aufgestellten " Landwirtschaftsminister Wendorff in einem Schreiben an den Innenminister vom 3. 4. 1922, das die Aufforderung enthielt, „alles zu tun, was irgend in ihren [des Reiches und Preußens] Kräften steht. Und selbst wenn das ostpreußische Vorbringen gelegentlich nach Form und Inhalt das wünschenswerte Maß vermissen lassen sollte, so werden dadurch das Reich und Preußen von ihrer Pflicht objektiver und wohlwollender Prüfung nicht frei". HAB, Rep. 90/1067. 80 Vertrauliche Denkschrift vom 1 8 . 4 . 1 9 2 2 (Dienstdruck), 2. Teil: „Das ostpreußische Problem und seine Lösung", a. a. O. 81
„Niederschrift der [3.] Ostpreußen-Konferenz im preußischen Ministerium des Innern vom 12. Mai 1922", a. a. O.
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Forderung nach „Wiederherstellung der innerdeutschen Relativität der Produktionsbedingungen nach dem Vorkriegsstande für Ostpreußen".82 Siehr dürfte wohl gewisse Hoffnungen in die Einbeziehung Ostpreußens in einen stärkeren Wirtschaftsaustausch Deutschlands mit dem weiten russischen Ostraum gesetzt haben,83 die er mit manchem ostpreußischen Konservativen teilte. Wenn auch der wieder aufgenommene Gang der interministeriellen Verhandlungen nur wenig an konkreten Vorhaben zutage förderte, so darf doch von nun an die Wendung zu subsidiären Wirtschaftsprogrammen zugunsten der abgetrennten Provinz nach den gemeinsamen „programmatischen Entschließungen" der Regierungen des Reiches und Preußens als bleibend betrachtet werden. Wir verlassen hier die weitere Entwicklung des ostpreußischen Problems innerhalb der Republik an einem Zeitpunkt, lange bevor es noch größeren Umfang anzunehmen begann, an dem jedoch der uns an dieser Stelle interessierende ebenso komplizierte wie exemplarische Vorgang einer Umsetzung politischer, auf eine größere Selbständigkeit der Provinz zielender Forderungen in ein wirtschaftliches Nothilfe- und Sanierungsprogramm abgeschlossen ist. Denn auch die lautstarke Stimme der agrarischen Opposition begann sich fortan gänzlich auf wirtschaftliche, im besonderen finanzielle Forderungen zu konzentrieren, während die Forderung nach Autonomie jetzt verstummte. Der Einheitscharakter des preußischen Staates blieb unveränderlich auch für Ostpreußen, freilich um den Preis eines fortgesetzt steigenden Bedarfs an wirtschaftlichen Stützungsmaßnahmen verschiedener Art, die ihrer Natur nach jedoch stets nur vorübergehenden Erfolg brachten und von Jahr zu Jahr neue Forderungen und schließlich auch neue und umfangreichere Programme nach sich zogen.
82 Der Vermerk eines Referenten im Staatsministerium bezeichnete die Beschlüsse als „nur allgemeine Richtlinien . . n a c h denen dann an die Verwirklichung der Endzielprogrammpunkte herangegangen werden soll" (a. a. O.). Diese „allgemeinen Richtlinien" wurden in den Sitzungen des Staatsministeriums am 2 3 . 6 . 1922 und vom Reichskabinett am 12. 8. 1922 angenommen, von diesem jedoch mit dem Vorbehalt, „daß diese programmatische Entschließung keine materielle Bindung für künftige Einzelfragen in sich schlösse". (Mitteilung des Reichsinnenministers an den preußischen Ministerpräsidenten vom 21. 8. 1922, ebenfalls HAB, Rep. 90/1067). 83 Ein Zeugnis hierfür könnte in dem Artikel von Ernst Siehr, Ostpreußen als Brücke nach Rußland: Der Wiederaufbau, Zeitschrift f. Weltwirtschaft, hrsg. v. Parvus, Nr. 10/1922—23, S. 145 f., erblickt werden.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
297
Bezirkswirtschaftsräte Blieb es aber schon dem vom Hauptwirtschaftsgebiet des Reiches getrennten, überwiegend agrarischen Ostpreußen versagt, seine Herauslösung aus der zentralisierten Organisation des wiedererstandenen preußischen Staatswesens zu erreichen, so lief der Gedanke einer allgemeinen Dezentralisation von Aufgaben und Rechten der Zentralbehörden auf regionale Selbstverwaltungskörperschaften erst recht erfolglos aus. Auch die Erörterungen über die Einrichtung von Bezirkswirtschaftsräten, die wir hier schon mehrmals berühren mußten und die zeitweilig dem Prinzip der Dezentralisation günstige Gelegenheiten zu verschaffen schienen, unterlagen im weiteren Verlauf des Jahres 1920 dem gleichen Schicksal. Am Ende war es nicht einmal gelungen, bescheidene Ansätze f ü r einen „kommunalisierten" wirtschaftspolitischen Nebenstrang der staatlichen Instanzen zu schaffen, obgleich die von der Reichsverfassung vorgesehenen Bezirkswirtschaftsräte einen Gegenstand ernsthafter Projekte, Verhandlungen und Beratungen bildeten, 84 die ebenso intensiv an Stellen zentraler Zuständigkeit in Berlin wie auf Seiten wirtschaftlicher Interessenten namentlich in der hochindustrialisierten Westzone Preußens gepflegt wurden. Freilich unterlag das engagierte Interesse an der Schaffung dieser Institution seit den Tagen, da sich die „Revolutionsinteressenten", wie Max Weber sie nannte, des Rätegedankens angenommen hatten, sichtbar und zusehends rascher wechselnden Einflüssen. Sommer und Herbst 1920 bezeichnen schließlich eine auslaufende Phase, an deren Ende einzelne Großindustrielle das Heft in die H a n d nahmen, um mit den hohen Beamten der zuständigen Ministerien zu einem Ergebnis zu gelangen, was nun freilich, da dieser Zustand erreicht war, eher in der dauerhaften Verfestigung dieser Beziehung als in einer neuartigen Institution liegen mußte, die ihrer N a t u r nach zum Sammelpunkt mehrerer, ja vieler Interessen am Wirtschaftsprozeß werden sollte. An den letzten voraufgegangenen Stationen dieser Geschichte fällt die fast überall greifbare enge Beziehung zwischen Selbstverwaltungsidee und wirtschaftsständischem Interesse auf, die im übrigen nicht nur auf die zwanziger Jahre beschränkt geblieben ist. Was unter dem Begriff der Bezirkswirtschaftsräte mit wechselnden Ideen verknüpft E< Für den Überblick über das zeitgenössische Schrifttum vgl. Heinrich H e r r f a h r d t , Das Problem der berufsständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart—Berlin 1921, bes. S. 129 ff.
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
wurde und gemeinsam mit dem Reichswirtschaftsrat, der dann tatsächlich, wenn auch in vorläufiger Form, ins Leben trat, die Bestimmungen des Artikels 165 der Reichsverfassung verwirklichen sollte, ist allerdings in vielen Hinsichten widerspruchsvoll. Ein großer Teil der Äußerungen zielte auf Umbildung und öffentlich-rechtliche Verankerung bestehender Berufsvertretungen hin. Man kann von Versuchen zu einer Erweiterung des herkömmlichen gewerblichen Kammerwesens sprechen. Dies wird in dem Plan zur Errichtung von Bezirksarbeiterräten deutlich greifbar, für die gelegentlich auch die Bezeichnung „Arbeiterkammern" auftauchte. Im übrigen aber wichen nicht nur Interessen und Auffassungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern erheblich voneinander ab, sondern auch die Ansichten und Pläne innerhalb der Unternehmer und ihrer Verbände, selbst innerhalb der Großindustrie. Nahezu einmütig wurde jeder Gedanke an eine Fortsetzung oder gar Verstärkung der Zentralisation wirtschaftspolitischer Beziehungen im Staatsbehördenbau unter dem fortwährenden odiösen Eindruck der überwundenen Kriegswirtschaft mit größter Entschiedenheit aus der Diskussion verbannt. Das Unternehmertum hat aber doch während der Umbruchsphase bei aller Entschiedenheit und Rücksichtslosigkeit, mit der es sich der Machtmittel des Staates versicherte, um die Regungen der Empörung unter der Arbeiterschaft des Ruhrkohlenbezirks niederzuhalten und den Streikwellen ein Ende zu setzen, eine begrenzte Bereitschaft an den Tag gelegt, neue Ideen zu übernehmen und neue Institutionen zu schaffen, um die Beziehungen zu den „Sozialpartnern" enger zu gestalten. Trotz aller Interessengebundenheit entsprach dies doch auch dem Empfinden, daß der Herr-im-HauseStandpunkt und die einseitige und enge Begrenzung auf die egoistische Form der Interessenwahrnehmung überlebt waren. Die Neuerungen fielen am Ende weit geringer und bedeutungsloser aus, als den anfänglichen Vorhaben und Versuchen entsprochen hätte, die von der Unternehmerseite entwickelt wurden. Allerdings schien es schon frühzeitig, daß eine Einigung zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen85 schwerlich zustande kommen würde: Die eine wollte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch besetzte Bezirkswirtschaftsräte verwirklichen und auf diese Weise die günstig bewerteten 85 Eingehende Darlegungen hierzu in einer Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums vom August 1920 „Der Aufbau der Arbeiter- und Wirtschaftsräte gemäß Art. 165 der Reichsverfassung", BA, Nachl. Drews, N r . 12; dort auch ein über den Stand der Vorbereitungen Auskunft gebendes Schreiben des Reichswirtschaftsministers an Staatskommissar Drews vom 27. 11.1920 (pag. 89 f.).
Dezentralisation und Autonomiebestrebungen in Preußen
299
Erfahrungen der Zentralarbeitsgemeinschaft fortsetzen, während sich die andere auf eine von Grund auf pluralistische Repräsentation organisierter Interessen festlegte, eine quasiständische Einrichtung also mit einstweilen noch nicht abgegrenzten, in jedem Falle aber recht erheblich gedachten Einflußmöglichkeiten und Zuständigkeiten. Diese Programme haben sich ohne wirklichen Brückenschlag bis in die Phase des Versiegens beider Richtungen erhalten. Sie variierten sich nur insofern, als der erste dieser Pläne mehr und mehr in den zuständigen Ministerien Anhang und Unterstützung gewann, so daß die von dort ausgehenden Vorschläge in zunehmendem Maße eine paritätische Zusammenfassung der Sozialpartner Arbeitgeber und Arbeitnehmer in den Bezirkswirtschaftsräten zu oktroyieren strebten, während die zweite Konzeption vorwiegend die der rheinisch-westfälischen Großindustrie blieb.86 Der weitere Gang der Dinge verlief dann in der Weise, daß die beteiligten Interessenten, die anfangs überwiegend f ü r den Aufbau einer großen körperschaftlichen Organisation der Gesamtwirtschaft eintraten, alsbald Abschied von dem Gedanken nahmen, eine Gemeinwirtschaftsverfassung anzustreben. Übrig blieb die Idee, die wirtschaftliche Selbstverwaltung weiter als bisher auszugestalten und rechtlich zu verankern um der Schaffung einer konfliktarmen Produktionsgemeinschaft willen, die zwar die gesamte Volkswirtschaft betraf, jedoch keineswegs in einem einzigen organisatorischen Rahmen zusammenfassen und an eine Zentrale binden wollte. Bei all den Bemühungen, die die Schaffung von regionalen Einheiten als Einflußgebieten der Bezirkswirtschaftsräte, die sogenannten Wirtschaftsgebiete, anstrebten, blieb fraglich, ob sich diese Gliederung der wirtschaftsgeographischen Landkarte Deutschlands etwa gänzlich, ob sie sich mehr oder weniger an die Umgrenzungen bestehender politischer Einheiten, der größeren Länder und der preußischen Provinzen, anlehnen sollte. Die Frage der Bezirkswirtschaftsräte brachte infolgedessen auch eine eigene Gliederungsproblematik hervor, die nicht ohne Auswirkung auf die Vielzahl der späteren Gliederungsprojekte im Zusammenhang mit der Reichsreform blieb. In den Erörterungen solcher Thesen spielte zwangsläufig auch die grundsätzliche Regelung der Beziehungen zwischen Bezirkswirtschaftsräten und den bestehenden politischen, auch den administrativen Instanzen eine sehr erhebliche Rolle. Hiermit hing auch die Frage zusammen, ob die Räte mit Verwaltungs8 * H i e r z u die literarischen Äußerungen in der umfangreichen Sondernummer „Organische Wirtschaft" der Wirtschaftlichen Nachrichten aus dem R u h r b e z i r k , N r . 28/Jg. 1 vom 1 6 . 1 0 . 1 9 2 0 .
300
11. Reichspolitik
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Föderalismus
aufgaben betraut werden oder ob sie auf eine gutachterliche Tätigkeit beschränkt bleiben und das Schwergewicht bei parlamentarischen Institutionen und staatlichen Behörden liegen sollte, wie es ohne Zweifel dem Sinn der Weimarer Reichsverfassung entsprach. Ins einzelne gehende und durchdachte Pläne wurden von dem damaligen preußischen Staatskommissar zur Vorbereitung der Verwaltungsreform, Staatsminister Drews, in den Jahren 1919 und 1920 entwickelt und teilweise bis in das Stadium umfangreicher Gesetzentwürfe fortgeführt. 8 7 Obgleich an diesen Plänen auch wirtschaftliche Interessen beteiligt waren, bleibt doch unverkennbar, daß Drews zwar eine gewisse Bereitschaft erkennen ließ, wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Gedankengänge zu übernehmen, daß er jedoch auch den Gedanken, Reichswirtschaftsbezirke und Bezirkswirtschaftsräte zu schaffen, in ein umfassendes Gesamtprogramm zur Reform des preußischen Staates einordnen wollte, dessen Grundideen er bereits vor und während des ersten Weltkrieges entwickelt hatte. Für einen umfassenden Neubau des preußischen Staates hielt er, wie oben schon ausgeführt, in erster Linie den Auf- und Ausbau der Selbstverwaltung von der lokalen bis zur Provinzialebene unter Aufsicht und Kontrolle staatlicher Zentralbehörden geeignet. Diese A r t der Selbstverwaltung verstand sich in erster Linie als eine Auftragsverwaltung; ihr Ausbau gehört in das Kapitel der Dezentralisation des von Drews vor allem als Verwaltungskörper verstandenen preußischen Staates. Seine Absichten erklären sich aber auch aus dem weiteren Ziel, eine größere Vereinheitlichung des Reiches schrittweise anzustreben, ohne auf den Einheitsverband des preußischen Staates zu verzichten. Der Gesichtspunkt des Einheitsstaates stand bei Drews jedoch unter dem Einfluß von Gedanken über die künftige wirtschaftliche Entwicklung, die nach seiner Auffassung auf eine Zentralisation hindrängte. Diese Meinung war in den Anfängen der Republik umstritten, sollte sich aber im Verlaufe der nächsten Jahre immer stärker durchsetzen. 1920 glaubten bekannte Vertreter namentlich der rheinisch-westfälischen Großindustrie, offenbar noch unter dem Eindruck der Kriegszwangsbewirtschaftung, d a ß eine Dezentralisation wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten und Organisationen eine stärkere Gewährleistung ihrer Interessen mit sich brin87 Vervielfältigte undatierte Denkschrift „Grundzüge zu einem Reichsgesetz über Reichswirtschaftsbezirke", Nachl. Drews, N r . 13, pag. 1—9; und eine offenbar ältere vervielf. undatierte Denkschrift „Der A u f b a u der Bezirkswirtschaftsorganisation". Materialsammlung mit handsdiriftl. Anmerkungen und handsdiriftl. Entwurf von Drews hierzu, a. a. O., pag. 11—50 u. 55—61.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
301
gen würde, während Drews gerade den Reichswirtschaftsbezirken die Aufgabe zuwies, „die wirtschaftlichen und Sozialinteressen ihres Gebietes im Rahmen der höheren Einheit des Deutschen Reiches zu fördern" 8 8 . Freilich sollten sie nicht nur mit der Privatwirtschaft verknüpft sein, sondern nach dem Vorbild von Kommunalverbänden, das Drews immer gegenwärtig und beispielhaft war, auch „selbständige gemeinwirtschaftliche Unternehmen zum Betriebe" übernehmen 88 , die nicht dazu bestimmt waren, einen Gewinn zu erwirtschaften. Und genauso wie andere Selbstverwaltungskörperschaften sollten auch die Bezirkswirtschaftsräte nach der Vorstellung von Drews einer Aufsichtsbehörde unterstehen. Doch diese Pläne blieben ideengeschichtliche Daten, wenn auch vieles von ihnen in späteren Erörterungen wieder auftauchte. Zu einer allgemeinen Dezentralisation trugen sie ebensowenig bei wie sie die stark auch im ökonomischen verwurzelten Autonomiebestrebungen der östlichsten wie der westlichsten Teile Preußens wirksam zu unterstützen vermochten. Die Provinzen gewannen weder auf dem einen noch auf dem anderen Wege, weder als politische Selbstverwaltungskörper noch als „Wirtschaftsprovinzen" einen neuen Status. Selbst in den Jahren der schwächsten Stellung der Reichsregierung und der noch nicht abgeschlossenen Konsolidierung der Machtverhältnisse in Preußen erwies es sich als unmöglich, den Autonomiebestrebungen preußischer Provinzen, wo sie sich bemerkbar machten, unter den vorhandenen politischen Bedingungen Raum zu verschaffen. Das an der preußischen Regierungskoalition beteiligte Zentrum, das im Rheinland wie in Oberschlesien die herrschende Partei war, hatte entscheidenden Anteil daran, daß auch hier die Autonomiefrage der preußischen Staatspolitik untergeordnet blieb. Der Gedanke, den Provinzen eine autonome Stellung zu geben, wurde zwar auch im Staatsministerium eine Zeitlang verfolgt, brachte jedoch keine Ausdehnung der Selbstverwaltungsrechte, die den Plänen von Preuß, Koch oder Drews auch nur nahe gekommen wäre. Die preußische Verfassung vom 30. November 1920 bestimmte die Bildung eines Staatsrates, dessen Mitglieder von den Provinziallandtagen zu wählen waren. Der Artikel 72 stellte den Provinzen außerdem weitere Selbstverwaltungsrechte in Aussicht; er blieb jedoch ein Programm, das nie materielles Recht 88
Nachl. Drews, N r . 13, pag. 1. An anderer Stelle nennt Drews sie sehr plastisch „gemeinschaftliche Produktionsförderungs-Interessen-Gebiete" (a.a.O., pag.31, handschriftl. Bemerkung). 89 a. a. O., pag. 1.
302
II. Reithspolitik
und
Föderalismus
geworden ist. Auf Grand des Artikels 86 der preußischen Verfassung bedurfte hinfort lediglich die Ernennung der Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten und einiger hoher Beamter an der Spitze von Provinzialbehörden, die das Staatsministerium vornahm, der Zustimmung der Provinzialausschüsse. Die „Zentralstelle
für die Gliederung
des Reiches"
An der harten Struktur des preußischen Staates scheiterte auch die Neugliederungsidee. Ein Rest der ursprünglichen Neugliederungspläne hatte sich zunächst in einem Beschluß der Nationalversammlung vom 22. Juli 1919 niedergeschlagen, der auf eine Anregung des demokratischen Abgeordneten Heile zurückging und eine Initiative zur Anwendung des Artikels 18 der Reichsverfassung herbeizuführen suchte. E r wollte einer möglichen Abschwächung der Bestimmungen dieses Artikels durch künftige Absprachen der Länder mit der Reichsregierung entgegenwirken 90 und beauftragte die Reichsregierung, unter Zuziehung von Mitgliedern des Staatenausschusses bzw. des Reichsrates eine „Zentralstelle für die Gliederung des Reiches" einzurichten, die nun untersuchen sollte, ob und in welchem Umfange Kleinstaaten mit weniger als einer Million Einwohner durch verfassungsänderndes Reichsgesetz aufgehoben werden könnten. 91 Noch vor Bildung der Zentralstelle legte das Reichsinnenministerium, um Anhaltspunkte für ein Arbeitsprogramm zu schaffen, eine Denkschrift vor, 92 die neben 60
Reichskanzler
Bauer
hatte
kurz
zuvor
den
Vertretern
Preußens,
Bayerns,
Badens und Hessens zugesichert, daß die Reichsregierung „von sich aus ohne Zustimmung des in Frage kommenden Bundesstaates keine
Neubildungsbestrebungen
unterstützen" werde (Auszug a. d. P r R M 14. 7. 1919, BA, R 43 1/1861). Im Verfassungsausschuß der Nationalversammlung war der Antrag Heiles übrigens schon im März 1919 erörtert worden. 91
Vgl. Poetzsch, J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 58 f.
C2
Im vollen Wortlaut abgedruckt bei Poetzsch, a. a. O., S. 61 ff. — Uber beab-
sichtigte
Zusammensetzung
und
Aufgaben
der
Zentralstelle
äußerte
sich
Koch-
Weser am 3. 3. 1920 in einem Schreiben an den Reichskanzler, daß er die „Form eines Ausschusses" vorschlage, „dem Mitglieder des Reichstags und des Reichsrats sowie Sachverständige auf verschiedenen an der Lösung der Fragen beteiligten Gebieten angehören sollen" und in dem das Reichsministerium des Innern die Oberleitung und Geschäftsführung erhalte. „Aufgabe der Zentralstelle würde es sein, v o r allem das Material über die bereits zutage getretenen Wünsche auf Umgestaltung der Länder zu sammeln und zu sichten." Die Vorschläge „sollten vom Standpunkt der Geschichte, der Stammeszugehörigkeit, der Wirtschaft, der Verkehrsverhältnisse, des Staats- und Verwaltungsrechts, der Staatsfinanzen, der Steuerkräfte usw. geprüft
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
303
dem Plan einer Vereinigung der thüringischen Länder, die sich bereits abzuzeichnen begann, außer der Beseitigung von Enklaven und der Vereinigung von Braunschweig mit der Provinz Hannover einer Änderung preußischer Gebietsverhältnisse entscheidende Bedeutung beimaß und wieder zu der Frage zurückkehrte, „in welchem Maße den Provinzen das Recht der Gesetzgebung und der Selbstverwaltung eingeräumt" werden könne. Die zweijährige Sperrfrist für Grenzveränderungen, die der Artikel 167 der Reichsverfassung setzte, erlaubte freilich vorerst nur Vorbereitungsarbeiten, die kaum über den Stand von Materialsammlungen hinausgelangen konnten. Beharrlich und erfolgreich setzte sich indessen Preußen gegen jede Anwendung des Artikels 18 zu seinen Ungunsten zur Wehr. Schon wenige Tage nach jener gemeinschaftlichen Kabinettsitzung vom 30. Januar 1920, deren Verlauf Koch-Weser mit optimistischen Hoffnungen begrüßt hatte, ersuchte die preußische Landesversammlung ihre Regierung, auf den vermuteten Wunsch der thüringischen Staaten über ihren Anschluß mit Preußen zu verhandeln, dagegen „alle Anträge auf Abtretung preußischer Gebietsteile zur Schaffung größerer Gebietsgebilde abzulehnen"." 3 Nach der Reichstagswahl, die auf das Zwischenspiel des Kapp-Putsches folgte, blieb unter Otto Brauns Leitung die preußische Politik unbeirrbar fest auch der Zentralstelle gegenüber, deren Errichtung nach erneutem Anstoß von Seiten des Reichstags und auf energisches Betreiben Kochs nach hinhaltendem, erst durch Zugeständnisse in der Reichsratsfrage beseitigtem Widerstand Preußens zustande kam. 84 und begutachtet werden." Audi sein Lieblingsprojekt fügte Koch-Weser hier ein: „Bei ihren Äußerungen und Anregungen wäre die Zentralstelle keineswegs auf die Fragen der Teilung und Zusammenlegung von Gebieten beschränkt, sondern könnte sidi auch mit Erwägungen über die Dezentralisation der Gesetzgebung und Verwaltung, über die relative Selbständigkeit größerer Gebietsteile oder über beschränkte Verwaltungsgemeinschaften mehrerer Länder befassen." Ihre Befugnisse waren jedoch von vornherein beschränkt: „Die Zentralstelle wird ihr Gutachten ausschließlich an die Reichsregierung zu richten haben. Sie soll keine Initiative in dem Sinne haben, daß sie selbst bei den Landesregierungen oder bei der Bevölkerung pläne anregt oder fördert . . . Die Ausführung müßte . . .
Umbildungs-
in allen Fällen in der
H a n d der Reichsregierung und der Reichsgesetzgebung bleiben." Mehr war in Anbetracht der Haltung der Länder nicht möglich. Koch erwähnte, daß im Reichsrat „namentlich preußischerseits Bedenken gegen die ganze Einrichtung geltend gemacht worden" seien. BA, R 43 1/1861. 93
SBer V P L V S p . 9 3 6 8 ; auch Poetzsch, a . a . O . , S. 59.
94
Die preußische Verfassunggebende Landesversammlung nahm am 24. Juni 1920
mit großer Mehrheit einen Antrag des Verfassungsausschusses an, der die Staats-
304
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Der Reichsinnenminister legte ihr als erstes die Frage vor: wie „das in einer Anzahl preußischer Provinzen sich geltend machende Bestreben nach erweiterter Selbständigkeit" zu befriedigen und ob dies „nur im Wege unmittelbaren Eingreifens des Reichs auf Grund des Artikels 18 der Reichsverfassung oder durch unmittelbare Ubertragung der Ausführung einzelner Reichsaufgaben an die preußischen Provinzen oder durch preußisches Landesgesetz" zu erreichen sei.85 Koch zog demnach also zwei mögliche Lösungen des Dezentralisationsproblems in Erwägung: die größere Selbständigkeit der preußischen Provinzen auf Grund einer Reichsinitiative, wohl in Übereinstimmung mit dem Gedanken, sie in Reichsländer oder Reichsprovinzen umzuwandeln, und den Weg der Übertragung von Reichsaufgaben auf preußische Provinzen, die dann auf diese Weise den Rang einer reichsunmittelbaren Mittelinstanz erhalten mußten. Ob diese Lösungen mit oder ohne preußische Initiative zu erreichen waren, blieb die offene Frage, deren Untersuchung Koch der Zentralstelle zuwies, die regierung beauftragte, mit der Reichsregierung über eine Änderung der den preußischen Stimmenanteil im Reidisrat betreffenden Bestimmungen der Verfassungsartikel 61 (Begrenzung der Stimmenhöchstzahl auf zwei Fünftel aller Stimmen im Reichsrat), 63 (Bestellung der H ä l f t e der preußischen Stimmen durch die Provinzialverwaltungen) und 168 (Sperrfrist für Inkrafttreten der Bestimmung in Art. 63 von höchstens einem J a h r ; bis dahin durfte die Staatsregierung alle Stimmen abgeben) zu verhandeln. Braun beantragte d a r a u f h i n unter Hinweis auf die mit der Vereinigung der thüringischen Länder am 1. Mai 1920 eingetretene Verminderung der Gesamtstimmenzahl und dementsprechend auch des preußischen Anteils, die künftig nicht einmal jeder Provinz eine Stimme beließ, eine Verlängerung der Sperrfrist nach Art. 168 und weitere Verhandlungen zur Klärung der Frage. Außerdem äußerte der preußische Ministerpräsident den Wunsch, die Provinzialstimmenklausel in Artikel 63 zu streichen. (Schreiben an die Reichsregierung vom 6. 7. 1920, BA, R 43 1/1864.) Die Reichsregierung entsprach dem Antrag auf Anregung Koch-Wesers, der diese Verhandlungen dazu benutzen wollte, den preußischen Widerstand gegen die Errichtung der Zentralstelle auszuräumen. (Ausz. a. d. P r R M 8. 7. 1920, BA, R 43 1/1864.) Die Sperrfrist wurde bis zum 1. Juli 1921 verlängert (Gesetz zur Änderung des Art. 168 der Reichsverfassung vom 6. August 1920, RGBl, S. 1565), die Stimmenzahl im Reichsrat später erhöht, jedoch nur soweit, d a ß die Hälfte der preußischen Stimmen der Zahl der Provinzen (13) entsprach (Gesetz über die Vertretung der Länder im Reidisrat vom 24. M ä r z 1921, RGBl I 1921, S. 440). Preußen regelte daraufhin die Bestellung der Provinzialvertreter in dem Gesetz über die Bestellung von Mitgliedern des Reichsrats durch die Provinzialverwaltungen vom 3. Juli 1921 (GS 1921, S. 379). Vgl. auch Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 195 ff., und Karl-Heinz Schoppmeier, Der Einfluß Preußens auf die Gesetzgebung des Reiches. 95 Schreiben des Vorsitzenden der Zentralstelle, Graf Roedern, an Reichskanzler Fehrenbach vom 8. 12. 1920 (BA, R 43 1/1861).
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eine 14köpfige Kommission zur Erstattung eines Gutachtens einsetzte. Ihr gehörten einige Autoritäten der Verwaltung und der Politik an, die ihre Vorschläge in der Öffentlichkeit sicherlich nicht ohne Aussicht auf Erfolg vertreten konnten, wie z. B. die ehemaligen Staatsminister Graf Roedern und Drews, der ehemalige bayerische Ministerpräsident Johannes Hoffmann, der preußische Staatssekretär Freund, die Berliner Gesandten Bayerns und Braunschweigs, Ritter v. Preger und Boden, die ehemaligen Reichsminister Preuß und David, der Kölner Oberbürgermeister Adenauer, der Krupp-Direktor Wiedfeldt und die Geographen der Universitäten München und Bonn, v. Drygalski und Göppert." Die Umsicht, mit der dieser Kreis von Persönlichkeiten ausgewählt wurde, die gewiß als „Fachleute" von hohem Ansehen gelten durften, reichte indessen an das Geschick und die Entschlossenheit der preußischen Gegenseite doch nicht heran. A m 2. Dezember beschloß das Staatsministerium, die preußischen Vertreter in der Zentralstelle anzuweisen, „für jede in Betracht kommende Vergrößerung Preußens", jedoch gegen jede Abtretung preußischen Gebietes einzutreten, für die Zusammenlegung kleiner Länder Stimmung zu machen, aber nur Erklärungen mit dem Hinweis abzugeben, daß der Wille der Bevölkerung zu entscheiden habe. Für die nächste Generaldebatte erhiel-
" Ebda. Fünf Angehörige der Kommission waren vom Reichstag benannte Mitglieder der Zentralstelle, drei gehörten dem Reichsrat an, und sechs waren vom Reidisinnenminister berufen worden. In der Anlage zu dem Schreiben Graf Roederns befindet sich auch die Geschäftsordnung der Zentralstelle, aus der die Bedeutung der Plenarberatungen hervorgeht. D a alle Länder vertreten waren, bestand theoretisch durchaus die Möglichkeit, zu wirksamen Beschlüssen zu gelangen; allerdings lagen wichtige Entscheidungen — im Unterschied zur Geschäftsordnung des Reichsrates und seiner Ausschüsse — beim Vorsitzenden. Dieser ernannte auch die Kommissionen zur Ausarbeitung von Gutachten, die mündlich oder schriftlich erstattet werden konnten und sich regelmäßig auf statistische Nachweisungen über die Bewohnerschaft, Stammeszugehörigkeit, Bevölkerungsdichte, auf politische und kommunale Einrichtungen und ihre geschichtliche Entwicklung, die Haupterwerbsquellen der Bevölkerung, Statistik der Erwerbsarten, künftige Erwerbsmöglichkeiten, Verkehrsverhältnisse, kulturelle Lage, Bildungsanstalten, Religionsverhältnisse, staatsrechtliche und finanzielle Fragen, also über den gesamten Themenkatalog der klassischen Staatswissenschaften zu erstrecken hatten. „Erachtet der Vorsitzende eine Frage f ü r ausreichend geklärt, so beruft er die Mitglieder der Zentralstelle zu einer Sitzung, in der die Gutachter Bericht erstatten und die Frage besprochen wird. Am Schluß der Beratung wird das Ergebnis zu einem kurzen Gutachten der Zentralstelle zusammengefaßt".
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Schulz I
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/ / . Reichspolitik
und
Föderalismus
ten die preußischen Vertreter den Auftrag, sich während der Diskussion zurückzuhalten, lediglich Angriffe auf den preußischen Staat zurückzuweisen, im übrigen aber auf den von der preußischen Regierung geplanten — tatsächlich nie verwirklichten — „Autonomiegesetzentwurf" zugunsten der Provinzen hinzuweisen und etwaigen Forderungen nach der Aufteilung Preußens mit dem Verlangen nach einer Neugliederung Süddeutschlands zu begegnen, von dem man sicher war, daß es keinerlei Aussicht besaß, in die Erörterungen hineingenommen zu werden." Die Bindung der preußischen Angehörigen der Zentralstelle an derartige Verhandlungsmaßregeln blieb der Reichsregierung volle zehn Monate lang unbekannt und gelangte auch dann nur durch eine zufällige Indiskretion an die Öffentlichkeit und damit auch zu ihrer Kenntnis, als ein Gutachten zu einer Groß-Hamburg-Lösung beraten wurde und sich hierbei der heftigste Widerstand auf preußischer Seite bemerken ließ.98 Die prinzipielle Bedeutung der kühlen Zurückweisung, mit der der sozialdemokratische Ministerpräsident Otto Braun den Vorstellungen des sozialdemokratischen Reichsinnenministers begegnete,'" dürfte von der Reichsregierung indessen immer noch nicht richtig eingeschätzt worden sein; sie hätte sonst der Tätigkeit der Zentralstelle kaum noch größeren Wert beigemessen. Daß dem nicht so war, läßt sich daraus ersehen, daß jetzt Koch-Weser an Stelle des vom Vorsitz zurückgetretenen Graf Roedern selbst die Leitung seiner Schöpfung übernahm, ohne freilich an der hoffnungslosen Ohnmacht der von ihm geschaffenen Institution jetzt oder später das geringste ändern zu können.100 Im Verlaufe ihrer recht umfangreichen Tätigkeit wurden der Zentralstelle auch eine Reihe von speziellen Fragen über Grenzrevisionen und über die Auflösung kleinerer deutscher Länder vorgelegt, in besonderen Unterausschüssen erörtert und geklärt und schließlich gutachtlich behandelt. Diesen Unterausschüssen gehörten ebenso wie dem Beschluß des Staatsministeriums vom 2. 12. 1920 nach Vortrag des Staatssekretärs Göhre, der einige Monate später durch die Presse der Öffentlichkeit bekanntgegeben wurde. (Voss Nr. 487 vom 15. 10. 1921; auch Poetzsch, a . a . O . ) 98 Mitteilungen des Reichsinnenministers Köster an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 29. 11. 1921 und gleichlautendes Schreiben an Innenminister Severing BA, R 43 1/1861. " Schreiben Brauns an Reichsinnenminister Köster vom 19. 12. 1921 (Abschr. f. d. Reichskanzler BA, R 43 1/1861). 100 Ein recht resignierter Bericht KckAs über die Ergebnisse der Arbeit der Zentralstelle an Reichsinnenminister Külz vom 2. 12. 1926 im Nachl. Koch-Weser, Nr. 36 (Durchschlag).
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
307
Plenum der Zentralstelle die leitenden Beamten der Ministerien des Reiches und Preußens an, die im Auftrage ihrer Regierungen votierten, so daß die Beschlüsse nicht nur als Gutachten, obgleich sie äußerlich diese Form hatten, sondern schon als Vereinbarungen zwischen preußischen und Reichsressorts angesehen werden konnten, die im Bedarfsfalle die erforderlichen legislatorischen Regelungen und Maßnahmen auf Seiten des Reiches und Preußens nach sich zogen. Sie veränderten die deutsche Landkarte jedoch nur sehr wenig. Der Anschluß Hohenzollerns an Württemberg 101 wurde von preußischer Seite erfolgreich verhindert und das Ländchen Waldeck-Pyrmont geteilt, Pyrmont an die Provinz Hannover angeschlossen, während der f ü r Preußen wenig interessante, auf finanzielle Zuschüsse angewiesene Restteil allein weiterbestehen mußte. 102 D a ß aber die Verhandlungen und Arbeiten an den Gutachten der Zentralstelle den Charakter zweiseitiger Verhandlungen der interessierten Ressorts des Reiches und Preußens annahmen, ging nicht zuletzt auf das zielbewußte Taktieren der preußischen Ministerien zurück, die in aller Stille eine „preußische Parallelkommission zu der Zentralstelle f ü r die Gliederung des Reichs" ins Leben riefen, ein Gremium aus leitenden Beamten der preußischen Ministerien, das unter dem Vorsitz Oesers, des der Demokratischen Partei angehörenden Ministers f ü r öffentliche Arbeiten, zusammentrat. 103 Es betätigte sich als ein vor der Öffentlichkeit wie vor dem Landtag gleichermaßen verborgener interministerieller Ausschuß, der die Reaktion der preußischen Exekutive auf die Vorgänge in der Zentralstelle koordinierte und leitete, ohne daß sich das gesamte Staatsministerium noch mit die101 „Gutachten der Zentralstelle für die Gliederung des deutschen Reiches zur Frage Hohenzollern, erstattet vom Vorsitzenden der Kommission für die Frage 9: Hohenzollern", Staatsminister Drews, HAB, Rep. 327/12. Sie entsprach in den wesentlichen Punkten der preußischen amtlichen Stellungnahme. 102 „Gutachten... zur Frage Waldeck-Pyrmont, erstattet vom Vorsitzenden der Kommission für die Frage 2: Waldeck-Pyrmont", Rep. 327/12. Gesetz über die Vereinigung des zu Waldeck-Pyrmont gehörigen Gebietsteiles Pyrmont mit dem Freistaat Preußen vom 22. Februar 1922 (GS 1922, S. 37); Gesetz über die Vereinigung von Pyrmont mit Preußen vom 24. März 1922 (RGBl I 1922, S. 281). Das Restgebiet Waldeck wurde 1928 aufgehoben und von Preußen übernommen. In einem einzigen Falle (Schaumburg-Lippe) kam es 1926 zu einer Volksabstimmung über die Eingliederung des Landes in Preußen, die mit einer sehr geringen Mehrheit abgelehnt wurde. 103 Geheimes Einladungsschreiben Göhres an den Ministerialrat im preußischen Ministerium für öffentliche Arbeiten Krone vom 28. 12. 1920, HAB, Rep. 327/12.
20*
308
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
sen Fragen befaßte. Die bürokratische Parallelkommission nahm mit großem Geschick die konstitutionelle Schwäche der Zentralstelle wahr, die den einzelnen Ausschüssen ein nicht näher bestimmtes Recht der Kooption einräumte, um „durch Auswahl geeigneter Personen für Preußen Vorteile zu gewinnen". Sie erteilte sodann den preußischen Vertretern die Weisung, in den Ausschußarbeiten „auf sehr gründliche Verhandlungen" hinzuwirken, um überstürzte Entschließungen zu verhindern", 104 und sorgte dafür, daß keine Einsicht in preußische Akten genommen wurde — „höchstens ganz farblose Akten (Drucksachen usw.)" durften vorgelegt werden — , um nicht „die Interna" der preußischen Verwaltung vor den nichtpreußischen Mitgliedern der Zentralstelle offenzulegen und deren Kritik zu unterstützen. 105 Der Kreis der solcherweise sekretierten Interna blieb einer großzügigen Unbestimmtheit überlassen, so daß alle nicht öffentlich zugänglichen Informationen hierzu gehören konnten. Sogar die Einzelheiten der praktischen Regelung der Geschäftsverteilung zwischen den beiden Instanzen der preußischen Mittelstufe, Oberpräsident und Regierungspräsident, galten der Zentralstelle gegenüber als streng gehütetes Geheimnis, so daß der Vorsitzende der Zentralstelle keine andere Möglichkeit sah, als die Beantwortung entscheidender Fragen den preußischen Ressorts selbst zu überlassen. Auf diese Weise gelang es der Parallelkommission, die Arbeiten der Zentralstelle unter ständiger Kontrolle zu halten und Ergebnisse, die als Benachteiligung Preußens empfunden wurden, von vornherein zu vereiteln. 106 Otto Braun benutzte Ende 1921 die Friktionen in der Zentralstelle, um vor der Öffentlichkeit auf den Beruf und das Recht Preußens zu pochen, im Reichsinteresse zu handeln, und den Wunsch nach Wiederherstellung der historischen Hegemonie anzumelden, was er mit der Überzeugung begründete, daß sich Preußen und 104
Rep.
Niederschrift über die Sitzung der Parallelkommission am 30. 1 2 . 1 9 2 0 , H A B , 327/12.
Die
Anwesenheitsliste
verzeichnet
außer
Staatsminister
Oeser
die
Staatssekretäre Göhre, Becker, Dönhoff, Freund, Mügel und R a m m , die Ministerialdirektoren Nobis und Meister und einige andere höhere Beamte. 105
Niederschrift
21. 1.1921, I0
und
handschriftl.
Notiz
des
Ministerialdirektors
Nobis
vom
a.a.O.
" Audi in Bezug auf die Gebiete, die Preußen nichts angingen, w a r die Tätigkeit
der Zentralstelle,
die allmählich eingeschlafen ist und im Januar
1929
förmlich
beendet wurde, nicht sehr umfangreich. Das Land Thüringen wurde 1920 noch ohne ihr Einwirken gebildet. Die Bemühungen um Eingliederung der preußischen
En-
klaven scheiterten am preußischen Widerstand; hingegen war den zweiseitigen Verhandlungen
zwischen
Thüringen
und
Sachsen
über
einen
Gebietsaustausch
und
über Bereinigung ihrer Grenzen Erfolg beschieden. Sie gelangten 1928 zum Abschluß.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
309
in Preußen
das preußische Volk, „ungeachtet der Verfassungsvorschriften", stets die Geltung verschaffen würden, die ihnen seiner Meinung nach gebührte. Infolgedessen sei es ein „Unglück nicht nur für Preußen, sondern vielmehr für das Reich", „wenn jene in der Abneigung gegen das alte Preußen befangenen Kreise mit ihren auf die Zerschlagung Preußens — oder ,Aufgliederung', wie sie es nennen, — gerichteten Bestrebungen E r f o l g hätten. D a s würde nicht der Vereinheitlichung des Reiches, . . . die Wege bereiten, sondern eher dazu angetan sein, sie erheblich zu erschweren." 107 Auch Otto Braun hat den preußischen Staat als eine Verwaltungsorganisation angesehen und es als ureigenste preußische A u f g a b e betrachtet, „das deutsche Reich zu einem einheitlichen Verwaltungskörper" auszubauen, da es im Hinblick auf die „geschwächte Wirtschaft den umfangreichen Verwaltungsapparat der Vielstaaterei auf die Dauer nicht mehr tragen" könne. 108 Insoweit besaßen auch für ihn Ziel und Programm des Einheitsstaates verpflichtenden Charakter ohne Vorbehalt. Sein Prinzip unbedingter Erhaltung und fortschreitender Stärkung einmal erlangter Macht wie auch seine Bewertung der preußischen Staatsorganisation ließen ihn die Brücke zu den besten Kreisen des hohen preußischen Beamtentums finden und begünstigten später auch manche Beziehung zur preußisch-konservativ gesinnten Rechten; es fällt gewiß nicht in die Verantwortung O t t o Brauns, wenn hierbei keine auf die Dauer zuverlässigen Verbindungen zustande kamen. Staatsreform und reformerische Sozialpolitik wurden allerdings aufs äußerste begrenzt. Brauns Partei ließ dies geschehen und begnügte sich mit einer Politik der Behauptung einmal erreichter Positionen. Haltung und Reaktionen der anderen deutschen Länder spielten für Braun und seine Regierung keine sonderliche Rolle, soweit sich nicht mit ihrer H i l f e irgend etwas zugunsten oder zur Stärkung der preußischen Position gewinnen ließ. In der zähen und taktischen Ausnutzung solcherart gebotener Chancen erwies sich Braun nach dem Tode FriedO t t o Braun, Preußen und Reich, Leitartikel im Berliner T a g e b l a t t , N r . 595 vom
25.
12. 1921. Ähnlich
in dem
Schreiben
an
den Reichsinnenminister
vom
19. 12. 1921 (Anm. 161). 108
O . B r a u n in dem Artikel Preußen und Reich. In dieser Sicht g a b es „nichts
Verkehrteres, . . .
als den doch immerhin gut funktionierenden preußischen
Ver-
waltungsorganismus zu zerschlagen, um aus seinen T r ü m m e r n dann jene einheitliche Reidisverwaltung
a u f z u b a u e n , wie sie den von der Erdensdiwere der
Realitäten
unbelasteten neudeutsdien Staatenkonstrukteuren vorschwebt". N u r ein „ungeteiltes Preußen" w a r „ein wertvoller Baustein in dem G e f ü g e des Reichsneubaus, an dessen Aufrichtung wir mit allen Kräften arbeiten müssen".
310
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
rieh Eberts als seinesgleichen bei weitem überlegene Gestalt der Weimarer Republik und fast schon als Lehrmeister für das hohe Beamtentum des durch ihn repräsentierten Staates.
Rheinische
Autonomiebestrebungen
während, der
Ruhrkrise
Da sämtliche Pläne einer Neugliederung endgültig ergebnislos geblieben waren, erschien Braun die Wiedergewinnung der hegemonialen Stellung Preußens als der gegebene kürzere Weg, um die Konzeption eines Einheitsstaates zu verwirklichen, der nun nicht mehr als Gebilde abgestufter Selbstverwaltungen nach dem Muster parlamentarischer Institutionen des englischen selfgovernment gedacht, sondern der mit den traditionellen Maßstäben der preußischen Verwaltung gemessen wurde, der nicht aus der Auflösung des alten Verwaltungskörpers hervorgehen, sondern von ihm und nach seinen Gesetzen gebildet werden sollte. Die Fortentwicklung des Selbstverwaltungsprinzips scheiterte letztlich an der alten, vom obrigkeitlichen Verwaltungskörper bestimmten Staatsorganisation in eben dem gleichen Maße, wie diese zur Erhaltung und Sicherung der territorialen Einheit Preußens beitrug. Dies zeigte sich in der Ostpreußen-Frage und wieder während der Ruhr-Krise von 1923, die zur Existenzkrise der deutschen Republik wie zum Kreuzweg der preußischen Verwaltung wurde. Die rheinische Autonomie stand ebenso wie die Frage der anderen gefährdeten Grenzprovinzen, Ost- und Westpreußen, Schleswig-Holstein und Oberschlesien, unter dem einebnenden Druck der nationalen Entscheidung, da die Separationsbewegungen und die Gefährdungen der Volkszugehörigkeit der Reichsregierung keine andere Wahl ließen, als mit dem preußischen Innenministerium gemeinsam für die Erhaltung des status quo zu sorgen. Als in Oberschlesien im September 1922, eineinhalb Jahre nach der Nationalitätsabstimmung und kaum ein Jahr nach der Abtretung seines östlichen Teiles an Polen, eine Volksabstimmung über die weitere Zugehörigkeit zum preußischen Staat stattfand, mußte sie nahezu zwangsläufig mit einem Mißerfolg für die Plebiszitäre enden. Auch als im Gefolge der Ruhrkrise 1923 die Tatsache eines Rhein-Ruhr-Staates vorübergehend fast besiegelt schien und unter namhaften Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Westdeutschlands Anklang fand, vermochte sich hier am Ende nicht nur die Reichseinheit wieder durchzusetzen, sondern auch die alte Organisation des preußischen Staatsverbandes und seiner Verwaltungen zu behaupten.
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
311
Die Probleme der Reparationen schürzten sich 1923 zu einem Knoten, den Frankreich mit militärischer Aktion und territorialer Okkupation zu durchschlagen suchte, was schließlich die gesamte grenznahe Zone des westlichen Deutschlands und vor allem das preußische Gebiet an Rhein und Ruhr zu einem Objekt der internationalen Politik machte. Während sich in der Diplomatie Englands immer stärker der Standpunkt durchsetzte, daß den Vertrags- und Reparationspflichten Deutschlands der Primat zuzuerkennen sei, was die Stützung der auf Erfüllung dieser Verpflichtungen bedachten verfassungsmäßigen Reichsregierung und „irgendeine Form der Kontrolle oder einer wirksamen finanziellen Beratung in Berlin" erforderlich werden ließ,109 ordnete Frankreich seine Reparationspolitik einer umfassenden Deutschlandpolitik mit allgemeinen wirtschafts- und vor allem militärpolitischen Zielen unter110. Da das Auseinanderfallen der außenpolitischen Interessen Englands und Frankreichs in dieser Frage offen zutage trat, wähnte sich Poincaré zu eigenem Vorgehen gezwungen, das nun nicht den deutschen „wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Sicherung der Reparationszahlungen im Höchstmaß des Erreichbaren", 111 sondern unmittelbare Kontrolle der hochindustrialisierten deutschen Grenzgebiete bezweckte. Dem Ruhreinmarsch im Januar begegnete die Reichsregierung, um ihre Autorität in dem besetzten Gebiet aufrecht zu erhalten, damit, daß sie einen umfassenden zivilen Widerstand auslöste. Ihre Gegenmaßnahmen begannen mit dem Verbot für die Zechen und Eisenbahnen, an die Franzosen Kohlen zu liefern, und führten bald zu einem Zustand, der einem einseitigen permanenten Generalstreik nahe kam, 10* Viscount D'Abernon. Ein Botschafter der Zeitwende. Memoiren, deutsch von Antonina Vallentin, Leipzig o. J., Bd. II, S. 305. 1 1 0 Nur selten dürfte diese Auffassung in so kurzen und eindrucksvollen Worten wiedergegeben worden sein, wie in einem Bericht, den der amerikanische Botschafter in Berlin, Houghton, Staatssekretär Hughes am 30. Oktober 1922 über eine Unterredung mit dem aus Berlin scheidenden französischen Botschafter Laurent erstattete: „He left me with the very definite impression that his own group in France looked upon reparations only as a purely secondary matter, an aim primarily to work the limit of destruction in Germany's productive forces. He went so far at one time as to state frankly that while American public oponion . . . might differ from that of France, nevertheless France must be reckoned with. It was a somewhat unusual interview, and I could not help feeling, as I thought it over, that he had really left an overt threat with me. What about, I do not know". (Abgedruckt im Dokumentenanhang von George W. F. Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie. Zur Geschichte der Jahre 1 9 1 8 — 1 9 3 3 , Frankfurt a. M. 1955, S. 47). 111
D'Abernon, Botschafter II, S. 307.
312
/ / . Reichspolitik
und
Föderalismus
in dem die Reichsregierung ein verzweifeltes Aushilfsmittel sah, ihre Hoheitsrechte zu wahren und zu verhindern, daß die Ruhrbesetzung ein Vorspiel zur Abtrennung des Rheinlandes wurde. Die Besatzung erwiderte mit dem Aufbau einer eigenen Eisenbahnregie und mit der Abschnürung der in ihrer H a n d befindlichen Zone vom übrigen Reichsgebiet. Der Widerstand der in einem überraschenden Umfang solidarisch gewordenen Arbeiter, Beamten und Zechenleitungen, der trotz abnehmender Erfolgsaussichten und wachsender Krise neun Monate hindurch die Millionenbevölkerung des größten deutschen Industriezentrums in aktiver Selbstbehauptung gegenüber der Besatzung vereinte, und schließlich der Abbruch des in der Permanenz wirtschaftszerstörenden Ruhrkampfes unter dem Zwang des völligen Währungsverfalls und der Notwendigkeit, eine für Bevölkerung und Reichsregierung gleichermaßen tragbare Lösung zu finden, schienen sich vorübergehend zugunsten einer neuen Regionalbildung auszuwirken, die ein westdeutsches, industriewirtschaftliches Gegenstück zu den ostpreußischen Bestrebungen darstellte.' 12 Die französische Rheinlandpolitik fuhr monatelang widerspruchsvoll auf doppeltem Gleise. Der zivile Hohe Kommissar Tirard vermochte sich nicht zu entschließen, seine schützende H a n d von den radikalen, aber ohne Aussicht auf Bodengewinn in der Bevölkerung operierenden Separatisten abzuziehen. Zugleich aber zeigte sich der französische Oberbefehlshaber General Degoutte bereit, „Verhandlungen mit den Notabein des rheinisch-westfälischen Großbürgertums" zu führen" 3 , die darauf hinausliefen, die 112 Vgl. Paul Wentzcke, Ruhrkampf. Einbruch und Abwehr im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, Berlin 1930/32, bes. Bd. II; den Nachlaß von Gustav Stresemann I, und die unveröffentlichte Akten heranziehende, bisher einzige neuere Darstellung zur deutschen Außenpolitik von Ludwig Zimmermann, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, Göttingen—Berlin—Frankfurt 1958, S. 200 ff.; sowie die Betrachtung von Theodor Eschenburg, Das Problem der deutschen Einheit nach den beiden Weltkriegen, VjZ 5. Jg./1957, S. 109 ff. 113 L. Zimmermann, Deutsche Außenpolitik, S. 205, läßt es so erscheinen, als seien diese Verhandlungen von Degoutte angestrebt worden. Das darf zumindest nicht ausschließlich und einseitig gesehen werden. Offenkundig bestand auf Seiten des Ruhrbergbaus ein erhebliches Interesse an einem Einvernehmen mit den Franzosen, die allerdings diesen Absichten sehr betont entgegenkamen. Die Initiative zu der entscheidenden Unterredung, die Stinnes, Klödcner und Vogler am 5. Oktober 1923 mit General Degoutte führten, ging zweifellos von deutscher Seite aus. Eine eingehende Schilderung der Vorgänge dieses Tages enthält ein 13 Seiten umfassender, offenbar nach dem Bericht oder Diktat von Stinnes, vielleicht auch Voglers niedergeschriebener „Aktenvermerk über die Besprechung der vom rheinisch-westfälischen
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
313
großindustriellen Magnaten des besetzten Gebietes, die jetzt die Lücke in den Beziehungen zwischen Reichsregierung und Besatzung auszufüllen suchten, unter Schonung ihrer wirtschaftlichen Interessen für eine regionale Sonderung zu gewinnen. Auch der deutsche Geschäftsführer in Paris glaubte nicht an eine Absicht des Quai d'Orsay, Deutschland wirtschaftlich zu vernichten oder gar aufzuteilen. U n d H u g o Stinnes teilte dem Reichskanzler nach der entscheidenden Unterredung der Großindustriellen mit Degoutte am 5. Oktober 1923 als Ergebnis mit, „daß die Franzosen eine zwar sehr komplizierte Regelung der Verhältnisse an Rhein und Ruhr vornehmen wollten, jedoch in dem Sinne, daß eine Aufgabe der deutschen Landeshoheit nicht in Betracht käme". 114 Eine begrenzte politische Selbständigkeit des Rhein-Ruhr-Gebietes, das die Reichsregierung von einigen Lasten und Verantwortungen befreite, lag unter solchen Voraussetzungen zumindest vorübergehend sowohl im deutschen als auch im französischen Interesse, sobald die französischen Besatzungsstellen ihre Politik wieder auf die Linie der zuverlässigen Sicherstellung deutscher Reparationslieferungen lenkten, was in enger, womöglich gar kooperativer Fühlung mit repräsentativen deutschen Industriellen 115 zweifellos am ehesten gelingen konnte. Die Reichspolitik beschränkte sich infolgedessen darauf, die westdeutschen Bestrebungen innerhalb der Grenzen einer ihr vertretbar erscheinenden Bergbau gewählten Kommission mit General Degoutte am 5. Oktober 1923, 5 h nachmittags", Durchschi. BA, R 43 1/453. 114 Vermerk Stresemanns über einen telephonischen Bericht von Stinnes am 6. Oktober 1923, BA, R 43 1/453. Stresemann verzichtete auf Empfehlung von Stinnes darauf, in seiner Reichstagsrede an diesem Tage von einer Aufgabe des Rhein- und Ruhrgebietes zu sprechen, die bis dahin innerhalb der Reichsregierung erörtert wurde. 115
Dies deutet der im o. zit. „Aktenvermerk" festgehaltene Bericht über die Besprechung am 5. Oktober ganz und gar unmißverständlich vom Standpunkt der Ruhrindustriellen aus an. Die Darlegungen Klöckners werden darin mit diesen Worten wiedergegeben: „Die Industrie sei der Uberzeugung, daß es ein schwerer Fehler gewesen sei, den sozialistischen Einflüssen nachzugeben und nach einem verlorenen Kriege audi noch eine verkürzte Arbeitszeit einzuführen. Viele Schwierigkeiten hätten vermieden werden können, wenn mehr Kohle gefördert worden sei [recte: wäre], und es müsse unsere Aufgabe sein, wieder genügend Kohle zu fördern, um außer Deutschland auch Frankreich, Belgien, Holland und die Schweiz voll versorgen zu können. Der rheinisch-westfälische Bergbau habe sich daher entschlossen, am kommenden Montag die Vorkriegsarbeitszeit wieder einzuführen, d.h. 8V2 S t u n d e n . . . für Untertagearbeiter und 10 Stunden für Ubertagearbeiter. Die Industrie sei aber nicht in der Lage, ihre Absichten auszuführen, ohne die Unterstützung der Okkupationsmächte und das sei eine[r] der Gründe unseres Besuches".
314
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
wirtschaftlichen und politischen Dezentralisation zu halten. Am meisten erwarteten die mächtigen Interessenten des Ruhrbergbaus von einer Lösung, die ihnen größere Unabhängigkeit von der Gesetzgebung und Verwaltung Preußens und des Reiches gab und dem von ihnen angestrebten Ziel größtmöglicher Verhandlungsfreiheit gegenüber französischen Stellen und Wirtschaftsinteressenten um ein Bedeutendes näher kam. Eine Kommission des Bergbauvereins eröffnete dann Mitte Oktober 1923 auch die Verhandlungen mit der Reichsregierung durch Übergabe einer Denkschrift, die eine Reihe von Forderungen der Zechenbesitzer enthielt, die die Redite des Reiches im Grubengebiet erheblich beschränken wollten und die — ähnlich wie die ersten ostpreußischen Pläne — auf gesetzgeberische Ausnahmeregelungen hinausliefen. Der Endpunkt dieser Bestrebungen war einige Wochen später erreicht, als sich die Industriellen am 3. November 1923 in einem Rahmenvertrag mit der Mission interalliée de Contrôle des Usines et des Mines (Micum) verpflichteten, zunächst stellvertretend f ü r das Reich, die Reparationskohlenlieferungen und die Entrichtung einer Kohlenabgabe unmittelbar an die Mission zu übernehmen. 1 " Die einseitige Leistungsverpflichtung war aber nur durch Eintreten des Reiches zu decken und auf die Dauer zu erfüllen. Da Frankreich es ablehnte, dem besetzten Gebiet und der unter Kapitalmangel leidenden Industrie wirtschaftliche Unterstützung durch Hergabe benötigter Kredite zuteil werden zu lassen, blieb der wirtschaftliche und auch der politische Zusammenhang mit dem Reich unbestritten. Die Reichsregierung, die sich kaum in der Lage sah, unmittelbare Verhandlungen des Bergbaus mit der französischen Regierung auszuschließen, mußte jedoch d a f ü r Sorge tragen, daß sich nicht ein Status des Rhein-Ruhr-Gebietes ausbildete, der es ihrer Kontrolle völlig entzog." 7 Während dieser Zeit begannen Verhandlungen zwischen Besatzungs116
„Vorläufiges
kommission
Übereinkommen
mit
der M . I . C . U . M .
für Fabriken und Bergwerke)
(Interalliierte
mit Gültigkeit bis zum
Kontroll-
15. A p r i l . . . "
v o m 3 . 1 1 . 1923, Abdruck BA, R 43 1/453. D e r Vertragsinhalt ist wiedergegeben in Egelhaafs
Historisch-politischer
Jahresübersicht
für
1923,
S. 86 f., dort mit
dem
D a t u m des 23. N o v e m b e r versehen. 117
Stresemann
fixierte
in der Kabinettssitzung am 11. Oktober den Grundsatz:
man müsse v o n der Finanzlage ausgehen; das Reich könne keine Zahlungen leisten. „Die Reichsregierung müsse es demnach der Bevölkerung des besetzten
Gebietes
überlassen, örtliche Verhandlungen zu führen, doch müsse sie hierbei die Bedingung machen, daß Hoheitsrechte des Staates dadurch nicht betroffen werden dürften." (Stresemann I, S. 162).
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
315
behörden und örtlichen Ausschüssen, die sich aus Vertrauensleuten der Kommunalverwaltungen, der Parteien, Gewerkschaften und Unternehmerverbände bildeten; und auf höherer Ebene entstandene Bezirksausschüsse, deren Tätigkeit von französischer Seite lebhaft gefördert wurde. Aber auch die Separatistenbewegung erreichte etwa zu dieser Zeit ihren Höhepunkt. Am 24. Oktober erkannte der Vorsitzende der französischen Rheinlandkommission, Tirard, eine von ihnen gebildete vorläufige rheinische Regierung in Koblenz an; und am gleichen Tage erklärte General de Metz die Pfalz zum autonomen Staat. Unterdessen erörterten Vertreter der Industrie und der Banken in Köln und Bonn Degouttes Vorschlag, eine besondere Ruhrwährung zu schaffen, entweder die Franc-Währung einzuführen oder eine rheinische Währung dadurch zu fundieren, daß sie von Frankreich zu einem Drittel mit Deckungsmitteln versehen wurde. Die Ruhrindustriellen waren hierfür kaum zu gewinnen. Stinnes hatte schon am 5. Oktober den Gedanken empfohlen, die deutschen Finanzen durch Auslandsanleihen zu subventionieren und dann mit Hilfe einer wiedererstarkten Wirtschaft Reparationen zu leisten, Zinsendienst und Amortisation zu übernehmen.118 Doch diesen Plan, der die Prinzipien des späteren Dawes-Abkommens bereits andeutete, hatte Degoutte mit dem Hinweis auf die öffentliche Meinung in Frankreich und Belgien abgelehnt. Auch die Reichsregierung befaßte sich angesichts der trostlosen Lage ihrer Finanzen und der durch die Fürsorge f ü r die Zwangsarbeitslosen hochgetriebenen Rhein-Ruhr-Lasten, die täglich fast 10 Millionen Goldmark verschlangen, 119 mit der Frage, ob sie eine Stabilisierung der Währung in Angriff nehmen und, um dieses Experiment erfolgreich durchführen zu können, das Besatzungsgebiet isolieren, sämtliche finanziellen Hilfen einstellen und die Verantwortung hierfür den Besatzungsmächten aufbürden sollte. Reichskanzler Stresemann widerstand jedoch den Vertretern der „Versackungspolitik" in seinem Kabinett 120 , die zweifellos den Abtrennungsabsichten entgegengekommen wäre. Immerhin zeigte er sich noch kurz vor seinem Sturz bereit, f ü r eine noch nicht näher bestimmte „Stelle des besetzten Gebietes" eine gesetzliche Ermächtigung zu schaffen, die sie instand setzte, eigene Vorschriften zu erlassen, „auch wenn diese von den Reichs- und Landesgesetzen abweichen". 121 Die bloße, längst bekundete Bereitschaft der Reichsregie118 119 120 121
„ A k t e n v e r m e r k " vom 5. 10. 1923, BA, R 43 1/453. Stresemann I, S. 228. Geßler, ReiAswehrpolirik, S. 281 u. 389. Stresemann I, S. 212.
316
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
rung, den kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften eine befristete Vollmacht zur selbständigen Regelung dringender Wirtschaftsfragen gewähren zu wollen, ohne eine grundsätzliche Änderung der staatsrechtlichen Verhältnisse zuzulassen, kam den Bestrebungen im Rheinlande längst nicht mehr in ausreichendem Maße entgegen, da „maßgebende Persönlichkeiten" die völlige Lösung von Preußen und die Errichtung eines rheinischen Bundesstaates innerhalb des Reiches, jedoch mit internationaler Gendarmerie, selbständigem Gesandtschaftsrecht, nur loser Vertretung im Reichsrat und eigener Währung als einzig tragbare Lösung betrachteten. 122 Es lag auf der H a n d , daß dieser bevorrechtete „Bundesstaat" nur in verhältnismäßig lockerer Verbindung zu den Zentralorganen des Reiches stehen sollte. In ähnliche Bahnen wollte General de Metz auch den Autonomieversuch der Pfalz lenken. Er stieß jedoch auf den Widerstand der Bayerischen Volkspartei und der Mehrheit des Kreistags, die an der Einheit des Bayernlandes festhielten. Entscheidend für das industrielle Zentrum des westdeutschen Wirtschaftsgebietes blieb aber das Problem der seit langem fälligen und mit vielen schlimmen Folgen verzögerten Währungsstabilisierung. Die Skepsis gegenüber dem Gelingen eines solchen Versuches der Reichsregierung wurzelte in den Kreisen rheinischer Bankiers sehr tief und wurde durch die französische Abneigung, das neue Zahlungsmittel im eigenen Machtbereich zuzulassen, auch weiterhin genährt, so daß mit der beginnenden währungspolitischen Beruhigung im Reich die rheinischen Autonomiewünsche noch keineswegs gänzlich beseitigt waren. Immerhin konnte der deutsche Vertreter in Paris gegen Ende des Jahres von einer Milderung der starren Haltung Poincares berichten, die davon zeugte, daß man in Frankreich an höchster Stelle die Separationsbewegung, deren Rückschläge und Niederlagen jetzt unübersehbar waren, keineswegs in dem gleichen Maße wichtig nahm wie die Projekte der „autorisierten Vertreter öffentlicher Meinung [des] Rheinlandes" und daß der französische Regierungschef diejenigen rheinischen Politiker und Wirtschaftsinteressenten ermutigte, die jetzt versuchten, „von Preußen loszukommen, indem sie sich ihrer früheren Unabhängigkeit erinnerten". 123 Diese Richtung, die jetzt die Bildung eines gänzlich entmilitarisierten Weststaates im Verbände des Reiches 122
P. Wentzcke, Ruhrkampf II, S. 289. Bericht des Botschaftsrates v. Hoesch vom 25. 12. 1923, zit. v. L . Z i m m e r m a n n , Deutsche Außenpolitik, S. 214. 123
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in Preußen
317
etwa von der Größe und der Stellung Bayerns für möglich hielt und verfolgte, gewann zusehends an Boden. Sowohl Stinnes, der an dem Prinzip der Sonderbesprechungen und Abmachungen festhielt, wie der Kölner Kreis um den Bankier Louis Hagen und den Oberbürgermeister Adenauer verfolgten derartige Ziele, f ü r die sie auch Zustimmung und Unterstützung bei namhaften Politikern der großen Parteien fanden. Die außenpolitischen Verhältnisse und wirtschaftlichen Umstände begünstigten in einmaliger Weise die seit 1919 nicht wieder zum Stillstand gelangten Bestrebungen zur Ablösung von Preußen und zur Schaffung einer autonomen rheinischen Provinzial- bzw. Regionalverfassung. Wie in Ostpreußen wiesen die Programme und Ziele unter dem spürbaren Einfluß der Berliner Regierungen jedoch bald in verschiedene Richtungen. Der Zentrumsmann Brauns als Reichsarbeitsminister wollte lediglich die Befugnisse der Selbstverwaltungskörperschaften erweitern. Der Kölner volksparteiliche Abgeordnete Professor Moldenhauer ging weiter und schlug die „Zusammenfassung des besetzten Gebietes zu einem kommunalen Zweckverband" vor, die von den preußischen Behörden glatt abgelehnt wurde. 124 Ein anderer Vorschlag suchte eine vermittelnde Lösung, die wirtschaftsund verwaltungspolitische Befugnisse auf die bestehenden Selbstverwaltungskörperschaften innerhalb der Besatzungszone übertragen wollte. Da sich aber der Reichspräsident ebenso wie die Vertreter der Länder gegen beide Wege aussprachen, mußte die Klärung dieser Frage neuen, innerhalb engerer Grenzen geführten Verhandlungen überlassen bleiben. Inzwischen hatte der „Fünfzehnerausschuß" der westdeutschen Notabein auch mit Tirard Verhandlungen aufgenommen, den er jedoch vergeblich für die Bildung eines Direktoriums als oberstem Selbstverwaltungsorgan im besetzten Gebiet zu gewinnen suchte. H a t t e Stresemann als Reichskanzler gelegentlich die Bereitschaft angedeutet, das scheinbar Unvermeidliche anzuerkennen, daß die besetzten Gebiete „Abschied von der Reichssouveränität" nehmen müßten,125 so zeigte er sich dann nach dem Sturz seines Kabinetts, als sich der Stabilisierungserfolg abzuzeichnen begann, als Außenminister der Regierung Marx fest entschlossen, die Handlungsfreiheit in der Rheinlandfrage zurückzugewinnen. Im Bewußtsein der beginnenden Entlastung, die auch im Verhandlungsprogramm der Reparationssachverständigen zum Ausdruck kam, billigte die Reichsregierung den rheini124 125
L . Z i m m e r m a n n , a . a . O . , S. 211. Zit. a . a . O . , S. 210.
II. Reichspolitik
318
und
Föderalismus
sehen Vertretern nur noch Handlungsfreiheit in den Fragen der Ingangsetzung der Wirtschaft zu — entsprechend ihrem Abkommen mit der Micum, während Stresemann gleichzeitig die Führung aller politischen Verhandlungen mit der französischen Regierung in seinen Händen zusammenzufassen gedachte. Nach dem Ende des kurzen Zwischenspiels der autonomen Pfalz, auf die sich Tirard versteift, die jedoch England offen verurteilt hatte, zog der Dawes-Plan, der von einer Restitution Deutschlands als wirtschaftlicher Einheit ausging und unter entscheidender Anteilnahme der Vereinigten Staaten zustande kam, den Schlußstrich unter die Politik der „produktiven Pfänder". 1 2 6 Dies kam zweifellos einem Erfolg der Reichsregierung gleich, die mit der Verwirklichung eines von Koch-Weser herrührenden Planes, ein besonderes Reichsministerium zu errichten, an dessen Spitze Stresemann den rheinischen Oberpräsidenten Fuchs stellte, auch eine eigene unmittelbare Zuständigkeit f ü r die inneren Angelegenheiten des gesamten besetzten Gebietes gewann. Doch die Verwaltung blieb nach wie vor fest in der H a n d der Länder Preußen und Bayern, die Selbstverwaltung in der der lokalen wirtschaftlichen Interessen. Während in der linksrheinischen Pfalz das politische Gewicht der Bayerischen Volkspartei zugunsten des Verbleibens dieses Gebietes bei Bayern den Ausschlag gab, erwies sich in dem übrigen, größeren, vorwiegend industriellen Teil der Besatzungszone vor allem die preußische Verwaltung „erneut als unschätzbare Klammer f ü r die Reichseinheit" 127 , die unter der starken staatskonservativen Leitung Otto Brauns 128 , unterstützt 128
Zur Beurteilung der amerikanischen Initiative bei der Entstehung des D a w e s -
Planes im einzelnen die auf archivalischen Forschungen beruhende Dissertation v o n Dieter Bruno Gescher, D i e Vereinigten Staaten v o n Nordamerika und die Reparationen 1 9 2 0 — 1 9 2 4 (Bonner Historische Forschungen, Bd. 7), Bonn 1956. 127
Ferdinand Friedensburg, D i e Weimarer Republik, Berlin
1946, S. 122; vgl.
Geßler, Reichswehrpolitik, S. 282. Bemerkenswert ist die hohe Zahl der v o n
den
französischen Besatzungsbehörden ausgewiesenen Angehörigen der preußischen Verwaltung. Sie betrug allein in dem ersten halben Jahr der Ruhrbesetzung 7200 mit 11 000 Angehörigen, neben 9000 Beamten und Angestellten
der Reichsbahn
1800 der Reichsfinanzverwaltung mit zusammen 28 500 Familienangehörigen,
und bei
insgesamt 71 000 Ausgewiesenen. (Geßler, a. a. O., S. 247, auf Grund eines Berichtes der Reichsregierung). 12- Braun erklärte im preußischen Landtag am 5. Dezember regierung
lehne
es ab,
„einer
staatsrechtlichen
Änderung,
wie
1923, die immer
Staats-
sie
auch
gestaltet sein mag, ausdrücklich oder stillschweigend zuzustimmen. Sie lehnt nochmals jede territoriale Änderung preußischen Gebietes
und jede
Beeinträchtigung
preußischer Hoheitsrechte mit allem Nachdruck ab". (SBer PLT, 1. WPer, 14. Bd., Sp. 20 022).
Dezentralisation
und Autonomiebestrebungen
in
Preußen
319
von weiten Kreisen der Bevölkerung namentlich des westfälischen Gebietes, die Krisenperiode bis zur Stabilisierung erfolgreich überbrückte. Als beharrende und bewahrende Elemente trugen Verwaltungsorganisationen und Beamtentum Entscheidendes zur Erhaltung Preußens bei. Auch im Binnenlande fiel schließlich eine von der Deutsch-Hannoverschen Partei beantragte, unter dem Eindruck der f ü r Sonderbestrebungen gewiß nicht günstigen Ruhrkrise wieder vertagte Volksabstimmung über eine Abtrennung Hannovers von Preußen 129 im Mai 1924 nicht anders aus als die voraufgegangenen Abstimmungen in den Grenzprovinzen. Die preußische Regierung hatte dieser Abstimmung freilich keineswegs tatenlos zugesehen, sondern es als ihre „selbstverständliche Pflicht" erachtet, „mit allen gesetzlichen Mitteln einer Abtrennung Hannovers entgegenzuwirken", da sie „sowohl dem preußischen wie dem Reichsinteresse" widerspreche. 130 In den Jahren der Stabilisierung verstummte das Interesse an einer hannoverschen ebenso wie das an der rheinischen Autonomie. Die anhaltende Übergangskrise des preußischen Staates war überwunden. Was an Weltanschauung übrig blieb, strömte in den kleinen Kreisen eines großdeutsch gesinnten Reichsföderalismus zusammen, in dem „Reichs- und Heimatbund deutscher Katholiken", der sich auf Ludwig Windthorst berief und der in dem Kölner Professor Schmidtmann seinen tätigen Führer fand, oder in seinem norddeutschen, protestantischen Gegenstück, dem „Reichsbund deutscher Föderalisten" des deutschnationalen Landtagsabgeordneten Alpers. Doch von beiden ging eine beträchtliche politische Wirkung nicht mehr aus.
129 Der Antrag auf Verschiebung der Volksabstimmung in Hannover im Frühjahr 1923 ging bezeichnenderweise von den Weifen aus, die sich unter dem Eindruck des Ruhreinmarsches nur geringe Chancen ausrechneten. Gegen den Protest der preußischen Regierung wurde ihm vom Reichsinnenministerium stattgegeben. Referentenvermerk o. Dat. [März 1923] BA, R 43 1/2286. 130 Rundschreiben Brauns an sämtliche Staatsminister vom 3.11. 1922, HAB, Rep. 327/58.
ACHTES
KAPITEL
Der erste Konflikt. Preußen, Bayern und die Einwohnerwehren (1920/21) Fragwürdige
politische
Homogenität
in Reich und
Ländern
Eine Periode der Konflikte zwischen der Reichsregierung und einigen Ländern begann mit der Auflösung der Verfassungskoalitionen und derEntstehung neuer Parteienkonstellationen und Regierungskombinationen. Das Verfassungssystem von Weimar war in seiner ersten Bewährungsprobe angelangt. Unter dem Einfluß einer zur Krise führenden außen- und wirtschaftspolitischen Entwicklung erreichte sie ihren Höhepunkt, ehe die wirtschaftliche Stabilisierung auch eine allgemeine politische Mäßigung nach sich zog. Der Verlust der politischen Homogenität von Reichsregierungen und Länderregierungen blieb indessen als dauerndes Problem zurück. Ein Jahr nach dem Sturz der Monarchie regierten, von den kleineren Ländern abgesehen, noch überall Koalitionen der Sozialdemokraten mit den Demokraten, in mehreren unter Einbeziehung des Zentrums; in 13 Ländern lag die Führung in den Händen der SPD, darunter in den sechs größten, in drei kleineren bei der D D P ; einzig Braunschweig verfügte über eine Regierung aus drei Angehörigen der Mehrheitssozialdemokratie, einem Demokraten und einem Deutschnationalen. Hierin traten im Verlaufe der folgenden Monate, die auch im Reich eine rein bürgerliche Regierung unter Beteiligung der Deutschen Volkspartei brachten, in rascher Folge Veränderungen ein, nach denen in der ganzen Ära von Weimar jene weitgehende Homogenität der ersten Jahre nie wieder erreicht wurde. Diese Differenzierung der Regierungsverhältnisse zog unter dem Druck der schweren allgemeinen politischen Krise des Reiches bald politische Differenzen und schließlich Konflikte nach sich. War es schon in der verhältnismäßig kurzen Zeit des überwiegenden sozialdemokratischen Einflusses fast gänzlich unmöglich, die gemeinsame Linie einer inneren Politik für Reich und Länder zu gewinnen, so trat mit dem Verschwinden homogener Koalitionen allmählich ein politischer Föderalismus neuer
Der erste
Konflikt
321
Prägung in Erscheinung, der die Länderstaatlichkeit als Instrument parteipolitischer Oppositionskämpfe benutzte und dadurch dem Staatenföderalismus einen neuen Inhalt gab. Den einheitsstaatlichen Bestrebungen auf Seiten des Reiches, die im Anfang hauptsächlich durch die Existenz des Landesbeamtentums und daneben durch den Gegensatz zwischen der U S P D und der zur Koalition mit dem Bürgertum tendierenden SPD aufgehalten wurde, erwuchsen in dieser sich vervielfältigenden Differenzierung der innerpolitischen Verhältnisse und Tendenzen neue und wirksame Hindernisse. Allerdings läßt sich nicht sagen, daß die Reichsregierung der sich wesentlich verändernden innerpolitischen Situation alsogleich Rechnung getragen hätte. In der Zeit zunehmender außenpolitischer Schwierigkeiten griff die Reichsregierung auf das Aushilfsmittel der Einberufung von Ministerpräsidentenkonferenz zurück, um jeweils in dringenden Bedarfsfällen eine Form des Einvernehmens mit den Länderregierungen wiederzugewinnen, f ü r die der Reichsrat ungeeignet schien. Diese Länderkonferenzen fanden seit dem 20. Januar 1922 in wechselnden, jedoch bald größer werdenden Abständen während des ganzen Zeitraumes der Republik statt. Sie dienten in der ersten Zeit hauptsächlich der Unterrichtung der Länderregierungen über die außenpolitische Lage und die Außenpolitik der Reichsregierung, f ü r die die Mehrzahl der Ministerpräsidenten allerdings zunächst nur begrenztes Interesse zeigte, da sie sich offenbar nicht berufen fühlte, an außenpolitischen Entscheidungen der Reichsregierung teilzunehmen. Ausnahmen bildeten lediglich Preußen, das besonders unter dem Zwang der Rheinlandfrage auf eine enge Zusammenarbeit mit der Westpolitik des Reiches Wert legte, gelegentlich auch Bayern, das sich unter der Ministerpräsidentschaft Graf Lerchenfelds „dem Reich f ü r seine österreichische Politik" als eine „nützliche Stütze" anbot. 1 Im übrigen schlug die Erörterung außenpolitischer Fragen, die der Reichskanzler zu eröffnen pflegte, meist rasch in eine Diskussion innerpolitischer Probleme um, in der die Länder mannigfache Wünsche aus ihrem eigenen Interessenkreis vorbrachten. Die Folge war fast zwangsläufig eine allmählich zunehmende Beschränkung der Konferenzpunkte auf innerpolitische, im besonderen zwischen Reich und Ländern strittige Themen, wobei die Reichsregierung bald die Tagesordnung so einrichtete, daß sie eine ge1 „Protokoll über die Besprechung des Reichskanzlers Wirth, des Reichsaußenministers R a t h e n a u , des Reidisschatzministers Bauer, des Reichsinnenministers Köster und des Reichsjustizministers Radbruch mit den Ministerpräsidenten der Länder" vom 20. 1. 1922, BA, R 43 1/2327.
21 Sdiulz I
II. Reichspolitik
322
und
Föderalismus
wisse Klärung über die Haltung der Länder in Bezug auf vorgesehene Maßnahmen und Gesetze vor der verfassungsmäßig üblichen Verhandlung durch den Reichsrat ermöglichte. Lediglich im kritischen J a h r 1923 gelangt en auch außenpolitische Besorgnisse der Länderregierungen stärker in den Vordergrund und regten einzelne Regierungschefs mittlerer Länder im Frühjahr sogar von sich aus die Einberufung einer Länderkonferenz an, um über die politische Lage ins Bild gesetzt zu werden 2 ; und die Regierungen Preußens und Bayerns standen ununterbrochen in enger Verbindung mit der Reichsregierung. Im ganzen war diese durch das Verfassungsrecht nicht begründete Einrichtung von recht unterschiedlicher, zeitweilig von sehr beschränkter Bedeutung. Die wichtigste dieser Konferenzen ist später die vom Januar 1928 geworden, die einen Verfassungsau ssdiuß für die Reichsreform einsetzte. Daß sogar parlamentarisch-parteipolitisch homogene Grundlagen problematische Beziehungen zwischen Regierungen und Verwaltungskörpern nicht ausschlössen, zeigte sich an den Beziehungen der Reichsregierung zur preußischen Exekutive. Die Gewohnheit, die sich während des Jahres 1920 eingestellt hatte, daß beide Regierungen jeweils einen hohen Beamten zu den Ministersitzungen der anderen entsandten, erwies sich ebenso wie das System der Verbindungsmänner, die ständig zwischen den Ressorts verkehrten und vermittelten, bald als völlig unentbehrlich. Doch dies konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die vollständige Trennung beider Regierungen beträchtliche Nachteile gegenüber dem älteren Zustand mit sich brachte, in dem der Reichskanzler durch Personalunion das Präsidium im Preußischen Staatsministerium innehatte. Eine für die Zentralstelle bestimmte Darstellung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei zeichnete, ohne gegen die preußische Regierung Vorwürfe auszusprechen, bereits eineinhalb Jahre nach Schaffung des neuen Verfassungszustandes ein wenig optimistisches Bild dieser Verhältnisse: „Der Nachteil liegt hier im System", in dem sich die Reichsregierung in einer zunehmenden Abhängigkeit von Preußen befand 3 . Sie zog in den Preußen berühren- Vorschlag des hessischen Staatspräsidenten Ulrich in einem Schreiben an Reichskanzler Cuno vom 25. 4. 1923, BA, R 43 1 / 2 3 2 7 ; ähnlich von seiten der badischen Regierung. Cuno lud daraufhin zu einer Konferenz am 30. April ein. 3
Schreiben des Staatssekretärs Albert an den Vorsitzenden der Zentralstelle für
die Gliederung des Deutschen Reichs vom 7. 1. 1921 (Entwurf mit handschriftl. Verbesserungen von der H a n d verfasser
dieser
7
Seiten
des Ministerialrats Brecht, in dem wohl der umfassenden
Abgangsverm. BA, R 43 1/1861).
Denkschrift
vermutet
werden
Haupt-
darf,
und
Der erste
Konflikt
323
den innerpolitisdien und finanzpolitischen Fragen sogar die zuständigen Minister zu ihren Sitzungen hinzu. Gemeinsame Chefbesprechungen zwischen den Ressortchefs des Reiches und Preußens waren längst an der Tagesordnung. Sie hielten sich hierbei, wie die Denkschrift des Staatssekretärs feststellte, „nicht an die strenge Rechtslage, wonach z. B. die Entscheidung des fachlich zuständigen Reichsministers in einer Reichssadie auch dem preußischen Ministerium gegenüber ohne weiteres maßgebend" war, sondern ließen „in allen Fragen von größerer Bedeutung bei verbleibenden Meinungsverschiedenheiten Aussprachen der Gesamtkabinette oder Chefbesprechungen" zu. Die Reichsminister behandelten die preußischen Ressorts also ähnlich wie gleichgestellte Reichsressorts. Eine „weitere Brücke" zwischen beiden Regierungen bot sich darin, daß „Parteidisziplin und Parteiinteresse" die Bemühungen um den Ausgleich „amtlicher Meinungsverschiedenheiten" unterstützten. Doch der Reichskanzler war keineswegs mehr in der Lage, die Richtlinien seiner Politik wie früher in Preußen durchzusetzen, das jetzt im Reichsrat seine eigene Politik verfolgte und dort gemeinsam mit dem häufig opponierenden Bayern über die Mehrheit verfügte, sobald es sich nur die Gefolgschaft der Provinzialstimmen zu sichern wußte; „fast in jedem Falle" knüpften sich hieran unerfreuliche Erörterungen zwischen den Regierungen. Dieser Zustand, so meinte der Autor dieser Denkschrift, werde sich durch Entgegenkommen, „an dem es im Prinzip in keiner Weise fehlt", nicht überbrücken lassen. Während früher Preußen mit der Reichsregierung im Reichsrat identisch auftrat, sei Preußen jetzt die erste und stärkste öffentliche „Kontrolle" f ü r alle Vorlagen der Reichsregierung geworden, deren Autorität dadurch geschwächt werde. Weitere Mängel ergaben sich aus dem fehlenden Unterbau der Reichsministerien, was zwar nicht neu, in jüngster Zeit aber besonders prekär geworden war. Sie entbehrten eigener dienstlicher Personalkenntnisse f ü r einzuberufende Ministerialbeamte, so daß „in den Reichsministerien zahlreiche mehr oder weniger durch Zufall ausgewählte Herren" tätig waren 4 , was bereits im Verhältnis der Prädikatsjuristen in Erscheinung trat. Die Auswahl blieb im wesentlichen den Ländern — in erster Linie Preußen — überlassen, die nur ungern die besten Beamten hergaben. Anderseits wirkte sich die dauernde Tätigkeit in Ministerialbüros in der „Bürokratisierung der Reichsbeamten und der Verengerung ihres Gesichtskreises" aus. Die Gefahr einer recht 4
21»
Ebda.
324
II. Reichspolitik und
Föderalismus
bedenklichen Isolation oberster Reichsinstanzen machte sich aber auch in anderer Hinsicht bemerkbar. Im besonderen mußte die Reichskanzlei den Mangel ständiger und zuverlässiger Berichterstattungen aus allen Teilen des Reiches spüren. Sie war auf die gelegentlichen Mitteilungen der Reichsvertretungen in einigen Ländern und namentlich der preußischen Fachressorts angewiesen, die ihr Bedürfnis nach regelmäßiger und erschöpfender Information keineswegs vollauf befriedigten. In Krisenzeiten, wie etwa während des Kapp-Putsches, war es sogar mit großen Schwierigkeiten verbunden, Nachrichten über die innere Lage zu erhalten. Sie mußte sich zu diesem Zweck der Reichszentrale für Heimatdienst bedienen. Ihr gerade von preußischer Seite mit Mißfallen begutachteter Ausbau durch Schaffung von Provinzstellen war „großenteils nur ein Notbehelf für den fühlbaren Mangel, daß die Reichsregierung keine Möglichkeit hatte, außerhalb der Reichshauptstadt durch eigene Organe auch nur die allereinfachsten Geschäfte vornehmen zu lassen, wie sie eine Regierungstätigkeit mit sich bringt". Die Denkschrift verschwieg nicht, daß von dieser Lage der Beziehungen zwischen Reich und Preußen im Falle eines „Auseinandergehens der Reichspolitik und der preußischen Politik im Gegensatz zu den früheren Zuständen" auch ernste Gefahren drohten, da „eine Instanz für die Überbrückung" fehlte. In den Angelegenheiten Oberschlesiens, der Abtretungsgebiete, der besetzten Gebiete, der Selbstschutzverbände wie in Polizeifragen hatte es bereits Auseinandersetzungen und Differenzen mit der preußischen Regierung gegeben, die dazu führten, daß man in der Reichskanzlei zumindest „den vorläufig wieder zurückgestellten Gedanken einer Personalunion des Reichsministeriums des Innern und des Preußischen Ministeriums des Innern" erneut für diskussionsreif hielt. Der Verfasser der Denkschrift befürchtete sogar, der derzeitige Zustand könnte die Reichsregierung eines Tages vor die Notwendigkeit stellen, „die immerhin großen direkten und indirekten Machtmittel, die sie hat, dazu zu verwenden, die Länder und namentlich auch Preußen in einem Punkte, der der Reichsregierung wesentlich erscheint, zum Nachgeben zu veranlassen". Er versicherte zwar, daß er „natürlich nicht an militärische Machtmittel" dächte, hielt aber nicht zurück, daß er die Größe und Schwere des Problems, das er in einem zusammengefaßten Überblick darbot, überaus bedenklich fand. E r unterließ auch die Bemerkung nicht, daß eine „stärkere Vereinheitlichung der Reichsregierung und der preußischen Regierung, wie sie beispielsweise durch die Personalunion von Ministerien zu erzielen wäre", die Abneigung Süddeutschlands gegen die
Der erste Konflikt
325
Reichsregierung stärken könnte, fügte aber hinzu, daß „die einheitliche Arbeit zwischen Bayern und dem Reich jetzt keineswegs größer" sei, als sie früher war. Die Möglichkeit eines Konflikts war auch hier angedeutet. Ob der mit großer Vorsicht angebrachte Hinweis auf die mögliche Notwendigkeit einer Option der Reichsregierung für Preußen ohne Rücksicht auf Süddeutschland zu dieser Zeit eine einigermaßen gewisse Entsprechung auf preußischer Seite finden konnte, erscheint indes keineswegs sicher. Auch die preußische Regierung fühlte sich unter den bestehenden Verfassungsverhältnissen bedrängt, aber auf eine Weise, daß sie die Schuld den Reichsressorts zumaß. 1921 trugen ihre Ressorts planmäßig Material über Reibungen und Friktionen zusammen, die sich aus dem Vorgehen von Reichsbehörden ergeben hatten. 5 Zweifellos befand sich das Reich in einer Verlegenheit, denn bei der Lage der Dinge ließen sich schwerlich von preußischen Ministerien Maßnahmen erzwingen, ohne sie an den Entscheidungen zu beteiligen. Es schien „beim Reiche eine gewisse Unsicherheit zu herrschen, was ihm eigentlich zusteht, und was es selbst erreichen und durchsetzen kann". Solche „Unsicherheiten" ergaben sich freilich auch aus der Vorsicht, mit der die Reichsressorts unter den Bedingungen des Neuen und des Über5
der
Denkschrift-Entwurf des Staatssekretärs Freund „Ursachen und neu
entstandenen
Material
befindet
Reibungsmöglichkeiten".
sich
wirtschaft, Domänen
ein
ausführlicher
Unter
Bericht
und Forsten, zu dieser Zeit
sekretär Göhre vom 2 6 . 1 . 1 9 2 1
dem
Auswirkungen
hierfür
des Ministers
verwendeten für
Land-
noch O t t o Braun, an
Staats-
mit Anlagen ( H A B , R e p . 3 2 7 / 2 7 ) . Das
Material
ergab eine längere Reihe von Fällen, die vor allem das Reichsernährungsministerium, ferner das Reichsschatzministerium und das Reichsarbeitsministerium einerseits und das preußische Landwirtschaftsministerium
anderseits betrafen. Im
Zusammenhang
mit der Reichsschulkonferenz hatten sich auch Schwierigkeiten zwischen dem preußischen
Kultusministerium
Verwaltung
und
dem
der Bildungsanstalten
Reichsinnenministerium
und die Durchführung
in
des
bezug
auf
die
Grundschulgesetzes
ergeben. Einige dieser Fälle wiesen auf andere Probleme hin; die meisten waren jedoch nur Streitfälle von begrenzter Bedeutung, die längst beigelegt werden konnten. Sie gingen in der Mehrzahl darauf zurück, daß sich die Reichsbehörden
in
Ermangelung eines eigenen Unterbaus preußischer Stellen der mittleren Stufe als Exekutive
bedienten, ohne vorher
ßischen Ministerien
die zuständigen
preu-
zu beteiligen und zu konsultieren, die dann ihrerseits
im gewünschten M a ß e
meist
in Kürze die Anordnungen der Reichsressorts außer Kraft setzten oder ihre Revision unter Berücksichtigung verfassungsrechtlichen
der preußischen Lage
die
Zuständigkeiten
preußischen
Ministerien
erzwangen, bzw.
entscheidende preußische Staatsministerium oberste Instanzen
das
da nach
der
kollegialisch
der preußischen
Be-
hörden waren und der Weg der Exekutive von den Reichsbehörden, sofern sie keine eigene Verwaltungen besaßen, nur über die zuständigen Ministerien der Länder ging.
326
II. Reichspolitik und
Föderalismus
gangs, meist unauffällig, an die Ausnützung und an den weiteren Ausbau ihrer verfassungsmäßig gegebenen Zuständigkeiten herangingen, nachdem die offen proklamierte Zentralisationspolitik Erzbergers unmöglich geworden war. Das Kräfteverhältnis zwischen Reich und Ländern hat sich nach der Übernahme der Finanzhoheit auch bald auf anderen Gebieten beweglich, im Ergebnis jedoch immer nur zugunsten des Reiches, verschoben, das in einem System von Fondsverwaltungen und Dotationen ein finanzpolitisches Instrument besaß, um die auftragsweise Durchführung seiner Politik sicherzustellen. Das traf auch Preußen, das sich mit zunehmender Energie nicht nur darum bemühte, seine alte Stellung wiederzuerlangen, sondern diese auch auszubauen. Da sich die stärkeren unter den Ländern ihre herkömmlichen Zuständigkeiten nicht ohne Widerstand schmälern ließen, entstand, von der Problematik der Zuständigkeitsabgrenzung ausgehend, allmählich eine Zone kritischer Anfälligkeit in dem Spannungsdreiedi zwischen den Berliner Regierungen — „rechts und links der Wilhelmstraße" — und München. Die ersten Reichsregierungen gingen in der Frage der Zuständigkeitsregelung besonders zielbewußt vor. Koch-Wesers Grundsatz einer „organischen" Erweiterung der Reichszuständigkeiten unter den Bedingungen der Reichsverfassung ist am besten geeignet, die herrschende Tendenz zu umschreiben. Diese Konzeption, die den Weg einer zwar vorsichtigen, jedoch sukzessiven Stärkung der Reichsgewalt wählte, unterschied sich politisch sehr wesentlich von der spezifisch preußischen, so daß unter dem gleichen Wort vom „deutschen Einheitsstaat" auch zu beiden Seiten der Wilhelmstraße bei weitem nicht dasselbe verstanden wurde. Selbst die programmatischen Endfiguren stimmten keineswegs überein, da vom Reich Ziel und Zustand der Zentralisation, von Preußen aber die Dezentralisation auf der Grundlage erweiterter Selbstverwaltungsrechte abgelehnt wurden und sich einander ausschlössen. Im Alltagsvokabular stand das allgemeine, undifferenzierte Schlagwort vom Einheitsstaat im Vordergrund. Es behauptete den Rang des gemeinsamen Namens und Symbols einer die Parteien umfassenden Richtung, die sogar mit der Stärke des „Rufes nach dem Reich" verglichen worden ist, der in den Zeiten des Nationalvereins ertönte. Die Sozialdemokratie nahm den Ausdruck Einheitsstaat in ihre beiden Nachkriegsprogramme, das Görlitzer Programm von 1921 und das Heidelberger Programm von 1925, auf und benutzte ihn in zahllosen Erklärungen, in Süddeutschland jedoch meist nur sehr zurückhaltend und mit wesentlichen Abwandlungen. Die Liberalen, namentlich die
Der erste
Konflikt
327
Deutsche Demokratische Partei, führten die Fracht historischer Programme der deutschen nationalen Bewegung mit sich, die darin gipfelten, daß sie in dem neuen deutschen Staat die Vollendung und dauerhafte Besiegelung des Nationalstaatsgedankens und damit die endgültige Beseitigung der politischen partikularistischen Gesinnung sehen wollten. Dieses Ziel hat die Demokratische Partei über das Werk der Nationalversammlung hinaus festgehalten, aber in immer reicher werdender Nuancierung angestrebt. Seit Hugo Preuß haben die Gedanken der autonomen Selbstverwaltung der Landschaften und der Dezentralisation nirgends einen so fruchtbaren Boden gefunden wie unter einem geistig repräsentativen Teil der Demokratischen Partei, der mit Namen wie Koch-Weser, Hoepker-Aschoff, Brecht, Luppe, Poetzsch-Heffter, Hamm, Lohmeyer und Meinecke, aber auch Schiffer und Geßler liberale und reformerische Persönlichkeiten angehörten, deren Tätigkeit aus der Literatur und Geschichte der Reichsreform nach der Weimarer Verfassung nicht fortzudenken ist und die unentwegt auf eine Fortbildung der inneren Staatsverhältnisse hindrängten und eines der wichtigsten Bewegungszentren der modifizierten einheitsstaatlichen Richtung bildeten." Die Auffassung, vor einer geschichtlichen „Examensarbeit" zu stehen, von deren Lösung „das historische Urteil über unsere Generation dereinst abhängen" würde,' die der Historiker unter ihnen aussprach, war f ü r sie programmbildend geworden, freilich zuweilen auch in der bedenklichen Formel: „Unitas in necessariis, libertas in dubiis". 8 Nicht gar so sehr anders stand es — allerdings mit Ausnahme ihres bayerischen Parteiteiles — mit der Deutschen Volkspartei, in der jedoch die an Rationalisierung und Verminderung der staatlichen Verwaltung interessierten und um eine Verstärkung der Stellung der Reichsregierung gegenüber Ländern und Reichstag bemühten Kreise der Großindustrie den Ausschlag gaben, deren Reichsspitzenorganisationen schon bald in Rücksicht auf das Einflußmoment mehr f ü r zentrale als f ü r Länderzuständigkeiten zu haben waren. Die Zentrumspartei, die sich in der Monarchie vom ersten Tage ihres Bestehens an gegen die „Uniform des Einheitsstaates", wie es im Pro6
Vgl. Sigmund N e u m a n n , Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem
Kriege, Berlin 1932, S. 46 f. 7 Friedrich Meinecke, Die Einheitsbewegung nach der Länderkonferenz: Die Hilfe, 34. Jg., N r . 3 vom 1 . 2 . 1 9 2 8 , S. 57; jetzt Meinecke, Politische Schriften und Reden: Werke, Bd. II, Darmstadt 1958, S.418. 8 H e r m a n n Höpker-Aschoff, Deutscher Einheitsstaat. Ein Beitrag zur Rationalisierung der Verwaltung, Berlin 1928, S. 20.
328
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
gramm von Münster 1870 hieß, zur Wehr gesetzt hatte, trat als republikanische Partei in ihrer Mehrheit an der Seite der Sozialdemokraten und der Demokraten f ü r die Reichsfinanzreform Erzbergers und damit f ü r eine der folgenreichsten Entscheidungen zugunsten des Reiches ein. Später aber sind die Auffassungen innerhalb des Zentrums, das selbst eine durch das einigende Band der Konfession gesicherte Föderation verschiedener Landsmannschaften mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein darstellte, kaum noch jemals einheitlich gewesen und in mehrere Richtungen auseinandergegangen." Es gab immer Vertreter eines entschiedenen Föderalismus in seinen Reihen, in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre indessen nur noch wenige grundsätzliche Erklärungen zugunsten des Einheitsstaates. Die Kunst der Zentrumsführer, die von H e ß und Lauscher im preußischen Landtag ebenso geübt wurde wie von Marx, Kaas oder Brüning in der Reichspolitik, hat immer darin bestanden, Vermittlung und Ausgleich innerhalb der eigenen Partei herbeizuführen. Sie gewährte in den Anfängen der Republik dem revolutionären Neuen Spielraum und Rechte, betätigte sich aber später stärker im Sinne bewahrender Erhaltung bei mäßiger Neuerung. In bezug auf die Umwandlung der verfassungsmäßigen Verhältnisse zeigte sich die D D P von einem gemäßigt progressistischen, das Zentrum hingegen von einem stärkeren konservativen Element beherrscht. Machtverschiebung
in Bayern
Seine Hinwendung zum „Einheitsstaat" in der ersten Nachkriegsperiode hatte das Zentrum mit der zunehmenden Entfremdung und schließlich völligen Lösung und Verfeindung seines einstigen bayerischen Parteiteils bezahlt, der als Bayerische Volkspartei mit dem spezifischen Gepräge einer Staatspartei unter den Parteien der Republik zum stärksten H o r t des Staatsföderalismus wurde, der sich — als süddeutsches Gegenstück zur SPD in Preußen — in Bayern bis zum Jahre 1933 ununterbrochen an allen späteren Regierungen beteiligte und seit März 1920 die führende Regierungspartei war. In Bayern war die Bevölkerung zum Reich von jeher anders eingestellt als in N o r d deutschland, nicht „bundesstaatlich", sondern „staatenbündisch", wie Nawiasky es ausgedrückt hat. 10 Schien nun das Verhältnis zwischen • Eingehend hierzu Senger, Politik der Deutschen Zentrumspartei, bes. S. 62 ff. 10 H a n s Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat (Grundprobleme der Reichsverfassung), Berlin 1928, S. 84, 185 ff
Der erste
Konflikt
329
Berlin und München nach demSturz der Monarchie ohnehin kritisch, so schufen die dauerhafte Koalition der Bayerischen Yolkspartei mit den Deutschnationalen und schließlich die Existenz der seit dem Kampf gegen die Münchener Räterepublik bestehenden Einwohnerwehren, militärischen und halbmilitärischen Organisationen und Vaterländischen Verbände eine Atmosphäre, die das Problem Bayerns im Reich weiter komplizierte. Die in Bayern mehr als in den Industriegegenden Deutschlands unverändert gebliebene bäuerlich-mittelständische Sozialstruktur, die konservative und retardierende Anschauungen begünstigte, und die Erinnerung an eine Dynastie, die nach wie vor durchaus volkstümlich blieb, hielten zudem in großen Teilen der Bevölkerung nach 1918 das Staatsideal der Monarchie lebendig. Die Scheidelinie zwischen „unitarischer" und „föderalistischer Front" 1 1 zeichnete sich infolgedessen zuerst im Verhältnis zwischen dem Reich und Bayern ab. Nach dem Sturz der Koalitionsregierung H o f f m a n n , in den Tagen des Kapp-Putsches trat sie deutlich in Erscheinung. Die Umstände dieser entscheidenden Machtverschiebung in Bayern kamen einem Staatsstreich sehr nahe und hatten mit einer Regierungsablösung nach parlamentarischen Regeln nur noch im letzten Akt der äußerlichen Abläufe etwas zu tun. 12 Der entscheidende Druck ging von einer Gruppe monarchistisch gesinnter hoher Beamter und Politiker aus, die seit langem Führung und Förderung der Einwohnerwehren in ihren Händen hatten. D a ß der bayerische Reichswehrkommandeur, General Ritter v. Möhl, der anfangs keinerlei Anstalten traf, der Regierung in den Rücken zu fallen und sich auf die Seite der revoltierenden Generäle in Berlin zu schlagen, den Vorstellungen des Regierungspräsidenten v. Kahr, des Münchener Polizeipräsidenten Pöhner, des Forstrates Escherich und des Stabschefs der Einwohnerwehren, Major Kriebel, nachgab und den Ministerpräsidenten um die Übertragung der vollziehenden Gewalt ersuchte, war gewiß eine schwache politische Tat und berechtigte auch nicht eben zu sonderlichen H o f f 11
Nawiasky, a . a . O . , S. 79 ff. Uber die Vorgänge in München während des Kapp-Putsches unterrichten Schwend, Bayern, S. 143 ff., und W. Hoegner, Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution, München 1958, S. 102 ff. Von besonderem Wert sind die Schilderungen des Regierungsmitgliedes E. Müller (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 230 ff.; und die Darstellung vom Standpunkt der Einwohnerwehren: Rudolf Kanzler, Bayerns Kampf gegen den Bolschewismus. Geschichte der bayerischen Einwohnerwehren, München 1931, S. 54 ff. Vgl. auch Hans Hubert Hofmann, Der Hitlerputsch. Krisenjahre deutscher Geschichte 1920—1924, München 1961, S. 45 f. 12
II. Reichspolitik
330
und
Föderalismus
nungen für den Fall, daß Möhl wirklich die gesamte Gewalt in die Hände gelegt worden wäre. Die Lage in München und Oberbayern wird indessen auch unter den Bedingungen der militärischen Verhältnisse gesehen werden müssen. Den zahlenmäßig starken bayerischen Einwohnerwehren, die für diese Zeit auf 300 000 Mann beziffert worden sind,13 standen verhältnismäßig schwache, durch unzuverlässige Zeitfreiwillige aufgefüllte Heeresverbände gegenüber, die einen offenen Konflikt nicht eben aussichtsreich erscheinen ließen. Im Unterschied zu Berlin hatte sich hier unter Duldung der sozialdemokratischen Minister ein mächtiges quasimilitärisches Relikt aus der Befriedigungszeit erhalten, das zwar dem sozialdemokratischen Milizgedanken entgegenkam und sich daher auch der Förderung durch Männer dieser Partei erfreuen durfte, nun aber im gefährlichen Augenblick, als Bürgerkriegsgarde von rechts eingesetzt werden konnte. General v. Möhl gab den Druck, dem er sich ausgesetzt sah, geradenwegs an den Ministerpräsidenten weiter. Dieser besaß zwar eine klare persönliche, sehr entschiedene Meinung, zog es jedoch vor, die Entscheidung über das Verlangen des Generals zum Gegenstand einer mehrstündigen Erörterung und schließlich einer Abstimmung im Kabinett zu machen, in dem die Auffassungen bereits auseinandergingen, und danach durch seinen eigenen Rücktritt das gesamte Kabinett zum Abtreten zu nötigen.14 Die Sozialdemokraten schieden nicht ungerne aus der Verantwortung, die sie gegen links gehalten und behauptet hatten und die nunmehr die bürgerlichen Koalitionspartner übernehmen und fortan gegen rechts behaupten sollten. 15 Dies besiegelte das ruhmlose und doch überraschende Ende einer Landesregierung, die zwar die Anfänge einer inneren Stabilisierung gelegt hatte, sich aber schon längst auf unsicherem Boden fühlte. Doch nicht allen Hintermännern dieser Aktion war am vollständigen Hinausdrängen der Sozialdemokraten aus der bayerischen Regierung gelegen. Einer durchaus glaubwürdigen Information zufolge verlangte der „Bauerndoktor" Heim noch im Mai 1920 vom Vorstand der Bayerischen Volkspartei, daß den Sozial13
Schwend, Bayern, S. 152.
14
E . Müller, Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 233 ff., der das
Vorhandensein
eines Druckmomentes und eine Beschränkung der Entscheidungsfreiheit widerlegt,
was
subjektiv
korrekt
sein mag, objektiv
entschieden
indessen, nach R . Kanzler,
Bayerns Kampf, S. 55, keineswegs restlos zutrifft. 15
So die Erklärung Timms: „Die Situation kann jezt nur von den bürgerlichen
Parteien gerettet werden, wie voriges Jahr es von den Sozialdemokraten geschah". (E. Müller, a. a. O., S. 234 f.)
Der erste
331
Konflikt
demokraten der Weg aus der Opposition heraus zur Mitarbeit in der Regierung geebnet werden müsse;" freilich dachte er in erster Linie an jene Männer, die ihm zur Beteiligung an einer bayerisch-föderalistischen Einheitsfront geeignet erschienen. Der Hauptstoß richtete sich gegen die Reichsregierung, deren außen- wie innerpolitischer Kurs in Bayern noch weniger Verständnis fand, seitdem die Frage der weiteren Existenz der Einwohnerwehren unter dem Druck der Entente zu einem Politikum ersten Ranges emporgestiegen war und die Reichsregierung einen vorsichtigen Rückzug einzuleiten begann. Die Drohungen des bayerischen Separatismus traten im Frühjahr 1920 in ein Stadium, in dem sie wohl verdienten, überaus ernst genommen zu werden. 17 Schwer wog f ü r die Zukunft die Wahl des starken Mannes dieser Tage, des im Grunde unpolitischen, im Herzen königstreuen Bürokraten Kahr zum Ministerpräsidenten. Heim hatte ihn der Bayerischen Volkspartei und diese dem Landtag präsentiert. Wie in Zeiten einer konstitutionellen Monarchie setzte er den „überparteilichen" Beamten ein, der freilich als tatkräftiger und überaus populärer Förderer der Einwohnerwehren über seine eigene Hausmacht verfügte. Im Bunde mit ihnen trat er an die Spitze der neuen bayerischen Regierung und übernahm er gleichzeitig die beiden wichtigsten Ministerien, das des Innern, das auch f ü r die Einwohnerwehren zuständig war, und das Ministerium des Äußeren, dem die Regelung der allgemeinen Beziehungen zur Reichsregierung oblag. Drei Minister der BVP, zwei Demokraten und ein Bauernbündler vervollständigten diese rein bürgerliche Regierung der Mitte. Doch schon nach der Landtagswahl im Juni, die gewaltige Stimmenverluste der SPD und der Demokraten bei starkem Ansteigen der Zahlen f ü r die deutschnationale „Mittelpartei" brachte, mußte der Justizminister Müller-Meiningen dem Dachauer Oberamtmann Roth weichen, der als Vertrauensmann der sogenannten Vaterländischen Verbände galt und das deutschnationale Regiment in der bayerischen Justiz begründete, innerhalb der Regierung aber zum Verfechter eines harten Rechtskurses wurde. " Bericht des Gesandten Graf Zech aus München v o m 2 0 . 5 . 1 9 2 0 , Abschr. BA, R 43 1/2213. Als die S P D bei der bayerischen Landtagswahl am 6. Juni 1920 mehr als die Hälfte der 1919 errungenen Stimmen verlor, büßten solche
Überlegungen
allerdings ihre Bedeutung ein. 17
Berichte Graf Zechs an das Auswärtige Amt v o m 2 4 . 1 . , 3 . 3 . und
6.4.1920
(„Der Separatismus nimmt allmählich eine geradezu erschreckende Ausdehnung an."), Abschrn. BA, R 43 1/2213.
332
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Die B V P bot unmittelbaren Anhalt zur Bildung einer antiweimarischen Front. Während der Vorbereitungen zur Reichstagswahl des Juni 1920 sah sie sich bei anderen ausgeprägt föderalistischen Parteien des Reiches nach Bundesgenossen um und fand sie bei der Christlichen Volkspartei des Rheinlandes und dann im neuen Reichstag auch bei der Deutsch-Hannoverschen Landespartei. Doch viel wichtiger als das Zusammengehen mit diesen verhältnismäßig schwachen Gruppen, die die Stellung der B V P im Reichstag keineswegs in nennenswertem Maße verbesserten, wurde die Politik der bayerischen Staatsregierung für eine „Revision der Reichsverfassung im föderalistischen Sinne". 18 Ein solches Programm entwickelte erstmals während des Wahlkampfes ein kleiner Münchener Kreis, der sich um den Geschichtsprofessor Hermann Grauert gruppierte und unter dem etwas umständlichen Namen „Mittwoch-Vereinigung der Geistesarbeiter der Bayerischen Volkspartei" in das rechte Licht der ParteiöfFentlichkeit setzte. Eine Denkschrift dieser Vereinigung diente der Vorbereitung für das erste föderalistische Parteiprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte, das die B V P auf ihrem Parteitag in Bamberg am 18. September 1920 annahm und fortan als Norm betrachtete, an der sie die Politik der bayerischen Regierung maß. Mit ihm wurde München Ausgangspunkt der ersten Verfassungsreform-Bewegung, die sich nun keineswegs mehr mit unfruchtbaren Rückgriffen in die Vergangenheit abgab, die Vertragstheorie in vollem Umfang als überholt verwarf und bewußt von den derzeitig existenten Verfassungsverhältnissen ausging, jedoch alle in ihre Verfügbarkeit gelangenden Mittel zu dem Zwecke einsetzte, eine Änderung der Reichsverfassung zu erzwingen und die alte Staatlichkeit Bayerns wiederherzustellen. Von den separatistischen und donauföderalistischen Tönen, die zweifellos vorhanden waren und niemals untergingen, enthielt die offizielle Bamberger Kundgebung nichts.18 Das Programm war in dieser Hinsicht verhältnismäßig maßvoll und strebte in seinen meisten Punkten eine dauernde Sicherung der Rechte und eine Anerkennung des Charakters der Staaten an; hierzu gehörte auch die Wiedereinführung des alten Bundesrates oder eines gleichartigen Organs. Jedoch das Bestehen auf das Recht der einzelnen Länder, ihre Staatsform und Staatsverfassung selbst zu bestimmen, ließ die Wirksamkeit jener Kräfte erkennen, die eine Restauration der in Bayern so populären Monarchie anstrebten und darin freilich einen Hierzu Schwend, B a y e r n , S. 132 ff. "
Das Bamberger Programm ist von Schwend, a. a. O . , S. 135 f., wiedergegeben.
Der erste
Konflikt
333
Stoß gegen den Kern der Weimarer Reichsverfassung zu vollführen drohten. Die stärkste Gefährdung der instabilen Beziehungen zwischen München und Berlin zog mit dem Streit um die Einwohnerwehr herauf, die wie in anderen Ländern nach der Eisner-Zeit auch in Bayern als volkstümliche, dem demokratischen Milizideal nahekommenden Selbstschutzorganisation unter dem Protektorat des einstigen sozialdemokratischen Innenministers Endres 20 und dank der besonderen Förderung Ritter von Kahrs als Präsidenten der oberbayerischen Kreisregierung aufgewachsen war. Die Verbundenheit des Ministerpräsidenten mit den bewaffneten Organisationen, die mehr und mehr in die Hände monarchistischer und nationalistischer ehemaliger Offiziere gerieten, die mit dem nach München übergesiedelten ehemaligen General Ludendorff in enger Verbindung standen, ließ das Problem ihrer von der Reichsregierung verlangten Entwaffnung und Auflösung zu einem Streitfall höchsten Grades werden. Die
Einwohnerwehren
Die Reichsregierung sah sich in ihrer Abrüstungs- und Umstellungspolitik in der Phase der Freikorps und Einwohnerwehrverbände geradezu überwältigenden Schwierigkeiten gegenüber und zeigte eine unsichere und wenig glückliche Hand, die die unkonsolidierte Beziehung zwischen republikanischen und konservativen Kräften nunmehr in vollem Umfang bloßlegte. Offenbar darauf bedacht, sich über revolutionärer und gegenrevolutionärer Strömung als eine freischwebende Instanz zu behaupten, zweifellos auch in dem Versuch, in Hinblick auf die Abrüstungsforderungen der Alliierten Ausweichmöglichkeiten offenzuhalten, hatte die Reichsregierung militärischen Stellen und Persönlichkeiten weitgehend freie H a n d in der Bildung von Freikorps wie von lokal gebundenen Einwohnerwehren gelassen. Sie führten infolgedessen eine in erheblichem Umfang unkontrollierte, wenn auch keineswegs inoffizielle Existenz. Daß auch einzelne Parteien, vor allem die SPD, die Werbetrommel rührten und daß die zum Dienst mit der Waffe bereiten Freiwilligen auf die republikanische Staatsform und demokratische Regierung verpflichtet wurden, 21 änderte in den meisten 20 W. Hoegner, Die verratene Republik, S. 102. Vgl. Kanzler, Bayerns K a m p f , S. 24. D o r t die ausführlichsten Angaben über Entstehung u n d Organisation. 21 2 . B. lautete die Beitrittserklärung f ü r Einwohnerwehren, die vom G a r d e Kavallerie-Schützen-Korps aufgestellt w u r d e n : „Ich verpflichte mich durch H a n d -
II. Reichspolitik
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und
Föderalismus
Ländern kaum etwas daran, daß sich alte militärische Strukturen weit stärker als ein neuer ziviler Geist durchsetzten und daß sich große bewaffnete Gruppen mit eigenen politischen Bewegungsgesetzen herausbildeten. Sie wurden zu Milizen, die mehr und mehr unter die Kontrolle politischer Kräfte gerieten, die die unglückliche Geschichte der politischen Privatarmeen der Weimarer Ära eröffneten. Dies waren meist nationalistische und weit rechts stehende Gruppen. In den Industriegebieten Sachsens und Thüringens dagegen gerieten sie unter die Führung der äußersten Linken, die ihnen einen entschieden proletarisch-klassenkämpferischen Akzent gab; hier war infolgedessen das Verhältnis zur Reichswehr von Anbeginn problematisch. Auch in Preußen — nachdem das Ministerium des Innern am 15. Dezember 1919 durch Runderlaß an die Oberpräsidenten die Errichtung von „Notwehrorganisationen" offiziell genehmigt hatte — befaßten sich alsbald verschiedene, keineswegs beauftragte Stellen mit der Bildung solcher Wehren. Ein „Schutzverband Deutscher Landwirtschaft" etwa bemühte sich schon vorher von zentraler Stelle in Berlin aus, den „Landesschutz" der bäuerlichen Einwohnerwehren listenmäßig zu erfassen und Waffenlieferungen zu vermitteln, um die gesamte Organisation in seine Hand zu bekommen. Dieser „Schutzverband" trug auch keine Bedenken, sich unter Umgehung der übergeordneten preußischen Instanzen unmittelbar an Landräte und Gemeindevorsteher zu wenden und in der Frage der Organisation der Einwohnerwehr direkte Beziehungen zu ihnen zu suchen. Schon der „Zentralrat der deutschen sozialistischen Republik" wandte sich, hierüber Beschwerde führend, an die Reichsregierung. Er nahm jedoch gar nicht die angemaßte Zuständigkeit und die fragwürdige Initiative des „Schutzverbandes" wahr, sondern ließ sich lediglich von der „Furcht vor gegenrevolutionären Handlungen" leiten. Sie ließen sich freilich kaum noch bestreiten, seitdem Beweise dafür vorlagen, daß „eine ganze Reihe von Geschlag, der republikanischen S t a a t s f o r m und der v o m V o l k e gewählten
Regierung
meine treuen Dienste zu widmen und die v o m Volke gegebenen Gesetze und die O r d n u n g im Gemeindebezirk . . . nötigenfalls mit Waffengewalt zu verteidigen. Im Falle des A l a r m s verpflichte ich mich, dem A u f g e b o t , falls nicht unüberwindliche berufliche und persönliche Hindernisse bestehen, unverzüglich Folge zu leisten, sei es bei T a g oder Nacht, und allen Befehlen der selbst gewählten Führer bis zur Beendigung
des A l a r m s
nachzukommen.
In
ruhigen
Zeiten
verpflichte ich
mich
wenigstens einmal wöchentlich zur Teilnahme an einer abendlichen Zusammenkunft . . . D e r Führer der Einwohnerwehr oder sein Vertreter ist ermächtigt, die Einwohnerwehr selbständig zu alarmieren auf G r u n d der Anweisungen der nächsten militärischen Dienststelle oder der Gemeinde . . ." B A , R 43 1/2729.
Der erste
Konflikt
335
meinden systematisch mit Gewehren, Handgranaten und auch Maschinengewehren bewaffnet wurden". 22 Die von der Reichskanzlei angeforderte Stellungnahme des Preußischen Kriegsministeriums lautete allerdings beruhigend. 23 Es bestritt zwar keineswegs die Initiative des Schutzverbandes Deutscher Landwirtschaft „zum Schutz von Leben und Eigentum gegen aufrührerische und plündernde Banden"; doch sie wurde durch das Reichswehrgruppenkommando I in Berlin gedeckt, das die „Anregung" zum Vorgehen des „Schutzverbandes" gegeben hatte. Diese ministerielle Stellungnahme unternahm freilich nicht den mindesten Versuch, die Frage aufzuklären, warum sich eine hohe militärische Kommandostelle dieses erstaunlichen Umweges bediente und warum auch weiterhin die Werbung f ü r die Einwohnerwehren auf dem Lande „durch Wort und Schrift", ihre finanzielle Unterstützung wie auch der Unfall- und Hinterbliebenenzuschuß ihrer Mitglieder Sache des Schutzverbandes blieb. Die Absicht, die Zuständigkeiten und den militärischen Charakter der Einwohnerwehren im Unklaren zu lassen, war offenkundig. Auf der einen Seite blieb der „Landesschutz" freiwillige Selbstschutzorganisation von der gleichen A r t wie die späteren sogenannten Wehrverbände. Er kam auf private Initiative zustande, wurde von privaten Interessenten unterhalten und durch „freiwillige Sammlungen" finanziert; und er war angeblich „vollkommen unpolitisch", was im Hinblick auf viele seiner Angehörigen, der in den unruhigen Zeiten Angeworbenen, nicht einmal übertrieben sein dürfte. Aber hinter ihm stand die Reichswehr; die Abteilung V I I I des Reichswehrministeriums „prüfte" seinen Schriftverkehr und hielt wohl auch noch auf andere Weise die Zügel in der H a n d , die aus der bürokratisch knappen Feststellung, daß der Landesschutz dieser Abteilung „angegliedert" sei, in Einzelheiten und in tatsächlichen Wirkungen nicht ersichtlich wurde. Auch die Werbung f ü r Einwohnerwehrverbände unter den zur Entlassung kommenden Heeresangehörigen blieb im Bereich des Reichswehrgruppenkommandos I in Berlin in der Zuständigkeit militärischer Kommandostellen. Die mit der Erfassung und mit der Leitung der Einwohnerwehrverbände verbundenen Aufgaben wurden am 1. Okto22
Von Max Cohen unterzeichnetes Sdireiben des Zentralrates an die Reichsregierung vom 6 . 6 . 1 9 1 9 mit anliegendem Rundsdireiben des Schutz Verbandes Deutscher Landwirtschaft vom 15.5.1919, BA, R 43 1/2729. Vgl. hierzu jetzt auch T. Vogelsang, Reichswehr, Staat und N S D A P , S. 19. 23 Schreiben des Kriegsministeriums an die Reichskanzlei vom 8 . 7 . 1919, BA, R 43 1/2729.
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¡1. Reichspolitik
und
Föderalismus
ber 1919 von der „Reichszentralstelle für Einwohnerwehren" übernommen, die dem Reichsinnenministerium unterstand, das nun als maßgebende oberste Reichsinstanz in der Einwohnerwehrfrage eine Rolle von wachsender Bedeutung spielte. Innerhalb des Komplexes der voranschreitenden Demobilisation bildete sich zunächst das gestaffelte System einer neuen Erfassung unter den aus dem aktiven Dienst entlassenen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften aus. Es reichte über die Zeitfreiwilligenverbände, die der zuständigen Reichswehrbrigade des jeweiligen Wohnbezirks unmittelbar unterstanden, über die Technische Nothilfe bis zu den örtlichen Einwohnerwehren, die die Mannschaften für militärische Verwendungen verfügbar halten sollten, soweit sie sich für die gedachten Zwecke „als brauchbar und zuverlässig erwiesen" hatten, jedoch nicht bereit fanden, Verpflichtungen als Zeitfreiwillige oder für die Technische Nothilfe einzugehen.21 Während die Zeitfreiwilligen zur Verstärkung der Reichswehrverbände „bei größeren Unruhen" herangezogen und „im Gefüge eines Reichswehrtruppenteils örtlich unabhängig an Brennpunkten des Reiches" verwendet werden sollten, blieb die Mobilisierung der Einwohnerwehren grundsätzlich auf den jeweiligen Wohnbezirk beschränkt. Die Verpflichtung des Zeitfreiwilligen brauchte jedoch — nach einem Erlaß Noskes — seine Verwendung innerhalb der Einwohnerwehr nicht auszuschließen. Sie bildete im Grunde nur eine „Erweiterung der Verpflichtung zur Einwohnerwehr", die es dem zuständigen Reichswehrbefehlshaber ermöglichte, über diese Kategorie der Erfaßten zu disponieren und „zu entscheiden, für welche Aufgabe der Freiwillige in erster Linie zu verwenden" war.25 Die Frage der Zuständigkeit für die Einwohnerwehr wurde Anfang 1920 in mehreren Hinsichten höchst prekär. Das Auswärtige Amt schlug im Hinblick auf das bevorstehende Eintreffen der Interalliierten Militär-Kontrollkommission vor, „durch Kabinettsbeschluß bindende Richtlinien für die Verhandlungen . . . über Reichswehr, Sicherheitspolizei und Einwohnerwehr festzulegen".24 Daraufhin wurde beschlossen, die Fragen der Reichswehr von der Sicherheitswehr grundsätzlich zu lösen und getrennten Zuständigkeiten zuzuweisen. Unter 24
Rundschreiben des Reichswehr-Gruppenkommandos I „Zeitfreiwillige und Einwohnerwehren" vom 28. 8. 1919, Abdruck für den Pressechef der Reichsregierung BA, R 43 1/2729. 25 Erlaß des Reichswehrministers vom 11.9.1919, BA, R 43 1/2729. 26 Schreiben Unterstaatssekretär v. Haniels an den Reichskanzler vom 9. 1. 1920, BA, R 43 1/2729.
Der erste
Konflikt
33 7
Leitung des Auswärtigen Amtes sollten das Reichswehrministerium über die Reichswehr, das Reichsinnenministerium hingegen unter Zuziehung des preußischen Innenministeriums über die Sicherheitswehr verhandeln. 2 ' Diese Entscheidung legte die bereits gegebene Zuständigkeit des Reichsinnenministeriums nun auch nach außen hin endgültig fest und trennte beide Bereiche, Reichswehr und „Sicherheitswehr", in administrativer sowohl wie in politischer Hinsicht. Der Beweggrund bedarf keiner Frage. N u r wenn eine vollständige Trennung der Sicherheitswehr und aller Formationen, die unter diese Bezeichnung fielen, glaubhaft gemacht werden konnte, ließ sich die Existenz dieser Organisationen ohne nachteilige Wirkung auf die Höchststärke der Reichswehr verteidigen. Diese besaß freilich den Vorrang; das geht aus dem Beschluß der Ressorchefs mit unmißverständlicher Deutlichkeit hervor: „Falls die Sicherheitswehr in der gegenwärtigen Höhe sich nicht aufrecht erhalten läßt, soll eine Kürzung der Reichswehr zugunsten der Sicherheitswehr auf keinen Fall eintreten." Reichsfinanzminister Erzberger zog aus diesem Beschluß, an dem er mitgewirkt hatte, seine eigenen überraschenden Konsequenzen: Im folgenden Monat lehnte er die Übernahme sämtlicher Kosten f ü r die Einwohnerwehr auf den Reichsetat rückwirkend vom 1. Oktober 1919 an ab. Diese unerwartete Maßnahme führte zu heftigen Protesten der Länder, vor allem von Seiten des sozialdemokratischen bayerischen Innenministers Endres, der sich hierbei als energischer Verteidiger der Einwohnerwehr zu erkennen gab, die er als „beste Bürgschaft f ü r Wahrung der Sicherheit und Ordnung im ganzen Reich" ansah. 28 Endres hielt es f ü r geboten, auf die entstehende Unruhe innerhalb der Einwohnerwehren hinzuweisen und die Reichsregierung in sehr entschiedener Weise zu warnen. Nach den Erfahrungen des Kapp-Putsches und angesichts eines verstärkten Gewichtes der linken Gruppen der Arbeiterschaft, die sich nicht zuletzt in der zunehmenden Aktivität der Gewerkschaften äußerte, schien die Reichsregierung fester als zuvor entschlossen, Einwohnerwehren und ähnliche Organisationen aus der politischen Gefahrenzone herauszumanövrieren. Freilich bot das Problem eine Fülle von Schwierigkeiten, die sich zwar von den Positionen her, die sich 27
Protokoll d. C h e f B am 12. Januar 1920, BA, R 43 1/2729. Anwesend waren u. a.
Reichskanzler Bauer, die Reichsminister Schiffer, Erzberger, Koch, Geßler, Schmidt der Unterstaatssekretär Albert, General v. Seeckt, Gesandter Riezler und die preußischen Minister Südekum und Heine. 28
Abschr. d. Protesttelegramms v o n Endres an Reichskanzler Bauer v o m 26. 2.
1920 BA, R 43 1/2729. 22 Sdiulz I
338
II. Reichspolitik und
Föderalismus
während des Kapp-Putsches herausbildeten, beurteilen, nichtsdestoweniger aber kaum binnen kurzer Frist beheben ließen.29 Die Furcht vor kommunistischen Aufständen und vor einer gewaltsamen „Bolschewisierung" war vor allem in den süddeutschen Ländern weit verbreitet. In der Tat waren große Mengen von Waffen über weite Gebiete verstreut und in unkontrollierbare Hände gelangt, die Versuche einer zuverlässigen Erfassung kaum zu Erfolg versprechenden Anfängen gediehen; zweifellos gab es sowohl in links- wie in rechtsextremistischen Kreisen sehr entschiedene Neigungen, sich der mit dem Besitz von Waffen erlangten Vorteile nicht sogleich wieder zu begeben. Eine kluge, ideale Gleichgewichtspolitik, die man sich so vorstellen könnte, daß sie in gleichmäßigem Vorgehen sowohl links wie rechts besänftigte und kontrollierte, stieß aber schon bei den Länderregierungen, die eigene Interessen verfolgten, auf die größten Hindernisse. Ohne Zweifel befand sich die Reichsregierung in einem Dilemma. Es fällt schwer zu sagen, ob innerhalb der Reichsministerien die Gefahr von Seiten der linken Milizen oder die, die von Seiten der bewaffneten gegenrevolutionären Kräfte der Rechten drohte, höher eingeschätzt oder für akut gehalten wurde. Wir dürfen mit Sicherheit annehmen, daß sie die Möglichkeit befürchteten, selbst durch ein nur zeitweiliges einseitiges Vorgehen einen nicht wieder gutzumachenden Vorteil für die andere Seite zu schaffen oder — was letztlich kaum weniger schwer wog — des Paktierens mit ihr verdächtigt zu werden. Anzeichen hierfür gibt es viele. In Wirklichkeit zeigte sich allerdings der Widerstand, der von Bayern und von den Organisationen der Rechten an den Tag gelegt wurde, außerordentlich hartnäckig und schienen zunächst nur die Maßnahmen des Reiches, die sich gegen bewaffnete Arbeitermilizen richteten, einigermaßen erfolgreich. Daß dem so war, lag einmal an dem hohen Organisationsgrad, den die populären Einwohnerwehren in Bayern erreicht hatten, an den weitverzweigten organisatorischen Verbindungen der bayerischen Formationen in Süddeutschland und darüber hinaus auch in Ost- und im östlichen Norddeutschland, wobei sie sich der Förderung durch Reichswehrstellen erfreuten und mancherlei Beziehungen aus dem alten Heer nutzen konnten, vor allem aber an der unbeirrbaren Politik der bayerischen Staatsregierung unter der festen Hand Kahrs, die sich ganz 2 9 Dem Reichsinnenminister lag ein Bericht des badischen Innenministers Remmele vom 17. 3. 1920 vor, der auf eine zumindest zweideutig zu nennende Haltung der Reichszentrale für Einwohnerwehren in Berlin während des Kapp-Putsches schließen ließ. Abschr. B A , R 43 1/2729.
Der erste
339
Konflikt
und gar mit der Sache der Einwohnerwehren identifizierte. Sie fand hierbei in anderen Ländern H i l f e und Unterstützung, so daß die Gefahr der oppositionellen F r o n t eines erneuten „Stuttgarter" Protestes vorübergehend wieder in greifbare Nähe rückte. Als erstes Land wurde das stets unruhige, aber politisch isolierte Sachsen von der Absicht der Reichsregierung unterrichtet, „die A u f lösung der bestehenden Einwohnerwehren in Erwägung" zu ziehen, „insbesondere deshalb, weil die Entente in ihrem Fortbestehen eine Verletzung
des Versailler Vertrages erblickt". 3 0 D e r
Reichskanzler
schwächte freilich die schwerwiegende Bedeutung dieses Satzes sogleich durch den Zusatz ab, daß man in Berlin „in keiner Weise" übersehe, „daß für die aufzulösenden Einwohnerwehren ein Ersatz geschaffen werden muß, der die Aufrechterhaltung von R u h e und O r d nung insbesondere in den Landesteilen garantiert, die Sicherheitswehr in genügender Stärke nicht haben". Diese vorsichtige, indirekte E m p fehlung einer elastischen, jedoch in ihren Zielen nicht näher umschriebenen organisatorischen Umstellung verknüpfte der Reichskanzler mit dem vollkommen unmißverständlichen Ersuchen an die sächsische R e gierung, unverzüglich in die diktatorische, an die Rätezeit erinnernde Praxis einzelner sächsischer Industriestädte einzugreifen, die maßgeblich von militanten sozialistischen Gruppen beeinflußt wurde. Unter Umgehung der sächsischen Regierung waren der Reichskanzlei B e schwerden zugegangen, die diesen Schritt ausgelöst haben dürften. Der letzte und entscheidende Anstoß ging aber zweifellos von G e neral Nollet aus. D e r Vorsitzende der Interalliierten Kontrollkommission hatte, von der französischen Regierung veranlaßt, die sich durch das deutsche „Krümpersystem" beunruhigt fühlte, wenige T a g e vorher die Auflösung der Einwohnerwehren
und
Zeitfreiwilligenverbände
bis zum 10. April 1 9 2 0 gefordert. D e r Reichsregierung blieb gar nichts anderes übrig, als nun sehr rasch nach einem endgültigen Ausweg zu suchen. D e r unübersichtliche Stand der Bewaffnung im gesamten Reichsgebiet und die Furcht vor bewaffneten kommunistischen Aktionen im Ruhrgebiet sowohl wie in Mitteldeutschland ließen Reichsinnenminister Koch-Weser jedoch von vornherein vor der großen Aufgabe resignieren, eine sofortige Rückbildung der in Frage kommenden O r g a nisationen zu unbewaffneten Ortswehren einzuleiten. Auch die Klagen einzelner Landräte über die Verhältnisse auf dem flachen Lande, an30
H a n d s c h r i f t l . E n t w u r f eines Schreibens des R e i c h s k a n z l e r s H e r m a n n M ü l l e r an
die sächsische R e g i e r u n g v o m 8 . 4 . 1 9 2 0 m i t A b g a n g s v e r m . , B A , R 4 3 1/2729. 22»
II. Reichspolitik
340
und
Föderalismus
gesichts derer sie sich außerstande erklärten, die Lebensmittelerfassung und den Schutz der Einwohner zu sichern, schien einstweilen gegen die völlige Beseitigung der Wehren zu sprechen.'11 Die Reichsminister einigten sich schließlich darauf, dem französischen Verlangen soweit nachzugeben, daß eine Umbildung der Einwohnerwehren angeordnet und ihre zentrale Organisation und Leitung aufgehoben werden sollte. Sie vereinbarten die Veröffentlichung eines Kommuniques, das sogar die Auflösung der Einwohnerwehren ankündigte, aber gleichzeitig die Länder aufforderte, ihrerseits „einen örtlichen Schutz zu schaffen". Allerdings sollten sie f ü r eine erweiterte Heranziehung aus Kreisen der Arbeiterschaft sorgen, womit die Reichsregierung den Forderungen entgegenzukommen suchte, die die Gewerkschaften seit einiger Zeit erhoben. Militärische Übungen durften künftig nicht mehr abgehalten werden. Doch bereits die Verbreitung dieser Nachricht löste in München Bestürzung und heftige Erregung aus, so daß der preußische Gesandte in Berlin warnende Vorstellungen erhob, daß die Auflösung der Wehren „in Bayern faktisch nicht durchführbar" sei, weil „die Wehrleute ihre Waffen gutwillig nie abgeben" würden. 32 Überdies wußte der Gesandte eine „autoritative Nachricht" wiederzugeben, „wonach die Entente einem selbständigen Bayern die Beibehaltung von Volkswehren gestatten würde". Ein Rundschreiben Koch-Wesers an die Länder wählte dann die vorsichtige, und nach außen unverbindliche, die Reichsregierung entlastende Form, ihnen „anheim" zu geben, „dort, wo ein genügender Schutz durch Reichswehr, Sicherheitspolizei und andere Polizeiorgane nicht gegeben ist, gleichzeitig für einen Ersatz durch eine nach den örtlichen Verhältnissen zu gestaltende anderseitige Schutzorganisation zu sorgen". 33 Damit hatte die Reichsregierung ihre Verantwortung beinahe unauffällig auf die Länder übertragen, ohne von ihnen unumwunden die Auflösung jeglicher Formen bewaffneter Wehren zu verlangen. Allerdings schrieb der Reichsinnen31
Protokoll d. C h e f B am 7. April 1920, BA, R 43 1/2729. Anwesend waren Reichs-
kanzler Müller, Reichsinnenminister Koch, Reichswehrminister Geßler, Unterstaatssekretär Albert, die preußischen Unterstaatssekretäre Freund und Göhre, Admiral Michaelis,
Geh. Legationsrat v. Keller,
die Geheimräte
v. Jakobi
und
Schmidt
und die Majore v. Gilsa und v. Schleidler. 32
Abschr. des telefonischen Berichtes v o n Graf Zech an das Auswärtige A m t v o m
8. 4. 1920, BA, R 43 1/2729. 33
Rundschreiben des Reichsinnenministers an sämtliche Länderregierungen
8. 4. 1920, BA, R 43 1/2729.
vom
Der erste
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minister vor, es müsse jeder Anschein vermieden werden, „der auf Verletzung der in dem Schreiben des Generals Nollet angeführten Bestimmungen des Friedensvertrages schließen lassen könnte". Im besonderen sei „die Bewaffnung mit Militärgewehren, die nach dem Friedensvertrag abzuliefern" waren, unzulässig, so daß „auf eine andere Art der Bewaffnung bedacht" genommen werden müsse. Doch die formell korrekte Erfüllung der französischen Forderung darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Reich im Grunde nun zwar die zentrale Erfassung und Leitung der Einwohnerwehren, aber damit auch jede unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit beseitigte. Die Einwohnerwehren wurden zur Sache der Länder; die Reichsregierung betrachtete sie offiziell hinfort als nicht mehr existent. Von einer wirklichen allgemeinen Auflösung konnte indessen nicht die Rede sein. Einzig die preußische Regierung beschloß noch am gleichen Tage die Beseitigung der Wehren in ihrem Lande. Doch selbst die äußerste Vorsicht Koch-Wesers konnte die von Graf Zech angekündigten Ereignisse nicht aufhalten. Den süddeutschen Ländern lag zunächst weit weniger an der größeren Entfaltungsmöglichkeit ihrer eigenen Initiative, die die Maßgabe des Reichsinnenministers immerhin andeutete, als an einem wirksamen außenpolitischen Schutz vor Veränderungen in der eingespielten Organisation, wie sie die Interalliierte Kontrollkommission verlangte. Hier kam das Schlagwort von der „Erfüllungspolitik" der Reichsregierung auf, das in einer irregeleiteten öffentlichen Meinung später verheerende Wirkungen erzielte und das keineswegs die schwierige Situation der Reichsregierung in ihrem Verhältnis gegenüber den Ländern berücksichtigte. Der energischen Aktivität des bayerischen Ministerpräsidenten, der sich hierin von dem sozialdemokratischen württembergischen Regierungschef Wilhelm Bios unterstützt sah, war es zuzuschreiben, daß sich die süddeutschen Länder auf einer neuen Stuttgarter Konferenz schon am nächsten Tage zu einer einheitlichen Opposition formierten. Im Namen der Regierungen von Bayern, Württemberg, Sachsen, das freilich ganz andere politische Ziele verfolgte, Baden und Hessen kabelte Staatspräsident Bios einen geharnischten Protest „gegen die französische Note" an Reichskanzler Müller, 34 in dem er eine Auflösung der Einwohnerwehren — ohne Würdigung von Gegengründen — kurzweg „unmöglich" und „gleichbedeutend mit dem wiederholten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung" nannte. Von der Reichsregierung ver34
Telegramm vom 10.4.1920, BA, R 43 1/2729.
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langte dieses drastisch-dramatisch stilisierte Telegramm „auf das entschiedenste . . . , daß sie sofort erneut Verhandlungen mit der Gesamtentente aufnimmt". Eben daran wollte und konnte sie nicht denken. Allerdings mußte sie sich jetzt auf schwierige Verhandlungen mit den süddeutschen Ländervertretern gefaßt machen, die ohne Achtung protokollarischer Gepflogenheiten ihr Eintreffen in Berlin ankündigten. Unter diesen Umständen traf es sich günstig, daß der Vertreter des Auswärtigen Amtes in Darmstadt einen Stimmungsbericht vom Verlauf der Stuttgarter Konferenz geben konnte, 35 der die Haltung der Regierungschefs bei weitem nicht so einmütig erscheinen ließ, wie das Telegramm des württembergischen Staatspräsident glauben machen wollte. Außer den Regierungschefs Bayerns und Württembergs war kein anderer der Anwesenden für den der Reichsregierung gegenüber angeschlagenen Ton verantwortlich. Vielmehr hatten die Vertreter Badens und Hessens eine Milderung des zwischen der bayerischen und württembergischen Delegation vereinbarten und ursprünglich noch weit härter formulierten Wortlautes durchgesetzt. Wenn auch die Haltung der beiden sozialdemokratischen Repräsentanten dieser Regierungen, die sich vorher wie nachher deutlich gegen die Einwohnerwehren aussprachen und dennoch dem bayerisch-württcmbcrgischen Protest zustimmten, in ihrer politischen Konsequenz wenig einleuchtet, so mußte Kahr doch offenbar erkennen, daß sich der rasch rekonstruierte süddeutsche Block kaum in eine Kampfstellung gegen Berlin hineinziehen ließ. Diesen Umstand respektierte er noch in seinem Schlußwort in der Weise, daß er ein nachdrückliches Bekenntnis zur Reicfaseinheit ablegte. Die Besprechung der Stuttgarter Länderdelegation mit dem Reichskanzler 3 " bestätigte das Bild, das der Darmstädter Gewährsmann gegegeben hatte, in vollem Umfang. Der Reichskanzler sah sich zwar mehrmals veranlaßt zu versichern, daß für das Vorgehen der Reichsregierung allein die Note General Nollets maßgebend sei. Doch der badische Innenminister Remmele unterstützte ihn ebenso wie Staatssekretär Göhre, die für ihre Länder die Entwaffnung der Einwohneri" Geheimes
Telegramm
des
Gesandten
Rieth
an
das
Auswärtige
Amt
vom
1 3 . 4 . 1 9 2 0 aus Aschaffenburg sowie Schreiben vom gleichen Tage, BA, R 43 1/2729. 38
Geheimes Protokoll der Besprechung über die Einwohnerwehren am 15. April
1920, BA, R 43 1/2729. Als Anwesende werden außer Reichskanzler Müller und Reichsinnenminister Koch, Unterstaatssekretär
Göhre für Preußen,
Staatspräsident
Bios für Württemberg, Innenminister Remmele für Baden, Ritter v. Prcger, Major Sperr, Major Kriebel und Forstrat Escherich für Bayern aufgeführt.
Der erste
Konflikt
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wehren und ihre Angliederung an eine künftig erweiterte und verstärkte Sicherheitspolizei ankündigten. Lediglich Sachsen, Württemberg und Bayern blieben bei der völligen Ablehnung des Auflösungsverlangens, was Bios mit der Befürchtung begründete, „das auf diese Weise der äußersten Linken die Waffen in die H a n d gegeben würden", aber auch mit der wiederauflebenden „starken Stimmung nicht gegen Preußen oder den Norden, wohl aber gegen Berlin . . . Man wolle in Süddeutschland nicht von Berlin, insbesondere nicht von der Berliner Straße abhängig sein". Der Reichskanzler erteilte hierauf die kühle Antwort, daß diese Stimmung zwar bekannt, als Argument der Entente gegenüber jedoch nicht verwendbar sei. Im übrigen sei „die Gefahr von rechts zur Zeit sehr groß". Koch-Weser hingegen zeigte sich wieder einmal als wahrer Künstler des sorgsam abgezirkelten Kompromisses, der mit der Empfehlung einer lockeren Behandlung der strittigen Einwohnerwehrfrage den süddeutschen Opponenten der Reichsregierung offenbar entgegenkommen wollte: noch sei es „verfrüht, Ratschläge darüber zu geben, wie die Länder sich in dieser Frage im einzelnen verhalten sollten". Die „einzig mögliche Politik" sei die, „sich um die Frage sozusagen herumzudrücken, also eine Politik des elastischen Widerstandes". Das war nun in der Tat die Politik des Reichsinnenministers, der das Abwarten stärkerer Druckmittel der Entente offenbar f ü r die beste Lösung hielt. Solange nicht „ein direktiver Zwang der Entente" vorhanden sei, versicherte Koch, liege es der Reichsregierung „völlig fern, in die Organisation der Länder einzugreifen". Koch-Weser zeigte anderseits jedoch nicht die geringste Neigung, die gegebenen Weisungen zurückzunehmen. Er ergänzte sie sogar in einigen Punkten: Grundsätzlich sei zu empfehlen, „nicht zuviel mit Zentralen zu arbeiten" und nicht zuviel zu organisieren. Die im Reich vorhandenen Zentralen der Einwohnerwehr würden aufgelöst. Fortan sei es Sache der Länder, die Frage so zu behandeln, daß die Entente nicht erklären könne, „es sei nichts geschehen". Sie dürften jedoch nicht außer Acht lassen, daß die Gewehre nach dem Friedensvertrag abzuliefern seien. Die Schwierigkeiten, die sich hieraus ergäben, verkenne er in keiner Weise. Es sei „natürlich unmöglich, mit Truppen der Reichswehr den bayerischen Bauern die Waffen wegzunehmen. Man müsse eben abwarten, wie sich die Entente hierzu stelle. Die N o t des Reiches und der Länder sei in dieser Frage gleichartig." 37 Dem harten Nein 37
Ebda.
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11. Reichspolitik
und
Föderalismus
Bayerns und Württembergs setzte Koch ein sehr wenig präzisiertes Sowohl-als-auch entgegen, das die Probleme im Augenblick nur vertiefte und abzuwarten empfahl, bis neue Maßnahmen der Entente, die mit Gewißheit nicht ausbleiben konnten, auch neue Reaktionen erzwangen. In diesem Sinne verlangte auch der Vertreter des Auswärtigen Amtes Konzessionen. Er erwartete, daß die Frage der Einwohnerwehren mit einer Besetzung von Frankfurt, Darmstadt und anderen Städten verknüpft werden würde. Doch die Bayern beharrten unbeirrbar auf ihrem Standpunkt, daß eine Umorganisation der bayerischen Einwohnerwehren nicht möglich und daß sie auch nicht erforderlich sei, weil ihre Organisation dem Friedensvertrag nicht widerspreche. Wenn nun aber die Reichsregierung gehofft haben sollte, daß die Auflösung der Wehren in Preußen und Norddeutschland vollkommen reibungslos verlaufen und auf diese Weise die Argumente ihrer süddeutschen Gegner weitgehend entkräften würde, so sah sie sich hierin alsbald getäuscht. Mit einiger Verspätung votierte nun auch die Regierung eines der kleineren norddeutschen Länder, Mecklenburg-Schwerin, gegen die Auflösung der Einwohnerwehr, da sie ohne sie „die Ordnung in dem dünn bevölkerten Lande, insbesondere den Schutz der landwirtschaftlichen Erzeugnisse gegen Beraubung . . . nicht aufrecht erhalten" könnte. 39 Das waren freilich Aufgaben, die überall der Polizei oblagen, die ohne Beeinträchtigung der Reichswehr hierfür ausgerüstet werden konnte, soweit sie dies nicht schon war. Aber auch innerhalb Preußens zeigte sich die Durchführung der Entwaffnung problematisch. Der Oberpräsident und Reichskommissar in der Provinz Sachsen erklärten eine Auflösung der Einwohnerwehren f ü r unzweckmäßig, falls sie nicht mit einer systematischen vollständigen Entwaffnung sämtlicher radikalen Kräfte von rechts und links und planmäßigen Hausdurchsuchungen größten Stiles verknüpft würden, um die „ständig drohende Putschgefahr zu beseitigen". 39 Gegebenenfalls wollte er selbst vorgehen. Solchen Entschlüssen suchten offenbar großzügig organisierte, jedoch im Dunklen bleibende Kräfte zuvorzukommen, die sich jetzt darum bemühten, die Waffen vor dem Zugriff der Behörden verschwinden zu lassen und über unkontrollierte Kanäle ins Verborgene zu bringen. 40 Die Vorgänge in Preußen wirkten keineswegs be38
Abschr. eines Schreibens des stellvertretenden Bevollmächtigten MecklenburgSchwerins zum Reichsrat, Ministerialdirektor Tischbein, an den Reichskanzler v o m 16. 4. 1920, BA, R 43 1/2729. 39 40
Schreiben Hörsings an den Reichskanzler vom 1 6 . 4 . 1 9 2 0 , BA, R 43 1/2729. Mitteilungen des Präsidenten des P S t M an den Reichskanzler und den Reichs-
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Konflikt
ruhigend; die Ergebnisse der Auflösungsmaßnahmen blieben einstweilen höchst fragwürdig. In zunehmendem Umfang begannen politische Organisationen wie auch einzelne Interessenverbände, auf eigene Faust Waffen zu sammeln und Kampfformationen aufzustellen. Die Aufhebung der Reichszentrale f ü r Einwohnerwehren kam f ü r sie einer Aufforderung gleich, an die Stelle der staatlich geförderten, unterstützten und kontrollierten Einwohnerwehren einen „privaten Selbstschutz" zu setzen. In den östlichen, agrarischen Gebieten Preußens entstanden sie in der Form von Heimatschutzorganisationen, die sich nur wenig von den eben aufgelösten Einwohnerwehren unterschieden. In Schlesien etwa bildete sich ein „Heimatschutzverband verfassungstreuer Schlesier", der den Schlesischen Landbund, den Bund der Landwirte, die Christlichen Bauernvereine und eine Anzahl städtischer Bürgerräte, darunter den von Breslau, miteinander vereinigte. Wenn hier auch der Kreis der beteiligten Gruppen ihrer politischen Herkunft nach verhältnismäßig weit gezogen war und die Agrarier der Rechten ebenso wie Demokraten und Zentrumsanhänger einbezog, so blieb doch der offen bekundete Grundsatz, daß der Heimatschutzverband „nicht gewillt" sei, „gegen irgendwelche Neugründungen — von welcher Seite sie auch kommen mögen — zurückzutreten", insofern bedenklich, als sie sich trotz des Bekenntnisses zur Aufrechterhaltung der Verfassung rückhaltlos gegen „eine Neubildung [bewaffneter Formationen] auf staatliche Grundlage" richtete.'" Die Berufung auf die Verfassung diente hier ausschließlich dem Schutz gegen links. Die prononziert verfochtene Auffassung, daß allein im privaten Selbstschutz „bei richtiger Beurteilung der inneren und äußeren Lage die Lösung der Ordnungsund Sicherheitsfrage" liege, deutete auf eine Entwicklung hin, die nicht ohne schlimme Folgen bleiben konnte. Das Demobilisationsproblem war nun in ein neues Stadium getreten. Die Auflösung von Freikorps und ähnlichen militärischen Gebilden führte häufig zu nichts anderem als zu einem unmittelbaren Ubergang in quasimilitärische Formationen radikaler Rechtsobservanz, die Auffangsstellungen für die entlassenen Freiwilligen bildeten und unter ihrem Zuzug rasch an Umfang gewannen. Vereinzelt lag der unmittelbare Zusammenhang zwischen Freikorps und quasimilitärischen Neuformationen offen zu I n n e n m i n i s t e r v o m 1 9 . 4 . 1 9 2 0 , B A , R 43 1/2729. „ D e r W e t t l a u f u m die W a f f e n b e s t ä n d e " (T. Vogelsang, Reichswehr, S. 30) b e g a n n schon im F r ü h j a h r 1920. 41
Entschließung
des
„Heimatschutzverbandes
26. 6. 1920, B A , R 43 1/2729.
verfassungstreuer
Schlesier"
vom
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II. Reichspolitik
urd
Föderalismus
Tage. Der „Frontbann", den der Freikorpsführer Pfeffer v. Salomon, später Hitlers oberster SA-Führer, ins Leben rief, blieb nicht das einzige Beispiel dieser Art, so daß dann später in der Zeit der oberschlesischen K ä m p f e mit Zustimmung und Unterstützung der Reichsregierung die verhältnismäßig schnelle Aufstellung und Relegalisierung militärisch einsatzfähiger Freikorps nicht schwer fiel. Im Grunde wechselten nur die Organisationsformen und ihre Legalisierung durch die Regierungen. Alle diese Verbände blieben jedoch ein stehendes Hilfskorps der extremen Rechten und trugen viel zu ihrer Radikalisierung bei. Gelegentlich gab es freilich auch Verbindungen zu radikalen Linken, wie das Beispiel des bayerischen Hauptmanns Beppo Römer zeigte, der offenbar schon frühzeitig, auch als Führer des zwischen Freikorpsformationen und quasimilitärischem Bunde wechselnden „Oberlandes", Beziehungen zu kommunistischen Kreisen unterhielt und später in ihnen eine politische Heimstatt fand. Unter solchen Umständen mußte sich zwangsläufig die Haltung der Reichsregierung den bewaffneten Organisationen gegenüber, die zu einem innerpolitischen Krisenherd zu werden drohten, verschärfen. Die Notwendigkeit, das Monopol bewaffneter Macht in einer regulären Militärorganisation zu erhalten, zwang dazu, den nächsten Schritt in veränderter Richtung zu tun und zu dem längst fälligen Entschluß einer allgemeinen und zwangsweisen Entwaffnung zu gelangen, der sich während der Konferenz von San Remo auch aus außenpolitischen Gründen aufnötigte. Reichsregierung, Reichswehr und preußische Staatsregierung stimmten jetzt darin überein, „daß Militärbewaffnung sich nur in Händen der Reichswehr und Sicherheitspolizei bzw. in den von diesen bewahrten Depots" befinden dürften 42 und daß daher, wie es General Seeckt aussprach, die nächste zu erwartende Note der Alliierten dergestalt „innerpolitisch ausgenutzt" und „alle übrige militärische Bewaffnung" beseitigt werden sollte.43 Binnen weniger Wochen hatten sich die Urteile verschärft; sie soll42 Protokoll d. C h e f B am 26. April 1920, BA, R 43 1/2729. Anwesend w a r e n Reichskanzler Müller, die Reichsminister Geßler, Koch und Blunck (Justiz), der preußische Ministerpräsident Braun, Innenminister Severing, Unterstaatssekretär Albert, Ministerialdirektor Meißner, General v. Seeckt, O b e r s t l e u t n a n t Hasse und die M a jore v. Stockhausen und v. Fritsch. 43
E b d a . Rabenau, Seeckt, gewährt zur E i n w o h n e r w e h r p r o b l e m a t i k und der H a l tung Seeckts wenig Aufschluß. Dagegen ist eine bereits im Grundsätzlichen zwiespältige Auffassung Seeckts von O . - E . Schüddekopf angedeutet w o r d e n , H e e r und Republik, S. 123.
Der erste
Konflikt
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ten sich während der folgenden Wochen noch mehrfach ändern. Schon hatte der preußische Ministerpräsident O t t o Braun die Ansicht vertreten, daß im bayerischen Süden und im preußischen Osten des Reiches „eine faktische Auflösung der Einwohnerwehren nicht erfolgen könne, wenn man nicht etwas anderes an ihre Stelle" setzte.44 Wenige Monate später bereiteten Reichsregierung und preußische Regierung unter dem Eindruck des russisch-polnischen Krieges eine Remobilisierung des Grenzschutzes vor; 45 und im nächsten Jahr folgte die Aufstellung der Freiwilligenverbände f ü r Oberschlesien. Außerhalb dieser Gebiete hatte sich die Volksbewaffnung ohne jeden Zweifel als eine Fehlentscheidung erwiesen, da sich mit fortschreitender Demobilisierung die politische Verwendung militärischer Waffen kaum noch verhindern ließ, was radikalen und umstürzlerischen politischen Gruppen die Möglichkeit zu gewaltsamem, terroristischem Vorgehen eröffnete und die Gefahr des Bürgerkrieges nur erhöhte. In den überwiegend agrarischen Bezirken des Südens und Ostens blieben Verfassungstreue und politische Zuverlässigkeit der Waffenträger aber ebenfalls in höchstem Maße problematisch. Die fortgesetzten Umstellungen der Organisationsverhältnisse ließen die Hoffnungen auf eine kontrollierte und abgegrenzte Remobilisierung der Freikorps alsbald illusorisch werden. Dies zeigte sich in einer die Reichsregierung offenbar überraschenden Weise, als der preußische Staatskommissar für die Überwachung der öffentlichen Ordnung in einem vertraulichen Bericht die Existenz einer weitverzweigten Organisation feststellen mußte, die sich unter der Bezeichnung „Notwehr" über Bayern und große Teile des östlichen Preußens erstredete und das flache Land weitgehend beherrschte.4® Die Untersuchung gewisser Vorgänge im Gebiet von Kottbus ließ den Staatskommissar auf geheime Zusammenhänge stoßen, deren Fäden in der Führung der bayerischen Einwohnerwehr unter dem Forstrat Escherich in München zusammenliefen und die in diesem Gebiet — offenbar in Fortsetzung des agrarischen „Landesschutzes" oder des „Heimatschutzes" — „den Selbstschutz der Bauern und Gutsbesitzer gegen kommunistische Überfälle" organisierten. Einer ihrer Führer, ein H e r r v. Natzmer auf Gahry, strebte nun, nachdem das Mosaik der 44 45
Ebda.
Vgl. Schüddekopf, H e e r u n d Republik, S. 124. " Bericht des Staatkommissars Weismann vom 13. 6. 1920 an das Büro des Reichspräsidenten, sämtliche preußischen Minister und Reichsminister und an Generalm a j o r v. Seeckt, BA, R 43 1/2729.
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und
Föderalismus
insgeheim gelenkten Organisationsteile sichtbar geworden war, eine inoffizielle Fühlungnahme mit der Reichsregierung an, um ihr Einschreiten
auf
Grund
der
Verordnung
des Reichspräsidenten
30. Mai zu verhindern. Dem glaubte auch der Bericht
vom
erstattende
Kommissar widerraten zu müssen, „weil ein solches Eingreifen die E r hebung
der gesamten
gutgläubigen
Bauernschaft
zur Folge
haben
könnte, die durch Handschlag gebunden und geschlossen hinter den Führern zu stehen scheint". Auf der anderen Seite, so fuhr der Bericht fort, könne die Organisation „einen nicht zu unterschätzenden Machtzuwachs der Regierung bei der Verteidigung der Verfassung gegen linksradikale Umsturzversuche bilden". Ein solches Bündnis mit der geheimen illegalen „ N o t w e h r " unterstützte der Berichterstatter, der mittlerweile auch mit H e r r n v. N a t z m e r selbst Verbindung aufgenommen hatte, mit der etwas vagen Mitteilung, daß „allem Anschein nach" der Versicherung „Glauben zu schenken" sei, daß die Organisation einen „rein defensiven Charakter trage und keinerlei gegen Verfassung und Regierung gerichtete P l ä n e " hege. Seine Informationen, die er offenbar H e r r n v. N a t z m e r verdankte, gingen dahin, daß lediglich ein Plan für den Fall eines kommunistischen Gewaltaktes bestand. Ihm zufolge sollte „angeblich Hamburg aufgegeben werden, während Berlin zum K a m p f gut vorbereitet" worden sei. Bei einem Generalstreik der Gewerkschaften wollte die Landwirtschft mit ihren Mitteln antworten; und sollte sich die Arbeiterschaft in den Städten zum gewaltsamen Einholen von Lebensmitteln entschließen, dann würde sie auf den geschlossenen Widerstand der Bauern stoßen. Sowenig der V e r fasser dieses Berichtes gegen diesen „defensiven" Plan
einzuwenden
wußte, so sehr blieb er sich indessen doch der Ungewißheit weiterer Entwicklungen
und der Gefahren, die sie in sich bargen,
bewußt.
Schließlich ließ sich die Möglichkeit nicht mehr von der H a n d weisen, „daß irgendein H i t z k o p f mit dem Alarmruf einer kommunistischen Bedrohung den Stein ins Rollen bringt und damit eine Lawine entfesselt . . ." Sein Vorschlag lief auf den K o m p r o m i ß hinaus, sofort mit der Führung der gesamten illegalen Organisation inoffiziell Fühlung aufnehmen, um sie „unter eine gewisse K o n t r o l l e " zu stellen und sie gleichzeitig überwachen zu lassen, um für den Fall, daß die Kenntnis von der Existenz dieser Organisation in die Öffentlichkeit
dringen
sollte, „nicht der Entente gegenüber in eine schiefe Stellung zu gerat e n " . D e r Reichskanzler hielt es jedoch für geraten, solche Zweideutigkeiten zu vermeiden, den neuen Kurs der Reichsregierung beizubehalten und sich gegen eine „inoffizielle" Anerkennung der im Geheimen
Der erste
Konflikt
349
zentral geleiteten Einwohnerwehr zu entscheiden. 47 Nichtsdestoweniger beließ es die Reichsregierung einstweilen lediglich bei dieser ablehnenden Zurückhaltung, ohne sich zu einem energischen Vorgehen gegen die K a m p f v e r b ä n d e der Rechten zu entschließen.
Entwaffnung
und
Auflösung
Die bürgerliche Regierung Fehrenbach, die auf G r u n d der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 zustande kam, legte dann die Außenpolitik in die H ä n d e eines der höchsten Beamten des Auswärtigen Amtes, des Ministerialdirektors Simons, der entschiedener als seine Vorgänger die Erhaltung von Reservaten der Einwohnerwehr der Interalliierten Militär-Kontrollkommission gegenüber durchzusetzen versuchte. Diese Reservate betrafen Gebiete, die zweifellos unter besonderen innerpolitischen Entwicklungsbedingungen gestanden hatten und auch noch standen, so daß eine vollständige D u r c h f ü h r u n g der E n t w a f f n u n g zweifellos von vornherein auf besondere Schwierigkeiten stoßen mußte, in denen die zuständige Staatsregierung die Bildung oder A u f rechterhaltung von Wehren zumindest duldete und sogar, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in gewissen U m f a n g e förderte, in denen aber auch verhältnismäßig homogene, überwiegend rechtsgerichtete, von Linkselementen völlig unbeeinflußte Organisationen existierten. Diese Gebiete, f ü r die die konsequent bemühte Vertragsauslegung des Auswärtigen Amtes unter Simons eine Grundlage nachzuweisen und eine — wenn auch zeitlich begrenzte — Sonderstellung zu sichern suchte, waren Bayern und Ostpreußen, f ü r die nun eine A r t internationaler Sonderbehandlung verlangt wurde. In Ostpreußen hatte der nach dem Kapp-Putsch und der Absetzung seines unzuverlässigen Amtsvorgängers Winnig eingesetzte demokratische Oberpräsident Siehr aus politisch wie militärisch verständlichen Gründen durch eine Verfügung vom 8. August 1920 eine Orts- und eine Grenzwehr ins Leben gerufen. Dies hatte sich als notwendig erwiesen, da im wechselvollen Verlaufe des russisch-polnischen Krieges in größerem U m f a n g e Verbände und Versprengtengruppen der k ä m p fenden Heere die an vielen Stellen unübersichtliche Grenze der P r o vinz überschritten und in ostpreußisches Gebiet eindrangen, was unter 47
Handschriftl. Verfügung des Reichskanzlers: „Auf G r u n d des Friedensvertrages und der verlangten Auflösung soldier Wehren kann die Regierung solchen Organisationen gegenüber keine wohlwollende H a l t u n g einnehmen. M f ü l l e r ] " .
350
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
der Bevölkerung der Grenzzone einige Beunruhigung auslöste. Allein die Zahl der in Ostpreußen internierten russischen Heeresangehöngen gab das Auswärtige Amt im September 1920 mit 50 000 an.48 Die Verfügung des Oberpräsidenten erteilte die Genehmigung zur Bildung von milizartigen Ortswehren unter selbstgewählten örtlichen Führern. Ihr Aufgebot kam jedoch „nur im äußersten N o t f a l l " in Betracht, „wenn Sicherheitspolizei und Reichswehr nicht in der Lage" waren, „die Ruhe und Ordnung allein aufrecht zu erhalten, ferner bei Gefahr f ü r Leben und Eigentum, ausnahmsweise bei erheblichen Störungen des öffentlichen Verkehrs". 49 Während grundsätzlich nur eine unbewegliche, ortsgebundene Verwendung beabsichtigt war und das Aufgebot grundsätzlich örtlich oder bezirklich beschränkt bleiben sollte, sah die Verfügung des Oberpräsidenten aber doch die weitere Möglichkeit vor, jeweils einen kleineren Stamm von Ortswehrmännern in besonderer Weise in einer beweglichen „Grenzwehr" zusammenzufassen, die „im Falle höchster Gefahr im Verein mit Reichswehr und Polizei die Provinz wirksam zu verteidigen" hatte. Sie konnte nur vom Oberpräsidenten selbst aufgeboten werden. Es steht jedoch außer Frage, daß die N a t u r der ihr zugedachten Aufgaben nur eine Verwendung unter militärischem Befehl und bei voller Aufrüstung mit üblichen militärischen Waffen sinnvoll erscheinen läßt. Auch hier diente offenbar das System einer abgestuften Erfassung von Freiwilligen unter engerem Anschluß eines Stammes militärisch qualifizierter Mannschaften an die Reichswehr als Vorbild, wie sich schon in der allgemeinen Organisation von Einwohnerwehren und der besonderen Erfassung von Zeitfreiwilligen im Zuge der fortschreitenden Demobilisierung beobachten ließ. D a ß dem Einsatz der sogenannten Grenzwehr weit größere Bedeutung beigelegt werden mußte als der militärisch weniger bemerkenswerten Ortswehr, ergibt sich bereits daraus, daß bis Ende 1920 nach offizieller Mitteilung insgesamt nicht mehr als 1000 Ortswehrmänner unter Waffen standen, der Oberpräsident am 1. September 1920 aber 2000 Grenzwehrmänner aufbot, 50 die unter dem Namen „Freiwillige Polizeitruppe Ostpreußens" zunächst als Wachttruppe zur Internierung der entwaffneten Russen und nach deren Abtransport bei der Durch48 Abschrift der Note, die das Auswärtige Amt am 1. Oktober 1920 an die Pariser Botschafterkonferenz der alliierten Mächte richtete, BA, R 43 1/2729. « Zit. ebda. 50 Diese Zahlen ebenfalls nach Angaben des Auswärtigen Amtes in der N o t e vom 1. Oktober 1920.
Der erste
Konflikt
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suchung der grenznahen Wälder Verwendung fanden. Audi diese Zahl ist letztlich geringfügig. D a ß sie es bleiben mußte, lag an der sofortigen Reaktion der Interalliierten Militärkontrollkommission. Einberufung und Verwendung dieser Freiwilligen waren angesichts der Lage in den Grenzbezirken Ostpreußens sicherlich zu rechtfertigen. Dem trug die Interalliierte Militärkontrollkommission aber lediglich insofern Rechnung, als sie am 27. September eine Entlassung der aufgebotenen Wehrleute erst zum 10. Oktober zugestand. Kontrovers blieb dagegen die Auffassung des Auswärtigen Amtes, daß die Organisation der Ortswehren bis zur Beendigung des russisch-polnischen Krieges unentbehrlich sei und daß die vom Oberpräsidenten Ostpreußens geschaffene Möglichkeit, „im Falle der N o t freiwillige Helfer zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung herbeizurufen", grundsätzlich beibehalten werden müsse. Hierbei bediente es sich des Hinweises auf die gefährdete militärische Lage der mit unzureichenden Reichswehrverbänden versehenen Provinz. Es behauptete, daß infolgedessen die ostpreußische Bevölkerung in Erregung geraten sei und „eine Ergänzung der nach ihrer Ansicht unzureichenden staatlichen Machtmittel durch einen aus der Volkskraft selbst zu bildenden Rückhalt f ü r den Fall der N o t " verlange. „Diese mächtige Strömung" könne auch die Regierung nicht unberücksichtigt lassen. „Wollte sie trotzdem den Oberpräsidenten der Provinz zur Aufhebung der Verfügung vom 7. August anweisen, so wäre die unausbleibliche Folge die, daß sich die Bevölkerung gegen den Willen der Regierung zu neuen, der staatlichen Kontrolle entzogenen Organisationen zusammenschlösse. Es gäbe kein Mittel, die Bildung solcher geheimen Verbindungen zu verhüten. Namentlich ließe sich nicht hindern, daß Waffen in den ausgedehnten Wäldern und auf einsamen Gehöften so versteckt aufbewahrt würden, daß die Behörden keine Möglichkeit hätten sie zu kontrollieren und zu erfassen". 51 Aus der Bildung solcher gesetzeswidriger Vereinigungen, so folgerte die deutsche N o t e — nun mit gutem Grund — ergäben sich die größten Gefahren in innerpolitischer wie in außenpolitischer Hinsicht. Die Interalliierte Militärkontrollkommission zeigte sich indessen von diesen Vorstellungen ebensowenig beeindruckt wie von dem Vorschlag, einstweilen beschränkte und kontrollierte Wehren zu dulden. General Nollet drang am 12. Oktober und wieder am 29. November 192052 auf 51
Ebda.
52
Abschr. des französischen Textes BA, R 43 1/2729.
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II. Reichspolitik
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Föderalismus
Berichterstattung über die verlangten Auflösungs- und Entwaffnungsmaßnahmen der Reichsregierung, die jedoch weiterhin noch ausblieben. Für die Beibehaltung der bayerischen Einwohnerwehren hatte sich der bayerische Ministerpräsident persönlich verwandt und hierfür Reichsaußenminister Simons gewonnen. 53 Eine Note Nollets vom 11. Dezember beantwortete das Auswärtige Amt elf Tage später, indem es das neue, etwas spitzfindige Argument in die Debatte einführte, der in Frage stehende Artikel 178 des Friedensvertrages untersage gar nicht grundsätzlich alle Maßnahmen, die eine Mobilmachung erleichtern könnten, „sondern nur solche, die auf diesen Zweck abzielen"; folgerichtig könne daher bei der Beurteilung innerdeutscher Vorgänge nur entscheidend sein, „ob eine solche Erleichterung als der eigentliche Zweck der Maßnahmen zu betrachten ist". 54 Dies sei jedoch bei dem „Zusammenschluß der Bürger zum Selbstschutz" keineswegs der Fall. Infolgedessen wollte das Auswärtige Amt grundsätzlich nicht anerkennen, daß das Bestehen von Selbstschutzorganisationen auch dann gegen den Sinn des Friedensvertrages verstieß, wenn kein „organischer Zusammenhang zwischen Einwohnerwehr und Reichswehr" bestand; und ein solcher wurde sowohl in bezug auf die in Bayern bestehenden wie auf die ostpreußischen Wehren als nicht mehr existent bezeichnet. Die vielfältigen Übergänge aus dem demobilisierten Heer in die Einwohnerwehren, die die französischen Annahmen, daß es sich hierbei um die Bildung verfügbarer Reserven der fortgesetzt stark reduzierten Reichswehr handelte, verständlich erscheinen lassen, blieben außer Betracht. Dieser Kurs der außenpolitischen Verteidigung eines status quo der Wehrorganisationen f ü r Bayern wie f ü r Ostpreußen, der schließlich zu dem Damaskus des Londoner Ultimatums vom 6. Mai 1921 führte, hat zu einer innerpolitischen Beruhigung jedoch nicht beitragen können und die Konsolidierung der Republik keineswegs gefördert. Die Dezentralisation der militärischen Macht bis in die schwer übersehbaren Bereiche des lokalen und zivilen Lebens und außerhalb der unmittelbaren Verfügbarkeit der Reichsregierung erleichterte wohl äußerlich die Demobilisierung und Truppenentlassungen und kam letztlich der Stärkung der innerpolitischen Stellung der Reichswehr zugute, ohne ihre K a m p f k r a f t nennenswert zu erhöhen, nicht aber dem Reiche selbst. Die Verzögerung in der Durchführung der vollstän53
Vgl. auch Viscount D ' A b e r n o n , Ein Botschafter der Zeitwende I, S. 94. N o t e des Auswärtigen Amtes v o m 22. Dezember im vollen W o r t l a u t veröffentlicht in der Ausgabe N r . 2271 W T B v o m 24. 12. 1920, BA, R 43 1/2729. 53
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digen Entwaffnung und Auflösung von quasimilitärischen Verbänden hat die Republik nur mit der dauerhaften Hypothek eines anhaltenden Rechtsdrucks und über Jahre hinweg mit einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen der Reichsregierung und Bayern belastet, das schließlich zu einem H o r t dieser halblegalen und illegalen Organisationen wurde. Mit einer Verordnung, die der Reichspräsident, auch unter dem Eindruck der Kapp-Putsch-Ereignisse, unmittelbar vor der Wahl zum Reichstag im Mai 1920 erließ, 55 sollte allerdings ein scharf und zuverlässig wirkendes Rechtsmittel gegen die bewaffneten Formationen geschaffen werden, die überall dort angewendet werden konnte, wo die Bestimmungen des Strafgesetzbuches über Hoch- und Landesverrat und über Geheimverbindungen nicht ausreichten. Mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren wurde derjenige bedroht, der frühere oder derzeitige Angehörige der Reichswehr, der Marine, der Freikorps oder ähnlicher Formationen, der Sicherheitspolizei oder anderer Weltorganisationen zum Ungehorsam oder zu gewaltsamem Widerstand gegen Anordnungen der zuständigen Dienststellen aufforderte, im besonderen soweit sie Auflösungen, Verringerungen oder Umgliederungen der Truppe betrafen, aber auch wer sich an Unternehmen beteiligte, die ohne Genehmigung zuständiger Stellen Personen zu Verbänden militärischer oder polizeilicher Art zusammenschlössen. Diese Bestimmungen waren in ihrem Gehalt vollkommen ausreichend, um die Republik vor militärischen Abenteuern zu sichern. Wäre diese Verordnung des Reichspräsidenten konsequent und systematisch angewendet worden, hätte es keine geheimen und erst recht keine offen operierenden und demonstrativ auftretenden quasimilitärischen Verbände geben können. Zur Aburteilung der bezeichneten Straftaten sah die Verordnung jedoch die in jedem Rechtsstaat verpönte Einrichtung von außerordentlichen Gerichten durch den Reichswehrminister vor, deren Tätigkeit praktisch ganz und gar von der Reichswehr kontrolliert wurde. Im Stendaler und im Kasseler Kommunistenprozeß wurde die Verordnung gegen kommunistische Kampfverbände Mitteldeutschland und des Ruhrgebietes angewandt. Als es jedoch im März 1921 zu neuen kommunistischen Erhebungen kam und der beteiligte Personenkreis anwuchs, rief eine weitere Verordnung des Reichspräsidenten über die Bildung außerordentlicher Gerichte vom 29. März 1921 justizielle Sondergerichte ins Leben, die die vom Reichswehrminister eingerichteten 55
RGBl 1920, S. 1117.
23 Sdiulz I
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ersetzten. Gleichzeitig aber fielen die verschärften Strafbestimmungen der Verordnung vom 30. Mai 1920, so daß fortan außerhalb der Strafgesetzbuchbestimmungen, die bei illegalen Organisationen meist nur schwer nachweisbare Tatbestandsmerkmale festlegten, fast jede Handhabe für ein wirksames Einschreiten gegen die Bildung illegaler Kampfverbände fehlte. Inzwischen hatte der polnische Aufstand in Oberschlesien Verhältnisse heraufbeschworen, die erneut die Bildung und auch die Duldung von Freikorps und Freiwilligenorganisationen begünstigten. Die allgemeinen Folgen dieser Remobilisation von Kampfverbänden blieben indessen nicht auf dieses Grenzgebiet beschränkt. „Die politischen Verhältnisse liegen . . . derart", urteilte eine Denkschrift des preußischen Staatskommissars f ü r öffentliche Ordnung, „daß jedes unbesonnene Vorgehen Einzelner zu unübersehbaren Verwicklungen und nicht wiedergutzumachenden Folgen führen könnte. Unbesonnenheiten einzelner Führer derartiger Freikorps lassen sich trotz aller Ermahnungen zur Besonnenheit und zur Vernunft niemals ausschließen." 56 Anderseits befürchtete der Staatskommissar, die Unruhen in Mitteldeutschland „keineswegs als beendet" ansehen zu dürfen, so daß er glaubte, vor einer Fortsetzung der kommunistischen „Offensive" warnen zu müssen. Infolgedessen war wohl eine Rückkehr zu den Handhaben ratsam, die die Verordnung vom 30. Mai gegeben hatte und die ein erneutes Vorgehen gegen die Bildung militärischer oder polizeilicher Verbände erlaubt hätten, „ohne daß aber die Aburteilung der Zuwiderhandlungen außerordentlichen Gerichten überwiesen würde". Doch dieser Vorschlag des Staatskommissars, so sinnvoll er erscheint, blieb erfolglos. Die Reichsregierung zögerte einen solchen weithin unpopulären Entschluß f ü r immer hinaus. Sie hatte eine öffentliche Warnung erlassen und wollte sich nun auf die Beobachtung der Wirkungen beschränken und vorerst ein entschiedenes Vorgehen vermeiden — zumindest soweit sie nicht sicher war, daß in erster Linie Kommunisten betroffen wurden." 56 Denkschrift Weismanns vom 18.5.1921 für das Büro des Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die zuständigen Reichsminister BA, R 43 1/2729. 57 Der zuständige Referent der Reichskanzlei versah die Denkschrift Weismanns mit dem handschriftl. Vermerk: „Der Herr Rfeichs] Präsident möchte die V[eror]d[nu]ng nicht machen. Man wird zunächst den Erfolg d[er] veröffentlichten amtlichen Warnung gegen die Bildung von Freiwilligenverbänden abwarten müssen. Wegen der Kommunistengefahr schweben Beratungen im R[eichsministerium] d[es] I[nnern] auf Bestimmungen [sie!] über das Verbot von Zeitungen, welche mehrfach
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Ohne Zweifel drohten auch von dieser Seite her Gefahren, die innerhalb des mitteldeutschen Raumes mit seiner großen Industriebevölkerung — neben dem Ruhrgebiet seit Beginn der Weimarer Ära die anfälligste Krisenzone — die politischen Verhältnisse beeinflußten und die Beziehungen zwischen den Regierungen Sachsens und des Reiches schon frühzeitig stärkeren Belastungsproben aussetzte. Wie in allen Ländern war auch in Sachsen während der Umwälzung die Mehrheitssozialdemokratie zur Macht gelangt; doch sie befand sich hier bald in einem weit schärferen Konkurrenzkampf mit den Unabhängigen und den Kommunisten als in irgendeinem anderen Lande. Das fortgesetzte Ringen um den beherrschenden Einfluß auf die Arbeiterbevölkerung, der ihr zu entgleiten drohte, hat den Extremismus, der sich namentlich in großen Teilen der süd- und westsächsischen Industriebevölkerung bemerkbar machte, nachhaltig gefördert. 66 Die SPD mußte die Tragik einer Arbeiterpartei erfahren, die in diesem Gebiet auf die älteste sozialistische Tradition zurückblicken konnte, die ihre Herrschaft dauernd zu sichern versuchte, sich aber nicht nur der gegenrevolutionären Bewegung zu erwehren, sondern ebenso mit den von den Ergebnissen der Umwälzung keineswegs zufriedengestellten und in eine radikalere Richtung abtreibenden Arbeitern fertigzuwerden hatte. Auch ihr Verhältnis zu anderen Parteien gestaltete sich in diesem Lande, wo eine stärkere Zentrumsfraktion fehlte, schon frühzeitig schwieriger als in anderen Ländern. Während sich die Beziehungen zu den Demokraten problematisch entwickelten und bereits im Juli 1919 vorübergehend auflösten, litt die SPD unter dem Verlust ihrer markantesten Führer aus der Vorkriegszeit. Ihre besten Köpfe strebten die Strafgesetze über Hochverrat, Aufforderungen zu Ungehorsam gegen die Gesetze usw. verletzten". 58 Die Berichte, die der preußische Gesandte Reinhardt aus Dresden gab und die über das Preußische Staatsministerium an das Auswärtige Amt, von diesem an die Reichskanzlei gelangten, sind wertvolle Zeugnisse zur sächsischen Parteigesdiidite nach dem ersten Weltkriege und vermitteln ein aufschlußreiches Bild von Persönlichkeiten und Vorgängen innerhalb der Arbeiterbewegung Sachsens. Bemerkenswerte Ausführungen knüpfte der Gesandte u.a. an eine Meldung über Arbeiterunruhen in Würzen und Chemnitz im August 1919. Hierbei sei die „Erscheinung zu Tage getreten, . . . daß die Arbeitermassen der Führung selbst der radikalsten unabhängigen und kommunistischen Parteileiter entgleiten oder schon fast ganz entglitten sind. Mehr und mehr fehlt bei solchen Vorgängen jede Autorität, mit der ein Verhandeln und paktieren möglich wäre; die Organisationen selbst der USPD und K P D sind zu leeren Rahmen geworden, die nichts mehr umschließen und keinen richtunggebenden Einfluß auszuüben vermögen." Abschr. eines Berichts vom 20. 8. 1919, BA, R 43 1/2307. 23»
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
in Regierungs- und Verwaltungsämter hinein; doch der Parteiapparat hatte in erster Linie die scharfe Konkurrenz der mächtig aufsteigenden äußersten Linken auszuhalten und ihr zu begegnen. Der Zerreißprobe zwischen demokratischer Koalitionspolitik und linkem Sog suchten die sozialdemokratischen Führer anfänglich durch eine vorsichtige Anlehnung nach links zu entgehen, die dann durch die Wiederannäherung an die überaus starken Unabhängigen zum politischen Axiom wurde. Während die allgemeine politische Entwicklung im übrigen Reich von dem wachsenden Einfluß bürgerlicher Gruppen bestimmt wurde, blieben in Sachsen die unkonsolidierten Verhältnisse unter ständig zunehmendem Linksdruck erhalten, was dieses Land zwangsläufig in eine latente Opposition zu anderen Ländern und noch mehr zur Reichsregierung brachte. 58 Auch in militärischen Dingen suchten die sächsischen Regierungen nach eigenen Wegen. Dies lief darauf hinaus, daß politisch aktive Gruppen der nach links tendierenden Arbeiterschaft in sogenannten „proletarischen Hundertschaften" zu halbmilitärischen Organisationen zusammengefaßt wurden, die zur Verfügung der Landesregierung gehalten werden sollten.' 0 Während Sachsen bald zum H o r t kommunistischer und linkssozialistischer Arbeiterwehren wurde, verlagerte sich das organisatorische Zentrum der militärischen und halbmilitärischen Rechtsverbände nach Bayern. Hier hatten die Kräfte der Gegenrevolution während der Kapp-Tage unzweifelhaft einen Sieg errungen. U n d hier identifizierte die Staatsregierung ihre Politik wie keine zweite eines anderen Landes vor aller Öffentlichkeit mit der Sache der Einwohnerwehren. München schickte sich an, erneut zum Vorort einer politischen Bewegung zu wer59 Die Politik der Reichsregierung ist in ihrer unitarischen Periode des öfteren Gegenstand von Einwänden und Einsprüchen der sächsischen Regierung gewesen. Vor aller Öffentlichkeit wandte sich der sächsische Finanzminister Nitzschke im Dezember 1919 gegen die Finanzreform; und Reinhardt gegenüber bemerkte er, „daß er noch schärfer gegen das Reichsfinanzministerium zu Felde ziehen würde, wenn nicht der heftige Kampf, den die Deutschnationalen g e g e n . . . Erzberger führten, ihm die Arme lähmten". BA, R 43 1/2307. t0 Die sächsischen Regierungen verfolgten schon frühzeitig das Ziel, eine Wehrorganisation außerhalb der Reichswehr aufzustellen. Dieser Gedanke dürfte auch bei der Bildung der „proletarischen Hundertschaften" Pate gestanden haben. Im August 1919 wurden Pläne der Regierung Gradnauer bekannt, eine sächsische Militärpolizei zu schaffen. Zu dieser Zeit bestand bereits interimistisch eine Polizeitruppe des sächsischen Kriegsministeriums, die dann ebenso den alliierten Entwaffnungsbestimmungen zum Opfer fiel wie die Einwohnerwehren. Bericht des preußischen Gesandten vom 12. 9. 1919, Abschr. BA, R 43 1/2307.
Der erste
Konflikt
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den, die in großen Gebieten Bayerns, vor allem aber in Oberbayern die eigentümlichen Charaktermerkmale einer hochkonservativen, patriarchalisch-traditionalistischen Volksbewegung aufwies, die über vielfältige Beziehungen allmählich mit den geheimen militärischen Organisationen verbunden waren. Der bayerische Ministerpräsident aber fühlte sich als Protektor und vielleicht sogar als H a u p t dieser Bewegung. N u r allzu bereitwillig nahm er große, auch gegen die Reichsregierung gerichtete Demonstrationen hin, hielt er mit Beifall aufgenommene Reden vor den Einwohnerwehren und weihte er ihre Landesfahne, 61 obgleich sie von der Reidisregierung offiziell aufgelöst worden waren. Wie weit die Reichsregierung diesen Verhältnissen entgegenkam oder ihnen Rechnung zu tragen versuchte, läßt sich daraus ersehen, daß der Reichsinnenminister noch im Juli 1920 dafür eintrat, daß „die Selbstschutzorganisation auf neuer Grundlage" wieder vom Reich finanziert werden sollte, nachdem es „die Einwohnerwehren als solche" aufgelöst hatte 62 , wovon in "Wahrheit kaum die Rede sein konnte. Freilich wuchsen mit der Zeit auch die objektiven Widerstände. An eine rasche Auflösung der Wehrverbände war schon deshalb nicht mehr zu denken, nachdem die Dinge einmal soweit gediehen waren, weil die hiervon betroffenen Organisationen über ein umfangreiches und vielfältig verzweigtes Netz verfügten und gemeinsam mit ihren Hilfsorganisationen eine ins riesenhafte angewachsene Bewegung darstellten. 63 Sie bezeichneten sich zwar nach außen hin als „Sammel11
Voss N r . 560 vom 15. 11. 1920. Absdir. eines Schreibens des Reichsinnenministers an den Reichsfinanzminister vom 21. 7. 1920 BA, R 43 1/2729. ,2
63
Wichtigste Quelle ist die eingehende Schilderung der Organisationsverhältnisse der bayerischen Einwohnerwehren von R. Kanzler, Bayerns Kampf gegen den Bolschewismus, S. 69 ff. Aus ihr ergibt sich zweifelsfrei, daß von A n f a n g an ein systemhafter Zusammenhang zwischen den bayerischen Bürgerräten, dem Heimatdienst Bayern und dem Bayerischen Ordnungsblock bestand, aus dem die „Orgesch" (Organisation Escherich) und die Einwohnerwehren hervorgingen, und daß der Nachrichtendienst des Ordnungsblocks über Bayern und über die Reichsgrenzen hinaus reichte, daß die von München aus geleitete Orgesch als allgemeine Erfassungsorganisation bereits 1920 über das gesamte Reichsgebiet verbreitet war, über eine Million Mitglieder verfügte und mit H i l f e ihrer alpenländischen Anschlußorganisation „ O r k a " (Organisation Kanzler) zu den halbmilitärischen Rechtsverbänden Österreichs und Ungarns Verbindungen unterhielt. — Weniger aufschlußreich ist die Darstellung des bayerischen Innenministers Franz Schweyer, Politische Geheimverbände. Blicke in die Vergangenheit und Gegenwart des Geheimbundwesens, Freiburg i. Br. 1925, S. 100 ff.
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
becken aller ordnungsliebenden, vaterländisch gesinnten Deutschen" und nannten die „Sicherung der Verfassung", den „Schutz von Personen, Arbeit und Eigentum", die „Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und Abwehr jedes Rechts- und Linksputsches" ihre Aufgabe;' 4 doch dienten sie in Wahrheit der Bildung militärisch aufgebauter Massenformationen und suchten ein autoritäres politisches Erziehungs- und Organisationsprogramm zu verwirklichen, mit dem sie von den breiten waffenfähigen Bevölkerungsschichten uneingeschränkt Besitz ergreifen wollten."5 Was sich im Geheimen formierte, offiziell verborgen blieb und dennnoch über einen sicheren Rückhalt in mitgliederstarken volkstümlichen Vereinigungen gebot und stets über enge Beziehungen zu Reichswehrstellen verfügte, gleicht einem unbeobachtet dahintreibenden unterseeischen Eisberg, dessen geringer sichtbarer Teil vergleichsweise harmlos wirkte. Es nimmt kein Wunder, daß sich unter diesen Verhältnissen Verfassungs- und Rechtsbeziehungen kaum zu gesundem Leben zu entfalten vermochten. Der geheimbündlerische, verschwörerische Charakter dieser weitverzweigten Organisationen forderte mehr kriminelle Eigenschaften und Erscheinungen®6 als Mannestugenden des Soldaten und des ehrenhaftten Offiziers, von denen häufig und gern gesprochen und geschrieben wurde und die die militärische Vergangenheit für den also Rückschauenden mild vergoldeten. Dem entsprach so vieles nicht mehr, was sich im Verborgenen tat und das Licht der Öffentlichkeit scheute, ohne die es kein Rechtsleben und kein Rechtsbewußtsein geben kann. Freilich spielten auch hohe Kommandostellen der Reichswehr ein doppeltes, ganz und gar unaufrichtiges Spiel, das die in mancher Hinsicht kleinliche und schikanöse Tätigkeit der Aliierten Kontrollbehörde in ihren Anfängen doch nicht so ganz unverständlich erscheinen läßt. Ohne den Schutz und die Initiative einzelner Reichswehrkommandeure wäre diese gefährliche, der Kontrolle der Reichsregierung mehr und mehr entgleitende innere " Vgl. Kanzler, a. a. O., S. 80. • 5 Das „Arbeitsprogramm" der Orgesdi stand in keinem Verhältnis zur Satzung. Es gleicht einem militant-antirevolutionären Programm einer politischen Partei. Vgl. Kanzler, a. a. O., S. 81. •• Vgl. die Erinnerungen des damaligen Oberreidisanwalts Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig/Zürich 1930, S. 170 f., 187 f., wo freilich nur von den großen Mordfällen gehandelt und danach geurteilt wird. Die erste unbarmherzige Materialsammlung zu den kriminellen Erscheinungen in illegalen militärischen Organisationen rührt von Emil Julius Gumbel her, Vier Jahre politischer Mord, Berlin 1922.
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359
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Entwicklung bis zur Krisenfolge des Jahres 1923 wohl kaum möglich gewesen."7 Die weitere Existenz der Einwohnerwehr, die Ritter v. Kahr verharmlosend als eine A r t politischer „Feuerwehr" bezeichnete 98 und, hierin von dem geschäftigen und über unmittelbare Verbindungen zu Münchener, zu Berliner und sogar französischen Rechtsblättern verfügenden Industriellen Arnold Rechberg unterstützt," mit den Argu* 7 Einen höchst aufschlußreichen Bericht über die Tätigkeit der als Reichswehr"
bezeichneten verschiedenartigen, im geheimen aufgebauten
„schwarze Verbände
seit Herbst 1920 hat der im Berliner Wehrkreis I I I eingesetzte Major Buchrucker veröffentlicht, Im Schatten Seeckts. Die Geschichte der „Schwarzen Berlin
1928.
Vgl.
dort
S.
7
über
die
von
Budirucker
Reichswehr",
aufgestellten
„Arbeits-
kommandos . . . zur Erfassung militärischen G e r ä t s " : Sie „wendeten beim Sammeln alle geeignet erscheinenden Mittel an, gesetzliche und ungesetzliche. Sie trugen dabei je nach der Lage Uniform oder Zivil . . . Im Einverständnis mit Reichswehrbehörden wurden hierbei Urkundenfälschungen
nicht gescheut. Das militärische Gerät, das
durch diese Arbeit im Laufe der Zeit in den Besitz des Wehrkreises kam, war beträchtlich. Das Gerät reichte . . .
zur Aufstellung erheblicher Truppenkörper . . .
Für diese Truppen sollten im Bedarfsfalle Offiziere und Mannschaften von den vaterländischen Verbänden und von einer Bezirkskommando-Organisation
gestellt
werden, die der Wehrkreis mit Hilfe des Heimatbundes einrichtete, trotzdem (sie!) dieser vom preußischen Innenminister verboten war." Auch Buchrucker gibt unumwunden zu, daß diese Organisationen kriminelle Selbstjustiz übten: „Um Verrat zu verhindern (!), töteten die Freiwilligen eine Anzahl Leute . . . ohne jedes Gerichtsverfahren . . . " (S. 5, vgl. auch S. 55 ff.). Diese Vergehen fielen in der Regel unter die von der Reichsregierung erlassene Amnestie vom 30. Juni 1921. Es verdient Erwähnung, daß Buchrucker seine Tätigkeit bis zum J a h r 1923 nicht nur durch die Reichsregierung gedeckt glaubte, sondern auch für verfassungsmäßig hielt (S. 25). Vgl. auch C. Severing, Mein Lebensweg I I , S. 129; O . - E . Schüddekopf, Heer und Republik, S. 127. Die einseitige Entwicklung der Tätigkeit der Kontrollkommission des Generals Nollet soll jedoch hier nicht außer Acht gelassen werden. Nollets Versuch von Anfang 1922, die festen Verbände der Schutzpolizei aufzulösen, ihre Kasernierung zu beseitigen und ihre Kopfzahl
auf den Vorkriegsstand herabzudrücken,
lagen
außen- und militärpolitische Erwägungen offenbar nicht mehr zugrunde. Vielleicht traf die Konjektur des Reichskommissars für die öffentliche Ordnung, Oberst Kuenzer, zu, daß auf Seiten Nollets die Absicht bestand, „die Reichswehr . . . zur Polizei zu degradieren und dann die Schutzpolizei als überflüssig aufzuheben", was zu dieser Zeit innerpolitisch nur verhängnisvoll gewesen wäre. Protokoll einer Konferenz der Reichsregierung mit den Ministerpräsidenten
der Länder am 20. Januar 1922,
B A , R 43 1/2327. 98
Der englische Botschafter Viscount D'Abernon über ein Gespräch mit Kahr am
26. November 1920. D'Abernon, Ein Botschafter der Zeitwende I, S. 111 f. 69
Eberhard v. Vietsch, Arnold Rechberg und das Problem der politischen West-
Orientierung Deutschlands nach dem 1. Weltkrieg (Schriften des Bundesarchivs 4), als Manuskript gedruckt Koblenz 1958, S. 65 ff.
360
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
ment der Abwehr bolschewistischer Gefahren verteidigte, gewann f ü r die bayerische Regierung den Rang eines maßgeblichen Prinzips. Kahr hatte sich bereits dem Vollzuge der von der Reichsregierung angenommenen Abmachungen zu Spa vom Juli 1920 versagt. Die Führer der Einwohnerwehr hofften nun, das alliierte Auflösungsverlangen durch bayerische Sonderverhandlungen mit Frankreich ausmanövrieren zu können. Kahr glaubte außerdem, hierbei englische Unterstützung zu erhalten, wobei er sich nicht zu Unrecht im Einverständnis mit Reichsaußenminister Simons wähnte. 70 Die verhältnismäßig milde Haltung Englands auf der glimpflich verlaufenen Botschafterkonferenz vom 27. Dezember 1920 schien diese Hoffnungen zunächst zu bestätigen. Nach der großen Pariser Konferenz Ende Januar gelangte die Entwaffnungsforderung der Entente jedoch erneut in den Rahmen der deutschen Innenpolitik. Im Falle ihrer Nichterfüllung drohte die Gefahr ernsthafter außenpolitischer Verwicklungen. Trotzdem blieb die bayerische Regierung in ihrer Haltung unnachgiebig, was jetzt einen Konflikt mit der Reichsregierung unvermeidlich werden ließ. Da Kahr fest darauf vertraute, daß die Reichswehr f ü r eine Exekution gegen Bayern nicht zu verwenden, die Reichsregierung also praktisch machtlos sei, erklärte er sich in unveränderter Weise offiziell und ohne Vorbehalt mit den Sprechern der Einwohnerwehr solidarisch. Die Reichsregierung ging jedoch fortan weit weniger behutsam vor als zuvor. Sie verfügte über eine weitere Handhabe, seit der Reichstag ein scharf gefaßtes Entwaffnungsgesetz verabschiedet hatte, 71 und die völlig isolierte Gegenstimme wie der Protest des bayerischen Vertreters im Reichsrat wirkungslos geblieben war. 72 70 Noch in der Sitzung des Reichsministeriums am 19. N o v e m b e r 1920, vier M o n a t e nach der K o n f e r e n z v o n Spa, v e r t r a t Simons den S t a n d p u n k t , d a ß eine Auflösung der E i n w o h n e r w e h r e n in Bayern nicht erforderlich sei. M a n müsse „nur Zeit gewinnen". K a h r solle daher mit N o l l e t verhandeln. Die W a f f e n m ü ß t e n allerdings in Depots unter staatliche Aufsicht kommen. Ausz. a. d. P r R M 1 9 . 1 1 . 1 9 2 0 , BA, R 43 1/2213. 71 Gesetz zur D u r c h f ü h r u n g der Artikel 177 und 178 des Friedensvertrages vom 22. M ä r z 1921 (RGBl 1921, S. 325), ursprünglich im E n t w u r f deutlicher als Gesetz über das Verbot von Selbstschutzorganisationen bezeichnet. 72 Bereits die Benennung des Gesetzes widersprach der E r k l ä r u n g , die R i t t e r v. Preger im Reichsrat abgab, „ d a ß die Entente den Friedensvertrag gebrochen h a t " . Das Gesetz sei daher „außenpolitisch nicht notwendig und wegen des darin liegenden Abweidiens v o m bisherigen S t a n d p u n k t dem Ansehen der Deutschen Regierung u n d ihrer Politik abträglich". Die Richtigkeit der I n t e r p r e t a t i o n R i t t e r v. Pregers, d a ß aus dem Friedensvertrag keinerlei Verpflichtung zur Auflösung der Selbstschutzverbände folge und d a ß das Pariser D i k t a t der E n t e n t e vom 29. J a n u a r 1921 eine
Der erste
Konflikt
361
Doch selbst die Drohung französischer Sanktionen und eines Einmarsches der Ententetruppen in das Ruhrgebiet brachte Kahr nicht von seinen einmal bekundeten Grundsätzen ab, die ihm dank der lautstarken Demonstrationen der Einwohnerwehrverbände auf den Gipfel der bayerischen Popularität verhalfen. Dem über Nacht zum Tribunen in einer Volksbewegung aufgestiegenen konservativen Beamten Kahr fiel es überaus schwer, von der Welle einer von der Rechtspresse eifrig geschürten Volksbegeisterung aus den festen Boden einer vernunftgemäßen Politik wiederzufinden. Die übrige bayerische Presse unter Einschluß der Münchener Post, die einstmals das Blatt Georg von Vollmars, Alexander Helphands (Parvus), Heinrich Cunows und Konrad Haenischs war, tat alles, um den Anschluß an diese Riditung nicht zu verlieren. „Das einigende Band, das die bürgerlichen Zeitungen Bayerns umschlingt, i s t . . . das Mäkeln am Reich und an Berlin, eine H a l tung, die zum Teil in prinzipieller Gegnerschaft, zum Teil aber auch in der Popularitätshascherei ihren Grund hat", berichtete Graf Zech am 17. Dezember 1920 nach Berlin." Drei Monate später hatten sich die Wirkungen dieser verantwortungslosen Kampagne derart gesteigert, daß die Überzeugung, die Entente habe durch ihr Verlangen selbst den Versailler Vertrag gebrochen, so daß nun Deutschland von seinen Erfüllungsverpflichtungen befreit sei, in der Öffentlichkeit weit verbreitet war, wie die preußische Gesandtschaft dem Auswärtigen Amt mitteilen mußte. Der Pressefeldzug gegen das Gesetz zur Auflösung der Selbstschutzverbände hatte „inzwischen Formen angenommen, wie sie nicht einmal zur Zeit der höchsten Blüte der separatistischen Bewegung dagewesen sind". 74 Dagegen blieben einzelne Versuche, die Lawine des drohenden Unheils aufzuhalten, ganz und gar erfolglos. Der aus der Reichsregierung ausgeschiedene Erzberger erschien Ende Dezember heimlich in München, um einflußreiche Mitglieder der Bayerischen Volkspartei f ü r den Sturz des Ministeriums Kahr zu gewinnen. 75 Doch da diese Aktion ruchbar wurde, löste sie eine neue Welle der Entrüstung in der Presse aus: Die Stellung Kahrs in der bayerischen Volksmeinung war am Ende eher gefestigt, keineswegs erschüttert worden. Die „willkürliche F o r d e r u n g " sei, die die Reichsregierung nicht erfüllen dürfte, bestritt Koch-Weser d u r d i Verweis auf die Artikel 177 und 178 des Versailler Vertrages, in deren Vollzug das Gesetz erlassen u n d ausgeführt w u r d e . N i e d V R R Jg. 1921, § 252. 73 Graf Zech an das Auswärtige A m t , A b d r u d i BA, R 43 1/2213. Bericht vom 1 4 . 3 . 1 9 2 1 , Absdir. BA, R 43 1/2214. 75 Bericht Graf Zechs vom 22. 12. 1920, Abschr. BA, R 43 1/2213.
362
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Reichskanzlei bemühte sich auch darum, innerhalb der bayerischen Presse Einfluß zu gewinnen.1" Doch auch der wirkliche Erfolg dieses Experiments steht dahin. Eine Klärung der äußerst gespannten Lage ergab sich erst dank wachsender Bedenken im Lager derer, die Kahr auf den Schild gehoben hatten. Angesichts der unvorhergesehenen innerbayerischen wie außenpolitischen Entwicklungen begannen sich die Meinungen zu scheiden. Während etwa Arnold Rechberg noch im Februar 1921 den Vorschlag an den Reichspräsidenten richtete, die Reichsregierung solle sich einfach nicht im Besitz der Machtmittel erklären, Bayern zur Entwaffnung zu zwingen, so daß die Entente mit der bayerischen Regierung selbst verhandeln müsse," hielten es jetzt auch Männer wie Georg Heim für geboten, zur Vorsicht zu mahnen. Doch noch nach Annahme des gesetzlichen Verbotes der Selbstschutzorganisationen durch den Reichstag und den Reichsrat und nach Einsetzen alliierter Sanktionen im Rheinland gab Kahr im Landtag eine Erklärung ab, daß er weder an der Auflösung und Entwaffnung der Einwohnerwehren teilnehmen noch die Personen verurteilen könne, die dem Verbot zuwiderhandelten. Von dieser Erklärung und der in ihr ausgesprochenen Auffassung, die der Justizminister Roth bis zu radikalen Konsequenzen teilte, ging eine politische Praxis der politischen Polizei wie bayerischer Justizstellen aus, die unter den Verhältnissen des immer noch bestehenden, jedoch einseitig benutzten Ausnahmezustandes nur zur Verwirrung innerer Verhältnisse beitrug und einer gefährlichen Selbstjustiz der um ihre Existenz besorgten Einwohnerwehren Vorschub leistete.78 In dieser Situation, in der Kahr nicht einmal den zu Verhandlungen mit der bayerischen Regierung nach München eilenden Vizekanzler Heinze zur Sitzung des Ministerrates zuließ, 19 wurde aber die Haltung der B V P zweifelhaft. Als am 5. Mai 1921 ein alliiertes Ultimatum erfolgte, die Regierung Fehrenbach zurücktrat und wieder einem Kabinett der Weimarer Koalition unter Wirth Platz machte, in dem der bisherige säch7
" Auf Anraten Graf Zechs bemühten sich im Sommer 1921 Albert und Brecht
um den Industriellen Karl Haniel, der Mehrheitsbesitzer der Münchener Neuesten Nachrichten war, um eine reichstreue Stimme in München zu gewinnen. Unterstaatssekretär Albert stellte schließlich auch eine Verbindung zwischen Graf Zech und dem Münchener Redakteur Coßmann her, dem Herausgeber der Süddeutschen Monatshefte. Viel haben diese Beziehungen aber offenbar nicht bewirkt. 77
E . v. Vietsch, Rechberg, S. 66.
78
Vgl. die Schilderungen des zu dieser Zeit als Staatsanwalt in München tätigen
Hoegner, Die verratene Republik, S. 83 ff. n
Hoegner, a. a. O., S. 108.
Der erste Konflikt
363
sische Ministerpräsident G r a d n a u e r an die Stelle Koch-Wesers trat und das sich zu schärferem Vorgehen anschickte, sah sich der bayerische Regierungschef in einer Sackgasse, aus der ihn nur der v o n den L a n d tagsparteien geforderte Entschluß des Forstrates Escherich zur freiwilligen Selbstauflösung der E i n w o h n e r w e h r befreite. F ü r das Reich w a r allerdings nicht viel gewonnen; denn die Vaterländischen
Ver-
bände, Geheimorganisationen und W e h r v e r b ä n d e , die sich dort entwickelten, w o
die E i n w o h n e r w e h r
verschwand, und durch
freilich
nicht erst j e t z t „ v o n außen her importierte nationalistische O r g a n i s a t i o n e n " 8 0 Zufluß erhielten, gefährdeten die inneren Verhältnisse des Landes noch mehr als zuvor. U n d geheime oder auch nicht geheime Waffendepots, die vielerorten erhalten blieben, sorgten dafür, d a ß die Bürgerkriegs- und Putschgefahr ständig wuchs, die auch von bayerischen P o l i t i k e r n alsbald e r k a n n t wurde, die ihre Befürchtungen an die Adresse des Reichswehrministers G e ß l e r leiteten. 8 1 D e r am stärksten bürgerlichen Vereinscharakter wahrende B u n d „ B a y e r n und R e i c h " geriet unter der Führung des Sanitätsrats Pittinger in ein separatistisches Fahrwasser. 8 2 Dieser R i v a l e Escherichs zog nun auch die geheime D a c h organisation der W e h r v e r b ä n d e an sich, die über gute Verbindungen zu großindustriellen Finanzkreisen im R h e i n l a n d und in Sachsen, zum K r o n p r i n z e n Rupprecht, über P ö h n e r , Frick und R o t h zur bayerischen V e r w a l t u n g , über E p p und R ö h m zur Reichswehr verfügte und die sich über die O r g a n i s a t i o n K a n z l e r , den A n d r e a s - H o f e r - B u n d und dank der unermüdlichen T ä t i g k e i t des K a p i t ä n s E h r h a r d t , des H a u p t m a n n s P a b s t und K a n z l e r s nach Österreich und U n g a r n ausbreitete. I n Teilen dieser
Organisationen
regten
sich
nationalrevolutionäre
und
ter-
roristische K r ä f t e .
80
Schwend, Bayern, S. 170.
81
Geßler, Reichswehr und Politik, S. 251 f., erwähnt eine Denkschrift Auers, des
Führers der bayerischen Sozialdemokraten, vom August 1922, aber auch „gute Informationen", die er von Schweyer, dem bayerischen Staatssekretär und später«, Innenminister des Kabinetts Graf Lerchenfeld, und sogar vom Berliner Gesandten Ritter v. Preger erhalten habe. „Beide sahen die Entwicklung klar und waren voll Mißtrauen nicht nur gegen die Reichswehr in Bayern, sondern gegen ihre eigene Polizei und Justiz." Das trifft sicherlich erst für die spätere Zeit zu. Auch von anderen
Seiten
ging
der
Reichsregierung
Material
über
Geheimorganisationen
zu.
BA, R 43 1/2263. 82
Schwend, Bayern, S. 201 f. Aufschlußreich Kanzler, Bayerns Kampf gegen den
Bolschewismus, S. 105 ff.
N E U N T E S
KAPITEL
Der zweite und der dritte Konflikt. Vom Erzb erger-Mord bis zum Berliner Protokoll (1921/22) Der Konflikt
nach der Republikschutzverordnung vom 29. August 1921
Die starrköpfige, wenn auch beeinflußbare, so doch nicht zu rasdien Entschlüssen fähige Bürokratennatur Kahrs führte die bayerische Politik bald in eine zweite Krise hinein. Am 26. August 1921 wurde der verrufene Feind aller föderalistischen Kräfte, Matthias Erzberger, dessen politische Laufbahn mit seinem Sturz als Reichsfinanzminister im März des voraufgegangenen Jahres wahrscheinlich noch nicht beendet gewesen wäre, 1 im Schwarzwald von zwei ehemaligen Offizieren ermordet. Die Täter gehörten einer geheimen „Organisation Consul" an, deren Existenz im September aufgedeckt werden konnte. Sie rekrutierte sich zum Teil aus ehemaligen Angehörigen der Kapp-PutschBrigade Ehrhardt; ihre Fäden liefen in dem als Röntgeninstitut getarnten Hause Pittingers in der Münchener Möhlstraße zusammen. 2 Die von dem preußischen Staatskommissar für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, dem späteren Staatssekretär Weismann, wirksam unterstützten späteren Ermittlungen der badischen Staatsanwaltschaft Offenburg führten Anfang 1922 zur Entdeckung dieser Verbindungen und zu einigen Verhaftungen in München, jedoch keineswegs zu ihrer völligen Zerschlagung. Indessen führte die bayerische Regierung Beschwerde gegen die Einmischung nichtbayerischer Stellen in die bayerische Polizeihoheit. 3 Wenige Wochen vor dem Morde hatten 1
Vgl. Epstein, Erzberger, S. 383, über die Auseinandersetzung zwischen Erzberger und Stegerwald 1921, einige Wochen v o r der M o r d t a t , in denen sich grundsätzliche Entscheidungen über die innerpolitische Orientierung des Zentrums abzuzeichnen begannen. 2 D e r N a m e dieser Organisation ging darauf zurück, d a ß sich K o r v e t t e n k a p i t ä n E h r h a r d t u. a. unter dem Pseudonym „Konsul H . " und „Konsul Eichmann" teils in München, teils in Salzburg aufhielt. Ihr wirkliches H a u p t w a r jedoch nicht E h r h a r d t , sondern Pittinger. 3 Bericht des Bayerischen Staatsministers des I n n e r n an das Bayerische Staats-
Der zweite
und der dritte
Konflikt
365
Justizminister Roth und Staatssekretär Schweyer eine gemeinsame „Bekanntmachung, politische Ermittlung durch auswärtige Polizeibeamte betreffend", erlassen, 4 die jede Ermittlung nichtbayerischer Polizeiangehöriger innerhalb Bayerns grundsätzlich von der Mitwirkung, gegebenenfalls von der Kontrolle bayerischer Polizeibehörden abhängig machte. D a es offenkundig war, daß die in München aufgedeckten „umstürzlerischen Bestrebungen sich nicht nur auf Bayern beziehen, sondern sich auf das ganze Reich erstrecken, daß mithin nicht nur Bayern, sondern alle Länder und vor allem das größte Land Preußen ein gewichtiges Interesse daran haben, die Vorgänge zu beobachten und diese Geheimorganisation zu vernichten", wie Weismann feststellen mußte, 5 nimmt es kein Wunder, daß diese bayerische Bestimmung des öfteren übertreten wurde. Aber nicht nur amtliche Stellen befaßten sich mit der „politischen Überwachung Bayerns"; sie bedienten sich gelegentlich auch der Mithilfe geheimer, teilweise dubioser Nachrichtendienste, deren Tätigkeit von der bayerischen Regierung mit einer gewissen Nervosität verfolgt und in dem Fall Freiherr von Leoprechtings während der Ministerpräsidentschaft des Grafen Lerchenfeld von der bayerischen Presse an das Licht der Öffentlichkeit gebracht wurde." Die maßlose Kampagne der Rechtspresse seit dem Prozeß Erzbergers zu Beginn 1920, die sich gelegentlich bis zu offenen Morddrohungen steigerte, wie das Aufleben nationalistischer, halbmilitärischer und geheimer terroristischer Organisationen und Gruppen, die die Entstehung einer radikalen antirepublikanischen Front begleiteten, geboten ein wirksames Durchgreifen der Reichsregierung. Sie wählte den kürzesten Weg, mit Hilfe einer Verordnung des Reichspräsidenten nach der Diktaturbestimmung der Reichsverfassung einen Verfassungsschutz zu schaffen, der aus Anlaß des Mordfalles Erzberger auch bestimmte Persönlichkeiten, die „Vertreter der republikanisch-demokratischen Staatsform", in den Rechtsschutz einbezog und den Vollzug in ministerium des Äußeren vom 2. 3.1922, weitergeleitet an den Reichskanzler; Niederschrift über Besprechung des Reichskanzlers Wirth mit Ministerpräsident Braun, Innenminister Severing, Staatskommissar Weismann, dem Gesandten Preger, Reichsinnenminister Köster und Reichskommissar Oberst Kuenzer am 11.3. und Bericht Weismanns f ü r den Reichskanzler vom 14. 3. 1922, BA, R 43 1/2263. 4
Vom 27. 7.1921, Absdir. BA, R 43 1/2263. Bericht Weismanns vom 14.3.1922. 8 Eine korrekte Darstellung des Falles gab der Bericht „Dunkle Vorgänge in Bayern" in den Mündiener Neuesten Nachrichten, N r . 26 vom 19.1.1922. 6
366
II. Reithspolitik
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Föderalismus
die Hände des Reichsinnenministers legte.7 Um dem Auftreten und Anwachsen der quasimilitärischen Verbände zu begegnen, erließ die Reichsregierung am nächsten Tage ein Verbot des Tragens von Uniformen. 8 D a ß sich diese Maßnahmen gegen „Organisationen, Vereine, Gruppen und Persönlichkeiten" der nationalen Rechten richteten, die mit gewaltsamen Mitteln gegen Regierung und Verfassung vorzugehen bereit waren, auf die sie in demagogisch ausgedrückten Emotionen alle Verantwortung f ü r die sich zuspitzende wirtschaftliche und politische Misere abluden, hob die Reichsregierung schon vorher in einem Aufruf an das deutsche Volk hervor. 9 Man wird gewiß nicht sagen können, daß dieses schnell entschlossene Vorgehen der Reichsregierung zur Sicherung von Verfassung und Gesetzen nicht dringend notwendig gewesen sei. Wahrscheinlich hätten schon früher vorsorgliche Maßnahmen getroffen werden müssen, die dann vielleicht weniger umfassend ausgefallen wären. Sie konnte sich indessen nicht gegen Organisationen wenden, die in einer staatlich anerkannten und geförderten Einrichtung wie der bayerischen Einwohnerwehr in sicherer H u t standen. Nach Auflösung der Einwohnerwehr aber, die ein Gewirr kaum noch übersehbarer Verbände hinterließ, in dem der radikale Terrorismus zu wuchern begann, war ein Gegenstoß der Reichsregierung unausbleiblich geworden. Er richtete sich jedoch nicht mit einem Generalverbot gegen die Existenz bestimmter Kategorien von Organisationen, dem bei Lage der Dinge kaum Erfolg beschieden gewesen wäre, sondern suchte die in einigen Tatbestandsmerkmalen erfaßten Phänomene zu beseitigen. Damit konnte freilich nicht die gesamte illegale radikale Opposition aus der Welt geschaffen, sondern lediglich ihre Bewegung eingedämmt und an gewissen Aktionen gehindert werden; das blieb eine bedenkliche Schwäche des umfassenden Schutzes, den sich die republikanische Regierung verschrieb. Der Mangel lag im Verfassungsrecht, das weder den Verfassungsschutz noch das Ausnahmerecht so weit ausgestaltet hatte, daß eine abmeßbare, sichere und wirkungsvolle Handhabung möglich gewesen wäre. D a ß sich die an der bayerischen Regierung beteiligte Rechte, die kaum die als schweren Schlag empfundene Auflösung der Einwohnerwehr hingenommen hatte, nicht ohne Widerstand den Maßnahmen des Reiches fügen würde, ließ sich wohl erwarten. Mit Hilfe Kahrs, der sich ' Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze der Republik vom 29. 8. 1921 (RGBl 1921, S. 1239). 8 RGBl 1921, S. 1251. 8 Abgedruckt bei Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 7 f.
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nicht noch ein zweites Mal gewillt zeigte, seinen zweifelhaften Ruf als starker Mann aufs Spiel zu setzen, schlüpfte sie in das G e w a n d des Staatsföderalismus und versuchte nunmehr der Reichsregierung Rechtsfehler nachzuweisen. Die rechtliche Zulässigkeit einer Schutzverordnung blieb zwar unbestritten; aber die Kritik bemächtigte sich der Form, die sie erhielt und in der sie erging. In der Sitzung des Reichsrats am 1. September wandte sich der bayerische Gesandte vor allem dagegen, daß ihr keine Fühlungnahme mit den Länderregierungen vorangegangen war. 1 0 Hinter der aufgeworfenen Frage, ob eine Verletzung des Artikels 67 der Reichsverfassung 1 1 vorlag, wie bayerischerseits behauptet wurde, verbargen sich juristische Probleme, die hier keineswegs zum letzten Male auftauchten. Der Begriff der „laufenden Geschäfte" beschwor auch später und nicht nur im Reichsrat — auch in den Beziehungen zwischen dem Preußischen Staatsministerium und dem Staatsrat — Meinungsverschiedenheiten von Bedeutung herauf. An dieser Stelle harrte allerdings eine wichtige, vom bayerischen Reichsratsvertreter vorerst nur angedeutete Entscheidung im Hintergrund, die die Problematik des Artikels 48 betraf: ob der Reichsrat am Erlaß einer Präsidialverordnung ebenso wie an der ordentlichen Gesetzgebung zu beteiligen war. 1 2 Gerade in diesem Falle hätte Bayern gehört werden müssen, behauptete Ritter v. Preger, da es der erste Fall sei, daß Bayern von einer vom Reichspräsidenten erlassenen Ausnahmeverordnung betroffen werde. M a n mag sich freilich fragen, was aus der beabsichtigten Maßnahme geworden wäre, wenn sich zuvor die Regierung K a h r in die Beratung eingeschaltet hätte. D a s Mitwirkungsrecht des Reichsrates ließ sich, wie hier schon hervorgeht, eben nur bei ungefährer politischer Gleichsinnigkeit aufrechterhalten; es stand in Frage, ob sich diese mit seiner H i l f e herbeiführen ließ. Eine Aktion, deren Sinn zumindest teilweise in ihrer begründeten Unverzüglichkeit lag, mußte jedenfalls die Probe aufs Exempel ausschließen. Die bayerischen Belange sah die Regierung K a h r indes vor allem in Nied V R R J g . 1921, § 7 2 0 . Dieser lautete: „Der Reichsrat ist von den Reichsministern über die Führung der Reichsgeschäfte auf dem Laufenden zu halten. Zu Beratungen über wichtige Gegenstände sollen von den Reichsministerien die zuständigen Ausschüsse des Reichsrates zugezogen werden." 1 2 Die Schutzverordnung berief sich übrigens nicht ausdrücklich auf den Abs. 2 des Art. 48, sondern nur allgemein auf Art. 48, obgleich nur der Abs. 2 in Frage kam, keineswegs der Abs. 1 (Reichsexekution), da sich die Verordnung nicht gegen ein bestimmtes Land richtete. Die Ungenauigkeit in dem Bezug wurde im Reichsrat nicht bemängelt. 10 11
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zwei Punkten von der Schutzordnung berührt. Einmal bemängelte sie die ausgedehnten Ermächtigungen des Reichsinnenministers, der von Berlin aus Zeitungen und Druckschriften beschlagnahmen lassen und Versammlungen, Vereine, Umzüge und Kundgebungen verbieten konnte und auch über Beschwerden hiergegen zu befinden hatte, die nur im Falle seiner Zustimmung an einen hierzu einzusetzenden Ausschuß des Reichsrates weitergingen. In der T a t griffen diese Anordnungen tief in die Polizeihoheit der Länder ein und begründeten sie eine reichsinstanzliche Entscheidungsgewalt, die der Schaffung einer neuen Zuständigkeit auf dem Gebiete der politischen Polizei gleich kam, wenn auch ein neuer Vollzugsapparat noch nicht entstand. Zum anderen kam die Verordnung des Reiches in Konflikt mit dem Ausnahmezustand in Bayern, dessen Aufhebung zu verlangen das Reich bisher unterlassen hatte. Die Reichsregierung ließ von vornherein durchblicken, daß sie ihrerseits zu Verhandlungen bereit sei, was die Vermutung nahelegt, daß die Verordnung wohl auch als ein behutsames Druckmittel gedacht war, das Bayern wieder in die Bahnen ihrer eigenen Politik lenken sollte. Wäre es allein nach Kahr gegangen, so hätte dieses Mittel von vornherein vollständig versagt. D a sich jedoch die Bayerische Volkspartei, jetzt vorsichtiger geworden, nicht mehr bereit zeigte, Entscheidungen in blindem Vertrauen ihrem Regierungschef allein zu überlassen, wurden Verhandlungen möglich, die zuerst Staatssekretär Schweyer und der demokratische Landtagsabgeordnete Dirr in Berlin mit Reichskanzler Wirth, dem Reichsinnenminister Gradnauer und Reichsjustizminister Schiffer eröffneten und einige Tage danach Schweyer gemeinsam mit Held, dem Fraktionsvorsitzenden der BVP, fortsetzte. 13 Während jedoch die Reichsregierung den bayerischen Wünschen Stück für Stück entgegenkam, verhärtete sich die Haltung Kahrs zu konzessionsloser Ablehnung des Vorgehens der Reichsregierung und trieb Roth zum offenen Konflikt. Von der zweiten Reise nach Berlin brachten die bayerischen Unterhändler Ergebnisse zurück, die dem größten Teil der bayerischen Einwände Rechnung trugen und daher kaum noch abgelehnt werden konnten. Sie liefen auf einen einfachen Tausch hinaus, der das Ansehen beider Regierungen im vollen Umfang wahrte: Die Reichsregierung erklärte sich bereit, die Verordnung den bayerischen Wünschen gemäß abzuändern und verlangte dafür die Aufhebung des Ausnahmezustandes in Bayern. Kahr hatte sich indessen auch diesmal 13
Schwend, B a y e r n , S. 1 7 3 ff.
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schon zu sehr festgelegt und steuerte nun auf einen Bruch mit Berlin, auf Neuwahlen und auf die Bildung einer breiten rechtsoppositionellen Front zu. H i e r f ü r wußte er auch die Mehrheit des Kabinetts zu gewinnen; jedoch verlor er die Gefolgschaft der Bayerischen Volkspartei im Landtag. Der Konflikt endete damit, daß der Landtagsausschuß einen Vermittlungsvorschlag annahm, der sich im wesentlichen an das Ergebnis der Berliner Besprechungen hielt, und Kahr, der die Aufnahme einer dehnbaren Klausel in bezug auf den bayerischen Ausnahmezustand verlangte, nunmehr doch seinen Rücktritt einer vorbehaltlosen Anerkennung des parlamentarischen Beschlusses vorzog. Ihm folgte der Justizminister Roth, diesem der Münchener Polizeipräsident Pöhner, so daß einer Einigung mit der Reichsregierung auf der vorgezeichneten Kompromißlinie nichts mehr im Wege stand. Die Augustverordnungen wurden durch eine nach den bayerischen Wünschen veränderte Verordnung vom 28. September ersetzt, die den Vollzug den Landesbehörden anvertraute und die Landesbehörden bzw. den Reichsratsausschuß als Beschwerdeinstanz zuließ, anderseits aber den Personenschutz erweiterte und allgemein auf „Personen des öffentlichen Lebens" ausdehnte. 14 Die neue Regierung Graf Lerchenfeld 15 hob daraufhin den bayerischen Ausnahmezustand mit Wirkung vom 15. O k tober auf. 1 ' Man wird über die von Kahr geltend gemachten Belange föderativer Staatsinteressen, auf die auch der Abgeordnete Beyerle am 1. Oktober 1921 im Reichstag nochmals zurückkam, um den Vorgängen der zurückliegenden Wochen eine Gesamtcharakteristik auf dem Boden einer föderalistisch ausgelegten Reichsverfassung zu geben," nicht ohne weiteres hinweggehen können. Unbeschadet der Tatsache, daß Kahr sich zweifellos nicht immer in seinen Entschließungen persönlich frei wußte, hatte der bayerische Ministerpräsident gewiß richtig erkannt, daß die Verordnung des Reichspräsidenten weitreichende Folgen grundsätzlicher Art mit sich trug, die die staatliche Existenz und die Rechte 14
RGBl 1921, S. 1271. Das Kabinett Lerchenfeld, das vom 21. September 1921 bis zum 26. Juli 1922 ohne einen Angehörigen der Mittelpartei amtierte, wies gegenüber dem letzten Kabinett Kahr nur geringe Veränderungen auf: Staatssekretär Schweyer, der sich als stärkste Kraft der BVP in der Regierung erwiesen hatte, übernahm das von Kahr verwaltete Innenministerium, Lerchenfeld außer dem Außenministerium interimistisch auch das Justizministerium, ehe es Ende Juli 1922 der Oberregierungsrat Gürtner, ein Parteifreund Roths, erhielt. Die übrigen Minister blieben. " Vgl. Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 76; Hoegner, Die verratene Republik, S. 110. 17 V h R T 1. WPer, StenBer Bd. 351, S. 4696 f. 15
24 SAulz I
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Bayerns, auch soweit die Reichsverfassung sie anerkannte, berührte. Doch die Handlungen der Reichsregierung standen in diesem Falle für die Republik und die Verfassung, die, was unbestreitbar war, Gefährdungen ausgesetzt waren und daher eines Schutzes bedurften. Die juristischen Makel ihres Vorgehens, die die bayerische Regierung hervorhob, beseitigte die Reichsregierung selbst durch einen Kompromiß, wobei ihr Entgegenkommen bis an die äußersten Grenzen des Möglichen ging, falls sie die Wirkungen ihrer Anordnungen nicht völlig entkräften wollte. Wie sich dann zeigte, gingen ihre Zugeständnisse, da sie dem Reichsinnenminister die meisten seiner wichtigen Befugnisse wieder nahmen, bereits über die Grenzen einer vollkommenen Erfolgssicherheit hinaus; jedenfalls erzielte die Schutzverordnung in ihrer abgeänderten Form keine Besserung der politischen Verhältnisse in Bayern. Sie mußte die Erfahrung machen, daß ihre Schritte, soweit sie die politischen Widerstände auszuräumen in der Lage waren, auch noch stets mit peinlicher Genauigkeit mit allen Mitteln juristischer Verfassungsauslegung überwacht und überprüft wurden, wobei die offenen Türen, die eine dynamische Fortgestaltung des Staatsrechts — im unitarischen Sinne — ermöglichen sollten, auch zu Falltüren werden konnten, die die Länderregierungen für ihre Zwecke und zur Stärkung ihrer Rechte benutzten. Das Ringen zwischen Reichsregierung und Länderregierungen auf dem Boden des Verfassungsrechts nahm daher den Charakter einer Kette von Rechtsprozessen an, die freilich nicht darüber hinwegtäuschten, daß vielfach rein politische Fragen zur Entscheidung standen. Einerseits übten sie einen starken Einfluß auf die Form aus, in der politische Gegensätze ausgetragen wurden; zum anderen wuchsen sich Streitigkeiten rechtlicher Natur zu innerpolitischen Problemen aus, die in einer Kette permanenter Auseinandersetzungen an der föderalistisdi-unitarischen Konfliktslinie mit wechselndem, kaum jemals endgültig entschiedenem Ausgang sichtbar wurden.
Graf Lerchenfelds Politik der Sicherung des Möglichen. Republikschutzgesetz K a h r schwebte offenbar ein eindeutiger Sieg der bayerischen Staatsautorität ohne Rücksicht auf das Ansehen der Reichsregierung vor. Als dieser ausgeschlossen schien, zog er sich von der Bühne des Geschehens in seinen Berchtesgadener Schmollwinkel zurück, um seinen R u f als „bayerischer Roland" 1 8 , den er nicht zum wenigsten der Baye18
Schwend, Bayern, S. 179.
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rischen Volkspartei verdankte, zu einem günstigeren Zeitpunkt zu nutzen. Auf Verlangen einer Reichstagsmehrheit aus den Abgeordneten der Mehrheitssozialdemokraten, der Unabhängigen, der Kommunisten und der Deutschnationalen hob der Reichspräsident die Schutzverordnung nach Vierteljahresfrist am 23. Dezember wieder auf. Die Sozialdemokraten wünschten jetzt eine parlamentarische Schutzgesetzgebung." Die Reichsregierung, die es nicht bei einer Präsidialverordnung belassen konnte, bemühte sich schon vorher darum, den Verfassungsrechtsschutz gesetzlich zu verankern und bereitete ein Gesetz zum Schutze der Republik vor, worüber dem neuen bayerischen Ministerpräsidenten alsbald Nachrichten zu Ohren kamen. Graf Lerchenfeld, zuerst im bayerischen Dienst, dann in dem des Reiches in der bundesstaatlichen Diplomatie groß geworden, galt als ein Aristokrat, der persönliche Würde mit politischer Umsicht vereinigte und keinen Zweifel an seiner Loyalität gegenüber Verfassung und Republik aufkommen ließ. Unter den Umständen der offen zur Schau getragenen Reichsfeindschaft der „nationalen" und weiß-blauen königtreuen Verbände, da keiner der parlamentarischen Führer der stärksten Partei den Schritt in die Verantwortung wagte, eine neu ansteigende Welle der Popularität den Namen Kahr erfaßte und der Ruf nach seiner Rückkehr ertönte, 20 w a r der Graf sicherlich der bedeutendste Mann, den die Bayerische Volkspartei finden und mit einiger Aussicht auf Erfolg präsentieren konnte und von dem sie einen günstigen Einfluß auf die Regelung ihrer Beziehungen zur Reichsregierung erwarten durfte. Für ein starkes Durchgreifen nach innen und eine Beruhigung der bayerischen Atmosphäre ermangelten seiner Stellung innerhalb der bayerischen Politik und wohl auch seiner N a t u r die wichtigsten Voraussetzungen. Sollte seiner Politik der Mäßigung und Abwiegelung einiger Erfolg beschieden sein, wollte sich Lerchenfeld überhaupt auf dem schwierigen Münchener Terrain behaupten, so bedurfte es einer allmählichen Normalisierung, die seine Regierung wohl zu fördern und zu begünstigen, aber wohl kaum in bahnbrechenden Maßnahmen rasch und entscheidend voranzutreiben vermochte. Die aufgeregte, von bayerischen und nationalistischen Kreisen ständig geschürte Volksstimmung in München und weiten Teilen Bayerns, die nur zu häufig von Imponderabilien bestimmt wurde, ließ sich in begrenzter Frist selbst mit klügsten diplomatischen Mitteln nicht be-
24*
19
Poetzsch, JböR XIII/1925, S . l l .
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Vgl. Schwend, Bayern, S. 182 f.; Hoegner, Die verratene Republik, S. 110 f.
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handeln. Der Graf legte es daher, Situation und Neigungen gleichermaßen gehorchend, von Anbeginn vor allem darauf an, die unverbrüchliche Reichstreue Bayerns hervorzuheben und nach innen wie dem Reiche gegenüber zu vertreten und glaubhaft zu machen. Seine auf Ausgleich und Klärung bedachte philosophische Natur, der das Parteiergreifen wenig lag, bedurfte freilich auch des behutsamen Taktes auf allen Seiten, um in langsam voranschreitendem geduldigem Wirken in der eigenen Partei einen festen H a l t zu finden, „die verschiedenen Fäden zu entwirren und die Leute auf dem verfassungsmäßigen Boden der Regierung zu sammeln". 21 H i e r f ü r brachte er den durch „Loyalitätskundgebungen aller maßgebenden Führer der ehemaligen Einwohnerwehr" gestärkten Optimismus auf, der Reichsregierung schlechthin zu erklären, er sehe keine Gefahr und hege „nur dann Besorgnisse für die Zukunft, wennn die unruhigen Elemente durch falsche Behandlung gereizt, wenn die hier und dort offen herumstehenden Pulverfässer durch Ungeschicklichkeiten, auch Taktlosigkeiten zum Entzünden gebracht werden". 82 Seine Auffassung, daß man den rechtsradikalen Treibereien nur beikommen könne, wenn man sie „mit leichter H a n d behandle", daß jedes schroffe Eingreifen jedoch schade und die Möglichkeit einer Explosion begünstige, 23 war gewiß nicht ohne Wagnis. Seiner Politik fehlte, im vollendeten Gegensatz zu der H a l tung Kahrs, nach jeder Seite hin das Unbedingte. Im Bewußtsein des Mangels einer fest gefügten demokratischen Grundlage nahm sie den Charakter eines Experimentes fortgesetzter Vermittlungen an, die die unmittelbar auf seine Münchener Position einwirkenden Tatsachen, sobald sie sich, scharf und entschieden gefaßt, zur Geltung brachten, in Rechnung zu stellen bereit war. Wenn es erlaubt ist, Politik als „Kunst des Möglichen" zu betrachten, so war Graf Lerchenfeld gewiß ein Künstler in diesem Genre. Das unterschied ihn wesentlich von seinem Vorgänger Kahr. All dies zeigte sich schon, als Lerchenfeld, durch die Nachrichten über die Gesetzespläne beunruhigt und um neuen Konflikten vorzubeugen, Reichskanzler Wirth ersuchte, den beabsichtigten Entwurf, noch ehe er in das Reifestadium der Reichsratsverhandlung trat, „vor der endgültigen Fertigstellung in den Grundzügen mit Herrn v. Pre21
Graf Lerdienfeld an Reichskanzler Wirth am 4 . 3 . 1922, BA, R 43 1/2263.
22
Ebda.
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Telegramm Graf Zechs an Staatssekretär Hemmer in der Reichskanzlei vom 25. 2. 1922 über eine Unterredung mit Lerchenfeld, BA, R 43 1/2263.
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ger besprechen" zu wollen, „damit die bayerische Sinnesart, soweit dies mit den Interessen des Reiches vereinbar ist, geschont wird. Oft handelt es sich dabei nur um Nuancen". 24 Der Ministerpräsident bemühte sich, diesen Wunsch durch Ratschläge, die keineswegs schwerwiegende Einwände vermuten ließen, dem Reichskanzler schmackhaft zu machen. Er fügte als Begründung hinzu, er habe den Eindruck, „daß bei uns in Bayern eine zunehmende Beruhigung eintritt; wenn man die Dinge sich friedlich entwickeln läßt; und daß die Gefahr eines kopflosen Putsches ganz von selbst in die Ferne rückt, je mehr sich die Verhältnisse im Reich konsolidieren, wozu die Lösung des Reparationsproblems in hervorragender Weise beitragen kann". Dieser zwar vorsichtige, aber unmißverständliche Hinweis auf die schwierige außenpolitische Tätigkeit der Reichsregierung, die in der Amtszeit seines Vorgängers von bayerischer Seite keineswegs erleichtert worden war, ließ die Hoffnung zu, daß ihr Lerchenfeld in Bayern, um ihre Handlungsfreiheit nicht zu beeinträchtigen, nunmehr den Rücken freihalten, dafür aber kaum eine innerpolitische Maßnahme, die dieses Land betraf, außer Kontrolle seiner Regierung passieren lassen werde. Wahrscheinlich war es dieser Schritt, der die Reichsregierung veranlaßte, den umfangreichen Gegenstand ihrer gesetzgeberischen Pläne in mehrere Komplexe aufzuteilen. Das Reichsinnenministerium befaßte sich zunächst mit der längst fälligen Verpflichtung der Beamten auf die Verfassung der Republik und berief eine Konferenz der Ländervertreter ein, um mit ihnen den ausgearbeiteten Vorentwurf eines zu diesem Zwecke zu erlassenden Gesetzes zu beraten. 25 Hierbei erlitt der Vertreter des Reichsinnenministeriums eine so eklatante Niederlage, daß nichts übrig blieb, als diesen Plan zurückzustellen. Nicht nur der bayerische Gesandte erklärte namens seiner Regierung die strikte Ablehnung eines „Ausnahmegesetzes gegen die Beamten, welche das . . . zum Ausdruck kommende Mißtrauen nicht" verdienten, das nur „ein neues Glied in der Kette von Streitpunkten zwischen Reich und Ländern bilden" würde. Die Vertreter Württembergs und Bremens äußerten sich ähnlich; Preußen, Hessen und Lübeck machten ihre Zustimmung von einem genauen Nachweis der Bedürfnisse für ein sol24 Schreiben Graf Lerchenfelds an den Reichskanzler vom 8. 12. 1921, auszugsweise Abschr. BA, R 43 1/1864. 25 „Niederschrift der Beratung über den Vorentwurf eines Gesetzes über die Verpflichtung der Beamten zum Schutze der Verfassung im Reichsministerium des Innern am 17. Januar 1922" (unter dem Vorsitz des Ministerialdirektors Brecht), BA, R 43 1/1864.
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dies Gesetz abhängig. Obgleich gerade die Sozialdemokraten im Reichstag reichsrechtliche beamtenrechtliche Bestimmungen im Rahmen eines Republikschutzgesetzes vorgeschlagen hatten, 29 setzten sich diese unter sozialdemokratischen Regierungschefs stehenden Länder dagegen zur Wehr, daß ihnen das Reich das wichtige Instrument des Beamtenrechts entwandt. Ein ins einzelne gehender Nachweis der Notwendigkeit hätte sich zwangsläufig mit den Beamtenverhältnissen bestimmter Länder befassen und diese tadeln müssen, was der Reichsregierung kaum den Erfolg bringen konnte, den sie wünschte. Dieser Weg war daher indiskutabel. Angesichts der aussichtslosen Bedingungen für eine Behandlung des Entwurfs im Reichsrat blieb infolgedessen nichts anderes übrig, als ihn aus der Diskussion zu ziehen. Die Existenz der politischen „Mordatmosphäre" zwang im Sommer 1921 erneut zum Handeln. Am 4. Juni wurde auf Scheidemann, der zu dieser Zeit Oberbürgermeister in Kassel war, ein Anschlag verübt, dem der ehemalige Reichsministerpräsident nur mit knapper Not entging. D a ß der stärkste Unruheherd nach wie vor in München lag, zeigte sich dann einige Tage später bei einem Besuch des Reichspräsidenten in der bayerischen Landeshauptstadt, den terroristische Gruppen zum Anlaß für wüste Ausschreitungen und Demonstrationen nahmen. Auch die Spuren der Anstifter eines Überfalls auf Maximilian Harden am 3. Juli in Berlin führten nach Bayern. Am 24. Juni 1922 erlitt der amtierende Reichsaußenminister Rathenau, einer der angesehensten und bedeutendsten Männern der Reichsregierung, das gleiche Schicksal wie Erzberger zehn Monate zuvor. 27 Nach dieser Untat mußte nun die Reichsregierung mit scharfen Waffen erwidern. Sie beschritt den gleichen Weg wie im Vorjahre und wählte das sofort nutzbare Mittel der Präsidialverordnungen. Am 26. Juni erging erneut eine Verordnung zum Schutze der Republik, die gegenüber der Verordnung vom 28. September einige wesentliche Verschärfungen enthielt und einen besonderen Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik beim Reichsgericht schuf, der für sämtliche Vergehen gegen diese Verordnung und allgemein für „Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform des Reichs oder gegen Mitglieder der jetzigen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reichs oder eines Lan2
« V h R T 1. WPer, Anl 4156 (Bd. 374).
27
Hoegner, Die verratene Republik, S. 111 f.; L. Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst
am Recht, S. 172 ff., 1 8 7 ; das Eingeständnis weiterer, nicht mehr ausgeführter Mordpläne bei Ernst v. Salomon, Der Fragebogen, Hamburg 1951, S. 130, 134 ff.
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des" zuständig war. 28 Am gleichen Tage erging eine weitere Verordnung, die die Landeszentralbehörden ermächtigte, bestimmte, von nationalistischen Kreisen f ü r den 28. Juni vorgesehene Versammlungen zu verbieten und „bis auf weiteres" Regimentsfeiern sowie Veranstaltungen von Angehörigen ehemaliger Truppenverbände zu untersagen.29 Ihr folgte drei Tage später eine zweite Schutzverordnung nach, die die Teilnahme an oder Unterstützung von Mordverschwörungen gegen den geschützten Personenkreis mit dem Tode, die Mitwisserschaft bei Unterlassung der Anzeige mit Zuchthaus und die Verleumdung oder öffentliche Beschimpfung der toten Opfer solcher Gewalttaten mit Gefängnis- bzw. Geldstrafen bedrohte. 30 Das war der Sachverhalt, aus dem sich ein neuer Konflikt zwischen Bayern und der Reichsregierung entwickelte, der noch schlimmere Folgen annahm als der vorige. Gegenüber den wild aufschäumenden Wellen der Empörung, die im bayerischen Landtag die Abgeordneten der Bayerischen Volkspartei ebenso wie die der Mittelpartei, die die gesamte bayerische Presse mit Ausnahme der sozialdemokratischen und unabhängigen erfaßte 51 und in Verleugnung der wirklichen Sadiverhalte von einem „demokratischen Ubergangsstadium zur Diktatur des Proletariats" reden ließ,32 wirkte es bereits mäßigend, wenn Graf Lerchenfeld im Landtag ausdrücklich die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verordnungen anerkannte und der Reichsregierung unterstellte, sie sei „von dem Bestreben geleitet gewesen, die vor allem in Berlin und in den größeren Industriezentren mächtige Erregung der Massen durch sofortige Maßnahmen zu bannen". Der Ministerpräsident konzentrierte die Einwände der bayerischen Regierung gegen die Hauptverordnung wieder auf die mangelhafte Unterrichtung des Reichsrates und auf eine Kritik an der „Verschlechterung" gegenüber den Bestimmungen der aufgehobenen Verordnung vom 28. September, die er in einigen Punkten prä29
RGBl I 1922, S. 521. Die Verordnung wies den Vollzug den Landeszentralbehörden zu, gab jedoch der Befugnis des Reichsinnenministers, um Vollzugsmaßnahmen zu ersuchen, die auch schon die Verordnung vom 28. September enthielt, ein größeres Gewicht und schaltete den Staatsgerichtshof als Instanz in Streit- und Beschwerdesachen ein. 29 V O R P r ä s über d. Verbot bestimmter Versammlungen (RGBl I 1922, S. 523). 30 Zweite V O R P r ä s zum Schutze der Republik vom 29. Juni (RGBl I 1922, S. 532). 31 Ausführlicher Bericht des Vertreters der Reichsregierung in München, Grat Zech, an die Reichskanzlei vom 29.6. 1922, BA, R 43 1/2261. 32 Münchener Neueste Nachrichten vom 2 8 . 6 . 1 9 2 2 .
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zisierte. 33 Er wandte sich gegen die Ausdehnung des Schutzes auf die Angehörigen früherer republikanischer Regierungen, denn „sie könnte gerade in Bayern zu Strafverfolgungen führen, die dem allgemeinen Volksempfinden auf das schärfste widersprächen", gegen die zweifellos ungenaue Charakterisierung einzelner Tatbestandsmerkmale, die dem Denunziantenunwesen bei verhältnismäßig geringfügigen Anlässen Tür und Tor öffneten, 34 gegen zu hoch angesetzte Mindeststrafmaße, v o r allem aber und am nachdrücklichsten gegen den Eingriff in die Justiz- und Polizeihoheit der Länder, den er in den Vorschriften über den Staatsgerichtshof erblickte, der einer föderativen Grundlage gänzlich entbehrte, schließlich gegen die weite Ausdehnung des Begnadigungsrechtes des Reichspräsidenten, die sich aus der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs ergab. Lerchenfeld blieb jedoch maßvoll und hob, offenbar in beruhigender Absicht, hervor, daß im Vollzug der Verordnung sicherlich Milderungen der Bestimmungen zu erwarten seien, etwa dergestalt, „daß die Mitglieder des Staatsgerichtshofes vom Reichspräsidenten im Benehmen mit den • Länderregierungen ernannt w ü r den oder daß der Staatsgerichtshof von seiner Befugnis der Delegation von Strafsachen auf Grund der Verordnung einen weitgehenden Gebrauch machte". 35 Lerchenfeld versuchte, die unartikulierte Opposition gegen die Berliner Maßnahmen auf einen Boden zu ziehen, der sach33 Die Erklärung, die Graf Lerchenfeld am 28. 6. 1922 im Landtag abgab, ist im vollen Wortlaut bei Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 76 ff., wiedergegeben. In einer Konferenz des Reichskanzlers mit den Ministerpräsidenten der Länder, die am folgenden Tage stattfand, fiel die Stellungnahme Graf Lerchenfelds weit schärfer aus als im Landtag. Man wird aber wohl auch hierin die Absicht der Vermittlung wiedererkennen dürfen und das Werben für eine Politik der „mittleren Linie" in Bayern. Lerchenfeld unterließ es nicht, auch die Gefährdung dieser Linie durch einen Sturz seiner Regierung deutlich an die Wand zu malen; „dies schon darum, weil in Bayern ein gewisses Mißtrauen gegenüber Berlin als Gefühlsmoment innerhalb der Bevölkerung tatsächlich vorhanden" sei. Niederschrift über die Konferenz am 29. 6. 1922, BA, R 43 1/1867. 34 Im besonderen fehlte z. B. im § 5, Ziff. 3 der ersten Verordnung ebenso wie wieder im Art. II der Verordnung vom 29. Juni für die Verleumdung, die mit einer Strafe von mindestens drei Monaten bis zu fünf Jahren Gefängnis belegt wurde, neben der außerdem auf Geldstrafe erkannt werden durfte, das Tatbcstandsmerkmal der Öffentlichkeit. Man kann sich leicht vorstellen, wclche unerwünschten Nebenwirkungen von solchen Bestimmungen ausgehen konnten. 35 Aus nicht erkennbaren Gründen unterließ es Graf Zech in seinem Bericht vom 29.6., der u. a. einen kurzen, aber korrekten Oberblick über die Stellungnahme Lerchenfelds im Landtag enthielt, die Reichskanzlei auch über den Inhalt dieses Schlußteils der Erklärung zu unterrichten.
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liehe Erörterungen und Verhandlungen mit der Reichsregierung ermöglichte; jedoch sah er sich einem rasch wachsenden Druck von rechts her ausgesetzt, dem er nur durch peinlich genaue Festlegung eines bayerischen Rechtsstandpunktes gewachsen sein konnte. Diese Haltung erkannte auch der Münchener Vertreter der Reichsregierung an, der berichtete, daß der „nach links orientierte Lerchenfeld", der mit der immer noch verbreiteten Volkstümlichkeit Kahrs und Pöhners nicht in Konkurrenz treten konnte, „auf die Stimmung der Rechten Bedacht nehmen" müsse, obgleich sein „Verlangen nach scharfen Maßnahmen gegen die Kreise, aus deren Wühlarbeit heraus solch entsetzliche Dinge entstehen müssen . . . stark und echt" sei.3' Noch hatte die Welle der Erregung von München aus nicht auf das flache Land übergegriffen — „a priori sind dem Bauern die Butter- und Eierpreise wichtiger wie die bayerische Justizhoheit". Aber die Agitation der Rechtspresse bewirkte, daß bereits eine Woche nach der Mordtat „in den bürgerlichen Lagern die Erinnerung an den Mord gegenüber der allgemeinen Ablehnung der Ausnahmeverordnungen . . . fast ganz in den Hintergrund" trat. „Die Furcht aber, von den mächtigen rechtsstehenden Hütern des Föderalismus als Gefolgsmann der unitarischen, bolschewisierenden Berliner Regierung verschrien zu werden, und auf diese Weise das Ansehen bei den Wählern und Zeitungslesern zu verlieren, ist bei den meisten so groß, daß sie gegen bessere Einsicht mit den Wölfen heulen", beurteilte Graf Zech die Münchener Lage; und er hielt mit ernsten Besorgnissen nicht zurück: „Ich selber fürchte, wir bekommen recht gespannte Zeiten und Stimmungen, aus denen heraus alle möglichen, bisher nur in der Ferne drohenden Gefahren zu Tatsachen werden könnten". Unter diesen Umständen begrüßte er die allmähliche Festigung der Stellung Lerchenfelds, die er auch in Zukunft zu stützen wünschte. Er sah voraus: „Sein Nachfolger würde der Schach36
Persönliches Schreiben Graf Zechs an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 3 . 7 . 1922, BA, R 43 1/2261. Erst in diesem, dem dritten Bericht, den der Gesandte nach Bekanntwerden der Verordnungen vom 26. Juni erstattete, finden sich Bemerkungen über die persönliche Einstellung und die ersten Reaktionen Graf Lerchenfelds nach Eintreffen der Nachricht vom R a t h e n a u - M o r d , die Zech als Augenzeuge miterlebte. Diese Verzögerung in der genauen Unterrichtung der Reichsregierung, auch die Form des persönlichen Schreibens an den Staatssekretär, die nur in einzelnen, besonders wichtigen Fällen üblich w a r , läßt sich aus der Zweigleisigkeit der Berichterstattung erklären, die Zech wählte. D a er befürchtete, daß seine Berichte überwacht w u r d e n , übersandte er seit A n f a n g Juli wichtige Nachrichten durch Kuriere an den Staatssekretär in der Reidiskanzlei.
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tel Kahrs entnommen werden, und ein Kahr könnte in den heutigen Zeiten entsetzliches Unheil anrichten".37 Die Verhandlungen über das Republikschutzgesetz, die dann Lerchenfeld Ende Juni in Berlin führte, brachten insofern eine negative Lösung, als sich die Unvereinbarkeit der von ihm eingehaltenen Linie mit den Absichten der Reichsregierung ergab. Das Kapital an Vertrauen, das der Graf in Berlin besaß, gab ihm die Zuversicht, das Einvernehmen mit den Koalitionsparteien — und das hieß auch: mit der Volksstimmung in und um München — als vordringliche Notwendigkeit ansehen zu dürfen. In dem selbstsicheren Gefühl, daß „eine militärische Exekution Bayerns durch das Reich unmöglich" sei und die Münchener Regierung am längeren Hebelarm sitze, griff die Stimmung zugunsten eines geschlossenen bayerischen Widerstandes gegen ein Republikschutzgesetz auch auf politisch gemäßigte Kreise Nordbayerns über;38 man fürchtete allenfalls noch wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen. Als dann der Reichstag am 18. Juli nach Zustimmung des Reichsrates39 die seit langem vorbereiteten Republikschutzgesetze mit einer Zweidrittelmehrheit, zu der auch ein großer Teil der Abgeordneten der Deutschen Volkspartei zählte, annahm, 40 antwortete die bayerische Regierung am 24. Juli auf Verlangen des Landesausschusses der Bayerischen Volkspartei, 11 der jetzt auch den widerstrebenden Lerchenfeld 37
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Schreiben Graf Zechs an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 8. 7. 1922, BA, R 43 1/2261. 39 In der Sitzung am 6. Juli 1922 stimmte Bayern als einziges L a n d dagegen. N i e d V R R J g . 1922, § 596. 40
V h R T 1. W P e r , StenBer Bd. 356, S. 8731, 8733 ff. Dies w a r e n das Gesetz zum Schutze der Republik (RGBl I 1922, S. 585), das Gesetz über die Pflichten der Beamten z u m Schutze der Republik (RGBl, S. 590), ein Reichskriminal-Polizeigesetz (RGBl, S. 593) u n d ein Gesetz zur Bereitstellung v o n Mitteln zum Schutze der Republik (RGBl, S. 596) u n d im Zusammenhang mit dieser Gesetzgebung das Gesetz über S t r a f f r e i h e i t f ü r politische S t r a f t a t e n (RGBl, S. 595), alle diese Gesetze vom 21. Juli 1922. 41 Diesem Beschluß, den der Landesausschuß am 21. Juli faßte, ging nach der D a r stellung v o n Schwend, Bayern, S. 192, eine Sitzung des Ministerrates voraus, in der Innenminister Schweyer am schärfsten f ü r eine Ablehnung des Schutzgesetzes sprach, w o f ü r er auch die Mehrheit der Minister gewann, nicht jedoch H a m m und Graf Lerchenfeld, der den S t a n d p u n k t v e r t r a t , d a ß diese Angelegenheit nicht von der Regierung allein entschieden werden könne. D e r Beschluß des Landesausschusses ist abgedruckt bei Poetzsch, J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 78. E r w a h r t e die F o r m einer „an die bayerische Regierungs-Koalition gerichteten programmatischen F o r d e r u n g " (Poetzsch), erklärte, das Reichskriminalpolizeigesetz „nicht als rechtsverbindlich annehmen u n d nicht in Vollzug setzen" zu können, kündete aber bereits eine V e r o r d n u n g der
Der zweite
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Konflikt
mitriß, mit einer bayerischen „Verordnung zum Schutze der Verfassung der Republik". 42 Sie opferte den demokratischen Handelsminister Hamm, dessen Partei an dieser entscheidungsschweren Stelle die Regierungskoalition verließ, so daß sich Lerchenfeld gezwungen sah, sein Kabinett umzubilden und sich wieder auf die Mittelpartei zu stützen, die nun f ü r ein volles Jahrzehnt in der Person Gürtners den bayerischen Justizminister stellte. Es wirft ein eigentümliches Licht auf den bayerischen beamtenstaatlichen Föderalismus, daß dieser Mann, der auf seinem bayerischen Posten wohl der energischste Verteidiger der Justizhoheit seines Landes war, 12 Jahre später die von den Linksparteien angestrebte „Verreichlichung" der Justiz im nationalsozialistischen Einheitsstaat vollzog. Die bayerische Verordnung stellte ein Beispiel juristischer Spitzfindigkeit dar, deren politische Beweggründe allein in dem Bestreben lagen, die innerbayerischen Verhältnisse von jedem Einfluß Berliner Stellen freizuhalten. Sie übernahm sämtliche materiellen Bestimmungen des Gesetzes zum Schutze der Republik, überwies jedoch die dem Staatsgerichtshof zugedachten Befugnisse den bayerischen Volksgerichten, die auf ein Gesetz vom 12. Juli 1919 zurückgingen und zur Aburteilung politischer Straftaten geschaffen worden waren, 43 und regelte die Erledigung von Beschwerden innerhalb des Landes. Der Vorspruch dieser Verordnung behauptete, daß die reichsgesetzliche Einsetzung eines Staatsgerichtshofes, der „im ganzen weder mit Berufsrichtern noch mit Schöffen oder Geschworenen, sondern zum größten Teile mit Personen besetzt ist, f ü r deren Auswahl politische Gesichtspunkte in Frage kommen", vom „bayerischen Volk . . . in seiner überwiegenden Mehrheit [als] eine Verletzung der Grundrechte der Staatsbürger sowie der Grundsätze echter D e m o k r a t i e . . . [und] ein Verlassen der Grundlagen der Weimarer Reichsverfassung" empfunden werde und daß „wenigstens im Gebiete des rechtsrheinischen Bayerns unmittelbar bayerischen Staatsregierung an, in der diese „das materielle Recht des Reichsgesetzes zum Schutze der Republik übernimmt, jedoch aus eigener Machtvollkommenheit den V o l l z u g den bayerischen Volksgerichten und Staatsanwälten an Stelle des im Reichsgesetz bestimmten Staatsgerichtshofes überträgt". Sie schloß mit dem Satz: „Eine vorherige findet
Verständigung
der Reichsregierung
von
diesen
geplanten
Maßnahmen
nicht statt." D i e Bindung der verantwortlichen Regierung an die Entschei-
dung des Parteiausschusses der B V P konnte kaum deutlicher ausgedrückt werden. 42
Im vollen Wortlaut nebst Begründung abgedruckt bei Poetzsch, a. a. O., S. 78 ff.
43
Uber die
„Einführung des raschen, rechtsmittellosen
Verfahrens der
Volks-
gerichte als Laiengerichte" in Bayern die Erinnerungen des verantwortlichen Justizministers E . M ü l l e r (Meiningen), Aus Bayerns schwersten Tagen, S. 216 f.
380
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
mit einer erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu rechnen" sei, „wenn das Gesetz ohne jeden Vorbehalt vollzogen" werde. Infolgedessen sei Gefahr im Verzuge und für die bayerische Regierung die Notwendigkeit gegeben, die Verordnung unter Berufung auf den Artikel 48 Absatz 4 der Reichsverfassung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Bayern zu erlassen. Während sich die bayerische Regierung das Recht zumaß, durch eine Notverordnung ein Reichsgesetz außer Kraft zu setzen, stellte dann die amtliche Begründung fest, daß die Reichsregierung ihrerseits kein Recht habe, die bayerische Verordnung wieder außer Kraft zu setzen, sondern daß dies nur auf dem Wege eines Ersuchens über die Landesregierung zu erreichen sei. Der „justizlose Hoheitsakt", der in der Rechtslehre der späteren Periode der Präsidialkabinette noch eine wichtige Rolle spielen sollte und den hier die Landesregierung vollzog, stand nach Auffassung der höchsten bayerischen Richter wie der Regierung sogar außerhalb des verfassungsrechtlichen Grundsatzes, daß Reichsrecht Landesrecht bricht.44 Das Gutachten des obersten bayerischen Gerichts vermochte freilich nicht glauben zu machen, daß infolge reichsrechtlicher Verfügung eines bestimmten Modus für die Besetzung eines bestimmten Reichsgerichtshofs mit Berufs- oder Laienrichtern eine Gefahr f ü r die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Verzuge sei, die nicht etwa von einer nicht ordnungsgemäßen Tätigkeit dieses noch gar nicht tätigen Gerichtes, sondern von einer Volksempörung drohe. 44 Vgl. das ebenfalls von Poetzsch, a. a. O., S. 80 f., wiedergegebene Gutachten des Bayerischen Obersten Landesgerichts v o m 2. August 1922, das die Gültigkeit der bayerischen V e r o r d n u n g u n d demzufolge ihre Verbindlichkeit für die bayerischen Geridite feststellte unter Hinweis auf die N i c h t n a c h p r ü f b a i k e i t des lediglich im E r messen der Regierung liegenden Erlasses der N o t v e r o r d n u n g . Über die Gültigkeit entschied danach lediglich, ob die N o t v e r o r d n u n g auch „in W a h r h e i t " eine G e f a h r f ü r Sicherheit und O r d n u n g beseitigen wolle und nicht „andere Zwecke" verfolge, etwa „offensichtlich nur auf eine verfassungswidrige Umgehung reichsrechtlicher V o r schriften" hinauslaufe. Obgleich das Gutachten die Begründung der Regierung f ü r nicht justiziabel erklärte, hielt sie sie f ü r richtig und demzufolge diese Möglichkeit für nicht gegeben, was schlechterdings nur nach einer Ü b e r p r ü f u n g h ä t t e festgestellt werden können. „Im Wege der ordentlichen Gesetzgebung könnte allerdings ein Land nicht Vorschriften über einen Gegenstand geben, den das Reich auf v e r f a s sungsmäßiger G r u n d l a g e gesetzlich geregelt hat. Für N o t v e r o r d n u n g e n gilt dieser G r u n d s a t z aber nicht, weil sie ihrem Wesen nach Ausnahmen von ordentlichem Rechtszustand schaffen sollen." Bemerkenswert ist aber in diesem Zusammenhang der oben zitierte Beschluß des Landesausschusses der BVP, der ausdrücklich verlangte, d a ß die Reichsregicrung vorher nicht zu informieren sei.
Der
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Konflikt
381
Es besteht sicherlich kein Grund zu der Annahme, daß Lerchenfeld in der bayerischen Verordnung etwas anderes erblickte als die Eröffnung
einer Möglichkeit
zu neuen
Verhandlungen.
Die
Bayerische
Volkspartei lehnte sich wieder nach rechts an, um an der Oberfläche der breiten Bewegung gegen die Reichsregierung zu bleiben. Lerchenfeld sah keine Möglichkeit, ihrem Druck zu widerstehen, und opferte ihm seinen bis dahin mit trockener Genauigkeit präzisierten Rechtsstandpunkt. G r a f Zech rechnete ihn zwar jenen Leuten in der B V P zu, die wohl einsahen, daß der Weg, den Bayern mit einer eigenen Schutzverordnung beschritt, falsch war und daß man sie bald wieder zurücknehmen müsse, glaubte Lerchenfeld jetzt aber „so schwach, daß seine Ansicht nicht schwer in die Waagschale" falle. E r revidierte sein Urteil von vier Wochen zuvor, um sogleich zu versichern, daß die Reichsregierung ihre Hoffnungen auf den neuen Justizminister Gürtner setzen könne, der „allgemein als verständiger M a n n geschildert wird und der . . . auch die Energie haben dürfte, seine Ansicht zu vertreten." 4 5 Das diffuse Licht der Münchener Politik raubte auch dem Beobachter der Reichsregierung die gewonnene Klarheit. Dagegen lautete die Nachricht, die aus Nürnberg von dem sozialdemokratischen Parteivorstandsmitglied A d o l f Braun kam, der die Lage in Franken erkundete, eher beruhigend: Eine Abordnung der Nürnberger Handelskammer war bei Lerchenfeld erschienen, um ihn auf die verhängnisvollen Wirkungen eventueller Gegenmaßnahmen des Reiches oder der Reichsbank auf wirtschaftlichem Gebiet im Hinblick auf die bevorstehende Hopfenernte und auf die Industrie Nordbayerns aufmerksam zu machen. D e r Berichterstatter verschwieg keineswegs, daß sich der Ministerpräsident weit mehr für die Auswirkungen einer Zwangslage der nordbayerischen Wirtschaft auf München und Oberbayern interessierte. Dennoch scheint der Eindruck, den diese Vorstellungen bei Lerchenfeld hinterließen, der sich nach dem Bericht des Gewährsmannes völlig uninformiert zeigte, immerhin als so günstig angesehen worden zu sein, daß sich die vorher durch die bayerische Verordnung aufgebrachten
Industriellen nunmehr beruhigt und von einem als-
baldigen Nachgeben der bayerischen Regierung überzeugt zeigten, so daß sie irgendwelche Aktionen gemeinsam mit der Sozialdemokratie ablehnten. 4 '
45
Schreiben an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 5. August 1922, BA,
R 43 1/2261. 46
Aufzeichnung Brauns in Nürnberg vom 2 7 . 7 . 1922 mit Vermerk von der Hand
382
/ / . Reichspolitik
und
Föderalismus
Die Reichsregierung hatte jedoch genug Gründe, besorgt zu sein, wie sich in einer Sitzung der Reichsminister am 27. Juli ergab. 47 Dem Reichspostminister war die Nachricht zugegangen, daß Bayern den Streitfall f ü r eine Aktion benutzen wollte, die das Ziel verfolgte, die Landesverfassungen gegenüber künftigen Einschränkungen durch verfassungsändernde Reichsgesetze zu schützen. Noch schwerer wog die Mitteilung Oberst Kuenzers, des Reichskommissars für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, er habe Briefe „aus sehr rechts gerichteten Kreisen eingesehen", aus denen hervorgehe, daß man auf einen Generalstreik hoffe, um einen Umsturz in Bayern durchzuführen, der bei der allgemeinen Unzufriedenheit mit manchen Maßnahmen des Reiches in Süddeutschland auch in Teilen Württembergs und Badens Sympathie finden und dort die politischen Verhältnisse beeinflussen werde. Wirth, der auch eine Aktion sämtlicher deutscher Bischöfe in der Schulfrage fürdhtete, hielt es unter diesen Umständen f ü r geraten, die Ressorts dringend zu ersuchen, „den Angelegenheiten der Länder die sorgfältigste Behandlung angedeihen zu lassen". Zwar hatte die Reichsregierung in der Öffentlichkeit erklärt, daß nach ihrer „einstimmigen Auffassung . . . die Verordnung der bayerischen Regierung verfassungswidrig und ungültig" sei. Doch mit praktischen Konsequenzen hielt sie vorsichtig zurück. Einstweilen blieb noch völlig offen, welche „Forderungen . . . die Reichsregierung im Interesse der Einheit des Reiches zu stellen" f ü r nötig hielt. 48 Behutsam suchte der Reichskanzler nach einem Weg, aus dem Konflikt herauszugelangen, ohne einfach zu Verhandlungen einzuladen. Das Reichsministerium beschloß, dem bayerischen Ministerpräsidenten einen Brief des Reichspräsidenten überreichen zu lassen,49 um ihn zu einer Äußerung zu bewegen. Lenkte Bayern nicht ein, so wäre der nächste Schritt das Verlangen nach Aufhebung der bayerischen Verordnung durch den Reichspräsidenten gewesen. Widersetzte sich Bayern auch ihm, so wollte man den Staatsgerichtshof anrufen, der dann zu entscheiden hätte, ob dem Verlangen nach Aufhebung der Verordnungen stattzugeben sei oder nicht; vorher wollte man an eine Reichsexekution nicht denken. Diese Prozedur verhieß viele Mühen und Schwierigkeiten, ließ des Staatssekretärs in der Reichskanzlei: „Der H e r r R[eichs]k[anzler] hat Kenntnis. H f e m m e r ] 30/7", BA, R 43 1/2261. 47 Ausz. a. d. P r R M 27. 7. 1922, BA, R 43 1/2261. 48 Erklärung der Reichsregierung vom 26. Juli 1922, abgedruckt bei Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 81 f. 49 Voller Wortlaut des Briefes bei Poetzsch, a. a. O., S. 82.
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Konflikt
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aber hoffen, irgendeine Einigung zu finden, ehe der letzte Schritt unvermeidlich wurde. Am nächsten Tage fuhren die aus Bayern stammenden Reichsminister Geßler und Fehr nach München und statteten Graf Lerchenfeld einen „Höflichkeitsbesuch" ab. In der Öffentlichkeit entstand darob der Eindruck, daß die Verhandlungen in München begonnen hätten, so daß sie Graf Lerchenfeld eine Reise nach Berlin wohl gestatten müsse. Allerdings ließen sich, wie Graf Zech die Reichsregierung vorsorglich unterrichtete, vorerst noch keine bindenden Abmachungen erwarten. Von Seiten der Münchener Regierungsparteien war die Meinung zu hören, daß Bayern ruhig zuwarten könnte; denn außenpolitisch seien dem Reiche die Hände so stark gebunden, daß es im Innern nichts unternehmen werde.50 Wirtschaftliche Maßnahmen des Reiches wurden offenbar nicht gefürchtet, jedenfalls nicht erörtert. Das „Berliner
Protokoll"
Graf Lerchenfeld bereitete Besuch und Verhandlungen in Berlin durch eine Antwort an den Reichspräsidenten vor,51 die unter sorglicher Wahrung der diplomatischen Form den Standpunkt der bayerischen Regierung darlegte. In der Tat war ihr, wie Reichspostminister Giesberts richtig mitgeteilt hatte, um die Schaffung einer neuen, den föderativen Interessen günstigen „Rechtslage" zu tun, die eben die von der Reichsregierung seit Annahme der Reichsverfassung angestrebte Fortbildung des Verfassungsrechts für alle Zukunft unterband. Sie verlangte besondere Vorschriften, welche nur in Verfassungsänderungen bestehen konnten, „die eine dauernde Bürgschaft dafür böten, daß Hoheitsrechte der Länder nicht ohne deren Zustimmung beseitigt oder eingeschränkt werden könnten". Bemerkenswert bleibt hierbei, daß der Ministerpräsident die Haltung seiner Regierung mit „der tiefgehenden Erregung weitester, von treuer deutscher Gesinnung erfüllter Kreise des bayerischen Volkes" gegen das Republikschutzgesetz begründete, womit nach Lage der Dinge auch die Aktivität jener nationalistischen Kreise gemeint sein mußte, der die bayerischen Regierungen nach dem Amtsantritt Kahrs und unter dem Einfluß der Mittelpartei so weitherzig gegenübergestanden war und die seit längerem danach strebten, Bayern zum „Punkt des stärksten deutschesten Willens 50 51
Schreiben an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 5. 8. 1922. Voller Wortlaut bei Poetzsch, J b ö R XIII/1925, S. 82 f.
384
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
. . . gegen die . . . in Berlin dominierenden Strömungen" zu machen.52 Wenn Lerchenfeld auf dieser Grundlage dem Reiche gegenüber eigene bayerische „Staatsnotwendigkeiten" geltend zu machen suchte, so deckte auch er damit zunächst das Bündnis, das der bayerische Staatsföderalismus mit diesen angeblich „nationalen", bis in die tiefsten Tiefen antidemokratischen Strömungen geschlossen hatte. Es scheine, „als ob die bayerische Regierung den Inbegriff der Hoheitsrechte, die den Ländern gegenwärtig zustehen, garantiert wissen und jedem Eingriff in diese Hoheitsrechte, sei es im Wege der einfachen, sei es im Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung, von der Zustimmung der Länder abhängig machen wolle", präzisierte Reichsjustizminister Radbruch die bayerischen Absichten. 53 Ein solcher Vorschlag, der „sogar einen Rückschritt gegenüber der Rechtslage . . ., die unter der Geltung der früheren Reichsverfassung bestand", bedeutet hätte, war nun freilich für die Reichsregierung unannehmbar; denn er hätte schließlich dazu geführt, wie es Radbruch im Vergleich mit der Reichsverfassung von 1871 ausdrückte, „daß alle gegenwärtig vorhandenen Hoheitsrechte der Länder zu Reservationen würden, ein Gedanke, der nicht nur die Errungenschaften der Weimarer Verfassung preisgeben, sondern auch eine Rechtslage schaffen würde, die selbst unter der älteren Verfassung für das Reich unerträglich gewesen wäre". Die Garantie, die der Artikel 78 Absatz 2 der alten Reichsverfassung enthielt, beschränkte sich auf die sogenannten Reservatrechte der Länder und entzog lediglich diese dem Eingriff des Reiches. Die Reichsregierung hätte auf das gesamte ihr zustehende Gesetzgebungsrecht, etwa auf den Gebieten der Wohlfahrtspflege, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, des Schulwesens usw. in vollem U m f a n g verzichten müssen. Die geheime Aufzeichnung des großen Juristen lehnte aber auch jeden Gedanken d a r a n ab, Eingriffe des Reiches, mit denen es seine verfassungsmäßigen Kompetenzen überschritt, von einer Zustimmung der Länder abhängig zu machen. Die Stellung des Reichsrates bei Verfassungsänderungen war, dank seines Rechtes, einen Volksentscheid herbeizuführen, überaus stark, fast allmächtig, so daß die Schaffung einer darüber hinausgehenden besonderen Zustimmungsbefugnis des einzelnen betroffenen Landes einer völligen Entkräftung des Reichstags sehr nahe gekommen wäre. Die äußerste Konzession, die Rad52
S o im Schreiben Graf Zechs v o m 5. 8.
53
Vier
Seiten
umfassende,
undatierte
„Aufzeichnung
mit dem Vermerk „Geheim", B A , R 43 1/2261.
des
Reichsjustizministers"
Der zweite
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Konflikt
385
bruch dem Wunsche nach einer weiteren Erschwerung verfassungsändernder Gesetzesbeschlüsse zugestehen wollte, war eine Vorschrift nach dem Vorbild des Artikels 107 der alten preußischen Verfassung, wonach ein verfassungsänderndes Gesetz erst nach zwei Gesamtabstimmungen mit erhöhter Mehrheit angenommen war; eine Zwischenzeit von mindestens 21 Tagen hätte den Regierungen der Länder in jedem Falle ausreichende Gelegenheit gegeben, zur beabsichtigten Verfassungsänderung Stellung zu nehmen. Anderseits zeigte sich der Reichsjustizminister bereit, in der Ausführung des Republikschutzgesetzes den bayerischen Wünschen entgegenzukommen. Es könne Vorsorge getroffen werden, so führte er aus, daß vor den Staatsgerichtshof gehörende Sachen „in ausgiebigem Maße" den Gerichten der Länder überwiesen werden; es könnten Richtlinien vereinbart werden, denen zufolge der Oberreichsanwalt regelmäßig zeitlich weit zurückliegende Sachen von geringerer Bedeutung ebenso wie Sachen von geringerem Interesse und solche, deren Verfahren vor den Landesjustizbehörden bereits weit fortgeschritten waren, den ordentlichen Strafverfolgungsbehörden zu überweisen hätte. Schließlich könnte der Oberreichsanwalt veranlaßt werden, sich grundsätzlich der Polizeibehörden der Länder zu bedienen. Hierzu sollte „allerdings von der bayerischen Regierung die Zusage gegeben werden, daß die von dem Oberreichsanwalt im Rahmen seiner gesetzlichen Zuständigkeit getroffenen Anordnungen an die Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden der Länder nicht in einer Weise durchkreuzt werden", wie es in Bayern schon geschehen war. Man sieht, daß die bayerische Widersetzlichkeit und der Erlaß der bayerischen Notverordnung durch die bayerische Regierung, „deren wesentliche Bedeutung", wie Lerchenfeld dem Reichspräsidenten mitgeteilt hatte, „auf politischem Gebiet lag", nicht ohne politischen Erfolg blieb. Das Reich begann die Schärfe des umstrittenen Republikschutzgesetzes in der Praxis zu mildern, um den Stoß in Richtung auf Schaffung einer föderalistischen Verfassungsgarantie aufzufangen. Allerdings versagte sich der Reichsjustizminister grundsätzlich jeder Sonderregelung, die lediglich dem Lande Bayern allein zugute kommen würde; Reservatrechte sollten nicht wieder erstehen. Die im Anfang vom Reichspräsidenten geleiteten Verhandlungen, die in Berlin am 9. und 10. August stattfanden, 54 führten zu einer An54 Niederschrift 1/2261. Anwesend Köster, Radbruch, der Pressechef der
25
Schulz I
über die Besprechung am 9. und am 10. August 1922, BA, R 43 waren von Seiten des Reiches am ersten Tage Ebert, Wirth, Fehr, Staatssekretär Hemmer, Ministerialdirektor Meißner und Reichsregierung, Ministerialdirektor Müller, von Seiten der baye-
386
II. Reichspolitik und Föderalismus
näherung, aber keineswegs zu einer Übereinstimmung. Graf Lerchenfeld bekräftigte sogar namens der bayerischen Regierung die grundsätzliche Ablehnung des Staatsgerichtshofs, erklärte sich aber unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Ministerrates bereit, spätestens am 18. August die bayerische Verordnung aufzuheben. Praktisch blieb damit die letzte Entscheidung noch offen. Auch die übrigen Ergebnisse dieser Konferenz, die am zweiten Tage, in Abwesenheit des Reichspräsidenten, der am ersten Tage die Verhandlungen eröffnete, nicht ohne Spannung ablief, ergaben insgesamt einen Erfolg der Bayern, die freilich nicht alles erreichten, was sie sich offenbar vorgenommen hatten. Die sorgfältig auf Wahrung der äußeren Form bedachte, aber dennoch vitale Verhandlungsführung der bayerischen Regierungsdelegation erinnert weit mehr an den Ton diplomatischer Konferenzen souveräner Partner als an den Charakter einer Länderkonferenz oder Ressortbespechung, den auch die über den Parteien schwebende Autorität des Reichspräsidenten, der sich jedes Eingreifen versagte, eher verstärkte als milderte. Der anfänglichen Mahnung Eberts, „der außenpolitische Gesichtspunkt" möge „veranlassen, möglichst bald zu einer Übereinstimmung zu gelangen", begegnete Graf Lerchenfeld mit einer Wendung gegen den in der Vergangenheit zweifellos viel zu häufig erhobenen Vorwurf des „Separatismus". Er verlangte als erstes „eine Bestimmung, die das bayerische Volk sicherstelle" und verhindere, daß das Reich die Staatlichkeit der Länder oder einzelne Hoheitsrechte weiter beschränke und die Länder allmählich zu Provinzen herabdrücke. Lerchenfeld äußerte die Überzeugung, „daß eine solche Erklärung die Reichsfreudigkeit heben würde". Die zeitlose Sprache des bayerischen Aristokraten mied jedes Wort über Parteien und politische Gegensätze, über rechts und links und über nationalistische Umtriebe; er gab sich als Mann des bayerischen Staates, der keine anderen Interessen kannte als diejenigen Bayerns, dessen „Reichstreue" jedoch über jeden Zweifel erhaben war. Der Boden der Bismarckschen Verfassung war diesem Manne gewiß vertrauter als der von Weimar, obgleich er sich keineswegs zur Monarchie bekannte, wie es Kahr wiederholt getan. Den bayerischen Blick nach dem Donauraum drückte Lerchenfeld in großdeutschen Gedanken aus: Gerade wegen des Anschlusses von Österreich müsse man f ü r die Zukunft vorbauen und geistige Brücken rischen Regierung Graf Lerchenfeld, Gürtner, Sdiweyer und Gesandter Ritter v. Preger, am zweiten Tage die gleichen außer Ebert und Meißner.
Der zweite und der dritte
Konflikt
387
bauen. Was jetzt f ü r die Reichsfreudigkeit Bayerns erreicht werde, das werde sich auch „für den künftigen Anschluß anderer deutscher Länder an Deutschland" auswirken. In diesem Sinne nur wolle er in die Verhandlungen eintreten. Mit dieser souveränen staatsmännischen Geste wußte Graf Lerchenfeld das bayerische Prestige zu wahren, indem er es vermied, anders als unter Berufung auf die Noten der bayerischen Regierung die Verhandlungen zu beginnen und präzis formulierte bayerische Wünsche darzustellen und zu begründen. Die bayerische Verordnung existierte; sie ließ sich lediglich durch eine andere Regelung ersetzen, die „den bayerischen Staatsnotwendigkeiten" entsprach. Es bedurfte einer Diskussion, ehe sich Bayern bereit fand, seine Bedenken in diesem Kreise überhaupt vorzubringen. Sie erstreckten sich sowohl auf das Beamtengesetz wie auf das Reichskriminalpolizei- und das Republikschutzgesetz. Innenminister Schweyer wollte die bayerischen Reichsbeamten „als Landeskinder" betrachtet sehen und bezeichnete es als nicht erträglich, „daß von der Reichsregierung nach Bayern hineinregiert" würde. In bezug auf die Kriminalpolizei bezweifelte Schweyer die Notwendigkeit einer reichsrechtlichen Regelung; da das Gesetz aber beschlossen war, wünschte er ein langes Hinausschieben des Vollzugs, in jedem Falle „feste Vereinbarungen", die das Reichskriminalpolizeiamt „in seinem Kern unpolitisch" und jedes Land durch seine Beamten in der Zentrale vertreten sein lasse. Hinsichtlich der materiellen Bestimmungen des Schutzgesetzes, die auch die bayerische Verordnung übernommen hatte, spitzte sich die Erörterung auf die Ernennung von Richtern f ü r den Staatsgerichtshof zu. Die Benennung von Laienrichtern durch die vollziehende Gewalt gab ihm nach einer Äußerung Gürtners den „Makel des politischen Gerichtes", der den Eingriff in die bayerische Justizhoheit besonders schlimm erscheinen lasse und daher dem Staatsgerichtshof genommen werden müsse. Gürtner empfahl, die Aburteilung „sämtlicher bayerischer Straftaten" bayerischen Gerichten vorzubehalten. Es mußte überraschen, gerade dieses Argument von dem Mann zu hören, der an der Spitze einer Justiz stand, die keineswegs von den Anfechtungen sehr einseitiger politischer Auffassungen frei war. Reichsjustizminister Radbruch hielt ihm entgegen, daß ihm die Autorität des Rechts Vernunfts- wie Herzenssache sei und daß ihn bei der Zusammensetzung des vorläufigen Staatsgerichtshofes drei Gesichtspunkte leiteten: die Berufung von ruhigen, sachlichen richterlichen Persönlichkeiten, die „allgemein bekannt" seien, von Personen „mit einer gesunden Weltanschauung, durch die eine gerechte 25'
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II. Reichspolitik und
Föderalismus
Mischung aller Standpunkte gewährleistet" sei, und die Beteiligung der Länder. Auch bayerische Persönlichkeiten sollten bei der Auswahl der beamteten Richter nach zu erlassenden Richtlinien berücksichtigt und einige Gruppen von Sachen grundsätzlich den Ländern überwiesen werden, wie er es zuvor in seiner geheimen Aufzeichnung dem Reichskanzler bekanntgegeben hatte; Radbruch lehnte es nur ab, bestimmte Kategorien von Straftaten festzulegen, die regelmäßig zu überweisen seien. Hiermit wollte sich jedoch weder Graf Lerchenfeld zufrieden geben noch Gürtner, der die Personalauswahl als wichtigste Frage ansah und dem das Zugeständnis der Heranziehung bayerischer Richter nach den Gesichtspunkten des Reichsjustizministers keineswegs genügte. Die politische Hauptforderung Bayerns war jedoch die nach einer verfassungsrechtlichen Garantie der Länderrechte. Graf Lerchenfeld ließ durchblicken, daß sich dahinter der Wunsch nach einer Verfassungsrevision verbarg, der sich in seinen Worten kaum noch von dem programmatischen Grundsatz der Bayerischen Volkspartei unterschied. Lerchenfeld begründete das Anliegen seiner Regierung und seiner Partei mit der bemerkenswerten Behauptung, daß unmittelbar nach dem Krieg in einem „Stadium der Wirrnisse" der Wille des Stammesbewußtseins nicht stark genug zum Ausdruck gekommen sei, weite Kreise des Volkes abseits gestanden und sich in einer Verzweiflungsstimmung vom politischen Leben abgekehrt hätten. Als schließlich die Weimarer Verfassung „abgeschlossen worden" sei, habe in Bayern die Bevölkerung nur wenig Anteil an der Entwicklung genommen; erst allmählich sei ihr bewußt geworden, „daß man Rechte aus der Hand gegeben und Reservatrechte beseitigt" habe. Dadurch sei eine Unzufriedenheit hervorgerufen worden, die sich mit der Zeit „tiefer eingefressen" habe und jetzt mit Macht an den Tag trete. Man habe sie nicht künstlich entfacht, sondern sie sei „aus der Entwicklung heraus" entstanden. Sein eigenes Bestreben habe daher mit Rücksicht auf die Gefahren des Separatismus dem Ziele gegolten, diese Bewegung rückläufig werden zu lassen und wieder „die Reichsfreudigkeit zu beleben". Aus diesem Grunde wolle er „dem Volke sagen, daß in der Staatlichkeit des Landes keine Änderung eingetreten sei und daß die Hoheitsrechte ohne Zustimmung des bayerischen Volkes nicht geschmälert werden dürften". Nun war die Politik für den geschulten aristokratischen Diplomaten gewiß nicht Sache des Bekenntnisses, sondern wohl eher kunstvolle Verknüpfung des Gegebenen mit dem Möglichen. Man wird daher fragen dürfen, wieweit Lerchenfelds Ausführungen unter dem Zwang der Situation standen, in der er sich zu einer härteren Haltung gegen-
Der zweite und der dritte
Konflikt
389
über der Reichsregierung v e r a n l a ß t sah, als seinen persönlichen N e i gungen und Ansichten entsprochen haben dürfte. Doch gerade die unbestreitbare K l a r h e i t der jedes radikalen T o n e s baren G e d a n k e n , die dieser gemäßigte und einsichtige M a n n in der K o n f e r e n z vorbrachte, zwingen dazu, sie in vollem U m f a n g als höchst ernsthafte C h a r a k t e r i sierung einer invariablen Grundlinie der bayerischen Regierungspolitik zu deuten, die das Ziel einer föderalistischen Rückbildung des V e r f a s sungsrechts a u f den S t a n d der Vorkriegszeit als die Idee einer b a y e r i schen Staatsraison verfolgte. D e r Ministerpräsident versuchte, sie mit den nicht akzeptierten Ergebnissen der R e v o l u t i o n und der bestrittenen L e g i t i m i t ä t
der demokratisch
gewählten
Nationalversammlung
wie des Staatenausschusses, der die Revolutionsregierungen der L ä n der repräsentierte, zu rechtfertigen, freilich ohne sich mit dem dubiosen Plebiszit
unterschiedlicher, jedoch
mehr oder minder
lautstark
demonstrierender schwarz-weiß-roter und b l a u - w e i ß e r Organisationen und W e h r v e r b ä n d e
der Rechten n ä h e r zu befassen, das
schwerlich
ohne E i n f l u ß a u f sein V o r g e h e n gewesen sein dürfte. D e r B o d e n der Verfassungstreue, a u f dem sich die B a y e r n bewegten, w a r gänzlich von dem verschieden, a u f dem sich die Reichspolitik b e f a n d . D e r Gesandte R i t t e r v. P r e g e r verlangte v o n der Verfassung Schutz der „staatlichen R e c h t e " des Landes v o r der „ M a j o r i s i e r u n g " und eine „authentische I n t e r p r e t a t i o n "
der die L ä n d e r
betreffenden
A r t i k e l des E r s t e n Abschnittes der Reichsverfassung, die die K o n k u r renz der S o u v e r ä n i t ä t e n der L ä n d e r und des Reichstags dauernd ausschloß und die ersten v o r der zweiten schützte. D e r
Reichskanzler
nannte diesen G e d a n k e n unumwunden eine Verfassungsänderung, weil er dem C h a r a k t e r v o n W e i m a r nicht entsprach. E r w a r jedoch v o r sichtig genug, lediglich die U n d u r c h f ü h r b a r k e i t eines solchen V o r h a b e n s mit der L a g e im Reichstag und mit den innen- und außenpolitischen Verhältnissen zu begründen. I m R a h m e n des Möglichen aber, w o m i t er nur seine eigene P o l i t i k meinen k o n n t e , w o l l t e er den B a y e r n entgegenkommen, wenn auch nicht einmal so weit, wie es Radbruch empfohlen h a t t e , und eine E r k l ä r u n g abgeben, „die dem G e d a n k e n der Staatlichkeit der einzelnen L ä n d e r Rechnung trage und nach der R i c h tung hin gewisse Sicherungen" schaffe. A m zweiten T a g e wurde es offenbar, d a ß G r a f Lerchenfeld selbst innerhalb seiner Regierung in seinen Entschlüssen keineswegs gänzlich frei w a r . A l s R a d b r u c h bemerkte, d a ß die Reichsregierung nur allgemeine, nicht aber einem bestimmten L a n d e Zugeständnisse zu machen vermöge, k a m es zu schärferen Auseinandersetzungen, die der b a y e -
II. Reichspolitik
390
und
Föderalismus
rische J u s t i z m i n i s t e r nach d e m P r o t o k o l l m i t d e r u n g e w ö h n l i c h e n B e m e r k u n g b e e n d e t e , er b e z w e i f l e , d a ß d e r b a y e r i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t , w o l l t e e r h i e r eine Z u s i c h e r u n g a b g e b e n , diese w ü r d e e i n l ö s e n k ö n n e n . Mit
einem
Schlage w a r
die d i p l o m a t i s c h e
Verhandlungsatmosphäre
zerstört u n d n a h m die Diskussion schärfste F o r m e n an. Lerchenfeld b e g a b sich s o f o r t a u f d i e L i n i e des V o r s t o ß e s G ü r t n e r s u n d
erklärte
n u n , d a ß sich die b a y e r i s c h e V e r o r d n u n g nicht a u f h e h e n lasse, „ w e n n keine in B a y e r n t r a g b a r e Lösung g e f u n d e n " w e r d e . E r w ü r d e d e n L a n d t a g b e f r a g e n müssen, u n d es w ü r d e z u N e u w a h l e n
dann
kommen
„ u n t e r e i n e r P a r o l e , die f ü r d a s R e i c h nicht g ü n s t i g " sein k ö n n t e . U n d e r f ü g t e h i n z u , d a ß e r f ü r eine V e r e i n b a r u n g die Z u s t i m m u n g d e r P a r t e i e n g e w i n n e n müsse, d i e er f ü r d i e v o m R e i c h s j u s t i z m i n i s t e r
vorge-
s c h l a g e n e n R i c h t l i n i e n w a h r s c h e i n l i c h nicht e r h a l t e n w ü r d e . E i n e w e i t e r e N a c h g i e b i g k e i t d e r R e i c h s m i n i s t e r l i e ß sich j e d o c h i n dieser V e r h a n d l u n g nicht m e h r erreichen. D i e R e s s o r t b e s p r e c h u n g a m N a c h m i t t a g dieses b e w e g t e n T a g e s b r a c h t e d i e V o r s c h l ä g e R a d b r u c h s lediglich i n e i n e „ a n d e r e A u f m a c h u n g " , die es den b e i d e n P a r t e i e n e r m ö g l i c h t e , sich nicht e r g e b n i s l o s z u t r e n n e n . D e r E r t r a g dieser T a g e w a r f ü r B a y e r n k e i n e s w e g s gering. 5 5 Es e r 55 Die wichtige und niemals veröffentlichte Schlußerklärung Graf Lerchenfelds (Originalausfertigung BA, R 43 1/2261) lautete: Namens der Bayerischen Regierung erkläre ich folgendes: 1. Durch den Entschluß, die Bayerische Verordnung aufzuheben und der Abmachung über den Vollzug des Gesetzes zuzustimmen, w i r d der von der Bayerischen Regierung zu diesem Gesetz eingenommene grundsätzliche Standpunkt nicht verändert; namentlich erblickt die Bayerische Regierung nach wie vor in dem Staatsgerichtshof kein ordentliches, sondern ein außerordentliches Gericht, dessen baldigste Wiederaufhebung ihr als dringend erwünscht erscheint. Ihre Bedenken gegen das Gesetz in diesem Augenblick zurückzustellen, sieht sich die Bayerische Regierung nur wegen der zeitlich begrenzten Dauer des Gesetzes in der Lage.
2. Die endgültige Zustimmung zu der heutigen Verhandlung ist von der Genehmigung des Bayerischen Ministerrates abhängig. 3. Die Bayerische Regierung hat den dringenden Wunsch, daß die den Ländern in der Erklärung der Reichsregierung zugesagte Wahrung der Hoheitsrechte so bald als möglich verfassungsmäßig festgelegt werden möge. Berlin, den 11. August 1922 Hugo Graf Lerchenfeld. Die „Erklärung der Deutschen Reichsregierung" vom gleichen Tage ist in der Presse veröffentlicht und auch in ihrem Wortlaut korrekt von Poetzsch, J b ö R XIII/ 1925, S. 85, wiedergegeben worden. In der Originalausfertigung wurde sie, was Poetzsch nicht erwähnt, sowohl vom Reichskanzler wie vom bayerischen Ministerpräsidenten unterzeichnet, was bei einer „Erklärung der Reichsregierung" verblüffen muß; diese Überschrift wurde übrigens erst nachträglich hinzugesetzt. Auf diese Weise konnte der Eindruck entstehen, daß es sich bei ihr um das eigentliche Berliner
Der
zweite
und der dritte
391
Konflikt
langte eine Reihe von grundsätzlichen Zugeständnissen in bezug auf die Bildung und Zusammensetzung der im Beamtenpfliditgesetz vorgesehenen Reichsdisziplinarkammern, die unbeschränkte Organisationsbefugnis
bei der
Schaffung
von
Landeskriminalpolizeiämtern,
die
grundsätzliche Belassung der Exekutive bei den Ländern und Beschränkung eigener Ermittlungen des Reichskriminalpolizeiamtes innerhalb Bayerns auf Fälle, in denen „Gefahr im Verzuge" war. Weiter erhielt es die Zusicherung, daß die Prüfung und Festsetzung der Reichsanteile an den Kosten der Landeskriminalpolizeibehörden ohne Einwirkung auf die Organisation und den Dienstbetrieb erfolgen sollte. Schließlich vereinbarten die beiden Verhandlungsparteien die wichtigen „Richtlinien für die Überweisung der
Staatsgerichtshofsachen
an die ordentlichen Gerichte" 56 , die nun auch die Errichtung mehrerer Senate des Staatsgerichtshofs, darunter eines Senats für Süddeutschland, festsetzten und die eine über die Grenzen der Vorschläge Radbruchs hinausreichende Bestimmung enthielten, daß zur VerhandSchlußprotokoll handelte, so daß das Fehlen einer bayerischen Erklärung gar nicht auffiel. Die Reichsregierung gab, vielleicht um die Stellung Lerchenfelds nicht unnötig zu gefährden, wahrscheinlich aber, um den offen gebliebenen Gegensatz und die bayerischen Bedingungen und damit die begrenzte Bedeutung des von Bayern erlangten Zugeständnisses nicht erkennen zu lassen, nur die zweite, nicht die zuerst erwähnte Erklärung bekannt. Die Erklärung der Reichsregierung ist zusammen mit den im wesentlichen außerhalb der eigentlichen Verhandlungen zwischen den zuständigen Ressortministern des Reiches und Bayerns und ihren Referenten vereinbarten Regelungen zum Beamtengesetz und zum Reichskriminalpolizeigesetz sowie die Richtlinien für die Überweisung der Staatsgerichtshofsachen an die ordentlichen Gerichte (Anl 1—4 zur Niederschrift vom 10. 8. 1922) vom bayerischen Gesandten Ritter v. Preger als „Berliner Protokoll" bezeichnet, die Erklärung bayerischerseits jedoch
stets
als
dessen
Hauptbestandteil
angesehen
worden.
(Aufzeichnung
des
Staatssekretärs Hemmer vom 12. August 1922, BA, R 43 1/2261.) Die Reichsregierung bediente sich daraufhin dieses leicht mißverständlichen Ausdrucks bei der Veröffentlichung der Texte bzw. inhaltlichen Wiedergabe der verschiedenen Ressortvereinbarungen, der sie noch den Satz anfügte: „Die bayerische Staatsregierung erklärte sich bereit, die unter dem 24. Juli 1922 erlassene Verordnung zum Schutze der Verfassung der Republik spätestens am 18. August mit Wirkung vom gleichen Tage aufzuheben." (In dieser Form bei Poetzsch, a. a. O., S. 83 ff.) Auf diese Weise konnte sich mit dem Ausdruck „Berliner Protokoll" die Vorstellung von der Existenz eines einzigen Dokuments verbinden, das ein in dieser Form gar nicht abgegebenes wesentliches Zugeständnis der bayerischen Regierung umfaßte, während der von
Graf
Lerchenfeld in seiner Erklärung niedergelegte Vorbehalt und die in erster Linie hierunter fallende, unten erwähnte Garantieerklärung des Reichskanzlers von der Reichsregierung nicht in diesen Zusammenhang gebracht wurde. 56
Anl 4 zur Niederschrift vom 10. 8. 1922 bei Poetzsch, ebda., ohne diesen Titel,
als erster Teil „ A : Zum Schutzgesetz" des „Protokolls" abgedruckt.
392
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
lung vor dem Staatsgerichtshof nur Sachen von solcher Bedeutung geeignet seien, „daß ihre Entscheidung durch einen höchsten Gerichtshof des Reichs angemessen erscheint". Die Überweisungen an örtlich zuständige Behörden sollten die Regel bilden. Dies bedeutete eine beträchtliche Veränderung des ursprünglich bei der Errichtung des Staatsgerichthofs verfolgten Gedankens, der grundsätzlich alle politischen Straftaten nach dem Republikschutzgesetz an sich ziehen wollte. Diese Vereinbarungen brachte der später von der Reichsregierung als „Berliner Protokoll" veröffentlichte Text in die Form allgemeiner ergänzender Bestimmungen zu den drei umstrittenen Gesetzen, die für sämtliche Länder gleiche Rechtskraft besaßen, so daß aus den Ressortvereinbarungen zwischen dem Reich und Bayern ein neuer Titel des Verfassungs- und Verwaltungsrechts hervorging. Die angestrebte Garantie hingegen bestand nur in einer Erklärung des Reichskanzlers, daß die Reichsregierung „nicht willens" sei, „über die verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Reichs hinaus Hoheitsrechte der Länder an sich zu ziehen". Sie band allenfalls die derzeitige Regierung Wirth und besagte über die weitere Zukunft nichts.57 Immerhin aber hatte sich die Bereitwilligkeit Wirths, eine Erklärung dieser Art abzugeben, merklich von der Situation und der Stimmung jener Tage entfernt, in denen die Reichsregierung die offizielle Ankündigung eines unitarischen Programms erwog, das dann Erzberger in seiner Stuttgarter Rede vom 4. Januar 1920 sogar der Öffentlichkeit bekanntgab. Das Pendel, das die Wirksamkeit politischer Kräfte anzeigte, schlug jetzt in die entgegengesetzte Richtung aus und ließ das 57
Wirth schlug in der Verhandlung am 10. August einen ähnlichen Wortlaut für
eine Erklärung vor, die er zwar nur für seine Person abgeben, aber auf Grund der Bestimmungen des Art. 56 RV, demzufolge der Reichskanzler die Richtlinien der Politik zu bestimmen hatte, durchsetzen und durch Stellung der Vertrauensfrage im Reichstag erhärten lassen wollte. Dies ist jedoch unterblieben. Der Wortlaut des entscheidenden
Satzes
wurde
übrigens
nachträglich
vom
bayerischen
Gesandten
v. Preger in einer Unterredung mit Wirth und Radbruch bemängelt. Der Reichskanzler verlas hierauf „zur Richtigstellung" den nach der Niederschrift vom 10. August von ihm ursprünglich etwas anders formulierten, folgendermaßen abgeänderten Satz: „Die Reichsregierung beabsichtigt nicht, im Wege einer verfassungsändernden Erweiterung seiner Zuständigkeit [handschriftl. Randnotiz: „muß wohl heißen ,die Zuständigkeiten des Reichs'"] Hoheitsrechte der Länder an sich zu ziehen." Aufzeichnung des Staatssekretärs Hemmer vom 1 2 . 8 . 1 9 2 2 , BA, R 43 1/2261. Bemerkenswert ist, daß sich weder in der Bekanntgabe der Reichsregierung noch in dem Aktenstück, das die von Wirth und Graf Lerchenfeld gemeinsam unterzeichnete Erklärung enthält, diese von Wirth gewählten Formulierungen, sondern die auf bayerischer Seite als unklar empfundenen Worte finden.
Der zweite
und der dritte
Konflikt
393
Programm Erzbergers nur noch als Extrempunkt einer historischen Entwicklungslinie erscheinen. Wirths Erklärung beruhte gewiß auf der realistischen Überzeugung, daß die Reichsregierung angesichts der wirklichen Lage der Dinge in der Innen- wie in der Außenpolitik auf absehbare Zeit gar nicht imstande war, zielbewußt Eingriffe in die Zuständigkeiten der Länder vorzunehmen.
Bayerische
Reaktionen.
Verschärfung.
Neue
Verhandlungen
Die ersten Nachrichten, die nach Rückkehr der bayerischen Delegation aus München in Berlin eintrafen, lauteten günstig: Der Ministerrat hatte, wenn auch unter Bedenken, den Berliner Vereinbarungen zugestimmt — allerdings unter dem Vorbehalt der Zustimmung der Parteien.58 Aber wenige Stunden später stand fest, daß die Verhandlungen mit den Koalitionsparteien „nicht so glatt verlaufen würden", so daß Preger den Leiter der Presseabteilung der Reichsregierung bitten mußte, von der vorgesehenen Bekanntgabe der Vereinbarungen vorerst abzusehen.59 Doch das zur Veröffentlichung bestimmte „Protokoll" war bereits an die Presse gelangt und ließ sich bei der offenbar schwerfälligen Mechanik der technischen Regie nicht mehr aufhalten, was nur zur Verschärfung der Lage beitrug, die, wie sich bald herausstellte, von einer endgültigen Bereinigung der Atmosphäre noch weit entfernt war. Die Bayerische Volkspartei verhielt sich zunächst abwartend. Im allgemeinen wurde jedoch Lerchenfelds erklärte Bereitschaft zur Aufhebung der bayerischen Verordnung und seine Unterschriftsleistung als „vorzeitige Festlegung", die negative Fassung der „bundesstaatlichen Garantieerklärung" der Reichsregierung als gänzlich unbefriedigend angesehen.60 Im Laufe der nächsten Tage nahm die Stimmung gegen Berlin und gegen das Reich in gefährlichem Umfang zu. Im Bestreben, sich am Ruder zu halten und nicht das Opfer einer Volksempörung zu werden, die Einpeitscher und Presse der rechten Ultras wiederholt an die Wand malten, vermied der Ministerrat die letzte Entscheidung, indem er sich auf Verhandlungen mit den Parteiführern zurückzog." 58 5
Aufzeichnung Hemmers vom 12. 8.
» Referentenvermerk vom 12. 8. 1922, BA, R 43 1/2261. 60 Bericht des Bevollmächtigten Preußens in München, Denk, an den preußischen Ministerpräsidenten vom 12. 8. 1922, Abschr. mit dem Vermerk „Geheim" für den Reichskanzler, BA, R 43 1/2261. 61 Zwei Mitteilungen des Vertreters der Reichsregierung in München, Legationsrats v. Frerichs, an die Reichskanzlei vom 14. 8. 1922, BA, R 43 1/2261.
394
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
Am 16. August kam es zu einer vom „Ordnungsblock" gemeinsam mit den Nationalsozialisten inszenierten Massendemonstration auf dem Königsplatz, bei dem Kahr „wie einst zur Einwohnerwehrzeit . . . Revue abhielt". 62 Mit einigermaßen optimistischen Darstellungen der Vorgänge in München 63 verfolgte der bayerische Gesandte in Berlin wohl den Zweck, die Hoffnung der Reichsregierung auf baldige Beilegung des Konfliktes zu erhalten und sie von der Stellung des Verlangens nach Aufhebung der bayerischen Verordnung durch den Reichspräsidenten zunächst abzubringen und Zeit zu gewinnen. Der Reichskanzler zeigte sich anfangs zwar nicht geneigt, hierauf einzugehen, konnte sich aber wohl oder übel der Feststellung Pregers nicht verschließen, falls die Reichsregierung die sofortige Aufhebung der Verordnung verlange, „würde eine solche Lage eintreten, daß die bayerische Regierung f ü r nichts mehr garantieren könne". Die Erregung in Bayern, der die Veröffentlichung der Reichsregierung in höchst unwillkommener Weise neue N a h r u n g zugeführt hatte, beschränkte sich bei weitem nicht mehr auf ultrarechte Kreise, sondern ergriff bald das ganze Land. In München aber verstärkte sich der Druck zusehends, den die radikalen Elemente seit dem 16. August ausübten, so daß die Nachrichten alarmierend wirkten. Eine Abordnung des Bundes Oberland erschien sogar im Landtag, um den Druck der Straße auch auf das Parlament zu übertragen und die strikte Ablehnung des Berliner Protokolls zu verlangen. Der Münchener Vertreter der Reichsregierung ließ Berlin zwar nicht im Zweifel darüber, daß im Landtag nur eine Minderheit, die Deutschnationalen und der rechte Flügel der BVP, von dem in dieser undurchsichtigen Lage freilich niemand mit völliger Sicherheit sagen konnte, wie weit sein Einfluß wirklich reichte, gegen die Berliner Vereinbarungen stimmen würde. Doch diese Minderheit war recht stark und vor allem sehr aktiv, so daß nach Ansicht des Diplomaten die Aussicht f ü r die Zukunft ungewiß blieb und „die Möglichkeit innerpolitischer Wirren zweifellos gegeben" war 64 . Infolgedessen gab er der Reichsregierung den Rat, die „Versöhnungspolitik" Lerchenfelds zu würdigen und in den bayerischen Dingen künftig stärker zwischen der Mehrheit und der äußersten 82 Referentenaufzeichnung über eine telefonische Mitteilung der Vertretung in München an die Reichskanzlei vom 17. 8. 1922, 13 Uhr, und nachfolgender schriftlicher Bericht, BA, R 43 1/2261. 03 Referentenaufzeichnung vom 17. 8. 1922 über einen Empfang des bayerischen Gesandten durch den Reichskanzler, BA, R 43 1/2261. "4 Zweiter Bericht von Freridis vom 16. 8., BA, R 43 1/2261.
Der zweite
und der dritte
Konflikt
395
Rechten zu unterscheiden und ihre Angriffe nicht mehr gegen die Regierung, sondern gegen N S D A P und „Ordnungsblock" zu richten. Wirth ließ sich schließlich darauf ein, ohne geradenwegs der Bitte der bayerischen Regierung nachzukommen, ihre Bewegungsfreiheit doch nicht zu stark zu beschränken. 95 Währenddessen bereitete die bayerische Regierung neue Verhandlungen vor, um das Ergebnis vom 11. August zu verbessern. 68 Am 18. August, dem Datum, das eigentlich die Aufhebung der bayerischen Verordnung bringen sollte, unterrichtete Graf Lerchenfeld den Reichskanzler, daß es ihm „nach hartem K a m p f " gelungen sei, „die Verhandlungen mit den Koalitionsparteien . . . zu einem f ü r die Regierung vertretbaren Ergebnis zu bringen". Der Widerstand sei im ganzen Land viel stärker aufgetreten, als die Regierung erwartete, was er darauf zurückführte, daß die bayerische Verordnung „die weiten Teile des Volkes befriedigt und beruhigt" habe, ihre Aufhebung „in der öffentlichen Meinung ohne weiteres als Rückzug aufgefaßt" werde und daß die Veröffentlichung des Protokolls, noch dazu mit Bekanntgabe einer Frist zur Aufhebung der Verordnung, vorschnell erfolgte, „und zwar ehe wir Zeit hatten, die bayerische Presse mit den erforderlichen Weisungen zu versehen". Die Parteileitungen hätten jedoch der argen Hetze widerstanden, die vor allem von nationalsozialistischen Kreisen ausgehe, und nach manchem Hin und Her eine Stellung eingenommen, die sich grundsätzlich mit der Berliner Regelung vertrage. Ihre Beschlüsse ermächtigten die Regierung, „unter gewissen Voraussetzungen die Unterschrift des Ministerpräsidenten unter dem Berliner Protokoll anzuerkennen". Das Protokoll müsse jedoch ergänzt und erläutert werden, zu welchem Zweck Schweyer und Gürtner erneut nach Berlin entsandt würden; Veröffentlichungen sollten jedoch diesmal nur auszugsweise erfolgen. 87 Dies bedeutete nichts anderes als neue, diesmal 85
Ein handschriftlicher Vermerk vom 17.8. enthält die Weisung Wirths nach einem Telefonat mit dem Reichspräsidenten: „ H e r r n v. Preger soll geantwortet werden, d a ß der H e r r Reichspräsident auf die Schwere der Situation a u f m e r k s a m machen und bitten läßt, auch seiner Lage Rechnung zu tragen." BA, R 43 1/2261. •• Frerichs berichtete der Reichskanzlei am 18. August, die Beratungen der Koalitionsparteien h ä t t e n „zeitlich einen anderen Verlauf genommen, als dies von den hiesigen amtlichen Stellen escomptiert worden w a r " . Bereits am späten Abend des 17. August h a t t e sich der Ministerrat mit ihnen „abschließend befassen" können. Offiziell w u r d e der 18. August genannt. D a ß dies geschah, um Berlin gegenüber Zeit zu gewinnen, in der die radikale Bewegung etwas abflauen konnte, liegt auf der H a n d . BA, R 43 1/2261. «' Schreiben an den Reichskanzler v o m 18.8. 1922, BA, R 43 1/2261.
II. Reichspolitik
396
und
Föderalismus
geheime Verhandlungen, mit denen die Regierung Lerchenfeld v o r der bayerischen Öffentlichkeit besser abschneiden wollte als in der Woche zuvor. I n welchem M a ß e G r a f Lerchenfeld zum B e a u f t r a g t e n der beiden K o a l i t i o n s p a r t e i e n geworden w a r , l ä ß t sich daraus ersehen, d a ß bis zu diesem neuen wichtigen Schritt trotz des starken und zum guten T e i l fehlgeleiteten Interesses der Öffentlichkeit an diesen F r a g e n keine Erörterung
der L a g e im L a n d t a g
stattfand. D e r
Ministerpräsident
machte sich zum V o l l z i e h e r der Parteibeschlüsse, ohne d a ß diese die Landtagsdiskussion passierten. Zu gleicher Z e i t teilte Lerchenfeld dem Reichspräsidenten die weiteren bayerischen Wünsche mit, die sich in erster Linie a u f den Staatsgerichtshof bezogen: D i e Überweisung aller Vergehen nach dem Republikschutzgesetz an die ordentlichen Gerichte der L ä n d e r oder — „wenn dies dem W o r t l a u t des Gesetzes als entgegenstehend erachtet werden sollte" — die Aburteilung von Vergehen durch den Staatsgerichtshof „im Einverständnis mit der Landesregier u n g " , ein V e r l a n g e n , dessen Sinn und Bedeutung und dessen V e r e i n b a r k e i t mit dem G r u n d s a t z der richterlichen U n a b h ä n g i g k e i t überaus zweifelhaft erscheint. D a r ü b e r hinaus deutete Lerchenfeld den Wunsch nach einer Gewährleistung stärkeren bayerischen Einflusses a u f
die
B e r u f u n g der Richter und auf die Ausübung des Gnadenrechtes an. Inzwischen waren in B a y e r n offenbar neue Befürchtungen wegen eines Reichsschulgesetzes entstanden, so d a ß Lerchenfeld auch in diesem Z u sammenhang
erneut
das
Verlangen
vorbrachte,
„eine
verfassungs-
mäßige Sicherung der Hoheitsrechte in irgendeiner F o r m zu e r h a l t e n " ; fürs nächste bezeichnete er es indessen als genügend, wenn die Reichsregierung die Zusicherung gäbe, im Reichsrat einen „zu günstiger Zeit eingebrachten A n t r a g B a y e r n s zu unterstützen"® 8 . Alles in allem enthielten diese neuerlichen Wünsche der bayerischen Regierung, die sich nicht in der L a g e sah, das „ P r o t o k o l l " v o n Berlin vorbehaltlos zu akzeptieren, k a u m den Stoff zu größeren Aufregungen. D e r V e r t r e t e r der Reichsregierung
in München
deutete allerdings
Optimismus G r a f Lerchenfelds, der nach all dem
hinsichtlich
des
Vorausgegangenen
recht überraschend k a m , noch einige Skepsis an." 9 Indessen zeigte sich, d a ß die bayerische Regierung ihre wirklichen K r ä f t e doch recht gut einzuschätzen w u ß t e . I h r differenziertes V e r f a h r e n gegenüber Reichskanzler und Reichspräsidenten erscheint befremdlich, beleuchtet aber die M i t t e l , mit denen sie einerseits ihre U n t e r o r d n u n g unter die P o l i "
Schreiben vom gleichen Tage, Abschr. B A , R 43 1/2261.
M
Bericht von Frerichs vom 18. 8. 1922, B A , R 43 1/2261.
Der zweite
und der dritte
Konflikt
397
tik der Reichsregierung zu begrenzen, anderseits den Reichspräsidenten in das Spiel hineinzuziehen trachtete. Als am 191 August die beiden bayerischen Minister wieder in Berlin eintrafen, sandte ihnen der Münchener Vertreter des Reiches die Information voraus, daß Innenminister Schweyer sich selbst viel besorgter um die Stimmung im Lande zeige als der Ministerpräsident. Die sei „leider derart, daß eine erfolglos aus Berlin zurückkehrende Delegation mit H u r r a begrüßt werden würde" 7 0 . Diese Information hat sicherlich dazu beigetragen, daß sich die Reichsregierung nunmehr zu fester Haltung aufraffte und entschlossen zeigte, ihr Verlangen durchzusetzen, ohne erneut in regelrechte Verhandlungen einzutreten wie zehn Tage zuvor. Seit Tagen machte sich auf der Linken eine wachsende Unzufriedenheit mit ihrer Nachgiebigkeit bemerkbar, die nun ein energisches Durchstehen erheischte.71 H a t t e Wirth bereits die Autorität des Reichspräsidenten ins Feld geführt, die er gefährdet sah, so war die Reichsregierung inzwischen gegenüber der Lage vor einer Woche in eine Situation gelangt, die sich mit gehörigem Optimismus zu ihren und nicht zugunsten der bayerischen Regierung deuten ließ. Die Gespräche, die Poincaré und Lloyd George in London führten, nahmen einen Verlauf, die die Unterstützung der französischen Deutschlandpolitik durch England noch weniger gewiß erscheinen ließ als vordem; außerdem war eine Demarche der italienischen Regierung durch ihren Konsul in München erfolgt, der dem bayerischen Ministerpräsident mitgeteilt hatte, daß eine bayerische Separation als eine Verschärfung der internationalen Lage angesehen werden müsse. Dieses 70
Ebda. u. telefonische Mitteilung Frerichs vom gleichen Tage, 14 Uhr. Schon am 14. August schrieb der Unabhängige K u r t Rosenfeld, daß die Reichsregierung „sich schwach gezeigt" habe; sie „hätte sich . . . auf solche Verhandlungen mit dem Grafen Lerchenfeld gar nicht einlassen dürfen". Jedes Land komme im Reichsrat zu seinem Recht; „außerdem noch gehört zu werden, hat kein Land das Recht". Allerdings glaubte dieser Autor die Reichsregierung „in einer Situation, in der sie alle T r ü m p f e in der H a n d hatte". (Der Sieg Bayerns, Freiheit, N r . 301 vom 14. 8.) Ähnlich regte sich unter den Mehrheitssozialdemokraten Unzufriedenheit mit der H a l t u n g der Reichsregierung. Eine Entschließung des Parteitages des Bezirksverbandes Brandenburg-Grenzmark und Posen-Westpreußen der SPD „Zur Lage in Bayern" stellte unter Hinweis auf den Gesetzesbeschluß des Reichstages die nur nach dem Modellbild der unitarisch organisierten parlamentarischen Demokratie zutreffende Behauptung auf, „daß die Reichsregierung Bayern keine Konzessionen machen darf, daß vielmehr die Regierung dieses Landes gezwungen werden muß, die vom Reichstag erlassenen Gesetze gleichfalls zu respektieren". (Vom brandenburgischen Provinzialsekretariat der SPD am 20. August der Reichskanzlei übermittelt, BA, R 43 1/2261.) 71
398
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Ereignis konnte der Reichsregierung nicht unbekannt bleiben, und Wirth benutzte die Eröffnung der neuen Besprechungen mit den bayerischen Unterhändlern, um zu versichern, daß der Schritt der italienischen Regierung nicht von Berlin aus veranlaßt wurde' 2 . Er schlug den bayerischen Ministern gegenüber diesmal einen wesentlich schärferen Ton an und übte auf seine überraschten Verhandlungspartner eine Pression aus, indem er ihnen mitteilte, er kenne nicht nur die Richtlinien, die ihnen mitgegeben worden seien, sondern auch ihre Instruktion, die man in München mit dem größten Geheimnis umgeben hatte' 3 . Im Verlauf der Verhandlungen wußte er auch den Beweis für die Richtigkeit seiner Bemerkung zu bringen, indem er den verblüfften Schweyer korrigierte und auf Abweichungen von den Richtlinien der Bayerischen Volkspartei hinwies. Es ist sehr gut denkbar, daß Wirth auf diese Weise Schweyer vor Gürtner bloßzustellen und beider Einmütigkeit zu untergraben suchte. Jedenfalls kam es während der zweitägigen Verhandlungen zu wiederholten Unterbrechungen, in denen sich die bayerischen Unterhändler miteinander berieten, um eine gemeinsame Konzeption wiederzugewinnen. Sichtlich darum bemüht, die beiden Parlamentäre der Gegenseite an feste Entscheidungen zu binden, verlangte Wirth von den bayerischen Ministern bis zum Morgen des 20. eine Erklärung, daß sie bereit seien, sich selbst im Ministerrat für die abgeänderten Vereinbarungen vom 11. August einzusetzen. Da ohne eine bejahende Antwort kein Fortgang der Verhandlungen zu erwarten stand, fanden sich Schweyer und Gürtner schließlich bereit, „mit Rücksicht auf die Zwangslage und in Ansehung der Schwierigkeiten der Außenpolitik, wenn auch schweren Herzens . . . im gegenwärtigen Augenblick" das Verlangen nach einer Anerkennung der bayerischen Hoheitsrechte in anderer Form „zurückzustellen, in der Voraussetzung aber, daß in der Überweisungsfrage und in einigen anderen Punkten ihnen entgegengekommen würde", den Vereinbarungen 72
„Niederschrift der Besprechung über die Rückfragen der Bayerischen Regierung" am 19. und 20. August in der Reichskanzlei, BA, R 43 1/2261. 73 Telefonat Frerichs vom 18. August, 14 Uhr, der nichts über die Instruktionen in Erfahrung bringen konnte. Dem Reichskanzler muß also noch eine andere Informationsquelle zur Verfügung gestanden haben, über die aus den Akten der Reichskanzlei unmittelbar nichts ersichtlich ist. Dort findet sich jedoch ein undatierter Bericht über die Stellungnahme der BVP-Fraktion, der bereits einer Referentenarbeit zugrunde gelegt wurde, ehe die bayerischen Unterhändler in Berlin eintrafen. (BA, R 43 1/2262.) Die Informationen dürften dem Reichskanzler also mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Fraktion der Bayerischen Volkspartei unmittelbar zugekommen sein.
Der zweite und der dritte
Konflikt
399
im M i n i s t e r r a t selbst zuzustimmen und sie loyal zu vertreten. 7 4 N a c h diesem Versprechen ging W i r t h dazu über, den E n t w u r f eines an G r a f Lerchenfeld gerichteten Schreibens zu beraten. N a c h teilweiser A b ä n d e rung erhielt er am E n d e z w a r keine erweiterte G a r a n t i e e r k l ä r u n g , jedoch einige Ergänzungen zum „ P r o t o k o l l " , die z w a r in der Sache nicht gewichtig, aber doch insofern bedeutsam waren, als sie erstmals eindeutige Sonderzugeständnisse an B a y e r n enthielten. 7 5 E i n
besonderer
bayerischer S e n a t beim Staatsgerichtshof wurde abgelehnt, d a f ü r aber zugestanden, d a ß die Besetzung des süddeutschen Senats nur im E i n vernehmen m i t den beteiligten Landesregierungen erfolgen sollte und ihm grundsätzlich drei bayerische Laienrichter und „eine entsprechende Z a h l bayerischer Reichsgerichtsräte" angehören würden. D a s B e g n a d i gungsrecht sollte in F ä l l e n der Zuständigkeit des süddeutschen Senats v o m Reichspräsidenten nur „im Benehmen mit der Landesregierung oder a u f deren A n r e g u n g " ausgeübt werden, was der Reichspräsident bereits in der ersten V e r h a n d l u n g in Aussicht gestellt hatte, ohne d a ß dies ausdrücklich p r o t o k o l l i e r t w o r d e n w a r . D e m Wunsch, die b a y e r i schen Angelegenheiten bei der Reichsanwaltschaft von einem b a y e r i schen S t a a t s a n w a l t
mit weitgehender Selbständigkeit
behandeln
zu
lassen, k a m die Reichsregierung dadurch entgegen, d a ß sie sich bereit fand, einen bayerischen B e a m t e n nach F ü h l u n g n a h m e mit der b a y e r i schen Regierung zur Reichsanwaltschaft einzuberufen und als R e f e r e n ten des Oberreichsanwaltes „für bayerische S a c h e n " zu bestellen. A n dere Erläuterungen b z w . Ergänzungen modifizierten das
Verfahren
bei der Entscheidung über diese Sachen durch den Staatsgerichtshof. D a s u n v e r k e n n b a r e Bestreben der bayerischen Regierung,
möglichst
deutlich sichtbare Sonderrechte auszuhandeln und festzulegen, und die dem entgegenstehende P o l i t i k der Reichsregierung, allgemeine reichseinheitliche G r u n d s ä t z e zu bilden, nötigte am E n d e doch zu einem K o m p r o m i ß , der a u f differenzierte Verhältnisse f ü r Süd- und N o r d 74
„Niederschrift der Besprechung über die Rückfragen. . . "
75
Text des Briefes Wirths an Graf Lerchenfeld vom 20. 8. 1922 in der Anlage zur
Niederschrift, abgedruckt, irrtümlich mit dem Datum des 23. August, bei Poetzsch, JböR
XIII/1925,
S. 89 f. Die
Garantieerklärung
wandelte
der
Schlußabsatz
des
Briefes etwas ab: Die Reichsregierung glaube, „in ihrer früheren Erklärung hinreichend zum Ausdruck gebracht zu haben, daß sie von den noch nicht ausgeschöpften Zuständigkeiten nidit ohne N o t und, soweit möglich, nicht ohne Zustimmung des Reichsrats Gebrauch machen wird und nicht willens ist, bisherige Aufgaben der Länder in die Verwaltung des Reichs durdi neue Reichs-, Mittel- oder Unterbehörden zu übernehmen". Diese Präzisierung läßt sich gewiß nicht als eine Erweiterung, wohl aber als eine Einschränkung der zuvor gegebenen Erklärung ansehen.
400
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
deutschland hinauslief. Zwar setzte die Reichsregierung erfolgreich möglichst schwache, den Hintergrund der bayerischen Forderungen verbergende Formulierungen durch; eine Abgliederung der süddeutschen Länder in der Rechtslage nach dem Republikschutzgesetz trat durch diese letzten, an sich nicht sehr wichtigen Zugeständnisse der Reichsregierung nun aber doch sichtbar zu Tage. Dieses Ergebnis des bayerischen Widerstandes wog letztlich schwerer als der Inhalt des „Protokolls", zumal die schwierigen und konfliktschwangeren inneren Verhältnisse des Wittelsbacherlandes weder wirklich bereinigt waren, noch durch das Republikschutzgesetz und seine nunmehr durchgesetzte Anwendung in Bayern eine nennenswerte Besserung erfuhren. Andererseits ließ die erweiterte Garantieerklärung den Wert der übrigen Ressortvereinbarungen vom 10. August recht zweifelhaft erscheinen. Die Reichsregierung kam nicht mehr auf sie zurück. Das Reichskriminalpolizeigesetz wurde stillschweigend fallengelassen. Nebenher benutzte Schweyer die Gelegenheit, um den Wunsch der bayerischen Regierung nach Abberufung Graf Zedis erkennen zu geben, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in München befand." Auf Verlangen des Reichskanzlers erklärte Schweyer, daß die bayerische Regierung, wie sie es schon vorher gewünscht hatte, auf eine Veröffentlichung verzichte und der Presse lediglich mitteilen werde, daß die Rückfragen in Berlin befriedigend beantwortet worden seien. Dieser Test auf den Einfluß Schweyers lief indessen negativ aus. Drei Tage später veröffentlichte die Bayerische Staatszeitung eine Darstellung der Berliner Verhandlungen vom 9. und 10. sowie vom 19. und 20. August," die trotz ihres maßvollen Tones doch den falschen Eindruck hervorrufen mußte, daß der wesentliche Teil des Ergebnisses erst den letzten Verhandlungen zu danken war, so daß sich die Reichsregierung genötigt sah, mit einer Gegendarstellung zu antworten.™ Sie wählte hierfür zunächst die Form einer offiziösen Mitteilung, um die Münchener Staatskanzlei nicht in allzu arge Verlegenheit zu bringen, denn sie hatte wohl erkannt, daß dieses Rückzugsgefecht der bayerischen Regierung nur noch der Wahrung des Prestiges in der 7
" Graf Zech ging als deutscher Gesandter nach dem Haag. Auf dem Münchener
Posten folgte ihm nach kurzer Vertretung durch den Legationsrat v. Frerichs der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Gesandter v. Haniel, der dort bis zur Aufhebung der Vertretung 1931 blieb. 77
BStZ Nr. 194 vom 23. 8. 1922, auszugsweise bei Poetzsch, J b ö R
S. 86 f. 78
Abgedruckt bei Poetzsch, a. a. O., S. 87 ff.
XIII/1925,
Der zweite
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Konflikt
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Öffentlichkeit galt, um die Aufhebung ihrer Verordnung, die dann am 24. August erfolgte, hinreichend zu motivieren. Danach veröffentlichte sie den Brief Wirths an Lerchenfeld im vollen Wortlaut. Dies war inzwischen auch aus anderen Rücksichten unumgänglich geworden, denn am Tage nach der Aufhebung der bayerischen Verordnung meldete sich der preußische Ministerpräsident Braun mit einer Beschwerde über die Sonderverhandlungen und über die Bevorzugung Bayerns, die es offenbar werden ließ, daß der Verhandlungsbereitschaft, die die Reichsregierung soeben bewiesen hatte, künftig durch Preußen Schranken gesetzt würden, sofern sie nicht die von Braun aufgestellte Meistbegünstigungsdoktrin anerkennen wollte." Die Publizierung des Reichskanzlerbriefes erwiderte die bayerische Regierung mit der Veröffentlichung des ihm zugrunde liegenden Briefes Graf Lerchenfelds an den Reichspräsidenten, 80 so daß entgegen den ursprünglich von beiden Seiten bekundeten Absichten der diskrete Charakter der Verhandlungen vollends zerstört wurde und sich erneut eine scharfe Formen annehmende Polemik in der Öffentlichkeit entspann, die die Presse verschiedener Richtungen in Bayern mit gewohnter Heftigkeit austrug und bald auch wieder die Parteien der Münchener Regierungskoalition in den Sog der Meinungskämpfe hineinzog. Hinter der bisweilen in drastischer Weise ausgedrückten Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Berliner Verhandlungen steckte nichts anderes „als die politische Abneigung, mit der Reichsregierung überhaupt zu einem Friedensschluß zu kommen". 81 N u r mit Mühe erlangte Graf Lerchenfeld mit Hilfe des volksparteilichen Fraktionsführers Held im Landtag die notwendige parlamentarische Indemnität für seine Verhandlungsführung. Seine Partei hatte Stimmung und Erregung während der voraufgegangenen Monate dazu benutzt, in Orts-, Bezirks- und Kreisverbänden eine langerhand vorbereitete Erweiterung ihres Bamberger Programms vorzubereiten, die von der Landesversammlung der BVP im Oktober angenommen wurde und den föderalistischen Verfassungs79 Schreiben von Ministerpräsident Braun an den Reichskanzler vom 25. 8. 1922, BA, R 43 1/1953. Die entscheidende Feststellung darin lautet: „Preußen ist grundsätzlich für einheitliche Behandlung aller Länder des Reichs. Hält aber die Reichsregierung solche Zugeständnisse mit der Sache vereinbar, dann müssen sie durchgängig gemacht werden, werden sie jedoch nur einzelnen Ländern gemacht, dann allerdings erhebt Preußen als größtes Land Anspruch auf Behandlung nach dem Rechte der Meistbegünstigung." 8 ° BStZ Nr. 201 vom 3 1 . 8 . 1 9 2 2 . 81 Schwend, Bayern, S. 196 f.
26
Schulz I
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II. Reichspolitik
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Föderalismus
revisionismus nun zugleich weiter und politisch aktueller faßte. 82 Das veränderte Parteiprogramm fixierte die Grundsätze, die bereits die Opposition während des Sommers getragen hatten und der dynamischen Zuständigkeitsverteilung im Sinne der erörterten Garantie zugunsten der Länder endgültige Schranken setzen wollten. Es rundete sie zu einem wohldurchdachten Katalog föderalistischer Ziele ab. Dieser enthielt jetzt außer der Verfassungsfreiheit, Verwaltungs- und Steuerhoheit und wirtschafts- wie kulturpolitischem Vertragsrecht der Länder gegenüber auswärtigen Staaten das Recht zu freier Staatenbildung innerhalb des Reiches f ü r Gebiete, „welche die Kraft und den überwiegenden Willen" hierzu bewiesen, überdies starke Beschränkungen des Reiches für den Fall, daß es die ihm zwar verfassungsmäßig zustehenden, jedoch bislang nicht ausgenützten Zuständigkeiten an sich ziehen wollte 83 , Schutz des Staatsbesitzes der Länder, das eben noch so hart umkämpfte Recht f ü r die Länder, „die zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit nötigen Maßnahmen selbständig und unbehindert zu treffen" und die verfassungsmäßigen Grundrechte vorübergehend aufzuheben, zentrale Zusammenfassung der Reichsbehörden innerhalb der Länder und ihre Anpassung an die Länderverwaltungssysteme, selbständige Verwaltung und Haushaltsführung der Länder in Angelegenheiten der Post, der Eisenbahn und der Wasserstraßen, freie Regelung des Schulwesens durch die Länder und Beschränkung der wirtschaftspolitischen M a ß nahmen des Reiches „auf die Fälle dringender Notwendigkeit". In diesem abgeänderten wird man mehr noch als in dem' ursprünglichen Bamberger Programm die endgültige Ausbildung einer der Verfassungspolitik der Reichsregierung opponierenden staatsföderalistischen Konzeption erblicken dürfen. Der Reichsaufbau der Bismarckzeit wurde angestrebtes, wenn auch wohl nicht absolutes oder letztes Ziei. Der offizielle bayerische Föderalismus war konservativ im soziologischen und im historischen Sinne; er blieb auf die Gründung des Reiches bezogen, an der sich Bayern aus freiem Willen als souveräner Staat 82
Wortlaut des revidierten Bamberger Programms bei Sdiwend, a. a. O., S. 141 f.
83
Ganz im Sinne der erstrebten bundesstaatlichen Garantie heißt es hierzu: „Die
Selbständigkeit der Länder soll durch neue Gesetze und Verordnungen nicht weiter beeinträchtigt werden. Bisher nicht ausgenützte Zuständigkeiten des Reiches sollen nicht in Anspruch genommen werden, es sei denn, daß die Länder unter Anerkennung der dringlichen N o t w e n d i g k e i t ihre Zustimmung dazu geben. Bei allen M a ß nahmen der Reichsgesetzgebung und Verwaltung ist den Landesregierungen Gelegenheit zu rechtzeitiger Stellungnahme zu geben."
Der zweite
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Konflikt
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beteiligt und in dem sich das bayerische Sondertum in Gestalt verfassungsrechtlicher Sonderregelungen behauptet hatte. Das Problem des Föderalismus in Deutschland ließ sich jedoch bei weitem nicht allein mit der bayerischen Frage lösen, schon gar nicht durch Pläne, die Bayern als einziges Land in eine Monarchie umwandeln wollten „innerhalb eines Reiches von republikanischem Gesamtgepräge". 84 Es ist aber auch zu Recht hervorgehoben worden, daß die Bayerische Volkspartei sich zwar eng an das katholische Bekenntnis hielt, daß sie jedoch ein „Bündnis zwischen demokratischem und föderalistischem Denken" nicht herzustellen suchte und es herzustellen auch gar nicht in der Lage war. 85 Eine Erklärung dieser Eigenheit ihres Föderalismus wird berücksichtigen müssen, daß er die strikteste Ablehnung jedweder Konzession an unitarische Gedanken einschloß, die zu den politischen Traditionen der großen demokratischen Parteien gehörten, die in Berlin regierten. Zum andern hatte das dauernde politische Trauma, das die Eisner-Ära im Münchener Bürgertum hinterließ, alle Gegensätze nach links unendlich verschärft und das dauernde Bündnis mit den Deutschnationalen, bei dem freilich auch die vom Vatikan unterstützten Konkordatspläne der BVP eine wichtige Rolle spielten, und schließlich die Existenz der militärischen oder halbmilitärischen Organisationen und Vaterländischen Verbände, auf die die Münchener Regierung so große Rücksicht nahm, ermöglicht und dadurch schließlich eine Atmosphäre erzeugt, die das ohnehin schwierige Problem Bayerns im Reich komplizierte und verzerrte. Die Hinneigung zur Monarchie in großen Teilen der bäuerlich-mittelständischen Bevölkerung nach 1918 ließ sich leichter zugunsten einer persönlichen Führerschaft umbiegen als durch eine bis dahin unbekannte und mit wenig konkreten Vorstellungen verbundene Republik ersetzen, die zudem von Berlin aus regiert wurde. Audi des Protestanten Kahr Popularität darf wohl zum Teil hieraus erklärt werden, die auch nach seinem Sturz als Ministerpräsident eine starke, imponderable Größe im Hintergrund der bayerischen Politik blieb. 84
Erwein von Aretin, zitiert nach W. G. Zimmermann, Bayern und das Reich, S. 163. Indem Zimmermann die Frage der monarchischen Staatsform zum Rang eines Prüfsteins erhebt, der BVP ein „Versagen in der Staatsformfrage" vorwirft und sogar das W o r t von einem „föderalistischen Verrat an der monarchischen Staatsform" prägt, (ebda., S. 171) charakterisiert er selbst den engen Sinn dieses Föderalismus. Vgl. auch E. v. Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, München 1955. 85 Schwend, Bayern, S. 334. Vgl. auch die Besprechungen von Heinz Gollwitzer, VjZ 3. Jg./1955, bes. S. 380 ff. 26*
Z E H N T E S
KAPITEL
Konflikte und Krise 1923 „Das Reich wird auseinanderregiert." Bayerische Rechtsverbände und „proletarischer Selbstschutz" Persönliche Gründe und Verletzungen nahm G r a f Lerchenfeld zum Anlaß, um A n f a n g November 1922 das zur Last gewordene A m t aufzugeben, 1 womit die Bemühungen der Reichsregierung, einen Mann des Maßes an dieser Stelle zu begünstigen, die nicht wenig zum Verlauf und Ausgang der Berliner Verhandlungen beigetragen hatten, zunichte wurden. In Eugen v. Knilling, .dem neuen Ministerpräsidenten, der 1920 in den bayerischen L a n d t a g eingezogen war, achtete die Bayerische Volkspartei mehr den ehemaligen königlichen Staatsminister als den Parlamentarier. 2 E r besaß ebensowenig Einfluß auf die Führung seiner Partei wie sein Vorgänger, verfügte aber ebensowenig wie K a h r über die staatsmännischen Tugenden G r a f Lerchenfelds. Feiner, gebildeter und maßvoller als K a h r , besaß er zwar nicht dessen Hartnäckigkeit, aber auch nicht die T a t k r a f t des immer noch im Hintergrund auf seine nächste Stunde harrenden dritten bayerischen Ministerpräsidenten. Sicherlich diplomatischer als dieser, war Knilling doch ohne die Schulung und Fähigkeit des Erzdiplomaten Lerchenfeld, selbst in schwierigen Situationen die souveräne Attitüde zu bewahren. D a s T a lent, mit der Reputation zu wuchern und zwei Taler für drei erscheinen zu lassen, um Zeit zu gewinnen, und den dritten zu beschaffen, diese Kunst war dem neuen Ministerpräsidenten am wenigsten zu eigen. So wurde dieser allerseits geschätzte und in seiner Partei beliebte königliche Beamte zu einem etwas farblosen Verwalter der bayerischen Sache, der die politische Entscheidung an kraftvollere Persönlichkeiten verlor. So wenig der Übergang von der Regierung Lerchenfelds zu der Knillings zunächst auch als Zäsur erwähnt zu werden ver1 D a ß Lerchenfeld sogar Morddrohungen ausgesetzt war, berichtet ein von Kurt Sendtner zitierter Gewährsmann (Sendtner, Ruppredit von Wittelsbach, Kronprinz von Bayern, München 1954, S. 514). 2 Vgl. Schwend, Bayern, S. 199.
Konflikte
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dient; dieser Wechsel der Regierungschefs in der bayerischen Politik an der Schwelle zum unheilvollen Jahr 1923 war keineswegs segensreich. Der ehemalige königliche Kultusminister war der Mann, der das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl erfolgreich vorzubereiten vermochte, doch nicht die geeignete Persönlichkeit, die in schwersten Zeitläufen die Zügel in den Händen behielt. Dieses Jahr war auch ein Jahr des gefährlich aufschießenden Rechtsradikalismus. Hatte schon die Regierung Lerchenfeld Entwicklung und Aufstieg der Kampfverbände kaum zu hemmen vermocht, so entfesselten die Ereignisse, die mit dem französischen Ruhreinmarsch und dem deutschen Ruhrkampf begannen, erneut die nationalen Leidenschaften, die sich fast zwangsläufig der mehr oder minder politisch herrenlosen Wehrverbände bemächtigten. War im ersten Jahr nach der Auflösung der Einwohnerwehr und dem schrittweisen Verschwinden Escherichs der bayerische Monarchist Pittinger aus dem dunklen Hintergrund unentwirrbarer Beziehungen als Generalorganisator legaler wie illegaler Verbände hervorgetreten, der sich von seinen Bemühungen um die Restauration eines Wittelsbacherstaates auch durch die Erklärung des „Kronprinzen" Rupprecht, er werde Putsche und Staatsstreiche nicht mitmachen, 3 keineswegs abbringen ließ und selbst von der Regierung Lerchenfeld immun gehalten wurde, 4 so gelangten nun allmählich die 3
Zit. bei Sendtner, Rupprecht von Wittelsbach, S. 513. Graf Lerchenfeld bezeichnete Pittinger in einem Schreiben an den Reichskanzler vom 4. März 1922 als Leiter der „Reichswehrergänzung" und diese ebenso wie die „Notpolizei", die beide in der ehemaligen Einwohnerwehr wurzelten, als „offizielle" Organisationen. Die „Reichswehrergänzung" werde vom Reiche gutgeheißen und finanziert. D a ß „von einer Gutheißung der Finanzierung der Reichswehrergänzung seitens des Reichs dem Reichskanzler nichts bekannt" war, erhellt aus einem telegrafischen A u f t r a g des Staatssekretärs in der Reichskanzlei an die Vertretung in M ü n chen vom 6. März und dem Antwortschreiben des Reichskanzlers an Lerchenfeld vom 7. März 1922. (BA, R 43 1/2263.) Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß der Chef der Heeresleitung gewisse Abmachungen mit den Führern einstiger Einwohnerwehrverbände sowie mit Graf Lerchenfeld getroffen hatte, ohne die Reichsregierung zu unterrichten. Jedenfalls eilte Seeckt am 12. Dezember 1921 nach München, um einige wichtige Besprechungen u. a. mit Escherich und LerAenfeld zu haben. (Rabenau, Seeckt, S. 341.) Übrigens ergibt sich aus dem oben erwähnten Material von Timm und Gasteiger, das Anfang März 1922 dem Reichspräsidenten und dem Reichskanzler zuging, daß Escherich eine Verbindung zu Berliner Kreisen eingegangen war. D o r t wird behauptet, daß ein Riß zwischen ihm und dem stark an Boden gewinnenden Pittinger entstanden sei, was in Anbetracht der blau-weißen, vermutlich separatistischen Bestrebungen Pittingers und seiner Organisation durchaus plausibel erscheint. In jedem Falle aber war eine Rolle Pittingers als Leiter der „Reichswehrergänzung" dubios. 4
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Nationalsozialisten in den Vordergrund. Hitler aber hatte sich von Anfang an als fanatischer Gegner der Bayerischen Volkspartei und des bayerischen Sondertums betätigt. 5 Das mißverstandene Preußentum, das sich der emigrierte großdeutsche Österreicher zugelegt hatte, gewann in den quasimilitärischen Restbeständen der einstigen Freikorps, deren ideologische Dürre gerade noch einen vagen Nationalismus nährte, im übrigen aber kaum mit der preußischen Vokabel umzugehen wußte, überraschenden Kurswert. Die Zeit war für Extremisten geschaffen; infolgedessen konnte auch Hitler, der sich frühzeitig von den Sozialdemokraten wieder getrennt hatte, denen seine erste Zuneigung als „Politiker" gehörte, ohne daß sie seinen wüsten Antisemitismus befriedigten, zu einer Größe in der bayerischen Politik aufsteigen und zu einem Bundesgenossen des Generals Ludendorff werden, was selbst einer gelegentlich exzentrischen politischen Erwägung nicht abholden Natur wie der Arnold Rechbergs wider jede Vernunft zu gehen schien." Schlüsselfigur in dieser Entwicklung war neben dem aus der Orgesch-Zeit bekannten, am Sturz der Regierung Hoffmann beteiligten Kriebel der ehemalige Justizminister Roth, der jetzt Pittinger den Rang ablief und sich maßgeblich an der Leitung einer neuen Dachorganisation nationalistischer Verbände beteiligte, die die fragwürdige Gemeinschaft der blau-weißen und schwarz-weiß-roten Organisationen zu überwuchern und zu sprengen drohte. Die „Arbeitsgemeinschaft der Kampfverbände" vereinigte Anfang Februar unter seiner und Kriebels Führung die Bünde „Oberland", „Unterland" und „Reichsflagge" mit den Nationalsozialisten und brach auch die Münchener Gruppe der „Vereinigten Vaterländischen Verbände" aus der Organisation Pittingers heraus.' Sie gab den Boden für den weiteren Aufstieg Hitlers und seiner N S D A P ab, deren „Sturmabteilung" (SA) 5
E. v. Vietsch, Rechberg, S. 192 ff. und 197 ff. Über die bayerischen Anfänge der
Hitler-Bewegung unterrichten neben den bekannten Büchcrn von Konrad Heiden, Die Geburt des Dritten Reiches. Die Geschichte des Nationalsozialismus bis Herbst 1933, 2. Aufl., Zürich 1934; Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, 1. Bd., Zürich 1936; neuerdings Wilhelm Hoegner, Die verratene Republik, S. 121 ff. und: Der schwierige Außenseiter. Erinnerungen eines Abgeordneten, Emigranten und Ministerpräsidenten, München 1959, S. 20 ff.; über die anfänglichen Verbindungen der N S D A P zur Münchener Reichswehr Ernst Deuerleins Dokumentation: Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr, VjZ 7. Jg./1959, S. 177 bis 227. Vgl. auch H . H. Hofmann, Der Hitlerputsch, S. 52 ff. a
Hoegner, Außenseiter, S. 22 f.
7
Vgl. den von Geßler, Reichswehr und Politik, S. 255 f., zitierten Aufruf des
Präsidenten der Vereinigten Vaterländischen Verbände vom 22. August 1923.
Konflikte
und Krise 1923
407
bald in größerer Zahl ehemalige Offiziere aus dem „Oberland", der „Reichsflagge" und aus der geheimen „Organisation Consul" an sich zog und später unter einem der geschäftigsten Verbindungsleute dieser Organisationen, dem Münchener Reichswehrhauptmann Röhm, zur stärksten Organisation heranwuchs. Auf den Ruhreinmarsch folgte die innere Krise. Schon zu Jahresbeginn waren in der bayerischen Landeshauptstadt Gerüchte in Umlauf gebracht worden, die von einem Putsch der nationalistischen Verbände am 20. Januar wissen wollten. Die Gefahr, die jetzt in erster Linie von der Partei Hitlers drohte, wurde von der bayerischen Regierung sehr ernst genommen. Die alten Einwohnerwehren, die als offizielle und kontrollierbare Organisationen ungleich harmloser erschienen denn die Rechtsverbände, die mehr und mehr in den Sog der nationalsozialistischen Partei gerieten und eine der Staatsregierung unheimliche Bewegung entstehen ließen, hätten wohl einen Schutzkordon bilden können, wenn es von Anfang an gelungen wäre, republikanisch verfassungstreue Organisationen heranzubilden. In Wirklichkeit hatten sie selbst vor ihrer Auflösung an der Entfaltung politischer Rechtstendenzen einen gehörigen Anteil. Das hinderte indes den bayerischen Innenminister Schweyer keineswegs, in der Bedrängnis der verschlimmerten Verhältnisse, am Vorabend des passiven Widerstandes den in der Bayerischen Volkspartei aufgenommenen Gedanken zu ventilieren, die Einwohnerwehren Wiederaufleben zu lassen, um eine „Coupierung der Hitlerschen Bewegung" zu erreichen.6 Schweyer und seine Vertrauensleute dachten hierbei nicht an die Schaffung bewaffneter Truppen, sondern an Einheiten politisch zuverlässiger Elemente zur Verfügung der Staatsregierung. Es liegt auf der H a n d , daß hierbei in erster Linie parteipolitische Bindungen zugunsten der Bayerischen Volkspartei wirksam werden mußten," die „das Abwandern der [militärischen] Elemente zu anderen Organisationen, insbesondere zu Hitler zu verhindern" trachtete. Die Reichsregierung wollte und konnte sich aber nicht so weit in die 8
Ritter v. Preger teilte der Reichskanzlei am 17. 1. 1923 telefonisch den Wunsch Schweyers mit, so bald wie möglich nach Berlin zu kommen, „um mit dem Herrn Reichskanzler über die Frage des Wiederauflebens der bayerischen Einwohnerwehren zu sprechen". Aufzeichnung BA, R 43 1/2729. 9 Bericht des Gesandten v. Haniel aus München vom 16.1.1923, BA, R 43 1/2729. Nach Haniels Informationen ging der Gedanke einer Reorganisation der Einwohnerwehren auf den ehemaligen Hauptmann Schwend zurück, den Redakteur des Informationsdienstes der BVP.
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11. Reichspolitik
und
Föderalismus
innerbayerischen P a r t e i k ä m p f e einlassen, daß sie eine offene oder stillschweigende Wiederzulassung der Einwohnerwehren erwog, zumal die Stärkung einer politischen Partei zu erwarten stand, die soeben noch ihre entschiedene Opposition zur Reichsregierung und zur Reichsverfassung bewiesen und programmatisch bekundet hatte. Aber auch ohne d a ß die Reichsregierung ernsthaft derartige Erwägungen anstellte, beschwerten sich andere Länder über die als verfassungsrechtlich unzulässig erachtete Sonderbehandlung Bayerns. D e r preußische Ministerpräsident Braun hatte seinen Vorstoß, der im August 1922 zuerst einer verfassungspolitischen „Meistbegünstigung" Preußens galt, auf wechselnden Wegen wiederholt und eine Honorierung der „reichstreueren" H a l t u n g Preußens verlangt. 1 0 Einen weitaus härteren Kurs gegenüber dem Reich verfolgte die sächsische Staatsregierung, die in diesem J a h r zum zweiten Sorgenkind der Republik wurde. Sie hatte seit F r ü h j a h r 1921 in ihrem Lande jede Werbung der Freikorps f ü r den Selbstschutz im oberschlesischen Grenzkampf untersagt, f ü r die die Genehmigung der Reichsregierung, sogar der Interalliierten Kontrollkommission vorlag. Gegen die nach ihrer Ansicht illegalen Werbungen, T r u p p e n - und Waffentransporte innerhalb Sachsens versuchte sie einzuschreiten, was mangels gesetzlicher H a n d h a b e n meist in der Weise geschah, d a ß sie A k tionen von Seiten der Arbeiterschaft begünstigte und deckte und schließlich bei der Reichsregierung Protest erhob. 1 1 Die Triebfeder dieser O p position bildete die gespannte Beziehung der sächsischen Regierung zur Reichswehr, der es in Sachsen in einem U m f a n g wie kaum in einem anderen Lande gelungen war, die Waffen zu sammeln, in ihre H a n d zu bringen und, wie die sächsische Regierung vermutete, innerhalb des Landes „ohne Vorwissen der Landesregierung" zu deponieren. Sie sah sich im Vergleich zu anderen Ländern und ihren Regierungen besonders benachteiligt, in ihren Absichten verdächtigt und zudem von einem wirksamen Schutz durch die „Arbeiterwehren", die jetzt unbewaffnet w a ren, weitgehend entblößt. Sie nannte dies einen Eingriff „in die Hoheitsrechte der Landesregierung" 1 2 und f o r d e r t e ebenso wie T h ü r i n 10 A m 18. Mai 1922 hatte Braun größere Ansprüche Preußens bei der Besetzung der Ä m t e r von Staatssekretären und Ministerialdirektoren des Reiches angemeldet. Am 13. September 1922 verlangte er „eine Beteiligung der preußischen Ressorts sowohl bei den Vorbereitungen als auch bei den Verhandlungen" internationaler Verträge. BA, R 43 1/2327. 11 Geheimes Schreiben des sächsischen Ministerpräsidenten und Buck an Reichskanzler C u n o vom 4. 1. 1923. BA, R 43 1/2729. 12
Ebda.
Außenministers
Konflikte
und Krise 1923
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gen13 eine Beendigung dieser zu Lasten der Linken gehenden Politik des Reichswehrministeriums. Diese Beziehungen verschärften sich, nachdem Wilhelm Zeigner das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten angetreten und zum kritischsten Zeitpunkt das schwere Erbe der sozialistischen Regierungspartei übernommen hatte. Bereits das offizielle Programm seiner Regierung vom April 1923 wich in ungewöhnlicher Weise von den Programmen anderer unter sozialdemokratischer Führung stehender Regierungen ab. Es sprach sich f ü r die Bildung „proletarischer Abwehrformationen" aus, womit es die teilweise kommunistisch durchsetzten Wehrverbände offiziell anerkannte, und kündigte die Schaffung von Arbeiterkammern als gesetzlichen Arbeitnehmervertretungen an, was der Sache nach in die Zuständigkeiten der Reichsgesetzgebung nach Artikel 165 der Reichsverfassung eingriff. Schon damals wurde innerhalb der Reichsregierung geprüft, ob eine Anrufung des Staatsgerichtshofs erforderlich sei. Da die „Abwehrorganisationen" nach amtlichen sächsischen Erklärungen jedoch unbewaffnet bleiben sollten und im Grunde nicht militärisch organisiert waren und da es sich bei den Arbeiterkammern vorerst nur um Ankündigungen handelte und von Gesetzentwürfen nichts in Erfahrung gebracht wurde, hielt Reichsinnenminister Oeser eine Handhabe zu einem solchen Schritt nicht für gegeben.14 Ein Eingreifen gegen die Wehrorganisationen, die auch „proletarische Hundertschaften" genannt wurden, hätte nach Ansicht Oesers „auch die gleichzeitige Durchführung der Schutzgesetze gegen die Rechtsorganisationen in Bayern" erfordert. Diese Bedingung aber war zu diesem Zeitpunkt gleichbedeutend mit dem vorläufigen Fallenlassen eines solchen Gedankens. Ein umfassendes Bild von der Position der Reichsregierung, wie sie in der Reichskanzlei betrachtet wurde, entwirf): eine umfangreiche denkschriftartige Aufzeichnung. 15 Es war im Frühjahr 1923 offenkundig, daß das Reich tatsächlich „von einzelnen Landesregierungen auseinanderregiert" wurde. In Sachsen und Thüringen entstanden unter dem Schutze der Staatsregierungen „proletarische Hundertschaften" als Abwehrorganisationen „gegen faschistische Unterdrückungsabsidi13 Schreiben des thüringischen Ministerpräsidenten Frölich an Cuno vom 19. 3. 1923, BA, R 43 1/2729. 14 Schreiben des Reichsinnenministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 16.4.1923, BA, R 43 1/2307. 15 Aufzeichnung über die Lage von Staatssekretär H a m m für Reichskanzler Cuno vom 15.4. 1923, Original BA, R 43 1/2738.
410
II. Reichspolitik
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Föderalismus
ten", deren Bewaffnung von kommunistischer Seite wiederholt gefordert wurde. In einigen thüringischen Orten gingen hieraus „kommunistische Hundertschaften" hervor, gegen die ein Vorgehen auf Grund der bestehenden Gesetze und Strafbestimmungen im Unterschied zu den „proletarischen Hundertschaften" an sich wohl möglich gewesen wäre. Die thüringische Regierung unternahm jedoch nichts; die preußische dagegen war in Einzelfällen, so gegenüber den Hundertschaften im Ruhrgebiet und in der Provinz Sachsen eingeschritten. In Bayern verlief die Entwicklung in entgegengesetzter Richtung. Unter Kenntnis und Duldung der Regierung bestanden „aktive Kampf Vereinigungen", die teils das geistige, teils auch das materielle Erbe der Einwohnerwehren und Freikorpsverbände verwalteten und zum größten Teil bewaffnet waren und Felddienstübungen abhielten, wie etwa die Bünde Oberland, Reichsflagge, Blücher, die Vereinigung der ehemaligen Münchener Einwohnerwehr, die „Sonderabteilungen" (SA) der N S D A P und der „weiß-blaue" Bund Bayern und Reich. Um einen Versammlungsschutz zu gewährleisten, rief die bayerische Sozialdemokratie eine „Schutzabteilung" als Gegenorganisation ins Leben, die jedoch über Waffen in größerem U m f a n g nicht verfügte und auch keine militärischen Übungen abhielt. In Bayern gewann vor allem die N S D A P ständig an Boden. Sie war in Preußen auf Grund eines gültigen Auflösungsbeschlusses des Staatsgerichtshofs gemeinsam mit der deutsch-völkischen Freiheitspartei ebenso wie in Sachsen, Thüringen, Baden, Mecklenburg-Schwerin, in H a m burg und in Bremen aufgelöst worden. In Bayern hingegen, wo sie am stärksten war und ihre Zentrale lag, war bis dahin nichts geschehen. Allein in München gab der mit den Verhältnissen wohl vertraute Staatssekretär H a m m ihre Stärke mit 40 000 an. „Zweifellos . . . müßte die Partei, wenn überhaupt, so vor allem in Bayern aufgelöst werden", schloß H a m m nicht allein aus ihrer stark wachsenden Mitgliederzahl: „Ihr Führer, Adolf Hitler, ist der gefeiertste Redner in München, dessen persönlicher Einfluß auch stark in gebildete Kreise, besonders auch des Offizierskorps, auch der Wirtschaft; reicht". 16 Die Aufzeichnung des Staatssekretärs schafft vollständige Klarheit darüber, daß die Reichskanzlei unter seiner Leitung zu diesem Zeitpunkt die Beseitigung der nationalsozialistischen Gefahr und der republikfeindlichen Kräfte in Bayern für das dringlichste Erfordernis 16
Ebda. Vgl. auch die über die frühen Münchener Verhältnisse Hitlers und der
N S D A P Auskunft gebende, oben genannte Literatur.
Konflikte
und Krise
1923
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hielt. Nach den voraufgegangenen konfliktreichen Jahren erschien es problematisch, den zu erwartenden Widerstand der auf ihre föderativen Rechte und ihre Eigenständigkeit bedachten bayerischen Regierung gegen eine von Reichs wegen betriebene Veränderung der innerbayerischen Verhältnisse zu überwinden. „Bei normalen politischen Verhältnissen" hätte sich die bayerische Regierung, wie sie H a m m sicherlich in kompetenter Weise einschätzte, wohl zur Auflösung der N S D A P entschlossen, zumal die Bayerische Volkspartei jede Beziehung zu ihr aufgegeben und ein Bruch der Nationalsozialisten mit der Mittelpartei, den bayerischen Deutschnationalen, sich abzuzeichnen begann. Unter den derzeitigen Gegebenheiten vermochte sich die Staatsregierung jedoch zu einem solchen Entschluß nicht aufzuraffen. Ihr Ansehen und ihre Stellung im Lande beruhten nach dem Rücktritt Graf Lerchenfelds in noch höherem Maße als zuvor auf ihren prononziert formulierten föderalistischen Grundsätzen, die sie immer nur zum Hüter des Bestehenden befähigte und in den krisenhaften Verhältnissen dieses Jahres erneut in ein Dilemma trieb. Dem Reichsinnenminister blieb theoretisch zwar die Möglichkeit, auf das Republikschutzgesetz zurückzugreifen, aber doch nur ein komplizierter Weg zur Anwendung seiner Bestimmungen. Er konnte die Münchener Regierung um eine Auflösung der N S D A P ersuchen.17 Doch die Erfolgsaussichten blieben bei eingehender Prüfung der Lage im letzten doch nur gering. Glaubten sich die bayerischen Minister außerstande, diesem Ersuchen zu entsprechen, und teilten sie dies dem Reichsminister des Innern mit, so konnte nur noch der Staatsgerichtshof angerufen werden, in dem die Entscheidung an den süddeutschen Senat fallen mußte, dessen Urteil sich keineswegs im voraus berechnen ließ. Aber auch dann, wenn der Staatsgerichtshof sich zugunsten einer Auflösung der N S D A P entschied, blieb die Lage der bayerischen Regierung prekär und der Gang der Ausführung ungewiß. H a m m glaubte, daß „die an sich der nationalsozialistischen Partei feindlichen parlamentarischen Parteien die Auflösung auf Grund des Schutzgesetzes schwerlich decken" würden. Seine ebenso realistischen wie sorgfältigen Überlegungen befaßten sich aber auch mit den Schwierigkeiten, die von der politisch beeinflußten Justizpraxis innerhalb Bayerns zu gewärtigen waren. Die Erfahrungen der letzten Vergangenheit ließen nur pessimistische Erwartungen zu. Bereits die Vernehmung, die der Untersuchungsrichter des Staatsgerichtshofs im Zuge des Ver17
G e m ä ß § 17 des Republikschutzgesetzes.
412
11. Rcicbspolitik
und
Föderalismus
fahrens gegen Korvettenkapitän Ehrhardt in Bayern vorzunehmen beabsichtigte, seien auf ein dringendes Ersuchen der bayerischen Regierung verschoben worden. Anregungen, mit denen das Reichsjustizministerium bayerischen Staatsanwälten empfohlen hatte, Vergehen gegen das Republikschutzgesetz zu verfolgen, seien in Fällen, in denen es sich um Beleidigungen des Reichspräsidenten und von Reichsministern handelte, wiederholt mit der Begründung abgelehnt worden, daß diese Beleidigungen persönlicher Art gewesen seien und vom Gesetz nicht erfaßt würden. Bei der Anwendung des Schutzgesetzes innerhalb Bayerns mußte infolgedessen stets mit zögernden und schleppenden und von Widerständen gehemmten Verfahrensweisen gerechnet werden. Unter diesen Umständen stand der Reichsregierung nur der Weg offen, sich um eine schrittweise allgemeine Einschränkung und Beseitigung radikaler Sonderorganisationen der äußersten Rechten wie der äußersten Linken auf dem Gesetzes- und Verordnungswege und im ständigen Einvernehmen mit den Ländern zu bemühen. Diplomatie und Verhandlungsgeschick mußten auf dem Gebiet der inneren Politik nicht minder behutsam vorgehen als auf dem der äußeren. Ehe die bayerische Regierung veranlaßt werden konnte, die rechtsradikalen Gruppen in Bayern zu beseitigen, sollten die kommunistischen in Sachsen und Thüringen zum Schweigen gebracht und der Albtraum des Linksdrucks vollkommen ausgelöscht werden. Das Ziel, das erreicht werden sollte und das in dem Lichte der Misere dieses Jahres im vollen U m f a n g verständlich und gerechtfertigt erscheint, bestand darin, „die Staatsordnung nach beiden Seiten zu festigen und gegen gewaltsame Bedrohungen und gefährliche Unterwühlungen zu schützen". 18 Mit mutiger Beherztheit wagte es der Staatssekretär in der Reichskanzlei, in einem Augenblick, da nach der französischen Besetzung des Ruhrgebietes die außenpolitische, die wirtschaftliche und innerpolitische Krise des Reiches ihrem H ö hepunkt zustrebte, der unheilvollen Politik der mannigfach abgestuften und abgewandelten Duldung radikaler quasimilitärischer, teilweise bewaffneter Verbände entschlossen ein Ende zu setzen und auf die längst zweifelhaft gewordenen H i l f e n revolutionärer oder gegenrevolutionärer Organisationen ein f ü r alle M a l e zu verzichten. In der umfangreichen Aufzeichnung H a m m s heißt es: „Der Schutz der Rechtsordnung ist Sache des Staates; er bedarf dazu weder Sturmabteilungen' der äußersten Rechten noch proletarischer Schutzvereinigungen' der äußersten Linken. Die Staatsgewalt selbst muß wieder stark genug sein, um 18
Aufzeichnung H a m m s vom
15.4.1923.
Konflikte und Krise 1923
413
mit H i l f e der ihr dazu jederzeit verpflichteten Bürger die O r d n u n g aufrecht zu erhalten. Vereinigungen, die sich den K a m p f zur A u f g a b e stellen oder die auch gegen den W i l l e n der B e h ö r d e n in die V e r w a l t u n g einzugreifen beabsichtigen, müssen d e r Auflösung unterliegen". Dies w a r nach den leidvollen E r f a h r u n g e n der vergangenen M o n a t e die einzige staats- und verfassungspolitisch richtige Konsequenz. Diesen A u f g a b e n k o n n t e n nach Meinung des Staatssekretärs die bestehenden Gesetze nicht genügen, da sich lediglich militärische einigungen
nur
mit
behördlicher
Genehmigung
bilden
durften,
Verim
L a u f e der Zeit jedoch die G r e n z e n zwischen quasimilitärischen F o r m a tionen und radikalen politischen Organisationen unscharf
geworden
waren und zu verschwimmen begannen. H a m m riet daher zu einer Verordnung, die das V e r b o t aller Vereinigungen ermöglichte, die V o l l zugshandlungen vornahmen, welche in den gesetzlichen A u f g a b e n b e reich von Behörden
fielen,
oder die die Behörden in der Ausübung
ihrer T ä t i g k e i t behinderten. D i e Zuständigkeit für die solcher V e r b o t e
sollte nicht
auf
die obersten
Verhängung
Landesbehörden
be-
schränkt bleiben, sondern auch der Reichsregierung übertragen werden. E i n e Auflösung und Beseitigung bestimmter Parteien sei indessen nicht ratsam. H a m m w a r sich b e w u ß t , „ d a ß die Auflösung einer Partei immer nur ein äußeres M i t t e l ist, das ohne einen gründlichen W a n d e l in der D e n k w e i s e der Menschen nicht zum Ziele führen kann, vielmehr in den meisten F ä l l e n der unterdrückten P a r t e i einen neuen A u f t r i e b gibt. Als d a s richtige V e r f a h r e n wird die Reichsregierung deshalb sich und nach M a ß g a b e ihres Einflusses auch den Landesregierungen
das
[ Z i e l ] vorstecken müssen, d a ß da, w o sich innerhalb bestehender P a r teien als allgemeiner Gesinnungsgemeinschaften Sonderbildungen
von
unmittelbarer Gefährlichkeit zeigen, diese mit aller Schärfe . . . ausgetilgt werden". 1 9 Vielleicht drückte sich hierin die H o f f n u n g aus, d a ß auch die Rechtsparteien durch energische und konsequente E x s t i r p a t i o n der in ihnen zutage tretenden „ S o n d e r b i l d u n g e n " a u f den W e g der Staats- und Verfassungstreue gezwungen werden k ö n n t e n . Doch ein solches regulierendes E i n g r e i f e n in das L e b e n radikaler Parteien setzte als erstes ein spannungsloses Z u s a m m e n w i r k e n und
Länderregierungen
voraus.
Zunächst
von
suchte
die
Reichsregierung Reichsführung
einen A n f a n g in dem vorsichtigen Bemühen, die Zustimmung B a y e r n s für die erstrebte V e r o r d n u n g mit dem A r g u m e n t zu gewinnen, d a ß sie mit ihr eine zweckgerechte W a f f e gegen kommunistische U m t r i e b e 19
Ebda.
414
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
und zur Auflösung der proletarischen Hundertschaften in Thüringen und Sachsen erhalte. 20 Die noch größere Besorgnisse hervorrufenden Erscheinungen in Bayern blieben aus diplomatischer Vorsicht einstweilen unerwähnt und unbeachtet. Intern herrschte jedoch Klarheit. Auch vom Reichsinnenministerium unter Oeser läßt sich dies sagen. Die Zulassung mehrtägiger nationalsozialistischer Massenversammlungen in München Ende Januar 1923 wurde als „ein bedauerliches Zurückweichen der bayerischen Staatsgewalt vor Hitler" erkannt und ihm die rasch zunehmende Ausbreitung kommunistisch beeinflußter Arbeiterwehren in Mitteldeutschland wesentlich zugeschrieben. 21 D a ß dort „das bisher ungehemmte, scharf gegen die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform und gegen die einheitliche Ruhrfront gerichtete Auftreten der Nationalsozialisten in Bayern" Mißstimmungen hervorrief, verwunderte nicht. Bedrohlich fand der Reichsinnenminister, „daß in Ländern wie Sachsen und Thüringen ein Einschreiten gegen die linksradikale Bewegung erschwert ist, solange die Bayerische Regierung sich nicht zu einem Vorgehen gegen die Nationalsozialisten entschließt, von denen zweifellos eine bedenkliche Gefährdung der innerpolitischen Ruhe in Deutschland ausgeht". 22 Der bayerische Innenminister hingegen ließ sich in seiner Tolerierungspolitik gegenüber der „vaterländischen Bewegung", die er mit ähnlicher Beharrlichkeit, ebensolchen Illusionen und demselben Mißerfolg betrieb wie mancher andere Politiker nach ihm, zu Aussöhnungsversuchen mit den Nationalsozialisten verleiten. Er gehörte zu jenen, die diese „vaterländische Bewegung" im Jahre des Ruhrwiderstandes und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs als ganzheitliche Einheit ansahen und „ihrem innersten Kern nach eine gesunde, natürliche und deshalb begrüßenswerte Erscheinung" fanden 23 , wobei sie vergaßen, daß das N a türliche nicht auch schon von vornherein gesund zu sein braucht und daß ganz gewiß sehr vieles in dieser Bewegung von vielen natürlichen 20
Dies geht aus einer mit offensichtlich großer Sorgfalt abgefaßten „Aufzeichnung"
hervor. Es ist ein nicht datiertes, mit einer nicht zu entziffernden Paraphe
ver-
sehenes Aktenstück mit einzelnen Verbesserungen in der Handschrift H a m m s . Seine Verwendung und sein Zweck haben sich nicht mit Sicherheit ermitteln lassen. Aus dem Inhalt und den gewählten Wendungen läßt sich jedoch unschwer schließen, daß der Text dieser Aufzeichnung für die bayerische Regierung
b z w . den
Vertreter
Bayerns in Berlin bestimmt war. BA, R 43 1/2738. 21
Oeser an Staatssekretär H a m m , 2 1 . 4 . 1923, BA, R 43 1/2738.
22
Ebda.
23
Wörtliche Wiedergabe
einer Rede Schweyers BStZ
„Staatsregierung und Vaterländische Verbände".
Nr.
95 v o m
25.4.1923,
Konflikte
und Krise
1923
415
Kräften des deutschen Volkes, die einen keineswegs geringeren Anspruch erhoben, als „gesund" zu gelten, keineswegs begrüßt, sondern mit Verdruß beobachtet wurde. Dabei bewertete die Reichsleitung die Entwicklung im mitteldeutschen Raum als höchst besorgniserregende, akute Gefährdung. Die Informationen, die ihr vorlagen, ließen keinen Zweifel, daß der im Geheimen betriebene Aufbau proletarischer Selbstschutzorganisationen bereits auf Berliner Großbetriebe übergriff, 24 daß vor allem in den Industrieorten Thüringens die „proletarischen Hundertschaften" allmählich unter die Herrschaft der K P D und der linkssozialistischen revolutionären Kräfte kamen und im gleichen Maße, in dem dies geschah, offen und unter staatlichem Schutz hervorzutreten begannen. Seit Februar 1923 bestanden sie, von einzelnen kleineren Ortschaften abgesehen, im ganzen Lande, wenn auch der innere Klärungsprozeß und der stille Kampf um die Führung nirgends so weit gediehen war wie in Gotha, wo sie im offenen Umzug mit Waffen durch die Straßen marschierten25. Wo der Einfluß der Mehrheitssozialdemokraten überwog, herrschte der Eindruck, als entstünden republikanische Schutzorganisationen, wie es ähnlich auch im Anfangsstadium der Einwohnerwehren erschien. Doch vielerorten befand sich die Entwicklung im raschen Fluß, wobei sich das Ziel einer organisatorischen Intensivierung, dem sie zustrebte, mit starker politischer Vereinseitigung verknüpfte. Während in den überwiegend landwirtschaftlichen Gebieten Nordost- und Südwestthüringens, aber auch in den Industriestädten dieser Gegenden die Sozialdemokratie das Heft in der H a n d behielt, gelangten im Südosten Vereinigte Sozialdemokraten und Kommunisten zur Einigung, die als nächstes zur Folge hatte, daß die Bewegung der Bildung proletarischer Hundertschaften im angrenzenden bayerischen Gebiet auf die Gegend von Kulmbach übergriff. Im Zentrum und im Norden des Landes überwog der kommunistische Einfluß, der im preußischen Erfurt, in Schmalkalden, Sonneberg, Suhl und Zella-Mehlis Schwerpunkte besaß, in denen sich der kommunistische Versammlungsterror bereits gegen die SPD richtete. 2 ' 21 Geheime Lageberichte des Preußischen Staatskommissars für öffentliche Ordnung vom 18. und vom 2 3 . 4 . 1 9 2 3 , vervielf. BA, R 43 1/2738. 25 Mitteilung des Reichskommissars für Überwachung der öffentlichen Ordnung, Kuenzer, an den Reidisinnenminister vom 26. 4.1923, Absdir. für den Staatssekretär in der Reichskanzlei BA, R 43 1/2738. 20 Ausführlicher Lagebericht des Reidiskommissars für Überwachung der öffentlichen Ordnung vom 23. 4. 1923, BA, R 43 1/2738.
416
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Im Vergleich zu diesen Verhältnissen lauteten die Nachrichten aus Sachsen keineswegs gefährlich. Hier fehlte es den Arbeiterhundertschaften einstweilen an nennenswerter Bewaffnung. Bedenklich stimmte die Lage in den Industriestädten Chemnitz, Plauen und Zwickau, wo die Hundertschaften zu Hilfspolizeidiensten herangezogen wurden und zumindest teilweise über Waffen verfügten 27 . Während Preußen daran ging, die proletarischen Hundertschaften aufgrund des Republikschutzgesetzes ebenso aufzulösen und zu verbieten 28 wie die N S D A P , beobachtete die sächsische Regierung, die sich nach der Wiedervereinigung der Mehrheitssozialdemokraten mit den Unabhängigen aufgrund der Stärkeverhältnisse im Landtag nur noch mit kommunistischer Unterstützung zu halten vermochte 29 , eine recht wohlwollende Neutralität. Angesichts der Entwicklung in Bayern wandelte sie sich in rückhaltlose Hilfe, die die sächsische Regierung nach außen hin mit energischen Angriffen gegen den bayerischen Innenminister zu rechtfertigen versuchte30. Nichtsdestotrotz war Reichsinnenminister Oeser noch im Frühjahr 1923 fest entschlossen, nicht einzuschreiten, „solange nicht gegen Bayern energisch vorgegangen" wurde 31 .
Reichswehr
und preußische
Exekutive
Die wirkliche Macht lag jedoch mehr als zuvor bei der Reichswehr, nächst ihr bei der preußischen Exekutive. Zwischen beiden bahnte sich 2 7 Geheimer Bericht Reidiskommissar Kuenzers an den Staatssekretär Reichskanzlei vom 9. 5 . 1 9 2 3 , BA, R 43 1/2738.
in der
2 8 Erlaß des Preußischen Ministers des Innern vom 12. 5.1923, Abdruck für die Reichskanzlei BA, R 43 1/2738. 2 9 Dem sächsischen Landtag gehörten 40 Abgeordnete der Vereinigten Sozialdemokratie, 8 der Deutschen Demokratischen Partei, 19 der Deutschen Volkspartei, 19 Deutschnationale und 10 Kommunisten an. Mithin war eine Regierungsbildung entweder nur mit Unterstützung der Kommunisten oder auf der Grundlage einer großen Koalition möglich, für die angesichts der Verhältnisse in der wiedervereinigten Sozialdemokratie die Voraussetzung nicht gegeben war. s o In einem Reditfertigungsschreiben, das das Sächsische Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten am 10. 7. 1923 an den Reichsinnenminister richtete, wird die Behauptung aufgestellt, daß Schweyer mehrfach, u. a. am 1. Mai 1923 aus den Reihen der Bünde „Oberland" und „Blücher" und der NSDAP eine „Notpolizei" gebildet habe. Abschr. BA, R 43 1/2738. 31 Ein handschriftl. Vermerk Hamms auf dem oben erwähnten Bericht des Reichskommissars Kuenzer vom 26. 4. 1923 lautet: „R.Min.d.I. wird nichts tun, solange nicht gegen Bayern (Nat.Soz.) energisch vorgegangen wird." („nichts" von Hamm unterstrichen).
Konflikte
und Krise
417
1923
ein engeres Zusammenwirken an, das auch eine einheitliche Behandlung der Selbstschutzformationen einbezog. Schon im Sommer 1922 zeigte sich der Chef der Heeresleitung fest entschlossen, ihnen ein Ende zu bereiten 32 und das Waffenmonopol der Reichswehr endgültig zu sichern, wozu er der entschiedenen Mitwirkung der größeren Länder bedurfte. Reichskanzler Cuno gewährte diesem Vorhaben auch während der Ruhrkrise seine Unterstützung und bemühte sich, zwischen Preußen und der Reichswehr eine Politik zur gemeinsamen Bekämpfung „der Ruhestörer von rechts und links" zu vereinbaren 33 . Dies war wohl als Konzession an den Kurs gedacht, den die preußische Regierung in Übereinstimmung mit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion verfolgte. Die Reichsregierung hatte sich freilich auf das unsichere Abenteuer des passiven Ruhrwiderstandes eingelassen, der mehr noch als die oberschlesischen K ä m p f e von 1921 die Belebung und Ausbreitung halbmilitärischer Organisationen und Sabotagegruppen zur Folge hatte. Cuno setzte hierdurch selbst seiner H a n d lungsfreiheit enge Schranken und konnte Preußen, von dem immer noch erforderlichen „Knüppel im Sack" in den östlichen Gebieten abgesehen, nur eine langsame Lösung von diesen Organisationen, keine „schroffe Trennung" 3 4 in Aussicht stellen. Die von beiden Seiten gewünschte Verhandlung führte zu mehreren Abmachungen, schließlich zum Abschluß des bedeutsamen Abkommens vom 30. Juni 1923 zwischen dem Reichswehrminister und dem preußischen Innenminister, das innerhalb der preußischen Provinzen in allen Fragen des Landesschutzes für die Zukunft eine ständige Zusammenarbeit zwischen den Wehrkreiskommandos und den Oberpräsidenten unter Kontrolle der Zentralbehörden festlegte und hierfür eine Reihe von Richtlinien aufstellte 35 . Als wesentliches Ergebnis dieser Vereinbarungen verdient das Einvernehmen der Reichswehr mit den zuständigen Verwaltungsbehörden Preußens festgehalten zu werden, das bis 1932 nicht nur tiefgreifende und anhaltende Spannungen ausschloß und dem Reichswehrministerium eine zielbewußte Verteidigungsplanung ohne heimliche Überwachung und Widerstände der Landesbehörden ermöglichte. Nicht weniger wichtig war der von bei32
Vgl.
das
Schreiben
Seeckts a n
Severing
vom
19. 8.
1922, Severing,
Mein
Lebensweg I, S. 365; auch O . - E . S c h ü d d e k o p f , H e e r u n d R e p u b l i k , S. 132 f. 33
Severing, a . a . O . , S. 389 ff.
34
a. a. O . , S. 390.
35
Severing, Mein L e b e n s w e g I I , S. 129 ff.; vgl. S d i ü d d e k o p f , H e e r u n d R e p u b l i k ,
S. 144 f. 27
Schulz I
418
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
den Vertragspartnern bekräftigte Grundsatz, niemals „Organisationen irgendwelcher A r t " mit militärischen oder polizeilichen Befugnissen auszustatten. Das preußische Innenministerium tolerierte fortan die Rüstungspolitik des Reichswehrministeriums und gewährte ihm in verwaltungstechnischer Hinsicht jegliche Unterstützung; gleichzeitig gewann es mit seiner Verwaltungshilfe auf lange Sicht ein Mittel, die Reichswehr in eine engere Beziehung zum neuen Preußen zu bringen, auf die sie nicht mehr verzichten konnte. Diese für die künftige Stellung der Reichsgewalt außerordentlich wichtige Musterkonvention ließ allerdings die Regelung der Politik gegenüber den Privatarmeen der politischen Parteien jetzt wie auch später ganz und gar offen. Sollten einmal trotz der vereinbarten Grundsätze Kontroversen entstehen, so konnte dies wohl zuerst und am leichtesten in Verbindung mit dieser ungeklärten Frage geschehen. Die Reichswehr vermochte dieses Abkommen des Chefs der Heeresleitung allerdings nicht einzuhalten, ohne Opfer zu bringen. In den eigenen Reihen wuchs das Mißvergnügen über die Politik Seeckts; und mancher Offizier, der den Abschied nahm 3 ', schloß sich den nationalistischen geheimen Armeen an. Der passive Widerstand der Regierung Cuno und der Guerilla-Krieg im Ruhrgebiet begünstigten diese Entwicklung in ungeahnter Weise. Die nationalistischen Wehrverbände aller Art erlebten den größten und folgenschwersten Auftrieb, der aus der Geschichte der Weimarer Republik nicht mehr fortzudenken ist. Viele Seiten nahmen an ihrem Gedeihen Anteil. Der alte Führungskreis der Alldeutschen um den Justizrat Heinrich Claß nutzte die Gelegenheit, als sich Kapitän Ehrhardt von Pittinger trennte, sorgte für die Finanzierung seiner Verbände und ermöglichte ihm die Flucht aus der Leipziger Untersuchungshaft. 37 Claß gewann den Befehlshaber im Wehrkreis Münster, General Freiherr von Watter 38 , und bemühte sich 3 a Audi der Abschied, den Hauptmann Röhm 1923 zweimal erbat — nachdem er aus Münchcn strafversetzt und dann in das Reichswehrministerium abkommandiert worden war — und im Herbst 1923 erhielt, muß hier erwähnt werden. Mit Röhm schied einer der einflußreichsten Verbindungsleute zu den süddeutschen Wehrverbänden aus der Reichswehr aus. Röhm schuf sich dann in der „Reichskriegsflagge" Anfang Oktober eine eigene Organisation, die er Hitler zuführte und die später in der SA aufging. Vgl. die Aussage Röhms im Hitler-Prozeß: Der Hitler-Prozeß vor dem Volksgericht in München, München 1924, 1. Teil, S. 80 f. 37 Alfred Krück, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890—1939 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 3), Wiesbaden 1954, S. 138. 3 8 a . a . O . , S. 142.
Konflikte
und Krise 1923
419
auch um ein Bündnis mit Seeckt, der ihm jedoch durch seinen Beauftragten Schleicher im Mai 1923 die ebenso kühle wie entschiedene Absage erteilen ließ: Das Reichswehrministerium könne sich nicht mit verfassungswidrigen Plänen abgeben; es erwäge „nur die legale Diktatur, wie sie der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung vorsehe"39. Mit diesem Ziel einer Diktatur auf Zeit etablierte sich die Reichswehrführung inmitten der Krise als mächtigster politischer Faktor, der als einziger jenen Ländern, die das Reich „auseinanderregierten", entgegenzuwirken vermochte, aber auch den verbreiteten geheimen Kräften, die zur „Vorbereitung einer umfassenden Reichsreform"'' 0 eine militärisch begründete und gesicherte Reichsdiktatur anstrebten. Vielfältige Konflikte lagen in der Luft und konnten von Imponderabilien abhängen; aber auch die Diktatur stand bevor. Der Auftrieb der nationalistischen Rechtsorganisationen seit Beginn der Ruhrkrise und der separatistischen Umtriebe im linksrheinischen Gebiet, die in der um das Schicksal der P f a l z fürchtenden bayerischen Bevölkerung Empörung auslösten, legte der Regierung Knilling noch stärkere Fesseln an als der voraufgegangenen, so daß sie schließlich als einzige Landesregierung der Aufgabe des Widerstandes im Ruhrgebiet widerriet. Sie mußte einer heftig bewegten Volksmeinung Rechnung tragen, die zwar kaum über das Weichbild Münchens hinausreichte, dort aber von den rechtsradikalen Organisationen beeinflußt wurde, die jederzeit in starken, teilweise auch bewaffneten Demonstrationen das Regiment über die Straße führten und schon einmal, am l . M a i 1923, das Aufgebot der bayerischen Reichswehr und Polizei notwendig gemacht hatten. Eine Verschärfung der Spannung zum Reich trat mit der Bildung des Kabinetts der großen Koalition unter Stresemann ein. Als der Reichskanzler Ende August in Bayern weilte und in Mittenwald mit Knilling und Held zusammentraf, kam es bereits zu erregten Auseinandersetzungen. Die Aufnahme seines Kabinetts in der bayerischen Öffentlichkeit war, wie Stresemann später knapp und klar feststellte, „eisig kühl, wenn nicht völlig zurückweisend". Und der bayerische Ministerpräsident erklärte drei Wochen später auf dem Bauerntag in Tuntenhausen, er habe dem Reichskanzler offen gesagt, daß seiner Regierung nicht das gleiche Vertrauen entgegengebracht werden könne wie dem Kabinett Cuno. Wenn es auch scheint, daß im 39 40
27»
Zit. von Krück ohne genaue Datierung, a. a. O., S. 144. a. a. O., S. 136.
420
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Verlauf der Gespräche ein modus vivendi gefunden wurde, so schied der Reichskanzler doch nicht ohne Befürchtungen, die er bei seiner Abreise in dem für seine Umgebung, vielleicht aber auch für einen größeren Kreis bestimmten Worte ausdrückte, wenn es „hart auf hart" gehe, müsse er wissen, daß alle seine Freunde hinter ihm stünden. Die wenig hoffnungsvolle Lage in Bayern hatte er wohl erkannt, und auch die Not Knillings war ihm nicht verborgen geblieben, der „glaubte, die Vaterländischen Verbände zu beherrschen, und in Wirklichkeit beherrschten sie ihn". 41 Als sich im September die Reichsregierung mit dem passiven Widerstand im besetzten Gebiet befaßte, den der preußische Ministerpräsident, ohne politische Gegenleistungen abzuwarten, aufzugeben empfahl, waren es der bayerische Gesandte und der bayerische Ministerrat, die für einen solchen Schritt „schwerste innerpolitische Folgen" voraussagten, einer solchen „Kapitulation" auf das strikteste widerrieten und nicht einmal von Verhandlungen mit Frankreich etwas wissen wollten.42 Sie nahmen die gleiche Haltung ein wie die Rechtspresse und die rechte Opposition. Der Reichskanzler hatte indessen seit einiger Zeit vorgebaut und Anlehnung bei der Reichswehr gesucht43, die ihm, angesichts unüberbrückbar erscheinender Gegensätze zu Bayern, die durch die neu auflebende Aktivität der Kommunisten in Mitteldeutschland, Thüringen, Sachsen und Hamburg — „wo überall in den Parlamenten zwar eine proletarische Mehrheit, aber bürgerliche Koalitionen mit den Sozialdemokraten bestanden" 44 — erheblich verschlimmert wurden, der sicherste Garant der Reichseinheit zu sein schien und nun in eben dem Sinne in das Spiel der innerpolitischen Mächte einzurücken begann, den Groener und Schleicher 1919 gleichsam als das Vermächtnis der letzten Obersten Heeresleitung formuliert hatten: als machtpolitisches Instrument eines deutschen Einheitsstaates nach altpreußischem Vorbild. Seeckt als Chef der Heeresleitung wuchs zu einem Machthaber heran, der mit kühlem Selbstbewußtsein sagen konnte: „Die Reichswehr steht hinter mir!" 4 5 Schon während der 41
Stresemann I, S. 99 f.
"
a. a. O., S. 123 f.
43
Rabenau, Seeckt, S . 3 3 5 f . ; Geßler, Reichswehr und Politik, S . 2 5 6 ; Stresemann I,
S. 100. 44
Als aufschlußreiches
Zeugnis
für die kommunistischen
Pläne zitiert
Reithswehr und Politik, S. 2 5 4 , einen Bericht Litwinows in der
Geßler,
„Internationale"
vom Januar 1924. Vgl. auch Hugh Seton-Watson, The Pattern of Communist Revolution, London 1960, S. 102 und die dort genannte Literatur. «
Rabenau, Seeckt, S. 342.
Konflikte
und Krise
1923
421
ersten Monate des passiven Widerstandes hatte er zu militärischen und zivilen Persönlichkeiten der Rechten politische Fäden geknüpft und mit Männern wie Ludendorff auch Direktoriums-Pläne erörtert," die er der zunächst erwogenen D i k t a t u r eines einzelnen Militärs sehr bald vorzuziehen begann. D a ß Seeckt während dieses schweren Jahres zielbewußt nach der Macht strebte, ist bekannt. Die Pläne dieses Mannes beruhten jedoch auf der Voraussetzung einer zuverlässigen Einheit des militärischen Machtinstrumentes in seinen Händen. Der Satz, daß Reichswehr nicht auf Reichswehr schieße, mit dem Seeckt seine Haltung zu Beginn des Kapp-Putsches begründete, war mehr noch ein ethischer K o d e x als nur Erfahrungssatz. Infolgedessen mußte Seeckt in seinen Absichten vorsichtig werden, sobald er Klarheit darüber besaß, daß der latente Gärungsprozeß
innerhalb der bayerischen
Organisationen
zu einer
„Idealkonkurrenz" der Bestrebungen führte, die in München ebensowohl wie in Berlin verfolgt wurden, was nicht ohne Auswirkungen auf die Haltung
der bayerischen Reichswehr blieb. D i e
wirkliche
bayerische Konkurrenz ging von den Kampfverbänden aus, mit denen Seeckt über H i t l e r ebenfalls in Beziehungen trat, ohne an eine Uberwindung der Kluft zu denken, die ihn von dem Führer der Nationalsozialisten trennte. 47 Hierbei hatte sich ergeben, daß die Stärke der K a m p f v e r b ä n d e allein in Hinblick auf die in ihrem Besitz befindlichen Waffen die der bayerischen Reichswehrdivision übertraf. D e r bayerische Landeskommandant v. Lossow hatte schon während der Sommermonate 1923 Seeckt gegenüber zum Ausdruck gebracht, daß er es auf einen Streitfall mit den Kampfverbänden nicht ankommen lassen wollte, so daß er indirekt in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen geriet, in dem der Konflikt des Herbstes vorgezeichnet war. Die Beziehungen zwischen dem C h e f der Heeresleitung und dem Landeskommandanten
nahmen
infolgedessen
bereits
Anfang
Mai
einen
solchen Charakter an, daß Lossow zu diesem Zeitpunkt seinen Rücktritt anbot. Ausnahmezustand
im Reich. Generalstaatskommissariat
in
Bayern
In den Wochen, da die Aufgabe des Widerstands an der R u h r aus finanziellen und währungspolitischen Gründen unumgänglich erschien, "
a . a . O . , S. 330 f.
"
Vgl. hierzu
die zweifellos
durch Zeit
und Umstände
beeinflußte Darstellung von Rabenau, a. a. O., S. 347 ff.
der
Veröffentlichung
422
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
verschärfte sich das Verhältnis zu Bayern in zunehmendem Maße, so daß die Reichsregierung die Gefahr einer Separation ernstlich zu fürchten begann. Stresemann ließ nichts unversucht, um einen Ausgleich herbeizuführen. Auch der alte Generalfeldmarschall v. Hindenburg versuchte während eines Erholungsaufenthaltes in Oberbayern, auf die Führer der Vaterländischen Verbände einzuwirken. Und schließlich entsandte der Reichskanzler einen Reichstagsabgeordneten seiner Partei nach München, um über einige Mittelsmänner dortige katholische Kreise, namentlich Kardinal Faulhaber für eine Unterstützung der Politik der Reichsregierung zu gewinnen. Der Münchener Kardinal benutzte diese Gelegenheit, um sich für größere Konzessionen an jene Länder zu verwenden, die sich „föderalistisch orientieren" wollten. 48 Als dann die Reidisregierung ihren Entschluß, den Ruhrkampf abzubrechen, am 25. September im auswärtigen Ausschuß des Reichsrats bekannt gab, antwortete die bayerische Regierung sofort und überraschend unter Hinweis auf drohende Gefahren nationalsozialistischer Demonstrationen und Gewaltakte, die sie verhindern wolle, mit der Verhängung eines auf den Artikel 48 Absatz 4 der Reichsverfassung gestützten Ausnahmezustandes und der Übertragung der gesamten vollziehenden Gewalt auf einen Generalstaatskommissar 4 ". Dieses Amt vertraute sie Kahr an. Hierauf trat das Reichskabinett unter Beteiligung des Chefs der Heeresleitung zusammen und sah nun keine andere Wahl, als den militärischen Ausnahmezustand für das ganze Reichsgebiet zu erklären. Eine Verordnung des Reichspräsidenten hierzu, die am 26. September erging, übertrug die vollziehende Gewalt ebenfalls auf einen Zivilisten, den Reichswehrminister, der sie seinerseits auf Militärbefehlshaber delegieren konnte und im Einvernehmen mit dem Reichsinnenminister befugt war, auf dem Gebiet der vollziehenden Gewalt Regierungskommissare zu ernennen. Hierdurch versuchte die Reichsregierung, die Handlungsfreiheit des Chefs der Heeresleitung zu begrenzen, wenn sie schon der Tatsache Rechnung tragen mußte, „daß als tatsächlicher Inhaber der Macht dahinter der General v. Seeckt 48
Stresemann I, S. 128 f.
49
Verordnung
über
einstweilige
Maßnahmen
zum
Schutze
und zur
Wieder-
herstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vom 26. September 1923, abgedruckt bei Poetzsch, J b ö R
XIII/1925,
S. 92 f. Vgl. hierzu die
staatsrechtliche
Untersuchung von Karl Rothenbücher, Der Streit zwischen Bayern und dem Reich um Art. 48 R V und die Inpflichtnahme der 7. Division im Herbst 1923: Archiv d. öffentl. Rechts, 7. Bd./1924, S. 71.
Konflikte
und Krise 1923
423
s t a n d " , der schon sechzehn T a g e vorher durch einen E r l a ß die T r u p p e auf innere K ä m p f e vorbereitet hatte 5 0 . Dies brachte den bayerischen Ministerpräsidenten dazu, dem Reichskanzler ausführlich die G r ü n d e darzulegen, die seine Regierung zur Verhängung des Ausnahmezustandes veranlaßt hätten, und die Verhältnisse in B a y e r n in schwärzesten Farben zu schildern, die durch die M a ß n a h m e n der Reichsregierung noch mehr verwirrt w o r d e n seien, d a es ungewiß sei, ob sich K a h r u n d L o s s o w auf alle F ä l l e verständigen könnten. 5 1 K n i l l i n g wollte vor allem die Ernennung eines Z i v i l k o m missars f ü r Bayern verhindern, die indessen, wie Stresemann versicherte, seitens der Reichsregierung gar nicht in Aussicht genommen wurde. D i e bayerische Regierung verfolgte nach wie v o r den seit eh und je beobachteten G r u n d s a t z , freie H a n d zu behalten u n d zu erreichen, d a ß sich die Reichsregierung aus der bayerischen Politik heraushielt. D a ß die v o m einstigen K r o n p r i n z e n Rupprecht befürwortete und unterstützte Ernennung K a h r s z u m Generalstaatskommissar hierf ü r der geeignete oder auch nur vertretbare Weg w a r , der innerbayerischen Schwierigkeiten in einer f ü r die Reichsregierung annehmbaren Weise H e r r zu werden, wurde freilich in Berlin nicht zu Unrecht bezweifelt. K a h r bemühte sich sofort, die Rechtsorganisationen zusammenzufassen u n d seiner K o n t r o l l e unterzuordnen. D a s Eintreten Rupprechts von Wittelsbach zu seinen Gunsten, der sich sogar unmittelbar an die bayerischen Offiziersverbände wandte, ließ diesen Bemühungen auch zunächst einigen E r f o l g zuteil werden. K a h r rief E h r h a r d t nach B a y e r n zurück, den er mit dem K o m m a n d o über den Grenzschutz an der thüringischen und sächsischen G r e n z e betraute, knüpfte auch zu Pöhner wieder F ä d e n , dem er a n f a n g s seine Stellvertretung und, als die Ermächtigung des bayerischen Ministerrats hierzu auf sich warten ließ, eine V e r w e n d u n g als Zivilkommissar in Sachsen antrug, die den ehemaligen Polizeipräsidenten indessen nicht interessierte, d a er entschlossen w a r , sich auf die Seite Hitlers zu schlagen. D i e N S D A P , die mit H i l f e des aus der Reichswehr ausgeschiedenen H a u p t m a n n s R ö h m die ihr noch nicht Untertanen K a m p f v e r b ä n d e unterminierte, stellte in diesen Verhältnissen die ungewisseste u n d in Wirklichkeit entscheidende Größe dar. E s konnte keiner Seite verborgen bleiben, d a ß sie mit beiden in Verbindung s t a n d ; doch hielt man bei militärischen wie bei 50 51
Rabenau, Seeckt, S. 351 f. Hierzu die Aufzeichnung Stresemanns vom 2. 9. 1923. Stresemann I, S. 132 f.
424
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
zivilen Stellen in Berlin ihre mehr oder minder deutlich bekundete Abneigung der gesamten blau-weißen Richtung gegenüber f ü r gravierend. Im Laufe des Monats Oktober wurde es jedoch immer deutlicher, daß nicht Kahr, sondern Hitler und der auf seiner Seite stehende Ludendorff in München den Fortgang der Dinge bestimmen würden. Vieles ließ darauf schließen, daß von den bayerischen Machthabern eine gewaltsame Aktion zum Sturz der Regierungsverhältnisse in Berlin zumindest vorbereitet wurde. Nichtsdestoweniger beschränkte sich die Reichsregierung ebenso wie der Chef der Heeresleitung einstweilen auf eine Beobachtung der Vorgänge, ohne in irgendeiner Form einzuschreiten oder auch nur Vorstellungen zu erheben. Seeckt stimmte sogar dem Abzug bayerischer Reichswehr aus anderen Reichsteilen zu, der offensichtlich nur einem gegen Berlin gerichteten Aufmarschplan folgte. Im nordbayerischen Grenzgebiet wurden Truppen und unter dem Kommando Ehrhardts aus halbmilitärischen politischen Organisationen zusammengestellte Grenzschutzverbände zusammengezogen. Kahr setzte den Vollzug des Republikschutzgesetzes aus, verbot Linksorganisationen, ordnete Landesverweisungen an und traf Anstalten, die den in den Parteien der Linken gehegten Vorstellungen von einer Diktatur der Rechten in vollem U m f a n g entsprachen. Dennoch ist tatsächlich von der Reichsregierung keine Aufhebung des bayerischen Ausnahmezustandes verlangt worden. Im Gegensatz zu Kahr, der die Übertragung der vollziehenden Gewalt zum Ausbau einer diktatorischen Stellung benutzte, kühn über die Köpfe des Ministerrats hinweg regierte und auch die unausbleiblich zunehmende Entfremdung des Kabinetts Knilling hierbei in Kauf nahm, vermied der Inhaber der vollziehenden Gewalt im Reich im allgemeinen jedes unmittelbare diktatorische Eingreifen, entsprechend dem Rechtsgrundsatz, daß ihm die Ausübung von Regierungsbefugnissen ohne Spezialermächtigungen nicht zustand. 52 Man muß füglich bezweifeln, ob von einer Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den Chef der Heeresleitung anstatt auf den Reichswehrminister, die an sich durchaus im Bereich des Möglichen lag, allerdings wohl zu heftigen Reaktionen der Linken geführt 52
Vgl. auch Poetzsch, J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 151: „ D u r c h die Ü b e r t r a g u n g d e r v o l l -
z i e h e n d e n G e w a l t allein e r l a n g t w e d e r ein Z i v i l k o m m i s s a r noch ein M i l i t ä r b e f e h l s h a b e r die R e g i e r u n g s g e w a l t ( A u s ü b u n g d e r staatlichen H o h e i t s r e c h t e ) o d e r d a s Recht, gesetzgeberische M a ß n a h m e n
a n z u o r d n e n . Diese w e i t e r g e h e n d e n
ihnen n u r zu, w e n n sie i h n e n besonders ü b e r t r a g e n w o r d e n s i n d " .
Befugnisse stehen
Konflikte
und Krise 1923
425
hätte, die gleichen Wirkungen ausgegangen wären. Doch Seeckt wähnte offenbar seine Zeit noch nicht f ü r gekommen; lediglich im Falle des Generals von Lossow griff er ein. Der Konflikt brach aus einem verhältnismäßig untergeordneten Anlaß, jedoch mit bemerkenswerter Konsequenz an der kritischen Stelle in München aus53 und machte gleichzeitig die Stellung der Nationalsozialisten, die des bayerischen Landeskommandanten, die Befehlsverhältnisse innerhalb der Reichswehr und die Haltung des Generalstaatskommissars in ihren problematischen Beziehungen zueinander sichtbar. Die Auseinandersetzung ging auf einen Artikel zurück, den das Blatt Hitlers, der „Völkische Beobachter", kurz vor Verkündung der beiden Ausnahmezustände veröffentlicht hatte, der sich in persönlich verletzender Weise gegen Seeckt und Stresemann richtete und auf eine eindeutige Wendung der Nationalsozialisten gegen den Chef der Heeresleitung schließen ließ." Der Reichswehrminister ging hier von dem erklärten Grundsatz ab, keine materiellen Befehle an Lossow zu geben, und erteilte am Abend des 28. September dem Befehlshaber der bayerischen Reichswehrdivision, Generalleutnant v. Lossow, telefonisch den Befehl, auf Grund der Verordnung des Reichspräsidenten zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung vom 26. September, § 1, bis auf weiteres den Druck und Vertrieb dieser Zeitung zu verbieten. Geßler eröffnete den Kampf gegen die N S D A P , indem er den bayerischen Landeskommandanten zum Vorgehen bringen wollte. Lossow suchte sich jedoch einer Ausführung des Befehls, die ihn in Konflikt mit dem Generalstaatskommissar und dessen Bemühungen um die N S D A P gebracht hätte, dadurch zu entziehen, daß er in München nichts unternahm, sondern einen Generalstabsoffizier nach Berlin entsandte, der den Reichswehrminister zur Zurücknahme des Befehls veranlassen 53 Hierzu die Darstellungen von Schwend, Bayern, S. 223 ff.; Rabenau, Seeckt, S. 355 ff.; Geßler, Reichswehr und Politik, S. 265 ff.; Hoegner, Die verratene Republik, S. 153 ff.; die Materialien bei Rothenbücher, Archiv d. öffentl. Rechts, Bd. 7; und Poetzsch, a . a . O . , S. 92 ff. Ein lückenloses Ablaufsbild der Ereignisse zwischen dem 27. September und dem 20. Oktober ergibt sich aus dem vorgelegten Material und den Verhandlungen in der „Sitzung der Ministerpräsidenten und Gesandten der Länder am . . . 24. Oktober 1923 . . . in der Reichskanzlei", StenPr (86 Seiten) BA, R 43 1/2264. Einige dieser Aktenstücke sind neuerdings auszugsweise abgedruckt bei Geßler, a. a. O., S. 482 ff. Im Folgenden werden nur solche Aktenstücke besonders zitiert, die in diesem Konvolut nicht enthalten sind. 54 Stresemann-Seeckt, Völkischer Beobachter, N r . 199 vom 23. 9. 1923; vgl. auch Gordon, Reichswehr, S. 233 ff., w o der von Seeckt veranlaßte Gegenartikel in den Münchener Neuesten Nachrichten im Auszug abgedruckt ist.
426
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
sollte. Doch noch bevor ein Ergebnis der Mission dieses Offiziers bekannt wurde, traf am 29. September abends ein Funkspruch des Reichswehrministers ein, der die unbedingte Durchführung des Befehls und Vollzugsmeldung anordnete. Daraufhin gab Lossow den zuerst erhaltenen Befehl mit dem Ersuchen um weitere Veranlassung an den Generalstaatskommissar weiter, der ein Verbot der nationalsozialistischen Zeitung mit der Begründung ablehnte, daß er mit Rücksicht auf die von ihm erstrebte „Zusammenfassung aller nationalen Kräfte" von dem Verbot absehen wolle, dem verantwortlichen Redakteur aber bereits eine Verwarnung erteilt habe; durch ein nachträgliches Verbot hätte er seine erste Maßnahme widerrufen müssen, was er als Gefährdung seiner Autorität betrachtete. Aber noch ehe der Bericht über diese Sachlage an das Reichswehrministerium gelangte, erhielt Lossow einen dritten Funkspruch aus Berlin, der nunmehr anordnete, das Weitererscheinen des „Völkischen Beobachters" mit Waffengewalt zu verhindern. Auch diesen Funkspruch gab der General an den Generalstaatskommissar weiter, der der Durchführung erneut widersprach und wegen „schwerster Gefährdung der öffentlichen Sicherheit" sowohl bei dem Befehlshaber der bayerischen Reichswehr als auch beim Reichswehrministerium gegen das befohlene Vorgehen Einspruch erhob, das „als Reichsexekution in Bayern" wirken müsse. Lossow teilte den Einspruch des Generalstaatskommissars dem Reichswehrminister mit und erklärte den Befehl f ü r unausführbar. Diese Meldung ergänzte er durch einen Bericht, der die politischen Gründe des Generalstaatskommissars wiedergab, der befürchtet habe, „bei nachträglichem Verbot des ,Völkischen Beobachters' ohne neuen stichhaltigen Grund neue Spaltungen (!) in den vaterländischen Kreisen hervorzurufen, während er es gerade als seine Aufgabe betrachte, alle vaterländischen Kräfte zusammenzuschließen, um, auf sie gestützt, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten". Bei diesem Stand der Ereignisse unterrichtete der Reichswehrminister seine Kabinettskollegen. Er kündigte an, daß er General v. Lossow seine Mißbilligung auszusprechen gedenke; der General werde dann „sofort" um seinen Abschied nachsuchen. Ein „weiteres Lavieren in dieser Frage" halte er f ü r 'unmöglich; denn „hier müsse, genau wie in Sachsen, im Interesse des Ansehens des Reiches scharf durchgegriffen werden. Wie man sehe, mache es keinen Unterschied, ob es sich um rechts oder links stehende Leute handele". 55 Die Reichsminister erhoben hiergegen keinen Einspruch. So glatt, wie Geß55
Auszug a. d. PrSRM vom 6. 10. 1923, BA, R 43 1/2264.
Konflikte
und Krise
427
1923
ler es sich vorstellte, sollte indessen die Erledigung dieser Angelegenheit keineswegs vonstatten gehen. Am 9. Oktober erging eine Verfügung General v. Seeckts, in der Lossow sein Verstoß gegen die militärische Disziplin und bewußter Ungehorsam zum Vorwurf gemacht und des weiteren ausgeführt wurde, daß der Chef der Heeresleitung nun nicht mehr das Vertrauen zu Lossow habe, daß er willens und in der Lage sei, „die Belange der Reichswehr und die Autorität des Reichs" gegen örtliche politische Widerstände durchzusetzen. Lossow teilte dieses Schreiben dem bayerischen Ministerpräsidenten mit. Das Ergebnis seiner Aussprache mit Knilling trat darin zutage, daß Lossow Seeckt die Weitergabe seines Schreibens meldete und die Bitte Knillings mitteilte, „vorerst von weiteren Schritten Abstand zu nehmen, denn die Angelegenheit sei nach seiner Auffassung eine rein politische und müsse durch Verhandlungen zwischen der bayerischen Regierung und der Reichsregierung ausgetragen werden". Zu gleicher Zeit wandte sich der bayerische Ministerpräsident in einem Schreiben an den Reichskanzler, in dem er sich gegen einen A u f t r a g an Lossow wandte, seinen Abschied einzureichen, da „es sich nach der N a t u r der in Frage stehenden Angelegenheit weniger um einen militärischen Befehl als um eine polizeiliche Anordnung handelte, die Reichswehrminister Geßler in seiner Eigenschaft als Reichskommissar und Inhaber der vollziehenden Regierungsgewalt seinem Beauftragten in München erteilt hat". Er wies auf den Konflikt der beiden Ausnahmezustände und auf die Anordnungen des Generalstaatskommissars hin und vertrat die Auffassung, daß der General diesem Konflikt nicht zum Opfer fallen dürfe. Als bayerischer Ministerpräsident halte er es f ü r selbstverständlich, daß der Landeskommandant in einer solchen Frage den bayerischen Regierungsgewalten unterstehe und daß Lossow korrekt gehandelt habe. Den Berliner Stellen sprach er die Möglichkeit einer rechten Einschätzung der Lage in Bayern ab.56 56
D a s Schreiben d e s bayerischen M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n
12. O k t o b e r ,Völkische
1 9 2 3 versuchte, die „politische K l u g h e i t "
Beobachter'
war
das
ausgesprochene
an den Reichskanzler
vom
Lossows zu erklären:
„Der
Organ
der
nationalsozialistischen
B e w e g u n g , d i e u n t e r F ü h r u n g H i t l e r s , e i n e s z u a l l e m entschlossenen M a n n e s ,
nicht
nur über sehr s t a r k e K r ä f t e im e i g e n e n L a g e r v e r f ü g t e , s o n d e r n auch i m B e g r i f f e s t a n d , sich w e i t e s t e K r e i s e der ü b r i g e n v a t e r l ä n d i s c h e n V e r b ä n d e a n z u g l i e d e r n
und
einzuordnen.
Be-
Gegenüber
streben d e s v o n erster L i n i e wegung
dieser
der B a y e r i s c h e n
darauf
z u isolieren.
gerichtet Die
außerordentlich Regierung
sein, durch
Bemühung
großen
bestellten
geschicktes
Gefahr
mußte
das
Generalstaatskommissars
Vorgehen
die
des G e n e r a l s t a a t s k o m m i s s a r s
Hitlersche in dieser
in Be-
Rieh-
428
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Inzwischen hatte sich Hitler gänzlich von Kahr gelöst und Anstalten getroffen, aus eigener Machtvollkommenheit zu handeln. 57 Infolgetung h a t auch in der T a t schon gute Früchte getragen. Einflußreiche Verbände, die sich bereits an H i t l e r angeschlossen h a t t e n oder unmittelbar im Begriffe standen, dies zu tun, sind wieder von ihm abgerückt und haben sich dem Generalstaatskommissar zur V e r f ü g u n g gestellt. Ein unpolitisches, einseitiges Vorgehen des Generalleutnants von Lossow ohne Rücksichtnahme auf die Bestrebungen des Generalstaatskommissars h ä t t e dessen Bemühungen durchkreuzt, die extrem nationalen Kräfte bei H i t l e r erhalten u n d ihm noch vollends z u g e f ü h r t " . (Abschr. BA, R 43 1/2264, mit handschriftl. Vermerk vom 1 8 . 1 0 . 2 3 : „Originalbrief bis heute nicht in das Büro gelangt".) Die Vertretung der Reichsregierung in München berichtete in ähnlicher Weise an die Reichskanzlei (Legationssekretär B r a u n von Stumm am 11. O k t o b e r ) , die Behandlung des Falles Lossow durch Seeckt habe allgemein größte E r b i t t e r u n g hervorgerufen. Die V o r w ü r f e gegen Lossow w ü r d e n als unverständlich bezeichnet, denn „jeder Kenner der Verhältnisse müsse wissen, d a ß unter den gegebenen U m s t ä n d e n die A u s f ü h r u n g des an ihn ergangenen Befehls zur Besetzung der Druckerei des ,Völkischen Beobachters' zu den schwersten innerpolitischen Wirren g e f ü h r t haben würde, selbst w e n n sie gelungen wäre, u n d d a ß jeder General, wenn er eine Aufgabe erhalte, nach allgemeinem Kriegsbrauch berechtigt, ja verpflichtet sei, einen derartigen Befehl im Interesse des G a n z e n nicht durchz u f ü h r e n " . Die bayerische Regierung habe vor allem d a r a n Anstoß genommen, d a ß die Zurechtweisung Lossows statt durch den in der politischen Frage zuständigen Geßler durch General v. Seeckt erfolgt sei, „den die Sache gar nichts" angehe. D e r Berichterstatter ergänzte seinen Situationsbericht mit der Bemerkung: „Ich habe aber den Eindruck, d a ß von der bayerischen Regierungsseite aus nichts Überraschendes erfolgen wird, solange von Berlin aus keine neuen M a ß n a h m e n ergriffen werden, d a ß aber auch H e r r n v. Lossow vom bayerischen Ministerpräsidenten nahegelegt worden ist, auch seinerseits sich zunächst passiv zu verhalten". Auch der Führer der bayerischen Sozialdemokraten w a r n e dringend davor, „jetzt etwas hier in Angriff zu nehmen, von dem m a n nicht die absolute Gewißheit habe, es durchsetzen zu können, u n d dies müsse m a n bei dem gegenwärtigen politischen Prestige der Reichsregierung im Falle Lossows sehr bezweifeln. Ich k a n n mich der A u f f a s s u n g des hiesigen sozialdemokratischen Führers, der mich ausdrücklidi zur Weitergabe dieser seiner E r k l ä r u n g ermächtigte, nur anschließen und w ü r d e es f ü r sehr bedenklich halten, wollte m a n jetzt hier eine K r a f t p r o b e unternehmen". BA, R 43 1/2264. Eine k n a p p e persönliche Stellungnahme Lossows findet sich in dem vollständigen P r o t o koll: Der H i t l e r - P r o z e ß , 1. Teil, S. 161. 57 D a ß sich Hitler, der den Streit zwischen dem Reichswehrminister u n d den beteiligten Stellen um seine Zeitung mit gehobenem Selbstgefühl verfolgte, bei der Reichsregierung in das günstigste Licht zu setzen versuchte, ergibt sich aus einem als „streng vertraulich" bezeichneten Bericht Haniels an den Reichskanzler vom 16. 10.1923 (vollständiger T e x t BA, R 43 1/2264, Unterstreichungen von der H a n d des Staatssekretärs Kempkes): „Ich h a t t e Gelegenheit, in durchaus zuverlässiger Form die Stellung Herrn Hitlers zur politischen Lage und insbesondere auch zum Fall des Verbots des Völkischen Beobachters festzustellen. E r bestreitet auf das bestimmteste, d a ß jemals er oder auch ein U n t e r f ü h r e r von ihm beabsichtigt hätten,
Konflikte
und Krise
1923
429
dessen wurde der „Völkische Beobachter" von Kahr auf Grund eines Aufrufes an die artilleristischen Waffenverbände Bayerns, sich Hitler zu unterstellen, verboten. Offenbar befürchtete Kahr eine Aktion, die an jenem Donnerstage (1. O k t o b e r 1923) im Anschluß an die v o n ihm berufenen Versammlungen einen Putsch zu inszenieren, wie dies von der hiesigen Regierung behauptet und zum A n l a ß der E r k l ä r u n g des Ausnahmezustandes genommen w o r den sei. Jedes Mitglied seiner Organisation werde bezeugen können, d a ß keinerlei Vorbereitungen f ü r einen solchen h i r n v e r b r a n n t e n P l a n getroffen worden seien. Nach seiner Behauptung habe vielmehr Herr von Kahr sowohl wie Herr von Knilling auf Befehl, wenn nicht des Kronprinzen selber, so doch der Königspartei, insbesondere der Damen, die dabei eine wichtige Rolle hinter der Szene spielten, den Ausnahmezustand mit Herrn von Kahr an der Spitze erklärt, um an dem d a r a u f f o l genden Sonntage (Leibertag) eine große monarchistische Demonstration, eventuell auch die E r k l ä r u n g der Monarchie ins W e r k setzen zu können. Dieser Plan sei lediglich d a r a n gescheitert, d a ß er, H i t l e r , verweigert habe, sich hinter K a h r zu stellen u n d außerdem seinen A n h ä n g e r n verboten habe, sich der monarchistischen Bewegung anzuschließen. H e r r H i t l e r betonte, d a ß er die Berliner Regierung angreifen müsse, weil sie nach Ansicht der hiesigen öffentlichen Meinung wie nach seiner Ansicht nicht national genug eingestellt sei, d a ß ihm aber der Reichsgedanke über allen einzelstaatlichen, dynastischen, konfessionellen usw. Interessen gehe. Er bedauere es lebhaft, d a ß die Regierung diese indirekte H i l f e gegen den Separatismus nicht begreife. Was das Verbot des Völkischen Beobachters betreffe, so habe er den inkriminierten Artikel vor dem Erscheinen nicht zu Gesicht bekommen, sonst w ü r d e er ihn gemildert haben. E r habe auch H e r r n Scheubner-Riditer eigens nach Berlin gesandt, um die Angelegenheit zu regeln, es sei ihm nicht gelungen, bis zu den maßgebenden Persönlichkeiten vorzudringen, vielmehr sei er von Herrn Oberst Hasse schroff abgefertigt worden. Er w ä r e damals bereit gewesen, sich einem zeitlich beschränkten Verbot durch den Reichswehrminister ohne Widerstand zu fügen und das Erscheinen seiner Zeitung f ü r diese Tage einzustellen. Auch jetzt noch sei er bereit, im höheren Reichsinteresse einen Entschuldigungsbrief an Herrn von Seeckt oder irgend eine andere Persönlichkeit, die sich beleidigt fühle, zu richten und die Angriffe zurückzunehmen. Er w ü r d e dies seinen A n h ä n g e r n damit begründen, d a ß gewisse in dem Artikel aufgestellte Behauptungen nicht den Tatsachen entsprochen hätten. Ich gebe diese Äußerungen Herrn Hitlers wieder, ohne ihre Zuverlässigkeit im einzelnen zu kritisieren. Vielleicht ist es indessen der Mühe wert, den letzterwähnten, übrigens mir durchaus informell übermittelten Vorschlag H e r r n Hitlers d a r a u f hin zu p r ü f e n , ob er vielleicht die Möglichkeit einer Lösung des Konfliktes enthält. [ H i e r z u A n m e r k u n g von Kempkes: „ist im G a n g e ! " ] D e n n einerseits scheint mir der gegenwärtige Zustand, d a ß der Völkische Beobachter ungehindert weiter erscheint u n d wie mir mitgeteilt wird, auch außerhalb Bayerns, trotz des Verbots, in vielen Tausend Exemplaren verbreitet wird, f ü r die A u t o r i t ä t der Reichsregierung abträglich, andererseits scheint mir zweifelhaft, ob es der Reichsregierung gelingen wird, das Verbot hier in München tatsächlich durchzuführen. Schließlich aber d ü r f t e die ganze Angelegenheit an sich nicht wichtig genug sein, um aus ihr die letzten, in ihrer Tragweite unabsehbaren Konsequenzen zu ziehen."
II. Reichspolitik
430
und
Föderalismus
sich jetzt gegen ihn richtete und der er daher zuvorkommen müsse. Knilling begründete diesen Schritt der Reichsregierung gegenüber damit, daß ein früheres Verbot der Bewegung Hitlers nur Oberwasser gegeben hätte, daß es K a h r aber bis zum späteren Zeitpunkt gelungen sei, verschiedene vaterländische Organisationen, die bis dahin zu H i t l e r standen, hinter sich zu bringen. In der T a t schied der größte Teil der Organisation „Reichsflagge" in diesen Tagen aus der unter Hitlers Einfluß stehenden Gemeinschaft der K a m p f v e r b ä n d e aus, um sich für K a h r zu erklären; aus einigen abgesplitterten Ortsgruppen bildete der hitlertreue R ö h m die Organisation „Reichskriegsflagge". Geßler begab sich, u m die Angelegenheit Lossow weiter zu verfolgen, nach Augsburg und ließ den sowohl mit Seeckt wie mit Lossow befreundeten Generalmajor v. K r e ß am 18. Oktober ebenfalls dorthin kommen, um durch ihn auf Lossow in dem Sinne einzuwirken, daß dieser seinen Abschied nehmen sollte. 59 D e r Reichswehrminister erklärte 58
Uber diese Unterredung
erstattete K r e ß
der bayerischen Regierung
Bericht:
„ D e r H e r r Minister ist lediglich nach Augsburg gekommen, um noch einen letzten Versuch zur Beilegung des Falles Lossow zu machen. D i e fristlose Kündigung des Generals von Lossow ist beschlossene Sache. D e n Bemühungen des H e r r n Ministers ist es gelungen, die Exposition des Befehls nodi hintan zu halten . . . D e r Konflikt lasse sich nur dadurch vermeiden, daß General von Lossow noch in letzter Stunde mit der Abgabe einer loyalen Erklärung seinen Abschied erbittet . . .
Der
Herr
Minister gab zu, daß das Reichswehrministerium insofern einen Fehler gemacht habe, als es nicht sofort reinen Tisch zwischen den beiden Ausnahmezuständen Einen allenfallsigen Nachfolger Lossows werde er auch unter keinen
machte.
Umständen
mehr in einen solchen Konflikt bringen, sondern darauf verzichten, ihm die Vollziehung der G e w a l t zu übertragen. E r und auch General von Seedtt hätten volles Verständnis dafür, daß ein Befehlshaber in Lagen kommen könne, in denen er einen Befehl nicht vollziehen könne. D a n n müsse er aber auch nach altem militärischen Gebrauch die Konsequenzen
ziehen und seine Stelle zur Verfügung stellen. Des
weiteren sei im Antworttelegramm auf den Befehl, den Völkischen Beobachter mit Waffengewalt zu unterdrücken, der Satz ,Konflikte mit dem
Generalstaatskommis-
sar werden von mir unter allen Umständen vermieden' als Aufgabe des Gehorsams empfunden worden. Schwer verübelt habe man dem General von Lossow, daß er sich mit dem B r i e f des Chefs der Heeresleitung, durch den er aufgefordert wurde, Abschied zu nehmen, hinter die bayerische Regierung geflüchtet habe. A u f den Einwand, daß General von Lossow als Landeskommandant doch dem bayerischen Ministerpräsidenten
von
der
an
ihn ergangenen
Aufforderung
habe Kenntnis
geben
müssen, erklärte der H e r r Minister, er habe schon früher dem Wehrkreiskommando gegenüber den Standpunkt vertreten, daß der Landeskommandant nicht O r g a n der Landesregierung, sondern O r g a n
der Reichsregierung
sei, das dem Lande
gegen-
über die Belange der Reichswehr zu vertreten habe . . . General von Seeckt fühle sich verantwortlich für die Disziplin in der Armee. Wenn er dem General von Lossow den Ungehorsam durchgehen ließe, würde er die Grundlagen der Disziplin in
Konflikte
und Krise 1923
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sich bereit, auch Lossow in Augsburg zu empfangen; mit dessen Weigerung sah er jedoch seinen letzten Vermittlungsversuch als gescheitert an. Die bayerische Regierung fragte unter Verwendung einiger Äußerungen Geßlers über mögliche Maßnahmen des Reiches noch am gleichen Abend bei der Reichsregierung an, ob ihr dieses Vorgehen des Reichswehrministers bekannt sei. Der Reichskanzler versicherte, daß das Kabinett Beschlüsse f ü r ein Zwangsvorgehen gegen Bayern nicht gefaßt habe, daß ihm jedoch bekannt sei, daß Geßler, um eine letzte Vermittlung zu versuchen, nach Augsburg gefahren sei; irgendwelche Direktiven habe er von der Reichsregierung jedoch nicht erhalten. Daraufhin protestierte Knilling im Auftrage seiner Regierung am 19. Oktober gegen einige Äußerungen, die der Reichswehrminister zu Freiherr v. Kreß in bezug auf eine Sperre der Verkehrsmittel und -wege nach Bayern getan hatte. Der Ministerpräsident erklärte, daß die bayerische Regierung es nicht hinnehmen könne, daß „ein Mitglied des Reichskabinetts in solcher Weise Bayern den Kampf ansagt. Sie hält es f ü r unmöglich, mit diesem Kabinettsmitglied noch irgend gedeihlich weiter zu arbeiten". Er stellte sich hinter Lossow und bezeichnete ein Ausscheiden des Generals f ü r schlechthin indiskutabel. Mittlerweile hatte die Reichsregierung zuverlässige Nachrichten erhalten, daß es dem Ministerium Knilling darum zu tun war, den Fall Lossow zu benutzen, um stärkere föderative Rechte von der Reichsregierung zu erlangen. 59 Man dachte vor allem an eine Rückgabe der der Armee erschüttern . . . Sein Verhalten vertrage sidi nadi Anschauung des Generals von Seeckt nicht mit dem Ehrbegriff des Offiziersstandes. General von Lossow schädigte das Vertrauen auf die Verlässigkeit der Reichswehr und damit die Entwicklung der Reichswehr auf das schwerste. Seine Gehorsamsverweigerung habe in Berlin gewirkt wie ein Kapp-Putsch. Er bringe durch sein Verhalten seine Untergebenen in schwersten Gewissenskonflikt. Das Reich sei fest entschlossen, seine Autorität Bayern gegenüber durchzusetzen. Wenn Bayern sich nicht füge, sei man zum Äußersten entschlossen, denn der Reichspräsident sei nicht in der Lage, die Länder mit verschiedenen Maßen zu messen, und könne nicht Sachsen gegenüber die Reidisautorität durchsetzen, solange dies Bayern gegenüber nicht geschehen sei. Die Folge einer Unbotmäßigkeit Bayerns würde sein, daß der Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehr zwischen Bayern und dem Reich stillgelegt würde . . . [Dennoch] muß ich hier, . . . ausdrücklich betonen, daß die Äußerungen des Herrn Ministers nicht als Drohungen aufzufassen sind, sondern lediglich als eine Schilderung der Folgen gemeint waren, die entstehen würden, wenn General von Lossow auf seiner Weigerung, den Abschied zu nehmen, bestehen bliebe . . A u s dem der Ministerpräsidentenkonferenz am 24. Oktober vom bayerischen Vertreter vorgelegten Aktenkonvolut, BA, R 43 1/2264. 60
„Streng vertraulicher" Bericht Haniels an die Reichskanzlei vom 16. 10. 1923.
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Föderalismus
Steuer- und Verkehrshoheit an die Länder und wohl auch an eine föderative Ausgestaltung der Befehlsverhältnisse innerhalb der Reichswehr. Sogar von der Schaffung einer eigenen bayerischen Währung wurde gesprochen. Man zog in München also ähnliche Konsequenzen aus dem rasch fortschreitenden Währungszerfall wie — unter den Bedem der Gesandte seine persönliche Ansicht hinzufügte: „Tatsächlich scheint, von hier aus betrachtet, die Schaffung und Ausübung einer straffen Zentralgewalt, anstatt das Reich zusammenzuschweißen, unter den gegenwärtigen Verhältnissen eher geeignet zu sein, den Verband zu sprengen. Wenn es daher die Zeitläufte gestatteten, würde es sich wohl empfehlen, gemeinsam mit den Ländern an die Frage einer Revision der Reichsverfassung in der Richtung einer Dezentralisierung heranzutreten, um, wenn auch in loserer Form, die Länder beim Reiche zu halten." (Die letzten Zeilen wurden von Geheimrat Kempner in der Reichskanzlei unterstrichen; BA, R 43 1/ 2264.) Noch am gleichen Tag gab Haniel einen zweiten, wesentlich genaueren, „streng vertraulichen" Bericht „über die in Rede stehenden Pläne der bayerischen Regierung" nach Informationen „aus bewährter Quelle", welche die einige Stunden Rückgewinnung zuvor gegebenen Nachrichten bestätigten, „daß sich die Fragen der der Finanz- und Verkehrshoheit für Bayern im Stadium der Erwägung befinden. Ebenso sollten auf wirtschaftspolitischem Gebiet gewisse Sonderverfügungen erlassen werden, falls Berlin den bayerischen Wünschen nicht entgegenkommt. Ferner scheint man sich mit der Absicht zu tragen, gegebenenfalls in Wien eine eigene bayerische Vertretung einzurichten, nicht nur, um die eigene Staatlichkeit zu betonen, sondern auch um den Anschlußgedanken durch eine großdeutsche Geste zu betonen. Die Verbeugung, die Bundeskanzler Seipel . . . vor Herrn von Kahr macht, mag vielleicht mit derartigen Plänen im Zusammenhang stehen. Es scheint hiermit fast, als ob Herr von Kahr zur Festigung seiner Stellung weithin sichtbarer Gesten zu bedürfen glaubt. Dagegen ist offenbar nicht beabsichtigt, das bayerische Kontigent aus dem Heeresverband loszulösen. Vielmehr will man sich mit der Forderung begnügen, gewisse Garantien gegen eine Absetzung des Landeskommandanten zu erlangen sowie dagegen, daß die Truppe gegen die eigene Regierung verwandt werden dürfe. Aber auch gegen diese letzte Forderung scheinen sich im internen Rat Widersprüche zu ergeben, da man z. B. gegenüber Sachsen sehr wohl auf eine derartige Verwendung der Reichswehr hoffe und keinen Präzedenzfall dagegen schaffen wolle. Mein Gewährsmann betonte, daß es sich zur Zeit lediglich um Pläne handele, die im Schöße der Regierung erwogen würden. Von dem Verhalten der Reichsregierung, insbesondere auch im Falle Lossow, der den weiß-blauen Heißspornen Wasser auf die Mühle gegeben habe, werde es wesentlich abhängen, inwieweit diese Probleme akut werden würden. Bei dieser Gelegenheit führte mein Gewährsmann aus, daß es die Reidisfreudigkeit im deutschen Süden, und nicht nur in Bayern, wesentlich fördern werde, wenn es recht bald zur Reichsexekution gegen Sachsen komme. Ein Zusammenwirken der bayerischen und der übrigen Reichswehr werde die Geschlossenheit des Heeres und die Autorität der obersten Leitung am sichersten und schnellsten wiederherstellen." BA, R 43 1/2264.
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dingungen der Besatzungsverhältnisse — im Rhein-Ruhr-Gebiet, wo jedoch diese Pläne wesentlich weiter gediehen. Solche Gedanken gingen vor allem von Kreisen und Persönlichkeiten aus, denen, sicherlich nicht zu Unrecht, separatistische Neigungen nachgesagt wurden und die ebenso zur Regierung des Herrn v. Knilling wie zum Generalstaatskommissar v. Kahr in Verbindung standen; die Hintergrundsfigur des Sanitätsrats Pittinger war mit dem am weitesten gehenden dieser Projekte verbunden. 60 Kahr aber hielt sich immer noch unentschlossen zwischen den beiden Lagern der blau-weißen und der nationalistischaktivistischen Richtung unter der Führung von Hitler, Kriebel, Pöhner und Ludendorff. Der scheinbar so prinzipienstrenge und entscheidungsfreudige Mann schwankte in der Stunde seiner größten Macht zwischen dem Ziel, der autoritäre Führer eines in die große Politik eintretenden Bayerns zu sein, und dem hiermit unvereinbaren Versuch, der „Retter" eines von der national-revolutionären Bewegung erfaßten Deutschlands zu werden, bis ihn der ungewollte Gang der Entwicklung zu unvorhergesehenem Handeln trieb und schließlich von der Höhe seiner Macht verdrängte. Seine im Grunde jede Partei zutiefst verachtende Auffassung riß ebenso wieder wie zwei Jahre zuvor die Kluft zur herrschenden Bayerischen Volkspartei auf und führte dazu, daß er sich auch der Regierung Knilling entfremdete. Aber selbst die monarchistischen Kräfte, die ihn in den Sattel gehoben, fanden in ihm einen höchst unsicheren Sachwalter, der sehenden Auges seinem eigenen Fiasko entgegensteuerte. Das Phantom einer Sammlung der „vaterländischen Kräfte", dem er zu folgen wähnte, während er doch nur den ehrgeizigen Träumen von der historischen Rolle seiner eigenen Macht nachhing, ließ ihn immer wieder um die Gunst der mächtigsten unter den Kräften des Münchener politischen Alltags werben, den er mit dem Schauplatz deutscher Politik verwechselte. Der Münchener Vertreter der Reichsregierung deutete die Chance an, die darin lag, daß sich durch eine entgegenkommende Haltung des Reichskanzlers der Spalt erweitern ließ, der zwischen Kahr und Knil60 Schwend e r w ä h n t , Bayern, S. 230, zwei Denkschriften, die diese Gedanken verfolgten. Die weitergehende rührte v o n Pittinger her und w a r bereits E n d e August 1923 v e r f a ß t w o r d e n ; die andere ging auf den BVP-Landtagsabgeordneten R o t h meier zurück, der sie „zur Zeit der E r n e n n u n g des Generalstaatskommissars" dem Ministerpräsidenten v. Knilling übergab. Das summarische Urteil Schwends: „Alle diese Projekte beruhten auf der Vorstellung, d a ß im Reich Ereignisse eintreten w ü r d e n , die ein selbständiges H a n d e l n Bayerns notwendig machen könnten", geht aber wohl an der aktiven Rolle der bayerischen Politik vorbei.
28 Sdiulz. I
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ling entstanden war. In der Beurteilung der Folgen eines zwangsweisen Vorgehens der Reichsregierung machte sich H e r r von Haniel die Vorstellungen des bayerischen Ministerpräsidenten zu eigen. „Wird es überhaupt möglich sein, durch Zwang ein Land wie Bayern beim Reiche festzuhalten? Der Vergleich mit Sachsen dürfte nur bedingt zutreffen, da die Kräfteverhältnisse verschieden sind und auch die innere Widerstandskraft der betreffenden bayerischen Volksschichten eine andere ist", schrieb der Gesandte nach einem Gespräch mit Knilling, der für den Fall einer Abberufung Lossows die schlimmsten Folgen sah, sogar von einem „Bruch" und einer „allgemeinen bewaffneten Bewegung" sprach. Und der Vertreter des Reiches fügte seine eigene pessimistische Ansicht hinzu: „Sicherlich kann durch finanzielle, wirtschaftliche und Verkehrsabschnürung Bayern in eine verzweifelte Lage gebracht werden, obwohl man auch in dieser Beziehung nicht unvorbereitet sein dürfte. Zweifelhaft aber ist, daß in diesem Falle Bayern sich dem Reiche wieder unterwerfen oder in seiner Erbitterung anderswo Anschluß suchen wird".' 1 Diese melancholische Betrachtung stand offensichtlich unter dem Eindruck der tiefen Depression, die von der allgemeinen politischen Lage in diesen schweren Wochen ausging. Zu dieser Stunde w a r die Entscheidung in Berlin bereits gefallen. A m 19. Oktober teilte Stresemann den Reichsministern mit, daß der Reichspräsident die „Kündigung des Generals von Lossow" zum 31. Dezember, seine sofortige Amtsenthebung, die Betrauung des Generals Freiherr v. Kreß mit dem Kommando über die 7. Division verfügt habe und die bayerische Regierung um einen Vorschlag für die Neuernennung eines Landeskommandanten angehen wolle, der nach diesem Vorgang kein anderer als der neue Divisionskommandeur sein konnte. 62 Gegen den Vorschlag des Reichspräsidenten, an die bayerische Regierung jetzt auch ein Ersuchen um Aufhebung des von ihr verhängten Ausnahmezustandes zu richten, erreichte Stresemann nach seiner Lageschilderung jedoch einen vorläufigen Aufschub dieser Entscheidung „aus politischen und taktischen Gründen". Seine Mitteilung, daß Reichswehrformationen gegen Thüringen und Sachsen zusammen«> Schreiben vom 20. 10. 1923, BA, R 43 1/2264. «2 Ausz. a. d. PrSRM vom 19. 10.1923, BA, R 43 1/2264. Kurze Inhaltsangabc bei Stresemann I, S. 171. Die knappe Darstellung des Falles Lossow bei Geßler, Reichswehr und Politik, S. 266, läßt von den Tatsachen nur sehr wenig übrig. Die Behauptung, daß Lossow nach Nichtausführung des Befehls, das Verbot des Völkischen Beobachters zu vollziehen, „von mir wegen Gehorsamsverweigerung seines Kommandos enthoben wurde", ist in jeder Hinsicht unrichtig.
Konflikte
und. Krise
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gezogen würden und daß er von vertrauenswürdiger Stelle erfahren habe, „von rechtsradikaler Seite" solle durch illegale Banden auf Thüringen und Sachsen eingewirkt werden, kündigte die Wendung gegen Sachsen an. Die Reichsminister entschlossen sich daher, Bayern gegenüber vorläufig Zurückhaltung zu üben und einem offenen K o n flikt aus dem Wege zu gehen. Reichsarbeitsminister Brauns bot zudem noch eine persönliche Vermittlungsaktion in München an. Mit den Plänen der „rechtsradikalen Seite" konnten nur die in rechtsradikalen Organisationen Bayerns gehegten, bisher durch K a h r s Verhalten hinausgezögerten Absichten gemeint sein, vom nordbayerischen Grenzgebiet her vorzurücken und unter dem V o r w a n d einer Befriedigung des teilweise unter kommunistischem Einfluß stehenden Industriegebietes den Stoß gegen Berlin zu führen, der im Sturz der Reichsregierung und in der Aufrichtung einer „nationalen" D i k t a t u r enden sollte. 63 Mit dem Eintritt zweier kommunistischer Minister in die sächsische Regierung Zeigner am 12. O k t o b e r 1923 w a r die letzte H o f f n u n g geschwunden, d a ß von sächsischer Seite alles getan werden würde, um den Konflikt zu vermeiden.
Reichsexekution
gegen Sachsen
Seit den Sommermonaten mehrten sich die Befürchtungen und Beschwerden sächsischer Industriellenverbände über unzulänglichen polizeilichen Schutz, über betriebliche Sabotageakte und organisierte Pressionen bei Lohn- und Tarifverhandlungen mit Arbeitnehmervertretern." 4 D e r sächsische Ministerpräsident erwiderte auf die Vorstel63 Angaben bei Hoegner, Die verratene Republik, S. 150 f. u. 156 f.; und Schwend, Bayern, S. 234 f. M In einer Besprechung, die die Reichsminister Oeser und Heinze am 19. Juni 1923 mit einer Delegation des Verbandes Sächsischer Industrieller hatten, war es gerade der als Vertreter des Reichswehrministeriums anwesende Major v. Schleicher, der die Industriellen in bezug auf die von ihnen befürchtete Bewaffnung der „Hundertschaften" beruhigte, indem er mitteilte, daß die sächsische Regierung gar nicht über Waffen verfüge und daß sie sogar über Mangel an Waffen bei der Polizei klage. Ähnlich wie die beiden Reichsminister suchte Schleicher den sächsischen Unternehmern ihre Befürchtungen zu nehmen: sollten sich tatsächlich „ernstliche Ereignisse in Sachsen zutragen, so würde bei Einsatz der bewaffneten Macht jederzeit in Kürze die Ordnung wiederhergestellt werden können". Die Gefahr, die von Seiten der sozialdemokratischen Regierung Zeigner drohte, wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht übermäßig ernst genommen, wenn auch alle Beteiligten an dieser Unterredung die Befürchtung ausdrückten, daß eine schlimmere Entwicklung eintreten
28*
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II. Reichspolitik
und
Föderalismus
lungen, die von Seiten der Reichsregierung erhoben wurden, mit schroffen und abweisenden Verbalnoten. Indessen gelang es nach Bildung einer Reichsregierung der Großen Koalition im August dem Einwirken des sozialdemokratischen Parteivorstandes und den Verhandlungen Stresemanns, Zeigner zum Einlenken zu bringen, woraufhin sich dann der Reichskanzler auch in dem Verband Sächsischer Industrieller dafür verwandte, „von einer Weiterführung des Kampfes gegen das Ministerium Zeigner Abstand zu nehmen".' 5 Es blieb freilich zweifelhaft, ob die Bereitwilligkeit des sächsischen Regierungschefs die inneren Verhältnisse des Landes noch maßgeblich beeinflussen konnte. Bereits sechs Tage nach einer zweiten Aussprache Stresemann—Zeigner nahm der sozialdemokratische Reichsinnenminister Sollmann Anlaß, den Reichskanzler erneut auf die Lage der sächsischen Industriebetriebe namentlich im Gebiet von Aue und Plauen hinzuweisen,66 das einige Jahre später zur leichten Beute der Nationalsozialisten werden sollte, zu dieser Zeit aber noch von kommunistischen Gruppen beherrscht wurde. Ein Eingreifen der Reichsregierung erschien kaum noch ausgeschlossen und ließ sich nun nach der Aufnahme kommunistischer K a binettsmitglieder in die Regierung Zeigner, die in demagogischer Weise die proletarische Aktion propagierten, was über kurz oder lang zum Volksaufruhr gegen die Reichsregierung führen mußte, nicht mehr länger verhindern. D a ß die Reichswehr schon früher auf ein Eingreifen drängte, 67 daß Reichswehrminister Geßler eine übertriebene und provozierende Anordnung getroffen hatte, die den militärischen Dienststellen den Verkehr mit der sächsischen Regierung untersagte, 68 daß könne. („Ergebnis der Besprechung beim Herrn Reichsminister der Justiz am 19. Juni 1923 . . . über die Zustände in Sachsen", Abschr. BA, R 43 1/2307.) ,5
Von Stresemann und Zeigner unterzeichnetes Kommunique über eine gemein-
same Besprechung am 17. August in Gegenwart Sollmanns (Orig. BA, R 43 1/2308) und Schreiben Stresemanns an Otto Wels vom 27. 8. (von ihm selbst unterz. Entwurf mit Abgangsvermerk ebda.). "
Schreiben des Reichsinnenministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei
vom 28. 8. 1923, BA, R 43 1/2308. "
Am 6. Oktober drohte Geßler im Reichsministerium mit seinem Rücktritt, falls
eine vom sächsischen Landtag angesetzte Erörterung von Angelegenheiten der Reichswehr nicht vermieden werde. Die Reichsregierung war natürlich nicht in der Lage, hiergegen einzuschreiten.
An diesem Tage verlangte Geßler erstmals die Absetzung
der sächsischen Regierung und die Einsetzung eines Reidiskommissars. (Stresemann I, S. 149, 166.) ,9
Geßler, Reichswehr und Politik, S. 257. Diese Darstellung hinsichtlich seiner
eigenen Stellung im Konflikt mit Sachsen ist im übrigen außerordentlich dürftig und
Konflikte
und Krise
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der Militärsbefehlshaber in Sachsen, der die „proletarischen Hundertschaften" auflöste, noch vor Unterrichtung der Reichsregierung und, ohne einen Auftrag hierfür zu haben, als erster gegen die Reden der kommunistischen Minister beim sächsischen Ministerpräsidenten protestierte, verschärfte die Situation in unnötiger Weise und läßt ebenso wie der bereits Tage vor Erlaß der Verordnung des Reichspräsidenten begonnene Einmarsch der Reichswehr in Sachsen wie in Thüringen die politischen Mängel des militärischen Ausnahmezustandes erkennen. Dies muß das Urteil über das Eingreifen des Reiches am Ende doch wieder beeinträchtigen. Der kommunistische Minister Böttcher verkündete am 13. Oktober in Leipzig die Alternative zwischen „weißer oder roter Diktatur", rief zur allgemeinen Aufstellung und zur Bewaffnung proletarischer H u n dertschaften und zur Einsetzung von Aktionsausschüssen f ü r den „proletarischen Freiheitskampf" auf.' 9 Als weitere A u f r u f e zum Volksaufstand und zum Bürgerkrieg bekannt wurden, forderte der Reichskanzler auf Vorschlag des Reichswehrministers die sächsische Regierung in ultimativer Form zum Rücktritt auf;™ und als Zeigner dieses Verlangen unter Protest als „unzulässig" zurückwies, ordnete der Reichspräsident am 29. Oktober die Reichsexekution an, 71 die darin bestand, daß der mit dem Vollzug betraute Reichskommissar Heinze, der letzte königlich sächsische Regierungschef und Reichsjustizminister der Kabinette Fehrenbach und Cuno, die sächsischen Minister ihrer Ämter enthob und in Gegenwart eines mit klingendem Spiel aufmarschierten militärischen Verbandes zum Verlassen ihrer Amtssitze zwang. Das von ihm erlassene Verbot eines Zusammentritts des Landtags, mit dem er zweifellos seine Befugnisse überschritt, wurde nach Entsendung der Sozialdemokraten Wels und Dittmann und des Demokraten Fischer nach Dresden, die sich dort gemeinsam um das Zustandekommen einer neuen verfassungsmäßigen Landesregierung bemühten, sofort wieder aufgehoben. 72 Der sächsische Landtag wählte gewährt über sein Verhalten u n d Einwirken, das bereits seit der Veröffentlichung von Stresemanns Vermächtnis b e k a n n t w a r , keinerlei A u f s d i l u ß . e " Vgl. P o e t z s A , J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 97 f.; auch Stresemann I, S. 167 f. 70 Vgl. Stresemann I, S. 184 ff. (Dort auch der volle W o r t l a u t des Schreibens, das der Reichskanzler am 27. O k t o b e r an Zeigner richtete.) 71 V e r o r d n u n g zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit u n d O r d n u n g im Freistaat Sadisen (RGBl I 1923, S. 995). Bemerkenswert ist, d a ß sich auch diese Verordnung n u r allgemein auf den Artikel 48 der Reichsverfassung berief. 72
Die wichtigsten der über den Verlauf der Dresdener Aktion unterrichtenden Aktenstücke der Reichskanzlei (BA, R 43 1/2309) sind im vollen Inhalt oder in
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II. Reichspolitik
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Föderalismus
daraufhin den Führer der sozialdemokratischen Landtagsfraktion, Fellisch, zum Ministerpräsidenten, der eine neue Regierung bildete, in der die abgesetzten Minister, mit Ausnahme Zeigners und der Kommunisten, wieder ihre alten Plätze einnahmen. Das unterschiedliche Vorgehen gegen Sachsen und Bayern wurde der Regierung Stresemann von den Sozialdemokraten und der äußersten Linken sehr zur Last gelegt. Die Sozialdemokratie ließ es darüber sogar zum Bruch der Koalition und unmittelbar vor Überwindung der größten Krise der Republik, die sie bis dahin getreulich durchgestanden hatte, zu ihrem Rückzug aus der Reichspolitik kommen, wonach dem Rumpfkabinett Stresemanns, der diese Entscheidung zunächst ohne Bedauern hinnahm und als Entlastung empfand, keine lange Lebensdauer mehr beschieden war. Dieser Vorwurf hat in die historische Literatur Eingang gefunden und ist auch in jüngster Zeit vertreten worden. 13 In der Tat ist die gewaltsame Absetzung einer verfassungsmäßig zustande gekommenen Landesregierung unter Einsatz militärischer Machtmittel ein Vorgang, der sich mit den Vorstellungen von einer verfassungsrechtlich fundierten Demokratie nicht in Einklang bringen läßt. Eine kritische Betrachtung des Vorgehens der Reichsgewalt ist daher vonnöten. Sie muß von der Tatsache ausgehen, daß einmal der militärische Ausnahmezustand im gesamten Reichsgebiet der Reichswehr und damit auch militärischen Erwägungen von vornherein einen politischen Rang zuwies, der ihnen normalerweise nicht zukommen durfte, und d a ß anderseits die durch einzelne Mitglieder der sächsischen Regierung fortgesetzt und ohne Achtung von Grenzen geschürte Empörung gegen die Existenz dieses Ausnahmezustandes im besonderen wie gegen die Politik der Reichsregierung im allgemeinen eine unerträgliche Situation heraufbeschwor. D a ß sich Landtagsabgeordnete und einige sozialdemokratische Minister der Regierung Zeigner mit ihren kommunistischen Kabinettskollegen nicht solidarisch fühlwesentlichen Auszügen bei Stresemann I, S. 187—191 wiedergegeben. Bemerkenswert ist das nachträgliche Urteil Koch-Wesers in einer Aufzeichnung zur politischen Lage v o m 6 . 1 1 . 1 9 2 3 : „ D a ß sich bei militärischem Vorgehen eine Reihe von U n z u t r ä g lichkeiten ergibt, wird man als unvermeidlich hinnehmen müssen. Bedauerlich ist nur, daß die Reichswehr durch Angehörige der Rechtsorganisationen einseitig angefüllt worden ist. . . . Schlimmer als das Verhalten der Reichswehr ist das des Regierungskommissars H e i n z e . . . " (BA, Nachl. Koch-Weser, N r . 85.) 73
Zuletzt in der die innere Reichspolitik nur oberflächlich behandelnden Arbeit
von Anneliese Thimme, Gustav Stresemann. Eine politische Biographie zur Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1957, S. 59.
Konflikte
und Krise
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ten, änderte hieran gar nichts, zumal der Ministerpräsident weder persönliche Konsequenzen hieraus zog, noch vom Landtag gezwungen wurde, noch die Aufforderung der Reichsregierung befolgte, der man das Recht einer Ersatzentscheidung, um den mit weitreichenden Gefahren f ü r Ordnung und Sicherheit verbundenen Konflikt zu vermeiden, wohl zugestehen muß. Da der Vollzug der Notverordnung des Reichspräsidenten mit der landesverfassungsmäßigen Einsetzung einer parlamentarischen Landesregierung endete und sie nach drei Tagen wieder aufgehoben wurde, läßt sich, von den unverzüglich wieder rückgängig gemachten Befugnisüberschreitungen des Reichskommissars und von den freilich unentschuldbaren Übergriffen der Reichswehr an einzelnen Orten abgesehen, an ihrer Durchführung nichts Wesentliches aussetzen. Das Vorgehen des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten gegen Sachsen, mit dem der Einmarsch von Truppenverbänden in Thüringen und der Rücktritt der thüringischen Regierung einhergingen, war also kein „brutaler Gewaltstreich und reiner Rechtsbruch" 74 , sondern eine Reichsexekution nach der Reichsverfassung, zu der die Handhabe gegeben war. In Frage steht jedoch, unter welchen Bedingungen und Umständen und aus welchen Gründen die Reichsregierung von ähnlichen Maßnahmen gegen Bayern absah. Hierbei lassen sich freilich auch militärisch-strategische Rücksichten nicht gänzlich ausschließen: daß die Haltung der bayerischen Reichswehr kaum noch zweifelhaft war, daß die quasimilitärischen Verbände eine im Ernstfall beträchtliche Macht darstellten, daß sie die Grenze nach Thüringen und Sachsen besetzt hatten und zu verteidigen bereit waren. 75 Außerdem mußte, wenn die Reichswehr an diese Grenze herankommen und eine Aufmarschbasis und im Einmarschfall ein ruhiges 74
A. Rosenberg, Entstehung und Geschichte, S. 418. Es ist nicht völlig korrekt, wenn von einer „Reichsexekution gegen Sachsen und Thüringen" gesprochen wird. („Die Thüringische Regierung hatte dasselbe Schicksal"!) Eine förmliche Reichsexekution h a t es 1923 Thüringen gegenüber nicht gegeben. Im April 1920 k a m es — unter gänzlich anderen Umständen — lediglich zu einer Reichsexekution gegen das Land G o t h a und zur Einsetzung eines Reidiskommissars f ü r die thüringischen Länder ( V O R P r ä s zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und O r d n u n g in SachsenG o t h a vom 1 0 . 4 . 1920, R G B l S. 477). — Von sächsischer Seite ist übrigens von der Möglichkeit, den Staatsgerichtshof a n z u r u f e n , angesichts der geringen Aussichten einer Klage nicht Gebrauch gemacht w o r d e n . Zeigner richtete am Tage seiner Absetzung lediglich eine Eingabe an den Reichsrat, in der er Rechtsverwahrung gegen das Vorgehen der Reichsregierung einlegte. Sie w u r d e an den V I I I . Ausschuß überwiesen und d o r t erledigt. N i e d V R R Jg. 1923, § 120. 75
Vgl. Hoegner, Die verratene Republik, S. 156: „Allgemein hielt m a n Einsatz der außerbayerischen Reichswehr gegen Bayern f ü r unmöglich."
einen
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II. Reichspolitik
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Föderalismus
Hinterland besitzen wollte, zuerst die Sicherheit in Sachsen und T h ü ringen wiederhergestellt sein. Nachträglich ist bekannt geworden, daß die Kommunisten ihre Aktionen bewußt soweit zu steigern beabsichtigten, daß sie eine Reichsexekution gegen diese beiden Länder provozierten. Ihre revolutionäre Strategie bezog vielleicht die Annahme einer Fortsetzung der Exekution gegen Bayern ein, die in jedem Falle sehr blutig verlaufen wäre und mit großer Wahrscheinlichkeit einen Bürgerkrieg mit ungewissem Ausgang heraufbeschworen hätte. Schließlich aber mußte die Reichsregierung einem zumindest weitgehend vorbereiteten Einmarsch nationalistischer und militärischer Organisationen von Bayern aus in die beiden mitteldeutschen Länder zuvorkommen, der vermutlich dasselbe Ergebnis gezeitigt hätte. D i e Ausführungen Stresemanns in der Reichskabinettssitzung am 19. und am 2 7 . O k tober lassen keinen Zweifel, daß seine Entscheidung gegen Sachsen zumindest auch, wenn nicht gar in erster Linie dadurch bestimmt wurde, daß er von Bayern aus Gefahr im Verzuge und dadurch die Lage „dermaßen zugespitzt" sah, daß „Zeit nicht mehr zu verlieren" war, und die öffentliche Bekanntgabe des Eingreifens in Sachsen „mit Rücksicht auf die in Bayern vielleicht schon gefaßten Entschlüsse" für dringend notwendig h i e l t . " Angesichts des Verhaltens sächsischer Minister mußte die Reichsregierung dort, wo sie es konnte, schnell und entschlossen handeln, um nicht zum Popanz zu werden und damit der geplanten Aktion von Bayern aus ernsthafte Chancen zu eröffnen. Militärisch gesehen, beschritt die Regierung, indem sie zuerst die V e r hältnisse in Sachsen regulierte, den
richtigen
Weg. D a ß sie es auch
politisch tat, indem sie sich in der Erkenntnis, daß sich mit der militärischen Macht in Bayern ungleich weniger ausrichten ließ als in Sachsen, auf politische Mittel beschränkte und auf eine Exekution verzichtete, bezeugt der Zusammenbruch des bayerischen Abenteuers. Allerdings verfolgte Stresemann diese Linie nicht ohne Schwanken.
Beendigung
des bayerischen Konfliktes. Novemberputsch. Homburger
Ministerpräsidentenkonferenz. Vereinbarungen
Knilling hatte es dankbar begrüßt, daß keine bayerischen Truppen zur Reichsexekution in Sachsen ausersehen waren, und sich sehr schnell bereit
gefunden,
der Durchfahrt
südwestdeutscher
Reichswehrver-
bände keine Hindernisse in den Weg zu legen. 77 Die Vermittlungsver76
Stresemann I, S. 185.
77
„Streng vertraulicher" Bericht Haniels vom 18. 10. 1923, BA, R 43 1/2264.
Konflikte
und Krise 1923
441
suche, die Reichsarbeitsminister Brauns in München unternahm, verliefen indessen ergebnislos; 78 und der Gesandte v. Haniel glaubte, dringend vor „Zwangsmaßnahmen von Seiten der Reichsregierung" warnen zu müssen, weil sie in München „vermutlich weitere Entscheidungen . . . auslösen" würden. Eine Ausrufung der Monarchie sah er zwar nicht mehr als unmittelbar bevorstehend an, da sich ihr die N a tionalsozialisten „mit allen Kräften" widersetzen würden. Er hielt es jedoch nicht für ausgeschlossen, daß, „wenn diese an Einfluß gewinnen und mit den übrigen Rechtsorganisationen unter dem Druck von Berlin sich verbünden sollten, der Lieblingsgedanke Hitlers, mit militärischer Gewalt auf dem Wege über Sachsen, Thüringen nach Berlin zu marschieren, um dort ,Ordnung zu schaffen', auszuführen versucht" werde, was dann die Vorgänge am 8 / 9 . November auch bestätigen sollten. Daneben glaubte er eine ernsthafte Möglichkeit zu erblicken, daß Bayern sich einem Staate anschließen könne, „der aus Rheinland, Ruhr, Baden, Württemberg und eventuell Österreich zu bilden wäre". Fühler in dieser Richtung seien von französischer Seite ausgestreckt, von bayerischer Seite allerdings „schroff zurückgewiesen" worden. 79 Diese Nachrichten wirkten stark dämpfend auf Stresemann, der sich in der ersten Aufwallung seiner Gefühle nach Bekanntwerden der bayerischen Reaktion auf die verfügte Amtsenthebung Lossows zum Äußersten entschlossen zeigte, sich dann aber doch recht schnell be,8
Brauns berichtete hierüber in der Ministerbesprechung am 21. Oktober, suchte aber dadurch zu beruhigen, daß er mitteilte, von einem Bruch Bayerns mit dem Reiche sei gar keine Rede; er liege „nicht in der Absicht der Beteiligten". H e r r von Haniel habe ebenso wie der preußische Geschäftsträger in München den Eindruck, daß die Regierung im Falle Lossow nicht nachgeben könne, da sie sonst durch eine radikalere Rechtsregierung hinweggefegt würde, d a ß aber alle maßgebenden Personen gegen eine Trennung vom Reiche seien. Man wolle nur eine andere Auslegung der Weimarer Verfassung Bayern gegenüber. Audi der sozialdemokratische Führer Auer halte es für völlig ausgeschlossen, eine Preisgabe von Lossow zu erreichen, und sei gegen eine „rein militärische Behandlung der ganzen Angelegenheit. Man hätte keine Befehle geben sollen, die nicht auszuführen wären". Brauns erklärte, er habe telefonisch Geßler vor der Ubergabe des Briefes mit der Entlassungsnachricht gewarnt, von Knilling aber schon am Nachmittag erfahren, daß der Brief eingetroffen sei, der eine „Kriegserklärung der Reichsregierung" darstelle. (Niederschrift über d. RMB, BA, R 43 1/2264.) Für eine Mission des ehemaligen Admiráis Scheer in München im Auftrage Stresemanns, die Hoegner, Die verratene Republik, S. 156, erwähnt, haben sich in den Akten der Reichskanzlei keine Anhaltspunkte finden lassen. Sie ergibt sich jedoch aus einer kurzen Erwähnung Lossows f ü r einen späteren Zeitpunkt (6./7. November). Der Hitler-Prozeß, 1. Teil, S. 167. 79
Bericht Haniels vom 21. 10.
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und
Föderalismus
sann, auf seine Linie zurückfand und erklärte, daß es ihm unmöglich erscheine, „in einer Zeit, wo das Volk Brot haben wolle, den Konflikt mit Bayern zu überspitzen". 80 Die bayerische Regierung hatte in einem Aufruf die Inpflichtnahme der Reichswehr in Bayern angekündigt, die auch wirklich am 22. Oktober stattfand; die Verbreitung des Gegenbefehls des Chefs der Heeresleitung wurde von Kahr unterdrückt. 81 Damit war der Konflikt auf dem Höhepunkt angelangt. Der Generalstaatskommissar nahm die Absetzung des Generals sogar zum Anlaß, vor der Presse zu erklären, daß Bayern sich im „Kampf der marxistischen, internationalen und undeutschen Einstellung gegen die nationale und christliche Volksanschauung . . . als Streiter f ü r den großen deutschen Gedanken" fühle, daß aber seine Haltung „mit separatistischen und partikularistischen Bestrebungen nichts zu tun" habe. 82 Derartige Manifeste legen allerdings die Frage nahe, ob sie nicht schon als Zeichen der inneren Schwäche und Unsicherheit Kahrs genommen werden müssen, die Haniel schon vorher einmal zu bemerken glaubte und nach Berlin berichtet hatte. Es konnten in Berlin kaum noch Zweifel darüber bestehen, daß die hauptsächliche Gefahr allein von Hitler, seinen Nationalsozialisten und den Männern und Verbänden drohte, die sich in seinen Bannkreis begeben hatten. Jedenfalls hatte Stresemann bereits seine Ruhe wiedergefunden, als er den Gesandten Preger empfing und von ihm die Erklärung der bayerischen Regierung entgegennahm. 83 Beide Männer wußten sich darin einig, daß der Konflikt beigelegt werden mußte, und fanden im anschließenden Gespräch anscheinend eine Lösung in dem Gedanken, den Streitfall vor den Reichsrat zu bringen, der nach beider Übereinkommen, dem auch Knilling sofort seine Zustimmung gab, durch einen Antrag des demokratischen württembergischen Staatspräsidenten v. Hieber einberufen werden sollte. Im Reichskabinett wurden zwar noch einzelne Bedenken laut; Stresemann wußte jedoch den auftauchenden Hoffnungsschimmer festzuhalten und sofort die Öffentlichkeit zu unterrichten. Er bedeutete Entspannung und konnte sogar Rückwirkungen auf den Dollar-Kurs haben, wie der Reichskanzler meinte. 84 80 So Koch-Weser über Gespräche mit Stresemann u n d Geßler in der nachträglichen Aufzeichnung vom 6. 11. 1923. 81
Verpflichtungsformel und Gegenbefehl Poetzsch, J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 94 f.
Seeckts im
82
a. a. O., S. 93.
83
Niederschrift vom 21. 10. 1923. Stresemann I, S. 173. Niederschrift über d. R M B am 2 1 . 1 0 . 1 9 2 3 .
84
Wortlaut
abgedruckt
bei
Konflikte
und Krise 1923
443
Stresemann scheint eine Art Rechtsprozeß der Länder gegen Bayern vorgeschwebt zu haben. Die Bedenken hinsichtlich der Haltung des Reichsrats, die auch in der Ministerbesprechung laut wurden, w o gen aber doch zu schwer, als das Stresemann in ungebundener Route zu steuern wagte. Er sprach daher mit Hieber als angestrebtes Ziel der Verhandlungen einen Beschluß ab, der die Rechtslage der beiden Ausnahmezustände dem Staatsgerichtshof und die Beseitigung Lossows weiteren Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und Bayern überweisen sollte. Von dieser Art der Herbeiführung einer Entscheidung erst in der „zweiten Instanz" hielten indessen vor allem die demokratische Reichstagsfraktion und Koch-Weser nichts, der den württembergischen Staatspräsidenten v o n diesem Wege wieder abbrachte.85 A m Ende einigte man sich auf die Einberufung einer Konferenz der Ministerpräsidenten und Gesandten der Länder auf den 24. Oktober, in der tatsächlich ein Prozeß der Verteidigung und Anklage Bayerns abrollte und die ein großes Plädoyer des Gesandten Preger gegen die 65
Hierzu eine Bemerkung Koch-Wesers über eine Sitzung des Vorstandes der Demokratischen Reichstagsfraktion, in der Hieber kurz nach seiner Besprechung mit Stresemann erschien und berichtete, beide hätten „sich auf einen überaus schwächlichen Kompromiß . . . geeinigt, . . . Mit Mühe redeten wir ihm diesen Kompromiß aus. Insbesondere betonte ich ihm gegenüber, daß es die Aufgabe des Reichsrats nur sein könne, sich hinter die Reichsregierung zu ihrer Unterstützung zu stellen, nicht aber als Vermittler zwischen Bayern und der Reichsregierung zu stehen". Am gleichen Tage ging aber dem Reichswehrminister über den Staatssekretär Kempkes eine Denkschrift Hamms zu, die ebenfalls den Weg zum Staatsgerichtshof f ü r beide Parteien in Erwägung zog und dringend vor einer Fortsetzung der Machtprobe warnte: „Die entscheidenden Fragen sind, was der Reichsverkehrsminister, der Reichspostminister und der Reichsfinanzminister ihren Beamten befehlen werden. Man muß sich darüber klar sein, daß einer Einstellung des Verkehrs der Generalstaatskommissar mit den schärfsten Mitteln, insbesondere mit Verschärfung seines Streikverbots und der Einsetzung von Standgerichten entgegenzutreten geneigt sein wird. Es wird erklärt werden, daß der Verfassungsstreit nicht auf dem Rücken der Bevölkerung und nicht mit dem Mittel des Hungers ausgefoditen werden darf, und das wird auf die bayerische Bevölkerung wie auf die bayerischen Beamten der Reichsverkehrsbetriebe starken Eindruck machen. Daher wäre ein solches Verbot wohl ein zweischneidiges Schwert und wäre besser zu unterlassen." Von der bayerischen Wirtschaft sei nichts zu erwarten. „Der Schlagwortkampf der von norddeutschen Großindustriellen ausgchaltenen antimarxistischen Presse hat seine Wirkung getan . . . Die Heilung wird daher meines Erachtens überwiegend kommen müssen von einer Eroberung der öffentlichen Meinung und von einer klugen, starken staatsbürgerlichen Politik der Reichsregierung. Ein fauler Kompromiß mit Sachsen z. B. wäre das Gegenteil davon." BA, R 43 1/2264.
444
11. Reichspolitik
und
Föderalismus
Reichspolitik brachte. 88 Es war in der Sache bereits eine Vorwegnahme, jedoch auf die Problematik des Artikels 48 zugespitzte Darlegung der Gedanken der bayerischen Verfassungsdenkschrift von 1924, wenn Preger erklärte, ernstere Meinungsverschiedenheiten zwischen Bayern und dem Reich seien „immer wieder aufgetreten, seitdem die alte Reichsverfassung zerbrochen ist und man in Weimar eine auf gänzlich anderen Grundlagen aufgebaute Reichsverfassung an Stelle der Bismarckschen gesetzt hat. Ich darf es ruhig aussprechen, daß die Überspannung des unitarischen Gedankens, wie sie in dieser Reichsverfassung zum Ausdruck gekommen ist, sich nicht als ein Segen erwiesen hat. Jedenfalls hat in Bayern die Mißstimmung gegen das Reich, die zu einer starken Reichsverdrossenheit geführt hat, ihren Grund darin, daß die Rechte, die Bayern durch die frühere föderative Reichsverfassung unangetastet geblieben waren, die Militärhoheit, die Finanzhoheit, Verkehrshoheit usw., ihm durch die Weimarer Verfassung genommen wurden, und daß ihm in das staatliche Eigenleben auf den verschiedensten Gebieten in unerträglicher Weise auf Grund der Weimarer Verfassung vom Reich eingegriffen werden kann und eingegriffen wurde. Einen besonderen Stein des Anstoßes hat von jeher der Artikel 48 der Reichsverfassung gebildet. Alle schweren Konflikte, die zwischen Bayern und dem Reich in den letzten Jahren entstanden sind, haben von diesem Artikel ihren Ausgang genommen." Dies war in rechtlicher Hinsicht, wie wir gesehen haben, zutreffend und wies auf die Notwendigkeit künftiger Erörterungen über die präsidiale Diktaturgewalt hin. Die Konferenz endete mit einem staatsklugen Beschluß, in dem sich sämtliche Länder hinter die Reichsregierung stellten, jedoch ebenso einmütig eine baldige Umwandlung des militärischen in einen zivilen Ausnahmezustand verlangten und „im Einverständnis mit dem Herrn Reichskanzler... es f ü r erwünscht" hielten, „daß Verhandlungen über die fernere Gestaltung des Verhältnisses von Reich und Ländern im Sinne einer größeren Selbständigkeit der Länder zu geeigneter Zeit eingeleitet werden". Dies w a r sehr großzügig formuliert, stellte aber doch der bayerischen Absicht einer föderalistischen Verfassungsrevision, die inzwischen ruchbar geworden war, eine allgemeine Anerkennung in Aussicht, so daß auch der bayerische Gesandte keine Einwände mehr vorbrachte und nur noch, jedoch erfolglos, eine Veröffentlichung des Re
„Sitzung der Ministerpräsidenten 24. O k t o b e r 1923", BA, R 43 1/2264.
und
der
Gesandten
der
Länder
am
..
Konflikte
und Krise
1923
445
Beschlusses zu verhindern suchte. Nachdem die Versammlung dies in die Entscheidung des Reichskanzlers gelegt hatte, ging unverzüglich ein ausführlicher Bericht mit dem Wortlaut des Beschlusses an die Presse und in die Öffentlichkeit. 87 Die einheitliche Bekundung sämtlicher Länder verbesserte schlagartig die Stellung der Reichsregierung in ihrem verzweifelten Kampfe gegen die Direktoriumspläne und gegen den drohenden nationalen Putsch. Sie gewann sich auch in Bayern Sympathien dadurch, daß sie dem Experiment der autonomen Pfalz unter dem Protektorat des Generals de Metz ihre Anerkennung versagte. Anderseits wirkte der Ausgang der österreichischen Wahlen ernüchternd, der, wie Haniel berichtete, in München erkennen ließ, „daß die nationalen Bäume auch in den südlichen Teilen des deutschen Volkes nicht in den Himmel wachsen und daß die Sozialdemokraten nicht aus der Welt zu schaffen sind". 88 Knilling sah jetzt „förmlich vergrämt" aus, fand indes aus seiner Auffassung, daß die Entwicklung „gewissermaßen zwangsläufig" sei, nicht heraus. Aber immerhin schien ihm doch jetzt eine Preisgabe des von dem Hauch des Putschisten umgebenen Lossow gegen Zugeständnisse des Reiches an Bayern denkbar. Der General hatte sich sogar zu dem Schritt entschlossen, eine Funkmitteilung an die gesamte Reichswehr, also auch die außerhalb Bayerns, hinausgehen zu lassen, die ihrem Inhalt nach eine Aufforderung zu Meuterei war und die sich keineswegs mehr mit der von der bayerischen Regierung bekundeten Reichstreue vereinbaren ließ,89 so daß nun Knilling genauso wie der Chef der Heeresleitung wohl oder übel daran denken mußte, den General, den er so lange gehalten, über kurz oder lang endgültig fallen zu lassen. Bei diesem Stand der Dinge ergriffen Hitler und Ludendorff in einem Akt revolutionärer Führungsrivalität den letzten Zipfel einer völlig überschätzten Möglichkeit, um ihren „Marsch auf Berlin" in Szene zu setzen. Mit dem Ausgang dieses Versuches endete das fragwürdig und brüchig gewordene Bündnis zwischen schwarz-weiß-rotem Radikalismus und blau-weißer Richtung. 90 Dem Chef der Heeresleitung, der sich noch wenige Tage vorher an Kahr gewandt und, seine eigene politische Geistesverwandtschaft nach87
Abgedruckt bei Poetzsch, JböR X I I I / 1 9 2 5 , S. 95. ' Bericht Haniels vom 25. 10., BA, R 43 1/2264. 88 T e x t bei Geßler, Reichswehr und Politik, S. 269. 90 Vgl. die Untersuchung von Karl Rothenbücher, Der Fall K a h r (Recht u. Staat i. Gesch. u. Gegenwart, N r . 29), Tübingen 1924; Schwend, Bayern, S. 242 ff.; Hoegner, Die verratene Republik, S. 158 ff.; u n d : Der schwierige Außenseiter, S. 29 ff. 8
446
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
weisend, einzulenken versucht hatte, 91 trug die Kunde von dem Münchener Putsch, mit dem sich das Reichskabinett schon in den späten Abendstunden des 8. November befaßte, die Übernahme der vollziehenden Gewalt ein.92 Sie machte den Mann, der sich selbst mit Direktoriumsplänen befaßte und dem eine möglichst stillschweigende Lösung der politischen Rechten von dem extremen nationalistischen Radikalismus und das Ziel einer „klaren Einheitsfront aller Nationalgesinnten" vorschwebte, nolens volens zum Schützer der amtierenden Regierung und der bestehenden Ordnung und die Reichswehr unter seiner Führung zum Unterpfand der Reichseinheit. In München zeigte sich indessen die hoffnungslose Isoliertheit Hitlers und Ludendorffs schon innerhalb weniger Stunden, so daß die Revolte der Nationalsozialisten bereits am nächtsen Tage allein durch die Ordnungsmittel der Münchener Polizeibehörden beendet werden konnte. Es trug wesentlich zur endgültigen Reinigung der Atmosphäre bei, daß Hitler den wankelmütigen Kahr und den unsicheren General v. Lossow in seinen Putsch mit hineinriß, so daß beide nach einer kurzen Anstandsfrist von wenigen Monaten ebenfalls und für immer von der grotesk zugerichteten Bühne der bayerischen Politik verschwanden. Ihr Fall machte den Weg frei zu den Homburger Vereinbarungen vom 18. Februar 1924, 03 mit denen Bayern und die Reichsregierung endgültig ihren Konflikt beseitigten. Allerdings nahm die Reichsregierung, indem sie vor der Drohung Gürtners mit einem „neuen Konflikt" zurückwich, mit der Uberweisung des Hitler-Prozesses an die bayerische Justiz, 94 obgleich er auf Grund des Republikschutzgesetzes ohne jeden Zweifel vor den Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik gehört hätte, eine empfindliche Schlappe hin. Auch der in formaler Hinsicht berechtigte Einspruch der bayerischen Regierung gegen die Form der Vgl.
Rabenau,
Seeckt,
S. 368 ff.;
zur
Ergänzung
Helmut
Krausnick,
Vor-
geschichte und Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler: Die Vollmacht des Gewissens, hrsg. v. d. Europäischen Publikation e.V., München 1956, S. 181. 92
VORPräs über den Oberbefehl über die Reichswehr und die Ausübung der
vollziehenden Gewalt vom 8. November 1923 (RGBl I 1923, S. 1084). Über die Kabinettssitzung in der Nacht vom 8. zum 9. November: Stresemann I, S. 204 f.; Geßler, Reichswehr und Politik, S. 274 f.; und die phantasievolle Schilderung von Rabenau, a . a . O . , S. 373 ff. 93
Wortlaut bei Poetzsch, JböR X I I I / 1 9 2 5 , S. 96.
94
Das ruhmlose Kapitel dieses Prozesses und des bayerischen Prozeßverfahrens,
das es schwer macht zu erkennen, wer Angeklagter war und wer anklagen durfte, enthüllt die vollständige Textausgabe des öffentlichen Teils der Verhandlungen, Der Hitler-Prozeß vor dem Volksgericht in München, München 1924, 2 Teile.
Konflikte
und Krise 1923
447
Besetzung des süddeutschen Senats im Prozeß gegen die Organisation Consul gereichte dem Ansehen der Reichsregierung keineswegs zum Vorteil. 95 U n d in der Frage der polizeilichen Tätigkeit konnte sich der bayerische Innenminister in einer Abmachung mit dem Reichsinnenminister vom 17. Mai 1924 von jeder Aufsicht und Eingriffsmöglichkeit des Reiches lösen. Der Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung erhielt nun regelmäßig die Lageberichte der Polizeidirektionen München und Nürnberg/Fürth und verpflichtete sich dafür, in Bayern keine Nachrichtenorganisation ohne Wissen und vorherige Zustimmung der bayerischen Regierung zu unterhalten und dem Bayerischen Staatsministerium von jeder Nachricht, die Bayern betraf, unterschiedslos Kennntnis zu geben. 96 Hiermit endete die gefahrvolle Periode der schlimmsten inneren und äußeren Erschütterungen der Republik, die in ihren kritischen Punkten nur mit H i l f e der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten überwunden wurde, so daß der Artikel 48 schon in der Frühzeit der Republik überaus häufig angewandt und zu einem allgemeinen N o t verordnungsrecht geweitet erscheint,97 um die exekutive Schwäche des Reiches in Krisenzeiten auszugleichen, was eine erhebliche Verstärkung der Stellung des Reichspräsidenten und im Verhältnis zwischen Reich und Ländern eine Verschiebung zugunsten des Reiches mit sich brachte. Schon in diesen Konflikten von 1923 zeichnete sich die überwältigende 95 Der Senatspräsident des Staatsgerichtshofes, Niedner, scheute sich, für drei ordnungsgemäß bestellte Mitglieder, die am Erscheinen verhindert waren und die der S P D bzw. der D D P angehörten, die vorgesehenen Stellvertreter einzuberufen, da keiner von ihnen Mitglied einer dieser beiden Parteien war, und ersetzte sie durch drei ordentliche Mitglieder des norddeutschen Senats, die ebenfalls wieder der SPD bzw. der D D P angehörten. Hierauf erfolgte ein Protest der bayerischen Regierung. In der Reichsministerbesprechung vom 31. Oktober 1924 verzichtete die Reichsregierung nach Vortrag des Staatssekretärs Joel vom Reichsjustizministerium darauf, sich vor den Senatspräsidenten zu stellen. (Ausz. a. d. P r R M B BA, R 43 1/2262.) Die folgenden Verhandlungen der bayerischen Regierung erstreckten dann die auf die Besetzung der Senate des Staatsgerichtshofs bezüglichen Abmachungen des „Berliner Protokolls" sinngemäß auch auf die Bestimmungen der Geschäftsordnung für den süddeutschen Senat. 96 Mitteilung des Reichsinnenministers Jarres an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 27. 5.1924, BA, R 43 1/2263. 97
Ein Verzeichnis der Notverordnungen, die auf den Art. 48 Abs. 2 zurückgehen, von Poetzsch, JböR XIII/1925, S. 141 ff., f ü h r t für das Jahr 1919 f ü n f , für 1920 37, für 1921 19, für 1922 8, für 1923 42 und f ü r das Jahr 1924 23 Titel auf, insgesamt also 134; davon betrafen 43, die hauptsächlich auf die Jahre 1923 und 1924 entfallen, wirtschaftliche Notstandsmaßnahmen.
448
II. Reichspolitik
und
Föderalismus
Machtfülle ab, die sich aus dieser Praktizierung des Artikels 48 für die Reichsgewalt ergeben konnte. Bayern hat aber in allen Schwankungen der innerpolitischen Verhältnisse, auch nach dem Ende der Ära Kahr, mit hoher Selbsteinschätzung sein partikuläres Interesse behauptet, das sich in den folgenden Jahren allgemeiner Beruhigung einer grundsätzlichen Diskussion stellte und diese voranzutreiben suchte. Mit der Denkschrift vom Januar 1924"8 — noch vor der endgültigen Beilegung des Konflikts — begann erneut eine politische, nun jedoch mit verfassungsrechtlichen Mitteln vorgetragene Offensive der bayerischen Regierung gegen die Weimarer Verfassung, die „nicht das Ansehen" genoß, „das dem staatlichen Grundgesetz des Reiches gebührt". Sie stellte eine geschickte Vereinigung föderalistischer Ansprüche mit konservativen, auf das Bismarckreich pochenden Reservationen gegenüber dem „unitarischen" republikanischen Staatswesen dar, eine Berufung auf den „Bismarckschen Föderalismus" gegen den „unitarischen Geist" von Weimar: „Dort der starke Kitt der Monarchie, hier die schwache Bindekraft der Republik". Die Gravamina, die sie nach vier kritischen und leidvollen Jahren als praktische Ergebnisse der Reichsverfassung aufzählte, hatten nach A u f fassung der bayerischen Staatsregierung „den untrüglichen Beweis geliefert, daß dieses Verfassungswerk sein Ziel verfehlt" hatte, und zwar „in verwaltungstechnischer Beziehung ebenso wie in staatspolitischer, und daß es kein geeignetes Mittel war, um dem deutschen Volke den Wiederaufstieg aus seinem Unglück zu ermöglichen". 98 Eine Gesundung sollte nunmehr von den Ländern ausgehen, denen es aber an „staatlichem Eigenleben zur Entwicklung der eigenen lebendigen Volkskräfte" und an Einfluß auf die Willensbildung und Verwaltung des Reiches fehlte. Interessant ist, daß auch das Wachsen des kostspieligen Behörden- und Beamtenapparates vermerkt und der Reichsverfassung zur Last gelegt wurde. Hugo Preuß wie auch Otto Braun dagegen sahen gerade in der Existenz der Länder in alter Form „ein Kräfte und Mittel vergeudendes Hindernis"; 100 Braun behauptete sogar, daß ein föderativer Staat immer teurer wirtschaften müsse als ein zentralistisch 98 Zur Revision der Weimarer Reichsverfassung. Denkschrift der Bayerischen Staatsregierung, abgedr. in den Beratungsunterlagen des Verfassungsausschusses der L ä n d e r k o n f e r e n z (1928), S. 343—361; kurzer Auszug bei Ellinor v. P u t t k a m e r , Föderative Elemente, S. 169 f. 09 Beratungsunterlagen, S. 344. IOO p r e u ß > Ober den Artikel 48 der Reichsverfassung, wieder abgedruckt in der A u f s a t z s a m m l u n g : U m die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924, S. 33.
Konflikte
und Krise 1923
449
organisiertes Staatswesen. 101 Das Beispiel von Schaumburg-Lippe war allerdings ganz und gar ungeeignet, eine solche Behauptung zu erhärten. Seit dieser Denkschrift ist es allgemein üblich geworden, von Unitarismus und Föderalismus zu sprechen und damit eine Front zweier Parteien zu bezeichnen, die beide eine „Reichsreform" wollten, die eine jedoch unter „organischer" Fortbildung der Reichszuständigkeiten, die andere als eine Restauration des Bundes nach dem Vorbild des Bismarckreiches. Die Ereignisse im Herbst 1923 hatten indessen in ganz Deutschland psychologisch zu Ungunsten Bayerns gewirkt, so daß an eine günstige Aufnahme dieser Denkschrift vorläufig nicht zu denken war.
101
29
O t t o Braun, Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem? Berlin 1927, S. 18.
SAuIz I
DRITTER
TEIL
Tendenzen und Probleme einer Reichsreform 1924-30
E L F T E S
K A P I T E L
Reichsexekutive, Reichswehr und Reichspräsident zu Beginn des zweiten Jahrfünfts Entspannung und MachtverSchiebung im Reich. Reichsreform statt Verfassungspolitik Seit Mitte Oktober 1923 bestand eine mittels Ermächtigungsgesetzes „parlamentarisch sanktionierte Diktatur" der Reichsregierung1, die durch den Ausnahmezustand begründet worden war. Doch sie war befristet und mußte mit dem Entzug der Voraussetzungen ihrer Regierungsweise durch den Ende Februar wieder zusammentretenden Reichstag rechnen. Vor die Notwendigkeit gestellt, in der Frage des Ermächtigungsgesetzes erneut mit den Parteien Fühlung aufzunehmen, ergab sich für die Reichsminister trotz der eingeleiteten und erfolgreich vorangeführten Liquidation des Staatsbankrotts kaum eine Aussicht, zu einer Reichstagsmehrheit zu gelangen. Von seiten der Deutschnationalen stand nach zuverlässigen Informationen ein Mißtrauensantrag bevor; die Haltung der Sozialdemokraten war ungewiß, von den bürgerlichen Parteien keine weitere Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes, gewiß aber das Verlangen nach Aufhebung des Ausnahmezustandes zu erwarten. 2 Doch auch von einer Neuwahl versprach sich keiner der Reichsminister ein günstiges Ergebnis. Die Ereignisse während des vergangenen Jahres und die schwere Belastung des Volkes durch die letzten einschneidenden Maßnahmen der Reichsregierung hatten politischen Zündstoff angehäuft, der in einer für die Wahl mobilisierten Agitation der Parteien unübersehbare Folgen heraufbeschwören konnte, die die Reichspolitik noch größeren Gefährdungen aussetzte, als ohnehin vorhanden waren. Es gab ihrer jetzt schon bedenklich viele. Nach Mitteilungen des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft, Graf Kanitz, ent1
Wilhelm Külz, Deutschlands innerpolitische Gestaltung:
Geschichte, 1 9 1 8 — 1 9 2 8 , Berlin 1928, S. 66. 2
R M B 6 . 2 . 1924, Auszug BA, R 43 1/1869.
Zehn Jahre
deutsche
454
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
schlössen sich Teile der Landwirtschaft zu Steuerstreiks. 3 In München war wieder eine starke rechtsradikale Agitation am Werke, die in weit stärkerem Maße von der Landwirtschaft des Ostens unterstützt wurde als der Hitlerputsch Monate zuvor. Aus Baden und Württemberg kamen vom Oberreichsanwalt bestätigte Nachrichten, die von einem erheblichen Bodengewinn der Kommunisten zu berichten wußten. Überdies breitete sich auch dort die Unzufriedenheit in der Landwirtschaft und besonders fühlbar in der Beamtenschaft aus. Die Verhältnisse wurden hier selbst nach eintretender Besserung der wirtschaftlichen Lage als ernst angesehen. Da zudem die Reichswehr in den Münchener Vorgängen des voraufgegangenen Jahres etwas von dem Nimbus ihrer Zuverlässigkeit eingebüßt hatte, so daß ihr auch jetzt durchaus zugetraut wurde, daß sie vielleicht in absehbarer Zeit wieder nicht „zuverlässig" sein würde,4 beharrte die Mehrheit der Reichsminister auf dem Standpunkt, daß einstweilen der Ausnahmezustand beibehalten werden müsse, um die Reichsexekutive sicherzustellen. Sie ventilierten den Gedanken, ohne Reichstag die Geschäfte weiterzuführen, ihn also aufzulösen und die Neuwahl möglichst weit hinauszuschieben, wenn auch nicht so weit, wie ein Vorschlag von Graf Kanitz wollte, in diesem Jahre 1924 überhaupt nicht mehr wählen zu lassen. Reichskanzler Marx hielt zwar an seiner Absicht fest, zunächst zur Tuchfühlung mit den Parteien zu kommen; das Ergebnis dieses Versuches war jedoch ein völliger Fehlschlag des Planes, das Ermächtigungsgesetz zur Permanenz zu bringen. Infolgedessen sah die Reichsregierung keine andere Wahl, als am 13. März den Reichstag aufzulösen und die Neuwahl endgültig auf den 4. Mai festzusetzen, so daß die Frist der Geschäftsführung der Reichsregierung kurz bemessen blieb. Immerhin reichte die Zeit, um das begonnene Werk der Konsolidierung fortzuführen. Doch auch jetzt und in den folgenden Jahren einer unerwartet rasch voranschreitenden inneren Stabilisierung blieb das Problem der Reichsexekutive in der Schwebe. Die Beendigung des Ruhrkampfes, die Stabilisierung der Währung und das Reparationsabkommen, verhältnismäßig dicht aufeinander folgende und miteinander in Zusammenhang stehende Ereignisse, beendeten die krisenhafte Periode des Anfangs, die die Republik mehrmals nahe an den Rand des Abgrundes geführt hatte. Es begann eine Periode der Beruhigung, in der der Verfassungsstaat von Weimar zum 3 4
Ebda. Graf Kanitz, ebda.
Reichsexekittive,
Reichswehr und
Reichspräsident
455
ersten Male ohne die Nothilfe präsidialer Diktaturmaßnahmen Gestalt anzunehmen vermochte. Die Wahl des in weiten Kreisen der Bevölkerung von der Kriegszeit her noch in hohem Ansehen stehenden Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten nach dem ersten Jahre der Erholung kennzeichnet Richtung und Umfang der Teilnahme der Rechten, die bis dahin in Opposition nicht nur zu den Verfassungsparteien, sondern zum neuen Staat schlechthin gestanden hatte. Wie sich in den beiden aufeinander folgenden Reichstagswahlen vom 4. Mai und vom 7. Dezember 1924 erwies, war das Jahr der wirtschaftlichen Stabilisierung erst ein Anfang der Konsolidierung. Es stand im Zeichen eines starken Rechtsrucks, der zunächst die Deutschnationale Volkspartei zur stärksten Reichstagsfraktion anwachsen ließ, die Völkischen und Nationalsozialisten mit 32 Köpfen hinter der Deutschen Volkspartei und noch vor der geschlagenen Demokratischen Partei einordnete und die Kommunisten als die größten Gewinner des Frühjahrswahlkampfes mit einem Zuwachs von 60 Abgeordneten der Größenordnung nach dicht an das Zentrum heranrücken ließ. In der paradoxen Entwicklung während dieses Jahres schlug zwar sieben Monate später das Pendel wieder in die entgegengesetzte Richtung aus. Die Sozialdemokraten gewannen erheblich, und auch die Demokratische Partei und die Deutsche Volkspartei konnten sich von dem harten Schlag, den sie im Frühjahr erlitten hatten, noch einmal erholen; das rasche Anwachsen der äußersten Linken wie der extremen Rechten erwies sich diesmal noch als Übergangserscheinung, die bereits wieder im Abklingen begriffen war, als Nachwirkung überwundener Erschütterungen. Die Stellung der Deutschnationalen indessen hatte sich weiterhin gefestigt, und die Partei des bayerischen Staatsund Landesinteresses im Reichstag, die Bayerische Volkspartei, erreichte eine Fraktionsstärke von 19 Köpfen und konnte nun neben der anwachsenden bürgerlichen Wirtschaftlichen Vereinigung als wichtiges Zünglein an der Waage gelten, dessen Bedeutung mit dem einsetzenden Niedergang der bürgerlichen Mitte im Parteiensystem notwendig zunehmen mußte. Doch dieser verspäteten Revision des Startes der alten Parteien aus dem 19. Jahrhundert nach der Umwälzung von 1913 war kein wirksamer Erfolg beschieden. H a t t e sich nach der Frühjahrswahl das Kabinett der gemäßigten Rechten unter Führung des Zentrumsmannes Marx bei geringen Veränderungen noch mit drei demokratischen Ministern am Ruder halten können, so wirkte sich die verbesserte Stellung der Deutschnationalen auch zu Beginn des Jahres 1925 bei der Bildung des neuen Kabinetts
456
III. Tendenzen und Probleme einer Reichsreform
unter dem parteilosen Reichskanzler Luther aus. Mit vier Ministern gewann diese Partei, die bis dahin in schärfster Opposition gegen das Reich als Republik verharrte, den stärksten Anteil an der neuen Reichsregierung, in der sie nun die für die innere Politik wichtigsten Ressorts des Innern, der Finanzen, der Justiz, für Wirtschaft und für die besetzten Gebiete in ihre Hände brachte. Dieser L a u f der Dinge nach der voraufgegangenen Periode der Erschütterungen blieb nicht ohne Auswirkungen auf den Kurs der Reichspolitik, was sich auch in einer nach den schlimmen Erfahrungen der letzten Jahre durchaus begründeten Wandlung der Beziehungen zwischen Reichsregierung und Ländern äußerte. Die unitarische „Aushöhlungspolitik" war einstweilen ans Ende gelangt; aber mit der zunehmenden Entfernung der Regierungsbildung im Reiche von der Weimarer Ausgangsposition — während die Weimarer Koalition in Preußen lediglich für kürzere Zwischenphasen auf Führung oder Beteiligung der S P D verzichtete — rückten die Beziehungen zur preußischen Regierung in ein neues Licht. Zudem trugen auch die zurückliegenden Vorgänge in Bayern dazu bei, daß Verwaltung und Regierung des preußischen Einheitsstaates als mächtiger und ausschlaggebender Stabilisierungsfaktor allgemein erkannt wurden. D e r Beginn eines Prozesses der gegenseitigen Anpassung der von der antiparlamentarischen Opposition zur Verfassungskritik wechselnden politischen Kräfte und der in einen Ausbau von Normen und Praktiken ausmündenden maßvollen Verfassungspolitik äußerte sich in den Forderungen und Programmen einer „Reichsreform". Die wogende Unzufriedenheit mit dem politischen Schicksal Deutschlands, die in den voraufgegangenen Jahren hohe Wellen geschlagen hatte, war in die Bahnen der Mäßigung gezwungen, so daß die Hoffnung auf eine breite Konsolidierung der Republik einige Aussichten zu haben schien. D a ß dieser Prozeß, der im Zeichen einer Restitution des Bürgertums stand, nicht ohne Auseinandersetzung mit dem improvisierten Verfassungswerk von Weimar vor sich ging und teilweise Schmerzen verursachte, nimmt nicht wunder. Doch wenn es überhaupt eine Periode gab, in der die tragenden Kräfte der Republik aus den Pressionen unablässiger Verteidigung in einem harten Existenzkampf heraustreten konnten und zu sich selbst gelangten, so galt dies annähernd von diesen Jahren. In ihnen spielten nun die Erörterungen einer Reichsreform eine an Bedeutung gewinnende Rolle, die in ihrer Mehrzahl dem durchaus optimistischen Bestreben entsprachen, nach den Erfahrungen der voraufgegangenen J a h r e nunmehr dem Verfassungswerk von Wei-
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
457
mar durch Fortbildung und Änderung einzelner Teile Dauer zu verleihen. Das Hinaustreten der verfassungspolitischen Bestrebungen aus den Ministerien und Regierungen in den weiten Raum der Parlamente und der breiten Öffentlichkeit begann mit der vielerörterten bayerischen Denkschrift vom Januar 1924 und den ihrem Beispiel folgenden parlamentarischen Verfassungsrevisionsanträgen, die eine Stärkung der Reichsregierung auf Kosten parlamentarischer Institutionen wollten. 5 Erörterung
der bayerischen Denkschrift vom Januar
1924
Die autoritativen Erörterungen vor der Öffentlichkeit, die die bayerische Regierung offenbar .bezweckte und die ihr in der Tat einige Sympathien für ihre Gesichtspunkte einbrachten,' sind der wirklichen Entwicklung eher gefolgt als voraufgegangen. Sie beeinflußten sie weit weniger als der Umstand, daß das Reichskabinett Marx gar nicht daran dachte, die bisherige Reidispolitik den Ländern gegenüber zu verteidigen, so daß die bayerische Denkschrift weit offene Türen fand. Ihr teilweise recht schroffer Ton hatte bereits bei ihrer Aushändigung in Berlin eine wirksame Glättung erfahren durch die vermittelnden Erläuterungen, die der Münchener Gesandte v. Haniel unter Verweis auf eine Stellungnahme des bayerischen Ministeriums des Äußeren gab. 7 Er unterrichtete die Reichsregierung, daß der Inhalt der Denkschrift „keineswegs als ein unabänderliches, die bayerischen Mindestforderungen darstellendes Programm" aufgefaßt werden dürfte. Die allgemeinen Formulierungen wurden nur gewählt, „um Verhandlungen und Abänderungen genügend weiten Spielraum zu lassen". Soweit der Weg der Gesetzgebung beschritten werden müßte, sollten die 5 Die ersten der mehrfach wiederholten Anträge auf eine „Revision der Weimarer Verfassung", die im Reichstag eingebracht wurden, gingen von der BVP aus (20. 11. 1923 u. 2 8 . 5 . 1 9 2 4 ; Vh RT I. WPer Anl Nr. 6296 u. 6330, StenBer Bd. 380), der nächste Antrag kam von der D N V P (6. 1 1 . 1 9 2 4 ; Vh R T II. WPer Anl Nr. 56, StenBer Bd. 382). * Die deutschen Staatsrechtslehrer befaßten sich im April des gleichen Jahres auf ihrer Tagung in Jena mit dem Problem des Föderalismus. Sie lehnten eine „Totalrevision der Weimarer Verfassung" im Sinne der bayerischen Forderungen ab, sprachen sich aber für eine „stärkere Schonung der eigenen Zuständigkeit der Einzelstaaten" und Erweiterung ihres Selbstbestimmungsrechtes wie ihres Mitbestimmungsrechtes bei der Bildung des Reithswillens aus. Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 1 : Der deutsche Föderalismus / Die Diktatur des Reichspräsidenten, Berlin und Leipzig 1924, S. 33 u. 58 f.
'Bericht an den Reichskanzler vom 8 . 1 . 1 9 2 4 BA, R 43 1/2332.
458
III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reidisrefoim
bayerischen Wünsche „auch zeitlich" nicht als Einheit betrachtet werden. In vorsichtiger Formulierung, doch in deutlicher Weise führte Haniel schließlich noch Rücksichten auf die bevorstehende bayerische Landtagswahl an, so daß alles in allem von der bayerischen Forderung nach einer Totalrevision der Verfassungsverhältnisse nichts Bedrückendes übrig blieb. Haniels Vorschlag, einer Festlegung aus dem Wege zu gehen und Verhandlungen mit der bayerischen Regierung zu eröffnen, konnte infolgedessen vom Reichskanzler ohne Schwierigkeiten angenommen werden.® Und auch unter den Reichsministern bestand Einmütigkeit in der Auffassung, daß die „allzu starke Zentralisierung" der vergangenen Jahre für die Länder auf die Dauer nicht tragbar und daß demzufolge „eine Rückkehr zum Föderalismus" geboten sei.9 Reichsfinanzminister Luther glaubte zwar, davor warnen zu müssen, die Entwicklung der Finanzverwaltung, die „im Laufe der Zeit zu einem durchaus brauchbaren Verwaltungsgebilde" geworden war, „nunmehr jäh zu unterbrechen". Doch sein Einwand galt nur einer „sofortigen Durchführung" der bayerischen Forderungen auf dem Gebiete der Finanzen, f ü r die er die Veranwortung nicht übernehmen wollte; „bis zum 1. April 1925" müßte unter allen Umständen gewartet werden. Luther beeilte sich sofort, mit der Versicherung zu beschwichtigen, daß er „in staatsrechtlicher Beziehung . . . dem Standpunkt der bayerischen Regierung durchaus zustimmen" und daß man auch seiner Meinung nach „zu dem Bismarckschen Gedanken der Souveränität der Länder im Bundesrate" zurückkehren müsse. Die N o t wendigkeit einer „Neuorientierung", „Rückkehr" zur föderativen Struktur der Verfassung des Bismarckreiches, „Wiederherstellung" des „Mitbestimmungsrechtes der Länder im Reichsrat" und „Anerkennung" der alten bayerischen Reservatrechte wurden von den Reichsministern ohne Beschränkung zugestanden. Einzig Reichswirtschaftsminister H a m m meldete Bedenken an, die er nach der Wahl vom 4. Mai in einer Stellungnahme vertiefte, die ihn ein weiteres Mal als originellen, nüchternen Politiker und als gewandten Stilisten von Denkschriften ausweist. 10 Sogar die Wirkung des Gesetzes zum Schutze 8 In diesem Sinne erging nach einem Entwurf des Reichsinnenministeriums am 14. Januar die Antwort des Reichskanzlers an den bayerischen Gesandten Ritter v. Preger. Entwurf mit Abgangsverm. BA, R 43 1/2332. 9 RMB am 7. 1. 1924, Auszug a. d. Pr BA, R 43 1/2332. 10 8 Seiten umfassende Stellungnahme Hamms zum Entwurf einer Gegendenkschrift vom 26. 5 . 1 9 2 4 für den Reichsminister des Innern. Abschrift für den Staatssekretär in der Reichskanzlei BA, R 43 1/2332.
Reichsexekutive,
Reichswehr und
Reichspräsident
459
der R e p u b l i k , von der künftige „Schwierigkeiten" e r w a r t e t wurden, glaubte der Reichsjustizminister „durch eine geringfügige
Änderung
a b s t e l l e n " zu können und zu sollen. D i e Bereitschaft zu L i q u i d a t i o n der bisherigen Reichspolitik nahm fast extreme F o r m e n an. 11 D i e schockartige W i r k u n g der Ereigniskette des J a h r e s 1 9 2 3 ist unv e r k e n n b a r . Sie allein e r k l ä r t die noch in der beginnenden Stabilisierung überraschend unsichere H a l t u n g der Reichsregierung.
Zeitpunkt
und U m s t ä n d e der bayerischen Denkschrift waren gut gewählt. Sie w a n d t e sich an ein Reichskabinett, das im Schatten des Ausnahmezustandes amtierte, das des Ausmaßes der E r f o l g e seiner wirtschaftlichen M a ß n a h m e n noch gar nicht inne geworden w a r und sich nur allzu bereit zeigte, auf bayerischen D r u c k hin die bisherigen Grundpositionen in der Verfassungspolitik der Reichsregierung r a d i k a l zu beseitigen. E s wäre hierin w o h l recht weit gegangen, hätten nicht seine kurze A m t s zeit und die rasche Auflösung des Reichstags, der nach Beendigung des Ausnahmezustandes nur noch wenig mehr als zwei Wochen tagte, die E n t f a l t u n g politischer P l ä n e schlechterdings unmöglich gemacht. N u r diesem U m s t a n d ist es letztlich zuzuschreiben, d a ß eine grundsätzliche Revision der Verfassungspolitik in dem A u s m a ß , das die bayerische Denkschrift verlangte, unterblieb und d a ß schließlich die umfangreiche A n t w o r t , die das Reich der bayerischen Regierung nach der Reichstagsneuwahl nach längeren E r ö r t e r u n g e n in den Ressorts zuteil werden ließ, 1 2 in der Verteidigung der Verfassungspositionen 11
gegenüber
Einige T a g e später f a n d eine Begegnung zwischen M a r x und Ministerpräsident
v. Knilling
in H a m b u r g
begleitende
Ministerialdirektor
statt.
I n einem d a r a n
anschließenden Gespräch,
in d e r Reichskanzlei
mit
Ritter
v.
w u r d e die vollständige A u f h e b u n g des Republikschutzgesetzes e r ö r t e r t . direktor
Kempner
niedergelegten
knüpfte
hieran
weitergehenden
den
in einer
Gedanken,
den
Aktennotiz
in d e r
Staatsgerichtshof
das
Preger
zum
der
führte,
MinisterialReichskanzlei Schutze
der
Republik u n t e r dem Einsparungsgesichtspunkt zu betrachten u n d a u f z u h e b e n , da er „eine erhebliche praktische B e d e u t u n g " nicht besitze. "Vielleicht w ä r e es möglich, im L a u f e d e r n u n m e h r w o h l einsetzenden grundsätzlichen V e r h a n d l u n g e n mit die A u f h e b u n g zu k o n z e d i e r e n und als G e g e n g a b e die O p f e r u n g der zu v e r l a n g e n " .
(Aktenvermerk
vom
2 1 . 1. 1 9 2 4 ,
BA,
R
43
1/2332)
Bayern
Volksgerichte Staatssekretär
Bracht, der C h e f der Reichskanzlei, hielt d a f ü r , diese F r a g e a u f einer P a r t e i f ü h r e r besprechung
„vielleicht"
einmal
„vorsichtig"
zur
Erörterung
zu
stellen.
Hierüber
v e r l a u t e t jedoch nichts m e h r . 12
D i e ausführliche E n t g e g n u n g der Reichsregierung ist erst später einer g r ö ß e r e n
Öffentlichkeit b e k a n n t gegeben w o r d e n : sung. M e m o r a n d u m
z u r Denkschrift
konferenz
1928),
(Januar
Z u r Revision d e r W e i m a r e r
der bayerischen
Beratungsunterlagen,
Innern, B e r l i n 1 9 2 8 , S. 7 — 6 1 .
hrsg.
Reichsverfas-
Staatsregierung: Die vom
Länder-
Reichsministerium
des
460
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
dem, was einige Monate vorher wahrscheinlich gewesen wäre, eine ganz und gar veränderte Linie aufwies. Einige Grundsätze, die die Reichsminister in ihrer Sitzung am 17. Januar 1924 als wesentlich bezeichneten, erhielten freilich unabhängig von dem Text der amtlichen Entgegnung Bedeutung und charakterisierten mehr als sie die Verhältnisse, die sich in der nächsten Zeit anbahnten. Die „Wiederherstellung" des Reichsrates nach dem Vorbild des Bundesrates der Reichsverfassung von 1871 ist keineswegs erreicht worden; seine wachsende Bedeutung blieb jedoch Tatsache. Doch dies begriff auch „die Wiederherstellung der Vormachtstellung Preußens im Reiche" ein, an die sich die Reichsregierung anlehnen zu können glaubte. Der Reichswehrminister vereinfachte die Probleme, die letztlich zur Erörterung standen, zu einem glatten Tauschgeschäft, das „eine Lösung der latenten Verfassungskrisis" erreichbar erscheinen ließ: Preußen erhalte wieder „die historische Hegemonie im Reiche" und bewillige „hierfür" als Gegengewicht zu dieser Vormachtstellung Bayern die gewünschten Reservate. 13 So entstand eine günstige Atmosphäre, in der es der an der Reichsministersitzung teilnehmende preußische Staatssekretär Weismann f ü r richtig hielt, Gegenforderungen anzumelden und sowohl auf die f ü r das Staatsministerium lästige Neugliederungsbestimmung des Artikels 18 der Reichsverfassung wie auf die Teilung der preußischen Reichsratsstimmen anzuspielen. Die von Anfang an spürbare, sich später verstärkende Gegenstimme Hamms, dessen Erfahrungen auch ein beträchtliches M a ß bayerischer Landespolitik einschlössen, verwies demgegenüber auf den erreichten Ausgleich mit den „Kräften der geschichtlichen Dezentralisierung", der es erlaubte, die Reichsverfassung entschieden zu verteidigen." Hamm hielt an der Überzeugung fest, daß die politischen Erfahrungen der letzten Jahre die Notwendigkeit einer starken Reichsgewalt nur noch deutlicher erscheinen ließen. Sie hatten die Möglichkeit völlig entgegengesetzter Entwicklungen einzelner Länder angezeigt. Infolgedessen bedurfte es einer Gewalt, die den „Mindestbesitz an einheitlichen Staatsbürgergrundrechten" und den „Schutz des bürgerlichen Eigentums" garantierte. H a m m erkannte wohl, daß es mit einer „Rückkehr" zu staatsrechtlichen Verhältnissen der Monarchie nicht getan war, um den Klagen über die eigene Zeit ein Ende zu bereiten. Er zog die Schlußfolgerung, „daß das im Bismarckschen Reiche durch dieMon13 Auszug aus dem PrRM 17. 1. 1924. " Stellungnahme vom 26. 5.1924.
Reichsexekutive,
Reichswehr und
Reichspräsident
461
archie und durch die Vormachtstellung Preußens gesicherte Rechtsgut der Reichseinheit . . . nicht anders als durch starke Befugnisse des R e i ches erhalten werden k a n n und d a ß die sogenannte R ü c k k e h r zum Bismarckschen S t a a t e unter den völlig veränderten Verhältnissen sachlich zur Preisgabe des wesentlichen Inhalts des Bismarckschen Staates führen m u ß . "
Hamm
Reichsverfassung
gehörte zu jenen L i b e r a l e n ,
ein organisches Erzeugnis
denen die neue
der geschichtlichen
Ent-
wicklung, im G r u n d e eine unwiderrufliche R e v i s i o n der Verfassung Bismarcks, jedoch keineswegs eine revolutionäre Errungenschaft, w o h l die Basis der politischen K o n s o l i d a t i o n , doch keineswegs das Ergebnis des Umsturzes und das W e r k einer politischen Richtung w a r . Folgerichtig w o l l t e er die Verteidigung der Verfassung von W e i m a r auch nicht als Verteidigung „oder auch nur Entschuldigung der R e v o l u t i o n " führen, sondern sie als System des Ausgleichs, als „die Verfassung der Ü b e r w i n d u n g der R e v o l u t i o n sehen". 1 5 E s lag jedoch bei weitem nicht nur am Reichswirtschaftsminister, d a ß das
endgültige
Memorandum
der
Reichsregierung
zur
bayerischen
Denkschrift v o n den ersten Äußerungen abwich. D i e Ministerialreferenten trugen gewiß dazu bei, das frei schwebende W o h l w o l l e n ihrer Ressortminister durch die Eisenlast gesammelter D e t a i l s festzulegen, auf die die Verfasser der bayerischen Denkschrift weit weniger M ü h e v e r w a n d t hatten. Auch noch stärkere Mächte traten für eine Stabilisierung der Reichsgewalt ein. Dies geschah gerade i m H i n b l i c k a u f den von der bayerischen Denkschrift attackierten A r t i k e l 4 8 der Reichsverfassung und seine bisherige A n w e n d u n g . D a s preußische
Staats-
ministerium w a r f sein erhöhtes Gewicht gegen die bayerischen Ideen in die Waagschale. Sämtliche Minister sprachen sich „ f ü r die Beibehaltung des Artikels 4 8 mit Rücksicht auf die Abwendungsmöglichkeit der dem Reich drohenden G e f a h r e n . .
aus. V o n Seiten des preußi-
schen Staatsministeriums ist weder zu dieser noch zu einer anderen Zeit v o m A r t i k e l 4 8 eine G e f a h r befürchtet, sondern nur eine S t ä r kung der Reichsmacht ohne Beeinträchtigung Preußens erwartet w o r 15 18
Ebda. Vertrauliches
28. Juli der
1924
Rundschreiben
a n sämtliche
Staatsminister
des
preußischen
Staatsminister
zur bayerischen
Ministerpräsidenten
mit einer
Denkschrift,
Zusammenstellung
Entwurf
Braun
vom
der
Voten
mit Abgangsverm.
HAB,
R e p . 9 0 / 1 8 5 . Auch eine geheime A u s f e r t i g u n g der S t e l l u n g n a h m e der R e i o h s r c g i e r u n g —
noch v o r Ü b e r m i t t l u n g an die b a y e r i s c h e R e g i e r u n g —
ist b e i g e f ü g t . Sie dürfte
w o h l m i t preußischen R e s s o r t s b e r a t e n w o r d e n sein, w a s schon in A n b e t r a c h t T e i l n a h m e des preußischen S t a a t s s e k r e t ä r s W e i s m a n n a n den gen u n d in H i n b l i c k a u f die B e d e u t u n g der A n g e l e g e n h e i t
der
Reidiskabinettssitzun-
nahelag.
462
III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
den. Eine ähnliche Auffassung tritt uns auch in den politischen Stellungnahmen der Reichswehrführung, der Chefs der Heeresleitung und des Truppenamtes im Reichswehrministerium, entgegen. Konzeptionen
der
Reichswehrführung
Die Verbindung der militärischen Gewalt mit dem militärischen Oberbefehl, den General v. Seeckt unter dem Ausnahmezustand ausübte, wirkte in einem bemerkenswerten Dokument nach, in dem der Chef der Heeresleitung eine eigene Erwiderung auf die bayerische Denkschrift zur Verfassungsrevision gab. Die Niederschrift vom 4. Februar 1924 mit der Überschrift „Preußen und Reich" verdient nicht allein als Zeugnis von der Hand Seeckts und wegen ihrer klaren Sprache an dieser Stelle Erwähnung, sondern weil sie die Frage des künftigen Verhältnisses der Reichsregierung zu Preußen aufgriff, die am Ende der Konfliktsperiode unweigerlich im Vordergrund stand, und weil sie im Ergebnis ebenso wie die bayerische Denkschrift einen Schlußstrich unter die unitarische Periode der Reichspolitik zu ziehen bemüht war und dies doch allein vom Standpunkt des Reiches aus tat. Die Gedanken und Grundsätze dieser Niederschrift Seeckts sind wohl geeignet, die künftigen Beziehungen zwischen dem Reich und den Ländern und die Ziele der inneren Reichspolitik während der Periode der Reichskabinette unter Marx und Luther bis zur Länderkonferenz von 1928 zu erhellen." Sie ist daher ein Zeugnis allgemein hervordrängender Gedanken und spricht, unbeschadet ihrer unmittelbaren Herkunft aus der Feder des führenden deutschen Militärs, gültige Grundsätze der Politik dieser Zeit aus. 17
Auszüge aus dieser Niederschrift sind bei Rabenau, Seeckt, S. 394 ff., wieder-
gegeben. D a sich Seeckt bei der Klärung politischer Fragen häufig der Vermittlung Schleichers zu bedienen pflegte,
dürfte dessen Einfluß
auf
den Verfasser
dieser
Darlegung, obgleich sie die Diktion Seeckts verrät, ebenso wahrscheinlich sein, wie er
bei
einigen
wichtigen
Schriftstücken
Groeners
bekannt
ist.
Übrigens
stand
Schleicher seit dem Kriege in Beziehungen zu Arnold Brecht, der zu dieser Zeit als Ministerialdirektor in die Verfassungsabteilung des Reichsinnenministeriums berufen wurde. Man wird daher gut tun, in dieser Niederschrift nicht ausschließlich eigene Gedankengänge Seeckts zu erblicken, und sich nicht darüber wundern dürfen, daß einige der hier ausgesprochenen Grundsätze auch von der Reichspolitik
verfolgt
wurden. Außer Schleichers Anregungen nahm Seeckt wohl auch einige Gedanken aus einer Denkschrift auf, die ihm der Königsberger Bürgermeister Goerdeler Anfang Dezember
1923 übersandte und die Rabenau, a. a. O., S. 3 8 9 f., erwähnt,
nicht näher beschreibt.
jedoch
Reichsexekutive,
Reichswehr und
Reichspräsident
463
Dem Länderstaatenföderalismus, der sich in seiner bayerischen Spielart so beharrlich behauptet hatte, trug sie dadurch Rechnung, daß sie in der Sprache, die seit jeher die Konservativen in Deutschland führten, den Staat als etwas „Lebendiges" erklärte, dessen Form „nicht nach abstrakten Ideen stabilisiert werden" könne. Seeckt deutete seine eigene H a l t u n g zur Verfassungsrevision jedoch in einem Satz an, der eine größere Allgemeinheit suchte als die bayerische Verfassungsdenkschrift, deren Ziele er von einer höheren Warte begrenzte. Man könnte glauben, den Hintergrund des monatelangen Ringens zwischen den militärischen Befehlsstellen in Berlin und den Herren des bayerischen Ausnahmezustands und damit den Kern des Konfliktes von 1923 zu entdecken, wenn man in den Sätzen Seeckts die Wendung gegen die bayerische Denkschrift bemerkt: „Eine Änderung einer Staatsform muß eine Entwicklung nach vorwärts sein auf dem Weg, den zu durchlaufen einem Staat beschieden ist. D a ß es auch ein Aufwärts wird, mag der Formende hoffen; aber es darf nie ein Rückwärts sein". Die vielgerühmte und ebenso häufig geschmähte „Sphinx" verliert einige geheimnisumhüllte Züge, sobald man sieht, daß diese Äußerungen eine trotz allem nur begrenzte Kritik am Verfassungswerk der Nationalversammlung enthalten, eine weit stärkere dagegen an der Verfassungspolitik der Reichsregierung üben, der er indessen auch eine positive N o t e keineswegs vorenthielt: „Die Haupttriebkraft, die dem ganzen Volk gemeinsam war, war das Verlangen nach Erhaltung der Reichseinheit, die zugleich Lebensbedingung war. Nidit allen ist es klar, daß die Erhaltung des Reiches trotz dieses Kriegsausganges noch ein Erfolg und keine Selbstverständlichkeit genannt werden muß . . . " Die „Geschlossenheit nach außen" war wie bei Groener auch f ü r Seeckt erster Grundsatz f ü r alle Zukunft, daneben das Bedürfnis „nach einer möglichst einfachen und sparsamen Regierungsmaschine . . . Je mehr Behörden und Körperschaften nebeneinander, um so größer müssen die Reibungen werden, um so unwirtschaftlicher arbeitet die Staatsmaschine". Diese Denkschrift beabsichtigte jedoch nicht etwa eine Zentralisation der Staatsgewalt beim Reich, sondern seine unmittelbare Anlehnung an Preußen. Das größte Land, so zog Seeckt jetzt in verblüffender Übereinstimmung mit Hugo Preuß das Fazit aus der Entwicklung der letzten Jahre, „blieb stark und selbständig genug, um, wenn es wollte, wie Bayern es getan, und wie Preußen es mit anderem Nachdruck hätte tun können, dem Reich Schwierigkeiten zu machen. D a ß es das nicht oder nur in geringem Maße tat, ist ein Beweis dafür, daß auch das neue Preußen seine alte historische Aufgabe,
464
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
sich f ü r das Reich einzusetzen, nicht vergessen hatte. Aber in seiner aus der bismärckischen Zeit stammenden besonderen Aufgabe, der Reichsgewalt die Hausmacht zu geben, ohne die die Reichsgewalt stets ein Schatten war, in dieser Aufgabe war es gehemmt". Diese Sätze erregen Verwunderung. Sie rühren von einem Manne her, von dem bekannt war, daß er die Regierung der Großen Koalition unter sozialdemokratischer Führung, wie sie in Preußen seit mehr als zwei Jahren bestand, mit wenig Liebe betrachtete. Doch Seeckt zählte in den Tagen seiner Größe zu den nicht eben zahlreichen Menschen, die durch persönliche Empfindungen und Ansichten hindurch, wie sie in seinen ephemeren Äußerungen einen dichten Niederschlag fanden, den Boden der Realitäten wiederzugewinnen strebten, den ihm manches glückliche Mal ein geradezu grausam nüchterner, jedweden Verstiegenheiten und Illusionen abholder Intellekt annäherungsweise, wenn nicht vollends aufzufinden erlaubte. Auf diesem Boden war er doch wohl immer erst gegen sich selber kritisch und hart, ehe er es anderen gegenüber zu werden unternahm — jedenfalls gilt das noch f ü r diese Zeit des später sehr schnell alternden und immer stärker unter der „pupillarischen Schwäche" des Alters leidenden und sich darum an ungefilterte Gefühle haltenden Mannes. Die Absicht einer Verfassungsrevision beschränkte seine Niederschrift auf einen einzigen Punkt: „Liegt . . . ein Gegensatz zwischen Preußen und dem Reich in dem Bereich der Möglichkeit, so ist eben die Verfassung der Änderung bedürftig". Die anderen Länder hatten in bezug auf die Reichspolitik von vornherein mindere Stellungen. Seeckt unterschied „im Reich 3 Arten von Einzelstaaten": Solche, die sich im Beharrungszustand befänden, noch genügend Lebenskraft f ü r eine Existenzberechtigung besäßen, jedoch keine Aussicht auf eine Weiterentwicklung hätten; hierzu rechnete er Bayern, Württemberg und Baden. Solche, die diese Daseinsberechtigung nicht mehr besäßen. Und den einen Staat Preußen, „in dem die Keime zum Wachstum liegen". Seine differenzierende Gesamtlösung einer Verfassungsrevision lautete daher sehr lapidar: „Die nicht lebensfähigen, nicht mehr existenzberechtigten Staaten müssen in Preußen aufgehen". Den zentralisierten Einheitsstaat hingegen lehnte er als „unhistorisch gedacht" ab: „Die Entwicklung eines Volkes macht keine Sprünge, und auf dem langen Weg der Verschmelzung kleiner und kleinster deutscher Staaten und Staatsgebilde zu immer einigerem und größerem Staatswesen können wir auch jetzt nur die Etappe zurücklegen, welche der derzeitigen Lage Rechnung trägt". — Später ist der „unitarische" Flügel
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
465
im Verfassungsausschuß der L ä n d e r k o n f e r e n z in e t w a zu der gleichen Einsicht gelangt. — „ I n der deutschen E i g e n a r t liegt der starke H a n g zum Eigenleben und, wenn man ihm freies Spiel läßt, zur politischen Atomisierung. I h m m u ß bis zu einer gewissen G r e n z e Rechnung getragen werden . . . W e n n wir aber berücksichtigen, wie sehr das G e f ü h l politischer E i n h e i t zugenommen hat, so w i r d man erkennen, d a ß die gesunde, weil natürliche Entwicklung Deutschlands in der Linie der Fortsetzung des Schmelzprozesses l i e g t . . . " Diese Entwicklung sollte von P r e u ß e n ausgehen, auf P r e u ß e n konzentriert sein und infolgedessen die innere Reichspolitik zum guten T e i l zur preußischen P o l i t i k stempeln. Hessen, v o r allem aber Sachsen und Thüringen hätten in P r e u ß e n aufzugehen — „beide Staaten haben im letzten J a h r den B e weis ihrer Lebensunfähigkeit erbracht und A n l a ß zu Eingriffen der Reichsgewalt g e l i e f e r t " ; P r e u ß e n sollte einen gewählten Staatspräsidenten haben, der zugleich Reichspräsident sein und den preußischen M i n i sterpräsidenten berufen, welcher dann wiederum zugleich das Reichskanzleramt
innehaben
sollte.
Diese
voll
entwickelte
preußische
Hegemonie, die dem G e n e r a l die einfachste Lösung zu sein schien, ergänzte er durch weitere Vorschläge von ebensolcher E i n f a c h h e i t : E s dürfte nur einen V i z e k a n z l e r , einen Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums und zwei Reichsminister geben, für das A u s w ä r tige und f ü r die Landesverteidigung. Alles andere w a r Sache der L ä n der. — H i e r b e i mag wohl der verflossene Seecktsche G e d a n k e des D i rektoriums P a t e gestanden haben. — Dieses kleine G r e m i u m ergänzte sich nach dem P l a n e des Generals durch die drei Ministerpräsidenten von B a y e r n , W ü r t t e m b e r g und B a d e n zum Reichsrat. D e r Reichstag setzte sich aus den Abgeordneten der L a n d t a g e aller vier L ä n d e r z u sammen: A u ß e r d e m wollte Seeckt, jedoch ohne diese F r a g e zu entscheiden, eine K a m m e r „zur M i t a r b e i t in wirtschaftlichen F r a g e n " zur E r ö r t e r u n g stellen, die sich aus berufsständischen Vertretungen von der K r e i s - und P r o v i n z - bis zur Reichsebene zusammenzusetzen hätte. M a n ist verwundert, bei einem General, den man wohl einer älteren militärischen
preußischen
Schule
zurechnen
muß,
derartig
weitge-
spannte G e d a n k e n g ä n g e zu finden. N o c h bemerkenswerter aber ist die geradezu klassisch zu nennende Formulierung der Stellung und A u f gaben Preußens in der R e p u b l i k . Diese hat schließlich niemand anders so konsequent und entschieden verfolgt wie das Preußische
Staats-
ministerium unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten O t t o B r a u n . Seine P o l i t i k lief im letzten auf das gleiche Ziel hinaus: die Vereinfachung der Verfassungsstruktur des Reiches und die hiermit 30 Schulz I
III.
466
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
gleichlaufend fortgesetzte Stärkung Preußens. Das aber hieß letztlich nichts anderes als Wiederherstellung der verlorenen Hegemonie. Braun dachte freilich an ein von der Weimarer Koalition regiertes Preußen, dem der Chef der Heeresleitung keinerlei Sympathie entgegenzubringen vermochte. Der vorbehaltlos realistische Blick für politische Machtverhältnisse hat beide, Reichswehr und preußische Staatsregierung, veranlaßt, Fäden zueinander zu knüpfen. Die Organisation des Heeres konnte schlechterdings der Beziehungen zur inneren Verwaltung des größten Landes, das die Grenzzonen im Osten und die wichtigsten im Westen Deutschlands umfaßte, nicht entraten. Der mit der Vereinbarung vom 7. Februar 1922 über die Auflösung privater Wehrorganisationen und dem Geßler-Severing-Abkommen vom 30. Juni 1923 über die Zusammenarbeit beim Aufbau von „Grenzschutz" und „Landesschutz" eingeschlagene Weg wurde schließlich — wenn auch seitens der Reichswehr gewiß mit Vorbehalten und unter Abweichungen — fortgesetzt. Er führte später zur Vereinbarung weiterreichender „Richtlinien", die vom Reichskabinett Müller am 26. April 1929 förmlich genehmigt wurden.18 Diese Beziehungen waren also keineswegs nur Episode, sondern wurden zu einer Grundlinie der inneren Politik. Audi eine Einwirkung der Reichswehrführung auf die wehrpolitische Haltung der Sozialdemokratie konnte an der preußischen Regierung letztlich nicht vorbei. In Hinblick auf die zweite Periode der Weimarer Republik vertieft sich der Eindruck, daß einerseits in der Reichswehrführung und anderseits in der preußischen Verwaltung die stärksten und in mancher Hinsicht entscheidenden Gewalten der innerpolitischen Entwicklung Deutschlands lagen. „Reich und Preußen sind nicht mehr zu trennen", heißt es in einer späteren Denkschrift des Reichswehrministeriums, die auf der Grundlage der Erfahrungen des Ausnahmezustandes der Jahre 1923/24 Grundsätze für die künftige politische Haltung der Reichswehr zu entwickeln suchte." Bei voller Berücksichtigung
18
Neuerdings hierzu Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und N S D A P , S. 57 f., 413 f., der
erstmals über Entstehung und Inhalt der „Richtlinien" von 1929 berichtet. 19
Denkschrift
des
Reichswehrministeriums
vom
12. A u g u s t 1 9 2 4 ,
wiedergegeben v o n R . Fisdier, Schleicher, S. 3 9 ff.; auch O . - E .
in
Auszügen
Schüddekopf,
und R e p u b l i k , S. 2 0 1 ff. T r o t z Ü b e r e i n s t i m m u n g in einigen wesentlichen w i r d m a n nicht sagen k ö n n e n , d a ß die I n h a l t e der Denkschriften v o m 4 . vom
12.
August
(Schüddekopf,
und
a.a.O.,
einer
dritten
S. 2 0 1 ) ,
was
vom
29.
Februar
also bedeutete,
daß
1924
Heer
Gedanken Februar,
„identisch"
es sich d r e i m a l
um
seien die
Reichsexekutive,
Reichswehr und
Reichspräsident
467
der Feststellung, die die gleiche Denkschrift traf, daß die Reichswehr „die einzige ,Hausmacht' des Reiches" bilde, 20 folgte hieraus zunächst wohl, daß die Reichswehr und Preußen nicht mehr getrennt werden dürften. Die im Gegensatz zur Reichsverfassung von 1871 vereinfachte I n gangsetzung und der militärische C h a r a k t e r der Reichsexekution nach Artikel 4 8 Absatz 1 der Reichsverfassung 2 1 und die eben erst erlebte Einschaltung des Ausnahmezustandes durch die präsidiale D i k t a t u r gewalt nach Artikel 4 8 Absatz 2 unter einem militärischen Inhaber der vollziehenden Gewalt begründete freilich eine innerpolitische Schlüsselstellung der Reichswehr, die für sie auf die D a u e r noch weit belangvoller w a r als jegliche Beziehung zur preußischen Staatsregierung. D e r Normenbestand der ersten Absätze des Artikels 4 8 ist von der Reichswehrführung stets wie ein Augapfel gehütet und als garantierte ultima ratio ihrer innerpolitischen Macht zum Ausgangspunkt ihrer politischen Prinzipien geworden. Diese reichten in allen J a h r e n der Republik über den R a h m e n unmittelbar militärisch-technischer Zuständigkeiten hinaus und weit in die Vorgänge der deutschen inneren Politik hinein. 22 gleiche Denkschrift handelte. Hinsichtlich der machtpolitischen Einschätzung Preußens sind Priorität und Grundlage der Seecktschen Denkschrift vom 4 . Februar unverkennbar. Schüddekopf schreibt alle drei Denkschriften Seeckt zu; Rabenau erwähnt jedoch die August-Denkschrift überhaupt nicht, weil sie offenbar nicht von Seeckt v e r f a ß t wurde. Vgl. jetzt auch Vogelsang, a . a . O . , S. 4 2 , der H a u p t m a n n Mareks vom Truppenamt des Reichswehrministeriums
als Verfasser dieser letzten
Denk-
schrift bezeichnet. Sie dürfte also auf Veranlassung Schleichers entstanden sein, der innerhalb des Truppenamtes das politische R e f e r a t innehatte. 20
Fischer, a . a . O . , S. 4 0 ; Sdiüddekopf, a . a . O . ,
21
Hierzu die juristische Untersuchung von Wolfgang F l a d , Verfassungsgerichtsbar-
S.202.
keit und Reichsexekution. Beiträge zur Lehre von den Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern
und
deren
Entscheidung
(Heidelberger
Rechtswissenschaftliche
Ab-
handlungen, hrsg. v. d. Juristischen Fakultät — 4), Heidelberg 1929, bes. S. 124. Audi Fritz Poetzsch-Heffter, H a n d k o m m e n t a r der Reichsverfassung vom 11. August 1919, 3. Aufl. Berlin 1928, S. 230. 22
D a s W o r t des Chefs des Truppenamtes, General Hasse: „ Bei allem ist die
Reichswehr berufen, eine entscheidende Rolle zu spielen", (Schüddekopf, a. a. O., S. 2 0 1 ) noch kurz vor dem Ausnahmezustand gesprochen, darf gewiß nicht extensiv ausgelegt werden. M a n wird nicht sagen können, daß die Reichswehr an „allem" Anteil nahm. Entscheidend bleiben jedoch die Fixierung einer politischen
Grund-
linie und ihre „strategisch" wie „taktisch" wandlungsfähige Einhaltung, nach der sich Ziele, Zwecke, Formen
und Intensitätsgrade
inncrpolitische
—
30»
Bedingungen
etwa
der Einflußnahme
Koalitionsbildungen,
auf
zentrale
Zusammensetzung
der
468
III,
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Nach den Erfahrungen des Ausnahmezustandes und der voraufgegangenen Ereignisse des Krisenjahres 1923, der wenig populären Reichsexekution gegen Sachsen, dem folgenschweren Konflikt mit dem Kommandeur der bayerischen Division, der unerfreulichen, vor den Augen der Öffentlichkeit weder zu verbergenden noch zu rechtfertigenden Entwicklung in den Wehrorganisationen und innerhalb der „Schwarzen Reichswehr", auf die der Küstriner Putsch des Majors Buchrucker23 erneut die Aufmerksamkeit gelenkt hatte, mußte in erster Linie eine Abnutzung des militärischen Prestiges und überdies eine Gefährdung der strikten inneren Entpolitisierung der Reichswehr befürchtet werden. Ihre politische Doktrin, die in der Denkschrift vom August 1924 unverkennbar enthalten ist, forderte daher, „eine periodische Wiederkehr des militärischen Ausnahmezustandes . . . nach Möglichkeit" zu vermeiden und eben aus diesem Grunde durch „eine neue politische Innenpolitik des Reiches" und „in organischer Weiterbildung der Reichsverfassung" gerade „die Machtverhältnisse, die sich im Winter 1923/24 augenfällig ergeben haben, rechtlich und für die Dauer festzuhalten". 24 Einerseits sollte das Reich „durch Personalunion mit Preußen und Zusammenlegung aller in Frage kommenden Behörden" selbst „zum unmittelbaren Staat" werden; „man sollte" daher in diesem Sinne den durch die bayerische Denkschrift „gebrachten Anstoß und die durch den militärischen Ausnahmezustand geschaffenen VerhältReichskabinette, Beziehungen der Reichsregierung zu Preußen, Auswahl des Wehrministers, H a l t u n g einzelner großer Parteien zur Reichswehr u n d dergleichen — regelten. Die Anlage des bedeutsamen Buches v o n T . Vogelsang, Reichswehr, Staat und N S D A P , u n d im besonderen die abschließende letzte Bemerkung seines 1. Kapitels (S. 63) könnten den Eindruck h e r v o r r u f e n , d a ß das Reichswehrministerium tatsächlich erst im W i n t e r 1929/30 d a m i t „begann, . . . der Innenpolitik starkes Interesse zuzuwenden, ja sogar auf sie Einfluß zu nehmen" (Vogelsang), w ä h r e n d der Verf. im Gegenteil deutlich werden läßt, wie es besser k a u m geschehen kann, d a ß dem auch v o r h e r so w a r . Ein Wechsel der Mittel unter veränderten politischen K r ä f t e - und Größenverhältnissen t r a t ein; ein Wandel grundsätzlicher Interessen und Ziele w a r gar nicht nötig. D a sich die Reichswehr auch niemals auf ein spezifisches Verhältnis zur Verfassung oder zu den Verfassungsparteien festlegte, sondern allenfalls nach einer „auf die D a u e r zweckmäßigen u n d h a l t b a r e n Stellung" (zit. von Vogelsang, a. a. O., S. 50) suchte, könnte m a n nicht einmal behaupten, d a ß sich ihre Beziehung zur Verfassung oder z u m Staat gewandelt hätte. Sie blieb das erste Machtinstrument „des Staates"; politische Parteien u n d G r u p p e n blieben „reale" G r ö ß e n der inneren Politik. Auch ihr Interesse an einer „starken" Reichsregierung blieb stetig. 23 Für die H i n t e r g r ü n d e und U m s t ä n d e des Putsches das Zeugnis von M a j o r Buchrucker, Im Schatten Seeckts, S. 34 ff. 24
Fischer, Schleicher, S. 40 f.; Schüddekopf, H e e r und Republik, S. 202 f.
Reichsexekutive,
Rcichswehr
und
469
Reichspräsident
nisse benutzen, um dem angestrebten Ziel ein Stück näher zu kommen." Anderseits blieb „die Übertragung der Exekutive an die Wehrmacht . . . das letzte Mittel des Staates, um seine inneren Gegner zu besiegen." „Die reale Macht des Reiches besteht zur Zeit in der Reichswehr, die formale im Artikel 4 8 der Verfassung." Konfliktsperiode und Ausnahmezustand hinterließen auch in der Reichswehrführung die Überzeugung, daß der K o m p r o m i ß der Weimarer Reichsverfassung reformbedürftig sei. Doch im vollendeten Gegensatz zur bayerischen Denkschrift strebte sie das Ziel einer Vereinigung der preußischen Regierung mit der des Reiches an. Grundsätzlich und stets hielt sie an der Form des Artikels 48 fest oder suchte sie ihn insoweit zu vervollständigen, als dies für die Rolle eines Protektors erforderlich schien. Die maßgeblich von Schleicher, dem militärischen Politiker des Truppenamtes, beeinflußte innere Linie einer vom N o r menbestand des Artikels 4 8 ausgehenden „Reichsreform", die ohne einschneidende
Veränderungen
des Verfassungsrechts
langte Positionen ausbaute, trat mit der W a h l
gleichsam
Hindenburgs
erzum
Reichspräsidenten in das Stadium der Vollendung. M i t dem alten Generalfeldmarschall kehrte der letzte oberste Befehlshaber der Kriegszeit an die Spitze der militärischen Kommandogewalt zurück 25 und gewann die Reichswehr einen Protektor der Republik, ohne daß es einer Verfassungsänderung bedurfte. Konzipiert wurde diese politische Linie der Reichswehrführung jedoch schon v o r der W a h l des zweiten Reichspräsidenten. D e r Ansatz läßt sich bereits im Mai 1923 fassen. Wie bezeugt ist, beschied Schleicher den zu neuer Tätigkeit erwachten alldeutschen Kreis um den Justizrat C l a ß , der eine verfassungstürzende „Reichsreform"
plante
und sich zunächst die H i l f e der „Orgesch", dann von Ehrhardts geheimer „Organisation Consul" 2 " gesichert hatte, mit der Antwort, „daß 25
Die Stellung des Reichspräsidenten
als „oberster
Instanz in der militärischen
K o m m a n d o g e w a l t " (Poetzsch-Heffter, H a n d k o m m e n t a r , S. 2 2 6 ) ergab sich aus dem Artikel 4 7 der Reichsverfassung und dem zu seiner Ausführung geschaffenen § 8 Absatz 2 des Reichswehrgesetzes v o m 2 3 . M ä r z §11
1921
(RGBl
1 9 2 1 , S. 3 2 9 ) ,
„militärisches Verordnungsrecht" das für E b e r t
bedeutungslos
einräumte.
A u f Grund
blieb, zog Hindenburg
gewalt durch eine allgemeine Anordnung
dieses
Verordnungsrechts,
die Grenzen
„Befehlsbefugnisse
seiner
1 9 2 6 recht weit. Vgl. die Bemerkungen über Hindenburgs
über
militärische
seine
Zuständigkeit
von
Gordon
A.
Befehls-
im Reichsheer"
28. Januar
Craig,
Q u a r t e r l y , vol. L X I I I / 1 9 4 8 , S. 2 0 1 . 26
sowie
des gleichen Gesetzes, der dem Reichspräsidenten ein nicht näher bezeichnetes
A. Krück, Geschichte des Alldeutschen Verbandes, S. 1 3 6 ff.
vom
Auffassung
Political
Science
470
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
das Reichswehrministerium sich nicht mit verfassungswidrigen Plänen abgeben könne; deshalb erwäge man dort nur die legale D i k t a t u r , wie sie der Artikel 48 . . . vorsehe . . . " 2 7 Uber die Grenzen der Legalität sollte die D i k t a t u r schon damals nicht hinausgehen. 1924 k a m als weitere Einsicht hinzu, d a ß das Instrument der militärischen D i k t a t u r größtmöglicher Schonung bedurfte. Doch die Bastion, die der Artikel 48 geschaffen hatte, w u r d e gegen alle Angriffe mit stets unveränderter Hartnäckigkeit u n d entsprechendem Erfolg verteidigt.
Versuche einer Revision
des Artikels
48
U m Stellung und Macht der Reichsregierung nicht nur den Ländern, sondern auch den Parteien des Reichstags gegenüber zu festigen, w u r den bald nach Beginn der Reichspräsidentenwahl von 1925 Vorschläge laut, die jetzt auf solche Verfassungsänderungen hinausliefen, die das Verhältnis zwischen dem Reichspräsidenten und der Reichsregierung betrafen u n d die durch wenige, allerdings folgenschwere Änderungen in der Spitze der Exekutivorganisation des Reiches eine Lösung der bis dahin unlösbar gebliebenen Probleme herbeizuführen suchten. Ein großer Teil der staatsrechtlichen Literatur n a h m sich derartiger Vorschläge an. 28 Die Forderungen nach einer Änderung des Artikels 54 der Reichsverfassung, nach Stärkung der Stellung des Reichspräsidenten und Beseitigung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Reichsminister, nach Bindung des parlamentarischen Mißtrauensvotums an die Bedingung einer qualifizierten Reichstagsmehrheit, nach Verlängerung der Haushaltsperiode, nach Anbahnung eines Zweiparteiensystems englischen Musters usw. gingen freilich vorerst nur von dem später aus der Demokratischen Partei ausscheidenden Reichswehrminister Geßler und von einigen anderen Politikern der Rechten, der Deutschen Volkspartei wie der Deutschnationalen Volkspartei aus.20 » a . a . O . , S. 144. Vgl. die knappe, bemerkenswerte Übersicht über „die Nachwirkungen der Lehre Max Webers vom Reichspräsidenten als politischem Führer" von Wolfgang J. Mommsen, Max Weber, S. 379 ff. 29 Die ersten Vorschläge in dieser Richtung nach der Wahl des neuen Reichspräsidenten kamen vom Reichswehrminister Otto Geßler, Hamburger Fremdenblatt vom 18. 1. 1926; Edgar Jung, Zur Verfassungsreform: Berliner Börsen-Zeitung vom 12.2. 1926; und vom Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der D V P und ehemaligen Reichswirtschaftsminister des Kabinetts Fehrenbach, Ernst Scholz, in einer Rede in Königsberg am 25. Februar 1926, in der er u. a. vorschlug, das allgemeine und 28
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
471
Sie hatten niemals ernste Aussichten auf Erfolg. Schwerer wog das Prestige des Reichspräsidenten Hindenburg, das es dem alten General und dem in seinem Schatten amtierenden Chef der Präsidialkanzlei erlaubte, seine Rechte und Befugnisse auch ohne öffentliche Diskussion und ohne Einspruch von Seiten der Reichsregierung Schritt um Schritt auszuweiten. 30 Demgegenüber scheiterten die Versuche der Reichsregierung, zu ihren Gunsten ein den Artikel 48 der Reichsverfassung entlastendes Notverordnungsrecht zu schaffen, um die von einigen Ländern häufig angegriffenen Handhabungen dieses Artikels während der Konfliktsperiode für die Zukunft durch juristisch besser vertretbare Mittel zu ersetzen. Ein erster Regierungsentwurf zur Ergänzung der Reichsverfassung fiel bereits im Rechtsausschuß des Reichstags durch, da sich die Sozialdemokraten gegen ihn zur Wehr setzten und mit einem Antrag drohten, dem zufolge der Artikel 48 stark eingeschränkt und seine Anwendung durch Ausführungsbestimmungen im einzelnen festgelegt worden wäre. D a sich hierfür unversehens die Unterstützung der Kommunisten und Völkischen anbot, blieb ihr nichts anderes übrig, als die Fortsetzung dieses Versuches einstweilen zu vertagen. 31 unmittelbare Wahlrecht zum Reichstage zu beseitigen. Notiz hierzu BA, R 43 1/1864. Wohl in erster Linie deklamatorischer Art war der Antrag Graf Westarps ( D N V P ) im Reichstag vom 20.2. 1926, einen 28er-Ausschuß einzusetzen, der die R V „auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen einer Revision unterzieht" und den Artikel 54 aufheben „oder mindestens im Sinne der Stärkung der Regierungsgewalt wesentlich" abändern sollte. Neben dem Reichstag sollte eine Körperschaft „als gleichberechtigter Faktor der Gesetzgebung eingeschaltet" werden, „deren Mitglieder nicht im Wege allgemeiner und direkter Wahlen bestellt werden". Vh R T III. WPer Anl N r . 526, StenBer Bd. 406. 30
Einen charakteristischen Vorfall stellt eine Mitteilung des Staatssekretärs Meißner vom 10.4. 1926 an den Reichskanzler dar, d a ß der Reichspräsident nicht gedächte, bei der Ernennung von Beamten des auswärtigen Dienstes in Zukunft noch irgendein Mitwirkungsrecht des Reichskanzlers oder der Reichsregierung anzuerkennen. BA, R 43 1/1864. Der Ministerialdirektor Pünder in der Reichskanzlei bemerkte hierzu: „Bei solcher H a n d h a b u n g könnte natürlich unter Umständen das Recht des Reichskanzlers zur Bestimmung der Richtlinien auch der Außenpolitik beeinträchtigt werden". Ebda. Pünder forderte am 23.4. 1926 durch Schreiben an den Reichsinnenminister wie an den Reichsjustizminister Gutachten hierzu an. Über einen Fortgang der Sache ist jedoch aus dem Aktenzusammenhang nichts ersichtlich. 31 Zwei Berichte des Oberregierungsrates Radlauer aus dem Rechtsausschuß des Reichstags hierzu vom 6. 11. 1925, BA, R 43 1/1864. Ein erster, von der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion noch während des Ausnahmezustandes gestellter Antrag an die Reichsregierung, einen Gesetzentwurf zum Artikel 48 vorzulegen, blieb unerledigt. Antrag Müller-Franken vom 9 . 2 . 1 9 2 4 ; Vh R T I WPer Anl N r . 6443, StenBer Bd. 380.
472
111. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Ein zweiter, in der Sache freilich komplizierter und umfangreicher, auch nicht widerspruchsfreier Gesetzestext wurde im Reichsinnenministerium entworfen und genau sieben Jahre nach der Unterzeichnung der Reichsverfassung durch Friedrich Ebert von Reichsinnenminister Külz den zuständigen Reichsministern und der Reichskanzlei mit der Einladung zur Erörterung übersandt. 32 Auch er beruhte auf den Erfahrungen mit dem Ausnahmezustand und der Reichsexekution des Jahres 1923 und enthielt einige bemerkenswerte Gedanken. Vor allem verdient Erwähnung, daß der Reichspräsident diesem Gesetzentwurf zufolge bei der Anordnung der Reichsexekution gegen ein Land, sofern nicht unmittelbar Gefahr im Verzuge gewesen wäre, vorher den Staatsgerichtshof f ü r das Deutsche Reich gutachtlich zu hören gehabt hätte, ob eine Pflichtverletzung des Landes vorlag. Für den Fall eines militärischen Ausnahmezustandes sah dieser Entwurf die Ernennung eines bürgerlichen Beauftragten an der Seite des Militärbefehlshabers vor. Erst seine Zustimmung begründete die Rechtswirksamkeit von Anordnungen des Militärbefehlshabers, dessen Rechtsverordnungen er gegenzuzeichnen hatte. Der Militärbefehlshaber hätte damit einen zivilen Gegenspieler erhalten, der, anders als der Kommissar der Reichsregierung während der Reichsexekution gegen Sachsen, über eine einwandfrei begründete und keineswegs gering bemessene Zuständigkeit verfügte. Darin hätte vielleicht — die Auswahl einer geeigneten Persönlichkeit vorausgesetzt — eine gewisse Sicherung gegen Übergriffe der Militärs und letztlich eine Begrenzung der Maßnahmen des Militärbefehlshabers liegen können. Der Autorität des Reichspräsidenten hätte diese Einführung eines zivilen Elementes in die ausnahmerechtliche Militärdiktatur gewiß keinen Abbruch getan. Anderseits bildete die Feststellung des an und f ü r sich in der Logik der Reichsverfassung liegenden, aber, wie der letzte Konflikt der Reichsregierung mit Bayern gelehrt hatte, keineswegs vorbehaltlos anerkannten Grundsatzes, daß die Anordnungen des Reichspräsidenten im Widerspruchsfalle den Anordnungen einer Landesregierung vorgingen, ein starkes Gewicht zugunsten der präsidialen Diktaturmaßnahmen. Aus der Länderdiktaturermächtigung des Absatzes 4 des Artikels 48 folgerte dieser Entwurf ausschließlich ein Recht der Länderregierungen, im Namen des Reiches Maßnahmen zu treffen. Er verpflichtete sie infolgedessen grundsätzlich auf eine sinngemäße Anwendung der Vorschriften, die er auch f ü r die Maßnahmen des Reichspräsidenten vor32
Schreiben vom 14. 8. 1926, BA, R 43 1/1870.
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
473
sah. Diese sollten nun nicht mehr lediglich vom zuständigen Fachminister, sondern vom Reichskanzler und vom Reichsinnenminister gegengezeichnet werden. D e m Gedanken, Maßnahmen des Reichspräsidenten durch das doppelte Gegenzeichnungsrecht auf das Einvernehmen mit den höchsten für die innere Reichspolitik zuständigen Instanzen zu gründen, darf wohl einige Berechtigung und auch Zweckmäßigkeit nachgesagt werden. E r schloß den Konfliktsfall zwischen der Reichsregierung und dem Reichspräsidenten aus und folgte offenbar der Absicht, die verfassungsrechtliche Diktaturgewalt enger an die Reichsregierung heranzuziehen und von der persönlichen Entscheidungsbefugnis des Reichspräsidenten, die die Verfassungsbestimmungen
kei-
neswegs limitierten, zu lösen. Aber auch dem Reichstag sollte eine wesentlich erweiterte Einwirkungsmöglichkeit gesichert werden, die so weit ging, daß die Reichstagsmehrheit die D i k t a t u r wohl überspielen konnte, die auf diese Weise in die Schranken einer Ersatzfunktion verwiesen blieb. A u f Verlangen des Reichstages sollte der Reichspräsident seine Anordnungen „unverzüglich" aufheben; geschah dies nicht innerhalb einer Woche, so hatte der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich die Präsidialmaßnahmen auf Antrag des Reichstags aufzuheben. D a s gleiche Recht wurde dem Reichspräsidenten
in Hinsicht auf Anordnungen
einer
Landesregierung nach dem Artikel 4 8 Absatz 4 zugestanden. Darüber hinaus war eine Reihe weiterer Bestimmungen vorgesehen, die ein beträchtliches M a ß von Rechtsförmigkeit in die verfassungsmäßige D i k taturpraxis hineingetragen hätte. In Hinblick auf das rasche Anwachsen der radikalen Parteien ab 1 9 3 0 wird man freilich von diesen Gedankengängen, wären sie W i r k lichkeit geworden, eine günstigere Wirkung als von der unlimitierten Anwendung der Diktaturbestimmungen derReichsverfassung kaum annehmen können. D i e hereinbrechende politische Krise war zu gewaltig, als daß von einer Juridifizierung und Begrenzung der D i k t a t u r praxis helfende und vor heraufziehenden Gefahren bewahrende W i r kungen zu erwarten gewesen wären. Die Behandlung des Referentenentwurfs und sein geräuschloses Ende lassen indessen Positionen und Funktionen sichtbar werden, die uns mehr Aufschluß über die Erledigung verfassungspolitischer Probleme der Republik gewähren als viele Parlamentsdebatten und Diskussionen der Presse. Obgleich auch in der Öffentlichkeit Einzelheiten des Entwurfs bekannt wurden und einzelne Blätter dem Bekanntgewordenen einen Teil ihrer Aufmerksamkeit schenkten, vollzog sich sein Schicksal in der Stille und ohne daß
474
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
jemals eine Reichstagsfraktion oder das Gremium einer Partei Stellung bezog. Bereits in der Reichskanzlei erlitt er, noch bevor Reichskanzler Marx unterrichtet wurde, eine Kritik, die vernichtend genannt werden muß. Die erste Stellungnahme des zuständigen Ministerialrates 33 drückte pure Verwunderung über die Absicht aus, „eine einschneidende Einschränkung des Ermessens des Reichspräsidenten" vorzunehmen. Macht und Autorität des Staatsoberhauptes über den Parteien galt hier den hohen Beamten mit größter Selbstverständlichkeit als unaufgebbares Gut, so daß über den inhaltlichen Wert des Entwurfs kein einziges Wort verloren wurde. „Bedeutet es nicht eine erhebliche Schwächung der Autorität des Reichspräsidenten einem Lande gegenüber", fragt die erste Stellungnahme, „wenn er von seiner Absicht, die Reichsexekution durchzuführen, auf Grund eines Spruches des Staatsgerichtshofes Abstand nehmen muß?" Immerhin aber glaubte der Ministerialrat Oifermann doch den Hinweis geben zu müssen, daß der Reichsrat statt des Staatsgerichtshofs gutachtlich gehört werden könnte: „Sollte man trotzdem die Einschränkung [des Ermessens des Reichspräsidenten] f ü r notwendig halten, dann würde es doch zweckmäßiger sein, das Vertretungsorgan der Länder, den Reichsrat, einzuschalten. Wenn Gefahr nicht im Verzuge ist und Zeit und Umstände es ermöglichen, wäre der Reichsrat gutachtlich zu hören. Es wäre das schon zweckmäßig, um die Stimmung der nicht betroffenen Länder zu ergründen." Audi dieser Gedanke, obgleich er sehr nahe lag, tauchte erst später wieder auf. Schon an dieser Stelle wurde die Frage aufgeworfen, ob eine Einschränkung der freien Handhabung der Befugnisse des Reichspräsidenten — sei es durch Einschaltung des Staatsgerichtshofs oder des Reichsrates — eine Verfassungsänderung darstellte, die einer qualifizierten Reichstagsmehrheit bedurfte. Das Votum des Ministerialdirektors bejahte diese Frage unbedingt im Falle der Einschaltung des Staatsgerichtshofs, da seiner Ansicht nach „die Vormachtstellung des Reichs den Ländern gegenüber . . . in der Person des Reichspräsidenten einen Stoß erleiden" würde. Es fällt dem unvoreingenommenen Beobachter freilich schwer einzusehen, warum sich gerade diese Bedenken stärker gegen ein richterliches Kollegium als gegen den Reichsrat richteten, der doch den Interessen der Länder von vornherein näher stand als der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches. In diesem Urteil schwangen sicherlich grundsätzliche Vorbehalte gegen die Einschaltung der in der deutschen Verfassungsgeschichte noch jun33
Vermerk des Ministerialrates Offermann vom 4.9. 1926, BA, R 43 1/1870.
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
475
gen Instanz eines Verfassungsgerichtes mit. Die herkömmliche Vorstellung von der traditionalen Würde der höchsten staatlichen Macht und ihres Trägers duldete am allerwenigsten Beschränkungen durch richterliche Entscheide. Sie ließ aber ebensowenig de lege die Betätigung einer zivilen Instanz innerhalb des militärischen Ausnahmezustandes zu. „Gefährlich" wurde hier genannt, „daß der Militärbefehlshaber an die Zustimmung des Zivilkommissars in vielen Fällen gebunden ist. Eher zu ertragen wäre, wenn der Zivilkommissar den zivilen Zentralstellen im Reich über angebliche [!] Mißbräuche des Militärbefehlshabers berichtete und von dort aus Mängel abgestellt würden." Die Einwände, die von dem Reichswehrministerium erwartet werden mußten, wurden in diesem Punkte bereits in der Reichskanzlei im Grundsätzlichen formuliert. Eine Fühlungnahme mit dem Reichswehrministerium wie mit dem Büro des Reichspräsidenten ergab dann völlige Gewißheit, daß dem Gesetzentwurf der Todesstoß versetzt werden würde. 34 Staatssekretär Meißner ließ die Reichskanzlei wissen, daß der Reichspräsident die wichtigsten der vorgesehenen Bestimmungen „als verfassungsändernde Einschränkungen der Rechte des Reichspräsidenten" ablehne. Auf dem gleichen Standpunkt stand das Reichswehrministerium. Meißner sprach nachdrücklich dagegen, die Frage des Artikels 48 „in der vom Reichsminister des Innern geplanten Weise . . . zu behandeln"; dies würde „zu schweren Konflikten innerhalb des Kabinetts führen", da der Reichspräsident „einen Widerspruch des Reichswehrministers voll billigen werde". 35 Der Reichskanzler hatte in Anbetracht dieser Äußerung nur noch die Wahl zwischen einer Kabinettskrise und dem Konflikt mit dem Reichspräsidenten oder einem Fallenlassen des vom Reichsinnenministerium verfaßten Gesetzentwurfes. Die Gegendenkschrift des Reichswehrministeriums und das vom Reichspräsidenten unterzeichnete Votum bildeten abschließende Urteile. Die erste,3" ganz im Banne militärischen Denkens, nannte das vorgesehene Ausführungsgesetz zum Artikel 48 einen „Widerspruch in sich": „Das Wesen der Notwehr im Leben des Einzelnen wie des Staates bedeutet, daß ihre Form in jedem einzelnen Falle ausschließlich durch den Zweck bestimmt wird. Je enger die Formen sind, in welche 31
Vermerk des Regierungsrates Planck vom 14.9. 1926, BA, R 43 1/1870. Ebda. 36 Denkschrift in Anlage eines Schreibens des Reichswehrministers an den Reichsminister des Innern mit Aufdruck „Geheim" vom 12.11.1926, Abschrift BA, R 43 1/1870. 33
476
/ / / . Tendenzen
und Probleme einer
Rcichsreform
ein Ausführungsgesetz die Staatsnotwehr des Artikels 48 pressen will, je größer wird die G e f a h r , daß eine schwache E x e k u t i v g e w a l t — im Banne dieser F o r m — das Reich zerbrechen läßt, wie auf der anderen Seite die G e f a h r , daß eine starke H a n d gezwungen wird, zum Zwecke der Erhaltung des Staates die untaugliche gesetzliche F o r m zu zerbrechen. Nicht auf ein Ausführungsgesetz zum Artikel 48 k o m m t es an, sondern d a r a u f , durch eine Stärkung der Reichsgewalt in normaler Zeit der N o t w e n d i g k e i t einer Anwendung des Artikels 48 das Wasser abzugraben." In der Bezeichnung der „Mittel zur Stärkung der Reichsg e w a l t " kehrte diese Denkschrift zu den seit den Kolberger T a g e n der Obersten Heeresleitung aus den Ausführungen Groeners und den A u f zeichnungen Schleichers bekannten Gedanken zurück, die das unbeirrbar aufrechterhaltene innerpolitische Ziel der Reichswehr enthalten: „Wiedervereinigung der Macht Preußens mit der Reichsgewalt" und „ V e r s t ä r k u n g der präsidialen G e w a l t " . D i e kurze Zeit später eingehende Stellungnahme des Reichspräsidenten f ü r den Reichskanzler lieferte eine Bestätigung dieser so entschieden formulierten Ablehnung durch die höchste Instanz des Reiches, die sich selbst als „ H ü t e r " der im Artikel 48 enthaltenen Rechte des Reichsoberhauptes bezeichnete. 37 D a es sich in der Vergangenheit gezeigt habe, so führte dieses Schreiben aus, „ d a ß in Zeiten von U n ruhen und A u f r u h r die vom Vertrauen des Parlaments Reichsregierung nicht38
abhängige
die Möglichkeit hat, durchzugreifen und O r d -
nung zu schaffen, und daß nur39 der Reichspräsident mit den Ausnahmemaßnahmen, die der Art. 48 ihm40 gibt, die Staatsautorität und die Sicherheit des Staates wiederherstellen" kann, sei es „nicht zu verantworten, daß diese f ü r staatliche N o t s t a n d s f ä l l e verfassungsmäßig vorgesehenen Sonderrechte des Reichsoberhauptes geschmälert, eingeengt oder in ihrer Ausübung beschränkt w ü r d e n " . Dieser Bescheid schloß mit der vielsagenden Feststellung H i n d e n b u r g s : „Ich . . . halte es f ü r richtig, bereits jetzt zu bemerken, daß, wenn ich mich überhaupt zur Vollziehung eines solchen Gesetzes entschließen könnte, ich verlangen müßte, daß das Gesetz mit der verfassungsändernden Mehrheit angenommen ist." Eine solche Mehrheit lag zumindest f ü r die nächsten J a h r e der dritten Reichstagsperiode außerhalb aller denkbaren M ö g 37
Schreiben v o m 22. 11. 1926 mit P a r a p h e v o n M a r x , B A , R 43 1/1870.
38
Im O r i g i n a l
Desgl. *o D e s g l . 39
unterstrichen.
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
477
lichkeiten. Für die Z u k u n f t aber stand kein Abbau mehr, sondern eher ein weiterer Ausbau der D i k t a t u r g e w a l t des Reichspräsidenten zu erwarten. D e r einzige ernsthafte, freilich von A n f a n g an keineswegs einhellig u n d einmütig verfolgte Plan, sie im Sinne der Verfassungsvorschrift an eingrenzende und präzisierende Bestimmungen zu binden, w a r bereits im Vorfeld letzter Entscheidungen am entgegengerichteten Willen des Reichswehrministeriums wie des zweiten Reichspräsidenten zerschellt.
Unitarismus
und Föderalismus
als politische
Programme
Die Frage, ob u n d in welchem U m f a n g H i n d e n b u r g zur Zeit seines Amtsantrittes und während seiner ersten Amtszeit verfassungspolitische Grundsätze u n d Programme verfolgte, ist noch nicht eindeutig zu beantworten. Zumindest der Eindruck einer politischen Konsequenz läßt sich nicht bestreiten, da der Reichspräsident unter dem zunehmenden Einfluß, den Kreise und Männer der politischen Rechten auf ihn ausübten, die A u f t r ä g e zur Regierungsbildung, die er den angehenden Kanzlerkandidaten erteilte, mehrfach an „die verfassungsmäßig bedenkliche Beschränkung" knüpfte, eine Rechtskoalition zu bilden 41 . Auch d a ß er sich gegen die einheitsstaatliche Richtung und f ü r die Beibehaltung der Länder in ihrer historischen F o r m gewinnen ließ und dies in einer Rede ausdrückte, 42 wird wohl in diesem Zusammenhang gesehen werden müssen. Jedenfalls kann man nicht sagen, daß die Politik der Reichsregierungen unbedingt und im Grundsätzlichen auf Unterstützung von seiten des Reichspräsidenten rechnen durfte. U m ihre Stellung zu festigen, blieb ihnen, solange sie nicht endgültig und dauernd Anlehnung bei der Präsidialgewalt suchen wollten, nur der Ausbau gegenüber den Ländern, um den sie sich mit wechselndem diplomatischen Geschick und wechselvoller Unterstützung Preußens be41 Koch-Weser anläßlich einer Betrauung von Curtius mit der Regierungsbildung nach dem Rücktritt des dritten Kabinetts Marx am 11. Januar 1926. Koch notierte hierzu: „Allmählich wird es nötig, gegen diesen U n f u g hervorzutreten. Jedoch ist es bedenklich, sich zu all den übrigen Gegnern auch noch Hindenburg zum offenen Gegner zu machen". (Aufzeichnung vom 12. 1. 1927, Nachl. Koch-Weser, N r . 36). Am gleichen Tage bemerkte Koch: „Das Verhalten des Reichspräsidenten macht mir Sorgen. Er verliert die Objektivität, die ihm das Volk noch in warmer Begeisterung zutraut. Wie kann man auch gegen den täglichen Umgang mit alten Generälen und anderen rechts gerichteten Kreisen ankommen". 42
Aufzeichnung Koch-Weser vom 12.5. 1927, Nadil. N r . 36.
478
III, Tendenzen
und Probleme
einer
Reicbsreform
mühten. D a die stille „Aushöhlungspolitik" in Verruf geraten war, blieb nur der offene Appell, der Ruf nach dem Einheitsstaat, der bald erneut wieder in seiner alten Stärke ertönte. 43 Eine Übereinkunft der Meinungen und Interessen konnte indessen weder im größeren Zusammenhang noch in vielen einzelnen Problemen erreicht, wohl aber immer wieder die Gefahr der „Entfesselung eines Krieges von Prinzipien" heraufbeschworen werden, in dem „nie einer den anderen überzeugen, vielmehr jeder den Gegner noch widerspenstiger machen" konnte 44 . Innerhalb des bürgerlichen Liberalismus ist selbst noch in der Krise versucht worden, mit diesem Thema politische Hoffnungen und Erwartungen zu wecken und die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf diese „höchsten Fragen des Staatslebens" zu lenken, „um durch ein großes Programm der Reichs- und Verwaltungs-, der Finanzund der Wahlrechtsreform die Wählerschaft über sich selbst und ihren gewöhnlichen Interessendunstkreis hinauszuheben". 45 Hier ist auch der einst von Koch-Weser geäußerte und auf ähnliche Überlegungen von Preuß zurückgehende Gedanke, die parlamentarischen Systeme der Länder auf das Niveau von kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften höherer Ordnung hinabzudrücken, niemals gänzlich verschwunden und schließlich sogar die Beseitigung des gesamten „hybriden Parlamentarismus der Länder" verlangt worden, des „lächerlichsten Symbols eigenstaatlichen Wesens", das Meinecke eine „künstliche Veranstaltung zur Erzeugung kleinster Ehrgeize, schädlichster Hahnenkämpfe und kostspieliger Machenschaften" nannte. 46 Eine mehr oder minder starke Wendung gegen den ausgebildeten Parlamentarismus der Länder ist in fast allen Plänen der Liberalen für einen künftigen deutschen Einheitsstaat enthalten, gegen einen „unnötigen Apparat", der „eine Unsumme von unnützem Kampf, Reibungsflächen und Arbeit, eine Erschwerung der Verwaltung und eine politische Belastung darstellt". Mit den „Karikaturen des parlamentarischen Systems" 43
Sehr klar und deutlich hat innerhalb der umfangreichen Literatur zur Reichs-
reform Koch-Weser
diese Position in den Tagen der wiederhergestellten
Koalition in zwei Aufsätzen bezeichnet: Die Reichsreform.
Großen
Zwischenlösung
oder
Endlösung: Juristische Wochenschrift, 57. J g . / 1 9 2 8 , S. 1 — 4 ; Zum Einheitsstaat hin: Berliner Tageblatt vom 17. 3. 1929. Vgl. auch Erich Koch-Weser, Einheitsstaat und Selbstverwaltung, Berlin o. J . 44
O t t o Becker, Weimarer Reichsverfassung und nationale Entwicklung, S. 118.
45
Friedrich Meinecke, Regierung, Parlamentarismus, Staatspartei: Kölnische Zei-
tung vom 3 . 8 . 1 9 3 0 , zit. nadi den Politischen Schriften und Reden, S. 436. 48
Das Reich der Zukunft, Kölnische Zeitung vom 18. 1. 1931, zit. nach den Polit.
Schriften u. Reden, S. 451.
Reithsexekutive,
Reichswehr und
Reichspräsident
479
waren allerdings in erster Linie die kleinen und kleinsten L ä n d e r gemeint, die in der T a t bei jedem Regierungswechsel v o r neuen Schwierigkeiten standen, da entweder auf die Auswechselung der politischen Beamten verzichtet oder eine stetig wachsende
finanzielle
Belastung
in K a u f genommen werden m u ß t e . " D a s Zentrum trug auf beiden Seiten zur Mäßigung bei, w a r jedoch wegen der gleichzeitigen Beteiligung an Reichsregierung und preußischem Kabinett einer reibungslosen Innenpolitik und damit einer einheitsstaatlichen Konzeption zunächst eher geneigt als einer bundesstaatlichen, während die Deutsche Volkspartei im allgemeinen
ein-
heitsstaatliche Grundsätze vertrat, jedoch mit Ausnahme ihrer Parteiorganisation in Bayern. 4 8 Die wirtschaftlichen Interessenten, die in der Volkspartei eine beherrschende Rolle erlangt hatten, verfolgten den Grundsatz, den S t a a t und seine Verwaltungsapparatur möglichst sparsam — und das hieß im R a h m e n wirtschaftlicher Überlegungen rationell, mit möglichst geringen Aufwendungen sichernd, —
den optimalen
Effekt
auszustatten, und den wirtschaftlichen, v o r allem aber
den großindustriellen Kräften jede nur denkbare Freiheit und F ö r d e rung zu verschaffen. E s gab indessen auch in den Kreisen der W i r t schaft von den vorherrschenden abweichende Auffassungen. 4 9 In wich4
' So eine der führenden Persönlichkeiten des Deutschen Städtetages, der demo-
kratische Nürnberger Oberbürgermeister Luppe, Deutsche Allg. Ztg., N r . 4 7 0 vom 7. 10. 1927.
Johannes
Organisation"
des
Popitz
hat
später
im
Verfassungsaussdiusses
Unterausschuß
der
„Zuständigkeit
Länderkonferenz
die
und
Bestimmung
durchzusetzen versucht, „daß das rein parlamentarische System nur im Reich, aber nicht in den Ländern seinen P l a t z h a t " , und hierbei Unterstützung bei Koch-Weser und Triepel gefunden. Verfassungsaussdiuß
der Länderkonferenz:
der Unterausschüsse vom 18. und 19. November
1929, Berlin
Verhandlungen
1930, S. 6 6 f. Sein
Antrag wurde dann mit 6 gegen 5 Stimmen abgelehnt, so daß der E n t w u r f des Verfassungsaussdiusses an der entsprechenden Stelle eine K a n n - V o r schrift enthielt, die in der Sache nicht wesentlich über die Bestimmung des Artikels 17 der Reichsverfassung hinausging. 48
Die „ D V P / N a t i o n a l l i b e r a l e Partei — Landesverband Bayern rechts des Rheins"
erklärte sidi auch nach der Länderkonferenz von 1928 ausdrücklich im föderalistischen Sinne, so z. B. der Landesvorsitzende, der ehemalige Generalleutnant K a r l v. Schodi: „Wir Bayern der Deutschen Volkspartei müssen schon Föderalisten aus dem Grunde sein, weil wir stets Monarchisten waren und bleiben werden. Wir sehnen uns danach, das Verbrechen an unserem Königshaus wiedergutzumachen." ner Neueste Nachrichten, N r . 56 vom 26. 2. 1928. Ähnlich auch der und
frühere
Reichstagsabgeordnete
tung, N r . 41 vom 49
van
Calker
Münche-
Staatsrechtler
(München-Augsburger
Abendzei-
11.2.1928).
Eine Denksdirift
Verwaltungsreform"
des Deutschen
Industrie-
und Handelstages
„Leitsätze
vom M ä r z 1927, die sich für den dezentralisierten
zur
Einheits-
480
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
tigen Spitzenverbänden, so im Verein Deutscher Maschinenbauanstalten, auf seiner Jahresversammlung 1927, und im Reichsverband der Deutschen Industrie, in der Königsberger Juli-Sitzung seines Präsidiums und Vorstandes im gleichen Jahre, wurde die „Vielheit der Verwaltungen in Gemeinden, Ländern und im Reich" bemängelt und immer entschiedener eine „Verwaltungsreform" verlangt, die den gesamten Staatsapparat nach wirtschaftlichen Maßstäben in eine zuverlässig, rasch und wirksam arbeitende Maschinerie verwandeln sollte. Es fehlte aber nicht an einzelnen Stimmen der Opposition, etwa zur gleichen Zeit im Verband der Mitteldeutschen Industrie, 50 der vor allem die mittlere und kleinere Industrie Thüringens vereinigte. Er meldete bereits interessante Bedenken gegen eine schrankenlose „Verreichlichung" an. Die Befürworter der Dezentralisation gaben hier der Befürchtung Ausdruck, daß im vollständig zentralisierten Staat schließlich „jede allgemeine Verbindlichkeitserklärung eine Zwangsbewirtschaftung" darstelle. Zwar wurde auch hier, wie häufig dort, wo sich wirtschaftliche Interessenten an der Diskussion politischer Fragen beteiligten, das Problem nur in seiner engsten wirtschaftlichen Bedeutung erörtert; immerhin verrät sich eine politisch richtige Einschätzung in der Folgerung, daß eine perfekte Zentralisation auch eine Zentralisation der wirtschaftlichen Verbandswesen im Gefolge hat, worin die Beseitigung einer dauerhaften Sicherung vor der Zwangswirtschaft befürchtet wurde. An dieser Stelle fehlte nicht die Erkenntnis, daß Reichsreform und Verwaltungsorganisation auch weiterreichende als die unmittelbar beabsichtigten Wirkungen haben und auch ihrerseits auf Organisation und Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte Einfluß nehmen konnten. 51 Unter deutschnationaler Beteiligung hat sich die Diskussion über die Reichsreform dann bald derartig ausgeweitet, daß sie nun schon einer Diskussion über eine Revision der Weimarer Reichsverfassung an Staat aussprach, wurde von Hamm (seit 1925 geschäftsführendes Präsidialmitglied) entworfen und an den Reichskanzler geleitet. BA, R 43 1/1951. 60
Denkschrift „Gegen den zentralistischen Unitarismus. Für stärkere Berücksichti-
gung der Wirtschaftsgebiete, besonders im Reichswirtschaftsrat, programmatische Rede des Verbandsvorsitzenden bei der Mitgliedsversammlung des Verbandes am 1. O k t o ber 1927 in J e n a " . 51
Aus Gründen der Beschränkung müssen hier die ausgedehnten
Erörterungen
unter den wirtschaftlichen Interessenten, die von den Problemen der Reichs- und Verwaltungsreform
zum Programmkomplex
leiten, unberücksichtigt bleiben.
der „ständischen Ordnung"
hinüber-
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
481
H a u p t und Gliedern sehr nahe kam. Von Grund auf der Wiederherstellung eines föderativen Systems unter der historischen Hegemonie eines freilich unter deutschnationaler Führung gedachten Preußen 52 zuneigend, nutzten sie schließlich die Erörterung, um ihr eine Wendung zur konstitutionellen Reform zu geben. War die Frage der Verfassungsänderung für die Reichsreform sonst im allgemeinen ein sekundäres, in der Öffentlichkeit sogar gern und häufig umgangenes Problem, so wurde sie f ü r die nationale Rechte zur primären Forderung, die die Stellung des Reichspräsidenten auf Kosten des Parlamentarismus stärken helfen sollte. Prononciert föderalistische Parteien waren nur mehr die Bayerische Volkspartei und die weit kleinere Deutsch-Hannoversche Partei. Daneben gab es einen weltanschaulichen Föderalismus, der außerhalb der Parteien oder nur in lockerer Verbindung zu ihnen stand. Diese föderalistische Bewegung entwickelte sich vor allem in Süddeutschland und in Hannover, wo der Deutsche Föderalistenbund unter Führung von Männern wie dem deutschnationalen preußischen Landtagsabgeordneten Alpers und dem Universitätsprofessor Heldmann seinen Sitz hatte. Seine enge Anlehnung an die Deutsch-Hannoversche Partei und an die Deutschnationale Volkspartei ließ längere Zeit hindurch ständige Beziehungen zu den Föderalisten der Bayerischen Volkspartei und des rheinischen Katholizismus nicht entstehen, die ihren Programmen nach an und f ü r sich den großdeutsch-föderalistischen Zielen des Bundes sehr nahestanden. Die katholischen Föderalisten fanden sich schließlich unter der Führung des unermüdlichen Kölner Professors Schmittmann in einer besonderen Organisation zusammen, die an Stärke und Bedeutung den Deutschen Föderalistenbund bald in den Schatten stellte, im Reichs- und Heimatbund deutscher Katholiken, der am 2. September 1924 auf dem 63. Katholikentag in Hannover — „ganz nahe am Grabe Windthorsts" — gegründet wurde. 53 Einen anderen, rationalistisch-progressiven Föderalismus vertrat ein literarischer Intellektuellenkreis, der sich um die weltbürgerlich-pazifistische Zeitschrift „Die Menschheit" in Wiesbaden gruppierte. Zu ihm gehörten der Pädagoge Friedrich Wilhelm Foerster, der einst außenpolitischer Ratgeber und politischer Gefährte Kurt Eisners aus pazifistischer Über52 So schon O s k a r H e r g t auf dem 2. Parteitag der D N V P in H a n n o v e r am 25. O k t o b e r 1920: Unser Ziel, Berlin 1920, S. 15. 53 O t t o Kunze, Großdeutsche Idee und großdeutsche Organisation: Allgemeine Rundschau, X X I . J g . / H e f t 40 v o m 2. 10. 1924.
31 Sdiulz I
482
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
zeugung wie aus föderalistischer Gesinnung war, und Schriftsteller wie Friedrich Röttger, Alfons Paquet und August Weitzel. 54 Ihre Äußerungen und Gliederungsvorschläge fanden in zuständigen Ministerien einige Beachtung, gewannen jedoch keinen nachhaltigen Einfluß. Die gegenüber dem Jahresanfang von 1924 völlig veränderte Situation wird vollends deutlich in der matten Reaktion auf die zweite „Denkschrift der Bayerischen Staatsregierung über die fortschreitende Aushöhlung der Eigenstaatlichkeit der Länder unter der Weimarer Verfassung", die fast genau zwei Jahre nach ihrer Vorgängerin der Reichsregierung übermittelt wurde.55 Diesmal entschied sich Bayern in offenkundig richtiger Einschätzung der psychologischen Möglichkeiten zuerst für den diskreten Weg diplomatischer Verhandlungen, ehe es die Öffentlichkeit über seine Gravamina unterrichtete, die diesmal sachlicher und detaillierter zusammengestellt worden waren, aber kaum zu publizistischen oder politischen Effekten gelangten. Die Reichsregierung blieb jetzt gänzlich unbeeindruckt von den „bekannten bayerischen Angriffen", 56 die nun freilich der Originalität entbehrten. Eine Beratung in München, zu der sich der Reichskanzler bereit fand, um eine Veröffentlichung der Denkschrift zu unterbinden oder wenigstens zu verzögern, verlief völlig ergebnislos. Die Stellungnahmen der zuständigen Reichsminister ergingen schleppend und in eindeutig abweisendem Sinne. Das radikalste Votum enthielten die „wirtschaftlichen Bemerkungen des Reichswirtschaftsministeriums zur Denkschrift des Bayerischen S t a a t s m i n i s t e r i u m s . . d i e eine selbstbewußte, rationalistisch-ökonomische Anschauungsweise in der wiedererstandenen deutschen Wirt64
Vorschläge dieser Gruppe zur Neugliederungsfrage enthält die Zeitschrift: Die
Menschheit, Nr. 10 vom 1 1 . 3 . 1 9 2 7 . 55
Vermerk von Reichskanzler Luther über Erhalt der Denkschrift vom 29. 1.
1926, BA, R 43 1/2332. Ihren Inhalt gab die bayerische Regierung erst Ende April 1926 der Öffentlichkeit bekannt, nachdem die Beratungen der Reichsregierung mit dem
bayerischen
Kabinett
ergebnislos
verlaufen
waren.
(Bericht
über
eine
Be-
sprechung des Reichskanzlers, des Reichsfinanzministers Reinhold und des Reidisinnenministers Külz mit der bayerischen Regierung im Staatsministerium des Äußeren zu München am 17. April 1926 a. a. O.) Die zweite Denkschrift ist ebenso wie die erste in den Beratungsunterlagen zur Länderkonferenz (Januar 1928), S. 362 bis 385, abgedruckt. 56
Stellungnahme des Reichsfinanzministers, undatiert, Begleitschreiben vom 30. 7.
1926, BA, R 43 1/2332. "
Der Reichskanzlei am 20. September 1926 übersandt, von Curtius unterzeich-
net; BA, R 43 1/2332.
Reicbsexekutive,
Reichswehr und
Reichspräsident
483
schaft auf dem Höhepunkt der Stabilisierungsperiode erkennen läßt. In dem Ressort des Ministers Curtius wurde es nur aus der „Rücksichtnahme auf parteipolitische Kombinationen" erklärt und vom Standpunkt einer völlig autonomen liberalen Wirtschaftspolitik als „schwer verständlich" bezeichnete, daß man überhaupt noch „Erwägungen darüber anstellt, ob sich nicht eine Dezentralisation der deutschen Wirtschaftspolitik nach historischen innerdeutschen Ländergrenzen 58 empfiehlt", und „daß man eine solche Fragestellung nicht viel grundsätzlicher ablehnt und in ihrer ganzen Unmöglichkeit empfindet". Die Gesetze der Entwicklung wurden hier in einer Ausschließlichkeit in der fortschreitenden Zentralisation erblickt wie kaum in einem anderen Reichsministerium zu dieser Zeit: „Die ganze wirtschaftliche Entwicklung sowohl nach der Seite des Verkehrs, des Kredits und der auf Massenherstellung gerichteten Ausgestaltung des Produktionsapparates im Innern wie außenwirtschaftlich auf dem Gebiete der Handelspolitik, Reparationspolitik, der internationalen Kapitalbewegung usw. verlangt eine Zusammenfassung möglichst großer Wirtschaftsgebiete mit möglichst weitgehender einheitlicher Organisation". Einzig in kulturellen Fragen, „soweit sie nicht auf das außenpolitische Gebiet übergreifen", könne man den Ländern entgegenkommen. „In einer Zeit, in der mit Recht die Frage gestellt wird, ob nicht schon die Grenzen der großen Staaten Europas zu eng sind, um der europäischen Wirtschaft die durch die weltwirtschaftliche Entwicklung gebotene Gestaltung" zu ermöglichen, fehlte nach der Meinung des Urhebers dieser Stellungnahme jeglicher Vernunftgrund, auf überkommene historische Erscheinungen des Föderalismus Rücksicht zu nehmen; die Vernunft sprach gegen sie. Ihr „zur Vermeidung augenblicklicher innerpolitischer 68
Die zweite bayerische Denkschrift widmete nur einen verhältnismäßig
kurzen
Abschnitt der „Zentralisierung auf wirtschaftlichem Gebiet", tat dies allerdings in der A r t einer melancholischen historischen Reminiszenz:
„Während noch um die
Wende des Jahrhunderts die deutsche Wirtschaft auf der Grundlage einer breiten Schicht selbständiger wirtschaftlicher Betriebe von verschiedener Größe beruhte, einer Grundlage, der das Reich seine Kraft und seinen Reichtum verdankte, hat die E n t wicklung in den letzten zwanzig Jahren und besonders im Krieg und nach dem Kriege zu einer fortschreitenden weitgehenden Erdrückung dieser Mittelschicht gleichzeitig von oben und von unten her g e f ü h r t . . B e r a t u n g s u n t e r l a g e n , S. 378. Im Anschluß hieran kritisierte
die Denkschrift
die kassenmäßige
Zentralisation
in
der
Finanzverwaltung, der Reichsbank und der Reichspost, die teilweise vom Reich geförderte Zentralisation
im Beschaffungswesen
der Reichswehr,
der Post und
der
Reichsbahn, die freilich insgesamt kaum die Erscheinungen verschuldet haben dürften, die die Denkschrift zum Ausgang ihrer Kritik nahm. 31»
III.
484
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Schwierigkeiten nicht folgen", hieße, „große deutsche Volksinteressen preiszugeben. Auch ohne den Krieg und die Weimarer Verfassung hätte sich die Zuständigkeit des Reichs auf immer weiteren Gebieten durchgesetzt. Das Nebeneinanderbestehen von Reichs- und Länderbürokratien war vielleicht bei der wirtschaftlichen Blüte der Vorkriegszeit erträglich. Heute, wo gespart werden muß, wirkt ein solches Nebeneinander der notwendigen sachlichen Zusammenfassung und Sparsamkeit entgegen . . . Die wirtschaftliche Konzentration ihrerseits erwächst aus der Entwicklung der Technik und der Verkehrsverhältnisse, der Erweiterung der Marktgebiete, der Vermehrung der Bevölkerung usw." Die bayerische Denkschrift hatte in ihrem wirtschaftspolitischen Teil eben dieses Wirtschaftssystem verurteilt, dessen volle Entfaltung unter fortschreitender Konzentration und Zentralisation hier euphemistisch beurteilt wurde. „Die Signatur der neuen Entwicklung", die die bayerische Denkschrift von einem Standort in der Vergangenheit kritisch resümierte, wollte das Reichswirtschaftsministerium weder erörtern noch ihrerseits beleuchten, weder zu den von bayerischer Seite beklagten Erscheinungen Stellung nehmen noch ihre Existenz bestreiten: die „Aufsaugung der kleineren, mittleren und auch größeren Betriebe durch den modernen Großbetrieb, von unten her gesehen Zunahme der Zahl der Abhängigen, namentlich jener im Großbetrieb, steigende Vermehrung der untersten Schicht, nämlich der ungelernten Arbeiter. Der Wirtschaftszentralismus, organisiert in den Spitzenverbänden, Interessengemeinschaften, Kartellen, Syndikaten usw., ist als Faktor f ü r die Bestimmung unserer allgemeinen Wirtschaftspolitik und auch für die Politik des Staates immer stärker geworden. Diese Überentwicklung bedeutet die gleichzeitige Uberentwicklung des vierten Standes. Soll der letzteren, die nicht nur eine bedenkliche Erscheinung in politischer Beziehung darstellt, sondern auch die Quelle eines gesunden Volkswachstums zu verschütten droht, vorgebeugt werden, dann ist es notwendig, daß sich die Wirtschaftspolitik des Reiches mehr als seither dem Wirtschaftszentralismus entgegenzustemmen sucht."59 Die Politik des Reichswirtschaftsministeriums strebte eben gerade in diese von der bayerischen Denkschrift kritisch aufgewiesene Richtung. Doch auch die Partei des Föderalismus, der sich hier als Schutz vor der Konzentrationsbewegung der industrialisierten Wirtschaft anbot, wäre zu dieser Zeit wohl kaum imstande gewesen, sich dieser Entwicklung 68
Ebda.
Reichsexekutive,
Reichswehr
und
Reichspräsident
485
wirklich „entgegenzustemmen". Sie beklagte eine „Signatur" der Zeit, die im Grunde gar nicht Folge politischer oder verfassungspolitischer Entscheidungen war, sondern auf weit tiefer gründende, soziale und ökonomische Ursachen zurückging. Die Denkschrift begab sich auf die Abwege eindeutiger Unsachlichkeit, wenn sie diese Erscheinungen der Reichspolitik auflastete, die die Reichspolitik doch nur bejahte und unterstützte. Und dieser Umstand entwertete auch ihre anscheinend überzeugend klingende Parole: „Verfassungsfriede statt Verfassungskampf, Umwandlung der labilen Grundlagen der Weimarer Verfassung in eine stabile, klare Ordnung in der Verteilung der Zuständigkeiten und Aufgaben zwischen Reich und Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung". 80 Die Widersprüche zwischen den Positionen, die diese beiden Denkschriften bezogen, reichen über verfassungspolitische Ziele, Programme und Prinzipien weit hinaus. Die Parteiungen, die in ihnen sichtbar werden, verweisen auf die Antinomien in der gesellschaftlichen Entwicklung, der die Verfassungspolitik entsprechen kann, die sie aber nicht zu bestimmen vermag.
a. a. O., S. 384.
ZWÖLFTES
KAPITEL
Das preußische Problem bis 1927. Dualismus, Hegemonie oder Reichsland? Voraussetzungen Eine Zeit völliger Entspannung ist auch das zweite Jahrfünft der Republik von Weimar nicht gewesen. Die großen Gegensätze zwischen den politischen Parteien, den sozialen Klassen und ihren Interessengruppen verschwanden nur zeitweilig von der vorher allzu bewegten Oberfläche. Doch sie bestanden weiterhin und traten in der großen, weltweiten Krise mit erneuter Heftigkeit wieder offen zutage. Auch die Beziehungen zwischen der Reichsgewalt und den Ländern waren keineswegs konsolidiert. Die in der Verfassung der Weimarer Republik angelegte Dynamik der bundesstaatlichen Verhältnisse w a r nicht einmal vorübergehend verschwunden oder aufgehoben. Eine Wandlung, die zweifellos ein großer Fortschritt war, lag darin, daß die Auseinandersetzungen nun nicht mehr der äußersten Zuspitzung im Konfliktsfall zueilten. Da dies keinem der Beteiligten irgendeinen Gewinn gebracht hatte, w a r es nur natürlich, daß sie sich nunmehr in den Bahnen diplomatisch und bürokratisch behandelter Beziehungen bewegten und daß sie fortan rechtsförmige Mittel bevorzugten. Dies hatte zur Folge, daß die Stellung der Handhabenden der Verwaltung zu einer schlechthin entscheidenden Stellung in staats- und verfassungspolitischer Hinsicht wurde. In erster Linie waren dies die höchsten Beamten der Ministerien als Kenner, Praktiker und über hohes Ansehen verfügende Autoritäten der Verwaltung, die „geschäftsführenden Präsidenten" mächtiger Verbände und die ebenso angesehenen Staatsrechtslehrer in ihrer Rolle als Deuter und Ausleger der Verfassung. Die Reichsverfassung der Frankfurter Nationalversammlung vom 28. M ä r z 1849 erklärte die Auslegung von Reichsgesetzen zur Sache eines Beschlusses des „Reichstags", also beider gesetzgebenden Organe der Reichsgewalt, des Volkshauses und des Staatenhauses. Sie wurde zu einem A k t der Gesetzgebung selbst erhoben und der Schaffung, Abänderung oder Aufhebung von Gesetzen gleichgeordnet.
Das preußische
Problem
bis 1927
487
Das bezeugt den hohen Rang, den ein früheres politisches Denken der Auslegung und damit den Grundsätzen der Anwendung von Verfassung und Gesetzen zugestand. Der moderne Verwaltungsstaat läßt freilich eine derartige Belastung des Parlaments nicht zu und bedient sidi statt seiner der Praktiker wie der Theoretiker der Gesetzesanwendung. Man darf indes gewiß nicht behaupten, daß nun eine autokratische Verhärtung des Regierungssystems der Republik eingetreten sei. Die Pluralität der Interessen und Ideen ist zu keiner Zeit unverhüllter und bewegter in Erscheinung getreten als gerade in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Die hervorragendsten Köpfe unter den Spitzen des Beamtentums, der Juristenschaft, der Verbandsführer und Oberbürgermeister scheuten nicht, sondern suchten die Öffentlichkeit. Die repräsentativsten Persönlichkeiten der Beamtenschaft haben sich wohl kaum je zu einer anderen Zeit so oft und so häufig glanzvoll als Vortragsredner und als Publizisten hervorgetan. Die Diskussion war ein lebendiges Element dieser Jahre, während derer Deutschland einer Autokratie oder einer Diktatur ferner war als vorher und als nachher. Es läßt sich indessen nicht bestreiten, daß die ruhigeren politischen Verhältnisse dieser Jahre stark unter dem Einfluß der Verwaltungen und daß Bürokratie und Verwaltungswesen im Vordergrund standen. Zu den Charakteristika dieser Periode zählen die abseitige Stellung der Sozialdemokraten bis 1928 und ihre — mit Ausnahme einzelner Wehrfragen — gemäßigte Opposition in der inneren bei Unterstützung der äußeren Reichspolitik, die von dem Ausbau ihrer Position in Preußen unter Otto Braun begleitet wurde, nachdem dort 1924/25 die Große Koalition wieder der Weimarer Koalition des Anfangs gewichen war. Die preußischen Minister beriefen sich gelegentlich auf die Pläne jenes Einheitsstaates, die in den ersten Entwürfen von Hugo Preuß enthalten waren. Preuß verteidigte jedoch kein preußisches Staatsinteresse, sondern suchte den neuen republikanischen Volksstaat als ein vom „deutschen Nationalbewußtsein" getragenes Gebilde vorzustellen, in dem Preußen ebenso wie seinen süddeutschen Partnern nur eine sekundäre Rolle zufallen sollte. Doch unter dem Eindruck der bayerischen Bestrebungen, die er einen „Rückfall in den partikularistisdien Fieberwahn der Länderstaatlichkeit" nannte, hat schließlich auch er an Preußens „alten Beruf als deutscher Notstaat" appelliert und das Festhalten an seiner „Staatseinheit" als notwendig angesehen. 1 1 Uber den Artikel 48 der Reichsverfassung, wieder abgedruckt in der A u f s a t z sammlung von H u g o Preuß, U m die Reichsverfassung von Weimar, Berlin 1924, S. 35.
III. Tendenzen und Probleme einer
488
Reichsreform
I n den K o n f l i k t s f ä l l e n , die das Reich in den ersten J a h r e n der neuen Verfassung durchzustehen hatte, w a r die w i r k s a m e preußische U n t e r stützung zur unentbehrlichen H i l f e geworden. I n den Ministerpräsidentenkonferenzen versicherte sich das Reich bei seinen Auseinandersetzungen mit B a y e r n einer Rückendeckung durch die anderen L ä n d e r , ohne die die L a g e der Reichsregierung vollends hoffnungslos gewesen wäre. H i e r a u s hat sich dann eine P r a x i s fortgesetzter K o n s u l t a t i o n e n des Reichsrates entwickelt, die über das bei der Schaffung dieser K ö r perschaft angenommene M a ß weit hinausging und i h r als dem E l e m e n t einer K o n t i n u i t ä t in den Reichsgeschäften in einer Zeit rasch wechselnder Regierungen
allmählich
die Stellung eines Oberhauses
sicherte.
B l i e b der Reichsrat in seiner äußeren Zusammensetzung auch eine „sich wenig ändernde B e a m t e n k ö r p e r s c h a f t " , die i m m e r noch eine A n z a h l einstiger B e v o l l m ä c h t i g t e r
zum Bundesrat
der Monarchie zu
ihren
Mitgliedern zählte, 2 so folgte doch aus seiner nach und nach erlangten Bedeutung eine weitere Ausfüllung und Ausgestaltung des Reichsverfassungsrechts im Sinne des bundesstaatlichen Strukturprinzips. D i e M a n nigfaltigkeit seiner A u f g a b e n und Rechte, seine Beteiligung an der G e setzgebung, seine Gesetzgebungsinitiative, seine M i t w i r k u n g beim E r l a ß von Verordnungen m i t Gesetzeskraft und von ausführenden Rechtsverordnungen, beim E r l a ß von allgemeinen
Verwaltungsvorschriften
und auch bei einer R e i h e v o n Verwaltungshandlungen der Reichsregierung, seine ständige Unterrichtung über die F ü h r u n g der Reichsgeschäfte, schließlich seine F u n k t i o n e n als letztentscheidende Instanz 3 und als W a h l - und Vorschlagskörpersdiaft
waren
verfassungsmäßig
be-
gründet. I h r e m wichtigsten T e i l entsprachen korrespondierende F u n k tionen des Reichstags, was jedoch konkurrierende Betätigungen beider Institutionen keineswegs ausschloß, sondern geradezu herausforderte. Bei der Beteiligung des Reichsrates an der Gesetzgebung hat sich die intensive Ausübung eines der ihm zustehenden Rechte, des Beratungsrechtes im V o r v e r f a h r e n , m i t Rücksicht auf die politische R e s e r v e des Einspruchs,
aber auch im Zusammenhang
mit
der Beteiligung
Reichsrates beim E r l a ß v o n Verwaltungsvorschriften und 2
Karl-Heinz
Schoppmeier,
Der
Einfluß
Preußens
auf
die
des
schließlich
Gesetzgebung
des
Reiches (Abhandlungen zur Reichsverfassung, Heft 4), Berlin 1929, S. 27. 3
Hierzu gehörte vor allem auf Antrag des Reichsministers der Finanzen
einer
Landesregierung
die Entscheidung,
ob bestimmte Landes-
oder
bzw.
Gemeinde-
steuern Steuereinnahmen des Reiches schädigen konnten, also die Feststellung des Reichsinteresses bei der Erhebung von Landes- und Gemeindesteuern nach § 6 Absatz 2 des Finanzausgleichgesetzes. Vgl. Poetzsch, J b ö R X I I I / 1 9 2 5 , S. 195 ff.
Das preußische
Problem
bis 1927
489
ihrer Durchführung durch die Landesverwaltungen als höchst wichtiges Instrument für den weiteren Ausbau seiner Stellung erwiesen und ihn zu einer dauernd, nicht nur periodisch tragenden Körperschaft werden lassen, was aus der Reichsverfassung noch nicht zu folgern war. Für die Reichsregierung war die ständige Heranziehung des Reichsrates, um eine „Ableitung der partikularen Machtansprüche" in ein „unitarisches Sammelbecken" 4 zu erreichen, nach den Erfahrungen der Konfliktsjahre ein Gebot der Notwendigkeit. 5 Allerdings mußte sie 4 E b d a . Vgl. auch die Darstellung von Heinrich Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der neuen Reichs Verfassung: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 39/ 1919/20, S. 456 ff. 5 Die zunehmende verfassungspolitische Bedeutung des Reichsrates läßt sich auch an äußerlichen Merkmalen erkennen, die auf die Initiative einzelner oder mehrerer Länder zurückgingen. H i e r z u zählen e t w a die langfristige Ansetzung von Beratungen, die den Länderregierungen ausreichende Vorbereitungen erlaubten, die regelmäßige E i n b e r u f u n g von Ausschußsitzungen zur laufenden Unterrichtung der Länder, aber auch protokollarische Regelungen. Auf G r u n d der Geschäftsordnung der Reichsregierung (§ 13) sollte der Reichsinnenminister in den regelmäßigen Vollsitzungen des Reichsrates den Vorsitz führen, in besonderen Fällen der f ü r den Verhandlungsgegenstand zuständige Reichsminister. Das w a r jedoch n u r Geschäftsverteilungsprinzip, keineswegs staatsrechtliche N o r m und f ü h r t e dazu, d a ß der Vorsitz in wachsendem U m f a n g von Staatssekretären oder Abteilungsleitern der Reichsministerien ausgeübt w u r d e . Gegen diese Praxis richtete sich ein Vorstoß des w ü r t tembergischen Gesandten Bosler am 27. N o v e m b e r 1925, nachdem nur in 2 der 53 voraufgegangenen Vollsitzungen ein Reichsminister präsidiert hatte. Nach A u f f a s sung des Gesandten gefährdete dies das Ansehen der Körperschaft. Ein anwesender Ministerialdirektor bemerkte zwar, nicht ohne boshafte Anzüglichkeit, es erscheine ihm wichtiger, d a ß „ein fachkundiger Ministerialdirektor den Vorsitz führe, denn es sei oft genug vorgekommen, d a ß die früheren Minister, von denen manche nicht zwischen Plenar- u n d Ausschußsitzungen hätten unterscheiden können, kaum imstande gewesen w ä r e n , die ihnen soufflierte A n t w o r t klar wiederzugeben". ( H a n d schriftl. Referentenvermerk BA, R 43 1/1030.) Dennoch f ü h r t e in den Vollsitzungen des Reichstags von nun ab weit häufiger als vorher der Reichsinnenminister oder ein anderer Reichsminister den Vorsitz. Bei besonderen Anlässen sollte ihn sogar der Reichskanzler selbst übernehmen. (Handschr. N o t i z Reichskanzler Luthers f ü r Staatssekretär K e m p n e r in der Reichskanzlei vom 5. T. 1926 a. a. O.) — Als sich anläßlich des Besuches des afghanischen Königs in Berlin die Bevollmächtigten zum Reichsrat dem diplomatischen K o r p s gegenüber zurückgesetzt glaubten, beschlossen sie danach die Einsetzung eines Reichsratspräsidiums und eines Doyens, der protokollarisch dem Reichstagspräsidenten unmittelbar nachgeordnet sein sollte. Aus den Besprechungen über eine R a n g o r d n u n g der Reichsratsbevollmächtigten ging d a n n als K o m p r o m i ß ein Geschäftsführender Ausschuß des Reichsrates h e r v o r , dem die offizielle Vertretung des Reichsrates nach außen oblag. Er existierte seit Dezember 1928 und setzte sich zusammen aus dem Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium Weismann und den Gesandten Ritter v. Preger (Bayern), G r a d n a u e r u n d Boden (dem dienst-
490
III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
sich nach zuverlässiger Unterstützung umsehen. Es lag nahe, sie immer mehr bei Preußen zu suchen, dessen Verwaltungen ohnehin die wichtigsten im Reich waren, wenn auch seine Stärke im Reichsrat nicht mehr an die im einstigen Bundesrat heranreichte. Schon bald nach Verabschiedung der Reichsverfassung war die Frage nach weiteren verfassungsrevisionistischen Konsequenzen hinsichtlich der Stellung und der Beziehungen Preußens zum Reich aufgetaucht und nicht mehr zum Schweigen gekommen. Wurde sie jedoch zunächst ausschließlich im Gesichtswinkel der Belange des Reiches gestellt, so rückte unter dem Eindruck der Konflikte Preußen selbst in den Vordergrund der Erörterungen wie der Bewertungen. Solange die Stabilisierung anhielt und die parlamentarische Tätigkeit in geordneten Bahnen verlief, begünstigte die Bedeutung des Reichsrates auch Preußens Anstrengungen, die einstige hegemoniale Stellung im Aufbau des deutschen Gesamtstaates zurückzugewinnen. Trotz wiederholter Auseinandersetzungen wurden die nächsten Jahre durch ein gegenseitiges Handinhandarbeiten der Reichsministerien und preußischen Ressorts bestimmt, so daß zeitweilige Spannungen niemals zu anhaltenden Konflikten wurden. Unter der Führung Otto Brauns, Severings, Grzesinskis und Heilmanns vermochte die Sozialdemokratie gemeinsam mit der Demokratischen Partei und dem Zentrum, unter dem kollegialen Staatsministerium, in der preußischen Verwaltung und in unauflösbarer Verbundenheit mit ihr einen rocher de bronce der Republik zu schaffen. Das Zentrum, in Preußen wie im Reich dauerhafter Partner aller Koalitionen, wirkte in diesen Jahren der Stabilisierung, da die Reichsregierung nach rechts und die preußische nach links gebildet war, wie ein lebendiges Scharnier, das die auseinanderstrebenden Teile zusammen-, zugleich aber auch beweglich hielt. Die preußische Politik gegenüber dem Reich und den Regierungen der anderen Länder war keineswegs von Anbeginn dauerhaft festgelegt. Das Moment der Beständigkeit und das stetige Drängen auf Verwirklichung eines starken Einheitsstaates ist mehrfach unterbrochen ältesten der Ländergesandten, der Braunschweig seit 1906 als stellvertretender Bevollmächtigter und seit 1914 als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister am Kgl. Preußischen H o f e vertrat). Niederschrift über die Besprechung am 22. Juni 1928
über die Rangordnung
der Reichsratsbevollmächtigten
und
weitere
Notizen a. a. O. — Staatssekretär Weismann konnte hiermit eine beispiellose Stellung vervollständigen: als die wichtige „rechte H a n d " Brauns im Preußischen Staatsministerium, als Vertreter Preußens in den Sitzungen der Reichsminister, als Bevollmächtigter Preußens zum Reichsrat.
Das preußische Problem bis 1927
491
und erst nach Schwankungen wiedergefunden worden. Audi die lange Regierungszeit der Parteien der Weimarer Koalition, die durch Männer wie Severing, Becker, Höpker-Aschoff, Schreiber, Hirtsiefer und vor allem Braun als Minister, aber auch durch Parlamentarier wie Heilmann, Heß oder Nuschke Jahre hindurch repräsentiert wurden, was den Eindruck der Stetigkeit vermittelt, ist keineswegs von kritischen Unterbrechungen, von Experimenten und Beunruhigungen frei geblieben. Auch der kollegiale Charakter des Staatsministeriums, das nach Artikel 7 der preußischen Verfassung die oberste vollziehende Behörde war, hat sich im Verlauf einiger Jahre der Erprobung in seiner republikanischen Form weiter als der des Reichskabinetts ausgebildet, was sich auf den Zusammenhalt der jeweiligen Regierungskoalition im großen und ganzen außerordentlich günstig auswirkte, da in Fragen von zentraler politischer Bedeutung jederzeit gegenseitige K o n trolle und gemeinsame Beschlüsse der Ressortminister gesichert waren." Hierüber hatte grundsätzlich und in erster Linie der Ministerpräsident zu wachen, der seine überragende Stellung innerhalb des Staatsministeriums keineswegs einer verfassungsrechtlichen Bestimmung verdankte, wie vergleichsweise die Artikel 55 und 56 der Weimarer Reichsverfassung die Stellung des Reichskanzlers definierten. Die Be6
N a c h dem S t u r z der M o n a r c h i e w u r d e n neue „ G r u n d s ä t z e f ü r die E r l e d i g u n g
v o n Geschäften des S t a a t s m i n i s t e r i u m s "
erst a m 16. D e z e m b e r 1 9 2 1 beschlossen, die
die bürokratischen U b e r l i e f e r u n g e n m i t G r u n d s ä t z e n der preußischen V e r f a s s u n g v o n 1 9 2 0 in E i n k l a n g brachten. Sie bildeten die allgemeine G r u n d l a g e für die T ä t i g k e i t des Preußischen
Staatsministeriums
V o n grundsätzlicher gleichmäßige
Bedeutung
Regelung
für
in der R e p u b l i k .
Abdruck H A B ,
Rep. 90/396.
blieb, d a ß einmal alle Angelegenheiten,
alle
Ressorts"
erforderten,
sowie
jederzeit
„besonderer politischer B e d e u t u n g der Entscheidung des gesamten
„die
eine
Fälle
von
Staatsministeriums
v o r z u b e h a l t e n " w a r e n , was sehr viel sein konnte, u n d d a ß z u m a n d e r e n eine große Anzahl
von
Personalvorschlägen,
praktisch
alle
wichtigen
vom
Staatsministerium
beraten und beschlossen w e r d e n m u ß t e n , so d a ß sich eine isolierte
Personalpolitik
eines einzelnen Ressortchefs nicht durchsetzen konnte, w o h l aber günstige B e d i n g u n gen bestanden, grundsätzliche Absprachen o d e r V e r e i n b a r u n g e n herbeizuführen,
was
auch tatsächlich zumindest zeitweilig geschehen ist. H i e r z u gehörten v o r allem drei Kategorien
von
Personalvorschlägen:
,,a)
auf
Ansstellung
aller
Beamten,
die
G r u p p e 13 der aufsteigenden G e h ä l t e r und in den G r u p p e n der E i n z e l g e h ä l t e r a u f g e f ü h r t sind, der Polizeipräsidenten in G r u p p e
12 der B e s o l d u n g s o r d n u n g
der L a n d r ä t e , b) a u f V e r s e t z u n g der u n t e r a ) g e n a n n t e n B e a m t e n und a u f
in ... und
Ernen-
nung v o n L a n d r ä t e n zu R e g i e r u n g s r ä t e n , c ) a u f kommissarische Besetzung der Stellen der O b e r p r ä s i d e n t e n , R e g i e r u n g s p r ä s i d e n t e n , P o l i z e i p r ä s i d e n t e n und
Landräte".
Z u r P e r s o n a l p o l i t i k in P r e u ß e n Einzelheiten bei E b e r h a r d P i k a r t , Preußische B e a m tenpolitik
1818—1933:
VjZ.
6. Jg./1958,
S. 1 1 9 — 1 3 7 ;
A n f ä n g e des t o t a l i t ä r e n M a ß n a h m e n s t a a t e s , S. 4 8 1 ff.
auch
Gerhard
Schulz,
Die
492
Hl.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Sonderheiten des Amtes des Ministerpräsidenten waren zunächst bürokratischer N a t u r . Ihre Grundlage bildete die ständige Erledigung der laufenden Dienstgeschäfte des Staatsministeriums gemäß Artikel 47 der preußischen Verfassung, seine Zuständigkeit f ü r die Festsetzung der Tagesordnung der Sitzungen des Staatsministeriums, die Vollziehung der vom Staatsministerium ausgehenden Schriftstücke und — in Gemeinschaft mit dem jeweils zuständigen Fachminister — Ausfertigung und Vollziehung von Gesetzen und Verordnungen, die das Staatsministerium erließ und die auf Grund des Artikels 50 der preußischen Verfassung vom Landtag beschlossen wurden. Die preußische Staatsregierung legte auch in der Republik die ihr anhaftenden Züge des Konstitutionalismus nicht gänzlich ab. Freilich beruhte die Bedeutung des Amtes des preußischen Ministerpräsidenten nicht allein auf seinen bürokratischen Eigenschaften. Es verfügte über eine ebenso wichtige politische Seite, sobald der Regierungschef als Koalitionsführer im Landtag einer unbedingten Deckung durch die Abgeordneten der Koalition sicher war. Die Bestimmung im Artikel 17 der Reichsverfassung, demzufolge die Landesregierung des Vertrauens der Volksvertretung bedurfte, hat von ihm schon frühzeitig eine dem ursprünglichen Sinn gegenüber verengende praktische Ausdeutung erhalten. Das zeigte sich eben nach der ungünstig verlaufenen Wahl von 1924, als sich Braun entschloß, nicht zu demissionieren, sondern weiterhin im Amt zu bleiben, weil angesichts der Wahlergebnisse eine andere Regierungsbildung nicht oder nur unter Einbeziehung der Deutschnationalen denkbar gewesen wäre. Das Ausscheiden der volksparteilichen Minister erzwang dann aber seinen Rücktritt, was eine mehrmonatige Regierungskrise zur Folge hatte, da keine Mehrheit zustande kam, bis sie Braun am 3. April 1925 endlich f ü r ein neues Ministerium der Weimarer Koalition erhielt. 7 Die nächsten Jahre brachten ihn einerseits zu vorsichtigem Lavieren gegenüber dem Landtag, f ü h r ten aber auch dank der zuverlässigen Abdeckung durch die Minderheit der Koalitionsparteien zu einer weit stärkeren Ausprägung eines selbständigen politischen Kurses des Staatsministeriums, das mit dem Zerfall der Großen Koalition an politischer Selbständigkeit gewann. Die Initiative des Landtags ist mehr und mehr in die Bahnen der Regierungspolitik gelenkt worden, was zwar gemeinhin nicht als Grund7 Aktenvermerk über den Rücktritt des Staatsministeriums am 23. J a n u a r 1925 Rep. 90/896. Vgl. hierzu Friedrich Stampfer, D k ersten vierzehn Jahre der deutschen Republik, Offenbach/Main 1947, S. 442 ff.
Das preußische
Problem
bis 1927
493
prinzip eines voll entwickelten parlamentarischen Systems gilt, dem Sinn der Bestimmung des Artikels 17 der Reichsverfassung jedoch keineswegs widersprach. 8 Der Ministerpräsident achtete zudem genauestens darauf, daß aus seiner geschäftsführenden Funktion im Staatsministerium, die ihm die Grundsätze vom 16. Dezember 1921 einräumten, ein Vorentscheidungsrecht „zwecks Wahrung einer einheitlichen Führung der preußischen Regierungspolitik"" und ein ausschließliches Vertretungsrecht des Staatsministeriums nach außen, im besonderen gegenüber den obersten Reichsbehörden wurde. Das letzte ist allerdings nicht ohne Mühen durchgesetzt worden. 10 Auch in Hinsicht auf unmittelbare Beziehungen des Reichspräsidenten zu preußischen Behörden versuchte Braun, diesem Grundsatz Anerkennung zu verschaffen. 11 Das Staatsministerium trug entscheidend zu einer kräftigen Leitung des großen preußischen Administrativkörpers bei; seine Eigenheit bewirkte nach dem Ausscheiden der beiden der Deutschen Volkspartei angehörenden Minister eine zunehmende Kohärenz nicht nur der Regierungspolitik, sondern auch der Regierungsparteien, die sich mehr und mehr auf die Aufgabe einstellten, parlamentarischer Schutz8
Vgl. o., S. 203 f.
9
In einem Schreiben an den Minister des I n n e r n vom 27. 11. 1923 wies der Ministerpräsident einen Versuch des Ministers zurück, selbständig eine Entscheidung des Staatsministeriums über einen Gesetzentwurf auf dem U m l a u f w e g e einzuholen. Aus der Leitung der Geschäfte des Staatsministeriums folgerte er hierbei sein ausschließliches Recht, „das Einverständnis des Staatsministeriums mit den von den einzelnen Fachressorts ausgehenden Gesetzentwürfen h e r b e i z u f ü h r e n " und sie zuvor zu p r ü f e n . Abdruck H A B , R e p . 90/396. 10
Im September 1923 stimmte das Staatsministerium dem Ministerpräsidenten nach einer Kontroverse zwischen ihm und dem Landwirtschaftsminister Wendorff zu, „ d a ß in Gemäßheit des Artikels 46 der Verfassung bei allen Fragen von grundsätzlicher oder allgemeiner politischer Bedeutung die zuständigen Fachminister, bevor sie unmittelbar mit der Reichsregierung in Verbindung treten, sich der Zustimmung des Ministerpräsidenten zu versichern haben". P r P S t M 1 8 . 9 . 1 9 2 3 , Auszug H A B , Rep. 90/396; auch Abschrift eines Rundschreibens an alle Staatsminister vom 5. 8. 1931, a. a. O . 11 Auf G r u n d eines Einzelfalles richtete der Ministerpräsident am 10. 12. 1930 an alle Staatsminister ein Rundschreiben mit dem Verlangen, „bei sämtlichen v o m H e r r n Reichspräsidenten ausgehenden Ersuchen, die irgendwelche behördlichen M a ß n a h m e n erforderlich machen, die Behörden u n d Beamten . . . , mit Nachdruck zu veranlassen, die erforderlichen Amtshandlungen mit aller Beschleunigung vorzunehmen und in jedem Falle mir, nötigenfalls auch durch Zwischenbescheid, Bericht über das Veranlaßte zu erstatten. Zwecks einheitlicher Behandlung derartiger Angelegenheiten halte ich es f ü r angebracht, d a ß alle Ersuchen des H e r r n Reichspräsidenten einheitlich b e a n t w o r t e t w e r d e n " . Abschrift a . a . O .
494
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
kordon des Staatsministeriums zu sein. All dies zusammengenommen schuf die Grundlage für die überragende politische Stellung des preußischen Ministerpräsidenten, die innerhalb des zivilen Sektors der Republik nirgends ein Gegenstück fand. Preußische
Politik zwischen Reichsregierung und Otto Braun als Ministerpräsident
Ländern.
Die im Laufe der Jahre immer stärker vom Geschick und von den Zielen der Persönlichkeit seines Ministerpräsidenten geprägte Politik des Staatsministeriums gegenüber Reich und Ländern ist unter all diesen Umständen trotz einer allgemeinen Stetigkeit nicht ohne Widersprüche und auch Winkelzüge geblieben. Starke Schwankungen gab es allerdings nur in den Jahren vor dem Einschnitt von 1924/25. Im August 1922 war auch die Haltung Preußens im Konflikt zwischen der Reichsregierung und Bayern für das Staatsministerium keineswegs problemlos. Die Reise der bayerischen Unterhändler unter Graf Lerchenfelds Führung nach Berlin gab Anlaß, diese Haltung zu erörtern, was zu einer Ubereinstimmung darin führte, daß man sich entschloß abzuwarten, jede exponierte Stellungnahme zu vermeiden und „von einem Eingreifen in den gegenwärtigen K o n f l i k t . . . absehen" zu wollen, „zumal eine baldige Beilegung des Konflikts erwartet" wurde.12 Die Minister waren sich aber auch darin einig, daß nicht die Auffassung des Reichskabinetts Wirth, sondern die Bayerns zu teilen sei, „daß eine weitere Einschränkung der Hoheitsrechte der Länder für absehbare Zeit nicht mehr eintreten dürfe". 13 Die Koalitionsverhältnisse der Regierungen bewirkten nur wenig,14 allenfalls die Zurückhaltung, die sich das Staatsministerium in diesem Falle und nicht ohne Geschick auferlegte. Die preußische Regierung hat aber auch wiederholt und mit keineswegs geringem Geschick „die Kehrseite der föderalistischen Frage" zum Vorschein gebracht und an jenes Prinzip anzuknüpfen versucht, das dieAufsehen erregendeErklärung der preußischen Landes Versammlung vom 17. Dezember 1919 ausgesprochen hatte: Preußen würde 12
Nach
Voten
der
Staatsminister
am
Zehnhoff
(Zentrum),
Severing
(SPD),
v. Riditer ( D V P ) und Wendorff (DDP). Pr PStM 8. 8. 1922, Auszug a. a. O. 13
Ebda.
14
Beide Parteien, die das Reichskabinett stützten, SPD und Zentrum, gehörten
auch zur preußischen Regierungskoalition, zu der außerdem noch die D D P und die D V P zählten.
Das preußische
Problem
bis
495
1927
für den deutschen Einheitsstaat eintreten, ihn anstreben und in ihm aufgehen, „wenn dieselbe Bereitschaft auch bei den anderen Ländern" bestünde. Die Reichsregierung hat es auch später nicht unterlassen, sich zu gegebener Zeit auf diese Erklärung zu berufen und „das verstärkte Streben nach dem Aufgehen im Reich" als ein Gegengewicht gegen bayerische Ansprüche zu kennzeichnen, auf das sie Rücksicht nehmen müsse: „Es liegt nicht fern, daß die Diskussion auf dieses Gebiet hinübergleitet und auf eine Änderung der Reichsverfassung in dem Sinne hingeleitet wird, daß Länder auf ihren Wunsch im Reiche aufgehen können." 15 Zu dieser Zeit kam indessen wieder der föderalistische Zug in der preußischen Politik stärker zum Zuge, das Bestreben, die Stellung Preußens der Reichsregierung gegenüber unangreifbar zu machen. Nadi einer Sitzung des Staatsministeriums am 24. September 1924 mußte der Staatssekretär der Reichskanzlei den Reichsministern berichten, daß sich die preußischen Regierungsparteien, vor allem die Deutsche Volkspartei, die zu gleicher Zeit an der Reichsregierung beteiligt war, nicht mehr länger mit der bisherigen Rolle Preußens innerhalb des Reiches abzufinden gedächten, die sie eine „Aschenbrödelrolle" nannten.1® Das „Vorbild" Bayerns, das „seine Selbständigkeit energisch und stets mit Erfolg zu wahren" schien, tat auf längere Sicht auch hier seine Wirkung. Die Besorgnis, mit der man in der Reichsregierung ein Jahr zuvor die bayerische Entwicklung verfolgt hatte, übertrug Staatssekretär Bracht jetzt auf die „Verstimmung Preußens". Sie war in der Tat „nicht spontan und nur vorübergehender A r t " . Bracht fürchtete sogar, sie werde „gelegentlich einmal recht unangenehm in die Erscheinung treten, wenn es nicht gelingt, mit allen Kräften auf eine Besserung der Beziehungen hinzuarbeiten und die preußische Staatsregierung von dem Gedanken abzubringen, daß ihre oft bewiesene Reichstreue sich so 15
Zur Revision der Weimarer Reichsverfassung. Memorandum zur Denkschrift der
bayerisdien
Staatsregierung
[1924],
Beratungsunterlagen
der
Länderkonferenz
(Januar 1928), S. 22. Die Reichsregierung konnte darauf hinweisen, daß Preußen die Frage des besonderen Stimmrechts der preußischen Provinzen im Reichsrat nach Artikel 63 Absatz 1 Satz 2 R V zum Gegenstand der Erörterung zu machen gedachte und eine Änderung „wenn
die
dieser
Reichs Verfassung
Verfassungsbestimmung wesentlich
„mindestens
föderalistischer
gestaltet"
dann"
forderte,
würde,
da
es
sonst sein Schwergewicht nicht zur Geltung bringen könnte. "
Vertrauliche Mitteilung des Staatssekretärs Bracht an die Reichsminister der
Finanzen und des Innern (Entwurf mit Abgangsverm. vom 25. 9. 1924, BA, R 43 1/2327. Ähnlich in einer Ministerbesprechung des gleichen Tages. Ausz. a. d. Pr a. a. O.).
496
UI. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
schlecht lohne". Die preußische Regierung hat indessen zu keiner Zeit Wege beschritten, die auch nur einen Vergleich mit der bayerischen Konfliktspolitik erlauben. Der von ihr eingeschlagene Weg hieß weder Reaktion noch Reform, sondern war peinlich zweckbewußte Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung. D a ß Preußen seine Stellung gelegentlich auch mit Hilfe der Länder diplomatisch zu nutzen gedachte und den Süddeutschen hofierte, zeigte es überaus deutlich, als es daran ging, die preußische Vertretung in München zu erweitern und das alte Gesandtschaftsgebäude in großzügiger Weise auszubauen. Eigens zu diesem Anlaß entsandte die Staatsregierung den Finanzminister v. Richter in die bayerische H a u p t stadt, der während seines Aufenthalts gehörig in das Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte." 1925 erhielt der Vertreter Preußens in München, Geheimrat Denk, den Rang eines Gesandten. Den Höhepunkt dieser Bestrebungen bildete am 24. November 1927 die feierliche Einweihung des jahrelang umgebauten Gesandtschaftsgebäudes mit vielbeachteten Reden der Ministerpräsidenten Braun und Held. 19 Große Bedeutung gewann die Gesandtschaft freilich nie. Zum 1. April 1931 wurde sie aufgelöst. In Verfolgung dieser Politik machte Preußen sich 1926 schließlich, unbeschadet seiner eigenen günstigen Beziehungen zu den wichtigsten Reichsministerien, zum Führer und Sprecher eines Vorstoßes sämtlicher Länder, der den Reichsinnenminister zu der Praxis zwang, regelmäßig Informationssitzungen mit dem Reichsrat abzuhalten und ihn grundsätzlich vor allen wichtigen Maßnahmen zu unterrichten und anzuhören, 19 was ihm bald eine unvergleichlich größere Bedeutung gab als den seltener werdenden, vom Reichskanzler ohnehin nur von Fall zu Fall einberufenen Ministerpräsidentenkonferenzen. Der hessische Gesandte Freiherr v. Biegeleben ging sogar so weit, eine „stärkere 17 Vertraulicher Bericht Haniels an die Reichskanzlei vom 30. 9. 1924, BA, R 43 1/2327; Bericht der BStZ vom gleichen Tage. 18 Laufende Berichterstattung hierzu von der Vertretung des Reiches in München, BA, R 43 1/2304. 19 Rundschreiben des Reichsinnenministers Külz an die Reichsminister und den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 8 . 7 . 1926 und „Aufzeichnung über die Besprechung in den Ausschüssen des Reichsrats für Verfassung und Geschäftsordnung am 1. Juli 1926", BA, R 43 1/2327. Külz veranlaßte die Reichsminister, „den Wünschen des Reichsrats. . . Rechnung zu tragen" und ihn „vor wichtigen Entscheidungen in der äußeren und inneren Politik nach Möglichkeit vor der Entscheidung zu beteiligen ohne Rücksicht darauf, ob der Reichsrat im Einzelfalle einen formellen verfassungsmäßigen Anspruch hierauf hat". (Gesperrt v. mir. G. S.)
Das preußische
Problem
bis 1927
497
Einwirkung" gegen Initiativgesetze des Reichstags zu verlangen, die immer in dem starken, manches Mal wohl auch nicht unberechtigten Verdacht 20 standen, über heimliche Drähte der zuständigen Ministerien ausgelöst worden zu sein, die auf diesem Wege die Einschaltung des Reichsrates möglichst lange hintanzusetzen suchten. Dieses Liebäugeln mit den süddeutschen Ländern gehört ebenso zum Bild des in gemäßigten Formen wiederauflebenden Staatenföderalismus wie die fortgesetzten Erörterungen von Reformen und Verfassungsrevisionen, wobei die Frontlinie sich immer mehr zwischen die Verteidiger des historischen Staatenföderalismus und die Idee des mehr oder minder dezentralisierten, jedoch von den Charakterzügen des rücksichtslosen Unitarismus befreiten Einheitsstaates verlegte. Der erste blieb vorerst freilich Tatsache, der zweite lediglich Programm, wenn auch ein weit verbreitetes und namentlich von den Verteidigern einer bayerischen Staatsräson hartnäckig bekämpftes. Sie nannten Zentralisation und Dezentralisation „viel zu allgemeine Schemata", die nicht gegen den festgefügten, im Bewußtsein und Gefühlsleben tief verankerten Begriff „Staat" aufkommen könnten, 21 übersahen freilich, daß die in der Konfliktsperiode durchaus fragwürdig gewordene Berufung auf das „Gefühlsleben" allein den „Weiterbestand lebenskräftiger Gliedstaaten" noch keineswegs hinreichend rechtfertigte. In der Phase der relativen Stabilisierung, die nicht zuletzt dem schweren Gewicht der preußischen Regierung und ihrer Verwaltungen zu danken war, 20 Bei der Einbringung der Novelle zum Einkommensteuergesetz vom 20. D e zember 1921 war ruchbar geworden, daß das Reichsfinanzministerium unter Hermes, um Reichsrat und Länder von der Beratung auszuschließen, für das Zustandekommen eines Initiativantrags der Zentrumspartei gesorgt hatte. Der 11. Ausschuß des Reichstages unterbrach dann sogar seine Beratungen, um die Vorlage in kürzester Frist durchzupauken. Dank des engen Zusammenspiels zwischen Ministerialreferenten, Fraktionsvorstand und Ausschußmitgliedern kam die Novelle innerhalb von drei Tagen nadi der Antragstellung im Reichstag zur Verkündung. Gegen dieses Verfahren erhob das Badische Staatsministerium Einspruch, da es dem Geist der Verfassung widerspreche „und geeignet ist, den tatsächlichen Einfluß, letzten Endes aber auch die rechtliche Stellung der Länder ernstlich zu schädigen". Diesem Einspruch schlössen sich Bayern und etwas später Württemberg an. Die Angelegenheit endete damit, daß der Reichskanzler auf dem Höhepunkt des zweiten Konflikts der Reichsregierung mit Bayern eine Erklärung abgab, er habe Vorsorge getroffen, „daß eine Beteiligung der Reichsratsausschüsse überall da sichergestellt ist, w o sie nicht nach Lage des Einzelfalles unmöglich ist". So in einem Schreiben Wirths an das Württembergische Staatsministerium. Entwurf mit Abgangsverm. vom 18. 8. 1922, BA, R 43 1/2327, 21
Konrad Beyerle, Föderalistische Reidispolitik, München 1924, S. 19.
32 Sdiulz I
498
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
konnte trotz allem aber wohl ein sinnvolles, auf Selbstbeschränkung aller Beteiligten gegründetes System des Ausgleichs gefunden und die Hoffnung auf eine disziplinierte Tätigkeit der nun einmal bestehenden Institutionen berechtigt scheinen. Doch gerade in dieser Zeit eilten die Diskussionen über eine Reichsreform ihrem Höhepunkt zu, auf dem sie jene, die glaubten, daß in der historischen Möglichkeit des Jahres 1918 nur etwas Stationäres auf dem Wege zu einer von Grund auf konsequenten neuen staatlichen Ordnung geschaffen worden war, an die Seite der Gruppen führten, die die Rückkehr zu dem föderativen System der vergangenen Periode anstrebten. Es erwies sich indessen als ein schier unlösbares Problem, zu einem Übereinkommen darüber zu gelangen, welche Teile des Kompromisses, den die Reichsverfassung darstellte, fortgebildet oder umgewandelt werden sollten. Es gab viele Richtungen; doch die Überzeugung von der Notwendigkeit von Reformen war weit verbreitet. Preußen, das sich in den ersten Jahren der Republik jeder inneren Veränderung abweisend entgegenstellte, bildete im Grunde das Kernproblem des Verfassungssystems der Republik. Das preußisch-deutsche Verhältnis, der Dualismus, der in der Weimarer Reichsverfassung wiedererstanden war, ist zu keinem Zeitpunkt der Weimarer Republik vom Preußischen Staatsministerium und nur zeitweilig von den Reichskabinetten als ein Verhältnis auf Dauer betrachtet worden. Die heimlichen oder auch offenkundigen Bestrebungen von preußischer Seite einerseits, die Hegemonie wiederzuerlangen und das Reich zu beherrschen, von Seiten verschiedener oberster Reichsbehörden anderseits, den preußischen Staat an die Kette des Reiches zu legen, sind nie für längere Zeit unterbrochen worden oder gar abgerissen. Die Bestimmungen der Reichsverfassung hatten die Existenz der Länder zwar gesichert und damit den historischen Föderalismus anerkannt, aber auch eine vielgestaltige Zentralisation ermöglicht, so daß sich das Reich, wenn auch nicht unbestritten, erfolgreich um einen Ausbau seiner Zuständigkeiten und sogar um die zentrale Organisation neuer Verwaltungen bemühen durfte, während die Länder für eine Dezentralisation, die sich zugunsten der Selbstverwaltung" ausgewirkt hätte, innerhalb ihrer eigenen Grenzen nichts unternehmen wollten. Von einer Dezentralisation zwischen Reich und Ländern indessen — so lag das Problem des Föderalismus schließlich — 22 Die Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung in der Weimarer Republik hat der Verf. an anderer Stelle erörtert: Gerhard Schulz, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland vor 1933. Ideen, Institutionen und Interessen: FranzLieber-Hefte, Heft 3 (1959), bes. S. 21 ff.
Das preußische
Problem
bis 1927
499
war für eine föderative Ausgestaltung des Reiches nichts zu erwarten, solange Preußen drei Fünftel der Landmasse Deutschlands beherrschte, eine solche „Dezentralisation" doch nur eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Berliner Zentralbehörden von der rechten auf die linke Seite der Wilhelmstraße bedeutet hätte. Dem „zentralen Dualismus" 23 der Berliner Behörden entsprach also auch ein dualistisdier Zentralismus, der durch Übereinkünfte zwischen den Berliner Zentralen Preußens und Deutschlands ausgeglichen, aber auch intakt gehalten werden mußte. Der preußischen Regierung war es stets darum zu tun, ihren politischen Besitzstand in dieser Form zu verteidigen und eine Verbesserung, eine Reform des Reiches zu ihren Gunsten anzubahnen, während sich die Reichsregierungen aller Phasen der Republik bestrebt zeigten, verfassungsrechtliche Stellung und politische Macht Preußens einzugrenzen und einzudämmen und es womöglich unter ihre Kontrolle zu bringen. So erfolgreich die Politik, den Besitzstand Preußens nach Ausführung des Versailler Vertrages zu behaupten, nun aber auch war; zu einer Erweiterung seines Territoriums ist es, von Pyrmont abgesehen, nicht gekommen, obgleich auch dies im Sinne der preußischen Politik gelegen hätte. Ministerpräsident Braun zeigte sich fest davon überzeugt, daß sich die kleineren Länder über kurz oder lang als lebensunfähig erweisen müßten und ihr Anschluß an Preußen unausbleiblich sei, daß Preußen „den Kern f ü r einen deutschen Einheitsstaat" bilden würde, an den sich — wie in der Ära Bismarck vor Entstehung des Deutschen Reiches — Land um Land ankristallisieren sollte.24 Braun bezeichnete es einmal vor dem preußischen Landtag als Grundsatz seiner Regierung, keinen Druck „auf irgendwelche Kleinstaaten" auszuüben, „um sie zur Aufgabe ihrer Selbständigkeit zu veranlassen und ihren Anschluß an Preußen zu erzwingen", 25 wozu es ihm sowohl an einer Rechtsgrundlage wie an Machtmitteln gebrach. Seine Regierung verhielt sich abwartend, an der Existenz anderer Länder sichtlich uninteressiert, jedoch in dem Bewußtsein, das größte Potential innerhalb Deutschlands zu besitzen. Das zeigte sich am deutlichsten in der GroßHamburg-Frage, die bis 1937 ungelöst blieb, obgleich die Pläne und Programme, die später verwirklicht wurden, in die Jahre des ersten Weltkriegs zurückreichten. Die über Jahre geführten Verhandlungen 23
Dieser Ausdruck von Poetzsch-Heffter, Die Reidisreform seit Abschluß der Länderkonferenz: D J Z 1933, Sp. 10. 21 25
32»
PLT SBer 2. WPer, 12. Bd., Sp. 17467 (23. 2.1927). a. a. O., Sp. 17 466.
500
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
blieben bis zu ihrem Abbruch im Sommer 1926 vollkommen ergebnislos. Die anfänglichen Wünsche Hamburgs, die nach einer Denkschrift des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates vom 8. Januar 1919 die Einverleibung des gesamten Randbezirks der Hansestadt mit den Städten Altona, Harburg, Wilhelmsburg und Wandsbek umfaßten, der dann die Lösung von 1937 sehr nahe kam, hatte der Senat der Hansestadt selbst reduziert. Ein Gutachten der Zentralstelle, das Drews und Graf Roedern 1926 erstatteten, hatte sie auf einen recht bescheidenen Rest zusammengestrichen: Preußen sollte Wilhelmsburg, die Kleinstädte Finkenwärder und Altenwerder und sechs kleinere Gemeinden mit wenig mehr als insgesamt 50 000 Einwohnern abgeben und von Hamburg als „Entschädigung" zwei Landgemeinden und einige finanzielle Leistungen erhalten. In der kühlen diplomatischen Verhandlungsatmosphäre begegneten sich Preußen und Hamburg wie völkerrechtliche Kontrahenten, sprachen über „Abtretungen" und „Gegenleistungen", die Preußen recht einseitig festsetzte, niemals von gesamtdeutschen Interessen, die eine Erweiterung des Hamburger Hafenund Wirtschaftsgebietes unter einheitlicher Verwaltung dringend geboten hätten. Brauns Äußerungen in der Öffentlichkeit konzentrierten sich darauf, „hamburgische Expansionsbestrebungen gegen Preußen zurückzuweisen". Ebenso arg überspitzt wie dieses Wort nahmen sich auch die Forderungen des preußischen Ministerpräsidenten an Hamburg aus, als „Gegenleistung" sämtliche Enklaven im preußischen Gebiet unter Einschluß Cuxhavens an Preußen abzutreten. Gewiß war das eine Forderung, die geeignet gewesen wäre, die politische Landkarte an der Unterelbe zu vereinfachen; aber es handelte sich hierbei um Gebiete, die ihrem Areal nach ein Mehrfaches der Orte ausmachten, die das unter Raumnot leidende Hamburg von Preußen erhalten sollte und die überdies bei weitem noch nicht ausreichten, die von Hamburg gewünschte Einheit seines Hafengebietes zu gewinnen.2" Ein solches Verlangen war wohl kaum als «ine Basis für fruchtbare Vereinbarungen geeignet und vielleicht auch gar nicht gedacht. Nachdem der preu26 Darüber hinaus verlangte Braun einen „vollen finanziellen Lastenausgleich zugunsten der preußischen Außengemeinden auf Kosten Hamburgs" mit dem Ziel, diese Gemeinden, die mit Hamburg ein einheitliches Wirtschaftsgebiet bildeten, „auch in kommunalwirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht mit Hamburg auf die Dauer gleichzustellen". Von Hamburg wurde erwartet, daß es den in vielen Hinsichten mit der Hansestadt verflochtenen preußischen Randgemeinden, die ohnehin als Empfänger der von Hamburg einbehaltenen Lohnsteueranteile für die in Hamburg verdienten Löhne ihrer Einwohner Kostgänger der hanseatisdien Wirtschaft waren, dauernd einen gehobenen kommunalen Wohlstand gewährte. ( a . a . O . , Sp. 17 470).
Das preußische
Problem
bis 1927
501
ßische Ministerpräsident einen Vermittlungsversuch des deutschnationalen Reichsinnenministers von Keudell brüsk zurückgewiesen hatte," konnte der Abbruch der Verhandlungen nicht mehr ausbleiben. Bald danach brachte die preußische Regierung im Landtag zwei Gesetze über die Neuregelung der kommunalen Grenzen im preußischen Unterelbegebiet und über einen „Sonderfinanzausgleich zugunsten preußischer Randgemeinden in der Nachbarschaft von Stadtstaaten" ein, die die Tür zu zweigleisigen Verhandlungen zwischen Preußen und Hamburg endgültig zuschlugen. D i e neue Grenzziehung im Unterelbegebiet, die Altona eine bevorzugte Stellung einräumte, Harburg und Wilhelmsburg vereinigte und Wandsbek ausdehnte, baute eine lückenlose Großstadtbarriere auf, die auf längere Sicht Hamburgs Entwicklung blockierte. 27
Die A n t w o r t , die Braun am 13. O k t o b e r 1926 den Vorstellungen des Reichsinnenministers vom August zuteil werden ließ u n d die er im vollen W o r t l a u t im preußischen L a n d t a g verlas ( a . a . O . , Sp. 17 471 ff.), verdient Interesse wegen ihres gesteigerten vitalen diplomatischen Umgangstones der Reichsregierung gegenüber: „Von einer Spannung zwischen H a m b u r g und P r e u ß e n , die f ü r etwaige weitere Verhandlungen die Vermittlung eines D r i t t e n erwünscht erscheinen ließe, ist der preußischen Regierung nichts bekannt. Ebensowenig erscheint eine Vermittlung erforderlich, weil etwa wirtschaftliche Belange des Reiches gefährdet erscheinen. D a ß die preußische Regierung, wie bisher, bei allen ihren M a ß n a h m e n auch in Z u k u n f t die große Bedeutung H a m b u r g s und des gesamten Unterelbegebietes f ü r die deutsche Volkswirtschaft nicht außer Acht lassen und vor Schädigungen b e w a h r e n wird, ist schon deshalb eine Selbstverständlichkeit, weil die wirtschaftlichen Belange des Reiches in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit sich mit denen Preußens decken, so d a ß es schon logisch abwegig erscheinen dürfte, zwischen den wirtschaftlichen Belangen des Reiches u n d denen Preußens einen Gegensatz konstruieren zu wollen . . . Die preußische Regierung glaubt aber weiter hervorheben zu sollen, d a ß ihr eine baldige W i e d e r a u f n a h m e etwaiger Verhandlungen zwischen beiden L ä n d e r n nicht dringlich erscheint. Die jahrelangen Verhandlungen haben in die beteiligten p r e u ß i schen Gebietsteile nicht n u r eine sehr erhebliche Beunruhigung hineingetragen, sondern sie haben es auch mit sich gebracht, d a ß wichtige Belange der verschiedensten A r t in diesen Gebieten nicht die Förderung e r f a h r e n konnten, die notwendig gewesen wäre. Seit der Beendigung der Verhandlungen im laufenden Sommer ist nun eine gewisse Beruhigung in diesen Gebieten eingetreten, u n d es ist damit der Zustand geschaffen, der die Nachholung des Versäumten ermöglicht. Die beteiligten preußischen Gemeinden und P r o v i n z e n haben einen berechtigten Anspruch d a r a u f , d a ß diese Ruhezeit, deren sie zur Förderung ihrer Weiterentwicklung dringend bedürfen, nicht sofort wieder durch Dazwischentreten hamburgischer Wünsche gestört wird. Ich möchte auch annehmen, d a ß das Reich an der Entwicklung der um H a m b u r g liegenden preußischen Gemeinden und Provinzen das gleiche Interesse n i m m t wie an der H a m b u r g s und deshalb auch seinerseits geneigt sein wird, die ruhige E n t wicklungszeit dieser Gebiete v o r Störungen zu bewahren."
III.
502
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Mit seiner Entscheidung gegen die Groß-Hamburg-Lösung verknüpfte das Staatsministerium den Entschluß, die Rivalität Altonas zu fördern und wirksam zu unterstützen. 28 Die von der großstädtischen Eingemeindung betroffenen preußischen Gemeinden setzten sich nachdrücklich zur Wehr; doch die Regierung konnte sie durch Gesetz herbeiführen, während ein Anschluß an Hamburg einer Abstimmung bedurft hätte. Auch der Provinziallandtag von Schleswig-Holstein wandte sich gegen das Ausmaß der Altonaer Eingemeindungen, ohne jedoch die Entschlüsse des Staatsministeriums beeinflussen zu können, die im Landtag die volle Unterstützung der Deutschen Volkspartei und auch der Deutschnationalen fanden, die durch ihren Sprecher versichern ließen, daß „diese Frage in keiner Weise irgendeine Parteifrage, sondern eine Frage" sei, „die nur daraufhin zu prüfen ist, ob es im Interesse Preußens notwendig ist". 2 ' Erst der mit dem Wachstum Altonas und seines Hafengebietes unumgänglich gewordene Hafengemeinschaftsvertrag vom 9. bzw. 13. März 1929 leitete zu neuen Verhandlungen über, die zu einer gemeinsamen Hafenordnung der vier Häfen vom 14. März 1930 führten, 30 weiter reichende Ziele jedoch nicht erreichten. Das Leitbild des Bismarckschen Reichsbaus scheint, obgleich nur selten zitiert, ständig gegenwärtig. Brauns persönlichen Auffassungen vom Aufbau einer künftigen deutschen Staatsorganisation sind die 28
Der Zusammenschluß von Harburg und Wilhelmsburg ergänzte die preußische
Handels- und Hafenstadt Altona durch ein industrielles Zentrum am Südufer der Elbe. Dieser wirtschaftlichen Einkreisung Hamburgs entsprach eine territoriale, die mit
der
Erweiterung
Wandsbeks
eine
aufstrebende
industrielle
Mittelstadt
am
Rande der Hansestadt in die verbleibende ländliche Lücke einfügte. Diese Schaffung neuer großstädtischer Zentren bei gleichzeitiger Abtrennung Hamburgs von jeder verkehrsmäßig günstig gelegenen Landreserve, auf die jede Industrie- und Hafenstadt angewiesen ist, nährte eine Rivalität zwischen zwei Seestädten innerhalb deutscher Landesgrenzen, die an das Beispiel Danzigs und Gdingens jenseits der deutschen Ostgrenzen erinnert. In bezug auf die Stadt Altona begründete Innenminister Grzesinski den Gesetzentwurf: „Was sie braucht, ist Platz, Luft, Gleichgewicht in der sozialen Struktur". ( a . a . O . , S. 17 477.) Diese Begründung galt indessen nur innerhalb der preußischen Belange. 29
a. a. O., Sp. 17 487. Widerstand gegen diese „Belagerungspolitik der preußi-
schen Regierung gegen alle Bestrebungen, die an der Elbe ein einheitliches Wirtschaftsgebiet Wasserkante schaffen wollen", leistete außer der K P D nur die Wirtschaftliche Vereinigung. 30
S. Hans Peter Ipsen, Hamburgs Verfassung und Verwaltung von Weimar bis
Bonn, Hamburg 1956, S. 14 f.
Das preußische
Problem
bis 1927
503
historischen Erfahrungen des zentralisierten preußischen Machtstaates aufgeprägt. Er ließ keine innere Auflockerung, keine äußere Schwächung Preußens und keine Minderung seines Besitzstandes zu, weil er mit ihm und von ihm aus einen deutschen Einheitsstaat aufbauen wollte. Der Weg zum Einheitsstaat, „der in Weimar eingeschlagen worden ist", sollte mit den Mitteln des preußischen Staates „konsequent fortgesetzt werden . . . Ich . . . knüpfe an das historisch Gewordene an, denn was in Weimar geschaffen worden ist, ist auch historisch geworden, und setze das konsequent fort", lautet eine bekenntnishaft klingende Wendung.31 Solche Worte lassen die zielbewußte Unbeirrbarkeit dieses Mannes aus dem Osten ahnen. Braun, schon vor dem Kriege einer der führenden Funktionäre der deutschen Sozialdemokratie, war immer ein Mann des „Apparates". Ohne hervorragende Kenntnisse und Einsichten, jedoch von zähem Arbeitseifer, gewiß nicht frei von Vorurteilen, jedoch ebenso klar wie einfach in seinen Ansichten und Zielen, vital in seiner politischen Taktik und mit sicherem Gefühl für Machtverhältnisse und Machtpolitik begabt, war er zäh, stark und widerstandsfähig genug, um in den Jahren labiler Verhältnisse und politischer Wechselfälle zum ruhigsten Charakter in vieler Erscheinungen Flucht und damit zwangsläufig zu einem Orientierungszentrum seiner Partei zu werden, ganz der Mann für den Versuch, sie mit Hilfe der preußischen Landtagsfraktion zu einem preußischen Staatsbewußtsein zu erziehen. Dem entsprach dann auch die Gloriole, mit der ihn viele seiner Anhänger umgaben. Zu seinen hervorstechenden Eigenschaften aber zählte die Fähigkeit, sich mit geschulten und politisch befähigten Beamten zu umgeben, die er geschickt einzusetzen, deren Rat er aber auch anzunehmen wußte. Bis 1932 war dieser Mann ein überlegener, selbstbewußter und erfolgreicher Volkstribun der Weimarer Republik im preußischen Machtbereich, der mehr den Gesetzen seiner persönlichen Vitalität als einem humanen Ehrgeiz folgte, so daß ihn seine Gegner in wunderlicher Mischung aus Respekt und Haß, wenn auch ebensowenig originell wie treffend, einen „roten Zaren" nannten oder auch, etwas wohlwollender, einen „Autokraten mit Qualitäten" 32 . Das Jahr 1927 ließ den Dualismus während der Debatten um Reichshaushalt und Finanzausgleich mehrmals fühlbar werden. Die Span31 32
Die Länderkonferenz (Januar 1928), Berlin 1928, S. 47. Deutsche Allg. Ztg., N r . 560 vom 30. 11. 1927.
504
111. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
nungen zwischen der preußischen Regierung und dem deutschnationalen Reichsinnenminister v. Keudell, der lieber bei Bayern als bei Preußen Unterstützung suchte, waren Anzeichen eines sich verschärfenden politischen Gegensatzes, der mit einer offenen Drohung des preußischen Ministerpräsidenten, die Beziehungen zum Reichsinnenminister abzubrechen, bis an den Rand eines Konfliktes geriet. 33 Der Reichsinnenminister benutzte die Gelegenheit mehrerer Reden, die er im Reichstag, in München und in Stuttgart hielt, der preußischen Politik offen entgegenzutreten und einen „vernünftigen Föderalismus" zu verkünden, der die „Souveränität der Länder" in vollem U m f a n g wahre. Im Juli kam es aus einem unbedeutenden Anlaß zu einem schweren persönlichen Konflikt zwischen Keudell und Braun, 34 den beide Seiten ebenso spitzfindig wie heftig gegeneinander führten und in einer Weise aufbauschten, daß man in der Presse beider politischen Richtungen bald von einem Konflikt zwischen Preußen und dem Reich sprach. Der Reichsrat suchte zu vermitteln. Obgleich sich der bayerische Gesandte Ritter v. Preger und noch deutlicher der sozialdemokratische sächsische Gesandte Gradnauer auf die Seite des deutschnationalen Reichsinnenministers stellten, gab schließlich der Gesandte Boden als Berichterstatter des Ausschusses f ü r Geschäftsordnung und Verfassung ein sorgfältig abgewogenes Urteil des Reichsrates ab, das den umstrittenen preußischen Ministerialdirektor Badt und Keudell gleichermaßen als mit der Tätigkeit des Reichsrates nicht genügend vertraute Persönlichkeiten rügte, so daß der Reichsinnenminister recht blamiert erschien. Die hierüber geführten Verhandlungen im Reichsrat wie im Reichskabinett überdauerten die Amtszeit Keudells und endeten fast eineinhalb Jahre nach Beginn des Streites ohne Einigung, ein deutliches Zeichen f ü r den Umstand, daß solche Entladungen sich weder aus persönlichen oder auch nur parteipolitischen Ursachen ergaben, sondern daß sie auf Spannungen in den Beziehungen des institutionellen Gefüges zurückgingen, das unter dem Druck auseinanderstrebender politischer Kurse stand. Mit den finanziellen Maßnahmen und Erörterungen der Jahre 1926 und 1927 begannen freilich die Verhältnisse sich grundlegend zu verändern, allen offenen Fragen der deutschen Verfassungsverhältnisse den Stempel besonderer Dringlichkeit aufzuprägen, aber auch die 3S Vgl. die Dokumentation bei Fritz Poetzsdi-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, II. Teil: JböR 17/1929, S. 56 ff. 34 Hierzu Beridite und Aufzeichnungen in der Reichskanzlei BA, R 43 1/1031.
Das preußische
Problem
bis 1927
505
Klüfte zu vertiefen. Die wachsende finanzielle Belastung der Leistungskraft der Länder, unter der vor allem die stets krisenanfälligen und vom allgemeinen Aufschwung der Gewerbe, der Industrien und des H a n dels in der Prosperitätsperiode nicht betroffenen, vorwiegend agrarwirtschaftlich basierten Staatshaushalte litten, brachte die Etats in Bedrängnis. Verhältnismäßig frühzeitig wurde von autoritativer Seite 35 die neue Erfahrung in die Einsicht gekleidet, daß Nachteil und Gefahren der bestehenden Verhältnisse weit weniger in der Existenz der Länder bestehe als vielmehr in ihrer Ungleichartigkeit und in ihrer ungleichmäßigen Leistungsfähigkeit. Gerade das stärkste Argument des historisch orientierten Staatenföderalismus erwies sich nun vor dieser neuartigen Kritik, nachdem die Erzbergersche Finanzreform die Anziehungskraft des Reichsetats unwiderruflich begründet hatte, als problematisch. Dieser korrekte Beobachter der Situation hätte daher wohl mehr Aufmerksamkeit verdient, als ihm zuteil wurde, und er hätte sie wohl auch erreicht, wenn seine Mahnung von einer Stelle mit größerem Einfluß, als sie ihm die sächsische Staatskanzlei bot, ausgegangen wäre. Seine Vorschläge zu einer allmählich fortschreitenden Besserung wären vor dem Eintritt der „großen K r i s e " wohl verständliche, vernünftige und auch angemessene Ratschläge gewesen. Sie wollten keineswegs den Einheitsstaat verwirklichen, aber doch darin einen Schritt vorangehen, die Länder besser lebensfähig zu machen, was zweifellos die historischen Gegebenheiten einer gewissen Vereinfachung oder Einebnung unterwarf. Die immer noch zahlreichen, wenn auch kaum politisch bedeutsamen Enklaven sollten beseitigt, zwischen kleineren und größeren Ländern auf einzelnen Gebieten Verwaltungsgemeinschaften begründet werden, um auch den kleineren Ländern den Vorzug rationeller und zweckmäßiger Verwaltungen zu verschaffen. Für später war an die Übernahme einzelner Verwaltungszweige auf das Reich gedacht; doch dies sollte allmählich und nach Maßgabe der Möglichkeiten geschehen, keineswegs alsbald verwirklicht werden. U m einen Ausgleich zwischen dem Norden und dem Süden, zwischen der Landmasse Preußens und den Ländern südlich der Mainlinie durch 3 5 Alfred Schulze, Das neue deutsche Reich, Dresden o. J . [1927]. Geheimrat Schulze war 1909—1919 Verfassungsreferent im Reidisamt des Innern und einer der engsten Mitarbeiter von Hugo Preuß in der Zeit der Ausarbeitung der Entwürfe für die neue Reichsverfassung, zur Zeit der Abfassung dieser Schrift Ministerialdirektor und Leiter der Sächsischen Staatskanzlei. Der ebenfalls an den Verfassungsvorbereitungen im Reichsamt des Innern beteiligte ehemalige Oberregierungsrat Apelt war zu dieser Zeit sächsischer Innenminister.
506
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reicksreform
ein großes, wirtschaftlich wie politisch ausgeglichenes Gebiet herbeizuführen, empfahlen diese Vorschläge die Bildung eines „mitteldeutschen Blocks" aus den Ländern Sachsen, Thüringen, Hessen, Braunschweig und Anhalt. Dieser Aspekt ist indessen in den Erörterungen einer verwaltungsorganisatorischen Reform wie der territorialen Neuordnung des Reiches gänzlich außer Acht geblieben. Es lag auf der Hand, daß die preußische Regierung unter Otto Brauns Führung solche Wege nie gutheißen würde. Eine Beseitigung von Enklaven und ein Zusammenschluß der kleineren und größeren Länder Mitteldeutschlands „bedrohte" mindestens zwei preußische Provinzen in ihrem derzeitigen Bestand. Es ist gewiß, daß das Preußische Staatsministerium dies von vornherein erkannt und erfolgreich durchkreuzt hätte. Zudem hätte ein dritter, den süddeutschen Ländern gleichwertiger Partner der Reichsregierung sicherlich keine Stärkung der Stellung Preußens bedeutet. O b die preußische Regierung selbst auf Eroberungen in diesem Gebiet ausging oder einzelne Stellen oder Persönlichkeiten in Preußen sich mit derartigen Gedanken befaßten, ist freilich noch ungeklärt. Das finanzpolitisch günstig situierte Sachsen und das noch keineswegs notleidende Hessen mögen in mancher Hinsicht zu Erwägungen eingeladen haben, die durch die politische Verwandtschaft der Regierungskoalitionen in diesen Ländern womöglich begünstigt wurden. Nichtsdestoweniger liegen die Natur und die Hintergründe der Unterhandlungen, die zwischen Preußen und diesen Ländern geführt wurden, falls sie überhaupt diese Bezeichnung verdienen, vollkommen im Dunklen. Es ist auch unbekannt, aus welchen Quellen die Reichskanzlei ihre Informationen bezog, die sie schließlich veranlaßten zu recherchieren und sie einzuschalten. Das Ergebnis wirkte jedenfalls beruhigend. Den auf „vertrauliche Weise" gewonnenen Feststellungen zufolge schwebten „offizielle Verhandlungen" zwischen Preußen und Hessen „in keiner Weise"; nur inoffizielle Fühlungnahmen hatten stattgefunden, „wobei die Frage der Aktivlegitimationen von beiden Vertretern nicht einwandfrei zu klären" gewesen sei.3® So wenig greifbar aber auch die Voraussetzungen und Umstände dieser Gespräche erscheinen; ihre Gegenstände nahmen sich doch recht deutlich aus. Von Seiten des „mehr oder minder offiziösen" Vertreters der preußischen Seite war, den gleichen Informationen zufolge, „tatsächlich die Übernahme Hessens 39
Aktenvermerk Staatssekretär Pünders vom 27. 11. 1927 BA, R 43 1/1873.
Das preußische
Problem
bis
507
1927
in den preußischen Staatsverband vorgeschlagen" worden. Und der verwaltungsorganisatorische Gedanke, die preußische Provinz HessenNassau aufzulösen und das Land Hessen mit dem Regierungsbezirk Wiesbaden zusammenzulegen, der offenbar eine Rolle gespielt hatte, läßt über den Erfahrungsbereich und die Gesichtspunkte des Unterhändlers kaum einen Zweifel. In ähnlicher Weise verlief die Fühlungnahme mit Sachsen. Der sozialdemokratische Gesandte Gradnauer konnte Staatssekretär Pünder überzeugen, daß es „ganz ausgeschlossen" sei, „daß Sachsen, solange der Großstaat Preußen als festgefügtes Land bestehen bleibe, geneigt sein würde, auf seine Eigenstaatlichkeit zu verzichten . . . Sachsen würde nur gleichzeitig mit Preußen vorgehen wollen und würde außerdem wohl auch das Verlangen stellen, daß innerhalb des etwaigen zukünftigen Einheitsstaates nicht nur die dezentralisierte Selbstverwaltung eingeführt würde, sondern auch, wie bisher, den Ländern in irgendeiner Weise nicht nur der Vollzug, sondern auch die Teilnahme an der Gesetzesschöpfung gewahrt bleibe..." 3 7 . Sachsen zeigte wohl starkes Interesse an ständigen Beziehungen zu Preußen und an der Beteiligung an seinen Plänen f ü r einen Einheitsstaat, nicht aber daran, in ihm aufzugehen und seine eigene staatliche Existenz zu verlieren. Dies wird man auch nach der Schrift des Leiters der Sächsischen Staatskanzlei kaum in Zweifel ziehen dürfen. Die herrschende Partei, die SPD, so definierte Gradnauer die Stellung seines Landes, sei „mehr unitarisch als föderalistisch eingestellt"; doch ebenso sei es Tatsache, daß jede Partei, „wenn sie einmal an der Verwaltung der Staatsgeschäfte maßgeblich beteiligt" sei, leicht dazu neige, die „Erledigung dieser Staatsgeschäfte als etwas sehr Bedeutsames und unbedingt Beizubehaltendes anzusehen". 38 Die nach vielen Seiten wirkende preußische Initiative blieb indessen unverkennbar. Die parlamentarischen Auseinandersetzungen um den Finanzausgleich führten eine wesentliche Verstärkung und Popularisierung der Bewegung f ü r den Einheitsstaat herbei. Sie gipfelte in den Debatten des preußischen Landtags Mitte Mai 1927, in deren Verlauf Ministerpräsident Braun wiederholt die „ungerechte Bevorzugung" kritisierte, die das Reich den süddeutschen Ländern angedeihen ließ. Er wartete schließlich mit einer Denkschrift auf, die den jahrelang ge37
Aktenvermerk
1/1861. 38
Ebda.
Pünders
f ü r den
Reichskanzler
vom
22. 11. 1927 BA, R
43
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III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
hegten Gedanken der preußischen Ministerialbürokratie verwertete und eine Zusammenstellung der hauptsächlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Preußen und dem Reich enthielt. 39 Offensichtlich bemühte sich die preußische Regierung mit Nachdruck, alle Schwierigkeiten, die aufgetreten waren, an die Öffentlichkeit zu bringen und hierbei den Anschein des prinzipiell Unvermeidbaren hervorzukehren. Die ausgebliebene „Demokratisierung" der Verwaltung, womit eine mangelhafte Durchsetzung der Reichsbehörden mit entschieden zur Republik stehenden Beamten gemeint war, nahm sie unter ebenso scharfen Beschuß, wie die preußische Regierung ihn wegen ihrer Personalpolitik bisher von Seiten der Deutschnationalen zu spüren bekommen hatte. Dieser Angriff mußte zweifellos den deutschnationalen Reichsinnenminister in erster Linie treffen. Aber das Ziel war weiter gesteckt. Da Braun immer wieder aufs neue die Redeschlacht f ü r den Einheitsstaat eröffnete, ist es sicherlich richtig, in seinen Äußerungen einen beabsichtigten „Kristallisationsansatz" f ü r die Diskussionen um die Reichsreform zu erblicken, die nunmehr stark unter den Einfluß preußischer Pläne gerieten. Von Ministerpräsident Braun rührte schließlich die Behauptung her, „die Uberzeugung von der Unhaltbarkeit der heutigen verfassungsrechtlichen Struktur des Reiches" sei „mit der Zeit Allgemeingut aller im öffentlichen Leben stehenden Deutschen geworden", 40 womit er zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht gar so weit über die Wirklichkeit hinausschoß, vor allem aber — was wichtiger war — das Einverständnis seiner Regierung mit dieser allgemeinen „Uberzeugung" ausdrückte. Zu Beginn der Amtszeit des vierten Kabinettes Marx, während der Osterferien des Reichtags, hatte sich Reichsinnenminister v. Keudell bereitgefunden, einige personelle Umbesetzungen in seinem Ministerium vorzunehmen und zwei bis dahin maßgebliche hohe Beamte zu entlassen. Der eine war der Leiter der Verfassungsabteilung, Ministerialdirektor Brecht, den die preußische Regierung sofort mit offenen Armen aufnahm. Brecht, der seit seiner Tätigkeit in der Reichskanzlei zu Beginn der Weimarer Republik als ein ausgezeichneter Sachkenner der Verfassungs- und Verwaltungspolitik galt, konnte nun vom preu39 10
PLT DrS 2. WPer, Nr. 6478 u. N r . 7795.
Rede Brauns auf einem Empfang anläßlich der feierlichen Einweihung der neuen Räume in der preußischen Gesandtschaft in München am 24. November 1927, vollständiger Text wiedergegeben in der Deutschen Allp Ztg., Nr. 551 vom 25. 11. 1927.
Das preußische
Problem
509
bis 1927
ßischen Finanzministerium aus als Bevollmächtigter zum Reichsrat eine folgenreiche Tätigkeit zugunsten einer Reichsreform entfalten und bald einen eigenen Vorschlag bekanntgeben, der erstmals eine vermittelnde, stufenweise Lösung des Reich-Länder-Problems unter Verzicht auf eine Beseitigung der kleinen Länder vorsah: als erstes die Schaffung von Personalunionen zwischen Reichs- und Länderministern, notfalls unter Anwendung von Druckmitteln bei Finanzzuweisungen, danach gemeinsame Verwaltungsreformen innerhalb der Reichs- und preußischen Ministerien, die Vereinigung der wirtschaftlichen Ministerien und später schließlich eine Restreform mit Hilfe von Verfassungsänderungen. 41 Dieser Plan war in erster Linie auf das Verhältnis Preußens zur Reichsregierung zugeschnitten und konnte an die älteren Vorschläge KochWesers zur Beseitigung des zentralen Dualismus in Berlin anknüpfen.
Zentrumspläne
für ein „Reichsland"
Preußen
Aber auch innerhalb der preußischen Regierungskoalition wurde der Druck spürbar, der in Richtung auf eine Revision der Beziehungen Preußens zur Reichsregierung drängte. Beherbergte die Demokratische Partei seit Beginn der Republik die Pogrammatiker des Einheitsstaates, so gelangte innerhalb des Zentrums das Ringen um verfassungspolitische Klärung während des Jahres 1927 in ein Stadium, in dem Diskrepanzen zu dem Kurs der preußischen Regierung möglich wurden und eine grundsätzliche Festigung der Verbindungen mit der Reichsregierung erforderlich schien, da sich der Fluß der Diskussion nicht mehr aufhalten, nur noch leiten ließ. Ministerpräsident Braun setzte auch auf die Reformbewegung, um die den preußischen status quo bedrohenden Tendenzen die Spitze zu nehmen und dorthin zu lenken, wo sie unschädlich wurden. Hierbei kam ihm der Umstand zugute, daß keine der innerhalb des Zentrums hervortretenden Richtungen jemals ganz und unbeeinträchtigt die Oberhand gewann und den Kurs der Partei zu bestimmen vermochte. Die anfänglich starken Neugliederungsbestrebungen in der Rheinprovinz, die sich 1919 zunächst um die Errichtung einer westdeutschen Republik bemühten und die Autonomie der Provinzen in Preußen durchzusetzen suchten, hatten unter der Führung des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer vorübergehend so ungleichartige Köpfe wie 41
V o r t r a g Brechts am 12. O k t o b e r 1927 in Stettin aus Anlaß der staatswissenschaftlichen Woche. Deutsche Allg. Ztg., N r . 479 vom 13. 10. 1927.
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Hl.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
den Prälaten Kaas, den späteren preußischen Fraktiansvorsitzenden Heß, den rheinischen Parteiführer Trimborn und den Kölner Professor Schmittmann zusammengeführt, die Zentrumsfraktion im preußischen Landtag jedodi in eine völlig isolierte Stellung hineinmanövriert. 42 Doch gleichzeitig entfaltete sich auch innerhalb der Zentrumspartei eine einheits- und gesamtstaatliche Richtung, die eine nachhaltige Stärkung der Reichsgewalt zu erreichen suchte, noch ehe Erzberger in seiner Stuttgarter Rede vom 4. Januar 1920 Zielpunkt und Programm bestimmte und hierfür den Bruch mit der Bayerischen Volkspartei in Kauf nahm. Audi diese Richtung, die gleich der anderen dem preußischen Staat keine Opfer brachte, sondern unbeirrt an ihm vorbei- und über ihn hinwegoperierte, bestimmte nie ganz und ausschließlich die Politik des Zentrums. Zu Beginn des zweiten Jahrfünfts hatte es endgültig in die Politik des aktiven wie des passiven Ausgleichs hineingefunden, was sich auch in seiner vermittelnden Haltung äußerte zwischen dem Ziel des Einheitsstaates, das es bejahte, und iden Prinzipien des Föderalismus, die es verstand und von Zeit zu Zeit auch verteidigte, so daß schließlich sogar eine Annäherung an die Bayerische Volkspartei wieder möglich wurde. 43 Die Erörterungen über mögliche Formen der Reich-Länder-Beziehungen sind nicht zum Schweigen gekommen und haben von Jahr zu Jahr neue Versuche der Vermittlung und des Ausgleichs zutage gefördert, die in ihrem publizierten Teil beinahe ausnahmslos das preußische Problem in einer Weise abhandelten, die sich um die historische Hegemonie des größten deutschen Staates wenig bekümmerte. Das Zentrum folgte offenkundig anderen Vorstellungen und Zielen als die sozialdemokratische Führung der preußischen Koalition und konnte nur jeweils für den Kompromiß gewonnen werden. Freilich gingen die langen Amtsjahre der Zentrumsminister in Preußen und ihrer Fraktionsführer nicht vorüber, ohne deutliche Merkmale eines Beharrungswillens zu hinterlassen, der sich zusehends zugunsten des status quo und damit auch für den preußischen Staatsverband auswirkte. Doch die Haltung des preußischen Zentrums war letztlich selbst hierin nicht einheitlich, wenn auch der Einfluß von Heß unbestritten blieb; und die preußische Zentrumsfraktion besaß innerhalb des Reichszentrums zwar beträchtliches Gewicht, jedoch bei weitem keine unbegrenzte Macht. Zu jeder Zeit gab es namhafte Stim42 Hierfür die materialreiche, gründliche Arbeit von G. Senger, Die Politik der Deutschen Zentrumspartei zur Frage Reidi und Länder, bes. S. 33 ff. « Vgl. Senger, a. a. O., S. 62.
Das preußische
Problem
bis 1927
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men, die den preußischen Kompromiß f ü r einen Kompromiß auf Zeit und einen Dauerzustand für erstrebenswert hielten. Das integrierende verfassungspolitische Ziel des Zentrums hieß schon in der Entschließung des rheinischen Parteitags vom 17. September 1919 „Schaffung eines organischen Deutschen Einheitsstaates mit autonomen Stammesländern" 44 , womit die stärkste Zentrumsorganisation Westdeutschlands die besondere Rheinlandfrage endgültig und offiziell dem Problem einer durchgreifenden Reform der Provinzialund Länderverhältnisse unterordnete. Sie übernahm das Schlagwort vom „Einheitsstaat", verfeinerte und verbesserte es gleichsam, anerkannte hinfort aber auch den Föderalismus im Grundsätzlichen, sofern er nicht in den engen Grenzen des historischen Staatenföderalismus verharrte. Doch auch in diesem Punkte bahnten sich Kompromisse an. Eine veröffentlichte Denkschrift des badischen Landtagspräsidenten Baumgartner entwickelte vier Jahre später das Problem einer dauerhaften und endgültigen Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Reich und den alten Ländern, 45 um die Ungewißheiten, die die konkurrierenden Bedürfnisse in der Reichsverfassung hinterlassen hatten, zu beseitigen und auf diese Weise und in dieser Hinsicht eine feste Staatsstruktur zu schaffen. Eine zwischen diesen Reformprogrammen vermittelnde Konzeption, die vom preußischen Problem ausging und eine neue und entschiedenere Art seines Aufgehens im Reich als Einheitsstaat beabsichtigte, verfolgte der Gewerkschaftsführer Adam Stegerwald, der zum ersten Mal Preußen als künftiges „Reichsland" bezeichnete 4 ' und damit eine Lösung umriß, die in den zuständigen Ministerien des Reiches im stillen ja schon seit längerem erörtert und auch in späteren Jahren immer wieder aufgegriffen und zur Diskussion gestellt wurde: die engste denkbare Anlehnung der preußischen Regierung und der preußischen Verwaltungen an die des Reiches bei gleichzeitiger Hebung der provinzialen Eigenverwaltung durch Erweiterung ihrer Kompetenzen über das bisherige M a ß hinaus. Doch weder die kurze preußische Ministerpräsidentschaft Stegerwaids im Jahre 1921 noch die ständige Regierungsbeteiligung des Zentrums vermochten Preußen auch nur " Zit. nach Senger, a. a. O., S. 109. Eugen Baumgartner, Das Reich und die Länder. Denkschrift über den Ausgleich der Zuständigkeiten zwischen dem Reich und seinen Ländern in Gesetzgebung und Verwaltung, Karlsruhe 1923. 4 * Adam Stegerwald, Zusammenbruch und Wiederaufbau, Berlin 1922, S. 27. 45
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III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
um einen Schritt diesem Ziele näherzubringen. Das Zentrum setzte weder die Erfolge seiner Koalitionspolitik im Reich noch das Einvernehmen mit der sozialdemokratischen Führung der preußischen Koalition aufs Spiel, um den status quo zu verändern. Nichtsdestotrotz blieb es an der Diskussion beteiligt. In der rheinischen Provinzialverwaltung reiften im zweiten Jahrfünft der Republik Gedanken heran, die den Autonomismus in dieser Provinz nunmehr gänzlich überwunden zeigten, jedoch, von der Bannkraft des preußischen Staates in seinem historischen Zusammenhang unberührt, alles Interesse der Reichseinheit und dem „Reichslande" zuwandten. Was Stegerwald so benannt hatte, wurde nun mit verwaltungspraktischer Erfahrung und verfassungsgeschichtlicher Kenntnis untermauert und durchdacht und innerhalb wie außerhalb des Zentrums von Männern wie dem Landesrat Kitz und dem Landeshauptmann Horion jenseits von den Schlagwortparteien des Einheitsstaates und des Länderföderalismus vertreten und verteidigt. Mit den Plänen von Kitz 47 erörterte das Zentrum, das sich sowohl auf seinem rheinischen Parteitag am 9. Mai 1927 wie auf der Tagung der Fraktionen des Reichstags und der Landtage am 10. November 1927 mit den Fragen der Reichsreform befaßte 48 , eine vermittelnde endgültige Lösung des preußischen Problems, die eine dauerhafte Stärkung und Sicherstellung der Zentralgewalt des Reiches unter Umgehung einer Revision der derzeitigen Zuständigkeitsverhältnisse zwischen dem Reich und den anderen Ländern versprach. Preußen sollte in seiner territorialen Einheit, jedoch ohne eigene Regierung, ohne Landtag und ohne Staatsrat erhalten bleiben; die verfassungsmäßigen Aufgaben der Staatsregierung sollten von der Reichsregierung und entsprechend die des Landtags vom Reichstag, die des Staatsrates vom Reichsrat übernommen werden. U m dem Reichsland außer dem ideellen auch ein politisches Gewicht zu sichern, blieb den in Preußen gewählten Reichstagsabgeordneten eine besondere Rechtsstellung vorbehalten: Mit einer Zweidrittelmehrheit sollten sie ein suspensives Veto beschließen oder ein Mißtrauensvotum gegen die Reichsregierung annehmen können. Preußen wäre als „Reichsland" ein festgefügtes Verwaltungsgebäude mit starker „Zentralmacht" 49 geblieben; diese „Zentralmacht" wäre aber die des Reiches gewesen. 47
Wilhelm Kitz, Reichsland Preußen. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Verfassungsreform, Düsseldorf 1926. Ein Nachtrag erschien 1927. 48 Vgl. Senger, Politik der Deutschen Zentrumspartei, S. 94 f., 97. 4 » Kitz, Reichsland, S. 37.
Das preußische
Problem
bis 1927
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Diesen Vorschlag wird man kaum als Versuch bezeichnen dürfen, die Hegemonie Preußens wiederherzustellen. Nicht einmal von einer Hegemonisierung des Reiches über den Reichstag mit Hilfe einer Zweidrittelmehrheit der preußischen Abgeordneten 50 kann ernsthaft gesprochen werden. Wie die Stärkeverhältnisse lagen, wäre weder zur Zeit der Abfassung dieser Vorschläge noch späterhin eine solcherart qualifizierte Mehrheit leichter zu finden gewesen als eine einfache Reichstagsmehrheit. Dieses Zugeständnis an die Idee der Einheit Preußens war tatsächlich bedeutungslos. Es kann nicht mehr gewesen sein als eine Geste der Vermittlung. Vielleicht galt sie einem Versuch, mit der Andeutung einer auch in Zukunft möglichen besonderen Aufgabe der preußischen Zentrumsabgeordneten diese Lösung auch dem Vorsitzenden der preußischen Landtagsfraktion schmackhaft zu machen, der sich diesen Vorschlägen gegenüber wieder auf einen Standpunkt zurückzog, der alles von einer Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern erwartete, die die Länder selbst unangetastet ließ.51 Diese Pläne trugen ganz den Stempel der Ära Marx, in der das Zentrum der Vorteile, aber auch der Eigenarten seiner Funktion als eines Scharniers zwischen den verschieden gebildeten Regierungen des Reiches und Preußens inne wurde. Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen dem preußischen Regierungschef und dem Reichsinnenminister ließ eine deutlich sichtbare Gefährdung dieser Funktion erkennen und eine dauerhafte Verbesserung oder Bereinigung der Verhältnisse der Reichsgewalt zum preußischen Großstaat wünschenswert erscheinen. Die Umstände waren der Erörterung solcher Vorschläge innerhalb des Zentrums überaus günstig. Blieb auch ihre Aufnahme geteilt, so gaben sie doch den Anstoß zum weiteren Debattieren auf dem eingeschlagenen Weg. Die Zentrumspartei war nun einmal in den Besitz der parteienstrategischen Schlüsselstellung zur Reichsreform gelangt. Sie sah sich aber auch in der Schlüsselstellung jeder Reichspolitik schlechthin und mußte die Problematik des neuen preußisch-deutschen Dualismus unmittelbar erfahren. Damit war das Problem der Reform f ü r sie evident geworden. Im preußischen Landtag versuchte der Zentrumsfraktionsführer Heß, die hochentwickelte Kunst des Ausgleichs gleichsam überbietend, so50
So Brüning auf dem Parteitag der Rheinischen Zentrumspartei 1927. Vgl. Senger, Politik, S. 95. 51 a. a. O., S. 96. 33
Schulz I
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einer
Reichsreform
wohl dem preußischen Ministerpräsidenten die Gefolgschaft des Zentrums glaubhaft zu machen52 als auch den Deutschnationalen, den Partnern des Zentrums in der Reichspolitik, eine Hand zur Versöhnung zu bieten, um sie für die Erhaltung Preußens in alter Gestalt zu gewinnen.63 Die rheinischen Zentrumshonoratioren um den Kölner Oberbürgermeister Adenauer und die „großliberalen" Pläne der hohen Provinzialbeamten wurden nicht gerade milde abgetan, obgleich sich Heß seiner eigenen Fraktion hierin keineswegs in vollem Umfang sicher war. 54 Doch die harmonisierende Parole, die Reichskanzler Marx ausgegeben hatte und die auch Heß benutzte, wies zwar keinen sicheren Ausweg, zwang aber zur Diskussion und Untersuchung. Sie verlangte „Befreiung von Einrichtungen, die nicht mehr in die Jetztzeit passen, weil das Gewand der Behörden und Verwaltungsorganisationen für uns zu schmal geworden ist", zugleich aber „auf der anderen Seite eindringliche Warnung vor jeder Übereilung . . . Auf keinen Fall könne daran gedacht werden, die Länder durch direkten oder indirekten Zwang um ihre Selbständigkeit zu bringen; denn es handle sich hier um ein in die feinsten Verästelungen des deutschen Seelenund Gemütslebens hineinreichendes Problem". 65 Der preußische Ministerpräsident gab sich da schon um einige Grade entschiedener. Die „Notwendigkeit der Vereinheitlichung" und die „Zwangsläufigkeit" einer „anderen Gestaltung unserer staatlichen Verhältnisse" ganz im Sinne einer unitarischen Entwicklung 58 stellte Otto M
„Ich glaube, Herr Ministerpräsident, daß die Zentrumsfraktion des Preußischen
Landtages nicht daran denken wird, sich einfach in das Schlepptau von solchen .groß-liberalen' Anschauungen nehmen zu lassen." (SBer P L T 2. WPer, 15. Bd., Sp. 22 849 ( 1 7 . 1 2 . 1927). M
„Im übrigen habe ich nur zu konstatieren, daß in der Frage des Einheitsstaates,
also in einer Frage, die für uns, staatspolitisch gesehen, von der allergrößten Bedeutung ist, in einer Frage, die wir geradezu für das Herzstück der preußischen Politik auf sehr lange Zeit hinaus halten, zwischen der D N V P und der Zentrumspartei des Preußischen Landtags eine sehr weitgehende Ubereinstimmung besteht". A. a. O., 15. Bd., Sp. 22 851. Auch die Landwirtschaft bedachte Heß mit freundlichen Worten, indem er sie gegen die Urbanen Reichsreformpläne des Deutschen Städtetags in Schutz nahm: „Es ist eine allbekannte Tatsache, die von keinem Volkswirtschaftler jemals bestritten worden ist, daß der beste Käufer am deutschen Wirtschaftsmarkt der deutsche Bauer ist". A . a . O . , 15. Bd., Sp. 22 846. 54
„Es beschwert mich nicht, daß es hier im Landtage Leute gibt, die auf dem aus-
gesprochenen Standpunkte stehen, in drei Jahren gäbe es keinen preußischen Landtag m e h r . . . Es gibt auch in den Reihen des Zentrums Unitaristen; eigenartige Denker gibt es in jeder Partei . . ." A. a. O., 15. Bd., Sp. 22 842 f. 55
a. a. O., 15. Bd., Sp. 22 843.
Das preußische
Problem
bis 1927
515
Braun gerade jetzt als einen unwiderlegbaren Erfahrungssatz hin, wenn auch nie ohne die im Laufe dieser Jahre schon beinahe typisch zu nennende Reservation der preußischen Reichs- und Verfassungspolitik: „Man muß die Augen offen halten, damit die Entwicklung in der richtigen Linie geht und nicht erst eine Menge Abwege eingeschlagen werden, bis man schließlich doch unter Opfern wieder auf den richtigen Weg gelangt, der sich endgültig nicht verpassen läßt." 5 ' Das war allgemein formuliert, jedoch im Sinne der Politik Preußens und wohl auch der Sozialdemokratie gedacht, soweit sie sich mit der Politik Otto Brauns identifizierte. Während dieser Jahre ging keine große Debatte des preußischen Landtags vorüber, die sich nicht auch auf die Thematik des Reich-Preußen-Verhältnisses erstreckte, und kaum eine, in deren Verlauf nicht von einem Mitglied des Staatsministeriums die „Unzuträglichkeiten der heutigen Zustände" 58 oder eine „bewußt antipreußische" Politik „gewisser Reichsstellen" beklagt wurden, so daß es wohl auch mehr als nur ein Stoßseufzer war, wenn Otto Braun ausrief: „Für Bismarck war es natürlich leicht, die Synthese zwischen dem Reich und Preußen zu finden. Als Kanzler und Ministerpräsident war er ja die personifizierte Synthese.""
M
a. a. O., " a. a. O., M a. a. O., 59 a. a. O.,
15. Bd., Sp. 22 752 (16. 12. 1927), 22 854 (17. 12. 1927). Sp. 22 753. 14. Bd., Sp. 20 256 (Höpker-Asdioil, 13. 5. 1927). 14. Bd., Sp. 20 157 (Braun, 12. 5.1927).
D R E I Z E H N T E S
KAPITEL
Verwaltungs- und Verfassungsvereinfachung und die Anfänge der Spardiktatur (1920 — 27) Verwaltungsreformpläne
des „Spardiktators"
1920
Unter „Reichsreform" wurden stets zwei eng miteinander verbundene Sachkomplexe verstanden: einmal ein territorialer, Neugliederung des Reichsgebietes, Revision der Ländergrenzen und Auflösung oder Neubildung von Ländern, zum anderen ein organisatorisch-struktureller, Reform der Verwaltungsorganisation der Länder wie des Reiches und ihrer rechtlichen und praktischen Beziehungen zueinander. 1 Der zweite berührte das Thema des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden und im Grundsätzlichen auch die Stellung der kommunalen Selbstverwaltungen auf der lokalen, auf der Provinzoder auch auf der Kreisstufe, die in die Erörterungen über Reichs- und Verwaltungsreform von mehreren Seiten her einbezogen wurde. Die dominierenden Fragen der Reichsreform betrafen stets die Verhältnisse und Aufgabenabgrenzungen zwischen Reich und Ländern; und als Zentralproblem erwiesen sich Stellung und innerer Aufbau Preußens. Nur unter der Bedingung einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Preußen und dem Reich war an eine Neugliederung des Reichsgebietes zu denken. Eine „Provinzialisierung" Preußens verlangte in erster Linie eine Revision in der Mittelinstanz, die entweder den historisch entstandenen Regionen, den Provinzen, oder ihren nach rationalen Gesichtspunkten geschaffenen departementsähnlichen Untergliederungen, den Regierungsbezirken, die größere Bedeutung innerhalb des Verwaltungsbaus zuerkannte. Ein völliges Aufgehen Preußens im Reich, wie es verschiedentlich vorgeschlagen wurde, also die Beseiti1 „Laien waren mehr an der ersten Frage, Fachleute mehr an der essiert", schreibt Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die ßens, Bonn 1949, S. 127. Man könnte ebensogut sagen, daß die experten der Länder und meist auch die des Reiches eine wesentliche Ländergrenzen nicht vertraten. Für sie stand lediglich die Aufhebung Länder und die Beseitigung von Enklaven zur Debatte.
zweiten interTeilung PreuVerwaltungsÄnderung der einiger kleiner
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
517
gung der preußischen Staatsspitze, hätte die Provinzialinstanzen zu obersten Verwaltungseinheiten im preußischen Gebiet gemacht. Damit stand die Frage ihrer Angleichung an die Verfassung anderer deutscher Länder oder deren Angleichung an die preußische Mittelinstanz zur Diskussion. Dies warf die weitere Frage nach der Behandlung der kleineren Länder und der Abrundung der auf solche Weise enstehenden Bezirke der deutschen Landkarte auf. Schließlich eröffnete sich das Problem einer grundsätzlichen und um bisherige Landesgrenzen weniger bekümmerten Neugliederung des gesamten Reichsgebietes nach optimalen Gesichtspunkten sowohl verwaltungstechnischer wie wirtschaftlicher, kultureller und verkehrspolitischer Zweckmäßigkeit, wobei historische oder landsmannschaftliche Rücksichten mehr oder minder stark in den Hintergrund traten. J e nachdem, ob an eine größere Zahl kleinerer oder an größere Verwaltungseinheiten gedacht wurde, hätte hierbei in der Mittelinstanz eine Beseitigung oder eine Stärkung des Oberpräsidenten vorgenommen werden müssen. Berücksichtigt man den Umstand, daß die Beziehung zwischen Oberpräsidien und den Regierungspräsidien in der preußischen Verwaltungsgeschichte seit langem problematisch war, so erkennt man die Bedeutung der Frage der Ausgestaltung der Mittelinstanz innerhalb des Komplexes der Reichsund Verwaltungsreforrn, die selbst dort, wo die Erhaltung der preußischen Staatsgrenze entschieden bejaht wurde, ihren Rang kaum einbüßte. Dies war die gleichbleibende Struktur der Probleme, die in den Erörterungen in wandelbaren Formen stets wiederkehrten. Man darf freilich auch nicht an den gewichtigen Plänen der Verwaltungsreform vorübergehen, die in erster Linie zu den Zielen der hohen Beamtenschaft des Reiches zählte, der an einer einfachen und übersichtlichen Organisation der Verwaltungsarbeit nach klarer Geschäftsaufteilung und Zuständigkeitsabgrenzung gelegen war. Das Bemühen um einheitliche, systematische Gestaltung des staatlichen Lebens hat immer zu den charakteristischen historischen Zügen des hohen preußischen Beamtentums gehört2, so daß auch der Zustand eines 2 So in der Sicht des Kulturpolitikers die Rede des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung zur Jahresfeier der Hochschule für Politik zu Berlin 1927, Carl Heinrich Becker, Für den Einheitsstaat, vollständig wiedergegeben Voss N r . 525 vom 5. 11. 1927. „Meine persönliche Uberzeugung ist, daß wir ein Einheitsstaat sein oder daß wir nicht mehr sein oder wenigstens nichts mehr gelten werden . . . Wollen wir aus partikularistischem Interesse unseren unzweckmäßigen und kostspieligen Verwaltungsapparat oder wollen wir die deutsche Kultur erhalten? Beides nebeneinander können wir n i c h t . . . Die bisherige Kultur kann in ihrer bis-
518
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
hypertroph entwickelten positiven Verwaltungsrechts als unerträglich empfunden werden mußte, zu dem ein sehr guter Sachkenner bemerkte, es gebe „in Deutschland keinen M a n n . . d e r in der Lage wäre zu sagen: Ich habe eine Ubersicht über die gesamte deutsche Verwaltung" 3 . Dabei konnten gewiß auch mannigfache Zwiespältigkeiten auftauchen, sobald eine Verminderung der Verwaltungstätigkeit oder die Einschaltung oder Ausschaltung von Aufsichts- und Kontrollinstanzen zur Debatte standen. 4 Die technischen Gesetze des Verwaltungshandelns verstanden sich gewiß zu keiner Zeit schon von selbst als Erfordernisse eines Verwaltungsrationalismus im höchsten Verbände. Nichtsdestoweniger gab es aber vom Standpunkt des Beamtentums viele Gesichtspunkte, die zumindest eine Reorganisation von Geschäftsverteilungen und Zuständigkeitsregelungen zweckvoll erscheinen ließen, worin sich die dynamische Anpassung an neue Verwaltungsaufgaben und Aufgabenverlagerungen ausdrückte. Zwangsläufig handelte es sich hierbei zuerst um Gesichtspunkte des verwaltenden Amtes. Die Reichsbeamtenschaft: war geneigt, Reichszuständigkeiten als natürliche und legitime Bedürfnisse und föderalistische Entgegnungen als Störungen aufzufassen; anderseits durfte die Ministerialbürokratie der Länder sicherlich zu Recht als ,;der eigentliche Träger des aktiven Föderalismus" angesehen werden 6 . Untersucht man hingegen die politischen Triebkräfte der unitarischen Tendenz unter Einschluß der von der Vorstellung einer preußiherigen Höhe nur dann erhalten bleiben, wenn die überflüssigen Verwaltungsspesen unseres unzeitgemäßen staatsrechtlichen Leerlaufs f ü r wirklich produktive Aufgaben der geistigen Kultur freigemacht werden". Diese Rede Beckers ist in der bayerischen Presse mehrfach als „Großpreußenrede" zitiert und angegriffen worden. So Bayerischer Kurier, Nr. 312 vom 8. 1 1 . 1 9 2 7 . 3 Arnold Brecht, Reichsreform, Wann und Wie? Berlin 1931, S. 9; und ähnlich wieder ein Jahr später: „Die Notrufe der Verwaltungsbeamten sollte man im Chor der Rufer nach Reform nicht überhören . . . Erst dann, wenn eine Neugestaltung uns aus diesen Netzen befreit, in denen wir gefangen sind, kann unsere Arbeit in der Verwaltung, im ganzen genommen, wieder produktiv werden". Reichsreform und Notverordnung, Berliner Tageblatt, Nr. 404 vom 2 8 . 8 . 1931. 4 Ottmar Bühler wollte sogar den gesamten Reformkomplex einer bürokratischen Institution, dem Reichssparkommissar, als einer unabhängigen „Spezialbehörde für die Technik der Verwaltungsreform" in die Hände legen. Er verlangte 1931 „freie Bahn für eine entpolitisierte, rein verwaltungstechnische Beurteilung" der Reformfragen. Bühler, Der heutige Stand der Verwaltungs- und Verfassungsreform, 2. Aufl. Stuttgart 1931, S. 82. 5 H . Nawiasky, Das Reich als Bundesstaat: Grundprobleme der Reichsverfassung, Berlin 1928, S. 86.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
519
sehen Hegemonie ausgehenden „differenzierenden" Einschmelzungstheorie, so kann man drei Herkunftsgebiete deutlich voneinander scheiden: demokratisdie, auch sozialistische Theorien, die dem Prinzip der Zweckmäßigkeit im Sinne der größtmöglichen Autorität den Zentralinstanzen, Reichstag und Reichsregierung, folgten; eine einige Zeit noch in der Ausbildung begriffene, jedoch von Anfang an sichtbare Disposition, die vorwiegend aus außenpolitisch-militärischen Beweggründen eine größtmögliche innerpolitische Konzentration innerhalb einer gesamtstaatlichen Organisation anstrebte und zu diesem Zwecke die innerpolitischen Differenzpunkte weitgehend zu beseitigen trachtete; schließlich der ebenso verwaltungs- wie reparations- und finanzpolitisch begründete Gesichtspunkt größtmöglicher verwaltungstechnischer Rationalität und Sparsamkeit der Verwaltung. Finanzfragen und Finanzausgleichsprobleme bildeten schon in den letzten Vorkriegsjahren die wunde Stelle im Verfassungskörper des Deutschen Reiches. Sie wurden nach der Schaffung der Reichsverfassung von Weimar, nach der Finanzreform Erzbergers und auf Grund der Versailler Friedensbedingungen zum neuralgischen Punkt im System der Beziehungen zwischen der Zentralgewalt des Reiches und den Ländern, was von Jahr zu Jahr fühlbarer wurde. Zu den unbewältigten finanzpolitischen Problemen der Vorkriegszeit, die an und für sich auf der Grundlage der Erzbergerschen Reformen hätten überwunden werden können, traten Kriegsfolge- und Friedensvertragslasten, die einer bisher unbekannten Größenordnung zustrebten. Das Finanzausgleichsgesetz von 1923" erhöhte dem Landessteuergesetz von 1920 gegenüber die Länderanteile an den Einnahmen aus den Steuerquellen des Reiches um insgesamt 20 Prozent 7 und versuchte, auf diese Weise die Wirkungen der Inflation auf die Länder- und Gemeindehaushalte aufzufangen; außerdem räumte § 60 des Finanzausgleichsgesetzes den e
Gesetz
über
den
Finanzausgleich
zwischen
Reich,
Ländern
und
Gemeinden
(Finanzausgleichsgesetz) vom 23. 6. 1923 ( R G B l I 1923, S. 494). Aus der Literatur dieser Zeit, die das Finanzausgleichsproblem behandelt, seien genannt: Johannes P o pitz, Art. „Finanzausgleich", H W B d. Staatswissensch., 4. Aufl., 3. Bd., Jena S. 1 0 1 6 — 1 0 4 2 ;
Popitz,
Der
Wilhelm Gerlofi u. Franz
Finanzausgleich:
HB
d. Finanzwissenschaft,
Meisel, 2. Bd., Tübingen
1927,
1926,
hrsg.
S. 3 3 8 — 3 7 5 ;
v.
Albert
Hensel, Der Finanzausgleich im Bundesstaat in seiner staatsrechtlichen Bedeutung, Berlin 1922. 7
Die ergiebigsten Steuern, die Einkommensteuer und die Umsatzsteuer, die ge-
meinsam ca. 98 %
der gesamten Steuereinnahmen des Reiches erbrachten,
jetzt zu 75 °/o (vorher 6 6 % %>) bzw. 25 °/o (vorher 15 %>) den Ländern zugute.
kamen
520
III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Ländern und Gemeinden ein Recht auf Reichszuschüsse zu den Besoldungsausgaben in Höhe von 75 Prozent ein. Doch die rasch fortschreitende Geldentwertung ließ diese Regelungen nie zur Bewährung kommen. Das Reich mußte große Ausgabengebiete unmittelbar übernehmen. Die Stabilisierung machte infolgedessen eine neue Änderung des Finanzausgleichs erforderlich. Nach der endgültigen Klärung des Umfangs der Belastungen des Reiches durch Reparationsleistungen auf Grund des Dawes-Planes geschah dies jedoch mir in der Form einer Regelung 8 , die einen vorläufigen Kompromiß darteilte, der jedes Jahr Ergänzungen und Revisionen erfuhr. Die Abhängigkeit des Finanzausgleichssystems von der Konjunkturund Krisenentwicklung hatte die Länder — im Gegensatz zur Vorkriegszeit — vollends zu Kostgängern des Reiches werden lassen, das über den größten Etat verfügte. Das Nachziehen der finanzpolitischen Maßnahmen hinter der raschen Veränderung der wirtschaftlichen Situation hatte diese Abhängigkeit im höchsten Maße fühlbar gemacht. Im Grunde hatte die Periode der Stabilisierung auf dem Gebiet des Finanzausgleichs nicht die dauerhafte Stabilität hervorgebracht, ohne die eine Ruhelage des föderativen Verfassungssystems nun einmal nicht denkbar ist. Das erste und einfachste Präventivmittel, das vor einer Überbelastung der Anforderungsseite in der Haushaltsrechnung der Länder wie des Reiches schützen sollte und in starkem Maße herangezogen wurde, blieb die Ausgabenminderung, die schließlich zu diktatorischen Einsparungsmaßnahmen führte. Sie erstreckten sich auf eine drakonische Einschränkung des Personalbestandes der teilweise rasch aufgewachsenen öffentlichen Verwaltungen, reichten aber auch in das gesamte institutionelle System der Verwaltung hinein. Ihre Vereinfachung nach rationellen Prinzipien bildete den Gegenstand zahlreicher und teilweise sehr umfangreicher Pläne, die seit 1920 eine höchst bedeutsame Rolle spielten. Hier zeichnete sich schon verhältnismäßig früh ein neuer Ansatz zur Veränderung der Beziehungen zwischen Reich und Ländern ab, als Reichsfinanzminister Wirth in Anbetracht der schwierigen Finanzlage, die die Reformen Erzbergers nicht beseitigen konnten, unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungskosteneinsparung mit dem Versuch einer reichseinheitlichen Verwaltungsreform Ernst machte. Auf diesem Wege bemühte sich der badische 8
Gesetz über Änderungen des Finanzausgleichs zwischen Reich, Ländern und Gemeinden vom 10.8.1925, RGBl I 1925, S. 254.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
521
Zentrumsmann, das Werk seines württembergischen Parteifreundes auf einer anderen Ebene und mit anderen Mitteln fortzuführen. Da die Maßnahmen des Reichsfinanzministers sich gleichmäßig auf Reichsverwaltungen, Länder und Gemeinden ausdehnen sollten, was sich nicht ohne weiteres aus der Reichsverfassung herleiten ließ, geriet Wirth bald in ähnlicher Weise wie sein Vorgänger in den Verruf, gegenüber den Ländern eine „unitarische Aushöhlungspolitik" zu betreiben. Der Reichstag hatte am 3. Juli 1920 auf Vorschlag des Haushaltsausschusses beschlossen, einen Ausschuß einzusetzen, „der unter Hinzuziehung von Mitgliedern der Reichsregierung zu prüfen hat, welche Reformen zum Zwecke der Verbilligung in den einzelnen Verwaltungszweigen vorzunehmen sind"". Entschlossene Maßnahmen leitete dann der Reichsfinanzminister ein, der eine verstärkte Stellung innerhalb der Reichsregierung erhielt, um in der Lage zu sein, eine wirksame Ausgabenbeschränkung durchzusetzen. Die Beschlüsse des Reichskabinetts vom 9. Oktober 1920 schufen allgemeine Richtlinien über die Stellung und Befugnisse des Reichsfinanzministers und „Leitsätze f ü r die gesamte Finanzgebarung und Wirtschaftsführung des Reichs", führten aber auch zur Ernennung eines „Reichskommissars für die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Reichsverwaltung", der während der nächsten Übergangszeit „für die strengste Durchführung der Leitsätze, insbesondere für die Aufstellung von Plänen und ihre gleichmäßige Anwendung zu sorgen" hatte. 10 Der Reichsfinanzminister fand 8 10
VhRT 1. WPer, Anl Nr. 86 (Bd. 363); StenBer S. 197 f. (Bd. 344).
Rundsdireiben des Reichskanzlers an sämtliche Reichsressorts vom 16. 10. 1920 und Rundschreiben des Reichsfinanzministers an die Länderregierungen vom 16. 10. 1920, BA, R 43 1/1946. In dem zweiten Schreiben heißt es: „Diese Beschlüsse sind auch für die Länder von erheblicher Tragweite, nidit nur deswegen, weil das Wohl der Länder von dem Wohle des Reiches abhängig ist, sondern weil sich wohl auch auf dem Gebiete der Landesfinanzen und der Landesverwaltung Erscheinungen der Überorganisation und der finanziellen Überlastung gezeigt haben dürften". In Folgerungen hieraus entwickelte Wirth seine Empfehlungen an die Länder: „In dem vollen Bewußtsein, daß das Vorgehen des Reiches zu einer Gesundung nicht führen kann, wenn nicht gleichzeitig die Länder und Gemeinden die aus der Finanzlage sich ergebenen Folgerungen in aller Schärfe ziehen, darf ich mir die Anregung erlauben, auch in dem Geschäftsbereiche der Länder und Gemeinden in gleicher oder ähnlicher Weise vorzugehen, wie dies seitens des Reichs für seinen Bereich in Aussicht genommen ist. Zur restlosen Auswirkung wird diese Aktion der Länder und Gemeinden nur dann kommen, wenn Reich und Länder in diesem schweren Augenblick völlig Hand in Hand arbeiten und alle Sonderinteresssen zurückstellen, soweit sie mit den Interessen des großen Ganzen nicht in Einklang zu bringen sind". Die beigefügten Richtlinien „Stärkung der Stellung des Reichsfinanzministers" unter-
522
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
diesen „Spardiktator", wie dieser Reidiskommissar im Verwaltungsjargon genannt wurde, in der Person des Präsidenten des Landesfinanzamtes Unterweser, Carl, der bald mit Vorschlägen hervortrat, die eine sofortige erhebliche Verringerung der Zahl der Reichsministerien beabsichtigten11, die in dieser Form von der Reichsregierung für sagten „Maßnahmen, Neueinrichtungen oder Anordnungen, welche neue, durch den Reichshaushalt oder sonstige gesetzliche Vorschriften nicht bereits genehmigte Ausgaben zur Folge haben oder haben können, ohne vorherige rechtzeitig eingeholte Zustimmung des Reichsfinanzministers". Versagte der Reichsfinanzminister seine Zustimmung, so stand es dem Fachminister frei, die Entscheidung des Reichskabinetts herbeizuführen, „sofern es sich um eine Angelegenheit von grundsätzlicher Bedeutung oder besonderer Wichtigkeit handelt". Beschloß die Reichsrcgierung „in einer Frage von finanzieller Bedeutung" gegen die Stimme des Reichsfinanzministers, so konnte dieser Widerspruch erheben, was zu einer neuen Kabinettssitzung führte, in der nur die anwesenden Reichsminister stimmberechtigt waren. Gegen die Stimme des Reichsfinanzministers konnte nur die Mehrheit sämtlicher Reichsminister unter Einschluß des Reichskanzlers oder seines Stellvertreters Beschluß fassen. Den Haushaltsentwurf hatte der Reidhsfinanzminister nach Abschluß der Verhandlungen mit den Fachressorts festzustellen und dem Reichskabinett zur Beschlußfassung vorzulegen. Die vom Reichskabinett endgültig getroffenen Entscheidungen waren „von sämtlichen Reichsministerien und nachgeordneten Behörden und Stellen, sowie von den einzelnen Beamten einheitlich und geschlossen als Wille der Reichsressorts zu vertreten". Uberstimmte Ministerien durften nicht durch Beamte oder nachgeordnete Stellen auf Reichsratsbevollmächtigte oder Reichstagsabgeordnete einwirken und die Verwirklichung der Durchführung der Entscheidung der Reichsregierung zu verhindern suchen; Verstöße gegen diese Vorschrift sollten als Schädigung der Autorität der Reichsregierung angesehen, die betreffenden Beamten zur Verantwortung gezogen werden. Kamen diese Richtlinien lediglich für die Reichsrcgierung in Betracht, während sie in den Ländern allenfalls als Vorbild f ü r die Ausgestaltung der Stellung der Finanzminister galten, so trafen die „Leitsätze f ü r die gesamte Finanzgebarung und Wirtschaftsführung des Reiches" zwischen den einzelnen Verwaltungsautoritäten keine grundsätzlichen Unterscheidungen mehr. Sie enthielten die Punkte: 1. „Der Aufgabenkreis des Reichs ist innerhalb der Grenzen der Verfassung so eng wie irgend möglich zu halten". „Die Zuständigkeit des Reichs, der Länder, Gemeinden und Gemeindenverbände und sonstigen öffentlichen oder privaten Körperschaften ist auf allen Gebieten scharf gegeneinander abzugrenzen, so daß eine Überwälzung von Aufgaben und Kosten, die anderen Körperschaften zufallen, auf das Reich ausgesdilossen ist". 2. Neue Verwaltungseinrichtungen dürfen nicht geschaffen, bestehende nicht vergrößert werden. 3. Bestehende Einrichtungen vorübergehender oder dauernder Natur sind so weit als irgend möglich einzuschränken und abzubauen und die Verwaltungskosten zu vermindern. 4. Für alle Verwaltungen gilt der Gesichtspunkt der allergrößten Sparsamkeit. 11 Schreiben des Reichsfinanzministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 13. 12. 1920 mit beigefügten Anträgen des Reichskommissars vom 29. 11. 1920
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
523
gänzlich unmöglich gehalten wurden und einige recht heftige Proteste betroffener Minister auslösten. Es handelte sich hierbei um Probleme, die eine einzige bürokratische Instanz weder lösen noch in befriedigender Weise aufgreifen konnte. Carls Vorschläge rührten zum Teil hochpolitische Fragen an, die die Verhältnisse der gesamten Verwaltung und der Regierungen des Reiches und der Länder betrafen. Sie gingen von dem an sich berechtigten Gedanken aus, nach dem sehr raschen und überaus unorganischen Wachstum der Reichsverwaltung während des Krieges in größerem U m f a n g einen Ausgleich zwischen den Verwaltungskörpern des Reichs, der Länder u n d der Gemeinden vorzunehmen, eine Belastung des Reichs mit neuen Aufgaben und Ausgaben zu verhindern, und mittels Reichsvorschriften eine Aufgabenabgrenzung der Länder vorzunehmen. Aber sie zielten zu deutlich auf eine einheitliche Reichsmittelinstanz hin, die Carl an die von Erzberger geschaffenen Landesfinanzämter ankristallisieren wollte. Sein Plan eines Abbaus von Reichsministerien und Reichsverwaltungen nahm einen recht radikal wirkenden Umfang an. D a ß Carl ihn in den Vordergrund schob und die Länder kurzerhand als sekundäre Gebilde behandelte, machte seinen Plan von vornherein utopisch. Der erstaunliche Versuch, mit einer einzigen Denkschrift innerhalb der Reichsregierung all das in die Wege zu leiten, was später die Bestrebungen einer Reichsreform auf breitester Grundlage und unter Einbeziehung aller Interessenten lange Zeit und am Ende vergeblich zu verwirklichen trachteten, berührt trotz einiger ausgezeichneter Gedankengänge recht merkwürdig und läßt das auch später oft fühlbare Mißverhältnis zwischen bürokratischer Vorstellungswelt, die nur zu häufig von der zentralen Imagination eines allmächtigen BA, R 43 1/1946: 1. Auflösung des Reichswirtschaftsministeriums, des Reichsarbeitsministeriums, des Reichsschatzministeriums, des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft und des Reichsministeriums für Wiederaufbau und Übertragung ihrer Aufgaben auf die anderen Ministerien sowie ein neu zu errichtendes Ministerium für Wirtschaft und Arbeit; 2. Festlegung des „Normalaufbaus" eines Ministeriums; 3. Neuordnung der Bezirks- und Lokalbehörden des Reichs, Erhebung der Landesfinanzämter zu einheitlichen Bezirksbehörden für die Reichsverwaltung (unter Ausschluß der Einrichtungen des Reichsheeres, der Eisenbahn- und Postverwaltung), und zur „Reichsinstanz zur Wahrung der allgemeinen Reichsinteressen in den Ländern", um „eine Schädigung der Interessen der Länder als Folge der Übertragung der Zuständigkeiten auf Reichsorgane zu verhüten"; 4. Einrichtung von „Wirtschaftsgebieten" mit möglichst weitgehender Selbstverwaltung zur Unterstützung und Entlastung des Reiches und der Länder bei Erfüllung staatlicher Aufgaben wirtschaftlicher und sozialer Art („Bezirkswirtschaftsräte").
524
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
Staates unter einer allbefähigten Regierung ausgeht, und politischer Wirklichkeit kontrastierend sichtbar werden. Fragen, wie sie Carl aufgeworfen hatte, konnten mit einiger Aussicht auf Erfolg allenfalls von Gremien erörtert werden, die die Repräsentanten der verfassungsmäßigen Organe der politischen Willensbildung des Reiches zusammenfaßten: Reichstag, Reichsrat und Reichsregierung. Koch-Weser wies auf den nicht nur durch den Krieg, sondern auch infolge des Friedensschlusses und seiner Bedingungen und Lasten gewachsenen und weiter wachsenden Umfang der Verwaltungen hin, so daß Maßstäbe, die dem „Vorkriegsapparat" entnommen wurden, nicht mehr genügen konnten. Hinzu traten nun die Anforderungen, die Reichstag und Reichsrat, deren Arbeit keineswegs nur Gesichtspunkten einer technischen Rationalität unterlagen, an Verwaltungen und Ministerien stellten. Die Schaffung von Wirtschaftsbezirken, die Carl vorgeschlagen hatte und die neben der Reichsmittelinstanz und den Länderregierungen eine dritte Instanz der gleichen Stufe geschaffen hätte, wäre kaum geeignet gewesen, den Gesamtbau der Verwaltungen einfacher und übersichtlicher zu gestalten. Im Gegensatz zu seiner Stellungnahme in dieser Frage bei der Erörterung der ostpreußischen Sonderbestrebungen lehnte Koch-Weser ihre grundsätzliche Einführung ab.12 Ende Januar 1921 schlug er die Einsetzung einer Kommission aus Reichsministern, Reichstagsabgeordneten und Reichsratsmitgliedern vor, die diese Fragen nach Arbeitsrichtlinien überprüfen sollte, deren Ausarbeitung die Reichsminister ihm und Wirth gemeinsam übertrugen. 13 Landesfinanzamtspräsident Carl, der seinen umfangreichen Plänen keinen greifbaren Erfolg beschieden sah, trat daraufhin von seinem Amt als Reichskommissar zurück. Die Entscheidungen waren somit in die Hand des beweglichen KochWeser gelangt, der jetzt die neue Gelegenheit wohl wahrnahm, die sich einer Verwirklichung seiner seit längerem gehegten Pläne bot. Zielbewußt und umsichtig zugleich ging er wieder an die Arbeit, um der ins Auge gefaßten Kommission ins Dasein zu verhelfen und ihr ein Gebiet einflußreicher Tätigkeit zu sichern. Da die Reichsregierung zuerst das Ergebnis der Londoner Verhandlungen abwarten wollte, aber gerade Reichsaußenminister Simons in der Verwaltungsreformfrage nach „entschiedenen Schritten noch vor den Verhandlungen in London" verlangte, wurde im Februar eine gemischte Kommission aus 12 13
PrRM 2 0 . 1 2 . 1920, BA, R 43 1/1946. PrRM 29. 1. 1921, Auszug BA, R 43 1/1947.
Verwaltungs-
und
525
Verfassungsvereinfachung
den drei paritätisch beteiligten Reichsorganen unter Leitung KochWesers eingesetzt.14 Diese Kommission, die Vorstufe der von Koch vorgeschlagenen, sollte sich mit einer Vorprüfung über die Erzielung von Ersparnissen in der öffentlichen Verwaltung und einer neuen Aufgabenverteilung zwischen Reich, Ländern und Kommunen und darüber hinaus mit den grundsätzlichen Fragen der Organisation der Reichs- und Landesbehörden, ihrem Verhältnis zueinander, den Möglichkeiten einer Dezentralisation innerhalb der Reichsverwaltung und mit der territorialen Abgrenzung der Verwaltungsbezirke im Reich und in den Ländern befassen. Man darf im Hinblick auf diese Aufgabenzuteilung diese Kommission als eine Vorläuferin des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz von 1928 ansehen; allerdings erfolgte ihre Einsetzung in erster Linie aus äußerlichen, aus außenpolitischen Gründen und ohne daß sie eine sonderliche Tätigkeit entfaltete oder zu wichtigen Ergebnissen gelangte. Doch die Richtlinien, die KochWeser inzwischen aufgestellt hatte, waren schon scharf gefaßt und begrenzt, so daß es vorerst einer Arbeit dieser Kommission gar nicht bedurfte. Sie entnahmen aus den Vorschlägen Carls das, was realisierbar erschien, und entwickelten bereits eine universale Organisationsproblematik. Sie befaßten sich mit einer Beseitigung des Wiederaufbauministeriums, des Reichsschatzministeriums und einer Vereinigung des Reichswirtschaftsministeriums mit dem Reichsfinanzministerium, mit der Möglichkeit, ein engeres Verhältnis zur preußischen Regierung zu gewinnen — durch Schaffung von Personalunionen in der Leitung von Ministerien, durch Schaffung eines besonderen preußischen Ministeriums für den Reichsrat, aber auch mit Verbindungen zum bayerischen Kabinett, weiter mit der Frage einer Dezentralisation der Reichsverwaltung und einer Abgrenzung der Verwaltungsbezirke, mit der Sicherung eines geeigneten Beamtennachwuchses für die Reichsverwaltung und schließlich mit dem großen und schwierigen Problem einer Überprüfung der Verwaltungen in Ländern und Gemeinden." Im April 1921 trat die vorgeschlagene Kommission, die all diese Fragen untersuchen sollte, endgültig ins Leben. Ihr gehörten vier Vertreter 14
P r R M 2 1 . 2 . 1 9 2 1 , Auszug BA, R 43 1/1947.
15
Handschriftl.
8. Februar Koch,
Niederschrift
1921. BA, R 43
Wirth,
über
den
Verlauf
einer
Chefbesprechung
1/1947. Anwesend waren Reichskanzler
die Staatssekretäre
Albert
und
Sdiroeder
und
am
Fehrenbach,
Ministerialdirektor
v. Schlieben. Die mit Preußen zusammenhängenden Fragen wurden auf Vorschlag Alberts ausgeschieden. Hierzu auch Koch-Weser, Vereinheitlichung und Vereinfachung der Reidisverwaltung: D J Z 26. J g . / 1 9 2 1 , S. 2 8 2 — 3 0 3 .
526
111. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
der Reichsregierung, sechs des Reichsrats und acht Reichstagsabgeordnete an.16 Wenn diese „Kommission zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Reichsverwaltung", die am 30. April 1921 ihre Arbeit aufnahm und nach dem bekannten Vorbild der Zentralstelle für die Gliederung des Reiches eine Anzahl von Unterausschüssen für Spezialfragen bildete, am Ende doch keine Tätigkeit von entscheidender Bedeutung entfaltete, so lag dies an einer Reihe von mißlichen Umständen, den Bedingungen der außenpolitischen wie der innerpolitischen Entwicklung und nicht zuletzt an dem mehrfachen Wechseln der Reichsinnenminister nach dem Ausscheiden Koch-Wesers aus der Reichsregierung. Immerhin gingen aus ihrer Arbeit Gutachten wie das Drewssche über das Reichsinnenministerium hervor, die von den Ministerien verwertet wurden und die im Reichstag wie im Reichsrat eine Rolle spielten.17 Ihr entstammte auch die wohlbegründete Forderung, daß das Reich fortan auf einen eigenen neuen Verwaltungsunterbaiu verzichten und sich zur Durchführung seiner Aufgaben grundsätzlich der Landes- und Gemeindebehörden bedienen sollte, die sich nach und nach als Leitsatz in der inneren Reichspolitik durchzusetzen begann, wenn auch nur dank eines starken Rückhaltes in der preußischen Verwaltung an eine Verwirklichung zu denken war. Dieses Prinzip bezeichnete neben dem Aufbau reichseigener Verwaltungen den Weg einer gemäßigteren unitarischen Entwicklung, der die Länder durch die auftragsweise Zuweisung von Reichsaufgaben in das Zuständigkeitssystem des Reiches einbezog. Die Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit und Erfolge einer Kommission war jedoch noch weiter verbreitet als die Kritik am „Spardiktator". 18 Dem bald aus verschiedenen politischen Richtungen ertönenden 1 1 Rundschreiben des Reichsinnenministers an sämtliche Reichsminister vom 23. 4. 1921. BA, R 43 1/1947. Der Kommission gehörten von Seiten der Reidisregierung Staatssekretär Peters, Unterstaatssekretär z. D . Busch, Staatsminister Drews und Staatssekretär a. D . v. Rüdlin an, von Seiten des Reichsrats der preußische Staatssekretär Freund, der bayerische Gesandte Ritter v. Preger, der sächsische Gesandte Koch, der württembergisdie Ministerialdirektor Schäffer, der badische Finanzminister Köhler und Ministerialdirektor Münzel, der hessische Gesandte Frh. v. Biegeleben und Senator Strandes, von Seiten des Reichstags die Abgeordneten Steinkopf (SPD), v. Guerard (Zentrum), Delbrück ( D N V P ) , v. Kardorff (DVP), Kotzke (USPD), Pohlmann (DDP), Heydemann (KPD), und Emminger (BVP).
" Zusammenfassender Bericht über die bisherige Tätigkeit der Kommission zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Reichsverwaltung, von Reichsinnenminister Köster der Reichskanzlei am 15. Dezember 1921 übersandt, BA, R 43 1/1947. 18 Bezeichnend ein anonym erschienener Artikel „Wo bleibt der Sparkommissar?"
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
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Ruf nach größerer Sparsamkeit und nach einem generellen Verwaltungsabbau, den sich nach dem ersten Zahlungsverzug der deutschen Kriegsentschädigungsleistungen unter Hinweis auf die Meinungen im Ausland auch der Reichsfinanzminister Hermes zu eigen machte,19 schien eine einzelne Stelle mit besonderen Ermächtigungen, die eine sichtbare und fühlbare Tätigkeit in enger Verbindung mit der Reichsverwaltung entfaltete, besser zu entsprechen als ein größeres und — wie es in der Natur der Sache lag — zögernder arbeitendes Gremium. Infolgedessen sah sich die Vereinfachungskommission bald durch eine neue bürokratische Instanz ergänzt und überflügelt. Verwaltungsabbau und Dezentralisation. Saemiscbs Ideal des liberalen Beamtenstaates „Um Einwendungen der Reparationskommission in bezug auf die Wirtschaftsführung der Verwaltung wirksam zu begegnen und ihr eine einheitliche Stelle gegenübersetzen zu können", erbat Hermes am 11. Mai 1922 vom Reichsministerium die Ermächtigung zur Schaffung einer vorerst noch nicht näher bezeichneten Instanz, die „ a l l e . . . erforderlichen Maßnahmen" zur Erreichung „sparsamster Wirtschaftsführung der Reichsverwaltung" zu treffen und unter dem Vorsitz einer vom Reichsfinanzminister unter Zustimmung des Kabinetts zu bestellenden Persönlichkeit mit der Vereinfadiungskommission zusammenzuarbeiten habe.20 Hinter diesem Antrag verbarg sich offenbar die Absicht, die Vereinfachungskommission zu verdrängen oder lahmzulegen und den „Spardiktator" mit erweiterten Vollmachten wieder erstehen zu lassen, was zwar fürs erste noch Befürchtungen vor Eingriffen „in die verfassungsmäßige Selbstständigkeit der Reichsminister" 21 hervorrief, aber einige Monate später dann doch, wenn auch nicht gänzlich, im Sinne des Antrages von Hermes, von der Reichsregierung beschlossen wurde. DaVoss N r . 374 vom 1 1 . 8 1921, der einer redaktionellen Anmerkung zufolge, „von einem süddeutschen Politiker" herrührte. E r bezog gegen Koch-Weser und gegen die „ Sparsam keits-Kommission" „Sparkommissars"
Stellung und setzte sich für die Vorschläge des
Carl ein, dem der Verfasser eine unabhängigere und stärkere
Stellung wünschte. 19
Geheimes Schreiben des Reichsfinanzministers an die Reichsregierung vom 9. 12.,
geheimes Rundschreiben an sämtliche Reichsminister vom 1 3 . 1 2 . und P r R M 12. 12. 1921, Auszug B A , R 43 1/1947. 20
PrRM
21
Entwurf
1 1 . 5 . 1 9 2 2 , Auszug BA, R 43 eines Rundschreibens
1/1947.
des Staatssekretärs
in
der Reichskanzlei
an
sämtliche Reichsminister mit Abgangsvermerk vom 31. 5. 1922, B A , R 43 1/1947.
528
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
mit trat der Reichssparkommissar ins Leben. Seiner offiziellen Aufgabe nach hatte er nur eine gutachtende und prüfende Tätigkeit auszuüben;22 aber dank seiner häufigen Zuziehung zu Reichskabinettssitzungen,2® angesichts der ständig von Schwierigkeiten bedrohten Finanzlage des Reiches und infolge der Entschlossenheit der Reichsregierungen, unter dem Druck der Reparationsforderungen mit Einsparungs- und Vereinfachungsmaßnahmen größten Stils Ernst zu machen,24 gewann er auf den Gebieten aller Verwaltungen Bedeutung und Einfluß. Im Dezember des Krisenjahres 1923 trat er an die Spitze eines Dreimänner-Kollegiums, dem das Reichskabinett seine Rechte zur Einstellung von Aufgaben und zum Abbau von Behörden, also seine vollen Befugnisse zur reduzierenden Verwaltungsorganisation übertrug.25 Gemeinsam mit dieser Verwaltungsabbaukommission wurde der Reichssparkommissar zum Instrument einer unpolitisch gedachten, auf den Einsparungsgedanken beschränkten allgemeinen Verwaltungsreform, die von der Reichsverwaltung auch bald auf Länder und Kommunen übergriff. Auf das Beschlußrecht der Verwaltungsabbaukommission mußte und konnte der Sparkommissar in allen Fällen zurückgreifen, „in denen es nicht gelang, die Verminderung der Reichsaufgaben und die Verringe22 Die Aufgaben des Reichskommissars übertrug das Kabinett Cuno durch Beschluß vom 23. November 1922 dem Präsidenten des Rechnungshofs des Deutschen Reichs, dem ehemaligen preußischen Staatsminister Saemisch. Das Betrauungssdireiben des Reichskanzlers umschrieb sie folgendermaßen: Der Reichskommissar habe „Haushalte und Haushaltsführung der einzelnen Reichsministerien durchzuprüfen, der Reidisregierung Gutachten über das Ergebnis der Prüfung zu erstatten und bestimmte Vorschläge zu machen über Ersparnisse im Haushaltsplan, für eine Verbilligung und Vereinfachung der Verwaltung insbesondere auch die Verminderung des planmäßigen und außerplanmäßigen Personals, gegebenenfalls unter Aufhebung entbehrlich werdender Behörden, sowie f ü r eine wirtschaftlichere Gestaltung der Einnahmen". Außerdem erhielt der Reichskommissar ein wirtschaftliches Prüfungsund Informationsrecht gegenüber den Reichsministerien. Entwurf mit Abgangsvermerk vom 28. 11. 1922, BA, R 43 1/1947. Vgl. auch die juristische Untersuchung von Karl Bilfinger, Der Reichssparkommissar (Beiträge zum ausländischen öffentl. Recht u. Völkerrecht, H . 7), Berlin u. Leipzig 1928. 23
Auf Verlangen Saemischs beschloß das Reichsministerium seine Hinzuziehung zu Reichskabinettssitzungen, soweit Fragen behandelt wurden, die hinsichtlich der Etatgestaltung von Belang waren. Auszug a. d. PrRM 4. 12. 1922, BA, R 43 1/1947. 24 In diesem Sinne äußerte sich auch Reichsinnenminister Oeser auf der Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder am 5. u. 6. Dezember 1922. Pr BA, R 43 /2327. 25
Die beiden anderen Mitglieder des Kollegiums waren je ein Vertreter des Reichsinnen- und des Reichsfinanzministeriums (PrRM 3. 12. 1923, Auszug BA, R 4 3 1/1949), die einflußreichen konservativen, zur Disposition gestellten Staatssekretäre Lewald und Busch.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
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rung des Behördenapparates im Wege einer Verständigung mit den Reichsministerien und ihren nachgeordneten Behörden durchzuführen." 2 ' Diese zuverlässig wirksame Unterstützung ermöglichte ihm jedoch überaus drastische Abbaumaßnahmen der Reichsverwaltung, die den Personalstand vom 1. Oktober 1923 bis zum 1. April 1924 von insgesamt 1.594.000 Beamten, Angestellten und Arbeitern um 372.000 Köpfe verminderte. Die hierdurch erzielten „Nettoersparnisse" veranschlagte der Reichssparkommissar auf jährlich 295 Millionen Goldmark. 27 Diese Summe entsprach ungefähr der zu Lasten der Reichseinnahmen gehenden Erhöhung der Länderüberweisungen aus dem Steueraufkommen nach dem Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. 28 Doch mit den Abbaumaßnahmen kam das Reich auch den Länderregierungen, namentlich Preußen entgegen, w o sich, von der bayerischen Denkschrift erneut angeregt, die Meinung herausbildete, daß das Reich in der Ausschöpfung der Reichszuständigkeiten keine glückliche H a n d bewiesen habe und ein übermäßig rasches Wachstum der 29 V o r t r a g Saemischs über die A u f g a b e n des Reichssparkommissars v o r dem Reichsrat am 1. April 1924, vollständiger Text BA, Nachl. Saemisch, N r . 164. 27 E b d a . Die stärksten Eingriffe in der D u r c h f ü h r u n g der Verwaltungsabbauv e r o r d n u n g v o m 27. O k t o b e r 1923 verzeichneten das Reichswirtschaftsministerium, das in den sechs M o n a t e n der Berichtszeit 48 % seines gesamten Personals einbüßte, das Reichsarbeitsministerium, dessen Personal um 47 °/o v e r m i n d e r t wurde, das erst wenige Wochen v o r Beginn dieser Aktion errichtete Reichsministerium f ü r die besetzten Gebiete, das auf 44 % , die Reichszollverwaltung, die auf 32 % , und das Wiederaufbauministerium, das auf 31 °/o des Personals verzichten m u ß t e . D a s Reichsinnenministerium w a r mit 30 %> und das Reichsverkehrsministerium mit 2 4 % des Personals v o n diesen M a ß n a h m e n betroffen. 28 Dieses sogenannte Finanzausgleichsgesetz v o m 23. J u n i 1923 (RGBl I 1923, S. 494) n a h m eine vorläufige Ä n d e r u n g des Landessteuergesetzes vor, die die Überweisungen an die Länder aus dem A u f k o m m e n aus der Einkommensteuer und aus der Körperschaftssteuer von 66 % % auf 7 5 % , aus der Umsatzsteuer von 15 auf 2 5 % , aus der Grunderwerbssteuer und der Rennwettsteuer jeweils von 50 auf 1 0 0 % heraufsetzte. Bei der Erbschaftssteuer u n d der Kraftfahrzeugsteuer blieb es bei den alten Anteilen v o n 20 bzw. 1 0 0 % . D a im E t a t j a h r 1923 auf die Einkommensteuer 4 7 % und auf die Umsatzsteuer 5 1 % des gesamten Steueraufkommens entfielen, ergab sich hieraus eine Erhöhung der Länderzuweisungen von insgesamt etwas mehr als 20 % . Eine ausführliche Darlegung der Auswirkungen des Landessteuergesetzes enthält eine Referentendenkschrift v o m August 1923. BA, N a d i l . Saemisch, N r . 158. — Eine endgültige Neuregelung des Finanzausgleichs sollte nach erfolgreicher Währungsstabilisierung vorgenommen werden. N u r unter dieser Voraussetzung erteilte der Reichsrat seine Zustimmung zu diesem Gesetz. Vgl. H i l d e marie Dieckmann, Johannes Popitz, S. 37.
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Schulz I
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III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Apparate der obersten Reichsbehörden eingetreten sei.29 Hierfür lieferte freilich indirekt das wirksame Vorgehen des Reichssparkommissars eine Bestätigung, wenn er auch die im Reichstag von den Parteien der Rechten am heftigsten angegriffene Reichsfinanz Verwaltung30 aus dem Spiele ließ und sie inmitten ihrer zweifellos schwierigen Aufgaben während dieser Zeit — mit Ausnahme der Zollverwaltung — von seinen Maßnahmen verschonte. Diese bürokratische Institution der Not blieb auch nach Ende der Ruhrkrise und nach der Wiederbefestigung der Währung bestehen, wenn auch ihre Tätigkeit ein anderes Gesicht erhielt. Eine umfangreiche Denkschrift „über die Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung im Reich und in den Ländern", die Reichssparkommissar Saemisch im Dezember 1924 abfaßte, 31 zog das Fazit aus der bisherigen Tätigkeit der Verwaltungsabbaukommission, die die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht sah, „während an durchgreifende organisatorische Veränderungen im Zusammenhange der ganzen Verwaltung in diesem Stadium noch nicht herangegangen werden konnte". Die Schranken, die Saemisch der „bisherigen Sparaktion" gesetzt sah, „sobald größere Gesichtspunkte vorgebracht wurden", veranlaßten ihn nunmehr, einen umfassenden Plan zu entwickeln, der von den „Widerständen der Sachressorts gegen irgendwie ernstliche Eingriffe in ihre Machtsphäre" ausging, „die von Seiten politischer Erregungen und Einstellungen her vielfach die sachlichen Gesichtspunkte zurückdrängten... und jetzt immer stärker hervortreten, je näher man am Ende der Sparaktion zu sein glaubt". Hierzu zählte der Verfasser der Denkschrift nicht nur Reichsverwalüungen, sondern auch Länder und Gemeinden, die „den Abbaumaßnahmen keineswegs in dem erforderlichen Maße gefolgt" waren. Der später vielfach erhobene Vorwurf, daß namentlich in den Gemeinden „wieder ein gewisser Luxus bemerkbar" wurde, das erste Zeichen einer freilich mit beträchtlichen Aufwendungen verbundenen Rückkehr zu normalem Leben, das sich über die Notstände hinwegsetzte, die der Krieg hinterlassen hatte, dieser für die kommunale Selbstverwaltung in ihrer letzten historischen Form so überaus bedrohliche Vorwurf, wurde hier z.um 29
Eine Zusammenstellung der V o t e n der Ressorts zur bayerischen Denkschrift,
deren Kritik sie in großem U m f a n g teilten, deren Revisionswünsche sie jedoch ablehnten, enthielt ein vertrauliches Rundschreiben des preußischen Ministerpräsidenten an die Staatsminister v o m 28. 7. 1924. Entwurf mit Abgangsverm. H A B ,
Rep.
90/185. 30
Vgl. H . Dieckmann, Johannes Popitz, S. 36.
31
68 Seiten, Abdruck mit handschriftl. Zusatz „vom 5/12. 24", BA, R 43 1/1950.
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Verfassungsvereinfachung
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ersten M a l an hoher Stelle in Worte gefaßt. Freilich waren es nicht nur die Bauten für Untergrundbahnen und Theater, die dem Sparkommissar wie vielen späteren Kritikern auffielen und als Abweichung von der N o r m einer von der Kriegshinterlassenschaft karg bemessenen Finanzkraft vermerkt wurden, sondern auch die „unverhältnismäßig hohen Einstufungen ihrer obersten B e a m t e n " und vor allem eine vielfach einseitigen Aspekten folgende Finanzpolitik, die das Aufkommen aus hohen Steuern zum Ausgleich von Kapitalverlusten oder gar zur A n sammlung von Reserven benutzte. Sowohl die Kritiker dieser kommunalen Finanzpolitik, die die Wege einer Kommunalpolitik und K o m munalwirtschaft anzeigte, die nach dem Kriege neuen Bereichen zustrebte, wie jene, die die gesamte öffentliche Verwaltung zu teuer und zu wenig rationell arbeiten sahen, fanden sich vornehmlich in den Kreisen wirtschaftlicher Verbände, so des Reichsverbandes derDeutschen Industrie, der Vereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände oder des Deutschen Industrie- und Handelstages. Ihre Wünsche berücksichtigte Saemisch insoweit, als er jetzt von einer „Sparaktion, die diesen Namen wirklich verdient", verlangte, sie dürfe sich „nicht auf das Reich beschränken und nicht vor den Ländern und Gemeinden, den Versicherungsträgern usw. H a l t machen, sondern sich vielmehr auch auf diese erstrecken und zwar nach einem einheitlichen, im Wege der Verständigung mit den Ländern festzulegenden P l a n " . Nachdem alle Einsparungen bisher im wesentlichen doch nur innerhalb der Grenzen personalpolitischer Maßnahmen geblieben waren, sollten sie sich nunmehr auf das Gebiet der Verwaltungsorganisation im weitesten Sinne erstrecken, was Saemisch, wie auch bisher üblich und wie es aus dem A n l a ß seiner Einsetzung und dem Ursprung der Abbaukommission entsprach, mit dem Hinweis auf die notwendigen Reparationsleistungen begründete. Die Interessenverbindung zwischen Sparpolitik und Wirtschaft ließ Saemisch, wie er es unumwunden aussprach, nunmehr „hoffen, daß von Seiten der Wirtschaft ein Druck auf Länder und Gemeinden ausgeübt und dadurch für das Reich der Boden zu gemeinsamen Sparmaßnahmen mit den Ländern bereitet" werde; denn jede Sparsamkeit setze sich zuletzt in Steuererleichterungen um. Die „Ursachen der Verwaltungsüberorganisation", deren Abbau zur Erörterung stand, da sie sich finanziell in einem „Übermaß an Verwaltungsausgaben" und verwaltungstechnisch in „Reibungen, Hemmungen und unproduktiven Leerläufen" auswirkten, erblickte der Reichssparkommissar sowohl in der „niemals ganz vermeidbaren Zersplitterung der Reichsverwaltung" in sich selbst als auch in dem scheinbar revisions34*
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111. Tendenzen
und, Probleme
einer
Reichsreform
fähigen Zustand des „Neben- und Gegeneinanderarbeitens von Reichsund Landesregierungen und -parlamenten", vor allem aber als Folge des Nebeneinanderbestehens zweier „Großregierungen" in Berlin, letztlich darin, daß das Reich seine Aufgaben in einer solchen Weise ausgedehnt hatte, daß aus „finanziellen Gründen eine Zurückschraubung, eine sachgemäße Selbstbeschränkung" erforderlich schien. Da Saemisch in diesem Punkte seiner Kritik von vornherein auf Unterstützung von Seiten der Länder rechnen durfte, erscheint der von ihm verfolgte Gedanke einer Reorganisation des gesamten Exekutivsystems im Einverständnis mit den Ländern keineswegs unverständlich und auch nicht aussichtslos. Seine Denkschrift erinnerte insofern an die Pläne von Drews und Koch-Weser aus der Frühzeit der Republik, als sie erneut dem Grundsatz zur Geltung zu verhelfen suchte, daß Einheitlichkeit nicht Zentralisation und Zentralismus bedeuten dürfe, sondern „im Gegenteil Zusammenfassen nur des für die Leitung des Reichs und Staats in der Zentrale unbedingt Notwendigen und Abbürdung aller anderen Verwaltungsgeschäfte auf nachgeordnete Organe, aller nicht unbedingt vom Staate zu leistenden Aufgaben auf die öffentlichen Selbstverwaltungskörper. . .". Der Gedanke des dezentralisierten Einheitsstaates war freilich von dem Gesichtspunkt der Vereinfachung und Einsparung bislang noch unberührt geblieben. Saemisch blieb Verwaltungspolitiker des technischen Berufs in einem vollendeten Sinne32 und teilte mit Koch keineswegs das in kommunalen wie in parlamentarischen Erfahrungen geschulte allgemeine politische Urteilsvermögen. Auch bei Saemisch war das bei Preuß, Drews und Koch-Weser erkennbare, in liberalem Ideengut verwurzelte Streben lebendig, den historischen Föderalismus in ein Prinzip umzuprägen, das mit H i l f e der Institutionen der Verwaltung „Erhöhung der Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit der äußeren Glieder unter Wahrung aller Belange der erforderlichen Willensführung und Kontrolle" herbeiführen wollte. Saemisch meinte jedoch nicht selfgovernment, sondern Dezentralisation und verstand unter „Selbstverantwortlichkeit" kaum etwas anderes als Bewahrung und rationellen Ausbau der integrierten 32 An einer Stelle der Denkschrift bemerkt Saemisch über seine isolierende Betrachtungsweise: „Die Beurteilung politischer Gesichtspunkte (Verbesserung der politischen Beziehungen zu den Ländern) i s t . . . nicht meine Sache. Für meine Vorschläge kann es sich vielmehr nur um die Betrachtung handeln: Wie kann in Deutschland am zweckmäßigsten und billigsten regiert und verwaltet werden? Welche Methode ist in den gegenwärtigen bedrückten Verhältnissen des Reichs unter verwaltungstechnisdien und finanziellen Gesichtspunkten die empfehlenswerteste?"
Verivaltuvgs-
und
Verfassungsvereinfachung
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historischen Verwaltungskörper. Diese Dezentralisation drängte in zwei Richtungen. Innerhalb der Reichsverwaltung sollte sie sich als Abbürdung von Aufgaben auf die nachgeordneten Behörden auswirken, durch Zuweisung der Bearbeitung an die Unterbehörden und Übertragung der Aufsicht auf die Mittelbehörden. In allen Verwaltungsangelegenheiten, die nicht in die unmittelbare Zuständigkeit des Reiches fielen und ein reichseigener Unterbau fehlte, sollte ein System der Aufgabenübertragung auf Länder und Gemeinden die Lücken füllen. Der Differenzierung und Dezentralisation des Vollzugs entsprach im entgegengerichteten Sinne die Konzentration der politischen Entscheidung auf eine anonym bleibende Zentralinstanz, die im parlamentarischen Verwaltungssystem nur die parlamentarische Reichsregierung sein konnte. Diese administrative Organisationsidee brauchte infolgedessen vom Prinzip her mit dem Unitarismus der demokratischen Parteien nicht in Konflikt zu geraten. Auf die Reichszentrale konzentrierte sich die politische Entscheidung; auf die Organkörper der Länder und Selbstverwaltungen aber entfiel der Vollzug in einem Umfange, der auch den länderstaatlichen Föderalismus hätte befriedigen können, wie Saemisch meinte: „Eine Selbstbeschränkung des Reichs auf dem Gebiete seiner Aufgaben und ihrer Handhabung wird nicht nur der Verminderung seiner Ausgaben, sondern auch der Reichsfreudigkeit dienen und ein Entgegenkommen in dieser Richtung Konzessionen der Länder nach anderer Richtung erreichen lassen". Wenn von Saemisch auch keine staatstheoretischen Auslassungen überliefert sind, so ist doch in diesen Gedankengängen das Prinzip einer Scheidung zwischen politischer Regierung und unpolitischer Verwaltung deutlich ausgeprägt. Auch seine Einschätzung der Beamtentätigkeit entstammte dem gleichen geistig .1 Quellboden. Saemischs Staatsideal w a r ein weit vom modernen Verwaltungsstaat entfernter liberaler Beamtenstaat. Dies verdeutlicht die f ü r seinen Gedankengang grundlegende Bemerkung des Reichssparkommissars, die Staatsautorität werde „nur groß sein, wenn der Staat nicht in jede Kleinigkeit sich mischt und seine großen lebenswichtigen Aufgaben wirklich gut leistet. Dies kann er aber nur bei einem beschränkten, aus ausgesuchten Kräften bestehenden Beamtenkörper". Hierin lag das Maß, das der AbbauAktion zugrundelag, die durch die Notwendigkeiten drastischer Einsparungsmaßnahmen veranlaßt worden war, jedoch mehr noch als wirtschaftlichen Gesichtspunkten dem Ideal eines vereinfachten und reduzierten, mehr lenkenden und leitenden als reglementierenden Staates folgte, der über „ausgesuchte", in ihrem Fach qualifizierte Beamte verfügte und durch sie lebendig wurde. Hinter diesem Ideal blieb die
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III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Wirklichkeit weit zurück: „Wir haben immer noch zu viel Beamte, die wenig leisten". Freilich hätte dieses Ideal seinen Sinn verloren, hätte es nur für die Reichsbehörden gelten sollen. Für eine „wirksame Dezentralisation" mußte Saemisch freilich mit erheblichen Widerständen rechnen, die sich aus den staatsrechtlichen Verhältnissen des Reiches ergaben, das grundsätzlich nur mit den Ländern zu tun hatte und infolgedessen „Dienstbefehle" nicht unmittelbar an Landesorgane oder an Gemeinden richten konnte. Angesichts dieses U m standes bevorzugte auch Saemisch die Möglichkeit einer vorläufigen norddeutschen Teillösung nach dem Plan, das „übermächtige Gewicht der preußischen Verwaltung" in „eine engere und besondere Verbindung" zum Reich zu bringen, um „eine Stärkung der Reichsregierung durch Herstellung einer weitgehenden Arbeitsgemeinschaft mit Preußen" zu erreichen. Dieser von ihm selbst so bezeichnete „Schwerpunkt" seiner Denkschrift ließ die Probleme der preußischen Hegemonie offenbar ebenso bewußt außer Acht wie die Frage der Provinzialautonomie und beschränkte sich fürs erste auf das Ziel, Personalunionen zwischen einzelnen Ministerien des Reichs und Preussens zu schaffen, „wenn möglich, auf die Verbindung des Amtes des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten in einer Person". Daneben verfolgte er den Gedanken, eine engere Beziehung der Reichsregierung zu der preußischen auch ohne Personalunion zu erreichen, die Saemisch vor allem bei den „technischen" Ministerien f ü r Landwirtschaft, Handel, Volkswohlfahrt und Justiz für möglich und beim Finanzministerium für prüfenswert hielt. Die Verhältnisse zwischen den Innenministerien dagegen sah er als „eine überwiegend politische Frage" an. Saemischs Zurückhaltung „dem Politischen" gegenüber beschränkte sich jedoch in der weiteren Behandlung dieser Fragen nur auf Gebiete, die seiner Ansicht nach variablen Entscheidungen unterlagen und keiner primären Regelung im Grundsätzlichen bedurften. Eine solche Notwendigkeit erblickte der Reichssparkommissar jedoch unbedingt darin, die „für eine parlamentarische Regierung unerläßliche Voraussetzung der politischen Homogenität der beiderseitigen Ministerien" zu schaffen, was er weder mit Einsparungs- noch mit Vereinfachungsargumenten begründete. Die bemerkenswert umsichtige Erörterung dieser Frage, mit der sich die Denkschrift des ehemaligen preußischen Finanzministers Saemisch — wohl nicht unbewußt — den Gedanken zu eigen machte, den schon zwei Jahre zuvor der preußische Staatssekretär Freund vertreten hatte, läßt sogar sehr starke Zweifel aufkommen, ob Saemischs Versicherung, nur dem technischen Einsparungsgesichtspunkt zu folgen,
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Verfassungsvereinfachung
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allgemein und grundsätzlich für diese Denkschrift galt oder ob er das Ende der Abbaumaßnahmen gar nur zum Anlaß nahm, um wesentlich weiter reichende, höchst politische Gedanken in die Erörterung hineinzuziehen. Wie dem aber auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ sich Saemisch von der Einsicht leiten, daß Preußen innerhalb seines Staatsverbandes ähnliche und im wesentlichen sogar die gleichen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, landschaftlichen und politischen Gegensätze zu integrieren hatte wie das Reich. Preußen bot „nach seinem Umfang und seiner Zusammensetzung, nach der Mischung von Industrie, Landwirtschaft und den sonstigen Wirtschaftsinteressen wie auch nach der Mischung der politischen Richtungen innerhalb seiner Bevölkerung ungefähr ein entsprechendes Abbild des Reiches, im Unterschied zu den mittleren und kleinen Ländern, wo bestimmte wirtschaftliche und hier nach rechts, dort nach links mehr einseitig gebildete politische Einstellungen die Oberhand haben. In Preußen ist vermöge seiner Größe der Ausgleich der widerstreitenden Interessen schon in ihm selbst begründet. Für eine Politik der Mitte, die unitarische ebenso wie partikularistische Auswüchse vermeidet, bietet Preußen eine geeignete Grundlage". Die Sprache des erfahrenen Verwaltungsmannes setzte die historischen Probleme in vernunftgemäße, aber auch handgerechte Formen um, um sie als technisch-rationale Fragen behandeln zu können. Selbstverwaltung und Autonomie wichen dem Prinzip der Dezentralisation; und die historische Hegemonie wurde zur Präponderanz der einheitsstaatlichen Integrationskraft Preußens. Mit dieser rationellen Formalisierung in Begriffen wie in Problemen ging sie aber auch der Auseinandersetzung mit aktuellen Kräfteverhältnissen der politischen Wirklichkeit aus dem Wege. Diese Methodik des aus den späten Schulen des Idealismus kommenden Verwaltungsdenkens formulierte Ideen, die sie durch Partikularisierung und Abstufung konkret greifbar zu machen versuchte. Die Analogie der staatlichen Integrationsfunktionen, die Preußen seit langem erfüllte und nun auch das Reich erfüllen sollte, führte zu der Konsequenz, daß eine politische Homogenisierung von Reichs- und preußischer Regierung unbedingt erforderlich sei. Praktische Möglichkeiten, zu diesem Ziele zu gelangen, erblickte Saemisch vorerst in den Personalunionen wichtiger Ministerien und in einem Junktim der Wahltermine f ü r den Reichstag und den preußischen Landtag wie der Auflösung beider Parlamente. D a ß es ihm letztlich darum zu tun war, „der Reichsleitung einen möglichst weitgehenden Einfluß auf das Ganze der preußischen Staatsleitung zu verschaffen", hat der
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Tendenzen
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Reichsreform
Reichssparkommissar keineswegs verschwiegen. Er hat auch anerkannt, daß man nur „eine Stärkung der Reichsgewalt... auf dem Wege einer Verständigung mit Preußen suchen" konnte. Auch, daß hierbei Schwierigkeiten von Seiten anderer Länder zu gewärtigen waren, erkannte Saemisch. Offenbar hielt er aber eine Verständigung mit der preußischen Regierung für wenig problematisch; jedenfalls finden sich keine H i n weise in dieser Denkschrift, die diese Frage berücksichtigen. Sie stellte f ü r die nächste Zeit zwei verschiedene Möglichkeiten zur Erörterung, um dem bezeichneten Ziele näher zu kommen. Bei der Gelegenheit ihrer nächsten Neubildung sollten beide Regierungen aufeinander abgestimmt werden. Sollte sich dies als nicht praktisch oder nicht gangbar erweisen, so hielt Saemisch drei in ihrer Wirkung begrenzte, ohne sonderliche Schwierigkeiten denkbare Neuerungen f ü r den Übergang in Reserve: die grundsätzliche Teilnahme von Reichsministern an den Sitzungen des Preußischen Staatsministeriums, die Bestellung von Reichsministern zu Ministern ohne Portefeuille im Preußischen Staatsministerium und die Ernennung eines besonderen Ministers f ü r den Reichsrat in Preußen, der auch an den Sitzungen des Reichskabinetts teilnehmen sollte. Damit lenkte Saemisch wieder in die bereits vor Jahren von Koch-Weser bezeichnete Bahn ein. Er wollte jetzt aber auch Bayern für seine Pläne gewinnen und schlug daher vor, den Wünschen dieses Landes weiter als bisher entgegenzukommen und eine Bestimmung in die Reichsverfassung einzufügen, die dem Reichsrat gegen verfassungsändernde Beschlüsse der vorgeschriebenen Reichstagsmehrheit nicht nur das Einspruchs-, 33 sondern ein absolutes Vetorecht zubilligen sollte. Dies hätte vielleicht dem bayerischen Verlangen nach einer bundesstaatlichen Garantie entsprochen, die 1922 Gegenstand langwieriger Auseinandersetzungen gewesen war. Die Selbstbeschränkung den Ländern gegenüber, die der Reichssparkommissar an mehreren Stellen seiner Denkschrift dem Reiche dringend empfahl, sollte der Preis f ü r die von den Ländern verlangten Maßnahmen zur Vereinfachung sein, die sich auch auf eine Verminderung der Zahl der Parlamentssitze erstreckte, die in Reich und Ländern insgesamt die Zahl von 2116 erreicht hatte. Sie sollte aber auch ihre Zustimmung f ü r die künftige Gestaltung der Beziehungen der Reichsregierung zu Preußen einbringen, dem nun, da es größtes und stärkstes Land Deutschlands geblieben war, die Aufgabe zufiel, seine materielle Potenz in den Dienst des Reiches zu stellen. 33
Art. 76 Abs. 2 u. Art. 74 RV.
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Verfassungsvereinfachung
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Saemisch gab seine umfangreiche Ausarbeitung zunächst nur Reichsk a n z l e r M a r x zur K e n n t n i s und sah a u f dessen Veranlassung davon ab, sie auch dem preußischen Ministerpräsidenten zuzustellen, wie es ursprünglich in seiner Absicht gelegen hatte. E r scheint sich aber unverzüglich im Reichstag nach H i l f e unter den P a r t e i e n umgesehen zu haben; denn schon einige T a g e später brachte die F r a k t i o n der Deutschen V o l k s partei den A n t r a g ein, einen 28er-Ausschuß einzusetzen mit der A u f gabe, „die R e i c h s v e r f a s s u n g . . . mit Rücksicht a u f die in der Zwischenzeit gemachten E r f a h r u n g e n , insbesondere hinsichtlich der Zuständigkeitsverhältnisse
zwischen
Reich
und
Ländern
auf
den
Gebieten
der Gesetzgebung und V e r w a l t u n g , einer N a c h p r ü f u n g zu unterziehen". 3 4 D i e fast schon ein J a h r zurückliegende Denkschrift der b a y e rischen Regierung dürfte, wie schon in der Formulierung
erkennbar,
bei den ihr zugrundeliegenden Absichten sicherlich nicht P a t e gewesen sein, w o h l aber die vorerst noch diskret behandelte D a r l e g u n g S a e mischs. N a c h Bildung des Reichskabinetts L u t h e r im J a n u a r 1 9 2 5 sandte der Reichssparkommissar sie dann den neu in die Reichsregierung eingetretenen deutschnationalen Ministern Schiele, v. Schlieben, N e u h a u s und F r e n k e n zu, die die für eine Reichs- und V e r w a l t u n g s r e f o r m entscheidenden Ministerien des I n n e r n , der F i n a n z e n , f ü r Wirtschaft und der J u s t i z erhalten hatten, an den Reichsverkehrsminister K r o h n e und den aus B a y e r n k o m m e n d e n Reichspostminister Stingl. D a m i t schienen zunächst freilich die Möglichkeiten Saemischs erschöpft, seinem Ziele näherzukommen. Seine P l ä n e h a t t e er bekanntgegeben. Einstweilen geschah nichts oder doch nur wenig; aber T ä t i g k e i t und Einfluß seiner Behörde k o n n t e n sich im L a u f e der nächsten J a h r e nach allen Richtungen weiter entfalten. H i e r b e i k a m ihr freilich der U m s t a n d zugute, d a ß auch der Reichsrat einen „Sonderausschuß f ü r die Vereinfachung der öffentlichen V e r w a l t u n g " einsetzte, der sich b a l d ebenso wie der Sparausschuß, den der Reichstag ins L e b e n gerufen hatte, der helfenden und informierenden T ä t i g k e i t des Reichssparkommissars bediente. A u f diese Weise k o n n t e er zu einer gleichzeitig nach mehreren Seiten hin beratenden, aber auch Einfluß übenden I n s t a n z werden, die in ihrer beispiellosen Reichstag
Stellung
zwischen
Reichsregierung,
Reichsrat
und
zusehends an U n a b h ä n g i g k e i t und Bedeutung gewann. So
k a m es, d a ß der Reichssparkommissar b a l d gewohnheitsmäßig ständig dem Reichskabinett angehörte und über die häufigen Regierungswechsel 34
(Bd.
Antrag Scholz und Genossen 397).
vom 18. 12. 1924, V h R T I I I . W P e r , Anl. N r . 11
538
111. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
hinweg seinen kontinuierlich fortgebildeten Einfluß zu wußte.
behaupten
Der Einfluß des Reichssparkommissars und seine Kritiker Die Sparkontrollbehörde w a r z w a r keine spezifisch deutsche Institution u n d ist zweifellos auch im voll entwickelten parlamentarischen System von großem Wert. 3 5 Doch nirgends konnte der Boden f ü r Tätigkeit u n d Entwicklung einer solchen bürokratischen Instanz günstiger sein als dort, w o dringende politische u n d wirtschaftliche N o t wendigkeiten zu einer Sparpolitik größeren Stiles zwangen u n d wo sich Parlament, Regierung u n d Bundesorgan auf ihre H i l f e angewiesen zeigten. D e r Reichssparkommissar besaß wenigstens zeitweilig und zumindest in Fragen seines engeren Aufgabenbereiches innerhalb des Reichsministeriums ein außerordentlich starkes Votum. Sogar ein Reichswirtschaftsminister kam hierüber zu Fall. Eine von der Verwaltungsabbaukommission empfohlene u n d v o m Reichssparkommissar entgegen den nachdrücklichen Vorstellungen des Reichswirtschaftsministers im Reichsministerium durchgesetzte Uberleitung der Seeschiffahrtsangelegenheiten auf das Reichsverkehrsministerium, 36 löste Monate währende Streitigkeiten aus, da sich die Reeder u n d Seeschiffahrtsinteressenten benachteiligt und ihre Beziehungen zur Gesamtwirtschaft, vor allem zur Wirtschaftspolitik des Reiches gestört sahen. Sie brachten ihre Forderungen in mehreren Protesten, die an die Reichsregierung gerichtet waren u n d schließlich mit H i l f e der deutschnationalen Fraktion auch im Reichstag vor. Dies f ü h r t e dann eine Ministerkrise herbei, da Reichswirtschaftsminister Neuhaus zurücktrat, 35 Die Vereinigten Staaten schufen mit der Budgetreform vom 10. Juni 1921, also bevor die Tätigkeit des deutschen Reichssparkommissars begann, ein Sparbureau (Bureau of the Budget), das der später im Zusammenhang mit der Geschichte der Reparationen bekannt gewordenen General Dawes leitete. Diese Stelle hatte nicht nur bei der Etataufstellung der Bundesbehörden mitzuwirken, sondern, ähnlich dem Rechnungshof des Deutschen Reiches, auch eine laufende Überwachung der Ausgaben vorzunehmen. Eine zeitgenössische, vermutlich erste deutsche Darstellung, die davon zeugt, daß das amerikanische Beispiel in der deutschen Verwaltung Beachtung fand, gab der Ministerialrat Dr.-Ing. Schäfer, Sparmaßnahmen in den Vereinigten Staaten, Berlin o. J. (Sonderdruck aus „Der Deutschenspiegel", 3. Jg. Nr. 1 u. 2 vom l . u . 8. 1.1926). Über dieses Bureau sowie ähnliche Einrichtungen der Tschechoslowakei und Frankreichs berichtet auch Bilfinger, Der Reichssparkommissar, S. 53 ff.
" PrRM 2 6 . 6 . 1925, Auszug BA, R 43 1/1950.
V erivaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
539
woraufhin der Reichsverkehrsminister auch das Reichswirtschaftsressort übernahm, das dann nach Umbildung des Kabinetts Luther infolge des Ausscheidens der Deutschnationalen aus der Reichsregierung für nahezu vier Jahre in die H ä n d e des Volksparteilers Curtius kam. An der Zuständigkeit des Reichsverkehrsministeriums für die Seeschiffahrt änderte sich nichts mehr. Von Seiten einiger Zentrumsminister der Reichsregierung wurde die Einrichtung des Reichssparkommissars fortgesetzt kritisiert und die Fortführung seiner Tätigkeit in der Zeit der Stabilisierung mit wachsendem Mißtrauen verfolgt. Auch bürokratische Bedenken und Ressortkonkurrenz meldeten sich zu Worte, vor allem solche Stimmen, die das Heranwachsen einer mächtigen und spürbar ressortfremden Aufsichtsinstanz übel vermerkten. Im wesentlichen durch die Tätigkeit des Reichssparkommissars sei der Sparausschuß des Reichtages „zu der Einrichtung geworden, in der er sich gegenwärtig um alle Einzelheiten in der Verwaltung kümmert und sich gewisse Zuständigkeiten anzumaßen bestrebt ist, die reine Ressortaufgaben sind", bemängelte ein Referent der Reichskanzlei die Tätigkeit des Reichssparkommissars. „Während so der Sparkommissar sich hinter den Sparausschuß zurückzieht, zieht sich andererseits das Reichsfinanzministerium hinter den Sparkommissar zurück, und das Ergebnis ist, d a ß . . . die Dinge lediglich oder wenigstens überwiegend vom parteipolitischen Standpunkt angesehen werden". 37 Diese Klage verweist aber doch wohl mehr auf die Schwäche der Koalitionspolitik als auf die grundsätzliche Haltung Saemischs. Der Ministerialdirektor Pünder in der Reichskanzlei unterbreitete noch in den letzten Tagen der Amtszeit Luthers dem Reichskanzler den Vorschlag, das Amt des Sparkommissars zu beseitigen und seine Aufgaben auf den Rechnungshof überzuleiten, der den Vorteil bot, keine Einzelpersönlichkeit, sondern ein Kollegium zu sein, „das viel weniger der Gefahr ausgesetzt ist, politischen Einflüssen zu unterliegen," 38 und das vor allem zu den Sitzungen des Reichsministeriums nicht in corpore zugezogen werden konnte. War es hier der Einfluß unberechenbarer parlamentarischer Kräfte auf die Verwaltung, den die hohen Beamten der Reichskanzlei bei einer Fortführung des Reichssparkommissars befürchteten, so ergaben sich während der Amtszeit des ersten Kabinetts Marx weitere Mißhellig37
Vermerk f ü r den Reichskanzler vom 2 3 . 2 . 1926, BA, R 43 1/1950.
38
Vermerk Pünders mit P a r a p h e des Reichskanzlers vom 3 0 . 4 . 1926, BA, R 43
1/1950.
540
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
keiten, als in einer Ausschußsitzung des Reichsrates Ende Oktober 1926 offenbar wurde, daß sich die bayerische Regierung in Besitz der Denkschrift des Reichssparkommissars vom Dezember 1924 befand, die sie nun f ü r ihre eigenen Pläne verwandte. Die Quelle der bayerischen Kenntnisse war jedoch gar nicht der Sparkommissar, sondern das Reichsfinanzministerium, das die Denkschrift vertraulich den Mitgliedern des Reichsratssonderausschusses f ü r die öffentliche Verwaltung mitgeteilt hatte. 39 Der Reichsfinanzminister erwies sich indes auch in diesem Falle wieder als der starke Rückhalt des Sparkommissars, den er jetzt sogar offiiziell zum ständigen Organ der Reichsregierung mit einem Dauersitz im Reichskabinett machen wollte, 40 was nun aber auf heftigen Widerstand des Reichsarbeitsministers Brauns und der anderen Reichsminister stieß, die sich auf den Grundsatz einer strikten Gewaltentrennung beriefen und die „Zwitterstellung" des Reichskommissars zwischen Reichskabinett, Reichsrat und Reichstag f ü r gänzlich unerträglich hielten. Das Ergebnis war, daß nunmehr einer Kabinettskommission, der außer dem Reichskanzler Reichsfinanzminister Reinhold, Reichsinnenminister Külz und Reichsarbeitsminister Brauns angehörten, die Ausarbeitung von Richtlinien aufgetragen wurde, die die Tätigkeit des Reichssparkommissars künftig verbindlich regeln und einschränken sollte. Es war jedoch ein Irrtum, von diesem Beschluß eine Beschränkung der Tätigkeit des Sparkommissars zu erwarten. In der Sitzung der Kabinettskommission wenige Tage danach blieb die Existenzfrage des Sparkommissars völlig ungeklärt; doch die interne Kabinettsdiplomatie feierte wahre Triumphe. 41 Brauns, der vom Standpunkt des Reichsarbeitsministeriums die Tätigkeit einer Sparkontrollinstanz zunutzen des Reichsrates und des Reichstages für „unerwünscht" hielt, führte scharfe Attacken und wollte lieber mit den Parteien über eine weitere Ausgestaltung des Rechnungshofs beraten, „als den Sparkommissar.. . verewigen". Er erhielt aber von Marx und Külz nur noch geringe Unterstützung, während sich der Reichsfinanzminister fest entschlossen zeigte, am Sparkommissar festzuhalten, so daß die Erörterung wieder an das Gesamtkabinett zurückverwiesen werden mußte, wo sie nun mit 39
V o n Staatssekretär P o p i t z unterzeichnetes Schreiben des Reichsfinanzministers an den Reichsinnenminister vom 6. 12. 1926, Abschr. f ü r den Staatssekretär in der Reichskanzlei BA, R 43 1/1951. 40 V o r t r a g v o n Popitz in der Reichsministersitzung vom 1 . 1 2 . 1 9 2 6 , Ausz. a. d. P r R M BA, R 43 1/1951. 41 Niederschrift über die C h e f B am 10. 12. 1926 BA, R 43 1/1951.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfacbung
541
einem überlegenen Sieg des Reichsfinanzministers zugunsten der Institution des Reichssparkommissars als eines „Vertrauensmanns der Reichsregierung" endete. 42 Die Richtlinien, die der Reichsfinanzminister vorschlug, wurden mit geringfügigen Änderungen angenommen. 43 Sie beauftragten den Reichssparkommissar, „durch Gutachten und Vorschläge auf eine zweckmäßige, vereinfachte und wirtschaftliche Gestaltung der Verwaltung und der gesamten Haushaltsführung" hinzuwirken, hierbei seine besondere Aufmerksamkeit auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Reichsverwaltungen „und die Scheidung der Aufgabenkreise von Reich, Ländern und Gemeinden" zu richten, und gaben ihm das Recht, „jederzeit nach Verständigung mit den Ressortministern auch von sich aus gegenüber der Reichsregierung gutachtliche Äußerungen abzugeben sowie Vorschläge zu m a c h e n . . . " Sie räumten ihm nun auch formell ein bis dahin zwar häufig schon gehandhabtes, jedoch stets umstritten gebliebenes universales Prüfungs- und Informationsrecht und — unter der Bedingung des vorherigen Benehmens mit dem zuständigen Reichsminister — ein Besichtigungsrecht ein, wobei er sich der H i l f e der Landesfinanzämter bedienen konnte. Sie legten außerdem grundsätzlich seine Beteiligung „bei organisatorischen oder finanziellen Maßnahmen" aller Reichsressorts und seine Zuziehung bei der Aufstellung der Haushaltsvoranschläge fest und ermächtigten ihn, „an die Landesregierungen heranzutreten, um sich über Einrichtungen und Tätigkeit von Landes- und Gemeindebehörden zu unterrichten", aber auch auf ihren eigenen Wunsch entsprechende Prüfungen vorzunehmen. Angesichts dieser nun ausdrücklich bestätigten und wohl begründeten Stellung verstand es sich nahezu von selbst, daß der Reichssparkommissar auch noch das Recht verbrieft erhielt, sich an den Sitzungen des Reichsministeriums, des Reichstages, des Reichsrats, des Reichswirtschaftsrates und ihrer Ausschüsse zu beteiligen und innerhalb des Reichsministeriums, „in allen organisatorischen, finanziellen sowie sonstigen mit seiner A u f g a b e in Verbindung stehenden Angelegenheiten" Anträge zu stellen. In Verbindung mit dem Reichsfinanzminister konnte hieraus eine allzuständige Verwaltungskontroll- und reformbehörde unter einem Q u a s i minister entstehen, die auch dem Reichstag bald zugute kommen sollte. Nach dem Auscheiden der Demokraten und dem Wiedereintritt der Deutschnationalen in die Reichsregierung sprach sich der Haushaltsaus42 113
P r R M 1 4 . 1 2 . 1 9 2 6 . Auszug BA, R 43 1/1951. a. a. O., veröffentlicht RMB1 55. Jg., N r . 20, vom 6. 5. 1927.
542
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
schuß zugunsten einer Stärkung des Reichssparkommissars „in der Ausübung seiner Spar- und Vereinfachungsmaßnahmen gegenüber der Reichsregierung" aus und nahm einen von Staatsekretär Popitz unterstützten und vertretenen Antrag seiner sozialdemokratischen Mitglieder an, der eine dahingehende Ergänzung der Richtlinien wünschte, daß die Gutachten des Sparkommissars dem Reichstag auf Verlangen vorgelegt würden und daß er verpflichtet sei, „sich vor dem Reichstag über seine Gutachten uneingeschränkt zu äußern und Fragen zu beantworten". 44 In Verbindung mit einem dauernd arbeitsfähigen Reichstag hätte seine Stellung innerhalb der Reichsregierung dadurch noch mehr gewinnen müssen. Die Reichsregierung zögerte jedoch eine Abänderung der Richtlinien auf Grund dieses Beschlusses recht lange hinaus und setzte sich schließlich nach einem opponierenden Votum des deutschnationalen Reichsverkehrministers Koch,45 dem sich der Minister f ü r die besetzten Gebiete anschloß, 46 gänzlich über ihn hinweg. Man wird freilich dem Amt kaum gerecht, wollte man nicht auch den Mann würdigen, der in der Lage war, es zu einer Institution eigener A r t auszugestalten, auf die weder der Reichsfinanzminister noch Reichstag, Reichsrat und Länder verzichten wollten, da sie sich von ihm eine wesentliche Erleichterung ihrer Tätigkeit durch verwaltungsmäßige Einsparungen und Vereinfachungen wie auch eine wirksame Formalkontrolle der Verwaltungstechniken versprachen. Es war ein Amt, dessen Bedeutung wesentlich aus der Autorität seines Inhabers in allen herkömmlichen Fragen der Verwaltung Nutzen zog.47 Die zum 44 Bericht des ständigen Verbindungsmannes der Reichskanzlei zum Reichstag, Radlauer, vom 24. März 1927, BA, R 43 1/1951. D r S R T N r . 1346 (Antrag H e r m a n n Müller, Stücklen, Steinkopf, Böhm) als Anl N r . 3195 dem R T der III. WPer überwiesen und von ihm angenommen. V h R T , Anl Bd. 414, StenBer Bd. 393, S. 10 578. 45 Schreiben des Reichsverkehrsministers Koch an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 22. 11. 1927, BA, R 43 1/1951. 4 ' Schreiben des Reichsministers für die besetzten Gebiete vom 5. 12. 1927, BA, R 43 1/1951. Dieses Ministerium befand sich in der H a n d des Reichskanzlers Marx. 47 Bilfinger ging so weit, das .„Amt eines Reichssparkommissars" als „ein durchaus persönliches" zu bezeichnen, das „wesentlich als Vertrauensstellung konstituiert" werde. (Der Reichssparkommissar, S. 10.) Ein Kommissar wird in der Regel immer ein Mann des Vertrauens der einsetzenden Instanz und an einen persönlichen A u f trag gebunden sein, mit dessen Ausführung das Kommissariat erlischt. (Vgl. O t t o Hintze, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte [Gesammelte Abhandlungen, hrsg. von Fritz H ä r t u n g , Bd. I], Leipzig 1941, S. 232—264.) Ohne Zweifel hat Saemischs verwaltungspolitische Autorität während der Weimarer Periode viel zur Entwicklung der Stellung des Sparkom-
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
543
Teil heftigen Auseinandersetzungen führten stets nur zu einer Vermehrung der Rechte des Sparkommissars. D a Reichstag und Reichsrat seine Tätigkeit wirksam unterstützten, vermochte er seine Stellung fortgesetzt auszubauen und zu einem Quasireichsminister ohne Ressort, aber mit nahezu universalen Belangen zu werden, denn es gab nur wenige innerpolitische Fragen, die mit der Verwaltungsorganisation und mit Kostenfragen grundsätzlich gar nichts zu tun hatten. Allerdings wurde der Reichssparkommissar zusehends weniger von den Reichsministerien in den Fragen ihrer Organisation herangezogen; das politisch wichtige Auswärtige Amt und das Reichswehrministerium unterlagen nie seiner kritischen Untersuchung. Der Reichsfinanzminister beteiligte ihn jedoch bei der Vorbereitung der Entwürfe zu den Haushaltsplänen wie bei der Behandlung aller Fragen, die eine Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung betrafen 48 . Seine Tätigkeit erstreckte sich schließlich auch auf Länder und Gemeinden. Auf Antrag der Länder Württemberg und Mecklenburg-Schwerin begann er mit einer Prüfung ihrer Verwaltungseinrichtungen, deren Ergebnisse er gutachtlich niederlegte.
Der unsichere
Finanzausgleich.
Biersteuerstreit.
Besoldungsreform
1927
Inflation und Stabilisierung hatten der finanzpolitischen Komponente im Verfassungssystem in Weimar eine neue, letztlich entscheidende Bedeutung zugewiesen. Nach der Neufassung des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden vom 27. April 192649, das nur wenige Änderungen gegenüber dem Änderungsgesetz vom 10. August 1925 brachte, traf das Reichsfinanzministerium Anstalten, den von Preußen wiederholt angegriffenen § 35 des Finanzausgleichgesetzes aufzuheben, 50 der die Garantie eines Mindestanteils an den Einnahmen aus der Einkommen- und Körperschaftssteuer f ü r die steuerschwachen Länder enthielt. 51 Doch in Bayern, das Nutznießer missars beigetragen. Aus der historischen Untersuchung d ü r f t e aber doch deutlich werden, d a ß hier eine Institution entstand, die kaum noch die Bezeichnung des Conimissarius zu Recht f ü h r t . 48 Uberblick über die Tätigkeit des Reichsfinanzministeriums, Berlin 1929, S. 5. 49
R G B l I 1926, S. 203.
50
Referentenvermerk in der Reichskanzlei vom 28. 9. 1926, BA, R 43 1/2388.
51 Die Verteilung des Länderanteils auf die einzelnen Länder entsprach dem Steuersoll ihrer Gemeinden. § 35 r ä u m t e den Ländern, die demzufolge, p r o Kopf der Bevölkerung umgerechnet, einen erheblich unter dem Durchschnitt liegenden Anteil
544
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
dieser Bestimmung des Finanzausgleichs war, ließen sich sofort Stimmen vernehmen, die die gesamte Reichsfinanzpolitik summarisch angriffen, sie kurzweg „verfassungswidrig" nannten und eine durchgreifende Revision des gesamten Steuersystems mit einer eigenen Steuergesetzgebung für Bayern verlangten. 52 Diese Äußerungen hatten nichts mit den Einsprüchen kleinerer Länder 53 gegen die vom Reichsfinanzministerium beabsichtigte Reform gemein. Bayern machte sich nicht etwa zum Sprecher für eine grundsätzliche Beibehaltung dieses Schutzes f ü r die steuerschwachen Länder; im Grunde zielten diese Stimmen auf ein Landessteuerreservat dieses Landes hin. Der bayerische Gesandte in Berlin konnte und mußte hierbei auf die schwierige Finanzlage seines Landes hinweisen, das f ü r eine schwebende Schuld von 100 Millionen Reichsmark zu sorgen hatte. 54 Sebastian Schlittenbauer, der Generalsekretär des Christlichen Bauernvereins und nächst Georg Heim der einflußreichste Bauernführer in Bayern, zog hieraus den Schluß, daß sich das System der Überweisungen von Reichssteuern überlebt habe und daß es infolgedessen beseitigt und ersetzt werden müsse „durch eine reinliche Scheidung der Steuerquellen selbst, über welche die Länder nach eigenem Bedürfnis verfügen können" 55 . Er dachte in erster Linie an die Aufgabe eines bayerischen Staates, sich dem landwirtschaftlichen Kulturbauwesen „zu widmen, und an die Möglichkeit, durch Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung das schwere Defizit unserer Handelsbilanz zu beseitigen" 59 . an den Steuereinnahmen erhielten, einen Ausgleich zu Lasten des Reiches ein: Blieb der Anteil um mehr als 20 °/o unter dem Durchschnittssatz, so war er bis zur Erreichung der Grenze von 20 °/o nachträglich aus den Einnahmen, die dem Reich verblieben waren, zu ergänzen. 52 Bericht der Vertretung der Reichsregierung in München vom 25. 9.1926 über einen Zeitungsartikel des Abgeordneten Schäffer im Bayerischen Kurier, BA, R 43 1/2388. Dort auch weitere Berichte über andere Stimmen vom 29. 9., 2.10., 7. 10. und 25. 10., 3. 11.1926. 63 Ein Schreiben des Lippischen Landespräsidiums an Reichskanzler Marx vom 17.9. 1926 bei den Akten der Reichskanzlei, R 43 1/2388. 54 Vermerk Staatssekretärs Pünders vom 11. 10. 1926 über einen Besuch des Gesandten Ritter v. Preger. Abschr. BA, R 43 1/2388. 55 Sebastian Schlittenbauer, Der Finanzausgleich und seine Bedeutung für die bayerische Landwirtschaft und das Programm der Reichsregierung für die Arbeitsbeschaffung: Mitteilungen der Bayerischen Landesbauernkammer, 8. Jg./Nr. 44 vom 30. 10.1926, S. 359—361 (Referat auf der 28. Vollsitzung der Bayerischen Landesbauernkammer am 23. Oktober 1926). Dieser Vortrag wurde Reichskanzler Marx zugesandt. 511
Entschließung der Bayerischen Landesbauernkammer, a. a. O., S. 361.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
545
Das Vorhaben des Reichsfinanzministeriums scheiterte jedoch schon im Reichskabinett. Ohne jede Unterstützung, blieb Reichsfinanzminister Reinhold nichts anderes übrig, als auf die Aufhebung bis zum endgültigen Finanzausgleich zu verzichten", der einstweilen noch nicht in Sicht war. Doch ebensowenig, wie dieser Entschluß endgültig sein sollte, wollte sich nunmehr die bayerische Landesbauernkammer mit dem bestehenden Zustand zufriedengeben. Auch sie verlangte jetzt einen „baldigen endgültigen Finanzausgleich", freilich im Sinne Bayerns und seines „staatlichen Eigenlebens". Gelänge das nicht, dann gäbe es „einen ehrlichen, schweren inneren Kampf zwischen Reich und Ländern, der mehr geeignet ist, das ganze Gefüge des Reiches ins Wanken zu bringen als die schwersten Anstürme von außen" 58 . Auch diese Gelegenheit ging nicht vorüber, ohne daß der Widerstand gegen „das Joch eines zentralistischen Unitarismus"5® angekündigt wurde. Die objektive Notlage der bayerischen Finanzen ließ indessen in der unmittelbaren Umgebung der bayerischen Staatsregierung nüchterne Überlegungen reifen, durch eine „Änderung des Systems und des auf ihm aufgebauten schematischen Finanzausgleichs" eine Besserung der eigenen Finanzlage zu erreichen."0 Der laut verkündete Widerstand „im Kampf um den Finanzausgleich" wurde nunmehr Mittel zu dem Zweck, die finanzpolitische Grundlage der süddeutschen Länder zu festigen und auf längere Zeit zu sichern. Uber die „Erhaltung der Eigenstaatlichkeit" der kleineren Länder dachte man hier kaum anders als in den Berliner Ministerien." Hinter der vor der Öffentlichkeit zur Schau getragenen Angriffslust und kampfesmütigen Entschlossenheit, „großpreußischen" Plänen zu trotzen,* 2 verbarg die bayerische Regierung weit vorsichtigere Bemühungen, die Reichsregierung ihren Absichten 57
P r R M 27. 10. 1926, Auszug BA, R 43 1/2388. Schreiben Schlittenbauers an Reichsfinanzminister Reinhold Absdir. BA, R 43 1/2388. 58 Ebda. 58
vom
8. 11. 1926,
60 Bericht des Vertreters der Reichsregierung in München vom 9. 11. 1926 über eine Landtagsrede des bayerischen Finanzministers Krausneck, BA, R 43 1/2388. 81 Wiedergabe einer Mitteilung K a r l Schwends, des Herausgebers der Bayerischen Volkspartei-Korrespondenz, im Anschluß an die Rede Krausnecks ebda. 92 Referentenvermerk über einen telefonischen Bericht Haniels aus München vom 13. 11. 1926 zu einer Rede des bayerischen Ministerpräsidenten H e l d , BA, R 43 1/2388. D e r Bayernbund rief die Münchener Bevölkerung zu einer großen K u n d gebung auf unter dem M o t t o : „Bayerns Erhebung gegen die großpreußische Vernichtung Bayerns als Staat." Bericht Haniels vom 4. 12. 1926, BA, R 43 1/2388.
35 Sdiulz I
III. Tendenzen und Probleme einer
546
Reichsreform
geneigt zu machen." 3 A u d i zu den Deutschnationalen spann sie wieder ihre F ä d e n , " die sie wohl schon als politischer P a r t n e r in einer neuen Reichsregierung sah. Im Verlauf der Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und den L ä n d e r n erlitten die bayerischen Wünsche auf preußisches D r ä n gen hin eine Abfuhr, die ihnen ein frühes, aber unwiderrufliches E n d e setzte. Doch an der Seite des größten Landes vermochte dann Bayern eine Sondergarantie des Reiches für einen jährlichen Umsatzsteueranteil der L ä n d e r in H ö h e von 4 5 0 Millionen Reichsmark durchzusetzen.' 5 U n d einen T a g später gab Staatssekretär P o p i t z im Reichsrat eine Erklärung über die Absicht der Reichsregierung ab, die L ä n d e r durch das geplante Gesetz über die Arbeitslosenversicherung
künftig
von
allen Lasten der unterstützenden Erwerbslosenfürsorge zu befreien," die seit der Stabilisierung den Hauptanteil an den defizitären H a u s h a l ten von L ä n d e r n und Gemeinden ausmachten". Mit dem Sturz des ersten Reichskabinetts M a r x und der Bildung eines neuen unter dem gleichen Reichskanzler, jedoch ohne die demokratischen, hingegen mit deutschnationalen Ministern ging die Leitung des Reichsfinanzministeriums von dem sächsischen Industriellen Reinhold, der der demokratischen
Partei
angehörte,
63
Referentenvermerk vom 13. 11. 1926, a. a. O .
44
Meldung im Berliner Tageblatt vom 19. 11. 1926.
auf den
* 5 Referentenniederschrift über die Sitzung der Reichsratsausschüsse
Badenser
für
Steuer-
und Zollwesen, für Volkswirtschaft, für innere Verwaltung und Rechtspflege in der Reichskanzlei vom 8. 12. 1926, B A , R 43 1/2388. Diese Garantie bedeutete praktisch eine nicht unbeträchtliche Erhöhung des Länderanteils, der in den beiden voraufgegangenen „stabilen" J a h r e n bei wenig über 3 8 0 Millionen lag. •• Referentenvermerk für Staatssekretär Pünder über den Verlauf der Reichsratssitzung am 9. 12. 1926, B A , R 43 1/2388. "
Zwischen Anfang
1924 und Sommer 1928 hielt sich die Arbeitslosenzahl
Reichsgebiet auf der vorher nie erreichten H ö h e von
im
l V s Millionen, die sie nie
wesentlich oder für längere Zeit unterschritt. I m Sommer 1928 begann die etwa eineinhalb J a h r e anhaltende Periode einer verminderten Arbeitslosigkeit, doch wuchs bereits in dieser Zeit der Anteil der Dauerarbeitslosen erheblich. Tatsächlich existierte das Erwerbslosenproblem als starke Belastung des öffentlichen Haushalts, von den J a h r e n 1 9 2 1 — 2 3 abgesehen, in der gesamten Ä r a der Weimarer Republik. Bis zum Inkrafttreten
des Arbeitsvermittlungs-
und
Arbeitslosenversicherungsgesetzes
vom
27. Juli 1927 bedrohte es die Länderhaushalte. Nach Eintritt der großen Wirtschaftskrise und mit dem Uberhandnehmen der Dauerarbeitslosen in den ersten dreißiger J a h r e n , dem sich das Gesetz nicht gewachsen zeigte, erschütterten die Wohlfahrtsfürsorgelasten die Gemeindehaushalte und bedrohten sie erneut die Länderhaushalte.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
547
Köhler über, der seine politischen Erfahrungen im Zentrum und seine finanzpolitischen als Zollbeamter der mittleren Laufbahn gesammelt hatte. Dieser Wechsel gab der bayerischen Regierung neuen Anlaß, da der Versuch, im Prinzipiellen eine finanzpolitische Besserstellung zu erreichen, gescheitert war, nunmehr in der Verhandlung von Einzelfragen zum Angriff überzugehen. Mit Preußen gemeinsam hatte sie Ersatz der Schäden an nutzbarem Staatseigentum verlangt, die ihr durch Abtretungen infolge des Versailler Vertrages entstanden waren. Mit Preußen gemeinsam verfocht sie auch die Aufwertungsansprüche aus dem Übergang der Eisenbahnen auf das Reich; an den Postabfindungsfragen war Württemberg, und an den Verhandlungen über die Entschädigung für die Finanzgrundstücke, die die Reichsfinanzverwaltung übernommen hatte, und schließlich f ü r die Wasserstraßen waren auch die übrigen Länder beteiligt. Der entscheidende politische Druck ging stets von Bayern aus*8. Für all diese Forderungen, die Gegenstände langwieriger und überwiegend fruchtloser Erörterungen bildeten, schienen nunmehr günstigere Umstände als vorher zu bestehen. In diesem Jahre 1927 schürzten sich die finanzpolitischen Probleme zum Knoten. Aus den Problemen des Finanzausgleichs erwuchsen zunächst die Biersteuerfrage, in der die Reichsregierung noch aus der Zeit vor dem Zustandekommen des vierten Kabinetts Marx an eine feste Linie gebunden war, die sie nicht ohne die Gefahr eine Konfliktes mit Bayern aufgeben konnte. Der Reichsfinanzminister der voraufgegangenen Regierung hatte bei den Verhandlungen über die Kabinettsbildung zu Protokoll gegeben, daß die bayerischen Finanzen eine Erhaltung des Landes aus eigener Kraft nicht mehr erlaubten und daß ihm daher eine Bevorzugung bei der Neuregelung der Biersteuerfrage zuteil werden müsse. Auf diese Weise rettete er das Ergebnis der Verhandlungen, die Staatssekretär Popitz in seinem Auftrag mit der bayerischen Regierung geführt hatte," auch in die Politik der neuen Regierung Marx hinüber. In den Debatten über den Reichshaushalt und den Finanzausgleich während der Februar- und Märzsitzungen des Reichstags70 gewann dann die Biersteuerfrage hohen politischen e8
Im Reichsfinanzministerium gefertigte umfangreiche „Übersicht über die Aus-
einandersetzung
finanzieller
N a t u r zwischen A. Reich und Bayern, B. Reich und
Preußen", wahrscheinlich 1928 abgefaßt, Abschr. BA, Nachl. Dietrich, N r . 304. 69
Aufzeichnung Koch-Wesers v o m 28. 8. 1927 über eine Aussprache mit Reichs-
finanzminister
Köhler, die die Finanzpolitik seines demokratischen Vorgängers Rein-
hold zum Gegenstand hatte. Nachl. Koch-Weser, N r . 36. 70
35»
Hierüber H . Dieckmann, Johannes Popitz, S. 61 ff.
548
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Rang und Streitwert. Reichsfinanzminister Köhler, kurz vorher noch badischer Staatspräsident, plante, das gesamte Realsteuerwesen reichsgesetzlich zu regeln, die Gemeinden durch Reichskassenzuschüsse f ü r die Aufhebung ihrer Befugnis, Getränkesteuer einzunehmen, zu entschädigen, und hierfür die süddeutschen Länder, vor allem aber Bayern, durch eine erhebliche Erhöhung ihres Anteils am Aufkommen der Biersteuer zu gewinnen. Preußen fühlte sich bei diesen „Sonderfinanzausgleichsverhandlungen" mit Bayern unrechtmäßig benachteiligt und suchte den Grundsatz der generellen Regelung durchzusetzen: „daß das Reich, falls es glaubt, über Mittel f ü r derartige Entschädigungsansprüche verfügen zu können, die Verwendung f ü r alle berechtigten Länder gleichzeitig und gleichmäßig erfolgen läßt". 11 Preußens Anspruch auf Beteiligung an diesen Verhandlungen, ehe eine Festlegung der Reichsregierung erfolgte, und sein erneut ausgesprochenen Verlangen, den § 35 des Finanzausgleichgesetzes in seiner derzeitigen Form zu überprüfen, blieben indessen dieser Reichsregierung gegenüber erfolglos. Eine Parteiführerbesprechung der Regienungskoalition faßte nunmehr den endgültigen Beschluß, es bei den Bestimmungen des § 35 des Finanzausgleichgesetzes zu belassen und den Verteilungsschlüssel des Biersteueraufkommens derart zugunsten der süddeutschen Länder zu verändern, daß Württemberg künftig 8,633 Millionen statt bisher 3,3 Millionen und Baden 5,755 statt 2,2 Millionen Reichsmark zugewiesen wurden. Außerdem erhielt Bayern andere Entschädigungen von insgesamt 6 Milionen zugestanden.' 2 Im Steuerausschuß des Reichstags erhoben nur noch die Vertreter der SPD und der D D P gegen die Begünstigung Bayerns Einspruch 73 . Doch die in der Reichskanzlei gehegte Vermutung, „daß Preußen keine großen Schwierigkeiten mehr machen" würde", erwies sich als völlig irrig. Im Reichsrat brachte Preußen das Gesetz über Änderung der 71 Schreiben Ministerpräsident Brauns an Reichskanzler Marx vom 4. 3. 1927 BA, R 43 1/2388. 72 Niederschrift über die Parteiführerbesprediung am 10. März 1927 über den Finanzausgleich BA, R 43 1/2388. Als Anwesende werden aufgeführt: Reichskanzler Marx, Reichsjustizminister Hergt, Reichsfinanzminister Köhler, die Staatssekretäre Pünder und Popitz, die Ministerialdirektoren Zethlin, Zarden und Dorn und von der D N V P Graf Westarp, Preyer, Gereke, Treviranus, v o m Zentrum v. Guerard und Brüning, von der D V P Becker und Keinath, von der BVP Leicht und Pfleger. 73
Der Beobachter der Reichskanzlei berichtete: „Im allgemeinen habe idi den Eindruck, daß wohl auch die Wirtschaftliche Vereinigung für die Vorlage stimmen wird . . R e f e r e n t e n v e r m e r k vom 14. 3. 1927 BA, R 43 1/2388. 74
Ebda.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
549
Biersteuergemeinschaft beinahe zu Fall. Mit Sachsen, Hamburg, Anhalt, Lippe und Waldeds sammelte es 30 Stimmen, denen eine Mehrheit von 37 bei einer Enthaltung gegenüberstand. 75 Audi in Kreisen der Wirtschaft regten sich Gegenstimmen". In Bayern überwog die Unzufriedenheit mit dem Erreichten bei weitem den Triumph über den Erfolg.' 7 Und Sachsen machte nun eigenen Ansprüche im Anschluß an die Eisenbahnabfindung geltend. 78 Preußen nahm die Schlappe, die es erleiden mußte, keineswegs hin, sondern erhob Klage beim Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches. Es berief sich auf das „unitarische Element in der Reichsverfassung" und versuchte geltend zu machen, daß die in Frage stehenden Vorschriften, die von der Änderung des Verteilungsschlüssels in der Biersteuergemeinschaft betroffen wurden, vor Verkündung der Reichsverfassung von der Nationalversammlung und dem Staatenausschuß beschlossen worden waren, und deutete den Artikel 178 der Reichsverfassung dahingehend aus, daß er diesen verfassungsmäßigen Reichsgesetzen den allgemeinen Verfassungsschutz angedeihen ließe, so daß ihre Änderung eine verfassungsändernde Mehrheit im Reichstag erfordere. Der Prozeß vor dem Staatsgerichtshof schleppte sich über mehr als ein und ein halbes Jahr hin und trug zu einer Besserung der Beziehungen der Reichsregierung zur preußischen Regierung keineswegs bei. Das Urteil bestätigte jedoch den Standpunkt Preußens und erklärte das Gesetz für ungültig. 7 ' Die allen diktatorischen Vereinfachungs- und Einsparungsmaßnahmen zuwiderlaufende Beamtenbesoldungsreform ließ es dann im Herbst 1927 zur erneuten Zuspitzung kommen. Krieg, Nachkriegsteuerung und Inflation hatten auch dem Beamtentum schwere Opfer abverlangt. In Anbetracht der bedeutenden sozialen und politischen Stellung, die es in der Republik einnahm, ist es kaum verwunderlich, daß die 75 Referentenvermerk v o m 9. 4 . 1 9 2 7 BA, R 43 1/2388. V e r k ü n d e t als Gesetz zur Übergangsregelung des Finanzausgleichs zwischen Reich, L ä n d e r n und Gemeinden vom 9. 4. 1927 (RGBl I 1927, S. 91). " Uber eine Entschließung des H a n s a b u n d e s Voss N r . 143 vom 25. 3. 1927. " Bericht Haniels aus München vom 15. 3. 1927 BA, R 43 1/2388. Demgegenüber schrieb der bayerische Finanzminister Krausneck am 8. 4. 1927 an Reichskanzler M a r x : „ . . . a u f r i c h t i g e n D a n k f ü r Ihre großen Bemühungen um das Z u s t a n d e k o m men des Finanzausgleichs". BA, R 43 1/2388. 58 Schreiben des sächsischen Ministerpräsidenten H e i d t an den Reichskanzler vom 18.3. 1927 BA, R 43 1/2388. "> Kölnische Zeitung, N r . 637a vom 1 9 . 1 1 . 1 9 2 8 .
550
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
bescheidene Prosperität der Stabilisierungsperiode nicht ohne Reaktion der Beamtenschaft blieb. Die Klagen über die unzulängliche Besoldung gingen zuerst von der unteren Beamtenschaft aus. In ihrem Sinne brachten die Vertreter der bayerischen Sozialdemokratie Anfang 1926 im Besoldungsausschuß des bayerischen Landtags einen Antrag ein, daß die Staatsregierung bei der Reichsregierung eine allgemeine Anpassung der Gehälter an die seit der Vorkriegszeit erheblich angestiegenen Lebenshaltungskosten erwirken solle.80 Der Zeitpunkt war insofern günstig gewählt, als die reichsgesetzlich verhängte, mehrfach geänderte und verlängerte allgemeine Besoldungssperre am 1. April 1926 endete. Die Bemühungen der Reichsregierung um eine erneute Verlängerung stießen auf den vorbereiteten Widerstand der Länder und scheiterten am 18. März 1926 im Reichsrat 81 . Inzwischen hatten sich auch die meisten der im Reichstag vertretenen Parteien der Besoldungswünsche der Beamten angenommen und eine Reihe von Anträgen zur Anhebung einzelner Verwaltungen, zur Ortsklassendisposition und zur Wohnungsgeldberechnung formuliert. Die Regierungen Bayerns und Sachsens trafen zudem Anstalten zur durchgreifenden Revision der Besoldungsordnungen in ihren Ländern. Auch die Interessenorganisationen der Beamten, vor allem der Deutsche Beamtenbund, rührten sich und eröffneten eine Kampagne f ü r eine Erhöhung der Gehälter in einzelnen oder auch allen Beamtenbesoldungsgruppen. Der Reichsregierung lag daran, das Heft in ihren Händen zu behalten und eine pluralistische Entwicklung des Besoldungsrechts zu unterbinden. Nach Bildung der zweiten Reichsregierüng Marx ließ sich Reichsfinanzminister Köhler daher durch die Demonstration des Deutschen Beamtenbundes mit Zustimmung des Reichskabinetts zu einer öffentlichen Erklärung bewegen, die Reichsregierung glaube, „in der Annahme, daß eine Verschlechterung der allgemeinen Wirtschaftslage nicht eintreten wird, zusagen zu können, daß noch im laufenden Kalenderjahr, und zwar mit Wirkung vom 1. Oktober 1927, eine durchgreifende, alle Beamtengruppen umfassende Reform der Beamtenbesoldung erfolgen wird." Das Reichsfinanzministerium sei bereits mit einem Entwurf beschäftigt, „der bei einer durchgängigen Erhöhung der Bezüge auch eine Änderung des derzeit geltenden Besoldungsgesetzes bringen und die vielen berechtigten Beschwerden beseitigen 80
Bericht der Münchener Vertretung der Reichsregierung vom 22. 1. 1926, Abschr. BA, R 43 1/2568. 81 Nied V R R Jg. 1926, § 180; vgl. § 128e.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
551
s o l l . . ." 8 2 D e r erste Teil dieser Erklärung war mit Kautelen versehen und vorsichtig formuliert; doch der zweite enthielt ohne Zweifel eine Anerkennung der vorgebrachten Forderung und ein Versprechen, das in Anbetracht der parlamentarischen und öffentlichen
Erörterungen
und des starken Interesses, das hierbei in Erscheinung getreten war, unbedingt eingelöst werden mußte. Die Regierungsparteien
waren
hierzu auch entschlossen. Schon wenige Tage, nachdem der Reichsfinanzminister diese Erklärung abgegeben hatte, wurde im interfraktionellen Ausschuß der Regierungsparteien völlige Übereinstimmung mit den Plänen des Reichsfinanzministers erzielt; die Deutschnationalen zogen ihren lediglich im Hinblick auf den Termin des Inkrafttretens der R e f o r m abweichenden Vorschlag zurück. Auch die für die Reichsregierung unangenehmen
finanzpolitischen
Folgen dieser Maßnahmen,
über die im interfraktionellen Ausschuß hinreichende Klarheit bestand, war man zu tragen bereit. U m jedoch eine fortgesetzte Steigerung von Erwartungen und Ansprüchen zu verhindern und die Reichsregierung vom Druck der Länder zu entlasten, beschloß der interfraktionelle Ausschuß,
daß Reichsfinanzminister
Köhler
eine
Konferenz
der Finanzminister einberufen werde, „um sie zu einem offenen Eingeständnis der Tatsache zu veranlassen, daß sie den Beamten zum mindesten nicht weiter als das Reich entgegenkommen könnten" 8 3 . Die Regierungsparteien sagten zu, für die Absetzung der Anträge der Oppositionsparteien im Haushaltsausschuß des Reichstags zu sorgen, was dann auch geschah. 81 Das von den Rechtsparteien gedeckte, jedoch um Fühlung mit den Reichsressorts
wenig bekümmerte
Vorgehen
Köhlers
stieß
in
der
höheren Beamtenschaft auf erhebliche Widerstände. Sein Plan wollte in erster Linie den Beamten der unteren Besoldungsgruppen größere Vorteile bringen. Angesichts der Größe dieser Personalkategorie freilich mit einem beträchtlichen U m f a n g an erforderlichen
mußte Mitteln
gerechnet werden. Es lag auf der H a n d , daß dies nicht ohne schwere 82
D e r W o r t l a u t der P r e s s e e r k l ä r u n g w u r d e in der Sitzung des Reichsministeriums
a m 17. J u n i 1 9 2 7 vorgelegt. B A , R 4 3 83
1/2568.
Niederschrift des Ministerialdirektors in der Reichskanzlei v . H a g e n o w über die
Besprechung des i n t e r f r a k t i o n e l l e n Ausschusses a m 2 0 . J u n i 1 9 2 7 B A , R 4 3 Als A n w e s e n d e
werden
u. a. a u f g e f ü h r t :
die Reichstagsabgeordneten
1/2568.
Oberfohren,
S c h m i d t - S t e t t i n , Q u a a t z und H a r m o n y v o n der D N V P , v . G u e r a r d und
Allekotte
v o m Z e n t r u m , Scholz, M o r a t h und D a u c h v o n der D V P u n d Reichsminister K ö h l e r . 84
R e f e r e n t e n e n t w u r f über die Hauptausschußsitzung am gleichen T a g e B A , R
1/2568.
43
552
III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
politische Komplikationen abgehen würde. Der Reichsfinanzminister nahm in seinen Plänen hierauf jedoch keine Rücksicht: „Die Ressorts sollten nur Kenntnis und Stellung nehmen. Dann wird mit den Ländern verhandelt und das Ergebnis den Ressorts bekanntgegeben werden. Ein Entwurf wird keiner Stelle überreicht." 85 Das war eine in Anbetracht der Schwierigkeiten der obwaltenden Verhältnisse nun doch wohl nicht angemessene Art, diese Frage zu behandeln. Die durch die Besoldungsreform entstehenden jährlichen Mehrausgaben für die Reichsbehörden wurden „auf mindestens 240-260 Millionen R M " geschätzt, die der Reichsbahn auf 180, die der Reichspost auf 150, die der Länder entsprechend höher. Im ganzen stand eine zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte zu erwarten, die hinter den künftigen Reparationsleistungen nicht zurückstand, sie wahrscheinlich sogar übertraf. Die aus mancherlei Gründen wenig zufriedenen hohen Beamten der Reichskanzlei nahmen mit dem preußischen Innenministerium Fühlung, aus dem sie die Nachricht erhielten, daß dort eigene Pläne für eine Besoldungsreform erwogen würden, die erheblich von den Ansichten des Reichsfinanzministers abwichen und in erster Linie die Gehälter der höheren Beamtengruppen, insbesondere der Ministerialräte erheblich aufbessern wollten,8® was allerdings ungleich geringerer Mittel bedurfte als die große Besoldungsreform Köhlers. Das Schauspiel nahm überraschende Formen an. Die von der bayerischen Sozialdemokratie beabsichtigte Reform der Besoldung vor allem der unteren Beamtengruppen war inzwischen zu einem Projekt des Reichsfinanzministers und der Regierungs- und Rechtsparteien geworden und stieß nun auf 85 „Streng vertraulich" bezeichnete handschriftl. „Niederschrift über die [interministerielle] Sitzung vom 16. 8. 1927 im Reichsfinanzministerium wegen der Neuordnung der Besoldung" BA, R 43 1/2568. 8 « Geheimer Referentenvermerk vom 24. 8. 1927 über eine dienstliche Rücksprache mit Ministerialdirektor Brand im preußischen Innenministerium BA, R 43 1/2568. Darin die Mitteilung: „Das Preußische Ministerium des Innern beabsichtige, die höheren Beamtengruppen, insbesondere die Ministerialräte, sehr erheblich aufzubessern. Der preußische Ministerpräsident namentlich habe sich mit einer bedeutenden Erhöhung der Gehälter der Ministerialräte einverstanden erklärt. Der Herr Preuß. Finanzminister geht nicht so weit, wolle aber auch eine bedeutsame Erhöhung zugestehen. Im Gegensatz hierzu sei der Reichsminister der Finanzen gegen eine durchgreifende Besserung der Beamtengehälter der höheren Beamten, insbes. der Ministerialräte. Das Preußische Min. d. Inn. glaube, daß es nicht mehr möglich sei, hervorragende Kräfte in den Ministerien zur Mitarbeit heranzuziehen, wenn man ihnen nicht entsprechende Gehälter bewillige."
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
553
den Widerstand hoher Reichsbeamter und des unter sozialdemokratischer Führung stehenden Preußen, das eine Reform der hohen Beamtengehälter vorbereitete. Bis zum September befanden sich annähernd sämtliche Reichsressorts miteinander im Einverständnis darüber, daß sie den Entwurf des Reichsfinanzministers in dieser Form nicht hinnehmen wollten. Die Aussicht auf einen Entschluß Preußens, mit einer eigenen Besoldungsreform ernst zu machen, die den Intentionen des Reichsfinanzministers zuwiderliefen, spielte hierbei freilich keine unbedeutende Rolle. Audi die wirtschafte- und reparationspolitischen Gesichtspunkte einer umfangreichen Besoldungsreform wurden in die Erörterungen einbezogen, was notwendig war, da Reichsbankpräsident Schacht gerade zu dieser Zeit vor der ausschweifenden Inanspruchnahme des ausländischen Anleihemarktes zu warnen begann. 87 Der privatwirtschaftliche Kapitalbedarf wie der der öffentlichen H a n d hatten sich bis dahin seiner recht ungezwungen bedient, so daß die Mahnungen des Reichsbankpräsidenten zunächst wenig Gehör fanden. Der Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Trendelenburg, nannte sie kurzweg „nicht zweckmäßig". 68 Unter Berufung auf „wochenlange Studien" des Ministerialdirektors Schäffer schwang sich Trendelenburg zu der Prognose auf, daß selbst dann, wenn kurzfristige Kredite in großem Maßstabe gekündigt würden, eine Gefährdung der Währung nicht zu befürchten wäre. Eine einfache Heraufsetzung des Reichsbankdiskonts würde ausreichen, um langfristige Auslandsgelder in ausreichendem Maße zu erhalten. Sie erklärt die unbedenkliche Haltung der Reichsregierung bei der Hereinnahme ausländischer Anleihen, die keineswegs in der überwiegenden Mehrzahl langfristig gegeben wurden. Dies galt als Teil des freien Spiels der Kräfte auf den Höhen der Konjunktur und der Prosperität, in das sich die Reichspolitik nur ungern oder nur in theoretischen Erörterungen einzuschalten bereit war. Diese graueste aller grauen Theorien fand eine Erhöhung der Beamtenbezüge sogar „volkswirtschaftlich erwünscht" 89 , wenn auch unter der ominösen Voraussetzung, daß die Reichsregierung gleichzeitig das allgemeine Lohnniveau unter Druck setzte, um eine Herabsetzung der Kosten und 87 U. a. H j a l r a a r Schacht, Eigene oder geborgte Währung? Berlin 1927; Schacht, Die Stabilisierung der M a r k , Berlin 1927. 88 Referentenvermerk über A u s f ü h r u n g e n Trendelenburgs bei einer Besprechung der wirtschaftlidien Auswirkungen der Neuregelung der Beamtenbezüge und der Frage der Auslandskredite BA, R 43 1/2568. 8
» Ebda.
554
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Preise zuwege zu bringen. Die erhöhte Kaufkraft der Beamtenschaft würde dann zu einer fühlbaren Steigerung des Absatzes führen, dies zur Gewinnsteigerung und diese wieder zur Kapitalbildung, die die Finanzierung von Rationalisierungsmaßnahmen erleichtern würde usf. Diesem Glauben an eine Wirtschaftsbelebung durch Hebung der Beamtengehälter hat Trendelenburg einige Jahre später mit der gleichen Bestimmtheit entgegengewirkt, so daß man nicht sagen kann, Trendelenburg hätte frühzeitig die Ausgabenpolitik des Staates als ein starkes Element der Wirtschaftsbeeinflussung erkannt, was im übrigen auch angesichts der Größenordnung, in der sich die Beamtenbesoldungsreform bewegte, unangebracht wäre. Von dieser Seite drohte der Besoldungsreform Köhlers jedenfalls keine Gefahr. Doch die Aussicht auf noch größere Belastungen der aufs äußerste in Anspruch genommenen Etats hatte schon im Sommer unbeabsichtigte Folgen gezeitigt. Im August berichtete Stresemann, der als Reichsaußenminister die finanzpolitische Situation mit rechter Sorge beobachtete, seinen Ministerkollegen, daß ihm „von ernsthafter Seite mitgeteilt worden war, bei mehreren deutschen Bundesstaaten bestehe der Wunsch, nunmehr ihre Selbständigkeit aufzugeben und in irgendeiner Form Reichsland zu werden" 90 . Reichskanzler Marx suchte des Zündstoffs, den diese Mitteilung enthielt, dadurch Herr zu werden, daß er eine Besprechung dieser Fragen auf dem Empfang der Ministerpräsidenten der Länder in der Reichskanzlei ankündete, der im Anschluß an die Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag des Reichspräsidenten Hindenburg stattfinden sollte. Wie berechtigt die Vorsorge.von Marx war, zeigte sich sofort. Reichspostminister Schätzel, den die Bayerische Volkspartei in die Reichsregierung entsandt hatte, bestätigte zwar die Informationen, die Stresemann wiedergegeben hatte. Er warnte jedoch die Reichsregierung, von sich aus in dieser Hinsicht irgend etwas zu unternehmen. 81 Dem Reichskabinett waren bei dieser Zusammensetzung der Regierungskoalition die H ä n d e gebunden. In Anbetracht der Verhältnisse, wie sie nunmehr lagen, entschloß sich Bayern zu einer Reform seiner Verwaltung. Selbst in München wurden auf Seiten, von denen man früher eine ganz andere Sprache gewohnt war, Stimmen laut, die zu erkennen gaben, daß auch sie die Grundsätze der landesstaatlichen Souveränität allein kaum noch als Mittel ansahen, politische Eigenständigkeit und Selbstbehauptung e
» RMB 10. 8.1927, Auszug BA, R 43 1/1873. Reichsreform: Münchener Neueste Nachrichten, 8. 10. 1927.
91
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und
Verfassungsvereinfachung
555
Bayerns zu verteidigen. Das Schicksal der Länder hinge jetzt von zwei Elementen zugleich ab, analysierte ein bayerischer Anonymus die Situation: vom Reichstag, in dem die Länder völlig machtlos, und von den Landtagen, die in allen Fällen föderalistisch seien. Das entscheidende Problem der Zukunft aber würden die Finanzquellen sein. Dies sei eine Tatsache, die keine günstige Prognose erlaube; denn das Reich habe schon in der Erzbergerschen Finanzreform gesiegt und könne in Anbetracht der schweren Nachkriegslasten seine Politik auch gar nicht mehr von sich aus revidieren. Infolgedessen bleibe den Ländern nur noch die Wahl, sich mit beschränkten Mitteln einzurichten, zur „Staatsvereinfachung", zum Beamtenabbau und zu Rationalisierungsmaßnahmen überzugehen, wie es der Reichssparkommissar verlangt habe, und hierbei auch vor den Parlamenten nicht H a l t zu machen. Wer Hindernisse in den Weg lege, müsse jetzt als „Staatsfeind" betrachtet werden. 92 In der Tat zeigte die bayerische Regierung in den letzten Monaten des Jahres 1927, daß sie selbst einschneidende Maßnahmen nicht scheute.93 Die Einsparungen, die Bayern freiwillig auf sich nahm, reichten freilich nicht aus, um die Etatschwierigkeiten zu beseitigen. Eine fühlbare Entlastung konnte zudem erst nach längerer Zeit eintreten. Reichsfinanzminister Köhler blieb unermüdlich, um die Probleme, an denen er nicht ganz unschuldig war, aus der Welt zu schaffen. Kein Finanzminister der Weimarer Ära vor oder nach ihm hat die Reichsfinanzpolitik in einem solchen Umfang zur tagespolitischen Größe werden lassen wie der einstige badische Staatspräsident Heinrich Köhler. Die wirtschaftliche Konjunktur nahm er zum Anlaß, um die Möglichkeit einer Deckung den Ländern im rosigsten Licht erscheinen zu lassen. Die „vorsichtige Schätzung", mit der der Reichsfinanz82
Gesandter v. Haniel, der sich in seinen Berichten eingehend mit dieser wie mit mancher anderen Stimme befaßte, bemerkte hierzu, d a ß der „größte Teil der Schwierigkeiten gegen alle M a ß n a h m e n der Staatsvereinfachung" von Abgeordneten weniger Wahlbezirke ausgehe. Bericht vom 8. 10., sowie Berichte vom 10. und 26. 10. und vom 9. 11. hierzu, BA, R 4 3 1/1873. 83 H a n i e l berichtete am 25. 11. 1927 ausgiebig über den U m f a n g der Vereinfachungspläne, die die bayerische Regierung in Angriff genommen h a t t e : A u f h e b u n g des Ministeriums des Äußeren, Vereinigung des H a n d e l s - mit dem Sozialministerium, A u f h e b u n g der Kreisregierungen in Landshut, Bayreuth u n d Ansbach, der O b e r landesgerichte in Augsburg u n d Bamberg, von 7 Landgerichten, 61 Amtsgerichten, 24 Bezirksämtern u n d einer Reihe anderer Ämter. Die bayerische Regierung rechnete mit einer Ausgabenminderung von jährlich etwa 15 Millionen M a r k . BA, R 43 1/1873, u. weitere Berichte.
III.
556
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
minister operierte, malte den Silberstreif eines phantastischen Steueraufkommens im Jahre 1928 von rund 430 Millionen Reichsmark an den Horizont einer nahen Zukunft, von dem Köhler 322 Millionen auf die Länder entfallen ließ.94 Diesem Finanzminister des Deutschen Reiches kommt das gewiß umstrittene Verdienst zu, den Staatenföderalismus in seiner derzeitigen Gestalt als einen Komplex finanzieller Fragen begriffen und seine Taktik hierauf abgestimmt, zugleich aber die Probleme eines dauerhaften Finanzausgleichs, die im Augenblick kaum oder nicht lösbar schienen, mit so etwas wie Eleganz umgangen zu haben. Die Länder schienen sich hiermit zufrieden geben zu wollen, als Köhler auch die Möglichkeit neuer Verhandlungen in der Frage der Post- und Eisenbahnabfindungen andeutete. 95 Doch auch die industrielle Arbeitgeberschaft erschien auf dem Plan, da sie — im vollen Gegensatz zu dem Urteil des Staatssekretärs Trendelenburg — von der Besoldungsreform eine Belastung der "Wirtschaft, sei es durch Steuererhöhungen, sei es infolge nachziehender Lohnforderungen der Arbeitnehmer, befürchtete „und zwar in einem Zeitpunkte, den man zum mindesten als kritisch f ü r den Fortgang unserer Wirtschaft bezeichnen muß." 96 Die Erwägung möglicher Selbstkostenerhöhungen war zu diesem Zeitpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung gewiß nicht unbegründet, wenn auch die Behauptung, daß die Besoldungsreform nunmehr die Beamtengehälter den Gehältern der Privatindustrie vorauseilen ließe und eine „erhebliche Unruhe in die Lohn94
Referentenvermerk v o m 6. 10. 1927 über eine „Besprechung des Reichsministers
der Finanzen mit den Finanzministern der Länder über die
finanzielle
Deckung der
Besoldungsreform" BA, R 43 1/2570. Über die A u f n a h m e dieser Mitteilungen bei den Länderministern urteilte der Verfasser dieses Vermerks: „Diese
Mitteilungen
verfehlten ganz offensichtlich nicht ihren Eindruck auf die Ländervertreter.
Ins-
besondere die Vertreter der größeren Länder, mit Ausnahme v o n Bayern, w i e Preußen, Sachsen, Baden und mit gewissen Einschränkungen auch Württemberg
gaben
unverhohlen ihrer Zufriedenheit Ausdruck, wenngleich sie auch alle erklärten, daß sie trotz dieser neuen Summen im nächsten Jahr vor mehr oder weniger großen Defizits stünden. Gänzlich unbefriedigt zeigten sich insbesondere Bayern und Thüringen. Hessen äußerte sich gar nicht." 115
D e r oben genannte Referentenvermerk berichtete hierzu: „Andeutungsweise ließ
Reichsminister Köhler durchblicken, daß in der Frage der Abfindung für Post und Eisenbahn Verhandlungen mit ihm möglich seien." D e r Referent äußerte überdies die Vermutung, „daß das Reichsfinanzministerium auf diesem Gebiete einen Ausgleich vor allem mit Bayern suchen wird". •• Denkschrift des Vorsitzenden der Vereinigung der deutschen
Arbeitgeberver-
bände e. V., Brauweiler, v o m 1 0 . 1 0 . 1927 für den Staatssekretär in der Reichskanzlei BA, R 43 1/2570.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
557
Verhältnisse der Privatwirtschaft hineingetragen" habe,97 kaum glaubwürdig klang. Reichsfinanzminister Köhler erhielt jetzt jedoch nicht einmal im inneren Kreise des Reichskabinetts Zustimmung, als er anhand statistischen Materials diese Behauptung zu widerlegen versuchte.96 Wie ernst sie gemeint war, zeigte sich wenig später, als Nachrichten über das Gesamtausmaß der durch die Regierungsvorlage bedingten Aufwendungen in die Öffentlichkeit drangen und der Reichsverband der Deutschen Industrie nunmehr die schlimmsten Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung voraussagte. 99 Die Prosperität schien mit einem Male gleichsam von einem einzigen seidenen Faden abzuhängen und eine rasche Wende der inneren Wirtschaftsbedingungen in den Bereich der greifbaren Möglichkeiten zu rücken, da das „natürliche" Axiom der Spitzen Verbandspolitik, daß die Steigerung der „Produktivität der Gesamtwirtschaft" jeder Einkommenserhöhung vorausgehen müsse, gestört wurde. Preiserhöhungen konnten nur noch vermieden werden, wenn die durch die Besoldungsreform entstandenen Ausgaben ohne Erhöhung der Steuern, Abgaben und Tarife in Reich, Ländern und Gemeinden gedeckt wurden. Der Reichsverband benutzte daher auch diese Gelegenheit, um nach einer „durchgreifenden Verwaltungsreform" zu verlangen, „die endlich mit Nachdruck in Angriff zu nehmen wäre". Hierin befand er sich in vollkommener Übereinstimmung mit Reichswirtschaftsminister Curtius, der zur Rechtfertigung der Besoldungsreform vor der Öffentlichkeit des In- und Auslandes dem Reichskabinett einen Schritt „auf dem Gebiet der oft versprochenen Verwaltungsreform" empfahl, und mit Reichssparkommissar Saemisch, der hierzu sogleich mitzuteilen vermochte, daß er bereits Vorarbeiten in die Wege geleitet hatte. 100 Es blieb freilich die Frage, auf welche Weise dem noch mit der Besoldungsreform befaßten Reichstag zu gleicher Zeit eine dem Zweck der Einsparung dienende Verwaltungsreform schmackhaft gemacht werden konnte. Zunächst beschloß das Reichskabinett, daß der Reichsfinanzminister eine Erklärung abzugeben habe, daß die Beamtenbesoldungsreform keinerlei Preiserhöhungen nach sich ziehen werde. 101 Wie wenig man 87
Ebda. R M B am 13. 10. 1927, Ausz. a. dem P r BA, R 43 1/2570. 9g Schreiben des Geschäftsführers des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, Herle, an den Reichskanzler vom 26. 10. 1927, auf G r u n d einer Sitzung des Präsidiums u n d des Vorstandes des Reichsverbandes, BA, R 43 I/257C. 100 R M B am 13. 10. 1927. 101 P r R M 18. 10. 1927, Ausz. BA, R 43 1/2570. 88
558
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
sich jedoch dessen sicher war und auf welch unsicheren Grundlagen die Einschätzung des erhöhten Steueraufkommens stand, mit der der Reichsfinanzminister die Länder zu gewinnen versucht hatte, geht aus dem Versuch des Reichskanzlers hervor, noch im letzten Augenblick vor der Annahme des Regierungsentwurfs durch den Reichstag mit den Führern der Regierungsparteien und mit der preußischen Regierung eine generelle Kürzung der Besoldungsvorlage zu vereinbaren. Dieser Versuch scheiterte jedoch an der Haltung des Preußischen Staatsministeriums, das sich nur unter der Bedingung zu einer Beratung bereit finden wollte, daß die Reichsregierung feste neue Beschlüsse in der Frage der Besoldungsreform gefaßt hätte. 102 D a auch f ü r diesen Fall die Stellungnahme der preußischen Minister ungewiß blieb, konnte sie sich hierauf nicht einlassen. Auch dem Ältestenrat des Reichstags gegenüber, in dem jetzt die Vertreter der Regierungsparteien und der Deutschen Demokratischen Partei f ü r eine Verschiebung der endgültigen Behandlung der Vorlage im Reichstag eintraten, 103 setzte sich die Reichsregierung nunmehr f ü r eine beschleunigte Behandlung ein, da sie weitere und neue Komplikationen befürchtete. In der Frage des Reichsschulgesetzentwurfes war es bereits zu einem Konflikt innerhalb der Regierungskoalition gekommen. In der Frage der Besoldungsreform stand noch mehr auf dem Spiel, so daß Eile dem strapazierten Reichskabinett das einzige Mittel schien, von diesem lästigen Komplex endlich freizukommen. Es fand hierin den Reichstagspräsidenten und die Sozialdemokratie an seiner Seite. D a jedoch eine Einigung nicht erreicht wurde, blieb die Entscheidung bis zur Plenarsitzung des Reichstags offen, der dann die Vorlage der Reichsregierüng ganz in ihrem Sinne eilig verabschiedete, so daß das neue Besoldungsgesetz noch vor Weihnachten verkündet werden konnte. 104 Es blieb das sichtbare und letzte Zeugnis einer Periode der Prosperität, dem jedoch in seiner Entstehung bereits die Merkmale einer tiefen inneren Fragwürdigkeit anhafteten. Die Schwierigkeiten, derer sich das Reichskabinett so eilig entledigte, waren nur einstweilen, im Grunde lediglich f ü r die restliche geringe Lebensdauer, die der Regierung Marx noch beschieden sein 102 103
Bericht des Reichskanzlers PrRM 3. 12. 1927, Ausz. BA, R 43 1/2570.
Die Abgeordneten v. Guerard, Scholz, Dietrich, Leicht und Graf Westarp. Vermerk vom 12. 12. 1927 über die Besprechung des Ältestenrates des Reichstags hinsichtlich der geschäftlichen Behandlung des Besoldungsgesetzes BA, R 43 1/2570. 104 16. 12. 1927 (RGBl I 1927, S. 349).
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und
Verjassungsvereinjachung
559
sollte, behoben. Sie wurden in der zeitlichen Folge verlagert, keineswegs beseitigt. Fast genau ein Jahr später, da das Gesetz über die Änderung der Biersteuergemeinschaft durch Urteil des Staatsgerichtshofes zu Fall gekommen war, eröffnete Fritz Schäffer, Finanzexperte der Bayerischen Volkspartei, im bayerischen Landtag einen neuen Angriff auf die Reichspolitik, die er Vertrags- und wortbrüchig nannte, wobei er sich in der Sache auf die Politik Heinrich Köhlers bezog, jedoch den Vorwurf an die Adresse des neuen Reichsfinanzministers Hilferding richtete. E r zog einen Sachverhalt an das Licht der Öffentlichkeit, der vollends Klarheit über Köhlers ad hoc-Politik zu schaffen vermag. Schäffer gab die Existenz eines Abkommens bekannt, in dem sich der Reichsfinanzminister zu sehr weitgehenden Zugeständnissen an die Finanzverwaltungsabfindungsforderungen der bayerischen Regierungen bereit gefunden hatte, um ihr die Auswirkungen der Besoldungsreform erträglich erscheinen zu lassen. Dieser Wechsel, der von Köhler ausgestellt, jedoch nicht eingelöst worden war, wurde nun durch die Erklärung Schäffers vor dem bayerischen Landta , der sich zwei Tage später Ministerpräsident Held anschloß, Hilferdi ig präsentiert. Reichspostminister Schätzel sekundierte diesem Versuch durch die Mitteilung, daß sich auch der Reichskanzler an diese Geheimabrede gebunden habe.105 Staatssekretär Popitz konnte zwar für das Reichsfinanzministerium erklären, daß sich dort kein Schriftstück befinde, das ein Abkommen enthielte; und Hermann Müller traf eine ähnliche Feststellung in bezug auf die Reichskanzlei. Eine eingehende Prüfung der Zusammenhänge ließ jedoch keinen Zweifel mehr, daß die bayerische Regierung hinreichende Gründe für ihre Behauptung vorbringen konnte. Denn Köhler hatte sich, um die Besoldungsvorlage zu retten, am 9. Dezember 1927 in einem geheimen Abkommen, das nachträglich die Zustimmung von Marx erhielt, bereitgefunden, Bayern einige in der Sache zwar nicht sehr schwerwiegende, wenn auch für die bayerische Kassenlage außerordentlich vorteilhafte, im Prinzip jedoch schwerlich vertretbare Sondervergünstigungen einzuräumen,10" die in 105
RMB am 17. 12. 1928, Ausz. a. dem Pr BA, R 43 1/2570.
109
Darstellung in der Übersicht des Reichsfinanzministeriums „über die Ausein-
andersetzungsfragen
finanzieller
Art..BA,
Nachl. Dietrich, Nr. 304, pag. 24 ff.
Die geheimen Zugeständnisse Köhlers enthielten drei Komplexe. 1. Den Ländern wurde seit 1927 eine Entschädigung von jährlich 2V4°/o des Wertes der Grundstücke, Gebiete und des Inventars gezahlt, die der Reichsfinanzverwaltung zur Nutzung überlassen worden waren. Der Wert der bayerischen Grundstücke war vom Reichsfinanzministerium
auf 49,9 Millionen Reichsmark geschätzt worden. Die Geheim-
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III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
der Zukunft zu Komplikationen führen mußten. Wenn auch die rechtliche Verbindlichkeit dieser Geheimabrede, die im Reichsministerium nicht beraten worden war, in Zweifel gezogen und auch von Köhler kein Versuch unternommen wurde, seine Zusagen zu erfüllen, 107 so ist doch der schwankende Boden dieser Reichsfinanzpolitik selbst in den Jahren der Konjunktur unverkennbar. abrede sah vor, den Schätzwert auf etwa 100 Millionen heraufzusetzen. 2. Bayern sollte einen Kassenkredit erhalten, dessen Höhe sich nicht genau ermitteln ließ. Zinsen und Kapitalbetrag sollten nach Abschluß der Verhandlungen über die Postabfindung verrechnet werden. Es handelte sich hierbei um die Vorauszahlung einer späteren endgültigen Postabfindung, über die dann tatsächlich nie eine Einigung erzielt worden ist. 3. Bayern erklärte sich bereit, der Beamtenbesoldung keine Schwierigkeiten zu bereiten und in eine Vereinfachung der Finanzverwaltung innerhalb Bayerns (u. a. Aufhebung von 40 Finanzämtern) einzuwilligen. 107 Zweifel hinsichtlich der rechtlichen Verbindlichkeit deutet die Darstellung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei an. Reichsjustizminister Koch-Weser bezeichnete es in der Reichsministerbesprechung vom 17. Dezember 1928 lediglich als äußerst bedenklich, daß solche Erklärungen abgegeben würden, ohne daß die Reichsregierung hiervon Kenntnis erhielte. Auch der Charakter dieser „Geheimabrede" wird durch die Ubersicht des Reichsfinanzministeriums nicht ganz aufgehellt: „Die Einzelheiten der Abrede sind aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Genauere Einzelheiten stehen nicht zur Verfügung. Die Abrede ist in einem in den Akten des Reichsfinanzministeriums nicht vorhandenen und auch den bayerischen Stellen nicht vorliegenden Exemplar schriftlich fixiert und von den Verhandlungsführern (Reichsfinanzminister, bayerischer Ministerpräsident) paraphiert worden; über den Verbleib dieses Exemplars wird auf mündliche Ergänzung dieser Aufzeichnung verwiesen. Uber die Abrede ist dem Reichstag Mitteilung nicht gemacht worden." Nachl. Dietrich, N r . 304, pag. 26. Die Anfrage des deutschnationalen Abgeordneten Strathmann im Haushaltsausschuß des Reichstags hatte Köhler noch am 22. März 1928 negativ beantwortet. (StenBer d. Haushaltsausschusses, 327. Sitzung.) Erst die Landtagsrede Schäffers am 27. N o vember gab die „Geheimabrede" bekannt. Über den Inhalt einer „mündlichen Ergänzung" findet sich keine Unterlage. Das Reichskabinett Müller verfolgte offenbar den Grundsatz, die Tatsache nicht in Abrede zu stellen, sie jedoch lediglich formal zu behandeln und ihre rechtliche Verbindlichkeit in Frage zu ziehen. Hierüber gibt eine undatierte Aufzeichnung Hermann Müllers über eine Besprechung mit Held im Anschluß an den bayerischen Vorstoß Ende November 1928 Aufschluß, in der der Reichskanzler seine Stellungnahme zum „Köhler-Wechsel" nachträglich niederlegte: „Es sei ihm nicht möglich gewesen, ihn einzusehen. Im Reichsfinanzministerium sei keine solche paraphierte Aufzeichnung vorhanden. Ebensowenig in der Reichskanzlei. Es sei mir jedoch mitgeteilt worden, daß Abmachungen wie die behaupteten tatsächlich erfolgt seien. Köhler habe sowohl Marx wie auch Hergt informiert. Das frühere Kabinett habe jedoch dazu keine Zustimmung gegeben. Ich hätte deshalb . . . die zuständigen Ministerien beauftragt, ein Gutachten darüber abzugeben, wie weit ein einzelner Minister überhaupt solche bindenden Abmachungen treffen könne." BA, R 43 1/2389.
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
561
Abmachungen, Absprachen und Verhandlungen, die unter der Einwirkung wechselnder Gesichtspunkte sich rasch komplizierten und nur schleppend von der Stelle kamen, charakterisieren die
finanzpolitischen
Verhältnisse in den J a h r e n der Stabilisierung. Das offene Problem eines dauerhaft geordneten Finanzausgleichs rächte sich in jedem einzelnen Fall, der neu auftauchte und schließlich ein unentwirrbar erscheinendes Knäuel von Forderungen und Beziehungen entstehen ließ. D e r Aufbau einer Reichsfinanzverwaltung und der Übergang der am fließenden
stärksten
Steuerquellen in die Verfügung des Reiches ist von den süd-
deutschen Ländern
nie verwunden worden, obgleich die
Situation
Deutschlands nach dem Frieden von Versailles gar keine andere W a h l ließ. In der T a t hatte die Reichsfinanzreform Erzbergers dem Staatenföderalismus der Vorkriegszeit die materielle Grundlage genommen. Was daran zu ändern möglich war, konnte nur auf dem Weg von Kompromissen angestrebt und erreicht werden. Hierzu fehlte es indessen bei allen Beteiligten an der nötigen Bereitschaft. D i e größeren Länder bemühten sich, ihre Ansprüche auf eigenstaatliche Existenz, soweit sie einer materiellen Grundlage bedurfte, durch Dotationen zu sichern, die sie sich durch unbeirrbar verfochtene Rechtsansprüche zu verschaffen —
suchten.
Mit
hochgeschraubten
Abfindungsforderungen
Preußen auch durch Entschädigungsforderungen für Friedensver-
tragsfolgen — suchten sie gleichsam von der W a r t e und in der Position des Klägers in einem privaten Rechtsstreit dem Reich einen
finanziellen
Ersatz für die erlittene Einhuße föderativer Strukturverhältnisse abzuringen. D i e ungleichartige Verteilung der Lasten, die durch die Verfassungsrevision wie durch den Friedensschluß entstanden waren, in eine tragbare, gerechte und billige umzuwandeln, hätte gewiß auch zu den großen Aufgaben eines endgültigen Finanzausgleichs zählen müssen, der niemals zustande kam. Die bi- und teilweise multilateralen Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und Länderregierungen in Einzelfragen kamen der Umgehung eines dauerhaften Ausgleichs, aber nicht endgültigen Regelungen zugute und trugen zudem die Keime neuer, in ihren Auswirkungen kaum einschätzbarer Komplikationen und Konflikte in sich. Unter diesen Umständen verließ die Reichsfinanzpolitik niemals das Stadium permanenter Improvisationen
auf den ungesicherten
oder
doch nur teilweise als sicher geltenden Grundlagen des auch in der kurzen Periode eines allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs weder zur Ruhe noch zum inneren Ausgleich gelangenen
Interessenbundes-
staates. Die Finanzpolitik der Länder aber sah sich in wechselndem 36
Schulz I
III. Tendenzen und Probleme einer
562
Reichsreform
M a ß e von der Reichsfinanzpolitik abhängig. Mehrbelastungen von der Größenordnung, wie sie die Besoldungsreform brachte, drohten einzelne Länderhaushalte vollends aus dem Gleichgewicht zu heben, da sie sich mit den Mitteln, die den L ä n d e r n zur Verfügung standen, nicht mehr auffangen ließen. Sie mußten in irgendeiner F o r m auf das Gesamtgefüge des Finanzausgleichs zurückwirken,
falls man nicht zur
Revision nach unten schritt, zum Druck auf die herkömmlichen Ausgaben durch einschneidende Sparmaßnahmen, um für die neuen Lasten Spielraum zu gewinnen. Diese Pression wirkte aber auch von außen, als erkannt wurde, daß der Generalagent für die Reparationszahlungen „mit unverkennbarem A r g w o h n jede Übernahme von Mehrleistungen an die L ä n d e r als absichtsvolle Schwächung der Leistungsfähigkeit des Reichs zu betrachten geneigt ist." 1 0 8 U n t e r dem unausweichlichen Z w a n g zu einsparenden Vereinfachungen, sofern er glaubwürdig und fühlbar wurde, eröffnete sich auch der einzige bis dahin nicht begangene Weg, zu einem Consensus unter den Beteiligten zu gelangen, der sich in der F r a g e der Rationalität und der Kostenverursachungen durch föderative oder zentralistische Organisationsprinzipien noch nie ergeben hatte. 1 0 6 Schließlidi entsprach es in mehr als einer 109
Stellungnahme des Reichsministers der Finanzen in einem Schriftwechsel über
die preußisdien Entschädigungen für verlorenes nutzbares Staatseigentum und andere Kriegs-
und Friedensvertragsfolgen,
Januar
bzw. M ä r z
1925, Abschr.
BA,
N a d i l . Dietrich, N r . 3 0 4 , pag. 123. 109
D i e Argumentation zugunsten etatpolitischer R a t i o n a l i t ä t spielte eine hervor-
ragende politische Rolle. Die bayerische Denkschrift von 1924 versuchte die kostspielige Vermehrung von Behörden und Beamten ausschließlich der Reichsverfassung von Weimar zur Last zu legen. Sehr häufig benutzten aber auch die Gegner eines F o r t bestehens der historischen Länder das Argument, daß diese viel zu hohe V e r w a l tungskosten verursachten. H u g o Preuß nannte ihre Existenz einmal etwas unwirsch „Kräfte und Mittel vergeudend" (Um die R.eichsverfassung, S. 3 3 ) . O t t o Braun behauptete sogar, daß ein föderativer S t a a t immer teurer sein werde als ein zentralistisch organisiertes Staatswesen
(Braun, Deutscher Einheitsstaat oder
Föderativ-
system?, Berlin 1927, S. 18), gestand aber bei einer späteren Gelegenheit zu, daß Kostenmaßstab und „praktische Auswirkung" des einen oder anderen Systems „zahlenmäßig überhaupt nicht" dargestellt werden könnten. Vgl. D i e
Länderkonferenz
( J a n u a r 1928), hrsg. vom Reichsministerium des Innern, Berlin 1928, S. 54. O t t m a r Bühler machte später geltend, daß „nicht organisatorische Dinge, sondern U m f a n g und Art der Ausführung der materiellen Aufgaben für den U m f a n g des Staatsbedarfs entscheidend" sei und folgerte daraus einen „wesentlichen Vorsprung"
der
Kleinstaaten (Bühler, D e r Sparkommissar, S. 3 3 ) . Koch-Weser bediente sich ebenfalls der These vom „billigen Einheitsstaat"
(Einheitsstaat und
Selbstverwaltung,
S. 19 f.), der von bayerischer Seite am schärfsten widersprochen wurde (Ministerialrat Sommer, Bundesstaat, Einheitsstaat und die Höhe der öffentlichen
Ausgaben,
Verwaltungs-
und
Verfassungsvereinfachung
563
Hinsicht auch dem Wunsch der Länder, der freilich aus Gründen der immer wieder hervorgekehrten eigenstaatlichen Autonomie niemals offen erklärt oder eingestanden wurde, „daß seitens der Reichsregierung stark auf die vereinfachende Verwaltungsreform in den Ländern gedrückt" werde 110 .
München—Berlin 1928). Die wirtschaftlichen Spitzenverbände n a h m e n in einer gemeinsamen Denkschrift eine statistische Durchleuchtung der H a u s h a l t e des Reiches und der Länder vor, die ergab, daß einige der kleineren Länder im Verhältnis zur Steuerkraft der Einwohner die höchsten A u f w e n d u n g e n zu verzeichnen h a t t e n : Waldeck, die beiden Mecklenburg, Schaumburg-Lippe, Lippe, Thüringen und Hessen. Günstiger schnitten jedoch Braunschweig, A n h a l t und O l d e n b u r g ab. (Walter A d a metz und Karl Eugen Mössner, Die deutsche Verwaltungs- und Verfassungsreform in Zahlen, Berlin o. J . [1927]). Die eigenen Bemühungen der Länder um Einsparungen und Rationalisierungen in ihrer V e r w a l t u n g entwickelten sich vor der großen wirtschaftlichen Krise erst in Ansätzen. Die gutachtliche und beratende Tätigkeit des Reichssparkommissars e r f u h r aber bereits 1928 dadurch eine Erweiterung, d a ß auf A n t r a g von Württemberg und Mecklenburg-Schwerin eine P r ü f u n g der Verwaltungseinrichtungen dieser beiden Länder begonnen w u r d e . 1928/29 bestand überdies ein Reichsratsausschuß f ü r die Vereinfachung des öffentlichen Kassenwesens. 110 Vertrauliche Niederschrift Staatssekretär Pünders f ü r Reichskanzler M a r x vom 22.11.1927 über Mitteilungen des sächsischen Gesandten G r a d n a u e r BA, R 43 1/1873.
36''
VIERZEHNTES
KAPITEL
Entstehung und Bedeutung eines gemeinsamen Programms zur Reichsreform (1928 — 30) Ankündigung
einer
Länderkonferenz
D i e Anwesenheit der Regierungschefs bei der Feier des 8 0 . G e b u r t s tags Hindenburgs am 2. O k t o b e r 1 9 2 7 in Berlin b e n u t z t e der Reichsk a n z l e r am nächsten T a g e zu einer Aussprache über eine R e i h e schwebender politischer Probleme, zu denen der Reichsschulgesetzentwurf, die Besoldungsreform, der P l a n eines Steuerrahmengesetzes und das seit J a h r e n vorbereitete und umstrittene Liquidationsschädengesetz gehörten. Dies waren ausnahmslos Gesetze, die das Verhältnis des Reiches zu den L ä n d e r n im Grundsätzlichen berührten und die prinzipielle F r a g e nach der künftigen Gestaltung dieser Beziehungen
aufwarfen.
Ministerpräsident B r a u n und H a m b u r g s Bürgermeister Petersen setzten sich hierbei erneut f ü r das Ziel des „Einheitsstaates" ein, diesmal unter H i n w e i s auf einige große A u f r u f e , die die V e r b ä n d e der W i r t schaft und der Deutsche S t ä d t e t a g zugunsten einer „Neugestaltung des Reichs"
an die Öffentlichkeit
gerichtet hatten. D i e
Verhandlungen
endeten d a m i t , d a ß eine Sondersitzung der Reichsregierung mit V e r tretern der Länderregierungen in Aussicht genommen wurde, die durch eine A n z a h l von R e f e r a t e n u n d K o r r e f e r a t e n eingeleitet werden sollte. D e r Reichskanzler w o l l t e a u f diesem W e g e eine Möglichkeit ansteuern, die die überhandnehmenden Schwierigkeiten mit den L ä n d e r n
einer
sachlich-technischen E r ö r t e r u n g überwies. Seine Regierung gewann zunächst Zeit,
um
die Besoldungsreformvorlage
durchzubringen.
Die
latente K r i s e in der Regierungskoalition ließ sich fürs erste ü b e r b r ü k ken, indem das Verlangen der Deutschen V o l k s p a r t e i nach einer durchgreifenden
Verwaltungsreform
anerkannt,
ihren
Gegnern
in
dieser
F r a g e , v o r allem den Deutschnationalen und der Bayerischen V o l k s partei, jedoch noch nichts genommen wurde. Diese A r t , ein größeres R e f o r m v o r h a b e n in Aussicht zu stellen, entsprach aber auch den E r wartungen, die in der Öffentlichkeit in anhaltenden E r ö r t e r u n g e n zum Ausdruck kamen, die seit der bayerischen Denkschrift v o n 1 9 2 4 nicht
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
565
mehr abbrachen und nun unverkennbar einem Höhepunkt zueilten. Schließlich war es auch angezeigt, dem beobachtenden Ausland und vor allem der Reparationskommission gegenüber, die sich während der langwierigen Behandlung der Besoldungsvorlage zusehends stärker alarmiert zeigte, den ernsthaften Willen der Reichsregierung zu bekunden, Einsparungs- und Rationalisierungsmaßnahmen in der Staatsorganisation in die Wege zu leiten. Das Interesse, das auf Grund der Berichte des Reparationsagenten ein Teil der englischen Presse an der staatsrechtlichen Gestaltung Deutschlands nahm, und die hierbei geäußerten Auffassungen waren schon gelegentlich als „eine politische Gefahr nicht nur f ü r die Länder, sondern ebensosehr für das Reich" bezeichnet und hiervon eine „Präoccupierung der öffentlichen Meinung des Auslandes" befürchtet worden. 1 Schon die bloße Ankündigung einer „Länderkonferenz", wie die vorgesehene Sondersitzung der Reichsregierung mit den Vertretern der Länder bald allgemein genannt wurde, gab einen neuen Anstoß, obgleich noch nicht einmal ein Termin in Aussicht genommen worden war. Fast zur gleichen Zeit gelangte aus offiziellen Kreisen Hessens der Gedanke an die Öffentlichkeit, die Probleme, die sich auch der hessischen Finanzpolitik boten, dadurch aus der Welt zu schaffen, daß das Land „Reichsland" wurde und seine bisherige Selbständigkeit aufgab. Der exemplarische Fall eines Landes, das von sich aus im Reich aufzugehen bereit war, schien sich hier nun deutlich abzuzeichnen. Die bayerische Regierung und die Bayerische Volkspartei, die wohl fürchteten, daß dieses Beispiel alsbald Schule machen würde, bezogen sofort gegen derartige Pläne im Grundsätzlichen Stellung und verteidigten den historischen Staatenföderalismus mit den Prinzipien der Weimarer Reichsverfassung, die sie hier bedroht sahen: Die Vorschriften des Artikels 18 würden in Frage gestellt und die verfassungsmäßig festgelegte Zusammensetzung des Reichsrates gefährdet werden. 2 Aus Bayern ließen sich gerade zu diesem Zeitpunkt aber auch einige maßvollere, von einsichtsvollen Analysen der politischen und finanzpolitischen Situation ausgehende Stimmen vernehmen, die die bayerische Öffentlichkeit mit den recht umfangreichen Plänen der „Staatsvereinfachung" vertraut zu machen und eine Atmosphäre herbeizu1 Schreiben des bayerischen Finanzministers Schmelzle an den Staatssekretär in der Reichskanzlei vom 20. 7. 1927, Absdir. BA, R 43 1/1861. 2 Beridit der Vertretung der Reichsregierung in München vom 7. 10. 1927, BA, R 43 1/1873.
566
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
führen wünschten, in ¡der eine ruhige, von Emotionen freie Erörterung aussichtsreich erschien. Man sprach zwar von einem Konkurrenzkampf zwischen Reich und Ländern um die Geldquellen, in dem das Reich Sieger geblieben sei, aber auch davon, daß es nun an der Zeit sei, daß Reich und Länder gemeinsam zur Revision der bisher verfolgten Politik schritten. 3 Und auch dort, wo, alten bayerischen Regeln folgend, die Ausschaltung des Rechtsdenkens durch die Berliner Behörden beklagt und die Politik der Reichsregierung Bayern gegenüber als eine einzige Kette von Rechtsbrüchen angesehen wurde, kam ein versöhnlicher Ton dadurch auf, daß man sich überraschend geneigt zeigte, „Mißverständnissen" und der Unfähigkeit, sich in die andere Seite „hineinzuversetzen", die Schuld zu geben, die auch dem Süden Deutschlands keineswegs fremd sei.4 Zwar gab es noch reichlich Mißfallenskundgebungen und manches „entrüstete Echo" über die zahlreichen Vorschläge und Pläne f ü r eine Reichsreform, soweit sie über die alten Ländergrenzen hinwegschritten, was die meisten von ihnen taten, oder über allzu eindeutige Gleichsetzungen von Reichsinteressen und preußischen Belangen; 5 auch im württembergischen Landtag erklärten sich der der Deutschnationalen Bürgerpartei angehörende Staatspräsident Bazille und der Zentrumsabgeordnete Bock in scharfer Form gegen den Einheitsstaat und die Bestrebungen, die zu ihm hinführen sollten. 6 Doch im allgemeinen hatte sich der Ton gemäßigt; und wo die Auseinandersetzung hitzig wurde, galt sie doch in erster Linie der Vokabel des Einheitsstaates, die zur Identifizierung von Parteien und Programmen längst nicht mehr ausreichte, da fortgesetzt neue Spielarten und sachlich begründete Details zur Diskussion gelangten. „Die Gegner des Einheitsstaates sind in der Defensive." Darüber wurde man sich nunmehr in Süddeutschland klar, so daß sich auch dort Stimmen vernehmen ließen, die eine Änderung in den Verhältnissen der kleineren Länder in Kauf nehmen, die großen aber als lebensfähige Gebilde erhalten wollten. 7 Nach dieser Auffassung erschien eine Aufteilung Preußens nicht mehr erforderlich; f ü r sie wurde dieses 3
Reichsreform: Mündiener Neueste Nachrichten vom 8. 10. 1927; hierzu Bericht
Haniels vom gleichen Tage, BA, R 43 1/1873. 4
Mißverständnisse: Münchener Neueste Nachrichten vom 2 6 . 1 0 . 1927; Bericht
Haniels vom gleichen Tage, BA, R 43 1/1873. 5 Berichte Haniels vom 10. 10. und 9. 11. 1927 BA, R 43 1/1873. • Deutsche Zeitung, Nr. 260 a vom 5 . 1 1 . 1 9 2 7 . 7
Frh. v. Biegeleben in der Augsburger Postzeitung, Nr. 5 vom 6 . 1 . 1 9 2 8 ; Forts,
in Nr. 6 vom 8 . 1 . 1928.
Gemeinsames Programm zur
Reichsreform
567
größte L a n d vielmehr zum stärksten U n t e r p f a n d eines lebensfähigen föderativen Systems, das sich mit stärkster K r a f t jeder Beeinträchtigung der Länderrechte als hindernder Block in den W e g legen konnte. F r e i h e r r von Biegeleben w a r sogar der Meinung, daß zwischen dem dezentralisierten
Einheitsstaat mit autonomen P r o v i n z e n und
einer
Neugliederung unter E r h a l t u n g eigenstaatlicher L ä n d e r kein unüberbrückbarer Gegensatz bestünde. E i n K o m p r o m i ß schien möglich, sob a l d nur der Anspruch der Eigenstaatlichkeit selbst gewahrt blieb. A u f solche Weise k a m e n ständig neue Vorschläge ins Spiel. E s w a r jedoch die föderalistische Partei, die sich stärker als ihre G e g n e r a u f zulösen
begann. S o g a r der überparteilich
organisierte
Föderalismus mäßigte sich, seitdem in der
großdeutsche
„Reichsarbeitsgemeinschaft
deutscher F ö d e r a l i s t e n " eine Zusammenfassung seiner K r ä f t e zustande gekommen war 8 . Sein P r o g r a m m wurde allgemeiner, blieb aber so umfassend wie nur irgend denkbar. E s forderte ein „starkes, hegemoniefreies",
ein
„festgefügtes, bundesstaatliches
Reich"
mit
„sich
selbst
verwaltenden H e i m a t l ä n d e r n " , eine „starke, gemeinsame Reichszentralgewalt und lebendige Selbstverwaltung der G l i e d s t a a t e n " , „ u n a u f lösliche Reichsgemeinschaft und Schicksalsverbundenheit der deutschen S t ä m m e " und „sozialpolitisch eine neue Volksordnung, die den M e n schen wieder enger verknüpft mit Familie, Betrieb, B e r u f , Scholle und H e i m a t , so zugleich die organischen Zwischenglieder zwischen E i n z e l individuen und S t a a t neu b e l e b e n d " , — eine Verwirklichung also all der Wünsche, die die großdeutsch gesinnte politische Bewegung
im
19. J a h r h u n d e r t gehegt hatte. D i e rheinisch-katholische G r u p p e , die in d e r „Reichsarbeitsgemeinschaft" den T o n anschlug, vermochte aber a u f die Zentrumspartei keinen bestimmenden E i n f l u ß mehr zu gewinnen. Brüning, der j e t z t als E x p o n e n t eines verjüngten rechten Flügels in den V o r d e r g r u n d
drängte, kritisierte
den
„wirklichkeitsfremden
historischen R o m a n t i z i s m u s " des Reichs- und H e i m a t b u n d e s durchaus nicht milde.* Doch gerade die Stellung des Zentrums w a r für die Zukunft des Föderalismus entscheidend; denn ohne die innere Bereitschaft dieser P a r t e i blieb eine Reichsreform schlechthin undenkbar. Durch den L a n 8
Diese V e r b i n d u n g des „Reichsbundes deutscher F ö d e r a l i s t e n " mit dem
und H e i m a t b u n d e
deutscher
Katholiken"
fand
in einer gemeinsamen
„Reichs-
Sitzung
am
2 5 . September 1 9 2 7 in F r a n k f u r t a. M . statt. Bericht des Polizeipräsidenten in F r a n k f u r t an den Regierungspräsidenten in W i e s b a d e n v o m 8. 1 2 . 1 9 2 7 mit dem W o r t l a u t der Gründungsentsdiließung und einem A u f r u f , H A B , R e p . 9 0 / 2 2 6 . • G . Senger, P o l i t i k der deutschen Z e n t r u m s p a r t e i , S. 9 9 .
568
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
deshauptmann der Rheinprovinz, Horion, den rheinischen Landesrat Kitz, den württembergischen Ministerpräsidenten Bolz und schließlich Brüning sprachen sich innerhalb dieser Partei recht unterschiedliche Richtungen aus. Mit ihren „Richtlinien zur Reichsreform" vom 8. M ä r z 1928 10 suchte sie das innere Einvernehmen in diesen Fragen wiederherzustellen und sich der allgemeinen Bewegung anzuschließen, was nicht zuletzt in Rücksicht auf den beginnenden W a h l k a m p f zur Reichstagswahl geschah. Ihr programmatisches Schlagwort von der „Herbeif ü h r u n g eines echten Föderativstaates" bezeichnete in der Sache eher eine vorsichtige, wenn auch nicht gänzlich widerspruchsfreie Parteinahme zugunsten einer starken Zentralgewalt bei gleichzeitiger p r a k tischer Dezentralisation von Verwaltungsaufgaben im Sinne einer „ H e b u n g der Selbständigkeit der unteren Behörden u n d Gemeinden behufs Einschränkung des Instanzenweges unter Ausbildung verantwortlicher Selbstverwaltung." Von >den Ländern w u r d e nur Preußen namentlich erwähnt und eingehend behandelt. Es sollte in eine möglichst enge Beziehung zur Reichsregierung treten, seine innere Zentralisation jedoch keinesfalls fortsetzen. Ein Versuch, auf dem Wege von Verfassungsänderungen Hoheitsrechte der L ä n d e r einzuschränken, wurde im übrigen z w a r prinzipiell abgelehnt; doch auch die „Richtlinien" kehrten zu der Unterscheidung zurück zwischen „lebensfähigen" Ländern und solchen, die „zur E r f ü l l u n g ihrer staatlichen Aufgaben dauernd unfähig sind" und die daher „nicht grundsätzlich aufrecht erhalten werden" sollten. Einen praktischen Weg wiesen die „Richtlinien" freilich nicht. Wert u n d Sinn dieses Zentrumsprogramms lagen in der anerkennenden Zusammenfassung von bekannten Grundsätzen und ihrer Milderung und Glättung. Die letzten Gegensätze zwischen Reform und Bewahrung der staatenföderalistischen Tradition wurden kaum andeutungsweise berührt. Ein Vorstoß
des
Reparationsagenten
Außerordentliche Wirkungen gingen von einem M e m o r a n d u m des Reparationsagenten an die deutsche Regierung vom 20. O k t o b e r 1927 aus, das ein neues Signal gab." Bis dahin hatte die Diskussion über die Reichsreform in der breiten Öffentlichkeit einen amorphen Charakter. Diese Denkschrift aber, die unmittelbar mächtige wirtschaftliche I n 1(1 11
Abgedruckt a . a . O . , S. 110 f.
Gedruckt als Anlage zur deutschen amtlichen Veröffentlichung des Berichts des Generalagenten für Reparationszahlungen, 10. Dezember 1927.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
569
teressen berührte, wirkte auf die Erörterung des deutschen Problems überaus ernüchternd und mit einem Male richtunggebend. Der Dawes-Plan, nach dem seit 1924 die deutschen Reparationszahlungen erfolgten, schloß einen unumgänglichen politischen Kompromiß auf der Grundlage einer europäisch-amerikanischen Finanzkooperation. 12 Er konnte freilich keine Stabilisierung der reparations- und finanzpolitischen Situation auf lange Sicht bringen. Er war, wie gesagt worden ist, „ein Plan, im Wege der Erfahrung ausfindig zu machen, wieviel zu zahlen Deutschland in der Lage sei"13. Eine generelle Einschränkung der Lebenshaltung und der kulturellen Standardleistungen hätte gleichsam die lineare Folge der Reparationslasten sein müssen, wollte man die Reparationsfrage durch Ausfuhrüberschüsse, unter der Voraussetzung der vollständigen Lösung des Transfer-Problems, bei Erhaltung der Wirtschaftsstruktur und ungestörtem Fortwirken der Tendenzen, die dem bestehenden Wirtschaftssystem innewohnten, lösen, wie es dem Sinn des Dawes-Planes entsprach. Die an und f ü r sich logische Form der Hinnahme der Last durch Einschränkung des Verbrauchs ließ sich jedoch in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht erzwingen. Es blieb infolgedessen nur die rigorose Ausschöpfung der Steuerquellen, die den fühlbaren Kapitalmangel der deutschen Wirtschaft in prekärer Weise verschlimmerte, und schließlich die drastische Reduzierung von Verwaltungskosten." Um dem Kapitalmangel zumindest in seinen akuten Erscheinungsformen abzuhelfen und eine Annäherung an den westeuropäischen Lebensstandard anzustreben, entschlossen sich öffentliche wie private Stellen zur Hereinnahme von 12 Uber das Dawes-Abkommen und seine Vorgeschichte auf amerikanischer Seite unterrichtet die auf Archivalien fußende Arbeit von Dieter Bruno Gescher, Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Reparationen 1920—1924 (Bonner Historische Forschungen, Bd. 7), Bonn 1956. 13 Julius Curtius, Der Young-Plan. Entstellung und Wahrheit, Stuttgart 1950, S. 13. Vgl. auch die jüngere Darstellung von Rolf E. Lüke, Von der Stabilisierung zur Krise, hrsg. vom Basle Centre for Economic and Financial Research, Series B, N o . 3, Zürich 1958; kritische Anmerkungen hierzu: Gerhard Schulz, Die „große Krise" in der Zeitgeschichte: Neue Politische Literatur, IV. Jg./1959, Sp. 805—824. 14 Über die Grundlagen der Stabilisierung und die Tendenzen des deutschen Kapitalismus unterrichtet am besten immer noch das Werk des italienischen Nationalökonomen Constantino Bresciano-Turroni, The Economics of Inflation. Study of Currency Depreciation in Post-War Germany 1914—1923, 2. Aufl. London 1953 (1. Aufl. 1937), Ubersetzung aus dem Italienischen Le ricende del Marco tedcsco, Milano 1931. — Eine Übersicht über die deutsche Geld- und Kreditpolitik im allgemeinen gibt deutscherseits Rudolf Stucken, Deutsche Geld- und Kreditpolitik, 2. Aufl., Tübingen 1953.
570
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Auslandsanleihen. Hierdurch entstanden private Schuldverpflichtungen gegenüber dem Ausland, für die der Transfer-Schutz nach dem DawesPlan nicht bestand. Die Transfer-Klausel verlor daher die ihr zugedachte Bedeutung, so daß ihre Ablösung erwogen wurde. Problematisch blieb für die Reparationsgläubiger, auf welche Weise nunmehr die deutschen Reparationsleistungen gesichert, d. h. von den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in Deutschland unabhängig gehalten werden konnten. N u r im Zuge einer in einem solchen Sinne reifenden Revision des Dawes-Abkommens können Memorandum und Gutachten Gilberts richtig eingeschätzt werden; sie traf sich mit der Politik von Stresemann und Curtius, die sie mit der Frage der Rheinlandräumung und der endgültigen Beseitigung der „positiven P f ä n d e r " zu verknüpfen trachteten. D a s Memorandum Parker Gilberts wies auf die Gefahr einer drohenden heftigen Erschütterung des deutschen Kredits im In- und Ausland hin, die durch eine „Tendenz zur übermäßigen Geldausgabe und übermäßigen Kreditbeanspruchung" heraufbeschworen wurde. 15 Es leuchtet ein, daß sich der Reparationsagent um eine dauernde hohe Leistungsfähigkeit Deutschlands besorgt zeigte, die sowohl den Reparationszahlungen wie den neuen, anwachsenden Schuldenlasten entsprechen sollte. Seine Kritik richtete sich begreiflicherweise nicht gegen die Anleihen und Kapitalbedürfnisse der Wirtschaft und den A u f b a u eines rationalisierten modernen kapitalistischen Produktionsapparates, sondern gegen die Politik des Reichsfinanzministeriums und nicht weniger gegen die Anleihepolitik der Länder und der Kommunen. Sie traf darin mit den Argumenten des Reichsbankpräsidenten Schacht zusammen, der in dieser Zeit einen Feldzug gegen die Ausgabenwirtschaft der Kommunen und der von ihnen unterhaltenen öffentlichen Betriebe führte und die allgemeine Aufmerksamkeit auf die großzügige Kommunalpolitik der größeren Städte lenkte, die in der T a t das Bestreben erkennen ließ, auf örtlichem Sektor zu einer möglichst raschen und fühlbaren Emanzipation von den niederhaltenden Wirkungen des Krieges beizutragen und ein gehobenes Kultur- und Leistungsniveau zu erreichen. Die kommunale Fürsorge gehörte seit je zu den traditionellen Leistungsverpflichtungen der Selbstverwaltung; sie wurde jetzt in einem immens vergrößerten, j a repräsentativen Rahmen betrieben, in dem eine kulturelle Fürsorge noch weit wichtiger wurde als die soziale. Gerechterweise ließ sich, was Schacht zweifellos tat, 15
Deutscher amtlicher Text des Berichtes des Generalagenten, S. 211.
Gemeinsames
die K r i t i k an der
Programm
finanzpolitischen
zur
Reichsreform
571
Lage Deutschlands bei weitem nicht
gänzlich auf die kommunale Anleihepolitik zuspitzen. Sie ließ Reich und Länder vorsorglich aus der Beurteilung aus, verschonte aber auch den gesamten Bereich der Wirtschaft, der nicht der öffentlichen Regie unterstand. Dem lagen Bewertungen zugrunde, denen Parker Gilbert keineswegs ganz folgte. Seine K r i t i k war genauer, allerdings auch noch um einiges schärfer. Schacht übertreibe „in seinen Polemiken", schrieb auch Reichsaußenminister Stresemann an den Duisburger Oberbürgermeister Jarres. E r fügte aber hinzu: daß er „mit der K r i t i k des Herrn Parker Gilbert in manchen Punkten konform gehe", wolle er „in keiner Weise verschweigen"." Eine solche Äußerung gegenüber den Städten und ihrer Politik war nicht unberechtigt, wenn indessen auch nicht außer Acht gelassen werden sollte, daß die Budgetsummen der öffentlichen Finanzwirtschaft bei weitem nicht in dem M a ß e wie das Volkseinkommen gewachsen waren. 17 Die zusätzliche Belastung des Etats, die die Durchführung der Beamtenbesoldungsreform bringen mußte, die erstmals vor aller Welt mit der Politik der Einsparungs- und Abbaumaßnahmen brach, zählte jedoch zu den wichtigsten Angriffspunkten in dem Brief Gilberts. W ä h rend der Reichsfinanzminister die Anhebung der Beamtengelder mit grundsätzlichen Argumenten verteidigte, wies Gilbert auf die dringende Notwendigkeit von R e f o r m und Vereinfachung, von Rationalisierung und Abbau der Verwaltung hin. 18 Nicht weniger schwer wog die Be"
Stresemann am 2 4 . 1 1 . 1 9 2 7 an J a r r e s , Stresemann III, S. 2 6 4 .
17
Vgl. Karl-Heinrich
der Staatstätigkeit
Hansmeyer,
D e r W e g zum W o h l f a h r t s s t a a t .
im Spiegel der Finanzpolitik
Wandlungen
unseres Jahrhunderts,
Frankfurt/
Main 1 9 5 7 , S. 4 4 . 18
Womöglich noch unvermittelter und klarer hat sich P a r k e r Gilbert in einem v o n
Stresemann aufgezeichneten Gespräch mit dem Reichsaußenminister am 6. 10. 1 9 2 7 geäußert.
(Stresemann
I I I , S. 2 5 9 ff.) Gilbert klagte, die Politik des
ministeriums besitze keine Geradlinigkeit.
Vor
allem
legte er dem
ReichsfinanzReichsfinanz-
minister Köhler die Besoldungsreform mit einem unüberhörbaren Hinweis auf ihre Wirkungen im Ausland zur Last, da sie sich wenig mit Köhlers Behauptung
ver-
trage, Deutschland werde seine Dawes-Verpflichtungen nicht erfüllen können. „Die französischen Beamten werden viel schlechter bezahlt als die deutschen.
Trotzdem
w a g t m a n dort nicht, eine Erhöhung der Gehälter v o r z u n e h m e n . " Die infolge der Besoldungsreform
gesteigerten
Ausgaben
des Reiches seien
aber schließlich
hinzu-
nehmen, „wenn m a n mit Rücksicht auf den Eindruck im Auslande die Besoldungsvorlage verbinden" w ü r d e „mit einer V e r w a l t u n g s r e f o r m " . Der Gesichtspunkt, den Gilbert hierbei im Auge hatte, ist ohne Schwierigkeit zu erkennen. Aus begreiflichen Gründen lag ihm daran, langfristige amerikanische Anleihen v o r allem anderen der deutschen Industrie zufließen zu lassen. Die einfache, ganz und gar herkömmlichen
572
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
hauptung, daß sich das Reich kaum imstande zeige, „die Länder und Kommunen dazu zu bewegen, ihre Etats in Ordnung zu bringen". Das Ergebnis sei „ein allgemeines Fehlen tatsächlicher Kontrolle über öffentliche Geldausgaben und öffentliche Anleihen. Demzufolge ist in steigendem Maße ein ungesundes öffentliches Finanzwesen in Deutschland herrschend.. .'" 9 Diese kritischen Aussetzungen des Reparationsagenten gipfelten in dem Vorwurf, daß die Bemühungen der Reichsregierung darauf ausgingen, durch übermäßiges Anspornen der Einfuhr und durch Behinderung der Ausfuhr die Transfermöglichkeiten zu beschränken. 20 Im nächsten Jahre wurde allseitig deutlich, daß Parker Gilbert auf eine Ablösung des Dawes-Abkommens hinsteuerte. Im Herbst 1927 sprach man auch schon in Deutschland innerhalb interessierter Kreise, doch kaum in offener Weise von einer Revision des Dawes-Planes, demzufolge im Reparationsjahr 1928^29 die deutschen Zahlungen an das Transferkomitee die volle Höhe der vorgesehenen Annuität erreichen sollten. Welche Einwände aber auch gegen das Memorandum Parker Gilberts erhoben worden sind; die Lagebeurteilung des amerikanischen Generalagenten war — das kann nach den späteren E r f a h rungen der Krisenjahre nicht mehr bestritten werden — in ihrem Fazit klar und scharfsichtig. Sie hob sich wesentlich von den nicht allein in Deutschland vorherrschenden optimistischen Prognosen einer weiterhin günstigen Entwicklung der Wirtschaftskonjunktur ab. Allerdings war der Reparationsagent weder an Gründen und Ursachen der von ihm festgestellten Tatsachen interessiert, noch um eine Scheidung des kaum Vermeidbaren vom Revisionsbedürftigen bemüht. Seine Stellung und Vorstellungen
folgende
Konzeption
der Reparationsgläubiger-Politik,
die
Parker
Gilbert vertrat, verlangte, das Produktionsniveau der deutschen Groß- und Exportindustrie zu heben und den Export zu fördern, um die deutsche Zahlungsbilanz aktiv und damit Deutschlands Zahlungsfähigkeit und die Transfermöglichkeit zu erhalten. Hinsichtlich der liberalen Behandlung der privaten Wirtschaft stimmte er mit dem Reichsbankpräsidenten
Sdiacht überein, der noch weit stärkere Töne anschlug als
der Reparationsagent, dessen Beweggründe er allerdings nicht geteilt haben dürfte. Stresemann hat der Kritik Parker Gilberts Rechnung zu tragen versucht. D a s verrät ebenso ein Brief an Gilbert v o m 25. 10. 1927 (Stresemann III, S. 262), in dem er einen Irrtum über eine größere Ausgabe der Stadt Hamburg aufzuklären bemüht ist, wie sein Brief an Oberbürgermeister Jarres v o m 24. 11. 1927, in dem er Gilberts Kritik an einigen Ausgaben Preußens und einiger westdeutscher Großstädte nach Kräften unterstützt. 18
Bericht des Generalagenten, S. 217.
20
a. a. O., S. 224.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
573
sein Auftrag hätten ihm freilich hierzu auch nicht die Möglichkeit und die Befugnis gegeben. Er betrachtete die Zahlungs- und Handelsbilanz Deutschlands ausschließlich vom Standpunkt der Reparationsinteressenten. Dieser war nicht wesentlich anders als der eines Dahrlehen gebenden und Zinsen fordernden Bankiers, der die Liquidität eines in Verzug geratenden Unternehmens rasch und effektvoll wiederherzustellen verlangte. Deutschland war nach dem Dawes-Plan vorläufig noch ein riesenhafter Betrieb, der sich zweckmäßig organisieren mußte, um den gewünschten Ertrag abzuwerfen. Das Memorandum verlangte daher „ein Regime strikter Sparsamkeit und geordneter öffentlicher Finanzen" 21 . Solche Mahnungen waren für die Reichsregierung, die nicht riskieren durfte, vom ausländischen Anleihemarkt abgeschnitten zu werden, schwerwiegend genug, um den Gedanken der Reichsreform nun als „Verwaltungsreform" im Sinne einer „Rationalisierung der Wirtschaft und der Verwaltung" nach dem Vorbilde, das die Konzerne der Industrie und der Verkehrswirtschaft in diesem Jahre gaben, Inhalt und Auftrieb zu geben. Als erster nahm der Reichsaußenminister den H i n weis des Reparationsagenten mit der öffentlich ausgesprochenen Mahnung auf, ein Volk könne nicht „den größten Krieg der Weltgeschichte verlieren und sich dann ein Durcheinander und Nebeneinander von Behörden leisten, wie es in Deutschland der Fall" sei. Die Forderung nach „Rationalisierung" wußte Stresemann geschickt mit einem behutsamen Appell an die Länder zu verbinden: Es sollte kein Zwang auf ein Land ausgeübt werden; welches aber den Weg zum Reich gehen wolle, dem dürfe er „nicht verwehrt werden". 22 Dies war nicht ohne gegebenen Anlaß gesagt. Schon im August hatte Stresemann seine Kabinettskollegen ins Vertrauen gezogen, daß ihm Informationen zur Verfügung stünden, wonach mehrere Länder den Wunsch hätten, sich unmittelbar an die Reichsregierung anzuschließen, also „Reichsländer" zu werden. 23 Danach waren die Pläne der hessischen Regierung an die Öffentlichkeit gelangt, die freilich in Bayern Verstimmung und Empörung hervorgerufen hatten. Bis zur Erklärung Stresemanns hielt die Reichsregierung an dem Grundsatz fest, in dieser Frage nicht aktiv zu werden, um nicht mit Preußen und Bayern in einen ausweglosen Streit zu geraten. 21
a . a . O . , S. 211. Stresemann am 31. 10. 1927 auf dem Jahresessen der Ressource der Dresdener Kaufmannschaft. Stresemann III, S. 264. R M B am 1 0 . 8 . 1 9 2 7 , Auszug a. dem P r BA, R 43 1/1873.
574
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Schon wenig später präzisierte Reichskanzler Marx die von Stresemann ausgesprochene vorsichtige Aufforderung an die Länder als eine Unterscheidung zwischen Ländern, „die den Willen und die Kraft besitzen, ihr eigenes, durch den Rahmen der Reichsverfassung festgelegtes staatliches Leben weiterzuführen", und solchen, f ü r die diese Voraussetzungen nicht zuträfen und f ü r die daher eine Regelung zu suchen sei, „die dem Wunsch dieser Länder und der . . . geschilderten Stimmung entspricht und unser Reich in neuen Formen den neuen Erfordernissen anpaßt". 2 4 Das war zwar vorsichtig formuliert, ließ aber doch erkennen, daß nach dem Memorandum des Reparationsagenten das Kostenargument der Verfechter des Einheitsstaates nunmehr auch von der Reichsregierung anerkannt wurde. Sie kam damit nur dem verstärkten Druck der großen industriellen Spitzenverbände um ein weniges zuvor. Großindustrielle Forderungen: Verfassungsänderungen und Finanznotmaßnahmen Der Reichsverband der Deutschen Industrie, der mächtigste unter ihnen, schlug sich ganz auf die Seite der Kritik, die vom Reparationsagenten ausgegangen war. Hier empfand man am stärksten und empfindlichsten das alarmierende und höchst besorgniserregende Zeichen, „daß es auf Grund der wirtschafts- und finanzpolitischen Entwicklung der letzten Jahre in Deutschland überhaupt zu einem derartig ernsten Schritte der Reparationsagenten kommen konnte". 25 Man befürchtete Steuererhöhungen und eine „Selbstkostenkrisis", einen erneuten Verlust des wieder errungenen Anschlusses an den Weltmarkt und schließlich Vertrauensschwund und Kreditverlust auf dem internationalen Kapitalmarkt. Die Großindustrie betrachtete es zu diesem Zeitpunkt als ihr ureigenes Lebensinteresse, den Gläubigerländern vor Augen zu f ü h ren, „daß es uns mit der Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen ernst ist und daß wir bestrebt sind, uns so einzurichten, daß die E r f ü l lung möglich ist". Der Dawes-Plan sollte nach der im Reichsverband vorherrschenden Auffassung „ein Versuch sein, die Höhe und das Ausmaß der deutschen Reparationsfähigkeit festzustellen". Er barg infolgedessen auch „Veränderungsmöglichkeiten" entsprechend der ermit24
Marx am 18. November 1927 vor dem Verein Berliner Presse, zit. nach der Kölnischen Zeitung vom 19. 11. 1927. 25 Aide-memoire des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom 23. 11. 1927, BA, R 43 1/1873.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
575
telten deutschen Leistungsfähigkeit in sich; doch das angestrebte Ziel einer Revision glaubten die Sprecher dieses Verbandes nur auf dem Wege des von den Gläubigern anerkannten Nachweises einer objektiven Leistungsgrenze und vorab durch vollständige Ausschaltung jedweden Mißtrauens erreichen z,u können. Infolgedessen war es ihnen darum zu tun, eine Wiederholung der Kritik, die der Reparationsagent geübt hatte, unter allen Umständen zu verhindern und gewissermaßen ein Vertrauenszeugnis ausgestellt zu erhalten. Aus diesem Grunde erhob diese Seite die schon immer und zu jeder günstig erscheinenden Gelegenheit formulierte Forderung nach rigorosen Einsparungen nunmehr in der zugespitzten Form des Verlangens nach „einer sehr einschneidenden Verfassungsänderung". 2 ' Freilich lag ihr auch dieses zweite Ziel, das sich hier scheinbar zwangsläufig mit dem ersten verknüpfte, keineswegs von Grund auf fern. Der Spitzenverband der deutschen Großindustrie hat kaum jemals in wirklich großem Umfang parlamentarischen Lobbyismus betrieben. Er schritt daher leichten Herzens in Gemeinschaft mit dem Centraiverband der Deutschen Bank- und Bankiersgewerbe, der Haupcgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels, dem Deutschen Industrie- und Handelstag, dem Deutschen Handwerks- und Gewerbetag und dem Reichsverband des Deutschen Handwerks zu einer Aktion, die die Reiichsregierung unmittelbar zu verfassungsstürzendem Handeln bringen sollte.27 Noch vor Ablauf des ereignisreichen Monats November erschienen Kastl, Duisberg, der ehemalige Reichskanzler Cuno, Reusch, Borsig, Silverberg, Frowein und Retzmann beim Reichskanzler, um wie sie vorgaben, durch ihre Vorstellungen zu verhüten, „daß durch eine unkluge Taktik der Reichsregierung die Gefahr eines plötzlichen Abbruchs der gegenwärtigen K o n j u n k t u r . . . heraufbeschworen werde". 28 Die Industriellen erklärten f ü r ihren Reichsspitzenverband, daß es ihnen „in erster Linie auf eine Stärkung der Stellung des Reichskabinetts auf wirtschaftspolitischem Gebiete ankomme" und daß sie bereit seien, „an der Bekämpfung der entgegenstehenden beiden Haupthindernisse. . . mitzuarbeiten": der „allzu großen Bereitwilligungsfreudigkeit des Reichstags" und des „Widerstandes der Länder". Sie luden die volle Last ihrer Forderungen der Reichsregierung auf, von der sie die 28
Ebda. Eingaben an den Reichskanzler und an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des Reichstags vom 10. 11. 1927 u. Schreiben an Staatssekretär Pünder vom 17. 12. 1927, BA, R 43 1/1873. 28 Vermerk vom 2 8 . 1 1 . 1 9 2 7 , BA, R 43 1/1873. 27
576
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
strikte Kürzung aller Ausgaben von Reich, Ländern und Gemeinden — „zunächst um mindestens 10%>" —alsdann ein Finanznotgesetz, das unter anderem dem Reichstag und den Länderparlamenten wie den kommunalen Beschlußkörperschaften alle Anträge untersagte, die mit Ausgabenerhöhungen verbunden waren, schließlich die beschleunigte Inangriffnahme einer Verwaltungsreform und wieder eine Erweiterung der Befugnisse des Reichssparkommissars verlangten. 29 Die Beamtenbesoldungsreform, die alle diese Schwierigkeiten letztlich heraufbeschworen hatte, sollte nicht über die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Reichshaushalts von 1928 hinausgehen, praktisch durch einen inneren Etatausgleich, also durch entsprechend starke Ausgabenkürzungen auf anderen Gebieten gedeckt werden. Um diesem an sich schon sehr radikalen Verlangen noch größeren Nachdruck zu verleihen, deutete Kastl sogar an, daß der Reichsverband den Grundsatz, unbedingt am Preisniveau festzuhalten, auch als einen Lohnstop und einen Stop der sozialen Leistungen aufgefaßt wissen wollte. Diese Sprecher der größten Wirtschaftsmacht zeigten, daß die Einwendungen des Reparationsagenten ihnen eine Position sicherten, in der sie mit der „Erfüllung" dieser Forderungen zugleich auch die Beseitigung der Einrichtungen des modernen Sozialstaates und der parlamentarischen Staatsorganisation diktieren zu können glaubten. Der Niederschrift über diese Besprechung zufolge verwies Reichskanzler Marx auf die „Unfähigkeit des Volkes", sich mit der Lage, wie die Industriellen sie gekennzeichnet hatten, „abzufinden", aber auch auf die Tatsache, daß der Reichstag am Ende seiner Wahlperiode stand, so daß dem Wahlkampf und dann der nächsten Regierungskoalition die Entscheidung überlassen bleiben müsse. Seine Regierung versuchte Marx mit der Erklärung zu entlasten, daß im Hinblik auf Länder und Gemeinden die „in Frage kommenden Hauptprobleme bereits praktisch in Fluß gekommen" seien. Und Reichsfinanzminister Köhler behauptete, daß eine Verwaltungsreform bereits „tatkräftig in Angriff genommen" werde, wobei er wohl die ausgearbeiteten Pläne des Reichssparkommissars im Sinn hatte. Lediglich Reichsarbeitsminister Brauns beschränkte sich darauf, die verfassungsmäßige Abhängigkeit der Regierung vom Reichstag hervorzuheben, während Reichswirtschaftsminister Curtius einwandte, daß auch zu starke Etatkürzungen im Ausland falsche Auffassungen von der Zahlungsfähigkeit Deutschlands erwecken könnten, womit er wohl ausdrücken wollte, daß ihm eine andere Revisionsmöglichkeit des Reparationsabkommens vorschwebte. 29
Diese Forderungen im einzelnen ausführlich schon im Aide-memoire.
Gemeinsames
Programm
Vorbereitungen Deutschnationale Tendenzen
zur
Reichsreform
577
zur Länderkonferenz. zur allgemeinen Verfassungsreform
Nachdem die Einberufung einer Länderkonferenz zu Anfang Januar 1928 beschlossen worden war, 30 traf die Reichsregierung Vorbereitungen, die keinen Zweifel ließen, daß sie diese Konferenz ernsthaft als Chance zu benutzen gedachte, ihr Verhältnis zu den Ländern grundlegend umzugestalten. Bereits am 21. Oktober setzte das Reichskabinett eine besondere „Kommission f ü r Vorarbeiten zwecks Erzielung von Ersparnismaßnahmen auf dem Gebiete der öffentlichen Verwaltung" ein.31 Der N a m e erinnert an die Verwaltungsabbaukommission, bezeichnet jedoch ein weit gewichtigeres Dreiergremium, dem jetzt neben dem Reichssparkommissar der Reichsinnenminister und der Reichsfinanzminister persönlich angehörten und das als planende Zentrale der Verwaltungsreform gedacht war. Die sorgfältig beachtete Unauffälligkeit, mit der der N a m e dieser Kommission nach der Verwaltungsgewohnheit ausgewählt wurde, wird man sicherlich auf die mangelnde Homogenität innerhalb der Reichsregierung zurückführen dürfen, die es schwierig werden ließ, in der Verwaltungsreformfrage eine einheitliche Haltung zu gewinnen. 32 Reichsinnenminister v. Keudell, aber auch Reichsfinanzminister Köhler trieben eine immer offener zutage tretende Opposition gegen eine ihnen zu weitgehend erscheinende Vorbereitung der Länderkonferenz, während Reichswirtschaftsminister Curtius und Saemisch neben den beiden Staatssekretären Popitz und Pünder gerade die treibenden Kräfte dieser Richtung waren. Keudell hegte die auch von anderen geteilte Befürchtung, daß in der Konferenz Preußen die Führung an sich reißen, und wohl auch, daß es einer großen Koalition im Reich den Weg bahnen könnte. Er stemmte sich den Vorbereitungen mehr oder minder offen entgegen, wodurch er sowohl die Handlungsfreiheit des Reichskanzlers beeinträchtigte wie auch die Tätigkeit der Dreierkommission unterband, so daß schließlich hinter seinem Rücken an die Stelle der offiziellen eine inoffizielle Dreierkommission trat, die nun diese Arbeiten übernahm. Sie bestand aus Saemisch, Curtius und Popitz und hielt über Pünder Verbindung zum Reichskanzler. In diesem Kreise dürfte dann wohl nicht nur die bevorstehende Länderkon30
R M B 25. 11. 1927, Auszug a. d. P r BA, R 43 1/1873.
31
R M B 21. 10.1927, Auszug a. d. P r BA, R 43 1/1951.
32
Aufzeichnung des Ministerialdirektors v. H a g e n o w vom 17. 12. 1927, BA, R 43
1/1951. 37
Sdiulz I
578
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
ferenz, sondern auch der bevorstehende Kabinettswechsel vorbereitet worden sein. Er mußte nach den Anforderungen des Reformprogramms und zur Abwehr der radikalen Staatsvereinfachungspostulate der Großindustrie wieder eine breit und sicher verankerte Reichsregierung ans Ruder bringen, die nach Lage der Dinge die Möglichkeit bot, eine Reichsreform des beabsichtigten Ausmaßes in Übereinstimmung mit Preußen einzuleiten. Es war ein Gedanke Saemischs, in engem Einvernehmen mit den Ländern und nach gegenseitigem Austausch der Dispositionen die Konferenz zu eröffnen, Referenten zu bestimmen und die Referate gemeinsam zu erörtern.33 Man wird hierbei an die Verhandlungen der Staatsrechtslehrertagungen denken müssen, die Saemisch wohl als Vorbild gedient haben dürften; nur sollten hier die endgültigen Beschlüsse zu gewichtigen Empfehlungen an die Regierungen des Reiches und der Länder werden und dazu bestimmt sein, das Werk der umfassenden Verwaltungsreform in Gang zu bringen. Man wird nicht sagen können, daß dieses große Ziel mit unzulänglichen Mitteln in Angriff genommen worden ist. Es gibt kaum ein anderes innerpolitisches Thema, das wie das der Reichsreform über Jahre hinaus in solcher Breite und auf die Dauer in dem Maße erörtert wurde, nachdem der Entschluß zur Einberufung der Länderkonferenz gefaßt worden war. Auch der deutschnationale Vizekanzler Hergt, der den Gedanken einer Vereinheitlichung des Justizwesens verfolgte, ließ sich von Saemisch für den großen Plan gewinnen, freilich ohne daß dies seinen Parteifreund Keudell beeindruckte.34 Die ersten Vorschläge über die Aufteilung der Referate rührten von Popitz her, führten jedoch nicht unmittelbar zu einer Einigung. Der Staatssekretär des Reichsfinanzministeriums arbeitete dann umfangreichere Richtlinien aus, die die ursprünglichen Themen wesentlich weiter faßten und den wichtigsten Schritt in der Vorbereitung der Konferenz darstellen. Nach dem Plan von Popitz sollten sie nun nicht mehr der Konferenz vorgelegt werden, sondern lediglich der Reichsregierung und ihren Vertretern als ständige und bindende Beratungsunterlage dienen.35 Von nun an wurde, seiner Idee folgend, nicht mehr 3 3 Niederschrift über d. ChefB am 20. 12. 1927, BA, R 43 1/1951. Anwesende: Marx, Hergt, v. Keudell, Saemisch, Pünder, Popitz und einige Referenten. 34 ChefB am 31. 12. 1927, BA, R 43 1/1951. Anwesende: Marx, Hergt, v. Keudell, Saemisch, Pünder, Popitz, Zweigert usw. 3 5 Die Richtlinien, die Popitz vorlegte und die am 31. Dezember angenommen wurden, bezeichneten folgende Punkte, über die eine Klärung herbeigeführt werden
Gemeinsames
Programm
z«r
Reichsreform
579
eine K o n f e r e n z a n g e s t r e b t , die v o n v o r n h e r e i n offen z u T a g e l i e g e n d e Z i e l e v e r f o l g t e , s o n d e r n eine E r ö r t e r u n g s t a a t s r e c h t l i c h e r T h e m e n , die die V e r t r e t e r hatten.
Popitz
des R e i c h e s n a c h dienstlichen A n w e i s u n g e n z u veranschlagte
von
vornherein einen
größeren
führen Effekt
diplomatischer R e s e r v e n auf Seiten der L ä n d e r . Infolgedessen z o g er d a s Spiel m i t v e r d e c k t e n K a r t e n v o r . H i e r g e g e n w a n d t e sich H e r g t , d e r es nicht d u l d e n w o l l t e , d a ß die R e i c h s r e g i e r u n g m i t e i n e m fest
um-
rissenen u n d i m e i n z e l n e n a u s g e f ü h r t e n P r o g r a m m die K o n f e r e n z
er-
ö f f n e t e . E r h i e l t es f ü r a u s r e i c h e n d , lediglich d e n B e r a t u n g s g e g e n s t a n d vorzubereiten
und
das notwendige
Material
herbeizuschaffen.
Marx
sollte: I. Die staatsrechtliche und finanziell mögliche Ausgestaltung von Reichsländern (Sonderfrage: Preußen als Reichsland), II. Überleitung von Länderaufgaben auf das Reich: a) Justizverwaltung, b) Wasserstraßenverwaltung, c) oberste Verwaltungsgerichtsbarkeit, I I I . Zusammenlegung von Reichsaufgaben bei den Landesfinanzämtern: a) Versorgungsverwaltung, b) Wasserstraßenverwaltung, IV. auftragsweise Überleitung von Landesaufgaben auf die Reichsbehörden: a) Steuervereinheitlichungsgesetz, b) Übernahme der Grenzpolizei, c) Uberleitung statistischer Aufgaben auf das Statistische Reichsamt, V. Rationalisierung der Bezirkseinteilung der Reichsbehörden, insbesondere der Landesfinanzämter und Finanzämter, VI. Mitwirkung des Reiches, insbesondere des Reichssparkommissars, bei der Verwaltungsreform der Länder, insbesondere bei den Fragen der Behördenzusammenlegung und der rationellen Bezirksaufteilung, V I I . Maßnahmen zur Verhinderung von Ausgabensteigerungen in Reich, Ländern und Gemeinden. Kontrovers waren II a und II c. Hergt und mit ihm Marx hielten die Übernahme der gesamten Justizverwaltung auf das Reich für vorerst nicht durchführbar, während Popitz auf den hohen Kostenanteil der Länderjustizverwaltungen und im besonderen auf die notleidend gewordenen Etats von Braunschweig und Hessen verwies. Dieser Punkt wurde durch das Entgegenkommen beider Seiten geklärt. Popitz beschränkte die Erörterung auf die Justizverwaltungen mit notleidend gewordenen Etats, wollte die Frage der Schaffung einer Reichsjustizverwaltung im Auge behalten wissen. Reichsjustizminister Hergt sagte seinerseits zu, daß eine Denkschrift seines Ministeriums auf den Fall abgestellt werden solle, daß einzelne Länder von sich aus den Wunsch auf Abgabe ihrer Justizverwaltungen äußerten. Die Denkschrift sollte jedoch nicht dem Reichskabinett vorgelegt werden; sonst könnte „der Verdacht entstehen, daß das Reich dieses Ziel erstrebe". Hinsichtlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde keine Einigung erreicht. Während Popitz unter Hinweis auf das zu erwartende Verlangen des Reichstags auf der Generalklausel bestand, verfochten Zweigert, Pünder, Hergt und Keudell unter Hinweis auf die in den süddeutschen Bürokratien, wie von der preußischen Verwaltungsautorität Drews vertretenen Auffassungen die Enumerationsmethode. In diesem Falle wurde ein Vorschlag Keudells angenommen, mit Drews in Verhandlungen einzutreten. Bei erneuter Beratung der Richtlinien am 14. Januar wurde dann im Sinne von Popitz, gegen das Votum Keudells die Einführung der Generalklausel für die Zuständigkeit des Reichsverwaltungsgerichts beschlossen. Der Reichsinnenminister schied daraufhin aus der Kabinettskommission für die Verwaltungsreform aus. Abschr. eines Schreibens Keudells an Reichskanzler Marx BA, R 43 1/1951. 37»
580
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
war jedoch bereits für die andere Auffassung gewonnen und verteidigte sie, unterstützt von Curtius, Brauns, aber auch Schätzel, mit dem Einwand, die Reichsregierung dürfe sich nicht die Führung aus der H a n d nehmen lassen und habe aus diesem Grunde in erster Linie die Debatte vorzubereiten und dafür zu sorgen, „daß die Konferenz zu positiven Beschlüssen" komme. 36 Gegen die Stimme des Reichsinnenministers konnten sich die Reichsminister dann wenigstens über das zu erörternde Kernproblem einigen: „Die Behebung der auf die Dauer unmöglichen Unzuträglichkeiten, die sich aus dem Nebeneinanderbestehen von Reichs- und Länderhoheit" ergaben. Auch darin bestand Einigkeit, daß hieran die schwierigste aller Fragen anschließen sollte: Was wohl am Ende mit den finanzschwachen Ländern zu geschehen habe. Keudell schlug vor, als Hauptthema die Bildung von Reichsländern zu erörtern, womit er die Tätigkeit der Konferenz zweifellos von Anfang an blockiert hätte. Bis zum letzten Tage vor Eröffnung der Konferenz verzögerte er die Vorbereitungsarbeit. Fast unübersehbare Schwierigkeiten bereiteten die Auswahl der Referenten f ü r die einzelnen Themen und die Formulierung der Referate. 37 So tief wie in diesen Monaten erschien der Abgrund zwischen den Ministern der Deutschen Volkspartei und dem deutschnationalen Reichsinnenminister noch niemals. Unverkennbar war das letzte Reichskabinett so weit unterhöhlt, daß sein Fall nur eine Frage kurzer Zeit sein konnte. Die Aussichten auf die im Jahr 1928 bevorstehende Reichstagsneuwahl hat die Regierungsperiode dieses Kabinetts in Wahrheit eher verlängert als abgebrochen. Die Parteivertretung der Deutschnationalen bemühte sich noch auf ihrer Tagung im Dezember 1927, durch Bekanntgabe eines eigenen Programms zur Verwaltungsreform, das sich gegen „die parlamentarische Alleinherschaft" richtete, von den zur Erörterung gestellten Fragen abzulenken, 33 und erntete hierfür lebhaften Beifall in Bayern. 38 Doch jetzt wie später blieb ihr Verhältnis zur preußischen Regierung 35
RMB 11. 1.1928, Auszug a. dem Pr BA, R 43 1/1951.
37
Keudell ging auch hierin sehr zielbewußt vor.
Schließlich entschied er eigen-
mächtig und in eindeutigem Widerspruch zu einem Beschluß des Reichskabinetts die Betrauung des württembergischen Staatspräsidenten Bazille mit dem ersten Referat. Persönliches Schreiben Keudells an Marx vom 3. 12.1927, Aktenvermerk Pünders für den Reichskanzler vom 7 . 1 2 . und RMB vom gleichen Tage, Auszug a. dem Pr BA, R 43 1/1873. 38
Deutsche Zeitung, Nr. 289 vom 10. 12. 1927.
38
BStZ 9. 12. 1927; auch Bericht Haniels vom 12. 12. 1927 BA, R 43 1/1873.
Gemeinsames
Programm
zur
581
Reichsreform
und gleichzeitig die Stellung Preußens im Reich immer ihr Prüfstein in der Länderfrage. Im Grunde war es die Frage, wer Preußen beherrscht. Davon hing dann ab, ob Preußen das Reich oder das Reich Preußen beherrschen sollte. Das später verkündete „deuschnationale Notprogramm" Hugenbergs vom April 1929 enthielt einen Vorschlag zur Lösung des Dualismus-Problems, der sich wieder des Gedankens der Personalunionen zwischen Reichs- und preußischen Ministerien bediente, den Koch-Weser 1920 zur Diskussion gestellt hatte und den der deutschnationale Parteiführer lediglich etwas abwandelte. 40 Die Stärkung der verfassungsmäßigen Stellung des Reichspräsidenten, die dieses „Notprogramm" aber vor allem anderen bezweckte, das Verlangen nach Beseitigung des Artikels 54 und nach Änderung der Artikel 8 bis 15 und 17 der Weimarer Reichsverfassung, 41 seine polemische 40
Deutsche Z e i t u n g , N r . 87 v o m 1 4 . 4 . 1 9 2 9 . D i e P e r s o n a l u n i o n e n bezogen nach
d e m P l a n H u g e n b e r g s auch d e n Reichspräsidenten ein, d e m gleichzeitig d a s A m t des preußischen S t a a t s p r ä s i d e n t e n zugedacht w a r . D e r Reichsarbeitsminister sollte an der Spitze eines preußischen A r b e i t s m i n i s t e r i u m s (aus dem M i n i s t e r i u m f ü r H a n d e l u n d G e w e r b e u n d dem W o h l f a h r t s m i n i s t e r i u m gebildet), der Reichsminister f ü r E r n ä h r u n g u n d L a n d w i r t s c h a f t an d e r Spitze des preußischen M i n i s t e r i u m s f ü r L a n d w i r t schaft, D o m ä n e n u n d Forsten stehen, der preußische I n n e n m i n i s t e r zugleich Reichsi n n e n m i n i s t e r u n d der preußische J u s t i z m i n i s t e r Reichsjustizminister sein,
Finanz-
u n d K u l t u s m i n i s t e r i u m ihre S e l b s t ä n d i g k e i t b e h a l t e n . ( K u r z e Z u s a m m e n f a s s u n g in d e r D a r s t e l l u n g des B u n d e s z u r E r n e u e r u n g des Reiches, D i e R e i c h s r e f o r m , S. 63.) H u g e n b e r g h a t t e seine P l ä n e v o r h e r schon einmal, w e n n auch e t w a s a n d e r s p r ä z i s i e r t ( A l f r e d H u g e n b e r g , Streiflichter aus V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t , Berlin
1927)
u n d hierbei auch d e n preußischen L a n d t a g b e h a n d e l t , welcher P u n k t in das
„Not-
p r o g r a m m " v o n 1929 nicht m e h r a u f g e n o m m e n w u r d e . H u g e n b e r g w a r auf den bekannten
Gedanken
z u r ü c k g e k o m m e n , d e n L a n d t a g durch eine itio in p a r t e s
des
Reichstags z u bilden, die alle preußischen R e i c h s t a g s a b g e o r d n e t e n u m f a s s e n sollte. 41
D i e F o r d e r u n g nach Ä n d e r u n g d e r Rcichs Verfassung, m i t der das H u g e n b e r g -
Programm
die d e u t s c h n a t i o n a l e n
sierte, b e t r a f ständigkeit
V o r s t e l l u n g e n v o n einer R e i c h s r e f o r m
konkreti-
drei v o n e i n a n d e r u n a b h ä n g i g e K o m p l e x e : 1. die b e d i n g t e
Reichszu-
in v o r n e h m l i c h
wirtschaftlichen Angelegenheiten
(Art. 8 und
12);
auf
diesen G e b i e t e n sollte g r u n d s ä t z l i d i jede S t a a t s t ä t i g k e i t z u g u n s t e n der S e l b s t v e r w a l t u n g der B e r u f s s t ä n d e a b g e b a u t w e r d e n . 2. I m
V e r h ä l t n i s zu den
Ländern
das
Recht des Reiches, den V o l l z u g v o n Reichsgesetzen durch einfaches, nicht v e r f a s s u n g s ä n d e r n d e s Reichsgesetz auf R e i c h s v e r w a l t u n g e n a n Stelle v o n L a n d e s v e r w a l t u n g e n z u ü b e r t r a g e n ( A r t . 14), das Aufsichtsrecht des Reiches u n d Anweisungsrecht der Reichsregierung in A n g e l e g e n t h e i t e n d e r reichsrechtlichen G e s e t z g e b u n g s k o m p e t e n z
gegen-
ü b e r den L a n d e s r e g i e r u n g e n ( A r t . 15) u n d die d i r e k t e R e c h t s k o n t r o l l e der V e r e i n b a r k e i t v o n Landesgesetzen m i t d e m Reichsrecht ( A r t . 13 Abs. 2 ) ; hierin w a r
eine
S t ä r k u n g d e r L ä n d e r beabsichtigt. 3. D i e A u f h e b u n g d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n V e r a n t wortlichkeit der R e g i e r u n g e n des Reiches ( A r t . 54) u n d der L ä n d e r ( A r t . 17 Abs. 1 S a t z 3). Dieses R e f o r m p r o g r a m m w a r zugleich ständisch, föderalistisch und a u t o r i t ä r .
582
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reicbsreform
Abwertung der wenige Monate zuvor der Öffentlichkeit bekanntgegebenen Vorschläge des Bundes zur Erneuerung des Reiches als „kalte Theorie" und „von jedem Heimatdufte freie Konstruktion" ließ freilich die Absicht einer von vornherein total gedachten Revision der Weimarer Reichsverfassung und des Weimarer Staates als das dirigierende Moment erkennen. Die Deutschnationale Volkspartei versuchte mit diesem Programm erneut, der Reichsreform, die bis dahin primär die Regelung der Verhältnisse zwischen Reich und Ländern zum Gegenstand hatte und die Gliederung des Reichsgebiets oder die Organisation der Verwaltung betraf, die Richtung auf eine allgemeine Verfassungsreform im Sinne einer grundsätzlichen Abkehr vom parlamentarischen System zu geben. Sie deckte damit ihre endgültige Rückkehr aus der inneren Opposition in das Lager der Republikgegner. In der Reichskanzlei hingegen bahnte sich eine Betrachtungsweise an, die schon etwas außerhalb der offiziellen Linie lag, die die Zentrumspartei als die ihre erklärte. Zum Jahresbeginn 1928 begrüßte Staatssekretär Pünder in einem vom Reichskanzler „vollinhaltlich gebilligten" Artikel die bevorstehende Länderkonferenz sehr enthusiastisch als Beginn einer grundlegenden Reform und „als das äußere Zeichen des Beginns einer neuen Periode deutschen staatlichen Lebens." 12 Es dürfte auch nicht allein die persönliche und neuerdings erworbene Meinung des Staatssekretärs in der Reichskanzlei gewesen sein, die Pünder in einem offiziellen Schreiben an, den bayerischen Gesandten wenige Wochen später formulierte: „Wenn ich, was ich keineswegs bestreite und worauf ich sogar stolz bin, sehr energisch f ü r das Zustandekommen der Länderkonferenz eingetreten bin, so nur deshalb, weil ich von der Unzulänglichkeit der Lösung des Verhältnisses zwischen Reich und Ländern durch die Weimarer Verfassung tief durchdrungen bin. Was andere als Föderalismus in der Gegenwart bezeichnen, kann ich nur als das Zerrbild des Föderalismus ansehen. Ich stehe daher unbedingt auf dem Standpunkt, daß in erster Linie das Verhältnis zwischen [dem] Reich und den nord- und mitteldeutschen Ländern gestaltet werden s o l l . . . Ebenso tief durchdrungen bin ich aber von der absoluten Notwendigkeit, daß die Eigenstaatlichkeit Süddeutschlands und namentlich die von Bayern unter allen U m ständen erhalten bleiben muß. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß 42
N e u j a h r s a r t i k e l „Reich und L ä n d e r " in der G e r m a n i a , Manuskript BA, R 43 1/1873.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
583
die dermaleinst und hoffentlich gefundene bessere Regelung der staatsrechtlichen Verhältnisse in N o r d - und Mitteldeutschland das Verhältnis zwischen Reich und Bayern nicht zu verändern braucht. Ob sich die Beziehungen zwischen Württemberg und Baden in der Richtung eines Zusammenschlusses bewegen sollen, ist eine Frage f ü r sich, deren Lösung man ruhig diesen deutschen Stämmen selbst überlassen darf."4® Mit solchen Worten sollten die süddeutschen Länder beruhigt werden. D a ß im übrigen aber die Reichskanzlei mit Entschiedenheit daran ging, innerhalb der hier abgesteckten Grenzen eine Neuordnung in die Wege zu leiten, ist keineswegs zweifelhaft. Die Mittel und Wege hierzu waren freilich auch unter den veränderten Umständen immer noch von Unsicherheiten umgeben, so daß keine Entscheidung schon den wirklichen Erfolg veranschlagen konnte. Der Charakter des trotz Energie und einem guten Teil Rücksichtslosigkeit letztlich unsicheren Experimentierens haftete daher auch diesem neuen Unternehmen an, hinter dem Keudell preußische und wohl auch sozialdemokratische Absichten verdächtigte," offizielle Stimmen in Bayern hingegen den Angriff eines „unitaristischen Frontabschnittes" vermuteten, den sie mit den Namen „Curtius — Popitz — Pünder" 4 5 umschrieben. Die Reichskanzlei hatte noch vor Beginn der Länderkonferenz eine Entschließung ausgearbeitet, die dann als Ergebnis der Konferenzberatungen verkündet werden sollte. Sie begann mit der Erklärung, daß „an der durch die geschichtliche Entwicklung gewordenen und durch die Reichsverfassung zu Weimar verankerten staatlichen Struktur Deutschlands. . . grundsätzliche Änderungen irgendwelcher Art nicht 43
Schreiben an Ritter v. Preger vom 24. 1. 1928, Abschr. BA, R 43 1/1875. Noch unmittelbar v o r Zusammentritt der Konferenz unternahm Keudell einen reichlich ungeschickten, gänzlich verfehlten Versuch, M a r x durch einen „vertraulichen Vorschlag" gegen Preußen einzunehmen: „Sie . . . möchten bei den Ihnen nahestehenden H e r r e n des Preußischen Staatsministeriums inzwischen sich erkundigen, ob und was f ü r Vorschläge etwa Seitens des Preußischen Staatsministeriums am 1. Tage hinsichtlich der Verfassungsreform in Aussicht genommen sind. Ich könnte mir z. B. denken, d a ß eventuell H e r r Ministerpräsident Braun plötzlich das Angebot macht, Süddeutschland völlig sich selbst zu überlassen, im übrigen aber Preußen als Reichsland in einem einheitlichen großen Norddeutschland aufgehen lassen." Schreiben an den Reichskanzler vom 14. 1. 1928, BA, R 43 1/1875. P ü n d e r merkte auf dem R a n d e dieses Briefes handschriftl. a n : „Es erscheint mir recht bemerkenswert, d a ß dem f e d e r f ü h r e n d e n Ressort IV2 Tage vor Beginn der K o n f e r e n z erst solche Ideen kommen und die Erledigung dann noch an den H [ e r r n ] R [ e i c h s ] k [ a n z l ] e r abschieben möchte. Im Übrigen sind die Bedenken nach meiner [von P ü n d e r unterstrichen] genauen Kenntnis gänzlich unbegründet; . . ." 44
45
Zur L ä n d e r k o n f e r e n z : BStZ N r . 17 vom 2 1 . 1 . 1 9 2 8 .
584
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
erfolgen" sollten, um dann mit der Empfehlung an die „leistungsschwachen Länder" fortzufahren, unmittelbaren Anschluß an einem benachbarten „leistungsstarken" Land zu suchen. Den kleinen Ländern Norddeutschlands wurde der Anschluß an Preußen, allen Ländern die Beseitigung der Enklaven empfohlen. 46 Eine eindringliche Warnung des zur Vorsicht mahnenden Vertreters der Reichsregierung in München davor, durch „solche Äußerlichkeiten . . . einen sachlich vielleicht n i c h t . . . begründeten Mißstand.. . auszulösen", 4 ' führte nur dazu, daß sich Pünder jetzt selbst der Textredaktion annahm und eine 14 Leitsätze umfassende Entschließung ausarbeitete, die die Länderkonferenz „nach eingehenden Beratungen" annehmen sollte.48 Sie fand jedoch in der Reichskabinettssitzung des nächsten Tages keine ausreichende Unterstützung. 49 Als Ziel dieser Bemühungen um ein festes Programm der Reichsregierung umschrieb Marx bei dieser Gelegenheit mit klaren Worten die unverändert wiederkehrende Idee aus den Reformschriften in den Anfängen der Republik: Der „dezentralisierte Einheitsstaat" müsse angestrebt werden; die Länder sollten ihre Parlamente aufgeben oder Provinziallandtage erhalten und zu Selbstverwaltungskörpern werden. Doch die Entwicklung sollte selbst dorthin treiben, ohne daß die Regierung Zwang oder Drude anwandte. Freilich vermochte der Reichskanzler auch andere Mittel anzuwenden als die des Zwanges, um das gesteckte Ziel zu erreichen; und er hat es auch zu tun versucht. 50 46
Entwurf von Ministerialdirektor v. Hagenow vom 6. 1. 1928 BA, R 43 1/1874. " Persönliches Schreiben Haniels an Pünder vom 7. 1. 1928 BA, R 43 1/1874. 48 Mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen versehener Entwurf dieser Entschließung, den Pünder am 11. Januar Marx, Curtius, Saemisdi und Popitz mitteilte, BA, R 43 1/1874. *> RMB vom 12. 1. 1928, Auszug a. dem Pr BA, R 43 1/1874. 50 Marx bemühte sich auch darum, den Hebel seines parteipolitischen Einflusses in Bewegung zu setzen. Im April 1928 richtete er an den Reichstagsabgeordneten Bockius in Mainz die Empfehlung, daß die hessische Zentrumsfraktion einen Landtagsbeschluß zustande bringen solle, die hessische Justiz auf das Reich überzuleiten. „Ich verrate Ihnen vielleicht kein Geheimnis durch die Mitteilung, daß ähnliche Anträge auch seitens anderer Länderregierungen ziemlich sicher zu erwarten sind. Ich würde es aber ganz besonders begrüßen, wenn der Ausgangspunkt solcher amtlichen Erörterungen gerade ein hessischer Antrag sein würde, weil dies zweifellos manche anderen Schwierigkeiten im Verhältnis von Nord und Süd ausräumen könnte." Abdruck BA, R 43 1/1876 (Tagesdatum fehlt). Das besondere Interesse an der hessischen Justiz dürfte doch wohl in dem Wunsch begründet gewesen sein, einem Übergang auf Preußen zuvorzukommen oder ihn zu verhindern. Im Juli 1928 befaßte sich das Reichskabinett Müller mit einem Ersuchen Mecklenburg-Schwerins, die
Gemeinsames
Der Verfassungsausschuß
Programm
zur
Reichsreform
der Länderkonferenz
585
vom januar
1928
D a ß die Pläne der Reichskanzlei stärker gegen als f ü r die Absichten Preußens wirkten, ergab sich schon in der kleinen Unterkommission der Länderkonferenz, 5 1 die das Schlußkommunique u n d damit das wesentliche Ergebnis festzustellen hatte, sofern man von der Einsetzung des Verfassungsausschusses absieht, der schon vorher beraten und beschlossen worden war. Preußen stand an der Seite Bayerns, Sachsens, Württembergs, Badens und Oldenburgs und verwarf mit diesen Ländern gemeinsam den E n t w u r f der Reichsregierung. Dabei ging es um den einfachen, vorbereiteten Beschluß, einen Ausschuß zu der weiteren Klärung der Probleme einzusetzen. Der Regierungsentwurf des Kommuniques bezeichnete ihn nach den Plänen des „Verwaltungskränzchens" Curtius-Saemisch-Popitz-Pünder als „einen Ausschuß aus Verwaltungspraktikern, Politikern, Vertretern der Wissenschaft und der Wirtschaft einschließlich der Arbeitnehmerorganisationen", womit die Absicht ausgedrückt wurde, möglichst alle interessierten Kreise in einer möglichst kleinen Gruppe von repräsentativen Persönlichkeiten zusammenzufassen, da eine Reichsreform mindestens die Billigung der beteiligten Elemente des deutschen Staatswesens voraussetzte. Allerdings wollte die Reichsregierung selbst diesen Ausschuß bilden „aus Mitgliedern des Reichstags, des Reichrates und des Reichswirtschaftsrates und aus anderen Persönlichkeiten" und ihm „die Dienste der Reichskanzlei zur Verfügung stellen". 52 Die Länder hingegen wollten alle diese Aufgaben dem Verfassungsausschuß des Reichsrates übertragen. 5 3 Ein K o m p r o m i ß , der allerdings den Wünschen der Reichsregierung sehr nahe kam, w u r d e dann durch einen energischen Protest des Reichswirtschaftsministers Curtius, der sich auf die Unterstützung Stresemanns berief, zuwege gebracht: „Die D V P könne ein Überstimmen in diesem P u n k t e nicht hinnehmen und sei bereit, notfalls die Konsequenzen zu tragen." D e r Ausschuß sollte nun aus unabhängigen Mitgliedern bestehen, vom Reichskanzler geleitet werden, zu gleichen Teilen von der Justiz dieses Landes auf das Reich zu ü b e r f ü h r e n . RMB, Auszug a. dem P r BA, R 43 1/1951. 51 Ü b e r Zusammensetzung, Verlauf und Ergebnis der L ä n d e r k o n f e r e n z unterrichtet die konzise Obersicht von Franz Albrecht Medicus, Reichsreform und Länderkonferenz. Die Beratungen und Beschlüsse der Länderkonferenz und ihrer Ausschüsse, Berlin 1930, S. 3 ff. 62 53
E n t w u r f der Rekhsregierung BA, R 43 1/1875.
A n t r a g der Unterkommission der L ä n d e r k o n f e r e n z (Original), von Braun, H e l d , Remmele, Bazille usw., BA, R 43 1/1875.
unterzeichnet
586
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Reichsregierung und von den Ländern besetzt werden, jedoch das Recht der Zuwahl haben.64 Aber auch andere, recht belanglos erscheinende Textstellen des Kommuniques blieben kontrovers und wurden überraschend zu Fragen von prinzipiellem Rang. Ministerpräsident Braun nahm Anstoß, allerdings erfolglos, an der Formulierung, die „kleineren" Ländern den Anschluß an größere empfahl. Braun widersprach ihr unter ausdrücklichem Hinweis auf Hessen und erklärte, „daß trotz dieser Verlautbarung naturgemäß auch große Länder in Nachbarländern aufgehen könnten." 55 Der Gedanke des hessischen Anschlusses wurde also von Preußen weiterverfolgt und das bei dieser Gelegenheit auch ausdrücklich bekanntgegeben. In anderen Punkten ergaben sich zahlreiche Sonderwünsche einzelner, jedoch keine mehrheitlichen Auffassungen. Der sächsische Ministerpräsident Heidt und der braunschweigische Gesandte Boden sprachen sich gegen jede Beteiligung von Vertretern der Wirtschaft aus, Hamburgs Regierender Bürgermeister Petersen für volle Entscheidungsfreiheit der Reichsregierung. Bayerns Ministerpräsident Held bestand auf der Betrauung des Reichsratsausschusses für Verfassung, Curtius war für Heranziehung des Bundes zur Erneuerung des Reiches und Otto Braun gegen jede Beteiligung von Parteien. 5 ' Wenn sich bayerische Regierungskreise von dem Ergebnis der Länderkonferenz befriedigt zeigten,57 so war dies von ihrem Standpunkt aus indessen ganz und gar ungerechtfertigt. Wenn auch keine deutlich sichtbare Mehrheit für den Einheitsstaat zu erkennen gewesen war, so traf es doch nicht zu, daß die Anhänger des Föderativstaatfes zahlreicher und stärker gewesen seien als vorher angenommen wurde. Und es war vollkommen verfehlt, gehörte freilich zu den gewohnten Erscheinungen einer desorientierten und desorientierenden bayerischen Meinungsbildung, wenn die Bayerische Volkspartei-Correspondenz triumphierte, der Einheitsstaat habe sich auf der Länderkonferenz als Utopie enthüllt.58 Allerdings bildeten diese Kontroversen in der Entstehungskrise " R M B am 18. 1. 1928, Auszug a. dem Pr BA, R 43 1/1875. Vgl. F. A. Medicus, Reichsreform, S. 6 f. Der erste dieser Grundsätze ist in die Schlußredaktion der Entschließung der Länderkonferenz nicht aufgenommen worden, galt jedoch als stillschweigende, war freilich eine recht zweifelhafte Voraussetzung. 5 5 Niederschrift über die Sitzung der Unterkommission der Länderkonferenz am 18. Januar 1928 BA, R 4 3 1/1875. 5 a Ebda. 5 7 Bericht der Vertretung der Reichsregierung in München vom 19. 1.1928 BA, R 43 1/1875. 5 8 Ebda.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
587
des Verfassungsausschusses nur den Anfang einer schwierigen und langwierigen Tätigkeit, die vor allem in der ersten Zeit und dann wieder zum Ende nur sehr zögernd voranschritt. 59 Nach dem Regierungswechsel im Juni 1928 schieden mit Marx auch Köhler und v. Keudell aus dem Verfassungsausschuß aus. An ihre Stelle traten Hilferding als Reichsfinanzminister und v. Guerard als Reichsverkehrsminister. Reichsjustizminister Koch-Weser wurde kooptiert; an Stelle des Reichskanzlers übernahm Severing den Vorsitz. Auf den Fortgang der Arbeiten des Verfassungsausschusses wirkte die Veränderung seiner Zusammensetzung zunächst günstig. Während seine Tätigkeit bisher sehr schleppend verlief, ging es nun etwas rascher voran. Doch um die Aussichten f ü r das Endergebnis war es nicht besser bestellt. Während seine Tätigkeit bisher in unendlichen Schwierigkeiten zu ersticken drohte, wurde die allgemeine Anerkennung der Lösung, die er finden mochte, von Tag zu Tag fragwürdiger. Das Reichskabinett Hermann Müller war infolge der Reichstagswahl im Mai 1928 nach schwierigen Verhandlungen zunächst als ein „Kabinett der Köpfe", der Parteiführer, nicht als Kabinett einer festgefügten Koalition zustandegekommen. Es stützte sich jedoch länger als eineinhalb Jahre auf eine verhältnismäßig breite parlamentarische Grundlage. In dieser Zeit lag neben dem preußischen auch das Innenministerium des Reiches wieder in sozialdemokratischen Händen. Die weiter reichenden Pläne der Parteiführer der Großen Koalition, bereits bei dieser Gelegenheit Reichskabinett und preußische Regierung enger aneinander zu binden, 90 scheiterten jedoch daran, daß O t t o Braun sich nicht zu entschließen vermochte, das Schicksal der preußischen Regierung an die weniger gesichert erscheinenden Koalitionsverhältnisse im Reich zu binden. Die Leitung der beiden Innenministerien durdi zwei Sozialdemokraten als halbe Ersatzlösung, die an die Stelle der gewünschten Personalunion trat, erwies sich aber auf die Dauer als völlig unzureichend. Sie führte keineswegs zu einer im Grundsätzlichen engeren Verbindung zwischen beiden Verwaltungen. Die sich deutlich auf Preußen beschränkende Haltung der Sozialdemokratie bewies, daß das Reichsministerium des Innern zum Außenposten geworden war, während die entscheidende innerpolitische Macht in den Händen des preußischen Innenministers verblieb." Daneben nehmen 58
Vgl. F. A. Medicus, Reichsreform, S. 10 ff. Aufzeichnung Koch-Wesers vom 4. Juli 1928, N a d i l . Kodi-Weser, N r . 37. " Schleicher bemerkte in einem Brief an Groener vom 3. September 1928, „ d a ß 80
588
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsrcform
sich die Versuche des demokratischen Reichsjustizministers KochWeser, dessen N a m e wie kaum ein anderer mit der Geschichte der Reichsreform bis 1930 verbunden ist, die „Verreichlichung" der Justiz ernsthaft voranzutreiben, recht bescheiden aus. Auch sie konnten in den wenigen Monaten seiner Amtszeit zu keinem greifbaren Erfolg gelangen. Größer w a r der Einfluß, den er auf den Gang der Arbeiten des Verfassungsausschusses nehmen konnte. Die Mitglieder des Verfassungsausschusses wurden zu gleichen Teilen von der Reichsregierung und neun größeren Ländern als sachverständige, jedoch nach offizieller Version keinen Weisungen unterliegende Persönlichkeiten benannt.' 2 Die neun Länder bestimmten die Führer ihrer Regierungen, die auch, ohne weisungsgebunden zu sein, am besten die Politik ihres Landes vertreten konnten. Verwunderung erregte indessen die Ausnahme Preußens, das durch den Ministerialdirektor Brecht vertreten wurde, dessen Tätigkeit einen sicheren Rückschluß auf die Haltung des Preußischen Staatsministeriums nicht erlaubte. Diese undefinierbare Reserve Preußens ließ die Erfolgsaussichten für die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den zentralen und den regionalen Gewalten im Verfassungsausschuß von Anfang an überaus unsicher erscheinen, ein Umstand, der von einigen süddeutschen Vertretern mehrmals bemängelt wurde. Dem Preußischen Staatsministerium verschaffte diese Wahl ohne Zweifel den erheblichen Vorteil, daß es sich zurückhalten, die weitere Entwicklung abwarten konnte und daß die Reichsregierung seine Mitarbeit durch besondere Anstrengungen erwerben mußte. Popitz hatte wohl richtig vorausgesehen; mit dem Beschluß zu einer Reichsreformkonferenz waren die Wege, Praktiken und Hintergründe der Länderdiplomatie keineswegs lahmgelegt. In zweijähriger Verhandlungsfrist versuchten der Verfassungsausschuß und seine Unterausschüsse, ein Reichsreformprogramm zu ermitteln unter vollkommenem Verzicht auf die vielerörterten, teilweise Preußen gegen ein Reichskabinett unter SPD-Führung genau so widerhaarig ist wie gegen Keudell und Genossen"; Severing wisse „ein Lied d a v o n zu singen". Audi die Vermutung, die Schleidler daran anknüpfte, dürfte richtig sein: „Als schwebt dem Preuß. Ministerpräsidenten
Ideallösung
w o h l ein schwaches Reichskabinett
ohne
S P D vor, das zwar in allen entscheidenden Fragen v o n dem guten Willen der S P D abhängig ist, für das aber die Partei, soweit es sich um unpopuläre Fragen handelt, die Verantwortung nicht zu tragen braucht. D i e Machtposition bleibt dann durch die Beherrschung Preußens gesichert." Gordon A. Craig, Briefe Schleichers an Groener: D i e Welt als Geschichte, X I . Jg./1951, S. 126. 02
F. A. Medicus, Reichsreform, S. 8.
Gemeinsames
Programm
2ur
Reichsreform
589
einschneidenden Neugliederungspläne, unter denen sich zweifellos auch sehr sorgfältig durchdachte und glücklich ausgewogene befanden. 83 U n d sie versuchten, mit dem Blick auf die Mehrheitsverhältnisse in Reichsrat und Reichstag, auf Parteien und auf Landesregierungen ihre Tätigkeit zu einem erfolgversprechenden Ende zu bringen. Ihre Arbeiten konzentrierten sich von Anbeginn auf das Problem der Beseitigung des Dualismus der Berliner Zentralbehörden unter Erhaltung der Gebietseinheit Preußens. Diese Aufgabe war gegen den Protest einer Minderheit unter den Mitgliedern formuliert und akzeptiert worden. Ihre Lösung mußte möglichst schonend mit den größeren unter den Ländern ausgehandelt werden, während nahezu allgemeines Einverständnis darüber bestand, daß sie auf Kosten der kleineren zustande kommen würde. Sie faßte praktisch eine Reihe von Vorschlägen zusammen, von denen das „Reichsland Norddeutschland'" 14 und die „zweigleisige" Ver• 3 Es k a n n hier nicht auf die große Zahl der territorialen Neugliederungsvorschläge von unterschiedlicher Bedeutung eingegangen werden. Ein musterhaftes Beispiel, in vielseitiger wissenschaftlicher Untersuchung zu einer Regionalbildung zu gelangen, ist die Denkschrift von K u r t Brüning, Niedersachsen im R a h m e n der N e u gliederung des Reichs, veröffentlicht vom Landesdirektorium der P r o v i n z H a n n o v e r in Verbindung mit der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft zum Studium Niedersachsens, 2 Bde., H a n n o v e r 1929/31. Einen ausgezeichneten Uberblick über die wichtigsten Pläne im Hinblick auf Norddeutschland gibt W o l f g a n g Kothe, Die Ged a n k e n zur Neugliederung des Reiches 1918—1945 in ihrer Bedeutung f ü r N o r d westdeutschland: Westfälische Forschungen. Mitteilungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- u. Volkskunde, hrsg. v. F r a n z Petri, 6. Bd./1943—52, Münster/ Köln 1953, S. 182—196; ferner Peter Schöller, L ä n d e r r e f o r m u n d Landeskunde. Politische Zwischenbilanz und wissenschaftliche Probleme der Bestrebungen zur innergebietlichen N e u o r d n u n g Deutschlands von 1919 bis 1959: Westfälische Forschungen, 12. Bd./1959, S. 73—97; f r ü h e r schon Walter Vogel, Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig/Berlin 1932, S. 129 ff. Zum Regionalstaatsgedanken im allgemeinen Willibalt Apelt, Vom Bundesstaat zum Regionalstaat. Betrachtungen zum Gesetzentwurf über den endgültigen Reichswirtschaftsrat (Schriftenfolge „Der deutsche Einheitsstaat"), Berlin 1927, S. 32 ff.; bemerkenswert ist ferner der Beitrag des sozialdemokratischen Staatspräsidenten A d a m Remmele in dem H e f t 4 („Gegen den Einheitsstaat") der Süddeutschen Monatshefte, 25. Jg./1928, S. 244. Wilhelm Kitz, Reidisland Preußen („Reichsland P r e u ß e n " ohne eigene Regierung, ohne Staatsrat und Landtag); zugunsten einer stärkeren Selbständigkeit der Provinzen vorher schon A d a m Stegerwald, Zusammenbruch und W i e d e r a u f b a u ; später von demokratischer Seite H e r m a n n Höpker-Aschoff, Kölnische Zeitung, N r . 800 vom 2 9 . 1 2 . 1 9 2 7 („Reichsland N o r d d e u t s c h l a n d " ) ; auch Deutscher Einheitsstaat, Berlin 1928. Einen kurzen systematischen Uberblick über Reformvorschlägc „unter struktureller Ä n d e r u n g " der Weimarer Reichsverfassung findet m a n in dem Beitrag von Werner Münchheimer in dem S a m m e l b a n d : Die Bundesländer. Beiträge
590
111. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
waltung von Reichsland und Reichsprovinzen (Selbstverwaltung) nach den Plänen des Bundes zur Erneuerung des Reiches"5 am bekanntesten geworden sind. Dieser Bund, der erst unter Führung des ehemaligen Reichskanzlers Luther, dann Geßlers Politiker der bürgerlichen Parteien, von der Demokratischen Partei und vom Zentrum bis zum rechten Flügel der Deutschen Volkspartei, vereinigte, dem einige Vertreter der Sozialdemokratie neben parteilosen Konservativen angehörten, der Fachleute der Verwaltung und Vertreter der Industrie, Wissenschaftler und Publizisten zu seinen Mitgliedern zählte und eine rege Tätigkeit entfaltete, gab ein nahezu perfektes Spiegelbild der herrschenden Kräfte der Weimarer Republik ab. N u r die äußerste Rechte wie die äußerste Linke und die bayerischen Föderalisten hielten sich vollständig und konsequent abseits. D a ß er es vermochte, in einigen wichtigen Fragen der Reichsreform die Auffassungen und Pläne verschiedener Gruppen, die er zusammenzufassen versuchte, zu einem Ausgleich zu bringen und einheitliche Vorschläge zu schaffen, sichert ihm einiges Interesse. Vor allem aber trug seine durch Publikationen und Veranstaltungen in die Provinz hineinwirkende Tätigkeit zur Verbreitung und Popularisierung der Reichsreformgedanken bei, so daß schließlich während des Wahlkampfes zur Reichstagswahl 1928 auch die Parteien dieses Thema in ihre Propaganda einbezogen. Der Bund zur Erneuerung des Reiches trat mit dem an einen Vorschlag Höpker-Aschoffs anknüpfenden Plan, aus Preußen und den Ländern Norddeutschlands „Reichsländer" mit Selbstverwaltungsrechten zu schaffen, Mitte Oktober 1928 an die Öffentlichkeit. Wenige Tage später, am 22. Oktober, trat der Verfassungsausschuß der Länderkonferenz wieder zusammen. Ihm lagen insgesamt 26 Denkschriften vor, deren Grundgedanken zum Teil bereits dank der regen Tätigkeit des Bundes in weiten Kreisen der Öffentlichkeit erörtert wurden. Wird der „Einheitsstaat mit der Selbstverwaltung starker Provinzen, den Treitschke vor sechs Jahrzehnten als Ziel der deutschen Entwicklung verkündete, jetzt nun kommen oder nicht kommen?" Mit dieser Frage drückte Friedrich Meinecke die Summe der Erwartungen aus, mit der die liberalen Kreise die Tätigkeit des Verfassungsausschusses zur Neugliederung der Bundesrepublik, hrsg. vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e. V., Frankfurt/M., 1950, S. 134 ff. • 5 Vgl. die abschließende Darstellung unter Würdigung kritischer Stimmen und spätere Vorschläge in der großen Denkschrift des Erneuerungsbundes: Die Reichsreform, bes. S. 20 ff.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
591
beharrlich verfolgten." „Verschmelzung des preußischen Staatswillens mit dem deutschen Reichswillen", beginnend mit der Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten, „Einführung der Gehorsamspflicht aller Landesbehörden gegenüber der Reichsgewalt in Sachen der Reichsgesetzgebung" und „Beseitigung des Parlamentarismus in den Einzelländern, Vereinfachung und Stabilisierung der höchsten Landesbehörden", um den „gefährlichen Inhalt dessen, was sie ihre ,Eigenstaatlichkeit* nennen, zu entgiften", das war die „unbedingt notwendige" programmatische Forderung nach „staatlichen Neuerungen", die Meinecke dieser Konferenz stellte. Alle weiteren Fragen sollten der Zukunft überlassen bleiben, einige „harmlose Reste des bisherigen Zustandes — etwa in Form von gewissen Reservatrechten der süddeutschen Länder" in Kauf genommen werden. Die moralisdie Unterstützung, die den Bestrebungen der Reidisregierung von dieser wie von anderer Seite zuteil wurde, wird man kaum zu hoch veranschlagen können. Bereits am zweiten Verhandlungstage wurde dem Ausschuß eine Entschließung der Reichsregierung vorgelegt, die die Richtungsweisung und Beschreibung einer künftigen Reichsreform enthielt. Die Aufgaben, die sie dem Verfassungsausschuß stellte, entsprachen ganz den hochgespannten Erwartungen: „Die Reichsreform muß getragen sein von der Erkenntnis der Notwendigkeit einer starken Reichsgewalt, der Bedeutung der vielgestaltigen Eigenarten des deutschen Volkslebens und des Erfordernisses sparsamster Finanzgebarung der öffentlichen Haushalte"." 7 Auch eine territoriale Neugliederung wurde als erforderlich bezeichnet, aber an die Bedingung geknüpft, „als Glieder des Reichs leistungsfähige Länder bestehen zu lassen". Außerdem sollte geprüft werden, „wie der Verwaltungsunterbau der Länder nach einheitlichen Reidisgrundsätzen" organisiert und wie zwischen Auftragsverwaltung und Eigenverwaltung der Länder unterschieden werden könne, und schließlich, wie „das Verhältnis des Reichs zu den übrigen Ländern und die Zusammensetzung des Reichsrates gestaltet werden soll". Wie kaum anders zu erwarten stand, führte dieser Schritt zu energischen Protesten Bayerns gegen den „Überrumpelungsversuch" der Reichsregierung. Die Vermittlung des badischen Staatspräsidenten Remmele, der als Sozialdemokrat nach der einen, als Süddeutscher •* F. Meinecke, Die Einheitsstaatsbewegung nach der Länderkonferenz: Politische Schriften und Reden, S.418 f. " Verfassungsausschuß der Länderkonferenz, Beratungsunterlagen 1928, S. 5.
592
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
jedoch nach der anderen Seite Verbindung hatte, brachte d a n n einen K o m p r o m i ß zustande, demzufolge zwei gesonderte Unterausschüsse eingesetzt wurden, die getrennt arbeiteten. D e r eine sollte Gliederungsvorschläge, der andere die Zuständigkeitsabgrenzung behandeln. Die Konflikte, die einer dieser Komplexe heraufbeschwören würde, brauchten sich nun nicht unmittelbar auf den Fortgang der Arbeiten des anderen auszuwirken. Die „differenzierte
Gesamtlösung"
Das endgültige Ergebnis der wechselvollen Beratungen des Verfassungsausschusses der Länderkonferenz und seiner Unterausschüsse, die „differenzierte Gesamtlösung", die 1930 nach einem erneuten Koalitions- u n d Regierungswechsel in der Reichspolitik zustande kam, beruhte in der Hauptsache auf zwei „Gemeinschaftsreferaten", die man als einen erneuten, nunmehr von erfahrenen Fachleuten der Verwaltung im einzelnen festgelegten K o m p r o m i ß der Koalitionsparteien von Weimar ansehen kann. 6 8 Die Differenzierung lag darin, d a ß sie den Einheitsstaat vorerst nur in Norddeutschland verwirklichte und zu diesem Behuf die Länder in drei G r u p p e n teilte. Die Eigenverwaltung im bisherigen Ausmaß auf der Grundlage der bestehenden Verfassung blieb den Ländern Bayern, Sachsen, W ü r t t e m berg und Baden — den Ländern mit mehr als zwei Millionen Einwohnern — vorbehalten. Preußen sollte seine Ministerien auf das Reich und seine bisherigen Provinzen nebst Berlin — 13 „Länder neuer A r t " — als Selbstverwaltungskörper in unmittelbare Reichsverwaltung ü b e r f ü h r e n ; w ä h r e n d f ü r die kleineren Länder die Möglichkeit ihrer Eingliederung durch einfaches Reichsgesetz vorgesehen war. Die Frage, ob es außerdem noch „Zwischenformen" geben 88
Voller W o r t l a u t : Verfassungsausschuß der L ä n d e r k o n f e r e n z , Niederschrift über die Verhandlungen v o m 21. J u n i 1930 und Beschlüsse des Verfassungsausschusses über 1. die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich u n d L ä n d e r n , 2. Organisation der L ä n d e r u n d den Einfluß der L ä n d e r auf das Reich, Berlin 1930, S. 58 ff.; auch Medicus, Reichsreform, S. 65 ff. Ministerialdirektor Brecht (Preußen) h a t t e an beiden Gemeinschaftsreferaten mitgearbeitet; am R e f e r a t I (Abgrenzung der Z u s t ä n digkeiten) -waren außerdem beteiligt: Koch-Weser (Reich, D D P ) , Innenminister R e m mele (Baden, SPD), H o r i o n ( L a n d e s h a u p t m a n n der Rheinprovinz, Z e n t r u m ) u n d am R e f e r a t I I I (Organisation): Ministerialdirektor Poetzsdi-Heffier (Sachsen, D D P ) , Staatspräsident Bolz (Württemberg, Z e n t r u m ) und Senatspräsident Petersen ( H a m burg, D D P ) ; das wichtige Gemeinschaftsreferat I I (finanzielle Auseinandersetzung zwischen Reich und Ländern) w a r zurückgestellt w o r d e n . (Medicus, a. a. O., S. 37.)
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Programm
zur
Reichsreform
593
könne, wurde aufgeworfen und im Abschlußbericht über die Beschlüsse des Verfassungsausschusses auch vermerkt; der Gang der Verhandlungen konnte jedoch keinen Zweifel darüber lassen, daß die den Beschlüssen zustimmende Mehrheit dies nicht der Wahl der Länder, sondern der Entscheidung der obersten Reichsorgane zu überlassen gedachte." Für alle Länder des „alten" wie des „neuen" Typs galt die Bestimmung, daß sie ihren Verwaltungsaufbau nach reichseinheitlichen Bestimmungen anzugleichen hätten. Die beiden Verwaltungsgattungen, die Auftragsverwaltung 7 0 und die unmittelbare Reichsverwaltung, sollten in den Ländern „neuer" und „alter Art" in der Weise eingeführt werden, daß die Kategorie der unmittelbaren Reichsverwaltung f ü r die neuen Länder am Ende wesentlich umfangreicher ausfiel als f ü r die alten und sowohl die politisch wichtigen Zweige, Justiz, Polizeiverwaltung, die Aufsicht über kommunale und berufsständische Selbstverwaltungen, wie die Gewerbeaufsicht und wesentliche Teile der Kulturverwaltung und außerdem die Verwaltung der Wasserstraßen einbezog. U m eine engere Verbindung zwischen Landesverwaltung und unmittelbarer Reichsverwaltung auch in den Ländern „alter A r t " herbeizuführen, empfahl der Verfassungsausschuß die Zusammenfassung sämtlicher Reichsbehörden innerhalb jedes einzelnen Landes und die Schaffung einer besonderen Beziehung zwischen dem obersten Reichsbeamten und der Landesregierung. H i e r f ü r wurde die Form einer beiderseits widerruflichen Personalunion eines Mitgliedes der Landesregierung in Aussicht genommen. Dieser Vorschlag war ein erster Versuch, die Verwaltungsorgane der Länder und des Reiches miteinander zu verbinden, Lebensnähe und Zentralisation zu verknüpfen, die Länder vom Reich her aufzuschließen und Konfliktmöglichkeiten durch institutionellen und personellen Ausgleich auszuschalten. Es steht kaum in Frage, daß die Übernahme eines solchen Reichsamtes auch auf die Stellung seines Inhabers innerhalb der Landesregierung zurückwirken mußte und die Regierungsgebaren der Länderministerien weitgehend beeinflußt hätte. Ob dann aber bei der unmittelbaren Reichsverwaltung oder bei der Landesverwaltung das größere politische Gewicht gelegen hätte, blieb offen. Der Grundsatz der größtmöglichen •• Bes. Niederschrift über d. Vh vom 21.6. 1930, S. 51 ff. 70 Für die Auftragsverwaltung, die Ausführung von Angelegenheiten der Reichsverwaltung durch die Länder, als dem Mittel einer „Endlösung" hatte sich besonders Brecht eingesetzt. Vgl. auch Bredit, Neuordnung der Dezentralisation im Deutschen Reich (Vereinsschriften des Vereins f. Kommunalwirtschaft und Kommunalpolitik, Heft 28), Berlin 1928, S. 9 ff. 38 Schulz I
594
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Dezentralisation kam in einer allgemein gehaltenen Bestimmung zum Ausdruck, daß den Ländern alle Angelegenheiten zu überlassen seien, „bei denen nicht offenbar die Regelung durch das Reich wesentliche Vorteile für die Gesamtheit bietet". Die wirkliche Bedeutung dieser Formulierung ließ sich jedoch weder aus dem Wortlaut der Beschlüsse folgern noch nach dem Gang der Verhandlungen ermessen. Der Verfassungsausschuß hatte aber nur versucht, einen Teilaspekt der Reichsreform — die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Reich und Ländern, die Verwaltungsorganisation der Länder und die Bestimmung ihres Einflusses auf das Reich — losgelöst von anderen, kaum minder wichtigen Problemen einer Reichsreform, nämlich den Fragen der Gliederung und des Finanzausgleichs, von dem das Wohl und Wehe der künftigen Länder abhing, bis zur Reife endgültiger Beschlüsse zu bringen. Die beiden Referate, die der Verfassungsausschuß erörtert und schließlich angenommen hatte, gleichen konzentriert vorgetragene Lehrmeinungen in akademischen Erörterungen, von denen nun die künftige Staatsreform Deutschlands abhängen sollte. Freilich fehlte die volle Ubereinstimmung darin, was eigentlich praktisch mit diesen Beschlüssen zu geschehen habe und welchen Verbindlichkeitsgrad sie künftig f ü r die Politik der Reichsregierung besitzen sollten. KochWeser wollte ihre Verwendung dem freien Ermessen der Reichsregierung überlassen. 71 Der bayerische Ministerpräsident Held verharrte bei der Auffassung, daß die Beschlüsse des Verfassungsausschusses der Reichsregierung kein Recht gäben, „irgendwelche praktischen Konsequenzen" zu ziehen. Die Regierungschefs Badens, Sachsens und Württembergs traten den Beschlüssen mit der Erklärung bei, daß sich „die erteilte Zustimmung nur auf den Lösungsversuch als Ganzes" beziehe. Demgegenüber erklärte Reichskanzler Brüning, daß die Reichsregierung nicht gehindert werden könne, auch einzelne Maßnahmen zu treffen, die auf derselben Linie lägen wie der Gesamtplan. 72 D a der Verfassungsausschuß kein verfassungsrechtliches Organ war — wenn auch bei seiner Zusammensetzung eine gewisse Analogie zum Verfassungsausschuß des Reichsrates beachtet wurde —, konnte der Charakter seiner Beschlüsse auch nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise umschrieben werden. Diese Frage blieb daher endgültig unbeantwortet. Um einen umfassenden Gesetzentwurf zur legislatorischen Behandlung im 71
Verfassungsaussdiuß der Länderkonferenz, Niederschrift über d. Vh vom 2 1 . 6
1930, S. 7. 72
a. a. O., S. 54 f.
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Programm
zur
Reichsreform
595
Reichsrat und Reichstag vorzubereiten, schienen im Augenblick die Voraussetzungen nicht ungünstig; 73 da aber die Stimme Brechts nicht die der preußischen Regierung war, blieb die Ungewißheit über eine Mehrheit im Reichsrat auch weiterhin bestehen. Wie sich bald zeigte, vermochte zwar diese theoretische „Gesamtlösung" einer Reichsreform den populären Widerhall der bestehenden Gegensätze zu dämpfen; sie reichte indessen keineswegs aus, um sie wirklich zu überbrücken. Der bayerische Ministerpräsident Held hatte während der Konferenz die Taktik verfolgt, alle grundlegenden Änderungen im staatsrechtlichen Verhältnis zwischen dem Reich und den Ländern abzulehnen und auszumanövrieren und die gesamte Reform unter Ausschluß des preußischen Problems auf kleinere Abänderungen der Reichsverfassung zu beschränken. 74 Seit 1924 war eine vollkommene Wendung eingetreten. Während damals die bayerische Regierung auf eine Ablösung der Reichsverfassung drängte, die ihrer Meinung nach in Gänze versagt hatte, war es jetzt gerade die Gegenpartei, die eine Umbildung des Reiches wollte und den bayerischen Ministerpräsidenten zu einem Plädoyer zugunsten der Weimarer Reichsverfassung veranlaßte. Unter den Föderalisten aller Schattierungen meldeten sich Bedenken gegen eine allzu weitreichende verfassungs- und verwaltungsrechtliche Differenzierung zwischen N o r d - und Süddeutschland und gegen die erneute Verstärkung der Reichsgewalt durch die Uberleitung wichtiger preußischer Verwaltungen zu Wort. Aus ihnen sprach die Befürchtung, daß solch ein starkes, auf einer starken nord73 In der Schlußabstimmung stimmten 9 von 10 durch das Reich, außerdem die von den Ländern Preußen, Württemberg, Baden, Sachsen, H a m b u r g und A n h a l t benannten Ausschußmitglieder den Beschlüssen zu; dagegen stimmten der Reichspostminister Schätzel und die Ministerpräsidenten von Bayern und Mecklenburg-Schwerin, w ä h r e n d sich der hessische Staatspräsident und der Vertreter Thüringens ihrer Stimme enthielten. Wollte m a n das Ergebnis der Abstimmung einer Stellungnahme des Reichsrates gleichsetzen, so w ä r e eine Zweidrittelmehrheit, die f ü r verfassungsä n d e r n d e Gesetze notwendig war, sicher gewesen, falls Preußen, unter Einschluß der Vertreter seiner Provinzen, zugestimmt hätte. D e r Reichstag nahm schon am 24. Juni 1930, drei Tage nachdem der Verfassungsausschuß dem E n t w u r f zugestimmt und seine Tätigkeit beendet hatte, eine Entschließung an, die die Reichsregierung a u f forderte, einen Gesetzentwurf „über eine umfassende Reichsreform insbesondere mit dem Ziele der Beseitigung des Dualismus zwischen Reich und Preußen u n d einer zweckmäßigen Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern vorzulegen". Tatsächlich k a n n man aber diese Entschließung noch nicht ohne weiteres einer Zustimmung zu den Beschlüssen des Verfassungsausschusses gleichzusetzen. ,4 Verfassungsausschuß, Vh d. Unterausschüsse vom 18. u. 1 9 . 1 1 . 1 9 2 9 , S. 9 ff., 35 ff., 55 ff., 61.
J8»
596
III. Tendenzen und Probleme einer
Reichsreform
deutschen Hausmacht beruhendes Übergewicht des Reiches eines Tages zwangsläufig zu einem Ausgleich auf Kosten der süddeutschen Reservate führen werde. 7 5 Mit Preußen stand es womöglich noch schwieriger.
Problematisch
blieb jedoch v o r allem das Schicksal der preußischen Regierung. Z u m allgemeinen Erstaunen hatte sich schon im N o v e m b e r sekretär P o p i t z
in den Unterausschüssen
gegen
die
1929
Staats-
vorgeschlagene
Aufteilung Preußens ausgesprochen und in diesem Punkte mit H e l d und dem Reichspostminister Schätzel gegen den Vorschlag der Referenten votiert, da er es für falsch hielt, „jetzt Preußen aufzugeben und Länder zu bilden, deren Wirkungsgrad im Verhältnis zu den süddeutschen L ä n d e r n unbestimmt" blieb. E r zog es vor, „wenn schon das Deutsche Reich nicht auf den Thronsessel des richtig
organisierten
Einheitsstaates gesetzt werden kann, ein Deutsches Reich v o r sich zu haben, das sich wenigstens auf den festen Stuhl Preußens
stützen
k a n n " . 7 6 Popitz, der diesmal nur bei Brüning Verständnis f a n d , " sah 78
Aus der Fülle dieser Urteile zwei besonders profilierte: Hans N a w i a s k y , Zen-
tralisierter oder dezentralisierter Einheitsstaat: B S t Z N r . 7 7 vom 5 . 4 . , auch N r . 75 u. 76 vom 3. u. 4. 4. 1929, bezeichnete es als sehr unwahrscheinlich, daß sich „diese Differenzierung auf die D a u e r behaupten" könnte. „Entweder wird das süddeutsche Regime der Selbstbestimmung auch auf die norddeutschen ,Länder' übertragen, oder die süddeutschen Länder unterliegen der Allgewalt der Reichszentrale und sinken auf den Stand provinzieller Selbstverwaltungskörper mit einer freundlicheren Schauseite herab." Bemerkenswert ist auch Nawiaskys Skepsis gegen das Schlagwort der Dezentralisation in diesem Zusammenhang. Seiner Meinung nach stellte die reichseigene Landesverwaltung der ehemaligen preußischen „Länder neuer A r t " „im Kern eine völlig bürokratische Behördenorganisation d a r " , die „das zentralistische Prinzip in Reinkultur" verwirklichte. — Rudolf Henle, Provinzen oder Länder? Reich und Länder, 4. J g . / 1 9 3 0 , S. 4 — 8 , vorher schon: Kleindeutscher Einheitsstaat oder großdeutsches Reich? K ö l n 1929, befürchtete eine „gewaltige Zentralisierungsaktion" und forderte einen „Aufbau des Reiches als echten (hegemoniefreien) Länderstaat, gegliedert in etwa ein Dutzend L ä n d e r " . Es kennzeichnet das Ausmaß der seit 1918 eingetretenen Veränderungen, daß er sich hierbei sogar zu Recht auf die Verfassungsdenkschrift von Hugo Preuß berufen konnte. ™ E b d a . S. 60. Das Popitzsche Urteil, die „Differenzierung geht so weit, . . . daß man diesen Weg nicht gehen soll", bestätigte im Grunde die Richtigkeit der von Hans N a w i a s k y bezeichneten Alternative. B S t Z N r . 77 vom 5. 4. 1929. 77
Brüning war neben Popitz im letzten Teil der K o n f e r e n z wohl der stärkste
Skeptiker. E r stimmte jedoch, obgleich er viele der Popitzschen Bedenken teilte, für den E n t w u r f , wie er erklärte, in der Hoffnung, „daß aus der Länderkonferenz ein positives Resultat insoweit herauskommt, welches eine weitere positive Behandlung der Frage ohne Verschärfung der Gegensätze zwischen einzelnen Ländern licht". Vh. d. Unterausschüsse vom 18. und 1 9 . 1 1 . 1 9 2 9 , S. 60.
ermög-
Gemeinsames
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zur
Reichsreform
597
allerdings gar so falsch, wie Koch-Weser, Brecht und Remmele glaubten, die Dinge doch nicht voraus. Das bewies die Haltung des durch Brechts Stimme keineswegs festgelegten Preußischen Staatsministeriums. D a ß ein bedingungsloser Übergang der politisch wichtigen preußischen Verwaltungen der Polizei und des Kultus auf das Reich kaum denkbar sei, hatte Brecht schon in der letzten Sitzung des Verfassungsausschusses durchblicken lassen.' 8 Im Preußischen Staatsministerium hatte sich schon seit längerem die Auffassung durchgesetzt, daß auch die „Reichsland"-Lösung nur eine Übergangslösung sein könnte und daß gerade in dem zwangsläufigen Ubergreifen der Neuregelung auf Süddeutschland ihr wirklicher Vorzug läge79. Nach der bisherigen H a l tung des preußischen Ministerpräsidenten war gar nicht zu erwarten, daß sich die preußische Regierung selbst ausschalten und die Regierungskoalition aus der politischen Landschaft austilgen werde. Ihre Stellung zu den Beschlüssen des Verfassungsausschusses hing vielmehr von den Garantien ab, die eine Fortführung der preußischen Politik mit den Mitteln des Reiches sichern würden. Umbildungen der preußischen Provinzen in „Länder neuer Art" hätten sich in der Theorie 78
Brecht beantragte die A u f n a h m e einer Bestimmung, d a ß „Reichsminister, zu deren Geschäftsbereich die vorgenannten Angelegenheiten in den Ländern neuer Art gehören, zurücktreten müssen, wenn die aus diesen Ländern entsandten Abgeordneten ihnen durch ausdrücklichen Beschluß das V e r t r a u e n entziehen". D e r Reichsinnenminister und der künftige Reichskultusminister wären danach in ihrer A m t s f ü h r u n g von einem zweifachen Vertrauensvotum abhängig gewesen: dem der Reichstagsmehrheit — wie jeder andere Reichsminister — und dem einer Mehrheit der Abgeordneten aus den L ä n d e r n neuer A r t . Sinn des Brechtschen Antrags war, grundsätzlich zu verhindern, d a ß ein Süddeutscher an die Spitze der beiden nur die norddeutschen Länder erfassenden Verwaltungen treten könne. Dieses ius eundi in partes f ü r die Abgeordneten der L ä n d e r neuer A r t w a r nach dem Muster einer Bestimmung der Reichsverfassung von 1871 e n t w o r f e n , die den Abgeordneten der Reservatländer Bayern u n d W ü r t t e m b e r g das Stimmrecht in Angelegenheiten der Reichspost vorenthielt. Sie erwies sich jedoch bereits nach wenigen J a h r e n als entbehrlich. D e r A n trag Brechts verfiel der Ablehnung durch alle übrigen Ausschußmitglieder. Brecht ließ aber deutlich erkennen, d a ß Verlangen dieser A r t wieder auftauchen würden, falls m a n zu praktischen Ergebnissen kommen wollte. (Verhandlungen vom 2 1 . 6 . 1930, S. 48 ff.) Es h a t den Anschein, d a ß hierin eine, w e n n auch nicht die einzige conditio sine qua non zu sehen ist, an der die preußische Regierung im Falle einer weiteren Behandlung der Beschlüsse des Verfassungsausschusses festzuhalten gedachte. 79 Höchst aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind bemerkungen des Ministerialdirektors Nobis zur Denkschrift sterialrats von J a n , Bayern zur Reichsverfassungsreform. Auf Stellungnahme zur L ä n d e r k o n f e r e n z , München/Berlin 1928.
handschriftliche R a n d des bayerischen MiniG r u n d der bayerischen H A B , Rep. 90/226.
598
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
wohl als innerpreußische Reform einleiten 80 und die weiteren Schritte dann durch zweiseitige Verhandlungen mit der Reichsregierung vorbereiten lassen. In Wirklichkeit geschah jedoch weder das eine noch das andere. Bereits im Januar 1930 erklärte der preußische Innenminister Grzesinski, daß die Versuche einer „Zerschlagung Preußens" nunmehr abgewendet worden seien. Damit drückte er nicht nur aus, daß er die Tätigkeit des Verfassungsausschusses schon vor ihrer endgültigen Beendigung als gescheitert betrachtete; auch das negative Urteil über seine Tätigkeit vom preußischen Standpunkt ließ sich kaum noch deutlicher umschreiben, ohne die Konsequenz eines vollständigen Rückzugs von der Konferenz zu ziehen. Zugunsten einer gesonderten und zentralen Verwaltung der Landmasse Preußens führte er an: „1. Die Erhaltung eines großstaatlichen Beamtentums, 2. die notwendige Klammer zwischen dem politisch und wirtschaftlich entgegengesetzten Westen und Osten, 3. die Unsinnigkeit vielfach verschiedener Gesetzgebung, die Ablehnung zwölffach getrennter letztinstanzlicher Aufsicht der Städte" und schließlich „die Entlastung der Reichsreform von gewagten Experimenten, f ü r die kein praktisches Bedürfnis" bestehe. Grzesinski erklärte schon zu diesem Zeitpunkt, daß nach seiner 80 Vgl. Brecht, Reichsreform — warum und wie? S. 22 f. Zugunsten des preußischen Standpunktes, abweichend von dem Entwurf des Verfassungsausschusses, hatte schon 1928 der Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Ahegg, eine erste R e f o r m als R e f o r m der Mittelinstanz vorgeschlagen und empfohlen, die preußischen Oberpräsidenten an die Spitze auch der Reichsmittelbehörden zu. stellen (Wilhelm Abegg, Die preußische Verwaltung, ihre Reform und das Reich, Berlin 1928, S. 42 ff.). 1924 hatte schon der Königsberger Oberbürgermeister H a n s Lohmeyer eine Zusammenfassung der Kompetenzen der Regierungspräsidenten und des Landeshauptmanns in der H a n d des Oberpräsidenten vorgeschlagen (Zur Verwaltungsreform: Preuß. Verwaltungsblatt, Bd. 45/1924, N r . 11), sich 1928 dann aber für eine Stärkung der Selbstverwaltung in der Provinzialinstanz und f ü r die Ersetzung der Länder durch 13 „Reichsprovinzen", d. h. f ü r den gleichen Rechtsstand der Provinzen und größeren und mittleren Länder bei Aufhebung der kleineren ausgesprochen: Zentralismus und Selbstverwaltung, Berlin 1928. Zu Beginn 1929 entwickelte Innenminister Grzesinski schlagartig in mehreren Presseorganen Gedanken einer preußischen Verwaltungsreform im Zusammenhang mit den Erörterungen einer Reichsreform. Preußische Verwaltungsreform: Berliner Tageblatt, N r . 17 vom
10. 1. 1929; Preußens Verwaltungsreform: Hannoverscher Kurier, N r . 16/17 vom 11. 1. 1929; Die Verwaltungsreform k o m m t : Voss N r . 18 vom 11. 1. 1929; Die Einzelheiten der Verwaltungsreform: Berliner Tageblatt, N r . 24 vom 1 5 . 1 . 1 9 2 9 . Eine aus dieser Zeit stammende Denkschrift von Grzesinski „Vorschlag f ü r eine Verwaltungsreform" enthält als H a u p t p u n k t e : Beseitigung der zweistufigen Mittelbehörde in Preußen und Ablehnung aller auf Kommunalisierung gerichteten Bestrebungen „aus staatspolitisdien Gründen". Abdruck BA, R 43 1/1952.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
599
Überzeugung das Staatsministerium die Beschlüsse der Länderkonferenz nicht „als geeignete Grundlage für die Reichsreform ansehen werde". 8 1 Dieses W o r t des für allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsfragen zuständigen Innenministers durfte mit gutem Grund für die wahre Meinung des Staatsministeriums genommen werden. Es hatte zwar mit dem Ministerialdirektor Brecht seinen Platz bei den Verhandlungen der Ausschüsse besetzt, jedoch seine Haltung der indirekt bekundeten Gleichgültigkeit unverändert beibehalten. Dies war im Grunde die Haltung der Sozialdemokratie schlechthin. I m Reichstag hatte Severing, noch als sozialdemokratischer Abgeordneter, nach Zusammentreten der Länderkonferenz im J a n u a r 1928 durchblicken lassen, daß Preußen die Pläne der Konferenz ohne großes Interesse verfolge. E r nannte sie spöttisch „resolutionär, aber nicht resolut, entschließend, aber nicht entschlossen". D i e Regierung Preußens und des Reiches „homogen" zu machen, worauf es ihm letztlich ankam, hieß, „daß die ungerade republikanische Regierung des Reiches der geraden republikanischen Regierung Preußens sich anpassen muß". 8 2 Preußen sollte nicht im Reich aufgehen, sondern das Reich übernehmen; das Schlagwort von der „Verpreußung" und „Großpreußen", das in Süddeutschland Kurswert besaß, hätte diesen Sachverhalt wohl richtig getroffen. Es bedurfte kaum noch der offiziellen Landtagserklärung Brauns vom 8. Mai 1 9 3 0 , daß der Standpunkt des „preußischen Sachverständigen . . . natürlich für die Staatsregierung nicht bindend" sei, aber daß sie „im Interesse einer Konsolidierung [der] innerstaatlichen Verhältnisse im Reiche auch jeden Entschluß eines anderen Landes, sich Preußen anzuschließen", begrüßen werde. 83 Solche Entschlüsse wollte Braun offenbar sogar durch eine Änderung des Finanzausgleichs erzwingen; denn er kündigte eine preußische Initiative im Reichsrat
81
P L T 3. WPer, StenBer d. Hauptausschusses 1930, S. 6. Sachlich stimmte hier-
mit die Erklärung eines Sprechers der D V P (Neumann) im preußischen Landtag am 11. Dezember 1929 vollkommen überein. (SBer P L T 3. WPer 7. Bd., Sp. 9307). Kritisch bzw. ablehnend verhielten sich auch die Sprecher der S P D und des Zentrums, während die D N V P überhaupt kein Interesse an den Beschlüssen des Verfassungsausschusses zeigte, a. a. O., Sp. 9250, 9441 f., 9267 u. 9433 f. Im Ergebnis bedeutete
es aber
vorerst
kaum
einen
Unterschied,
wenn
ein
deutschnationaler
Abgeordneter forderte, Preußen müsse, „auf alle Fälle absolut erhalten bleiben" und Heß bemerkte, es handele sich „einzig und allein noch um das Land Preußen, um die Frage: was soll mit Preußen geschehen? und unter uns gesagt um die Frage wo bieiben w i r } " 82
Vh R T I I I . WPer, StenBer Bd. 394, S. 12 250 f.
83
SBer P L T 3. WPer 10. Bd., Sp. 13 691 f.
600
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
gegen § 35 des Finanzausgleichsgesetzes an, um den steoierschwachen Ländern, deren Finanzbedarf die eigenen Mittel überstieg, die Reichsüberweisungen aus dem Steueraufkommen der finanzkräftigen Länder zu nehmen, die ihnen erlaubten, „auf Kosten der übrigen Länder" zu leben.84 Der Verfassungsausschuß hatte wohl ein bis ins Detail durchdachtes Programm formuliert, das als Testversuch, dem sich das Reich und eine Reihe von Ländern gemeinsam unterzogen, im Zeitpunkt einer noch kaum bewußten geschichtlichen Wende historische Bedeutung verdient; Zweck und Zukunft des Entwurfs blieben jedoch im Ungewissen. Brüning folgte als Reichskanzler dem Prinzip, den Kurs der Regierung während der Krise nach wirtschafte- und finanzpolitischen und vor allem außenpolitischen Gesichtspunkten zu orientieren. Da in der vorgefundenen Situation gerade die finanzpolitischen Folgen einer Reichsreform von gravierender Wirkung gewesen wären, der künftige Finanzausgleich aber noch in der Luft hing und jede Neuregelung mit empfindsamen Reaktionen der Länder rechnen mußte, ließ Brüning die Ergebnisse der Länderkonferenz zunächst auf sich beruhen. Die Ablehnung, die Bayern, und das jede Verpflichtung meidende dilatorische Interesse, das Preußen bekundete, ließen diesen Entschluß leicht werden. Die Beschlüsse des Verfassungsausschusses hinterließen keinen einzigen Hinweis, wie denn die erstrebte finanzielle „Vereinfachung" großen Stiles zu erreichen isei. Sie dienten hinfort nur noch als ein Mittel der Politik in den Beziehungen zwischen Reichsregierung und preußischer Regierung, die nach wie vor problematisch blieben. Die „Endlösung", die Koch-Weser in der Zeit euphemistischer Hoffnungen auf das Ergebnis der Reformverhandlungen „mit Nachdruck" 84
Die große Furcht vor der existenzgefährdenden Aufhebung des § 35 führte die kleineren Länder, die im Verfassungsausschuß der Länderkonferenz nicht vertreten waren, Thüringen, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, Lippe, Schaumburg-Lippe und Lübeck, auf Einladung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Schwerin, Frh. v. Reibnitz, im Dezember 1929 zu einer eigenen Konferenz in Schwerin zusammen. Der anfänglich verfolgte Gedanke, einen besonderen norddeutschen Staat unter Führung des finanzkräftigen Hamburg zu bilden, das das schwache Steueraufkommen der vorwiegend agrarischen Länder ausgeglichen hätte, mußte jedoch verworfen werden, weil Hamburg ablehnte und diese Konstruktion ihren Sinn verlor. Es blieb jedoch eine Interessengemeinschaft der kleinen Länder bestehen. Über die etwas aussichtsreicheren Pläne einer Gemeinschaft „Hamburg-Lübeck" Ahasver v. Brandt, Das Ende der Hanseatischen Gemeinschaft: Hansische Geschichtsblätter, 74. Jg./1956, S. 77 ff.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
601
verlangt hatte, wich kein Jota von dem Grundsatz ab, daß Preußen im Reich aufgehen müsse, sobald nur die anderen Länder zu einem solchen Schritt zu bewegen seien. Die „differenzierte Lösung" wäre im Lichte dieses Zieles nichts anderes als ein neuer Kompromiß von begrenzter Dauer gewesen, der Preußen wie den süddeutschen Ländern unter veränderten Umständen eine Übergangsfrist zugestand. Das Ende des eingeschlagenen Weges umschrieb Koch-Weser mit den Namen einer einheitlichen Reichsstädteordnung, einer Reichskreisordnung, einer Reichsgemeindeordnung und einer einheitlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit. 85 Doch hiervon war in den Wochen, da die Tätigkeit des Verfassungsausschusses endete, längst keine Rede mehr. Die Sozialdemokratische Partei lastete nach dem Rücktritt der Regierung Müller alle Schuld f ü r das Scheitern der Vorschläge des Verfassungsausschusses zuerst dem Kabinett Brüning auf, um diesen Umstand als Mittel ihrer Opposition zu nutzen. Wenn die Reichsregierung nicht die Führung übernehme und wenn Parteien und Länder vor der Aufgabe der Reichsreform versagten, dann müßte sie durch eine Volksabstimmung eingeleitet werden, erklärte Severing nunmehr. 8 ' Diese kaum ernst gemeinte Drohung mit der plebiszitären Entscheidung bildete die Begleitmusik für die parlamentarische Offensive der Sozialdemokraten. Noch vor Abschluß der Tätigkeit des Verfassungsausschusses brachten sie im Reichstag einen Antrag ein, der die Reichsregierung ersuchte, einen Gesetzentwurf vorzulegen „über eine umfassende Reichsreform mit dem Ziele einer territorialen Neugliederung der Länder, der Beseitigung des Dualismus zwischen Reich und Preußen und einer zweckmäßigen Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern" 87 . Er fand die Zustimmung der Deutschen Volkspartei, der Demokraten und des Zentrums. Noch einmal fanden sich für einen flüchtigen Augenblick die Fraktionen der wenige Monate zuvor auseinandergebrochenen Großen Koalition zusammen. Auch der Reichskanzler lieh diesem Vorstoß der Sozialdemokraten seine Unterstützung, allerdings nur aus dem taktischen Grund, „daß er gerade als sozialdemokratischer Antrag künftig eine sehr wertvolle Waffe gegenüber etwaigen preußischen Schwierigkeiten werden könne" 88 . Vorsich85
RMB 19. 10. 1928, Auszug a. dem P r BA, R 43 1/1879. * Bericht Haniels über einen Vortrag Severings über die Reichsreform im „Akademisch-politisdien C l u b " in München vom 2 7 . 5 . 1930, BA, R 43 1/1882. e ' R T IV. W P e r , 5. Ausschuß, D r S N r . 677 (Antrag Breitscheid, Sollmann vom 17.5. 1930). 88 Vermerk Pünders vom 2 2 . 5 . 1 9 3 0 BA, R 43, 1/1882. 8
602
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
tig, doch merklich bezog die Reichsregierung Position gegen Preußen, sorgfältig den Vorteil nutzend, der auch in Süddeutschland darin erblickt wurde, daß im Verfassungsausschuß „die wirklichen Absichten Preußens klarer geworden" waren und daß der preußische Ministerpräsident sein wahres M o t i v enthüllt hatte, lediglich eine Chance „für die großpreußische Lösung der deutschen F r a g e " zu suchen89 und daß er allein unter diesem Gesichtswinkel zwischen dem Erstrebenswerten und dem Bekämpften scheiden und nur zu diesem Zweck den Beschlüssen des Verfassungsausschusses einen Wert beilegen würde. Die Gesetzesvorentwürfe, die die beiden an hervorragender Stelle im Verfassungsausschuß beteiligten Ministerialdirektoren Brecht und Poetzsch-Heffter auf Grund der Beschlüsse und zum Zwecke ihrer praktischen Durchführung als Privatarbeit, aber im Einverständnis mit dem preußischen Ministerpräsidenten 9 0 ausarbeiteten und veröffentlichten, 9 1 kamen in der Reichskanzlei sogleich zu den Akten, ohne daß von ihnen noch nennenswert N o t i z genommen wurde, 92 während sie in Bayern immerhin kritische Beachtung fanden 9 3 . O t t o Braun dagegen gedachte sie als eine taktische politische Reserve der Reichsregierung gegenüber zu nutzen, indem er ihr die Initiative in der Reichsreformfrage und die Verantwortung für die ungelösten Probleme des deutschen Dualismus und Staatenföderalismus zuschob. Diese beiden Gesetzentwürfe wichen nicht unwesentlich voneinander ab und zeigten, daß die Beschlüsse des Verfassungsausschusses der L ä n derkonferenz auch unter den an ihrem Zustandekommen Beteiligten unterschiedlichen Ausdeutungen unterlagen. Brechts E n t w u r f , den die Sozialdemokratische Partei, wenn auch nicht in eindeutig verbindlicher Weise, als einzige unmittelbare und logische Folgerung der Beschlüsse 89
Karl
Schwend,
Prognose
der Reichsreform.
Was
will
Preußen?:
Deutscher
Süden, 1930, N r . 3. 90
So die in der Schilderung der zeitlichen Zusammenhänge etwas unklare Dar-
stellung von O . Braun, Von Weimar zu Hitler, S. 360. 81
Reich und Länder, 4. Jg./1930/1931, S. 135—140 u. S. 2 2 4 — 2 2 9 .
52
Auf den mit einem Schreiben an Reichskanzler Brüning vom 17. 12. 1920 über-
reichten Entwurf Poetzsch-Heffters erwiderte die Reichskanzlei mit einer in Fällen von derartiger Bedeutung
ganz
und gar ungewöhnlichen,
kurzen
und
frostigen
Empfangsbestätigung, die nicht einmal eine Dankesformel enthielt. BA, R 43 1/1882. Der Entwurf wurde wie die belanglose Eingabe irgendeines Privatmannes, die keiner Bearbeitung bedarf, abgetan. 33
Ministerialrat Karl Sommer, Vorschläge für eine Reichsreform: Bayerische Ver-
waltungsblätter. Blätter für administrative Praxis, 78. Jg./1930, S. 3 8 6 — 3 9 1 ; auch Bayerischer Kurier, Nr. 76 vom 1 7 . 3 . 1931.
Gemeinsames
Programm
zur
Reichsreform
603
der Länderkonferenz beachtete," drückte die Konsequenz einer vergröbernden, jedoch praktischen und detaillierten Umsetzung dieser Beschlüsse in einen Gesetzentwurf zur Änderung der Reichsverfassung aus. Die wichtigsten dieser Änderungen betrafen den Katalog der Zuständigkeiten des Reiches, der um die Verwaltungsgerichtsbarkeit und im Bedürfnisfall die Grundsatzgesetzgebung für das allgemeine Verwaltungsrecht, den Verwaltungsaufbau der Länder und das Gemeindeverfassungsrecht erweitert werden sollte. Sie schlössen Vorschriften zur stärkeren Sicherung der Länderregierungen gegenüber den Landtagen ein, enthielten die Umwandlung sämtlicher preußischer Staatsbehörden in Reichsbehörden und die Übernahme einer Reihe von Verwaltungen in den „Ländern verstärkter Gemeinschaft" durch das Reich. Brecht setzte diesen Terminus jetzt an die Stelle des nichtssagenden Ausdrucks „Länder neuer Art". Er führte aber auch schon die Länder auf, die diesen Namen führen sollten: Thüringen, Hessen, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, Bremen, Lippe, Lübeck, Mecklenburg-Strelitz und Schaumburg-Lippe, also die Länder mit weniger als zwei Millionen Einwohnern — unter Einschluß Preußens das gesamte Gebiet des Norddeutschen Bundes, ohne Sachsen. Die Verfassung der „Länder verstärkter Gemeinschaft" sollte allgemein der der preußischen Provinzen nachgebildet werden. Der hier wiedererstehende Norddeutsche Bund wäre in der Tat zu einem Einheitsstaat preußischer Prägung geworden. Von einem Aufgehen Preußens im Reich wurde an keiner einzigen Stelle gesprochen, wohl aber von der Aufhebung der Bestimmungen des Artikels 61 und 63 der Reichsverfassung, die den preußischen Stimmenanteil im Reichsrat begrenzten bzw. aufteilten und zur Hälfte den preußischen Provinzialverwaltungen überließen. Diese Regelung sollte keineswegs den „Ländern verstärkter Gemeinschaft" zugute kommen; der auf ganz Norddeutschland entfallende Anteil der Reichsratsstimmen blieb der Reichsregierung vorbehalten. Über das Schicksal der preußischen Regierung war gar nichts zu ersehen. Doch niemand konnte außer Acht lassen, daß eine Verwirklichung dieses Plans über ihre Existenz und ihre Haltung nicht hinwegschreiten konnte. Da der Ministerpräsident an der Entstehung dieses Entwurfes nicht schuldlos und seine Politik seit Beginn der Republik beharrlich darauf gerichtet war, Ansehen, Macht und Besitzstand Preußens zu wahren und zu 9J Vgl. die Darstellung im Jahrbuch der Deutschen Sozialdemokratie f ü r das J a h r 1930, hrsg. vom Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, S. 38 f.
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III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
mehren, 95 liegt die Folgerung nahe, daß Braun hierin eine neue Möglichkeit erblickt zu haben glaubte, die Reichsregierung in eine Richtung zu drängen, in der sie schließlich dem Willen Preußens folgen mußte. Schon vor dem Zustandekommen des Reichskabinetts Müller im Juni 1928 hatte Braun eine eigene Kanzlerschaft unter Beibehaltung seines Amtes als preußischer Ministerpräsident, die Lösung Bismarcks, erwogen und hierbei in Rechnung gezogen, daß die Deutsche Volkspartei wieder an der preußischen Regierung beteiligt werden müßte." Da seine Partei aber Hermann Müller zum Kanzler bestimmte, was Braun als tiefe Enttäuschung empfand und nur schwer verwand, 97 versagte er sich dem Gedanken eines Anschlusses an die Reichsregierung, um ihn jedoch nun nach dem Sturze Hermann Müllers auf diese indirekte Weise, zwischen Prinzipien, Parteimentalität, erklärten und taktischen Doktrinen lavierend, erneut ins Spiel zu bringen. Für die erfolgreiche Behandlung des Brechtschen Entwurfs im Reichstag und für die Annahme des geplanten Gesetzes durch die erforderliche verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit fehlte indessen seit der Wahl vom 14. September 1930 jegliche Voraussetzung und damit jede praktische Grundlage unter den herrschenden parlamentarischen Bedingungen, deren Änderung so bald nicht erwartet werden konnte. Seine parlamentarische Behandlung kam infolgedessen gar nicht in Betracht. Es bleibt daher nur der Schluß, daß die preußische Regierung, ohne dies deutlich einzugestehen, die Hilfe der Diktaturgewalt des Reichspräsidenten auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung in Erwägung zog, wohl hoffend, daß sie auf diesem Wege in den Besitz der wichtigsten Reichsministerien gelangte. 98 85 Vgl. auch das summarische, den Kern treffende Urteil von K. D . Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 567 f. 86 O. Braun, Von Weimar zu Hitler, S. 245 f. 87 Das Ende der Parteien, hrsg. v. Erich Matthias u. Rudolf Morsey, Düsseldorf 1960, S. 114. 98 Staatssekretär a. D. Prof. Dr. Arnold Brecht, N e w York, schrieb, vom Verf. befragt, in einem Brief vom 6. 12. 1957 hierzu: „Wir haben innerhalb der preußischen Regierung oft erwogen und gelegentlich auch in Besprechungen mit Vertretern der Reichsregierung erörtert, was von der Reichsreform durch Notverordnung vorweggenommen werden könnte. Der Gedanke, die Reichsreform durch Notverordnung als Ganzes durchzuführen, ist meines Wissens niemals von preußischen Stellen, und bis zum Papenstreich auch nicht von Reichsstellen, erwogen oder auch nur erörtert worden, weil es ja klar war, daß die dazu nötigen Änderungen der Reichsverfassung und die Zustimmung des Reichsrats und des Reichtages nicht durch Notverordnung nach Artikel 48 ersetzt werden konnten. Was erwogen wurde, war
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Programm
zur
605
Reichsreform
So undurchsichtig nach außen hin wie die Hintergründe des Brechtschen Entwurfs blieb auch die Haltung Otto Brauns. Offiziell äußerte er sich weder zur Tätigkeit seines Ministerialdirektors im Verfassungsausschuß der Länderkonferenz noch zu dem veröffentlichten Gesetzentwurf, obwohl es keine Zweifel geben konnte, daß Brecht nichts ohne seine Zustimmung verrichtete. Länger als ein Jahr blieb es offizielle Version, daß das Preußische Staatsministerium zur „Reichsländerkonferenz" überhaupt noch nicht amtlich Stellung genommen habe: „Der Zeitpunkt zu solcher Stellungnahme wird erst gekommen sein, wenn die Reichsregierung sich zur Vorlegung von Plänen oder Gesetzentwürfen über eine Reichsreform entschließen sollte". 9 ' Doch die Reichsregierung zeigte nur ein dilatorisches Interesse. Reichsinnenminister Wirth erklärte zwar während der Stein-Feier in der Frankfurter Paulskirche am 28. Juni 1931, daß der Wille zur Reichsreform vorhanden sei. Er teilte der aufhorchenden Öffentlichkeit mit, daß in seinem Ministerium ein Gesetzentwurf ausgearbeitet werde, der dem Reichstag zugeleitet werden solle. Wirth ließ aber auch durchblicken, daß diese routinemäßige Einleitung der gesetzgeberischen Behandlung eines aktuellen Problems nicht ohne entscheidende Vorbehalte vorangetrieben wurde. Er richtete an Preußen die Aufforderung, sich nunmehr zu entschließen, selbst den ersten Schritt zu tun.100 Damit aber schob er das Problem wieder der preußischen Regierung zu, die es nur innerhalb des eigenen Landes in Form einer großzügigen Dezentralisation des Staatsaufbaus lösen konnte, wozu sie jetzt wie zuvor weder Initiative noch Neigung zeigte. Letztlich ging es nur um die Reichsvielmehr das Folgende. Es w a r ohne Verfassungsänderung möglich, alle preußischen Minister zu Reidisministern ernennen,
dabei
die
Zahl
und alle Reichsminister der
Minister
zu
zu preußischen Ministern
verringern,
die
Leitung
zu
verwandter
Ministerien des Reichs und Preußens (Innenministerien, Wirtschafts- bzw. Handelsministerien, Justizministerien,
Finanzministerien,
Arbeits-
bzw.
Wohlfahrtsministe-
rien) in je eine H a n d zu legen und dann durch N o t v e r o r d n u n g nach Artikel 48 diejenigen
verwaltungsmäßigen
L a g e ergaben. Ein eine
endgültige
Vereinfachungen
solches Vorgehen
Regelung
durch
durchzuführen,
setzte natürlich
verfassungsänderndes
voraus, Gesetz
die
sich aus
daß m a n
dieser
versuchte,
in absehbarer
Zeit
folgen zu lassen, am besten ein solches Gesetz gleichzeitig einzubringen." 99
Erklärung
dienst v o m
des preußischen
11.6.1931
Innenministers
im
Amtlichen
und kommentierende Ausführung
Handsihreiben an P ü n d e r v o m 1 6 . 6 . 1 9 3 1 , B A , R 4 3 100
Preußischen
Brechts hierzu
Presse-
in einem
1/1882.
H i e r z u die Aufsätze v o n Poetzsch-Heffter, Die Reichsreform seit Abschluß der
L ä n d e r k o n f e r e n z : D J Z 3 8 . J g . / 1 9 3 3 , Sp. 8 — 1 3 ; und Brecht, Stationen der Reichsr e f o r m : Voss N r . 401 v o m 2 1 . 8. 1 9 3 2 .
606
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reichsreform
politik, die allein noch der preußischen Ziel und Inhalt zu geben vermochte, indem sie danach strebte, die entscheidende Rolle der Sozialdemokratie in der tolerierenden Mehrheit des Reichstags 101 auf dem Wege über die Lösung des preußischen Problems durch die gouvernementale Beteiligung an der Präsidialregierung zu krönen und im Reich wieder die Große Koalition an die Macht zu bringen. „Juristenkampf"
und Staatsdenken
im verfassungspolitischen
Dilemma
Doch diese Politik stand bereits unter den verändernden Vorzeichen der großen Staats-, Finanz- und Wirtschaftskrise, die den Anfang einer Epoche bezeichnet, in der Werte und Haltungen einem raschen Wandel der Zuordnungen unterlagen. Wir lösen uns an dieser Stelle mit dem Ende der Periode der Konsolidierung und der Kompromisse von der Betrachtung der deutschen Verfassungspolitik, die mit der Entscheidung für die Diktaturgewalt in ein neues Stadium trat. Die Diskussion über die Reichsreform hatte ihren Höhepunkt im letzten der zwanziger Jahre erreicht und überschritten, während für die sensibelsten, die pessimistischsten und die grundsätzlich oppositionellen K ö p f e die Anzeichen der großen Krise immer deutlicher bemerkbar wurden. Das Ausmaß dieser Erörterungen, des literarischen und rhetorischen Aufwandes scheint, wollte man etwa mit dem Sommer 1930 ein Fazit ziehen, in keinem günstigen Verhältnis zum Ergebnis zu stehen. Sie wurden von Juristen, Professoren, höheren Beamten und Ministem geführt. Aber auch Parteien und weltanschauliche Gruppen haben sich ihrer angenommen und bedient, so daß sie in beträchtlichem Umfang Popularität gewannen. Eine Verwaltungs- und Verfassungsreform konnte nach der verfassungsrechtlichen Lage wie nach den politischen Gegebenheiten auf sichere Weise nur durch den einmütigen Willen des Reiches und der Länder ins Werk gesetzt werden. D i e anhaltende Diskussion in allen Räumen des öffentlichen Lebens erscheint, historisch gesehen, wie ein vergeblicher Versuch großen Ausmaßes, eine solche Ubereinkunft der Meinungen und Interessen zu erreichen. D a es jedoch an einem einheitlichen Ausgangspunkt dieser Erörterungen ebenso fehlte wie an einer großen überragenden Willensrichtung, die sich ohne Schaden für Verfassung und politische Entwicklung durch101
Vgl. die Erinnerungen von O . B r a u n , Von Weimar zu Hitler, S. 3 1 0 ; C . Seve-
ring, Mein Lebensweg II, S. 2 5 8 ; F. Stampfer, Die vierzehn Jahre, S. 5 7 9 ; sowie die Darstellung von K . D. Bracher, Die Auflösung, S. 378 ff.
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Programm
zur
Reichsreform
607
zusetzen wußte, erwuchs aus den amorphen Verhältnissen weder ein gewisses Maß an Einmütigkeit noch ein Übereinkommen. Die große, formlos und regellos, wenn auch von keiner Seite absichtslos geführte Diskussion erscheint auf ihrem Höhepunkt bereits von dem heraufziehenden Gewölk der großen Wirtschaftskrise überschattet, die hinfort auch die Entscheidungsfreiheit der deutschen Regierungen in enge Bahnen preßte. Doch ihre Bestrebungen und zutage geförderten Ergebnisse wurden dadurch keineswegs von der Tagesordnung verdrängt. Die Regierung des Reichskanzlers Brüning setzte sie nur einstweilen von der Liste ihrer Programm- und Verhandlungspunkte ab. Die Probleme der Verfassung, vor allem die Fragen hinsichtlich der Reichszentralinstanzen und der Länder büßten weder Bedeutung noch Aktualität ein. Sie traten nur in den Jahren einer rasch wechselnden politischen und sozialökonomischen Szenerie in ein neues Licht und bildeten in veränderten Beziehungen zu den Problemen der inneren Politik Deutschlands neue Kombinationen, die dem Wort von der „Reichsreform" fortan einen vielfarbig schillernden Charakter gaben. Doch nichts, was noch geschah und was gedacht wurde, war gänzlich neu und in dieser oder jener Form nicht schon in früheren Jahren der Weimarer Republik zutage getreten. Wir erkennen gegen Ende der scheinbar so hoffnungslos beginnenden zwanziger Jahre zwar differenzierte, keineswegs ausprägte, aber doch unübersehbare Formen des engagierten Interesses und der politischen Beteiligung großer Kreise des Bürgertums an der Ausgestaltung und an der inneren Entwicklung der Republik. (Das Interesse an der äußeren stand nie in Frage.) Es wurde maßgeblich beeinflußt, geleitet, ja zum Teil beherrscht von den Interessen und Ideen seiner Prestigeoberschicht, „Intellektuellen" in einem späten bürgerlichen Sinne: den intellektuellen Hütern des Verfassungsrechtsstaates, in erster Linie dem hohen, qualifizierten Beamtentum und der gelehrten Juristenschaft. Die deutsche staatstheoretische und politisch-theoretische Literatur des 20. Jahrhunderts hat gewiß den Griff nach den Sternen kaum je gewagt; und sollte ihn einer unter den vielgenannten Autoren einmal gewagt haben, so war ihm am Ende kein großer, für lange Frist bahnbrechender Erfolg beschieden. Über die Grenzen, die Karl Ludwig v. Haller, Adam Müller, Robert v. Mohl, Lorenz v. Stein, Friedrich Julius Stahl, Rudolf v. Gneist, Otto v. Gierke, Paul Laband, Georg Jellinek und einige wenige andere setzten und die im 19. Jahrhundert weit erschienen, ist im 20. kaum einer mit anhaltendem Erfolg vorgestoßen. Das politische Interesse, das sich neu zu regen scheint, läßt
608
III. Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
allenthalben die Verengung, die Beschränkung spürbar werden, und dies erklärt den Rückzug auf das verwaltungsjuristische Denken, das vom positivistischen Geiste genährt und durchtränkt ist. Dem Beamtentum galt das Institutionelle stets mehr als konstitutionelle Prinzipien102; ihm war das Amt bedeutsamer als die Verfassung. Die Institutionen aber gaben in der Periode gewaltiger und oft gewalttätiger Dynamik der modernen Gesellschaft allzu häufig Gleichungen mit mehreren Unbekannten in politischer oder in soziologischer Hinsicht auf, wovon dem Gesetzpositivismus nichts anzumerken war. Die Verfassung, in der Hauptsache von Juristen geschaffen, jedoch mit wenig Mut und Uberzeugung ins Leben gesetzt, bot in wesentlichen Fragen weit mehr Neuland als vertraute und gesicherte Grundlagen. Wir wollen uns davor hüten, den Stab über diese Zeit und ihren Geist zu brechen. Nach unserer historisch vertieften Erfahrung erscheint es jedoch auch bei voller Würdigung der unbestreitbaren Qualitäten, die dieses Denken in Theorie und Praxis in seinen bedeutendsten Repräsentanten zu gewinnen vermochte, nicht möglich, die Augen vor den Gefahren der Einseitigkeit zu verschließen. Denn was sich im Gefolge der großen Krise in Deutschland ereignete, war nicht zuletzt eine Tragödie des politischen Denkens — nicht nur eine Tragödie der Moral; diese setzte später ein. „Ich gehe davon aus, daß der Kampf um die Verfassung weniger ein in Verfassungsbestimmungen auszutragender Juristenkampf als vielmehr ein geistiger Kampf um die politische Seele des deutschen Volkes ist", schrieb in einer Denkschrift vom 26. Mai 1924 Reichswirtschaftsminister Hamm 103 . Ein solcher „Kampf um die Verfassung" hätte vielleicht aus der Verfassung von Weimar lebendige Wirklichkeit werden lassen; ihr Kompromißcharakter schloß diese Möglichkeit keineswegs aus. Er wurde jedoch mitnichten zu einem „geistigen Kampf um die politische Seele" der Deutschen — was auch immer man hierunter verstehen will, wenn auch manche den „Juristenkampf" um Verfassungsbestimmungen hierfür hielten. Die Reichsverfassung der Nationalversammlung von Weimar diente der Konsolidierung, der „Uberwindung der Revolution", die noch kaum begonnen hatte. In 102
Hierzu Fritz Härtung, Studien zur Geschichte der preußischen
Verwaltung.
Dritter Teil: Zur Geschichte des Beamtentums im 19. u. 20. Jahrhundert (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Jg. 1 9 4 5 / 4 6 , Phil.hist. Kl. N r . 8), Berlin 1948, S. 13 f.; jetzt auch Härtung, Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 237 ff. >os Abschr. B A , R 43 1 / 1 8 6 1 .
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zur
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dieser Eigenschaft bestimmte sie den Charakter der Periode, die mit dem Eintritt der großen Krise zu Beginn des vierten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts endete. Eben in dieser Eigenschaft war sie aber auch Ausgangspunkt, zugleich Objekt und Maßstab der Versuche der Revision oder der Reform, die den jeweiligen Stand der Restauration der politischen Kräfte in dem Daseinsrahmen ausweisen, der ihnen nach dem Ausgang des ersten Weltkrieges verblieben war. Die Berufung auf die Normen der Reichsverfassung bildete auch die Grundlage der Verfassungspolitik der Reichsregierungen. Populär ist das schwer durchschaubare und umfängliche Verfassungswerk von Weimar hierdurch jedoch nicht geworden.104 Abnutzungserscheinungen sind bereits während der zehn Jahre der Konsolidierung unverkennbar. An der verbreiteten Verfassungsfeindlichkeit oder Verfassungsgleichgültigkeit war indessen die Politik der Länder dem Reich gegenüber keineswegs weniger beteiligt. Für sie wurde die Verfassungspolitik zu einem Ringen, in dem sie ihre vorrepublikanische Eigenstaatlichkeit ganz oder annähernd wiederherzustellen trachteten. In Bayern spielten zeitweilig monarchistische und auch separatistische Strömungen eine größere Rolle. Die sich immer wieder erneuernde Front des „Stuttgarter Protests", die zeitweilig außer den beiden anderen süddeutschen Ländern auch Sachsen und Hessen mit Bayern zusammenschloß, bildete eine maßvollere, aber bei weitem nicht weniger wirkungsvolle Opposition. Die preußische Regierung stellte sich im allgemeinen ausdrücklich auf den Boden der Reichsverfassung, soweit das ihren Bestrebungen und Zielen günstig war. Jene Verfassungs- und Gesetzesnormen aber, die ihr nachteilig erschienen, die Bestimmungen über den Reichsrat, den Neugliederungsartikel, den Ausgleich für die steuerschwachen Länder innerhalb des Finanzausgleichs, bekämpfte sie bei jeder Gelegenheit, in der sich ihr die Möglichkeit zur Entfaltung eigener Initiative bot. Um solche ihr günstigen Gelegenheiten zu schaffen und um ihren Einfluß auf die Reichsregierung möglichst dauerhaft zu gestalten, bezog sie wechselnde Positionen in den Auseinandersetzungen zwischen den Regierungen der Länder und des Reiches und nahm sie trotz des immer wieder erklärten Zieles des zentralisierten oder „dezentralisierten" Einheitsstaates an der Belebung politischer Diskrepanzen in der föderativen Verfassungsstruktur Anteil. 105 104 Über die Haltung namhafter württembergischer Politiker zur Reichsverfassung W. Besson, Württemberg, S. 72. 1 0 5 Daß innerhalb der preußischen Ministerien Vorstellungen existierten, die über
39
Schulz I
610
III.
Tendenzen
und Probleme
einer
Reichsreform
Vom Standpunkt des preußischen Staates, der einheitlichen Regierungsweise über die Landmasse, die die preußische Monarchie erworben und zusammengefaßt hatte, darf diese Politik teilweise erfolgreich genannt werden. Sie wußte es zu verhindern, daß der Artikel 18, der in der Vorgeschichte der Weimarer Reichsverfassung eine große Rolle gespielt hatte, jemals ernsthafte Bedeutung erlangte. Das Inkrafttreten der Verfassungsbestimmungen, die die Stellung Preußens im Reichsrat beschränkten, konnte sie hinauszögern; und es fehlte nicht an Versuchen, sie zu beseitigen oder ihnen den Sinn zu nehmen. Doch der Erfolg dieser Politik beschränkte sich auf das Unterbinden und das Hemmen, auf Bewahrung und Konsolidierung der erlangten Macht, die sie weder zu erweitern noch gänzlich im Sinne einer Wiederherstellung der einstigen Hegemonie durchzusetzen vermochte. Auch neuen politischen Entwicklungen innerhalb Deutschlands oder auch nur innerhalb Preußens hat sie keineswegs zum Siege verholfen oder zu verhelfen versucht. Die Parteienkoalition, die die Zusammensetzung des Preußischen Staatsministeriums bestimmte, legte weit mehr Beharrungskraft an den Tag als irgendeine andere Regierungskoalition im Reich. Doch niemand wird ernstlich behaupten wollen, daß, aufs ganze betrachtet, Preußen demokratischer und sozialer oder gar sozialistischer regiert oder weniger zentralistisch verwaltet wurde als irgendein anderes Land. Primär war es ein Verwaltungs- und Beamtenföderalismus, sekundär ein Parteienkoalitionsföderalismus, der das überwältigende Gewicht der zentralisierten „Reichs"-Organisationen des modernen Großstaates, der in Deutschland verspätet und infolge wie im Gefolge des ersten Weltkrieges fast überraschend, ohne hinreichende politisch-ideelle Vorbereitung anbrach, mit Hilfe historisch-traditionaler Staatseinrichtungen aufzufangen und aufzuhalten suchte. Die parlamentarische Demokratie im modernen Großstaat der industrialisierten Gesellschaft bietet vor allem anderen eine Fülle schwieriger und schwerwiegender Probleme technisch-organisatorischer, administrativer und prozessualer Art, was stets ihre Gegner, aber auch manche ihrer weltanschaulichen Verteidiger außer Acht lassen. die taktischen Reservate des Ministerpräsidenten hinausdrängten, l ä ß t sich aus dem K o m m e n t a r Arnold Brechts schließen, O t t o Braun habe häufig „seine Macht" gar nicht ausgenutzt, wenn „er es im Interesse seiner eigenen Politik oder dem seiner Partei hätte tun k ö n n e n " . Brecht, Vorspiel zum Schweigen, S. 83.
Gemeinsames Programm zur
Reichsreform
611
I n der T h e o r i e — wollte man von der A n n a h m e einer möglichen einheitlichen verfassungspolitischen K o n z e p t i o n ausgehen, was natürlich nur v o n heuristischem W e r t ist — stand der durch die R e p u b l i k inaugurierte P a r l a m e n t a r i s m u s in der föderativen R e s t s t r u k t u r des D e u t schen Reiches v o r einer eindeutigen A l t e r n a t i v e . E r h a t t e sich w o h l oder übel zwischen dem Z e n t r a l s t a a t und dem P a r t i k u l a r s t a a t zu entscheiden. Dieses P r o b l e m k a n n t e schon die N a t i o n a l v e r s a m m l u n g in der F r a n k f u r t e r Paulskirche 1848/49. Seitdem w a r jedoch das technisch-organisatorische und administrative Gerüst des modernen G r o ß staates ein ganz und gar anderes, komplizierteres und schwerer durchschaubares geworden. D a s
Problem
w a r demzufolge w a h r h a f t
un-
endlich schwierig; doch es blieb im P r i n z i p unverändert. K o m p r o m i s s e k o n n t e n entstehen und U b e r g ä n g e einleiten oder erleichtern. Doch sie blieben stets gefährdete P u n k t e der A n f ä l l i g k e i t in Zeiten der K o n flikte oder K r i s e n . D i e R ü c k k e h r zum S t a a t e n b u n d w a r unter
den U m s t ä n d e n
der
Nachkriegszeit, nicht zuletzt im H i n b l i c k auf die R e p a r a t i o n s p o l i t i k und die alliierten Forderungen, endgültig nicht mehr möglich. Doch die Konsolidierung eines zentralparlamentarischen Systems h a t ohne Z w e i f e l schwer unter den F r a k t u r e n des historischen Staatenföderalismus der Ä r a von W e i m a r gelitten und auch notwendigerweise unter ihm leiden müssen. H i e r erwies sich die deutsche E i n h e i t t r o t z andersartigen Anscheins als eine F i k t i o n . U n d man ginge von einer historischen F i k t i o n aus, wollte m a n die P o l i t i k der W e i m a r e r R e p u b l i k im Inneren als eine irgendwie geartete E i n h e i t ansehen. Selbst der entschiedenste N a t i o n a l i s m u s blieb v o r dem S t r u k t u r p r o b l e m des Reiches in dieser Zeit u n k l a r und vermochte sich nur an der F o r m e l der alles überwölbenden D i k t a t u r aufzurichten. Politisch-theoretisch n ä h r t e sich die Idee von der deutschen E i n h e i t v o n der überall lebendigen R e m i niszenz an den Bismarckschen Reichsbau und sein scheinbar f o r t w i r kendes E r b e in der eigenen Zeit, die durch die Vorstellung von der glanzvollen G r ö ß e der Vergangenheit überhöht wurde. W e d e r B a y e r n , noch die Einheitsstaatstheoretiker, so ernsthaft sie sich auch von der militärischen Vergangenheit des- preußisch-deutschen Reiches zu lösen trachteten, noch die politischen Strategen in der Reichswehrführung, noch das Preußen O t t o Brauns sind von den Vorstellungen des Bismarckschen Reichsaufbaus
freigekommen.
Doch sie suchten
überaus
unterschiedliche M e r k m a l e und Eigenheiten dieses Reichsideals schlechthin. I m G r u n d e w a r auch dies keine wirklich orientierende Idee, die in das staatsbürgerliche und allgemein in das politische Bewußtsein 39»
612
III. Tendenzen
und Probleme einer
Reicbsreform
verbindlich ordnend eintreten konnte. Doch gerade diese Periode hätte einer klaren politischen Orientierung mehr bedurft als irgendeine andere. Dies war die Ära des Beamtentums, das nun aus seiner Stellung der technischen Hilfe weit hinaustrat, ohne seine Charakterzüge zu verleugnen oder auch nur einzelne seiner spezifischen Merkmale abzulegen. K r a f t seiner Existenz bestimmte es Eigenheit und Struktur des neuen Reiches, wurde zum wirklich kompetenten Träger des traditionalen territorialstaatlichen wie des reichsunitarischen Denkens, in dem schließlich Staatsideologien, Parteipolitik und wirtschaftliche Interessentenmeinungen bis zur UnUnterscheidbarkeit in eins zusammenflössen.
Bibliographie A.
Archivalien
Bundesarchiv Koblenz Akten der Reichskanzlei (Bestand R 43 I) Nachlaß Hermann Dietrich Nachlaß Bill Drews Nachlaß Wilhelm Freiherr v. Gayl Nachlaß Erich Koch-Weser Nadilaß Moritz Saemisdi Hauptarchiv Berlin-Dahlem (ehem. Geheimes Preuß. Staatsarchiv) Akten des Preußischen Staatsministeriums (Rep. 90) Aktenrest des Preußischen Ministeriums für öffentliche Arbeiten bei den Akten des Generalinspektors für Wasser und Energie — Abt. Reithswasserstraßen (Rep. 327)
B.
Protokolleditionen
Stenographische Berichte der Verhandlungen der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung 1919-1920 Anlagen hierzu Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Reichstags Anlagen hierzu Niederschriften der Vollsitzungen des Reidisrats Druchsachen hierzu Sitzungsberichte der Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung Druchsachen hierzu Sitzungsberichte des Preußischen Landtags Druchsachen hierzu Niederschriften und Beschlüsse der Länderkonferenz (Januar 1928) und ihres Verfassungsausschusses : Die Länderkonferenz (Januar 1928), herausgegeben vom Reichsministerium des Innern, Berlin 1928 Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses der Länderkonferenz f ü r Verfassung und Verwaltungsreform am 4. Mai 1928, Berlin o. J. Stenographische Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses der Länderkonferenz f ü r Verfassung und Verwaltungsreform vom 22. bis 24. Oktober 1928, Berlin o. J. Verfassungsausschuß der Länderkonferenz: Verhandlungen der Unterausschüsse vom 5. und 6. Juli 1929, Berlin 1930; Verhandlungen der Unterausschüsse 18./19. Nov. 1929, Berlin 1930; Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Reich und Ländern (Beschlüsse des Unterausschusses vom 6. Juli 1929), Berlin 1930; Verhandlungen
614
Bibliographie
der Unterausschüsse vom 20. J u n i 1930 u n d Beschlüsse des Unterausschusses über die Organisation der L ä n d e r u n d den Einfluß der L ä n d e r auf das Reich (Beschlüsse vom 19. N o v e m b e r 1929 u n d 20. J u n i 1930), Berlin 1930; V e r h a n d l u n g e n u n d Beschlüsse des Verfassungsausschusses (Gesamtausschuß über die A b g r e n z u n g der Zuständigkeit zwischen Reich und L ä n d e r n u n d über die Organisation der Länder und den Einfluß der Länder auf das Reich, Berlin 1930
C.
Gesetzblätter
Reichsgesetzblatt (Teil I) Preußische Gesetzsammlung
D.
Zeitungen
Bayerische Staatszeitung Vossische Zeitung A u ß e r d e m k o n n t e n einzelne N u m m e r n folgender Tageszeitungen herangezogen werd e n : Bayerischer Kurier, Berliner Tageblatt, Deutsche Allgemeine Zeitung, F r a n k f u r t e r Zeitung, Hannoverscher Kurier, Kölnische Zeitung, Münchner Neueste Nachrichten, D e r T a g , D e r Z e n t r a l r a t (Mitteilungsblatt des Zentralrates der deutschen sozialistischen Republik).
E.
Literatur
Im folgenden wird keine erschöpfende oder annähernd vollständige Aufstellung geboten, sondern nur ein Verzeichnis der Titel, die für das Thema und den Kreis der Probleme dieses Buches unentbehrlich sind. Wer mehr sucht, sei auf die geläufigen bibliographischen Hilfsmittel verwiesen, in erster Linie auf die Jahresberichte für deutsche Geschichte, Neue Folge (seit 1949), hrsg. zunächst von Albert Brackmann und Fritz Härtung, danach von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Geschichte, Abteilung Information und Dokumentation, Berlin (Ost), letzter Band: 36. Jahrgang (1986).
Adametz, Walter, und Mössner, Karl-Eugen, Die deutsche Verwaltungs- und Verfassungsreform in Zahlen. Berlin o. J. A begg, Wilhelm, Die preußische Verwaltung, ihre Reform, Reich und Länder, Berlin 1928 A nschütz, Gerhard, Das Programm der Reichsregierung: Juristische Wochenschrift, -47. Jg./1918
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Dokumentenanhang
1. Reichspolitik
und Länder
im Frühjahr
1923
633
7 Berlin,
den 1 5 . A p r i l
1923.
in den Herrn Hei d i s k o n t i e r «
Saoh den E r g e b n i s chung mit dem Herrn
dBr
gestrigen
Bespre-
Reichajustizniniater
und den Herrn R e i o h s m i n i s t e r
des I n n e r n komne
i c h zu der im f o l g e n d e n d a r g e l e g t e n
Auffas-
sung der g e g e n w ä r t i g e n L a g e , der Z i e l e R e i o h s r e g i e r u n g und des I • Die
der
Verhandlungswege^:
Lage:
Das R e i c h wird g e g e n w ä r t i g von Landesregierungen
einzelnen
auseinanderregiert:
1 . I n S a c h s e n und Thüringen werden p r o l e t a r i s c h e Hundertschaften a l s n i B a t i o n gegen f a s z i s t i s o h e
"Abwehrorga-
Unterdrückungs-
a b s i o h t e n " u n t e r den S c h u t z e der
Staatsregie-
rung g e b i l d e t . I h r e Aufgabe s o l l
sieb
den a a t l i o h e n Kundgebungen auf
nach
Versamolungs-
s c h u t i , S a a l s c h u t z und J i g e n t u m s s c h u t z p r o l e t a r i s c h e n K ö r p e r s c h a f t e n usw.
der
beschrän-
k e n ; i n d e r R e g i e r u n g s e r k l ä r u n g des
sächsi-
sohen M i n i s t e r p r ä s i d e n t e n wird der Arbei t e r s o t r f t f ü r i h r e B e r e i t s c h a f t gedankt und i n A u s s i o h t genommen, die
AbwehxTereinlgungen
a n t e r s t a a t l i c h e n B e f e h l zu s t e l l e n .
Offen-
kundig bedeuten d i e s » i n R i c h t u n g und Zusammensetzung e i n s e i t i g e n O r g a n i s a t i o n e n p o l i t i s c h e B e l a s t u n g . Venn schon der »ohe M i n i s t e r p r ä s i d e n t
die
eine
sächsi-
laffenlosigkeit dieser
634
Dokumentenanhang
-2. dl e s e r » V e r e i n i g u n g e n
besondere
so s t e h t dem d i e Äusserung des s c h e n Redners e n t g e g e n ,
der d i e Bewaffnung
f o r d e r t e . Erfahrungen spreohen dafür,
hervorhob, konnurfiBti-
jedenfalls
daßa d i e V e r e i n i g u n g e n b e i
der p o l i t i s c h e n V e r h ä l t n i s s e
tu
gungen des K l a s s e n k a m p f e s werden, ist
ZuBpitensg
Vereinidieiobwohl
ein Vor^-enen gegen s i e auf Grund der
gegenwärtigen
Gesetze n i o h t m ö g l i c h ,
s i e nicht m i l i t ä r i s c h e Vereinigungen s t e l l e n und s i e nach i h r e n
da dar-
Zusammenhängen
nicht i des § e i n i g u n g e n i n S i n n e des t 7 Z i f f e r 4 des Schutzgesetzes
g e l t e n können.
Etwas andaraB i s t stischen
es mit den kommuni-
Hundertschaften,
wie s i e i n
t h ü r i n g i s c h e n O r t e n und i n e i n i g e n
einigen
preussi-
sctien O r t e s des W e s t e n s b e s t a n d e n » B e i
ihnen
h a n d e l t es s i c h z w e i f e l l o s um Verbindungen, zu deren Zweck es g e h ö r t , M a s s r e g e l n der Verwaltung oder d i e V o l l z i e h u n g won G e s e t z e n duren u n g e s e t z l i c h e K i t t e l zu v e r h i n d e r n oder zu e n t k r ä f t e n \ ? 129 S t r . Q . B . ) die verfassungsmässig f e s t g e s t e l l t e k a n i s c h e S t a a t s f o r m des
und republi-
R8ioh/*untergraben.
B i n Vorgehen gegen s i e i s t
ohne w e i t e r e s
möglich. 2 . I n Bayern g e h t die B n t w i c k l n n g naoh der
Reichspolitik
635
und Länder im Frühjahr 1923 -3-
der andern Sei t e : )
Unter K e n n t n i s und Duldung dar R e g i e r u n g bestehen " a k t i r e IaPpfTerelniKunt;en" grösserer
Zahl,
Reichsflagge, gen der
in
i n s b e s o n d e r e Bund O b e r l a n d ,
Blücher,
dazu d i e
e h e m a l i g e n Uünckener
Vereinigun-
Einwohnerwehr,
e n d l i c h d i e S t u r n a b t e i lungen der sozialistischen Arbeiterpartei, (schwarz-weiss-roten)
nationalDiese
Vereinigungen,
denen
der . ' ^ f e i s s - B l a u e Bund* -Bayern und R e i c h gegenüberstellt,
halten
geueinsane
Pelddianst-
übungen und e r k l ä r e n i h r e B e r e i t s c h a f t Abwehr und a l l e n f a l l s
zu A n g r i f f e n .
s i n d zum g r ö s s t e n T e i l Gegen s i e
stark
hat e i c h
die
d i e Versacmlungsschutz
aber n i c h t
Sie
bewaffnet. S o h u t z a b t e i lung
der s o z i a l - d e n o k r a t i a c h e n P a r t e i
gebildet,
und Schutz
r ä u n l i chkei ten übernimmt,
zur
der
Partei-
g r ö s s e r e Übungen
a b h ä l t und über V a f f e n i n
nennens-
w e r t e s A n f a n g e kaun v e r f ü g t , b)
Die n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e partei
ist
i n München und i n Bayern b e -
s o n d e r s s t a r k . I n München i s t Sie
soll
Arbeiter-
d o r t u n g e f ä h r 40 000
haben. I h r Führer, Adolf
ihre
Zentrale.
Hitglieder
H i t l e r ,
d e r g s f a i e i t o t * Redner i n Münohen,
dessen
p e r s ö n l i c h e r J i n f l u s s auch s t a r k i n Kreis«,
besonders auoh des
ist
gebildete
Offiziers-Eapa,
auoh dar V l r t a o h a f t r e l o h t .Dia P a r t e i
ist Ton
636
Dokumentenanhang -4von den R e g i e r u n g e n von P r e u S B e n , s e n , Thüringen, Baden, rin,
Sach-
Vecklenburg-Schwe-
Hanburg und B r o t e n a u f g e l ö s t
den. I n Bayern i s t
das b i s h e r n i c h t
schehen. Zweifellos Partei,
Vör-
a b e r müsste
wann ü b e r h a u p t ,
ge-
die
so vor a l l e n
E a y e r n a u f g e l o h t werden. Bei
in
nornalen
p o l i t i s c h e n V e r h ä l t n i s s e s wäre es das Selbstverständliche,
dass nach dem Spruch«
des S t a a t a b e r ü i t s h o f e s
nunmehr auch die
bpyeriscue Regierung die P a r t e i würde. Das i s t
aoar n i c h t
zu
auflösen
erwarten.
Sann k a m n a c h $ 17 des S c h u t z g e s e t z e s Raichsminister
des I n n e r n d i e
R e g i e r u n g ua dio Auflösung
der
bayerische
ersuchen.
Glaubt d i e b a y e r i s c h e R e g i e r u n g dem n i c h t e n t s p r e c n e u zu können, so h a t s i e
dies
dem R e i c h s m i n i s t e r m i t z u t e i l e n und die E n t s c h e i d u n g des S t a a t s g e r i c h t s h o f e s zurufen. Bntscheidat Auflösung, die
so hat d i e
d i e s e r f ü r die Landesregierung
e r f o r d e r n ccsn Massnahmen s o f o r t
treffen.
an-
zu
l«ach s e i n e r K e n n t n i s der Ding«
wird d i e b a y e r i s c h e R e g i e r u n g ub«>, wenn dio P a r t e i
i n den n ä c h s t e n Ta^en o f f e n -
kundig i h r « S t a a t s f e i n d l i c h k e i t
auch
gegenüber deip b a y e r i s c j i e ^ S t a a t « i n f o r d e r n d e r leise z e i g t , / n i c h t Auflösung der P a r t e i
selbBt
entschliessen. Dann
herausSur
I. Reichspolitik
und Länder im Frühjahr
192}
637
-5Dann kam» es zur Entscheidung des S t a a t s g e r i o h t s hofea und zwar des süddeutschen Senate.
Bs i s t n i c h t ganz a u s g e s c h l o s s e n ,
dasa d i e s e r » i a t «teilt f ü r die Auflösung e n t s c h i e d e . I n t s o l i e i d e t er Bich f ü r
ei«,
so wird die b a y e r i s c h e Regierung i n e i n e sehr schwierige Lage kommen. P a r l a m e n t a r i s c h hat die n a t i o n a l s o z i a l i s t i s c h e
Arbei-
t e r p a r t e i iwax die a l l z u lange gewährte Duldung der bayerischen Volkspartei
verloren
und durch i h r e a a a s l o s e n A n g r i f f « auoh er;
b a y e r i s c h e H i t t e l p a r t e i schwer g e r e i s t . di s Do oh werden auch/an s i c h der n a t i o n a l sozialistischen Partei
feindliohen parla-
mentarischen P a r t e i e n die Auflöaung auf Grund des S c h u t z g e s e t z e s s c h w e r l i c h decken wollen. Dazu kommt die S c h w i e r i g k e i t i n der Ausführung, o)
Auch ohne Auflösung der n a t i o n a l s o z i a l i s t i s o h e n A r b e i t e r p a r t e i i s t Bayern durch den für Preussen usw. g ü l t i g e n Auflösungebeschluss des S t a a t s g e r i o h t s h o f e a , . dessen Hechtsauffassung dahin f e s t g e s t e l l t
tvt,
dasa naoh { 4 Z i f f . 7 des S c h u t z g e s e t z e * auoh in Bayern s t r a f b a r i s t ,
wer an der
s t a a t s f e i n d l i c h e n Verbindung a l s ••Ich« s i c h die P a r t e i d a r s t e l l t , teilnimmt oder s i e , oder In) Ü e n s t l i e h e r B e s t r e b u n g ein K i t g l i e d mit Rat und Tat a n t o r s t ü t e t . Zwar i s t der Oberreichaanwalt
638
Dokumen tenanhang
-6-
Oberreiohsanwalt
und danach dar
dende ( s ü d d e u t s c h e )
Senat des
entschei-
Staatsgerichte
h o f e s im S t r a f v e r f a h r e n a i c ' h t an d i e s e in Verwaltungsvori'ahren
aufgestellte
a u f f a s s u n g des S t a a t s g e r i o h t s h o f e s den. Und
es i s t
i n der T a t n i c h t
dass der S t a a t s g e r i c h t s h o f
aus
Hechts-
gebununnäglich,
subjektifen
Gründen au e i n e r F r e i s p r e c h u n g k am e . I n n e r hin a b e r i s t
schwer zu v e r m e i d e n ,
Oberräcfcsanwalt nun d i e einleitet.
Er i s t
Der V o r w ä r t s l i c h die
sehr
Fra^o e r h o b e n , was der y. ?
dring-
Reichs-
und O b e r r e i c h s a n w a l t
werden und d i e s e Pra^e w i r d bei tung d e r I n t e r p e l l a t i o n d e r nalen Volkspartei
tuen
der
Bera-
deutschnatio-
übor d i o A u f l ö s u n g
deutsch-völkischen Vordergrund
bereit,
hinauszuschieben.
a b e r hat b e r e i t s
justizninister
Preiheitspartei
der
i n den
rücken.
Der D n t e r s u c h u n i j s r i a h t e r gerichtBhofe» wollte
des
i n Bayern i a
StaatsVerfahren
rieben E h r h a r d t Verne hnungen p f l e g e n . bayerischa Regierung hiervon,
der
Strafverfolgung
zwar p e r s ö n l i c h
di,. 5. t sc hei düng di.rii.oer
dass
ersuchte
besonders angesichts
dringend, des
damals
b e v o r s t e h e n d a n R e i chskanzlerbeBuc hea, s e h e n . D i e s e n Ersuchen wurde v o r e r s t sprochen. l u f
die
Die
Dauer aber w i r ! d i e
abzuentVer-
nehmung
I. Reichspolitik
639
und Länder im Frühjahr 1923
-7-
Vernehmung nach M i t t e i l u n g juBtizministeriums nicht
aus a a o h l i o h e n
Gründen
a u f z u s c h i e b e n and auch n i c h t
Inanspruchnahme lungsrichters
eines bayerischen
Anregungen, ainisteriua
Xraitte-
die
besprochen
«erden.
das R e i o h s j u s t i * -
bayerisohen
Oberstaatsanwälten
e m p f a h l , ge fc 'en V e r g e h e n w i d e r das gesetz
durch
zu e r s e t z e n s e i n . Auch d i e s e
Frage w i r d im R e i o h s t a g e)
des R e i c h s -
einzuschreiten,
sind i n
Schutz-
verschiedenen
F ä l l e n a b g e l e h n t w o r d e n , da es s i o h b e i in Pieusaeii'stetenlen Reichspräsidenten um B e l e i d i g u n g e n
Beleidigungen
unu R e i c h s n i n i s t e r n persönlicher A r t ,
um V e r f e h l u n g e n gegen das h a n d e l e . Zwar i s t in
die
werden,
g e g e n den
und "Das
behauptet
angeklagte
das S c h u t z -
Schriftleiter
des M i * s -
h»nhay i n s a l t e r a und e i n w e i t e r e r klagter
haben d e r V o r l a d u n g des
g e r i o h t s h o f e « nioht Staatsgeriohtahof Die Angeklagten
unge-
seien.
Der wegen Vergehens w i d e r gesetz
Heimat-
immerhin w i r d
daas v i e l e A u s s c h a l t u n g e n
ahndet g e b l i e b e n f)
nioht
bayerische Regierung
"Völkischen Beobachter" Torgegangen,
nur
Schutegesetz
* e » verschiedenen ' a l l e n
land"
den
des
Voigt
Ange-
Staats-
geleistet.
hat H a f t b e f e h l
Der
erlassen.
haben dem b a y e r i s o h e n
Hinisterpräsldenten
erklärt,
daaa
sie von
640
Dokumen
tenanhang
-8-
von dor R e g i e r u n g Ablehnung des
Haft-
bof9hls e r v a r t e n und Bich den T o l l z u g e w i d e r s e t z e n werden,
Die
Regierung hat h i e r a u f teilt.
bayerische
keine Antwort
er-
S i e s t e h t u n t e r Zustimmung der
F r e a a e auf dem S t a n d p u n k t ,
d a s s den
b e f e h l F o l g e g e g e b e n «erden 3 . P r e u a a e n hat tionalsozialistischen
Haft-
nuss.
ausser der
na-
Arbei t e r p a r t e i
und a n d e r e n V e r e i n i g u n g e n der
äusserten
n a c h t e n d i e deutaoh-TÖlkisehe
Freiheits-
partei
a u f g e l ö s t . Die Gründe h i e r f ü r
nügen r e e h t u w a h r s c h e i n l i o h i
a b e r s t e h t der Z w e c k m ä s s i g k e i t Vergehens'entgegen,
ge«
roiltlsoh dieses
d&Bs n i o h t i n
klarer
W e i s e auch gegenüber der kosnuni s t i a c h e n Partei
vorgegangen wuitde. Oer Slnwand,
d a s s zwar b e i
der
Freiheitspartei
deutsch-völkischen
b e w a f f n e t e r Umsturz zu
den Z i e l e n der P a r t e i bei
gehör«, i M V
der kommunistischen P a r t e i
die
aber Bil-
dung von Kamp {Vereinigungen mehr Z u f ä l l i ges und Ö r t l i c h e s s e i ,
werden i n
der
C f f e n t l i c h k e i t /nioht/siärtwg g l a u b e n / f i n d e n . Das Vorgehen gegen d i e k o n n u n i atiachi/fst auoh i n P r e u a a e n auf fälle,
Sintel-
so gegenüber den H u n d e r t s c h a f t e n
in
S u h l und im R u h r g e b i e t und auf das V e r b o t der " R o t e n F a * h e "
beschränkt
geblieben.
II.
1. Reichspolitik
641
und Länder im Frühjahr 1923
-9-
II.
2-iel)
M jie a r Rai Rei oh ohsregierung die
Staatsordnung
wird
s e i n müssen,
nach b e i d e n S e i t e n
f e s t i g e n und gegen
gewaltsame
Bedrohungen
und g e f ä h r l i c h e ünterwühlungen tu Die R e i o h s r e g i e r u n g
wird hierbei
Uasa gegen d i e Drohung der Linken w i e der
zu
sohützen, glsiohee
äuaaersten
ä u s s e r t e n Hechten
anwenden
und Ter l a n g e s müssen, 1 . Gegenüber
den P a r t e i e n w i r d
ches XasB nach reohtB und l i n k a h a l t e n werden n ü s s e n . S i e Partei
v e r f o l g t nach i h r e n
mit der 3 . I n t e r n a t i o n a l e
glei-
einge-
kommunistisch» Zusammenhängen offenkundi g
•